Archiv für Sozialwissenschaft

und Sozialpolitik

Heinrich Braun, Werner Sombart, Max Weber, Edgar Jaffe, Robert Michels, Emil Lederer

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ARCHIV

FÜR

SOZIALWISSENSCHAFT

UND

SOZIALPOLITIK

NEUE FOLGE

DES

ARCHIVS FÜR SOZIALE GESETZGEBUNG UND STATISTIK

BEGRÜNDET VON

HEINRICH BRAUN

HERAUSGEGEBEN VON

WERNER SOMBART MAX WEBER

PROFESSOR IN BRESLAU PROFESSOR IN HEIDELBERG

UND

EDGAR JAFFE

IN HEIDELBERG

NEUNZEHNTER BAND

(DER NEUEN FOLGE I. BAND)

TÜBINGEN

VERLAG VON J. C. B. MOHR (PAUL SIEBECK)

1904

BRUXELLES: c. jcuquabdt's hofbuchhandl. falk fils.— BUDAPEST : vvrx>wkst> pfeifeb. CHRISTIANIA: h. ascheuouo 4 co. HAAG : bblinfantb fbebes. KOPENHAGEN: andil pbbd. host * bön. NEW- YORK': oüstav e. stechest. PARIS: u. i.k 80CDIEB. ST.PE7ERSBURG: k. l. bickeb. ROM: lobscher * co. STOCKHOLM : bambon 4 wallin. WIEN: manzschb k. k. hofvbblaos- und univebsitätbbcchhandluno. ZÜRICH: ed. bascheb's ebben.

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Nachdruck uad Übersettung vorbehalten.

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INHALT DES NEUNZEHNTEN BANDES.

Seite

Geleitwort der Herausgeber 1*

ABHANDLUNGEN.

Sombart, Prof. Dr. W., in Breslau, Versuch einer Systematik der

Wirtschaftskrisen i

Weber, Prof. Dr. M-, in Heidelberg, Die „Objektivität" sozial- wissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis .... 22

Tönnies, Prof. F., in Eutin, Amnions Gesellschaftstheorie . . 88

Bernstein, Ed., in Berlin, Die britischen Arbeiter und der zoll- politische Imperialismus 112

Bonn, Dr. M. J., in Frankfurt a. M., Die irische Agrarfrage.

I. Das heutige Irland 140

Tugan-Baranowsky, Dr. M., in Loschwitza, Der Zusammen- bruch der kapitalistischen Wirtschaftsordnung im Lichte der national« ökonomischen Theorie 273

K e s t n e r , Dr. F., in Halle a. S., Die Bedeutung der Haushaltungs- budgets für die Beurteilung des Ernährungsproblems . . . 307

Weber, Prof. Dr. M., in Heidelberg, Agrarstatistische und sozial- politische Betrachtungen zur Fideikommißfrage in Preußen . 503

Hoopcr, R. H., in London, Dreizehn Jahre sozialen Fortschrittes

in Neuseeland 575

Eberstadt, Dr. R., in Berlin, Der Entwurf eines preußischen

Wohnungsgesetzes, seine Vorgeschichte und seine Bedeutung 173

Bauer, Prof. St., in Basel, Die Entwicklung zum Zehnstundentage 203

Land mann, Dr. J., in Basel, Die Ausdehnung des Arbeiter- schutzes in Frankreich. (Das Gesetz vom 11. Juli 1903). . 348

Arens, W., in Lankwitz-Berlin, Die staatliche Pensionsversicherung der Privatangestellten. (Mit besonderer Berücksichtigung des österreichischen Gesetzentwurfs) 378

Hauer, Prof. St., in Basel, Die neuere Kinderschutzgesetzgebung

in Deutschland und in Großbritannien 616

Falken bürg, Dr. Ph., in Amsterdam, Die Fortschritte auf dem

Gebiete des Arbeiterschutzes in den Niederlanden .... 641

IV Inhalt.

Seit«

Macrosty, H. W., in London, Die Arbeiterfrage in Südafrika . 403 Pringsheim, Dr. O., in Breslau, Kritische Anmerkungen zur

revisionistischen Agrarpolitik 418

Wetzlar- Kilzer, F., in Frankfurt a. M., Die Preise der Konsum- vereine und der Detaillisten. (Preisvergleichende Untersuchung

für Frankfurt a. M.) 435

Pease, E. R., in London, Die neue Arbeiterpartei in England . 650 Fürth, Henriette, in Frankfurt a. M., Wohnbedarf und Kinderzahl.

(Ein Beitrag zur Wohnungsfrage) .... 660

LITERATUR-ÜBERSICHTEN.

Sombart, Prof. Dr. W., in Breslau, Der bibliographische und

literarisch-kritische Apparat der Soziahvisscnschaften . . . . 224

Brentano, Prof. Dr. L., in München, Zur Genealogie der An- griffe auf das Eigentum 251

Loria, A., Prof. Dr., in Turin, Die Entwicklung der italienischen

Nationalökonomie in jüngster Zeit 678

Lindemann, Dr. H., in Stuttgart, Zur Literatur über die Woh- nungsfrage 694

BÜCHER-BESPRECHUNGEN.

Stein, L., Die soziale Frage im Lichte der Philosophie. Be- sprochen von Prof. F. Tönnies in Eutin 442

Koigen, D., Die Kulturanschauung des Sozialismus. Besprochen

von Prof. /''. Tönnies in Eutin 457

Schmidt, R., Die gemeinsamen Grundlagen des politischen Lebens.

Besprochen von Dr. E. Lask in Straßburg i. E. . . 460

Bauer, St., Die gewerbliche Nachtarbeit der Frauen. Besprochen

von Dr. R. Fuehs in Karlsruhe 479

Vogelstein, Th., Die Industrie der Rheinprovinz 1888 1900. Pieper, L., Die Lage der Bergarbeiter im Ruhrrevier. Gott- h e i n e r , E., Studien über die Wuppertaler Textilindustrie und ihre Arbeiter in den letzten 20 Jahren. Besprochen von Dr. / Goldstein in Zürich 489

Druck fe h lerberichtigung:

S. 89 Zeile 3 von oben lies durch statt auf

102 13 unten Leuten Leute

„109 2 Erziel ung statt Erziehung.

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Geleitwort.

Als das „Archiv" vor nunmehr einem halben Menschenalter ins Leben trat, übte es, besonders auf uns Jüngere, eine außer- ordentliche Anziehungskraft aus. Daß diese Empfindung tatsächlich in weiten Kreisen geteilt wurde, zeigte der Erfolg des „Archivs", das sich obwohl von einem „Außenseiter" herausgegeben und neben alte und bewährte Zeitschriften unseres Faches tretend, doch binnen kurzem eine angesehene wissenschaftliche Stellung und einen immerhin beachtenswerten Einfluß auf das praktische sozialpolitische Streben zu erobern vermochte. Wie kam das? Wenn wir diese Frage mit dem Hinweis auf das Herausgebertalent des Begründers der Zeitschrift beantworten wollten, so wäre damit eine befriedigende Erklärung noch nicht gegeben. Denn so zweifellos dieses Talent war, so konnte es sich doch nur darin äußern, daß es die Eigenart des „Archivs" bestimmte. Und es drängt sich uns die andere Frage auf: worin diese Eigenart bestand?

Will man ihr gerecht werden, so wird man vor allem fest- stellen müssen, daß es in gewisser Hinsicht einen neuen Typus in der sozialwissenschaftlichen Zeitschriftenliteratur geschaffen hat oder zu schaffen wenigstens beabsichtigte. Das „Archiv" wurde als eine „SpezialZeitschrift" gegründet: Die „Spezialität', die es pflegen sollte, war die „Arbeiterfrage" im weitesten Verstände.

Die „Arbeiterfrage" hatten nun auch vorher schon zahlreiche Zeitschriften in Deutschland und im Auslande gepflegt, aber der Schritt, den das „Archiv" über seine Vorgänger hinaustat, war der, daß es die mit dem Namen der „Arbeiterfrage" bezeichneten Pro- bleme in einen allgemeinsten Zusammenhang stellte, daß es die „Arbeiterfrage" in ihrer Kulturbedeutung erfaßte, als den

Archiv für Sozial Wissenschaft u. Sozialpolitik. I. ( A. f. so*. G. u. St. XIX.) t. *

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Geleitwort

äußerlich am deutlichsten wahrnehmbaren Ausdruck eines viel größeren Erscheinungskomplexes: des grundstürzenden Umgestal- tungsprozesses, den unser Wirtschaftsleben und damit unser Kultur- dasein überhaupt durch das Vordringen des Kapitalismus erlebten. Den aus dieser weltgeschichtlichen Tatsache sich ergebenden prak- tischen Problemen die Dienste der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen, sollte die Aufgabe der neuen Zeitschrift bilden. Damit aber war im wesentlichen die Eigenart des „Archivs" bestimmt.

Die neue Zeitschrift wurde eine „SpezialZeitschrift" nicht dem Stoffe nach (wie etwa das „Finanzarchiv"), sondern dem Gesichts- punkte nach. Als ihr Arbeitsgebiet ergab sich die Behandlung aller Phänomene des wirtschaftlichen und gesamt-gesellschaftlichen Lebens unter dem Gesichtspunkt der Revolutionierung durch den Kapitalismus, wobei naturgemäß die Wirkungen der sich voll- ziehenden Neugestaltungen auf die Lage der arbeitenden Klassen und die Rückwirkungen, die von diesen selbst oder von der Ge- setzgebung ausgingen, in erster Linie Berücksichtigung finden mußten.

Wenn die neue Zeitschrift das vieldeutige und oft miß- brauchte Wort „sozial" im Wappen führte, so geschah dies an- gesichts der eigenartigen Problemstellung ganz zu recht, voraus- gesetzt, daß man das Wort „sozial" in dem scharf umgrenzten Sinne gebraucht, der allein die Gewähr der Eindeutigkeit und Präzision enthält In diesem Sinne bedeutet auch dies Wort nicht sowohl die Abgrenzung eines bestimmten Kreises von Phäno- menen, als vielmehr den Gesichtspunkt, unter dem die Er- scheinungen des wirtschaftlichen, wie die des übrigen gesellschaft- lichen Lebens betrachtet werden: das ist die Ausrichtung aller öko- nomischen Einzelphänomene auf ein bestimmtes Wirtschaftssystem, also ihre Betrachtung unter dem Gesichtpunkte der historischen Be- dingtheit; das ist die Aufdeckung der ursächlichen Zusammenhänge zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung und allen übrigen gesell- schaftlichen Erscheinungen: beides unter bewußter Beschränkung auf die Gegenwart, das heißt die durch das Vordringen des Kapi- talismus gekennzeichnete Geschichtsepoche.

Die eigenartige Problemstellung des „Archivs" brachte andere Eigenarten von selbst mit sich. Offenbar mußte die Zeitschrift, wenn sie ihre Aufgabe erfüllen wollte, ohne alle Rücksicht auf nationale Schranken den Kapitalismus überall dort aufsuchen, wo er sich fand. Von Anfang an wurden deshalb sämtliche Lander

Geleitwort.

mit kapitalistischer Entwicklung in die Beobachtung einbezogen. Diese systematische Ausdehnung auf ein räumlich möglichst weites Gebiet verlieh dem „Archiv", in stärkerem Maße als anderen Organen dieses Faches, einen „internationalen" Charakter. Die sachliche Internationalität wurde aus praktischen Gründen von selbst zu einer persönlichen Internationalität. Der Mitarbeiterkreis umfaßte von den ersten Heften an die gesamte Kulturwelt, teilweise sogar unter auffälliger Bevorzugung des Auslandes.

Weil aber der wissenschaftliche Charakter der Zeitschrift von vornherein betont wurde (mag sein, daß daneben die Person des Begründers von starkem Einfluß war), so rekrutierten sich die Mitarbeiter von Anfang an nicht nur aus aller Herren Länder, sondern auch aus aller Parteien Lager. Das „Archiv" war nicht nur inter- national, sondern auch die erste wirklich „interfraktionelle" Zeit- schrift unseres Faches.

Das „Archiv" hatte nun als eines seiner vornehmsten Arbeitsge- biete von Anfang an, neben der rein wissenschaftlichen Erkenntnis der Tatsachen, sich die kritische Verfolgung des Ganges der Ge- setzgebung zur Aufgabe gemacht. In diese praktisch-kritische Arbeit aber spielen unvermeidlich Werturteile hinein, es wird neben der Sozial w issenschaft wenigstens dem Ergebnis nach auch Sozial- p o I i t i k getrieben, und es entsteht die Frage : Hatte das „Archiv" bei dieser „praktischen" Kritik auch eine bestimmte „Tendenz", d. h. vertraten die maßgebenden Mitarbeiter einen bestimmten „sozialpolitischen" Standpunkt? vereinigte sie, abgesehen von ihren gemeinsamen wissenschaftlichen Interessen, auch ein gewisses Maß übereinstimmender Ideale oder doch grundsätzlicher Gesichtspunkte, aus denen praktische Maximen ableitbar waren?

Das war in der Tat der Fall, und in gewissem Sinn beruhte gerade auf diesem einheitlichen Charakter der Erfolg der Zeitschrift. Deshalb nämlich, weil diese praktische „Tendenz" in den ent- scheidenden Punkten nichts anderes als das Resultat bestimmter Einsichten in die historische sozialpolitische Situation war, mit der gerechnet werden mußte. Sie war, mit anderen Worten, be- gründet in gemeinsamen theoretischen Anschauungen über die tatsächlichen Voraussetzungen, von denen bei jedem Versuch praktischer sozialpolitischer Arbeit, bei der nun einmal unabänderlich gegebenen historischen Lage, ausgegangen werden müsse. Sie be- ruhte also auf Überzeugungen, die von persönlichen Wünschen ganz und gar unabhängig waren. Diese Einsichten, aus denen

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IV

Geleitwort.

sich die „Tendenz" der Zeitschrift ergab, betrafen vornehmlich folgende Punkte:

1. daß der Kapitalismus ein nicht mehr aus der Welt zu schaffendes, also schlechthin hinzunehmendes Ergebnis der ge- schichtlichen Entwicklung sei, hinter das zurück, zu den patriar- chalen Grundlagen der alten Gesellschaft, heute kein Weg mehr führt ;

2. daß daher die alten Formen der gesellschaftlichen Ord- nungen, die jenen patriarchalen Grundlagen entsprochen hatten, ob wir es nun wünschen oder nicht, neuen Platz machen werden, die den veränderten Bedingungen des Wirtschaftslebens sich anzupassen vermögen. Daraus ergab sich insbesondere, daß die Eingliederung des Proletariats, nachdem dies als Klasse durch den Kapitalismus einmal geschaffen und zum Bewußtsein seiner historischen Eigenart gelangt war, in die Kulturgemeinschaft der modernen Staaten als neues selbständiges Element, ein unabweisliches Problem aller staat- lichen Politik geworden sei;

3. daß die gesellschaftliche Neugestaltung, soweit sie die Form gesetzgeberischer Eingriffe annehmen will, nur das Ergebnis einer schrittweisen , „organischen" Umbildung historisch überkommener Zustände und Einrichtungen sein könne, bei der die Mithilfe der wissenschaftlichen Erkenntnis der historisch gegebenen Lage nicht zu entbehren sei.

Diese Grundanschauungen sind auch den neuen Herausgebern des „Archivs" gemeinsam. Wenn dies hier ausdrücklich ausge- sprochen wird, so bedeutet das natürlich nicht etwa, daß diese Ansichten in den Spalten unserer Zeitschrift außerhalb oder ober- halb der Kritik stehen werden. Sondern es besagt lediglich, daß wir bei der praktischen Kritik, welche in der Zeitschrift neben der wissenschaftlichen Arbeit zur Aussprache gelangt, durch jene Einsichten geleitet sind, und daß wir uns mit den bisherigen Mit- arbeitern des „Archivs" darin einig wissen. Soweit im „Archiv" überhaupt Sozialpolitik getrieben wird, wird dies auch künftig „Realpolitik" auf dem Boden des nun einmal unabänderlich Ge- gebenen sein.

Die neuen Herausgeber sind nun aber der Überzeugung, daß die heutige Lage, gegenüber der Art wie das „Archiv" in den ersten Jahren seines Bestehens seiner Aufgabe gerecht zu werden suchte, eine Änderung in doppelter Hinsicht erfordert, und beab- sichtigen, dieser veränderten Situation bei der Gestaltung der Zeit- schrift Rechnung zu tragen.

Geleitwort.

v*

Zunächst muß heute das Arbeitsgebiet des „Archivs", was bisher nur tastend und von Fall zu Fall geschah, grundsätzlich erweitert werden. Unsere Zeitschrift wird heute die historische und theo- retische Erkenntnis der allgemeinen Kulturbedeutung der kapitalistischen Entwicklung als dasjenige wissenschaftliche Problem ansehen müssen, in dessen Dienst sie steht Und gerade weil sie selbst von einem durchaus spezifischen Gesichtspunkt ausgeht und ausgehen muß: dem der ökonomischen Bedingtheit der Kulturerscheinungen, kann sie nicht umhin, sich in engem Kontakt mit den Nachbardisziplinen der allgemeinen Staatslehre, der Rechtsphilosophie, der Sozialethik, mit den sozial psychologischen und den gewöhnlich unter dem Namen Soziologie zusammengefaßten Untersuchungen zu halten. Wir werden die wissenschaftliche Be- wegung auf diesen Gebieten namentlich in unseren systematischen Literaturübersichten eingehend verfolgen. Wir werden besondere Aufmerksamkeit denjenigen Problemen zuwenden müssen, die ge- wöhnlich als sozialanthropologische bezeichnet werden, den Fragen also nach der Rückwirkung der ökonomischen Verhältnisse auf die Gestaltung der Rassenauslese einerseits, nach der Beeinflussung des ökonomischen Daseinskampfes und der ökonomischen Institutionen durch ererbte physische und psychische Qualitäten andererseits. Dazu, daß der dilettantische Charakter, den die Behandlung dieser Grenzfragen zwischen Biologie und Sozialwissenschaft bisher an sich trug, in Zukunft überwunden werde, möchten auch wir unseren Teil beitragen.

Die zweite Änderung betrifft eine Verschiebung in der Form der Behandlung.

Als das „Archiv" begründet wurde, schwebte dem Herausgeber als wichtigste Aufgabe, die es zu erfüllen haben sollte, die Material- sammlung vor. Und dem lag zweifellos ein für jene Zeit durch- aus richtiger Gedanke zugrunde: es müsse ein Organ geschaffen werden, das die zerstreuten sozialstatistischen Daten, ebenso wie die sich immer mehr häufenden sozialen Gesetze sammelte und in übersichtlicher Anordnung veröffentlichte. Das war für Wissen- schaft und Praxis damals das erste und dringendste Bedürfnis, denn ein derartiges Sammelorgan fehlte. Aber unsere Zeit schreitet rasch weiter. Seit der Begründung des „Archivs" im Jahre 1888 sind fast ein Dutzend Zeitschriften ins Leben getreten, deren ausschließliche Funktion jene Materialsammlung ist. Vor allem haben die Re- gierungen fast aller Kulturländer amtliche Organe zur Veröffentlichung

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VI*

Geleitwort.

sozialstatistischer Tatsachen geschaffen : England die Labour Gazette (seit 1893), Frankreich das Bulletin de l'office du Travail (seit 1894), Belgien die Revue du Travail (seit 1896), Österreich die Soziale Rundschau (seit 1900), Deutschland das Reichsarbeitsblatt (seit 1903). Daneben besitzen die meisten Länder private Sammlungen : Deutsch- land die Soziale Praxis (seit 1892), den Arbeitsmarkt (seit 1897), Frankreich die „Questions pratiques de legislation ouvriere" (seit 1900) usw. Und für eine fast lückenlose Veröffentlichung des ge- setzgeberischen Materials sorgen das Bulletin der Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz (seit 1902), das Annuaire de la Legislation du Travail (public" par l'Office du Travail de Belgique, seit 1897) und wiederum andere.

Damit ist die Situation vollständig verändert. Auf der einen Seite entfallt das Bedürfnis, neben jenen mit reichen Mitteln aus- gestatteten und vorzüglich arbeitenden Blättern, eine wissenschaft- liche Zeitschrift wie das „Archiv" in den Dienst der reinen Stoff- sammlung zu stellen. Wir werden was übrigens schon bisher in zunehmendem Maße geschehen ist die sozial statistischen Berichte einschränken und den wörtlichen Abdruck der Gesetzes- texte, die bisher einen breiten Raum einnahmen, zugunsten ein- gehender kritischer Referate über Sinn und Bedeutung der Gesetze und ganz besonders der Gesetzes-Ent würfe, vielfach verkürzen können. Auf der anderen Seite ist eine wichtige Auf- gabe neu erwachsen: den ins Grenzenlose anwachsenden und in den genannten Sammelorganen aufgespeicherten Stoff durch wissen- schaftliche Synthese gleichsam zu beseelen. Dem Hunger nach sozialen Tatsachen, der noch vor einem halben Menschenalter die Besten erfüllte, ist, mit dem Wiedererwachen des philosophi- schen Interesses überhaupt, auch ein Hunger nach sozialen Theorien gefolgt, den nach Kräften zu befriedigen eine der künftigen Haupt- aufgaben des „Archivs" bilden wird. Wir werden sowohl die Er- örterung sozialer Probleme unter philosophischen Gesichts- punkten im wesentlich verstärkten Maße zu berücksichtigen haben, wie die im engeren Sinn „T h e o r i e" genannte Form der Forschung auf unserem Spezialgebiet : die Bildung klarer Begriffe. Denn soweit wir von der Meinung entfernt sind, daß es gelte, den Reichtum des historischen Lebens in Formeln zu zwängen, so entschieden sind wir davon überzeugt, daß nur klare eindeutige Begriffe, einer Forschung, welche die spezifische Bedeutung sozialer Kulturerscheinungen er- gründen will, die Wege ebnen.

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Geleitwort.

VII*

Kein Organ aber würde heute die soziale Theorie in einer den Anforderungen strenger Wissenschaftlichkeit entsprechenden Weise pflegen können, das sich nicht durch erkenntniskritisch-methodo- logische Erörterungen über das Verhältnis zwischen den theoreti- schen Bcgriffsgebilden und der Wirklichkeit auch grundsätz- liche Klarheit schafft. Wir werden daher die wissenschaftliche Arbeit der Erkenntniskritik und Methodenlehre ständig verfolgen. Und indem wir die Neue Folge des „Archivs" mit einem Aufsatz eines der Herausgeber eröffnen, der in ausfuhrlicher Weise diese Probleme behandelt, wollen wir unsere Absicht bekunden, uns an diesen prinzipiellen Erörterungen auch unsererseits dauernd zu be- teiligen.

Die Herausgeber.

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Versuch einer Systematik der Wirtschaftskrisen.

Von

WERNER SOMBART. L

Daß wir mit dem Worte „Krisis" die Vorstellung einer „Störung des Wirtschaftslebens" verbinden, dürfte von niemand bestritten werden. Will man nun aber auch den Begriff der „Wirtschafts- krisis" so allgemein fassen wie irgend möglich um zunächst einmal alles einzubegreifen , was jemals als Krisis angesprochen worden ist , so ist es doch nicht möglich, Krisis etwa mit „Störung im Wirtschaftsleben" schlechthin zu identifizieren. Es kann niemandem einfallen, von einer Krisis zu sprechen, wenn eine Fabrik abbrennt oder die überseeische Post sich um einen Tag verspätet oder ein Wechsel protestiert wird oder ein Geschäft mit Verlust abgeschlossen wird oder das Kleingeld für die Lohnaus- zahlung am Sonnabend fehlt oder dem Kaufmann eine Sendung Apfelsinen faul wird. Und doch kann nicht bezweifelt werden, daß alle diese Vorkommnisse und ähnliche, deren jeder Tag tausend und abertausend bringt, „ökonomische Störungen" sind.

Ich denke, was stets vorhanden sein muß, um innerhalb der ununterbrochen sich einstellenden wirtschaftlichen „Störungen" einen Sonderbegriff „Krisen" abzugrenzen, ist zweierlei :

1. eine Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz;

2. eine Massenerscheinung.

Es muß die Gefährdung der wirtschaftlichen Exi- stenz in Frage stehen, wenn wir, selbst im allerwcitcsten Sinne von einer „Krisis" sprechen wollen: der wirtschaftlichen Existenz, die nur dann gesichert ist, wenn während einer Rechnungsperiode

Archiv für Sozial wi*»enschaft u. Soiialpolitilc. I. <A. f. »or. G. u. St. XIX.) i. I

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Werner Sombart,

Ausgabe und Einnahme einer Wirtschaft sich im Gleichgewicht be- finden oder die Einnahmen die Ausgaben überflügeln. Also muß es sich um Störung dieses Gleichgewichts zwischen Ausgaben und Ein- nahmen der einzelnen Wirtschaft handeln. Tritt diese nicht ein, so kann „gestört" werden was immer will : es kommt zu keiner „Krisis". Es mag die Warenzirkulation noch so oft unterbrochen sein, es mag ein noch so großes „Mißverhältnis zwischen Angebot und kauffähiger Nachfrage" herrschen, es mag das Geld noch so „knapp", der Kredit noch so „erschüttert" sein: alle diese „Störungen" werden erst dann und nur insoweit den Tatbestand einer „Krisis" konstituieren können, wenn und insoweit sie sich in eine Störung des Gleichgewichts zwischen Einnahmen und Ausgaben der ein- zelnen Wirtschaft umsetzen. Solange es diesen gut geht, gibt es auch keine Krisis. Und eine Handelsunternehmung beispielsweise kann sehr florieren, obwohl sie vielleicht einen Teil ihrer Waren unter dem Einkaufspreise losschlagen oder gar als unabsetzbar ver- nichten muß: wenn nur der Gesamtertrag der verkauften Waren den erhofften Profit erbracht hat. Anders ausgedrückt : man kommt niemals zu einem brauchbaren Krisenbegriffe vom Standpunkt der Warenzirkulation aus oder vom Schicksal der einzelnen Ware (des einzelnen Geschäfts) aus oder von einer allgemein-volkswirtschaft- lichen Betrachtung des wirtschaftlichen Gesamt prozesses aus, sondern nur vom Standpunkt der einzclwirtschaftlichen Interessensphäre aus.

„Gefahrdung der wirtschaftlichen Existenz" kann gleichbedeutend mit Vernichtung oder Verlust der Selbständigkeit sein, der sich in unserer Wirtschaftsordnung als Bankerott äußert; sie kann aucli den leiblichen Tod zur Folge haben, wenn die Existenzmittel unter das physische Minimum sinken. Aber wir müssen auch dann schon von einer „Gefährdung" sprechen, wenn jene schwersten Schädigungen sich nicht einstellen, aber drohen, ja auch dann schon, wenn die Wirtschaftenden Not leiden, wenn sie von steter Sorge um ihre Existenz gequält werden. Was sich wiederum ver- schieden äußern kann: als Hunger und körperliche Entbehrungen, als Deklassierung, als „Vcrdienstlosigkeit".

Nur eines ist Voraussetzung, wenn wir von einer „Krisis" sprechen sollen : daß alle jene Übelstände nicht vereinzelt, sondern in Masse auftreten, daß also wie ich es ausdrückte, die wirtschaft- lichen Störungen eine Massenerscheinung werden. Ebenso- wenig wie eine Schwalbe den Sommer macht, macht ein Bankerott die Krisis. Aber wieviele machen sie ? Diese Frage läßt sich nicht

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Versuch einer Systematik der Wirtschaftskrisen.

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exakt beantworten. Ob eine „Massenerscheinung" vorliegt, muß der Takt des Beobachters entscheiden. Als Anhaltspunkt wird man nur dieses geben können: ein Notstand wird dann als Massener- scheinung gelten müssen, wenn er eine wirtschaftliche Gruppe als solche ergreift. „Als solche" heißt: nicht die Schwächlichen, Un- sicheren, sondern die Durchschnittsindividuen, die mittelkräftigen Existenzen. Werden diese in größerer Anzahl notleidend , so erscheint die Gruppe selbst notleidend und der Notstand wird zur Krisis.

Die wirtschaftliche Gruppe, deren Notstand eine Krisis dar- stellt, kann auf ganz verschiedenen Bindungsmomenten beruhen. Sie kann gebildet werden durch Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse : Krisis im Handwerk, in der Handweberei, unter der Lohn- arbeiterschaft; oder zu einem bestimmten Beruf: Textilindustrie, Stand der Arzte ; oder zu einem bestimmten Produktionsgebiet : Krisis der westeuropäischen Landwirtschaft; oder zu einem bestimmten Siedelungsgebiet : Einwohner einer Stadt; oder zu einer bestimmten Volkswirtschaft. Die Gruppe kann sich aber auch aus Individuen zusammensetzen, die für gewöhnlich durch keinerlei Band unter- einander verknüpft sind : Opfer eines Staatsbankerotts, eines Panama- schwindels.

Die Tatsache eines Notstandes, den wir Krisis nennen, kann in verschiedenen Zusammenhängen begründet sein. Man kann unterscheiden:

Krisen als persönliche Schuldtatsache:

Krisen als Naturtatsache;

Krisen als gesellschaftliche Tatsache.

Krisen als persönliche Schuldtatsache sind natür- lich außerordentlich selten. Denn da die Krisis immer ein Massen- phänomen ist, so wird man es als wunderbaren Zufall ansprechen müssen, wenn die Angehörigen einer wirtschaftlichen Gruppe in großer Anzahl wegen persönlichen Verschuldens notleidend werden. Interessant ist dieser Typus nur theoretisch als Widerspiel zu der gewöhnlichen Form der Krisen. Jeder, der nur einiges Empfinden für soziale Zusammenhänge besitzt, muß es in Erstaunen setzen, wenn Gustav Frenssen im „Jörn Uhl" seine Marschbauern einen nach dem anderen durch Trunksucht zugrunde gehen läßt: hier haben wir wenigstens die dichterische Konstruktion einer Krisis als persönliche Schuldtatsache.

Krisen als Naturtatsachc liegen dann vor, wenn elcmen-

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Werner Sorabart,

tare Ereignisse oder was diesen gleichkommt unmittelbar einen Notstand hervorrufen. Wieder liefert uns der typisch unsozial konzipierte „Jörn Uhl" ein Beispiel: den Massenbankerott infolge Mäusefraßes. Hierher gehören aber auch die russischen oder indischen oder chinesischen Hungersnöte; Notstände, die durch Hochwasser oder Erdbeben oder Feuersbrünste herbeigeführt werden; Verwüstungen mit ihren Folgen durch Revolutionen oder Kriege.

Bei den Krisen als gesellschaftliche Tatsache tritt das Massenphänomen notleidender Wirtschaften deshalb auf, weil diese Wirtschaften mit anderen zu einem gesellschaftlichen Ganzen verschlungen sind. Wären also die Marschbauern nicht der Trunk- sucht oder dem Mäusefraß, sondern der amerikanischen Konkurrenz zum Opfer gefallen; stürben die indischen Bauern Hungers, weil sie ihre Produkte nicht verkaufen können, litten die Buren not, weil ihre Handelsbeziehungen durch den Krieg abgebrochen sind, so wären alle diese Krisen gesellschaftliche (oder sind es, insoweit der soziale Nexus für den Notstand bestimmend wird). Es ist ein- leuchtend, daß dieser Krisentypus für den sozialen Theoretiker eine überragende Bedeutung haben muß, ja daß man an ihn fast ausschließlich denkt, wenn man von Krisen schlechthin spricht.

Innerhalb des Kreises der gesellschaftlichen Krisen unterscheiden wir nun aber sofort wieder zwei ganz und gar voneinander ab- weichende Krisentypen, je nachdem nämlich die notleidenden Wirtschaften „Geschäfte" sind oder nicht. Unter „Geschäften" ver- stehe ich hier alle Produktionswirtschaften im weitesten Sinne, also alle diejenigen Wirtschaften, die an der Abwicklung des gesell- schaftlichen Wirtschaftsprozesses selbständig beteiligt sind. Ihnen könnte man alle übrigen Wirtschaften als Konsumtionswirtschaften gegenüberstellen , wenn durch eine solche Bezeichnung nicht Miß- verständnisse hervorgerufen würden. Denn zu den „Konsumtions- wirtschaften" gehören natürlich auch alle „Erwerbswirtschaften" der nicht am Wirtschaftsleben selbst beteiligten Berufsstände: also aller Ärzte, Rechtsanwälte, Künstler, Beamten etc. Vielleicht faßt man deshalb alle Wirtschaften, die nicht „Geschäfte" sind, besser unter der Bezeichnung der Privatwirtschaften zusammen, denen dann freilich ( wie wir noch sehen werden) auch die Gemeinwirtschaften (Wirtschaften öffentlicher Körper) zuzuzählen sind. Aber der Name ist ja unwesentlich, wenn nur die von mir getroffene Unterscheidung in ihrer Wesenheit richtig erkannt und gewürdigt wird.

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Versuch einer Systematik der Wirtschaftskrisen.

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Danach gäbe es also Krisen, die sich einstellen können, ohne daß die „Geschäftswelt" als solche Not litte, ohne also eine „Stö- rung des Wirtschaftslebens" zur Voraussetzung zu haben, das viel- mehr florieren kann, trotzdem jene Krisen da sind. Diesen Krisentyp will ich als privatwirtschaftliche Krisen den volkswirt- schaftlichen gegenüberstellen, die also immer mit einer „Störung des Wirtschaftslebens" selbst verbunden sind. Selbstverständlich können privat wirtschaftliche und volkswirtschaftliche Krisen im Ver- hältnis von Ursache und Wirkung zueinander stehen: jene können aus diesen, diese aus jenen hervorgehen; oder sie können die eine als Begleiterscheinung der anderen nebeneinander hergehen. Jede größere volkswirtschaftliche Krisis wird sogar mit einiger Gewißheit eine privatwirtschaftliche Krisis im Gefolge haben. Aber privat- wirtschaftliche Krisen können auch ganz selbständig sich abspielen, ohne den normalen Verlauf des volkswirtschaftlichen Prozesses irgendwie zu beeinträchtigen.

Ich denke dabei vor allem an folgende Fälle:

1. Die Notlage liberaler Berufsstände, etwa der Ärzte oder der Schauspieler, wenn man hierfür die Bezeichnung Krisis überhaupt anwenden will *) ;

2. die Notlage der wirtschaftlich Unselbständigen, also der sogen, arbeitenden Klassen. Die „Krisis auf dem Arbeits- markte" ist ja mehr wie die meisten anderen privatwirtschaftlichen Krisen mit den volkswirtschaftlichen Krisen engstens verbunden. Wir pflegen sie geradezu als deren Gradmesser anzusehen. Und zweifellos besteht in sehr vielen Fällen dieser innige Zusammen- hang. Er braucht aber ganz gewiß nicht zu bestehen und besteht auch oft genug nicht. Es kann sehr wohl das Geschäftsleben florieren (also der volkswirtschaftliche Prozeß ohne Störung ver- laufen), während unter den Arbeitern eine Krisis, das heißt Arbeits- losigkeit in weitem Umfange herrscht. Wenn etwa infolge der Ein- stellung von Maschinen Arbeitskräfte in größeren Massen freigesetzt werden, so werden wir nicht anstehen, von einer „Krisis auf dem Arbeitsmarkte" zu sprechen (man denke etwa an die Zustände in

•) „6000 Schauspieler in Nordamerika sind infolge des Brandes des Iroquois- Theaters beschäftigungslos. Nicht nur in Chicago, sondern auch in vielen anderen Städten sind viele Schaubühnen teils aus Sicherheitsgründen, teils deshalb, weil das Publikum den Vorstellungen fernbleibt, geschlossen worden. Man befürchtet, daß der Höhepunkt dieser Krisis noch nicht erreicht ist."

(Zeitungsnotiz Februar 1904.)

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Werner Sombart,

der englischen Textilindustrie am Ausgang des 18. und im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts!), trotzdem es der „Industrie" vorzüglich ergehen kann. Wann man den Anfang einer „Arbeitskrise" ansetzen will, während doch einige Arbeitslosigkeit und beträchtlicher Pau- perismus z. B. in unserer Wirtschaftsepoche immer bestehen, bleibt wiederum dem Entscheide von Fall zu Fall überlassen.

3. Zu den privatwirtschaftlichen Krisen gehören auch die Spekulation skrisen, wie man vielleicht zusammenfassend alle Notstände bezeichnen kann, die sich infolge des Stock-jobbing ein- stellen, also allen Tulpenschwindel, allen Lawismus, allen Panamis- mus mit seinen Folgen, aber auch alles, was man heute „Börsen- krisis" nennt, endlich die Wirkungen großer Staatsbankerotte. Daß diese Spekulationskrisen heute meist in engster Verquickung mit volkswirtschaftlichen Krisen auftreten, darf uns nicht hindern, ihren ganz und gar von diesen verschiedenen Charakter zu betonen. Auch heute noch erleben wir es, daß der luftige Bau einer Kurshausse an der Börse zusammenstürzt, ohne daß im normalen Verlauf des Wirtschaftslebens sich irgend welche „Störung" bemerkbar machte. Ks können gleichwohl eine Menge wirtschaftlicher Existenzen ge- fährdet sein und wenn dies zufallig! Geschäftsleute sind, kann die Spekulationskrisis zur volkswirtschaftlichen Krisis werden. Ks braucht aber, wie gesagt, der Funken nicht überzuspringen. Wollen wir uns den ganz eigenartigen Charakter dieser Spekulationskrisen klar machen und erkennen, daß sie tatsächlich mit den Störungen des Geschäftslebens, also den volkswirtschaftlichen Krisen nichts zu tun haben, so müssen wir unser Augenmerk auf die älteren Fälle dieser Krisen richten. Schauen wir uns etwa die Vorgänge in Frankreich und England um das Jahr 1720 an, so bemerken wir deutlich, daß der ganze Law- und Südseeschwindel sich durchaus außerhalb des Wirtschaftslebens jener Zeit abgespielt hat. Natür- lich bestand eine Wechselwirkung zwischen Wirtschaftsleben und Stock-jobbing: auf der einen Seite bewirkte das Zusammenströmen der zahlreichen Spieler in den Hauptstädten eine solche Steigerung der Nachfrage nach bestimmten Konsumtionsgütern, daß deren Preise rasch stiegen, also ihre Produzenten gute Geschäfte machten,1)

') „Nothing scarcely to bc secn but new and splendid cquipages, new liouses, and fmery in apparcl. Lodgings scarcely to be had for moncy and the highest prices given for provisions in that city nämlich Paris im Jahre 1719- Ander- son, Annais of commerce 3, 86. London 1787.

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Versuch einer Systematik der Wirtschaftskrisen.

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während das Verschwinden dieser zahlungsfähigen Kundschaft viele Geschäfte brach legte: die Spielepisode übte auf die Nahrung der Städte Paris und London etwa die Wirkung wie ein mittel- alterliches Konzil aus; auf der anderen Seite zog das Spiel von den Berufsgeschäften, also auch von der berufsmäßigen wirtschaft- lichen Tätigkeit ab. Aber gerade diese Tatsache beweist ja, daß die Vorgänge in der Rue Quincampoix und in Exchange Alley sich außerhalb des Wirtschaftslebens abspielten. Die Ver- nachlässigung der normalen wirtschaftlichen Tätigkeit wird von allen Beobachtern als die bedeutsamste Wirkung des „chimerical trade", des „frenzy of the time" bezeichnet.1) Die Spielwut führte also alles andere als einen „wirtschaftlichen Aufschwung", eine „Gründungsperiode" herbei. Die „bubbles", deren Anderson über 200 aufzählt, bleiben fast alle in der Sphäre der Projekten- machcrei und gaben zu nichts anderem Veranlassung als zum Stock- jobbing. Als Anderson seinen Bericht niederschrieb, bestanden von jenen bubbles noch vier: 2 Versicherungsgesellschaften, die York Buildings Company und die English Copper Company und zwar war die überwiegende Mehrzahl aller dieser Projekte schon bei Erlaß der Scire facias Akte im Jahre 1720 verschwunden. Das'Er- gebnis der wahnsinnigen Episode faßt Anderson in die Worte zusammen : sie brachte „the ruin of many honourable and tili then wealthy families, to the advancement of many low and obscure per- sons and the great temporary detriment of our commerce."

4. Endlich gehören zu den „privatwirtschaftlichen" Krisen, ob- wohl die Bezeichnung, wie ich schon andeutete, nicht sehr passend ist, die Katastrophen der öffentlichen Haushalte: die Finanz- krisen.2) Vielleicht empfiehlt es sich aus ästhetischen Gründen,

') Vom Südseeschwindcl und was ihm folgte sagt Anderson: „it countenanced the pernicious practicc of stock-jobbing, thereby diverting the people from trade and industry." Annais 3, 93. „the real and substantial traffic of many of the dealers thercin (sc. in the chimerical trade) was for many months in a great measure suspendcd or at least much ncglected" . . „the traffic in these (bubbles) did grcatly promote luxury, idlcncss and extravagance in the middling and lower classts of the people, diverting them from their wonted industry and frugality." 1. c. pag. 99.

*) Auch in der englischen Sprache finden wir die Unterscheidung zwischen tinancial crises und commercial crises in dem hier angedeuteten Sinne ; so wenn 2. B. Macaulay die beiden Krisen des Jahres 1696 mit diesen Ausdrücken belegt (Hist. of Engl., Tauchnitz ed. 8, 156,; 160), allerdings findet sich dann die Bezeichnung financial crisis gelegentlich auch in einem anderen Sinne, gemäß der abweichenden

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Werner Sombart,

sie als dritte Gruppe neben den privatwirtschaftlichen und den volkswirtschaftlichen Krisen besonders zu unterscheiden. Wohl ver- standen: es handelt sich dabei um die Krisen, die die öffentlichen Haushalte erleiden, nicht die sie durch ihren Bankerott verursachen. In dem Sinne, den ich den Worten gebe, braucht Richard Ehrenberg das Wort „Finanzkrisen" offenbar, wenn er den zweiten Band seines „Zeitalters der Fugger" überschreibt: „Die Weltbörsen und Finanzkrisen des 16. Jahrhunderts", obwohl man bei der Lektüre gelegentlich meinen könnte, er wolle als Finanz- krisis auch die Notlage angesehen wissen, in die, infolge der zahl- reichen Bankerotte der französischen und spanischen Könige, viele Geldgeber gerieten.

Alles andere sind dann volkswirtschaftliche Krisen in dem Sinne von Geschäftsstörungen, die zu einer Notlage der selbständigen Produktionswirtschaften Veranlassung werden. Das wäre also jener Krisentyp, den Ad. Wagner im Auge hat, wenn er Krise schlechthin definiert als „die massenhaft auf einmal auf- tretende Zahlungsunfähigkeit selbständiger wirtschaftlicher Unter- nehmer".

Fassen wir die volkswirtschaftlichen Krisen näher ins Auge, untersuchen wir sie auf ihre Artbeschaflfenheit hin, so finden wir, daß sie samt und sonders „Absatzkrisen" sind, das heißt da- durch entstehen, daß der Absatz der Produkte nicht lohnend ist. Diese Entdeckung wird uns kaum in Erstaunen setzen, denn sie enthält nichts anderes als die Feststellung einer Selbstverständlich- keit. Wenn es sich bei den volkswirtschaftlichen Krisen um Ge- schäftsstörungen handelt, die auf gesellschaftliche Ursachen zurück- zuführen sind, die gesellschaftlichen Ursachen aber nur durch Ver- mittlung der Warenzirkulation (den Waren die geldwerten „Dienste" gleichgesetzt) wirksam werden, weil nur durch den Güteraustausch der ökonomische Vergesellschaftungsprozeß sich vollzieht, so ist es

Bedeutung des Wortes „finance" im englischen, nämlich eher im Sinne der Krisen, die ich vorhin „Spekulationskrisen" nannte, oder auch im Sinne aller Kriscntypen, die ich privatwirtschaftlichc nenne. Vgl. z. B. Charles A. Conan), A History of modern banks of issue (2. ed. 1896) p. 453: ,,a distinetion is sometimes made belwecn financial and commercial crises ... A panic often occurs in the money market or on the stock exchange, as the rcsult of a great failure, a political event or a mere rumor. Such events, whcre they producc no effeet upon thcgcncral movement ofaffairs, may be describcd as financial or purely monetary crises, if they arc worth dignifying with any special designation . . . '

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Versuch einer Systematik der Wirtschaftskrisen.

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im Grunde eine Tautologie, wenn man sagt, daß alle Geschäfts- störungen gesellschaftlicher Natur auf Störungen im Austausch- mechanismus zurückzuführen seien. Am letzten Ende zurückzu- führen seien, wird man gut tun, erläuternd hinzuzufügen. Denn zahlreiche Produktionswirtschaften haben in der gegenwärtigen Wirtschaftsepoche unmittelbar mit Warenumsatz nichts zu tun; namentlich auch die wichtige Kategorie der Kredit vermittelnden Unternehmungen nicht. Wenn sie notleidend werden, so beruht das zunächst also nicht auf ungenügender Absatzgelegenheit, sondern auf der Zahlungsunfähigkeit ihrer .Kundschaft. Diese aber wird letztlich ihren Grund in nichts anderem als einer Absatzstockung haben können.

Ich habe absichtlich ganz vage von „nicht lohnendem Absatz", von „Absatzstockung" gesprochen und will nun diese Ausdrücke noch etwas präzisieren. Nicht lohnend ist der Absatz dann, wenn der Gesamterlös der von einer Wirtschaft abzusetzenden Waren keinen Profit ergibt oder gar die Produktions- (oder Anschaffungs-) Kosten nicht deckt. Das kann seinen Grund in mannigfachen Umständen haben (die ich hier nur aufzahle, ohne sie in ihrem ursächlichen Zusammenhange zu verfolgen, was Aufgabe der Krisentheorie oder anderer ökonomischer Theorien ist).

Es ist möglich, daß nicht genügend Waren nachgefragt werden : sei es weit im ganzen von einer bestimmten Warengattung nicht mehr so viel wie ehedem verlangt wird dauernd oder vorüber- gehend! — sei es weil sich die Nachfrage anderen Märkten zu- gewandt hat. Es ist aber auch möglich, daß zwar alle Waren, die eine Wirtschaft abzugeben hat, vom Markte aufgenommen werden, aber zu „unlohnenden" Preisen. Die niedrigen Preise wiederum können ihren Grund darin haben, daß der „gesellschaft- lich notwendige Aufwand", der zur Beschaffung der Güter zu machen ist, sich verringert hat: dann sind die Preise „unlohnend" nur für solche Wirtschaften, deren Produktionskosten über den „gesellschaft- lich notwendigen" verharrten : westeuropäische Landwirtschaft ! Haus- weberei ! Handwerk ! Oder es sind die Preise niedrig, zu niedrig, um lohnend zu sein, ohne jene eben angenommene Senkung der ge- sellschaftlich notwendigen Kosten: dann werden von dem niedrigen Preisstande alle Wirtschaften betroffen.

Wenn man innerhalb der volkswirtschaftlichen Krisen partielle und allgemeine unterscheidet , so ist das nicht zweckmäßig, denn die Unterscheidung läßt sich einigermaßen genau gar nicht

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Werner Sombart,

vornehmen. Wirklich „allgemeine" Krisen, in dem eminenten Sinne, daß alle Wirtschaften eines größeren Wirtschaftsgebietes (etwa einer moderne Volkswirtschaft) Not litten, hat es nie gegeben und wird es nie geben. Immer bleiben einzelne Branchen oder einzelne Wirtschaften innerhalb einer Branche von der Notlage, mag sie noch so „allgemein" gewesen sein, verschont. Es handelt sich also um ein Mehr oder Weniger. Deshalb wird, man besser tun zu sagen: jede volkswirtschaftliche Krisis setzt als partielle ein, hat aber eine Tendenz zur Verallgemeinerung. Diese Tendenz ist in der Natur der Warenzirkulation begründet, sobald diese sich der Ver- mittlung des Geldes bedient. Wird an einer Stelle der Absatz „un- lohnend", so verringert sich die Kaufkraft dieser Gruppe von Waren- verkäufern und dadurch verschlechtern sich wiederum die Absatz- bedingungen für diejenigen Warenbesitzer, die an jene erste Gruppe abzusetzen genötigt sind. Diese allgemein bekannten Zusammen- hänge sind neuerdings in theoretisch einwandfreier Weise von Tugan-Baranowski begründet worden, auf den hier verwiesen werden mag.1)

Dagegen ist nun von außerordentlicher Wichtigkeit, innerhalb der volkswirtschaftlichen Krisen eine andere Unterscheidung zu treffen, nämlich zwischen dem, was ich einfache Absatzkrisen und Kapitalkrisen nenne.

Einfache Absatzkrisen sind diejenigen, die darum ent- stehen, weil aus irgend einem Grunde die kauffähige Nachfrage eine Verminderung erfahrt, ohne daß sich auf Seite des Angebots etwas Wesentliches verändert hätte. Aus irgend einem Grunde: sei es weil die Ernte schlecht ausgefallen ist, oder weil die Grenze gesperrt wird oder weil ein Gegenstand aus der Mode kommt oder weil tech- nische Fortschritte die gesellschaftlich notwendigen Kosten herab- drücken oder weil die Handelswcge ihre Richtung verändern oder eben aus einem anderen Grunde. Etwa auch wegen Geldknappheit, wenn diese nicht etwa erst das Ergebnis eines vorhergegangenen „wirtschaftlichen Aufschwungs" und dann Mitursache einer nicht hierhergehörigen Kapitalkrisis ist. Sondern wenn die Geldknappheit aus irgend einem äußeren Grunde entstanden ist, weil z. B. was in früheren Zeiten häufiger vorkam die Staaten ihre alten Münzen behufs Umprägung einziehen, ohne rasch genug neugeprägte Münzen

') M i c h a cl von Tugan-Baranowski. Studien zur Theorie und Geschichte der Handelskrisen in England. Jena 1901. S. S tT.

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Versuch einer Systematik der Wirtschaftskrisen.

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auszugeben. Man nennt hieraus entstehende Krisen wohl „Geld- krisen",1) wogegen nichts einzuwenden ist, vorausgesetzt, daß man sich über die Beziehung zwischen dem Gelde und den Krisen in der hier angedeuteten Weise völlig klar geworden ist. Alsdann kann man ebensogut von Geldkrisen wie von Modekrisen, Erntc- krisen, Schutzzollkrisen, Kriegskrisen usw. sprechen: immer be- zeichnet das Zusatzwort die (zufallige) Veranlassung, die zu der verhängnisvollen Absatzstockung geführt hat.

Die einfachen Absatzkrisen (deshalb nenne ich sie einfach) sind jeder Wirtschaftsepoche eigentümlich, in der für den Markt pro- duziert wird, negativ ausgedrückt: allen nicht eigenwirtschaftlichen Wirtschaftssystemen. Diese Feststellung war in der Definition dieses Krisentypus bereits enthalten: da Veranlassung zur Krisis immer nur Veränderungen der Nachfrage werden, so folgt daraus, daß die eigentümliche Gestaltung des Angebots, wie sie in den verschiedenen Wirtschaftssystemen zum Ausdruck kommt, ohne Bedeutung für die Entstehung der Krisen ist. Prinzipiell, während graduell sich Unter- schiedlichkeiten naturgemäß leicht ergeben.

Die einfache Absatzkrisis verschont die undifferenzierte „Kun- denproduktion" ebensowenig wie die hochdifierenzierte Produktion für einen großen Markt. Die gewerblichen Produzenten einer mittel- alterlichen Stadt, die vielleicht nur in der nächsten Umgebung ihre Erzeugnisse absetzten, konnten sehr wohl einer Krisis anheimfallen, weil schlechte Ernten, Krieg oder Pestilenz ihren Abnehmerkreis kaufunfahig gemacht hatten. Aber natürlich vergrößert sich die Gefahr einer Krisis in dem Maße, wie die Glieder in der Kette der Warenzirkulation sich vermehren. Aus dem einfachen Grunde, weil gemäß der uns schon bekannten Tendenz der Krisen zur Verall- gemeinerung die Gelegenheit zur Krisenbildung in der einzelnen Gruppe im geraden Verhältnis wächst zu der Zahl der durch die Warenzirkulation mit ihr zusammengekoppeltcn und deshalb in

') So Max Wirth, Gesch. d. Handels.-Kr. (3. Aufl. 1883)8.27!. den Notstand, der im Jahre 1696 das englische Wirtschaftsleben heimsuchte, weil die Silbermünzen umgeprägt und zu diesem Behufe mehrere Monate lang dem Verkehre entzogen wurden. Wirths Gewährsmann Macaul ay spricht dagegen von commercial crisis (History of Engl. 8, 156 ff.). Gelegentlich verquickt sich die einfache Absatzkrisis wegen Geldknappheit mit einer Kapitalkrisis. Das war z. B. 1763 in Hamburg der Fall, als die deutschen Staaten dem Vorbilde Preußens folgend ihre alten Münz- bestände zum Umprägen einzogen. (Siehe Büsch, Sämtl. Sehr, über d. Handlung 4 (1825) 94). Dadurch kam die latente Kapitalkrisis erst zum Ausbruch.

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Werner Sombart,

ihrem wirtschaftlichen Erfolge mit ihr solidarischen fremden Wirt- schaften. Deshalb muß cet par. die Krisengefahr mit zu- nehmender Differenzierung der Produktion und daraus folgender Verlängerung des Weges der Warenzirkulation sich vergrößern.1)

Die einfache Wirtschaftskrisis ist nicht auf Wirtschaftsepochen mit stark oder überhaupt entwickelten Kreditverkehr beschränkt; auch Wirtschaftsverfassungen mit reinem Barverkehr sind ihnen ausgesetzt. Es genügt ja, daß an irgend einer Stelle sich die Ver- wandlung der Ware in die Geldform nicht prompt vollzieht, um die Möglichkeit einer Krisis zu begründen. Der Kredit vermehrt nur wieder durch sein Dazwischentreten die Möglichkeiten einer Zer- reißung der Warenzirkulationskette. Er steigert gleichsam die Krisengefahr intensiv, wie sie die Differenzierung der Produktion ex- tensiv steigert.

Die einfache Absatzkrisis ergreift endlich ebenso leicht bäuer- lich oder handwerksmäßig organisierte Wirtschaften wie kapita- listische Unternehmungen. Soweit eine Agrarkrisis heute in West- europa besteht, sind ihr die Bauern vorausgesetzt, daß sie dieselben Gegenstände produzieren ebenso verfallen wie die Gutswirte und das Handwerk leidet in der Gegenwart oft genug unter einer Krisennot, wenn es den industriellen Unternehmungen derselben Branche (oder weil es diesen) recht gut ergeht. An- falliger sind kapitalistische Unternehmungen nur insoweit, als auf sie die die Krisengefahr steigernden Momente der Differenzierung des Wirtschaftslebens und des Kreditverkehrs mehr Anwendung finden.

Negativ das Ergebnis unserer Feststellungen zusammengefaßt: die einfachen Absatzkrisen sind keineswegs an das Zeitalter kapi- talistischer Wirtschaft gebunden, können also auch nicht durch den Kapitalismus erst erzeugt sein. Damit treten sie in einen deutlichen Gegensatz zu den nun noch näher zu betrachtenden Kapitalkrisen. Diese nämlich, die Kapitalkrisen, sind nur da, weil und insoweit das Wirtschaftsleben kapitalistisch organisiert ist. Denn sie entspringen aus dem Kapitalverhältnis selbst. Ihre Ver-

J) Nebenbei bemerkt: Diese Ausweitung der Warenzirkulation ist ein Moment, welches die Gegenwart von der Vergangenheit unterscheidet. Nicht damit zu ver- wechseln ist die Länge des Weges, den ein Gut aus der Produktions- in die Kon- sumtionswirtschaft zurückzulegen hat. Bücher hat auf der Verwechslung dieser beiden ganz verschiedenen Dinge seine falsche Theorie der Wirtschaftsstufen aufgebaut.

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Versuch einer Systematik der Wirtschaftskrisen.

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anlassung liegt also immer in Vorgängen auf der Seite des Ange- bots, dessen Organisation nun nicht mehr indifferent für das Ein- treten der Krisis ist, sondern im Gegenteil ausschlaggebend für das Krisenereignis wird. Mir scheint, daß ein großer Teil der Un- klarheiten, unter denen die meisten Krisentheorien leiden, zurück- zuführen ist auf die mangelhafte Unterscheidung der beiden Typen volkswirtschaftlicher Krisen. Ich wiederhole: einfache Absatzkrisen gehören sowohl dem kapitalistischen wie dem vorkapitalistischen Zeitalter an, Kapitalkrisen nur dem kapitalistischen; die vorkapita- listische Wirtschaftsepoche kannte nur einfache Absatzkrisen, die kapitalistische Epoche hat beide Formen nebeneinander: einfache Absatzkrisen und Kapitalkrisen.

Bei genauerem Hinsehen werden wir nun aber leicht gewahr, daß der Typus der Kapitalkrisen wiederum kein einheitlicher ist, daß sich vielmehr deutlich zwei verschiedene Arten derartiger Krisen unterscheiden lassen. Ich will sie als primäre und sekundäre Kapitalkrisen bezeichnen.

Die primären Kapitalkrisen entspringen unmittelbar aus dem Prozeß der kapitalistischen Wirtschaft als solcher. Sie be- dürfen zu ihrer Entstehung nicht des Dazwischentretens eines be- sonderen Ereignisses, sondern folgen aus der Natur der kapita- listischen Organisation selbst. Sie sind dieser immanent. Diese kann nicht sein ohne sie. Weshalb man diesen Typus der Kapital- krisen auch als konstitutionelle, essentielle, immanente oder endogene Kapitalkrisen bezeichnen könnte. Systematisch stehen die primären Kapitalkrisen unter den verschiedenen Typen der Kapitalkrisen an erster Stelle, historisch sind sie jedoch eine spätere Form, weil sie sich erst in einer ausgebildeten kapitalistischen Wirtschaft, in der hochkapitalistischen Wirtschaftsepoche, einstellen. Bis dahin ist ihr Eintritt durch entgegenwirkende Tendenz aufgehalten worden. Kennt- lich ist diese Krisenart daran, daß sich für ihren Eintritt keinerlei bestimmte Veranlassung nachweisen läßt. Da sie bisher meist in „milder" Form, mehr als Tendenz zum Notstande wie als Notstand selbst, dafür aber während einer längeren Periode aufgetreten ist, so bezeichnet man sie oft als „chronische" wirtschaftliche Depression, indem man ihr die andere Form der Kapitalkrisen, die ich die sekundäre nenne, als „akute" Krisen gegenüberstellt. Diese Unter- scheidung haftet zu sehr an äußeren Symptomen und empfiehlt sich deshalb nicht. Was den anderen nun noch zu erwähnenden Krisentyp kennzeichnet, ist vielmehr dieses:

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Werner Sombart,

Die sekundären Kapitalkrisen sind Folgen besonderer Ereignisse, besser : eines besonderen Ereignisses, dessen Eintritt die Vorbedingung ihrer Existenz ist; die Folge dessen, was wir einen wirtschaftlichen Aufschwung, eine allgemeine Hausse des Wirtschafts- lebens nennen. „Une crise ne survient jamais ä l'improviste, eile a toujours £te pr^cedöe d'une periode de grande prospeYite et d un grand mouvement d'affeires qui n'a pu avoir lieu sans une pro- gression, pour ainsi dire, continue de hausse." l) Sie kann ebenso- wenig innerhalb einer kapitalistischen Volkswirtschaft „von selbst" entstehen wie der Katzenjammer den Menschen nicht ergreifen kann, der keinen Alkohol zu sich genommen hat. Ihr Eintreten ist also nur insoweit „notwendig", als das ihre Vorbedingung bildende Ereignis der wirtschaftliche Aufschwung „notwendig" ist, das heißt aus dem Wesen kapitalistischer Wirtschaft mit Not- wendigkeit folgt. Läßt sich etwa der Nachweis führen, daß der wirtschaftliche Aufschwung kein notwendiges, sondern ein zufälliges Ereignis im Bereich der kapitalistischen Wirtschaft bildet, so würde alsdann folgen, daß auch die sekundären Kapitalkrisen kein aus dem Ablauf des kapitalistischen Wirtschaftsprozesses mit Notwendig- keit folgender Vorgang, daß sie also nicht endogen, sondern exogen, nicht konstitutionell, nicht essentiell, sondern akzidentiell für die kapitalistische Wirtschaft sind.

Der „wirtschaftliche Aufschwung", den wir hier einstweilen als eine bekannte Erscheinung ansehen müssen, so wenig gekannt er tatsächlich ist, nimmt verschiedene Formen an, je nach der An- lagesphäre des Kapitals, die er ergreift. Insbesondere ergeben sich wesensunterschiedliche Entwicklungsreihen , je nachdem von der Aufschwungsbewegung nur das in der Zirkulationssphäre hausende oder auch das in Produktions- (und Verkehrs-)unternchmungen an- gelegte Kapital erfaßt wird. Demgemäß ergeben sich auch ver- schiedene Erscheinungsformen der sekundären Kapitalkrisen, die wir als Handels- und Produktionskrisen bezeichnen können , wobei in die Produktionskrisen die Verkehrskrisen eingeschlossen sein mögen. Es wird zu zeigen sein, daß die Handelskrisen ebensosehr die spezifische Form der sekundären Kapitalkriscn in der frühkapi- talistischen Epoche, wie die Produktionskrisen die in der hoch kapi- talistischen Epoche sind.

Der Übersichtlichkeit halber gebe ich hier das

') Clement Juglar, Des crises commcrciules etc. 2. ed. Paris 1889. p. 14.

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Versuch tiner Systematik der Wirtschaftskrisen.

Schema für die von mir versuchte Systematik der

Wirtschaftskrisen.

A. Krisen als persönliche Schuldtatsache;

B. Krisen als Naturtatsache;

C. Krisen als gesellschaftliche Tatsache.

I. Privatwirtschaftliche Krisen;

II. Finanzkrisen;

III. Volkswirtschaftliche Krisen.

1. Einfache Absatzkrisen;

2. Kapitalkrisen.

a) Primäre Kapitalkriscn ;

b) Sekundäre Kapitalkrisen, a) Handelskrisen;

Produktionskrisen.

II.

Es fragt sich, was diese Systematik, wie ich sie entworfen habe, für das Studium der Wirtschaftskrisen bedeutet. Welche Wege sie uns weist, welche Aufgaben sie uns stellt. Daß sie aber nur dann eine wissenschaftliche Existenzberechtigung hat, wenn sie dazu dient, die Theorie der Wirtschaftskrisen zu klären und zu vertiefen, braucht nicht erst ausdrücklich gesagt zu werden.

Da denke ich denn hilft uns die Einteilung der Krisenphäno- mene, wie ich sie getroffen habe, vor allem dazu, festzustellen, was überhaupt Gegenstand einer „Krisentheorie" sein kann und was nicht ; und weiter : ob überhaupt eine „Theorie der Wirtschafts- krisen" innerhalb der politischen Ökonomie selbständig abgehandelt werden soll. Daß die Krisen, soweit sie keine gesellschaftliche Tat- sache sind (Typus A und B) außerhalb des Bereichs der Sozial- wissenschaften liegen, versteht sich von selbst. Ich möchte aber auch von den gesellschaftlich begründeten Krisen die privatwirt- schaftlichen (C I) und die Finanzkrisen (C II) nicht zu den Objekten der politischen Ökonomie rechnen. Einanzkrisen sind von der Finanzwissenschaft abzuhandeln und privatwirtschaftliche Krisen können das Interesse des „Soziologen" unter verschiedenstem Ge- sichtspunkt erwecken: die „Spekulationskrisen" z. B. als besonders lehrreiche Erscheinungen eines kontagiösen Spielrausches und darauf folgender Massenangst, dieser etwa im Vergleich zu den Vorgängen bei einem Theaterbrande: mit der Volkswirtschaftslehre haben sie

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Werner Sombart,

schlechterdings nichts zu tun, sofern man dieser die Aufgabe zu- weist, den Reproduktionsprozeß des gesellschaftlichen Reichtums zu analysieren. Ist ja doch ein wesentliches Kennzeichen dieser „Störungen", daß „they produce no effect on the general movement of affairs".

Bleiben also die volkswirtschaftlichen Krisen (C III) als Gegen- stand nationalökonomischer Betrachtung zurück. Nun erscheint es mir aber ausgeschlossen, auch nur diese Krisenarten einheitlich in einer Krisentheorie abzuhandeln. Ich möchte vielmehr auch die einfachen Absatzkrisen beiseite gestellt sehen, ehe man den Plan zu einer Krisentheorie entwirft, weil ich der Meinung bin, daß dieser Krisentyp als solcher unfähig ist, Gegenstand einer besonderen Theorie zu bilden.

Wir müssen uns klar machen, daß die Lehre von den ein- fachen Absatzkrisen erschöpft ist mit der Lehre von der Warenzirkulation und daß sie als solche ganz und gar nichts proble- matisches enthalten. Die Gesetze der Warenzirkulation als bekannt vorausgesetzt: „comment sctonner quc la secousse des pertur- bations commerciales, quand eile ebranle un marche\ sc fasse sentir de proche en proche Selon l'&enduc des engagements commerciaux ?" (Juglar).

Im Grunde sind wir also über das Wesen der einfachen Ab- satzkrisen seit den Tagen unterrichtet, da uns die Nationalökonomen des 17. Jahrhunderts zuerst die Theorie der Warenzirkulation ent- wickelt haben. In den Schriften der Boisquillebert, Joh. Joach. Becher, Petty, Bellers findet sich alles Wissenswerte über Wesen und Bedeutung der einfachen Absatzkrisen. Ich wüßte nicht, was den Ausführungen hinzuzufügen wäre, die John Bellcrs in seinem „Colledgc of Industry" über diesen Gegenstand macht, wenn er sagt :

„In the common way of üving on trade, men, their wives or children, often lose half what they get cithcr by dear bargains, bad debts or law suits, of which there will be neither in the colledge; and if the earth gives but forth its fruit and the workmen do but their parts, they will have plenty; whereas often now, the husbandmen and mechanics both are ruined, tho' the first have a great crop and the second industriously maketh much manufacture. Money and not labour being made the Standard, the husbandman paying the same rent and wages as when the crop yieldcd double the pricc; it being no better with the mechanics, where it's not who wants his commodity, but who can give him money for it (will keep

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Versuch einer Systematik der Wirtschaftskrisen.

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hini) and so often he must take half the value in money, another could give him in labour that hath no money." x)

Will man mehr sagen, außer was diese Skizze etwas weiter ausfuhrt, will man eine „Theorie der einfachen Absatzkrisen" geben, das heißt also vor allem ihre Ursachen aufdecken, so kommt man, da, wie wir sahen, die Veranlassung zur Unterbrechung der Warenzirkulation eine beliebige sein kann und vom Standpunkt des wirtschaftlichen Prozesses aus stets eine zufällige ist, zu einer zusammenhanglosen Aufzählung der Krisenursachen, wie sie etwa Roscher in seinem bekannten Essai über die „Absatzkrisen" gibt. Es heißt das etwa so verfahren, wie der Pathologe, der eine „Theorie des Schnupfens" zu geben glaubte damit, daß er alle erdenklichen Fälle aufzählte, in denen man sich den Schnupfen holen kann. In der Tat gesteht Roscher selbst zu, daß in einer rein äußerlichen Aufzählung der „Krisenursachen" die „Physiologie" der Absatzkrisen bestehe, wenn er sagt : 2) „Die Ursachen einer solchen Wirtschaftskrankheit sind im höchsten Grade mannigfaltig. Jeder (!) Umstand, welcher plötzlich und stark die Produktion vermehrt, die Konsumtion ver- mindert oder auch nur die gewohnte Ordnung des Verkehrs er- schüttert, muß eine Absatzkrise nach sich ziehen " und wenn er nach dieser Einleitung die Krisenursachen in dieser Reihenfolge Revue passieren läßt: Modewechsel, Epidemien, Verwandlung von Einkommensteilen in Kapital, Verbesserung des Maschinenwesens, unmäßige Ackerproduktion, günstige Absatzkonjunkturen, Schwin- deleien, bloß temporäre Erweiterungen der Nachfrage, Preisernied- rigung der Edelmetalle, Kornteuerung, Ausbruch eines Krieges, innere Unruhen, die allzugroße Sicherheit eines tiefen Friedens, Bankpolitik. Es liegt kein Grund vor, nicht noch ein weiteres halbes oder ganzes Dutzend von Krisenursachen anzuführen.

') Proposais for Raising a Collcdgc of Industry of all usefull Tradcs and Husbandry with Profit for the Rieh, a plentiful Living for the Poor and a Good Education for Youtb etc. Py John Bellers. London 1696. Das Original habe ich noch niemals zu Gesicht bekommen. Keine der großen deutschen Bibliotheken besitzt meines Wissens die Schrift, deren Verfasser Marx mit Recht „ein wanres Phänomen in der Geschichte der politischen Ökonomie" nennt. Ich zitiere nach dem Neudruck in: „A supplemcntary Appendix to the first Volume of the Life of Robert Owen etc. Vol. I A. London 1858 pag. 171.

*) Roscher, Ansichten der Volksw. 2. Aull. (1861) S. 312. Roscher unter- scheidet übrigens nicht zwischen einfachen Absatzkrisen und Kapitalkrisen, wodurch seine Darstellung noch verworrener wird.

Archiv für Soxialwmenschaft u. Sozialpolitik. 1. (A. f. so*. O. u. St. XIX.) 1. 2

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Werner Sorabart,

Dagegen sind nun die Kapitalkrisen als solche zweifellos würdige Objekte theoretischer Behandlung. Da sie in der Natur der kapitalistischen Organisation begründet sind, so wird ihre Erörterung einen integrierenden Bestandteil der Theorie der kapitalistischen Wirtschaft überhaupt bilden und sicher einen der wichtigsten. Den- noch würde ich es für verfehlt halten, den Komplex von Erschei- nungen, den wir mit dem Begriff der Krisis zusammenfassen, zum Gegenstand einer gesonderten Betrachtung zu machen, weil ich glaube, daß auch diejenigen „Störungen", die wir als Kapitalkrisen bezeichnet haben, kein Problem bilden, das eine methodisch cin- wandsfreie Behandlung zuließe.

Zunächst ist es sicher einmal falsch, die Lehre von den Krisen als eine Art von „Pathologie" des Wirtschaftsorganismus, der „Physiologie" oder „Anatomie" gegenüberzustellen. Auch wenn wir uns vor den Gefahren der hiermit nahe gelegten Realanalogie zur Medizin hüten würden, so wäre es doch immer unstatthaft, die Krisen als einen „anomalen" Zustand dem normalen gegenüberzu- stellen. Denn einen solchen „normalen" Zustand ohne Krisen gibt es nicht und es hätte auch wenig Zweck, ihn als regulative Idee für die Forschung zu konstruieren. Diese würde dadurch eher irre- geführt als gefördert werden. Es wäre das ebenso, als wenn man, um die Fallgesetzc zu finden, von der Konstruktion einer Körper- welt ohne Schwere ausgegangen wäre oder um die Lehre von der Ermüdung zu entwickeln, sich einen Zustand dächte, in dem der Energie ausgebende Organismus überhaupt nicht ermüdete. Wenn es richtig ist (was freilich erst erwiesen werden muß), daß der „ungestörte" Verlauf der kapitalistischen Wirtschaft notwendig zu den als Krisen bezeichneten „Störungen" führt: wo ist dann der „normale" Zustand ohne Krisen? Wenn die sekundäre Kapitalkrisis (was bereits bekannt ist) die Reaktion gegen den wirtschaftlichen Aufschwung ist, der unvermeidliche Zusammenbruch nach einer Periode der Überreizung, warum will man dann diese Reaktion, diesen Zusammenbruch als den anomalen Zustand dem Aktionszu- stande gegenüberstellen? Ich weiß nicht, was „pathologischer" ist: die fieberhafte Überspannung aller produktiven Kräfte während der Hausse oder die Erschlaffung während der Baisse. Es ist eben das „Normale", daß auf den Rausch der Katzenjammer folgt. Und (da man so gerne die Analogie der Medizin heranzieht) kein Medi- ziner, der einen Morphiumkranken behandelt, wird den Morphium- rausch für etwas Normaleres ansehen als die darauffolgende De-

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Versuch einer Systematik der Wirtschaftskrisen.

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pression oder die Anspannung der Muskeln im Geschlechtsakte, deren Erschlaffung nach seinem Vollzuge als das Normale dem Abnormen gegenüberstellen.

Aber auch wenn wir uns ganz frei machen von den Vor- stellungen eines „normalen" Verlaufes des Wirtschaftslebens und seinem Gegenteil, erscheint es unzweckmäßig, das Problem der Krisen zum Gegenstande einer besonderen Theorie zu machen. Dazu ist der Begriff der Krisis viel zu unbestimmt und unbestimm- bar. Sowohl bei den primären wie bei den sekundären Kapital- krisen ist es oft ganz unmöglich zu entscheiden, ob nun wirklich eine Krisis vorliegt oder nicht, weil es ja an jedem exakten Maß- stab zur Feststellung des Tatbestandes einer Krisis fehlt. Wenn wir die Symptome überblicken, an denen wir das Vorhandensein einer Krisis beurteilen sollen *), so ist kein einziges darunter , das eine einwandsfreie Konstatierung einer „Krisis" zuließe, das sich nicht auch bemerkbar machen könnte in einer „krisenlosen" Zeit. Diese Symptome sind nämlich : verringerte Heiratsziffern ; Zunahme der Sterblichkeit ; Anwachsen der Eigentumsvergehen und der poli- zeilichen Anzeigen wegen Bettelei, Landstreicherei, Arbeitsscheu; Zunahme der Armenunterstützung ; Ergebnisse der Wanderbewegung zwischen Stadt und Land ; Rückgang der Börsenkurse und Industrie- werte und parallele Aufwärtsbewegung der staatlichen Fonds; Steigen der Zahl der Konkurse; ungünstige Bankausweise; un- günstige Betriebsergebnisse; Überfüllung des Arbeitsmarktes.

So darf es uns denn nicht wundernehmen, wenn eine Ab- wärtsbewegung der Industrie wie die in den Jahren 1900 fr. von den einen als „Krisis" angesprochen wird, während andere ihr den Charakter einer „Krisis" aberkennen. Daß es heutzutage gar keine „Krisis" mehr gäbe, ist nicht nur die Auffassung von Theoretikern (Bernstein ! Dietzel !), sondern auch die vieler Praktiker, namentlich derer, die die furchtbare Katastrophe des Jahres 1857 noch selbst miterlebt haben. Und in der Tat : verglichen mit den Verwüstungen, die ein wirtschaftlicher Rückschlag in früherer Zeit mit sich zu bringen pflegte, kommt das, was wir soeben erlebt haben, kaum in Betracht. Wollte man die Wirkungen, die die letzte „Krisis" auf den deutschen Volkskörper ausgeübt hat, in dem Satze zusammen-

*) Vgl. die urtcilsvolle Zusammenstellung bei F. Eulenburg, Di«« gegen- wärtige Wirtschaftskrisis in den Jahrbüchern für Nat-Okonora. III. Folge. Bd. 24, S. 316 ff.

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Werner Sombart,

fassen: „Ganz Deutschland gleicht einem Kranken, der sich auf seinem Schmerzenslagcr hin und her wälzt", *) so wäre das eine maßlose Übertreibung; für das England der 1830er, 1840er, 1850er Jahre war es in hohem Grade zutreffend.

Nun lallt aber dieses Bedenken, daß man gar nicht (auch rein theoretisch nicht) bestimmen kann, ob eine „Krisis" vorhanden ist oder nicht, für die Deutung der empirischen Wirklichkeit um so mehr ins Gewicht, je weiter die kapitalistische Entwicklung fort- schreitet, denn allem Anschein nach macht die Katastrophenform auch der sekundären Kapitalkrisen, immer mehr der milderen Form langsamen Geschäftsrückganges Platz. Die primären Kapitalkriscn aber, denen voraussichtlich in viel größerem Maße die Zukunft ge- hört als den sekundären,2) äußern sich stets in einer Form, die man vielfach gar nicht als Krisis zu bezeichnen sich entschließen kann, weshalb man lieber von wirtschaftlicher Depression als von Krisen spricht.

Endlich noch eine Erwägung, die es unratsam erscheinen läßt, einen unter dem Begriff der Krisis zusammengefaßten Erscheinungs- komplex einer gesonderten Betrachtung zu unterziehen. Handelt man die Krisen für sich ab, so kommt wenigstens bei den sekun- dären Kapitalkrisen der sie veranlassende Zustand des wirtschaft- lichen Aufschwungs regelmäßig zu kurz. Nun ist aber, sobald man einsieht, daß die sekundäre Kapitalkrisis nicht nur post hausse, sondern propter hausse auftritt, die Lehre von den sekundären Krisen ohne die Lehre vom wirtschaftlichen Aufschwung ebenso unvollständig und deshalb wertlos, wie es etwa eine Darstellung der Wirkungen des Alkohols auf den Organismus wäre, die erst bei den Rcaktionszuständen des Katzenjammers einsetzen wollte. Läßt man aber den wirtschaftlichen Aufschwung diejenige Beachtung zuteil werden, die er tatsächlich verdient, so gibt man offenbar mehr als nur eine Krisentheorie.

Zieht man dieses alles in Betracht, so wird es sich als zweck- mäßiger erweisen, die Untersuchung statt auf das zu enge und zu

') „L'Anglctcrre est un malade, qui s'agit vainement sur son lit de douleur." I.. Kau eher, Etudes .sur l'Anglctcrrc 2 (1845), 454.

') Das wurde schon im Jahre 1850 von Friedrich Engels ausgesprochen, der sich übrigens der Duplizität des kapitalistischen Krisenproblenis nicht bewußt war. Siehe Neue Khein. Zeitung, pol.-ökon. Kcvuc redig. von Karl Marx. 4. Heft, April 1850. S. 16.

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Versuch einer Systematik der Wirtschaftskrisen.

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unbestimmte Krisenproblem, auf das allgemeinere und doch be- stimmtere Problem der Bewegungsformen der kapita- listischen Wirtschaft auszurichten. Man wird nicht mehr den Gegensatz von gesund und krank, von normal und abnorm, von gut und schlecht, von hoch und niedrig urgieren, sondern wird von der Erkenntnis ausgehen müssen, daß die kapitalistische Wirt- schaft entweder von einer Tendenz nach oben (steigende Preise, steigende Beschäftigung, steigende Profite, steigende Löhne) oder nach unten beherrscht wird. Da wir nun für diesen Wechsel von Expansions- oder Kontraktionszuständen, für diese Bewegungsformen den Ausdruck „Konjunktur" haben, so kann man das Ergebnis der soeben angestellten Betrachtungen auch in den Satz zusammen- fassen: die Krisentheorie muß zu einer Theorie der Konjunk- tur erweitert werden.

Die Behandlung dieses Problems wird naturgemäß sich in folgende Teilaufgaben gliedern müssen:

E r s t e n s die Frage : folgt aus dem Wesen der kapitalistischen Wirtschaft ein regelmäßiger Wechsel der Bewegung, mit anderen Worten : hat die kapitalistische Wirtschaft einen^bestimmten Rhyth- mus? Wird diese Frage verneint, ergibt die Untersuchung vielmehr, daß der kapitalistischen Wirtschaft immanent nur eine Tendenz ist: die Abwärtsbewegung, so entsteht angesichts der historischen Tatsache, daß sich im bisherigen Ablauf der kapitalistischen Wirt- schaft ein Rhythmus ergibt durch den regelmäßigen Wechsel von Expansions- und Kontraktionsperioden, von Hausse und Baisse

zweitens die Frage: wodurch wird eine Aufwärtsbewegung erzeugt, wodurch entsteht eine Hausse, wie ist wirtschaftlicher Auf- schwung möglich? woran sich dann von selbst

drittens die Frage schließt : muß auf jede Aufschwungsperiode eine Periode des Niedergangs folgen und wenn ja: warum? Die „Krisentheorie" verschwindet also, weil sie sich auflöst in drei unterschiedliche Theorien :

1. die Theorie der wirtschaftlichen Depression (der „chro- nischen" Baisse);

2. die Theorie des wirtschaftlichen Aufschwungs (der Hausse);

3. die Theorie der wirtschaftlichen Reaktion (der „akuten" Baisse).

Aufgabe der folgenden Abhandlungen wird es sein, diese Theorien zu entwickeln.

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Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. !)

Von

MAX WEBER.

Die erste Frage, mit der bei uns eine sozial wissenschaftliche und zumal eine sozialpolitische Zeitschrift bei ihrem Erscheinen oder bei ihrem Übergang in eine neue Redaktion begrüßt zu werden

') Wo in Abschnitt I der nachstehenden Ausführungen ausdrücklich im Namen der Herausgeber gesprochen wird oder dem Archiv Aufgaben gestellt werden, handelt es sich natürlich nicht um Privatansichten des Verfassers, sondern sind die be- treffenden Äußerungen von den Mitherausgebern ausdrücklich gebilligt. Für Ab- schnitt II trifft die Verantwortung für Form und Inhalt den Verfasser allein.

Daß das Archiv niemals in den Bann einer bestimmten Schulmeinung geraten wird, dafür bürgt der Umstand, daß der Standpunkt nicht nur seiner Mitarbeiter, sondern auch seiner Herausgeber, auch in methodischer Hinsicht, keineswegs schlecht- hin identisch ist. Andererseits war natürlich eine Übereinstimmung in gewissen Grundanschauungen Voraussetzung der gemeinsamen Übernahme der Redaktion. Diese Übereinstimmung besteht insbesondere bezüglich der Schätzung des Wertes theoretischer Erkenntnis unter „einseitigen" Gesichtspunkten, sowie bezüglich der Forderung der Bildung scharfer Begriffe und der strengen Scheidung von Er fahrungs wissen und Werturteil, wie sie hier natürlich ohne den Anspruch, damit etwas „neues" zu fordern vertreten wird.

Die vielen Breiten der Erörterung (sub II) und die häufige Wiederholung desselben Gedankens dient dem ausschließlichen Zweck, das bei solchen Ausführungen mög- liche Maximum von Gemeinverständlichkeit zu erzielen. Diesem Interesse ist viel hoffentlich nicht zu viel an Präzision des Ausdrucks geopfert, und ihm zu Liebe ist auch der Versuch an Stelle der Aneinanderreihung einiger metho- dologischer Gesichtspunkte eine systematische Untersuchung treten zu lassen, hier

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Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 23

pflegt, ist: welches ihre „Tendenz" sei. Auch wir können uns einer Antwort auf diese Frage nicht entziehen und es soll an dieser Stelle darauf im Anschluß an die Bemerkungen in unserem „Geleit- wort" in etwas prinzipiellerer Fragestellung eingegangen werden. Es bietet sich dadurch Gelegenheit, die Eigenart der in unserem Sinne „sozialwissenschaftlichen" Arbeit überhaupt nach manchen Rich- tungen in ein Licht zu rücken, welches, wenn nicht für den Fach- mann, so doch für manchen der Praxis der wissenschaftlichen Arbeit ferner stehenden Leser nützlich sein kann, obwohl oder vielmehr gerade weil es sich dabei um „Selbstverständlichkeiten" handelt. Ausgesprochener Zweck des „Archivs" war seit seinem Be- stehen neben der Erweiterung unserer Erkenntnis der „gesell- schaftlichen Zustände aller Länder", also der Tatsachen des sozialen Lebens, auch die Schulung des Urteils über praktische Probleme desselben und damit in demjenigen, freilich sehr bescheidenen Maße, in dem ein solches Ziel von privaten Gelehrten gefördert werden kann die Kritik an der sozialpolitischen Arbeit der Praxis, bis hinauf zu derjenigen der gesetzgebenden Faktoren. Trotzdem hat nun aber das Archiv von Anfang an daran festgehalten, eine ausschließlich wissenschaftliche Zeitschrift sein zu wollen, nur mit den Mitteln wissenschaftlicher Forschung zu arbeiten, und es entsteht zunächst die Frage: wie sich jener Zweck mit der Beschränkung auf diese Mittel prinzipiell vereinigen läßt. Wenn das Archiv in seinen Spalten Maßregeln der Gesetzgebung und Ver- waltung oder praktische Vorschläge zu solchen beurteilen läßt was bedeutet das? Welches sind die Normen für diese Ur- teile? Welches ist die Geltung der Werturteile, die der Beurteilende seinerseits etwa äußert, oder welche ein Schriftsteller, der praktische Vorschläge macht, diesen zugrunde legt? In welchem Sinne be- findet er sich dabei auf dem Boden wissenschaftlicher Er- örterung, da doch das Merkmal wissenschaftlicher Erkenntnis in der „objektiven" Geltung ihrer Ergebnisse als W a h r h e i t gefunden werden muß? Wir legen zunächst unseren Standpunkt zu dieser

ganz unterlassen worden. Dies hätte das Hineinziehen einer Fülle von zum Teil noch weit tiefer liegenden crkcnntnistheorctischcn Problemen erfordert. Es soll hier nicht Logik getrieben, sondern es sollen bekannte Ergebnisse der modernen Logik für uns nutzbar gemacht, Probleme nicht gelöst, sondern dem Laien ihre Hcdeutung veranschaulicht werden. Wer die Arbeiten der modernen Logiker kennt, ich nenne nur Windelband, Simmel, und für unsere Zwecke speziell Heinrich Rickcrt , wird sofort bemerken, daß in allem Wesentlichen lediglich an sie angeknüpft ist.

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Max Weber,

Frage dar, um daran später die weitere zu schließen: in welchem Sinne gibt es „objektiv gültige Wahrheiten" auf dem Boden der Wissenschaften vom Kulturleben überhaupt? eine Frage, die angesichts des steten Wandels und erbitterten Kampfes um die scheinbar elementarsten Probleme unserer Disziplin, die Methode ihrer Arbeit, die Art der Bildung ihrer Begriffe und deren Geltung, nicht umgangen werden kann. Nicht Lösungen bieten, sondern Probleme aufzeigen, wollen wir hier, solche Probleme näm- lich, denen unsere Zeitschrift, um ihrer bisherigen und zukünftigen Aufgabe gerecht zu werden, ihrer Aufmerksamkeit wird zuwenden müssen.

L

Wir alle wissen, daß unsere Wissenschaft, wie mit Ausnahme vielleicht der politischen Geschichte jede Wissenschaft, deren Objekt menschliche Kulturinstitutionen und Kulturvorgänge sind, geschichtlich zuerst von praktischen Gesichtspunkten ausging. Werturteile über bestimmte wirtschaftpolitische Maßnahmen des Staates zu produzieren, war ihr nächster und zunächst einziger Zweck. Sie war „Technik" etwa in dem Sinne, in welchem es auch die klinischen Disziplinen der medizinischen Wissenschaften sind. Es ist nun bekannt, wie diese Stellung sich allmählich ver- änderte, ohne daß doch eine prinzipielle Scheidung von Er- kenntnis des „Seienden" und des „Seinsollendcn" vollzogen wurde. Gegen diese Scheidung wirkte zunächst die Meinung, daß unab- änderlich gleiche Naturgesetze, sodann die andere, daß ein ein- deutiges Entwicklungsprinzip die wirtschaftlichen Vorgänge be- herrsche und daß also das Seins ollende entweder im ersten Falle mit dem unabänderlich Seienden, oder im zweiten Falle mit dem unvermeidlich Werdenden zusammenfalle. Mit dem Erwachen des historischen Sinnes gewann dann in unserer Wissenschaft eine Kombination von ethischem Evolutionismus und historischem Relativismus die Herrschaft, welche versuchte, die ethischen Normen ihres formalen Charakters zu entkleiden, durch Hincinbezichung der Gesamtheit der Kulturwerte in den Bereich des „Sittlichen" dies letztere inhaltlich zu bestimmen und so die Nationalökonomie zur Dignität einer „ethischen Wissenschaft" auf empirischer Grundlage zu erheben. Indem man die Gesamtheit aller möglichen Kulturideale mit dem Stempel des „Sittlichen" ver- sah, verflüchtigte man die spezifische Dignität der ethischen Im-

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Die „Objektivität" sozial wissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 25

perative, ohne doch für die „Objektivität" der Geltung jener Ideale irgend etwas zu gewinnen. Indessen kann und muß eine prinzi- pielle Auseinandersetzung damit hier beiseite bleiben : wir halten uns lediglich an die Tatsache, daß noch heute die unklare Ansicht nicht geschwunden, sondern besonders den Praktikern ganz begreiflicher- weise geläufig ist, daß die Nationalökonomie Werturteile aus einer spezifisch „wirtschaftlichen Weltanschauung" heraus produziere und zu produzieren habe.

Unsere Zeitschrift als Vertreterin einer empirischen Fach-

disziplin muß, wie wir gleich vorweg feststellen wollen, diese An- sicht grundsätzlich ablehnen, denn wir sind der Meinung, daß es niemals Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft sein kann, bindende Normen und Ideale zu ermitteln , um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können.

Was folgt aber aus diesem Satze? Keineswegs, daß Wert- urteile deshalb, weil sie in letzter Instanz auf bestimmten Idealen fußen und daher „subjektiven" Ursprungs sind, der wissenschaft- lichen Diskussion überhaupt entzogen seien. Die Praxis und der Zweck unserer Zeitschrift würde einen solchen Satz ja immer wieder "desavouieren. Die Kritik macht vor den Werturteilen nicht Halt. Die Frage ist vielmehr: Was bedeutet und bezweckt wissen- schaftliche Kritik von Idealen und Werturteilen ? Sie erfordert eine etwas eingehendere Betrachtung.

Jede denkende Besinnung auf die letzten Elemente sinnvollen menschlichen Handelns ist zunächst gebunden an die Kategorien: „Zweck" und „Mittel". Wir wollen etwas in concreto entweder „um seines eigenen Wertes willen" oder als Mittel im Dienste des in letzter Linie Gewollten. Der wissenschaftlichen Betrachtung zugäng- lich ist nun zunächst unbedingt die Frage der Geeignetheit der Mittel bei gegebenem Zwecke. Da wir (innerhalb der jeweiligen Grenzen unseres Wissens) gültig festzustellen vermögen, welche Mittel zu einem vorgestellten Zwecke zu führen geeignet oder un- geeignet sind, so können wir auf diesem Wege die Chancen, mit be- stimmten zur Verfügung stehenden Mitteln einen bestimmten Zweck überhaupt zu erreichen, abwägen und mithin indirekt die Zweck- setzung selbst, auf Grund der jeweiligen historischen Situation, als praktisch sinnvoll oder aber als nach Lage der gegebenen Ver- hältnisse sinnlos kritisieren. Wir können weiter, wenn die Mög- lichkeit der Erreichung eines vorgestellten Zweckes gegeben er- scheint, (natürlich immer innerhalb der Grenzen unseres jeweiligen

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Max Weber,

Wissens) die Folge n feststellen, welche die Anwendung der erforder- lichen Mittel neben der eventuellen Erreichung des beabsichtigten Zweckes, infolge des Allzusammenhanges alles Geschehens, haben würde. Wir bieten alsdann dem Handelnden die Möglichkeit der Abwägung dieser ungewollten gegen die gewollten Folgen seines Handelns und damit die Antwort auf die Frage : was „kostet" die Erreichung des gewollten Zweckes in Gestalt der voraussichtlich eintretenden Verletzung anderer Werte? Da in der großen Uberzahl aller Fälle jeder erstrebte Zweck in diesem Sinne etwas „kostet" oder doch kosten kann, so kann an der Abwägung von Zweck und Folgen des Handelns gegeneinander keine Selbstbesinnung verantwortlich handelnder Menschen vorbeigehen, und sie zu er- möglichen ist eine der wesentlichsten Funktionen der technischen Kritik, welche wir bisher betrachtet haben. Jene Abwägung selbst nun aber zur Entscheidung zu bringen ist freilich nicht mehr eine mögliche Aufgabe der Wissenschaft, sondern des wollenden Men- schen: er wägt und wählt nach seinem eigenen Gewissen und seiner persönlichen Weltanschauung zwischen den Werten, um die es sich handelt. Die Wissenschaft kann ihm zu dem Bewußtsein verhelfen, daß alles Handeln, und natürlich auch, je nach den Umständen, das Nicht -Handeln, in seinen Konsequenzen eine Parteinahme zugunsten bestimmter Werthe bedeutet, und damit was heute so besonders gern verkannt wird regelmäßig gegen andere. Die Wahl zu treffen, ist seine Sache.

Was wir ihm für diesen Entschluß nun noch weiter bieten können, ist: Kenntnis der Bedeutung des Gewollten selbst. Wir können ihn die Zwecke nach Zusammenhang und Bedeutung kennen lehren, die er will und zwischen denen er wählt, zunächst durch Aufzeigung und logisch zusammenhängende Entwicklung der „Ideen", die dem konkreten Zweck zugrunde liegen oder liegen können. Denn es ist selbstverständlich eine der wesentlichsten Auf- gaben einer jeden Wissenschaft vom menschlichen Kulturleben, diese „Ideen", für welche teils wirklich, teils vermeintlich gekämpft worden ist und gekämpft wird, dem geistigen Verständnis zu erschließen. Das überschreitet nicht die Grenzen einer Wissenschaft, welche „denkende Ordnung der empirischen Wirklichkeit" erstrebt, so wenig die Mittel, die dieser Deutung geistiger Werte dienen, „Induktionen" im gewöhnlichen Sinne des Wortes sind. Allerdings fällt diese Auf- gabe wenigstens teilweise aus dem Rahmen der ökonomischen Fachdisziplin in ihrer üblichen arbeitsteiligen Spezialisat ion heraus;

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Die „Objektivität'1 sozialwisscnschaftlicber und sozialpolitischer Erkenntnis. 27

es handelt sich um Aufgaben der Sozialphilosophie. Allein die historische Macht der Ideen ist für die Entwicklung des Sozial- lebens eine so gewaltige gewesen und ist es noch, daß unsere Zeit- schrift sich dieser Aufgabe niemals entziehen, deren Pflege vielmehr in den Kreis ihrer wichtigsten Pflichten einbeziehen wird.

Aber die wissenschaftliche Behandlung der Werturteile möchte nun weiter die gewollten Zwecke und die ihnen zugrunde liegen- den Ideale nicht nur verstehen und nacherleben lassen, sondern vor allem auch kritisch „beurteilen" lehren. Diese Kritik freilich kann nur dialektischen Charakter haben, d. h. sie kann nur eine formal- logische Beurteilung des in den geschichtlich gegebenen Werturteilen und Ideen vorliegenden Materials, eine Prüfung der Ideale an dem Postulat der inneren Widerspruchslosigkeit des Gewollten sein. Sie kann, indem sie sich diesen Zweck setzt, dem Wollenden ver- helfen zur Selbstbesinnung auf diejenigen letzten Axiome, welche dem Inhalt seines Wollens zugrunde liegen, auf die letzten Wert- maßstäbe von denen er unbewußt ausgeht oder um konsequent zu sein ausgehen müßte. Diese letzten Maßstäbe, welche sich in dem konkreten Werturteile manifestieren, zum Bewußtsein zu bringen, ist nun allerdings das letzte, was sie, ohne den Boden der Spekulation zu betreten, leisten kann. Ob sich das urteilende Subjekt zu diesen letzten Maßstäben bekennen soll, ist seine per- sönlichste Angelegenheit und eine Frage seines Wollens und Ge- wissens, nicht des Erfahrungswissens.

Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur was er kann und unter Um- ständen — was er will. Richtig ist, daß die persönlichen Welt- anschauungen auf dem Gebiet unserer Wissenschaften unausgesetzt hineinzuspielen pflegen auch in die wissenschaftliche Argumenta- tion, sie immer wieder trüben, das Gewicht wissenschaftlicher Ar- gumente auch auf dem Gebiet der Ermittlung einfacher kausaler Zusammenhänge von Tatsachen verschieden einschätzen lassen, je nachdem das Resultat die Chancen der persönlichen Ideale: die Möglichkeit, etwas Bestimmtes zu wollen, mindert oder steigert Auch die Herausgeber und Mitarbeiter unserer Zeitschrift werden in dieser Hinsicht sicherlich „nichts Menschliches von sich fern glauben." Aber von diesem Bekenntnis menschlicher Schwäche ist es ein weiter Weg bis zu dem Glauben an eine „ethische" Wissenschaft der Nationalökonomie , welche aus ihrem Stoff Ideale oder durch Anwendung allgemeiner ethischer Imperative auf ihren

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Max Weber,

Stoff konkrete Normen zu produzieren hätte. Richtig ist noch etwas Weiteres: gerade jene innersten Elemente der „Persönlichkeit", die höchsten und letzten Werturteile, die unser Handeln bestimmen und unserem Leben Sinn und Bedeutung geben, werden von uns als etwas „objektiv" Wertvolles empfunden. Wir können sie ja nur vertreten, wenn sie uns als geltend, als aus unseren höchsten Lebenswerten fließend, sich darstellen und so, im Kampfe gegen die Widerstände des Lebens, entwickelt werden. Und sicherlich liegt die Würde der „Persönlichkeit" darin beschlossen, daß es für sie Werte gibt, auf die sie ihr eigenes Leben bezieht, und lägen diese Werte auch im einzelnen Falle ausschließlich innerhalb der Sphäre der eigenen Individualität: dann gilt ihr eben das „Sich- ausleben" in denjenigen ihrer Interessen, für welche sie die Geltung als Werte beansprucht, als die Idee, auf welche sie sich bezieht. Nur unter der Voraussetzung des Glaubens an Werte jedenfalls hat der Versuch Sinn, Werturteile nach außen zu ver- treten. Aber: die Geltung solcher Werte zu b e u r t e i 1 e n , ist Sache des Glaubens, daneben vielleicht eine Aufgabe speku- lativer Betrachtung und Deutung des Lebens und der Welt auf ihren Sinn hin, sicherlich aber nicht Gegenstand einer Erfahrungswissen- schaft in dem Sinne, in welchem sie an dieser Stelle gepflegt werden soll. Für diese Scheidung fallt nicht wie oft geglaubt wird entscheidend ins Gewicht die empirisch erweisliche Tatsache, daß jene letzten Ziele historisch wandelbar und streitig sind. Denn auch die Erkenntnis der sichersten Sätze unseres theoretischen etwa des exakt naturwissenschaftlichen oder mathematischen Wissens ist, ebenso wie die Schärfung und Verfeinerung des Gewissens, erst Produkt der Kultur. Allein wenn wir speziell an die praktischen Probleme der Wirtschafts- und Sozialpolitik (im üblichen Wortsinn) denken, so zeigt sich zwar, daß es zahlreiche, ja unzählige prak- tische Einzelfragen gibt, bei deren Erörterung man in allseitiger Übereinstimmung von gewissen Zwecken als s e 1 b s t v c r s t ä n d 1 i c h gegeben ausgeht man denke etwa an Notstandskredite, an kon- krete Aufgaben der sozialen Hygiene, der Armenpflege, an Maß- regeln wie die Fabrikinspektionen, die Gewerbegerichte, die Ar- beitsnachweise, große Teile der Arbeiterschutzgesetzgebung, bei denen also , wenigstens scheinbar , nur nach den Mitteln zur Erreichung des Zweckes gefragt wird. Aber selbst wenn wir hier was die Wissenschaft niemals ungestraft tun würde den Schein der Selbstverständlichkeit für Wahrheit nehmen und die

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Die „Objektivität" sozialwisscnschalüicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 29

Konflikte, in welche der Versuch der praktischen Durchführung alsbald hinein führt, für rein technische Fragen der Zweckmäßigkeit ansehen wollten, was recht oft irrig wäre , so müßten wir doch bemerken, daß auch dieser Schein der Selbstverständlichkeit der regulativen Wertmaßstäbe sofort verschwindet, wenn wir von den konkreten Problemen karitativ-polizeilicher Wohlfahrts- und Wirtschafts p fl e g e aufsteigen zu den Fragen der Wirtschafts- und Sozial p o 1 i t i k. Das Kennzeichen des sozial politischen Charakters eines Problems ist es ja geradezu, daß es nicht auf Grund bloß tech- nischer Erwägungen aus feststehenden Zwecken heraus zu erledigen ist, daß um die regulativen Wertmaßstäbe selbst gestritten werden kann und muß, weil das Problem in die Region der allge- meinen Kultur fragen hineinragt. Und es wird gestritten nicht nur, wie wir heute so gerne glauben, zwischen „Klasseninteressen", sondern auch zwischen Weltanschauungen, wobei die Wahrheit natürlich vollkommen bestehen bleibt, daß dafür, welche Weltanschauung der einzelne vertritt, neben manchem anderen auch ujjd sicherlich in ganz hervorragendem Maße der Grad von Wahlverwandtschaft entscheidend zu werden pflegt, der sie mit seinem „Klasscninteressc" wenn wir diesen nur schein- bar eindeutigen Begriff" hier einmal akzeptieren verbindet. Sicher ist unter allen Umständen Eines: je „allgemeiner" das Problem ist, um das es sich handelt, d. h. aber hier: je weittragender seine Kulturbedcutung, desto weniger ist es einer eindeutigen Be- antwortung aus dem Material des Erfahrungswissens heraus zu- gänglich, desto mehr spielen die letzten höchst persönlichen Axiome des Glaubens und der Wertideen hinein. Es ist einfach eine Nai- vität, wenn auch von Fachmännern gelegentlich immer noch ge- glaubt wird, es gelte, für die praktische Sozialwissenschaft vor allem „ein Prinzip" aufzustellen und wissenschaftlich als gültig zu erhärten, aus welchem alsdann die Normen für die Lösung der praktischen Einzelprobleme eindeutig deduzierbar seien. So sehr . prinzipielle" Erörterungen praktischer Probleme, d. h. die Zurück- führung der unreflektiert sich aufdrängenden Werturteile auf ihren Ideengehalt, in der Sozialwissenschaft vonnöten sind, und so sehr unsere Zeitschrift speziell sich gerade auch ihnen zu widmen be- absichtigt, — die Schaffung eines praktischen Generalnenners für unsere Probleme in Gestalt allgemein gültiger letzter Ideale kann sicherlich weder ihre Aufgabe noch überhaupt die irgend einer Erfahrungswissenschaft sein: sie wäre als solche nicht etwa nur

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Max Weber,

praktisch unlösbar, sondern in sich widersinnig. Und wie immer Grund und Art der Verbindlichkeit ethischer Imperative gedeutet werden mag, sicher ist, daß aus ihnen, als aus Normen für das konkret bedingte Handeln des Einzelnen, nicht Kulturinhalte als gesollt eindeutig deduzierbar sind, und zwar umsoweniger, je umfassender die Inhalte sind, um die es sich handelt. Nur posi- tive Religionen, präziser ausgedrückt: dogmatisch gebundene Sekten vermögen dem Inhalt von Kultur werten die Dignität unbedingt gültiger ethischer Gebote zu verleihen. Außerhalb ihrer sind Kulturideale, die der einzelne verwirklichen will, und ethische Pflichten, die er erfüllen soll, von prinzipiell verschiedener Dignität. Das Schicksal einer Kulturepoche, die vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, ist es, wissen zu müssen, daß wir den Sinn des Weltgeschehens nicht aus dem noch so sehr vervoll- kommneten Ergebnis seiner Durchforschung ablesen können, sondern ihn selbst zu schaffen im stände sein müssen, daß „Weltanschauungen" niemals Produkt fortschreitenden Erfahrungswissens sein können, und daß also die höchsten Ideale, die uns am mächtigsten bewegen, für alle Zeit nur im Kampf mit anderen Idealen sich auswirken, die anderen eben so heilig sind, wie uns die unseren.

Nur ein optimistischer Synkretismus, wie er zuweilen das Ergebnis des entwicklungsgeschichtlichen Relativismus ist, kann sich über den gewaltigen Ernst dieser Sachlage entweder theoretisch hinwegtäuschen oder ihren Konsequenzen praktisch ausweichen. Es kann selbstverständlich subjektiv im einzelnen Falle genau ebenso pflichtgemäß für den praktischen Politiker sein , zwischen vorhandenen Gegensätzen der Meinungen zu vermitteln, als für eine von ihnen Partei zu ergreifen. Aber mit wissenschaft- licher „Objektivität" hat das nicht das Allermindeste zu tun. Die „mittlere Linie" ist um kein Haarbreit mehr wissen- schaftliche Wahrheit, als die extremsten Parteiideale von rechts oder links. Nirgends ist das Interesse der Wissenschaft auf die Dauer schlechter aufgehoben als da, wo man unbequeme Tatsachen und die Realitäten des Lebens in ihrer Härte nicht sehen will. Das Archiv wird die schwere Selbsttäuschung, man könne durch Synthese von mehreren oder auf der Diagonale zwischen mehreren Parteiansichten praktische Normen von wissen- schaftlicher Gültigkeit gewinnen, unbedingt bekämpfen, denn sie ist, weil sie ihre eigenen Wcrtmaßstäbe relativistisch zu verhüllen liebt, weit gefährlicher für die Unbefangenheit der Forschung

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Die „Objektivität" sozialwissenschafUicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 3 1

als der alte naive Glaube der Parteien an die wissenschaftliche „Be- weisbarkeit" ihrer Dogmen. Die Fähigkeit der Unterscheidung zwischen Erkennen und Beurteilen und die Erfüllung sowohl der wissenschaftlichen Pflicht, die Wahrheit der Tatsachen zu sehen, als der praktischen, für die eigenen Ideale einzutreten, ist das, woran wir uns wieder stärker gewöhnen wollen.

Es ist und bleibt darauf kommt es für uns an für alle Zeit ein unüberbrückbarer Unterschied, ob eine Argumentation sich an unser Gefühl und unsere Fähigkeit für konkrete praktische Ziele oder für Kulturformen und Kulturinhalte uns zu begeistern wendet, oder, wo einmal die Geltung ethischer Normen in Frage steht, an unser Gewissen, oder endlich an unser Vermögen und Bedürfnis, die empirische Wirklichkeit in einer Weise denkend zu ordnen, welche den Anspruch auf Geltung als Erfahrungswahrheit erhebt. Und dieser Satz bleibt richtig, trotzdem, wie sich noch zeigen wird, jene höchsten „Werte" des praktischen Interesses für die Richtung, welche die ordnende Tätigkeit des Denkens auf dem Gebiete der Kulturwissenschaften jeweils einschlägt, von ent- scheidender Bedeutung sind und immer bleiben werden. Denn es ist und bleibt wahr, daß eine methodisch korrekte wissenschaftliche Beweisführung auf dem Gebiete der Sozialwissenschaften, wenn sie ihren Zweck erreicht haben will, auch von einem Chinesen als richtig anerkannt werden muß oder richtiger gesagt daß sie dieses, vielleicht wegen Materialmangels nicht voll erreichbare, Ziel jedenfalls erstreben muß, daß ferner auch die logische Analyse eines Ideals auf seinen Gehalt und auf seine letzten Axiome hin und die Aufzeigung der aus seiner Verfolgung sich logischer und praktischer Weise ergebenden Konsequenzen, wenn sie als ge- lungen gelten soll, auch für ihn gültig sein muß, während ihm für unsere ethischen Imperative das „Gehör" fehlen kann, und während er das Ideal selbst und die daraus fließenden konkreten Wertungen ablehnen kann und sicherlich oft ablehnen wird, ohne dadurch dem wissenschaftlichen Wert jener denkenden Analyse irgend zu nahe zu treten. Sicherlich wird unsere Zeitschrift die immer und un- vermeidlich sich wiederholenden Versuche, den Sinn des Kulturlebens eindeutig zu bestimmen, nicht etwa ignorieren. Im Gegenteil : sie gehören ja selbst zu den wichtigsten Erzeugnissen eben dieses Kulturlebens und unter Umständen auch zu seinen mächtigsten treibenden Kräften. Wir werden daher den Verlauf auch der in diesem Sinne „sozialphilosophischen" Erörterungen jederzeit sorg-

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Max Weber,

sam verfolgen. Ja, noch mehr: es liegt hier das Vorurteil durch- aus fern, als ob Betrachtungen des Kulturlebens, die über die denkende Ordnung des empirisch Gegebenen hinausgehend die Welt metaphysisch zu deuten versuchen, etwa schon um dieses ihres Charakters willen keine Aufgabe im Dienste der Erkenntnis erfüllen könnten. Wo diese Aufgaben etwa hegen würden , ist freilich ein Problem zunächst der Erkenntnislehrc, dessen Beant- wortung hier für unsere Zwecke dahingestellt bleiben muß und auch kann. Denn eines halten wir für unsere Arbeit fest : eine sozial- wissenschaftliche Zeitschrift in unserem Sinne soll, soweit sie Wissenschaft treibt, ein Ort sein, wo Wahrheit gesucht wird, die um im Beispiel zu bleiben auch für den Chinesen die Geltung einer denkenden Ordnung der empirischen Wirklichkeit beansprucht. Freilich können die Herausgeber weder sich selbst noch ihren Mitarbeitern ein für allemal verbieten, die Ideale, die sie beseelen, auch in Werturteilen zum Ausdruck zu bringen. Nur erwachsen daraus zwei wichtige Pflichten. Zunächst die: in jedem Augenblick den Lesern und sich selbst scharf zum Bewußtsein zu bringen, welches die Maßstäbe sind, an denen die Wirklichkeit gemessen und aus denen das Werturteil abgeleitet wird, anstatt, wie es nur allzu oft geschieht, durch unpräzises Ineinanderschieben von Werten ver- schiedenster Art sich um die Konflikte zwischen den Idealen hcrum- zutäuschen und „jedem etwas bieten" zu wollen. Wird dieser Pflicht streng genügt, dann kann die praktisch urteilende Stellungnahme im rein wissenschaftlichen Interesse nicht nur unschädlich, sondern direkt nützlich, ja, geboten sein: in der wissenschaftlichen Kritik von gesetzgeberischen und anderen praktischen Vorschlägen ist die Aufklärung der Motive des Gesetzgebers und der Ideale des kriti- sierten Schriftstellers in ihre Tragweite sehr oft gar nicht anders in anschaulich-verständliche Form zu bringen, als durch Kon- fronticrung der von ihnen zugrunde gelegten Wertmaßstäbe mit anderen, und dann natürlich am besten: mit den eigenen. Jede sinnvolle Wertung fremden Wo Ileus kann nur Kritik aus einer eigenen „Weltanschauung" heraus, Bekämpfung des fremden Ideals vom Boden eines eigenen Ideals aus sein. Soll also im einzelnen Fall das letzte Wertaxiom, welches einem praktischen Wollen zugrunde liegt, nicht nur festgestellt und wissenschaftlich analysiert, sondern in seinen Beziehungen zu anderen Wertaxiomen veranschaulicht werden, so ist eben „positive" Kritik durch zusammenhängende Darlegung der letzteren unvermeidlich.

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Die „Objektivität" iozialwissenscliaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 33

Es wird also in den Spalten der Zeitschrift speziell bei der Besprechung von Gesetzen neben der Sozial Wissenschaft

der denkenden Ordnung der Tatsachen unvermeidlich auch die Sozialpolitik die Darlegung von Idealen zu Worte kommen. Aber :wirdenkennichtdaran, derartige Auseinander- setzungen für „Wissenschaft" auszugeben und werden uns nach besten Kräften hüten, sie damit vermischen und verwechseln zu lassen. Die Wissenschaft ist es dann nicht mehr, welche spricht, und das zweite fundamentale Gebot wissenschaftlicher Unbefangenheit ist es deshalb: in solchen Fällen, den Lesern (und

sagen wir wiederum vor allem sich selbst !) jederzeit deutlich zu machen, daß und wo der denkende Forscher aufhört und der wollende Mensch anfangt zu sprechen, wo die Argumente sich an den Verstand und wo sie sich an das Gefühl wenden. Die stete Vermischung wissenschaftlicher Erörterung der Tatsachen und wertender Raisonnements ist eine der zwar noch immer verbreitetsten, aber auch schädlichsten Eigenarten von Arbeiten unseres Faches. Gegen diese Vermischung, nicht etwa gegen das Eintreten für die eigenen Ideale richten sich die vorstehenden Ausführungen: Gesinnnngslosigkeit und wissenschaftliche „Objektivität" haben keinerlei innere Verwandtschaft. Das Archiv ist, wenig- stens seiner Absicht nach, niemals ein Ort gewesen und soll es auch nicht Werden, an welchem Polemik gegen bestimmte politische oder sozialpolitische Parteien getrieben wird, ebensowenig eine Stelle, an der für oder gegen politische oder sozial- politische Ideale geworben wird; dafür gibt es andere Organe. Die Eigenart der Zeitschrift hat vielmehr von Anfang an gerade darin bestanden und soll, soviel an den Herausgebern liegt, auch fernerhin darin bestehen, daß in ihr scharfe politische Gegner sich zu wissenschaftlicher Arbeit zusammenfinden. Sic war bisher kein „sozialistisches" und wird künftig kein „bürgerliches" Organ sein. Sie schließt von ihrem Mitarbeiterkreise niemand aus, der sich auf den Boden wissenschaftlicher Diskussion stellen will. Sie kann kein Tummelplatz von „Erwiderungen", Repliken und Dupliken sein, aber sie schützt niemand, auch nicht ihre Mitarbeiter und ebensowenig ihre Herausgeber dagegen, in ihren Spalten der denkbar schärfsten sachlich-wissenschaftlichen Kritik ausgesetzt zu sein. Wer das nicht ertragen kann, oder wer auf dem Standpunkt steht, mit Leuten, die im Dienste anderer Ideale arbeiten als er selbst, auch im Dienste wissenschaftlicher

Archiv für Soita!wu»en»ch»ft u. Sozialpolitik. I. (A. f. *ox. G. u. St. XIX. 1 1. 3

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Max Weber,

Erkenntnis nicht zusammenwirken zu wollen, der mag ihr fern bleiben.

Nun ist aber freilich wir wollen uns darüber nicht täuschen mit diesem letzten Satze praktisch zurzeit leider mehr gesagt, als es auf den ersten Blick scheint. Zunächst hat, wie schon angedeutet, die Möglichkeit mit politischen Gegnern sich auf neutralem Boden geselligem oder ideellem unbefangen zusammenzufinden, leider erfahrungsgemäß überall und zumal unter unsern deutschen Ver- hältnissen ihre psychologischen Schranken. An sich als ein Zeichen parteifanatischer Beschränktheit und unentwickelter politischer Kultur unbedingt bekämpfenswert, gewinnt dieses Moment für eine Zeit- schrift wie die unsrige eine ganz wesentliche Verstärkung durch den Umstand, daß auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften der Anstoß zur Aufrollung wissenschaftlicher Probleme erfahrungs- gemäß regelmäßig durch praktische „Fragen" gegeben wird, so daß die bloße Anerkennung des Bestehens eines wissenschaftlichen Problems in Personalunion steht mit einem bestimmt gerichteten Wollen lebendiger Menschen. In den Spalten einer Zeitschrift, welche unter dem Einflüsse des allgemeinen Interesses für ein kon- kretes Problem ins Leben tritt, werden sich daher als Mitarbeiter regelmäßig Menschen zusammenfinden, die ihr persönliches Interesse diesem Problem deshalb zuwenden, weil bestimmte konkrete Zu- stände ihnen im Widerspruch mit idealen Werten, an die sie glauben, zu stehen, jene Werte zu gefährden scheinen. Die Wahlverwandt- schaft ähnlicher Ideale wird alsdann diesen Mitarbeiterkreis zu- sammenhalten und sich neu rekrutieren lassen, und dies wird der Zeitschrift wenigstens bei der Behandlung praktisch-sozial- politischer Probleme einen bestimmten „Charakter" auf- prägen, wie er die unvermeidliche Begleiterscheinung jedes Zu- sammenwirkens lebendig empfindender Menschen ist, deren wertende Stellungnahme zu den Problemen auch bei der rein theoretischen Arbeit nicht immer ganz unterdrückt wird und bei der Kritik praktischer Vorschläge und Maßnahmen auch unter den oben erörterten Voraussetzungen ganz legitimerweise zum Ausdruck kommt. Das Archiv nun trat in einem Zeit- punkte ins Leben, als bestimmte praktische Probleme der „Ar- beiterfrage" im überkommenen Sinne des Wortes, im Vordergrund der sozialwisscnschaftlichen Erörterungen standen. Diejenigen Per- sönlichkeiten, für welche mit den Problemen, die es behandeln wollte, die höchsten und entscheidenden Wertideen sich verknüpften,

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und welche deshalb seine regelmäßigsten Mitarbeiter wurden, waren eben daher zugleich auch Vertreter einer durch jene Wertideen gleich oder doch ähnlich gefärbten Kulturauffassung. Jedermann weiß denn auch, daß, wenn die Zeitschrift den Gedanken, eine „Tendenz" zu verfolgen, durch die ausdrückliche Beschränkung auf „wissenschaftliche" Erörterungen und durch die ausdrückliche Ein- ladung an „Angehörige aller politischen Lager" bestimmt ablehnte, sie trotzdem sicherlich einen „Charakter" im obigen Sinn besaß. Er wurde durch den Kreis ihrer regelmäßigen Mitarbeiter geschaffen. Es waren im allgemeinen Männer, denen, bei aller sonstigen Ver- schiedenheit der Ansichten, der Schutz der physischen Gesundheit der Arbeitermassen und die Krmöglichung steigender Anteilnahme an den materiellen und geistigen Gütern unserer Kultur für sie, als Ziel als Mittel aber die Verbindung staatlichen Eingreifens in die materielle Interessensphäre mit freiheitlicher Fortentwick- lung der bestehenden Staats- und Rechtsordnung vorschwebten, und die welches immer ihre Ansicht über die Gestaltung der Gesellschaftsordnung in der ferneren Zukunft sein mochte für die Gegenwart die kapitalistische Entwicklung bejahten, nicht weil sie ihnen, gegenüber den älteren Formen gesellschaftlicher Gliederung als die bessere, sondern weil sie ihnen als praktisch unvermeidlich und der Versuch grundsätzlichen Kampfes gegen sie, nicht als Förderung, sondern als Hemmung des Emporsteigens der Arbeiterklasse an das Licht der Kultur erschien. Unter den in Deutschland heute bestehenden Verhältnissen sie bedürfen hier nicht der näheren Klarlegung war dies und wäre es auch heute nicht zu vermeiden. Ja, es kam im tatsächlichen Erfolg der All- scitigkeit der Beteiligung an der wissenschaftlichen Diskussion direkt zugute und war für die Zeitschrift eher ein Moment der Stärke, ja unter den gegebenen Verhältnissen sogar vielleicht einer der Titel ihrer Existenzberechtigung.

Unzweifelhaft ist es nun, daß die Entwicklung eines „Charak- ters" in diesem Sinne bei einer wissenschaftlichen Zeitschrift eine Gefahr für die Unbefangenheit der wissenschaftlichen Arbeit be- deuten kann und dann .wirklich bedeuten müßte, wenn die Auswahl der Mitarbeiter eine planvoll einseitige würde : in diesem Falle bedeutete die Züchtung jenes „Charakters" prak- tisch dasselbe wie das Bestehen einer „Tendenz". Die Heraus- geber sind sich der Verantwortung, die ihnen diese Sachlage auferlegt, durchaus bewußt. Sie beabsichtigen weder, den Charakter

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Max Weber,

des Archivs planvoll zu ändern, noch etwa ihn durch geflissentliche Beschränkung des Mitarbeiterkreises auf Gelehrte mit bestimmten Parteimeinungen, künstlich zu konservieren. Sie nehmen ihn als gegeben hin und warten seine weitere „Entwicklung" ab. Wie er sich in Zukunft gestaltet und vielleicht, infolge der unvermeid- lichen Erweiterung unseres Mitarbeiterkreises, u m gestaltet, das wird zunächst von der Eigenart derjenigen Persönlichkeiten abhängen, die mit der Absicht, wissenschaftlicher Arbeit zu dienen, in diesen Kreis eintreten und in den Spalten der Zeitschrift heimisch werden oder bleiben. Und es wird weiter durch die Erweiterung der Probleme bedingt sein, deren Förderung sich die Zeitschrift zum Ziel setzt.

Mit dieser Bemerkung gelangen wir zu der bisher noch nicht erörterten Frage der sachlichen Abgrenzung unseres Arbeits- gebietes. Hierauf kann aber eine Antwort nicht gegeben werden, ohne auch hier die Frage nach der Natur des Zieles sozialwissen- schaftlicher Erkenntnis überhaupt aufzurollen. Wir haben bisher, indem wir „Werturteile" und „Erfahrungswissen" prinzipiell schieden, vorausgesetzt, daß es eine unbedingt gültige Art der Erkenntnis, d. h. der denkenden Ordnung der empirischen Wirklichkeit auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften tatsächlich gebe. Diese Annahme wird jetzt insofern zum Problem, als wir erörtern müssen, was ob- jektive „Geltung" der Wahrheit, die wir erstreben, auf unserem Gebiet bedeuten kann. Daß das Problem als solches besteht und hier nicht spintisierend geschaffen wird, kann niemanden entgehen, der den Kampf um Methode, „Grundbegriffe" und Voraussetzungen, den steten Wechsel der „Gesichtspunkte" und die stete Xcube- stimmung der „Begriffe", die verwendet werden, beobachtet und sieht, wie theoretische und historische Betrachtungsform noch immer durch eine scheinbar unüberbrückbare Kluft getrennt sind : „z w e i Nationalökonomien", wie ein verzweifelnder Wiener Examinand seinerzeit jammernd klagte. Was heißt hier Objektivität? Ledig- lich diese Frage wollen die nachfolgenden Ausführungen er- örtern.

it.«)

Die Zeitschrift hat von Anfang an die Gegenstände , mit denen sie sich befaßte, als sozial-ökonomische behandelt. So

') Vgl. die Anmerkung zum Titel.

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wenig Sinn es nun hätte, hier Begriffsbestimmungen und Ab- grenzungen von Wissenschaften vorzunehmen, so müssen wir uns doch darüber summarisch ins klare setzen, was das bedeutet.

Daß unsere physische Existenz ebenso wie die Befriedigung unserer idealsten Bedürfnisse überall auf die quantitative Begrenzt- heit und qualitative Unzulänglichkeit der dafür benötigten äußeren Mittel stößt, daß es zu ihrer Befriedigung der planvollen Vorsorge und der Arbeit, des Kampfes mit der Natur und der Vergesell- schaftung mit Menschen bedarf, das ist, möglichst unpräzis aus- gedrückt, der grundlegende Tatbestand, an den sich alle jene Er- cheinungen knüpfen, die wir im weitesten Sinne als „sozial- ökonomische" bezeichnen. Die Qualität eines Vorganges als „sozial-ökonomischer" Erscheinung ist nun nicht etwas , was ihm als solchem „objektiv" anhaftet. Sie ist vielmehr bedingt durch die Richtung unseres Erkenntnisinteresses, wie sie sich aus der spezifischen Kulturbedeutung ergibt, die wir dem be- treffenden Vorgange im einzelnen Fall beilegen. Wo immer ein Vorgang des Kulturlebens in denjenigen Teilen seiner Eigenart, in welchen für uns seine spezifische Bedeutung beruht, direkt oder in noch so vermittelter Weise an jenem Tatbestand verankert ist, da enthält er oder kann er wenigstens, so weit dies der Fall, ein sozial- wissenschaftliches Problem enthalten, d. h. eine Aufgabe für eine Disziplin, welche die Aufklärung der Tragweite jenes grundlegenden Tatbestandes zu ihrem Gegenstande macht.

Wrir können nun innerhalb der sozialökonomichen Probleme unterscheiden : Vorgänge und Komplexe von solchen, Normen, Institutionen usw. , deren Kulturbedeutung für uns wesentlich in ihrer ökonomischen Seite beruht, die uns wie z. B. etwa Vor- gänge des Börsen- und Banklebens zunächst wesentlich nur unter diesem Gesichtspunkt interessieren. Dies wird regelmäßig (aber nicht etwa ausschließlich) dann der Fall sein, wenn es sich um Institutionen handelt, welche bewußt zu ökonomischen Zwecken geschaffen wurden oder benutzt werden. Solche Objekte unseres Er- kennens können wir i. e.S. „wirtschaftliche" Vorgänge bez. Institutionen nennen. Dazu treten andere, die wie z. B. etwa Vorgänge des r e 1 i - g iösen Lebens uns picht oder doch sicherlich nicht in erster Linie unter dem Gesichtspunkt ihrer ökonomischen Bedeutung und um dieser willen interessieren, die aber unter Umständen unter diesem Gesichtspunkt Bedeutung gewinnen, weil von ihnen Wirkungen ausgehen, die uns unter ökonomischen Gesichtspunkten interessieren :

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Max Weber,

„ökonomisch relevante" Erscheinungen. Und endlich gibt es unter den nicht in unserem Sinne „wirtschaftlichen" Erscheinungen solche, deren ökonomische Wirkungen für uns von keinem oder doch nicht erheblichem Interesse sind: etwa die Richtung des künstlerischen Geschmacks einer Zeit, die aber ihrerseits im Einzelfalle in ge- wissen bedeutsamen Seiten ihrer Eigenart durch ökonomische Mo- tive, also z. B. in unserem Falle etwa durch die Art der sozialen Gliederung des künstlerisch interessierten Publikums mehr oder minder stark mit beeinflußt sind: ökonomisch bedingte Er- scheinungen. Jener Komplex menschlicher Beziehungen, Normen und normbestimmter Verhältnisse, die wir „Staat" nennen, ist bei- spielsweise bezüglich der staatlichen Finanzwirtschaft eine „wirt- schaftliche" Erscheinung; insofern er gesetzgeberisch oder sonst auf das Wirtschaftsleben einwirkt (und zwar auch da, wo ganz andere als ökonomische Gesichtspunkte sein Verhalten bewußt be- stimmen) ist er „ökonomisch relevant" ; sofern endlich sein Ver- halten und seine Eigenart auch in anderen als in seinen „wirtschaft- lichen" Beziehungen durch ökonomische Motive mitbestimmt wird, ist er „ökonomisch bedingt". Es versteht sich nach dem Gesagten von selbst, daß einerseits der Umkreis der „wirtschaftlichen" Er- scheinungen ein flüssiger und nicht scharf abzugrenzender ist, und daß andererseits natürlich keineswegs etwa die „wirtschaftlichen" Seiten einer Erscheinung nur „wirtschaftlich bedingt" oder nur „wirtschaftlich wirksam" sind, und daß eine Erscheinung überhaupt die Qualität einer „wirtschaftlichen" nur in soweit und nur so lange behält, als unser Interesse sich der Bedeutung, die sie für den materiellen Kampf ums Dasein besitzt, ausschließlich zuwendet.

Unsere Zeitschrift nun befaßt sich wie die sozialökono- mische Wissenschaft seit Marx und Roscher nicht nur mit „wirt- schaftlichen" sondern auch mit „wirtschaftlich relevanten" und „wirtschaftlich bedingten" Erscheinungen. Der Umkreis derartiger Objekte erstreckt sich natürlich, flüssig, wie er je nach der je- weiligen Richtung unseres Interesses ist, offenbar durch die Ge- samtheit aller Kulturvorgänge. Spezifisch ökonomische Motive d. h. Motive, die in ihrer für uns bedeutsamen Eigenart an jenem grundlegenden Tatbestand verankert sind werden überall da wirksam, wo die Befriedigung eines noch so immateriellen Be- dürfnisses an die Verwendung begrenzter äußerer Mittel ge- bunden ist. Ihre Wucht hat deshalb überall nicht nur die Form der Befriedigung, sondern auch den Inhalt von Kulturbedürfnissen

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auch der innerlichsten Art mitbestimmt und umgestaltet. Der in- direkte Einfluß, der unter dem Drucke „materieller" Interessen stehenden sozialen Beziehungen, Institutionen und Gruppierungen der Menschen, erstreckt sich (oft unbewußt) auf alle Kulturgebiete ohne Ausnahme, bis in die feinsten Nuancierungen des ästhetischen und religiösen Empfindens hinein. Die Vorgänge des alltäglichen Lebens nicht minder wie die „historischen" Ereignisse der hohen Politik, Kollektiv- und Massenerscheinungen ebenso wie „singulare" Handlungen von Staatsmännern oder individuelle literarische und künstlerische Leistungen sind durch sie mitbeeinflußt, „ökono- misch bedingt". Andererseits wirkt die Gesamtheit aller Lebens- erscheinungen und Lebensbedingungen einer historisch gegebenen Kultur auf die Gestaltung der materiellen Bedürfnisse, auf die Art ihrer Befriedigung, auf die Bildung der materiellen Interessen- gruppen und auf die Art ihrer Machtmittel und damit auf die Art des Verlaufes der „ökonomischen Entwicklung" ein, wird „öko- nomisch relevant". Soweit unsere Wissenschaft wirtschaftliche Kulturerscheinungen im kausalen Regressus individuellen Ursachen ökonomischen oder nicht ökonomischen Charakters zurechnet, erstrebt sie „historische" Erkenntnis. Soweit sie ein spezifisches Element der Kulturerscheinungen: das ökonomische, in seiner Kulturbedeutung durch die verschiedensten Kulturzusammenhänge hindurch verfolgt, erstrebt sie Geschichtsinterpretation unter einem spezifischen Gesichtspunkt und bietet ein Teilbild, eine Vor- arbeit für die volle historische Kulturcrkenntnis.

Wenn nun auch nicht überall, wo ein Hineinspielen ökonomi- scher Momente als Folge oder Ursache stattfindet, ein sozial-öko- nomisches Problem vorliegt denn ein solches entsteht nur da, wo die Bedeutung jener Faktoren eben problematisch und nur durch die Anwendung der Methoden der sozial-ökonomischen Wissenschaft sicher feststellbar ist so ergibt sich doch der schier unübersehbare Umkreis des Arbeitsgebietes der sozial-ökonomischen Betrachtungsweise.

Unsere Zeitschrift hat nun schon bisher in wohlerwogener Selbstbeschränkung auf die Pflege einer ganzen Reihe höchst wichtiger Spezialgebiete unserer Disziplin, wie namentlich der de- skriptiven Wirtschaftskunde, der Wirtschaftsgeschichte im engeren Sinne und der Statistik, im allgemeinen verzichtet. Ebenso hat sie die Erörterung der finanztechnischen Fragen und die technisch- ökonomischen Probleme der Markt- und Preisbildung in der modernen

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Tauschwirtschaft anderen Organen überlassen. Ihr Arbeitsgebiet waren gewisse Interessenkonstellationen und Konflikte, welche durch die führende Rolle des Verwertung suchenden Kapitals in der Wirtschaft der modernen Kulturländer entstanden sind, in ihrer heutigen Bedeutung und ihrem geschichtlichen Gewordensein. Sie hat sich dabei nicht auf die im engsten Sinne „soziale Frage" ge- nannten praktischen und entwicklungsgeschichtlichen Probleme: die Beziehungen der modernen Lohnarbeiterklasse zu der bestehenden Gesellschaftsordnung, beschränkt. Freilich mußte die wissenschaft- liche Vertiefung des im Laufe der 80 er Jahre bei uns sich ver- breitenden Interesses gerade an dieser Spezialfrage, zunächst eine ihrer wesentlichsten Aufgaben sein. Allein je mehr die prak- tische Behandlung der Arbeiterverhältnisse auch bei uns dauernder Gegenstand der gesetzgebenden Tätigkeit und der öffentlichen Er- örterung geworden ist, um so mehr mußte der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Arbeit sich auf die Feststellung der universelleren Zusammenhänge, in welche diese Probleme hineingehören, ver- schieben und damit in die Aufgabe einer Analyse aller, durch die Eigenart der ökonomischen Grundlagen unserer Kultur geschaffenen und insofern spezifisch modernen Kulturprobleme ausmünden. Die Zeitschrift hat denn auch schon sehr hald die verschiedensten, teils „ökonomisch relevanten", teils „ökonomisch bedingten" Lebensver- hältnisse auch der übrigen großen Klassen der modernen Kultur- nationen und deren Beziehungen zueinander historisch, statistisch und theoretisch zu behandeln begonnen. Wir ziehen nur die Kon- sequenzen dieses Verhaltens, wenn wir jetzt als eigenstes Arbeits- gebiet unserer Zeitschrift die wissenschaftliche Erforschung der all- gemeinen Kulturbedeutung der sozialökonomischen Struktur des menschlichen Gemeinschaftslebens und seiner historischen Organisationsformen bezeichnen. Dies und nichts anderes meinen wir, wenn wir unsere Zeitschrift „Archiv für Sozialwissenschaft" genannt haben. Das Wort soll hier die geschicht- liche und theoretische Beschäftigung mit den gleichen Problemen umfassen, deren praktische Lösung Gegenstand der „Sozial p o 1 i t i k" im weitesten Sinne dieses Wortes ist. Wir machen dabei von dem Rechte Gebrauch, den Ausdruck „sozial" in seiner durch konkrete Gegenwartsprobleme bestimmten Bedeutung zu verwenden. Will man solche Disziplinen, welche die Vorgänge des menschlichen Lebens unter dem Gesichtspunkt ihrer Kult Urbedeutung be- trachten, „Kulturwissenschaften" nennen, so gehört die Sozial-

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Wissenschaft in unserem Sinne in diese Kategorie hinein. Wir werden bald sehen, welche prinzipiellen Konsequenzen das hat.

Unzweifelhaft bedeutet die Heraushebung der sozialökono- mischen Seite des Kulturlebens eine sehr fühlbare Begrenzung unserer Themata. Man wird sagen, daß der ökonomische oder, wie man unpräzis gesagt hat, der „materialistische" Gesichtspunkt von dem aus das Kulturleben hier betrachtet wird, „einseitig" sei. Sicherlich, und diese Einseitigkeit ist beabsichtigt. Der Glaube, es sei die Aufgabe fortschreitender wissenschaftlicher Arbeit, die „Ein- seitigkeit" der ökonomischen Betrachtungsweise dadurch zu heilen, daß sie zu einer allgemeinen Sozialwissenschaft erweitert werde, krankt zunächst an dem Fehler, daß der Gesichtspunkt des „Sozialen", also der Beziehung zwischen Menschen, nur dann irgend welche zur Abgrenzung wissenschaftlicher Probleme ausreichende Bestimmt- heit besitzt, wenn er mit irgend einem speziellen inhaltlichen Prä- dikat versehen ist. Sonst umfaßte er, als Objekt einer Wissenschaft gedacht, natürlich z. B. die Philologie ebensowohl wie die Kirchen- geschichte und namentlich alle jene Disziplinen, die mit dem wichtigsten konstitutiven Elemente jedes Kulturlebens: dem Staat, und mit der wichtigsten Form seiner normativen Regelung: dem Recht, sich beschäftigen. Daß die Sozialökonomik sich mit „so- zialen" Beziehungen befaßt ist so wenig ein Grund, sie als not- wendigen Vorläufer einer „allgemeinen Sozialwissenschaft" zu denken, wie etwa der Umstand, daß sie sich mit Lebenserscheinungen be- faßt, dazu nötigt, sie als Teil der Biologie, oder der andere, daß sie es mit Vorgängen auf einem Himmelskörper zu tun hat, dazu, sie als Teil einer künftigen vermehrten und verbesserten Astronomie

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anzusehen. Nicht die „sachlichen" Zusammenhänge der „D i n g e", sondern die gedanklichen Zusammenhänge der Probleme liegen den Arbeitsgebieten der Wissenschaften zugrunde: wo mit neuer Methode einem neuen Problem nachgegangen wird und da- durch Wahrheiten entdeckt werden, welche neue bedeutsame Ge- sichtspunkte eröffnen, da entsteht eine neue „Wissenschaft".

Es ist nun kein Zufall, daß der Begriff des „Sozialen", der einen ganz allgemeinen Sinn zu haben scheint, sobald man ihn auf seine Verwendung hin kontrolliert, stets eine durchaus besondere, spezi- fisch gefärbte, wenn auch meist unbestimmte, Bedeutung an sich trägt; das „allgemeine" beruht bei ihm tatsächlich in nichts anderem als eben in seiner Unbestimmtheit. Er bietet eben, wenn man ihn in seiner „allgemeinen" Bedeutung nimmt, keinerlei spezifische Gesichts-

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Max Weber,

punkte, unter denen man die Bedeutung bestimmter Kultur- elemente beleuchten könnte.

Frei von dem veralteten Glauben, daß die Gesamtheit der Kulturerscheinungen sich als Produkt oder als Funktion „materieller" Interessekonstcllationen deduzieren lasse, glauben wir unsrerseits doch, daß die Analyse der sozialen Erscheinungen und Kultur Vorgänge unter dem speziellen Gesichtpunkte ihrer ökonomisch en Bedingtheit und Tragweite ein wissenschaftliches Prinzip von schöpferischer Fruchtbarkeit war und, bei umsichtiger Anwendung und Freiheit von dogmatischer Befangenheit, auch in aller absehbarer Zeit noch bleiben wird. Die sogenannte „materia- listische Geschichtsauffassung" als „VV eltanschauung" oder als Generalnenner kausaler Erklärung der historischen Wirklichkeit ist auf das Bestimmteste abzulehnen, die Pflege der ökonomischen Geschichtsinterpretation ist einer der wesentlichsten Zwecke unserer Zeitschrift. Das bedarf der näheren Erläuterung.

Die sogenannte „materialistische Geschichtsauffassung" in dem alten genial -primitiven Sinne etwa des kommunistischen Manifeste be- herrscht heute wohl nur noch die Köpfe von Laien und Dilettanten. Bei ihnen findet sich allerdings noch immer die eigentümliche Er- scheinung verbreitet, daß ihrem Kausalbedürfnis bei der Erklärung einer historischen Erscheinung so lange nicht Genüge geschehen ist, als nicht irgendwie und irgendwo ökonomische Ursachen als mitspielend nachgewiesen sind (oder zu sein scheinen): ist dies aber der Fall, dann begnügen sie sich wiederum mit der faden- scheinigsten Hypothese und den allgemeinsten Redewendungen, weil nunmehr ihrem dogmatischen Bedürfnis, daß die ökonomischen „Triebkräfte" die „eigentlichen", einzig „wahren", in „letzter Instanz überall Ausschlag gebenden" seien, Genüge geschehen ist. Die Er- scheinung ist ja nichts Einzigartiges. Es haben fast alle Wissen- schaften, von der Philologie bis zur Biologie, gelegentlich den An- spruch erhoben, Produzenten nicht nur von Fachwissen, sondern auch von „Weltanschauungen" zu sein. Und unter dem Eindruck der gewaltigen Kulturbedeutung der modernen ökonomischen Umwälzungen und speziell der überragenden Tragweite der „Ar- beiterfrage" glitt der unausrottbare monistische Zug jedes gegen sich selbst unkritischen Erkennens naturgemäß auf diesen Weg. Der gleiche Zug kommt jetzt, wo in zunehmender Schärfe der politische und handelspolitische Kampf der Nationen untereinander um die Welt gekämpft wird, der Anthropologie zugute: ist doch

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der Glaube weit verbreitet, daß „in letzter Linie" alles historische Geschehen Ausfluß des Spiels angeborener „Rassenqualitäten" gegen- einander sei. An die Stelle der kritiklosen bloßen Beschreibung von „Volkscharakteren" trat die noch kritiklosere Aufstellung von eigenen „Gesellschaftstheorien" auf „naturwissenschaftlicher" Grund- lage. Wir werden in unserer Zeitschrift die Entwicklung der anthro- pologischen Forschung, soweit sie für unsere Gesichtspunkte Be- deutung gewinnt, sorgsam verfolgen. Es steht zu hoffen, daß der Zustand, in welchem die kausale Zurückführung von Kulturvor- gängen auf die „Rasse" lediglich unser Nichtwissen dokumen- tierte, — ähnlich wie etwa die Bezugnahme auf das „Milieu" oder, früher, auf die „Zeitumstände", allmählich durch methodisch ge- schulte Arbeit überwunden wird. Wenn etwas dieser Forschung bisher geschadet hat, so ist es die Vorstellung eifriger Dilettanten, daß sie für die Erkenntnis der Kultur etwas spezifisch Anderes und Erheblicheres leisten könnte, als die Erweiterung der Möglich- keit sicherer Zurechnung einzelner konkreter Kulturvorgänge der historischen Wirklichkeit zu konkreten historisch gegebenen Ursachen durch Gewinnung exakten, unter spezifischen Gesichts- punkten erhobenen Beobachtungsmaterials. Ausschließlich soweit sie uns dies zu bieten vermögen, haben ihre Ergebnisse für uns Interesse und qualifizieren sie die „Rassenbiologie" als etwas mehr als ein Produkt des modernen wissenschaftlichen Gründungsfiebers.

Nicht anders steht es um die Bedeutung der ökonomischen Interpretation des Geschichtlichen. Wenn nach einer Periode grenzen- loser Überschätzung heute beinahe die Gefahr besteht, daß sie in ihrer wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit unter wertet werde, so ist das die Folge der beispielslosen Unkritik, mit welcher die ökono- mische Deutung der Wirklichkeit als „universelle" Methode in dem Sinne einer Deduktion aller Kukurerscheinungen d. h. alles an ihnen für uns Wesentlichen, als in letzter Instanz ökonomisch bedingt verwendet wurde. Heute ist die logische Form, in der sie auftritt, nicht ganz einheitlich. Wo für die rein ökonomische Er- klärung sich Schwierigkeiten ergeben, stehen verschiedene Mittel zur Verfügung, um ihre Allgemeingültigkeit als entscheidendes ur- sächliches Moment aufrecht zu erhalten. Entweder man behandelt alles das, was in der historischen Wirklichkeit nicht aus ökono- mischen Motiven deduzierbar ist, als eben deshalb wissenschaft- lich bedeutungslose „Zufälligkeit". Oder man dehnt den Be- griff des Ökonomischen bis zur Unkenntlichkeit, so daß alle mensch-

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liehen Interessen, welche irgend wie an äußere Mittel gebunden sind, in jenen Begriff einbezogen werden. Steht historisch fest, daß auf zwei in ökonomischer Hinsicht gleiche Situationen dennoch verschieden reagiert wurde, infolge der Differenzen der poli- tischen und religiösen, klimatischen und der zahllosen anderen nicht ökonomischen Determinanten , dann degradiert man, um die Suprematie des Ökonomischen zu erhalten, alle diese Momente zu den historisch zufälligen „Bedingungen", unter denen die ökono- mischen Motive als „Ursachen" wirken. Es versteht sich aber, daß alle jene für die ökonomische Betrachtung „zufälligen" Momente ganz in demselben Sinne wie die ökonomischen je ihren eigenen Gesetzen folgen, und daß für eine Betrachtungsweise, welche ihre spezifische Bedeutung verfolgt, die jeweiligen ökonomischen „Bedingungen" ganz in dem gleichen Sinne „historisch zufällig" sind, wie um- gekehrt. Ein beliebter Versuch, demgegenüber die überragende Bedeutung des Ökonomischen zu retten, besteht endlich darin, daß man das konstante Mit- und Aufeinanderwirken der einzelnen Ele- mente des Kulturlebens in eine kausale oder funktionelle Ab- hängigkeit des einen von den anderen oder vielmehr aller übrigen von einem: dem ökonomischen, deutet. Wo eine bestimmte ein- zelne nicht wirtschaftliche Institution historisch auch eine be- stimmte „Funktion" im Dienste von ökonomischen Klasseninteressen versehen hat, d. h. diesen dienstbar geworden ist , wo z. B. etwa bestimmte religiöse Institutionen als „schwarze Polizei" sich ver- wenden lassen und verwendet werden, wird dann die ganze Insti- tution entweder als für diese Funktion geschaffen oder, ganz metaphysisch, als durch eine vom Ökonomischen ausgehende „Entwicklungstendenz" geprägt, vorgestellt.

Es bedarf heute für keinen Fachmann mehr der Ausfuhrung, daß diese Deutung des Zweckes der ökonomischen Kulturanalyse der Ausfluß teils einer bestimmten geschichtlichen Konstellation, die das wissenschaftliche Interesse bestimmten ökonomisch bedingten Kulturproblemen zuwendete, teils eines rabiaten wissenschaftlichen Ressortpatriotismus war und daß sie heute mindestens veraltet ist. Die Reduktion auf ökonomische Ursachen allein ist auf keinem Gebiete der Kulturerscheinungen je in irgend einem Sinn erschöpfend, auch nicht auf demjenigen der „wirtschaftlichen" Vorgänge. Prin- zipiell ist eine B a n k geschiente irgend eines Volkes, die nur die ökonomischen Motive zur Erklärung heranziehen wollte, natürlich ganz ebenso unmöglich, wie etwa eine „Erklärung" der Sixtinischen

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Madonna aus den sozial - ökonomischen Grundlagen des Kultur- lebens zur Zeit ihrer Entstehung sein würde, und sie ist in keiner Weise prinzipiell erschöpfender als es etwa die Ableitung des Ka- pitalismus aus gewissen Umgestaltungen religiöser Bewußtseins- inhalte, die bei der Genesis des kapitalistischen Geistes mit- spielten, oder etwa irgend eines politischen Gebildes aus geogra- phischen Bedingungen sein würden. In allen diesen Fällen ist für das Maß der Bedeutung, die wir ökonomischen Bedingungen bei- zumessen haben, entscheidend, welcher Klasse von Ursachen die- jenigen spezifischen Elemente der betreffenden Erscheinung, denen wir im einzelnen Falle Bedeutung beilegen, auf die es uns an- kommt, zuzurechnen sind. Das Recht der einseitigen Ana- lyse der Kulturwirklichkeit unter spezifischen „Gesichtspunkten" aber, in unserem Falle dem ihrer ökonomischen Bedingt- heit, — ergibt sich zunächst rein methodisch aus dem Umstände, daß die Einschulung des Auges auf die Beobachtung der Wirkung qualitativ gleichartiger Ursachenkategorien und die stete Verwen- dung des gleichen begrifflich-methodischen Apparates alle Vorteile der Arbeitsteilung bietet. Sie ist so lange nicht „willkürlich", als der Erfolg für sie spricht, d. h. als sie Erkenntnis von Zu- sammenhängen liefert, welche für die kausale Zurechnung kon- kreter historischer Vorgänge sich wertvoll erweisen. Aber: die „Einseitigkeit" und Unwirklichkeit der rein ökonomischen Inter- pretation des Geschichtlichen ist überhaupt nur ein Spezialfall eines ganz allgemein für die wissenschaftliche Erkenntnis der Kultur- wirklichkeit geltenden Prinzips. Dies in seinen logischen Grund- lagen und in seinen allgemeinen methodischen Konsequenzen uns zu verdeutlichen ist der wesentliche Zweck der weiteren Ausein- andersetzungen.

Es gibt keine schlechthin „objektive" wissenschaftliche Ana- lyse des Kulturlebens oder, was vielleicht etwas Engeres, für unser n Zweck aber sicher nichts wesentlich anderes bedeutet, der „sozialen Erscheinungen" unabhängig von speziellen und „einseitigen" Gesichtspunkten, nach denen sie ausdrücklich oder stillschweigend, bewußt oder unbewußt als Forschungsobjekt ausgewählt, analysiert und darstellend gegliedert werden. Der Grund liegt in der Eigenart des Erkcnntniszicls einer jeden sozial - wissenschaftlichen Arbeit, die über eine rein formale Betrachtung der Normen rechtlichen oder konventionellen des sozialen Beieinanderseins hinausgehen will.

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Die Sozialwissenschaft, die wir treiben wollen, ist eine Wirk- lichkeitswissenschaft. Wir wollen die uns umgebende Wirk- lichkeit des Lebens, in welches wir hineingestellt sind, in ihrer Eigenart verstehen den Zusammenhang und die Kulturbedeu- tung ihrer einzelnen Erscheinungen in ihrer heutigen Gestaltung einerseits, die Gründe ihres geschichtlichen So -und -nicht -anders- Gewordenseins andererseits. Nun bietet uns das Leben, sobald wir uns auf die Art, in der es uns unmittelbar entgegentritt, zu besinnen suchen, eine schlechthin unendliche Mannigfaltigkeit von nach- und nebeneinander auftauchenden und vergehenden Vorgängen, „in" uns und „außer" uns. Und die absolute Unendlichkeit dieser Mannigfaltigkeit bleibt intensiv durchaus ungemindert auch dann bestehen, wenn wir ein einzelnes „Objekt" etwa einen konkreten Tauschakt isoliert ins Auge fassen, sobald wir nämlich ernst- lich versuchen wollen, dies „Einzelne" erschöpfend in allen seinen individuellen Bestandteilen auch nur zu beschreiben, ge- schweige denn es in seiner kausalen Bedingtheit zu erfassen. Alle denkende Erkenntnis der unendlichen Wirklichkeit durch den end- lichen Menschengeist beruht daher auf der stillschweigenden Vor- aussetzung, daß jeweils nur ein endlicher Teil derselben den Gegenstand wissenschaftlicher Erfassung bilden, daß nur er „wesent- lich" im Sinne von „wissenswert" sein solle. Nach welchen Prin- zipien aber wird dieser Teil ausgesondert? Immer wieder hat man geglaubt, das entscheidende Merkmal auch in den Kulturwissen- schaften in letzter Linie in der „gesetzmäßigen" Wiederkehr be- stimmter ursächlicher Verknüpfungen finden zu können. Das, was die „Gesetze", die wir in dem unübersehbar mannigfaltigen Ablauf der Erscheinungen zu erkennen vermögen, in sich enthalten, muß, nach dieser Auffassung, das allein wissenschaftlich „Wesentliche" in ihnen sein: sobald wir die „Gesetzlichkeit" einer ursächlichen Verknüpfung, sei es mit den Mitteln umfassender historischer In- duktion als ausnahmslos geltend nachgewiesen, sei es für die innere Erfahrung zur unmittelbaren anschaulichen Existenz gebracht haben, ordnet sich ja jeder so gefundenen Formel jede noch so groß ge- dachte Zahl gleichartiger Fälle unter. Was nach dieser Hcraus- hebung des „Gesetzmäßigen" jeweils von der individuellen Wirk- lichkeit unbegrifTen verbleibt, gilt entweder als wissenschaftlich noch unverarbeiteter Rückstand, der durch immer weitere Vervoll- kommnung des „Gesctzcs"-Systems in dieses hineinzuarbeiten sei, oder aber es bleibt als „zufällig" und eben deshalb Wissenschaft -

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lieh unwesentlich überhaupt beiseite, eben weil es nicht „gesetz- lichbegreifbar" ist, also nicht zum „Typus" des Vorgangs gehört und daher nur Gegenstand „müßiger Neugier" sein kann. Immer wieder taucht demgemäß selbst bei Vertretern der historischen Schule die Vorstellung auf, das Ideal, dem alle, also auch die Kulturer- kenntnis zustrebe und, wenn auch für eine ferne Zukunft, zustreben könne, sei ein System von Lehrsätzen, aus dem die Wirklichkeit „deduziert" werden könnte. Ein Führer der Naturwissenschaft hat bekanntlich geglaubt, als das (faktisch unerreichbare) ideale Ziel einer solchen Verarbeitung der Kulturwirklichkeit eine „astrono- mische" Erkenntnis der Lebensvorgänge bezeichnen zu können. Lassen wir uns, so oft diese Dinge nun auch schon erörtert sind, die Mühe nicht verdrießen auch unsererseits hier etwas näher zuzu- sehen. Zunächst lallt in die Augen, daß diejenige „astronomische" Erkenntnis an welche dabei gedacht wird, keine Erkenntnis von Gesetzen ist, sondern vielmehr die „Gesetze", mit denen sie arbeitet, als Voraussetzungen ihrer Arbeit anderen Disziplinen, wie der Mechanik, entnimmt. Sie selbst aber interessiert sich für die Frage: welches individuelle Ergebnis die Wirkung jener Ge- setze auf eine individuell gestaltete Konstellation erzeugt, da diese individuellen Konstellationen für uns Bedeutung haben. Jede individuelle Konstellation, die sie uns „erklärt" oder voraus- sagt, ist natürlich kausal nur erklärbar als Folge einer anderen gleich individuellen ihr vorhergehenden, und soweit wir zurück- greifen in den grauen Nebel der fernsten Vergangenheit stets bleibt die Wirklichkeit, für welche die Gesetze gelten, gleich indi- viduell, gleich wenig aus den Gesetzen deduzierbar. Ein kos- mischer „Urzustand", der einen nicht oder weniger individuellen Charakter an sich trüge als die kosmische Wirklichkeit der Gegen- wart ist, wäre natürlich ein sinnloser Gedanke: aber spukt nicht ein Rest ähnlicher Vorstellungen auf unserm Gebiet in jenen bald naturrechtlich erschlossenen, bald durch Beobachtung an „\'aturvÖlkernu verifizierten Annahmen ökonomisch-sozialer „Ur- zustände" ohne historische „Zufälligkeiten", so des „primitiven Agrarkommunismus", der sexuellen „Promiscuität" usw., aus denen heraus alsdann durch eine Art von Sündcnfall ins Konkrete die individuelle historische Entwicklung entsteht?

Ausgangspunkt des sozialwisscnschaftlichcn Interesses ist nun zweifellos die wirkliche, also individuelle Gestaltung des uns umgebenden sozialen Kulturlebens in seinem universellen, aber

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deshalb natürlich nicht minder individuell gestalteten , Zu- sammenhange und in seinem Gewordensein aus anderen, selbst- verständlich wiederum individuell gearteten, sozialen Kulturzuständen heraus. Offenbar liegt hier der Sachverhalt, den wir eben an der Astronomie als einem (auch von den Logikern regelmäßig zum gleichen Behufe herangezogenen) Grenzfalle erläuterten, in spezifisch gesteigertem Maße vor. Während für die Astronomie die Welt- körper nur in ihren quantitativen, exakter Messung zugäng- lichen Beziehungen für unser Interesse in Betracht kommen, ist die qualitative Färbung der Vorgänge das, worauf es uns in der Sozialwissenschaft ankommt. Dazu tritt, daß es sich in den Sozialwissenschaften um die Mitwirkung geistiger Vorgänge handelt, welche nacherlebend zu „verstehen" natürlich eine Auf- gabe spezifisch anderer Art ist, als sie die Formeln der exakten Natur- erkenntnis überhaupt lösen können oder wollen. Immerhin sind diese Unterschiede nicht an sich derart prinzipielle, wie es auf den ersten Blick scheint. Ohne Qualitäten kommen von der reinen Mechanik abgesehen auch die exakten Naturwissenschaften nicht aus; wir stoßen ferner auf unserem Spezialgebiet auf die freilich schiefe Meinung, daß wenigstens die für unsere Kultur fundamentale Erscheinung des geldwirtschaftlichen Ver- kehrs quantifizierbar und eben deshalb „gesetzlich" erfaß- bar sei; und endlich hängt es von der engeren oder weiteren Fassung des Begriffs „Gesetz" ab, ob man auch Regelmäßig- keiten, die, weil nicht quantifizierbar, keiner zahlenmäßigen Er- fassung zugänglich sind, darunter verstehen will. Was speziell die Mitwirkung „geistiger" Motive anlangt, so schließt sie jedenfalls die Aufstellung von Regeln rationalen Handelns nicht aus, und vor allem ist die Ansicht noch heute nicht ganz verschwunden, daß es eben die Aufgabe der Psychologie sei, eine der Mathematik vergleichbare Rolle für die einzelnen „Geisteswissenschaften' zu spielen, indem sie die komplizierten Erscheinungen des Sozial- lebens auf ihre psychischen Bedingungen und Wirkungen hin zu zergliedern, diese auf möglichst einfache psychische Faktoren zu- rückzuführen, letztere wieder gattungsmäßig zu klassifizieren und in ihren funktionellen Zusammenhängen zu untersuchen habe. Damit wäre dann, wenn auch keine „Mechanik", so doch eine Art von „Chemie" des Soziallebens in seinen psychischen Grundlagen ge- schaffen. Ob derartige Untersuchungen jemals wertvolle und was davon verschieden ist für die Kulturwissenschaften brauch-

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bare E i n z e 1 ergebnisse liefern würden, können wir hier nicht ent- scheiden wollen. Für die Frage aber , ob das Ziel sozialökono- mischer Erkenntnis in unserem Sinn: Erkenntnis der Wirklichkeit in ihrer Kulturbedeutung und ihrem kausalen Zusammenhang durch die Aufsuchung des sich gesetzmäßig Wiederholenden erreicht werden kann, wäre dies ohne allen Belang. Gesetzt den Fall, es gelänge einmal, sei es mittels der Psychologie, sei es auf anderem Wege, alle jemals beobachteten und weiterhin auch alle in irgend einer Zukunft denkbaren ursächlichen Verknüpfungen von Vor- gängen des menschlichen Zusammenlebens auf irgend welche ein- fache letzte „Faktoren" hin zu analysieren, und dann in einer un- geheuren Kasuistik von Begriffen und streng gesetzlich geltenden Regeln erschöpfend zu erfassen was würde das Resultat für die Erkenntnis der geschichtlich gegebenen Kulturwelt, oder auch nur irgend einer Einzelerscheinung daraus, etwa des Kapitalismus in seinem Gewordensein und seiner Kulturbedeutung, besagen? Als Erkenntnis mittel ebensoviel und ebensowenig wie etwa ein Lexikon der organischen chemischen Verbindungen für die biogenetische Erkenntnis der Tier- und Pflanzenwelt. Im einen Falle wie im andern würde eine sicherlich wichtige und nützliche Vorarbeit ge- leistet sein. Im einen Fall so wenig wie im andern ließe sich aber aus jenen „Gesetzen" und „Faktoren" die Wirklichkeit des Lebens jemals deduzieren nicht etwa deshalb nicht, weil noch irgend welche höhere und geheimnisvolle „Kräfte" („Dominanten", „Ente- lechien" oder wie man sie sonst genannt hat) in den Lebenserschei- nungen stecken müßten das ist eine Frage ganz für sich sondern schon einfach deswegen, weil es uns für die Erkenntnis der Wirklichkeit auf die Konstellation ankommt, in der sich jene (hypothetischen!) „Faktoren", zu einer geschichtlich für uns bedeutsamen Kulturerscheinung gruppiert, vorfinden, und weil, wenn wir nun diese individuelle Gruppierung „kausal er- klären" wollen, wir immer auf andere, ganz ebenso individuelle Gruppierungen zurückgreifen müßten, aus denen wir sie, natürlich unter Benutzung jener (hypothetischen!) „Gesetzes"-Begriffc „er- klären" würden. Jene (hypothetischen) „Gesetze" und „Faktoren" festzustellen, wäre für uns also jedenfalls nur die erste der mehreren Arbeiten, die zu der von uns erstrebten Erkenntnis führen würden. Die Analyse und ordnende Darstellung der jeweils historisch gegebenen, individuellen Gruppierung jener „Faktoren" und ihres dadurch bedingten konkreten, in seiner Art bedeut-

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samen Zusammenwirkens und vor allen die Verständlich - machung des Grundes und der Art dieser Bedeutsamkeit, wäre die nächste, zwar unter Verwendung jener Vorarbeit zu lösende, aber ihr gegenüber völlig neue und selbständige Aufgabe. Die Zurückverfolgung der einzelnen, für die Gegenwart bedeut- samen, individuellen Eigentümlichkeiten dieser Gruppierungen in ihrem Gewordensein soweit in die Vergangenheit als möglich und ihre historische Erklärung aus früheren wiederum individuellen Konstellationen wäre die dritte, die Abschätzung möglicher Zu- kunftskonstcllationen endlich eine denkbare vierte Aufgabe.

Für alle diese Zwecke wäre das Vorhandensein klarer Begriffe und die Kenntnis jener (hypothetischen) „Gesetze" offenbar als Er- kenntnismittel aber auch nur als solches von großem Werte, ja sie wäre zu diesem Zwecke schlechthin unentbehrlich. Aber selbst in dieser Funktion zeigt sich an einem entscheidenden Punkte sofort die Grenze ihrer Tragweite, und mit deren Feststellung gelangen wir zu der entscheidenden Eigenart kulturwisscnschaftlicher Betrachtungsweise. Wir haben als „Kulturwissenschaften" solche Diszi- plinen bezeichnet, welche die Lebenserscheinungen in ihrer Kultur be - deutung zu erkennen strebten. Die Bedeutung der Gestaltung einer Kulturerscheinung und der Grund dieser Bedeutung kann aber aus keinem noch so vollkommenen System von Gesetzesbegriffen entnommen, begründet und verständlich gemacht werden, denn sie setzt die Beziehung der Kulturerscheinungen auf Wertideen voraus. Der Begriff der Kultur ist ein Wertbegriff. Die empi- rische Wirklichkeit ist für uns „Kultur", weil und sofern wir sie mit Wertideen in Beziehung setzen, sie umfaßt diejenigen Bestand- teile der Wirklichkeit, welche durch jene Beziehung für uns be- deutsam werden, und nur diese. Ein winziger Teil der jeweils betrachteten individuellen Wirklichkeit wird von unserm durch jene Wertideen bedingten Interesse gefärbt, er allein hat Bedeutung für uns, er hat sie, weil er Beziehungen aufweist , die für uns infolge ihrer Verknüpfung mit Wertideen wichtig sind; nur weil und so- weit dies der Fall, ist er in seiner individuellen Eigenart für uns wissenswert. Was aber für uns Bedeutung hat, das ist natürlich durch keine „voraussetzunglose" Untersuchung des empirisch Ge- gebenen zu erschließen, sondern seine Feststellung ist Voraussetzung dafür, daß etwas Gegenstand der Untersuchung wird. Das B e - deutsame koinzidiert natürlich auch als solches mit keinem Gesetze als solchem, und zwar um so weniger, je allgemein-

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gültiger jenes Gesetz ist. Denn die spezifische Bedeutung, die ein Bestandteil der Wirklichkeit für uns hat, findet sich natürlich gerade nicht in denjenigen seiner Beziehungen, die er mit mög- lichst vielen anderen teilt. Die Beziehung der Wirklichkeit auf Wertideen, die ihr Bedeutung verleihen und, die Heraushebung und Ordnung der dadurch gefärbten Bestandteile des Wirklichen unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung ist ein gänzlich heterogener und disparater Gesichtspunkt gegenüber der Analyse der Wirklichkeit auf Gesetze und ihrer Ordnung in generellen Begriffen. Beide Arten der denkenden Ordnung des Wirklichen haben keinerlei notwendige logische Beziehungen zueinander. Sie können in einem Einzelfall einmal koinzidieren, aber es ist von den verhängnisvollsten Folgen, wenn dies zufallige Zusammentreffen über ihr prinzipielles Auseinanderfallen täuscht. Es kann die Kulturbedeutung einer Erscheinung, z.B. des geldwirtschaftlichen Tausches, darin bestehen, daß er als Massenerscheinung auftritt, wie dies eine fundamentale Komponente des heutigen Kulturlebens ist. Alsdann ist aber eben die historische Tatsache, daß er diese Rolle spielt, das, was in seiner Kulturbedeutung verständ- lich zu machen, in seiner historischen Entstehung kausal zu erklären ist. Die Untersuchung des generellen Wesens des Tausches und der Technik des Marktverkehrs ist eine höchst wichtige und unentbehrliche! Vorarbeit. Aber nicht nur ist damit die Frage nicht beantwortet, wie denn historisch der Tausch zu seiner heutigen fundamentalen Bedeutung gekommen ist, sondern vor allen Dingen: das, worauf es uns in letzter Linie doch ankommt: die Kulturbedcutung der Geldwirtschaft, um derentwillen wir uns für jene Schilderung der Verkehrstechnik ja allein interessieren, um derentwillen allein es heute eine Wissenschaft gibt, welche sich mit jener Technik befaßt, sie folgt aus keinem jener „Gesetze". Die gattungsmäßigen Merkmale des Tausches, Kaufs etc. interessieren den Juristen, was uns angeht, ist die Aufgabe, eben jene Kulturbedcutung der historischen Tatsache, daß der Tausch heute Massenerscheinung ist, zu analysieren. Wo sie erklärt werden soll, wo wir verstehen wollen, was unsere sozialökonomische Kultur etwa von der des Altertums, in welcher der Tausch ja ge- nau die gleichen gattungsmäßigen Qualitäten aufwies wie heute, unterscheidet, worin also die Bedeutung der „Geldwirtschaft" liegt, da ragen logische Prinzipien durchaus heterogener Herkunft in die Untersuchung hinein: wir werden jene Begriffe, welche die

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Untersuchung der gattungsmäßigen Elemente der ökonomischen Massenerscheinungen uns liefern, zwar, soweit in ihnen be- deutungsvolle Bestandteile unserer Kultur enthalten sind, als Darstellungs m i 1 1 e 1 verwenden: nicht nur aber ist das Ziel unserer Arbeit durch die noch so genaue Darstellung jener Begriffe und Gesetze nicht erreicht, sondern die Frage, was zum Gegen- stand der gattungsmäßigen Begriffsbildung gemacht werden soll, ist gar nicht „voraussetzungslos", sondern eben im Hinblick auf die Bedeutung entschieden worden, welche bestimmte Bestandteile jener unendlichen Mannigfaltigkeit, die wir „Verkehr" nennen, für die Kultur besitzen. Wir erstreben eben die Erkenntnis einer histo- rischen, d. h. einer in ihrer Eigenart bedeutungsvollen, Erscheinung. Und das entscheidende dabei ist: nur durch die Voraussetzung, daß ein endlicher Teil der unendlichen Fülle der Erscheinungen allein bedeutungsvoll sei, wird der Gedanke einer Erkenntnis individueller Erscheinungen überhaupt logisch sinnvoll. Wir ständen, selbst mit der denkbar umfassendsten Kenntnis aller „Gesetze" des Geschehens, ratlos vor der Frage: wie ist kau- sale Erklärung einer individuellen Tatsache überhaupt möglich, da schon eine Beschreibung selbst des kleinsten Ausschnittes der Wirklichkeit ja niemals erschöpfend denkbar ist ? Die Zahl und Art der Ursachen, die irgend ein individuelles Er- eignis bestimmt haben, ist ja stets unendlich, und es gibt keinerlei in den Dingen selbst liegendes Merkmal, einen Teil von ihnen als allein in Betracht kommend , auszusondern. Ein Chaos von „Existcnzialurteilen" über unzählige einzelne Wahrnehmungen wäre das einzige, was der Versuch eines ernstlich „voraussetzungslosen" Erkennens der Wirklichkeit erzielen würde. Und selbst dieses Ergebnis wäre nur scheinbar möglich, denn die Wirklichkeit jeder einzelnen Wahrnehmung zeigt bei näherem Zusehen ja stets un- endlich viele einzelne Bestandteile, die nie erschöpfend in Wahr- nehmungsurteilen ausgesprochen werden können. In dieses Chaos bringt nur der Umstand Ordnung, daß in jedem Fall nur e i n Teil der individuellen Wirklichkeit für uns Interesse und Be- deutung hat, weil nur er in Beziehung steht zu den Kultur- wertideen, mit welchen wir an die Wirklichkeit herantreten. Nur bestimmte Seiten der stets unendlich mannigfaltigen Einzel- erscheinungen: diejenigen, welchen wir eine allgemeine Kult Ur- bedeutung beimessen sind daher wissenswert, sie allein sind Gegenstand der kausalen Erklärung. Auch diese kausale Er-

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klärung selbst weist dann wiederum die gleiche Erscheinung auf: ein erschöpfender kausaler Regressus von irgend einer konkreten Erscheinung in ihrer vollen Wirklichkeit aus ist nicht nur praktisch unmöglich sondern einfach ein Unding. Nur diejenigen Ursachen, welchen die im Einzelfalle „w e s e n 1 1 i c h e n" Bestandteile eines Ge- schehens zuzurechnen sind, greifen wir heraus: die Kausalfrage ist, wo es sich um die Individualität einer Erscheinung han- delt, nicht eine Frage nach Gesetzen, sondern nach konkreten kausalen Zusammenhängen, nicht eine Frage, welcher Formel die Erscheinung als Exemplar unterzuordnen, sondern die Frage, welcher individuellen Konstellation sie als Ergebnis zuzurechnen ist: sie ist Zurechnungsfrage. Wo immer die kausale Er- klärung einer „Kulturerscheinung" eines „historischen Indi- viduums", wie wir im Anschluß an einen in der Methodologie unserer Disziplin schon gelegentlich gebrauchten und jetzt in der Logik in präziser Formulierung üblich werdenden Ausdruck sagen wollen in Betracht kommt, da kann die Kenntnis von Gesetzen der Verursachung nicht Zweck, sondern nur Mittel der Unter- suchung sein. Sie erleichtert und ermöglicht uns die kausale Zu- rechnung der in ihrer Individualität kulturbedeutsamen Bestandteile der Erscheinungen zu ihren konkreten Ursachen. Soweit, und nur soweit, als sie dies leistet, ist sie für die Erkenntnis individueller Zu- sammenhänge wertvoll. Und je „allgemeiner", d. h. abstrakter, die Gesetze, desto weniger leisten sie für die Bedürfnisse der kau- salen Zurechnung individueller Erscheinungen und damit in- direkt für das Verständnis der Bedeutung der Kulturvorgänge. Was folgt nun aus alledem?

Natürlich nicht etwa, daß auf dem Gebiet der Kulturwissen- schaften die Erkenntnis des Generellen, die Bildung abstrakter Gattungsbegriffe, die Erkenntnis von Regelmäßigkeiten und der Versuch der Formulierung von „gesetzlichen" Zusammenhängen keine wissenschaftliche Berechtigung hätte. Im geraden Gegenteil: wenn die kausale Erkenntnis des Historikers Zurechnung kon- kreter Erfolge zu konkreten Ursachen ist, so ist eine gültige Zu- rechnung irgend eines individuellen Erfolges ohne die Verwendung ,,nomologischer" Kenntnis Kenntnis der Regelmäßigkeiten der kausalen Zusammenhänge überhaupt nicht möglich. Ob einem einzelnen individuellen Bestandteil eines Zusammenhanges in der Wirklichkeit in concreto kausale Bedeutung für den Erfolg, um dessen kausale Erklärung es sich handelt, beizumessen ist, kann ja im

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Zweifelsfalle nur durch Abschätzung der Einwirkungen, welche wir von ihm und den anderen für die Erklärung mit in Betracht kommenden Bestandteilen des gleichen Komplexes generell zu er- warten pflegen: welche „adäquate" Wirkungen der betreffenden ur- sächlichen Elemente sind, bestimmt werden. Inwieweit der Historiker {im weitesten Sinne des Wortes) mit seiner aus der persönlichen Lebenserfahrung gespeisten und methodisch geschulten Phantasie diese Zurechnung sicher vollziehen kann und inwieweit er auf die Hilfe spezieller Wissenschaften angewiesen ist, welche sie ihm er- möglichen, das hängt vom Einzelfalle ab. Überall aber und so auch auf dem Gebiet komplizierter wirtschaftlicher Vorgänge ist die Sicherheit der Zurechnung um so größer, je gesicherter und umfassender unsere generelle Erkenntnis ist. Daß es sich dabei stets, auch bei allen sog. „wirtschaftlichen Gesetzen" ohne Aus- nahme, nicht um im engeren, exakt naturwissenschaftlichen Sinne „gesetzliche", sondern um in Regeln ausgedrückte adäquate ur- sächliche Zusammenhänge, um eine hier nicht näher zu analysierende Anwendung der Kategorie der „objektiven Möglichkeit" handelt, tut diesem Satz nicht den mindesten Eintrag. Nur ist eben die Aufstellung solcher Regelmäßigkeiten nicht Ziel, sondern Mittel der Erkenntnis, und ob es Sinn hat, eine aus der Alltagserfahrung bekannte Regelmäßigkeit ursächlicher Verknüpfung als „Gesetz" in eine Formel zu bringen, ist in jedem einzelnen Fall eine Zweck- mäßigkeitsfrage. Für die exakte Naturwissenschaft sind die „Ge- setze" um so wichtiger und wertvoller, je allgemeingültiger sie sind, für die Erkenntnis der historischen Erscheinungen in ihrer konkreten Voraussetzung sind die allgemeinsten Gesetze, weil die inhaltleersten, regelmäßig auch die wertlosesten. Denn je um- fassender die Geltung eines Gattungsbegriffes sein Umfang ist, desto mehr führt er uns von der Fülle der Wirklichkeit ab, da er ja, um das Gemeinsame möglichst vieler Erscheinungen zu enthalten, möglichst abstrakt, also inhaltsarm sein muß. Die Erkenntnis des Generellen ist uns in den Kulturwissenschaften nie um ihrer selbst willen wertvoll.

Was sich uns als Resultat des bisher Gesagten ergibt, ist, daß eine „objektive" Behandlung der Kulturvorgängc in dem Sinne, daß als idealer Zweck der wissenschaftlichen Arbeit die Reduktion des Empirischen auf „Gesetze" zu gelten hätte, sinnlos ist Sie ist dies nicht etwa, wie oft behauptet worden ist, deshalb weil die Kultur- vorgänge oder etwa die geistigen Vorgänge „objektiv" weniger

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gesetzlich abliefen, sondern weil i) Erkenntnis von sozialen Gesetzen keine Erkenntnis des sozial Wirklichen ist, sondern nur eins von den verschiedenen Hilfsmitteln, die unser Denken zu diesem Be- hufe braucht, und weil 2) keine Erkenntnis von K u 1 1 u r Vorgängen anders denkbar ist, als auf der Grundlage der Bedeutung, welche die stets individuell geartete Wirklichkeit des Lebens in bestimmten einzelnen Beziehungen für uns hat In welchem Sinn und in welchen Beziehungen dies der Fall ist, enthüllt uns aber kein Gesetz , denn das entscheidet sich nach den Wertideen, unter denen wir die „Kultur" jeweils im einzelnen Falle betrachten. ..Kultur" ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unend- lichkeit des Weltgeschehens. Sie ist es für den Menschen auch dann, wenn er einer konkreten Kultur als Todfeind sich ent- gegenstellt und „Rückkehr zur Natur" verlangt. Denn auch zu dieser Stellungnahme kann er nur gelangen, indem er die kon- krete Kultur auf seine Wertideen bezieht und „zu leicht" befindet. Dieser rein logisch- formale Tatbestand ist gemeint, wenn hier von der logisch notwendigen Verankerung aller historichen Indi- viduen an „Wertideen" gesprochen wird. Transzendentale Voraus- setzung jeder Kulturwissenschaft ist nicht etwa, daß wir eine bestimmte oder überhaupt irgend eine „Kultur" wertvoll finden, sondern daß wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen. Welches immer dieser Sinn sein mag, er wird dazu fuhren, daß wir im Leben bestimmte Erschei- nungen des menschlichen Zusammenseins aus ihm heraus beur- teilen, zu ihnen als bedeutsam (positiv oder negativ) Stellung nehmen. Welches immer der Inhalt dieser Stellungnahme sei, di es e Erscheinungen haben für uns Kultur bedeu tu ng, auf dieser Bedeutung beruht allein ihr wissenschaftliches Interesse. Wenn also hier im Anschluß an den Sprachgebrauch moderner Logiker von der Bedingtheit der Kulturerkenntnis durch Wertideen gesprochen wird, so ist das hoffentlich Mißverständnissen so grober Art, wie der Meinung, Kulturbedeutung solle nur wertvollen Erschei- nungen zugesprochen werden , nicht ausgesetzt. Eine Kultur- erscheinung ist die Prostitution so gut wie die Religion oder das Geld, alle drei deshalb und nur deshalb und nur soweit, als ihre Existenz und die Form, die sie historisch annehmen, unsere Kultur intcr essen direkt oder indirekt berühren, als sie unseren

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Krkenntnistrieb unter Gesichtspunkten erregen, die hergeleitet sind aus den Wertideen, welche das Stück Wirklichkeit, welches in jenen Begriffen gedacht wird, für uns bedeutsam machen.

Alle Erkenntnis der Kulturwirklichkeit ist, wie sich daraus er- gibt, stets eine Erkenntnis unter spezifisch besonderten Ge- sichtspunkten. Wenn wir von dem Historiker und Sozial- forscher als elementare Voraussetzung verlangen, daß er Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden könne, und daß er für diese Unter- scheidung die erforderlichen „Gesichtspunkte" habe, so heißt das lediglich, daß er verstehen müsse, die Vorgänge der Wirklichkeit, bewußt oder unbewußt auf universelle „Kulturwerte" zu be- ziehen und danach d i e Zusammenhänge herauszuheben, welche für uns bedeutsam sind. Wenn immer wieder die Meinung auftritt, jene Gesichtspunkte könnten dem „Stoff selbst entnommen" werden, so entspringt das der naiven Selbsttäuschung des Fachgelehrten, der nicht beachtet, daß er von vornherein kraft der Wertideen, mit denen er unbewußt an den Stoff herangegangen ist, aus einer ab- soluten Unendlichkeit einen winzigen Bestandteil als das heraus- gehoben hat, auf dessen Betrachtung es ihm allein ankommt. In dieser immer und überall bewußt oder unbewußt erfolgenden Aus- wahl einzelner spezieller „Seiten" des Geschehens waltet auch dasjenige Element kulturwisscnschaftlicher Arbeit, welches jener oft gehörten Behauptung zugrunde liegt, daß das „Persönliche" eines wissenschaftlichen Werkes das eigentlich Wertvolle an ihm sei, daß sich in jedem Werk, solle es anders zu existieren wert sein, „eine Persönlichkeit" aussprechen müsse. Gewiß: ohne Wertideen des Forschers gäbe es kein Prinzip der Stoffauswahl und keine sinnvolle Erkenntnis des individuell Wirklichen, und wie ohne den Glauben des Forschers an die Bedeutung irgendwelcher Kulturinhalte jede Arbeit an der Erkenntnis der individuellen Wirklichkeit schlechthin sinnlos ist, so wird die Richtung seines persönlichen Glaubens, die Farbenbrechung der Werte im Spiegel seiner Seele, seiner Arbeit die Richtung weisen. Und die Werte, auf welche der wissenschaftliche Genius die Objekte seiner Forschung bezieht, werden die „Auffassung" einer ganzen Epoche zu bestimmen, d. h. entscheidend zu sein vermögen nicht nur für das, was als „wert- voll", sondern auch für das, was als bedeutsam oder bedeutungslos, als „wichtig" und „unwichtig" an den Erscheinungen gilt.

Die kulturwissenschaftlichc Erkenntnis in unserem Sinn ist also insofern an „subjektive" Voraussetzungen gebunden, als sie sich

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nur um diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit kümmert, welche irgend eine noch so indirekte Beziehung zu Vorgängen haben, denen wir Kultur bedeutung beilegen. Sie ist trotzdem natürlich rein kausale Erkenntnis genau in dem gleichen Sinn wie die Er- kenntnis bedeutsamer individueller Naturvorgänge, welche qualita- tiven Charakter haben. Neben die mancherlei Verirrungen, welche das Hinübergreifen formal-juristischen Denkens in die Sphäre der Kulturwissenschaften gezeitigt hat, ist neuerdings u. a. der Versuch getreten, die „materialistische Geschichtsauffassung" durch eine Reihe geistreicher Trugschlüsse prinzipiell zu „widerlegen", indem ausge- führt wurde, daß, da alles Wirtschaftsleben sich in rechtlich oder kon- ventionell geregelten Formen abspielen müsse, alle ökonomische „Entwicklung" die Form von Bestrebungen zur Schaffung neuer Rechtsformen annehmen müsse, also nur aus sittlichen Maximen verständlich und aus diesem Grunde von jeder „natürlichen" Entwicklung dem Wesen nach verschieden sei. Die Erkenntnis der wirtschaftlichen Entwicklung sei daher „teleologischen" Charakters. Ohne hier die Bedeutung des vieldeutigeren Begriffs der „Entwicklung" für die Sozialwissenschaft oder auch den logisch nicht minder vieldeutigen Begriff des „Teleologischen" erörtern zu wollen, sei demgegenüber hier nur festgestellt, daß sie jedenfalls nicht in dem Sinn „teleologisch" zu sein genötigt ist, wie diese Ansicht voraussetzt Bei völliger formaler Identität der geltenden Rechtsnormen kann die Kulturbedeutung der normierten Rechts- verhältnisse und damit auch der Normen selbst sich grundstürzend ändern. Ja, will man sich denn einmal in Zukunftsphantasien spintisierend vertiefen, so könnte jemand sich z. B. eine „Vergesell- schaftung der Produktionsmittel" theoretisch als vollzogen denken, ohne daß irgend eine auf diesen Erfolg bewußt abzielende „Be- strebung" entstanden wäre und ohne daß irgend ein Paragraph unserer Gesetzgebung verschwände oder neu hinzuträte : das statistische Vorkommen der einzelnen rechtlich normierten Beziehungen freilich wäre von Grund aus geändert, bei vielen auf Null gesunken, ein großer Teil der Rechtsnormen praktisch bedeutungslos, ihre ganze Kultur- bedeutung bis zur Unkenntlichkein verändert. Erörterungen de lege ferenda konnte daher die „materialistische" Geschichtstheorie mit Recht ausscheiden, denn ihr zentraler Gesichtspunkt war gerade der unvermeidliche Bedeutungswandel der Rechtsinstitutionen. Wem die schlichte Arbeit kausalen Verständnisses der historischen Wirklichkeit subaltern erscheint, der mag sie meiden, sie durch

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irgend eine „Teleologie" zu ersetzen ist unmöglich. „Zweck" ist für unsere Betrachtung die Vorstellung eines Erfolges, welche Ursache einer Handlung wird; wie jede Ursache, welche zu einem bedeutungsvollen Erfolg beiträgt oder beitragen kann, so berücksichtigen wir auch diese. Und ihre spezifische Be- deutung beruht nur darauf, daß wir menschliches Handeln nicht nur konstatieren, sondern verstehen können und wollen. Ohne alle Frage sind nun jene VVertidcen „subjektiv". Zwischen dem „historischen" Interesse an einer Familienchronik und demjenigen an der Entwicklung der denkbar größten Kul- turerscheinungen, welche einer Nation oder der Menschheit in langen Epochen gemeinsam waren und sind, besteht eine unend- liche Stufenleiter der „Bedeutungen", deren Staffeln für jeden einzelnen von uns eine andere Reihenfolge haben werden. Und ebenso sind sie natürlich historisch wandelbar mit dem Charakter der Kultur und der die Menschen beherrschenden Gedanken selbst. Daraus folgt nun aber selbstverständlich nicht, daß auch die kulturwissenschaftliche Forschung nur Ergebnisse haben könne, die „subjektiv" indem Sinne seien, daß sie für den einen gelten und für den andern nicht. Was wechselt ist vielmehr der Grad, in dem sie den einen interessieren und den andern nicht. Mit anderen Worten: was Gegenstand der Untersuchung wird, und wie weit diese Untersuchung sich in die Unendlichkeit der Kausalzusammenhänge erstreckt, das bestimmen die den Forscher und seine Zeit beherrschenden Wertideen; im Wier, In der Methode der Forschung ist der leitende „Gesichtspunkt" zwar wie wir noch sehen werden für die Bildung der begrifflichen Hilfsmittel, die er verwendet, bestimmend, in der Art ihrer Ver- wendung aber ist der Forscher selbstverständlich hier wie überall an die Normen unseres Denkens gebunden. Denn wissenschaftliche Wahrheit ist nur, was für alle gelten will, die Wahrheit wollen.

Aber allerdings folgt daraus eins: Die Sinnlosigkeit des selbst die Historiker unseres Faches gelegentlich beherrschenden Gedankens, daß es das, wenn auch noch so ferne, Ziel der Kultur- wissenschaften sein könne, ein geschlossenes System von Begriffen zu bilden, in dem die Wirklichkeit in einer in irgend einem Sinne endgültigen Gliederung zusammengefaßt und aus dem heraus sie dann wieder deduziert werden könnte. Endlos wälzt sich der Strom des unermeßlichen Geschehens der Ewigkeit entgegen. Immer neu und anders gefärbt bilden sich die Kulturprobleme, welche die

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Menschen bewegen, flüssig bleibt damit der Umkreis dessen, was aus jenem stets gleich unendlichen Strome des Individuellen Sinn und Bedeutung für uns erhält, „historisches Individuum" wird. Es wechseln die Gedankenzusammenhänge, unter denen es betrachtet und wissenschaftlich erfaßt wird. Die Ausgangspunkte der Kultur- wissenschaften bleiben damit wandelbar in die grenzenlose Zukunft hinein, solange nicht chinesische Erstarrung des Geisteslebens die Menschheit entwöhnt, neue Fragen an das immer gleich unerschöpf- liche Leben zu stellen. Ein System der Kulturwissenschaften auch nur in dem Sinne einer definitiven, objektiv gültigen, systemati- sierenden Fixierung der Fragen und Gebiete, von denen sie zu handeln berufen sein sollen, wäre ein Unsinn in sich: stets kann bei einem solchen V ersuch nur eine Aneinanderreihung von mehreren, spezifisch besonderten, untereinander vielfach heterogenen und dis- paraten Gesichtspunkten herauskommen, unter denen die Wirklichkeit für uns jeweils „Kultur", d. h. in ihrer Eigenart bedeutungsvoll war oder ist.

Nach diesen langwierigen Auseinandersetzungen können wir uns nun endlich der Frage zuwenden, die uns bei einer Betrachtung der „Objektivität" der Kulturerkenntnis methodisch interessiert : welches ist die logische Funktion und Struktur der Begriffe, mit der unsere, wie jede, Wissenschaft arbeitet, oder spezieller mit Rücksicht auf das entscheidende Problem gewendet : welches ist die Bedeutung der Theorie und der theoretischen Begrifisbildung für die Erkenntnis der Kulturwirklichkeit?

Die Nationalökonomie war, wir sahen es schon ur- sprünglich wenigstens dem Schwerpunkt ihrer Erörterungen nach „Technik", d. h. sie betrachtete die Erscheinungen der Wirklichkeit von einem, wenigstens scheinbar, eindeutigen, feststehenden prak- tischen Wertgesichtspunkt aus: dem der Vermehrung des „Reich- tums" der Staatsangehörigen. Sie war andererseits von Anfang an nicht nur „Technik", denn sie wurde eingegliedert in die mächtige Einheit der naturrechtlichen und rationalistischen Weltanschauung des achtzehnten Jahrhunderts. Aber die Eigenart jener Weltan- schauung mit ihrem optimistischen Glauben an die theoretische und praktische Rationalisierbarkeit des Wirklichen wirkte wesent- lich insofern, als sie hinderte, daß der problematische Charakter jenes als selbstverständlich vorausgesetzten Gesichtspunktes entdeckt wurde. Wie die rationale Betrachtung der sozialen Wirk- lichkeit im engen Zusammenhalt mit der modernen Entwicklung

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der Naturwissenschaft entstanden war , so blieb sie in der ganzen Art ihrer Betrachtung ihr verwandt. In den naturwissenschaftlichen Disziplinen nun war der praktische Wertsgesichtspunkt des un- mittelbar technisch Nützlichen von Anfang an mit der als Erbteil der Antike überkommenen und weiter entwickelten Hoffnung eng verbunden , auf dem Wege der generalisierenden Abstraktion und der Analyse des Empirischen auf gesetzliche Zusammenhänge hin zu einer rein „objektiven", d. h. hier: von allen Werten losgelösten, und zugleich durchaus rationalen, d. h. von allen individuellen „Zu- fälligkeiten" befreiten monistischen Erkenntnis der gesamten Wirk- lichkeit in Gestalt eines Begriffssystems von metaphysischer Geltung und von mathematischer Form zu gelangen. Die an Wertgesichtspunkte geketteten naturwissenschaftlichen Disziplinen, wie die klinische Medizin und noch mehr die gewöhnlich sogenannte „Technologie", wurden rein praktische „Kunstlehren". Die Werte, denen sie zu dienen hatten: Gesundheit des Patienten, technische Vervollkommnung eines konkreten Produktionsprozesses etc. standen für jede von ihnen jeweils fest. Die Mittel, die sie anwendeten, waren und konnten nur sein die Verwertung der durch die theore- tischen Disziplinen gefundenen Gesetzesbegrific. Jeder prinzipielle Fortschritt in der Bildung dieser war oder konnte doch sein auch ein Fortschritt der praktischen Disziplin. Bei feststehendem Zweck war ja die fortschreitende Reduktion der einzelnen praktischen Fragen (eines Krankheitsfalles, eines technischen Problems) als Spezialfall auf generell geltende Gesetze, also die Erweiterung des theoretischen Erkennens, unmittelbar mit der Ausweitung der tech- nisch-praktischen Möglichkeiten verknüpft und identisch. Als dann die moderne Biologie auch diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit, die uns historisch, d. h. in der Art ihres So-und-nicht-anders- geworden-seins interessieren , unter den Begriff eines allgemein- gültigen Entwicklungsprinzips gebracht hatte, welches wenigstens dem Anschein nach aber freilich nicht in Wahrheit alles an jenen Objekten Wesentliche in ein Schema generell geltender Gesetze einzuordnen gestattete, da schien die Götterdämmerung aller Wert- gesichtspunkte in allen Wissenschaften heraufzuziehen. Denn da ja doch auch das sogenannte historische Geschehen ein Teil der gesamten Wirklichkeit war, und da das Kausalprinzip, die Voraus- setzung aller wissenschaftlichen Arbeit, die Auflösung alles Ge- schehens in generell geltende „Gesetze" zu fordern schien , da end- lich der ungeheure Erfolg der Naturwissenschaften, die mit diesem

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Gedanken ernst gemacht hatten, zutage lag, so schien ein anderer Sinn des wissenschaftlichen Arbeitens als die Auffindung der Ge- setze des Gesehehens überhaupt nicht vorstellbar. Nur das „Ge- setzmäßige" kormte das wissenschaftlich Wesentliche an den Er- scheinungen sein, „individuelle" Vorgänge nur als „Typen", d. h. hier: als illustrative Repräsentanten der Gesetze in Betracht kommen; ein Interesse an ihnen um ihrer selbst willen schien „kein wissen- schaftliches" Interesse.

Die mächtigen Rückwirkungen dieser glaubensfrohen Stimmung des naturalistischen Monismus auf die ökonomischen Disziplinen hier zu verfolgen, ist unmöglich. Als die sozialistische Kritik und die Arbeit der Historiker die ursprünglichen Wertgesichtspunkte in Probleme zu verwandeln begannen, hielt die mächtige Entwicklung der biologischen Forschung auf der einen Seite, der Einfluß des Hcgel'schen Panlogismus auf der anderen Seite die National- ökonomie davon ab, das Verhältnis von Begriff und Wirklichkeit in vollem Umfang deutlich zu erkennen. Das Resultat, soweit es uns hier interessiert, ist, daß trotz des gewaltigen Dammes, welchen die deutsche idealistische Philosophie seit Fichte, die Leistungen der deutschen historischen Rechtsschule und die Arbeit der historischen Schule der deutschen Nationalökonomie, dem Eindringen natura- listischer Dogmen entgegenbaute, dennoch und zum Teil infolge dieser Arbeit an entscheidenden Stellen die Gesichtspunkte des Naturalismus noch immer unüberwunden sind. Dahin gehört ins- besondere das noch immer problematisch gebliebene Verhältnis zwischen „theoretischer" und „historischer" Arbeit in unserem Fache.

In unvermittelter und anscheinend unüberbrückbarer Schroffheit steht noch heute die „abstrakt"-theoretische Methode der empirisch- historischen Forschung gegenüber. Sie erkennt durchaus richtig die methodische Unmöglichkeit, durch Formulierung von „Gesetzen" die geschichtliche Erkenntnis der Wirklichkeit zu ersetzen oder umgekehrt durch bloßes Aneinanderreihen historischer Beobachtungen zu „Gesetzen" im strengen Sinne zu gelangen. Um nun solche zu gewinnen, denn daß dies die Wissenscheft als höchstes Ziel zu erstreben habe, steht ihr fest , geht sie von der Tat- sache aus, daß wir die Zusammenhänge menschlichen Handelns be- ständig selbst in ihrer Realität unmittelbar erleben, daher so meint sie ihren Ablauf mit axiomatischer Evidenz direkt verständlich machen und so in seinen „Gesetzen" erschließen können. Die einzig exakte Form der Erkenntnis, die Formu-

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lierung unmittelbar anschaulich evidenter Gesetze, sei aber, zugleich die einzige, welche den Schluß auf die nicht unmittel- bar beobachteten Vorgänge zulasse, daher sei mindestens für die fundamentalen Phänomene des wirtschaftlichen Lebens die Auf- stellung eines Systems von abstrakten und infolgedessen rein formalen Lehrsätzen nach Analogie derjenigen der exakten Natur- wissenschaften das einzige Mittel geistiger Beherrschung der gesell- schaftlichen Mannigfaltigkeit. Trotz der prinzipiellen methodischen Scheidung gesetzlicher und historischer Erkenntnis, welche der Schöpfer der Theorie als Erster und Einziger vollzogen hatte, wird nun aber für die Lehrsätze der abstrakten Theorie von ihm empirische Geltung im Sinne der Deduzierbarke it der Wirk- lichkeit aus den „Gesetzen" in Anspruch genommen. Zwar nicht im Sinne der empirischen Geltung der abstrakten ökonomischen Lehrsätze für sich allein, sondern in der Art, daß, wenn man entsprechende „exakte" Theorien von allen übrigen in Betracht kommenden Faktoren gebildet haben werde, diese sämtlichen ab- strakten Theorien zusammen dann die wahre Realität der Dinge d. h. : das, was von der Wirklichkeit wissenswert sei in sich enthalten müßten. Die exakte ökonomische Theorie stelle die Wirkung eines psychischen Motivs fest , andere Theorien hätten die Aufgabe, alle übrigen Motive in ähnlicher Art in Lehr- sätzen von hypothetischer Geltung zu entwickeln. Für das Er- gebnis der theoretischen Arbeit, die abstrakten Prcisbildungs-, Zins-, Rcnten-etc.-Theorien, wurde demgemäß hie und da phantastischer- weise in Anspruch genommen : sie könnten, nach angeblicher Analogie physikalischer Lehrsätze, dazu verwendet werden, aus ge- gebenen realen Prämissen quantitativ bestimmte Resultate also Gesetze im strengsten Sinne mit Gültigkeit für die Wirk- lichkeit des Lebens deduzieren, da die Wirtschaft des Menschen bei gegebenem Zweck in bezug auf die Mittel eindeutig „deter- miniert" sei. Es wurde nicht beachtet, daß, um dies Resultat in irgend einem noch so einfachen Falle erzielen zu können, die Ge- samtheit der jeweiligen historischen Wirklichkeit einschließlich aller ihrer kausalen Zusammenhänge als „gegeben" gesetzt und als bekannt vorausgesetzt werden müßte und daß, wenn dem end- lichen Geist diese Kenntnis zugänglich würde, irgend ein Er- kenntniswert einer abstrakten Theorie nicht vorstellbar wäre. Das naturalistische Vorurteil, das in jenen Begriffen etwas den exakten Naturwissenschaften Verwandtes geschaffen werden solle, hatte

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eben dahin gefuhrt, daß man den Sinn dieser theoretischen Ge- dankengebilde falsch verstand. Man glaubte, es handele sich um die psychologische Isolierung eines spezifischen „Triebes", des Er- werbstriebes, im Menschen, oder aber um die isolierte Beobachtung einer spezifischen Maxime menschlichen Handelns, des sogenannten wirtschaftlichen Prinzipes. Die abstrakte Theorie meinte, sich auf psychologische Axiome stützen zu können und die Folge war, daß die Historiker nach einer e m p i r i s c h e n Psychologie riefen, um die Nichtgcltung jener Axiome beweisen und den Verlauf der wirt- schaftlichen Vorgänge psychologisch ableiten zu können. Wir wollen nun an dieser Stelle den Glauben an die Bedeutung einer erst zu schaffenden systematischen Wissenschaft der „Sozial- psychologie" als künftiger Grundlage der Kulturwissenschaften, speziell der Sozialökonomik, nicht eingehend kritisieren. Gerade die bisher vorliegenden, zum Teil glänzenden Ansätze psycholo- gischer Interpretation ökonomischer Erscheinungen zeigen jedenfalls, daß nicht von der Analyse psychologischer Qualitäten des Menschen zur Analyse der gesellschaftlichen Institutionen fortgeschritten wird, sondern gerade umgekehrt die Aufhellung der psychologischen Voraussetzungen und Wirkungen der Institutionen die genaue Be- kanntschaft mit diesen letzteren und die wissenschaftliche Analyse ihrer Zusammenhänge voraussetzt. Die psychologische Analyse bedeutet alsdann lediglich eine im konkreten Fall höchst wertvolle Vertiefung der Erkenntnis ihrer historischen Kulturbedingtheit und Kultur bede u tu ng. Das, was uns an dem psychischen Ver- halten des Menschen in seinen sozialen Beziehungen interessiert, ist eben in jedem Falle je nach der spezifischen Kulturbedeutung der Beziehung, um die es sich handelt, spezifisch besondert. Es handelt sich dabei um untereinander höchst heterogene und höchst konkret komponierte psychische Motive und Einflüsse. Die sozial-psycho- logische Forschung bedeutet eine Durchmusterung verschiedener einzelner, untereinander vielfach disparater Gattungen von Kulturelementen auf ihre Deutungsfähigkeit für unser nacher- lebendes Verständnis hin. Wir werden durch sie, von der Kenntnis der einzelnen Institutionen ausgehend, deren Kulturbedingtheit und Kulturbedeutung in steigendem Maße geistig verstehen lernen, nicht aber die Institutionen aus psychologischen Gesetzen deduzieren oder aus psychologischen Elementarerscheinungen erklären wollen.

So ist denn auch die weitschichtige Polemik, welche sich um die Frage der psychologischen Berechtigung der abstrakt theore-

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tischen Aufstellungen, um die Tragweite des „Erwerbstriebes" und des „wirtschaftlichen Prinzips" etc. gedreht hat, wenig fruchtbar gewesen.

Es handelt sich bei den Aufstellungen der abstrakten Theorie nur scheinbar um „Deduktionen" aus psychologischen Grundmotiven, in Wahrheit vielmehr um einen Spezialfall einer Form der Begrifis- bildung, welche den Wissenschaften von der menschlichen Kultur eigentümlich und in gewissem Umfange unentbehrlich ist. Es lohnt sich, sie an dieser Stelle etwas eingehender zu charakterisieren, da wir dadurch der prinzipiellen Frage nach der Bedeutung der Theorie für die sozialwissenschaftliche Erkenntnis näher kommen. Dabei lassen wir es ein für allemal unerörtert, ob die theoretischen Gebilde, welche wir als Beispiele heranziehen, oder auf die wir anspielen, so wie sie sind, dem Zwecke entsprechen, dem sie dienen wollen, ob sie also sachlich zweckmäßig gebildet sind. Die Frage, wie weit z. B. die heutige „abstrakte Theorie-' noch aus- gesponnen werden soll, ist schließlich auch eine Frage der Ökonomie der wissenschaftlichen Arbeit, deren doch auch andere Probleme harren. Auch die „Grenznutztheorie" untersteht dem „Gesetz des Grenznutzens".

Wir haben in der abstrakten Wirtschaftstheoric ein Beispiel jener Synthesen vor uns, welche man als „Ideen" historischer Er- scheinungen zu bezeichnen pflegt. Sie bietet uns ein Idealbild der Vorgänge auf dem Gütermarkt bei tauschwirtschaftlicher Gesell- schaftsorganisation, freier Konkurrenz und streng rationalem Handeln. Dieses Gedankenbild vereinigt bestimmte Beziehungen und Vor- gänge des historischen Lebens zu einem in sich widerspruchslosen Kosmos gedachter Zusammenhänge. Inhaltlich trägt diese Kon- struktion den Charakter einer Utopie an sich, die durch gedank- liche Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit gewonnen ist. Ihr Verhältnis zu dem empirisch gegebenen Tatsachen des Lebens besteht lediglich darin, daß da, wo Zusammenhänge der in jener Konstruktion abstrakt dargestellten Art, also vom „Markt" abhängige Vorgänge, in der Wirklichkeit als in irgend einem Grade wirksam festgestellt sind oder vermutet werden, wir uns die Eigen- art dieses Zusammenhangs an einem Idealtypus pragmatisch veranschaulichen und verständlich machen können. Diese Möglichkeit kann sowohl heuristisch, wie für die Darstellung von Wert, ja unentbehrlich sein. Für die Forschung will der ideal- typische Begriff das Zurechnungsurteil schulen: er ist keine „Hypo-

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these", aber er will der Hypothesenbildung die Richtung weisen. Er ist nicht eine Darstellung des Wirklichen, aber er will der Darstellung eindeutige Ausdrucksmittel verleihen. Es ist also die „Idee" der historisch gegebenen modernen verkehrswirtschaft- lichen Organisation der Gesellschaft, die uns da nach ganz denselben logischen Prinzipien entwickelt wird, wie man z. B. die Idee der „Stadtwirtschaft" des Mittelalters als „genetischen" Begriff konstruiert hat. Tut man dies, so bildet man den Begriff „Stadtwirtschaft" nicht etwa als einen Durchschnitt der in sämtlichen beobach- teten Städten tatsächlich bestehenden Wirtschaftsprinzipien, sondern ebenfalls als einen Ideal typus. Er wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerschei- nungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde. In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends in der Wirk- lichkeit empirisch vorfindbar, es ist eine Utopie, und für die historische Arbeit erwächst die Aufgabe, in jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde steht, inwieweit also der Ökonomische Charakter der Ver- hältnisse einer bestimmten Stadt als „stadtwirtschaftlich" im be- grifflichen Sinn anzusprechen ist. Für den Zweck der Erforschung und Veranschaulichung aber leistet jener Begriff, vorsichtig angewendet seine spezifischen Dienste. Ganz in der gleichen Art kann man, um noch ein weiteres Beispiel zu analysieren, die „Idee" des „Handwerks" in einer Utopie zeichnen, indem man bestimmte Züge, die sich diffus bei Gewerbetreibenden der verschiedensten Zeiten und Länder vorfinden, einseitig in ihren Konsequenzen gesteigert zu einem in sich widerspruchslosen Idcalbildc zusammenfügt und auf einen Ge- danken ausdruck bezieht, den man darin manifestiert findet. Man kann dann ferner den Versuch machen, eine Gesellschaft zu zeichnen, in der alle Zweige wirtschaftlicher, ja selbst geistiger Tätigkeit von Maximen beherrscht werden, die uns als Anwendung des gleichen Prinzips erscheinen, welches dem zum Idealtypus erhobenen „Handwerk" charakteristisch ist. Man kann nun weiter jenem Idealtypus des Handwerks als Antithese einen entsprechenden Ideal- typus einer kapitalistischen Gewerbeverfassung, aus gewissen Zügen der modernen Großindustrie abstrahiert, entgegensetzen und daran anschließend den Versuch machen, die Utopie einer „kapitalistischen"

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d. h. allein durch das Verwertungsinteresse privater Kapitalien be- herrschten Kultur zu zeichnen. Sie hätte einzelne diffus vorhandene Züge des modernen materiellen und geistigen Kulturlebens in ihrer Eigenart gesteigert zu einem für unsere Betrachtung widerspruchs- losen Idealbilde zusammenzuschließen. Das wäre dann ein Versuch der Zeichnung einer „Idee" der kapitalistischen Kultur ob und wie er etwa gelingen könnte, müssen wir hier ganz dahin- gestellt sein lassen. Nun ist es möglich, oder vielmehr es muß als sicher angesehen werden, daß mehrere, ja sicherlich jeweils sehr zahl- reiche Utopien dieser Art sich entwerfen lassen, von denen keine der anderen gleicht, von denen erst recht keine in der empirischen Wirklichkeit als tatsächlich geltende Ordnung der gesellschaftlichen Zustande zu beobachten ist, von denen aber doch jede den An- spruch erhebt, eine Darstellung der „Idee" der kapitalistischen Kultur zu sein, und von denen auch jede diesen Anspruch insofern erheben kann, als jede tatsächlich gewisse, in ihrer Eigenart bedeutungsvolle Züge unserer Kultur der Wirklichkeit ent- nommen und in ein einheitliches Idealbild gebracht hat. Denn diejenigen Phänomene, die uns als Kulturerscheinungen interessieren, leiten regelmäßig dies unser Interesse ihre „Kulturbedeu- tung" — aus sehr verschiedenen Wertideen ab, zu denen wir sie in Beziehung setzen können. Wie es deshalb die verschiedensten „Gesichtspunkte" gibt, unter denen wir sie als für uns bedeutsam betrachten können, so lassen sich die allerverschiedensten Prinzipien der Auswahl der in einen Idealtypus einer bestimmten Kultur auf- zunehmenden Zusammenhänge zur Anwendung bringen.

Was ist nun aber die Bedeutung solcher idealtypischen Begriffe für eine Er fahrungs Wissenschaft, wie wir sie treiben wollen? Vor- weg sei hervorgehoben , daß der Gedanke des Sein sollenden, „Vorbildlichen" von diesen in rein logischem Sinn „idealen'1 Gcdankengebilden, die wir besprechen, hier zunächst sorgsam fern- zuhalten ist. Es handelt sich um die Konstruktion von Zusammen- hängen, welche unserer Phantasie als zulänglich motiviert und also „objektiv möglich", unserem nomologischen Wissen als adä- quat erscheinen.

Wer auf dem Standpunkt steht, daß die Erkenntnis der histo- rischen Wirklichkeit „voraussetzungslose'4 Abbildung „objektiver" Tatsachen" sein solle oder könne, wird ihnen jeden Wert ab- sprechen. Und selbst wer erkannt hat, daß es eine „Voraussetzungs- losigkeit" im logischen Sinn auf dem Boden der Wirklichkeit nicht

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gibt und auch das einfachste Aktenexzerpt oder Urkundenregest nur durch Bezugnahme auf „Bedeutungen", und damit auf Wert- ideen als letzte Instanz, irgend welchen wissenschaftlichen Sinn haben kann, wird doch die Konstruktion irgend welcher histo- rischer „Utopien" als ein für die Unbefangenheit der historischen Arbeit gefährliches Veranschaulichungsmittel, überwiegend aber ein- fach als Spielerei ansehen. Und in der Tat: ob es sich um reines Gedankenspiel oder um eine wissenschaftlich fruchtbare Begriffs- bildung handelt, kann a priori niemals entschieden werden : es gibt auch hier nur einen Maßstab: den des Erfolges für die Erkenntnis konkreter Kulturerscheinungen in ihrem Zusammenhang, ihrer ur- sächlichen Bedingtheit und ihrer Bedeutung. Nicht als Ziel, sondern als Mittel kommt mithin die Bildung abstrakter Ideal- typen in Betracht. Jede aufmerksame Beobachtung der begriff- lichen Elemente historischer Darstellung zeigt nun aber, daß der Historiker, sobald er den Versuch unternimmt, über das bloße Konstatieren konkreter Zusammenhänge hinaus die Kultur- bedeutung eines noch so einfachen individuellen Vorgangs fest- zustellen, ihn zu „charakterisieren", mit Begriffen arbeitet und arbeiten muß, welche regelmäßig nur in Idealtypen scharf und eindeutig bestimmbar sind. Oder sind Begriffe wie etwa: „Individualismus", „Imperialismus", Feudalismus", „Merkantilismus" „konventionell" und die zahllosen Begriffsbildungen ähnlicher Art, mittels deren wir uns der Wirklichkeit denkend und verstehend zu bemächtigen suchen, ihrem Inhalt nach durch „voraussetzungslosc" Beschreibung irgend einer konkreten Erscheinung oder aber durch abstrahierende Zusammenfassung dessen, was mehreren konkreten Erscheinungen gemeinsam ist, zu bestimmen? Die Sprache, die der Historiker spricht, enthält in hunderten von Worten solche unbestimmten, dem unrcflektiert waltenden Bedürfnis des Ausdrucks entnommenen Gedankenbilder, deren Bedeutung zu- nächst nur anschaulich empfunden, nicht klar gedacht wird. In unend- lich vielen Fällen, zumal auf dem Gebiet der darstellenden po 1 i t i - sehen Geschichte, tut nun die Unbestimmtheit ihres Inhaltes der Klarheit der Darstellung sicherlich keinen Eintrag. Es genügt dann, daß im einzelnen Falle empfunden wird , was dem Historiker vorschwebt, oder aber man kann sich damit begnügen, daß eine partikuläre Bestimmtheit des Begriffsinhaltes von relativer Bedeutung für den einzelnen Fall als gedacht vorschwebt. Je schärfer aber die Bedeutsamkeit einer Kulturerscheinung zum klaren

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Bewußtsein gebracht werden soll, desto unabweislicher wird das Bedürfnis, mit klaren und nicht nur partikulär, sondern allseitig be- stimmten Begriffen zu arbeiten. Eine „Definition" jener Synthesen des historischen Denkens nach dem Schema: genus proximum und differentia speeifica ist natürlich ein Unding: man mache doch die Probe. Eine solche Form der Feststellung der Wortbedeutung gibt es nur auf dem Boden dogmatischer Disziplinen, welche mit Syllogismen arbeiten. Eine einfach „schildernde Auflösung" jener Begriffe in ihre Bestandteile gibt es ebenfalls nicht oder nur schein- bar, denn es kommt eben darauf an, welche dieser Bestandteile denn als wesentlich gelten sollen. Es bleibt, wenn eine genetische Definition des Begriffsinhaltes versucht werden soll, nur die Form des Idealtypus im oben fixierten Sinn. Er ist ein Gedankenbild, welches nicht die historische Wirklichkeit oder gar die „eigentliche" Wirklichkeit ist, welches noch viel weniger dazu da ist, als ein Schema zu dienen , i n welches die Wirklichkeit als Exemplar eingeordnet werden sollte, sondern welches die Bedeutung eines rein idealen G r e n z begriffes hat, an welchem die Wirklichkeit zur Ver- deutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes gemessen, mit dem sie verglichen wird. Solche Begriffe sind Gebilde, in welchen wir Zusammenhänge unter Verwen- dung der Kategorie der objektiven Möglichkeit konstruieren, welche unsere, an der Wirklichkeit orientierte und geschulte Phantasie als adäquat beurteilt.

Der Idealtypus ist in dieser Funktion insbesondere der Ver- such, historische Individuen oder deren Einzelbestandteile in ge- netische Begriffe zu fassen. Man nehme etwa die Begriffe: „Kirche" und „Sekte". Sic lassen sich rein klassifizierend in Mcrk- malskomplexe auflösen, wobei dann nicht nur die Grenze zwischen beiden, sondern auch der Begriffsinhalt stets flüssig bleiben muß. Will ich aber den Begriff der „Sekte" genetisch, z. B. im bezug auf gewisse wichtige Kulturbedeutungen, die der „Sektengeist" für die moderne Kultur gehabt hat, erfassen, so werden bestimmte Merk- male beider wesentlich, weil sie in adäquater ursächlicher Be- ziehung zu jenen Wirkungen stehen. Die Begriffe werden aber alsdann zugleich ideal typisch, d. h. in voller begrifflicher Reinheit sind sie nicht oder nur vereinzelt vertreten. Hier wie überall führt eben jeder nicht rein klassifikatorische Begriff von der Wirklichkeit ab. Aber die diskursive Natur unseres Erkennens : der Umstand, daß wir die Wirklichkeit nur durch eine Kette von Vorst ellungsverändcrungen

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hindurch erfassen, postuliert eine solche Begriffsstenographie. Unsere Phantasie kann ihre ausdrückliche begriffliche Formulierung sicher- lich oft als Mittel der Forschung entbehren, für die Dar- stellung ist, soweit sie eindeutig sein will, ihre Verwendung auf dem Boden der Kulturanalyse in zahlreichen Fällen ganz unver- meidlich. Wer sie grundsätzlich verwirft, muß sich auf die for- male, etwa die rechtshistorische Seite der Kulturerschcinungen be- schränken. Der Kosmos der rechtlichen Normen ist natürlich zu- gleich begrifflich klar bestimmbar und (im rechtlichen Sinn!) für die historische Wirklichkeit geltend. Aber ihre praktische Bedeutung ist es, mit der die Arbeit der Sozialwissenschaft in unserem Sinn zu tun hat. Diese Bedeutung aber ist sehr oft nur durch Beziehung des empirisch Gegebenen auf einem idealen Grenzfall eindeutig zum Bewußtsein zu bringen. Lehnt der Histo- riker (im weitesten Sinne des Wortes) einen Formulierungsversuch eines solchen Idealtypus als „theoretische Konstruktion", d. h. als für seinen konkreten Erkenntniszweck nicht tauglich oder entbehrlich, ab, so ist die Folge regelmäßig entweder, daß er, bewußt oder un- bewußt, andere ähnliche ohne sprachliche Formulierung und logische Bearbeitung verwendet, oder daß er im Gebiet des un- bestimmt „Empfundenen" stecken bleibt.

Nichts aber ist allerdings gefährlicher, als die, naturalistischen Vorurteilen entstammende, Ve rmischung von Theorie und Ge- schichte, sei es in der Form, daß man glaubt, in jenen theoreti- schen Begriffsbildern den „eigentlichen" Gehalt , das „Wesen" der geschichtlichen Wirklichkeit fixiert zu haben, oder daß man sie als ein Prokrustesbett benutzt, in welches die Geschichte hineingezwängt werden soll, oder daß man gar die „Ideen" als eine hinter der Flucht der Erscheinungen stehende „eigentliche" Wirklichkeit, als reale „Kräfte" hypostasiert, die sich in der Geschichte auswirkten.

Speziell diese letztere Gefahr liegt nun um so näher, als wir unter „Ideen" einer Epoche auch und sogar in erster Linie Ge- danken oder Ideale zu verstehen gewohnt sind, welche die Masse oder einen geschichtlich ins Gewicht fallenden Teil der Menschen jener Epoche selbst beherrscht haben und dadurch für deren Kultureigenart als Komponenten bedeutsam gewesen sind. Und es kommt noch zweierlei hinzu : Zunächst der Umstand, daß zwischen der „Idee" im Sinn von praktischer oder theoretischer Gedanken- richtung und der „Idee" im Sinn eines von uns als begriffliches Hilfsmittel konstruierten Ideal typus einer Epoche regelmäßig be-

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stimmte Beziehungen bestehen. Ein Idealtypus bestimmter gesell- schaftlicher Zustände, welcher sich aus gewissen charakteristischen sozialen Erscheinungen einer Epoche abstrahieren läßt, kann und dies ist sogar recht häufig der Fall den Zeitgenossen selbst als praktisch zu erstrebendes Ideal oder doch als Maxime für die Regelung bestimmter sozialer Beziehungen vorgeschwebt haben. So steht es schon mit der „Idee" des „Nahrungsschutzes" und manchen Theorien der Kanonisten , speziell des heiligen Thomas, im Verhältnis zu dem heute verwendeten idealtypischen Begriff der „Stadtwirtschaft" des Mittelalters, den wir oben besprachen. Erst recht steht es so mit dem berüchtigten „Grundbegriff' der Nationalökonomie: dem des „wirtschaftlichen Werts". Von der Scholastik an bis in die Marxsche Theorie hinein verquickt sich hier der Gedanke von etwas „objektiv" Geltendem, d. h. also : Sein- sollcnden, mit einer Abstraktion aus dem empirischen Verlauf der Preisbildung. Und jener Gedanke, daß der „Wert" der Güter nach bestimmten (naturrechtlichen) Prinzipien reguliert sein solle, hat unermeßliche Bedeutung für die Kulturcntwicklung und zwar nicht nur des Mittelalters gehabt und hat sie noch. Und er hat speziell auch die empirische Preisbildung intensiv beeinflußt. Was aber unter jenem theoretischen Begriff gedacht wird und gedacht werden kann, das ist nur durch scharfe, das heißt idealtypische Begriffsbildung wirklich eindeutig klar zu machen, das sollte der Spott über die „Robinsonaden" der abstrakten Theorie jedenfalls so lange bedenken, als er nichts besseres, d. h. hier: Klareres an die Stelle zu setzen vermag.

Das Kausalverhältnis zwischen der historisch konstatierbaren, die Menschen beherrschenden, Idee und denjenigen Bestandteilen der historischen Wirklichkeit, aus welchen der ihr korrespondierende Ideal typus sich abstrahieren läßt, kann dabei natürlich höchst verschieden gestaltet sein. Festzuhalten ist prinzipiell nur, daß beides selbstverständlich grundverschiedene Dinge sind. Nun aber tritt noch etwas weiteres hinzu : Jene die Menschen einer Epoche beherrschenden, d. h. diffus in ihnen wirksamen „Ideen" selbst können wir, sobald es sich dabei um irgend kompliziertere Gedankengebildc handelt, mit begrifflicher Schärfe wiederum nur in Gestalt eines Idealtypus erfassen, weil sie empirisch ja in den Köpfen einer unbestimmten und wechselnden Vielzahl von Individuen leben und in ihnen die mannigfachsten Abschattierungen nach Form und Inhalt, Klarheit und Sinn erfahren. Diejenigen Be-

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standteile des Geisteslebens der einzelnen Individuen in einer be- stimmten Epoche des Mittelalters z. B., die wir als „das Christen- tum" der betreffenden Individuen ansprechen dürfen, würden, wenn wir sie vollständig zur Darstellung zu bringen vermöchten, natürlich ein Chaos unendlich differenzierter und höchst wider- spruchsvoller Gedanken- und Gefühlszusammenhänge aller Art sein, trotzdem die Kirche des Mittelalters die Einheit des Glaubens und der Sitten sicherlich in besonders hohem Maße durchzusetzen ver- mocht hat. Wirft man nun die Frage auf, was denn in diesem Chaos das „Christentum" des Mittelalters, mit dem man doch fort- während als mit einem feststehenden Begriff operieren muß, ge- wesen sei, worin das „Christliche", welches wir in den Institutionen des Mittelalters finden, denn liege, so zeigt sich alsbald, daß auch hier in jedem einzelnen Fall ein von uns geschaffenes reines Ge- dankcngebilde verwendet wird. Es ist eine Verbindung von Glaubenssätzen, Kirchenrechts- und sittlichen Normen, Maximen der Lebensführung und zahllosen Einzelzusammenhängen, die wir zu einer „Idee" verbinden: eine Synthese, zu der wir ohne die Ver- wendung idealtypischen Begriffe gar nicht widerspruchslos zu ge- langen vermöchten.

Die logische Struktur der Begriffssysteme, in denen wir solche „Ideen" zur Darstellung bringen, und ihr Verhältnis zu dem, was uns in der empirischen Wirklichkeit unmittelbar gegeben ist, sind nun natürlich höchst verschieden. Verhältnismäßig einfach gestaltet sich die Sache noch, wenn es sich um Fälle handelt, in denen ein oder einige wenige leicht in Formeln zu fassende theoretische Leit- sätze — etwa der Prädestinationsglaube Calvins oder klar formu- lierbare sittliche Postulate es sind, welche sich der Menschen bemächtigt und historische Wirkungen erzeugt haben, so daß wir die „Idee" in einer Hierarchie von Gedanken gliedern können, welche logisch aus jenen Leitsätzen sich entwickeln. Schon dann wird freilich leicht übersehen, daß, so gewaltig die Bedeutung auch der rein logisch zwingenden Macht des Gedankens in der Geschichte gewesen ist, der Marxismus ist ein hervorragendes Beispiel dafür doch der empirisch- historische Vorgang in den Köpfen der Menschen regel- mäßig als ein psychologisch, nicht als ein logisch bedingter ver- standen werden muß. Deutlicher noch zeigt sich der idealtypische Charakter solcher Synthesen von historisch wirksamen Ideen dann, wenn jene grundlegenden Leitsätze und Postulate gar nicht oder nicht mehr in den Köpfen derjenigen Einzelnen leben, die von den

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aus ihnen logisch folgenden oder von ihnen durch Assoziation aus- gelösten Gedanken beherrscht sind, weil die historisch ursprünglich zugrunde liegende „Idee" entweder abgestorben ist, oder überhaupt nur in ihren Konsequenzen in die Breite gedrungen war. Und noch entschiedener tritt der Charakter der Synthese als einer „Idee", die w i r schaffen, dann hervor, wenn jene grundlegenden Leitsätze von Anfang an nur unvollkommen oder gar nicht zum deutlichen Bewußtsein gekommen sind oder wenigstens nicht die Form klarer Gedankenzusammenhänge angenommen haben. Wenn alsdann diese Prozedur von uns vorgenommen wird, wie es unendlich oft geschieht und auch geschehen muß, so handelt es sich bei dieser „Idee" etwa des „Liberalismus" einer bestimmten Periode oder des „Methodismus" oder irgend einer gedanklich unentwickelten Spielart des „Sozialismus", um einen reinen Idealtypus ganz des gleichen Charakters wie die Synthesen von „Prinzipien" einer Wirt- schaftsepoche, von denen wir ausgingen. Je umfassender die Zu- sammenhänge sind, um deren Darstellung es sich handelt, und je vielseitiger ihre Kulturbedeutung gewesen ist, desto mehr nähert sich ihre zusammenfassende systematische Darstellung in einem Be- griffs- und Gedankensystem dem Charakter des Idealtypus, desto weniger ist es möglich, mit einem derartigen Begriffe auszukommen, desto natürlicher und unumgänglicher daher die immer wiederholten Versuche, immer neue Seiten der Bedeutsam- keit durch neue Bildung idealtypischer Begriffe zum Bewußtsein zu bringen. Alle Darstellungen eines „Wesens" des Christentums z. B. sind Idealtypen von stets und notwendig nur sehr relativer und problematischer Gültigkeit, wenn sie als historische Dar- stellung des empirisch Vorhandenen angesehen sein wollen, da- gegen von hohem heuristischen Wert für die Forschung und hohem systematischen Wert für die Darstellung, wenn sie lediglich als be- griffliche Mittel zur Vergleich ung und Messung der Wirk- lichkeit an ihnen verwendet werden. In dieser Funktion sind sie geradezu unentbehrlich. Nun aber haftet solchen idealtypischen Darstellungen regelmäßig noch ein anderes, ihre Bedeutung noch weiter komplizierendes Moment an. Sie wollen sein, oder sind un- bewußt, regelmäßig Idealtypen nicht nur im logischen, sondern auch im praktischen Sinne : vorbildliche Typen, welche in unserem Beispiel das enthalten, was das Christentum nach der An- sicht des Darstellers sein soll, was an ihm das f ü r ihn „Wesentliche", weil dauernd Wertvolle ist. Ist dies aber bewußt oder häu-

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figer unbewußt der Fall, dann enthalten sie Ideale, auf welche der Darsteller das Christentum wertend bezieht: Aufgaben und Ziele, auf die hin er seine „Idee" des Christentums ausrichtet und welche natürlich von den Werten, auf welche die Zeitgenossen, etwa die Urchristen, das Christentum bezogen, höchst verschieden sein können, ja zweifellos immer sein werden. In dieser Bedeutung sind die „Ideen" dann aber natürlich nicht mehr rein 1 o g i s c h e Hilfsmittel, nicht mehr Begriffe, an welchen die Wirklichkeit vergleichend ge- messen, sondern Ideale, aus denen sie wertend beurteilt wird. Es handelt sich hier nicht mehr um den rein theoretischen Vorgang der Beziehung des Empirischen auf Werte, sondern um Werturteile, welche in den „Begriff" des Christentums aufge- nommen sind. Weil hier der Idealtypus empirische Geltung be- ansprucht, ragt er in die Region der wertenden Deutung des Christentums hinein: der Boden der Erfahrungswissenschaft ist verlassen: es liegt ein persönliches Bekenntnis vor, nicht eine ideal-typische Begriffsbildung. So prinzipiell dieser Unterschied ist, so tritt die Vermischung jener beiden grundverschiedenen Bedeutungen der „Idee" im Verlauf der historischen Arbeit doch außerordentlich häufig ein. Sie liegt immer sehr nahe, sobald der darstellende Historiker seine „Auffassung" einer Persönlichkeit oder Epoche zu entwickeln beginnt. Im Gegensatz zu den konstant blei- benden ethischen Maßstäben, die Schlosser im Geiste des Rationalis- mus verwendete, hat der moderne relativistisch eingeschulte Historiker, der die Epoche, von der er spricht, einerseits „aus ihr selbst verstehen", andererseits doch auch „beurteilen" will, das Bedürfnis, die Maß- stäbe seines Urteils „dem Stoff" zu entnehmen, d. h. die „Idee" im Sinne des Ideals aus der „Idee" im Sinne des „Ideal typus" heraus- wachsen zu lassen. Und das ästhetische Reizvolle eines solchen Verfahrens verlockt ihn lortwährend dazu, die Linie, wo beide sich scheiden , zu verwischen eine Halbheit , welche einerseits das wertende Urteilen nicht lassen kann, andererseits die Verantwortung für ihre Urteile von sich abzulehnen trachtet. Demgegenüber ist es aber eine elementare Pflicht der wissenschaftlichen Selbstkontrolle und das einzige Mittel zur Verhütung von Er- schleichungen, die logisch- vergleichende Beziehung der Wirk- lichkeit auf Ideal typen im logischen Sinne von der wertenden Beurteilung der Wirklichkeit aus Idealen heraus scharf zu scheiden. Ein „Idealtypus" in unserem Sinne ist, wie noch einmal wiederholt sein mag, etwas gegenüber der wertenden Beurteilung

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völlig indifferentes, er hat mit irgend einer anderen als einer rein logischen „Vollkommenheit'' nichts zu tun. Es gibt Idealtypen von Bordellen so gut wie von Religionen, und es gibt von den ersteren sowohl Idealtypen von solchen, die vom Standpunkt der heutigen Polizeiethik aus technisch „zweckmäßig" erscheinen würden, wie von solchen, bei denen das gerade Gegenteil der Fall ist.

Notgedrungen muß hier die eingehende Erörterung des weitaus kompliziertesten und interessantesten Falles: die Frage der logi- schen Struktur des Staat sbegri fies, beiseite bleiben. Nur folgendes sei dazu bemerkt: Wenn wir fragen, was in der empirischen Wirk- lichkeit dem Gedanken „Staat" entspricht, so finden wir eine Un- endlichkeit diffuser und diskreter menschlicher Handlungen und Duldungen, faktischer und rechtlich geordneter Beziehungen, teils einmaligen teils regelmäßig wiederkehrenden Charakters, zusammen- gehalten durch eine Idee, den Glauben an tatsächlich geltende oder gelten sollende Normen und Herrschaftsverhältnisse von Menschen über Menschen. Dieser Glaube ist teils gedanklich entwickelter geistiger Besitz, teils dunkel empfunden, teils passiv hingenommen und auf das mannigfaltigste abschattiert in den Köpfen der ein- zelnen vorhanden, welche, wenn sie die „Idee" wirklich selbst klar als solche dächten, ja nicht erst der „allgemeinen Staatslehre" bedürften, die sie entwickeln will. Der wissenschaftliche Staats- begriff, wie immer er formuliert werde, ist nun natürlich stets eine Synthese, die wir zu bestimmten Erkenntniszwecken vornehmen. Aber er ist andererseits auch abstrahiert aus den unklaren Syn- thesen, welche in den Köpfen der historischen Menschen vorge- funden werden. Der konkrete Inhalt aber, den der historische „Staat" in jenen Synthesen der Zeitgenossen annimmt, kann wiederum nur durch Orientierung an idealtypischen Begriffen zur Anschauung gebracht werden. Und ferner unterliegt es nicht dem mindesten Zweifel, daß die Art, wie jene Synthesen, in logisch stets unvoll- kommener Form, von den Zeitgenossen vollzogen werden, die „Ideen" die s i e sich vom Staat machen, die deutsche „organische" Staatsmetaphysik z. B. im Gegensatz zu der „geschäftlichen" ameri- kanischen Auffassung, von eminenter praktischer Bedeutung ist, daß mit anderen Worten auch hier die als geltensollend oder geltend geglaubte praktische Idee und der zu Erkenntnis- zwecken konstruierte theoretische Ideal typus nebeneinander her- laufen und die stete Neigung zeigen, ineinander überzugehen. Wir hatten oben absichtlich den „Idealtypus" wesentlich

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wenn auch nicht ausschließlich als gedankliche Konstruktion zur Messung und systematischen Charakterisierung von indivi- duellen, d. h. in ihrer Einzigartigkeit bedeutsamen Zusammen- hängen — wie Christentum, Kapitalismus usw. betrachtet. Dies geschah, um die landläufige Vorstellung zu beseitigen, als ob auf dem Gebiet der Kulturerscheinungen das abstrakt Typische mit dem abstrakt Gattungsmäßigen identisch sei. Das ist nicht der Fall. Ohne den viel erörterten und durch Mißbrauch stark diskreditierten Begriff des „typischen" hier prinzipiell analy- sieren zu können, entnehmen wir doch schon unserer bisherigen Erörterung, daß die Bildung von Typenbegriffen im Sinn der Ausscheidung des „Zufalligen" auch und gerade bei histo- rischen Individuen ihre Stätte findet. Nun aber können natürlich auch diejenigen Gattungsbegriffe, die wir fortwährend als Bestandteile historischer Darstellungen und konkreter histo- rischer Begriffe finden, durch Abstraktion und Steigerung bestimmter ihnen begriffswesentlicher Elemente als Idealtypen geformt werden. Dies ist sogar ein praktisch besonders häufiger und wichtiger An- wendungsfall der idealtypischen Begriffe und jeder individuelle Idealtypus setzt sich aus begrifflichen Elementen zusammen, die gattungsmäßig sind und als Idealtypen geformt worden sind. Auch in diesem Falle zeigt sich aber die spezifische logische Funktion der idealtypischen Begriffe. Ein einfacher Gattungsbegriff im Sinne eines Komplexes von Merkmalen, die an mehreren Erscheinungen gemeinsam sich vorfinden, ist z. B. der Begriff des „Tausches", so lange ich von der B e d e u t u n g der Begriffsbestandteile absehe, also einfach den Sprachgebrauch des Alltags analysiere. Setze ich diesen Begriff nun aber etwa zu dem „Grenznutzgesetz" in Beziehung und bilde der Begriff des „ökonomischen Tausches" als eines ökonomisch rationalen Vorgangs, dann enthält dieser, wie jeder logisch voll entwickelte, Begriff ein Urteil über die „typischen" Bedin- gungen des Tausches in sich. Er nimmt genetischen Charakter an und wird damit zugleich im logischen Sinn idealtypisch, d. h. er entfernt sich von der empirischen Wirklichkeit, die nur mit ihm verglichen, auf ihn bezogen werden kann. Ahnliches gilt von allen sogenannten „Grundbegriffen" der Nationalökonomie : sie sind in genetischer Form nur als Idealtypen zu entwickeln. Der Gegensatz zwischen einfachen Gattungsbegriffen, welche ledig- lich das empirischen Erscheinungen Gemeinsame zusammen- fassen, und gattungsmäßigen Ideal typen wie etwa eines ideal-

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typischen Begriffs des „Wesens" des Handwerks ist natürlich im einzelnen flüssig. Aber kein Gattungsbegriff hat als solcher „typischen" Charakter und einen reinen gattungsmäßigsn „Durch- schnitts"^ y p u s gibt es nicht. Wo immer wir z. B. in der Statistik von „typischen" Größen reden, liegt mehr als ein bloßer Durchschnitt vor. Je mehr es sich um einfache Klassi- fikation von Vorgängen handelt, die als Massenerscheinungen in der Wirklichkeit auftreten, desto mehr handelt es sich um G a t - t u n g s begriffe, je mehr dagegen komplizierte historische Zusammen- hänge in denjenigen ihrer Bestandteile, auf welchen ihre spezifische Kulturbedeutung ruht, begrifflich geformt werden, desto mehr wird der Begriff oder das Begriffssystem den Charakter des Ideal typus an sich tragen. Denn Zweck der ideal typischen Begriffsbildung ist es überall, nicht das Gattungsmäßige, sondern umgekehrt die Eigenart von Kulturerscheinungen scharf zum Be- wußtsein zu bringen.

Die Tatsache, daß Idealtypen auch gattungsmäßige verwendet werden können und verwendet werden, bietet methodisches Interesse erst im Zusammenhang mit einem anderen Tatbestand.

Bisher haben wir die Idealtypen wesentlich nur als abstrakte Begriffe von Zusammenhängen kennen gelernt, welche als im Fluß des Geschehens verharrend, als historische Individuen, an denen sich Entwicklungen vollziehen, von uns vorgestellt werden. Nun aber tritt eine Komplikation ein, welche das naturalistische Vor- urteil, daß das Ziel der Sozialwissenschaften die Reduktion der Wirklichkeit auf „Gesetze" sein müsse, mit Hilfe des Begriffes des „Typischen" außerordentlich leicht wieder hereinpraktiziert. Auch Entwicklungen lassen sich nämlich als Idealtypen kon- struieren und diese Konstruktionen können ganz erheblichen heu- ristischen Wert haben. Aber es entsteht dabei in ganz besonders hohem Maße die Gefahr, daß Idealtypus und Wirklichkeit ineinander geschoben werden. Man kann z. B. zu dem theoretischen Ergebnis gelangen, daß in einer streng „handwerksmäßig" organisierten Gesellschaft die einzige Quelle der Kapitalakkumulation die Grund- rente sein könne. Daraus kann man dann vielleicht denn die Richtigkeit der Konstruktion wäre hier nicht zu untersuchen ein rein durch bestimmte einfache Faktoren : begrenzter Boden, steigende Volkszahl, Edelmetallzufluß, Rationalisierung der Lebensführung, bedingtes Idealbild einer Umbildung der handwerksmäßigen in die kapitalistische Wirtschaftsform konstruieren. Ob der empirisch-

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historische Verlauf der Entwicklung tatsächlich der konstruierte gewesen ist, wäre nun erst mit Hilfe dieser Konstruktion als heuristi- schem Mittel zu untersuchen im Wege der Vergleichung zwischen Idealtypus und „Tatsachen". War der Idealtypus „richtig" konstruiert und entspricht der tatsächliche Verlauf dem idealtypischen nicht, so wäre damit der Beweis geliefert, daß die mittelalterliche Gesell- schaft eben in bestimmten Beziehungen keine streng „handwerks- mäßige" war. Und wenn der Idealtypus in heuristisch „idealer" Weise konstruiert war, ob und wie dies in unserem Beispiel der Fall sein könnte, bleibt hier gänzlich außer Betracht, dann wird er zugleich die Forschung auf den Weg lenken, der zu einer schärferen Erfassung jener nicht handwerksmäßigen Bestandteile der mittelalterlichen Gesellschaft in ihrer Eigenart und historischen Be- deutung führt. Er hat, wenn er zu diesem Ergebnis fuhrt, seinen logischen Zweck erfüllt, gerade indem er seine eigene U n Wirklich- keit manifestierte. Er war in diesem Fall die Erprobung einer Hypothese. Der Vorgang bietet keinerlei methodologische Bedenken, so lange man sich stets gegenwärtig hält, daß ideal- typische Entwicklungskonstruktion und Geschichte zwei streng zu scheidende Dinge sind und daß die Konstruktion hier lediglich das Mittel war, planvoll die gültige Zurechnung eines historischen Vorganges zu seinen wirklichen Ursachen aus dem Kreise der nach Lage unserer Erkenntnis möglichen zu vollziehen.

Diese Scheidung streng aufrecht zu erhalten wird nun erfahrungs- gemäß durch einen Umstand oft ungemein erschwert. Im Interesse der anschaulichen Demonstration des Idealtypus oder der ideal- typischen Entwicklung wird man sie durch Anschauungsmaterial aus der empirischhistorischen Wirklichkeit zu verdeutlichen suchen. Die Gefahr dieses an sich ganz legitimen Verfahrens liegt darin, daß das geschichtlich Wissen hier einmal als Diener der Theorie erscheint statt umgekehrt. Die Versuchung liegt für den Theoretiker recht nahe, dieses Verhältnis entweder als das nor- male anzusehen, oder, was schlimmer ist, Theorie und Geschichte ineinander zu schieben und geradezu miteinander zu verwechseln. In noch gesteigertem Maße liegt dieser Fall dann vor, wenn die Idealkonstruktion einer Entwicklung mit der begrifflichen Klassi- fikation von Idealtypen bestimmter Kulturgebilde (z. B. der gewerb- lichen Betriebsformen von der „geschlossenen Hauswirtschaft" aus- gehend, oder etwa der religiösen Begriffe, von den „Augenblicks- göttern" anfangend), zu einer genetischen Klassifikation ineinander

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78 Max Weber,

gearbeitet wird. Die nach den gewählten Begriffsmerkmalen sich ergebende Reihenfolge der Typen erscheint dann als eine gesetzlich notwendige historische Aufeinanderfolge derselben. Logische Ord- nung der Begriffe einerseits und empirische Anordnung des Be- griffenen in Raum, Zeit und ursächlicher Verknüpfung andererseits erscheinen dann so miteinander verkittet, daß die Versuchung, der Wirklichkeit Gewalt anzutun, um die reale Geltung der Konstruktion in der Wirklichkeit zu erhärten, fast unwiderstehlich wird.

Absichtlich ist es vermieden worden, an dem für uns weitaus wichtigsten Fall idealtypischer Konstruktionen zu demonstrieren : an Marx. Es geschah, um die Darstellung nicht durch Hineinziehen von Marx-Interpretationen noch zu komplizieren und um den Er- örterungen in unserer Zeitschrift, welche die Literatur, die über und im Anschluß an den großen Denker erwächst, zum regel- mäßigen Gegenstand kritischer Analyse machen wird, nicht vor- zugreifen. Daher sei hier nur konstatiert, daß natürlich alle spezifisch- marxistischen „Gesetze" und Entwicklungskonstruktionen soweit sie theoretisch fehlerfrei sind idealtypischen Charakter haben. Die eminente, ja einzigartige heuristische Bedeutung dieser Idealtypen , wenn man sie zur Ve r g 1 e i c h u n g der Wirklichkeit mit ihnen benutzt und ebenso ihre Gefährlichkeit, sobald sie als em- pirisch geltend oder gar als reale (d. h. in Wahrheit metaphysische) „wirkende Kräfte", „Tendenzen" usw. vorgestellt werden, kennt jeder, der je mit marxistischen Begriffen gearbeitet hat.

Gattungsbegriffe Idealtypen idealtypische Gattungs- begriffe, — Ideen im Sinne von empirisch in historischen Menschen wirksamen Gedankenverbindungen Idealtypen solcher Ideen Ideale, welche historische Menschen beherrschen Idealtypen solcher Ideale Ideale, auf welche der Historiker die Geschichte bezieht ; theoretische Konstruktionen unter illustrativer Benutzung des Empirischen geschichtliche Untersuchnng unter Benutzung der theoretischen Begriffe als idealer Grcnzfalle, dazu dann die verschiedenen möglichen Konplikationen, die hier nur angedeutet werden konnten : lauter gedankliche Bildungen, deren Verhältnis zur empirischen Wirklichkeit des unmittelbar Gegebenen in jedem ein- zelnen Fall problematisch ist: diese Musterkarte allein zeigt schon die unendliche Vcrschlungenheit der begrifflich-methodischen Probleme, welche auf dem Gebiet der Kulturwissenschaften fort- während lebendig bleiben. Und wir mußten uns schlechthin ver- sagen, auf die praktisch methodologischen Fragen hier, wo die Pro-

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bleme nur gezeigt werden sollten, ernstlich einzugehen, die Be- ziehungen der idealtypischen zur „gesetzlichen" Erkenntnis, der idealtypischen Begriffe zu den Kollektivbegriffen usw. eingehender zu erörtern.

Der Historiker wird nach allen diesen Auseinandersetzungen doch immer wieder darauf beharren, daß die Herrschaft der ideal- typischen Form der Begriffsbildung und Konstruktion spezifische Symptome der Jugendlichkeit einer Disziplin seien. Und darin ist ihm in gewissem Sinne recht zu geben, freilich mit anderen Konsequenzen, als er sie ziehen wird. Nehmen wir ein paar Beispiele aus anderen Disziplinen. Es ist gewiß wahr: der geplagte Quartaner ebenso wie der primitive Philologe stellt sich zunächst eine Sprache „organisch", d.h. als ein von Normen beherrschtes überempirisches Ganzes vor, die Aufgabe der Wissen- schaft aber als die: festzustellen, was als Sprachregel gelten solle. Die „Schriftsprache" logisch zu bearbeiten wie etwa die Crusca es tat, ihren Gehalt auf Regeln zu reduzieren, ist die normalerweise erste Aufgabe, welche sich eine „Philologie" stellt. Und wenn demgegenüber heute ein führender Philologe das „Sprechen jedes einzelnen" als Objekt der Philologie prokla- miert, so ist selbst die Aufstellung eines solchen Programms nur mög- lich, nachdem in der Schriftsprache ein relativ fester Idealtypus vorliegt, mit welchem die sonst gänzlich orienticrungs- und uferlose Durchforschung der unendlichen Mannigfaltigkeit des Sprechens (mindestens stillschweigend) operieren kann. Und nicht anders funktionierten die Konstruktionen der naturrechtlichen und der organischen Staatstheorien, oder etwa um an einen Idealtypus in unserm Sinn zu erinnern die Benjamin Constantsche Theorie des antiken Staats, gewissermaßen als Nothäfen, bis man gelernt hatte, sich auf dem ungeheueren Meere der empirischen Tatsachen zu- rechtzufinden. Die reif werdende Wissenschaft bedeutet also in der Tat immer Üb erwindung des Idealtypus, sofern er als em- pirisch geltend oder als Gattungsbegriff, gedacht wird. Allein nicht nur ist z. B. die Benutzung der geistvollen Constantschen Konstruktion zur Demonstration gewisser Seiten und historischer Eigenarten antiken Staatslebens noch heute ganz legitim, sobald man sorgsam ihren idealtypischen Charakter festhält. Sondern vor allem: es gibt Wissenschaften, denen ewige Jugendlichkeit be- schieden ist, und das sind alle historischen Disziplinen, alle die, denen der ewig fortschreitende Fluß der Kultur stets neue

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So

Max Weber,

Problemstellungen zufuhrt. Bei ihnen liegt die Vergänglichkeit aller, aber zugleich die Unvermeidlichkeit immer neuer ideal- typischer Konstruktionen im Wesen der Aufgabe.

Stets wiederholen sich die Versuche, den „eigentlichen", „wahren" Sinn historischer Begriffe festzustellen, und niemals ge- langen sie zu Ende. Ganz regelmäßig bleiben infolgedessen die Synthesen, mit denen die Geschichte fortwährend arbeitet, ent- weder nur relativ bestimmte Begriffe, oder, sobald Eindeutigkeit des Begriffsinhaltes erzwungen werden soll, wird der Begriff zum abstrakten Idealtypus und enthüllt sich damit als ein theoretischer, also „einseitiger" Gesichtspunkt, unter dem die Wirklichkeit be- leuchtet, auf den sie bezogen werden kann, der aber zum Schema, in das " sie restlos eingeordnet werden könnte, sich selbstver- ständlich als ungeeignet erweist. Denn keines jener Gedanken- Systeme, deren wir zur Erfassung der jeweils bedeutsamen Bestand- teile der Wirklichkeit nicht entraten können, kann ja ihren unend- lichen Reichtum erschöpfen. Keins ist etwas anderes als der Ver- such, auf Grund des jeweiligen Standes unseres Wissens und der uns jeweils zur Verfügung stehenden begrifflichen Gebilde, Ord- nung in das Chaos derjenigen Tatsachen zu bringen, welche wir in den Kreis unseres Interesses jeweils einbezogen haben. Der Gedankenapparat, welchen die Vergangenheit durch denkende Be- arbeitung, das heißt aber in Wahrheit: denkende Umbildung der unmittelbar gegebenen Wirklichkeit und durch Einordnung in die- jenigen Begriffe, die dem Stande ihrer Erkenntnis und der Rich- tung ihres Interesses entsprachen, entwickelt hat, steht in steter Auseinandersetzung mit dem, was wir an neuer Erkenntnis aus der Wirklichkeit gewinnen können und wollen. In diesem Kampf vollzieht sich der Fortschritt der kulturwissenschaftlichen Arbeit. Ihr Ergebnis ist ein steter Umbildungsprozeß jener Begriffe, in denen wir die Wirklichkeit zu erfassen suchen. Die Geschichte der Wissen- schaften vom sozialen Leben ist und bleibt daher ein steter Wechsel zwischen dem Versuch, durch Begriffsbildung Tatsachen gedanklich zu ordnen, der Auflösung der so gewonnenen Gedankenbilder durch Erweiterung und Verschiebung des wissenschaftlichen Hori- zontes, — und der Neubildung von Begriffen auf der so veränderten Grundlage. Nicht etwa das Fehlerhafte des Versuchs, Begriffs- systeme überhaupt zu bilden , spricht sich darin aus : eine jede Wissenschaft, auch die einfach darstellende Geschichte, arbeitet mit dem Begriffsvorrat ihrer Zeit sondern der Umstand kommt

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darin zum Ausdruck, daß in den Wissenschaften von der mensch- lichen Kultur die Bildung der Begriffe von der Stellung der Pro- bleme abhängt, und daß diese letztere wandelbar ist mit dem Inhalt der Kultur selbst. Das Verhältnis von Begriff und Begriffenen in den Kulturwissenschaften bringt die Vergänglichkeit jeder solchen Synthese mit sich. Große begriffliche Konstruktionsversuche haben auf dem Gebiet unserer Wissenschaft ihren Wert regelmäßig gerade darin gehabt, daß sie die Schranken der Bedeutung desjenigen Gesichtspunktes, der ihnen zugrunde lag, enthüllten. Die weit- tragendsten Fortschritte auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften knüpfen sich sachlich an die Verschiebung der praktischen Kul- turprobleme und kleiden sich in die Form einer Kritik der Be- griffsbildung. Es wird zu den vornehmsten Aufgaben unserer Zeit- schrift gehören, dem Zweck dieser Kritik und damit der Unter- suchung der Prinzipien der Synthese auf dem Gebiet der Sozialwissenschaft zu dienen.

Bei den Konsequenzen, die aus dem Gesagten zu ziehen sind, gelangen wir nun an einen Punkt, wo unsere Ansichten sich viel- leicht hier und da von denen mancher, auch hervorragender, Ver- treter der historischen Schule, zu deren Kindern wir ja selbst ge- hören, scheiden. Diese letzteren nämlich verharren vielfach ausdrück- lich oder stillschweigend in der Meinung, es sei das Endziel, der Zweck, jeder Wissenschaft, ihren Stoff in einem System von Be- griffen zu ordnen, deren Inhalt durch Beobachtung empirischer Regelmäßigkeiten, Hypothescnbildung und Verifikation derselben zu gewinnen und langsam zu vervollkommnen sei, bis irgend wann eine „vollendete" und deshalb deduktive Wissenschaft daraus entstanden sei. Für dieses Ziel sei die historisch-induktive Arbeit der Gegenwart eine durch die Unvollkommenheit unserer Disziplin bedingte Vorarbeit : nichts muß naturgemäß vom Standpunkt dieser Betrachtungsweise aus bedenklicher erscheinen, als die Bildung und Verwendung scharfer Begriffe, die ja jenes Ziel einer fernen Zukunft voreilig vorweg zu nehmen trachten müßte. Prinzipiell unanfecht- bar wäre diese Auffassung auf dem Boden der antik-scholastischen Erkenntnislehre, welche denn auch der Masse der Spezialarbeiter der historischen Schule noch tief im Blute steckt: Als Zweck der Begriffe wird vorausgesetzt, vorstellungsmäßige Abbilder der „ob- jektiven" Wirklichkeit zu sein: daher der immer wiederkehrende Hinweis auf die U n w i r k 1 i c h k e i t aller scharfen Begriffe. Wer den Grundgedanken der auf Kant zurückgehenden modernen Erkcnntnis-

Archir für Soziatwissenschaft u. Sozialpolitik. I. (A. f. %oz. G. u. St. XIX.) i. 6

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Max Weber,

lehre : daß die Begriffe vielmehr gedankliche Mittel zum Zweck der geistigen Beherrschung des empirisch Gegebenen sind und allein sein können, zu Ende denkt, dem wird der Umstand, daß scharfe genetische Begriffe notwendig Ideal typen sind, nicht gegen die Bildung von solchen sprechen können. Ihm kehrt sich das Verhältnis von Be- griff und historischer Arbeit um : Jenes Endziel erscheint ihm logisch unmöglich, die Begriffe nicht Ziel, sondern Mittel zum Zweck der Erkenntnis der unter individuellen Gesichtspunkten bedeutsamen Zusammenhänge: gerade weil die Inhalte der historischen Be- griffe notwendig wandelbar sind, müssen sie jeweils notwendig scharf formuliert werden. Er wird nur das Verlangen stellen, daß bei ihrer Verwendung stets ihr Charakter als idealer Gedanken- gebilde sorgsam festgehalten, Idealtypus und Geschichte nicht ver- wechselt werde. Er wird, da wirklich definitive historische Begriffe bei dem unvermeidlichen Wechsel der leitenden Wertideen als generelles Endziel nicht in Betracht kommen, glauben, daß eben dadurch, daß für den einzelnen, jeweils leitenden Gesichtspunkt, scharfe und eindeutige Begriffe gebildet werden, die Möglichkeit gegeben sei, die Schranken ihrer Geltung jeweils klar im Be- wußtsein zu behalten.

Man wird nun darauf hinweisen, und wir haben es selbst zu- gegeben, daß ein konkreter historischer Zusammenhang im einzelnen Fall sehr wohl in seinem Ablauf anschaulich gemacht werden könne, ohne daß er fortwährend mit definierten Begriffen in Be- ziehung gesetzt werde. Und man wird demgemäß für den Histo- riker unserer Disziplin in Anspruch nehmen, daß er ebenso, wie man dies von dem politischen Historiker gesagt hat, die „Sprache des Lebens" reden dürfe. Gewiß! Nur ist dazu zu sagen, daß es bei diesem Verfahren bis zu einem oft sehr hohen Grade not- wendig Zufall bleibt, ob der Gesichtspunkt, unter welchem der be- handelte Vorgang Bedeutung gewinnt, zu klarem Bewußtsein ge- langt. Wir sind im allgemeinen nicht in der günstigen Lage des politischen Historikers, bei welchem die Kulturinhalte, auf die er seine Darstellung bezieht, regelmäßig eindeutig sind oder zu sein scheinen. Jeder nur anschaulichen Schilderung haftet die Eigenart der Bedeutung künstlerischer Darstellung an: „Ein jeder sieht, was er im Herzen trägt," gültige Urteile setzen überall die logische Bearbeitung des Anschaulichen, das heißt die Verwen- dung von Begriffen voraus, und es ist zwar möglich und oft ästhetisch reizvoll , diese in petto zu behalten , aber es gefährdet

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stets die Sicherheit der Orientierung des Lesers, oft die des Schrift- stellers selbst, über Inhalt und Tragweite seiner Urteile.

Ganz hervorragend gefährlich aber kann nun die Unterlassung scharfer BegrifTsbildung für praktische, wirtschafts- und sozial- politische Erörterungen werden. Was hier z. B. die Verwendung des Terminus „Wert" jenes Schmerzenskindes unserer Disziplin, welchem eben nur idealtypisch irgend ein eindeutiger Sinn gegeben werden kann , oder Worte wie „produktiv", „vom volkswirt- schaftlichen Standpunkt" usw., die überhaupt keiner begrifflich klaren Analyse standhalten, für Verwirrung gestiftet haben, ist für den Außenstehenden geradezu unglaublich. Und zwar sind es hier vor- nehmlich die der Sprache des Lebens entnommenen Kollektiv- begriffe welche Unsegen stiften. Man nehme, um ein für den Laien möglichst durchsichtiges Schulbeispiel herauszugreifen, den Begriff „Landwirtschaft", wie er in der Wortverbindung „Interessen der Landwirtschaft" auftritt. Nehmen wir zunächst die „Interessen der Landwirtschaft" als die empirisch konstatierbaren mehr oder minder klaren subjektiven Vorstellungen der einzelnen wirtschaftenden Individuen von ihren Interessen, und sehen wir dabei ganz und gar von den unzähligen Konflikten der Interessen viehzüchtender, vieh- mästender, kornbauender, kornverfutternder, schnapsdestillierender etc. Landwirte hier ab, so kennt zwar nicht jeder Laie, aber doch jeder Fachmann den gewaltigen Knäuel von durch- und gegeneinander laufenden Wertbeziehungen, der darunter unklar vorgestellt wird. Wir wollen hier nur einige wenige aufzählen : Interessen von I^and- wirten, welche ihr Gut verkaufen wollen und deshalb lediglich an einer schnellen Hausse des Bodenpreises interessiert sind; das ge- rade entgegengesetzte Interesse von solchen, die sich ankaufen, arrondieren oder pachten wollen; das Interesse derjenigen, die ein bestimmtes Gut ihren Nachfahren um sozialer Vorteile willen zu erhalten wünschen und deshalb an Stabilität des Bodenbesitzes interessiert sind; das entgegengesetzte Interesse solcher, die in ihrem und ihrer Kinder Interesse Bewegung des Bodens in der Richtung zum besten Wirt oder was nicht ohne weiteres das- selbe ist zum kapitalkräftigsten Käufer wünschen ; das rein ökono- mische Interesse der im privatwirtschaftlichcn Sinne „tüchtigsten Wirte" an ökonomischer Bewegungsfreiheit; das damit im Konflikt stehende Interesse bestimmter herrschender Schichten an der Erhaltung der überkommenen sozialen und politischen Position des eigenen „Standes" und damit der eigenen Nachkommen; das soziale der

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Max Weber,

nicht herrschenden Schichten der Landwirte am Wegfall jener oberen, ihre eigene Position drückenden Schichten; ihr unter Umständen damit kollidierendes Interesse, in jenen politische Führer zur Wahrung ihrer Erwerbsinteressen zu besitzen; die Liste könnte noch gewaltig vermehrt werden, ohne ein Ende zu finden, obwohl wir so summarisch und unpräzis wie nur möglich verfahren sind. Daß sich mit den mehr „egoistischen" Interessen dieser Art die verschiedensten rein idealen Werte mischen, ver- binden, sie hemmen und ablenken können, übergehen wir, um uns vor allem zu erinnern , daß , wenn wir von „Interessen der Land- wirtschaft" reden, wir regelmäßig nicht nur an jene materiellen und idealen Werte denken, auf welche die jeweiligen Landwirte selbst ihre „Interessen" beziehen, sondern daneben an die zum Teil ganz heterogenen Wertideen, auf welche wir die Landwirtschaft beziehen können, beispielsweise : Produktionsinteressen, hergeleitet aus dem Interesse billiger und dem damit nicht immer zusammen- fallenden Interesse qualitativ guter Ernährung der Bevölkerung, wobei die Interessen von Stadt und Land in den mannigfachsten Kollisionen liegen können, und wobei das Interesse der gegenwär- tigen Generation mit den wahrscheinlichen Interessen künftiger Gene- rationen keineswegs identisch sein muß; populationistische Inter- essen: insbesondere Interesse an einer zahlreichen Landbevölke- rung, hergeleitet, sei es aus Interessen „des Staates", machtpolitischen oder innerpolitischen, oder aus anderen ideellen Interessen von unter sich verschiedener Art, z. B. an dem erwarteten Einfluß einer zahl- reichen Landbevölkerung auf die Kultureigenart eines Landes; dies populationistische Interesse kann mit den verschiedensten privat- wirtschaftlichen Interessen aller Teile der I^andbevölkerung, ja denk- barerweise mit allen Gegenwartsinteressen der Masse der Land- bevölkerung kollidieren. Oder etwa das Interesse an einer bestimmten Art der sozialen Gliederung der Landbevölkerung wegen der Art der politischen oder Kultureinflüsse, die sich daraus er- geben: dies Interesse kann je nach seiner Richtung mit allen denk- baren, auch den dringlichsten Gegenwarts- und Zukunftsinteressen der einzelnen Landwirte sowohl wie „des Staates" kollidieren. Und dies kompliziert die Sache weiter der „Staat", auf dessen „Interesse" wir solche und zahlreiche andere ähnliche Einzelinter- essen gern beziehen, ist uns dabei ja oft nur Deckadresse für ein in sich höchst verschlungenes Knäuel von Wertideen, auf die er seiner- seits von uns im einzelnen Falle bezogen wird: rein militärische

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Die „Objektivität" sozialwisscnscbaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis.

Sicherung nach außen; Sicherung der Herrscherstellung einer Dynastie oder bestimmter Klassen nach innen; Interesse an der Erhaltung und Erweiterung der formal-staatlichen Einheit der Nation, um ihrer selbst willen oder im Interesse der Erhaltung be- stimmter objektiver, unter sich wieder sehr verschiedener Kultur- werte, die wir als staatlich geeintes Volk zu vertreten glauben; Umgestaltung des sozialen Charakters des Staates im Sinne be- stimmter, wiederum sehr verschiedener Kulturideale es würde zu weit fuhren, auch nur anzudeuten, was alles unter dem Sammel- namen „staatlicher Interessen" läuft, auf die wir „die Landwirtschaft" beziehen können. Das hier gewählte Beispiel und noch mehr unsere summarische Analyse sind plump und einfach. Der I.aie möge sich nun einmal etwa den Begriff „Klasseninteresse der Ar- beiter" ähnlich (und gründlicher) analysieren, um zu sehen, welch widerspruchsvoller Knäuel teils von Interessen und Idealen der Arbeiter, teils von Idealen, unter denen w i r die Arbeiter betrachten, dahinter steckt. Es ist unmöglich, die Schlagworte des Interessen- kampfes durch rein empiristische Betonung ihrer „Relativität" zu überwinden: klare, scharfe, begriffliche Feststellung der verschie- denen möglichen Gesichtspunkte ist der einzige Weg , der hier über die Unklarheit der Phrase hinausfuhrt. Das „Freihandelsargu- ment" als Weltanschauung oder gültige Norm ist eine Lächer- lichkeit, aber schweren Schaden hat es für unsere handelspolitischen Erörterungen mit sich gebracht und zwar ganz gleichgültig, welche handelspolitischen Ideale der einzelne vertreten will daß wir die in solchen idealtypischen Formeln niedergelegte alte Lebensweisheit der größten Kaufleute der Erde in ihrem heuristischen Wert unterschätzt haben. Nur durch idealtypische Be- grifTsformeln werden die Gesichtspunkte, die im Einzelfalle in Be- tracht kommen, in ihrer Eigenart im Wege der Konfrontierung des Empirischen mit dem Idealtypus wirklich deutlich. Der Gebrauch der undifferenzierten Kollektivbegriffe, mit denen die Sprache des Alltags arbeitet, ist stets Deckmantel von Unklarheiten des Denkens oder Wollens, oft genug das Werkzeug bedenklicher Erschleichungen, immer aber ein Mittel, die Entwicklung der richtigen Problem- stellung zu hemmen.

Wir sind am Ende dieser Ausführungen, die lediglich den Zweck verfolgten, die oft haarfeine Linie, welche Wissenschaft und Glauben scheidet, hervortreten und den Sinn sozialökonomischen Er- kenntnisstrebens erkennen zu lassen. Die objektive Gültigkeit alles

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Max Weber,

Erfahrungswissens beruht darauf und nur darauf, daß die gegebene Wirklichkeit nach Kategorien geordnet wird, welche in einem spe- zifischen Sinn subjektiv, nämlich die Voraussetzu ng unserer Erkenntnis darstellend, und an die Voraussetzung des Wertes der- jenigen Wahrheit gebunden sind, die das Erfahrungswissen allein uns zu geben vermag. Wem diese Wahrheit nicht wertvoll ist, und der Glaube an den Wert wissenschaftlicher Wahrheit ist Produkt be- stimmter Kulturen und nichts Naturgegebenes dem haben wir mit den Mitteln unserer Wissenschaft nichts zu bieten. Freilich wird er vergeblich nach einer anderen Wahrheit suchen, die ihm die Wissen- schaft in demjenigen ersetzt, was s i e allein leisten kann : Begriffe und Urteile, die nicht die empirische Wirklichkeit sind, auch nicht sie abbilden, aber sie in gültiger Weise denkend ordnen lassen. Auf dem Gebiet der empirischen sozialen Kulturwissenschaften ist, so sahen wir, die Möglichkeit sinnvoller Erkenntnis des für uns Wesentlichen in der unendlichen Fülle des Geschehens gebunden an die unausgesetzte Verwendung von Gesichtspunkten spezifisch be- sonderten Charakters, welche alle in letzter Instanz ausgerichtet sind auf Wertideen, die ihrerseits zwar empirisch als Elemente alles sinnvollen menschlichen Handelns konstatierbar und erlebbar, nicht aber aus dem empirischen Stoff als geltend begründbar sind. Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher Erkenntnis hängt vielmehr davon ab, daß das empirisch Gegebene zwar stets auf jene Wert- ideen, die ihr allein Erkenntnis w e r t verleihen, ausgerichtet, in ihrer Bedeutung aus ihnen verstanden, dennoch aber niemals zum Piedestal für den empirisch unmöglichen Nachweis ihrer Geltung ge- macht wird. Und der uns allen in irgend einer Form innewohnende Glaube an die überempirische Geltung letzter und höchster Wert- ideen, an denen wir den Sinn unseres Daseins verankern, schließt die unausgesetzte Wandelbarkeit der konkreten Gesichtspunkte, unter denen die empirische Wirklichkeit Bedeutung erhält, nicht etwa aus, sondern ein : das Leben in seiner irrationalen Wirklichkeit, und sein Gehalt an möglichen Bedeutungen sind unausschöpfbar, die konkrete Gestaltung der Wertbeziehuug bleibt daher fließend, dem Wandel unterworfen in die dunkle Zukunft der menschlichen Kultur hinein. Das Licht, welches jene höchsten Wertideen spenden, fällt jeweilig auf einen stets wechselnden endlichen Teil des unge- heuren chaotischen Stromes von Geschehnissen, der sich durch die Zeit dahinwälzt.

Das alles möge nun nicht dahin mißverstanden werden, daß

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die eigentliche Aufgabe der Sozialwissenschaft eine stete Hetzjagd nach neuen Gesichtspunkten und begrifflichen Konstruktionen sein solle. Im Gegenteil: nichts sollte hier schärfer betont werden als der Satz, daß der Dienst an der Erkenntnis der Kulturbedeutung konkreter historischer Zusammmenhänge ausschließlich und allein das letzte Ziel ist, dem, neben anderen Mitteln, auch die begriffsbildende und begriffskritische Arbeit dienen will. Es gibt, um mit F. Th. Vischer zu reden, auch auf unserem Gebiete „Stoffhuber" und „Sinnhuber". Der tatsachengierige Schlund der ersteren ist nur durch Aktenmaterial, statistische Folianten und Enqueten zu stopfen, für die Feinheit des neuen Gedankens ist er unempfindlich. Die Gourmandise der letzteren verdirbt sich den Geschmack an den Tatsachen durch immer neue Gedankendestillate. Jene echte Künstlerschaft, wie sie z. B. unter den Historikern Ranke in so grandiosem Maße besaß, pflegt sich darin gerade zu mani- festieren, daß sie durch Beziehung bekannter Tatsachen auf b e kannte Gesichtspunkte dennoch ein Neues zu schaffen weiß.

Alle kulturwissenschaftliche Arbeit in einer Zeit der Speziali- sierung wird, nachdem sie durch bestimmte Problemstellungen einmal auf einen bestimmten Stoff hin ausgerichtet ist und sich ihre metho- dischen Prinzipien geschaffen hat, die Bearbeitung dieses Stoffes als Selbstzweck betrachten, ohne den Erkenntniswert der einzelnen Tatsachen stets bewußt an den letzten Wertideen zu kontrollieren, ja ohne sich ihrer Verankerung an diesen Wertideen überhaupt be- wußt zu bleiben. Und es ist gut so. Aber irgendwann wechselt die Farbe: die Bedeutung der unreflektiert verwerteten Gesichts- punkte wird unsicher, der Weg verliert sich in die Dämmerung. Das Licht der großen Kulturprobleme ist weiter gezogen. Dann rüstet sich auch die Wissenschaft, ihren Standort und ihren Be- griffsapparat zu wechseln und aus der Höhe des Gedankens auf den Strom des Geschehens zu blicken. Sie zieht jenen Ge- stirnen nach, welche allein ihrer Arbeit Sinn und Richtung zu weisen vermögen:

. . . der neue Trieb erwacht,

Ich eile fort, ihr ew'ges Licht zu trinken,

Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht,

Den Himmel Uber mir und unter mir die Wellen."

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Ammons Gesellschaftstheorie.

Von

Prof. FERDINAND TÖNNIES,

Eutin.

(Nach einem Vortrage.)

„Es ist dies die Lehre des Malthus, in den meisten Fällen mit zehnfacher Kraft angenommen", so sagt Darwin in einem Vortrage, dessen Entwurf schon 1 839, 20 Jahre vor dem Erscheinen der Ent- stehung der Arten skizziert wurde, indem er den Satz de Candolle's anführt, daß die Natur einen Zustand des Krieges darstelle, da ein Organismus mit dem anderen oder mit der umgebenden Natur im Kampfe liege. Es ist auch sonst bezeugt, daß dies Element, das er zu der Lehre vom Ringen um die Existenz ausgestaltete, in seiner Theorie den Grundstock gebildet hat, woran sich dann die Lehrsätze der natürlichen Zuchtwahl, von Vererbung erworbener Fähigkeiten, direkter Wirkung der Lebensbedingungen, korrelativer Abänderung, und endlich von der geschlechtlichen Auslese angesetzt haben. Wenn daher von der Übertragung des Darwi- nismus in die Sozial Wissenschaft die Rede ist, so handelt es sich, soweit jenes Hauptstück (der „Kampf ums Dasein") in Frage kommt, um eine RückÜbertragung, oder, wenn der Ausdruck ge- stattet wird, um die Heimkehr einer Idee, die aus Beobachtung speziell menschlicher Verhältnisse gewonnen es mag hier nur im Vorübergehen auch an das sprichwörtlich gewordene bellum omnium in omnes erinnert werden von einem Ausfluge, den sie in das gesamte Tier- und Pflanzenreich gewagt hat, zu ihrem ur- sprünglichen Gebiete.

In Wirklichkeit kommt nun aber nicht jenes Hauptstück bei den besagten Anwendungen des Darwinismus in erster Linie in

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Amnions Gesellschaftstheorie.

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Frage, sondern vielmehr diejenige Ansicht, die mit Recht als für Darwin charakteristisch gilt, und die auch seinem so einflußreichen Werke den Titel gab: Entstehung der Arten auf natürliche Zuchtwahl by natural selection\ ein Prinzip, das Darwin später, nach dem Vorgange Herbert Spencers, auch das Über- leben des Passendsten, der am meisten geeigneten Varietäten ge- nannt hat.

Soweit es sich nun dabei um etwas handelt, was innerhalb der Menschenwelt der Entstehung der Arten entspricht, insbesondere also um Entstehung der Rassen, so bleiben wir einem rein natur- wissenschaftlichen Problem gegenüber, das freilich auch für die Geschichte, also für die soziale Entwicklung der Menschen, eine hohe Bedeutung hat; und diesem Problem hat Darwin selber ein umfangreiches Werk gewidmet, worin er nun die übrigen Faktoren als unzulänglich darstellt, um die menschlichen Varietäten zu er- klären, und die hauptsächliche Wirkung der geschlechtlichen Zuchtwahl zuschreibt. In demselben Werke beschäftigt sich Dar- win auch, und besonders in den ersten Kapiteln, mit der mensch- lichen Kultur, also einem soziologischen Problem, und zwar unter- scheidet er hier streng die Bedeutung, die den, durch natürliche Zuchtwahl, wie er meint, gesteigerten intellektuellen und moralischen, insbesondere den sozialen Eigenschaften der Menschen für den siegreichen Fortschritt der Kulturvölker zuzuschreiben sei, auf der einen Seite ; und dagegen auf der anderen, die teils günstige teils ungünstige Rückwirkung der Zivilisation auf den natürlichen Prozeß der Zuchtwahl, die aber auch für die geschlechtliche Zucht- wahl von sehr großer Bedeutung sei.

Nach Darwin haben hervorragende Autoren ganz andere und weiter ausgedehnte Anwendungen der Entwicklungslehre auf die Entwicklungsgeschichte des Menschentums gewagt. Sie haben das Gesetz der natürlichen Auslese auch in den sozialen Gebilden, den Staaten und Reichen, bewährt zu finden gemeint. Vermittelt wurde dies durch die Theorie, daß solche soziale Gebilde, die Ge- sellschaften oder sozialen Körper, wie man zu sagen pflegte, selber lebendigen Wesen gleichzuschätzen seien, daß sie als Organismen oder doch als den Organismen ähnliche Superorganismen betrachtet werden sollten. „Die stärksten, die lebensfähigsten Gesellschaften erhalten sich" wie einleuchtend, wie ganz in Übereinstimmung mit dem Darwinismus stellt dieser Satz sich dar ! Schade daß die Ana- logie so bald versagt. Zwar wie die ganze Gleichnisrede in bezug

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Ferdinand Tönnies,

auf soziale „Körper" hergebracht ist, so erstreckt sie sich auch auf Fortpflanzung: Mutterland, Tochterstädte usw. Daß aber so, durch natürliche Vermehrung, im Konkurrenzkampfe mit den weniger vermehrungsfähigen, die tüchtigsten, geeignetsten Typen sozialer Gebilde sich erhalten hätten, diese Betrachtung hat noch niemand durchzuführen unternommen. Sie müßte auch an vielen inneren Widerständen scheitern, vor allem, um es kurz zu sagen, an der Tatsache, daß die sozialen Gebilde mindestens ebenso sehr, und bei steigender Kultur immer mehr, Kunstprodukten wie Naturpro- dukten gleichartig sind, und daß man bei Kunstprodukten zwar auch von einem Kampf ums Dasein, aber nur sehr uneigentlich von Fortpflanzung und natürlicher Vermehrung reden kann: die Unähnlichkeiten überwuchern rasch die Ähnlichkeiten. So ist denn auch der ganze „Organicismus" in der Soziologie so gut wie fallen gelassen, wenn es auch an eifrigen Verteidigern ihm noch heute nicht fehlt.

Zu diesen Verteidigern ist Herr Otto Ammon nicht zu rech- nen. Aber der Haupt- und Grundgedanke seines in dritter Auflage erschienenen Buches „Die Gesellschaftsordnung und ihre natürlichen Grundlagen", f) ist doch wiederum jener, daß die natürliche Auslese auch die sozialen Gebilde beherrsche, oder wie er es ausdrückt (S. 27), daß vermöge ihrer die kleinen schwachen und schlecht- regierten Staatengebilde durch größere stärkere und besser geleitete „aufgesogen werden" (in der Natur ist bekanntlich dies Aufgesogen- werden keineswegs allgemeine Erscheinung, sondern der erste Aspekt den sie bietet, ist die weitgehende Divergenz der Charak- tere, und gerade nach Darwin ist das Aussterben von Arten durchaus nicht die regelmäßige Folge des Umstandes, daß .die I n - dividuen regelmäßig von den Individuen anderer Arten ge- fressen werden). In der näheren Ausführung läßt aber Herr Ammon es nicht bei der obigen Hervorhebung begünstigender Merk- male (Größe, Stärke, gute Regierung) bewenden, sondern bestimmt diese näher dahin, daß „eine staatlich organisierte Gemeinschaft von Menschen um so besser den Kampf ums Dasein bestehen werde, je mehr sie der Bedingung entspricht, daß an jedem Platze die richtige Persönlichkeit steht, die durch ihre Begabung geeignet ist, den Platz am besten auszufüllen" (S. 29). Dies sei „die nutzbringendste Gestaltung der Gesellschaft". Soll das heißen, daß ihr gegenüber die

') Jena. Fischer 1900 VI 303 S.

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Ammons Gesellschaltsthcorie.

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anderen Momente (Größe, Stärke, gute Regierung) bedeutungslos werden? Dies scheint allerdings die Meinung zu sein (vgl. S. 34). Indessen verweilt die neue Gesellschaftslehre bei dieser wichtigen Frage kaum; sie will vielmehr schildern, welche Einrichtungen „wir" besitzen, um den richtigen Mann auf den richtigen Platz zu bringen sie will unsere Gesellschaftsordnung beschreiben, als ein System von Einrichtungen, das jenem Ideal möglichst nahe komme, deren Ergebnis im ganzen ein befriedigendes sei (S. 16). Die „Weis- heit" der bestehenden Gesellschaftsordnung dies ist der zweite Hauptsatz bestehe wesentlich darin, daß sie gewisse Apparate, oder, wie gesagt wird, Mechanismen der Auslese in sich ent- halte, darauf abzielend, durch organische Verbindung von Antrieb und Hemmung jedes Individuum an die passendste Stelle zu bringen, und jeden Platz mit dem passend- sten Individuum zu besetzen. Antrieb und Hemmung: denn teils seien diese gesellschaftlichen Einrichtungen darauf angelegt, das Emporkommen Berufener zu fördern, teils das Durchdringen Untauglicher oder Unwürdiger zu verhindern. Nach beiden Rich- tungen hält Hr. Ammon vorzugsweise die Schulen für bedeutungs- voll, sodann die Prüfungen aller Art, ferner die geschäftliche Konkurrenz, gleichsam als Prüfung durch das Publikum, die öffentlichen Preisausschreiben, die Konkurrenz der Arbeiter unter- einander, als Probe, ob sie für den Unternehmer brauchbar sind oder nicht; nach der negativen Seite allein, also zur Ausscheidung von untauglichen oder gar gemeinschädlichen Individuen seien die Einrichtungen der Polizei und Strafrechtspflege, sowie gegen Be- amte das Disziplinarverfahren, ebensolche wohltätige Auslese- Mechanismen. Vermöge aller dieser Einrichtungen kommt nach Herrn Ammons Behauptung in „den meisten Fällen" der richtige Mann an den passenden Platz und an den richtigen Platz der passende Mann. Höher begabte Individuen seien überhaupt selten ganz besonders selten in den unteren Schichten , denn dies ist der dritte Hauptsatz dieser Lehre die gesellschaftliche Schichtung entspricht im großen und ganzen der Begabung, freilich nicht einseitige, sondern harmonische Be- gabungen kommen empor, diese aber auch mit ziemlicher Sicher- heit, dafür sorgen eben jene Einrichtungen, z. B. die Schulen durch Befreiungen vom Schulgeld, durch Stipendien und andere Unter- stützungen, die aus altruistischer Gesinnung unbemittelten Talenten zuteil werden. Da also der unteren Klasse die in ihr entstehenden

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Talente fortwährend entzogen und den höheren Ständen zugeführt werden, so stellt jene die untere Klasse nur den Bodensatz dar, aus dem die wertvollsten Stoffe herausdestilliert sind. Um so weniger ist es zu verwundern, daß eben die Begabung hier sehr viel seltener die Mittelmäßigkeit überschreitet als in den oberen Ständen, daß sie vielmehr bei einem sehr großen Teile unter der Mitte steht. Eben die Absonderung und damit kommen wir zu dem vierten und letzten Hauptsatze die Absonderung dieser bevorzugten Stände aus der großen Masse der Be- völkerung ist eine „Natureinrichtun g", die bewirkt, daß das Zusammenpassende zweier Individuen häufiger vereinigt wird, als nach den bloßen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit ge- schehen würde die „größte Merkwürdigkeit", nennt dies Herr Ammon, „welche die Entwicklung des Gesellschaftslebens hervor- gebracht hat" (S. 65) denn sie wirke in 4 verschiedenen Be- ziehungen vorteilhaft. Diese 4 verschiedenen Beziehungen sind die folgenden :

1. Die Ständebildung beschränkt die Panmixie und be- wirkt dadurch die viel häufigere Erzeugung hochbegabter Individuen, stellt also die natürliche Züchtung beim Menschen dar;

2. die Absonderung der Kinder der bevorzugten Stände von der großen Masse ermöglicht eine sorgfältigere Er- ziehung;

3. die bessere Ernährung und die sorgenlosere Lebensweise der den bevorzugten Ständen angehörenden Individuen wirken steigernd auf die Tätigkeit der Seelcnan- lagen;

4. die günstigeren Lebensbedingungen der höheren Stände spornen die Angehörigen der unteren Stände an, ihre besten Kräfte im Wettbewerb einzusetzen, um dieser günstigeren Bedingungen teilhaftig zu werden.

Die zurückschauende Betrachtung dieser Einrichtungen, worin er zugleich sich selber als den Entdecker bewundert, entlockt unserm Autor den Ausruf: „Welch ein Meisterstück ist diese so schwer angeklagte Gesellschaftsordnung" (S. 1 34). Anderswo spricht er von dem Wunderbaren dieser Einrichtungen, und meint, die Ge- sellschaftsordnung wäre wahrscheinlich viel weniger gut ausgefallen, wenn wir schwache am äußeren Glanz hängende Menschen mit unserer unvollkommenen Einsicht sie zu schaffen gehabt hätten und

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wir müßten eigentlich das Kunstwerk anstaunen, „welches so ein- gerichtet ist, daß es nicht den bloßen Schein, sondern nur die volle, alle Anlagengruppen umfassende, in jeder Lage sich bewährende Tüchtigkeit durchdringen läßt" (S. 55). Dann heißt es freilich auch wieder, die „Menschheit habe diese Mechanismen im Laufe langer Zeiten geschaffen (S. 40) und die Köpfe vieler Tausende von der fernsten Vergangenheit bis zur Gegenwart haben daran ge- arbeitet und ihre Erfahrungen verwertet" (S. 35). Der Mensch habe sie „instinktiv" als Lebensbedingungen für sich und seinesgleichen geschaffen (S. 11).

Zunächst fragen wir: was hat diese ganze Doktrin, was hat be- sonders jener erste Hauptsatz mit den Darwinschen Prinzipien zu schaffen, auf die sie mit vieler Emphase sich beruft? Ja, das ist im höchsten Grade unklar, und man fühlt sich versucht, die ganze Anknüpfung an diese Prinzipien für einen Zier rat zu halten, oder für ein farbiges Gewand, womit der Verfasser uns imponieren will, indem er fortwährend versichert, nur als Naturforscher und zwar als Biologe könne man die Gesellschaftsordnung verstehen. Er stellt allerdings das, was er Auslese nennt, direkt in Parallele zur Auslese in Darwins Sinne, und läßt es nur zweifelhaft, ob einzelne Arten seiner sozialen Auslese natürliche oder „methodische" also bewußt - gewollte , künstliche, oder die von Darwin den Tier- züchtern früherer Zeiten zugeschriebene „unbewußte" Zuchtwahl seien aber den Ausdruck Zuchtwahl vermeidet er nur des- halb, weil er, auf die Menschen angewandt, viele Leser unangenehm berühre; er hält sich an den Ausdruck „Auslese" und trotz jener Unsicherheit will er alle seine Auslesen als „natürliche" begriffen haben.1) Nun ist dies eine offensichtliche Konfusion. Gesetzt, es verhielte sich so, wie Herr Ammon uns vormacht, daß in der gegenwärtigen Gesellschaft im Deutschen Reich denn diese hat er allein im Auge seine Auslesemechanismcn fortwährend mit dem Erfolge funktionierten, den richtigen Menschen an den richtigen Platz zu bringen, also die besser begabten empor zu heben, die Minderwertigen zu erniedrigen hätte diese Wirkung etwas Er-

') Wer daran zweifelt, werde besonders auf S. 12 ff. verwiesen, wo der Verf. einräumt, die „Darwinsche Theorie" könne uns bei näherer Hetnichtung bedenklich vorkommen, weil nicht immer der geistig Überlegene und sittlich Tüchtige es sei, der im Wettbewerb des Lebens den Sieg davontrage, sondern oft der Durch- triebenste, der Rücksicht*- und Gewissenloseste.

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kleckliches mit den Wirkungen der natürlichen Auslese ge- mein, die er selber uns ganz richtig dahin bestimmt (S. 4), daß „die kräftigsten und ihren Lebensbedingungen am besten an- gepaßten Individuen mehr Aussicht haben, erhalten zu werden und ihre Eigentümlichkeiten fortzupflanzen, als die schwächeren und minder gut angepaßten, die somit unter gegebenen Be- dingungen aussterben" ? Hin und wieder ist es der Fall: vom Erfolge der Tüchtigkeit im Geschäftsleben mag man so sprechen, und anerkennen, daß der Erfolgreiche möglicherweise für das Familienleben begünstigt ist. Aber auch wer etwa als Theologe ein gutes Examen macht, wird eher eine üppige Pfarre bekommen und sich früher verheiraten, also insoweit etwas vermehrte Chancen haben, eine große Familie aufzubringen ; wer dagegen in der Blüte der Jahre zu zehnjähriger Zuchthausstrafe verurteilt wird, ist wenig- stens für diese Zeit von der Fortpflanzung ausgeschlossen. Was die Arbeiterklasse betrifft, so findet Herr Amnion seinen segens- reich wirkenden Mechanismus der Auslese darin, daß der Unter- nehmer „die geschickten und fleißigen Arbeiter behalte, die un- brauchbaren fortschicke"; daß bei massenhaften Entlassungen in Zeiten der Krise teils die jüngsten Zuwächse, teils alte und kränk- liche Personen, die entweder schon hinlänglich sich fortgepflanzt haben oder, auch wenn sie in Arbeit stehen, sich schwach fort- pflanzen, abgestoßen werden, und daß die Unternehmerpolitik ge- bietet, vielmehr auf einen „festen Stamm" von Arbeitern zu halten, als die Tüchtigkeit jedes einzelnen, der etwa zur Verfügung steht, zu prüfen, davon weiß unser Sozialanthropologe nichts; aber ge- setzt, er hätte recht, so wären allerdings die Unbrauchbaren, wenn auf die Landstraße geworfen und einem Vagabondenleben preis- gegeben, den Freuden des Familienlebens gründlich entzogen und oft auf immer dafür verdorben. In diesen Fällen handelt es sich jawohl nicht darum, jedem seinen bestimmten Platz innerhalb einer gesellschaftlichen Ordnung zuzuweisen, sondern einige, um an das Malthussche Gleichnis anzuknüpfen, von der gedeckten Tafel zurückzuweisen. Im übrigen aber haben die Wirkungen der Kon- kurrenz mit den Aussichten auf individuelle und generische Er- haltung nur wenig zu tun. Die untere Klasse ist allerdings einer sehr viel größeren Sterblichkeit ausgesetzt ; sie hat aber auch am wenigsten Grund, ihren Fortpflanzungstrieb in Schranken zu halten; sie ist gerade aller jener Rücksichten überhoben , die die Ehe zu einer Standessache und von einer gesicherten Brotstelle abhängig

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machen ; ganz abzusehen von der außerehelichen Propagation. Herr Ammon selber beschäftigt sich eingehend mit der wie er meint „etwas zu starken Vermehrung" des Proletariats.

Und es ist ja auch nicht (nicht immer, muß man vor- sichtigerweisc sagen) seine Meinung, daß jene Auslesemechanismen die von ihm sogenannten Stände immer neu produzieren, sondern wir müssen ihn so verstehen, daß sie hauptsächlich innerhalb jedes Standes ihre Wirkungen üben. Wer aber innerhalb der oberen Klassen nach hoher Stellung strebt und etwa auch dafür begabt ist, wird gerade genötigt sein, die Eheschließung aufzu- schieben, es sei denn, daß er sie als ein Mittel seines Strebens gebraucht, was freilich nicht selten vorkommen mag, aber auch leicht Ehen begründet, die aus dem selektorischen Gesichtspunkte alles eher als günstig sind. Vollends wird aber, wer aus den unteren Schichten durch eigene Anstrengung emporklimmt, in der Regel später zum Heiraten sich entschließen, als wenn er in seinem Stande geblieben wäre ; nicht selten wird gerade ein solcher ehelos bleiben.

Herr Ammon wirft freilich diese Frage gar nicht auf. In Wahr- heit ist trotz aller Redensarten von naturwissenschaftlicher Begrün- dung seine Theorie in ganz anderem und lediglich über- tragenem Sinne als „darwinistische" zu verstehen, in einem Sinne, der der „natürlichen Zuchtwahl" meilenferne steht: nämlich in einem sozialwissenschaftlichen Sinne, den uns jene Worte von der instinktiven Schöpfung und von der schaffenden Arbeit unzähliger Generationen schon erraten lassen. Nur ist seltsamerweise der Unterschied dieses Sinnes von dem anderen dem Autor selber nicht im mindesten klar geworden, ja die Verwischung dieses Unter- schiedes gehört zu den Künsten seines Gefechtes. Dieser zweite Sinn ist aber gar nichts anderes als das Theorem der wohlbekannten historischen Schule, ein Theorem, das hauptsächlich in bezug auf das Recht und die politischen Institutionen zu Anfang des vorigen Jahrhunderts sich geltend machte, später freilich mit veränderter Wendung auch auf die Lehre von der Volkswirt- schaft übertragen wurde. Ein gewisser Zusammenhang mit der all- gemeinen Ansicht des organischen Lebens und mit Lehren, die zu den Vorläufern des Darwinismus gerechnet werden, ist zwar von Anfang an vorhanden gewesen; es genügt daran zu erinnern, daß Savigny unter dem Einflüsse der Schellingschen Naturphilo- sophie stand. Von natürlicher Zuchtwahl ist da freilich keine Rede,

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wohl aber von einer Entwicklung stillwirkender Kräfte, deren Ergebnis allen Gebilden menschlicher Vernunft und Willkür über- legen sei und so setzt sich diese konservative Lehre dem durch seinen Zusammenhang mit den Greueln der Revolution in Verruf gekommenen Naturrecht und dem rationalistischen Liberalismus entgegen bei Savigny zunächst durch seine siegreiche Attacke auf die verwegene Neuerung derer , die ein Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch für Deutschland einführen wollten. Ganz ähnlich verhält sich Herr Amnion mit seiner konservativen Apologetik zu den Neuerern , die an dem historisch gewordenen Verhältnis der Gesellschaftsklassen zueinander rütteln wollen, und die da wähnen, daß sich in einem Lande wie Preußen und Baden etwa für die leitenden Stellen in Justiz und Verwaltung ein erheb- lich tüchtigeres Personal gewinnen ließe, wenn die Auswahl weniger beschränkt wäre, wenn erheblich mehr begabte Leute aus den Schichten, die zum akademischen Studium die Mittel nicht auf- bringen können, hervorgezogen würden, wenn überhaupt andere „Auslesemcchanismen" neben und gegen die vorhandenen in Aktion träten. Geklagt wird von diesen Neuerern, daß allzu oft die minder- wertigen Söhne der Reichen durch Nachhilfestunden, Lehrerpensio- natc, Freundschaft zwischen Ellern und Lehrern und kraft des Wartenkönnens „sich durchsitzen" und durch Korpsbrüderschaften, Adelskliquen, Nepotismus befördert werden. Dagegen will Herr Ammon uns belehren: diese Ordnungen, diese Auslesemecha- nismen haben sich entwickelt, sie haben einen Kampf um ihr Dasein und damit einen Scheide- und Läuterungsprozeß durchgemacht, in dem das Zweckmäßige sich erhalten hat, ähn- lich wie sich zweckmäßige Organe des Tierkörpers und an- gepaßte Arten der Organismen erhalten haben. Es handelt sich also lediglich um eine Analogie zu den biologischen Tatsachen : eine Anwendung des Darwinismus verdient diese Erneuerung einer mit der Romantik nahe zusammenhängenden Lehrmeinung nicht genannt zu werden, sie ist vielmehr das, als was wir sie im Vorwege charakterisiert haben: Übertragung eines Erklärungs- Prinz i p e s aus einem Gebiete, wo es induktiv gefunden wurde, in ein an de res Gebiet, wo es deduktiv verwertet wird. Nehmen wir nun aber dies Erklärungsprinzip wie es ist: es kommt darauf hinaus, daß auch in menschlichen Einrichtungen das mehr oder minder unbewußt Gewordene dem durch mensch- liches Klügeln Erfundenen, dem Künstlichen und Gemachten

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überlegen sei: revolutionäre Neuerungen sind ein für allemal eine kindische Dummheit, die auf mangelnder Einsicht in die Natur- gesetze der Gesellschaftsordnung beruht. ')

Schade, daß die Darwinsche Lehre selber, die diese Ansicht stützen soll, schade, daß die Lehre des Kopernikus, die Lehren der Vesalius, Harvey, Lavoisier ebensolche revolutionäre Neuerungen waren und sind. Warum nicht auch ihnen entgegenhalten: die ehrwürdigen überlieferten Anschauungen, ausgebildet und bewährt im Verlaufe von Jahrtausenden, geläutert im Feuer ketzerischer, heidnischer und schwärmerischer Kritiken, sind teils die natürlichen, teils sind sie als übernatürlicher Glaube Stücke eines bewunderungs- würdigen Auslcsemechanismus; es ist die schärfste Prüfung, der ein Mensch unterworfen werden kann, ob er willens und fähig ist, seine Vernunft gefangen zu geben unter den Gehorsam gegen die Kirche und gegen seine Vorgesetzten überhaupt. „Die Umsturz- geister setzen ihre subjektiven Meinungen unter dem Namen der Wissenschaft dem objektiven und gültigen Inhalt der vom Staate mehr oder weniger unterstützten und für den Bestand der Gesell- schaft unentbehrlichen Kirchcnlehre frech und töricht ent- gegen", so wird in Herrn Ammons Sinne dreist ein Bewunderer der kirchlichen Gesellschaftsordnung sprechen. Schade, daß Herr Ammon nicht auch sein heiliges Prinzip angewendet hat auf die revolutionäre Technik, die alle historisch gewordenen Werk- zeuge und Geräte, alle durch Überlieferung und Erfahrung be- währten Verkehrsmittel, die herkömmliche Beschaffung von Licht, Feuer, Wasser, die Methode des Ackerbaues und des Handwerks, die unser ganzes tägliches Leben so von Grund aus umgewälzt und erneuert haben. Und allerdings, es läßt sich sehr vieles mit gutem Grunde gegen alle diese Neuerungen sagen, solange sie nicht tief und innig assimiliert worden sind, solange der Mensch seinen eigenen Produkten, unfähig sie zu lenken und zu beherrschen, gegenübersteht, sich ihnen sozial nicht hinlänglich angepaßt hat. Man braucht daher an dem großen besinnungslosen Kulturrausch nicht teilzunehmen, man braucht in die Jubelhymnen auf die Triumphe der Wissenschaft nicht ohne Vorbehalt einzustimmen aber sehen, hören und fühlen muß man, daß, wie Goethe sagte, als

») Dieser wirkliche Sinn der Ammonschcn Theorie, im Pexie der 3. Auflage verdunkelt, tritt um so heller in der 2. S. 3—4, und vermutlich auch in der ersten. Auflage (die ich nicht kenne) hervor.

Archiv für Sozialwisiepjchaft u. Sozialpolitik. I. (A. f. so*. G. u. St. XIX.) 1. 7

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er das Nahen dieses neuen Zeitalters erkannte, „die Dampfmaschinen nicht zu dämpfen sind" und daß dies ebensowenig im Sittlichen möglich ist; diese gewaltigen Neuerungen, deren Umfang und Trag- weite der größte Vertreter deutscher Bildung nicht einmal ahnen konnte, sind nun einmal die ungeheuren Elemente, auf die gegenwärtig nicht mehr bloß „ein junger Mann gesetzt ist", und die „jeden jungen Mann ermahnen sollten" wir zitieren immer noch Goethe „daß ihm das Steuerruder darum in die Hand ge- geben ist, damit er nicht dem Spiele der Wellen gehorche, sondern den Willen seiner Einsicht walten lasse". Der Wille unserer Ein- sicht wird uns immer vor besinnungslosem Radikalismus bewahren ; er wird sich aber auch nach der Einsicht richten müssen, daß ein so auf allen Gebieten umwälzendes Zeitalter mit einer konservativen und stabilen Gesellschaftsordnung, wie wünschenswert diese an sich auch sein möge, sich nicht verträgt, daß sie tatsächlich fortwährend revolutionierend darauf gewirkt hat und wirken muß; daß ein solcher Strom sich wohl regulieren, aber nicht zurückstauen läßt.

Was hat es denn aber mit den gepriesenen Auslesemecha- nismen auf sich? Wie verhalten sie sich zur ebenso gepriesenen „Absonderung von bevorzugten .Ständen' aus der großen Masse der Bevölkerung" (S. 65)? Herr Ammon setzt voraus, daß „abge- schlossene Stände" noch vorhanden, daß sie unausrottbar seien, ob- gleich sie „den meisten unserer Gebildeten, und auch den meisten Sozialpolitikern, als ein trauriges Überbleibsel halbbarbarischer Zeiten gelten". Soweit sie vorhanden waren, und ohne Zweifel sozialen Nutzen gehabt haben, sind sie doch wahrlich nicht durch Schulen und Examina entstanden? die erblich geschlossenen, auf die es unserem Theoretiker doch gerade ankommt, am aller- wenigsten ! Wohl könnte man sagen , daß wesentlich durch diese „Auslesemechanismen" der katholische Klerus ergänzt werde, der aber eben nicht ein erblicher Stand und nicht „im Sinne Dar- wins gezüchtet" ist; der, wie es scheint, recht wohl gediehen ist, und noch gedeiht, ohne daß die für ihn nötigen intellektuellen und moralischen Anlagen in einer gehobenen, besitzenden und durch reichliche, auch qualitativ bessere Nahrung (S. 89, 90), durch Unterhaltungen und Zerstreuungen (das.) aus der Menge herausge- hobenen Schicht von der „Natur" weislich vorbereitet, die Chancen für eine glückliche Kombination (Kap. 16— 18) durch Inzucht günstiger gestaltet wären. Die ungeheuerliche These Ammons ist ja, daß die besitzenden Klassen, und zwar, wie man verstehen muß,

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immer und schlechthin, eine Varietät allseitig besser begabter, insbesondere aber durch Verstand und Charakter ausgezeichneter Menschen darstellen, eben infolge der Verbindung von Auslese- mechanismen und Inzucht ! Welcher Mechanismus bildet denn unter heutigen sozialen Bedingungen, auf die doch Herr Ammon vor- zugsweise, und fast ausschließlich exemplifiziert, diese Varietät der Herrenklasse? „Im gewerblichen Leben", so lesen wir, „bestand vormals auch eine Art von Prüfung, das Meisterstück". „Seit der Einfuhrung der Gewerbefreiheit herrscht ein Wettbewerb, bei dem lediglich die Käufer entscheiden. Wer sein Geschäft am tüchtigsten betreibt, kommt vorwärts, wer nachlässig und träge ist, kommt zu- rück" (S. 38). Das ist alles, was Herr Ammon über den Unter- schied des kapitalistischen vom Handwerkszeitalter mitzuteilen weiß. Die Konkurrenz bringe die geborenen Organisatoren ans Tageslicht! Jede Konkurrenz? „Selbstverständlich" nur die „mit redlichen Mitteln"! „Unlautere Kniffe sind womöglich auf dem Wege der Gesetzgebung zu unterdrücken". Die Gewerbefreiheit darf keine „schrankenlose", der Wettbewerb kein „unlauterer" sein, „sonst werden nicht die tüchtigsten, sondern die frechsten und rücksichtslosesten Individuen emporgehoben". „Sind womöglich", ..darf" „sonst" wie steht es aber in Wirklichkeit? Da hilft un- serem Sozialanthropologen ein für allemal die Rede „im großen und ganzen" und die Berufung auf seine persönliche Erfahrung und Kenntnis, seine Ansicht, seine Eindrücke, und auf die Unnah- barkeit und UnWahrscheinlichkeit sozialdemokratischer „An- sichten", die er dann zur Kontrastwirkung in möglichst krassen Ausdrücken wiedergibt. „Auch unter den Großindustriellen habe ich * viele*1) kennen gelernt, die durch bedeutende Eigenschaften, namentlich durch organisatorisches Talent und durch Wissenskraft ihren Platz verdienten" (S. 43). Wer möchte da widersprechen? Weniger günstig ist sein Urteil über „emporgekommene Spekulanten und Börsenjobber" (S. 92). „Denn diese ,Protzen' verdanken ihren Reichtum * häufig* nur ihrer Skrupellosigkeit und dem Mangel altruistischer Gesinnung. Sie gehören * eigentlich nicht* zur ge- bildeten Klasse, werden aber durch ihr vordringliches Gebahren von den Arbeitern irrtümlich mit dieser identifiziert, und ziehen ihr die ganze Fülle von Haß und Neid zu, die von Rechts wegen jenen

') Die in Sternchen stehenden Worte sind im Original nicht hervorgehobene, die aber der Autor hier hervorheben möchte.

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allein gebührt" (S. 92). An anderer Stelle heißt es sogar allgemein : „Es ist... nicht immer der geistig Überlegene und sittlich Tüchtige, der im Wettbewerb des I^ebcns den Sieg davonträgt, sondern *oft* der Durchtriebenste, der Rücksichts- und Gewissen- loseste" (S. 12). An dieser Stelle gibt es überhaupt immer eine rückschrittliche und eine fortschrittliche, ungünstige und günstige Auslese nebeneinander, es komme nur darauf an, welche Art von Auslese den überwiegenden Erfolg hat (S. 14). Warum ist denn weiterhin nicht von den Mechanismen der ungünstigen Auslese und von den Ursachen des Überwiegens der günstigen Auslese die Rede? Das wäre ein methodisch fortschreitendes Ver- fahren gewesen! Herr Ammon „neigt" aber „zu der Ansicht, daß die meisten wirklich begabten Söhne der unteren Klassen vermöge unserer gesellschaftlichen Einrichtungen die Gelegenheit haben und benutzen, um sich den gebührenden Platz zu ver- schaffen" (S. 44). Dafür will er einen „objektiven Reweis" bei- bringen : „indem ich dartue, daß infolge unbestrittener Naturgesetze die Zahl der höher begabten Individuen im Verhältnis zu der Masse der Bevölkerung überhaupt nur eine kleine sein kann, wonach also das Zurückbleiben einer größeren Menge von selbst ausgeschlossen ist". Der „Beweis" wird mit Hilfe der Kombina- tionslehre geführt. Zu diesem Behuf unterscheidet Herr Ammon 3 Gruppen von Scclenanlagen : intellektuelle, moralische (diese mit Ausschluß der altruistischen, weil deren Wirkung auf das Empor- kommen der Individuen .widerspruchsvoll' sei), wirtschaftliche; dazu fügt er eine Gruppe „körperlicher" Anlagen; er vergleicht dann diese Anlagegruppen mit Würfeln, die Stärkegrade in jeder Gruppe mit Würfelaugcn, und berechnet, daß die höchste und die nie- drigste Augensumme am seltensten, die mittlere am häufigsten vorkommen muß. Daraus schließt er („auf unseren Gegenstand angewandt" S. 52), daß auch die Zahl der Genies und der Talente im Vergleich zur Gesamtzahl der Menschen naturgemäß nur klein sei, ebenso die Zahl der Schwachbegabten und der ganz Stumpf- sinnigen, während das Mittelgut an Zahl bei weitem vor- herrsche. Genies und Talente sind aber bei Herrn Ammon nicht etwa die Menschen von hoher geistiger Begabung, sondern nur solche, bei denen die Nummern in allen 4 Anlagegruppen hoch sind. Geistig und sittlich hochstehende Menschen, die aber Mangel an wirtschaftlichen Anlagen (Geschäftssinn, organisatorisches Talent, technisches Geschick, kluge Berechnung, Voraussicht, Sparsamkeit)

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und schwache körperliche Anlagen haben, nennt er „Leute, die unter Umständen den Kindruck von äußerst befähigten Menschen machen, die sich bloß nicht emporzubringen wissen und als „ver- bummelte" Talente bzw. „verkannte" Genies oder „geknechtete" Biedermänner enden". „Dafür macht man in der Regel ungenügende Bildung, widrige äußere Verhältnisse, mit Vorliebe die „herrschende Gesellschaftsordnung" verantwortlich, während der Mißerfolg in der Veranlagung der Individuen selbst begründet ist 1" Jeder Zusatz würde den Eindruck dieses geistvollen Paradoxons trüben. Man bemerke wohl, daß hier jede Anlagengruppe auf gleiche Linie ge- stellt wird : die Nummer Eins auf dem vierten die Körperkräfte dar- stellenden Würfel nennt er ausdrücklich einen „Herkules" das wirk- lich emporkommende und dessen würdige Genie muß also auch her- kulische Körperkräfte haben ! ! Sehen wir weiter. „Das Würfelspiel ist höchst wahrscheinlich eine *im wesentlichen* treue Wiedergabe der Vorgänge, die sich vor und bei der Befruchtung wirklich ab- spielen" (S. 55). In Wirklichkeit besteht aber jede Gruppe von Anlagen selbst wieder aus Kombinationen von Anlagen, und die Zahl der Stärkegrade läßt sich beliebig vermehren; auch wird innerhalb jedes Anlageelementes der höchste und niedrigste Grad selten vorkommen, auch hier der mittlere Grad die Regel sein. Alle diese Umstände vermehren das Mittelgut; die Chancen für das Herkulesgcnie sind in Wirklichkeit noch viel geringer. Hier wird dann das Gaussische Fehlergesetz herangezogen, dessen sich Galton bedient hat, um die Wahrscheinlichkeit eminenter Be- gabung abzuschätzen. Galtons Argument ist, daß außerordentliche intellektuelle Begabung, wenn mit Eifer und mit Arbeitskraft ver- bunden, in England trotz sozialer Hemmungen mit ziemlicher Sicherheit sich durchsetzt und zu Ruhm gelangt; und umgekehrt, daß sehr hoher Ruhm nicht ohne sehr hohe Fähigkeiten erreicht wird. Er braucht dies Argument um aus Ruhm auf Begabung zu schließen, und den Beweis der Vererbung geistiger Qualitäten auf die Tatsache zu gründen, daß hervorragende Leute in verschie- denen Gebieten, besonders aber in Literatur und Kunst, meistens auch hervorragende Verwandte haben. Galtons Methode unterliegt sehr schweren Bedenken, ja ich bin überzeugt, daß sie große Fehler enthält; aber darauf ist hier nicht einzugehen. Nach der Regel der normalen Abweichungen von einem Durchschnitt berechnet Galton, daß auf eine Million gleichalteriger Menschen ein ganz hervorragender komme. Herr Ammon meint, auf sein Würfel-

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gleichnis gestützt, es erscheine uns als * wahrscheinlich* (da es ge- wiß weit mehr einzelne Anlagen als 8 seien, die bei einem genialen Manne zusammentreffen müssen, und die Zahl der Stärkegrade mit 6 gewiß nicht zu hoch angenommen werde) „daß wir nur einen Menschen auf viele Millionen haben sollten , bei dem sich alle erforderlichen Eigenschaften zu einem Genie vereinigen, während wir *nach Galton* schon i auf i Million, also bedeutend mehr haben". Es folgt dann (bei Ammon) der Absatz: „Aus der Abweichung •der Wirklichkeit* von der theoretischen Wahrscheinlichkeit, läßt sich folgern, daß irgendwelche noch nicht in Rechnung gestellte Ursachen vorhanden sein müssen, die das Entstehen von Talent und Genie begünstigen" (S. 64). Und hiermit wird dann die „Natureinrichtung", die Absonderung von „Standen" ein- geführt, die das unerwartet häufige Vorkommen von Genie und dessen „unaufhörlich erfolgendes Neuentstehen" erklären soll. Man bemerke wohl: was der Herr hier „Wirklichkeit" nennt, und was „nach Galton" sich tatsächlich findet, ist nichts als die theo- retische Wahrscheinlichkeit in Galtons Darstellung; Galton hat nicht einmal einen Versuch gemacht zu beweisen, daß die Erfahrung damit übereinstimme; einen solchen Versuch macht er nur mit seinen 250 pro Million „Hervorragender", zu denen er auf folgendem ziemlich holperigem Wege gelangt : er fand in einem Nachschlagebuch von 1865 2500 Namen lebender Männer von Ruf, die Hälfte Engländer; darunter sind sehr viele erst mit über 50 Jahren berühmt geworden; er vergleicht daher diese, die er in der Gesamtzahl von 850 findet, mit der über 50 jährigen männlichen Einwohnerschaft der britischen Inseln, das gibt 425 pro Million; aber nur 500 von jenen 850 sind Leute, die in der literarischen und wissenschaftlichen Gesellschaft verkehren, „in ent- schiedener Weise {dtcidedly) bekannt": (so kommen 250 pro Million heraus ! Die nachher dann einfach auf alle Lebensalter bezogen werden. Wobei nachher der Ruhm keineswegs mit dem Wohlbekanntsein in literarisch-wissenschaftlichen Zirkeln gleich- gesetzt wird. Indessen wir dürfen uns nicht bei den Fehlern Galtons, der jedenfalls zu seiner Ehre sei es gesagt reine wissenschaftliche Absichten hat , aufhalten. Ebensowenig kann ich an dieser Stelle in eine positive Darstellung des Problemes ein- gehen. Genüge es zu sagen, daß der Satz Galtons (S. 41): „Soziale Vorteile haben eine enorme Macht, jemanden in die Stellung eines Staatsmannes zu bringen, die immerhin so bedeutend

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ist, daß man ihm das Beiwort „hervorragend" nicht versagen kann, obwohl es mehr als wahrscheinlich ist, daß in der Wiege ausge- tauscht, und im Dunkel aufgewachsen, er gelebt hätte und ge- storben wäre, ohne aus dieser niedrigen Lebensphäre emporzu- tauchen" daß dieser Satz eine viel weitere Geltung hat, al.s Galton meint, der übrigens ausdrücklich erklärt, daß er nur Be- rühmtheit und nicht „hohe soziale oder offizielle Stellung" im Auge habe. Für Herrn Ammon ist beides so gut wie identisch. Die ..Gesellschaftsordnung" belohnt eben jedes Verdienst durch „Stellung" und läßt die Verdienstlosen durchfallen. Den vorsichtigen Hilfs- satz Galtons hat Herr Ammon kritiklos an sich gerafft und durch viel Wind zu einem scheinbaren und selbstgefälligen Hinbildungen imponierenden Theorem aufgeblasen.

Daß soziale Auslese stattfindet, ist ganz richtig. Herr Ammon hat nicht zuerst die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, aber daß er sie darauf gelenkt hat, werde mit Dank anerkannt. Wahl und Aus- scheidung bedecken ein unermeßliches Feld des sozialen Lebens; es erstreckt sich sehr viel weiter, als Herr Ammon zu ahnen, oder bedacht zu haben scheint. Aneignung, Behaltung, Assimilation der brauchbaren Abstoßung der unbrauchbaren Materie, ist das Grund- gesetz alles Lebens; Unterscheidung des Nützlichen und Schädlichen, Freundlichen und Feindlichen, Grundgesetz alles be wußten Lebens, daher auch des bewußten Zusammenlebens jeder menschlichen, ja schon jeder tierischen Horde und Verbindung. Und für jede Ge- meinschaft oder Gesellschaft der Menschen ist es eine hohe Lebensfrage, ihre führenden und für sie denkenden Kräfte, oder wie man sagen mag, Organe richtig auszulesen. Nicht immer wird dies freilich als eine Aufgabe empfunden; vielmehr über- wiegen, auch historisch, die Fälle, wo es als naturnotwendig, als selbstverständlich erscheint, daß die einen herrschen, die anderen gehorchen, oder um es höflicher auszudrücken, daß die einen voran- gehen, die anderen folgen. Die beiden großen Familienregeln: das Gebieten der Alten über die Jungen und das Gebieten der Männer über die Frauen fuhren sich auf die allgemeine Regel zurück : das Sorgen der Stärkeren für die Schwächeren, und daraus sich ergebende, dadurch mehr oder minder bedingte Herrschaft jener Starken und Mächtigen, die in den Anfängen eher durch riesige Körperkräfte und wilde Tapferkeit als durch Tugenden des Verstandes und Gemütes sich hervortun. Ihrem Wesen nach nahe mit jenen Ursprüngen verwandt ist alle Herrschaft kraft Krb-

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Ferdinand Tönnics,

rechtes, die sich an das Alter, und wie man dann leicht glaubt, an die erbliche Vortrefflichkeit und Kraft, vorzugsweise aber an die wie immer gewonnene ökonomische Macht gewisser Familien anhängt, denen ein gläubiges Volk die besondere Gunst und Gnade der Götter, als der Allväter und machtvollsten Wesen zuzuschreiben geneigt ist. Aber von jeher konkurriert mit solchem Glauben und solcher Untertänigkeit das Verlangen der Menge, besonders wenn sie aus wehrhaften Männern besteht, ihre Hauptleute selber zu wählen; dies gilt als ein natürlicher und gerechter Anspruch freier und mündiger Personen, zumal wenn sie als Bürger sich selber als Urheber und Träger ihres Gemeinwesens fühlen. Mit jeder Wahlpraxis kann freilich eine tatsächliche Vererbung von Befug- nissen zusammen bestehen, ja sich neu daraus entwickeln; und aus der Tatsache der Erblichkeit dann wieder ein Erbrecht entstehen. Im allgemeinen aber macht das Prinzip der Wahl auf Kosten des Erbrechtprinzips sich geltend und muß um so mehr an dessen Stelle treten, je mehr der Glaube an eine übernatürliche Sank- tion erblicher Herrscherbefugnissc schwindet, und andererseits, je mehr die Vererbung leiblicher und seelischer V o r z ü g e ihre Kehr- seite fühlbar macht: als Vererbung der Kraftlosigkeit, des Ilsters, der Degeneration. Die zweckmäßige Funktion des Wahlprinzips ist aber selber an viele und schwierige Bedingungen geknüpft. Vor allen Dingen ist sie immer in gewisser Weise abhängig von den Qualitäten der Wähler. Vorzugsweise und offenbar sind diese wichtig, wenn einzelne Personen die Wählenden und Prüfenden sind, und hier sind große Schwankungen um so wahrscheinlicher; wenn z. B. einem Monarchen die Wahl der Staatsminister zusteht, so ist es wesentlich von der Begabung, Klugheit, Wohlberatenheit des Monarchen abhängig, ob diese wichtige Wahl gut oder schlecht ausfallt; und ähnlich überall bei individuellen Wahlen und Er- nennungen von oben her. Anders wenn Wahlen durch Kollegien vollzogen werden; je größer das Kollegium, desto eher wird die ausschlaggebende Mehrheit einen Durchschnitt der Wähler- qualitäten darstellen; es werden daher vermutlich sehr weise und sehr törichte Wahlen gleich unwahrscheinlich werden. Nun ist ein Wa h 1 k o 1 1 e g i u m von selber gegeben, wenn irgend eine Verbindung ein Verein, eine Genossenschaft oder welcher andere Name ihr zukommen möge ihren Vorstand, ihre Beamten und Verwalter wählt; das natürliche Erfordernis für den Wähler ist hier, daß er ein Mitglied der Verbindung sei, in einer Stadt

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Amnions Gcsellschaftsthcoric.

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z.B. daß er das Bürgerrecht besitze. Und die Wählerschaft kann den Erwählten als ihresgleichen, als ihren Führer oder als ihren Diener betrachten und behandeln, je nach ihren Zwecken, je nach seinen Funktionen, aber auch je nach beiderseitigen Qualitäten.

Viele Versuche sind in Theorie und Praxis gemacht worden, die Qualifikation des Wählers in politischen Körperschaften zu begrenzen, und dadurch „bessere" Wahlen zu sichern; und der dabei zugrunde liegende Gedanke war zumeist der, daß nach der Größe der Beiträge zur öffentlichen Kasse, also nach den Steuern, die politischen Rechte abgemessen werden müßten. Kein Wunder, wenn nun die Besitzlosen dies ungerecht schelten, da sie nämlich auch nach ihren Kräften beisteuern, und da wahrscheinlich ihr Scherflein, zumal wenn die Steuern auf Gegenstände des notwen- digen Lebensunterhaltes gelegt sind, ein viel größeres Opfer be- deutet, als die Beiträge des Reichen; und zumal wenn die Staats- verfassung ihn (den Armen) nötigt, mit seinem Leibe und seiner Wehrkraft für das gemeinsame Vaterland einzustehen, oder gar für die besonderen Interessen der Besitzenden sein Leben aufs Spiel zu setzen. Aber wird dann eingewandt dem „gemeinen Manne" fehlt die Intelligenz, das Verständnis für politische Ange- legenheiten. Nun, eben darum soll er ja einen Vertreter wählen, von dem er ein besseres Verständnis erwartet; „er wird aber auch dies nicht beurteilen können, er wird sich durch die Beredsamkeit des Wahlkandidaten, durch Schlagwörter, die seinen Leidenschaften oder seiner Eitelkeit schmeicheln, betören lassen". Diese Gefahr ist ohne Zweifel vorhanden; aber die Gefahr ist schon viel geringer, daß in einer großen Menge diese Betörten gerade die Mehrheit bilden sollten, und wenn die Mehrheit eine törichte Wahl trifft, so darf man erwarten, daß sie den Schaden davon spüren und durch Erfahrung gewitzigt werde; handelt es sich um Wahlen für eine große Körperschaft, so ist schon außerordentlich unwahrscheinlich, daß auch nur eine erhebliche Minderheit schlechthin törichter Wahlen stattfindet, vielmehr werden hier wieder die besonders weisen und die besonders verkehrten Wahlen Extreme auf beiden Enden bilden, während sich die große Menge um ein mittleres Maß von wählerischer Einsicht gruppiert. Im großen und ganzen wird auch hier der Wettbewerb dafür sorgen, daß ganz einfaltige und des öffentlichen Vertrauens unwürdige Personen gar nicht wagen werden, als Wahlkandidaten aufzutreten, zumal da die W'ahlen doch nicht völlig wild zu geschehen pflegen, sondern Komitees und

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Ferdinand Tönnies,

engere Versammlungen zunächst die Kandidaten „aufstellen". DaL> es dabei oft nur allzu menschlich hergeht, daß das Gespenst der Korruption sich nicht selten an die grünen Tische setzt, ist eine Sache für sich, die dem moralischen Werte der Wahlen mehr als dem intellektuellen Eintrag tut Übrigens scheint mir eine Kor- rektur demokratischer Verfassungen weit mehr in bezug auf die Qualifikation der Wählbaren als auf die der Wähler not zu tun. Ich bin aber nur darum hier auf politische Wahlen zu reden ge- kommen, weil doch auch sie ihrer Idee und Absicht nach dazu be- stimmt sind, den rechten Mann auf den rechten Platz zu bringen, und weil Herr Ammon, so sehr er die Gesellschafts- ordnung herausstreicht, der er es auch zuschreibt, wenn begabte und brave Leute als Beamte Karriere machen, ebenso sehr die im Deutschen Reiche gültige Verfassung und Staatsordnung mit Schimpf bedeckt, weil das allgemeine Stimmrecht so sagt er wörtlich S. 147 darauf abziele, alle hervorragenden Persönlich- keiten möglichst auszumerzen; Deutschland sei dadurch in eine Lage versetzt, 'bei der die unteren Klassen vermöge ihrer großen Kopfzahl fast alle Macht besitzen (man höre!); die gewöhnlichsten Schreier und Schwätzer seien die Bevorzugten des allgemeinen Stimmrechts; im Reichstage werden die meisten Reden (Herr Ammon wird als Mann der exakten Wissenschaft genau gezählt haben) nicht zur Sache, sondern mit Rücksicht auf die künftige Wahlagitation zum Fenster hinaus gehalten; das allgemeine Wahl- recht sei eine antisoziale Einrichtung, insofern als es die natür- liche Gesellschaftsordnung auf den Kopf stelle. Die instinktive Weisheit der Jahrtausende ist also mit dieser Einrichtung auf einen bedenklichen Holzweg geraten, warum aber die Staats- ordnung so ungünstig von der Gesellschaftsordnung sich unter- scheidet, das sagt uns Herr Ammon nicht, ja er m e r k t gar nicht einmal, daß er die eine verherrlicht, die andere heruntermacht; er muß sich vorkommen, wie der Schmeichler im Ballsaale, der einem Bekannten ins Ohr flüstert: mit Bewunderung betrachte ich die Schönheit Ihrer Frau Gemahlin; wie herrlich sticht sie ab gegen das Affengesicht der jungen Dame, die neben ihr steht wenn der angeschmeichelte Gatte ihm antwortet : „Die junge Dame ist meine Tochter." Denn just so ist das Verhältnis : Die Staatsordnung ist die Tochter der Gesellschaftsordnung.

Bei dem dritten Hauptsatze Ammons will ich mich nicht lange aufhalten. Herr Ammon glaubt beweisen zu können, daß die

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Amnions Gescllschaftsthcorie.

Verteilung der Begabungen in der heutigen Gesellschaft in der Verteilung der Einkommen wie sie im Königreich Sachsen angetroffen werde, sich spiegele. Dieser „Beweis" ist allerdings eine höchst merkwürdige Leistung und verdient eine sehr scharfe Beleuchtung. Es genügt auch nicht, über den barocken Einfall sich lustig zu machen ; denn das Absurdeste findet Beifall und Glauben, wenn es gewissen mächtigen Interessen dient. An dieser Stelle dürfen wir aber uns genügen lassen, diesen wissenschaftlichen Unfug ungern, aber mit voller Bewußtheit müssen wir einen so starken Ausdruck einsetzen kurz zu charakterisieren. Wir haben selber Bezug genommen auf die bekannte Wahrscheinlich- keitsregel der Abweichung vom Mittel; der mehrfach erwähnte Francis Galton beruft sich darauf, daß eine große Zahl von Messungen z. B. der Körperlängen in einer leidlich homogenen Be- völkerung die große Menge der Individuen, nämlich über die Hälfte um den Durchschnitt nahe gruppiert zeige, während die Ab- weichungen nach oben und unten ziemlich symmetrische Bildung zeigen, so daß z. B. auf I Million annähernd gleich viele sehr Große und sehr Kleine kommen; auf dem oberen Ende einige Riesen, auf dem unteren einige Zwerge und so in gleichen Ab- ständen auf beiden Seiten annähernd gleiche relative Mengen. Galton hält es für wahrscheinlich, daß, wenn man die Begabungen messen könnte, sich ein ähnliches Resultat, eine ähnliche Symme- trie ergeben würde. Herr Ammon behauptet, daß die wirklichen Messungen des Einkommens im Königreich Sachsen, wie sie in der Besteuerung sich darstelle, ebenfalls einen ähnlichen Aufbau, wenigstens teilweise denn er ist hier sehr genügsam oder wie er sagt und zeichnet eine ähnliche Kurve aufweisen. Er behandelt, um dies darzutun, die Ergebnisse der Steuercinschätzung nach einer miserablen Methode aber das ist Nebensache, wir wollen ihm dennoch zugeben, daß auch die versteuerten Ein- kommen sich in ähnlicher Weise um einen Durchschnitt gruppieren. Wenn Galton ein Mann des Humbugs wäre, so könnte er etwa gesagt haben: Seht einmal diese wunderbare Ordnung : die größten Riesen sind die größten Genies, die große Menge ist von mittel- mäßiger Größe und mittelmäßiger Begabung, die Menschen von kleinem Wuchs sind auch minderbegabt. Die Zwerge sind wahre Dummköpfe. Genau so verfährt nämlich Herr Ammon: die nach ihm wirkliche Kurve der Einkommensteuer läuft parallel mit Galtons schematischer Kurve der Begabung ergo entsprechen

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Ferdinand Tönnics,

die beiden so einigermaßen einander, im großen und ganzen be- kommt jeder das Einkommen auf das er nach seiner Begabung Anspruch hat. Die Dreistigkeit und die Absurdität verlaufen auch in parallelen Kurven.

Wir kommen nun zum vierten Hauptsatze Ammons: zu der wunderbaren Einrichtung der Stände. Das Wesentliche daran ist die angeblich garantierte Vererbung höherer intellektueller und mora- lischer Begabungen. Die oberen Schichten sind die gescheidtesten und sittlich besten; weise Einrichtung der Natur oder der Ge- sellschaft, das bedeutet für Herrn Ammon eins und dasselbe daß sie fast nur unter sich heiraten: ergibt eine Reinkultur von Talenten und Genies und edlen Charakteren. Wir teilen die Mei- nung des kritisierten Autors, daß es ebenso natürlich, wie zweck- mäßig ist, wenn eine Ehe so sehr als möglich in gemeinsamen oder doch ähnlichen sozialen Verhältnissen wurzelt : die Ehe ist , be- sonders für die bürgerliche und höhere Klasse so sehr eine Familien- angelegenheit, daß das Verständnis zwischen Ehegatten weit mehr durch verschiedenartiges Herkommen, verschiedene Lebens- gewohnheiten und Anschauungen, als etwa durch verschiedene Sprachen erschwert wird. Die Harmonie der Eltern ist ein sehr bedeutendes Moment für die Erziehung der Kinder; diese wird da- her, auch nach unserer Ansicht, durch erhebliche Verschiedenheit des „Standes" gefährdet; es spielen da feine psychologische Momente hinein. Daß aber die angeborene Begabung der Kinder durch standesgemäße Heiraten bedingt werde, ist eine aus freier Luft gegriffene, bodenlose Behauptung oder vage Vermutung des Herrn Ammon. Sie hat für intellektuelle Begabungen einige Wahrscheinlichkeit, wenn man die Vererbung erworbener Eigenschaften annimmt, daß also eine während des Lebens ge- übte Anlage eher und stärker sich vererbt; dann hätte z. B. von zwei gleich musikalischen Mädchen, von denen die eine ein braves Dienstmädchen, die andere eine ausgebildete Konservatoristin wäre, diese weit mehr Chancen, Mutter eines musikalischen Talentes oder gar Genies zu werden, als jene. Herr Ammon will aber aus- drücklich von etwaiger Vererbung erworbener Eigenschaften ab- sehen, weil diese strittige Frage für seine Gcsellschaftsthcorie „be- langlos" sei (S. 8); mit Auslese will er alles machen. Wenn wir aber die Erfahrung allein befragen, so sprechen zum mindesten sehr bedeutende Instanzen gegen jene Annahme, daß standesge- mäße Heiraten besonders günstig für die Qualitäten der Nach-

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Amnions Gcsellschaftstheorie.

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kommen seien. Aus Ammons Voraussetzung, daß die unteren Klassen nichts als einen Bodensatz und also so etwas wie eine schlechte Varietät darstellen, folgt ja allerdings, daß eine Kreuzung mit ihnen für die höheren Klassen schlechte Folgen haben muß. Nun hat Herr Ammon aber noch andere Theorien, auf die er ein großes Gewicht legt, wenn er auch kaum einen Versuch macht, sie systematisch mit seinen Hauptsätzen zu verknüpfen. Erpicht auf den Begriff der Auslese hat er auch die Lehre des im Jahre 1901 verstorbenen Münchener Gelehrten Georg Hansen vom „Bevölkerungsstrom" gierig aufgegriffen und bei sich einge- heimst. Nach dieser Lehre findet eine fortwährende Erneuerung der höheren Klasse in den Städten statt, durch Nachschübe, die zwar von unten aufsteigen, aber doch nicht aus der unteren Klasse kommen, sondern von Leuten, die „in einfachen, gesunden Lebensverhältnissen leben, die eine überflüssige Kinderzahl erzeugen und ihre geistigen Fähigkeiten latent auf diese vererben, also Bauern" sagt Herr Ammon (S. 140). „Sic würden ihrer Bildung nach zwar zum unteren Stande gehören, wir dürfen sie jedoch mit den Städtern bezw. Industriearbeitern nicht vermischen, da sie einen besonderen Stand für sich ausmachen" (S. 112). „Der Bauernstand hat für den Ersatz aller übrigen Stände aufzukommen, die sich nicht selbst erhalten können. Der Bauer erfreut sich völlig zuträg- licher Lebensbedingungen, die ihm gestatten, nicht nur selbst kräftig zu bleiben, sondern auch eine gesunde, ausdauernde und bildungsfähige Nachkommenschaft zu erzielen" (S. 129). Darauf folgt dann ein ganzes Kapitel über das Aussterben der höheren Stände, und es heißt darin, wie sonst an vielen Stellen, daß sie den Schädlichkeiten erliegen, die mit der einseitigen geistigen Aus- bildung (S. 123) und der sitzenden Lebensweise verbunden sind. Innerhalb von 3 bis 4 Generationen ist durchschnittlich schon „die Gesundheit der in höhere Stellungen beförderten Familien auf- gebraucht", nachdem schon in der dritten Generation ein Rückgang der Begabung stattgefunden hat, so daß, also auf das Schwinden des Talentes bald das physische Erlöschen zu folgen pflegt." Ein glänzendes Zeugnis, das Herr Ammon da den Wirkungen der Klasseninzucht ausstellt; während er sonst die Ständebildung als eine Einrichtung gepriesen hat, welche die Verbindung von Individuen höherer Begabungsklassen begünstigt, also auf die Erziehung einer begabteren Varietät hinwirkt (S. 68 1 : „sie (die Ständebildung) heißt es ferner (S. 69) setzt das Werk

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Ferdinand Tönnies,

der natürlichen Auslese beim Menschen fort, und begründet eine natürliche Züchtung im Sinne Darwins"! Von den Widersprüchen will ich ganz absehen und sie Herrn Ammon cum ecuteris zugute halten ; aber es scheint doch nach dieser Lehre jedenfalls die Gefahr sehr groß zu sein, in den absteigenden Ast der höheren Stände hinein zu heiraten, und die Verbindung mit dem Bauernstande, der ja ohnehin die Urmaterialien und die latenten Begabungen enthält, wäre ohne Zweifel das, was Herr Ammon aus dem Gesichtspunkte der natürlichen Züchtung empfehlen müßte. Nun kommt aber noch ein dritter Gesichtspunkt hinzu, bei dem Herr Ammon recht eigentlich in seinem Elemente ist, nämlich eine anthropologische Rassentheorie. In Anlehnung an Gobineau und Lapouge behauptet er im mittleren Teile seines Buches (und kommt dann des öfteren darauf zurück), daß die durch seine vielgepriesene Gesellschafts- ordnung und Ständebildung garantierte günstige Zuchtwahl gar nicht oder doch nicht überwiegend stattfinde, sondern „die Arier sind die Kulturträger aller Zeiten" (S. 129) und das arische Ele- ment sei „in Zentraleuropa seit dem Beginn des Mittelalters im Schwinden begriffen er nennt das ausdrücklich eine „rück- schrittliche Auslese" (S. 132). In Deutschland bilden die hoch- gewachsenen blauäugigen blonden Langköpfe nur noch einen win- zigen Bruchteil der Gesamtbevölkerung, in Baden etwa 1,45%; sie reichen nicht mal mehr aus um die höheren Stände zu füllen. „Die germanischen Elemente sind bei uns seit dem Beginn des Mittelalters [in der Chronologie ist Herr Ammon ganz konsequent] in der schonungslosesten Weise aufgebraucht worden, während die auf der Scholle sitzenden fremden Volksbestandteile sich unge- stört vermehren konnten; darum ragen jene nur noch in einsamen Klippen aus der brandenden Flut hervor. Die Tatsachen dieser rückschrittlichen Auslese muß man sich gegenwärtig halten, um den psychologischen Untergrund zu begreifen, dem die Philo- sophie Friedrich Nietzsches entsprochen ist." Also zuerst und wesentlich aus sich selber (Ständcbildung als natürliche Züchtung), nur zur Ergänzung aus den unteren Klassen, insbesondere aus der Arbeiterklasse, die infolgedessen den „Bodensatz" der Unbe- gabten darstellt; alsdann aus den Bauern, als den allein sich gesund erhaltenden, erneuern sich die herrlichen oberen Stände, die mit den Talenten und Genies identisch sind; und endlich gar nicht; sondern sie bilden eine mehr und mehr dahin schwindende höhere Rasse von besonderen Schädeln, besonderer Haar- und Augen-

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Aromons Gesellscbaflsthcorie.

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färbe: Bauern und alle unteren Schichten sind dagegen ein rund- köpfiges Pack, körperlich und seelisch anders geartet. O quae eonfusio rerum! muß man hier ausrufen, und des Ausspruches Bacos von Verulam sich erinnern, daß die Wahrheit „leichter aus dem Irrtum als aus der Verwirrung emportaucht".

Denn in der Tat liegt hier noch mehr Verworrenheit als grobe Unrichtigkeit vor. In jeder seiner Lehren sind Elemente von Wahrheit enthalten. Und die schreckliche Verworrenheit des Systems wird durch ein hübsches schriftstellerisches Talent, über das der Autor verfügt, nicht ohne Anmut verhüllt. Auch besitzt er offenbare wissenschaftliche Fähigkeiten, die nur leider jeder Dis- ziplin entbehren. Wir halten ihm gerne zugute, daß er als Natur- forscher von der sozialen Entwicklung nur schwache Erkenntnis gewonnen hat; daß er insbesondere nicht weiß, wie gerade in den fortschreitenden Kulturländern seit vier Jahrhunderten die „Gesell- schaftsordnung" ein sehr flüssiges, und nicht, wie er die heute ob- waltende auffaßt, ein festes Gebilde ist. Am meisten wird ihm der echte theoretische Sinn beeinträchtigt durch die fortlaufende apologetische und polemische Absicht, die pamphletartige Kritik der „Sozialdemokratie", die in einzelnen Punkten ganz treffend sein mag, im ganzen durchaus deplaciert ist. Es ist mehr der in der Sozialdemokratie steckende Liberalismus, worauf er ohne es selber zu wissen und zu merken, loshaut, als der Sozialismus, der die Negation dieses Liberalismus ist; jener braucht sich nicht getroffen zu fühlen; wird vielmehr seinerseits auf natürliche, sowohl als auf soziale Auslese das aller entschiedenste Gewicht legen müssen. Die ganze aristokratische Theorie, für die sich Herr Ammon be- geistert, läßt sich das ist beinahe von selbst verständlich weit eher zugunsten der alten Aristokratie, überhaupt der weit hinter uns liegenden ständischen Gesellschaftsordnung verwerten, als, wie er doch vorzugsweise will, für die neue Pseudoaristokratie, die Plutokratie und ihre Anhänge.

(Der Verfasser beabsichtigt in einem der nächsten Hefte, im Anschluß an die obige Abhandlung, einige weitere Ausführungen zu geben, die sich mit den von Galton vertretenen Ansichten beschäftigen werden.)

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Die britischen Arbeiter und der zollpolitische

Imperialismus.

Von

EDUARD BERNSTEIN.

„Ein großes I.and wie Großbritannien, ein altes, in sich ge- festigtes, praktisch denkendes, die Dinge geschäftsmäßig betrach- tendes, überwiegend Gewerbe und Handel treibendes Land, ein be- quem zwischen dem Osten und dem Westen gelegenes Inselreich wird plötzlich aufgefordert, seine Zoll- und Handelspolitik zu ändern. Man mutet ihm zu, seine Zölle zu revidieren, seine Verträge zu- rechtzustutzen, von seiner Politik der geöffneten Häfen abzulassen, mit der freien Zulassung der Tauschgüter der ganzen Menschheit ein Ende zu machen."

Mit diesen, Kampf anzeigenden Worten beginnt ein vom bekanntesten der britischen Arbeiterführer, John Burns, herrührender Aufsatz als erstes Kapitel einer unter dem Titel „die Arbeit und der Zollschutz" kürzlich in London erschienenen Sammelschrift.1) Ihr Herausgeber, Mr. H. W. Massingham, war lange Jahre Chef- redakteur des radikalen Londoner „Daily Chronicle" und ist zur Zeit Redakteur des parlamentarischen Teils der „Daily News". Das Buch hat eine entschiedene antiimperialistische Tendenz. Es soll, sagt sein Herausgeber im Vorwort, „vom Standpunkt der Arbeiter- sache aus ein einfaches aber vollständiges Netzwerk von Gründen gegen Mr. Chamberlains Schutzzollpolitik darbieten". Neben dem nahezu neunzigjährigen Veteranen Holyoake, dem sehr tüchtigen Sozialökonom John A. Hobson und etlichen anderen namhaften

') Labour and Protection, a Serics of Studies, cdiled by H. W. Massingham. London, T. Fisher L'nwin.

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Die britischen Arbeiter und der zollpolitische Imperialismus. 113

Sozialpolitikern nehmen in diesem Buch zwei typische Repräsen- tanten der britischen Arbeiterwelt das Wort. John Burns, der Führer des großen Hafenarbeiterausstandes von 1889, eröffnet es mit einer Abhandlung über „die politischen Gefahren der Schutzzöllnerei", und George N. Barnes , der Generalsekretär des großen Maschinenbau- Arbeiterverbandes , gibt ihm mit einem Aufsatz über den „Schutzzoll in den Stapelindustrien" den geistigen Abschluß.

Gleich Barnes ist auch Burns von Hause aus Maschinenbauer, gleich ihm bezieht er von den Maschinenbauarbeitern Englands seinen Lebensunterhalt. Der große Maschinenbauerverband zahlt ihm ein Gehalt, das es ihm möglich macht, als Abgeordneter im Parlament und im Londoner Grafschaftsrat zu wirken. Hätten wir keine andere Quelle der Information über die Stellung der britischen Arbeiter zum zollpolitischen Imperialismus, so würde uns die Tat- sache, daß diese zwei Vertreter der organisierten Arbeiter einer der wichtigsten Industrien sich schroff gegen ihn erklären, schon ge- nügende Auskunft darüber geben, wie die große Masse derjenigen britischen Arbeiter über ihn denkt, die überhaupt an öffentlichen Angelegenheiten Anteil nehmen. Es gibt namentlich wohl kaum einen Arbeiterführer im heutigen England, der im allgemeinen so sicher das Empfinden des Durchschnittsarbeiters seines Landes herauszufühlen weiß, wie John Burns.

Indes liegen auch über die Stellungnahme anderer Arbeiter- führer zu dieser, heute in England im Vordergrund des politischen Interesses stehenden Frage authentische Urkunden zur Genüge vor. Kein Vertreter einer namhaften Arbeiterverbindung, der nicht in der einen oder anderen Form seine Ansicht über sie kundgegeben hätte. Englands Arbeiter sind politisch bei weitem nicht so ein- heitlich organisiert, wie die Deutschlands, und verfugen über nur wenige eigene Blätter. Aber dafiir sind die auf den Absatz in Arbeiterkreisen berechneten bürgerlichen Tageszeitungen stets bei der Hand, in der Form von Interviews etc. bekanntzugeben, wie der und jener Führer von Ruf über die gerade auf der Tagesord- nung stehenden Fragen denkt. Den Rest besorgen Flugblätter, Flug- schriften, Revue-Artikel, Bücher.

Soweit es den Schreiber dieses möglich war, sich die ein- schlägige Arbeitcrliteratur zu verschaffen, läßt sie sich mit ganz wenigen Ausnahmen als den Plänen auf Herstellung eines britischen Reichszollbundes feindlich bezeichnen. Allerdings in verschiedenen

Archiv für Soxtalwissenschaft u. Sozialpolitik. 1. (A. f. soz. G. u. St. XIX.) i. 8

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Eduard Bernstein,

Abtönungen. Es ist nicht immer klar zu erfahren, ob die Idee selbst verworfen wird, oder die Gegnerschaft nur der konkreten Form gilt, welche sie in den Plänen des bisherigen Ministers Joseph Chamberlain angenommen hat. Bald richten sich die Äuße- rungen allgemein gegen die Schutzzölle, bald werden ganz bestimmte Zölle, insbesondere die auf Lebensmittel in den Vordergrund ge- stellt, so daß die Frage offen bleibt, ob nicht die betreffenden Manifestanten sich weniger schroff ablehnend oder gar freundlich verhalten würden, wenn es sich ausschließlich um Schutzzölle auf Industrieprodukte handeln würde.

Im allgemeinen ist dagegen jede prinzipielle Erklärung gegen eine Rückkehr zum System der Schutzzölle als eine Absage gegen die Reichszollvereinsidee zu betrachten. Denn wie es schon im Namen ausgedrückt liegt, bedeutet der Reichszollverein ein System von Reichszöllen, ist er ohne Zölle ein Messer ohne Klinge. Der englische Rcichszollvereinsgcdanke stützt sich auf das Vorbild des deutschen Zollvereins, und zwar so sehr, daß selbst das deutsche Wort als technischer Ausdruck in die englische Sprache aufge- nommen worden ist. Man findet in der Fachliteratur ebenso oft, wenn nicht öfter, den Ausdruck Imperial Zollverein, wie den Aus- druck Imperial Customs Union, und vielfach werden, einer be- kannten Eigentümlichkeit des englischen Sprachgeistes entsprechend, die beiden Worte abwechselnd so gebraucht, daß das eine für das abstrakte Prinzip, das andere für die konkrete Sache, bzw. den ganz bestimmten Zollverein steht, um den sich jetzt die Debatte dreht. So lauten die Titel von drei sozialistischen Abhandlungen, die sich mit der Frage befassen, wie folgt :

Social Demoer aey and the Zollverein. By H. W. Lee (Seere- tary of the Social-Democratic Federation). London, The Twenticth Century Press, Limited.

The Chamberlain Bubble. Facts about the Zollverein, with an alternative Policy. By Philip Snowdon (Chairman of the Inde- pendent Labour Party). London, The Indepcndcnt I^abour Party Literature Publication Department.

The Zollverein and British Industry. By J. Ramsay Mac- donald (Member of the London County Council). London, Grant Richards.

Von diesen drei Schriften sind die ersten zwei Penny-Flug- schriften, die letzte ein, 165 Druckseiten kl. 8" fassendes Schilling- buch. Wie aus ihren Titeln hervorgeht, ist der Verfasser der

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Die britischen Arbeiter und der roll politische Imperialismus.

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ersten ein hervorragendes Mitglied des sozialdemokratischen Bundes, der Verfasser der zweiten Vorsitzender der sozialistischen Unabhängigen Arbeiterpartei. Auch der Verfasser der dritten Schrift gehört dieser letzteren Organisation an, ist aber außerdem Sekretär der Arbeitervertretungsliga, einer Verbindung sozialistischer Vereine und Gewerkschaften, die als solche heute mehr als eine Million Arbeiter vertritt. Ihr gehören fast alle großen Gewerkschaften Englands an.

Von dieser Liga (Labour Representation League) sind eine ganze Reihe von Flugblättern gegen die Rückkehr zum Schutzzoll veröffentlicht worden. Das Bemerkenswerteste davon ist das Flug- blatt Nr. 10, das an die Trade Unionisten von Großbritannien und Irland gerichtet ist und den Titel trägt: United Labour Manifeste Ott Tariffs and Labour Conditions.

Die elf Arbeitervertreter, die zur Zeit im britischen Parlament sitzen, die Mitglieder des parlamentarischen Gewerkschaftskomitees, das leitende Komitee des allgemeinen Gewerkschaftsbundes und der Vorstand der Arbeitervertretungsliga selbst haben dies Manifest unterzeichnet. Im ganzen 42 Personen, von denen die große Mehr- heit an der Spitze großer Gewerkschaften stehen. Die Bergarbeiter wie die größten Zweige der Metallverarbeitungsindustrien, die Weber wie die Spinner, die Schuhmacher, die Gasarbeiter, die Hafenar- beiter, die SchifTszimmerer, die Tischler und Zimmerleute, die Bau- und Erdarbeiter sind in den Personen ihrer anerkannten Führer hier vertreten.

Das Manifest hat somit auf besondere Berücksichtigung An- spruch. Da es nicht übermäßig lang ist, sei es hier im Wortlaut wiedergegeben :

„An die Gewerkschaftler von Großbritannien und Irland.

Nach sechzig Jahren Freihandelspoliük wird das Land aufgefordert, zum Schutzzoll zurückzukehren, und einer der Hauptgründe, der zugunsten des Wechsels angeführt wird, ist, daß die Arbeitsgelegenheit durch ihn vermehrt und die Löhne durch ihn werden erhöht werden. Wenn diese Ergebnisse die Folgen waren, müßte jeder Trade Unionist für den Schutzzoll stimmen.

Ist der Schutzzoll ein Heilmittel?

Wir haben jedoch die Erfahrung der ganzen gewerblichen Welt zum Führer. Der gegenwärtige Stand der Geschäfte bei uns ist schlecht das Geschüft ist nach einem Kriege immer schlecht und der Ausblick recht trübe. Aber im zollgc- schützten Deutschland sind die Nachfragen der Arbeitslosen ebenso drückend wie hier, und im zollgeschützten Amerika ist die Zahl der geschäftlichen Zusammen-

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Eduard Bernstein,

brüche im Verhältnis größer als im freihändlerischcn England. Wir ersehen daraus, daß unter dem Schutzzoll Arbeitslosigkeit und schlechtes Geschäft mindestens ebenso schwer drücken, als wie unter dem Freihandel.

Verarmt uns die Einfuhr?

Auf den ersten Blick scheint es, als ob die Menge von Gütern, die wir vom Ausland kaufen, eine Ursache der heimischen Beschäftigungslosigkeit sei. Ohne Zweifel leiden einige Gewerbe unter der freien Zufuhr. Aber diese Frage darf nicht vom Gesichtspunkt enger Lokal- oder Berufsinteressen betrachtet werden. Die Gewerbe, die von der freien Zufuhr gelitten haben, sind solche, die unter den britischen Bedingungen nicht wirtschaftlich betrieben werden können. Sic können nur dadurch gedeihen, daß sie die Lohnarbeiter in anderen Gewerben ärmer machen. Stellt man den ganzen Betrag unserer Nationalwirtschaft in Rechnung, so kann nicht gesagt werden, daß dieser Betrag durch den Zollschutz erhöht werden würde, denn wir zahlen für unsere Einfuhr mit den Diensten, die wir dem Ausland leisten. Hörten wir auf zu kaufen, so würden wir aufhören zu verkaufen. Infolgedessen würden die kleinen örtlichen Vorteile, die der Zollschutz etwa herbeiführte, durch den Schaden, den er der Nationalwirtschaft als Ganzem zufügte, mehr als aufgewogen werden.

Wir müssen unseren Gcwcrbfleiß mit anderen teilen.

Es ist richtig, daß Deutschland, Amerika und die anderen Industrieländer mehr fabrizieren als ehedem. Wir haben einen großen Vorsprung vor ihnen gehabt, aber keine Politik, die von uns ausgeht, kann Deutschland verhindern, seine Kohlen- und Erzlager zu verarbeiten, oder Amerika daran hindern, die Baumwollerzeugnisse seiner Südstaaten in Fabrikate zu verwandeln. Großbritannien muß sich darein finden, den Welthandel mit seinen Konkurrenten zu teilen, denn es kann ihn nicht länger mono- polisieren.

Es muß daher unsere Politik sein, mit unserem Reichtum hauszuhalten, und es muß alles beseitigt werden, was die Lasten unserer gewerblichen und arbeits- tätigen Klassen erhöht.

Was der Zollschutz tun wird.

Wenn nationale Wirtschaftlichkeit und Leistungsfähigkeit unsere beste Politik ist, so ist der Zollschutz doppelt zu verurteilen, denn seine unmittelbarsten und sichersten Wirkungen werden dahin gehen :

1. Die BodencingcntUmcr in den Stand zu setzen, ihre Renten zu steigern.

2. Die Anhäufung des Kapitals in wenigen Händen zu fördern, so daß Trusts die Preise und Arbeitsbedingungen diktieren werden, und damit

3. die Fähigkeit der Gewerkschaften, die Verhältnisse der Lohnarbeiter zu verbessern, einzuschränken.

Wir sind mehr wie bloß Freihändler.

Wir betrachten jedoch den Freihandel in keiner Weise als eine Lösung des Problems der Armut. Er ist ein gesundes Wirtschaftsprinzip, und darum treten wir in der gegenwärtigen Krisis für ihn ein. Er ist, so weit er geht, richtig.

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Die britischen Arbeiter und der zolipolitischc Imperialismus.

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Der Freihandel hat uns in den Stand gesetzt, Nationalrcichtum anzuhäufen. Eine Politik der Arbeit muß nunmehr den Freihandel ergänzen, um uns in den Stand zu setzen, diesen Reichtum in gerechter Weise zu verteilen.

Wir müssen unsere Belastungen abwerfen.

Die Last des Grundherrentums, das niederdrückende Gewicht von Grubcn- renten und Bergregalen, die unbilligen Differenzierungen und Erpressungen in den Tarifen unserer Eisenbahnen machen es nicht nur der britischen Industrie schwerer, der fremden Konkurrenz zu begegnen, sondern mehren auch die Schwierigkeiten der Lohnarbeiter, sich einen ordentlichen Lebensunterhalt zu erkämpfen.

Insofern daher die gegenwärtige Schutzzollagitation die Aufmerksamkeit auf die Lasten lenkt, die die britische Industrie zu tragen hat, sind wir Mr. Chambcrlain dankbar. Der Feldzug der Schutzzöllncr sollte der Anlaß werden zum Triumph rincs Programms der Sache der Arbeit.

Wir verteidigen nicht nur, wir greifen an.

Die Arbeiterpartei verlangt ein besseres Unterrichtswesen, eine wirksamere An- wendung der Wissenschaft im Gewerbe, besser ausgerüstete Staatsämter für Arbcitcr- und Gewcrbeangelcgcnheiten und, vor allem, progressive Besteuerung der Renten wie der nicht erarbeiteten und übermäßigen Einkommen, so daß die Gesamtheit den Reichtum, den sie geschaffen, genießen und diesen Reichtum zur Verringerung der Last von Steuern und Abgaben benutzen kann, die heute das berechtigte Gewerbe bedrücken. Wir sind ferner der Ansicht, daß angesichts der hohen Eisenbahnfrachten, die den britischen Produzenten abverlangt werden, die Frage der Nationalisierung der Eisenbahnen unverzüglich in Angriff genommen werden sollte.

Diese positiven Vorschläge bieten wir als Antwort dar auf Mr. Chamberlains Mahnrufe, daß wir unsere Schritte zurücklenkcn und den Beistand einer Steuerpolitik suchen mochten, die wir bereits versucht haben und die weder unser Gewerbsleben vor Verlusten schützte, noch unser Volk vor dem Verhungern bewahrte. Wir richten an die Arbeiter des Landes den dringenden Mahnruf, uns in einem Feldzug zu unterstützen , der den gewerbstätigen Klassen durch Steigerung der nationalen Leistungskraft heben und ihnen durch wesentliche Herabsetzung der Produktions- kosten Vorteil bringen wird. Großbritannien steht nicht vor seinem Ende ; es beugt sich unter zu schweren Lasten. Der britische Arbeiter brauchte nie Hunger zu leiden, wenn seine Arbeit nicht dazu aufgewendet würde, müßige Klassen in Luxus zu er- halten. Lasset unseren Ruf sein : Vermehrt die Arbeitervertretung im Parlament und liefert euch, nutzlose /.asten zu tragen."

Was an diesem Manifest besonders auffällt, ist die Tonart, in der in ihm die Frage der Weltkonkurrenz behandelt wird. Das Stück, das die Überschrift trägt: „Wir müssen unseren Gewerbflcili mit anderen teilen", ist in sich schon eine Ablehnung jedes chau- vinistischen Imperialismus. Die besten Seiten der alten Freihandels- doktrin, die Zurückweisung partikularistischer Interessen, die Weit- herzigkeit in der Beurteilung des Wettbewerbs und der Rechte

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Eduard Bernstein,

anderer Nationen, kommen in schöner Weise hier zum Ausdruck. Man hört aus seinen Zeilen deutlich das Motto der Cobden und Bright heraus : „Friede, Einschränkung und Reform."

Mit kräftigeren Akzenten noch, als es in diesem Manifest ge- schieht, stellt John Burns in dem Eingangs zitierten Aufsatz die Tatsache fest, daß die Tage von Englands industrieller Macht- stellung vorüber sind. Bedenkt man, daß Burns als Parlamentarier doch schließlich von Wählern abhängt, die noch stark von Vorur- teilen aller Art befangen sind, so kann man nicht umhin, den moralischen Mut zu bewundern, der diesen Volkstribunen sich folgendermaßen äußern läßt:

„Daß Britannien nicht länger die Werkstatt der Welt ist, stimmt, und es wäre Wahnsinn, zu erwarten, daß es dies noch bliebe. Es ist physisch unmöglich, daß diese Position erhalten bleibt. Es ist ebenso unwünschbar wie es unzweckmäßig wäre. Leute, die dies als Ideal aufstellen, vergegenwärtigen sich nicht, daß die Welt für einige andere Zwecke da ist, als für die Ausbeutung fremder Nationen durch britische Fabrikbesitzer und Grundherren, die Armeen von Leuten in eintönigen Arbeiten beschäftigen. Die Arbeit ist ein wichtiges, aber nicht das einzige Element des indi- viduellen und nationalen Lebens. England hat mehr als den ihm gerechterweise zukommenden Anteil an der Weltindustrie, und der Jammer ist, daß ein so großer Teil von Produkten seiner Energien für Kriegszwecke verschwendet wird, wenn er nicht im Trunk oder Glücksspiel, in Wetten und Luxus verwüstet wird. Eine Nation, die jährlich 180000000 Pfund Sterling für Spirituosen, 70000000 Pfund für den Krieg und 50000000 Pfund für Pferderennen und Wetten ausgibt, braucht nicht die Nahrungsmittel ihrer ärmeren Bevölkerung zu besteuern und den billigen Zucker des Auslandes auszuschließen, weil sie ein paar Millionen Mehreinnahmen für den Staat braucht oder den Kolonien helfen will. Hier, in den drei Abteilungen ihrer Ver- wüstungsausgaben: Trunk, Krieg, Glücksspiel liegt der ganze Betrag ihres Ausfuhrhandels mit den Kolonien und der übrigen Welt. Hier ist ein wahrer Spielraum für Ökonomie. Im Bereiche dieser angeschwollenen Zahlen liegen die Mittel für Alterspensionen, Ausdehnung des Gewerbes, Verminderung der Lasten, Vermehrung der Gesundheit, Kraft und Fähigkeit für alle Klassen des Gemein- wesens. Sicherlich muß es uns mit Beunruhigung erfüllen , wenn wir Mr. Arthur Sherwell, diesen sachkundigen Schriftsteller, feststellen

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sehen, daß im Juni 1903 in Edinburg von 405 000 Arbeitsstunden, die 4250 Arbeiter in einer typischen schottischen Industrie im Laufe zweier Wochen hätten arbeiten sollen, 100 650 Stunden oder 25 Proz. durch abwendbare Ursachen verloren gingen, und daß der größere Teil dieses Zeitverlustes Folge von Unmäßigkeit war. Nicht die Knechte unserer zollpolitischen Gestirne, unsere eigenen Knechte sind wir." (Political Dangers of Protection in Labour and Protection, p. 33, 34.)

Ähnlich wie das Manifest der Arbeitervertretungsliga sind auch die Abhandlungen der beiden Mitglieder der Unabhängigen Arbeiter- partei streng freihändlerisch gehalten, selbstverständlich ohne des- halb manchesterlich zu sein. Einen etwas anderen Ton schlägt die Schrift des Sekretärs des Sozialdemokratischen Bundes, sowie ein von diesem Bunde herausgegebenes Manifest über die zoll- politischen Debatten an. In beiden Schriftstücken wird zwar der Chamberlainsche Vorschlag abfällig besprochen, aber fast heftiger noch als dieser wird der „kapitalistische Freihandel" kritisiert; die Verwirklichung des wahren Freihandels werde erst der Sozialismus bringen. Die Arbeiter werden aufgefordert, in dem gegenwärtigen Kampfe zwischen Schutzzöllnern und Freihändlern keine Partei zu nehmen, sondern sich der Sozialdemokratie zuzuwenden.

„Aber wenn die Arbeiter recht handeln," heißt es in der Schrift von H. W. Lee, „auf jeden Vorschlag, der eine Steuer auf die Xahrungsmittelzufuhr im Interesse der Grundherren da- heim oder der kolonialen Fabrikanten jenseits des Ozeans bedeutet, mit Verdacht zu schauen, so haben sie sogar noch mehr Grund, den Scheingründen der kapitalistischen Freihändler zu mißtrauen. Mr. Balfour war durchaus richtig beschlagen, als er im Haus der Gemeinen erklärte, daß „die Position dieser Inseln heute eine völlig andere ist, als im Jahre 1846 und den darauffolgenden Jahren, und wie sie die führenden Freihändler jener Zeit voraussahen!" Wir brauchen uns nur die Äußerungen der hervorragenden Freihändler aus der Zeit der Antikornzollbewegung zu betrachten, um zu sehen, wie ihre Vorhersagen durch die späteren Ereignisse von Grund aus Lügen gestraft worden sind." Es wird dann ausgeführt, wie die Freihandelsanwälte eine Ära des Friedens und Wohlstandes, des Schwindens der Gegensätze zwischen den Nationen angekündigt hätten, wie aber kein I^and seitdem mehr Kriege geführt habe, als wie das freihändlerische England, wie dieses das einzige Frei- handelsland geblieben sei, und wie heftig Cobden und die alten

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Eduard Bernstein,

Freihändler gegen die Gewerkschaften Stellung genommen hätten. So dächten auch heute noch die Kapitalisten über die Ge- werkschaften, wenn auch viele von ihnen, besonders wo es sich um den Stimmenfang handelt, anders sprächen. Schließlich schreibt der Verfasser:

„Die Sozialdemokraten können daher in der gegenwärtigen Kontroverse keine Partei ergreifen. Die Debatte über Freihandel und Schutzzoll sind reine Schlachten zwischen den Papierdrachen und den Krähen. Gleichviel welche Seite Siegerin bleiben wird, so werden die Arbeiter von dem Ergebnis keinen Vorteil haben. Ihre ökonomische Lage als Lohnsklaven der kapitalistischen Klasse wird ungeändert bleiben. Die Zollvereinsvorschläge enthalten je- doch mehr als die Idee, unsere Zollpolitik zu ändern. Hinter ihnen lauert die Großmannssucht des Imperialismus. Wir sollen das Band mit unseren Kolonien nicht nur für Handclszwecke enger knüpfen, sondern, wenn nötig, Schulter an Schulter „gegen die ganze Welt" zusammenstehen. Es ist diese Seite des Zollvereins, die wir mit Wucht zur selben Zeit bekämpfen müssen, wo wir die Redensarten der Freihändler bloßstellen. Wenn, wie dies möglich ist, der Zollschutz in einer gemäßigten Gestalt nicht zu umgehen ist, so wollen wir zusehen, daß die Interessen der Arbeiter, soweit dies in unserer Macht liegt, dadurch gewahrt werden, daß wir sie nach besten Kräften dazu erziehen, die Bedeutung der Zolltarif- jongliererei für sie nach ihrem wahren Wert abzuschätzen" (S. 10 u. S. 14).

Ähnlich, nur schärfer im Ton, äußert sich das Manifest des Sozialdemokratischen Bundes. Verschiedene Wendungen darin lassen mit ziemlicher Sicherheit darauf schließen , daß es den geistigen Leiter des Bundes, Mr. H. M. Hyndman , zum Verfasser hat. Hyndman hat sich aber in früheren Jahren häufig selbst im Organ des Bundes für Einführung gewisser Kampf- oder Kompen- sationszölle ausgesprochen. Nur wenn er inzwischen von dieser Ansicht abgekommen wäre, könnte man von ihm eine unbedingte Verwerfung der Chamberlainschen Vorschläge erwarten. Sie ist aber so wenig in dem Manifest zu finden, wie in der Broschüre seines, um den Sozialdemokratischen Bund höchst verdienten Schülers und Kollegen Lee. Die Richtigkeit der Chamberlainschen Zahlen wird als zweifelhaft hingestellt und über die Winzigkeit des Vor- teils gespottet, den für die Arbeiter Chamberlains Vorschlag be- deute, als Ausgleich für die einzuführenden Zölle auf Weizen und

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Die britischen Arbeiter und der zollpolitische Imperialismus. 121

andere Erzeugnisse der Landwirtschaft die bestehenden Finanz- steuern auf Tee, Zucker etc. zu ermäßigen. Auch wird darauf hingewiesen, daß Schutzzölle für die Erzeugnisse gewisser Industrien anderen Industrien von Nachteil sein können. Aber über diese Anzweiflung des Nutzens der spezifischen Schutzzollvorschläge Chamberlains geht das Manifest nicht hinaus. Auf der anderen Seite schreibt es bezüglich des Freihandels:

„Aber, Mitbürger, wenngleich wir euch crmahnen, euch nicht von schutz- /öllnerischen Vorschlägen irreführen zu lassen, die nur das notwendige ökonomische Scitenstück des politischen Jingoismus und Imperialismus sind, fordern wir euch auch auf, euch nicht von kapitalistischen Freihändlern beschwatzen zu lassen. Sie sind, wie die Schutzzöllner, ein Flügel der Kapitalistenklasse und daher eure Feinde. Erinnert euch, daß es Sir Henry Campbcll-Bannerman, Freihändler und Führer der liberalen Partei, ist, der erklärt hat, daß auf diesen Inseln zwölf Millionen Leute an der

Grenze des Verhungern s

stehen. Stimmt daher ein Juchhe an über die Segnungen des Freihandels ! Erinnert euch auch, daß unser „wunderbarer Wohlstand", von dem die Freihändler so wohl- gefällig schwatzen, nur aufgetischt worden ist, um ihn ihren zollpolitischen Gegnern entgegenzuhalten. Bevor die Möglichkeit eines Übergangs vom Freihandel zum Zollschutz zur Debatte stand, haben diejenigen, die jetzt über unsere wundervollen Handelszahlen entzückt sind, davon gesprochen, daß wir infolge der Politik der Regierung überall schlecht fahren. Die Berichte des Gcwcrbeamts, die von euren Lohnsätzen und Arbeitsbedingungen in den letzten Jahren handeln, zeigen, daß ihr wenigstens nicht viel von diesem wundervollen Wohlstand abbekommen habt. Er- innert euch ferner, daß die klassischen Freihändler zu euren schlimmsten Feinden gehörten. So auch ihre heutigen Schüler. Jene waren logischerweise Gegner jeder Gewerkschaftsverbindung oder Schutzgesetzgebung, die eurem Interesse galt, weil sie jene individuelle Freiheit des Kontrakts beschränkte, die für sie die Möglichkeit be- deutete, eure Arbeitskraft wie jede andere Ware so billig zu kaufen, wie sie sie nur irgend bekommen konnten. Für jene Schule ist der Konsument alles

der Produzent nichts.

Eine sehr bequeme und angenehme Theorie für die Reichen und Wohlhabenden, die nahezu alles konsumieren und nichts produzieren ! Aber ihr, die ihr alles produziert und nur einen kleinen Teil des von euch produzierten Reichtums konsu- miert — paßt es euch, nur als ^Konsumenten betrachtet zu werden?

Mitbürger, seid vor beiden Formen des zollpolitischen Schwindels auf der Hut."

Wenn in diesen beiden Schriftstücken die Wage mehr infolge von stärkerer Verneinung des Freihandels als infolge einer ausge- sprochenen Bejahung des Schutzzolls sich diesem zuneigt, so finden wir dagegen eine unverhohlene Parteinahme für den Schutzzoll in dem sozialistischen Wochenblatt The Clarion", das der Schrift -

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Eduard Hernstein,

steller Robert Blatchford herausgibt und das eine starke Verbreitung in ganz England besitzt. Blatchford, dessen in mehr als einer Million Exemplaren verbreitete sozialistische Propagandaschrift „Merry England" auch in deutscher Sprache erschienen ist, hat seine Stellung in den drei Nummern des „Clarion" vom 9., n. und 30. Oktober 1903 dargelegt. Natürlich fordert auch er die Arbeiter auf, weder Freihändler noch Schutzzöllner sondern Sozialisten zu wählen, und ebenso erklärt er die Besteuerung der Rente, die Er- höhung der Einkommensteuer, die Nationalisierung und Kommu- nalisierung verschiedener Produktionszweige und eine Reihe ähn- licher Maßregeln für notwendiger und dem Volke viel nützlicher, als es der Schutzzoll sei. Aber er behandelt das Problem des letz- teren in einer Weise, die dem Arbeiter, der zwischen Freihandel und Schutzzoll zu entscheiden hat, sagt: wenn die Wahl getroffen werden muß, so greife zum Schutzzoll. Sein Ausgangspunkt ist dabei ebenfalls die Gegenüberstellung von Konsumenten- und Pro- duzenteninteresse. Da die Arbeiter alle mehr Produzenten als Konsumenten, die besitzenden Klassen aber überwiegend Nicht- produzenten sind, so müsse eine Zollpolitik, die die Konsumenten zugunsten der Produzenten belastet, notwendigerweise vorteilhafter für die Arbeiter sein.

Es wird dies in der Nummer vom 16. Oktober an einem Bei- spiel erörtert, das stark an Bastiats bekannte Fibeln erinnert. Hutmacher Smith und Schuhmacher Jones verkaufen gegenseitig aneinander Hut und Schuhe. Eine Preissteigerung dieser Waren um den gleichen Prozentsatz läßt Smith und Jones stets ebenso daran, wie sie vorher waren. Aber nun kommt ein Lord Blank mit Frau , zwei Söhnen und zwölf Personen Bedienung hinzu , die sämtlich ebenfalls Hüte und Schuhe brauchen. Steigen jetzt die Preise beider Produkte, so hat zwar Smith für seine Schuhe und Jones für seinen Hut so und so viel Prozente mehr zu zahlen als vorher, aber jeder von ihnen verdient von Lord Blank das 16 fache, hat also einen Nettogewinn von 1 5 mal mehr als der Preis- aufschlag.

„Nimm nun an," fährt die Deduktion fort, ,,dcr Nichtproduzcnt sei ein Grund- herr. Er produziert nichts, aber erhebt Bodenrente. Er kann jedoch seine Boden- rente nicht erhöhen, weil sein Pächter nicht in der Lage ist, mehr Pacht zu zahlen. Aber er kann billige Hüte und Schuhe von Amerika oder Deutschland kaufen. Natürlich kann er das. Dies der Vorteil des Freihandels für den Konsumenten. Würde nun eine Steuer auf im Ausland verfertigte Hüte und Schuhe gelegt, so

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würde Lord Plank den englischen Preis zu zahlen haben. Dies scheint mir darauf hinzudeuten, daß gewisse Arten von Zollschutz fUr den Produzenten von Vorteil sein mögen. Und der Produzent ist der Arbeiter." „Natürlich," geht es weiter, , «würden in allen Fällen des Zollschutzes die nichtproduzierenden Konsumenten BLmk u. Co. alles aufbieten, auf ihren alten Modus zu kommen. Aber der Produzent würde notwendigerweise der Stärkere sein, und ich glaube, daß dies hauptsächlich der Grund ist, warum der amerikanische Arbeiter besser daran ist, wie der englische Arbeiter. Er bat mehr zu zahlen, aber er wird höher bezahlt, und die Rilanz ist zu seinen Gunsten. Das Gewerkschaftswesen heißt Schutz. Es ist Schutz der Arbeit, Arbeit aber ist alles, was der Arbeiter zu verkaufen hat, so daß das Gewerkschafts- wesen der Schutz seiner einzigen Ware ist."

..Wenn der deutsche Arbeiter um niedrigeren Lohn arbeitet, als der Engländer, und die deutschen Erzeugnisse in England verkauft werden, ist es nicht genau das- selbe , als wenn der Deutsche nach England käme und in Kattenbuden ') zu niedrigeren als die Gewerkschaftslöhne arbeitete? Kommerziell gesprochen, liegt es im Interesse des britischen Arbeiters, den Nichtproduzenten aufs Eis zu setzen. Die Nichtproduzenten nehmen mehr als die Hälfte des von den Produzenten er- zeugten Reichtums vorweg. Je höher die Preise der Waren, die der Produzent ver- kauft, um so weniger bekommt der Nichtproduzent und um so mehr bekommt der Produzent. Natürlich wird das Problem durch den Umstand sehr verwickelt, daß viele britische Produzenten ihre Produkte auf ausländischen Märkten veräußern. Und die Manchcstcrschule behauptet, daß unsere Hoffnung in diesem Auslandshandel liegt. Aber die Hoffnung der Arbeiter scheint mir ganz und gar nicht im Auslands- bandcl zu liegen. Sic liegt in der Verhinderung der Tatsache, daß jährlich etliche 600 Millionen Pfund Sterling von Personen angeeignet werden, die nicht arbeiten."

Der Verfasser veranschaulicht dies an dem Bilde eines Lancashirer Webers, der wegen schlechten Geschäftsgangs auf Halbzeit gesetzt ist, während der Landarbeiter Williams sich selbst, Frau und Kinder nicht genügend kleiden kann, weil die an Lord Blank zu zahlende Pacht zu hoch ist. Der Weber würde mehr Arbeit haben , wenn das Geld, das Lord Blank in ausländischen Hotels ausgibt, an den Landarbeiter ginge. „Unsere Arbeiter haben so wenig für andere Arbeiter auszugeben, weil sie so viel an Müßiggänger zu zahlen haben. Gebt den Arbeitern , was sie produzieren, was sie ver- dienen — und sie würden bald von fremden Märkten unab- hängig sein" . . .

So Blatchford. Man erinnert sich vielleicht, wie Rodbertus ein Bastiatisches Beispiel von ähnlicher Simplizität wie das obige vom Hutmacher und Schuhmacher mit dem Hinweis darauf zer-

') Technischer Ausdruck für Werkstätten, die von Nichtgewcrkschaftlcrn be- setzt sind.

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Eduard Bernstein,

trümmerte, daß heute nicht der Arbeiter das Produkt austauscht, sondern der Fabrikant, der dem Arbeiter bloß einen Lohn zahlt. Derselbe Einwand ist Blatchford, wie er im „Clarion" vom 30. Ok- tober schreibt, von Lesern aus der Arbeiterklasse vorgehalten worden. Er sucht ihnen damit zu begegnen, daß er erklärt, aller- dings habe der Fabrikant zunächst die größere Einnahme, aber der Arbeiter habe doch mehr Arbeitsgelegenheit, infolgedessen weniger Lohnverlust und die Möglichkeit, sich Lohnerhöhung zu erkämpfen. Bei alledem werde freilich der Löwenanteil dem Fabrikanten und der kapitalistischen Klasse verbleiben. Aber dagegen helfen nur die von den Sozialisten verfochtenen Maßnahmen, bei denen es sich um die Rettung von viel größeren Beträgen für die Arbeiter handle, als ihnen die von Chamberlain versprochene Ausdehnung des Handelsverkehrs mit den Kolonien bringen könne. Das wird dann in recht geschickter Darstellung näher ausgeführt, die wir hier übergehen müssen.

Wie geschickt der Beweis aber auch geführt wird, und wie eindrucksvoll dem englischen Arbeiter auch in den Flugschriften des Sozialdemokratischen Bundes vorgehalten wird, daß mit Ver- wirklichung des Sozialismus die Frage von Freihandel und Schutz- zoll durch Herstellung eines wahrhaft freien Güteraustausches zwischen den Nationen erst ihre befriedigende Lösung finden werde, so helfen diese Hinweise ihm nicht über die Notwendigkeit hinweg, zu der Frage, wie sie zurzeit konkret vorliegt, Stellung zu nehmen. Bei ihm ruht das Schwergewicht der Bestimmung darüber, wie die Frage, die Chamberlain der Nation unterbreitet hat, entschieden werden soll. Denn wenn England auch nicht das allgemeine Wahl- recht hat, so bilden doch die Arbeiter heute die übergroße Mehr- heit seiner Wählerschaft. Chamberlain selbst hat in seinen Reden sich wiederholt direkt an die Arbeiterklasse gewendet, von den Flugblättern, die seine Ideen propagieren, richten sich ein großer Teil an die Adresse der Arbeiter, dasselbe gilt von den Flug- blättern der verschiedenen bürgerlichen Organisationen, die für Festhalten am Freihandel kämpfen: den Cobdcnklub, die liberale Partei, die unionistische Liga für freie Nahrungsmittelzufuhr. Der Arbeiter kann sich dieser Bewegung gegenüber nicht die Ohren mit Watte verstopfen und sagen: „Nichts von alledem, ich will den Sozialismus." Wieviel Vertreter seiner Klasse er bei der nächsten allgemeinen Wahl auch ins Parlament entsenden mag, sie werden i^enau ebenso sich darüber schlüssig zu machen haben, ob es beim

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I25

Freihandel verbleiben oder irgend welche Schutzzollpolitik aufge- nommen werden soll, wie es das kleine Häuflein von Arbeiterabge- ordneten getan hat, die jetzt im Parlament sitzen. Vergleichen wir unter diesem Gesichtspunkt die vorgeführten Stimmen über die handelspolitische Frage, so kann es keinem Zweifel unterliegen, daß der Arbeiter, der die Argumentierung des „Clarion" für zu- treffend erachtet, gegebenenfalls für Chamberlains Zollpläne eintreten würde, genau so wie derjenige Arbeiter sie bekämpfen wird, der sich die Argumente des Arbeitervertretungskomitees und der mit ihm verkündeten Vereine zu eigen macht. Fraglich könnte nur die Haltung der im Gefolge des Sozialdemokratischen Bundes mar- schierenden Arbeiter sein.

Der Sozialdemokratische Bund vertritt in der heutigen soziali- stischen Bewegung Englands die marxistische Lehre, oder er meint sie zu vertreten, denn in der Praxis hatte sein Marxismus häufig einen Stich ins Sektiererische. Sonst wäre es unbegreiflich, wie er zu einer so brennenden Frage des politischen Lebens Englands nichts Triftigeres zu sagen fand, als die zitierten und andere, die gleiche Argumentation atmenden Sätze. Die Masse der heutigen bürgerlichen Freihändler Englands denken in vielen Punkten weit weniger manchesterlich, als wie zu seiner Zeit Cobden. Aber selbst wenn sie in jeder Hinsicht ganz ebenso dächten, wie die alte Manchesterschule, wäre die Frage, ob heute eine freihändlerische Handelspolitik für England angemessener ist als eine schutzzöllne- rische Handelspolitik dadurch selbstverständlich in keiner Weise präjudiziell. Über eine Signatur der Klassengegensätze und den Hinweis auf den Zukunftsstaat kommt jedoch das Manifest des Bundes nicht hinaus. Ein wissenschaftliches Kriterium dafür, welche Handelspolitik die Arbeiterklasse heute zu vertreten hat, enthält weder es noch die Leesche Broschüre. Beiden fehlt die umfassende Auffassung der Volkswirtschaft als ein Ganzes, die im Manifest des Arbeitervertreterkomitees und der Gewerkschaften zum mindesten prinzipiell vertreten ist. Der Leser dieses letzteren weiß denn auch sofort, wo seine Stellung in der Zollkontroverse zu sein hat. Wer die Grundgedanken dieses Manifests akzeptiert, wird unbedingt für Beibehaltung des Freihandels stimmen.

Nun hat das Arbeitervertretungskomitee nebst seinen Mitunter- zeichnern unverhältnismäßig viel mehr Personen hinter sich, als der Sozialdemokratische Bund und das „Clarion". Die Zahl der ein- geschriebenen Mitglieder des Sozialdemokratischen Bundes über-

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Eduard Bernstein,

steigt kaum die Ziffer 15000. Indes reicht sein Einfluß dank der außerordentlichen Rührigkeit seiner Mitglieder bedeutend weiter. Man kann das Gefolge des Vereins ruhig auf das Sechs- bis Acht- fache seiner zahlenden Mitglieder ansetzen. Hinter dem „Clarion" stehen nur eine Anzahl kleiner Propagandaklubs, aber sein Leser- kreis ist bedeutend größer als der der übrigen sozialistischen Organe ; es hat über 50000 Auflage. Da jedoch bei weitem nicht alle Leser des „Clarion" auf dessen spezifische Ansichten eingeschworen sind, sehr viele Leute das Blatt vielmehr nur lesen, weil es mit großem literarischem Talent geschrieben ist, kann sein Einfluß in der vorliegenden Frage unter keinen Umständen höher angesetzt werden als der des Sozialdemokratischen Bundes. Das machte zu- sammen gegen 200000 Personen aus. Die Organisationen, die hinter dem Manifest der Arbeitervertretungsliga stehen, umfassen aber über 1 300000 Personen, und wenn auch der politische Ein- fluß der Gewerkschaftsführer auf die Mitglieder ihrer Organisationen gewöhnlich kein so starker ist, wie der der Führer politischer Ver- bände auf die ihren, so kann man in diesem Falle doch eine leb- haftere Ideengemeinschaft zwischen Führern und Geführten voraus- setzen. Hat doch auch der Allgemeine Trade Unions-Kon- greß, der Anfang September 1903 in Leicester tagte und von 460 Deligierten beschickt war, nach längerer Debatte mit er- drückender Mehrheit nur zwei Hände erhoben sich bei der Gegenprobe folgender Resolution zugestimmt:

„Der Kongreß verurteilt entschieden den von Mr. Chambcrlain vorgeschlagenen Wechsel unserer gegenwärtigen Handelspolitik als für die besten Interessen des Volkes dieses Landes höchst unheilvoll und gefährlich; er verpflichtet sich hierdurch und legt es allen anderen Arbeiterorganisationen ans Herz, alles aufzubieten, um die Erwirkung einer solchen Veränderung zu verhindern."

Nach alledem kann es keinem Zweifel unterstchen, daß wir die Masse der organisierten Arbeiter Englands, die große Mehrheit der klassenbewußten Arbeiterschaft auf der Seite der Gegner der Reichs- zollverbandsidee zu suchen haben.

II.

Daß gerade die englischen Gewerkschaftler den Zollschutz und den Reichszollverband so entschieden ablehnen, dürfte manchen auf den ersten Blick überraschen. Eher noch wie bei den erklärten Sozialisten, von denen man eine größere theoretische Schulung er- warten kann, hätte man gerade bei ihnen eine gewisse natürliche

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Geneigtheit voraussetzen mögen, auf die Argumente der Schutz- zöllner einzugehen. Gerade dem Gewerkschaftler, wie man ihn sich gemeinhin vorstellt, hätten die Hinweise, daß zwischen dem ge- werkschaftlichen Arbeiterschutz und dem zollpolitischen Produktions- schutz eine innere Verwandtschaft bestehe, am ehesten einleuchten müssen. Und diese Hinweise, die indirekt in den Manifesten des Sozialdemokratischen Bundes und direkt in den Artikeln des „Clarion" zum Ausdruck kommen, kehren in allen Variationen auch in der Presse und den Flugschriften wieder, welche die Pläne Chamber- lains oder sonst den Schutzzoll propagieren. „Kein Gewerkschaftler," schrieb die unionistische „Pall Mall Gazette" im Oktober, „kann sich dem folgenden Dilemma entziehen : reichliche Löhne, kurze Arbeits- zeit, Fabrikinspektion und Unfallentschädigung all das meint Erhöhung der Herstellungskosten des fertigen Produktes, wenn aber freie Einfuhr die Regel und der billigste Artikel der Gewinner sein soll, so müssen die Löhne unvermeidlich auf das Niveau der Konkurrenz herunterreguliert werden." Chamberlain selbst hat sein Möglichstes aufgeboten, sein Reichszollprojekt den Arbeitern mund- gerecht zu machen. In dieser Hinsicht zeigt seine Agitation un- leugbar Züge, die sie vorteilhaft von der Agitation unterscheidet, wie sie in Deutschland seinerzeit und selbst heute noch von An- wälten der Zollerhöhungen entfaltet wird. England ist die Heimat des Cant, aber den Cant, daß das Ausland die vorgeschlagenen Getreidezölle zahlen werde, hat Chamberlain den britischen Arbeitern nicht aufgetischt. Er hat ihnen von vornherein zugegeben, daß der Weizenzoll und die übrigen Zölle auf Landwirtschaftsprodukte ihre Nahrungsmittel verteuern werden. „Wenn ihr den Kolonien einen Vorzug geben wollt," erklärte er am 28. Mai 1903 im Haus der Gemeinen, so „müßt ihr die Nahrungsmittel besteuern. Aber," setzte er, figurativ die Arbeiter anredend hinzu, „für das, was ich euch ab- verlange, will ich euch mehr zurückgeben . . . Meine Vorschläge sollen die Kosten des Lebensunterhalts des Arbeiters oder irgend einer Familie in diesem Lande auch nicht um einen Heller erhöhen." Hier die Gegenüberstellung der Belastungen in Form von Schutz- zöllen und der Entlastungen in Form von Ermäßigung der Finanz- zölle und indirekten Steuern, die Chamberlain vorschlug:

Belastungen. Entlastungen.

2 sh pro Quarter (= etwas über Ermäßigung des Teezolles um 8 Schilling pro Tonne) Zoll auf ein Viertel des jetzigen Satzes Weizen, den von den Kolonien von 6 d pro Pfund.

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12«

Eduard Hernstein,

Belastungen. Entlastungen.

kommenden Weizen a u s g e - Ermäßigung der Zuckersteuer auf

nommen. die Hälfte des jetzigen Satzes

Ein entsprechender Mehlzoll. von d pro Pfund.

5 prozentiger Einfuhrzoll auf Entsprechende Ermäßigung der

Fleisch , wieder die Kolonien Abgaben auf Kaffee und Kakao.

ausgenommen. Ermäßigung der Zollsätze für

5 prozentiger Einfuhrzoll auf Wein und Früchte von den

Milchwirtschaftsprodukte. \ Kolonien.

Außerdem sollte auf Industrieartikel, alle Rohmaterialien aus- genommen, ein Zoll von 10 Prozent des Wertes gelegt werden.

Auf Grund bekannter Arbeiterhaushalte rechnete Chamberlain aus, daß, soweit Nahrungs- und Genußmittel in Betracht kämen, der städtische Arbeiter bei diesem Plane etwa 91/» Farthings, der Landarbeiter etwa 7A/2 Farthings pro Woche noch gewinnen würden.

Man wird gestehen müssen, daß wohl kaum jemals in der Ge- schichte ein Schutzzollplan der Arbeiterwelt in bestechenderer Ge- stalt vorgelegt wurde, als dieser. Fehlte ihm doch auch nicht das Patrimonium der Enterbten. Aus den Erträgen der Zölle sollen die Mittel für die lang erstrebte Durchfuhrung allgemeiner Alters- pensionen für die arbeitende Klasse gewonnen werden. Ferner lockte die Aussicht, durch Zollnachlässe günstige Zollverträge mit anderen Ländern zu erwirken, die sich jetzt England immer mehr verschließen. Dazu der an das Gefühlsmoment appellierende Gedanke der Erwirkung eines engeren Zusammenschlusses zwischen dem Mutterland und den Kolonien kurz, alles so geeignet, den von der Weltkonkurrenz arg bedrängten englischen Arbeiter für sich einzunehmen, daß man sich wirklich nicht wundern kann, wenn selbst Sozialisten dem Plan sympathische Seiten abgewannen. Eher muß es, wie gesagt, überraschen, daß er auf so starke Gegner- schaft gerade in gewerkschaftlichen Arbeiterkreisen gestoßen ist.

Es ist ja doch unleugbar, daß Englands Industrie heute hart zu kämpfen hat.. Die Flugblätter des Bundes für Zolltarifreform Tariff Reform League führen dies in wirksamster Weise dem britischen Publikum vor Augen, indem sie den Ziffern, die den Rückgang bestimmter britischer Industrien veranschaulichen, das Wachstum der betreffenden Industrien in den Ländern mit Zoll- schutz zahlenmäßig gegenüberstellen. Allerdings bleiben ihnen die

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Freihandelsgruppen die Antwort nicht schuldig. Es wird in den Flugblättern der beiden Lager ein Kampf geführt, der einer be- sonderen Charakteristik wert wäre. Da veröffentlicht die Unio- nistische Liga für Zollfreiheit der Nahrungsmittel (Unionist Free Food League) unter dem Titel „der Professor und der Arbeiter" eine Unterhaltung zwischen einem Professor und einem Arbeiter, worin der Professor dem Arbeiter einige recht populäre Sätze über den Nutzen des Freihandels beibringt. Flugs antwortet das Birming- hamer Zolltaritkomitee mit einem Gegenflugblatte „Der Arbeiter und der Lehrassistent", worin ein junger Lehrassistent dem Arbeiter, den der Professor eben verlassen, auseinandersetzt, daß dieser zwar ein herzensguter Kerl, aber ein eingetrockneter Doktrinär sei, der die Zeichen der Zeit nicht mehr zu lesen verstehe. Ihrerseits suchen die freihändlerischen Flugblätter wiederum dem Arbeiter klar zu machen, daß bei Chamberlains Zollvorschlag der britische Konsument nicht nur nichts gewinnt, sondern noch verliert. Nicht immer ist ihre Beweisführung da die bessere. Wenn sie z. B. ihre Berechnung auf die Ziffern von Englands Gesamtkonsum stützen, so wird dabei die Tatsache verdunkelt, daß England soweit ist die Gegenüberstellung Blatchfords am Platze eine unverhältnis- mäßig zahlreiche und wachsende Klasse von Nurkonsumenten und deren Anhang zählt. Auch darin machen sich die freihändlerischen Blätter die Sache zu leicht oder gebrauchen sie Argumente, denen gegenüber die Arbeiter Grund zu einem gewissen Mißtrauen haben, wenn sie die zunehmende Einfuhr Englands kurzerhand als einen Beweis für den wachsenden Wohlstand der Nation ins Feld fuhren. Denn der Arbeiter kommt im Angesicht von alledem doch um die Frage nicht herum, ob seine Arbeitsgelegenheit zu- oder abnimmt. Wie steht es mit ihr, von der es heute abhängt, in welchem Maße der Arbeiter am nationalen Konsum Anteil nimmt?

In dieser Hinsicht bietet das vom britischen Gewerbe- und Handelsamt veröffentlichte Blaubuch über die britische und aus- ländische Industrie- und Handelsentwicklung einige sehr be- merkenswerte Zahlen dar. Das Blaubuch ist speziell im Hinblick auf die Zolldebatten zusammengestellt worden.1) Auf S. 362 fr. führt es die Bewegung der Berufstätigen von fünfzehn wichtigen

') Sein englischer Titel ist: British and Foreign Trade and Industry, Memoranda, Statistical Tables and Charts prepared in the Board of Trade. London 1903, Eyre & Spottiswoodc. 495 S. fol.

Archiv für Soiialwissen»chaft u. Sozialpolitik. I. (A. f. so*. G. u. St. XIX.) t. 9

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Eduard Bernstein,

Gewerbegruppen vor, wie sie sich in England und Wales1) zwischen 1851 und 1901 in den zehnjährigen Perioden der Volkszählungen voll- zogen hat. Auf den ersten Blick erscheinen diese Zahlen wohl ge- eignet, den Engländer nachdenklich zu stimmen.

Drei Gewerbszweige zeigen lur 1 85 1 einen ununterbrochenen Rückgang der Beschäftigungsziffer: es sind dies die Landwirtschaft, die Leinen- und die Seidenindustrie. Hier die Zahlen für das Ausgangsjahr 185 1 und die Jahre der beiden letzten Volkszählungen:

1851

1891

1901

I Landwirtschaft

1 904687

1099572

988340

Leinenindustrie

27421

8531

4956

Seidenindustrie

130723

52027

39035

Zu diesen drei Schmerzenskindern gehört eigentlich auch noch die Stickerei, bei der die entsprechenden Ziffern

61726 34949 39439

waren. Sie zeigt zwar gerade im Jahrzehnt 1891 auf 1901 wieder einen Aufschwung, doch bleibt dieser hinter dem Prozentsatz der in der gleichen Zeit vor sich gegangenen, sich auf rund 12 Proz. belaufenden Bevölkerungszunahme beträchtlich zurück, so daß hier jedenfalls ein nennenswerter relativer Rückgang vorliegt.

Eine schwankende Entwicklung zeigen die Zahlen für die Wollcnindustrie und dieSchuh-undStiefelfabrikation. Sie lauten:

Wollenindustrie 255 750 258356 236006

Schuh- und Stiefelfabrikation 243935 248789 251 143

Die Schuh- und Stiefelfabrikation gehört in diese Rubrik, weil die Zahl ihrer Beschäftigten 1861 auf 255 791 gestiegen war, dann erheblich zurückging und sich erst in den letzten Jahrzehnten wieder gehoben hat. Auch hier bleibt aber der Aufstieg von 1891 auf 1901 hinter dem Bevölkerungszuwachs relativ bedeutend zurück.

Ein Produktionszweig zeigt bis 1891 einen ununterbrochenen Aufschwung, im letzten Jahrzehnt aber einen Rückgang: die Baum- wollindustrie. Ihre Zahlen sind:

414998 605755 582 119

') Für Schottland und Irland waren die Ergebnisse der Gewcrbezählung von 1901 noch nicht vollständig ausgearbeitet.

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Die britischen Arbeiter und der zollpolitische Imperialismus. 1 3 I

In den anderen neun Produktionszweigen hat sich die Ziffer der Beschäftigten bestandig zunehmend entwickelt:

Baugewerbe

398756

701 284

945875

Kohlengewinnung ....

193 I11

519144

648944

Eisen- und Stahlindustrie . .

95350

202 406

216022

Maschinenindustrie u. Schiffbau

80528

292 239

?

139219

208720

259292

Buchdruck und Buchbinderei .

32 995

121913

M9 793

Möbelfabrikation

47958

101 345

121 531

Steingut- und Glaswaren. . .

465*4

82 760

92550

Für die Maschinen- und Schiffbauindustrie ist bei der Zählung von 1901 eine Klassifikation in Anwendung gekommen, die von der des Jahres 1891 so erheblich abweicht, daß es dem Gewerbeamt unmöglich erschien, die gewonnenen Zahlen für den Vergleich in die Tabelle einzusetzen, doch ist eine beträchtliche Zunahme außer Zweifel. Bei den anderen Industrien wurden die Unterschiede im Zahl ungs verfahren auf Grund sorgfältiger Berechnungen gebührend in Abzug gebracht.

Zieht man die Zahlen der 14 Industriegruppen zusammen, für die die Ergebnisse der Zählungen von 1891 und 1901 vollständig vorliegen, so erhält man als Gesamtziffer der Beschäftigten für 1891 4245550, für 1901 4 572 151 Personen. Bei einem Bevölkerungs- zuwachs von 12 Proz. müßte die letztere Ziffer aber 4750016 lauten. Es ist also ein relativer Rückgang der Beschäf- tigten eingetreten, der sich auf rund 178000 beläuft.

Den größten, den Prozentsatz des Bevölkerungszuwachses weit übersteigenden Zuwachs an Beschäftigten weisen das Baugewerbe und die Industrie der Kohlengewinnung auf. Das erstere, das seine Beschäftigten um über 30 Proz. steigen sah, kommt für den internationalen Handel nicht in Betracht. Es ist, unter dem Ge- sichtspunkt des Welthandels betrachtet, unproduktiv. Die Kohlen- gewinnung bedeutet Verminderung eines zurzeit noch unersetz- lichen Kapitals an Naturschätzen für Produktionszwecke, und da obendrein England immer mehr Kohle an das Ausland abgibt es exportierte 1880 für 8,37, 1890 für 19,02, 1900 aber für 38,62 Millionen Pfund Sterling Kohle so ist es zweifelhaft, ob man hier die große Zunahme der Ziffer der Beschäftigten als volkswirt- schaftlich sonderlich günstig betrachten kann. Zusammen belicf sich der Zuwachs der Beschäftigten für Baugewerbe und Kohlen- industrie auf 374 391. Der Gesamtzuwachs für die 14 Industrien

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Eduard Bernstein,

war aber nur 326601. Es stellt sich also, wenn man Kohlen- und Baugewerbe in Abzug bringt, für die restlichen !2 Industrien ins- gesamt ein Verlust von nahe 50000 heraus, das heißt ein rela- tiver und absoluter Rückgang!

Der bekannte englische Statistiker Holt Scholing, der dies auf Grund einer etwas anderen Berechnung in der „Fortnightly Review" feststellt, kommt daher zu sehr pessimistischen Schlüssen hinsicht- lich der industriellen Situation Englands und läßt seinen Artikel in einen unmißverständlichen Ruf nach Schutzzöllen auslaufen. In- des sind seine Folgerungen als sehr voreilige zu bezeichnen.

Zunächst brauchte Mr. Scholing nur die Zahlen der zweiten Abteilung des betreffenden Abschnitts des Blaubuchs näher zu betrachten, um dahinter zu kommen, daß der Rückgang oder das Zurückbleiben der Beschäftigten in den beiden großen Zweigen der englischen Textilindustrie zum größten Teil auf Abnahme der Kinderarbeit beruht. Zwischen 1891 und 1901 hat in der englischen Textilindustrie infolge verschiedener Kinderschutzgesctze eine erhebliche Einschränkung der Kinderarbeit stattgefunden, die nun in den obigen Zahlen stark zum Ausdruck kommt. Die zweite Abteilung des Abschnittes trennt die Beschäftigten nach dem Geschlecht und unterscheidet die Altersgruppen unter 20 Jahre und 20 Jahre und darüber. Sie zeigt für das letzte Jahrzehnt folgende Bewegung der beschäftigten Personen:

Baumwolle.

1891 1901

Personen unter 20 Jahren .... 242370 198872 43 49S

Personen von 20 Jahren und darüber 363385 383247 -f- 19862

Wolle und Kammgarn.

Personen unter 20 Jahren .... 96962 75 107 218;;

Personen von 20 Jahren und darüber 161394 1 60 999 395

In der Wollenindustrie ist der Rückgang der erwachsenen Ar- beiter ganz geringfügig, in der Baumwollindustrie hat ihre Zahl so- gar nicht unerheblich zugenommen. Für den Sozialpolitiker von Interesse ist dabei außerdem, daß in beiden Industrien die Zahlen der erwachsenen weiblichen Arbeiter im Verhältnis zu der der erwachsenen männlichen Arbeiter einen kleinen Rückgang aufweisen. Es bleibt zu untersuchen, ob das Fernbleiben der Kinder aus der Fabrik nicht auch die Mütter stärker an das Haus fesselt.

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Die britischen Arbeiter und der zollpolitisch c Imperialismus.

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Auch in anderen Industrien ist der Rückgang oder das relative Zurückbleiben der Beschäftigten zum größten Teil der Beschränkung der Kinderarbeit zuzuschreiben.

Ist die Gesamtzahl der beschäftigten Personen so noch kein untrüglicher Gradmesser für den Höhestand der Produktion, so gilt das gleiche von einem anderen Faktor, auf den bei Untersuchungen dieser Art gern zurückgegriffen wird: die Menge des verarbeiteten Rohmaterials. Englands Verbrauch an Rohbaumwolle und Rohwolle weist im letzten Jahrzehnt nicht unbedeutende Schwan- kungen auf. Das Jahr 1898 stellt mit 568 Millionen Pfund für Wolle, das Jahr 1899 mit 15,7 Millionen Zentner für Baumwolle den Höhepunkt des Verbrauchs, bzw. der Verarbeitung dar. Seit- dem hat ein merkbarer Rückgang eingesetzt. Der Verbrauch an Baumwolle war im Durchschnitt der drei Jahre 1900 1902 14,6 Millionen Zentner, der an Wolle 512,3 Millionen Pfund. So- weit ein Verlust von etwa 7 Proz. für Baumwolle und 10 Proz. für Wolle.

Was hier jedoch außer Betracht gelassen ist, ist die Frage der Qualität. „Es ist wahr," schreibt John Burns in einem Artikel „I^abour and Free Trade", der im Novemberheft 1903 der „Inde- pendent Review" erschien , hinsichtlich der englischen Wollenin- dustrie, „die Zahl der beschäftigten Personen und die Ausfuhr billiger Wollenstofle sind etwas zurückgegangen. Aber die Pro- duktion hat sich besonders in der Qualität wesentlich gehoben." Ähnlich mag es in der Baumwollindustrie stehen; es ist bekannt, daß England in bezug auf die Produktion der feinsten Garne noch immer seinen Konkurrenten bedeutend voran ist. Im übrigen aber sind einsichtige Engländer längst überzeugt, daß Lancashirc für ge- wisse Baumwollartikel schrittweise von seinen bisherigen Absatz- gebieten verdrängt werden wird, und daß es sich im wesentlichen nur darum handelt, diesen Entwicklungsprozeß nicht verheerender, den Verlust nicht umfassender werden zu lassen, als es die Natur der Sache unumgänglich macht.

Die englische Baumwollindustrie hat einen hohen Grad der Vervollkommnung erreicht, ihre Arbeiter sind geübter und besser bezahlt als die Baumwollarbeiter anderer Länder, die Vereinigten Staaten ausgenommen. Indes kommen doch verschiedene Länder England immer näher, so daß jedes Experiment, das seine Aus- fuhrbedingungen in Mitleidenschaft ziehen könnte, hier doppelt über- legt werden muß. Daher die entschiedene Opposition gerade der

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Eduard Bernstein,

Textilarbeiter Lancashires gegen Chamberlains Vorschlag. Keine Arbeiterkategorie Englands ist besser über die Weltmarktsbc- dingungen ihrer Industrie unterrichtet, keine weniger abgeneigt, diesen Bedingungen Rechnung zu tragen, wie die Textilarbeiter lancashires. Es sei nur an ihre Parteinahme für die Doppel- währungsagitation erinnert, sowie an ihren Widerstand gegen jedes zu radikale Vorgehen in der Beschränkung der Kinderarbeit. Hier- her gehört auch die, sich in namhaften Geldbeiträgen manifestierende Teilnahme, die sie den Bestrebungen englischer Kolonialpolitiker auf Ausbreitung der Baumwollkultur in Afrika entgegenbringen. Eine doktrinäre Gegnerschaft gegen kolonialpolitische Maßnahmen kann man bei ihnen zuletzt voraussetzen. Wenn sie also gleich ihren Fabrikanten, und gemeinsam mit diesen, sich schroff gegen den Reichszollverband erklärt haben , so ist das nur zu er- klären, daß sie sich der Gefahren eines solchen für ihre Industrie, seiner volkswirtschaftlichen Schattenseiten voll bewußt sind.

Es handelt sich bei dieser Industrie heute nahezu um eine Million Arbeiter; denn zu den eigentlichen Textilarbeitern kommen noch große Kategorien von Arbeitern in allen möglichen Neben- gewerben und Hilfsbeschäftigungen. Der jährliche Wert der Aus- fuhr Englands an Baumwollprodukten beläuft sich auf 73 Millionen Pfund Sterling. Nur für 29 Millionen gehen davon nach britischen Kolonien und Besitzungen , und nur für 2 1 Millionen Pfund Ster- ling nach denjenigen britischen Kolonien (Canada, Victoria etc.), die heute gegen England Schutzzölle erheben. Um der Ausfuhr nach diesen Kolonien willen die Gefahr heraufbeschwören, daß andere Länder als Gegenmaßregel Englands Einfuhr noch mehr erschweren als bisher, wäre in der Tat ein mehr als wagehalsiges Spiel. „Die Profite" schreibt Geo. N. Barnes in dem Artikel „Der Schutz- zoll und die englischen Stapelindustrien" von der Textilindustrie Lancashires „sind in ihrer Art niedrig; Sachkundige aus beiden Lagern (d. h. Fabrikanten und Arbeiter) versichern mir, daß sie nach den Abzügen für Abnutzungen, Steuern etc. 5 Proz. eines Kapitals von nahezu hundert Millionen Pfund nicht sehr über- steigen. Es ist daher ziemlich klar, daß hier kein Spielraum für Experimente mit jenen unerprobten zollpolitischen Projekten ist, die ein Einschrumpfen der Auslandsmärkte zur Folge haben können und eine Steigerung der Kosten der Lebenshaltung sicher zur Folge haben würden". Ein etwaiges Steigen der Geldlöhne würde „ein Sinken der Profite, eine schrittweise sich vollziehende Abnahme der

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Die britischen Arbeiter und der zollpolitische Imperialismus. 135

Industrie und eine Verminderung unserer Konkurrenzfähigkeit so- wohl auf dem heimischen Markt wie auf dem Auslandsmarkt zur Folge haben" (Labour and Protection p. 249/250). Barnes ist Gewerkschaftsführer und erklärter Sozialist. Es ist unter diesen Umständen interessant zu sehen, wie er einen gewissen Profitsatz als eine der Bedingungen für den Fortbestand der Industrie aufzählt.

An einer anderen Stelle seines Artikels behandelt Burnes unter der Sammelrubrik der Eisen- und Stahlindustrien auch seine Spczial- Ljewerbe, die Maschinenbauindustrie. Er hebt die Tatsache hervor, daß der Wert von Englands Ausfuhr an Maschinen und Maschinen- teilen von 10 Millionen Pfund Sterling im Jahre 1880 auf 19 Millionen im Jahre 1900 gestiegen sei, und schätzt die Zahl der im Maschinen- und Schiffbau beschäftigten Arbeiter auf „mindestens 600000 bis 700 000". Danach müßten wir in die obige Ziffer für die Zu- nahme der Arbeiterschaft von 1891 bis 1901 noch ein Plus von etlichen hunderttausend Arbeitern einsetzen, womit der scheinbare relative Fehlbetrag in der Gesamtzahl der beschäftigten Arbeiter beglichen, wenn nicht in einen Überschuß verwandelt wäre.

Indes geben die fünfzehn Industriegruppen immer nur ein Teilbild der industriellen Entwicklung Englands, das durch die un- zähligen kleinen und mittleren Verarbeitungsgewerbe, die hier nicht berücksichtigt wurden, vollständig verändert werden kann. Den ruinierten Industrien, von denen die Schutzzollflugblätter erzählen, mögen emporgekommene Industrien mit weit mehr Arbeitern gegenüberstehen, und ehe darüber keine erschöpfenden Zahlen vor- liegen, sind alle Bemerkungen über Englands industriellen Rück- gang rein konjektureil. Eines der bezeichnendsten Merkmale des modernen Industrialismus sind die fortgesetzten Verschiebungen der Produktionsabteilungen. Alte Produktionszweige verschwinden, ganz neue kommen auf. Die Elektrizitätsgewerbe, hinsichtlich deren England u. a. infolge seiner mangelhaften Patentgesetzgebung lange Zeit im Rückstand war, haben in den letzten Jahren einen großen Aufschwung genommen und sicher mehr Arbeiter absorbiert, als etwa durch den Rückgang der Handschuhfabrikation außer Arbeit gekommen sind. Solcher Beispiele ließen sich noch viele anführen.

Es würde den Rahmen dieses Artikels überschreiten, wollten wir an der Hand der tatsächlich zurückgegangenen Industrien Eng- lands den Ursachen ihres Rückganges eingehender erörtern. Es ist allgemein zugegeben, daß in sehr vielen Fällen der Konservatismus

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F.duard Bernstein,

der Unternehmer den Rückgang verursacht hat, in Einzelfällen mag auch eine falsche Gewerkschaftspolitik dazu beigetragen haben. Daß in dieser Hinsicht gemachte Fehler wieder gut gemacht werden können, lehrt die Geschichte der englischen Schuhwarenfabrikation. Das gleiche versichert ein Artikel des englischen Hüttenbesitzers Mr. Hugh Bell im Oktoberheft 1903 der „Independent Review'4 an der Hand der Geschichte der englischen Stahl- undEisenindustrie. Der genannte Großindustrielle, der es wie wenige verstanden hat, sich mit den organisierten Arbeitern seiner Industrie gut zu stellen, weist den schutzzöllnerischen Segen weit von sich ab. Nachdem er geschildert hat, wie seine Industrie oft am Boden gelegen, sich aber immer wieder erholt hat, und jetzt stärker dasteht als je, erklärt er es für den größten Hohn, ihr als Waffe gegen eine Einfuhr von „bloß" 15 Millionen Pfund Sterling im Wert einen Schutzzoll dar- zubieten. „Ruft das Gewerbe nach solchen Heilmitteln, dann ist es besser, den Kampf von vornherein aufzugeben. Dann mögen die Hochöfen erkalten, die Gruben verfallen, die Arbeiter in besser ge- deihende Iündcr auswandern und mag die freundliche Natur mit einem Tuch von gefälligem Grün die unschönen Schlacken häufen be- decken, die jetzt Zeugnis vom Leben einer großen Industrie ablegen."

Stellen wir dieser Unternehmerstimme eine Arbeiterstimme gegenüber : „Wir wissen nur zu wohl," schreibt der „Labour Leader", das Organ der unabhängigen Arbeiterpartei, in Antwort auf den weiter oben zitierten Artikel der „Pall Mall Gazette", „daß unsere Arbeitskameraden auf dem Festland unterbezahlt sind. Aber es würde weder ihnen noch uns helfen, die Gelegenheiten für den Aus- tausch der Arbeitsprodukte zu mindern. Es würde das Übel nur verschlimmern." Und der Sekretär des Arbeitervertretungsbundes, J. Ramsey Macdonald, Parlamentskandidat der Arbeiterpartei für Leicester, dem Sitz einer der notleidenden Industrien (Stickerei), erklärt in seiner Schrift „The Zollverein and British Industry", durch Schutzzölle könne man bestenfalls einige wenige verkommende Industrien auf Kosten gedeihender Industrien künstlich wieder be- leben und erhalten. „Es würde genau so sein, als wollten wir ge- flissentlich die Zahl der Millionäre in unserer Mitte vermehren, um die Nachfrage nach Lakaien, Dienstpersonal und Gärtnern zu steigern, und uns einbilden, damit das Gewerbe zu beleben. Für ein oder zwei Jahre würde die Beschäftigungsziffcr möglicherweise befriedigend lauten, aber die industrielle Lage des Landes würde in Wirklichkeit dadurch geschwächt werden" (S. 118).

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Die britischen Arbeiter und der zoll politische Imperialismus.

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Die Schrift Macdonalds legt die Schwierigkeiten und Verkehrt- heiten des Reichszollvereinplans in ausgezeichneter Weise bloß. Man kann es verstehen, wie die Idee dieses Plans im Laufe der Jahre aufkommen und sich ausbreiten konnte. Die schutzzöllnerische Reaktion auf dem Festland Europas und in den Vereinigten Staaten, die wachsende Konkurrenz der dort emporblühenden Industrien, die oft unberechtigten Feindseligkeiten, denen England gerade auf seiten derjenigen Länder begegnen mußte, denen es den besten Markt darbietet, dies und ein gewisser sentimentaler Chauvinismus haben viel dazu beigetragen, die oft schon erörterte, aber immer wieder fallen gelassene Idee des zollpolitischen Zusammenschlusses der englischen Kolonien mit dem Mutterlande wieder zu beleben. Und ein sentimentales Ereignis, das 60jährige Regierungsjubiläum der Königin Viktoria, brachte plötzlich eine Maßregel, die diese Idee scheinbar der endlichen Verwirklichung näher führen mußte : die Herabsetzung der kanadischen Einfuhrzölle für Produkte aus dem Mutterlande.

Gerade diese Maßregel hat aber mit der Zeit die Klippen deutlicher zutage treten lassen, denen der Plan gegebenenfalls das britische Kolonialreich entgegentreiben würde. Canada ist in der Tat diejenige britische Kolonie, die bei dem Plan in erster Reihe in Betracht käme. Denn die nächst volkreiche, Australien, findet für ihren Hauptausfuhrartikel, Wolle, in der ganzen Welt einen offenen Markt, und hat eine starke Schutzzollpartei, der dort die sehr ein- flußreiche Arbeiterschaft, soweit Industriezölle in Betracht kommen, energisch 'zur Seite steht. Selbst wenn es zustande käme, würde ein Zollbündnis Englands mit Australien nur eine sehr prekäre Exi- stenz führen. Ihm fehlt auf der Seite Australiens die Grundlage eines starken materiellen Interesses an einer weiteren Öffnung der Tore für englische Industrieprodukte. Aber auch das Interesse Canadas an einem Zollbündnis mit England ist mehr als zweifel- hafter Natur. Canada hat nicht minder seine rührige Schutzzoll- partei, die schon wiederholt am Ruder war und jederzeit wieder ans Ruder kommen kann. Außerdem gravitieren starke Teile seiner Bevölkerung mehr nach den benachbarten Vereinigten Staaten, wie nach England hin ein Verhältnis, das sich immer mehr steigern wird, je weniger England in der I^ge ist, Canada mit Einwanderern zu versorgen, und je mehr wie in den letzten Jahren die Einwanderung von den Vereinigten Staaten nach Canada zunimmt. Der Personenverkehr Canadas mit den Vereinigten Staaten ist ein

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Kd uard Bernstein,

viel lebhafterer als der mit England, und der Güterverkehr mit den ersteren hat im letzten Geschäftsjahr (1902/ 1903) ebenfalls den mit England überstiegen : er belief sich auf 206 Millionen, der mit Eng- land nur auf 184 Millionen Dollars. Ein canadisch-englisches Zoll- bündnis müßte daher, wenn es überhaupt eine wirtschaftspolitische Bedeutung haben sollte, seine Spitze vornehmlich gegen die Ver- einigten Staaten richten, die landwirtschaftlich Canadas, industriell immer mehr Englands Konkurrenten sind. Es ist nicht anzunehmen, daß die Vereinigten Staaten dies ruhig mitansehen würden, Zoll- konflikte würden sich einstellen, deren Ergebnis sehr wahrscheinlich eine intensive Stärkung der Agitation für den Anschluß Canadas an die Vereinigten Staaten sein würde. Wenn von dieser Agitation jetzt nicht viel zu spüren ist, so gerade deshalb, weil Canada heute politisch wie zollpolitisch vollständiges Selbstbestimmungs- recht genießt, vom Mutterlande mehr empfangt, als es ihm gibt. In einen Zollbund eingetreten, würde es auch in die unausbleiblichen Zollkämpfe dieses Bundes hineingerissen werden. Endlose Reibungen, heftige Agitationen der dabei geschädigten Kreise und ohne Schädigung von Interessen geht es bei Zollkämpfen nicht ab wären die unvermeidliche Folge.

Mit diesem Zukunftsbild vor Augen, von der Erkenntnis durch- drungen, daß die Schutzzöllnerei niemals da stehen bleibt, wo sie anfängt, sondern daß es bei ihr auch heißt: mit dem Kleinen fängt man an, mit dem Großen hört man auf, haben die erfahrensten Elemente der englischen Arbeiterbewegung dem zollpolitischen Im- perialismus den Krieg erklärt. Sie sind sich der Tatsache wohl be- wußt, daß der Freihandel seine großen Probleme hat, daß er Eng- land heute vor Schwierigkeiten stellt, die es in früheren Jahrzehnten nicht entfernt gekannt, noch geahnt hat. Aber sie wissen auch, daß der Schutzzoll diese Schwierigkeiten nicht vermindern, sondern vermehren würde. Unter einem Gesichtspunkt könnte selbst der Verfechter des Prinzips des freien Austausches zwischen den Nationen den Sieg der Chamberlainschcn Pläne wünschen. Nämlich wenn man hoffen dürfte, daß der Übergang Englands zum Schutzzoll als Vollendung der Schutzzollreaktion auch zugleich ihr Ende einläuten, daß in dem Moment, wo der letzte bisher freihändlerische Groß- staat in den Ring der Schutzzolländer eintritt, dieser Ring von innen heraus zum Platzen gebracht, das System an seinen eigenen Übertreibungen zugrunde gehen werde. Indes ist die Spekulation, die von der Steigerung des Verkehrten den Sieg des Richtigen er-

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Die britischen Arbeiter und der zollpolitischc Imperialismus.

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hofft, schon häufig bitter enttäuscht worden. Wenn England uner- schüttert das Prinzip des freien Verkehrs aufrecht erhält, und wenn es sich zeigt, daß gerade die Blüte seiner industriellen Arbeiter- schaft es ist, die es darin stützt, so kann das auf die übrige Welt seine erzieherische Wirkung nicht verfehlen. England hat der Welt im letzten Jahrzehnt mancherlei Enttäuschungen bereitet. Aber wenn es in den Tagen, da die Manie der Wettbauten von Zoll- schranken grassiert, der Verlockung widersteht, nun auch seiner- seits mit dem Bau von Zollmauern zu beginnen, wird man ihm manches verzeihen können. Selbst die Advokaten des Zollschutzes bestreiten, soweit sie ökonomisch denken, diesem den Titel eines bloßen pis aller nicht. Um so wünschenswerter, daß der Gegen- wart das Beispiel des Besseren erhalten bleibt, dem die Zukunft gehört. Und um so erhebender, wenn für die Erhaltung dieses Bei- spiels gerade die Klasse eintritt, die in den ihr von der Geschichte anferlegten Bedürfnissen und Strebungen die Zukunft der Mensch- heit vertritt. ')

') Nachdem das Vorstehende in Druck gegangen, ist auch ein Penny-Traktat de* Vereins der Fabianer über die zollpolitischc Frage erschienen: „Fabianism and tht Fiscal question. An alternative Poliey." Es ist reich an guten Bemerkungen über den Freihandel und den Schutzzoll, nimmt aber, wie das Manifest des Sozial- demokratischen Hundes, keine sehr entschiedene Stellung zur Streitfrage selbst, son- dern entwickelt nur ein Programm ökonomischer etc. Reformen, das nach Ansicht der Verfasser ein Aufgeben der jetzigen Freihandclspolitik Englands entbehrlich machen würde.

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HO

Die irische Agrarfrage.

I. Das heutige Irland. Von

Dr. M. J. BONN,

Krankfurt a. M.

L

735 Jahre sind heute seit dem Beginn der englischen Koloni- sationstätigkeit in Irland verflossen. Während die englische Kolo- nisationspolitik im großen ganzen in allen Erdteilen erfolgreich ge- wesen ist, weiß jeder Zeitungsleser, daß Irland auch heute noch nicht mit ihren Ergebnissen zufrieden ist. Mit Ausnahme der nordöstlichen Teile Ulsters hat sich Irland immer noch nicht mit der englischen Herrschaft ausgesöhnt. Ulster ist im wesentlichen Kolonistenland. Wenn man, was in gewissem Sinne berechtigt ist, annimmt, daß die Kolonistenbevölkerung der protestantischen Religion, die Eingeborenenbevölkerung der katholischen angehört, so zeigt sich in Ulster ein leises Überwiegen des Protestantismus und damit des Kolonistenelements, indem dort auf IOOO Einwohner nur 442 Katholiken kommen. Das protestantische Ulster ist im großen ganzen von dem Irland des irischen Problems getrennt zu betrachten. Mit seiner nüchternen, harten, arbeitsamen Bevölkerung, die vor allem nach Belfast gravitiert, ist es ein I^ind von moderner industrieller und sozialer Struktur. Es wird mit seinem intensiven Wirtschaftsleben, das es in Landwirtschaft wie in Industrie auf- weist, keinem, der es je gesehen hat, als irdisches Paradies er- scheinen; in den Hungerbergen Connaughts, wo ein Volk von Lotusessern langsam ausstirbt, weil der Lotus dort nur kümmer- lich gedeiht, ist die Annäherung an ein solches weit größer. Aber LTlstcr ist ein modernes Land mit modernen Problemen, die

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Die irische Agrarfrage.

I4I

von denen anderer westeuropäischer Länder nicht übermäßig ver- schieden sind.

Mit Ausnahme Ulsters ist Irland noch heute anti-englisch. Von 103 Abgeordneten, die es ins Reichsparlament nach London sendet, sind immer über 80 Nationalisten, die es als ihre Aufgabe betrachten, jeder englischen Regierung Schwierigkeiten zu machen, alle englischen Fragen ohne Rücksicht auf ihre innere Bedeutung nur vom Standpunkt irischer Interessen zu be- urteilen, und sich den englischen Parteien nur anzugliedern, wenn dafür greifbare Vorteile für Irland zu erlangen sind. Sie jubeln in systematischer Weise jedem Feinde zu, der England im Auslande entsteht, sie feiern den Patrotismus einer Kaffernhorde, die ein paar britische Kolonisten überfallt, sie suchen das englische Parlament von Zeit zu Zeit arbeitsunfähig zu machen und in den Augen der Welt zu diskreditieren, indem sie geschickt arrangierte Sturmszenen hervorrufen. Alle diese Dinge sind nicht so ernst, wie sie manch- mal erscheinen; denn es steckt ein guter Teil Theaterspielerei in solchen Demonstrationen. Wenn die Kaffernhorde, der Irlands Ver- treter erst kürzlich zujubelten, schließlich besiegt wird, so ist es wahrscheinlich durch Regimenter geschehen, deren Rekruten auf der grünen Insel angeworben sind. Die parlamentarischen Gewalt- szenen sind notwendig, um den unversöhnlichen Elementen der irischen Partei einen Beweis von der Lebenskraft der parlamenta- rischen Fraktion zu geben, wie um die amerikanischen Iren von Zeit zu Zeit zu neuen Geldspenden zu veranlassen. Wenn ein englischer Souverän nach Irland kommt und dabei die religiös- nationalen Vorurteile der Bevölkerung schont, kann er, trotz dem Geschrei der Unversöhnlichen, auf einen recht befriedigenden Em- pfang zählen, ohne daß damit allerdings eine Lösung der irischen Frage erfolgt wäre.

Die politischen Methoden, mit denen England seine von weißer Bevölkerung bewohnten Gebietsteile zu verwalten pflegt, sind in Ir- land nur teilweise zur Anwendung gekommen. Nicht nur, daß Irland keine eigene Legislative besitzt, auch die demokratische Lokalvcrwal- tung, die allein eine Teilnahme der Bevölkerung verbürgt, ist erst durch die Parlamentsakte von 1898 eingeführt worden. Dabei ist die Rolle, die die Zentralverwaltung in Irland spielt sie ist in Dublin Castle ansässig und wird daher als „The Castle" bezeichnet unendlich wichtiger, als dies in Schottland oder England der Fall ist. Die Kosten für Justiz, Polizei, innere Verwaltung betrugen :

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I42

M. J. H o n n ,

in England und Wales mit 30 Mill. Kinwohncrn:

1,4 Millionen £.

in Schottland mit 4,1 Mill. Einwohnern:

0,219 Millionen £.

4,6 Mill. Einwohnern: 2,025 Millionen £. l)

in Irland mit

Die Verwaltung Irlands liegt zum großen Teil in den Händen der Royal Irish Constabulary, einer vorzüglich organisierten kleinen Armee, die der Zentralverwaltung untersteht. Der Mannschafts- bestand der Royal Irish Constabulary betrug im Durchschnitt der Jahre 1876 bis 1895 ca. I2 0OO Mann, die Kosten waren 1,4 Mil- lionen £. *) Stärke und Organisation dieser Constabulary, wie auch die Kostspieligkeit der irischen Verwaltung beweisen, daß die englische Regierung in Irland das Gefühl völliger Sicherheit nicht kennt. Sie regiert durch die Polizei und macht sich sonst eigentlich nur durch reisende Inspektoren der verschiedenen Departements bemerklich. Eine Anzahl der traditionellen englischen Institutionen funktioniert nicht eben glänzend. Der Richter, dessen Unparteilichkeit in Eng- land über jeden Zweifel erhaben ist, wird in Irland meist aus den politischen Anhängern der Regierung ernannt und genießt selten ob mit Recht oder Unrecht, will ich nicht entscheiden den Ruf strenger Unparteilichkeit. Dafür machen sich die Geschworenen, die aus der Bevölkerung gewählt werden, beinahe systematisch ein Ver- gnügen daraus, politische oder scheinbar politische Verbrecher, die zweifellos schuldig sind, frei zu sprechen, wodurch die Regierung oft veranlaßt wurde, die Zusammensetzung der Geschworenengerichte zu beeinflussen. Eine Anzahl Verbrechen, die den zivilisierten Staaten West-Europas so gut wie unbekannt sind, finden in Irland in jedem Jahre statt. Es sind dies Agrarverbrechen , die von Drohbriefen und Einschüchterung, von grausamen Viehverstümmelungen und Brandstiftungen, bis zu Boykottierungen und Mordtaten von geradezu bestialischer Wildheit rangieren. Solcher Verbrechen gab es in den Jahren 1844 bis 1890 nicht weniger als 35 534- 1894 waren es 276, 1893 261, 1902 253.*) Die Gefahr einer planmäßigen irischen Re- volution, die dann einmal stattfinden soll, wenn England in politi- schen Verwickelungen begriffen ist, darf man sehr gering anschlagen. Der Transvaalkrieg schien die von irischen Patrioten so oft und heiß ersehnte Gelegenheit endlich zu bringen; daß sie nicht benutzt werden würde, mußte jedem von vornherein klar sein, da der

') Financial Relation Commission I., p. 413. a) Financial Relations IL, 237. *) Thoms OfTficial dircetnry.

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Die irische Agrarfrage.

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Abstand zwischen Wort und Tat in Irland größer zu sein pflegt, als in weniger interessanten Ländern. Dagegen sind vereinzelte Ausbrüche nie unmöglich, obwohl die letzten Jahre ruhig ver- laufen sind. In allen irischen Städten findet sich ein gewisser Bodensatz unversöhnlicher nationalistischer Revolutionäre, denen Dy- namit im Dienste der Nationalitätsidee angebracht erscheinen mag. Eine gewisse Neigung zu Ungesetzlichkeiten, eben weil sie Unge- setzlichkeiten sind, lebt im irischen Volke und zeigt deutlich den politischen Mißerfolg, den England in Irland erzielt hat und den vielleicht nichts besser illustriert, als die Tatsache, daß England nicht den Mut gehabt hat, die englische Milizverfassung nach Ir- land zu übertragen. Es hieße eine Geschichte der englischen Ko- lonisation in Irland schreiben, wenn ich die Frage hier aufwerfen wollte, warum die englische Kolonisation in Irland kein Erfolg gewesen ist. Daß dies der Fall war, spricht sich auch in anderen Tatsachen aus.

Während der Kolonisationsepoche war es eines der Hauptziele Englands gewesen, Irland dem Protestantismus zu gewinnen. Ein Blick auf die Statistik beweist, wie erfolglos dieses Beginnen ge- wesen ist. Die irische Bevölkerung beträgt heute 4458775. Den verschiedenen nicht-katholischen Religionen, wie der anglikanischen Hochkirche, den Presbyterianern, den Methodisten usw. gehören da- von 11 50 114 an. 3308661 sind Katholiken, was einem Satz von 74,21 Proz. entspricht. Seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts hat sich das Verhältnis zwischen Katholiken und Nichtkatholiken etwas zugunsten der letzteren verschoben. Die Katholiken waren

der Bevölkerung. Diese langsame Abnahme ist nicht etwa durch Zunahme der anderen Konfessionen entstanden, sie erfolgte viel- mehr aus der stärkeren Abnahme der Katholiken, nicht etwa durch Konversionen, sondern durch Abwanderung. Die Hoffnung, daß ein namhafter Bruchteil der irischen Bevölkerung durch die Kolo- nisation dem Protestantismus gewonnen würde, ist in jeder Be- ziehung enttäuscht worden. Man kann ohne starke Übertreibung sagen, daß mit geringen Ausnahmen alle Nichtkatholiken von Kolo- nisten abstammen.

II.

1861 77,69 Proz.

1881 76,54 Proz.

74,21 Proz.

IQOl

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M. J. Bonn,

Etwas erfolgreicher ist die englische Regierung in der Ab- schaffung irischer Sitten und Gebräuche, vor allem in der Zer- störung der irischen Sprache gewesen. Es verstanden irisch :

Personen Proz. der Be- Es verstanden nur völkerung irisch: Personen

1881 949932= 18,2 64167

1891 680245 = 14,5 38 192

1901 641142^= 14,4 20953

Hier zeigt sich also ein starker Rückgang der irischen Sprache. In den letzten Jahren hat unter der Führung der „Gaelischen Liga" eine Bewegung begonnen, die sich die Wiederbelebung altkeltischer Sitten und Gebräuche, vor allem von Sprache und Litteratur zur Aufgabe macht. Die englische Regierung hat derselben keinen Widerstand geleistet, sogar den Gaelischen Unterricht in den Schulen geduldet. Sie hat wohl eingesehen, daß eine äußerliche Assimilierung einer fremdstammlichen Bevölkerung ohne großen Wert ist und daß, solange der Ire sich staatlich nicht mit dem britischen Reiche verwachsen fühlt, der Gebrauch der englischen Sprache keine Ga- rantie gibt. Der Imperialismus, wie er von Englands besten Geistern aufgefaßt wird, entspricht diesem Vorgehen. Er bedeutet nicht eine chauvinistische Betonung des Nationalgefuhls ; er setzt sich vielmehr das Ziel, eine Anzahl politisch verbundener Völker, die einem Staats- ganzen angehören, so in ihrer Eigenart zu fordern und zu ent- wickeln, daß sie einem staatlichen Ziele zustrebend, einander er- gänzen.

England wollte Irland nicht nur äußerlich anglisieren, es wollte auch in Irland Zustände schaffen , die eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung ermöglichen sollten. Soweit die allgemeine Erziehung geht, die England Irland angedeihen ließ, sind die Ergebnisse nicht glänzend, wenngleich wesentliche Fortschritte festzustellen sind. Wenn man untersucht, wieviel Prozent der über 5 Jahre alten Bevölkerung Irlands weder lesen noch schreiben konnte, so findet man, daß dies im Jahre

1841 1861 1881 1901

53 Proz. 39 Proz. 25 Proz. 14 Proz. waren.

In einzelnen Landesteilen und in einzelnen Bevölkerungsgruppen waren die Dinge noch schlimmer. In Connaught waren 21 Proz. Analphabeten. Die gesamte katholische Bevölkerung Irlands wies

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Die irische Agrarfrage.

145

einen Prozentsatz von 16,4 auf, die katholische Bevölkerung der Grafschaft Donegal gar einen solchen von 31 Proz.1)

Das Bild der irischen Entwicklung wird noch trüber, wenn wir einen Blick auf die Bevölkerungsstatistik werfen. 1841 stellte der Census die irische Bevölkerung auf 8 1 75 1 24 Seelen fest. Der Census von 1901 weist eine Bevölkerung von 4458773 auf; es hat also eine Bevölkerungsabnahme von 3716349 stattgefunden. Ich will hier nicht auf die Geschichte der irischen Emigration, noch auf ihre Ursachen eingehen. Es genüge zu erwähnen, daß von 1851 bis 19°1 3 735 725 Individuen ausgewandert sind. Trotz einer der- artigen Bevölkerungsabnahme, trotzdem Irland mit 97 Köpfen pro Quadratmeile (englisch) heute alles eher als ein dichtbevölkertes Land ist, dauert die Abwanderung fort. Sie betrug im Jahre

1900 1901

45228 39618 Köpfe.

56,4 Proz. dieser Auswanderer standen im Alter von 15 bis 25 Jahren, 24,1 Proz. im Alter von 25 bis 35 Jahren. Von 16927 Personen zwischen 20 und 25 Jahren waren nur 44 Männer und 201 Frauen verheiratet. Es ist die erwerbsfähige, unternehmungslustige Jugend, die abwandert, um sich in dem größeren Irland, das sie in den Vereinigten Staaten vorfindet, Erwerbsgelegenheit zu verschaffen. Die meisten gehen als ungelernte Arbeiter hinaus. Unter 18 343 Männern waren außer 658 Farmern 13359 Arbeiter; unter 21527 Frauen werden 15 638 als servants bezeichnet.*)

Auch die Gliederung der in der Heimat zurückgebliebenen Be- völkerung weist keine Züge ökonomischer Jugendkraft auf. Es be- trägt auf je 100000 die Zahl der unter 20 Jahre alten 40952, die der 20 bis 55 Jahre alten 44789, die der über 55 Jahre alten 14259. Dieser Altersaufbau ist dem der französischen Bevölkerung nicht unähnlich; er weist eine geringe Besetzung der Jugendklassen (303 per 1000 bis 15 jährige in Irland, in Frankreich 262, dagegen in Deutschland 351) und eine starke Besetzung der über 60jährigen [Irland 105 auf iooo, Frankreich 125, Deutschland dagegen nur 80) auf.

') Wie der Census, dem alle diese Ziffern entnommen sind, mit Recht be- merkt, lassen sich irgend welche Schlüsse auf die Qualität der den verschiedenen Bekenntnissen angehörigen Bevölkerung hieraus nicht ziehen. Die blofle Tatsache, daß die Katholiken die Majorität bilden und auch die Mehrheit der armen Be- völkerung umfassen, erklärt diese Ziffern vollkomm'en.

*) Emigration Statistics 1901. Die irische Auswanderung ist eingehend erörtert Ix-i Karl Ratbgen ,, Englische Auswanderung und Auswanderungspolitik". Archiv fiir Sozialwisseiuchaft u. Sozialpolitik. I. (A. f. *o*. G. u. St. XIX). 1. IO

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M. J. Bonn,

Wenn wir die Geburten und Todesfälle betrachten, so ergibt sich auf IOOO der Bevölkerung eine Geburtsziffer von 23,0, der 18,2 Todesfälle gegenüberstehen. Auf 100 976 Geburten kamen im letzten Jahre 79 116 Todesfälle. Dieses scheinbar nicht ungünstige Ergebnis verliert aber an Bedeutung, wenn wir die Zahl der Ehen betrachten. Es befanden sich 1901 1 049413 Frauen in gebär- fähigem Alter (15—45) in Irland, hiervon waren nur 341 258 verheiratet, im ganzen 32,5 Proz. Diese Zahl der verheirateten Frauen im Verhältnis zu den heiratsfähigen nimmt dauernd ab.1) Nur in den zurückgebliebenen Gegenden Connaughts herrscht eine stärkere Ehefrequenz. Auf 100 über 25 Jahre alte Frauen kommen in Mayo nur 33,3 unverheiratete, in der Grafschaft Dublin dagegen etwa 52,2, also mehr als die Hälfte. Da uneheliche Geburten , vor allem in den katholischen Teilen Irlands keine Rolle spielen, so ergibt sich schon aus diesen Zahlen die langsame natürliche Zu- nahme der Bevölkerung.

„Estimated by the number of married women of thc child- bearing age the natural increase of population in Ireland is at present very small", sagt der Census. Das Bild, das man sich früher von Irland machte, als einem Lande mit frühen Heiraten, die von zahllosen Kindern gefolgt sind, ist seit langem nicht mehr richtig. Man kann ohne starke Übertreibung sagen, daß ein großer Teil der heiratsfähigen und heiratslustigen Bevölkerung alle Jahre Irland verläßt, um sich jenseits des Ozeans einen Herd zu gründen. Weit wahrer als die Vorstellung einer kaninchenhaft sich ver- mehrenden Race ist heute das Wort George Moores: „Nothing thrives in Ireland, but the celibate."

hl

Irland ist ein armes Land. Wer je durch die endlosen Berg- öden Connaugths gewandert ist, wer je die schmutzigen slums einer irischen Stadt gesehen hat, in denen sich modernes Proletariat ohne moderne Industrieentwicklung vorfindet, hat kaum das Bedürfnis, Zahlen für seine Eindrücke aufzusuchen. Die Statistik bestätigt in- deß seine Vorstellungen. Nach einer Berechnung Gififens, die der Commission on Financial Relations vorgelegt und im gewissen Sinne zur Grundlage der Ausführung derselben gemacht wurde,

') Census 22.

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Die irische Agrarfrage.

147

darf man das Einkommen Irlands zu 63 bis 76 Millionen £ rechnen.1) Das ergäbe also bei einer Bevölkerung von 4 */s Millionen Menschen etwa ein Durchschnittseinkommen von 15 16 £. So gering dieses Durchschnittseinkommen von M. 300 auch erscheint, das für die westlichen Teile sich wesentlich niedriger stellen dürfte, so ist es bereits das Ergebnis eines allerdings langsamen Wachstums. Die Veranlagungen zur Einkommensteuer („net assessments") betrugen:

1854 1864 1874 1884 1894

21,33 23 27,08 27,062 27,3s 1 Millionen £.*)

Die Einkommensteuer ist ein etwas trügerischer Maßstab, da sie nur auf Einkommen über 160 £ fällt und Irlands zahlreichste Ein- kommen sich zweifellos unter dieser Grenze befinden. Aber andere Ziffern, wie die Zunahme des Viehbestandes, die Einlagen der Sparkassen und Banken, auch wohl der Eisenbahnverkehr zeigen einen gewissen Fortschritt. Die Einlagen der Sparkassen be- trugen :

1870 1880 1890 1894

2,7 3.7 5.7 6,97 Millionen £. 3)

Irgend welche weitgehende Schlüsse sind hieraus kaum zu ziehen, außer, daß die Armut Irlands heute etwas weniger groß ist, als vor Jahrzehnten. Ein gewisses fortschrittliches Regen zeigt sich an manchen Stellen. So betrug z. B. das Kapital der Aktienge- sellschaften

1880 1890 »89495

11,5 19.5 25.48 Millionen £.*)

Solche Ziffern zeigen die Richtung, in der die irische Volkswirt- schaft sich bewegt; sie sagen wenig über ihren heutigen Zustand.

Im irischen Census wird eine detaillierte Darstellung der Wohnungsverhältnisse gegeben. Die Häuser werden in 4 Klassen eingeteilt Die unterste (vierte) Klasse sind einfensterige, einzimmerige Lehmhütten (mud cabins); die dritte Klasse wird von Hütten ge- bildet, die I 4 Räume und ebensoviel Fenster besitzen; die zweite Klasse sind anständige Farmhäuser mit 4 9 Zimmern und Fenstern; die oberste Klasse sind wirklich gute Häuser. Wenn

') Final Report of the Royal Commission on Uic Financial Rotations between Great Britain und Ireland p. 174 ff.

-) Financial Kelations Report, p. 58. 3) Financial Relations Report, p. 207. *) Ib. p. 207.

10*

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I48 M. J. Bonn,

wir diese Einteilung annehmen, so ergeben sich folgende Ziffern: Es gehörten an:

In der Stadt: Auf dem Lande: überhaupt: der 4. Klassen 539 Häuser 9374 Häuser 9873 Häuser

3- ». 22 268 229338 » 251606

2. II 171 792 349662 52M54 M

„I. 36 525 »- 38700 ., 75225

Wenn man berücksichtigt, daß vielfach mehr als eine Familie das betreffende Haus bewohnt und nicht die Häuser, sondern die Wohnungsverhältnisse klassifiziert, so ergibt sich folgendes Bild:

Es lebten in Auf dem In der

Wohnungsverhältnissen Lande : Stadt

der 4. Klasse U 869 Familien 29354 Familien

11 3- "

234380 53618

2. 348763 164322

37 733 30217

Die irische Lehmhütte mit ihrem buckeligen Strohdach, das an Stelle eines Schornsteins ein Loch hat, deren Fenster, wenn über- haupt vorhanden, nicht geöffnet werden kann, deren Boden die bloße Erde ist, deren Einrichtung ein paar Bretter sind, die als Bett dienen und ein paar andere Bretter, die auf die Bezeichnung Schrank Anspruch machen, ist die primitivste Behausung, die man sich vorstellen kann. Sie hat häufig keine richtige Feuerstelle; an der einen Wand, auf dem bloßen Boden, wird der Torf in Flammen gesetzt Die einzige Ventilation erfolgt durch die Tür und durch das Loch im Strohdach. Ein paar Hockerchen und ein Gestell, auf dem zerbrochene Tassen stehen, vervollständigen die Einrichtung. Häufig teilen Kuh und Kalb, Schwein und Hühner die Behausung mit dem Inhaber. Solcher Wohnungen weist Irland 10 000 auf. Aber auch die Häuser der dritten Klasse, die oft aus losem Stein gefugt sind, durch Abteilungen in mehrere Räume zerfallen und meist zwei Türen haben, die je nach der Windrichtung geschlossen werden können, verraten in ihrer Mehrheit einen so tiefen Grad von Komfort, wie er wohl bei keinem westeuropäischen Volke existiert. Die nackte Erde als Boden dürfte sich bei den meisten derselben vorfinden. Der irische Standard of life ist ein außerordentlich niedriger, daher sind alle derartige äußere Anzeichen der Armut in gewissem Sinne irreführend. Der Ire ist häufig nicht so arm, wie man aus seiner Art zu leben schließen könnte. Die Fähigkeit,

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Die irische Agrarfrage.

149

unter elenden Lebensbedingungen zu existieren, auf Böden sein Da- sein zu fristen und sich fortzuflanzen , wo eine mitteleuropäische Ziege verhungern müßte, hat zweifellos das irische Volk während der langen Periode der Verachtung und Unterdrückung erhalten. Sie ist es aber auch, die eine wirtschaftliche Erhebung und Fort- entwicklung heute so unendlich schwer macht. Ein Volk, das mit etwas Milch und Kartoffel, mit Tabak, ein bischen Schnaps und starkem aber schlechtem Tee zufrieden ist, liefert nicht die Ele- mente, die die moderne industrielle Welt verlangt.

Ungefähr der irischen Bevölkerung, im ganzen 1436 071, lebt in Städten; davon in neun Boroughs (das sind Städte, die Abgeordnete ins Parlament wählen) 892 463. Während die Gesamt- bevölkerung seit 1891 um einige Tausend zurückgegangen ist, ist die Stadtbevölkerung um 139670 gewachsen. Wenn man die städtische Bevölkerung auf die religiösen Verhältnisse hin unter- sucht, so ergibt sich, daß in den Boroughs 59,5 Proz. Katholiken sind, in den übrigen towns 62,6 Proz. Es ist also das Verhältnis der Katholiken zu den Protestanten in den Städten ein ungünstigeres als auf dem flachen Lande, da der Durchschnitt für ganz Irland 74 Proz. beträgt. In gewissem Sinne ist daher das Ziel der alten englischen Politik, die Städte protestantisch zu erhalten, erreicht worden. Neben Dublin und Belfast machen nur etwa ein halbes Dutzend Städte einen wirklich städtischen Eindruck. Der Rest besteht, außer in Ulster, aus dorfahnlichen Häuseragglomera- tionen, die Marktzentren, Verwaltungszentren und das wichtigste nicht zu vergessen Trinkzentren der agrarischen Distrikte sind. Viele dieser kleinen irischen Städte sind das niederdrückendste, was man in Westeuropa sehen kann. Das Elend des flachen Landes wird wenigstens durch die Empfindung der Weite gemildert. Hier säumen die schmutzigen Hütten, eng aneinander gestellt, ver- wahrloste Straßen, denen ein paar mehrstöckige Häuser vergebens städtischen Charakter zu verleihen suchen. Eine städtische Ge- sellschaft mit Kulturinteresscn ist kaum vorhanden. Die Geist- lichen der verschiedenen Konfessionen, ein paar Beamte, ein oder der andere Landagent, der Verwalter der Bankfiliale, ein Arzt, ein Anwalt, das ist alles, was an kulturbringenden Elementen vorhanden ist; vielleicht ist noch ein Kloster in der Nähe und eine oder die andere, nicht übermäßig geistfördernde Gymnasialschule. Die Ge- rechtigkeit verlangt indes das Zugeständnis, daß die armen Quar- tiere der großen Stadt mit ihren fensterlosen, verwahrlosten Häusern,

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M. J. Bonn,

auf deren äußerer Steintreppe sämtliche Bewohner tagsüber nicht eben stillschweigend zu sitzen pflegen, an Verkommenheit und ekel- erregendem Schmutz den kleinen Städten mindestens ebenbürtig sind. Der Rest der Bevölkerung wohnt teils in dorfahnlichen Sied- lungen, die sich nur durch Abwesenheit der Selbstverwaltung von den Städten unterscheiden, teils in durcheinandergewürfelten Weilern und in einsamen, auf Mooren und Berghalden gelegenen Hütten. Je dünner die Bevölkerung wird, desto einsamer wird Irland, desto öder und stiller das Leben dieses lebensfrohen Volkes.

IV.

Die Berufsstatistik teilt die irische Bevölkerung in 6 Klassen ein. Die erste Klasse umfaßt die freien Berufe etc. mit 131 035 Individuen. Zu ihr zählen Ärzte, Advokaten, Beamte etc. Die zweite Klasse enthält häusliche Dienste, Gesinde etc., sie zählt 2 19 41 8 Individuen; die dritte Klasse umfaßt die kaufmännischen Berufe mit 97889 Individuen; Ackerbau mit 879062 Individuen bildet die vierte, Industrie mit 639,413 die fünfte Klasse. Der sechsten Klasse endlich, mit 2494658, gehören die nicht näher bestimmten Berufe und vor allem die großen Massen der nicht beruflich Tätigen an. Sehr viel volkswirtschaftlich Wertvolles läßt sich aus dem irischen Census nicht ersehen; er gibt vielmehr eine Sammlung volkswirt- schaftlicher Einzeltatsachen als ein systematisch durchdachtes Ganze des irischen Wirtschaftslebens. Auf den ersten Blick scheinen die kaufmännischen und die industriellen Klassen fast ebenso stark ins Gewicht zu fallen, wie die Ackerbau treibende Klasse. Aber einmal sind dieser letzteren noch etwa 115 540 im allgemeinen als „labourers" bezeichnete Individuen zuzuzählen. Dann aber sind die irischen Industrien, um die es sich handelt, meist Kleinindustrien mit geringem Kapital, oder solche, die lokalen Bedürfnissen dienen, wie Baugewerbe , Bekleidungsgewerbe etc. . . . Die wichtigste In- dustrie dürfte das Verkehrsgewerbe sein, das im ganzen 58 566 An- gestellte zählt. ') In erster Linie kommen hier die Eisenbahnen. Irland ist ein Land der Privatbahnen ; es gibt etwa 30 Privatgesell- schaften, deren Netz ca. 3214 engl. Meilen lang ist. Ihr arbeitendes

') Für das Folgende: Ircland, Industrial and Agricultural cd. by W. V. Coync p. 73 fr. and Railway Statistics ; auch der Onsus Report ist hier, wie an anderen Stellen, benutzt worden.

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Die irische Agrarfrage.

Kapital betrug im Jahre 1902 etwa 40 Millionen £. Der Überschuß der Einnahmen über die Kosten war 1,58 Millionen £, was also knapp eine Verzinsung von 4 Proz. ergibt. Die irischen Eisen- bahnen sind im wesentlichen Passagierbeförderungsbahnen. Von den Roherträgen brachten die Passagiere 2 Millionen £ ein,

Waren im allgemeinen Vieh Mineralien

1238000^ 330000 £ 219700 ,f

Wahrend in England einer Einnahme aus Warentransport von 57 Millionen £ eine solche aus Passagiertransport von 33,4 Millionen £ gegenübersteht, ist das Verhältnis für Irland wie 1,787 zu 2,098 Millionen.1) Die Frachten in Irland sind hoch, weit höher als in England. Während im Jahre 1890 die Beförderung per Tonne 22,75 I>roz- teurer war als in England, ist sie im Jahre 1900 auf 37,14 Proz. gestiegen.

Der Landtransport auf Straßen etc. beschäftigt 18985 Personen, die Schiffahrt in ihren verschiedenen Zweigen 15252.

Die größte irische Industrie ist die Textilindustrie, vor allem die Leinenindustrie Ulsters, die in der Tat eine Weltindustrie ist. Im Jahre 1899 existierten 51 Spinnereien oder Spinnereigesellschaften mit 838 582 Spindeln. Die Zahl der mechanischen Webstühle be- trug 32 245. Der Export aller Sorten Leinen aus dem Vereinigten Königreich wurde 1901 auf 5 Millionen £ geschätzt (Sir R. Lloyd Patterson auf der Cork Industrial Conference p. 38, 47, 48). Die Zahl der Angestellten betrug 77465, von denen 809 in der Baum- wollindustrie tätig waren. Außer diesen waren noch etwa 30000 in Bleichereibetrieben beschäftigt. Die Wollindustrie dagegen trägt wesentlich den Charakter einer Lokalindustrie. Das Spinnen geschieht zum großen Teil in den Hütten, während 114 kleinere Lohnwebereien mit 3323 Arbeitern bestehen. -) Im ganzen be- schäftigt die Wollindustrie 5348 Individuen. Die Zahl aller in der Textilindustrie Beschäftigten ist 109 588. Sonst weist die Be- kleidungsindustrie, die Schneider, Schuster, Hutmacher umfaßt, die größte Zahl der industriell Tätigen auf. Mit Ausnahme einiger Schuhfabriken ist die Wäscheindustrie um Londonderry, die etwa 80000 Individuen beschäftigt :5), die einzige Industrie dieser Gruppe,

l) In der englischen Ziffer sind keinerlei Einnahmen aus Gepäck- und Briefpost eingeschlossen.

») Ircland 401. *t Irrland 418.

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M. J. Bonn,

die Großbetriebe enthält. Sie ist jedoch zum großen Teil noch als Verlagsindustrie organisiert.

Der Bergbau ist unbedeutend. Der Kohlenbau fördert wenig mehr als iooooo tons. Der Wert aller Bergprodukte beträgt ca. 250000 £\ die im Bergbau Angestellten zählen ca. 6386 Köpfe. Die Fischerei beschäftigt 1 1 000 Individuen.

Außerdem sind noch drei irische Industrien von Weltruf zu erwähnen; die Bierbrauerei, die Whiskeybrennerei und die großen Schiffsbauwerften von Belfast. Die 39 Bierbrauereien Irlands pro- duzierten im Jahre 1901 über 3 Millionen Barrels, von denen ca. 2 Millionen im Inlande konsumiert wurden.1) Alle Betriebe werden durch die Guiness'sche Brauerei überragt, deren Jahresgewinn in den letzten Jahren auf ca. 800000 £ kam. Die 30 Whiskey- brennereien ereugten im Jahre 1901 142 Millionen Gallonen, von denen etwa 4 V2 Millionen im Inlande konsumiert wurden.2) Neben diesen Großbetrieben besteht noch in vielen Bauernhütten des Westens eine heimlich betriebene, unerlaubte Brennerei, wo der sogenannte „Potheen" hergestellt wird, der dem irischen Whiskey- trinker der Schwierigkeit des Erwerbes wie der Gefahr und der Ungesetzlichkeit der Produktion wegen besonders lieb ist. Nicht weniger als 1404 der hierzu verwandten Blasen, („stills") wurden 1902 von der Polizei beschlagnahmt.

Die Alkoholindustric beschäftigt zwar nur 5400 Angestellte, bietet aber einer großen Anzahl Krämern und Wirten lohnende Erwerbsgelegenheit. Man zählt in Irland 30 572 Krämer (general shopkeepers) deren Erfolg im Wirtschaftsleben ohne eine Schank- lizenz häufig zweifelhaft wäre. 25 206 Schanklizenzen waren 1902 ausgegeben.8) Der Kampf um die Licenzcn bildet ein Moment im irischen Leben, das viel wichtiger und viel bedeutungsvoller ist, als die politischen Theaterkämpfe, die die Spalten der Zeitungen füllen. Mehr und mehr wird die Macht der Wirte im poli- tischen Leben Irlands fühlbar. Sie sind in dem kapitalarmen Lande die Kapitalistenklasse und üben als solche einen starken Einfluß aus.

Die letzte große Industrie und sie ist eine Industrie von Weltruf sind die großen Schiffsbauwerften Belfasts, vor allem die

l) Ircland 459 fi'.

*) Ircland 499.

') Thom's Official Directory.

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Die irische Agrarfrage.

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von Harland & Wolf, die ungefähr 9006 Arbeiter beschäftigen. Im Jahre 1900 betrug deren Produktion 93316 Bruttotonnen. Die Bedeutung dieser Industrie für Belfast liegt, abgesehen von allem anderen auch darin, daß sie eine Ergänzung der Textilindustrie bildet; die weibliche Bevölkerung arbeitet in den Spinnereien, die Männer auf den Werften.

Wenn man alle diese Zahlen betrachtet, so kann man kaum sagen, daß Irland den Eindruck eines industriellen Landes mache; im wesentlichen ist es ein Agrarland und wird, mit Ausnahme der Ostküste, auf absehbare Zeit ein Agrarland bleiben.

V.

Irlands Bodenfläche beträgt 20350000 acres. Davon neh- men ein :

Korn, Kübcn, Weide und vorübergehende Sumpf, Ödland

Kartoffel Weide, Heu von Brache Wald usw. Wasser usw.

usw. dauernden Weiden Berg

3,3 Mill. acres 12,2 0,0095 °»3°3 4,807 6 Mill. acres.

Schon diese Ziffern zeigen, daß Irland ein Weideland ist. Die mit gesäetem Gras bedeckte Fläche ist 1,2278 Millionen acres; dazu kommen 11,665 Millionen acres ewige Weide, zusammen 12,893 Millionen acres, also mehr als 2/a des gesamten urbaren I-andes. Irland ist demgemäß ein Land der Viehzucht. Es betrug der Viehbestand :

1861 1902

Milchkühe 1,525 Millionen Stück 1,510 Millionen Stück

2- und mehrjährige Rinder 0,8466 1,77

I jährige Rinder 0,5855 1,67

unter I Jahr 0,521 4 1,126

der ganze Rindviehbestand 3471 700 Stück 4782000 Stück.

Vergleicht man diese Ziffern, so ergibt sich eine Abnahme der Milchkühe um 2,2 Proz., eine Zunahme der Rinder unter 1 Jahr um 116 Proz., eine Zunahme des gesamten Rindviehbestandes, mit Aus- nahme der Kühe, um 69,8 Proz. und eine Zunahme des gesamten Viehbestandes um 37,7 Proz. Diese Zahlen beweisen, daß Irland sich mehr und mehr von einem milchproduzierenden zu einem fleischproduzierenden Lande entwickelt.1) Der sonstige Viehbestand beträgt:

») Agricultural Statistics p. XII ff.

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M. J. Bonn,

Schafe, (die an Schweine Pferde Esel Ziegen Geflügel Zahl abnehmen)

4,2 Mill. 1,35 Mill. 565000 239000 312000 ca. 18 Mill. Stück.

Der Export von Vieh nach England im Durchschnitt dreier Jahre erreichte :

Rindvieh

782466 Stück oder 13,8 Proz.

des gesamten Bestandes; wenn man die Kühe ausschließt, etwa 25 Proz.

Schafe Schweine 920000 oder 19,3 Proz.; 650000 oder 48,9 Proz. der Bestandes

Der Wert dieser Viehausfuhr betrug:

Rinder Schafe Schweine Im ganzen

II Mill. 1,3 Mill. 1,35 Mill. 13,74 Mill. £*)

Der Gesamtwert des Viehbestandes wird zwischen 42 Millionen und 71 Millionen £ geschätzt, der der Pferde auf 12 V2 Millionen.2) Ein anderes Bild ergibt der irische Ackerbau. Es sind bestellt:

mit Cerealien mit Wurzelgewächsen mit Wiesen

1,307 1,070 2,168 Mill. acres;

zusammen 4,507 Millionen acres. Davon entfallen auf:

Hafer Weizen Gerste Flachs Rüben Mangeln Kartoffel Wiesen

1,082 0,044 0,168 0,050 0,289 0.077 0,629 2.168 Mill. acres.

Der Wert der Ernte beträgt im Durchschnitt 33 Millionen £. Davon entfallen auf

Heuernte Hafcrcrntc Kartoffelernte

13 Mill. £. 6 Mill. £. 8 Mill. £.

Diese drei wichtigsten Ernten ergeben 27 Millionen £ (alles nach den Agricultural Statistics von 1902). Auch diese Zahlen zeigen, daß Irland ein Weideland mit geringem Ackerbau und extensiver Technik ist.8) Im ganzen waren 876000 Individuen im

») Thom 635. ») Thom 738.

s) Dank der außerordentlichen Fruchtbarkeil der in Anbau genommenen Boden, sind die Ergebnisse der einzelnen Ernten wesentlich größer als in England. Das durchschnittliche Ernteergebnis der Jahre 1893' 1902 betrug

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Die irische Agrarfrage.

155

Ackerbau beschäftigt, von denen ungefähr 140 000 (Männer und Frauen) als Arbeiter und Kätner bezeichnet werden , 85 000 als Hausgesinde (indoors), außerdem wird man der landwirtschaftlichen Bevölkerung noch einen Teil der 181 000 allgemein als Arbeiter bezeichneten Individuen zurechnen müssen.

Irland ist ein Land der ewigen Weide. Schon die Tatsache, daß aus 15 Millionen acres Kulturland nur 350000 acres mit Rüben bestellt sind, beweist, wie wenig eine intensive Fruchtfolge in Irland statt hat. Da eine dichtere Bevölkerung ohne Ackerbau nicht möglich ist, ein intensiver Ackerbau ohne Rüben kaum stattfinden kann, so ist die irische Frage in letzter Linie ein „Rübenproblem". Zwei Drittel des Landes berührt niemals der Pflug noch die Hacke. Viele Landesteile, vor allem die Graf- schaften Kildare, Meath und Dublin, sind nichts anderes, als eine von dichtem, fast blaugrün schimmerndem Grase be- wachsene Graswüste, die durch Hecken und Gräben in Felder ein- geteilt ist. Man sieht kaum ein menschliches Wesen, denn das Vieh weidet ohne Hirten auf den eingehegten Feldern, in deren Mitte ein einsamer Pfahl oder Stein, an dem die Tiere sich reiben können, das einzige Anzeichen menschlicher Tätigkeit ist. Da- zwischen liegen Hunderte und Tausende verfallener Hütten zerstreut, Behausungen, in denen früher Menschen gelebt haben. Die be- wohnten Häuser sind seit 1 85 1 von 1 146223 auf 858158 im Jahre 1901 gefallen, eine Abnahme von 188065 Häusern. Es sind diese weiten „grazing ranches", die Irland zu einem Lande des großen Schweigens gemacht haben.

Klima und Boden begünstigen die Weidewirtschaft. So teilt man z. B. die Böden ein in:

1. Fettweiden,

2. Talweiden für Molkereibetriebe,

3. magere Tal weiden,

in England in Irland

Weizen per acre 30,52 bushels 32,21 bushels

Hafer 40,36 4447

Gerste ,, 32.62 39,23

Heu von ewigen Weiden 22,62 cwts 46,51 cwts

Dagegen Kartoffeln 5,96 tons 3,87 tons.

Die Kartoffel ist die Frucht des armen Mannes und wird daher von den schlechten Roden gewonnen (Statistics 1903].

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'56

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4. Bergweiden,

5. Moore und Oedländereien.1)

Mit Ausnahme der gröbsten Böden Ulsters begrast sich das Land, sobald man es dem Ackerbau entzieht, von selbst. Auch das Klima mit seiner ebenmäßigen Feuchtigkeit, der geringen Kälte im Winter und der geringen Wärme im Sommer, begünstigt die Weide- wirtschaft und ist dem Ackerbau nicht gerade zuträglich. Außer diesen physischen Gründen haben eine Menge anderer Momente mitgewirkt, Irland zu einem Weideland zu machen. Man behauptet, der Fall der Kornzölle (1846) habe Irland aus einem Acker- baulande in ein Weideland verwandelt. Es ist nicht meine Ab- sicht, diese Frage hier zu erörtern, doch kann man mit ziem- licher Bestimmtheit sagen, daß keine Getreidezölle von einigermaßen erträglicher Höhe den großen Fall der Getreidepreise in den 80 er Jahren hätten aufhalten können. Bis dahin waren es nicht sowohl fallende Kornpreise, als steigende Fleischpreise gewesen, die das Aufblühen der Viehzucht in Irland verursachten. Überdies sind die Iren zu allen Zeiten ein viehzüchtendes Volk gewesen, das vom Ackerbau wenig verstand und seine Neigung ausschließlich der Viehzucht zuwandte. Die dichte Bevölkerung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwang sie zum Ackerbau, den hohe Korn- preise erleichterten, aber die Ackerbautechnik war so primitiv, daß sie die Fruchtbarkeit des Bodens vielfach beeinträchtigte. Bei kleinen Pachtstellen herrschte meist Brandwirtschaft, die in über- triebener und unsachgemäßer Weise geübt wurde und den Boden auf Jahre hinaus verarmte. Noch heute sieht man oft auf ärmeren Weiden die Spuren früherer Felder, in den etwa meter-

') Coyne, Ircland 29 ff. (Viele Angaben dieses Aufsatzes sind diesem vor- züglichen Buche entnommen, dessen Verfasser bis vor kurzem an der Spitze der statistischen Abteilung des irischen Ackerbauministeriums gestanden hat. Ein früher Tod hat ihn aus einer segensreichen Tätigkeit gerissen. Unter seinen Händen sind die statistischen Veröffentlichungen des Ackcrbauministerums zu einer wissenschaft- lich durchdachten, praktisch brauchbaren Informationsquelle geworden. Coyne ist einer der wenigen Irländer gewesen, die eine wissenschaftliche Bildung zur Behand- lung praktischer Kragen mit gebracht haben. Die Statistiken, die aus seinem De- partement stammen, sind die einzigen, die in wirklich wissenschaftlicher Weise Ant- wort auf Fragen geben und nicht bloß eine Zusammenstellung von Zahlen enthalten, die gerade so gut zur Irreführung, wie zur Erleuchtung der öffentlichen Meinung dienen können. Sehr viele schwierige Probleme meiner irischen Studien wären ohne seine Hilfe und seinen Rat nie lösbar gewesen.)

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Die irische Agrarfrage.

157

breiten Resten von Beeten („lazy beds"); der kümmerliche Gras- wuchs, der hier herrscht, zeigt wie sehr der Boden zerstört wor- den ist.1)

Irland ist nicht nur ein Land der Viehzucht, es ist ein Land der extensiven Wirtschaft. Von 12 Millionen acres, die unter Gras stehen, wird nur von 2 Millionen Heu geschnitten. Der Anbau von Futterpflanzen , Klee , Rüben etc. ist sehr gering. Das Vieh befindet sich meist Sommer und Winter im Freien, obwohl es im Winter oft durch Kälte an Gewicht ver- liert. Das Jungvieh, das im Herbst etwa 6-8 £ per Stück wert ist, besitzt im Frühjahr manchmal nur einen Wert von 20 30 sh.s) Nur die Kühe werden in Ställen untergebracht. Im Westen finden sie sich oft in den Hütten der Besitzer. „Die Kuh heizt gut", ist ein altes irisches Wort. Die irische Weidewirtschaft besteht im großen ganzen darin, daß der Himmel die Sonne scheinen und den Regen fallen läßt, der Mensch das Vieh auf die Weide sendet und sich im übrigen nicht um dasselbe bekümmert. Selbst Böden, die beim Bau von Futterpflanzen einen vierfachen Ertrag geben würden, werden einfach beweidet.

Man kann die folgenden Richtungen der Wirtschaft unter- scheiden :

Die Molkereiwirtschaft. Das hauptsächlichste Produkt, das verkauft wird, ist, abgesehen von lokalem Milchverkauf, die Butter. Die Molkereiwirtschaft findet sich vor allem in den Weidegraf- schaften Munsters, nämlich in Cork, Limerick, Tipperary, aber auch in Ulster. Die Buttererzeugung wird heute großenteils in Dampf- betrieben vorgenommen, deren Zahl 584 war und deren Produktion beinahe 469000 cwts. betrug. Darunter waren 1900 236 genossen- schaftliche Molkereien mit 26477 Mitgliedern. Sie produzierten 15 ' , Millionen lbs. Butter im Werte von 703,826 Pfd. Sterling. Durch die Genossenschaftsbewegung hat das Molkereiwesen einen großen Aufschwung genommen. Da indessen Stallfütterung und der sie bedingende Futterbau nur in geringem Maße existiert, so ist die Produktion an Butter im Winter, wo die Preise am höchsten sind, nicht so bedeutend, als sie wohl sein könnte.

Die Wirtschaften, die sich der Fleischproduktion widmen, kann man in drei Klassen einteilen: 1. die Wirtschaften, welche

') Ireland 29 ff.

*) Journal of the Department of Agriculturc, September 1903 p. 16.

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M. J. Bonn,

Kälber züchten und sie entweder bald weiterverkaufen, oder sie bis zu ihrer Veräußerung als Jungvieh futtern. Manchmal sind diese Wirtschaften gleichzeitig nicht unbeträchtliche Butterproduzenten; sie finden sich vielfach auf den westlichen Farmen, deren kleine Besitzer diesem Betrieb obliegen.

Die Wirte der zweiten Klasse kaufen Jungvieh und lassen es so lange grasen, bis es fast marktreif ist. Das nennt man „cattle storing" (Halbmastvieh). Auch sie finden sich vielfach in den wesent- lichen Grafschaften. Ein großer Teil der so gefütterten Tiere wird nach England und Schottland geliefert, um dort in kurzer Zeit durch rationelle Fütterung für den Markt reif zu werden. 1901 wurden 344954 Stück Halbmastvieh exportiert.1)

Die letzte Klasse sind die Mastviehzüchter, deren Sitz die üppigen Weidegrafschaften Meath, Dublin und Kildare sind, die Halbmastvieh kaufen, es auf ihren weiten „ranches" in verhältnis- mäßig kurzer Zeit marktreif machen und so nach Dublin und auf den englischen Markt als Mastvieh senden. 1901 wurden 261 690 Stück Mastvieh exportiert.2)

Zwischen diesen drei Formen der Viehzucht besteht ein inniger ökonomischer Zusammenhang. Wenn heute die weiten cattle ranches von Meath aufgepflügt und dem Ackerbau übergeben würden, so wäre wahrscheinlich eine ökonomische Krise im Westen die Folge, weil die Jungvieh- und Magerviehzüchter den gewohnten Markt verlieren müßten. Die Viehzucht ist in gewissem Sinne die nationale Industrie Irlands. Sie ist mit Ausnahme des Auf- ziehens von Kälbern eigentlich ein Spekulationsgeschäft. Man kauft ein Stück Vieh billig, läßt es so und so lange weiden und verkauft es in möglichst kurzer Zeit zu einem höheren Preise weiter. Nicht nur der professionelle Viehzüchter und der pro- fessionelle Landwirt widmen sich diesem Geschäft; in Meath pflegen die Bedienten ihre Löhne in Vieh anzulegen, dasselbe auf den Weiden der Herren gegen geringen Entgelt grasen zu lassen und so aus dieser Viehspekulation einen kleinen Nebenge- winn zu erzielen. Die guten Weiden des Westens sind oft für 11 Monate an den Dorfkräiner, den Solicitor oder den Arzt ver- pachtet, ja selbst der Geistliche verschmäht es zuweilen nicht, auf diese Weise sein kärgliches Einkommen zu vermehren. Ein guter

') Journal 1903. September, p. 17; Ireland p. 322. ") Ircland 322.

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Die irische Agrarfrage.

159

Teil dieser Unternehmungen wird mit Kredit betrieben. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß der größte Teil der in den irischen Banken lagernden Depositen, soweit sie nicht nach England gehen oder von städtischen Interessenten benutzt werden, in der Vieh- spekulation Verwendung findet Wenn irische Patrioten davon reden, die Iren seien ein Volk von geborenen Ackerbauern, so meinen sie damit eigentlich Viehspekulanten. Schon die Tatsache, daß auf 543649 Inhaber von Farmstellen 616 701 Viehbesitzer kommen, deutet nach dieser Richtung hin.

Der fünfte Typus sind die Ackerbau wirtschaften , die sich vor allen Dingen in King's County, Queens County, Wexford, Carlow und besonders stark in Ulster, mit Ausnahme der Counties Fer- managh und Ca van finden.1) Ulster weist einmal ein härteres Klima auf als der Rest des Landes, dann aber besitzt es weit weniger fruchtbare Weiden, die sich nicht von selbst begrasen und auf denen der Mensch das seine tun muß, wenn er Ernten zeitigen will. Außerdem ist es von einer tüchtigen, energischen Bevölkerung, zum Teil schottischen Ursprungs, bewohnt, die aus ihrer schottischen Heimat die Kenntnis des Ackerbaues bereits mitbrachte und sich nicht erst aus dem Zustand des Nomadentums entwickeln mußte. Hier wird neben Flachsbau besonders Haferbau betrieben. Die Gerste, das Rohprodukt für die nationale Industrien Whiskey und Stout, wird in beträchtlichem Maße in Tipperary und Wexford angebaut, doch ist ständig eine Gersteneinfuhr notwendig, da die Brauer über die mangelnde Uniformität der irischen Gerste zu klagen haben.

Die fünf erwähnten Wirtschaftstypen kommen häufig nicht rein vor. Je mehr die Weidewirtschaft mit Trockenfütterung verbunden ist, desto mehr wird ihr Typus nach der Seite des Ackerbaues hin modifiziert. In der Grafschaft Roscommon und an anderen Orten nehmen Schafweiden die Stelle der Rindviehweiden ein. Schweine und Ferkelzucht kommt fast überall hinzu. Der Westen produziert zahlreiches, wenn auch selten vorzügliches Geflügel. Überall findet sich ein Kartoffelfeld, das in der Fruchtfolge häufig mit Hafer wechselt und zur Ernährung des Inhabers bestimmt ist. Die Bedeutung der Kartoffel für die Ernährung der Bevölkerung ist gegen früher stark zurückgetreten; sie ist aber auch heute noch von großer Wichtigkeit. Ein gutes Jahr ermög-

l) Coync 307.

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i6o

M. J. Honn,

licht nicht nur verhältnismäßig reichhaltige Lebensweise, es gestattet auch Aufzucht und Verkauf von Schweinen, während ein schlechtes Jahr vielfach Hungersnot bedeutet. Neben der Kartoffel spielt Kuhmilch in der Ernährung eine große Rolle.

Als sechsten Typus kann man vielleicht gewisse Wirtschaften, vor allem des Westens aufführen, die man als Eigenwirtschaften bezeichnen kann. Eine Eigenwirtschaft im strengsten Sinne des Wortes ist in einem Lande, wo Pächter Rente zahlen müssen, nicht möglich. Der Pächter muß dort für den Verkauf produzieren. Auf vielen Wirtschaften des Westens aber produziert die Bevölkerung nur Hafer, Kartoffeln, Milch etc. auf ihrer Stelle. Die Wolle der Bergschafe wird gesponnen und zur Bekleidung verwandt. Die ge- geringfügigen Ueberschüsse, die sich so erzielen lassen, werden ver- kauft, reichen aber nicht zur Bezahlung der Rente aus. Die Rente wird daher vielfach durch Nebenerwerb bezahlt, durch Fischerei, durch Wanderarbeit, durch industrielle Tätigkeit etc., so daß man in gewissem Sinne sagen kann, aus der Farm werden nur die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Familie gedeckt.

VI.

Irland ist ein Land des extensiven Betriebes und gleichzeitig ein Land kleiner Wirtschaften. Es betrug die Größe der Pachtstellen:

Größe

Zahl der

Zahl der

Gesamt-

Inhaber

Stellen

fläche4)

Unter I acre

73 35*

74607

37304 acres

I 5 acrcs

56233

62 864

188592

5-»5 -

137 365

«54437

1 544370

15~30

120740

»33984

3014640

30-50 »

67 722

74240

2 9(16600

50 IOO

54314

57 568

4317600

100—200

22867

23041

3456 150

200—500

8856

8147

2815450

500 und mehr acres 2200

1 521

1 917019

»'

Zusammen :

543649

590409

20350725 acres.4)

diesen Zahlen

ergibt

sich , daß

543649 Wirte S

Pachtstellen inne haben, das heißt also, fast 50000 Wirte haben Doppelstellen. 3)

') Die Angaben über die Gesamtfläche beruhen auf Schätzung. *) Agricultural Statistics 1902 XXVI.

*) Ib. p. XXVI Note. Wenn wir bei den größeren Stellen mehr Wirte als Stellen finden, so erklärt sich das aus gewissen statistischen üoppclzählungcn.

Die irische Agrarfrage.

161

Eine Menge der Stellen unter I acre sind nur Kartoffelgärten städtischer Arbeiter etc., selbst unter den 5 acre-Farmen dürfte sich eine Menge solcher finden. Von 5 30 acres haben wir 258 105 Inhaber, die 47,5 Proz. aller Wirte ausmachen; von 1 30 acres 310000 Wirte oder 57,8 Proz.; die Gesamtfläche, die diese 47,5 Proz. inne haben, ist 22,4 Proz. des irischen Bodens, 57,8 Proz. haben nur 23,3 Proz. der Oberfläche Irlands inne, d. h. mit anderen Worten, über 75 Proz. der Oberfläche Irlands sind in der Hand von größeren Betrieben, von Betrieben über 30 acres. Wenn man be- denkt, daß sich die kleinen Farmen zum großen Teil auf schlechten Böden befinden, so sieht man leicht, daß der kleine irische Pächter nicht auf Rosen gebettet ist. Verhältnismäßig günstig sind die Dinge im Xorden. Dort sind die Stellen allerdings klein, in Armagh sind fast 70 Proz. derselben zwischen 5 10 acres, aber die entwickelte Technik, wie der industrielle Charakter des Landes macht diese Kleinheit unbedenklich.1) Die Zahl und Größe der Pachtstellen hat sich seit dem Jahre 1841, dem letzten Census vor der irischen Hungersnot, sehr geändert. Es betrug die Zahl der Farmen von:

1—5 acres

5 15 acres

15—30 acres

30 acres u. mehr

:84t

5 436

44,9%

355 799

36,6%

79342

»1,5%

48625 7,0%

1851

88083

15,5»

19t 854

33.6

14UH

24,8

149000 26,1

1871

74809

13,7 ,,

"7I383

3«,5.,

138647

25,5 ,.

I593°3 29,3,,

1S9I

63464

12,3 n

156 661

3<>,3 ,,

133947

25,9,,

162940 31,5,,

1901

62855

12,2 n

154418

29,9 .,

134 091

26,0

164483 31,9,,

Seit 1841 nahmen ab:

die Stellen von l— 5 acres um 247581

5-1$ 98381

die Totalabnahme betrug also 345962.

Dagegen nahmen zu :

die Stellen von 15 30 acres um 54749 über 30 115458

die Totalzunahmc betrug also 270 207.

Wenn wir die Abnahme der kleinen Stellen mit der Zunahme der großen Stellen zusammenfassen, so ergibt sich eine Gesamt- abnahme aller Stellen um 175355; sie sind von 692202 auf

') Agricultural Statistics 34. Archiv für Sotialwiuenichaft u. Sozialpolitik. I. (A. f. $01. G. u. St. XIX.) i. 11

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162

M. J. Bonn,

515847 gefallen. 81,5 Proz. aller Stellen waren im Jahre 1841 unter 15 acres; im Jahre 1891 waren es nur noch 42,1 Proz. Es hat also eine wesentliche Verminderung der kleinen Stellen und eine wesentliche Vermehrung der großen Stellen stattgefunden. Diese Bewegung war am stärksten in Connaught. Dort haben die Farmen

Die große Zahl der kleinen Stellen, die sich noch erhalten hat, beweist, daß die verschwundenen Stellen nicht benutzt wurden, um kleine Stellen auf Mittelstellen zu erhöhen, sie wurden vielmehr zu großen Farmen zusammengeschweißt. So erklärt sich die Tatsache, daß sich eine große Zahl der irischen Pächter heute in weitaus günstigerer Lebenslage befindet, als in den Jahren vor der Hungers- not, daß sich aber die Verhältnisse der noch vorhandenen kleinen Stellcnbesitzer nicht wesentlich verbessert haben.

Bloße Flächen haben nur für den eine Bedeutung, der sich aus eigener Vorstellung eine Anschauung irischer Zustände gebildet hat. Man kann dem Umfange nach riesige Pachtstellen in Connaught finden, auf denen der Armut des Bodens halber kaum ein paar jämmerliche Bergschafe zu existieren vermögen. Als Beispiele mögen die folgenden Ziffern dienen: In dem Armenverband von Belmullet sind nur 19,5 Proz. der Bodenoberfläche von Ackerbau und Weide in Anspruch genommen;

Wenn man nur auf die Ausdehnung achtet, dann scheint Ulster das Land der kleinen Stellen zu sein. Unter 187 974 Wirten finden sich 94601, also gerade die Hälfte, deren Stellen nicht über 15 aercs betragen, beide Male die Stellen unter 1 acre einge- rechnet. Nach dem Steuerwerte dagegen sind aus 168 272 Stellen nur 35 370 nicht über 4 Von diesen kommen etwa die Hälfte, nämlich 14 91 2 auf die Grafschaft Donegal, deren Struktur den westlichen Grafschaften ähnelt.

über 30 aercs zugenommen um 427,7 Proz.

dagegen in Ulster nur 361,5

in Munster 245,3

in Lcinstcr 119,4

33,6 Proz. 30,8 3«-9

') Ireland 3 1 7.

*) Final Report on Local Taxation. Appendix p. 34.

Die irische Agrarfrage.

Daher ergibt sich ein deutlicheres Bild, wenn man die Stellen nach dem Ertragswert gruppiert, wie er in der Steuerveranlagung zum Vorschein kommt. Es hatten

Wert

Zahl der

Prozent

Gesamtfläche

Stellen

der Stellen

bis 4 £

134 183

27,4

1,36 Millioncn[acres

über

4 15 M

201 309

41,1

4J6

11 11

»5-30 »

78044

15.9

3,41

ii 11

30-50

35 794

7,3

2.36

11 m

"

50

40972

8,3

6,83

11 11

zusammen

490 182

100

18,72 Millionen acres.

Aus dieser Tabelle ergibt sich, daß 68,5 Proz. aller Stellen, die über einen Wert von 15 £ nicht hinausgehen, 6,12 Millionen acres, also V, der gesamten Kulturoberfläche einnehmen. 2,3 aller Stellen sind daher auf V's des Landes vorhanden. 15,6 Proz. aller Stellen gehen über 30 £ hinaus ; sie nehmen 9,2 Millionen acres oder fast 50 Proz. der Gesamtoberfläche ein. Das Überwiegen der gering- wertigen Stellen ist am stärksten im Westen. In Connaught waren aus 109359 Stellen 41439 im Werte bis 4 £, in Mayo von 32732 15867. Diese 15867 Stellen nahmen 214000 acres der mehr als eine Million acres umfassenden Grafschaft Mayo ein. Die ca. 700 Stellen über 50 £ bedeckten allein eine Fläche von beinahe 250000 acres.

Wenn man bedenkt, daß der Jahreswert, wie ihn die Steuer- veranlagung enthält, auf Grund hoher Produktenpreise festgesetzt wurde, so wird das Bild der Armut, das sich aus der Zahl der kleinen Stellen ergibt, verschärft.1) Man kann annehmen, daß alle Stellen unter 4 £ und ein großer Teil der Stellen bis 15 £ unwirtschaft- liche Stellen (uneconomic holdings) sind. Wenn man die Größe der Stellen und ihren Wert kombiniert, so kann man wohl folgern, daß 200000 irische Pachtstellen unwirtschaftlich sind. Das heißt, mit der gegebenen Technik, dem vorhandenen Kapitalvermögen, den bestehenden Marktverhältnissen sind ca. 200000 irische Farmen zu klein, um selbst bei dem niedrigen irischen Standard of life die darauf wohnende Familie zu erhalten, ihr Nahrung, Kleidung, Erziehung und Beschäftigung zu geben.-)

Die schlimmsten dieser Defizitwirtschaften, wie ich sie an an-

') Final Report on local Taxation p. 1. *) Journal Dezember 1903 p. 99.

II»

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M. J. Bonn,

derer Stelle genannt habe, befinden sich in den sogenannten „con- gested districts". Irland zerfallt für Zwecke der Lokalverwaltung in 159 unions (Verbände). Diese unions werden zu Wahlzwecken in „electoral divisions" eingeteilt, deren ganz Irland 3751 zählt. Durch Section 36 des Land Acts von 1891 wurde der Congested Districts Board geschaffen, eine Behörde, die die dauernde Hebung der westlichen zurückgebliebenen Distrikte fördern soll und zu diesem Zwecke 55000 £ jährlicher Einnahmen erhielt.1) Die Di- strikte, die ihr unterstehen, sind nach folgender Regel ausgewählt worden: Wo mehr als 2oProz. der Bevölkerung einer union in elec- toral divisions leben, deren Steuerertrag auf den Kopf der Bevöl- kerung weniger als 30 sh. ergibt, werden diese electoral divisions zu sogenannten „congested district counties" erklärt. Solche electoral divisions finden sich in den Grafschaften Donegal, Sligo, Leitrim, Roscommon, Cläre, Mayo, Galway, Cork (West Riding), Kerry. Im ganzen sind dies 9 Grafschaften, mit insgesamt 1264 electoral divisions. Von diesen sind 835 nicht „congested", 429 „congested". Die Gesamtveranlagung dieser 429 im Jahre 1891 ausgeschiedenen Distrikte betrug 1901 577034 £, die Bevölkerung 5057235 der Steuerwert per Kopf betrug daher 1 £ 2 sh. 9 d. 8)

Diese Ausscheidung besonderer Distrikte als congested districts ist selbstverständlich eine willkürliche. Es können in einer union electoral divisions vorhanden sein, deren Zustand schlimmer ist als der der congested districts, nur daß diese divisions nicht 20 Proz. der union-Bevölkerung bilden. Solche Distrikte finden sich in der Tat auch vielfach; die congested districts enthalten daher nur das Minimum der auf unwirtschaftlichen Stellen lebenden irischen Be- völkerung. Den Kern einer derartigen Defizitfarm bildet immer ein Kartoffelgarten, dessen Größe mit der Zahl der in der Familie vor- handenen Mäuler wechselt. Er liefert den Hauptbestand der Nahrung ; die event. Uberschüsse werden zur Schweinemast verwandt Die Kartoffel wird in sogenannten „lazy beds" angebaut, in breiten durch tiefe Gräben voneinander geschiedenen Beeten. In dem feuchten Lande dienen diese Furchen gleichzeitig der Entwässerung, hauptsächlich wo der Kartoffelgarten sich auf Torfgrund befindet. Früher wurden die Knollen einfach auf die Beete gelegt und Erde aus der Furche darüber geschaufelt; jetzt werden sie in die Erde

J) Ircland 258.

*) Congested District s Board Report 1903 Appendix XXV. & XXVI.

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Die irische Agrarfrage.

eingesetzt Die Wirtschaft ist häufig Spatenwirtschaft, da die Felder « zum Gebrauch des Pfluges zu klein und zu steinig sind, der Wirt außerdem selten das für einen Pflug nötige Kapital be- sitzt Auf die Kartoffel folgt meist Hafer in der Fruchtfolge, der seinerseits wieder der Kartoffel Platz macht, eine Reihenfolge, die in unermüdlicher Abwechslung so lange weitergeht, als der Garten noch Ernten gibt Wenn das Land ganz erschöpft ist dann bricht man ein anderes Stück Weide auf, was man der Unbequemlichkeit halber bisher vermieden hat; das erschöpfte Land wird liegen ge- lassen und begrast sich von selbst

Das nicht für Kartoffel- und Haferbau benutzte Land ist Weide, zum Teil Talweide, zum Teil auch Bergweide, die dann manchmal von einer Anzahl Pächter gemeinsam benutzt wird. Die Tragkraft dieser Weiden wird festgesetzt, und zwar in der Rechnungseinheit der „sums". Eine „sum" ist das Weiderecht einer bestimmten Anzahl Vieh; ob sich dasselbe aus Kühen oder aus Gänsen, aus Schafen oder Eseln zusammensetzt, steht im Belieben des einzelnen Wirtes, da zwischen den verschiedenen Viehsorten ein festes Umrechnungs- verhältnis besteht, so daß jeder Wirt seinen Viehbestand nach diesen Sätzen zusammenstellen kann. In der Wirtschaft wird nicht viel Dung produziert, da eine eigentliche Stallfütterung kaum besteht. Man benutzt daher außer künstlichen Düngemitteln Seesand, Seetang, öfter auch Torferde. An der See ist der Tang das hauptsächliche Düngemittel. Das Anrecht auf denselben ist ein wesentlicher Be- standteil der meisten Farmen. Die Feuerungsmittel werden durch Torfstechen gewonnen; die Moore Irlands sind so reichhaltig, daß nur in verhältnismäßig wenigen, unglücklich gelegenen Gegenden hieran Mangel ist Die Bevölkerung lebt von Oktober bis Mai im wesentlichen von Kartoffeln, Milch und Thee Sie verkauft Kälber und Jungvieh, Schweine und Geflügel. Das Vieh ist häufig deterioriert, da die besten Stücke verkauft und die schlechtesten zur Zucht zurück- behalten werden. Die Weiden sind durch mangelhafte Sorgfalt, durch Cbcrstellung mit Tieren häufig sehr arm; viele von ihnen können nur dem genügsamen schottischen Bergschafe zur Nahrung dienen. Von Mai bis Oktober, wenn die alte Kartoffelernte aufgebraucht ist, lebt man von amerikanischem Mehl, zum Teil auch von Maismehl, das nicht nur Nahrungsmittel ist, sondern auch als wichtigster Futterstoff in der Wirtschaft verwandt wird. Hafer wird teils als Haferbrei genossen, teils an das Vieh verfüttert. Wenn die Bevölkerung ihren dürftigen Speisezettel mit Speck ergänzt,

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M. J. Bonn,

so ist dies die schlechteste amerikanische Sorte. Der von den eigenen Schweinen herrührende gute irische Speck ist viel zu teuer. Das Ergebnis des Viehverkaufes, wie der sonstige Geldertrag der Farm reicht nicht aus, die Rente zu bezahlen, die Steuern zu ent- richten, dem Priester die üblichen Abgaben zu liefern und alle notwendigen Geldausgaben zu bestreiten. Ein Nebenerwerb ist durchaus nötig. Solcher Nebenerwerb ist

(i) die Arbeit auf benachbarten Farmen, die indes, da der ganze Westen ein Weideland ist, nicht häufig verlangt wird; nur auf den Besitzungen der reichsten Landlords findet eine regelmäßige Nach- frage nach Arbeit statt. Weit wichtiger ist (2) die Wanderarbeit der Erntearbeiter in England. Nach der Regierungsstatistik gingen im Jahre 1903 17566 Wanderarbeiter oder 3,9°/00 der irischen Be- völkerung nach England, die meist aus Connaught, vor allem aus Mayo stammten. Unter 13 530 ConnaughtLeuten waren 9266 Mayo- Leute. Ca. 80 Proz. dieser Wanderarbeiter sind Söhne und Ver- wandte von Landbesitzern , nicht selbst Landbesitzer , die übrigen 20 Proz. sind Landbesitzer. Aus Connaught waren nicht weniger als 300 Besitzer abgewandert, deren Pachtstellen über 20 acres be- trugen. Die Eisenbahnstatistiken weisen eine größere Zahl Wander- arbeiter auf, nämlich 24021, da aber hier eine Anzahl Doppelreisen von Leuten inbegriffen sind, die zweimal im Jahre nach England gehen, so ist diese Angabe zu hoch. Neben der Wanderung nach England findet eine schwer zu schätzende Binnenwanderung aus den nördlichen Grafschaften nach Ulster statt. Wenn man im Sommer in eines der Hauptgebiete der Wanderarbeiter kommt, z. B. nach Achill Island, so findet man kaum einen arbeitsfähigen Mann in den großen Dörfern.

Eine dritte Quelle des Nebenerwerbs ist die Fischerei, die vor allem durch die Tätigkeit des Congcsted Districts Board einen be- trächtlichen Aufschwung genommen hat. Als vierte kann man die Kclpbrennerei erwähnen, die Herstellung von Jod und Kali aus Seetang, die früher der ganzen Westküste lohnende Arbeit gewährte. Sie hat die dichten Siedlungen hervorgerufen, die wir noch längs der Westküste finden, ist aber heute durch die Entwicklung in der Chemie eine im Rückgang befindliche Industrie.

Als fünfte Art des Nebenerwerbs kommt die Hausindustrie in Betracht, vor allen Dingen die Spinnerei und Weberei von „home- spuns", die besonders in den Bergdörfern von Donegal blüht. Auf den Märkten von Ardara und Carrick werden häufig für 700 £ Stoffe

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Die irische Agrarfrage.

167

verkauft.1) Die letzte und sicher nicht unbeträchtlichste Hilfsquelle, die den Inhabern der Defizitwirtschaften zu Gebote steht, sind die Geldsendungen ihrer nach Amerika ausgewanderten Verwandten. Ohne solche Hilfsmittel befanden sie sich immer auf der schmalen Kante , die bloßes Existieren von Hungersnot trennt. Von Zeit zu Zeit bricht eine Hungersnot aus, wenn die Kartoffeln mißraten und das jährliche Geld-Einkommen nicht nur für die Monate Mai bis Oktober, sondern bereits für den vorhergehenden Winter aus« reichen muß.

Der hier geschilderte Typus der Defizitwirtschaft ist nicht auf die congested district's beschränkt; vielfach finden sich einzelne Gruppen solcher Wirtschaften in anderen, im übrigen recht blühen- den Landesteilen. Man kann sicher 150000 bis 200000 solcher und ähnlicher Farmen in Irland annehmen. Ursprünglich war ganz Irland von kleinen Farmen bedeckt; sie sind heute auf 1/3 bis die Hälfte der irischen Pachtstellen beschränkt. Die Inhaber dieser Farm betrachten ihre Stelle nicht als Wirtschaftsbetrieb; sie brauchen Torf, Wohnung, Kartoffeln und Milch und sind bereit, dafür eine Rente zu zahlen, die aus dem Verkauf der Farmprodukte nicht bestritten werden kann. Solange sie diese Rente auf irgend eine Weise durch Nebenerwerb beschaffen können , ist es ihnen ganz einerlei, wo sie herkommt. Ein eigentlicher Ackerbau liegt ihnen vollkommen fern. 2 oder 3 Tage im Frühjahr genügen zur Bestellung der Felder; etwas Aufmerksamkeit im Sommer ist nötig, um die hungrigen Schafe fernzuhalten; ein paar Tage im Herbst sind ausreichend, um die Kartoffeln zu hacken und den Hafer zu ernten. Das Ideal dieser Bevölkerung ist zwar eine Vergrößerung ihrer Stellen, sie haben aber nicht die Absicht, den Pflug über die Felder zu führen. Sie hoffen vielmehr, dann als verhältnismäßig große Viehzüchter in Vieh zu spekulieren.

Eine feste Grenze zwischen unwirtschaftlichen und wirtschaft- lichen Stellen läßt sich kaum ziehen; sie liegt im allgemeinen zwischen 20 und 40 acres, daher denn die Schaffung solcher Farmen, die Ausdehnung der kleinen Stellen auf diese Größe, ein politisches Feldgeschrei geworden ist. Die Defizitwirtschaften sind wirtschaftlich Arbeiterstellen, deren Inhaber keine Arbeitsgelegenheit finden, oder technisch Weidewirtschaften, deren Inhaber weder Vieh noch ausreichende Weide besitzen. Auch auf den anderen Pachtstellen

') Irclantl 396,

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M. J. Bonn,

Irlands ist der Kern der Wirtschaft, der im Kartoffelgarten besteht, nicht viel verschieden von den Defizitwirtschaften, nur daß der Boden dort besser ist, mehr oder minder ausreichende Weide sich um den Kartoffelgarten schließt, daß etwas Kapital, etwas Energie und Technik vorhanden sind. Eine gewisse Tendenz zur Ver- mehrung der Defizitwirtschaften ist zweifellos vorhanden. Gerade weil die Besitzer der ärmsten Stellen diese nicht als Wirtschaftsbetrieb auffassen, sind sie leicht geneigt, sie unter ihre Kinder zu verteilen oder event. in Afterpacht zu vergeben. Die Farm soll nur möglichst viele Köpfe mit Kartoffeln, Milch und Wohnung versehen, nicht aber einen bestimmten Wirtschaftsbetrieb ermöglichen. Die Gesetz- gebung hat der Zersplitterung der Farmen große Schwierigkeiten in den Weg gelegt; sie ist auf den großen Farmen, deren Wirte allmählich nach ökonomischen Grundsätzen verfahren, nicht ganz vergeblich gewesen; auf den Defizitfarmen wird diese Tendenz zur Zersplitterung noch lange anhalten.1)

Die I^andwirtschaft ist also die Hauptindustrie Irlands. Sie bewegt sich zum großen Teil in falschen Betriebsformen; ihre Betriebsrichtung ist extensiv, ihre Technik ist mangelhaft. Das Geld des Farmers liegt auf der Bank, nicht in seiner Wirtschaft. Ein genauer Kenner der irischen Landwirtschaft faßt sein Urteil in die folgenden Worte zusammen:

„A preponderance of uneconomic holdings, the want of working capital or of an inducement to invest in the improvement of land ; the want of proper housing for the farmer and his family or for his stock; a large and steady increase in the area of second class pasture, which would yield four times morc wealth if well tilled ; the complacent satisfaction with the present system which relegates Ireland to the position of a ranche to supply störe stock for British farmers to fatten; a too prevalent practice of selling the best and breeding from inferior stock; the almost complete loss in certain districts of the art of tillage; the want of a regulär system of ro- tations; the aversion from doing more than the minimum to clean the land; the want of pride in the Performance of farm work and in the arrangements about the homestead; the tendency to put off plowing, sowing and harvesting until the last moment; the small value that is put upon time; the want of recognition of the fact that the best and produetive manure that goes into the land is

') Fry Commisson Nr. 25055; 8737; 28 791.

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Die irische Agrarfrage.

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labour; all these and other causes combine to make and to keep Irish farming backward."1)

VII.

Irland ist auch heute noch ein Land des Großgrundbesitzes. Das Eigentumsrecht der gegenwärtigen Besitzer geht in den meisten Fällen auf Eroberung zurück. In vier Perioden sind englische Er- oberer in Irland eingewandert. Das erste Mal, 1169, waren es normannisch-wallisische Conquistadoren, dann folgte unter Elisabeth die Kolonisation von Munster, unter Jakob I. die von Ulster, wo die Grundlage der heutigen schottisch-englischen Kolonie in Ulster gelegt wurde. Eine weitere umfangreiche Kolonisationstätigkeit fand während der Regierung Cromwells statt, die aber im Zeitalter der Restauration zum Stillstand kam. Die vierte und letzte Besitz- ergreifung irischer Ländereien durch Eroberung erfolgte nach der zweiten, der „glorreichen" Revolution. Bei all diesen Siedlungs- unternehmungen suchte man nicht nur große Besitzer, sondern auch kleine Bauern und Arbeiter anzusetzen, ein Ziel, das nur in Ulster durch die „plantation of Ulster" teilweise erreicht wurde. Die heutigen Grundbesitzer Irlands sind zum großen Teil die Nach- kommen jener Kolonisten, die vom König resp. der Republik mit dem eroberten Lande belehnt wurden.

Die große Hungersnot der Jahre 1845 51 machte einen Teil der Grundbesitzer, deren wirtschaftliche Lage schon vorher er- schüttert worden war, bankrott. In dem sogenannten „eneumbered Estates Court" und später dem „landed Estates Court" wfurde eine Art Liquidationsgerichtshof zur Veräußerung bankrotter Güter ge- schaffen. 10034 Güter im Werte von 54 Millionen £ wurden 1849 bis 1880 durch diesen Gerichtshof verkauft, meist zum 20 bis 25 fachen Preise des Jahresertrages. Viele kleine irische Kapitalisten, wie Krämer und Wirte, aber auch große Versicherungsgesellschaften waren unter den Neuerwerbern, denen ein absoluter Eigentumstitel zugesprochen wurde.2)

Es lohnt sich nicht, auf die Grundbesitzverteilung in Irland einzugehen, wie diese, allerdings in sehr unvollkommener Weise, im Irischen „Doomsday book" von 1876 zutage tritt, da diese Besitz-

') Dezember 1903 Journal 198.

*) The Irish Landlord and his accustrs, p. 507.

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M. J. Bonn,

Ordnung im Vergehen begriffen ist. Es sei nur darauf hingewiesen, daß sich damals ungefähr die Hälfte des Landes in der Hand von etwa 700 Personen befand.

Man kann die heutigen irischen Eigentümer in drei Klassen einteilen: die großen Grundbesitzer, die auf englischen Gütern wohnen und nur Renten aus Irland beziehen. Diese sind natur- gemäß absentees, die sich nur wenige Monate in Irland auf- halten. Da sie aber meist äußerst wohlhabend sind und über vor- zügliche Agenten verfügen , so sticht der Zustand ihrer Güter nicht unvorteilhaft von dem der Ansässigen ab. Die zweite Klasse bilden die großen, in Irland ansässigen Besitzer, die bei einem hohen Nominaleinkommen häufig alles eher als reiche Leute sind. Zur dritten Klasse gehört der ortsansässige, kleine Besitzer, der durch seine wirtschaftlich schlechte Lage und die Kürzung seiner Renten zur dauernden Anwesenheit in Irland gezwungen ist. Eine vierte Klasse von Eigentümern bilden die 80000, unter den Landakten geschaffenen Bauerneigentümer, die jedoch in anderem Zusammen- hange zu erörtern sein werden.

Das irische Eigentum weist drei wichtige Merkmale auf. Es ist einmal in vielen Fällen geteiltes Eigentum. Die ursprünglich Belehnten verpachteten ihr Land durch äußerst langfristige Pacht- verträge, häufig auch gegen ewige Rente an einen Mittelmann; sie sind daher heute nur Rentempfänger, während die eigentlichen Rechte und Funktionen des Eigentums dem Mittelmann zustehen. In dieser Stellung befindet sich u. a. Trinity College, die große protestantische Universität Irlands.

Der zweite wesentliche Punkt ist, daß bei weitem die Mehr- zahl der irischen Güter mehr oder minder fideikommissarisch (durch entails) gebunden sind. Der jeweilige Inhaber ist nur lebensläng- licher Nutznießer, nicht aber Eigentümer. Der über die Nutznießung hinausgehende Teil des Eigentums gehört seinen Söhnen, resp. anderen durch die Familicnstiftung bestimmten Erben. Aus dieser Beschränkung ergab sich früher die Unfähigkeit, langjährige Pacht- verträge zu gewähren. Es war auch unmöglich , das Gut zu ver- äußern, da nur die Treuhänder des Erben, nicht aber der Inhaber selbst, eine solche Veräußerung vornehmen konnten. Der „scttled estates act" vom Jahre 1882 ermöglicht dem Inhaber den Verkauf des Gutes, doch muß er den Erlös in der gleichen gebundenen Weise, in Form pupillarsicherer Wertpapiere anlegen. Da diese Papiere in England höchstens 3 31/. Proz. Zinsen geben, so be-

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Die irische Agrarfrage.

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deutet ein Verkauf immer eine Beschränkung auf einen Zinsgenuß von 3* 2 Proz.

Das dritte und wichtigste Moment ist die Verschuldung vieler irischen Güter. Jahrzehntelang haben die Inhaber über ihre Mittel gelebt; sie haben Rentrückständc , die nicht einziehbar waren, als Aktiva weitergeführt, sie haben, da Einzelerbrecht bestand, die jüngeren Söhne und Töchter mit lebenslänglichen Renten abgefunden. Das Resultat war eine starke Belastung der Güter mit Hypotheken. Diese Hypotheken sind teils im Besitz von Familienmitgliedern, teils aber auch von Versicherungsgesellschaften, Advokaten u. a. Die großen irischen Korporationen, vor allem die kirchlichen Ge- nossenschaften, haben einen ansehnlichen Teil ihres Kapitalvermögens in solchen „mortgages" angelegt. Die ersten mortgages sind meist vorzügliche Anlagen, da sie absolut sicher sind. Da aber ein Pfand- briefwesen, wie überhaupt ein mobilisiertes Hypothekenwesen nicht besteht, so ist ein Markt für solche mortgages nicht vorhanden und der Zinsfuß sehr hoch; 5 6 Proz. sind durchaus keine Seltenheit. Die Belastung eines Einkommens von 1S00 £ mit einer Rente von 600 £, kann als niedrige betrachtet werden. Wenn nun ein Preis- fall eintrat und die Pachtrenten um 33 Proz. reduziert wurden, blieben natürlich die Hypothekenzinsen ungeschmälert bestehen. Das Ge- samteinkommen sank also von 1800 £ auf 1200 £. Das be- deutete bei gleichbleibender Schuldenlast eine Reduktion des Rein- einkommens um 50 Proz. Schuldentilgung und Schuldenkonversion wurde daher oftmals von bedrängten irischen Grundbesitzern ver- langt. Dieselben sind aber niemals imstande gewesen, eine diesem Zweck dienende finanzielle Organisation zu schaffen, obwohl eine Reduktion des Zinsfußes von 5 Proz. auf 3 Proz. eine Verpflichtung von 600 £ auf 360 £ ermäßigt hätte.

Die Vorfahren der heutigen Grundbesitzer waren in Irland in der Absicht angesiedelt worden, die Eingeborenen, die sich recht primitiver wirtschaftlicher Zustände erfreuten, zu zivilisieren. Man kann nicht sagen, daß sie diese Aufgabe erfüllt haben. Die Tausende kleiner Karmer, die sich auf irischen Gütern befanden, hätten gewaltige Kapitalaufwendungen nötig gemacht, wenn der Grundbesitzer jedem von ihnen eine voll equipierte Farm hätte geben wollen. Der Besitzer besaß selten das hierzu nötige Kapital. So fiel die Kquipierung der Farm dem Pächter zur I^st, der dieselbe in tech- nisch allerdings nicht vollkommener Weise ausführte. Der Grund- herr erhob Rente vom Land; der Pächter setzte dem Lande alles

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M. J. Bonn, Die irische Agrarfrage.

Kapital zu, was zur Urbarmachung nötig war. Auf diese Weise entstand eine Art geteilten Eigentums, „dual ownership", die all- mählich auch vom Gesetz anerkannt wurde.

Im großen ganzen ist der Großgrundbesitz in Irland kein Wirt- schaftsbetrieb. Zwar findet sich fast überall eine mehr oder minder große Domäne mit Park, Garten und Gutswirtschaft (Home Farm), aber das Herrenhaus war im besten Falle ein starkes Konsumzentrum und nie der Kern einer großen, das ganze Gut umfassenden Wirt- schaft. Die Verwaltung des Gutes liegt meist in den Händen eines Agenten, der den Verkehr mit den Pächtern betreibt, die Renten einfordert und die ganze finanzielle Verwaltung des Gutes führt, in der er häufig durch den Familienanwalt kontrolliert wird. Der Verkehr mit den Pächtern ist bei der großen Zahl derselben schon eine beträchtliche Aufgabe. Auf einem Gute, das der congested districts board neulich erstand, befinden sich über 40c» kleine Pächter. Der Agent erhält in der Regel 5 Proz. des Rentertrages für seine Mühewaltung. Da sich die meisten Agenten nicht auf die Verwaltung eines Gutes beschränken, so kann auch für kleine Güter ein Verwalter gefunden werden. Die Zahl der irischen Agenten dürfte auf etwa 400 anzugeben sein.

Die Bedeutung des Agenten für die irische Wirtschaft kann nicht überschätzt werden. Es hängt schließlich von seinem Takt und seinen geschäftlichen Fähigkeiten ab, ob der Besitzer in Frieden oder Unfrieden mit seinen Pächtern leben wird, denn Irland ist ein Land, wo mit Prinzipien nichts auszurichten ist, wo aber persönliche Ge- schicklichkeit alles bedeutet Die Agenten gehören der als „gentleman" bezeichneten Klasse an. Unter ihnen steht als Gehilfe der bailirT, während die home farm vom Stewart verwaltet wird.

Es ist nicht meine Absicht, eine eingehende Charakteristik des irischen Grundbesitzers zu geben : wahrscheinlich dürfte diese Klasse ebenso gemischt sein, wie die meisten andern menschlichen Berufe. Sie hat aber vielleicht an den Sünden ihrer unbrauchbaren Mitglieder schwerer zu tragen gehabt als andere soziale Gruppen. Sie hat sich im Sport wie im Kriege ausgezeichnet, sie hat sich auch in der englischen Kolonialverwaltung genügend bewährt. Sie besitzt, was die Formen des gesellschaftlichen Lebens betrifft, Lebhaftigkeit, Anmut und natürliche Veranlagung in hohem Maße, sie hat aber ihre politischen und wirtschaftlichen Aufgaben nur mangelhaft erfüllt und während der großen Agrarrevolution, die ihren Sturz verursachte, weder eine Politik noch einen Führer hervorgebracht.

________ (Kometiung im nächsten Heft.)

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GESETZGEBUNG.

Der Entwurf eines preußischen Wohnungsgesetzes, seine Vorgeschichte und seine Bedeutung.

Von

RUDOLF EBERSTADT.

(Mit drei Plänen.)

I. Zur Vorgeschichte des Entwurfs.

Von der alten Baupolitik der preußischen Könige trennt uns ein weiter Abstand des Rechts und der Anschauungen. Es war Sache der historischen Forschung, den vielfach unterbrochenen Weg zu zeigen, auf dem die Entwicklung unseres deutschen Städtebaus sich vollzogen hat. Mit wenigen Worten sei an diese ältere Zeit hier erinnert.

Große und schwierige Aufgaben des Städtebaus ') treten regelmäßig dann hervor, wenn durch das Zusammenwirken poli- tischer, rechtlicher und ökonomischer Faktoren eine Neugestaltung herbeigeführt wird, die in einseitiger Weise die städtische Ent- wicklung begünstigt oder vorwärts treibt. Eine solche Periode des gesteigerten und schnellen Wachstums der Städte pflegt ein selbständiges und ihr eigentümliches System des Städtebaus auszu- bilden, das in seinen rechtlichen, technischen und wirtschaftlichen Grundlagen einen scharf ausgesprochenen Charakter trägt In Deutschland bezeichnet der Aufschwung der Städte im zwölften

l) Als Städtebau im technischen Sinne wird die Gesamtheit aller Maßnahmen bezeichnet, die sich auf die städtische Bauweise, die Stadtanlagc und den städtischen Häuserbau bezichen. Die Behandlung des Städtebaus schließt, was kaum der Hervorhebung bedarf, die der Grundlagen des Wohnungswesens mit ein.

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Gesetzgebung.

und dreizehnten Jahrhundert, der mit der Gewinnung der städtischen Freiheit einsetzt, den Beginn der ersten selbständigen Periode un- seres Städtebaus. Das gewaltige und rasche Anwachsen der Städte, das erst in unserer eigenen Zeit sein Gegenstück gefunden hat, führte im zwölften und dreizehnten Jahrhundert zu Stadterweite- rungen größten Stils. Durch die weiträumige Anlage der Städte, durch Hereinziehung weiter Flächen unbebauten Geländes wurde für die Bebauung ein Raum geschafTen, der zum Teil auf Jahr- hunderte hinaus für die städtische Ausdehnung ausreichte.1)

Dieser ersten Periode verdanken wir eine Reihe von grund- legenden und noch in der Gegenwart fortwirkenden Schöpfungen des Städtebaus, nämlich i. die Methode der Parzellierung des städtischen Bodens (Bodenaufteilung); 2. die Einrichtungen für den Immobiliarverkchr und die Kapitalisierung des Bodens ; und 3. eine Gruppe von Rechtssätzen über die städtische Bauverwaltung und Baupolizei. Das Ergebnis läßt sich kurz dahin zusammenfassen, daß zunächst in der Bodenaufteilung genaue Scheidungen nach Zweck und Bedürfnis sowohl für die Straßen (Verkehrsstraßen, Wohnstraßen, Aufteilungsstraßen) wie für die Hausformen ge- schaffen wurden. Hierbei wurde eine selbständige Form des Klein- wohnungsgebäudes entwickelt ; es ist das bürgerliche Kleinhaus, das bis auf unsere Zeit die vorherrschende Hausform in Deutschland gewesen ist und in den Städten des deutschen Nordwestens noch heute überwiegt. Die Einrichtungen für den Immobiliarverkehr, aus denen sich unser Grundbuchwesen entwickelt hat, beruhten auf der damals eingeführten deutschrechtlichen Scheidung von Boden und Bauwerk; die Kapitalaufwendung für das Bauwerk wurde ge- trennt von dem nackten Recht am Boden. 2) Die produktive Auf- wendung von Kapital und Arbeit und das Besitzrecht am Baugrund durften sich nicht verschmelzen. In der Verwaltung des Bau- wesens endlich wurde eine Reihe von Rechtssätzen aufgestellt, die wie das Recht an unbebauten Plätzen bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts in Geltung geblieben sind, während die Rechtssätze über die Baupolizei sich ohne Unterbrechung bis in

') Zu den größten Stadterweiterungen des zwölften Jahrhunderts zählten die von Köln und Magdeburg; die damals gezogene Umwallung hat bis 1 880 bezw. 1872 bestanden. Auch die neu gegründeten Slädtc waren weiträumig angelegt.

*) In ähnlicher Weise, wie dies heute, jedoch unter veränderten Voraussetzungen, das Erbbaurecht anstrebt.

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Rudolf Eberstadt, Entwurf eines preußischen Wohnungsgesetzes. 175

die Gegenwart fortentwickelt haben. ') Die städtische Verwaltung hat in dieser ersten Periode unverwüstliche und unvergängliche Einrichtungen geschaffen.

Mit dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts ist die Blütezeit unserer Städte vorüber. Auf die letzte und glänzendste Entwicklung des sechzehnten Jahrhunderts folgt der traurige Verfall während des dreißigjährigen Krieges. Um die Mitte des siebzehnten Jahr- hunderts waren der Wohlstand und die Kraft der Städte vernichtet. Wenn das ganze Land unter den Verwüstungen des Krieges und ihren Nachwirkungen unsagbar gelitten hatte, so waren doch die Zustände in den Städten weitaus die schlimmsten ; denn ihr Handel, ihre Gewerbe, ihre Nahrung, waren ebenso tief herabgekommen wie die Zahl ihrer Bewohner gesunken war. Den Städten aufzu- helfen, war am schwierigsten; und dieser Aufgabe hatten sich nun die Landesfürsten zu unterziehen, die ihre Territorien wieder emporbringen wollten.

Diesen Zusammenhang müssen wir uns gegenwärtig halten, wenn wir erklären wollen, daß nunmehr in Deutschland eine neue Periode des Städtebaus beginnen mußte; es ist die des landesfürst- lichen Städtebaus, verbunden mit einer systematischen Baupolitik. War die erste Periode unseres deutschen Städtebaus getragen von dem selbständigen Aufblühen der Städte, so war die zweite Periode herbeigeführt durch die Arbeit der Landesfürsten für die Wieder- aufrichtung der verarmten und zurückgekommenen Städte. Unter den deutschen Territorien ragt Brandenburg-Preußen durch seine umfassende Tätigkeit für die Städte weit hervor, und hier liegt der Ausgangspunkt für die Entwicklung einer preußischen Baupolitik.

Die landesfürstliche Tätigkeit im Städtebau beginnt in Brandenburg-Preußen in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahr- hunderts unter Kurfürst Friedrich Wilhelm. Die seitdem ausge- bildete Baupolitik ist indes nur zu verstehen, wenn wir sie als einen Teil der allgemeinen Verwaltungspolitik auffassen, die in Preußen durch die Verkettung verschiedener Umstände gerade an die Begünstigung der Städte geknüpft war. Ein Hauptmittel für die Kräftigung und Hebung des Landes bildete, der merkantilisti- schen Auffassung entsprechend, die Förderung des Gewerbewesens; das Gewerbe aber hatte von alters her in der Hauptsache seinen

') Vgl. meine „Rheinischen Wohnverhältnisse und ihre Bedeutung für das Wohnungswesen in Deutschland." Jena 1903. S. 3 ff. und 105.

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Gesetzgebung.

Sitz in den Städten und wurde seit 1680 geradezu auf die Städte beschränkt. l) Durch die verschärfte städtische Konzentrierung der Industrie wurde eine Menge Handwerker vom platten Lande in die Städte getrieben. In hohem Maße wurde dann das Anwachsen der Städte verstärkt durch die segensreiche preußische Bevölkerungs- politik und die Begünstigung der Einwanderung, deren mächtiger Strom, soweit es sich um Gewerbetreibende handelte, zumeist nach den Städten gelenkt wurde. Eine ganze Reihe von Maßnahmen trat unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich dem Großen hinzu, die dieser kombinierten Förderung von städtischem Wesen und gewerblicher Tätigkeit dienten 2) ; durch Freiheiten, Privilegien und Unterstützungen wurden immer neue Scharen gewerbtätiger Ein- wanderer in die Städte gezogen.

Hand in Hand mit dieser energischen städtefördernden Politik ging nun, als ihre geradezu selbstverständliche Folge, die umfassende Bautätigkeit und Baupolitik, die mit steigendem Eifer durchgeführt wurde. Das achtzehnte Jahrhundert bezeichnet für Preußen den Höhepunkt der landesfürstlichen Bautätigkeit; ganze Stadtteile und Städte wurden damals planmäßig und systematisch neu angelegt. Die bisher in der Literatur herrschende Ansicht jedoch, daß es sich bei dieser Baupolitik Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs des Großen um Rechtsneuerungen und willkürliche Eingriffe des Ab- solutismus handelt, ist ganz irrtümlich. Das preußische Königtum hat hier, wie auf anderen Gebieten der Verwaltung, zunächst fran- zösische Einrichtungen und Vorbilder übernommen ; im übrigen aber wurde das alte kommunal-ständische, beim Niedergang der Städte in Verfall geratene Baurecht neu belebt und ausgenutzt. In der Hauptsache beruhte die landesfürstliche Baupolitik auf der Aus-

*) Den äußeren Anlaö hierzu bot die von dem Großen Kurfürsten eingeführte Accise, ein System direkter und indirekter Abgaben, die ausschließlich in den Städten, nicht aber auf dem flachen Lande erhoben wurden. Im steuerpolitischen Interesse wurden deshalb auf dem Lande in der Hauptsache nur die notwendigen Gewerbe (die sog. fünf Landhandwerke) zugelassen. Die alten ländlichen Handwerkerstcllen wurden katastriert, und im übrigen wurde das Gewerbe fast ausschließlich in die Städte verwiesen. Vgl. Schmoller, Umrisse und Untersuchungen zur Vcrfassungs-, Vcrwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte, Leipzig 1898, S. 157 und öfter a. a. O.

*) Vgl. u. a. das Statut Friedrich Wilhelm I. von 17 18, wegen der in den Städten erwünschten Handwerker; den Zuwandernden wurden große Privilegien gewährt und Mcilengcldcr für die Zureisc gezahlt. Schmoller a. a. O. S. 380 f.; Kurt v. Kohrscheidt, Vom Zunftzwang zur Gewcrbefrcihcit. Berlin 1898. S. 53.

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Rudolf Eber Stadt, Entwurf eines preußischen Wohnungsgesetzes. 177

Übung von Berechtigungen, die unsere deutschen Stadtverwaltungen selber während des Mittelalters geschaffen hatten und die, nach dem Verfall der städtischen Verwaltungen, nunmehr auf eine rein staatliche Grundlage gestellt wurden.1)

Die landesfürstliche Bautätigkeit hat tiefgreifende Neuerungen in der Stadtanlage und im Wohnungswesen eingeführt; sie brachte uns vor allem die schematische Richtung im Städtebau, die dem herrschenden Geschmack, dem Geiste des Absolutismus und der zeitgenössischen Theorie des Städtebaus entsprach. Die sozial- politische Vorsorge zeigte sich andererseits in der Parzellierung des Baulandes, bei der immer die Rücksicht auf die Schaffung kleiner Grundstücke und mittlerer Bürgerhäuser vorwaltete.

Mit dem Ablauf des achtzehnten Jahrhunderts war die Periode der landesfurstlichen Baupolitik zu Ende; ihre Wirkung auf die Technik des Städtebaus in Preußen ist eine äußerst nachhaltige geblieben; ihre Grundsätze dagegen konnten in das neue Staats- wesen nicht unverändert übernommen werden. Das neunzehnte Jahrhundert hat eine besondere Politik des Städtebaus zunächst nicht gekannt. Für die Handhabung der Bauverwaltung durch die zentralen und örtlichen Behörden waren in der Hauptsache maß- gebend die Vorschriften des allgemeinen Landrechts und der Städteordnung, sowie die Bestimmungen über die Organisation und Zuständigkeit der Behörden. -) Seit dem Erlaß des Gesetzes über die Polizeiverwaltung vom II. März 1850 gründeten sich die für die verschiedenen Landesteile ergangenen Baupolizeiverordnungen auf den § 6 Ziffer b, g und i des genannten Gesetzes. Die von den Ortspolizeibehörden wahrgenommenen Interessen betrafen vor- zugsweise die Fürsorge bei Bauausführungen und die Bedürfnisse des Verkehrs. Auf der Grundlage des erwähnten Paragraphen des Polizeiverwaltungsgesetzes beruht ferner die außerordentlich wich- tige Befugnis der Polizeibehörden zur Aufstellung von Bebauungs- plänen.*)

>) S. Rheinische Wohnverhältnisse. S. 4 und 102.

'•) Vgl. L. v. Rönne, Die Baupolizei des preußischen Staates. Berlin 1846 und öfter.

*) Mit Bezug auf die Bezeichnungen Bebauungsplan und Bauordnung seien hier folgende Bemerkungen eingeschaltet. Unter dem Bebauungsplan (Stadtbauplan) ver- steht man die Gesamtheit derjenigen Festsetzungen, die sich auf die Aufteilung «ics städtischen Bodens durch Straßenanlagcn, öffentliche Plätze usw. beziehen. Durch Archiv für Sotialwiisenschaft «1. Sozialpolitik. I. (A. f. soz. G. u. St. XIX.) 1. 12

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Gesetzgebung.

In den sechziger Jahren des abgelaufenen Jahrhunderts beginnt die dritte Periode des Städtebaues, die der Gegenwart. Die Städte treten wiederum in einen Abschnitt mächtigen Wachstums, der herbeigeführt wurde durch die nationalen Kriege, die politi- schen, technischen und wirtschaftlichen Umwälzungen. Die Be- völkerung stieg rasch und in immer stärkerem Maße; die Boden- werte erhöhten sich sprungweise; Kapital und Kredit wandten sich in den größten Summen dem Boden zu. Es waren gewaltige Auf- gaben, die dem Städtebau jetzt gestellt wurden. Die preußische Regierung nahm frühzeitig Anlaß, sich durch gesetzgeberische Maß- nahmen mit der neuen Entwicklung zu beschäftigen. Diese Maß- nahmen bilden einen äußerst interessanten Teil der jüngsten preußi- schen Verwaltungsgesetzgebung ; ich will versuchen, ihn hier erst- malig in knappen Zügen su schildern.

Es ist bezeichnenderweise die Grundlage des gesamten Städte- baus, die Behandlung des Bebauungsplans, die die preußische Re- gierung in dieser neuen Periode zunächst in Angriff nahm. Schon in den Jahren 1865 und 1866 wurde der Versuch gemacht, ein- zelne mit der Aufstellung von Bebauungsplänen zusammenhängende Materien zu regeln; doch gelang es nicht, eine Verständigung im Abgeordnetenhause herbeizuführen. In den Jahren 1873 74 ge- gelangten die Städtebaufragen wiederum an den Landtag. Ein An- trag auf Vorlegung einer Normalbauordnung für die Städte des ganzen Königreichs wurde abgelehnt; dagegen faßte das Abge- ordnetenhaus den Beschluß, die Regierung aufzufordern, eine gesetz- liche Regelung der mit dem Bebauungsplan zusammenhängenden Fragen eintreten zu lassen. Bereits zu Beginn des folgenden Jahres legte die Regierung den entsprechenden Gesetzentwurf vor; es ist das Gesetz betr. die Anlegung und Bebauung von Straßen und Plätzen in Städten und ländlichen Ortschaften, meist zitiert unter der Bezeichnung Baufluchtliniengesetz, das nach wesentlichen Ab- änderungen am 2. Juli 1875 die königliche Sanktion erhielt.

Das Baufluchtliniengesetz reiht sich würdig jenen großen Ge-

den Bebauungsplan wird also festgelegt: die Straßenbreite und damit die regelmäßig an die Straflenbrcite gebundene Bebauungshöhe (Stockwerkzahl) der Häuser; die Abmessungen der Baublöcke und der Grundstücke, und damit die Form des Häuserbaues. Die Bauordnung dagegen behandelt die Anforderungen an die Errichtung der Gebäude ; sie gibt Vorschriften über die Flächen- und Höhenausnutzung, Standfestigkeit, Feuersicherheit, Bauausführung.

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Rudolf Eberstadt, Entwurf eines preußischen WohnungsgcscUes. j

setzen an, die durch freigebige Ausstattung mit öffentlichen Rechten eine leistungsfähige Selbstverwaltung in Preußen schaffen wollen. Man wird sogar sagen dürfen, daß kaum ein zweites Gesetz Befugnisse von so weittragender ökonomischer Bedeutung in die Hand der Selbstverwaltungsbehörden gelegt hat, wie das Gesetz vom 2. Juli 1875. Unter seiner Herrschaft vollzog sich jetzt die Entwicklung der Bodenwerte und der Bodenverhältnisse in den Städten.

Die grundlegende Bestimmung des Baufluchtliniengesetzes geht dahin, daß die Befugnis zur Aufstellung von Bebauungsplänen im wesentlichen vom Staat den Selbstverwaltungsbehörden übergeben wird. Während die Regierung bis dahin das Recht für sich in Anspruch genommen hat, die Aufstellung von Bebauungsplänen selbständig anzuordnen und durch die Polizeibehörden zur Ausführung bringen zu lassen, soll die Aufstellung von Bebauungsplänen fortan der Regel nach der freien Initiative der Ge- meinden überlassen bleiben: mit diesen Worten kennzeichnet die Begründung des Gesetzentwurfs den Wert des Rechts, das jetzt den Gemeinden anvertraut wurde. Nur wenige Vorbehalte wurden von der Regierung gemacht, und auch diese haben sich in der Praxis als bedeutungslos erwiesen.

Alle Vorausetzungen rechtlicher und ökonomischer Art waren nunmehr gegeben, um den Städten eine richtige Bodenpolitik zu ermöglichen und die Bodenentwicklung dem Gemeininteresse gemäß zu gestalten. Was dagegen tatsächlich geschaffen wurde, ist be- kannt genug und bedarf nicht der näheren Darlegung. Der weite Komplex von verwaltungsmäßigen Maßnahmen, den wir unter der städtischen Bodenpolitik verstehen, hat in den meisten preußischen Großstädten einer kleinen Minderheit außerordentliche Vorteile ge- bracht, für die Gesamtbevölkerung dagegen schlechte Zustände herbeigeführt, wobei die politischen und wirtschaftlichen Schäden unendlich schwerer wiegen, als die zunächst am meisten beachteten hygienischen Nachteile. Im Interesse unseres gesamten politischen und öffentlichen Lebens ist es nicht genug zu beklagen, daß die Selbstverwaltung auf diesem wichtigsten Gebiet versagt hat und daß unter ihrer Geschäftsführung die heute herrschenden traurigen Bodenverhältnisse in den meisten preußischen Großstädten ent- standen sind.

Als seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die

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Gesetzgebung.

Mißstände im städtischen Wohnungswesen immer schärfer hervor- traten, suchte die preußische Regierung zunächst durch Maßnahmen der Baupolizei direkt oder indirekt auf die Gestaltung der Wohn- verhältnisse einzuwirken. Hier waren es insbesondere die Hygie- niker des Städtebaues und die ihnen nahestehenden Kreise, die die Bewegung in Fluß brachten. Durch hervorragende Autoritäten wurde die Behandlung der Bauordnungen wissenschaftlich vertieft und zu einem der wichtigsten Zweige des Städtebaus ausgestaltet. Akademische Lehrer, Techniker, Verwaltungsbeamte arbeiteten zu- sammen, um durch Anwendung abgestufter baupolizeilicher Be- stimmungen auf die Entwicklung der Bodenverhältnisse einzuwirken. Der Erfolg war in den einzelnen Städten, insbesondere bei recht- zeitigem Vorgehen, ein äußerst günstiger, wenn auch kein aus- reichender, da es nicht möglich war, die fehlerhaften Grund- lagen des Bebauungsplanes einseitig im Wege der Baupolizei zu korrigieren.

Erst als in den neunziger Jahren die Anschauung sich Bahn brach, daß es sich in der Wohnungsfrage in erster Linie um ein Problem der inneren Verwaltung handele, wurde auch die Stellung der Re- gierung eine andere. Schon im Jahre 1893 wurde durch eine Äuße- rung des Finanzministers v. Miquel bekannt, daß ein Wohnungs- gesetz in Ausarbeitung sei. Aber man kam über Entwürfe und Vor- arbeiten nicht hinaus. Das Interesse der Verwaltungsbeamten und der Regierungskreise wurde inzwischen immer lebhafter und trat in ein- zelnen wohnungspolitischen Maßnahmen hervor. Unter diesen ist die bedeutendste das Gesetz vom 13. August 1895, durch das zur Verbesserung der Wohnungsverhältnisse der Arbeiter und Beamten in Staatsbetrieben eine Summe von 5 Millionen Mark inzwischen durch Nachträge auf 59 Millionen erhöht zur Verfügung gestellt wurde. Daß die Regierung den Wohnungszuständen eine gesteigerte Aufmerksamkeit zuwandte, war hiermit erwiesen.

Immerhin aber wußte man noch nicht, wie die grundsätzliche Stellung der preußischen Regierung zur Wohnungsreform sei. Da erschien am 19. März 1901, der Öffentlichkeit unerwartet, der Mini- sterialerlaß „wegen der zur Verbesserung der Wohnungsverhältnisse zunächst zu ergreifenden Maßnahmen".1) Der Erlaß war an alle Regierungspräsidenten der Monarchie gerichtet ; er kennzeichnet sich

') Veröffentlicht im deutschen Reichs- und Künigl. Preuß. Staatsanzeiger vom 4. April 1901.

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Rudolf Eberstadt, Entwurf eines preußischen Wohnungsgeset/es. jgj

als eine bemerkenswerte .Kundgebung. Die Form war eine pro- grammatische; ein Aktionsprogramm wurde aufgestellt und be- stimmte Anweisungen zum praktischen Handeln wurden gegeben.

Der Ministerialerlaß wird in der Geschichte der preußischen Wohnungsreform dauernd eine Stelle behalten; sein Inhalt er zerfällt in eine Einleitung und in vier Artikel verleiht ihm im übrigen eine hervorragende praktische Bedeutung. Die Einleitung geht davon aus, daß die Wohnungsverhältnisse Bedenken erregen sowohl in gesundheitlicher als insbesondere in sozialer und sitt- licher Beziehung. Nicht hervorgehoben sind also die politischen und die wirtschaftlichen Interessen, die mindestens die gleiche Be- rücksichtigung erfordern. Die Einleitung sagt weiter, daß „ein durch- greifender Erfolg in den Wohnverhältnissen sich nur durch ein um- fassendes gesetzliches Vorgehen auf den verschiedenen in Frage kommenden Verwaltungsgebieten erreichen lassen wird". Doch wünscht der Erlaß, daß schon vor den in Vorbereitung befindlichen Änderungen der Gesetzgebung, im Verwaltungswege alle geeigneten und durchfuhrbaren Maßnahmen getroffen werden.

Artikel I verweist auf das obenerwähnte Gesetz vom 13. August 1895 und dessen Nachträge, über die Bereitstellung von Geldmitteln zum Wohnungsbau für die Arbeiter der Staatsbetriebe. Es soll nun auf die Gemeinden hingewirkt werden, daß sie ebenfalls für die Wohnverhältnisse ihrer Arbeiter und Beamten Vorsorge treffen, entweder durch kommunalen Eigenbau von Kleinwohnungen oder durch Förderung von Beamten-Baugenossenschaften. Artikel 2 be- schäftigt sich dann mit der Herstellung kleiner und mittlerer Woh- nungen für die Gesamtbevölkerung (also nicht für den Beamten- stand). Der Kleinwohnungsbau soll allgemein gefördert werden durch Erleichterungen für die Bauunternehmer, insbesondere durch Nachlaß oder Ermäßigung der Straßenkosten, der Kanalisations- kosten, der Prüfungsgebühren der Baugesuchc, durch Beihilfen in der Erlangung des erforderlichen Realkredits. Artikel 3 erörtert kurz die Verkehrsmittel zur Erleichterung des Verkehrs mit den Außenbezirken. Der vierte Artikel behandelt die kommunale Boden- politik, der mit Recht eine durchgreifende Bedeutung für die bessere Gestaltung der Wohnungsverhältnisse zugeschrieben wird. Zunächst empfiehlt der Ministerialerlaß eine Vermehrung des städtischen Grundbesitzes in Gemeinden mit rasch wachsender Bevölkerung; auf dem Gebiet der Stadterweiterung soll die Gemeinde selber Grund und Boden erwerben.

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Gesetzgebung.

Die unmittelbare Wirkung des Ministerialerlasses ist eine sehr weitgehende und günstige gewesen. Die Baugenossenschafts- bewegung nahm einen lebhaften Aufschwung, wenn es auch immer noch nicht gelungen ist, den Widerstand einzelner, durch Sonder- interessen beherrschten Gemeindevertretungen zu überwinden. Neue Vereinigungen zur Förderung des Arbeiterwohnungswesens wurden gegründet; in die ganze Wohnungsreform kam ein frischer, leben- diger Zug, nachdem jetzt der feste Wille der Regierung bekannt und die Teilnahme derselben gesichert war.

Zweimal war in dem Ministerialerlaß die Einbringung eines Wohnungsgesetzes als bald bevorstehend bezeichnet worden. Im Jahre 1902 gelang es zunächst ein Spezialgesetz, das früher ge- scheitert war, unter Dach und Fach zu bringen; es ist das Gesetz über die Umlegung von Grundstücken, bekannt unter dem Namen der lex Adickes, mit einem zunächst auf Frankfurt a. M. beschränkten Geltungsbereich. Inzwischen waren die schwierigen Vorarbeiten für das Wohnungsgesetz selber zu Ende gefuhrt worden. Im Mai des Jahres 1903 wurde amtlich bekannt gegeben, daß der erwartete Entwurf eines Wohnungsgesetzes fertiggestellt sei. Zugleich wurden nähere Mitteilungen über den wesentlichen Inhalt des Entwurfs der Öffentlichkeit übergeben. ')

II. Der Inhalt des Entwurfs.

Ich habe versucht, die wenig bekannte Entwicklung der preußischen Gesetzgebung über den Städtebau im Zusammenhang zu schildern, da sich nur hierdurch ein richtiger Standpunkt für die Beurteilung des neuen Entwurfs gewinnen läßt. Auch für das gesetzgeberische Vorgehen und Handeln ist nicht so sehr das Augenblicksbild, als vielmehr der geschichtlich überlieferte Zustand entscheidend. Uber- blicken wir die Entwicklung der Gesetzgebung, so ist es klar, daß der neue W'ohnungsgesctzentwurf nicht mehr aus dem Vollen geben konnte, sondern daß er durch vorhandene Verhältnisse gebunden war. Wir können nunmehr vier Gebiete unterscheiden, deren Be- handlung der Gesetzentwurf unternimmt: 1. Bebauungsplan und Straßenbau, 2. Bauordnung, 3. Kleinwohnungsbau, 4. Wohnungs- hygiene.

') Vgl. den Abdruck in der Kölnischen Zeitung und in der Zeitschrift für Wohnungswesen. Der Wortlaut des Entwurfs selber ist noch nicht veröffentlicht worden.

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Rudolf Eberstadt, Entwurf eines preußischen Wohnungsgesetzes. i

i. Für die Bestimmungen über den Bebauungsplan und den Straßenbau war der Ausgangspunkt von selbst gegeben; die neuen Bestimmungen stellen sich naturgemäßer Weise dar als eine Ergänzung und Abänderung des oben S. 178 erwähnten Bauflucht- liniengesetzes von 1875. Der Bebauungsplan ist von grundlegender Bedeutung für die städtische Entwicklung; durch ihn wird die Auf- teilung des städtischen Bodens bestimmt. Ich kann mit Bezug hier- auf nur einige wenige Momente an dieser Stelle hervorheben. Die Bodenaufteilung wird in erster Linie bewirkt durch das Straßen- system, durch die Breite, durch die Zahl und durch den Abstand der einzelnen Straßen. Werden die Straßen beispielsweise nur in einem Abstand angelegt, der 200 Meter von Straße zu Straße be- trägt, so entstehen Grundstücke, die eine Tiefe von je 100 Metern haben ; diese können nur durch Massenmietshäuser mit Hofwohnungen bebaut werden. Wird jede Straße schablonenmäßig 22 Meter breit bemessen, so werden die Mäuser allgemein 22 Meter = fünf Ge- schosse hoch gebaut und der Preis des Bodens erhöht sich ent- sprechend dem Werte der fünffachen Uberbauung. Diese Par- zellierungsweise hat ferner die notwendige Wirkung, daß die Zahl der Grundstücke außer allem Verhältnis zu der Zahl der Bevölke- rung gebracht, der Monopolwert des Bodens gesteigert und ein Stand von nur nominellen Hausbesitzern gebildet wird. Eine Un- zahl von weiteren zwingenden Folgen für die Preisbildung der Boden- werte und der Wohnungsmieten, für die politischen und wirtschaft- lichen Verhältnisse der städtischen Bevölkerung, für die Wohnungs- produktion und die Wohnungszustände knüpft sich an die Parzellierung. Die der vorerwähnten entgegengesetzte Bodenparzellicrung besteht darin, daß die Straßen in unterschiedlichen Abmessungen an- gelegt werden; z. B. in einem Abstand von 50 90 Metern und in einer Breite von 9 12 Metern für Wohnzwecke. Es entstehen alsdann Grundstücke von 25 45 Metern Tiefe, die mit 2 bis 3 Wohngeschossen bebaut werden. Die nächsten Folgen sind: niedrige (nicht künstlich getriebene) Bodenpreise, Differenzierung der Bodenwerte für den Kleinwohnungsbau, realer Hausbesitz und bessere Wohnungen. Die Wirkungen der beiden Parzellierungs- formen habe ich in den im Anhang beigefügten Skizzen veran- schaulicht.

In der Mehrzahl der deutschen Großstädte sind nun die Be- bauungspläne in der Weise gehandhabt worden, daß durch Straßen-

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Gesetzgebung.

anläge und Parzellierung die schlimmste Boden- und Häuser- spekulation zur Herrschaft gebracht wurde. An dieser Stelle greift der Gesetzentwurf ein, und zwar mit einer seiner wichtigsten Be- stimmungen. Der Gesetzentwurf schreibt vor, daß bei der Auf- teilung des Baugeländes das Wohnungsbedürfnis berücksichtigt werde und daß für Wohnungszwecke Straßen von geringer Breite und Baublöcke von geringer Tiefe geschaffen werden sollen. Mit dieser Bestimmung sagt der Entwurf soll dem Gebrauch entgegen- getreten werden, vorwiegend tiefe Baublöcke bei wenigen über- mäßig breiten Straßen vorzusehen, wodurch das Bestreben gefordert wird, durch Errichtung großer Massenmietshäuser die Preise der Grundstücke in die Höhe zu treiben.

Von großer Bedeutung für das Wohnungswesen ist die recht- zeitige und ausgiebige Bereitstellung neuen Baulandes, dessen Aufschließung durch Anlage von Straßen erfolgen muß. Auch hier bringt der Gesetzentwurf eine wesentliche und notwendige Neuerung. Hinsichtlich des Straßenbaus sollen die Ortsbehörden die Befugnis erhalten, mit Rücksicht auf das Wohnungsbedürfnis die Fertig- stellung von Straßen und Straßenteilen zu verlangen. Damit wäre ein schwerer Mißstand beseitigt, der darin besteht, daß heute viel- fach mit der Straßenaufschließung ganz zurückgehalten oder nur das- jenige Gelände aufgeschlossen wird, an dem gewisse Grund- besitzer ein Interesse haben.

2. Die zweite Gruppe von Maßnahmen bezieht sich auf die Baupolizeiordnungen. Der Gesetzentwurf will für die Befugnis der Baupolizeibehörden, durch Bauordnungen die Ausnutzung der einzelnen Grundstücke zu regeln, eine feste Grundlage geben. Nach dem Ent- würfe kann durch die Bauordnungen insbesondere geregelt werden : die Abstufung der baulichen Ausnutzbarkeit der Grundstücke nach Zonen oder Bezirken (Beschränkungen der Ausnutzbarkeit des Grund und Bodens hinsichtlich der bebaubaren Fläche und der Stockwerk- zahl); die Ausscheidung besonderer, von den Wohnstraßen und Wohnvierteln getrennter Straßen und Viertel für die Errichtung von Anlagen, die durch Lärm, Rauch und durch die Art des Be- triebes Belästigungen der Wohnbevölkerung herbeiführen (Fabrik- und Industrieviertel).

3. Die dritte Materie betrifft die unmittelbare Förderung des Baues von Kleinwohnungen. Hier handelt es sich darum, die be- sonderen Bedürfnisse des Kleinwohnungswesens zu berücksichtigen und durch praktische Maßnahmen die notwendige Steigerung in

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Rudolf Eberstadt, Entwurf eines preuöischen Wohnungsgesetzes, j g 5

der Produktion von Kleinwohnungen herbeizuführen. Für den Klein - Wohnungsbau sollen deshalb gewisse Begünstigungen gewährt werden hinsichtlich der Kanalisationsbeiträge, des Wasserbezugs, der Bau- polizeigebühren und der Besteuerung. Die entsprechenden Abgaben sollen nur zu einem Teil höchstens zu drei Vierteln er- hoben werden, wenn sie solche Wohnungen belasten, die nach ihrer Anlage den minder bemittelten Familien dienen. Als solche Wohnbauten sind anzusehen die Gebäude der gemeinnützigen Bau- vereinigungen, d. h. solcher Vereinigungen, bei denen satzungs- gemäß der zu verteilende Jahresgewinn auf 4°/0 beschränkt ist.

Dieser Grundsatz erfahrt nun weiterhin eine ebenso berechtigte wie erwünschte Ausdehnung. Die gleichen Begünstigungen in der Abgabenberechnung sollen gewährt werden für die Wohngebäude der Arbeiter und Handwerker, die von den Besitzern selbst und höchstens noch zwei Familien gleichen Standes bewohnt werden. Hierdurch erleichtert der Entwurf in einer glücklich gewählten Kom- bination zugleich den Eigenbau und die Herstellung kleiner Mi ets wo h n u n ge n. Obne Zweifel wird hiermit ebensosehr auf die Besserung der Grundbesitzverhältnisse wie auf die des Klein- wohnungswesens hingewirkt. Eine praktische Bedeutung kann diese sozialpolitisch äußerst wichtige Bestimmung allerdings erst dann haben, wenn durch die unter Ziffer 1 erwähnten Maßnahmen (An- lage von Straßen mit kleineren Baublöcken und entsprechend billigeren Bodenpreisen) die Möglichkeit zur Schaffung der ent- sprechenden Grundstücke gegeben ist.

4. Die vierte Gruppe von Vorschriften endlich enthält die hygienischen Bestimmungen ; sie handeln von der Wohnungsaufsicht, von der Festsetzung eines Mindestluftraums, vom Schlafstellenwesen und den dazu gehörigen Materien. Für Gemeinden mit 100 000 und mehr Einwohnern soll zur Handhabung der Aufsicht ein Wohnungs- amt errichtet werden.

Der preußische Wohnungsgesetzentwurf stellt sich durch diese teils neuen, teils ergänzenden Bestimmungen als eine bedeutsame Verwaltungsmaßnahme dar, die unter richtiger Anpassung an die gegebenen Verhältnisse, die Möglichkeit für eine gesunde und sozialpolitisch notwendige Fortentwicklung des städtischen Wohnungs- wesens zu schaffen sucht. Inwiefern der Entwurf den Anforderungen an die Reform der städtischen Boden- und Wohnungspolitik ent- spricht soll im folgenden erörtert werden.

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Gesetzgebung.

III. Die Ziele der Wohnungsreform.

Drei hauptsächliche Ziele hat sich die Bearbeitung der städti- schen Bodenverhältnisse zu setzen: die sozialpolitisch richtige Auf- teilung des Bodens, die wirtschaftsgemäße Ordnung des Realkredits, die Handlungsfreiheit der Selbstverwaltung. Bodenaufteilung, Realkredit, Selbstverwaltung das sind die drei Richt- punkte, nach denen sich die gewaltige und vielverzweigte Arbeit der städtischen Bodenpolitik zu bewegen hat. Prüfen wir nun den preußischen Entwurf darauf, ob er für diese drei Gebiete das Er- forderliche leistet.

Hinsichtlich der Bodenaufteilung vertritt der Entwurf die Anschauungen, die in der Fachwissenschaft heute, ich darf sagen, ohne Ausnahme anerkannt sind. Im Anschluß an die kurzen Erörterungen oben S. 183 kann ich mich hier auf den Hinweis beschränken, daß die Bodenaufteilung entscheidend ist für die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung des städtischen Wesens.') Die Mittel, die der Entwurf vorschlägt, um auf diesem Gebiet den krassen Schäden des Spekulationsbesitzes entgegenzutreten , sind die richtigen. Die Interessen der Ge- meinde, der Gesamtbevölkerung und des soliden Grundbesitzes stimmen hier überein. Zu erwähnen bleibt noch, daß in dieser Frage auch in der Stellung der (gewerbsmäßigen) Haus- besitzer eine erfreuliche und überraschende Wendung eingetreten ist In einem von dem Zentralverband der Haus- und Grund- besitzervercine Deutschlands herausgegebenen Veröffentlichung (Ver- fasser A. Grävell) wird in entschiedenster Weise und in den schärf- sten Ausdrücken der spekulative Hausbesitz und die ihn begünsti- gende Bodenparzellierung bekämpft und als der Verderb eines selbständigen und soliden Hausbesitzerstandes bezeichnet. Als die auch im Interesse des Hausbesitzerstandes zu verlangende Haus- form wird gefordert das Bürgerhaus, das in der genannten Schrift definiert wird als ein bürgerliches Miethaus für vier bis sechs, im Höchstfalle für acht Familien.2)

Mit welchen Mitteln und in welcher Entwicklung die Boden- und Häuserspekulation sich in Deutschland, insbesondere in Preußen,

') Vgl. noch meine Rheinischen Wohnverhältnisse S. 10 1. •) Vgl. die Anzeige des Grävcllschen Buches in Schmollers Jahrbuch Bd. 26 Heft 3 S. 1333 ff.

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Rudolf Eberstadt, Entwurf eines preußischen Wohnungsgesetzes. 187

herausgebildet hat, ist an dieser Stelle nicht zu schildern. Hervor- zuheben ist indes, daß auch heute die Form des realen Haus- besitzes mit ihren günstigen Folgen für das Wohnungswesen noch in einem großen Teile Deutschlands vorherrscht; es ist dies der Fall in dem westlichen und nordwestlichen Gebiet, das abgegrenzt wird durch eine etwa von Bremen bis Koblenz gezogene Linie und dessen Mittelpunkt das Rheinland mit den Städten Elberfeld, Düssel- dorf und Krefeld bildet. Hier hat sich unsere alte deutsche Bau- weise ohne Eingriffe und Unterbrechungen bis zur Gegenwart fort- entwickelt und die Bauformen geschaffen, die für die Bearbeitung unseres Wohnungswesens allgemein als Vorbild dienen können. Das Studium der Rheinischen und Bremer Wohnverhältnisse zeigt, daß sich nur durch Ausbildung selbständiger Formen für den Klein- wohnungsbau günstige Wohnungszustände erzielen lassen. Als der leistungsfähigste Typus ist wohl das Vierfamilienhaus zu bezeichnen, das in rasch anwachsenden Großstädten Kleinwohnungen in ge- nügender Zahl und guter Beschaffenheit zu liefern vermag.

Hinsichtlich des Realkredits sucht der Entwurf nur indirekt einzuwirken, indem er Begünstigungen vorsieht einerseits für die gemeinnützige Bautätigkeit, andererseits was besonders wertvoll für das kleine Arbeitermiethaus. Hierdurch wird die Bautätig- keit in zwei bedeutsamen Richtungen dir die Baugenossen- schaften und für den Bau von Dreifamilienhäusern erleichtert. Eine allgemeine Regelung des Realkredits wird jedoch in dem Ent- wurf nicht angebahnt, obwohl zu einem gesetzgeberischen Vorgehen auf diesem Gebiet eine unabweisbare Notwendigkeit vorliegt.

Die grundlegende Bedeutung, die unseren Institutionen des Realkredits für die Bodenentwicklung zukommt, ist erst neuerdings hervorgehoben worden. Die Gestaltung unserer Boden- verhältnisse hängt in hohem Maße ab von den öffentlichen Einrich- tungen für die Belastung des Bodens, für das Grundbuchwesen und das Hypothekenwesen. Die in Deutschland hier herrschenden Zu- stände zeigen zunächst äußerlich betrachtet einen auffalligen Wider- spruch. Das Kapital fließt jahraus jahrein in ungezählten Mengen dem Boden zu; zugleich aber ist die Klage allgemein, daß für pro- duktive Zwecke Kapital schwierig und in unzureichender Weise er- hältlich ist. Das Baugewerbe ist allgemein abhängig von den spekulativen Interessen des Bodenbesitzers, der in der Frage der Kapitalbeschaffung die ausschlaggebende Stelle inne hat. Für den

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Gesetzgebung.

privaten gemeinnützigen Wohnungsbau müssen wir uns das Geld mit den größten Schwierigkeiten beschaffen. Der Staat endlich muß jähr- lich öffentliche Gelder hergeben, um nur die Tätigkeit der Beamten- Baugenossenschaften zu ermöglichen. Auf der andern Seite aber wird durch unsere Volkswirtschaft jedes Jahr die gewaltige Summe von vier Milliarden für die Kapitalisierung des Bodens tatsächlich aufgebracht. Auf der einen Seite Übersättigung; auf der anderen Seite Kapitalschwicrigkeit und Mangel. Soweit für diese Entwick- lung verwaltunjjsrechtliche Ursachen in Frage kommen, liegen sie in unsern Einrichtungen für die Kapitalisierung des Bodens, für das Grundbuch- und Hypotheken wesen. Unsere grundbuchlichen Ein- richtungen — nach der formalen Seite die vollendetsten in irgend einem Lande der Welt leisten nach der materiellen Seite das Gegenteil dessen, was sie leisten sollen ; sie dienen der Spekulation und der unproduktiven Kapitalverwendung, während das Produktiv- kapital zurückgesetzt wird.

Wie die preußische Gesetzgebung über Wohnungswesen und Städtebau, so hat auch die Hypothekengesetzgebung ihre Geschichte, ohne deren Kenntnis die heutigen Zustände nicht verständlich sind. Eine genauere Darstellung in dem vorliegenden Zusammenhange zu geben, ist nicht möglich ; doch möchte ich meinen an anderer Stelle veröffentlichten Untersuchungen hier noch einiges hinzufügen.

Unsere Einrichtungen für das Grundbuch- und Hypotheken- wesen sind deutschrechtlich. Sie entstammen der ersten Periode unseres Städtebaus, die die deutschen Einrichtungen für die Kapi- talisierung des Bodens geschaffen hat (s. oben S. 1 74). Der leitende Grundsatz des deutschen Rechts aber war: rechtliche Trennung von Boden und Bauwerk. Die Werte, die Kapital und Arbeit schufen, durften sich nicht vereinigen mit dem Recht des Bodenbesitzers. Hierdurch wurden Kapital und Arbeit in ununterbrochenem Strom dem Boden zugeführt und in einer kapitalarmen Wirtschaft wurde die intensivste Bodenkultur ermöglicht.1) Mit dem Eindringen des römischen Rechts gelangte allmählich die der deutschen entgegen- gesetzte römische Auffassung zur Geltung: superficies solo cedit; was auf dem Boden steht, wächst dem Boden zu. Auch auf anderen Gebieten des Immobiliarvcrkehrs drangen seit dem sechzehnten Jahrhundert die römischrechtlichen Auffassungen durch; sie führten indes zu unhaltbaren Zuständen im Realkredit. In Preußen kmff

') Rheinisrhr Wohnverhältnisse S. 105 f.

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Rudolf Ebcrstadl, Entwurf eines preußischen Wolinungsgcsctzes. 1 89

man deshalb unter Friedrich I. und Friedrich Wilhelm I. auf die Einrichtungen der deutschen Grundbücher zurück, deren Anlage durch eine Reihe von Edikten geregelt wurde. Nach der Durch- führung der Justizreform Friedrichs des Großen wurde am 20. De- zember 1783 eine neue Hypothekenordnung eingeführt, deren Vor- trefflichkeit allgemein anerkannt war, und die in ihren Grundzügen im wesentlichen unverändert bis zum Jahre 1872 bestanden hat.

Der neue, für uns bemerkenswerteste Abschnitt in der Ent- wicklung des Bodenkredits beginnt mit der Grundbuchordnung vom 3. Mai 1872. Ihr ausgesprochenes und berechtigtes Ziel war, den Realkredit der Beweglichkeit des Kapitals anzupassen. Das Studium der Landtags vorlagen, Berichte und Verhandlungen über diese in die wirtschaftlichen Verhältnisse tief eingreifende Maßnahme bietet noch heute ein hervorragendes Interesse. Die Reform des Hypothekenwesens wurde damals von der Landwirtschaft fast in noch höherem Maße gefordert, als von den Städten. Man glaubte durch Erleichterung des Hypotheken- verkehrs und der Bodenbelastung eine stärkere Zufuhr des Pro- duktivkapitals zu erreichen. Den Fehler, in den man dabei ver- fiel, bestand darin, daß man das staatliche Grundbuch unter- schiedslos für jede Bodenbelastung zur Verfügung stellte, gleich- viel ob die Beträge aus produktiven Aufwendungen oder aus un- produktiven Ansprüchen herrührten.

Das hieraus folgende Ergebnis der preußischen Grundbuchreform wird von den juristischen Praktikern in der Formel zusammengefaßt: je besser das Grundbuch, je höher die Verschuldung. Mir scheint indes, eine solche Folge liegt durchaus nicht in der Natur der grundbuchlichen Einrichtungen. Im Gegenteil, die bessere Anlage des Grundbuchs muß eigentlich zu einer verhältnismäßig niedrigeren Verschuldung führen , wenn die Grundgedanken, auf denen die Institution beruht, berücksichtigt werden. Das ist aber hier nicht geschehen. Die preußische Grundbuchreform von 1872 beseitigte jede Beschränkung in der Eintragung von Hypotheken, ohne Rücksicht auf das Produktivkapital, das man eigentlich heran- ziehen wollte und, was vielleicht noch schlimmer ist, ohne Rücksicht auf die ungeheure wirtschaftliche und soziale Wirkung der öffentlich- rechtlichen grundbuchlichen Einrichtungen. Ich habe diese Ver- hältnisse und ihre Folgen an anderer Stelle genauer untersucht ') ;

') Der deutsche Kapitalmarkt, S. 219 fr.

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Gesetzgebung.

hier möchte ich nur einen bemerkenswerten Ausspruch verzeichnen, der von dem Abgeordneten Reichensperger (Olpe) während der Verhandlungen über die Grundbuchordnung von 1872 getan wurde: „Das kann man freilich machen, das heißt aber Aufgeben alles materiellen Rechtsprinzips, es heißt, die Idee, die in allen Gesetzgebungen ihren Ausdruck gefunden hat, ver- leugnen, — es heißt, das System des Wechselrechts generali- sieren".

Die Auffassung ist richtig; aber der Vergleich mit dem Wechselrecht trifft nicht zu, da er gerade den Hauptunterschied nicht hervorhebt. Der Staat hat keinerlei Einrichtungen ge- schaffen, um die Valuta eines Wechsels zu garantieren; der Staat übernimmt keinerlei Bürgschaft, daß der Wert, den der Akzeptant zu zahlen verspricht, überhaupt irgendwie vorhanden ist. Anders dagegen bei den grundbuchlichen Einrichtungen. Hier schützt der Staat den Rang und das Objekt der grundbuch- lichen Forderung; aber er gibt jetzt diese Garantie ohne jede Prüfung des zugrunde liegenden Rechtsgeschäfts. Darin liegt ge- wiß eine Anomalie. Man wird kein zweites Gebiet zu nennen wissen, auf dem der Staat Einrichtungen von größter Trag- weite geschaffen hat, um die Sicherheit einer Forderung zu ver- bürgen, deren Ursprung er weder kennt noch prüft. Heute ge- währt der Staat das folgenschwere Recht der grundbuchlichen Sicherheit ohne Rücksicht auf das Rechtsgeschäft, das der hypothe- karischen Forderung zugrunde liegt. In diesen Formen vollzieht sich eine der vornehmsten Äußerungen staatlicher Tätigkeit in unserem Wirtschaftsleben.

Für den städtischen Bodenkredit entsteht hier einer der schwersten Mißstände, der sich nur beseitigen läßt durch die Trennung der Hypotheken in Meliorationshypotheken und einfache Boden- schulden. Die grundbuchliche Belastung des Bodens für produk- tive und Kulturzwecke muß durchaus getrennt bleiben von der Be- lastung für unproduktive und sterile Zwecke. Unser heutiges Grund- buchsystem gibt in einer Weise, wie dies in keinem andern Lande bekannt ist, der Spekulation die Verfügung über die Entwicklung der Bodenwertc. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen dient der durch die Bebauung und Bodenkultur geschaffene Wert in erster Linie dazu, den rein spekulativen Forderungen Konsistenz zu verleihen und sie realisierbar zu machen; ermöglicht wird dies durch die Verschmelzung von Spekulationsgewinn und produk-

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Rudolf Eberstadt, Entwurf eines preußischen Wohnungsgesctzes. | g \

tiver Aufwendung bei der hypothekarischen Belastung der Grund- stücke. *)

Eine grundsätzliche Regelung der Hypothekengesetzgebung ist Reichssache.*) Indes könnte Preußen auch, nach den Be- stimmungen des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch, selbständig vorgehen, wozu der Wohnungsgesetzentwurf den ge- gebenen Anlaß bietet.

Es ist bekannt und offenkundig, daß der von den Hypotheken- banken erhältliche Bodenkredit versagt sowohl für den gemein- nützigen Wohnungsbau wie auch allgemein für den nichtspeku- lativen Klein Wohnungsbau. Gerade für das Wohnungsbedürfnis der Kreise, auf die sich der neue Wohnungsgesetzentwurf bezieht, fehlt es an zureichendem Realkredit. 3) Gegen den Wert und die Leistungen unserer Hypothekenbanken soll damit nichts gesagt werden; die Banken sind indes durch ihren ganzen Apparat mit dem spekulativen Bodengeschäft eng verknüpft und auf die hieraus hervorgehenden Gewinne und Verdienste zugeschnitten. Die ein- fache Form des Realkredits, dessen das Klein Wohnungswesen be- darf, ist nicht Sache unserer Hypothekenbanken. Wir brauchen neben unseren Hypothekenbanken reine Realkreditinstitute, die nach geschäftlichen Grundsätzen, aber doch mit einem wesentlich ein- facheren Apparat einen billigen Realkredit für den städtischen Häuserbau vermitteln und auf die Tilgung der Bodenschulden hin- wirken sollen. Das Großherzogtum Hessen hat zu diesem Zweck durch die treffliche wirtschaftspolitische Gesetzgebung des Jahres 1902 eine Hypothekenbank mit staatlichen und öffentlichen Mitteln ins Leben gerufen.4) Für die preußischen Verhältnisse müßte

l) Wegen der Einzelheiten s. meinen Kapitalmarkt S. 264. Vgl. hierzu eine jüngst veröffentlichte Studie von Carl Joh. Euchs (Zeitschrift für Wohnungswesen 10. Febr. 19x14 S. Ii 3), die in anregender Weise die von mir behandelten Fragen einer kritischen Erörterung unterzieht. Die in meinen Schriften aufgestellte Scheidung lautet indeß : Meliorationshypothek und einfache Bodcnschuld ; nicht Spekulations- hypothek, wie in der Überschrift des F.schen Artikels gesagt ist.

*) Es wäre erfreulich, wenn der Verein Reichswohngesetz dieser Frage seine Tätigkeit widmen wollte.

•) Vgl. M. Brandts, Soziale Praxis XI. Jahrgang 1901, S. 138. Zahlreiche Belege für die hier behandelten Verhältnisse gibt die von Prof. Alb recht heraus- gegebene Zeitschrift für Wohnungswesen im einzelnen.

*) Vgl. Ministerialrat Braun, Die wirtschaftspolitische Gesetzgebung des Groli- herzogtums Hessen im Jahre 1902. Darrnstadt 1902, und meine Anzeige Preuß. Jahrbücher 1903. Bd. in, Heft 1, S. 142.

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Gesetzgebung.

eine solche Anstalt auf breiterer Grundlage und ohne oder doch ohne größere Beanspruchung öffentlicher Gelder errichtet werden. Der gegebene, nach der bestehenden Gesetzgebung gangbare Weg wäre die Schaffung eines öffentlichen Hypothekeninstituts mit dem Vorrecht das eigentlich das gemeine Recht sein müßte der sog. Meliorationsdarlehen; d. i. der Darlehen, die für die Besserung eines Grundstücks gegeben werden.

Durch Artikel 118 des Einführungsgesetzes zum B.G.B, wird der Landesgesetzgebung das Recht vorbehalten, zugunsten von Meliorationsdarlehen einen grundbuchlichen Vorrang zu schaffen. Dieser Vorrang kann gewährt werden einer öffentlichen Anstalt wegen eines zur Verbesserung des belasteten Grundstücks gegebenen Darlehens.1) Die Errichtung eines solchen Instituts, das die Förderung des Kleinwohnungsbaus allgemein zum Ziele nimmt, ist an sich notwendig. Doch könnten für die Ausstattung des In- stituts in Preußen nicht lediglich oder auch nur vorzugsweise öffent- liche Mittel in Frage kommen. Einer solchen Anstalt würde vielmehr, bei Verleihung des Vorrechts der Meliorationsdarlehen, Privatkapital reichlich zufließen; sie würde dem privaten und genossenschaft- lichen Klcinwohnungsbau den erforderlichen Realkredit billig liefern ; sie würde (gleich der hessischen Anstalt) nur Amortisationsdarlehen geben und dadurch auf die Entschuldung hinwirken, während heute die Schuldentilgung von den gewerbsmäßigen Hausbesitzern grund- sätzlich *) abgelehnt und der Boden mit einer steigenden und untilg- baren Verschuldung belastet wird.

An dritter Stelle haben wir die Beziehungen zur Selbst- verwaltung zu betrachten und ich möchte vorweg bemerken, daß mir die Wirkung des Entwurfs auf die kommunale Selbstver-

') Der Artikel 118 Einiges. B.G.B, lautet wörtlich: „Unberührt bleiben die landesgesetzlichen Vorschriften, welche einer Geldrentc, Hypothek, Grundschuld oder Kentonschuld, die dem Staate oder einer üflentlichcn Anstalt wegen eines zur Ver- besserung des belasteten Grundstücks gewährten Darlehns zusteht, den Vorrang vor anderen Belastungen des Grundstücks einräumen." In den Wirkungen der Ver- besserung besteht kein grundsätzlicher Unterschied zwischen ländlichen und städtischen Grundstücken. Der leitende Gesichtspunkt ist, daß durch die Bodenbesserung eine Wertsteigerung des Grundstücks bewirkt wird, so daß der zurücktretende Gläubiger keine Einbuße an seiner Sicherheit erleidet, während zugleich durch Amortisation für die Abtragung der Meliorationshypothek gesorgt wird.

*) S. meinen Kapitalmarkt S. 256 f.

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Rudolf Ellerstadt, Entwurf eines prculiischt-n NVohnungsgcsi'tzcs. 193

waltung als die wichtigste und bedeutsamste von allen erscheint. Die wesentliche Frage geht dahin, ob der Entwurf die Wirkung hat, die Aktionsfähigkeit der Selbstverwaltung zu stärken oder zu schwächen.

Die Grundlage der staatlichen Zustände sind immer und überall die kommunalen. Für Preußen liegt eines der ernstesten Probleme darin, daß es nicht gelungen ist, die kommunale Selbstverwaltung mit der Staatsvenvaltung organisch zu verschmelzen. Daß die Schuld den Staat trifft, wird niemand behaupten können, der die Entwick- lung verfolgt hat. Seit dem Erlaß der Steinschen Städteordnung bis zu der letzten Behördenorganisation hat der Staat nicht aufge- hört, der Selbstverwaltung Befugnisse zu übertragen und ihr Ge- biete zuzuweisen, auf denen sie ihre Tätigkeit entfalten konnte. Vielleicht auf keinem zweiten Gebiet aber ist dies in solchem Umfang geschehen, wie im Wohnungswesen und Städtebau. Das Bauflucht- liniengesetz von 1875 darf man wohl als eine „magna Charta liber- tatum" bezeichnen, die der Selbstverwaltung die Herrschaft über den gesamten Städtebau übertrug; und dieser Freibrief ist den Städten anders wie einst die Steinsche Städteordnung in der günstigsten Zeit übergeben worden, in einer Periode unvergleich- lichen städtischen Wachstums bei fortwährendem Steigen der Be- völkerungszahl, der Grundrente, der Produktivität, der Steuerkraft in den Städten. Trotz der Gunst aller dieser Momente ist in den meisten unserer Großstädte eine nach der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Seite gleich schlechte Bodenentwicklung herbei- geführt worden.

Der größte Schaden für die Selbstverwaltung ist die vorbehalt- lose Überlassung von Befugnissen, die große ökonomische Werte und Vorteile in sich schließen. Keine Selbstverwaltung ist im- stande, sich dann auf die Dauer intakt und aktionsfähig zu halten. Die Vertreter und die Mitglieder der Selbstverwaltung haben häufig genug, insbesondere im Städtebau, Interessen, die nicht gleichbe- deutend sind mit denen der Gesamtheit und noch weniger mit den Anforderungen einer vorbauenden , auf die künftige EntNvicklung gerichteten Politik. Hier bedarf es unbedingt einer Behörde, die außerhalb des Drucks der wirtschaftlichen Interessen steht. Das war der Standpunkt, der bei den Verhandlungen über das Bauflucht- liniengesetz im Jahre 1875 von den Regierungsvertretern Minister Dr. Achenbach und Geh. Reg. -Rat (gegemvärtig Unterstaats- sekretär) Dr. Schulz dem die Ausarbeitung des Gesetzes in

Archiv für Soria! wi^enscliaft u. Sozialpolitik. I. *A. f. «<•*. G. u. St. XIX.» i. «3

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Gesetzgebung.

erster Reihe oblag konsequent und mit richtiger Voraussicht eingenommen wurde.

Ihre Anschauungen fanden an einer der wesentlichsten Stellen die Unterstützung eines Abgeordneten, der in der Selbstverwaltung in hervorragender Weise tätig war. Die Worte dieses Mannes ver- dienen um so mehr der Vergessenheit entrissen zu werden, als sie in ursprünglicher Frische wie für die Gegenwart gesprochen er- scheinen :

„Anders liegt die Sache, meine Herren, wenn man eine Staatsbehörde hat, welche gegenüber der in dem einzelnen Falle interessierten Gemeinde angerufen werden kann auch von jedem einzelnen, an welche sich auch der einzelne wenden kann, um sie aufmerksam zu machen: Hier ist der Fehler, er muß korrigiert werden, sieh einmal nach und wenn es der Fall ist, dann schlage du die Wege ein, die notwendig sind. Dann haben wir eine gewisse Garantie gegen unberechtigte Forderungen und wenn man furchtet, daß die Behörde geneigt sei, zu weit zu gehen, so haben wir einen weiteren Schutz darin, daß die Behörde nicht durch ihr Resolut die Sache erledigen kann, sondern daß dieselbe auf den Weg der ordentlichen Instanzen verwiesen wird.

Ich begreife, meine Herren, daß die Auffassung in diesem Hause viele Widersacher findet, aber ich begreife es nur aus Gründen des Gefühls und nicht aus Gründen des Ver- standes. Sie haben alle unter der Polizeiwirtschaft der Vergangen- heit mehr oder weniger zu leiden gehabt. Sie stellen sich die Polizei vor als eine Einrichtung, welche eben nur dazu berufen ist, die Menschen zu quälen und die Gemeinden zu beunruhigen. Ja, meine Herren, wenn dieses der Zustand wäre, der dauernd herbei- geführt werden sollte, so würde ich allerdings, was ich neulich die Gemeindet yrannei1) nannte, vorziehen dieser Polizeiwirtschaft. Aber, meine Herren, ich verstehe in der Tat nicht, wie man sich so anstellen kann, als müsse dieses Wesen fortbestehen, als müsse bei einer weiter geordneten Entwicklung unserer Verhältnisse die Polizei ewig in der Situation des Peinigers, und nicht vielmehr in der Situation des Helfers sein."

Man wird heute vielleicht nicht gleich erraten, wer diese be- deutsamen Worte in einem entscheidenden Augenblick gesprochen

') Der Redner hatte den Ausdruck kurz zuvor mit deutlicher Atiwendung auf Berlin gebraucht.

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Rudolf Hb er Stadt, Entwurf eines preußischen Wohnungsgesclzcs. 195

hat ; es war kein anderer als Rudolf Virchow, der hier den Beweis lieferte, daß er sich nicht durch die Parteischablone binden ließ ; seine Gegner waren unter den eigenen Parteigenossen, die eine unfähige und beschränkte Politik mit dem Schlagwort Selbstverwal- tung zu decken suchten. Virchow war kühn genug, ihnen das Wort entgegenzurufen: die Kommunaltyrannei könne schlimmer sein als die Polizeityrannei. l) Doch Virchow tat in dieser Sache noch weit mehr. Es scheint nicht bekannt zu sein wenigstens habe ich weder in dem Wohnungsgesetzentwurf noch an anderer Stelle eine Andeutung darüber gefunden daß auf Virchows Anregung die Bestimmung aufgenommen bezw. schärfer gefaßt wurde, die jetzt wieder in dem neuen Entwurf eine hervorragende Rolle spielt; es ist die Vorschrift, die den Begriff des öffentlichen Interesses in § 1 Absatz 1 und 2 des Baufluchtliniengesetzes hineinbringt und seine Wahrnehmung der Ortspolizeibehörde überträgt. '-')

Diese Erinnerungen dürften für die Gegenwart nicht ohne be- sonderen Wert sein; denn die alte Konstellation scheint sich zu wiederholen. Die Regierung will den Begriff des wahrzunehmen- den öffentlichen Interesses im Städtebau weiter fassen und das Wohnungsbedürfnis mit einschließen. Diese Ausdehnung erfolgt mit der naturgemäßen und ausgesprochenen Absicht, die Tätigkeit und Aktionsfähigkeit der Selbstverwaltung zu erweitern; wo die Selbstverwaltung aber versagt, soll sie ganz wie nach dem Virchowschen Antrage durch die Aufsichtsbehörde zum Handeln angewiesen werden. Eine Erfahrung von dreißig Jahren hat uns darüber belehrt, daß eine solche Vorschrift unumgänglich notwendig

') Noch ein zweiter Ausspruch Virchows verdient hervorgehoben zu werden: „So weit gehe ich nicht in der Forderung der Autonomie der Ge- meinden, datt ich der Meinung wäre, man müfitc jede Gemeinde machen lassen, was ihr gefällt."

*) Bezüglich der Verhandlungen über § I verweise ich auf die Stenograph. Berichte und Anlagen des Jahres 1875 und erwähne noch folgende Einzelheit: Virchow hatte den Antrag gestellt, die Ortspolizeibchörde solle das Recht erhalten, im öffent- lichen Interesse die Feststellung von Baufluchtlinien anzuregen. Den Aus- druck „anregen" hatte Virchow, nach seiner späteren Erklärung, gewählt im An- schluti an die Terminologie der Regierungsvorlage. Der Antrag Virchow wurde dann durch die Vereinbarung verschiedener Parteien, nämlich der nationalliberalen, der Fortschrittspartei und der Neukonservativen in veränderter Fassung, als Antrag Tiedemann eingebracht, wobei u. a. statt „anregen" der Ausdruck „verlangen" ge- setzt wurde. In dieser Form ist der Antrag in das Gesetz übergegangen.

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(JeseUgrbung.

ist, und zwar im Interesse der Selbstverwaltung, um deren Organe von dem Bleigewicht der Sonderinteressen zu befreien und ihnen die nötige Bewegungsfreiheit zu geben. Wiederum aber hat es den Anschein, als ob das Schlagwort Selbstverwaltung dazu dienen sollte, um die Untätigkeit und die gemeinschädlichen Interessen zu decken.

Es scheint, daß man von gewisser Seite den Kindruck er- wecken will, als ob die Bestimmung des neuen Gesetzentwurfs, die den Begriff des wahrzunehmenden öffentlichen Interesses auf das Wohnungsbedürfnis ausdehnt, schlechthin eine Beschränkung der Selbstverwaltung enthalte. Das Gegenteil ist der Fall. Die Vor- schrift des Entwurfs gibt einer tüchtigen Verwaltung erst die Mög- lichkeit, die Grundlagen der städtischen Entwicklung in sach- gemäßer Weise zu ordnen. Andererseits wird damit auch die Hand- habe geschaffen, um jenes verwerfliche Gemisch von Untätigkeit und Sonderinteresse zu beseitigen, das Virchow als „Gemeinde- lyrannei" bezeichnete. Nach jeder Richtung wird der Entwurf die Selbstverwaltung aktionsfahiger und freier gestalten, und sie in Stand setzen, die städtische Bodenpolitik und damit das gesamte städtische Wesen in richtige Bahnen zu leiten. Es ist erfreulich, daß auch jetzt wieder aus Selbstverwaltungskreisen sich gewichtige Stimmen vernehmen lassen, die sich dieser Auffassung anschließen. In einem bemerkenswerten Aufsatz hat neuerdings Dr. Hugo Preuß die städtische Bodenpolitik einer eingehenden Besprechung unterzogen, um mit Entschiedenheit für eine Reform der städtischen Verwaltungstätigkeit einzutreten.1) Eine solche Reform ist not- wendig, und zwar in erster Linie zur Stärkung und Festigung der Selbstverwaltung.

Fraglich dürfte es erscheinen, ob die von dem Entwurf ge- wählte Fassung der Ausdruck „Wohnungsbedürfnis" sich als ganz zutreffend und ausreichend erweisen wird; der Ausdruck ist zu vieldeutig. Bei den Mißständen in unserem Städtebau handelt es sich nicht um das Wohnungsbedürfnis ganz allgemein, sondern um die schlechte Form der Wohnungsproduktion. Der Gesetz- entwurf selbst will nach seinen eigenen Angaben die städtische Bodenpolitik an dieser Stelle nur insofern beeinflussen, als die Bodenparzellicrung eine verfehlte und gemeinschädlichc ist (oben

') Bodenpolitik und Selbstverwaltung, Frankfurter Zeitung vom 22. und 23. August 1903, Nr. 232 und 233.

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Rudolf F. hcrstadt, Entwurf eines preußischen Wohnungsgesetzes.

S. 184». Es dürfte sich also eine präzisere Bezeichnung empfehlen, die klar zum Ausdruck bringt, daß gemäß den obigen Erörte- rungen über die Bedeutung der Bodenaufteilung die städtische Bodenpolitik verpflichtet ist, die politisch und wirtschaftlich ge- eignete Form der Wohnungsherstellung zum Ziele zu nehmen.

Die vorstehenden Ausführungen haben sich bestrebt, in der preußischen Wohnungsgesetzgebung die geschichtlichen Zusammen- hänge, deren der Entwurf selber nicht gedacht hat, genauer hervor- zuheben. Der neue Gesetzentwurf bildet nur ein Glied in dieser langen Entwicklung; durch sie werden die Grundlagen hergestellt, auf denen sich das weitere Handeln des Staates bewegen kann. Bei den geschichtlichen Darlegungen mußte ich weit zurückgreifen in die älteren Zeiten, die unsere Einrichtungen des Städtebaus be- gründet haben. Die administrativen Schöpfungen des Mittelalters wie die der landesfürstlichen Bautätigkeit bestehen noch in der Gegenwart ungeschwächt fort, allerdings in veränderten Formen und mit ganz anderen Wirkungen; doch gerade deshalb ist es not- wendig, sie in ihrer ursprünglichen Bedeutung kennen zu lernen. Auch hier bildet das Zurückgehen auf die Quellen die Vorbedingung für jede Reform.

Indes fast noch größeren Nachdruck möchte ich auf diejenigen Erörterungen legen, die den Vorgängen aus den siebziger Jahren des abgelaufenen Jahrhunderts gewidmet sind, und die auf die da- malige Neuordnung der Gesetzgebung hingewiesen haben. In den siebziger Jahren sind die Gesetze und Organisationen für den städti- schen Boden geschaffen worden, unter denen wir heute leben ; ihre Wirkung aber ich erinnere nur an den Realkredit ist eine ganz andere geworden, als man damals beabsichtigte und erwartete. Doch auch diese Periode gehört für uns heute der Vergangenheit an; wir dürfen und müssen sie als Geschichte betrachten und ihre Ergebnisse objektiv prüfen. Aus denselben Ursachen und mit den gleichen wissenschaftlichen Mitteln, wie wir die Institutionen der älteren Zeit studieren, müssen wir heute die Gesetzgebung der siebziger Jahre untersuchen, über deren fehlerhafte Wirkung uns eine hinreichende Erfahrung belehrt hat. Die Entwicklung von drei Jahrzehnten hat hier Zustände hervorgebracht, die dem Staat ebenso wie der Gemeinde zum Schaden gereichen.

Die Folgen der heutigen Gestaltung unserer städtischen Bodcn-

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Gesetzgebung.

Verhältnisse sind unendlich viel schlimmer als allgemein anerkannt und zugegeben wird. Mit einigen hygienischen Bedenken sind die traurigen Mißstände in unseren Städten nicht gekennzeichnet. Die Aufgabe, die unserer Zeit in der Reform der städtischen Bodenver- hältnisse erwächst, ist eine gewaltige; doch daß sie gelöst wird, ist sicher, wenn Staat und Selbstverwaltung auf der Grundlage fort- arbeiten, die für die preußische Gesetzgebung von altersher ge- golten hat ; es ist die überlieferte Pflicht und das historische Recht.

Anhang.

Die beifolgenden Zeichnungen sollen im Anschluß an die Dar- legung (oben S. 183) die Bedeutung der Bodenaufteilung nach ver- schiedenen Systemen veranschaulichen. Fig. 1 zeigt die Berliner Parzellierung. Die Baublöcke sind 150 bis 200 m tief, 300 bis 350 m lang.

(Sicht* Fig. I auf S. 199.)

Die einzelnen Grundstücke haben eine Tiefe von 70 80 m, sie müssen durch zweifache, z. T. dreifache Hinterhausbebauung (Hof- wohnungen) ausgenutzt werden. Von den Wohnungen liegt nur ein geringer Teil nach den übermäßig (221/2, 26 m und 34 m) breiten Straßen, die lediglich dem Vorteil der Bodenspekulation dienen ; die Mehrzahl der Wohnungen befindet sich auf den Höfen. Aus dieser Parzellierung des Bodens folgt weiter der ungünstige H a u s - gr und riß, der für die Kleinwohnung vollständig untauglich ist. Die Kleinwohnung (Stube und Küche; Stube, Kammer, Küche) kann niemals zu einer den Begriff der „Wohnung" entsprechenden Anlage ausgestaltet werden; sie bleibt immer ein undifferenziertes Teilstück einer Kaserne. Eine Querlüftung, die hier aus sanitären Gründen besonders notwendig wäre, herzustellen, ist in diesen Wohnungen unmöglich. Ein neueres Gebäude in den Berliner Arbeitervierteln enthält 40 bis 50 Wohnungen bezw. Haushaltungen.

Die nächste Folge der Berliner Bodenaufteilung ist die Be- seitigung des realen und die Schaffung des nominellen Hausbesitzes. Einer Bevölkerung von 1888848 Bewohnern stehen 18500 Haus- besitzer gegenüber, das ist knapp ein Prozent der Bevölkerung. Doch auch diese wenigen Hausbesitzer sind nur dem Namen nach Besitzer, die durchschnittlich mit etwa 10 °/0 Anzahlung des oft nur fik- tiven Wertes an ihren Grundstücken beteiligt sind und sich in prekärster Abhängigkeit vom Hypothekenmarkt befinden. Auf die

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Rudolf E b e r s t a d t , Entwurf eines preußischen Wohnungsgesetzes.

Strasse

i i i i i i— I r~

i. Berliner Parzellierung. 1:2000.

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200

Gesetzgebung.

weitverzweigten Wirkungen dieses Systems für die Bodenpreis- bildung, für die PIntwicklung der Mietwerte, für das Anwachsen und Festhaltender Bodenverschuldung soll hier nicht eingegangen werden; auch die Folgen für die politischen und wirtschaftlichen Verhält- nisse bedürfen kaum der Hervorhebung.

Aus Fig. 2 (Entwurf von Landesbaurat Prof. G o e c k e) ergibt

2. Projekt zur verbesserten Aufteilung von Berliner Kaublöcken.

I : 3000. l)

Verfasser: Th. Goecke; vgl. l'reuß. Jahrbücher Bd. 75 Heft 1 S. 85; Deutsche Vicrtcljahrschr. für öffcntl. Gesundheitspflege Bd. 27 Heft I.

sich, wie die Schäden der Berliner Parzellierung sich beseitigen lassen unter Beibehaltung der Grundlinien des Berliner Bebauungsplans

») Der Maßstab der Fig. 2 ist um ein Drittel k 1 e i n e r als der der Figg. 1 und 3.

Rudolf Eberstadt, Entwurf eines preußischen Wohnungsgeselzcs. 201

und der alten Berliner Bauweise für Vordergebäude. Eine Er- läuterung der Zeichnung ist kaum erforderlich. Die äußeren Straßen- breiten der Baublöcke bleiben unverändert; nach dem Innern des Blocks vermindern sich allmählich die Straßenbreiten und bewirken hier eine Aufteilung des Geländes zu Wohnstraßen und Wohn- gebäuden.

3. Bremer Pa r /. e 1 1 i e r u n g (Arbeiterviertel). I : 2000.

202

Gesetzgebung.

Fig. 3 zeigt die in Bremen übliche Parzellierung für Arbeiter- viertel, die gegenüber Fig. i eine vollständig verschiedene Ge- staltung des Wohnungswesens bewirkt. Die Blocktiefe beträgt 36 m, die Tiefe des einzelnen Grundstücks 18 m. Die Verteilung des Straßenlandes wie des Baulandes wird hierdurch eine ganz andere und in jeder Weise vorteilhaftere als bei Fig. 1. Es entstehen Grundstücke für den realen Hausbesitz. Die Häuser sind meist für 2 3 Familien eingerichtet.

Zu erwähnen ist ferner die Parzellierung der rheinischen Industriestädte, wie sie z. B. in Elberfeld angewandt wird. Die Baublöcke haben hier regelmäßig eine Tiefe von 40 bis 50 m. die Grundstücke 20 25 m. Auch hier ist eine selbständige Form des Kleinwohnungsgebäudes entwickelt worden, die als vorbildlich gelten kann. Die Arbeiterwohnhäuser enthalten meist 4 bis 6 Klein- wohnungen. Die Wohnungsanlagen im einzelnen dürfen unter die besten Typen der städtischen Kleinwohnung und nicht blos in Deutschland gerechnet werden. Wegen der Einzelheiten und der Hausgrundrisse vgl. meine rheinischen Wohnverhält- nisse (Jena 1903).

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Die Entwicklung zum Zehnstundentage.

Von

Prof. Dr. STEPHAN BAUER

in Basel.

Die Regelung der gewerblichen Arbeitszeit hat drei Stadien durchlaufen: die Periode der theoretischen, grundsätzlichen Er- örterung: die Periode der staatlichen Experimente auf Grund der in einigen wenigen Betrieben gemachten Erfahrungen; endlich ist in unserer Zeit das Ergebnis der Kürzung der Arbeitszeit durch große Industriestaaten den Bestrebungen anderer Staaten zugute gekommen.

Es wäre indessen töricht anzunehmen, daß hier ein Fall blinder Nachahmung vorliege. Die Bewegung zu gunsten kürzerer Arbeitszeit läuft einfach der Entwicklung einer intensiveren Betriebs- technik von Westen nach Osten parallel ; und dieser Verlauf, dieser Synchronismus der ökonomischen Erscheinungen, wird immer rascher hergestellt Der Umstand, daß viele Großbetriebe noch vor der gesetzlichen Regelung kürzere Arbeitszeiten einfuhren, weist auf das Vorhandensein dieser, von den Arbeiterverbänden nur ihrer Hemmungen rascher befreiten natürlichen Bewegung hin.

Die größere Intensivität des Betriebes hat in allen Ländern ein stärkeres Ruhebedürfnis der Arbeiter zur Folge. Darüber, wie seine ge- setzliche Befriedigung zu erfolgen habe, besitzen die Staaten des euro- päischen Kontinents die unparteiischste, am wenigsten im Banne der Partei oder des einseitig beobachtenden Praktikers stehende Auskunfts- quelle an den Berichten der Gewerbeinspektoren. Auf Grund dieser und anderer amtlicher Quellen kann die Wirkung des Zehnstunden- tages und des freien Samstagnachmittages erstens an einem I^andc beobachtet werden, in welchem diese seit mehr als einem Menschen-

204

Gesetzgebung.

alter eingeführt sind; zweitens lassen sich in einem anderen I^ndc die Wirkungen des Überganges vom Elf- zum Zehnstundentage verfolgen; drittens läßt sich ermessen, inwieweit die Kürzung der Arbeitszeit auf zehn Stunden in Ländern erfolgt ist, die gesetzlich noch eine längere Arbeitszeit als Maximum verordnet haben.

Aus diesen viele Millionen von Betrieben und Arbeitern um- fassenden Beobachtungen, lassen sich Schlüsse über die vorteil- hafteste Art der Regelung ziehen.

I. Zehn- und Neunstundentag in Großbritannien.

In Großbritannien regelte bis zum Jahre 1844 die Fabrikgesetz- gebung überhaupt nur die Arbeit der Kinder und Jugendlichen. Dennoch war es den Bemühungen der Gewerkvereine des Londoner Baugewerbes schon 1834, jenen der Londoner Maschinenindustrie schon 1836 gelungen, den Zehnstundentag für die Erwachsenen faktisch durchzufuhren. Die Bewegung griff in den Industriestädten so stark um sich, daß das Zehnstundengesetz von 1847 nichts anderes bedeutete als die Ausdehnung eines faktisch in anderen Gewerben bereits bestehenden zehnstündigen Arbeitstages auf die Textilindustrie. Da diese im Jahre 1847 unter dem Einflüsse der Krise vielfach weniger als zehn Stunden arbeitete, gelangte das so lange umstrittene Gesetz ohne Schwierigkeiten zur Annahme.

Der freie Sonnabendnachmittag begann für die Baugewerbe faktisch bereits 1847 um 4 L'hr, 1861 in London um 2 Uhr. Diese Einteilung wird wieder durch das Gesetz von 1874 auf die Textil- industrie ausgedehnt, und durch das Gesetz von 1901 der Sams- tagschluß um 12 Uhr erreicht.1)

Immer bedurfte es also in England der Nachhilfe der Gesetz- gebung, um in der Textilindustrie eine ebensokurze Arbeitszeit wie in anderen Gewerben herbeizuführen. Die Motive aber, welche zur gesetzlichen Kürzung der Arbeitszeit in der Textilindustrie führten, sind am besten in den Berichten zweier Arzte an die Regierung im Jahre 1873 niedergelegt worden (Report to the Local Govern- ment Board on proposed changes in hours and ages of employ- ment in textile factories, by I. H. Bridges, M. D. and T. Holmes. London 1873, Textile Manufactures). Der Bericht hatte die Richtig-

'1 Sidney and Beatrice Webb, Industrial Dcmocracy. New edilion, I0O2 chap. VI (The normal day) S. 352 n. I.

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Stephan Hauer, Die Kntwicklung zum Zehnstundcniagr.

keit der Behauptungen der Arbeiterverbände zu untersuchen, daß in TcxtUfabriken i. zehneinhalb Stunden monotoner ständiger Arbeit, selbst unter den hygienisch zulässigsten Bedingungen an die Ge- sundheit jugendlicher Personen im Alter von 13 bis 18 Jahren und von Frauen jeden Alters zu große Ansprüche stellen. Und diese Klage sei besonders stark laut geworden, seitdem in so vielen Be- trieben, in welchen Männer tätig sind, die neunstündige Arbeitszeit eingeführt wurde; 2. daß seit Erlaß des Zehnstundengesetzes von 1847 in dreifacher Hinsicht an die Arbeitsleistung größere Anfor- derungen gestellt wurden : a) jeder Arbeiter hat mehr Maschinen zu bedienen ; b) diese Maschinen werden in rascheren Gang gesetzt ; c) der Usus, den Aufsehern und Werkmeistern eine Prämie auf die Quantität der Arbeit auszusetzen, bewirke, daß die Anstrengung ständiger und drückender geworden sei, als vorher; 3. daß eine übergroße Kindersterblichkeit die Folge der Vernachlässigung der Kinder durch ihre Mütter sei, die in den Fabriken arbeiten müssen.

Die Berichterstatter konstatieren nun, daß seit vierzig Jahren die Zahl der Spindeln, die ein Arbeiter zu bedienen habe, in den Baumwollspinnereien sich verdoppelt und vervierfacht habe; daß an Stelle von 1700—1800 Ein- und Ausfahrten binnen 12 Stunden gegenwärtig 2 161 Fahrten in io1/« Stunden bewerkstelligt werden; daß an Stelle der Bedienung eines Webstuhles jene von drei bis vier Stühlen getreten sei, und daß die Schußzahl in der Minute, die im Jahre 1833 noch 90—112 betrug, jetzt sich auf 175—180 be- laufe. Obwohl in der Wollindustrie günstigere Verhältnisse kon- statiert wurden, fand man doch, daß in Huddersfield die Sterblich- keit der 14— 15 jährigen Frauen 10,09 per Tausend, also mehr als in anderen Industriedistrikten betrage; in den Kammgarncentren Bradford, Halifax, Keighley betrug sie sogar 10,48, 11,35 "nd 1 1,97 gegen den Landesdurchschnitt von 8,66. Die Ärzte von Bradford erklärten sich für eine längstens 91 stündige Arbeitszeit für Frauen, für ihren Ausschluß während der Schwangerschaft und zehn Monate nach der Niederkunft aus der Fabrik. Aus einer Enquete, welche 10 000 Kinder in Fabrikdistrikten umfaßte, wurde ferner ihre höhere Sterblichkeit, ihre Vernachlässigung in bezug auf Nahrung und Rein- lichkeit, das häufige Vorkommen von Plattfuß und Zahnkaries kon- statiert. Die Kindersterblichkeit war in Lancashire und Cheshire höher als in London und erreichte in Preston 29 Proz. Sie war in den Jahren der Baum wollsperre infolge der Massenentlassungen der Arbeiterinnen, die nunmehr ihre Kinder besser pflegten, gesunken.

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Gesetzgebung.

Eine genaue Untersuchung der Ursachen dieser Vernachlässi- gung der Kinder führt die Berichterstatter zum Schluß, daß falls selbst eine Verkürzung der Arbeitslöhne bei weiterer Kürzung der Arbeitszeit um 10 Proz. einträte, die gewonnenen 6 Stunden der Muße die Lebenskraft und Leistungsfähigkeit der Frauen und Kinder erheblich stärken würden. Es wird von ihnen empfohlen, diese Kürzung dazu zu benützen, den Beginn des Arbeitstages später als bisher, also nach der Frühstückszeit anzusetzen. Ferner sollen Wöchnerinnen entweder nur zur Halbzeitarbeit verwendet oder gänz- lich von der Fabrikarbeit ausgeschlossen werden.

Die Reduktion der zehnstündigen effektiven Arbeitszeit auf 91 2 Stunden an allen Werktagen mit Ausnahme des Sonnabends scheiterte zunächst (1873). Als Kompensation wurde vom kon- servativen Kabinet Croß die Dauer der Pausen von 1 1 8 auf 2 Stunden erweitert (Factories (Health and Women) Act 1874). Da die Stundeneinteilung des Arbeitstages (6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends) dieselbe blieb, bedeutete dies eine Kürzung von !/3 Stunde per Wochentag und eine Stunde weniger am Samstag. Im ganzen be- trug nunmehr die gesetzliche Arbeitszeit der Frauen in Textil- fabriken 56'/., Stunden. Durch das Gesetz von 1901 ist die Arbeits- zeit an Samstagen in Textilfabriken um eine weitere Stunde für über eine Million Textilarbeiter verkürzt worden (Report on changes in rates of wages and hours of labour in the U. K. in 1902, Board of Trade 1903 p. XVIII, XXXII). Es ist somit die Ncunstunden- tagswoche (an Wochentagen zehn, Samstags 5"., Stunden) beinahe erreicht.

Da nun außerdem schon das Gesetz von 1874 die Erteilung von Überstunden an Kinder, jugendliche Personen und Frauen in Textilfabriken ausgeschlossen hatte, kann in Hinkunft nur durch eine faktische Verkürzung der Arbeitszeit unter die Zehn- bezw. Neunstundengrenze des Gesetzes der Arbeitstag elastisch gestaltet werden.

In der Tat berichtet das britische Arbeitsamt für das Jahr 1902 also ein Jahr nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes daß der gesetzliche Maximalarbcitstag wohl in der Baum- und Schaf- wollwarenindustrie voll ausgenützt werde, daß aber in der Leinen- und Juteindustrie von Dundee und Umgebung gewöhnlich nur 55 Stunden per Woche gearbeitet werden (a. a. O. P. XXXI).

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Stephan Bauer, Die Entwicklung zum Zehnstundentage.

II. Der Übergang zum Zehnstundentage in

Frankreich.

Das Dekret vom 24. März 1848, welches in Paris den Arbeits- tag gesetzlich auf zehn, in der Provinz auf elf Stunden fixierte, wurde durch das für erwachsene männliche Arbeiter noch geltende Gesetz vom 9. September 1848 aufgehoben und durch dieses ohne Unterschied des Alters ein zwölfstündiger Maximalarbeitstag einge- führt. Das Gesetz bezieht sich nur auf motorische Betriebe, sowie auf solche nichtmotorische Betriebe, die mindestens 20 erwachsene männliche Arbeiter beschäftigen. Erst das Gesetz vom 19. Mai 1874 hat in Frankreich die Keime zu einem intensiveren Arbeite- rinnenschutze gelegt. Den Arbeiterinnen wird bis zum 21. Lebens- jahre die Nacht- und Sonntagsarbeit verboten; ihnen sowie den er- wachsenen Frauen wird die Arbeit unter Tage in Bergwerken unter- sagt. Dagegen blieb die Dauer der täglichen Arbeitszeit für beide Geschlechter auf zwölf Stunden fixiert.

Erst das Gesetz vom 2. November 1892 hat hierin Wandel ge- schaffen; bis zum 16. Lebensjahre wird für Kinder beiderlei Ge- schlechts die Arbeitszeit auf zehn Stunden eingeschränkt ; die effek- tive Arbeitszeit der Arbeiter und Arbeiterinnen vom 16.— 18. Lebens- jahre darf 60 Stunden in der Woche nicht übersteigen und es darf hiebei die tägliche Höchstarbeitszeit von elf Stunden nicht über- schritten werden.

Die Arbeiterinnen im Alter von weniger als 18 Jahren und die Arbeiterfrauen dürfen nicht zu einer längeren als elfstündigen effektiven täglichen Arbeitszeit venvendet werden.

Die genannten Arbeitsstunden müssen von einer oder mehreren Pausen unterbrochen sein, deren Gesamtdauer nicht weniger als eine Stunde betragen darf, und während welcher die Arbeit unter- sagt ist (Art. 3).

Zugleich wurde das Verbot der Nachtarbeit auf Frauen jedes Alters ausgedehnt (Art 4).

Über die Wirkungen des neuen Gesetzes äußert sich der Rapport sur l'application pendant Tanne 1897 des Lois reglementant le tra- vail der Commission superieure du travail wie folgt:

„Man kann im allgemeinen versichern, daß diese Arbeitszeit von 1 1 Stunden sich ausbreitet, ohne daß die Produktion dadurch irgend eine Einbuße erlitten hätte, dank der Verbesserung der Produktions- technik sowie der Organisation der Arbeit. So ist in den Woll-

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Gesetzgebung.

. Spinnereien von Amiens und einigen Spinnereien von Roubaix und Tourcoing den Gewerbeinspektoren von den Unternehmern ver- sichert worden, daß die Produktion ihrer Fabriken so zu sagen gar nicht abgenommen habe. In den Seidenspinnereien, wo die Ein- richtung vollständig umgeändert worden ist, verzeichnet man sogar eine Produktionszunahme. Manche Unternehmer, darunter sehr be- deutende, anerkennen sogar, daß die gegenwärtige Produktion zu groß sei, denn es bleibe bei der Inventur ein beträchtlicher unge- räumter I^agerbestand, der auf die Preise schwer drücke. Um den Gefahren der Uberproduktion zu begegnen, hat bereits eine Anzahl von Baumwollspinnereien die Arbeitszeit reduziert, so zwar daß in den Spinnereien nunmehr 66 an Stelle von 72 Stunden gearbeitet wird . . . Ein Verband, der sich unter dem Namen Syndicat Co- tonnier de l'Est konstituiert hat, hat versucht, alle seine Mitglieder zu diesem Vorgehen zu bewegen. Grundsätzlich waren auch alle Interessenten einverstanden, aber über Mittel und Wege der Aus- führung ergab sich kein Einverständnis. Die einen wollten 1 1 Stunden durch 6 Tage arbeiten, um die 66 Stunden Arbeit in der Woche zu erhalten ; die anderen wollten 1 2 Stunden an den ersten 5 Tagen und nur 6 Stunden am Samstag arbeiten um zu dem- selben Ergebnisse zu gelangen. Die letzteren hoben hervor, daß wenn man dem ersteren Vorschlage folgen würde, die Arbeiter sich daran derart gewöhnen würden, daß im gegebenen Augenblick, wenn die Produktion forciert werden müßte, die einmal aufgegebene zwölfstündige Arbeitszeit nicht wieder aufgenommen werden könnte."

In den nächsten zwei Jahren kreuzten sich zwei Strömungen ; die eine wünschte einen einheitlichen elfstündigen Arbeitstag für Männer und Frauen, somit die Reduktion der gesetzlichen Arbeits- zeit der erwachsenen Männer um eine Stunde. Da aber zugleich das Gesetz vom Jahre 1892 den Arbeiterinnen unter 18 Jahren eine zehnstündige Arbeitszeit vorgeschrieben hatte, wurde das Gesetz vielfach umgangen, um einen einheitlichen Arbeitstag herbeizuführen. Der Handclsminister Herr Millerand lud unter solchen Bedingungen die Inspektoren ein, nunmehr gegen die Uberschreitungen des Ge- setzes energisch vorzugehen. Die Zahl dieser Überschreitungen, welche im Jahre 1898 1002 betragen hatte, betrug inbezug auf die Arbeitszeit im folgenden Jahre 21 19. Ein Drittel dieser Uber- schreitungen entfiel auf die Textilindustrie.

Unter diesen Verhältnissen ergab sich das Bedürfnis einer einheit- lichen Gestaltung des Arbeitstages. Es lag im Interesse der Hygiene

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Stephan Bauer, Die Entwicklung zum Zehnstundentage.

wie des sozialen Fortschrittes, vor der Ausgleichung der Arbeitszeit der Männer und der Frauen an die Kürzung des Arbeitstages der Frauen auf zehn Stunden zu schreiten und somit diesen auf die gleiche Dauer wie den der Jugendlichen zu bringen. Die Zahl der Gewerbebetriebe, in welchen Kinder, Jugendliche und Frauen be- schäftigt waren, betrug im Jahre 1899: 53,3 °/0 aller 309675 Betriebe mit 1068542 Arbeitern und umfaßte 39,35% der Gesamtarbeiter- schaft (2715569). Diesen Postulaten entsprach das Gesetz vom

30. März 1900. Das Gesetz, das am 31. März 1900 promulgiert wurde, amendiert die Gesetze von 1848 und 1892 und bezweckt die Herbeiführung gleichartiger Arbeitszeit für Jugendliche und Frauen nach Anbahnung einer Ubergangsperiode. Es führt für jugendliche Arbeiter beiderlei Geschlechts und für Frauen eine effek- tive Arbeitszeit von 11 Stunden sofort, von io^a Stunden vom

31. März 1902 und von 10 Stunden vom 31. März 1904 angefangen ein. Die Ruhepausen, welche zusammen mindestens eine Stunde betragen sollen, müssen für alle geschützten Personen gleichzeitig fallen, ausgenommen in ununterbrochenen Betrieben und in Berg- werken oder Brüchen. Dieselbe Zeiteinteilung betrifft die bisher durch das Gesetz vom 9. und 14. September 1848 geregelte Maximal- arbeitszeit erwachsener Männer soweit diese in denselben Lokalen mit den von den andern Gesetzen geschützten Personen beschäftigt werden.

Der Zehnstundentag tritt in Frankreich erst am 31. März 1904 in Kraft und erst aus den im August 1905 erscheinenden Inspektions- berichten dieses Jahres wird über seinen Vollzug und seine Wir- kungen näherer Aufschluß zu erhalten sein. Die Berichte aus den Jahren 1900 1903 enthalten indessen eine Fülle von Beobachtungen über die Vorgänge der Übergangszeit. Sie lassen sich übersichtlich etwa in folgender Weise zusammenfassen : Zunächst suchten einige Unternehmer die Kürzung der Frauenarbeit auf 11 Stunden durch Anspannung der Männer über das gesetzliche Ausmaß von 12 Stunden wettzumachen. Daher sinken im Jahre 1900 die Uber- tretungen der Vorschriften des Gesetzes von 1892 um ein Viertel gegen 1899, dagegen steigt die Zahl der Übertretungen des Ge- setzes von 1848 auf 892 gegen 226 des Vorjahres. Die Ziffer der Übertretungen des Frauenschutzgesetzes steigt aber im Jahre 1901 auf 4572, jener des Gesetzes von 1848 auf 2914. Es beginnt ein Sturmlauf gegen das Gesetz.

Dieser Widerstand rührt vor allem von den Kleinbetrieben

Archiv für Soiialwissenschaft u. Sozialpolitik. I. (A. f. soz. G. u. St. XIX.) i. 14

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Gesetzgebung.

her. Sie entließen womöglich Kinder und Jugendliche, um mit un- geschütztem Personal zu arbeiten. In der Bonneterie und Schuh- warenerzeugung brachen einige Streiks im Jahre 1900 aus. Im Jahre 1901 wird bereits der Übergang einiger derartiger Betriebe zum Verlagssystem , zur ungeschützten Heimarbeit gemeldet. Der Rechtszustand in den Kleinbetrieben war nunmehr in der Tat kein glücklicher. In einem nichtmotorischen Betrieb konnten 19 erwachsene männliche Arbeiter auch über 12 Stunden täglich arbeiten, in motorischen Betrieben durfte z. B. mit drei erwachsenen Arbeitern nicht länger als durch 12 Stunden gearbeitet werden. Es wurde direkt geklagt, daß die Beschränkung des Gesetzes von 1848 auf motorische Betriebe, sowie auf nichtmotorische mit mindestens 20 Arbeitern die Folge habe, daß eine Reihe von Kleinbetrieben sich nicht der Vorteile der elektrischen Kraftübertragung bedienen wolle.

In den Großbetrieben fand man sich vorerst mit dem Gesetze leichter ab. Zwar verlangten einige Industrielle große Erleichte- rungen bei Erteilung von Überstunden, da solche Freiheit auch in den Konkurrenzländern herrsche. Indessen zeigten sich die vorteil- haften Wirkungen des Gesetzes in vielen Etablissements. In den meisten war kein Produktionsausfall zu bezeichnen ; in Kommen und Gehen der Arbeiter war größere Regelmäßigkeit zu verzeichnen. Die kurzen Vor- und Nachmittagspausen wurden beseitigt; dadurch wurde der Besuch der Kneipen in der Umgebung der Fabriken unterdrückt, und die Präsenzzeit der Arbeiter in der Fabrik ver- ringert. Produktionsausfalle verzeichnen nur: eine Kämmerei, die Tag und Nacht arbeitete in der Höhe von 1/„4, bei bloßem Tag- betrieb von */, ; ebenso eine Wollspinnerei in Tourcoing. Eine andere Spinnerei verzeichnet 1900 einen Ausfall von 5 °'0, hat aber die frühere Höhe der Produktion im Jahre 1901 wieder erreicht. Die Einstellung neuer amerikanischer Maschinen und die Einfuhrung des Stunden- und Stücklohnsatzes trägt hierzu wesentlich bei. Einige Unternehmungen, insbesondere Schappespinnereien , gehen ohne Einbuße schon 1901 zum Zehnstundentag über.

Mit dem 30. März 1902 beginnt der zweite Abschnitt der Übergangsperiode, die Kürzung des Arbeitstages auf io'/» Stunden. Man zählte in diesem Jahre weniger Übertretungen als im Vorjahre : 3198 gegen die Frauenschutz-, 2087 gegen die Männerschutzvor- schriften. Die Ursache der Abnahme ist jedoch in den kassation.s- gcrichtlichen Entscheidungen vom 30. November und 28. Dezember

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Stephan Bauer, Die Entwicklung zum Zehnstundentage. 211

1901 zu suchen; diese erklären, daß auf erwachsene Männer, die mit Frauen oder Kindern arbeiten, die kürzere Arbeitszeit und die Vorschrift des gleichen Einfalls der Pausen nur innerhalb derselben Betriebslokale gelten, nicht innerhalb derselben Fabrik. Es bedarf nur eines Bretterverschlages der die beiden Kategorien trennt, um die Anwendung des Gesetzes hintanzuhalten. Diese Entscheidungen erschwerten den Vollzug und die Kontrolle.

Die Kürzung auf io1/, Stunden bewog in viel stärkerem Maße als vorher die kleinen Betriebe, Lehrlinge zu entlassen. Die Zahl der Betriebe, welche nur männliche erwachsene Arbeiter beschäftigte, stieg von 142845 auf 148569. Wenn von zwei gleichartigen Werk- stätten einer Stadt die eine gemischtes Personal, die andere nur er- wachsene männliche Arbeiter beschäftigte, so strömte dieser letzteren auch das männliche Personal der kürzer arbeitenden Betriebe zu, das ein größeres Einkommen zu verdienen suchte. Daher wünschten nunmehr die Kleinbetriebe einen einheitlichen Arbeitstag für Be- triebe aller Art.

In den Großbetrieben bleiben die Wirkungen ungleichartige: Von 5 Spinnereien wird ein Produktionsausfall von 2 5 °/0 ge- meldet; 2 Spinnereien haben infolge schnelleren Ganges keine Ein- buße zu verzeichnen. Metallwarenfabriken, die seit längerer Zeit schon den Zehnstundentag eingeführt haben, z. B. das Familistere in Guise, erzeugen ebensoviel als gleichartige Anlagen bei 10 Va Stunden.

Der letzte Versuch, das Inkrafttreten des Zehnstundentages hintanzuhalten, bestand in einer Bewegung für die Regelung der Zahl der Arbeitsstunden auf 60 Stunden in der Woche mit freiem Samstagnachmittag; es konnte je nach Belieben in diesem Falle an einzelnen Tagen mehr oder weniger als 10 oder 1 1 Stunden gearbeitet werden. Die Einrichtung des freien Samstagnachmittags war von einigen Fabriken im Interesse der entfernt wohnenden Arbeiterinnen, dann aus humanitären Gründen im Distrikt von Roanne, endlich seitens einiger in Frankreich angesiedelten Unternehmungen englischen, amerikanischen und niederländischen Ursprungs getroffen worden. Im ganzen wurde der Samsta^frühschluß in 450 Betrieben mit einem Gesamtpersonal von 35824 Arbeitern, wovon 21214 Arbeiterinnen, durchgeführt. Die Handelskammer von Beifort machte sich zur Wortführerin dieser Strömung.1)

Man vergleiche auch: La Rcglemcntation hebdomadairc de la durce du Travail, le repos du Samcdi. Kapports presentos par MM. Ivan Stroh 1 et

14*

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Gesetzgebung.

Die Freigebung des Samstagnachmittags ermöglicht den ge- werblichen Arbeitern ihre Einkäufe an diesem Tage zu besorgen. Dadurch wird die Möglichkeit voller Sonntagsruhe für das kauf- männische Personal gesichert Man hat daher in Frankreich die Strömung für den freien Sonntagnachmittag willkommen geheißen, ohne jedoch im geringsten auf eine Modifikation des Gesetzes vom 30. März 1900 einzugehen.

III. Das System der Sechzigstunden woch e in den

Vereinigten Staaten.

Anläßlich der Einfuhrung des Zehnstundentages ist auch außer- halb Frankreichs aus Unternehmerkreisen für eine elastischere Ge- staltung der Arbeitszeit Propaganda gemacht worden. Personen, die sonst sich etwas derauf zugute tun, „Praktiker" zu sein, haben sogar vorgeschlagen, es möge der Staat jedem Betriebsinhaber 3000 Stunden für jeden Arbeiter im Jahre gutschreiben ; erst wenn dieses Konto erschöpft wäre, dürfte der Staat dem Arbeitgeber keine Überstunden gewähren. Die Frage ist: Wer soll das kon- trollieren ?

Daß aber die Unmöglichkeit solcher Kontrolle schon dann vor- handen ist, wenn die Arbeitszeit auf 60 Stunden per Woche, ja selbst, wenn sie nur auf 10 Stunden per Tag ohne Angabe ihres Beginnes und Schlusses festgesetzt wird, das zeigt ganz klar die Schutzgesetzgebung der Vereinigten Staaten.

Zum Vorbilde für die Gesetzgebung der Einzelstaaten wurde hier die Gesetzgebung von Massach ussetts. l) Es ist technisch von Interesse, die Entwicklung der Verbotsbestimmungen seit 1842 zu betrachten :

1842, c. 60, § 3. Kinder unter 12 Jahren sollen nicht über 10 Stunden per Tag in Manufakturen beschäftigt werden.

1866, c. 273, § 3. Kein Kind unter 14 Jahren soll länger als 8 Stunden täglich in irgend einem Gewerbebetriebe be- schäftigt werden.

Dieses Gesetz wird schon im nächsten Jahre aufgehoben, und ch. 285 § 2, 1867 bestimmt:

Fagnot. Association nationale frangaisc pour la protection legale des Travaillcurs. Paris, Alcan, 1903.

') Sarah S. Whittclscy, Massachusetts Labor Legislation, Philadelphia, American Acadcray of pol. and soc. sc. 1901.

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Stephan Bauer, Die Entwicklung zum Zehnstundentagc. 213

„Kein Kind unter 1 5 Jahren soll durch mehr als 60 Stunden in einer Woche beschäftigt werden."

Diese Entrechtung der Arbeiter hatte die Bildung von Arbeiter- verbänden zur Folge, von welchen der mächtigste, die Knechte des St. Crispin, im Jahre 1869 in- und außerhalb des Einzelstaates gegen 100000 Mitglieder umfaßte. *) Die Furcht vor den Wahlen bewog dann die Gesetzgeber, zunächst eine besondere Behörde zur Unter- suchung der Arbeitsdauer und der Arbeitslöhne zu schaffen, aus welcher das erste arbeitsstatistische Amt hervorgegangen ist. So- dann kam es zum Kompromißgesetze von 1874, c. 221. Es lautet nicht viel anders als der Text der geltenden Bestimmungen, der nur durch c. 357 im Jahre 1892 eine Veränderung erfahren hat: an die von 60 wurden 58 Stunden per Woche gesetzt. Gegen-

wärtig ist das Gesetz vom 3. Juni 1902 (ch. 435 der Gesetze von 1902 s. 24) in Kraft. Es lautet:

„Kein Kind unter 18 Jahren und keine Frau soll bei der Arbeit in einem Werkstatt- oder motorischen Betriebe länger als durch 10 Stunden täglich beschäftigt werden, außer in den weiter unten angegebenen Fällen, es sei denn, daß eine andere Stundenein- teilung lediglich den Zweck hat, die Arbeitszeit an einem anderen Wochentage abzukürzen ; und in keinem Falle sollen die Arbeits- stunden die Zahl von 58 in einer Woche überschreiten. Jeder Be- triebsinhaber hat an auffalliger Stelle in jedem Arbeitsraume, wo solche Arbeiter beschäftigt werden, eine gedruckte Anzeige auszu- hängen, in welcher die Zahl der Arbeitsstunden an jedem Wochen- tage, die Stunden, an welchen die Arbeit und die Mahlzeitpausen be- ginnen und enden, ausgewiesen werden .. . Vorgedruckte Formulare für solche Aushänge werden von der Polizei nach Genehmigung durch den Generalanwalt ausgehändigt. Die Beschäftigung solcher Personen zu anderen als den im gedruckten Aushange angegebenen Zeiten gilt als Verletzung des Gesetzes, es sei denn, daß diese Überschreitung erfolgte, um die Zeit einzubringen, die infolge Still- standes der Maschine verloren ging, bei welcher die betreffende Person beschäftigt war oder von deren Gang ihre Tätigkeit abhing ; aber kein Stillstand der Maschine von weniger als 30 ununter- brochenen Minuten soll solche Überzeitarbeit rechtfertigen, noch sie überhaupt bewilligt werden, bevor ein schriftlicher Bericht über Tag und Stunde des Vorfalls und seiner Dauer dem Chef der Be-

') K. E. Kly, The labor movement in America 1890. S. 67.

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Gesetzgebung.

zirkspolizei oder einem Inspektor der Fabriken und öffentlichen Gebäude übermittelt worden ist."

Fast denselben Wortlaut hat die geltende Gesetzgebung der Staaten Maine (1887, ch. 139 s. 1), Connecticut (1888, s. 1745), New Hampshire (1891, ch. 180 s. 20), Rhode-Island (ch. 973 s. 22 vom 4. April 1902) und Louisiana (act no. 49, 24. Juli 1902); in Illinois wird dieser Schutz auf jugendliche Personen beschränkt, ebenso in Kalifornien, Michigan, Indiana, Maryland, Minne- sota und Ohio; in Pennsylvanien wird Frauen und Jugendlichen zwölfstündige tägliche Arbeitszeit gestattet, wenn nur die Wochen- arbeitszeit 60 Stunden nicht übersteigt (Ges. no. 206 vom 29. Mai 1901).

Im Staate New York, dessen Gesetzgebung bis 1903 sich gleich- falls an jene von Massachusetts anlehnte, fand man, daß von 646 827 Arbeitern im Jahre 1901 nur 38 Proz. bis 57 Stunden, 60,1 Proz. durch 58 63 Stunden in der Woche arbeiteten und 1,9 Proz. mehr als 63 Stunden. l) Indessen ist die Erkenntnis der Nachteile des Systems der Sechzigstundenwoche in New York in letzter Zeit klar zutage getreten. Das Gesetz vom 15. April 1903 verlangt einen bestimmten Stundenplan und betrachtet prima facie die bloße Prä- senz von Personen, die nicht als zu gleicher Zeit arbeitend den Ar- beitsinspektoren angemeldet sind, als Übertretung. Zur völligen Be- seitigung des Sechzigstundensystems hat man sich hier trotz aller schlechten Erfahrungen nicht entschlossen.

Über das Gesetz von Massachusetts hinaus sind nur New Jersey, Nebraska und Wisconsin gegangen. New Jersey hat das System der wochenweisen Bestimmung der Arbeitszeit fast beseitigt. Das Gesetz vom 23. März 1892 lautet hier:

„§ 1. Daß vom 6. Juli 1892 angefangen 55 Stunden in irgend einer Fabrik, Werkstatt oder anderen Warenerzeugungsstätten das Wochenwerk bilden sollen ; und die Perioden der Verwendung sollen von 7 Uhr vormittags bis 12 Uhr mittags, und von 1 Uhr nach- mittags bis 6 Uhr abends an jedem Werktage außer Sonnabends dauern, an welch letzterem Tage die Beschäftigung von 7 Uhr morgens bis 12 Uhr mittags dauern soll.

§ 2. Daß keine Person unter 18 Jahren und keine Frau über diesem Alter in irgend einer Fabrik, Werkstatt oder Erzeugungs-

') XrwYork State Departement ol Labor. First annual Report of tlic Com- mtssioncr of Labor. Albany 1902, p. 116.

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statte außer in den erwähnten Verwendungsperioden beschäftigt werden soll" (folgen zwei Ausnahmen für Obstkonserven und Glas- fabriken).

Dieses Gesetz ist das einzige, das den britischen Gesetzen ver- gleichbar ist. Jenes von Nebraska vom 22. April 1901 kommt ihm am nächsten. ' )

Den unzulänglichen Gesetzen ist auch die Inspektion nicht ge- wachsen ; *-') in zehn Staaten ist sie von der Arbeitsstatistik entlastet worden, aber nur in Massachusetts mit seinen 36 Inspektoren gilt sie als ausreichend. New York hat 38 Inspektoren; eine sachverständige Zeugin, Fräulein von Grafifenried, erklärt die doppelte Zahl für die Stadt New York allein für nicht ausreichend.8) New Jersey hat erst neuestens (Ges. vom 24. April 1902) sein Inspektionspersonal ver- mehrt.

Wo arbeitsstatistische Amter die Inspektion versehen, versagt sie völlig. So wurde zum Beispiel in Kalifornien für Arbeiter im Alter von weniger als 18 Jahren durch Gesetz vom 23. März 1901 die Vierundfunfzigstundenwoche (Neunstundentag) eingeführt. Hierzu bemerkt sofort das Arbeitsamt: „Ein Gesetz dieser Art im ganzen Umfange des Staates durchzusetzen ist ein riesiges Unternehmen, das in vollem Maße von diesem Bureau mit seinen beschränkten Kräften und Mitteln nie bewältigt werden wird." 4) Ebenso tröstet man sich über die Übertretungen des Zehnstundengesetzes in Con- necticut damit, „daß das Gesetz doch immerhin ein wertvoller Aus- druck der Anschauungen der Bürger über die lange Arbeitszeit der Frauen und Kinder sei!"0)

Wisconsin hat durch Gesetz die Arbeitszeit der Frauen auf acht Stunden täglich eingeschränkt (1899, ch. 83, s. 1728). Eine Erhebung des Arbeitsamtes über die faktische Arbeitszeit von 769 Fabrikarbeiterinnen ergab, daß nur 2,86 Proz. die gesetzlichen 8 Stunden arbeitete, dagegen 76,59 Proz. durch 10 und 5,59 Proz.

l) Kighth biennial Report of the Bureau of Labor 1901— 2. Lincoln, 1902, p. 2.

*) Vgl. Willoughy, Bulletin of the Dep. of Labour, 1897 p. 550 und dessen Kssais sur la legislation ouvrierc aux Ktats Unis, Paris 1903, p. 69 ff.

*) Report ot the Induslrial Commission. Washington 1901. Vol. VII. 227—232 XIV. p. LX.

4) Tenth biennial report of the Bureau of Labor Statistics 1901—2. Sacramento 1902 p. 40.

») Fifth Annual Report of the Bureau of Labor Statistics. 1890 p. 14.

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Gesetzgebung.

mehr als io Stunden. Das Gesetz wird so allgemein gebrochen, daß es faktisch toter Buchstabe geblieben ist1)

Unparteiische Beobachter finden ferner allerlei Mißstände der älteren europäischen Textilindustrie in bezug auf die Arbeitszeit in den Vereinigten Staaten wiederauftauchen: so das „Abknappen" von io Minuten, in den Südstaaten die Nachtarbeit der Kinder.2)

So unendlich viel Neues demnach auch die Vereinigten Staaten in bezug auf die Organisation der Kapitalwirtschaft, in bezug auf Ökonomie und Technik der alten Welt zu bieten vermögen , so unterliegt es gar keinem Zweifel, und kein einsichtiger amerikani- scher Staatsmann verkennt dies, daß in bezug auf den staatlichen Schutz der Arbeit und ihres Ertrages hier noch unendlich viel nach- zuholen ist. Das gerühmte elastische System des Arbeiterschutzes in den Vereinigten Staaten, das in Amerika selbst sichtlich an Boden verliert, ist nichts weiter als eine vorübergehende Konzession an die Pioniere des Industrialismus. Als sozialpolitisches Vorbild kann ein so wirkungsloses System des Schutzes nicht gelten.

IV. Die Einführung des zehnstündigen Maximal- arbeit stages in den Ländern des gesetzlichen

Elfstundentages.

Es erhebt sich nunmehr die Frage, ob diejenigen Industrie- staaten, welche noch den gesetzlichen Elfstundentag besitzen, für die Annahme des Zchnstundentages gerüstet sind. Diese Frage läßt sich auf Grund des vorliegenden amtlichen Materials dahin beant- worten, daß in den maßgebenden Industrieländern des Kontinents diese Abkürzung auf nationalem Wege zwar durchaus möglich ist, aber namentlich mit Rücksicht auf die besonderen Verhältnisse der Textilindustrie nach vorhergängiger internationaler Verständigung noch leichter und rascher zu erzielen wäre.

Die folgenden Angaben sollen diese Behauptung erhärten: Im Deutschen Reiche erklärt der neueste Bericht der sächsischen Aufsichtsbeamten für das Jahr 1902 : „Die volle Ausnützung der für die Arbeiterinnen festgesetzten täglichen Maximalarbeitszeit

') Tenth Biennial Report of the Bureau of Labor and Industrial Statistus ot' Wisconsin. Madison 1902, p. 670.

*) Man vergleiche die trefflich™ Schriften von Ch. B. Spahr, American Working l'coplc 1901 p. 43; T. M. Young, The American Cotton Industry, 1902, p. 44, 72, 94, 112, und I. and M. Van Vorst, The Woman who teils. 1903.

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Stephan Bauer, Die Entwicklung zum Zehnstundentage. 217

ist fast nur noch in der Textilindustrie üblich. In den übrigen Gewerbegruppen werden die Arbeiterinnen selten länger als zehn Stunden beschäftigt" (Jahresberichte der Gewerbeaufsichtsbeamten und Bergbehörden für das Jahr 1902 Bd. II. 3, 18, S. 24, 314—315 ebenso Bd. I. 1, 267. „Nur in den Betrieben der Textilindustrie und in den Fabriken zur Herstellung der Lüdenscheider Metallwaren wurde die zulässige Beschäftigungsdauer voll ausgenützt".)

Aber auch hier ist die Möglichkeit einer kürzeren Arbeitszeit außer Frage; so erklärt der Aufsichtsbeamte für Breslau: „So mancherlei Bedenken im Jahre 1899 zu erheben waren, als es sich um Prüfung der Frage handelte, welche Wirkungen die unmittel- bare Beseitigung der verheirateten Arbeiterinnen aus der Fabrik haben würde, so wenig sprechen jetzt gegen die Festsetzung der zehnstündigen Arbeitszeit. Aus freiem Antrieb hat die Firma Chr. Dierig in Langenbielau, wohl eine der bedeutendsten Anlagen der Textilindustrie, die zehnstündige Arbeitszeit eingeführt, nachdem sich herausgestellt hatte, daß die Produktionshöhe in diesen zehn Stunden nicht hinter derjenigen der früheren zehneinhalbstündigen Betriebsdauer zurückblieb." (A. a. O. Bd. I. 1, S. 113.) Dieselben Erfahrungen machte man bei einer Reduktion der Arbeitszeit von U auf 91/2 Stunden in einer Leinengarnweberei in Freiberg (Bd, II. 5, S. 177), in den Trikotfabriken Württembergs (Bd. II. 4, S. 45) und in einer hessischen Fabrik (Bd. C. III. S. 6, 50). Ja aus Liegnitz wird berichtet: In mehreren Textilfabriken wurde im Frühjahr vorüber- gehend die Arbeitszeit um zwei bis drei Stunden verkürzt. Ein Unternehmer erreichte durch diese Maßnahme jedoch nicht die beabsichtigte Einschränkung der Erzeugnisse. Die Arbeiterinnen, welche im Akkord beschäftigt wurden, leisteten, wie der Gewerbe- treibende versicherte, in acht Stunden ebensoviel, wie bisher in zehn Stunden. Um die Produktionseinschränkung herbeizufuhren, sah er sich deshalb veranlaßt, Arbeiterinnen zu kündigen." In der Oberpfalz ist ein Textilbetrieb dauernd zum zehnstündigen Arbeits- tage übergegangen (Bd. III. 2, S. 74). Zugleich bemerkt man das Bestreben der Arbeiter die Arbeitszeit durch Einschränken der Pausen mehr zusammenzudrängen (Köln Bd. I. 1, S. 348), und zwar, wie anderwärts konstatiert wird, um sich der Familie und Haus- und Gartenarbeiten mehr widmen zu können (Bd. II. 3. S. 183). Selbst im Handwerk macht sich mehr und mehr das Bestreben geltend, die Arbeitszeit auf zehn oder doch elf Stunden herabzusetzen und geregelte Pausen einzuführen (Bd. II. 4, S. 75). Die Überschreitung

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Gesetzgebung.

der elfstündigen Arbeitszeit findet sich nicht in der großen Export- industrie: „mehr als clfstündige Arbeitszeit fand sich fast ausschließ- lich nur in den Werkstätten der Wäsche und Kleiderkonfektion." (Mittelfranken Bd. II. 2, S. 115. Bremen Bd. III, 34, S. 5.) Anderer- seits fehlt es nicht an Beispielen der Reduktion der zehnstündigen auf eine neuneinhalbstiindige, unter Fortzahlung des Lohnes für zehn Stunden und ohne Nachteil für die Produktion. (Großfirmen der Pforzheimer Schmuckwarenindustrie. Bd. II. 5, S. 25.)

Der Einfluß des gesetzlichen Minimalarbeitstages der Frauen auf jenen der Männer ist, wie aus dem Unterelsaß berichtet wird, während der seit 1892 abgelaufenen 10 Jahre nicht so allgemein und so groß gewesen, wie vielleicht erwartet wurde. Das männliche Personal arbeitet in 42 Proz. der Spinnereien und in 45 Proz. der Webereien länger als 1 1 Stunden (Bd. III. 26, S. 6. 8).

Die Ergebnisse einer amtlichen Erhebung der preußischen Ge- werbeaufsichtsbeamten über die Dauer der täglichen Arbeitszeit der erwachsenen Arbeiterinnen in geschützten Betrieben und über Zweckmäßigkeit und Durchführbarkeit einer weiteren Herabsetzung der gegenwärtig zulässigen Dauer ihrer Arbeitszeit mögen hier noch kurz ihren Platz finden.

Eine Zusammenstellung der Angaben für die einzelnen Re- gierungsbezirke zeigt, daß im ganzen Königreiche Preußen in 21 751 Betrieben mit 385820 erwachsenen Arbeiterinnen 71,3 Proz. der Betriebe mit 61,8 Proz. der Arbeiterinnen am 1. Oktober 1902 bis zehn Stunden arbeiteten. Die zehn östlichen Regierungsbezirke und Provinzen (mit Ausschluß Schleswigs) bleiben teilweise unter diesem Durchschnitte : zum Neun- bis Zehnstundenbetriebe sind hier in der Textilindustrie 43,3 Proz. der Betriebe mit 30,4 Proz. der Ar- beiterinnen übergegangen; im Westen betragen die entsprechenden Ziffern 494 und 46,2 Proz. Dem entspricht es auch, daß von den 28 Aufsichtsbeamten sich nur vier (Ostpreußen, Westpreußen, Pommern, Oppeln) gegen die weitere Kürzung der Arbeitszeit aussprechen, zwei andere sie nur mit gewissen Einschränkungen billigen (Frankfurt a. O. und Posen), während alle übrigen Inspektoren sie befürworten und der Aufsichtsbeamte für Breslau ausdrücklich betont: „ein so günstiger Zeitpunkt für die Herabsetzung der Arbeitszeit wie der gegen- wärtige dürfte später so bald nicht wiederkommen." 1 )

') Arbeitszeit der Arbeiterinnen über 16 Jahre in Fabriken und diesen gleich- gestellten Anlagen nach den Krhebungen der königlich preußischen Gewerbeaufsichts- beamten und Bergbehörden im Jahre 1902. Amtliche Ausgabe. Herlin 1903, S. IOI.

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Es geht hieraus hervor, das 1. eine weitere Kürzung der Ar- beitszeit für Frauen nur das Fazit aus der natürlichen Einschränkung zöge und daß 2. gegenwärtig dadurch die Stellung der deutschen Großindustrie auf dem Weltmarkte den Hauptkonkurrenten gegen- über (Großbritannien, Frankreich) keine Einbuße erleiden würde. Es bleibt nur die industrielle Konkurrenz Belgiens und Italiens in Frage, soweit die Ungleichheit der Arbeiterschutzgesetze in Betracht gezogen wird. Es wird in der Tat hie und da solche Konkurrenz von der rheinischen Textilindustrie und von der schweizerischen Seidenindustrie unter Hinweis auf die ungleiche Belastung der In- dustrie beklagt.

Insoweit sich die Behauptung ungleicher Belastung auf die Arbeiterversicherung bezieht, ist sie infolge der Einführung der obligatorischen Unfallversicherung auch in Belgien von 1904 ange- fangen nahezu hinfällig. Dagegen besteht für das Deutsche Reich und Oesterreich, ebenso wie für Großbritannien und Frankreich, Belgien gegenüber auf dem Gebiete des Arbeiterschutzes allerdings eine Differenz, die mit Rücksicht auf den überwiegend exportindustriellen Charakter Belgiens von den Unternehmern dieses Landes als eine Art Kompensation für den unzulänglichen inneren Absatz in An- spruch genommen wird.

Es liegt nun, ganz ähnlich wie bei der Frage der Abschaffung der Exportprämien auf Zucker, ein internationales Interesse vor, die Absatzbedingungen auf dem Weltmarkte auszugleichen und zu ver- hüten, daß der ausländische Konsument auf Kosten der Arbeitskraft billiger versorgt und dadurch der Widerstand konkurrierender In- dustrieller gegen den Arbeiterschutz erhöht werde. Für jeden Staat ist das Interesse der Staatskasse und der Steuerträger, auf deren Kosten Exportprämien gezahlt wurden, auch volkswirtschaftlich kein höheres, als das Interesse an der Erhaltung der Leistungsfähigkeit der Arbeiter. Es ergibt sich daraus ungezwungen die Folgerung, daß, wenn durch internationalen Vertrag die Prämie, welche durch künstliche Verteuerung des Zuckers im Inlande die Konsumenten der zuckerproduzierenden Länder schädigte, aufgehoben werden konnte, nicht minder Begünstigungen, die eigentlich versteckte Prämien zuungunsten der Produzenten vorstellen, auf gleiche Weise beseitigt werden sollen. Diese Auffassung dürfte umso zutreffender sein, da aus den Kreisen der königlich belgischen Verwaltung selbst die Klage erhoben wird, daß in einzelnen Textilzentren, wo die un- geschützten Arbeiter 12 Stunden arbeiten, und die geschützten nur

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Gesetzgebung.

1 1 Stunden arbeiten sollten, sich zahlreiche kleine Überschreitungen ereigneten. Andererseits hat z. B. im Aufsichtsbezirk Courtrai eine mechanische Weberei den zehnstündigen Betrieb eingeführt Die Nachteile der bestehenden Gesetzgebung Belgiens werden von der Gewerbeinspektion offen zugestanden und ihre Revision, namentlich ihre einheitlichere Gestaltung fast von allen Inspektoren gewünscht. (Rapports annuels de l'inspection du travail. 8me Anne" 1902. S. 169, 165, 251, 105, 6, 78, 102, 198; ebenso im Rapport 1900, S. 144.)

In Osterreich (Reichsratsländer) betrug im Jahre 1900 die Zahl der gewerblichen Anlagen, welche weniger als 1 1 Stunden arbeiteten 53,3, in der Schweiz 1901 : 53 Proz. aller geschützten Betriebe. Die Zunahme dieser kürzere Arbeitzeit arbeitenden Etablisse- ments ist nicht etwa durch die herrschende Krise hervorgerufen worden, sondern seit einem Jahrzehnt eine konstante. Hier wie dort, wie im Deutschen Reiche ist es die Textilindustrie, welche die elfstündige Arbeitszeit voll auszunützen strebt, aber in den Hauptzentren bereits zum Zehnstundentage überwiegend überge- gangen ist. So sind es von 400 Textilbetrieben des Reichenberger Aufsichtsbezirkes nur 196 die noch den Elfstundentag im Jahre 1901 voll ausnützten; 177 waren zum Zehnstundentage übergegangen, 7 Betriebe zum 10 V4 und 10 Betriebe zum io1,'., stündigen Arbeits- tage. (Bericht der k. k. Gewerbeinspektoren über ihre Amtstätig- keit im Jahre 1901, 1902, S. 246.)

In der Schweiz herrscht der Elfstundentag noch für 61 Proz. der Arbeiter in der Textilindustrie. Erst ein Viertel der Betriebe hat kürzere Arbeitszeit eingeführt.

Die Konkurrenz Ital iens fallt wesentlich nur für die schweize- rische Spinnerei in die VVagschale. Amtlichen Mitteilungen ist zu ent- nehmen, daß die Arbeitszeit in der italienischen Spinnerei 10 Ii1/», hie und da 12 Stunden beträgt; es ist aber zu bemerken, daß das neue Gesetz über die Frauen und Kinder diese Ziffern beträchtlich herabdrücken wird, da das weibliche Personal, das fast 95 °/0 der Ge- samtarbeiterschaft dieses Industriezweiges beträgt, zur überwiegenden Mehrheit aus minderjährigen Arbeiterinnen besteht, für die der Elf- stundentag vorgeschrieben ist. In der Seidenweberei Italiens ist für die Mehrheit der Betriebe der Arbeitstag kürzer und beträgt zwischen 10 und 1 1 Stunden. Die offiziellen Angaben dürften wohl jeden Zweifel darüber, ob die schweizerische Scidenindustric auch bei kürzerer Arbeitszeit konkurrenzfähig bleibe, verstummen lassen. Da- gegen nützt die Baumwollspinnerei der Schweiz wie in den meisten

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festländischen Konkurrenzländern, die nicht gesetzlich den Zehn- stundentag eingeführt haben, überwiegend (in 89 von 90 Betrieben mit 10476 Arbeitern, wovon über die Hälfte Frauen) den Elfctunden- tag aus. Nur zwei Betriebe mit Iii Arbeitern haben kürzere Arbeitszeiten eingeführt. (Schweiz. Fabrikstatistik vom 5. Juni 1901, Bern 1902, S. 127.)

In den Niederlanden betrug im Jahre 1899 in 45,8 und im Jahre 1900 in 47,4 Proz. der Betriebe die Arbeitszeit der geschützten Personen weniger als zehn Stunden. Die Textilindustrie ist hier unbedeutend, immerhin stiegen hier die Ziffern der Betriebe mit zehnstündiger Arbeitszeit von 26 Proz. auf 38 Proz. Es ist zu bemerken, daß die niederländische Gesetzgebung alle gewerblichen Betriebe dem Arbeiterschutze unterwirft, daß daher diese Verhältniszahlen als ungemein günstige zu betrachten sind, zumal auch die Steige- rung der Zahl der Zehnstundenbetriebe im Laufe der Jahre eine beträchtliche ist. (Verslagen van de Inspecteurs van den Arbeit in het Koningrijk der Niederlande over 1899 en 1900, Tweede Bündel S. 11 56 57).

Am weitesten ist der Zehnstundentag in Dänemark fort- geschritten, wo 1895 erst 56,6 Proz. 1902 schon 92 Proz. der Be- triebe und 95,4 Proz. der Arbeiter weniger als 11 Stunden arbeiteten. (Beretning om Arbcijds-Virksomhed og Fabriktilsynet 1902 03. S. 39.) Die Textilindustrie spielt hier keine Rolle.

V. Schlußfolgerungen.

In der vorstehenden Darstellung des gegenwärtigen Standes der faktischen und der gesetzlichen Arbeitszeit gelangt ein eigen- artiger Gegensatz zwischen der Gesetzgebung der Festlandstaaten und Großbritanniens zum Ausdruck. Hier ist die Arbeit in der Textilindustrie auch durch Gesetz auf ein kürzeres als auf das in den übrigen Industriezweigen gestattete Höchstausmaß von 10 Stunden eingeschränkt ; selbst Überstundenarbeit ist hier den Jugend- lichen und Frauen untersagt. Dagegen nützt die festländische Textilindustrie die gesetzliche Elfstundenarbeit voll aus, und der größte Anteil der Übertretungen auch dieser Vorschriften entfällt auf die Textilindustrie und auf die Kleiderkonfektion.

Dieser Zustand entsprach noch vor etwa 20 Jahren der Vor- zugsstellung der britischen Textilindustrie. Sie besaß nicht allein im Mutterlande und in den Kolonien sondern auch auf dem Fest-

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Gesetzgebung.

lande die kaufkräftigste Kundschaft. Sie konnte dem zollgeschützten Kontinent daher die Erzeugung minderwertiger Ware, die auch bei rückständiger Produktionstechnik lohnend blieb, ja technisch zum Teil nur im Handbetrieb durchgeführt werden konnte, überlassen. Für einen bedeutenden Teil der britischen Textilindustrie kam hinzu, daß von ihr die Mode die Parole erhielt. Der zeitliche Vorsprung, den dadurch die britische Industrie dem Kontinente gegenüber bei der Versorgung des Weltmarktes genoß, kam auch ihren Arbeitern zugute. Diese Vorteile Großbritanniens schwinden in dem Maße, in welchem die Nachfrage nach besserer Textilware auf dem Konti- nent steigt. Daß dies infolge des Steigens der Löhne zum großen Teile der Fall ist, daß daher aueji hier die Spezialisierung der In- dustrie fortschreitet, bezweifelt gegenwärtig kein Kenner der Ver- hältnisse. Ein Vergleich der rheinischen und süddeutschen Textil- industrie, die zum großen Teile faktisch zum Zehnstundentage überge- gangen ist, mit jener der östlicher gelegenen Textildistrikte bestätigt diese Auffassung. Damit entfällt aber der Anlaß, die Ausnahme- stellung des britischen Arbeiters in bezug auf die Kürze der Arbeits- zeit als naturnotwendig zu betrachten. Insofern ein solcher Vorteil in der Modewarenindustrie besteht, würde er durch den Unterschied zwischen Neun- und Zehnstundentag mehr als hinlänglich berück- sichtigt.

Wird nun die Kürzung der Arbeitszeit auf 10 Stunden für spruchreif erklärt, so bleibt noch die Präge offen, ob sie männliche und weibliche Arbeiter, Klein- und Großbetriebe gleichmäßig treffen soll. Hierfür ist nun das französische Experiment überaus lehr- reich. Die bedeutendsten Schwierigkeiten erwuchsen der so behut- samen Einführung des zehnstündigen Arbeitstages aus der Ungleich- artigkeit der Regelung für Männer und Frauen, für motorisch und nicht motorisch betriebene Werkstätten. Aus den Beobachtungen der drei Jahre 1900 1902 läßt sich der Schluß ziehen, daß die ungeschützten Kleinbetriebe auf Kosten der Arbeitskraft den ge- schützten Betrieben Konkurrenz machen; daß ihre Ausnahmsstellung die Einführung des motorischen Betriebes verzögert; daß die Lehr- lingsausbildung unter diesem Zustande wesentlich leidet und daß so eine gewerblich höchst unerwünschte Rückständigkeit die Folge ist. Die Auslegung der Gerichte aber, welche in motorischen Be- trieben die zwölfstündige Arbeit erwachsenen Männern gestattet, sobald nur eine äußerliche Trennung vom geschützten Personal stattgefunden hat, erschwert ganz wesentlich den Vollzug auch für

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die vom Gesetzgeber geschützten Personen. „Quel etrange et in- coheVent tableau präsente aujourd'hui en cette matiere la legislation francaise interpretec par les tribunaux et les circulaires administra- tives!" ruft mit Recht unter solchen Verhältnissen Professor Jay. * > (La Protection legale des Travailleurs, Paris 1904 p. 83).

Bekanntlich gehen nun selbst in Großbritannien die Bestrebungen der Gewerkvereine dahin, den Arbeitstag erwachsener Männer ge- setzlich einzuschränken, wie es bereits in Österreich, in der Schweiz und in Neuseeland der Fall ist.-) Diese einheitliche Gestaltung, deren Fehlen am schwersten in Belgien empfunden wird, ist aber nicht nur aus den allerdings allergcwichtigsten volkhygienischen und kulturellen Motiven zu wünschen. Es sprechen auch ganz be- stimmte wirtschaftliche Gründe für ein solches Vorgehen. Gerade in der Textilindustrie, welche dem Gesetzgeber des Kontinents die größten Schwierigkeiten bereitet, liegt die Möglichkeit periodischer Überproduktion außerordentlich nahe. Spekulativen Vorgängen auf dem Rohstofifmarkte, jähen Absatzstockungen und Modeschwan- kungen, ja selbst Witterungseinflüssen ist die Textilindustrie wohl mehr als jede andere Industrie unterworfen. Der Schutz des heimi- schen Marktes durch Zölle ist solchen Störungen gegenüber wir- kungslos und erhöht nur die Schwierigkeiten der Abstoßung von Lagerbeständen. Eine Kartellierung ist nur in beschränktem Maß- stabe und vor allem für die Erzeuger der Halbfabrikate und die Hilfsgewerbe in Zeiten der Überproduktion durchführbar. Unter solchen Verhältnissen würde eine gleichförmige gesetzliche Reduk- tion der Arbeitszeit gerade in der Textilindustrie aller Konkurrenz- länder eine feste Grundlage für wcitcrgchcndere rationelle Betriebs- einschränkungen in Zeiten der Krise bilden; in den folgenden Zeiten des Aufschwunges könnte diese gesetzliche Arbeitszeit wieder voll ausgenützt und nach Maßgabe der Steigerung der Pro- duktionstechnik in späteren Zeitläuften die gesetzliche Schranke wieder höher gerückt werden. Es sind also gerade die besonderen Verhältnisse der Textilindustrie, die eine einheitliche Kürzung der Arbeitszeit nicht nur sozialpolitisch, sondern auch im industrie- politischen Interesse als wünschenswert betrachten lassen.

M La Protection legale des Travailleurs, 1'aris 1904 p. 83. ?) Wcbb u. a. O. S. 339.

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LITERATUR.

Der bibliographische und literarisch-kritische Apparat

der Sozialwissenschaften.

„Nachdem die Policey-Cameral-Oeconomie-Handlungs- und Manufactur- Wissenschaften zu unseren Zeiten in sehr großes Ansehen gekommen sind; mehret sich die Anzahl derer darinn an das Licht trettenden Schrifften von Tag zu Tag sehr starck: Allein die wenigste derer Per- sonen, welchen zu lieb sie geschrieben sind, besitzen eine große Bücher- Kenntniß; die meisten wissen also auch nicht einmal, daß dieses oder jenes heraus ist.

Bey denen in immer größerer Menge zum Vorschein kommenden sogenannten Journalen findet sich über dieses noch der beschwerliche Umstand, daß selbige aus lauter kleinen Abhandlungen bestehen ; deren sich, wenn ein solches Werk anfangt viele Bände groß zu werden, auch das glücklichste Gedächtnis nicht zu allen Zeiten erinnern kan."

Also begründete der Verfasser der ersten mir bekannten Bibliographie der Sozialwissenschaften (der unten genauer angegebenen „Bibliothec") Johann Jacob Moser vor nunmehr anderthalb Jahrhunderten sein gewiß verdienstliches Unternehmen. Und daß das, was vor 150 Jahren eine für die Wissenschaft willkommene Leistung war, heute, nachdem die nationalökonomische Literatur ins Unermeßliche angewachsen ist, ein dringendes Bedürfnis für den Betrieb der Wissenschaft bedeutet, empfindet jeder, der unter der Fülle des Stoffs zu leiden hat, als etwas Selbstverständliches. Wir werden heute von dieser stofflichen Ueber- fülle so gequält, daß wir unausgesetzt auf Mittel und Wege sinnen, wie wir des Stoffes Herr zu werden vermögen. Inhaltlich versuchen wir es mit Hülfe der wissenschaftlichen Synthese, äußerlich durch die Zusammen- fassung der zahlreichen Einzelschriften in der Bibliographie. Unsere Zeit wird deshalb ebenso durch die wachsende Anzahl sozialwissenschaft- licher Bibliographien wie durch die starke Tendenz zu theoretischer

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Der bibliographische und literarisch-kritische Apparat der Sozialwisscnschaften. 225

Meisterung des Stoffs charakterisiert. Seit zehn oder fünfzehn Jahren sind auf unserm Wissensgebiete ebensoviel Bibliographien erschienen wie in den voraufgehenden anderthalb Jahrhunderten.

Wenn trotzdem die sozialwissenschaftliche Forschung sich des Hilfs- mittels der Bibliographie nicht in einem wünschenswerten Maße bedient, wenn die Bibliographie längst nicht die Rolle in unserem wissenschaft- lichen Betriebe spielt, wie etwa auf dem Gebiete der Naturwissenschaften oder der Geschichte, so liegt der Grund dafür zum Teil in dem un- fertigen Charakter unserer Wissenschaft, in der jeder gern „von vorn" anfangt unter Mißachtung dessen, was vor ihm geleistet worden ist, zum anderen Teil aber auch in der Eigenart der bibliographischen Hilfs- mittel selbst. Erstens sind diese in ihrer großen Mehrzahl so zerstreut und so versteckt, daß viele sie gar nicht kennen; zweitens sind die meisten von ihnen derart abgefaßt, daß ihr Gebrauch sehr erschwert wird.

Deshalb benutze ich gern die Gelegenheit, die mir die Anzeige einiger Neuerscheinungen bibliographischen Inhalts bietet, um einen Über- blick zu geben über das, was die Sozialwissenschaften überhaupt an bibliographisch-literarischen Hilfsmitteln besitzen. Ich gehe dabei von der doppelten Absicht aus: die vorhandenen Publikationen zum be- quemen Gebrauch übersichtlich zusammenzustellen, aber auch sie auf ihre Verwendbarkeit hin zu prüfen und einige Gesichtspunkte für ihre zweckmäßige Weiterführung aufzustellen.

A. Allgemeine Bibliographien.

Jede Wissenschaft profitiert naturgemäß von denjenigen Werken, die eine Zusammenstellung aller literarischen Erscheinungen, also auch derjenigen der besonderen Wissenschaft sich zur Aufgabe machen. Ich sehe jedoch von einer Aufzählung dieser allgemein - bibliographischen Werke ab und verweise den Leser auf das vollständige Verzeichnis bei

1. H. Stein, Manuel de bibliographie generale. Paris 1898. p. 1—42.

Da jedes Kulturland ihrer mindestens eins, die meisten aber ihrer mehrere besitzen, so geht ihre Zahl in die Hunderte, wie der Raum schon erkennen läßt, den ihre Aufzählung beansprucht : 42 Seiten 1 In dieser Riesenhaftigkeit des Apparates liegt nun auch die Schwierigkeit für den Gelehrten begründet, ihn für seine Forschungszwecke zu nützen. Nur die ganz großen Bibliotheken haben alle Werke beieinander und immer wird es der Vcrmittclung der Bibliotheksverwaltung bedürfen, um ohne allzugroßen Zeitaufwand diesen Apparat in Anspruch zu nehmen. Immerhin wird man nie ganz auf ihn verzichten wollen, da er einst- weilen die immerhin vollständigste Bibliographie darstellt, die wir besitzen.

Archiv für Sorialwissenschaft u. Sozialpolitik. I. (A. f. »01. G. u. St. XIX.) 1. 15

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Literatur.

Diese allgemeinen Bibliographien unterscheiden sich in ihrer Benutzbar- keit je nach dem Grade von Spezialisierung und Übersichtlichkeit, die das Sachregister aufweist. Am vollkommensten sind wohl in dieser Hinsicht

für Deutschland:

2. K. Georgs Schlagwort-Katalog. 3. (und einstweilen letzter) Band

1893—1897. Hannover 1900/1901, 1975 S.

für Frankreich:

3. Catalogue generale de la Librairie francaise. Sachkataloge in Vol.

7> **> *3-

Eine wesentliche Vervollkommnung hat der allgemein-bibliographische Apparat, der früher nur die im Buchhandel erscheinenden selbständigen Schriften enthielt, durch die Zeitschriftenbibliographien erfahren, wie sie jetzt Deutschland und Frankreich besitzen:

4. Bibliographie der deutschen Zeitschriften -Literatur

mit Einschluß von Sammelwerken und Zeitungsbeilagen. Seit 1896. Jetzt jährlich 2 Bände. Leipzig.

5. Repertoire bibliographique des principales revues

fran^aises; red. par D. JordelL Seit 1897. Paris.

B. Sozialwissenschaftliche Bibliographien.

I. Nichtperiodische Publikationen.

1. Literaturnachweise, wie sie fast jede wissenschaftliche Arbeit enthält, wachsen sich oft zu wirklichen Bibliographien aus. Wes- halb denn ihrer hier an erster Stelle wenigstens im Vorbeigehen Er- wähnung getan werden mag. Man denke an die Lehrbücher von Roscher, Ad. Wagner u. a. Vor allem wird der ausführliche Literaturnachweis in der lexikographischen Darstellung gepflegt : die verschiedenen „Hand- wörterbücher" unserer Wissenschaft, in erster Linie das deutsche, kommen deshalb als bibliographische Hilfsmittel wesentlich in Betracht.

2. Bibliothekskataloge sind in einzelnen Fällen willkommene Nachschlagewerke geworden. Wir besitzen jetzt ein Verzeichnis der wichtigeren gedruckten Kataloge aller Länder, nach Städten geordnet: Nr. 1 dieser Übersicht pag. 711 768.

Unter den für unsere Wissenschaft in Betracht kommenden Bibliotheks- katalogen ragen hervor : die Kataloge der Gehe-Stiftung, der Reichsgerichts- bibliothek, derHamburgerKommerzbibliothek, der Bibliothek des preußischen statistischen Büreaus, des preußischen Abgeordnetenhauses, vor allem aber des Deutschen Reichstages. Dieser Katalog, der jetzt mit den Zugangs- katalogen (bis 1902) 9 stattliche Bände umfaßt, ist dank der Reich-

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Der bibliographische und literarisch-kritische Apparat der Sozialwissenschaften. 227

haJtigkeit seines Inhalts ebenso wie dank der außerordentlich detaillierten Disposition als eines unserer wichtigsten bibliographischen Hilfsmittel an- zusehen.

3. Buchhändlerkataloge, namentlich Antiquariatskataloge ent- halten oft genug reiche Bibliographien. Was an Literaturübersichten und zwar meist in bester Ordnung Kataloge von Harding in London, Macmillan & Bowes in Cambridge, Rostand in Paris, Nijhoff im Haag, Prager, Calvary in Berlin, Lorentz, Harrassowitz in Leipzig, Baer in Frankfurt a. M., Hoepli in Mailand, Claussen in Turin u. v. a. bringen, enthält manches Mal mehr als die besten Bibliographien, die wir über den Gegenstand besitzen. Deshalb ist auch ein regelmäßiges Studium der Antiquarkataloge ein gutes Mittel, um sich eine umfassende Literatur- kenntnis zu verschaffen. Es ist kein Zufall, daß unsere besten Literatur- kenner bekannte Bibliophilen sind.

4. Bibliographien, a) allgemeine.

6. Joh. Jac. Mosers gesammelte und zu gemeinnützigem Gebrauch

eingerichtete Bibliothec von Oeconomischen - Cameral - Policey- Handlungs - Manufactur - Mechanischen und Bergwerks-Gesetzen Schrifften und kleinen Abhandlungen. Ulm 1758.

7. Joh. Heinr. Ludw. Bergius Cameralisten-Bibliothek oder voll-

ständiges Verzeichnis derjenigen Bücher, Schriften und Abhand- lungen, welche von dem Oeconomie-Policey-Finanz- und Cameral- wesen und verschiedenen andern damit verbundenen Wissen- schaften handeln . . . Nürnberg 1762.

8. Catalogue d'une Bibliotheque d'Economie Politique formet pour

le travail du Nouveau Dictionnaire de Commerce in dem „Pro- spectus" dieses Dict. de Comm. Paris 1769.

9. Carl Gottl. Rössig, Die neue Litteratur der Policey und

Cameralistik, vorzüglich vom Jahre 1762 bis 1802. 2 Teile. Chemnitz 1802.

10. Joh. Sam. Ersch, Literatur der Jurisprudenz und Politik, mit Einschluß der Cameral-Wissenschaften seit der Mitte des 18. Jahr- hunderts bis auf die neueste Zeit. Neue fortgesetzte Ausgabe von Joh. Christ. Koppe. Leipzig 1823. iL J. R. Mac Culloch, The Literature of political Economy: a classifted catalogue of select publications in the different de- partements of that science with historical, critical and bio- graphical notices. London 1845.

12. Joh. M. Presburg, Bibliographie voor Staats- Regts- en Ad-

ministratieve Wetenschappen, Staatshuishoudkunde, Statistiek en Armen wesen. Deel I. Leyden 1852.

13. Ad. Soetbeer, Literaturnachweis der politischen Ökonomie für

15*

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228

Literatur.

1840 1852 (in der Übersetzung von J. St. Mills Grundsätzen der politischen Ökonomie Bd. II. Hamburg 1852, S. 461 510).

14. Robert von Mohl, Die Geschichte und Literatur der Staats-

Wissenschaften. In Monographien dargestellt. 3 Bände. Erlangen 1855 58. (Band III, S. 733 832 enthält das Literaturregister.)

15. R. R. ßowker and George lies, The readers guide in econo-

mical, social and political science. New York. 1892.

16. Otto Mühlbrecht, Wegweiser durch die neuere Litteratur der

Rechts- und Staatswissenschaften. Für die Praxis bearbeitet, 2. umgearbeitete und vermehrte Auflage. Berlin 1893. Band II, enthaltend die Literatur der Jahre 1893 1900 nebst Nachträgen und Ergänzungen zu Band I (die Literatur bis 1892). Berlin 1901. Puttkammer und Mühlbrecht Von diesen sozial- oder staatswissenschaftlichen Bibliographien all- gemeinsten Charakters kommen heute für wissenschaftliche Zwecke wohl nur noch die unter Nr. n, 14 und 16 genannten in Frage. Wenn auch die Bücher von Mac Culloch (Nr. 11) und Mohl (Nr. 14) heute nach einem halben Jahrhundert noch immer schätzenswerte Nachschlage- werke geblieben sind, so verdanken sie dies der glücklichen Form, in der sie den Stoff darbieten. Sie stellen den Typus der beschreiben- den oder literarischen Bibliographie dar, den ich als den für die wissenschaftliche Forschung angenehmsten ansprechen möchte und von dem ich wünschte, daß er in Zukunft noch mehr zur Geltung käme. Außer in den genannten beiden Werken von Mac Culloch und Mohl begegnen wir ihm unter den sozialwissenschaftlichen Spezialbiblio- graphien noch bei Nettlau (Nr. 22), Soetbeer (Nr. 66).

Werden einige Bemerkungen literar- oder wirtschafts-historischen und kritischen Inhalts den aufgezählten Büchertiteln hinzugefügt, so bedeutet für den Leser die Bibliographie wirklich einen „Wegweiser", was in diesem Sinne eine reine Bibliographie wie die von Otto Mühlbrecht (Nr. 16) nicht ist. Immerhin kann uns diese fleißige Zusammenstellung vieler Büchertitel in übersichtlicher Gruppierung, zumal sie in ihrer Art die einzige ist, wertvolle Dienste leisten. Sie will keine vollständige Bibliographie sein und ist es nicht. Deshalb ist sie nicht sowohl für den Spezialforscher als für denjenigen von Nutzen, der sich über eine Materie etwas genauer informieren will, also für den „Praktiker", an den der verdienstvolle Heraus- geber nach den Angaben auf dem Titel wohl auch in erster Linie ge- dacht hat. Für den Fall einer Neuauflage möchte ich dem Verfasser dringend raten, den Autoren die Vornamen beizufügen. Das Fehlen der Vornamen wird namentlich auch unter den ßibliotheksbeamten als ein großer Ubelstand empfunden. Der fühlbarste Mangel des Mühlbrechtschen „Wegweiser" ist freilich noch ein anderer, der auch in einer Neuauflage der ganzen Natur des Buches nach sich schwer wird beseitigen lassen: das Fehlen der Zeitschriftenliteratur.

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Der bibliographische und literarisch-kritische Apparat der Sozialwisscnschaften. 229

b) spezielle.

Die Schwierigkeit, das gesamte Gebiet der Sozial-(Staats-)wissen- schaften bibliographisch zu umfassen und der Wunsch, möglichst voll- ständige Übersichten zu geben, mußte frühzeitig den Gedanken der Spezialisierung nahelegen. Man hatte zwei Möglichkeiten, den Stoff zu sichten: die Gruppierung nach Ländern (ev. noch Zeitepochen) und die nach Fächern (Materien). Beide Wege sind betreten.

a) nach Ländern geordnete Bibliographien.

Deutschland:

17. Bibliotheca juridica. Handbuch der gesamten neueren

juridischen und staatswissenschaftlichen Literatur. Eine Zu- sammenstellung aller auf dem Gebiete der Rechts- und Staats- wissenschaften seit 1849 m Deutschland und den benachbarten Staaten erschienenen Schriften. 1. Band. Die Jahre 1849 bis Mitte 1867 umfassend, bearbeitet von Wuttig. Leipzig 1867. 2. Band. Die Jahre 1867 bis Mitte 1876 umfassend bearbeitet von Roßberg. Leipzig 1877.

18. Erscheinungen (Die) des deutschen Buchhandels auf dem

Gebiete der Staats- und Rechtswissenschaften, Politik, Statistik und Nationalökonomie, des Finanz- und Bankwesens, sowie des Kirchenrechts und der Kirchenpolitik. Von der Gründung des Deutschen Kaiserreichs bis Ende 1881. Berlin 1882.

Niederlande :

19. Et. L a s p e y r e s , Bibliographie der volkswirtschaftlichen Schriften

(nämlich der Niederlande im 17. und 1 8. Jahrhundert). Zweiter Teil der „Geschichte der volkswirtschaftlichen Anschauungen der Niederländer und ihrer Literatur zur Zeit der Republik." Leipzig 1863.

Italien :

20. An gel o Bertolini, Saggio di bibliografia economica italiana

(1870 1890). Roma 1895.

Spanien :

21. Manuel Torres Campos, Bibliografia espanola contemporanea

del derecho y de la politica (1881 1896). Madrid 1898.

Sind derartige nationale Bibliographien systematisch geordnet wie z. B. diejenige Bertolinis (Nr. 20), so können sie gute Dienste leisten.. Aber doch in einem sehr beschränkten Umfange. Es mag wichtig sein, die wissenschaftlichen Leistungen eines Landes zu über- schauen, um dessen geistigen Entwicklungsgang zu verfolgen: für die wissenschaftliche Forschung, die keine Landesgrenzen kennt, bedeutet

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Literatur.

die Beschränkung auf eine nationale Literatur eine Minderung des Wertes einer Bibliographie bis zur Unbrauchbarkeit, zumal wenn die Übersicht nur die selbständigen Bücher umfaßt, also die Zeitschriftenaufsätze aus- schließt, wie Nr. 17, 18, 19 und noch dazu rein chronologisch geordnet ist wie Nr. 19. Deshalb ist dieser Typus auch wenig beliebt. Vielmehr sucht man mit Recht des Stoffes dadurch Herr zu werden, daß man ihn nach Fächern (Materien) ordnet. So entsteht der wichtigste Typus der modernen Bibliographie, nämlich

ß) nach Materien geordnete Bibliographien.

Vorbemerkung. Damit die Ubersicht nicht allzu umfangreich werde, habe ich nicht berücksichtigt: die Bibliographien ausschließlich oder vorwiegend technologischen Inhalts (über Bergbau, „Handels- wissenschaft" „Gewerbekunde" usw.) also auch nicht die zahlreichen Ver- treter des bekannten Typus der Bibliotheca georgica. Einige erläuternde Bemerkungen mache ich am Schlüsse der Zusammenstellung, die ich der Übersichtlichkeit wegen nicht durch Hinzufügungen unterbrechen will

Anarchismus :

22. M. Nettlau, Bibliographie de l'anarchie. Bibliotheque des

„Temps nouveaux". Annee 1897. Nr. 7. Bruxelles et Paris.

Arbeiterfrage: siehe Sozialpolitik. Arbeitslohn: siehe Nr. 152, 153.

Armenwesen (einschließlich Wohltätigkeit, Vagabondage usw.).

23. F. M. Eden, The State of the Poor. 3 Vol. London 1797.

Appendix.

24. J. B. Ri stelhueber, Wegweiser zur Literatur der Waisenpflege,

des Volkserziehungswesens, der Armenftirsorge, des Bettlerwesens und der Gefängniskunde. 2 Bände. Cöln 1831 1840.

25. Compte-rendu du Congres international d'assistance publique

tenu ä Paris. Paris 1889. Bibliographie in Vol. II.

26. Cam. Granier, Essai de bibliographie charitable. Paris 1891.

27. Luigi Cossa, Saggio di bibliografia delle opere economiche

italiane anteriori al 1849 sulla teoria della beneficenza. Giornale degli Economisti. 1892.

28. und 28a. E. Muensterberg, Bibliographie des Armenwesens.

Bibliographie charitable (Schriften der Centraistelle für Arbeiter- wohlfahrtseinrichtungen, Abteilung für Armenpflege und Wohl- tätigkeit.) Berlin, Carl Heymanns Verlag, 1900. 1. Nachtrag 1902.

Auswanderung :

29. Jul. Fried r. Sachse, Literature on german emigration. Pennsyl-

vania German Society. Proceedings and addresses. Vol. 7. 1898.

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Der bibliographische und literarisch-kritische Apparat der Sozial Wissenschaften. 23 1

Bankwesen :

30. F. Ferrara, Bibliografia delle opere sui banchi. Biblioteca dell'

Economista. Ser. II. Vol VI. Torino 1857.

31. Bibliothek der schweizerischen Landeskunde: Bankwesen,

Handelsstatistik, Versicherungswesen. Zusammengestellt von W. .Speiser, T. Geering und J. J. Kummer. Bern 1893. Vgl. auch die unter „Geldwesen" aufgerührten Bibliographien.

Bevölkerungswesen :

32. P. Lippert im Anhang zu Band VI der I. Abteilung des Hand-

und Lehrbuchs der Staatswissenschaften ; begründet von K. Frankenstein, herausgegeben von Max von Heckel Leipzig 1898.

Eisenbahnen: siehe Verkehrswesen. Finanzwissenschaft :

33. C. K 1 e t k e , Literatur über das Finanzwesen des Deutschen Reichs

und der deutschen Bundesstaaten. II. Abteilung. Literatur über das Finanzwesen des preußischen Staats. 3. vielfach vermehrte und verbesserte Auflage. Berlin 1876.

34. A. P. Soubbotin, Obzor literatury po voprosu o priamom

oblojenii i pochlinakl. St. Petersburg 1879.

35. C. Karataev, Bibliografiia finansow usw. (17 14 1879). St. Peters-

burg. 1880.

36. V. Niccoli, Bibliografia dell' estimo ordinario in Italia fino al

1856. Verona-Padua 1889.

37. Luigi Cossa, Saggio bibliografico sulla scienza delle finanze in

Italia prima del 1894. Giorn. degli Econ. 1892.

38. idem, Teoria generale delle finanze. Saggio bibliografico. 1. c.

1895.

39. idem, La Teoria del credito pubblico. Saggio bibliografico. 1. c.

1896.

40. R. Stourm, Bibliographie historique des finances de la France au

XVm siecle. Paris 1895.

41. K. Franken stein im Anhang zu Band I. der II. Abteilung des

unter Nr. 32 zitierten Handbuchs. 1894. (Allgemeines).

42. Derselbe, ebenda Band II (Steuern im allgemeinen) 1895. 42a. Derselbe, ebenda Band III (Steuern im besonderen) 1895.

43. Ellen M. Sawyer, Bibliography of works on taxation. Special

Bulletin of the State Library of Massachusetts. January 1897.

44. Bibliography of taxation. Indiana State Library Bulletin.

March 1898.

45. P. Lippert, in dem Nr. 32 zitierten Handbuch Band IV. (Öffent-

licher Haushalt, Budget, Finanzverwaltung) 1898.

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232

Literatur.

46. Luigi Cossa, Saggio bibliografico sulla teona dell' imposta.

Giorn. degli Econ. 1899.

47. Henri Stein, Bibliographie de l'impdt iur le revenu. Besancon

1900. (Bibliographe moderne 1900 p. 264—291.)

48. Check listof foreign governement documents on finance. New

York, Bull, of the Publ. Library. 1901.

49. Ernest L. Bogart & William A. Rawles, Trial bibliography

and outline of lectures on the financial history of the Un. States. Oberlin (O.), 1901.

50. A. Moli na, Ensayo bibliografico chileno sobre hacienda publica.

Santiago de Chile 1901.

51. Gustav Sodoff sky, Bibliographie der Immobilien- und Ge-

bäudebesteuerung sowie Beiträge zur Bibliographie verwandter Fragen. St. Petersburg. 1901.

52. Josef Stammhammer, Bibliographie der Finanzwissenschaft.

Jena, Gustav Fischer. 1903.

Frauenfrage :

53. Arthur L. Jellinek, Bibliographie der Frauenfrage. Dokumente

der Frau. Band 2. 15. Nov. 1899.

54. Bibliography of Women's Question. English women's

Review 1899.

55. H. J. M e h 1 e r , La femme et lc fdminisme. Collection de livres,

pöriodiques etc. sur la condition sociale de la femme et le mouvement feministe, faisant partie de la bibliotheque de M. et Mme C. V. Gerritsen ä Amsterdam. Paris. 1900. 40. 1 6 |— 240 -\- 104 p.

56. Verzeichnis der auf dem Gebiete der Frauenfrage während der

Jahre 1851 1901 in Deutschland erschienenen Schriften. Herausgegeben vom deutsch-evangelischen Frauenbunde (Vor- wort von Paula Müller) Hannover 1903.

Geldwesen: Über die älteren vorwiegend numismatischen Biblio- graphien siehe :

57. C. Meng er, Artikel „Geld" im Handwörterbuch der Staatswissen-

schaften. 2. Aufl. Band 4. Jena 1900.

58. F. Ferrara, Bibliografia delle opere sulla moneta. Biblioteca

dell' Economista, Ser. II. Vol. VI. Torino. 1857.

59. Documents of the International Monetary Conference of 1878.

Washington 1878. (Von Dana Horton).

60. AI. Del Mar, History of the Precious Metals. London 1880.

61. Bela Foldes, Literatur zur Frage über Ursachen und Wirkungen

des Agios. Jahrbücher für Nat.-Ükon. N. F. Band 4. Jena 1882.

62. W. S. Jevons im Appendix zu seinen Investigations in Currency

and Finance. I i 568 1882). London 1884.

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Der bibliographische und literarisch-kritische Apparat der Sozialwisscnsehaftcn. 233

63. J. L. Laughlin, Mills Principles of political economy. Boston

1885. Bibl. des Bimetallismus p. 635 659.

64. AI. Del Mar, Money and Civilization. London 1886.

65. Luigi Cossa, Saggio di Bibliografia delle opere economiche

italiane sulla moneta e sul credito anteriori al 1849. Giorn. degli Econ. 1892.

66. Ad. Soetbeer, Literaturnachweis über Geld- und Münzwesen,

insbesondere über den Währungsstreit, 187 1 1891. Mit ge- schichtlichen und statistischen Erläuterungen. Berlin 1892.

67. P. Lippe rt im Anhang zu Band VIII. der I. Abt. des unter

Nr. 32 genannten Handbuchs (Bibliographie der Jahre 1892 bis 1902). Leipzig 1903.

Geschichte der nationalökonomischen Theorien:

68. F. Ferrara, Bibliografia Fisiocratica (Biblioteca degli Economisti.

Prima Serie. Vol. L Torino 1850).

69. BtHa Weiß, Bibliographie zur Geschichte der Nationalökonomie

Pesth, 187 1.

70. Luigi Cossa, Saggio bibliografico sulla storia delle teorie

economiche in Italia. Giorn. degli Econ. 1892. 7L P. Lippert im Anhang zu Band II der I. Abteilung des unter Nr. 32 genannten Handbuchs.

Getreidehandelspolitik : siehe Handel. Gewerkvereine; siehe Sozialpolitik. Grundrente: siehe Nr. 152, 153. Handel und Handelspolitik.

72. Julius Graf von Soden, Die annonarische Gesetzgebung.

Nürnberg 1828. Das 4. Buch enthält die „annonarische Bibliothek".

73. W. Roscher, Über Kornhandel. 3. Ausgabe. Stuttgart und

Tübingen. 1852. Die dritte Beilage enthält die „Literatur des Kornhandels".

74. L. Cossa, Saggio bibliografica sulle teorie annonarie in Italia

prima del 1849. Giornale degli Economisti. 1893.

75. P. Lippert im Anhang zu Band XVI der I. Abteilung des

unter Nr. 32 genannten Handbuchs. Leipzig 1900.

76. A. P. C. Gri ffi en, A list of books with reference te periodicals

on mercantile marine subsidies. Washington 1900. Vgl. auch Nr. 31.

Handwerkerzünfte :

77. G. Gonetta, Bibliografia statutaria delle corporazioni d'arti e

mestieri d'Italia con saggio di bibliografia estera. Roma 1891.

78. Giovanni Bresciano, Biblioteca statutaria delle corporazioni

romane di arti e mestieri. Rivista delle Biblioteche 1897. 1900.

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234

Literatur.

Kapitalzins: siehe Nr. 152, 153. Kartelle: siehe Trusts. Kolonialwesen :

79. J. C. Hooykaas, Repertorium op de Koloniale litteratuur etc.

(Holländische Literatur über holländische Kolonien von 1595 bis 1865) 2. Vol. Amsterdam 1877. 1880.

80. Kolonialliteratur des Deutschen Reichs der letzten 1 o Jahre.

Nürnberg 1891.

81. M. Brose, Die deutsche koloniale Literatur von 1884 bis 1895.

Berlin 1897.

82. Zamboni Fil., Gli Ezzelini, Dante e gli schiavi. Nuova edi-

zione. Firenze 1897. pag. 479—490: „Bibliografia ragionata e notizie di opere sulla schiavitü nel mondo in ogni epoca."

83. Indice alfabetico-analitico per autore e per soggetto di

tutti gli articoli pubblicati nei bollettini sociali dal 1877 al dicembre 1897 della Societa di esplorazione commerciale in Africa. Milano 1898.

84. A. P. C. Griffin, List of books with reference of periodicals

relating to the theory of colonization, governement of depen- dencies, protectorates and related topics. Washington. 1900.

85. Henry C. Morris, The history of colonization from the earliest

times to the present day. 2 Vol. New York 1900. Vol. II. Pag- 3 2 5— 5 Bibliography.

86. A. Hart mann, Repertorium op de litteratuur betreffend de

Nederlandsche Kolonien in Oost- en West-Indie, voor zoover zy verspreid is in tydschriften en mengelwerken. Ferste vervolg: 1894 1900. 's Gravenhage, 1901.

87. Mary Stoughton Locke, Antislavery in America, from the

introduetion of African slaves to the prohibttion of the slave trade, 1619 1808. Boston, 1901. Bibl. p. 166 231.

88. Bibliography of colonies and colonization. Prepared by the

Library of Congress. Monthly summary oi commerce and finance of the U. S. A. No. 4. 1901. 8g. Pierre Decharme, La colonisation allemande. Bibliotheque de bibliographies critiques publiee par la societee des e'tudes historiques. Paris, s. a.

90. Ch. Saglio, La colonisation francaise en Indo-Chine. ibidem.

91. Marcel Ruedel, La colonisation francaise en Tunisie. ibidem.

92. M. Ruedel, Les grandes compagnies de colonisation en France

au XIX. siecle. ibidem.

93. M. Dubois, Les systemes coloniaux anglais. ibidem.

Kommunale Sozialpolitik: siehe Sozialpolitik insbes. Nr. 123.

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Der bibliographische und literarisch-kritische Apparat der Sozialwissenschaften. 235

Maschinenproplcm :

94. L. Cossa, Saggio bibliografico sulla teoria economica delle

machine. Giornale degli Economisti. 1900.

Sklaverei: siehe Kolonialwesen.

Sozialismus und soziale Bewegung:

95. H. Fournel, Bibliographie Saint - Simonienne (1802— 1832).

Paris 1833.

96. Wegweiser auf dem Gebiete der sozial demokratischen Literatur

Deutschlands. 3. verm. Aufl. Leipzig 1849. gj. Journal des Journaux de la Commune. Table resumd de la Presse quotidienne de 19 mars 24. mai 1871. 2 Vol. Paris 1872.

98. R. Meyer, Die neueste Literatur zur sozialen Frage. 1. und

2. Abteilung. Berlin 1873.

99. Derselbe, Der Emanzipationskampf des 4. Standes. 1 . Band 1874

(Kap. 8: Die soziale Presse deutscher Sprache).

IOO. O. Gracklauer, Verzeichnis von Schriften aus dem Gebiete der Sozialwissenschaften. Sozialdemokratie, Commune, Internationale, bürgerliche Gesellschaft, Parteien, Presse und Arbeiterwesen. Systematisch zusammengestellt in 21 Rubriken. Leipzig 1878.

xoi. G. Adler, Die Geschichte der ersten sozialpolitischen Arbeiter- bewegung in Deutschland. Breslau 1885. Im Anhang: Die deutsche sozialistische Literatur zur Zeit der ersten Arbeiter- bewegung.

102. T. E. Brown, Studies in modern socialism and labour problems.

New York 1886. Bibliographie auf Seite 234 268.

103. O. A t z r o 1 1 , Sozialdemokratische Druckschriften und Vereine ver-

boten auf Grund des Reichsgesetzes gegen die gemeingefähr- lichen Bestrebungen der Sozialdemokratie vom 21. Oktober 1878. Im amtlichen Auftrage bearbeitet. Berlin, Carl Heymanns Verlag, 1886. Nachtrag 1888.

104. G. Canestrelli, Bibliografia degli scritti di G. Mazzini. Roma 1892. 105 u. 105a. Jos. Stammhammer, Bibliographie des Sozialismus und

Kommunismus. Jena, Gustav Fischer, 1893. Band II. Nachträge und Ergänzungen bis Ende des Jahres 1898. Ebenda 1900.

106. H. Lux, Etienne Cabet und der ikarische Kommunismus. Stut-

gart 1894.

107. Deutscher, La bibliographie du socialisme beige. App. zu

J. Destrde et E. Vandervelde, Le socialisme en Belgique Paris 1898.

108. P. Lippert im Anhang zu Band III der I. Abteilung des unter

Nr. 32 genannten Handbuchs.

109. Anton Menger, The right to the whole produce of labour . .

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236

Literatur.

W'ith an introduction and bibliography (of the English socialist school) by H. S. Fox well New York 1899. 110. W. Sombart, Sozialismus und soziale Bewegung im 1 9. Jahr- hundert. Von der 3. Auflage (1900) an: Führer durch die sozialistische Literatur.

Sozialpolitik (Arbeiterfrage) :

in. H. Blanc, Bibliographie des corporations ouvrieres avant 1789. Paris 1885.

112. L. Cossa, La partecipazione degli operai al profitto. Saggio

bibliografico. Giornale degli Economisti 1894.

113. Rob. Alex. Peddie, List of Publications on Trade Unionism

and Combinations of Workmen. App. zu Sidney and Bea- trice W e b b , The History of Trade Unionism. London 1894.

114. Supplement zu der in der vorigen Nummer (113) genannten

Bibliographie in dem Werke derselben Verfasser „Industrial Democracy." London 1897. n.5. Bibliographie des Gewerkvereinswesens, eine Zu- sammenarbeitung der Nr. 113 und 114 in der deutschen Über- setzung des Nr. 114 genannten Werkes (von C. Hugo) Stuttgart 1898. 2. Band. Mit Schlagwortverzeichnis, das im Original fehlt.

116. K. Frankenstein, Bibliographie des Arbeiterversicherungswesens

im Deutschen Reich. Leipzig 1895.

117. Derselbe im Anhang zu Band XIV. der I. Abteilung des Nr. 32.

genannten Handbuchs.

118. J o s. S ta m m h a m m e r , Bibliographie der Sozial -Politik. Jena, Gustav

Fischer, 1896.

119. List of Bookson Social Reform. Boston (Mass.) Monthly Bulletin 1898.

120. Helen Marot. A Handbook of labor literature: being a classified

list of the more important books and pamphlets in the english language. Philadelphia. 1899.

121. E. Gauger, Essai de bibliographie. Securite des ateliers et

accidents du travail. Corbeil. 1899.

122. Leon Losseau, De la röparation des accidents du travail:

bibliographie des travaux de langue fran<;aise. Bruxelles 1899.

123. Rob. C. Brooks, A Bibliography of municipal Problems and

City Conditions. New York und London 1901 ; erschien auch in der Zeitschrift: Municipal AfTairs. New York. Vol. V.

124. A. Delaire, Frederic Le Play. Bibliotheque de bibliographies

critiques publice par la societe des etudes historiques. Paris s. a.

Städtewesen :

125. R. C. Brooks, Bibliography of cities and towns. Indianopolis

(Ind.) 1898. Siehe auch Nr. 123

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Der bibliographische und literarisch-kritische Apparat der Sozialwissenschaften. 237

Statistik:

126. C. Thurmanni, Bibliotheca Statistica etc. Halae 1701.

127. J. G. Meusel, Litteratur der Statistik. 1790 1797. Neue Aus-

gabe 2 Bände, Leipzig 1806/7.

128. P. F. Heuschling, Bibliographie historique de la Statistique en

AUemagne. Bruxelles 1845. X29. idem, Bibliographie historique de la statistique en France. Bruxelles 1851.

130. R. Boeck, Allgemeine Übersicht der Veröffentlichungen aus der

administrativen Statistik der verschiedenen Staaten. Berlin 1856.

131. Bibliografia statistica italiana compilata per occasione della

IX. Sessione del Congresso internazionale di Statistica. Roma 1876.

132. L. Bodio, Saggio bibliografico della statistica italiana. 3a ed.

Roma 1893.

133. Check list of works on the vital statistics of New York City.

New York, Bulletins of the Public Library. 1901.

Theoretische Nationalökonomie im allgemeinen. (Systeme, Lehr- bücher usw.)

134. L. Cossa, Saggio di bibliografia dei trattati e compendi d'eco-

nomia politica scritti da italiani. Giornale degli Economisti 1891. 1893.

135. T. Mar teil o, Dizionario bibliografico deU'Kconomia politica

(per ordiue cronologico) I. Trattati generali. Bologna 1893.

136. K. Frankenstein, im Anhang zu Band I der I. Abteilung des

unter Nr. 32 genannten Handbuchs in der I. Auflage. Leipzig 1893.

137. Derselbe im Anhang zu Band IV der I. Abteilung desselben

Handbuchs. t

138. L. Cossa, Saggio bibliografico sui trattati e compendi di economia

politica nelle nazionalita minori (Spagna, Portogallo e Brasile, Paesi Bassi, Danimarca, Norvegia, Svezia e Finlandia, Stati Uniti delf America settentrionale, Polonia, Principati Danubiani e Turchia, Ungheria). Giornale degli Economisti 1895.

139. idem, Saggio bibliografico sui trattati e compendi inglesi d'economia

politica. 1. c. Agosto 1895.

140. idem, Saggio bibliografico sui trattati e compendi francesi

d'economia politica. 1. c. Settembre 1895. 14L idem, Saggio bibliografico sui trattati e compendi tedeschi d'eco- nomia politica. 1. c. Ottobre 1895.

142. Aug. Cour not, Researches into the matheraatical principles of

the theory of wealth. New York. 1898. Bibliography by Irving Fischer.

Trusts :

143. Rcfercnce list on Trusts. San Francisco 1900.

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238

Literatur.

144. Fanny Borden, Monopols and Trust in America 1895. 1899.

Albany New York State Library (Bull. 67.) 1901.

145. A. P. C. Griffen, A List of Books (with References to Periodicals)

relating to Trusts. 2. ed. Washington 1902 (enthält wesentlich nur amerikanische Literatur).

Unternehmer und Unternehmergewinn: siehe Nr. 152. 153. Verkehrswesen :

146. Catalogue des pubücations parues sur la navigation inte"rieure.

Paris 1892.

147. K. Frankenstein im Anhang zu Band VII der I. Abteilung des

unter Nr. 32 genannten Handbuchs. (Gesamtes Verkehrswesen.)

148. A. Sichler, Schweizerische Eisenbahnliteratur 1 830 1 90 1 . (Bib-

liographie der schweizerischen Landeskunde.) Bern 1902.

Versicherungswesen :

149. O. Gracklauer, Verzeichnis der Schriften über Versicherungs-

wesen 1857 1882. Leipzig 1882.

150. P. Lippert im Anhang zu Band XVII der I. Abteilung des unter

Nr. 32 genannten Handbuchs. 1894.

151. Henry E. Hess, A catalogue of the library of the Insurance

association of Boston. Boston 1899.

Verteilung des Reichtums:

152. Luigi Gossa, La distribuzione delle ricchezze. Saggio bibliografico.

Giomale degli Economisti. Settembre 1894 (La distribuzione in generale. D reddito. L'interesse. II profitto. La rendita. II salario.)

153. P. Lippert im Anhang zu Band V der I. Abteilung des unter

Nr. 32 genannten Handbuchs. 1896. 1. Allgemeines. 2. Verteilung der Güter. 3. Grundrente. 4. Arbeitslohn (in 16 Unterabteilungen). 5. Zins und Wucher. 6. Unter- nehmer und Unternehmergewinn.

Werttheorie

154. Luigi Cossa, Saggio bibliografico sulla teoria del valore. Gior-

nale degli Economisti. Gennaio 1895.

Wirtsch aftskrisen :

155. Edward Jones, Economic crises. New York 1900. Contains

a 21 pages bibliography.

156. Literatur über die deutsche Wirtschaftskrisis der Jahre 1 900 ff.

in den Schriften des Ver. für Soc.-Pol. Band 105. Leipzig 1903.

Wohnungsfrage :

157. Compte-rendu du congres international des habitations ä bon

marche. Paris 1889. Enthält eine von A. Raffalowich und

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Der bibliographische und literarisch-kritische Apparat der Sozialwissenschaften. 239

A. Roulliet zusammengestellte Bibliographie auf Seite 203 bis 232.

158. Müller et Cache ux, Les habitations ouvrieres en tout pays. Paris 1889.

Eine Bibliographie wird für wissenschaftliche Zwecke um so besser zu verwenden sein, je zuverlässiger, je vollständiger, je übersichtlicher sie ist. Prüfen wir die soeben aufgezählten sozial wissenschaftlichen Spezial- bibliographien darauf hin, ob und in welchem Umfange sie die An- forderungen erfüllen, die an eine gute Bibliographie zu stellen sind Zuverlässigkeit, Vollständigkeit, Übersichtlichkeit , so glaube ich, werden wir unter den „reinen" Bibliographien die Palme den Cossa- Biblio- graphien zuerkennen müssen. Sie sind soweit ich sie nachgeprüft habe zuverlässig; sie sind wenigstens annähernd vollständig; sie sind aber auch leicht benutzbar, weil reich gegliedert oder stark spezialisiert Es ist einleuchtend, daß eine Bibliographie über das Maschinenproblem (Nr. 94) oder die Werttheorie (Nr. 154) das Problem so eng faßt, daß wirklich nur noch engstens zusammengehörige Arbeiten zusammenstehen, die man nur noch chronologisch anzuordnen braucht, wie es bei Cossa geschieht, um den höchsten Grad von Übersichtlichkeit zu erreichen. Wo das Thema etwas weiter gefaßt ist (Geschichte der nationalökonomischen Theorien in Italien Nr. 70, Verteilung des Reichtums Nr. 152) ist dann doch der Stoff so reich gegliedert, daß man rasch die Schriften über eine Spezial- materie überblicken kann.

Den Cossa-Bibliographien verwandt sind die von Frankenstein und L i p p e r t. Sie weisen dieselbe Zuverlässigkeit, dieselbe Übersicht- lichkeit auf, nur mit der Vollständigkeit haperts. Namentlich in den späteren Bibliographien ist an Raum gespart und ihr Verfasser (P. L i p p e r t) hat nur einen Teil seines Materials verwerten können. Es ist das sehr zu bedauern und diese Sparsamkeit vom Standpunkt des Verlegers aus schwer zu verstehen. Geben doch die ausführlichen Bibliographien vielen der Bände dieses unglücklichen „Hand- und Lehrbuchs" erst einigen Wert. Der fehlende Raum könnte in den meisten Fällen ruhig auf Kosten des Textes beschafft werden.

Auch die Muensterbergschen Bibliographien (Nr. 28, 28a) sind musterhaft.

Ein sehr großer Teil der Bibliographien ist wertlos wegen ihrer Unvollständigkeit. Es sind Gelegenheitsbibliographien und man braucht darüber nicht viel Aufhebens zu machen. Dagegen verdient es aus- drücklich hervorgehoben zu werden, daß auch fleißige und gewissenhafte Bibliographien, auf die vielleicht die Arbeit viele Jahre verwandt worden ist, doch wegen ihrer Unvollständigkeit nur einen geringen Wert haben, weil die Verfasser den unverzeihlichen Fehler begingen, die Zeit-

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Literatur.

schriftenliteratur unberücksichtigt zu lassen. Das gilt z. B. von der neuesten Bibliographie zur Frauen frage (Nr. 56). Sie ist, was die selbständigen Schriften anlangt, recht reichhaltig und zuverlässig, auch leidlich geordnet, aber eben ganz und gar lückenhaft, weil die Zeitschriftenaufsätze fehlen. Es ist zu wünschen, daß diese empfindliche Lücke in einer zweiten Auflage ausgefüllt werde.

Auf der andern Seite finden wir Bibliographien, die an Zuverlässigkeit und Vollständigkeit nichts oder wenig zu wünschen übrig lassen und die sich doch um den besten Erfolg bringen, weil ihnen die Übersichtlichkeit fehlt. Das ist der Typus Stammhammer. Ich habe mich in diesem „Archiv" schon zweimal (in Band 7 und 10 der ersten Folge) mit den Stamm- hammer-Bibliographien beschäftigt und verweise auf das, was ich dort gesagt habe. Wenn ich früher die Unvollständigkeit seiner Bibliographie des Sozialismus und Kommunismus (Nr. 105) rügte, so muß ich jetzt feststellen, daß dieser Übelstand durch das Erscheinen des Ergänzungs- bandes (Nr. 105 a) zum guten Teil beseitigt ist. Was ich jedoch Stamm- hammer vor allem zum Vorwurf machte, war die wenig übersichtliche Anordnung des Stoffes, die in Nr. 105. 105 a und Nr. 1 18 die alphabetische ist mit Hinzufügung eines Schlagwortregisters am Schlüsse. Was uns St. in diesen Bibliographien bietet, ist also nichts weiter als ein gedruckter Zettelkatalog und ich bleibe dabei, daß ein Zettelkatalog trotz Schlag- wortverzeichnis für wissenschaftliche Zwecke fast unbrauchbar ist. Wenn St. jetzt in der Vorrede zu Nr. 52 sein Verfahren damit motiviert, daß die alphabetische Anordnung am besten geeignet sei, „einen Überblick über die Gesamttätigkeit jedes einzelnen Schriftstellers zu gewinnen", so hat dieses Argument vielleicht einige Beweiskraft bei der Bibliographie des Sozialismus. Obwohl auch hier, wie ich früher dargelegt habe, die Gruppierung der Autoren mindestens nach Ländern und Zeitepochen jenen „Überblick" nicht erschwert, sondern wesentlich erleichtert haben würde. Das bestätigt jetzt die N e 1 1 1 a u sehe Bibliographie des Anarchismus (Nr. 22). Ganz und gar nicht trifft diese Erwägung für das Gebiet der Sozialpolitik zu. Hier interessiert es keinen Menschen einen „Überblick" über die 71 aufgeführten Schriften Victor Böhmens oder irgend eines anderen Autors zu gewinnen, sondern jedermann verlangt nach einem Überblick über die Literatur einer Spezialfrage. Und diesen verschafft uns auch das Schlagwortverzeichnis nicht. Wer mag die hundert Schriften nachschlagen, die über „Gewerbeverhältnisse in Deutschland" handeln, wenn er Aufschluß über eine ganz bestimmte Spezialliteratur wünscht ? Mein Urteil lautete gerade über die Bibliographie der Sozial- politik bei ihrem Erscheinen günstiger. Heute, nachdem ich sie selbst 8 Jahre lang benutzt habe und sie auf ihre Brauchbarkeit hin viele Male geprüft habe, muß ich sagen : gerade die „Bibliographie der Sozialpolitik", dieses Riesenwerk eines Sammlers, dessen Bücherkenntnis und Gewissen- haftigkeit nicht hoch genug gerühmt werden können, ist für die Wissen-

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Der bibliographische und literarisch-kritische Apparat der Sozialwissenschaftcn. 24 1

schaft fast ohne Bedeutung geblieben, weil sie in der Anlage verfehlt ist. Das hat endlich ihr Verfasser selbst wohl eingesehen, denn sein neuestes Werk, die „Bibliographie der Finanzwissenschaft" (Nr. 52) bricht mit seinem alten System und ordnet den Stoff nach Materien. Diese Bibliographie bedeutet deshalb einen großen Fortschritt über die früheren hinaus. Aber es ist zu bedauern, daß Stammhammer auf halbem Wege stehen geblieben ist : er hat sich nämlich zu einer wirklich systematischen Gliederung nicht entschließen können, sondern stellt die einzelnen Schriften nach alphabetisch geordneten Schlagworten zusammen : Abgaben (Allgemein Geschichte), Abschoß, Abzuggeld, Accise (All- gemein, Abschaffung, Geschichte, Verminderung, Belgien, Brandenburg, England usw.), Aktienbesteuerung, Aktiengesellschaften, Adelsstand, Ämter- verkauf, Aflfichierungsstempel, Agiogewinn, Aktensteuer usw. Beigefügt sind dann: 1. ein Länder- und Städteregister; 2. das Autorenregister. Was ich gegen diese halbsystematische Anordnung einzuwenden habe, ist dieses: daß die Auffindung der Spezialliteratur immer noch erschwert ist. Die Stichwörter, unter denen die Schriften verzeichnet stehen, sind vielfach willkürlich gewählt, weil sie vielleicht zufallig sich im Titel finden und derjenige, der sich über die Literatur eines Spezial- gebiets unterrichten will, kennt vielleicht das Schlagwort gar nicht, unter dem er suchen müßte. Auch zerreißt die alphabetische Anord- nung zusammengehörige Literatur und erschwert dadurch abermals den Uberblick. Das alphabetische Stichwortverzeichnis ist vortrefflich, aber es sollte nur subsidiär sein und ebenso wie das Länder- und Städteregister im Anhang der systematisch geordneten Bibliographie beigefügt werden. Diese selbst aber muß den Kern des Buches bilden. Hoffentlich überzeugt sich Stamrahammer noch völlig von der Richtig- keit dieser Auffassung und beschenkt uns in Zukunft mit Bibliographien, deren wissenschaftlicher Wert nicht hinter der gewaltigen Arbeitsleistung zurück bleibt, die jede der Stammharamer-Bibliographien darstellt. Ich würde es vor allem begrüßen, wenn uns die zweite Auflage der Biblio- graphie der Sozialpolitik schon in dieser vollkommenen Form ent- gegenträte.

Einen eigenartigen und mir besonders sympathischen Typus bilden die Bibliographien Nett laus (Nr. 22) und Soetbeers (Nr. 66), denen die „Bibliographies critiques" verwandt sind. Ich bezeichnete ihn als die literarische Bibliographie. Nett lau, der den Stoff, wie es sich gehört, nach Ländern, Epochen und Richtungen gliedert, leitet jedes Kapitel mit einer kurzen orientierenden Übersicht ein und tagt auch vielen einzelnen Schriften erläuternde Bemerkungen hinzu. Soetbeer, der nur Zeitepochen unterscheidet, die er aber selbst ge- bildet hat nach inneren Gründen, stellt vor jedem Kapitel das gesetz- geberische und statistische Material zusammen und charackterisiert die Epoche in wenigen markanten Zügen. Dadurch gewinnen die nun

Archiv fur Soiiatwisseiuchaft u. Sozialpolitik. I. (A. f. so/.. G. u. St. XIX.) i. l6

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Literatur.

folgenden Bücher- und Aufsatztitel wenigstens einiges Leben. Die Biblio- graphies critiques enthalten bei den wichtigeren Erscheinungen einen kurzen Inhaltsvermerk.

Im großen Ganzen wird unser Urteil über die Beschaffenheit des der Sozialwissenschaft zur Verfügung stehenden spezialbibliographischen Materials nicht sehr günstig lauten können. Das Bild, das uns unsere bibliographische Literatur heute gewährt, ist im höchsten Grade un- harmonisch, buntscheckig, zerfahren. Es ist dem Zufall preisgegeben, o b ein Liebhaber sich gerade mit der Sammlung einer bestimmten Lite- ratur befaßt, ebenso wie es der Willkür des einzelnen Sammlers über- lassen bleibt, in welcher Form er den Stoff darbieten will. Was aber an mehr oder weniger brauchbaren Bibliographien existiert, ist zer- splittert in eine Unzahl von Schriften, die nur ganz wenige Forscher und selbst nicht alle öffentlichen Bibliotheken beieinander haben können, auch wenn sie sie kennen.

Das Postulat für die Zukunft muß lauten: Organisation! Zentrali- sation ! Wenn irgendwo im Gebiete der Wissenschaften der arbeitsteilig- kooperative Großbetrieb am Platze ist, so doch ganz gewiß für biblio- graphische Arbeiten. Es müßten von irgend einer Stelle aus ein Paar Dutzend Gelehrte oder Bibliothekare angewiesen werden, nach einem bestimmten Plane eine Biblioteca economica universalis anzufertigen, die zwar in Hunderte und Tausende von Einzelbibliographien sich auflösen könnte, aber innerlich in dem einheitlichen Systeme, äußerlich in der Einheit des Publikationsorgans ihren Zusammenhalt fände. Andere Wissenschaften besitzen solche Bibliographien schon. Und das inter- nationale bibliographische Institut scheint sich zu jener Zentrale zu ent- wickeln. Vgl. Nr. 174, 176 ff.

II. Die periodischen Publikationen.

1. Bibliographien in Zeitschriften etc.

Eine große Anzahl von Zeitschriften pflegt die Bibliographie. Ich führe die wichtigsten auf:

a) allgemeinen Inhalts:

159. The American Journal of Socio logy, seit 1S95. Bringt

mehr eine Auswahl als eine vollständige Bibliographie, aber gut gegliedert, auch die Zeitschriftenaufsätze.

160. Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik seit 1863.

Die Bibliographie der „Jahrbücher", die sich auf alle Zweige der Sozialwisscnschaft erstreckt, ist wohl die vollständigste der periodisch er- scheinender Literaturübersichten, die wir besitzen. Umsomehr ist es zu bedauern, daß sie ähnlich wie die Stammhammerschen Bibliographien sich durch Fehler in der Anlage um einen guten Teil des Erfolges

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Der bibliographische und literarisch-kritische Apparat der Sozialwissenschaften. 2

bringt. Auch sie entbehrt der Übersichtlichkeit. Seit vielen Jahren werden die aufgeführten Büchertitel in dieselben 1 3 Rubriken eingeordnet und verschwinden hier für die Mehrzahl aller Leser für immer. Schon vor Jahren habe ich diese ungefüge Gliederung („Jahrbücher für National- ökonomie" usw. III. F. Bd. VT S. 933/34) getadelt und den Wunsch ge- äußert, es möchte den Anforderungen der fortschreitenden Wissenschaft entsprechend der Stoff reicher gegliedert werden. Es bleibt aber beim alten. Was in aller Welt soll man mit solchen Sammelrubriken wie „Gewerbewesen", „Soziale Frage", anfangen ? Dazu kommt noch ein sehr empfindlicher zweiter Übelstand: die Zeitschriftenliteratur ist überhaupt nicht nach Materien eingeteilt, wird vielmehr in bloßen Inhaltangaben der Zeitschriften gebracht, üas heißt denn doch an die Geduld des Lesers zu hohe Anforderungen stellen, wenn man von ihm verlangt, er solle um irgend einer ganz speziellen Literatur willen, die er für einen bestimmten Zweck braucht, tagelang sich durch den Wust von Tausenden von Zeitschriftenaufsätzen hindurcharbeiten. So wie die Bibliographie der „Jahrbücher" jetzt abgefaßt ist, stiftet sie für die Wissenschaft nur sehr geringen Nutzen, zumal sie in ihrer jetzigen Anordnung für eine Rück- schau über einen längeren Zeitraum überhaupt nicht in Betracht kommt.

161. Richard Calw er, Handel und Wandel. Jahrgang 1901 und

1902. Fortgesetzt u. d. T. Das Wirtschaftsjahr 1902. Erster Teil Handel und Wandel in Deutschland. Berlin und Jena. Enthält kurze bibliographische Übersichten, die für die Spezial- literatur einzelner Gewerbe nicht ohne Wert sind.

b) Spezialbibliographien .

Die übrigen Zeitschriften, die besondere Bibliographien publizieren, pflegen nur einzelne Zweige der Literatur:

Arbeiterfrage, „Sozialpolitik" :

162. Der Arbeiterfreund, Zeitschrift für die Arbeiterfrage.

Herausgeg. von V. Böhmer t. Seit 1863. Berlin.

163. Bulletin des Internationalen Arbeitsamts. Re-

digiert von St. Bauer. Seit 1902. Jena. Beide Organe enthalten ganz ausgezeichnete Bibliographien, die ebensosehr durch die Reichhaltigkeit der berücksichtigten Literatur wie durch die vortreffliche Gliederung des Stoffs hervorragen. Die Biblio- graphie des „Arbeiterfreunds" steckt den Rahmen etwas weiter: sie um- faßt auch Sozialismus, Handwerkerfrage usw., die des Bulletin beschränkt sich auf die Lohnarbeiterfrage, ist aber dafür von einer wohl kaum zu übertreffenden Vollständigkeit : in jeder Hinsicht das Muster einer Spezial- bibliographie.

164. Bulletin de la partieipation aux benefices, public par la Socie"te pour l'etude pratique de la partieipation du personnel dans les benefices. Paris.

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Literatur.

Finanzwesen :

165. Finanzarchiv. Herausgeg. von G. Schanz. Seit 1884. Stutt-

gart. Enthält ungegliederte Jahresübersichten über die Finanz- literatur.

Kolonialwesen :

166. Beiträge zur Kolonialpolitik und Kolonial Wirtschaft. In Sonder-

heften veröffentlicht M. Brose ausführliche Jahresübersichten, im Anschluß an Nr. 81.

Statistik :

167. Allgemeines Statistisches Archiv. Herausgegeb. von

G. von Mayr. Seit 1889. Tübingen.

168. Bulletin de l'institut international de Statistique. Seit 1 888. Rome.

Reiche, nach lindern und innerhalb der Länder nach Materien ge- ordnete Übersichten der statistischen Literatur.

Verkehrswesen :

169. Archiv für Eisenbahnwesen. Herausgegeben vom preuß.

Ministerium für öffentliche Arbeiten. Seit 1879. Berlin.

Wirtschaftsgeschichte :

170. Zeitschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. 1893 1900.

Jetzt wieder begonnen unter dem Titel : Vierteljahrsschrift für Soz, und Wirtschaftsgesch. Herausgeg. von St. Bauer, L. M. Hartmann, G. v. Below. Seit 1903. Leipzig.

Bringt abwechselnd die Bibliographien der wirtschaftsgeschichtlichen Literatur der einzelnen Länder.

2. Selbständige Bibliographien.

Lassen wir diejenigen Bibliographien, die heute ihr Erscheinen ein- gestellt haben, unberücksichtigt, so besitzen wir meines Wissens nur folgende periodische SpezialÜbersichten der sozialwissenschaftlichen Literatur, von denen die Nr. 171 bis 173 merkantilischen Zwecken ihr Dasein verdanken :

171. Allgemeine Bibliographie der Staats- und Rechts-

wissenschaften. Übersicht der auf diesen Gebieten im deutschen und ausländischen Buchhandel neu erschienen Litteratur. Herausgeber Otto Mühlbrecht. Jährlich 6 Doppelnummern. XXXVI. Jahrgang 1903. Berlin, Puttkammer u. Mühlbrecht.

Bringt eine ziemlich vollständige Übersicht, nach Ländern geordnet. Da jede Gliederung nach Materien fehlt, die staatswissenschaftliche Literatur aus dem Wust der rechtswissenschaftlichen Literatur heraus- gesucht werden muß, die Zeitschriftenliteratur nicht herangezogen ist, so ist die Benutzbarkeit für wissenschaftliche Zwecke der immerhin ihre

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Der bibliographische und litcrarisch-krilischc Apparat der Sozial Wissenschaften. 245

Dienste als einzige ihrer Art (in dieser Vollständigkeit) versehenden Bibliographie in doch recht enge Schranken gebunden.

172. Bericht über Neue Erscheinungen und Antiquaria aus dem

Gesamtgebiete der Rechts- und Staatswissenschaften. Heraus- geber R. L. Prag er. Jährlich 4 Nummern. Seit 1886.

Der Bericht enthält nur eine Auswahl selbständiger Schriften, die in alphabetischer Ordnung ohne weitere Gliederung mitgeteilt werden. Mängel dieselben wie bei Nr. 171.

173. Deutsche Bibliographie der Arbeiter-Versorgung. Ein vierteljährliches Verzeichnis aller auf dem Gesamtgebiete der Arbeiter-Wohlfahrtspflege in Deutschland erschienenen Schriften. Seit 1900. Berlin, A. Troschel.

Bringt auch nur im Buchhandel erschienene Schriften, ist aber reich- haltig und hinreichend gegliedert (in 15 Abteilungen), deshalb nicht ohne Wert.

174. Bibliographia economica universalis. Repertoire bibliographique annuel des travaux rel. aux sciences economiques et sociales, public par Jules Mandellö. i*reannee: Travaux de l'annee 1902, rediges par Ervin Szab6. Bruxelles: In- stitut International de Bibliographie (1903.) (XXI 170) 8°.

(Bibliographia Universalis. Publication cooperative de l lnstitut International de Bibliographie. Contribution 39.)

Dieser soeben (Anfang des Jahres 1904) ausgegebene Band macht in gewissem Sinne Epoche auf dem Gebiete der sozialwissenschaftlichen Bibliographie. Er bringt zum ersten Male eine systematisch geordnete, reich gegliederte Übersicht über die Gesamtliteratur der politischen Ökonomie eines Jahres, einschließlich der Zeitschriftenaufsätze und mit der Aussicht auf regelmäßige Fortsetzungen. Diese Erscheinung ist also mit Freuden zu begrüßen. Zwar ist sie keineswegs frei von Mängeln. Da aber der Verfasser in der Vorrede diese Mängel selbst anerkennt der Hauptmangel ist die ungenügende Berücksichtigung der Zeitschriften- literatur, für die nur 42 Zeitschriften herangezogen sind und uns ihre Beseitigung für die Zukunft in Aussicht stellt, so soll hier von einer ein- gehenden Kritik abgesehen werden. Auch in eine Diskussion über die Vorzüge und Nachteile der Deweyschen Dezimalklassifikation, die bei der Anordnung des Stoffes zur Anwendung gelangt ist, will ich mich heute nicht einlassen. Ich halte dieses System nicht für ein Hindernis auf dem Wege zu einer wissenschaftlich einwandfreien Bibliographie und will deshalb mit dem Verfasser hoffen, daß sich das neue Jahrbuch wirklich zu einem vollkommenen und wohlgeordneten Repertorium unserer Literatur auswächst. Dann kann es ftir die Zukunft in der Tat das Zentralorgan werden, in dem alle Einzelbibliographien aufgehen und das mit seinen regelmäßigen Fortsetzungen (bei dem billigen Preise von 5 Mk.)

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Literatur.

einen für jeden Gelehrten leicht zugänglichen Hilfsapparat bildet, der alle anderen bibliographischen Nachschlagewerke von dem Jahre 1902 an überflüssig macht. Das Jahrbuch würde dann, mit seinen regelmäßig erscheinenden Bänden, jene nach dem Stande des Jahres 1902 oder vielleicht 1905 (wenn wir annehmen, daß das Jahrbuch so lange braucht, um sich auszuwachsen) aufzunehmende Gesamtinventur der ökonomischen Literatur, von der ich vorhin sprach, fortzusetzen bestimmt sein.

Aber eines wird das neue Jahrbuch nie zu leisten vermögen: die rasche Orientierung über die laufende Literatur, die wir doch nicht gern entbehren möchten. Auch wenn es in Zukunft, wie in Aussicht steht, früher als das erste Mal erscheint, so werden doch immer ein- bis andert- halb Jahre vergehen, bis man den Stand der neuesten Literatur zu über- blicken vermag. Deshalb müssen dem Jahrbuch ergänzend zur Seite treten regelmäßig in kurzen Abständen von höchstens 1 Monat, lieber noch von 14 Tagen erscheinende bibliographische Übersichten. Es ist wünschenswert, daß diese Übersichten nicht im Anschluß an eine Zeit- schrift erscheinen, sondern gesondert. Nicht nur um sie den einzelnen leichter zugänglich, sondern auch um sie übersichtlicher zu machen, was geschieht, wenn man ihre Sammlung in einzelnen selbständigen Heften ermöglicht. Daß die Bibliographie die Zeitschriftenliteratur mitumfassen und wohl gegliedert sein müßte, ist selbstverständlich. Eine solche Literaturübersicht ist unlängst für die Naturwissenschaften geschaffen worden, allerdings unter Beschränkung auf die deutsche Literatur in der

175. Bibliographie der deutschen naturwissenschaftlichen Literatur.

Herausgegeben im Auftrage des Reichsamts des Innern vom Deutschen Bureau der Internationalen Bibliographie in Berlin. Jena.

Die Bibliographie, von der augenblicklich (Februar 1 904) der vierte Band im Erscheinen begriffen ist, kommt etwa alle 10 Tage in Gestalt eines Doppelheftes von 4 Bogen Umfang heraus, bildet also jährlich einen Band von 120 Bogen. Sie ist außerordentlich reich gegliedert. Die Gebiete wechseln von Heft zu Heft. Etwas ähnliches muß für die Sozialwissenschaften ebenfalls eingerichtet werden und zwar wenn irgend tunlich für die sozialwissenschaftliche Litteratur aller J.änder. Wie sich dann dieses Bulletin mit dem Jahrbuch auseinandersetzt, ist eine rein technische Frage, wenn, wie zu hoffen steht, beide Unternehmungen in einer Hand ruhen.

Ein bibliographisches Bulletin für die Sozialwissenschaften, ähnlich wie ich es mir denke, hat schon eine Zeitlang bestanden. Und zwar als Publikation eben des Institut international de Bibliographie, das da- mals noch Office international hieß. Ich meine die folgenden Werke:

176. Catalogue des ouvrages de sociologie, publie eu Annexe de

la Revue sociale et politique depuis 1892.

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Der bibliographische und litrrarisch-krilische Apparat der Sozialwisscnschaften. 247

177. Sommaire möthodique des traites, monographies et revues

de Sociologie, public sous la direction, de MM. H. Lafontaine et P. Otlet. Bruxelles 1894. lre Annee. 3 Doppelnummern.

178. Bibliographia sociologica. Sociologie et Droit. Som-

maire methodique des Traites et des Revues dresse ... par MM. H. La Fontaine et P.OtleL Bruxelles 1895. $e annee (weil als Fortsetzung des unter Nr. 176 genannten, für die Rechtswissenschaft 1891 begonnenen Catalogue gedacht). 4 nu- meros par an.

Es ist dringend zu wünschen, daß diese Publikation wieder auf- genommen werde.

Aber ich bin noch immer nicht am Ende meiner Wünsche: In- ventarium, Jahrbuch, Bulletin würden den Bedarf an rein bibliographischen Hilfsmitteln vollauf befriedigen. Daneben brauchen wir aber dringend „Wegweiser" durch die sozialwissenschaftliche Literatur, wie sie allein uns die resumierend-kritischen Literaturberichte gewähren können.

C. Literaturberichte.

Dem Bedürfnis nach regelmäßigen Berichten über den Gang und Stand der Literatur, das jede Wissenschaft hat, verdanken wir die in allen Ländern erscheinenden „literarischen Zentralblätter", deren wir in Deutschland bekanntlich mehrere besitzen. Sie haben heute, nachdem die Literatur in allen Zweigen der Wissenschaft ins Unermeßliche ange- wachsen ist, die Bedeutung verloren, die sie ehemals hatten. Sie können rein quantitativ nicht jedem Fache gleichmäßig Genüge sein. Die Folge ist gewesen, daß sie einzelne Fächer (Theologie, Philologie) reichlich ausstatten, während andere Glieder der Lfaiversitas literarum in ihnen atrophieren. Dahin gehören alle Naturwissenschaften, für die jene „Zentralblätter1' kaum noch existieren; dahin gehören auch die Sozial- wissenschaften. Während nun aber die Vertreter der Naturwissenschaften die Konsequenz gezogen und sich eine Fülle eigener Literaturblätter ge- schaffen haben, sitzen wir jetzt völlig auf dem Trockenen.

Meines Wissens besteht für die gesamte sozialwissenschaftliche Literatur im Augenblick nur ein einziges, selbständiges Organ, das sind die

179. Notes critiques Sciences sociales Bulletin biblio-

graphique paraissant tous les mois (aoüt et septembre ex- ceptes). Seit 1900. Paris. Societe nouvelle de Librairie et d'Edition (Librairie Georges Bellais). Die „N. Cr." sind in diesem „Archiv" bereits besprochen worden (Erste Folge Bd. 16, S. 547). Dem Urteil, das Dr. Braun damals über sie gefällt hat, kann ich mich in jeder Hinsicht anschließen : Die „N. Cr."

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Literatur.

sind ein vortrefflich redigiertes Literaturblatt. Trotzdem sind sie für die Bedürfnisse unserer Wissenschaft durchaus unzureichend: sie sind zu dürftig. Sie wären schon eine schmale Kost, selbst wenn alles, was sie uns vorsetzen, „Sozialwissenschaft" im deutschen Sinne wäre. Nun wird aber das Blatt im Sinne der franzosischen Soziologenschule redigiert, die sich um E. Dürkheim schart und ist infolgedessen überwiegend mit Dingen angefüllt, die wir in einer sozialwissenschaftlichen Rundschau nicht suchen. Die Rubriken sind : I. Sociologie en göneral. II. Ethno- graphie. Folklore. III. Sciences des religions. IV. Science du droit et des moeurs. V. Science economique. VI. Etudes divers. A. Questions morales et religieuses. B. Questions politiques et sociales. C. Socialisme. In den Rubriken I bis VI werden gepflegt : „toutes les diseiplines d'ordre sociologique" ; in den Rubriken A bis C sollen die Schriften „d'ordre pratique et tendancieux" besprochen werden. (Vgl. die Be- merkungen Francois Simiands „Sur le plan des N. Cr." in Nr. 21 (N,,e Serie) Janvier 1903). Man sieht schon aus dieser Einteilung, daß für die „Sciences öconomiques" nur ein bescheidenes Plätzchen in dieser dem Umfang nach schon recht bescheidenen Zeitschrift verbleibt. Zieht man noch in Betracht, daß die Anzeigen der einzelnen Werke, die wirklich zur Besprechung gelangen, viel zu lang sind, so kommt man tatsächlich zu dem Ergebnis, daß jedenfalls für die nationalöko- nomische Literatur die N. Cr. rein quantitativ versagen.

Und doch: die andern Länder haben nicht einmal das! Das einzige deutsche Organ, das überhaupt eine „kritische Bibliographie", wenn auch nur auf einem beschränkten Gebiete bringt, sind die

180. Dokumente des Sozialismus. Herausgegeben von Ed. Bernstein. Berlin und Stuttgart. Seit 1902. Jährlich 12 Hefte.

Die „Dokumente" sind zweifellos ein in ihrer Art sehr verdienst- liches Unternehmen. Aber dem Bedürfnis nach einer sozialwissenschaft- lichen Rundschau können sie naturgemäß nicht abhelfen. Die „Kritische Bibliographie", die eine ihrer vier Rubriken bildet, ist eine Kr. B. „des Sozialismus", die nur gelegentlich auf andere Gebiete hinübergreift. Und dann muß man immer noch bei einer fremden Zeitschrift zu Gaste gehn, um sich auch nur diese beschränkte Literaturübersicht zu ver- schaffen (jährlich kommen etwa 2—300 Werke zur Anzeige).

Zu selbständigen Literaturblättern unseres Faches hat man soviel ich sehe in Deutschland nur zweimal einen Anlauf genommen.

181. Kritische Übersicht der neuesten Literatur in dem ge-

samten Gebiete der Staatswissenschaften. In Verbindung mit

mehreren gelehrten Männern herausgegeben von K. H. L.

Pölitz. 2. Bände. Leipzig 1835.

182. Der Beobachter der sozialen Literatur. Biblio-

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Der bibliographische und literarisch-kritische Apparat der Sozialwissenschaftcn. 249

graphische und kritische Monatsrevue für die Literatur der Sozialwissenschaften und der Propaganda pro und contra Sozia- lismus. Red. J. Franz und Carl Moor. 1. Jahrgang 1877/78. Zürich. 12 Nummern. Beide Publikationen können heute nicht mehr als Muster dienen; sie sind nur Dokumente des guten Willens. Aber an Vorbildern fehlt es gewiß nicht. Allein die Naturwissenschaften bieten deren ein halbes Dutzend dar. Das Blatt müßte wöchentlich oder alle 14 Tage er- scheinen im Umfange von 3—4 Bogen und in ganz knappen Berichten von wenigen Zeilen die selbstverändlich in einer reich gegliederten Syste- matik wohlgeordneten Neuerscheinungen aus dem Gesamtgebiete der Sozialwissenschaft (im deutschen Sinne) aller Länder zur Kenntnis bringen. Ob es daneben auch noch bibliographische Übersichten veröffentlichen sollte, würde davon abhängen, in welchem Umfange unser rein biblio- graphisches Bedürfnis schon befriedigt wäre. Daß uns aber ein solches „Zentralblatt für die sozial Wissenschaft liehe Literatur" wie das liebe Brot fehlt, das möchte ich noch einmal ausdrücklich ausgesprochen haben.

Nun gibt es aber noch einen andern Typ von Literaturberichten als den, von dem bisher die Rede war. Das sind die literarischen Jahr- bücher, deren aber für unser Fach wiederum nur Frankreich eines be- sitzt, in Gestalt der

183. L'annee sociologique, publiee sous la direction de Emile

Dürkheim. Paris. Seit 1897.

Dieses ausgezeichnete Jahrbuch wird in diesem „Archiv" noch von Ferdinand Tönnies eingehend gewürdigt werden. Ich verzichte deshalb hier darauf, es näher zu kennzeichnen und begnüge mich mit dem Hinweise, daß es zu den Notes critiques (Nr. 179) in enger Be- ziehung steht. Es behandelt im wesentlichen dieselben Materien wie diese, hat zum großen Teil dieselben Mitarbeiter wie diese und bildet innerlich mit diesen insofern eine Einheit, als in ihm diejenigen Werke ausführlich und in streng wissenschaftlichem Sinne besprochen werden, die als besonders wertvoll betrachtet und deshalb in den „Notes critiques" nur genannt aber nicht rezensiert werden.

Das einzige, was wir in Deutschland der „Annee sociologique" zur Seite zu stellen haben, sind die in ihrer Art auch vortrefflichen

184. Jahresberichte der Geschichtswissenschaft. Herausgegeben

im Auftrage der Historischen Gesellschaft zu Berlin. Seit 1878.

In ihnen werden auch sozialwissenschaftliche Werke, die für die Historiker von Interesse sein könnten, angezeigt. Aber es ist selbstverständlich, daß unser Fach nur sehr geringe Berücksichtigung findet und daß die „Jahresberichte" ein „Jahrbuch der Sozialwissenschaft" nicht zu ersetzen vermögen.

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Literatur.

Zum Schlüsse möchte ich noch die Frage aufwerfen: welches denn nun die Aufgaben der wissenschaftlichen Fachzeit- schriften gegenüber der Literatur seien r

Da meine ich denn, daß sie in erster Linie die gründliche Einzelkritik zu pflegen haben, auf der einen Seite der guten, auf der andern der gefähr- lichen Werke. Daneben werden aber auch die wissenschaftlichen Organe sich der Verpflichtung nicht entziehen können, ihre Leser durch zusammen- fassende Übersichten über einzelne Zweige der Literatur zu orientieren. Wie es sich der Begründer der „Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik", Bruno Hildebrand, vorgenommen hatte, als er im Vorwort zum ersten Bande jener Zeitschrift (1863) ankündigte, es solle bei der Anzeige der Literatur „als Regel eine gruppenweise Behandlung gelten, bei welcher die sämtlichen neueren Leistungen über eine bestimmte wissenschaftliche Frage unter Anknüpfung an die früheren Bearbeitungen des Gegenstandes zur gemeinsamen kritischen Würdigung gelangen." Und in der Tat enthalten die älteren Jahrgänge der „Jahrbücher" eine ganze Reihe derartiger „Übersichten". Wie die Leser dieses „Archivs" aus dessen Prospekt wissen, beabsichtigen die neuen Herausgeber, diesen Typus der literarischen Kritik in dieser Zeitschrift wieder zu Ehren zu bringen. Worauf es bei solchen Kollektivbesprechungen vor allem an- kommt, ist die zweckmäßige Zusammenfassung der gemeinsam zur An- zeige gelangenden Werke, wie sie allein durch eine richtige wissenschaft- liche Fragestellung ermöglicht wird. Bringt man diejenigen Publikationen in einem Bericht zusammen, die über ein gerade die Wissenschaft be- schäftigendes Problem Licht zu verbreiten imstande sind, so dient die literarische Kritik, auch wenn die rezensierten Schriften gar nicht von hervorragender Bedeutung sind, in eminentem Maße der wissenschaft- lichen Erkenntnis. Ob die Herausgeber imstande sein werden, diesen besonders schwierigen Teil ihres Programms zur Ausführung zu bringen, muß die Zukunft lehren.

WERNER SOMBART

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Zur Genealogie der Angriffe auf das Eigentum.

Glaser, Friedrich, Dr. Die franziskanische Bnvegung. Ein Bei- trag zur Geschichte sozialer Reformideen im Mittelalter. Stuttgart 1903. Münchener Volkswirtschaftliche Studien, herausgegeben von Lujo Brentano und Walther Lötz. 59. Stück.

Kein Stammbaum, der älter wäre als der der Angriffe gegen das Eigentum. Ich denke dabei nicht an die kommunistischen Ausführungen, die bei einzelnen griechischen Philosophen sich finden. Sie sind auf die Ausbildung der neueren kommunistischen Lehren nicht ohne Einfluß geblieben; aber sie waren dies weniger unmittelbar, als insofern sie die christlichen Anschauungen in der Zeit der Kirchenväter beeinflußt haben. Diese sind es, von denen die kommunistischen Ideen in ununterbrochener Linie in die Neuzeit hinübcrlaufen. Ihre Grundgedanken wirkten auch dann noch nach, nachdem die Angreifer den christlichen Boden ver- lassen hatten. Damit geht der Stammbaum dieser Angriffe zurück auf das ehrwürdigste Element unserer Kultur, die Bibel.

Nach der Auffassung des alten Testaments gab es nur einen Eigen- tümer : Jehovah. Dieser hatte jeder Familie den ihr gebührenden Anteil am Lande verliehen. In jedem Jubeljahre sollte das Land aufs neue gleichmäßig verteilt und so der auf die Ebenmäßigkeit des Besitzes und Gleichheit des Rechts begründete normale Zustand des Reichs wieder- hergestellt werden. Wie es sich mit dieser Vorschrift verhalten haben mag, ob wir es hier mit einer Theorie zu tun haben, mittels deren man den periodischen Wiederverteilungen des Landes, die zu Anfang der Entwicklung des jüdischen Volkes wie zu Anfang der Entwicklung anderer Völker etwa stattfanden, eine tiefere Begründung zu geben versuchte, oder ob diese Vorschrift, wie andere behaupten, niemals zu praktischer Ausführung kam, jedenfalls vermochte sie es nicht zu hindern, daß bei den Juden eine periodische Neuverteilung des Bodens nicht stattfand,

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Literatur.

sobald sie den Wirtschaftsverhältnissen nicht entsprach. Immerhin blieb die Vorstellung, daß Gott der einzige Eigentümer sei, daß die einzelnen alles, was sie besitzen, nicht zu freiem Eigentum, sondern nur zur Nutz- nießung besitzen. Für diese ihnen überlassene Nutznießung mußten die einzelnen sowohl den Leviten als auch den Armen bestimmte Anteile an allem Gute, an beweglichem wie an unbeweglichem, abgeben. Die Armen hatten an den Ertrag eines bestimmten Teiles des Feldes, der Ackerecke, an die Nachlese, den Armenzehent und an Almosen das- selbe Recht wie der sogen. Eigentümer an das Seine. Das mosaische Recht sah im Almosen ein Mittel zur Wiederherstellung der durch die Verteilung des allen gehörigen Eigentums unter die einzelnen zeitigen Nutznießer gestörten normalen Ordnung.

Bereits das alte Testament betrachtet also die Existenz hilfloser Armen als die Folge des Bestehens eines Privatrechts an den Produktions- mitteln und sucht nach einer entsprechenden Abhilfe. Es ist dies wohl zu beachten. Wir werden sehen, wie dieses Korrelatverhältnis der Ge- danke ist, welcher alle sozialen Reformer der Folgezeit bis in unsere Tage beherrscht, gleichviel ob sie die Fürsorge für die durch das Be- stehen des Eigentums hervorgerufenen Armen den Eigentümern als Pflicht auferlegen oder mit Rücksicht auf die Not der durch das Sondereigen- tum vom Genuß des allen Gegebenen Ausgeschlossenen das Eigentum an den Produktionsmitteln beseitigen wollen. Wir werden diesem Ge- danken im Evangelium, bei den Kirchenvätern, bei den im Mittelalter für das „arme Leben" Begeisterten, beim heiligen Franziskus, bei Wycli- fiten und Hussiten, bei den kommunistischen Sekten des 16. und 17. Jahrhunderts, wie bei den Neuerern des 18. und 19. Jahrhunderts begegnen.

Außerdem ergab sich aus der Eigcntumslehre des alten Testaments das unbedingte Verbot jedes rücksichtslosen Strebens nach Erwerb und Gewinn. Das Ansammeln von „viel Gold und Silber" wird darin aus- drücklich verboten, und das Zinsnehmen vom Volksgenossen wird gerade unter Hinweis darauf, daß alles Eigentum nur eine Gabe Gottes sei, untersagt.

Die alttestamentarische Auffassung vom Eigentum ist auch die prin- zipielle Auffassung des Christentums bis zur Reformation, und, wo die Welt auch nach derselben katholisch blieb, bis nahe an unsere Tage. Aber allerdings ist es nur die prinzipielle Auffassung des Christentums geblieben, und, wehe denen, welche sie im Leben verwirklichen wollten. Sie wurden, seit die Kirche Staatsanstalt geworden ist, grausam verfolgt. Die christliche Lehre aber hat sich mit den Notwendigkeiten des wirk- lichen Lebens schrittweise soweit verständigt, daß die Lehre ihrer heutigen autoritativsten Interpreten mit der altchristlichen Lehre nahezu in Wider- spruch steht.

Christus hat die Verachtung der irdischen Güter gelehrt und wieder-

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Lujo Brentano, Zur Genealogie der Angriffe auf das Kigcntum. 253

holt und eindringlich betont, wie schwierig, wenn nicht unmöglich, es dem Reichen sei, das Himmelreich zu erlangen. „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon" heißt es Matth. VI. „Sorget nicht für euer Leben, was ihr essen und trinken werdet ; auch nicht für euren Leib, was ihr anziehen werdet. Nach solchem allem trachten die Heiden; Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen", und von noch folgenschwererer Be- deutung war das von Jesu dem reichen Jüngling gesagte Wort: „Willst du vollkommen sein, so gehe hin und verkaufe, was du hast, und gib es den Armen."

Damit war das Eigentum nicht verneint; man kann sogar sagen, es war damit anerkannt. Allein es war doch nur als eine Tatsache anerkannt, und zwar als eine Tatsache, welche der Erlangung des Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit hinderlich sei, und von der man sich befreien müsse, um vollkommen zu werden. Zur Vollkommenheit gehört also, daß man das Seine beiträgt zur Wiederherstellung des Idealzustandes, wie er vor der Entstehung des Eigentums bestanden hat, indem man sein Eigentum den Armen zuwendet.

So haben die ersten Christen diese Lehren aufgefaßt, wie die Apostelgeschichte zeigt. Allein, wie schon Luther hervorgehoben, forderten sie nicht, daß die Güter anderer gemein würden, sondern freiwillig legten sie ihre eigenen Güter zusammen, und nur die Lüge derjenigen, welche Sondereigentum zurückbehielten, während sie, um den Schein des Strebens nach Vollkommenheit zu erwecken, angeblich ihre Güter hingaben, wurde in dem Falle von Ananias und Saphira mit dem Tode bestraft. Immer- hin aber bildete sich auf Grund der in Christi Worten enthaltenen Auf- forderung zur Weltflucht eine gesellschaftsfeindliche Anschauung unter den Christen und Gliedern der Kirche, und gegen die durch diese Ent- sagung hervorgerufene I^ebensweise richteten sich heftige Angriffe der Heiden. Die Christen erschienen diesen als Anarchisten, was Apologien hervorrief, in denen die Christen gegen die ihnen gemachten Vorwürfe verteidigt wurden; darin wurde dann manches abgeschwächt, was man da, wo man zu Christen redete, diesen selbst predigte. Außerdem klang die Lehre Christi den Reichen von Anfang an hart. Wie der Jüngling im Evangelium gingen viele betrübt fort und verzweifelten an ihrem Seelenheil. Dies führte zur schärferen Ausbildung einer bereits von Christus (Matth. XIX, 6 ff.) gemachten Unterscheidung zwischen Gebot und Rat: Die Entsagung galt nicht als ein für alle gültiges Gebot, wohl aber als Rat, der denen gegeben wurde, die nach Vollkommenheit strebten , und Clemens von Alexandrien bemühte sich in der Schrift „Welcher Reiche wird das Heil finden ?" den entmutigten Reichen zu zeigen, daß ihnen das Erbe des Himmels nicht völlig abgeschnitten sei.

So lange das Christentum sich in ganz überwiegendem Maße aus den unteren und untersten Volksklassen rekrutierte, und dies war in den

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ersten Jahrhunderten der Fall, stand die rigorose Auffassung über das Verhältnis von Heiligkeit zum Reichtum im Vordergrund. Sie wider- sprach der natürlichen Stellung der Menschen zu den irdischen Gütern. „Difficile, durum et contra naturam" nannte sie selbst der asketische Hieronymus. Mit diesem Widerspruch hängt zusammen, daß schon vor der Zeit Konstantins die weltlichen Gelüste auch unter den Christen die Ober- hand gewannen, sobald diese, wie in der Zeit von Commodus bis zu Decius, staatlicherseits geduldet wurden. Ganz besonders aber machte der Konflikt zwischen Lehre und Leben sich in einer veränderten Haltung der Christen geltend, seit das Christentum vom Staate anerkannt wurde. Damit fand eine doppelte Änderung im Christentum statt. Man schätzt die Christen im Römerreich z. Z. Konstantins auf ungefähr ein Drittel der damaligen Bevölkerung; nachdem das Christentum Staatsreligion ge- worden, traten ihm ziemlich schnell auch die übrigen bei, die nicht aus innerem Antrieb, sondern aus weltlichen Motiven dazu veranlaßt wurden; damit trat jene die Verachtung der irdischen Güter lehrende Richtung von selbst in den Hintergrund. Sodann wurde die Kirche mit ihrer Verstaatlichung aus einer staatsgefährlichen Religion eine Stütze der staat- lichen Ordnung. Die eigentums- und reichtumsfeindlichen Lehren aber vertrugen sich nicht mit der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung, und gar bald zeigte sich dies auch darin, daß die Kirche eben als ein Träger dieser allenthalben der reichste Eigentümer wurde. Allein damit verschwand die alte Auffassung nicht aus der I/ehre; sie wurde nur nicht beachtet, weder von den Trägern der kirchlichen Gewalt, noch von der Mehrheit der Christen ; ja bald kam die Zeit, wo sie dazu nutzbar gemacht wurde, gerade den irdischen Reichtum der kirchlichen Gewalten zu mehren Gerade an diese Entwicklung und den mit ihr hervortretenden Wider- spruch zwischen Lehre und Wirklichkeit knüpft sich die Entstehung der kommunistischen Bestrebungen des Mittelalters, welche das Verbindungs- glied zwischen denen des Altertums und denen der Neuzeit bilden.

Zunächst über die Fortdauer der alten Auffassung in der Lehre. „Omnes divitiae", schreibt noch der heilige Hieronymus, „de iniquitate descendunt, et nisi alter perdiderit, alter non potest invenire. ünde et illa vulgata sententia mihi videtur esse verissima: dives aut iniquus aut iniqui haeres." Daher denn denen, welche nach Vollkommenheit streben, aufs nachdrücklichste ans Herz gelegt wird, die Welt zu fliehen und dem Besitz zu entsagen. Nur denen, die auf die höchste Stufe der Voll- kommenheit verzichten, soll gestattet sein, irdische Güter zu besitzen, nämlich den Laien; aber auch ihnen nicht zu beliebigem Gebrauche. Und nun begegnen wir bei den Kirchenvätern nicht zu verkennenden Anklängen an die Lehren verschiedener griechischer Philosophen, die mit der jüdisch-christlichen Eigcntumslehre zu einem Ganzen verbunden werden. Im Stande der Natur gab es kein Eigentum. Von Natur war allen alles gemein. Erst die Ursurpation einzelner hat ein Privatrecht

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Lujo Brentano, Zur Genealogie der Angriffe auf das Eigentum.

hervorgerufen. Daher auch der Laie mit dem Seinen nicht machen darf, was er will. Nur das Notwendigste darf ein jeder von dem Seinen auf sich verwenden; aller Überschuß hat zu gemeinsamem Gebrauche zu dienen. „Dem Hungrigen," ruft der heilige Basilius, „gehört das Brot, das du behältst, dem Nackten der Mantel, den du bewahrst, dem Un- beschuhten der Schuh, der bei dir modert, dem Dürftigen das Silber, das du vergraben hältst. Daher tust du so vielen Menschen unrecht, so vielen du geben könntest." Gerade der wesentlichste Ausfluß des Eigen- tums, der freie Gebrauch, den es gestattet, erscheint somit nach der Lehre der Kirchenväter dem Inhaber zugunsten derer, die nichts haben, entzogen.

Wurde der Laie, der Eigentümer war, so zu einem bloßen Verwalter mit vorgeschriebener Art der Nutznießung degradiert, so waren die Vor- schriften für die Geistlichen begreiflich weit strenger. Ihnen, welche Gott auserwählt hat, die anderen zur Tugend zu leiten, wird die Sorge für irdische Dinge aufs strengste verboten. Um aus dem Abschnitte des Decretum Gratiani „Clericos nihil possidere multis auetoritatibus jubetur" nur zwei nicht pseudoisidorische Belege anzuführen: „Wer den Herrn besitzt und mit dem Propheten spricht: „Der Herr ist mein Anteil", darf außer dem Herrn nichts besitzen", schreibt Hieronymus, und Am- brosius sagt in gleicher Weise: „Der dessen Anteil Gott ist, soll sich um nichts kümmern außer um Gott, damit er in dieser Sorge durch kein anderes Geschäft behindert werde." Auch beruft sich Augustinus auf den Bericht im 4. Kapitel der Apostelgeschichte über das Leben der ersten Christen, in dem alles gemeinsam gewesen sei, um die Güter- gemeinschaft als den idealen Zustand hinzustellen, nach dessen Verwirk- lichung zum mindesten die Kleriker streben sollten.

Das war eine Rückkehr zu der Vorschrift des Apostels Paulus „Nemo militans Deo implicat se negotiis saecularibus." Daß dieser Satz nicht den Erwerb durch Hände Arbeit, um den Lebensunterhalt zu gewinnen, ausschloß, hat Paulus damit gezeigt, daß er selbst Weber war, um das zum Leben Unentbehrliche sich zu erarbeiten. Allein unter den früheren Verhältnissen war es auch unvermeidlich gewesen, daß Geist- liche, um ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, Handel trieben. Tertullian hat vergeblich dagegen geeifert. Wir wissen sogar aus Cyprians Schrift „über die Gefallenen", daß selbst Bischöfe mit Handelsgeschäften sich abgaben. ,,Sie verließen ihren Stuhl, entfernten sich von ihrer Gemeinde, schweiften in fremden Sprengein umher und haschten auf Märkten nach einträglichem Handel, und während die Brüder in der Kirche hungerten, wollten sie Geld im Überflüsse besitzen, rissen durch hinterlistige Ränke Grundstücke an sich und vermehrten den Gewinn, Zinsen auf Zinsen häufend." Das war freilich in direktem Widerspruch zu den Evangelien und zu den Worten des Paulus. Dagegen denn auch der Eifer des heiligen Cyprian. Allein soweit die Geistlichen dabei nur nicht ihren

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Literatur.

Sprengel verließen, hat ihnen das Konzil von Elvira um das Jahr 300 dann ausdrücklich Handel zu treiben erlaubt, und nach der Verstaat- lichung des Christentums, hat eine Konstitution des Kaisers Konstantius aus dem Jahre 343 den Geistlichen, welche, um ihre Nahrung damit zu erwerben, Handel trieben, sogar Privilegien verliehen, und zwei weitere Konstitutionen der folgenden Regierungen aus dem Jahre 353 und 357 haben diese Privilegien noch erweitert, da es gewiß sei, daß die Geistlichen allen aus solchem Handel erzielten Gewinn den Armen zuwendeten. Man beachte auch hier wieder die Verbindung von Genehmigung von Eigentumserwerb und Unterstützungspflicht gegenüber den Armen.

Indes die Grenze zwischen dem Zuschlage zum Einkaufspreise, der nur in dem Maße stattfindet, als zum Lebensunterhalt des Händlers nötig ist, und dem, welcher zu Gewinn und Bereicherung führt, scheint nicht inne gehalten worden zu sein; und ebensowenig scheint die Annahme der kaiserlichen Konstitutionen, daß die Geistlichen allen aus dem Handel erzielten Gewinn den Armen zuwendeten, der Wahrheit entsprochen zu haben. Daher denn Hieronymus an Nepotianus schrieb: „Negotiatorem clericum, et ex inope divitern, ex ignobili gloriosum, quasi quandam pestem fuge." Er ist dafür, daß der, der dem Altare dient, „unterhalten werde von den Opfergaben des Altars und, mit Lebensunterhalt und Kleidung zu- frieden, arm dem armen Kreuze folge." Der Geistliche soll also nach dem heiligen Hieronymus nicht zu den unterstützungsprlichtigen Eigen- tümern, sondern zu den zu unterstützenden Armen gehören. Dieselbe Auffassung finden wir bei Ambrosius und seinem großen Schüler Augustinus, und nun begegnen wir einer Unterscheidung, die als die erste Betonung von Eigentümlichkeiten des kapitalistischen Betriebs auch für die Ge- schichte des entstehenden Kapitalismus Interesse hat. Es soll nämlich den Geistlichen fortan nur mehr Handwerk und Landwirtschaft, nicht aber Handel zu treiben gestattet sein. „Denn etwas anderes ist es, freien Geistes körperlich zu arbeiten, wie dies der Handwerker zu tun vermag, sofern er nicht betrügerisch und geizig und voll Gier nach Besitztümern ist, etwas anderes, den Geist mit der Sorge, ohne körperliche Arbeit Geld anzuhäufen, zu erfüllen, wie dies die Kaufleute, Verwalter und Großpächter tun; denn voll Sorge leiten sie ihr Geschäft, aber arbeiten nicht mit den Händen; daher ihr Geist von dem Gedanken, zu erwerben, in Beschlag genommen ist." Es ist dann nur eine Paraphrase dieser Worte des Augustinus, wenn die Synode von Karthago vom Jahre 397 ver- ordnet : „Ut episcopi et presbyteri et diaconi vel clerici non sint conduetores neque procuratores privatorum neque ullo turpi vel inhonesto negotio victum quaerant, quia respicere debeant scriptum esse: nemo militans Deo implicat se negotiis saecularibus." Also den Betrieb eines Hand- werks oder die Bestellung eines agellus soll den Geistüchen erlaubt sein ; nicht dagegen die kapitalistischen Erwerbsarten jener Zeit: Conductio, die (iroßpacht von Latifundien, procuratio privatorum, die finanzielle

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Lujo Brentano, Zur Genealogie der Angriffe auf das Eigentum. 257

Verwaltung derselben, wo sie in eigener Regie betrieben wurden, turpe vel inhonestum negotium, der Handel, der auf Gewinn ausgeht. Diese Zusammenstellung bleibt in einer ganzen Anzahl späterer Synodal- beschlüsse.

Wie aber stand es in der Wirklichkeit? Die christliche Lehre be- trachtete den Eigentümer nur als einen Verwalter; der derzeitige Inhaber eines Vermögens sollte jeden Überschuß über das zum Leben Unent- behrliche den Dürftigen zuwenden; in welcher Weise diese Spenden in den beiden ersten Jahrhunderten zugunsten der Armen verwaltet wurden, ist dunkel; aber seit dem 3. Jahrhundert war es der Bischof, dem die milden Gaben der Gläubigen abgeliefert wurden. So entstand das Kirchen- vermögen als Patrimonium pauperum. Allein der Bischof war keinem anderen als Gott für seine Verwaltung Rechenschaft schuldig, und so wurde die weltflüchtige Eigentumslehre des Christentums die Ursache der schreiendsten Verweltlichung der Kirche. Während nur das Not- wendigste auf den Unterhalt des Klerus und zu Kulturzwecken verwendet und lieber die heiligen Gefäße verkauft als die Armen in Not gelassen werden sollten, begann ein luxuriöses Leben der Kleriker und eine Pracht im Kultus, welche den Anteil der Armen am Kirchengut mehr und mehr minderte, bis, um den Armen überhaupt einen Anteil zu retten, bestimmt wurde, daß ein Viertel des Kirchengutes der Bischof, ein anderes Viertel der Klerus erhalten, ein drittes Kultuszwecken dienen und das letzte Viertel den Armen verbleiben solle. So entstand auf Grund der Lehre von der Entsagung ein Kirchenvermögen als Patrimonium pauperum, aus diesem eine quarta pauperum, und in den folgenden Jahrhunderten geht den Armen auch dieses verloren. „Das kirchliche Bewußtsein, daß das Kirchenvermögen Armenvermögen sei, verlor sich gänzlich", schreibt Ratzinger. Die Kirche erinnerte sich dessen nur mehr, wenn es galt, ihr Vermögen gegen die Eingriffe räuberischer Fürsten zu verteidigen oder fromme Schenkungen zur Mehrung desselben zu veranlassen.

Man muß diese Kausalzusammenhänge sich stets vergegenwärtigen, um zu begreifen, warum die kommunistischen Bestrebungen des Mittel- alters einerseits an die kirchliche Lehre anknüpfen, andererseits in erster Linie gegen die Kirche sich richten. Die erste gegen diese gerichtete Bewegung, die an die christliche Eigentumslehre anknüpft, finden wir bereits zu Ende des 3. Jahrhunderts.

Die Armut, als sie von der Kirche verlassen wurde, flüchtete sich zunächst in das Mönchtum. Schon i. J. 270 hatte das Evangelium vom reichen Jüngling (Matth. XDC) den reichen Oberägypter Antonius ver- anlaßt, sein Vermögen unter die Armen zu verteilen und selbst in die Wüste zu ziehen. Gegen Ende des 3. Jahrhunderts ergriff der Gedanke, das christlich vollkommene Leben zu verwirklichen, eine große Anzahl und veranlaßte sie, dem Antonius nachzufolgen. Die Historiker des Mönchtums sprechen von einer Massenflucht in die Wüste, die dort zur

Archir für Soii»lirU$en»chaft u. Soiialpolitik. I. (A. f. »01. G. u. St. XIX.) 1. 1 7

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Literatur.

Gründung zahlreicher Eremitenkolonien den Anlaß gegeben. Von hier aus verbreiteten sich die Klöster über die christlichen Länder des Orients und, seit den siebenziger Jahren des 4. Jahrhunderts, auch des Occidents. Dorthin flüchtete nun, wer es mit der christlichen Lehre ernst nahm. Wer in ein solches Kloster eintrat, mußte sein Eigentum aufgeben und durfte nichts ins Kloster mitbringen. Angesichts der steigenden Verweltlichung der Kirche war nunmehr der Mönch der wahre Christ. Auch übten die Mönche eine scharfe Kritik an der Weltkirche. Allein nunmehr eine Wiederholung dessen, was mit der Anerkennung des Christen- tums als Staatreligion eingetreten war. Trotz allen gegen sie gerichteten Tadels suchte die Kirche das Mönchtum ; war dieses doch gewissermaßen ein Sicherheitsventil, durch welches der überschüssige Religionseifer be- sonders kräftiger Individuen, ohne die bestehende kirchliche Organisation zu erschüttern, entweichen konnte ; bald gestaltete sich das Verhältnis zwischen Mönchtum und Weltkirche freundlich; der Klerus wurde ver- möncht, die Mönche wurden klerikalisiert ; wie Konstantin die Kirche, so hat dann Justinian das Mönchtum verstaatlicht ; und wie vorher die Kirche, so verweltlichen nunmehr die Klöster. Es zeigte sich eben auch hier als- bald der Widerspruch zwischen der natürlichen Stellung des Menschen zu den irdischen Gütern und der geforderten Entsagung. Der einzelne, der ins Kloster eintrat, entsagte zwar allem persönlichen Eigentum, aber nur, um den Genuß alles dessen, was das Eigentum geben kann, in gesteigertem Maße als Mitglied der klösterlichen Gemeinschaft wieder zu erhalten. Und diese Genüsse wuchsen, als die Klöster gar noch als d i e Armen Christi angesehen und infolge der den Reichen anempfohlenen Zuwendungen an die Armen sehr reich wurden. Die Folge war : in den Klöstern lebten die, welche der Welt und ihren Freuden entsagt hatten, in Üppigkeit, während die Dürftigen in der Welt bittere Not litten. Daher die fortwährenden Anläufe glaubensstarker Individuen, die Mönchs- orden zu erneuern ; aber stets war ihre Wirkung von kurzer Dauer ; worauf wieder neue Anläufe, sie zu ihrem Anfang zurückzuführen, mit gleich kurzlebigem Erfolge stattfanden.

Allein im Volke starb deshalb das Verlangen nach Rückkehr zum christlichen Ideale nicht aus. Sehr begreiflich ! Die Kirche war es, die dem Volke jener Tage die einzige geistige Nahrung bot, und trotz ihrer fortschreitenden Verweltlichung hielt sie in ihrer Lehre an der altchristlichen Auffassung fest. Nach wie vor eiferte sie gegen das Streben nach dem größtmöglichen Gewinn; nach wie vor predigte sie die Entsagung als Ideal. In der Wirklichkeit wurde sie freilich als Folge der von anderen geübten Entsagung der größte Eigentümer und, wie der schon erwähnte Verfall der kirchlichen Armenpflege zeigt, verwaltete sie selbst ihr Eigen- tum keineswegs in Befolgung ihrer Eigentumslehre. Angesichts dieses Widerspruchs zwischen Lehre und Leben entstanden nun Reformbe- wegungen unter den Laien; das volkstümliche Ideal einer sozialen Reform

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Lujo Brentano, Zur Genealogie der Angriffe auf das Eigentum.

wurde die Verwirklichung des Gedankens vom „armen Leben". Da diese Bewegungen sich naturgemäß in erster Linie gegen die Kirche richteten, welche von der Nachfolge Christi soweit sich entfernt hatte, suchte diese sie mit Gewalt zu ersticken. Diejenigen, welche die christ- liche Welt in Übereinstimmung mit dem Evangelium zu organisieren bestrebt waren, wurden verfolgt, exkommuniziert und verbrannt.

Die frühesten hierhergehörigen Reformbewegungen haben Hundes- hagen (Ausgewählte kleinere Schriften und Abhandlungen, Gotha 1874 I 35 ff.) und Dollinger (Beiträge zur Sektengeschichte des Mittelalters, München 1890) erzählt. Dr. Friedrich Glaser hat in seiner eingangs genannten Schrift die franziskanische Bewegung zum Gegenstand einer Darstellung gemacht, bei der ich etwas länger verweilen möchte. Denn die franziskanische Bewegung bedeutet den letzten Versuch von sozialrefor- matorischen Bestrebungen innerhalb der katholischen Kirche auf Grund der evangelischen Lehre.

Glaser beginnt mit einer Schilderung der reformatorischen Be- strebungen Arnolds von Brescia und der von ihm hervorgerufenen Be- wegung. Wenn die Nachfolge Christi, so lehrte Arnold, die Geistlichkeit zur Armut verpflichtet, so bedeutet der weltliche Besitz der Kirche ihren Abfall vom Evangelium. Wie können Papst und Kardinäle mit Petrus sagen: siehe, wir haben alles verlassen und folgen dir nach? oder: Silber und Gold besitzen wir nicht 1 Die Anschauungen Arnolds griffen reißend um sich. Die Not des Volkes war groß. Zahlreiche Bettler- scharen durchzogen das Land, und zu diesen Vaganten gehörten nicht wenige Studenten und arme Kleriker. Das Evangelium (Matth. XIX) vom reichen Jüngling kannten sie gut, und die sich daran knüpfenden Lehren der Väter hatten sie auf der Schule gehört. Nicht minder aber kannten sie das ihnen widersprechende Leben der Beherrscher der Kirche. In beißenden Spottliedern brachten sie dem Volke diesen Widerspruch zum Bewußtsein. Liest man, was Glaser daraus anführt, so glaubt man einen Simplizissimus des 12. Jahrhunderts zu lesen. Dem damals in seiner ersten Ausbreitung befindlichen kapitalistischen Geiste gegenüber wird die Lehre Jesu vom ungerechten Mammon wieder Volksideal. Und wenn Arnolds Wirken zur Entstehung einer Reihe von Organisations- versuchen der Nichtbesitzenden zur Ausbreitung dieser Ideen den Anstoß gab, so war es Joachim v. Floris, der für viele kommende Generationen allen diesen Bestrebungen das ihren Ideen entsprechende Ziel setzte. Er entwarf phantastische Bilder eines glücklichen Zukunftsstaates, des tausendjährigen Reiches. Alsdann wird völlige Besitzlosigkeit herrschen; an die Stelle des tätigen Lebens wird die Ruhe des Beschauens treten; das heilige Jerusalem kommt vom Himmel danieder; und zwar wird diese höchste Stufe gesellschaftlicher Entwicklung, wo ewiger Friede herrscht, wo es weder Eigentum noch Knechtschaft gibt, und wo Milch und Honig fließt, eingeleitet werden durch einen besitzlosen Mönchs-

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orden. Damit schien der Orden des heiligen Franziskus, als er bald darauf in die Erscheinung trat, prophezeit.

Es ist begreiflich, daß diese Bestrebungen zur Verwirklichung des „armen Lebens" in den Teilen Europas den fruchtbarsten Nährboden fanden, in denen die beginnende kapitalistische Entwicklung am vorgeschrittensten war. Es waren dies Oberitalien und die Provence. Hier waren sowohl die sozialen Gegensätze als auch die Widersprüche zwischen der christ- lichen Lehre und dem christlichen Leben am größten. Daher dort „die lombardischen Armen", hier die Waldenser. Alle diese Bewegungen sehen ihren Hauptzweck in der Bekämpfung der verweltlichten Kirche: Sie werden daher von der Kirche mit allen Waffen, welche ihr die Welt an die Hand gab, bekämpft.

Anders Franziskus von Assisi. Er predigt die Verachtung des Reichtums nicht der Kirche, sondern der Welt überhaupt. Wie Christus vom reichen Jüngling verlangt er Preisgabe des Besitzes und Verteilung desselben an die Armen. Dabei aber ein bemerkenswerter Zug: ent- sprechend der um sich greifenden kapitalistischen Entwicklung ist es der Geldbesitz, der mehr als aller andere Besitz dem Hasse des Heiligen begegnet. Sehr begreiflich; denn im Gelde ließen sich die Besitztümer anhäufen, wie dies bei keiner Besitzform früher der Fall gewesen. Daher predigt Franziskus besonders eindringlich die Verachtung des Geldes und die Verwerflichkeit des Strebens nach Gewinn. Wer ihm folgt, soll fürder kein Geld annehmen, in Armut leben, arbeiten, aber nur gegen Nahrung, nicht gegen Geld, und findet er keine Arbeit, so soll er das Nötige sich erbetteln. Aber kein Aufhäufen des überflüssigen in Sorge für den morgigen Tag. Alles, was er über die bare Lebensnotdurft er- hält, soll den Armen gehören. Und um die Klippen zu vermeiden, an denen das Mönchswesen bisher gescheitert, unternahm es Franziskus, das Armutsideal nicht bloß für den einzelnen Mönch, sondern auch für die Kloster- und Ordensgemeinschaft zu verwirklichen : auch die Gemeinschaft der Mönche, das Kloster, der Orden soll eigentumsunfähig sein. Bettel- arm im wahren Sinne des Wortes sollen die Brüder, auf den Ertrag ihrer Arbeit und auf Liebesgaben für ihren Unterhalt angewiesen, in Entsagung und Demut allein der Liebe und dem Dienste anderer leben. Dabei war Franziskus durchaus keine polemische Natur. Im Gegenteile ermahnte er seine Genossen, „daß sie keinen Menschen verurteilten, noch jene verachteten, welche köstlich leben und in Pracht und Überfluß ge- kleidet sind; denn Gott ist unser und ihr Herr und kann sie zu sich rufen und rechtfertigen".

Im Jahre 1210 trat Franziskus vor Innocenz III. und legte ihm seine Regel zur Bestätigung vor, und der Papst, der allen gegen die verweltlichte Kirche gerichteten Bestrebungen zur Verwirklichung des armen Lebens mit allen Mitteln der Gewalt entgegengetreten, erkennt die gegen die Welt im ganzen gerichtete Reformbewegung an und

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Lujo Brentano, Zur Genealogie der Angriffe auf das Eigentum. 26 1

gliedert sie ein in die kirchliche Organisation. Das war eine Handlung würdig Konstantins, als er das Christentum zur Staatsreligion machte, und Justinians, als er das Mönchswesen verstaatlichte. Es wurde damit der Reformbewegung jede gegen die Kirche gerichtete Spitze abge- brochen. Es war damit für alle, welche sich für ein Leben entsprechend dem Evangelium begeisterten, die Möglichkeit der Realisierbarkeit dieses Ideals und zwar innerhalb der Kirche bewiesen. Die Kirche selbst erhielt die Kontrole über diese Bestrebungen, um sie entsprechend ihren Wünschen zu beeinflussen, ja man konnte die Begeisterung, welche diese Verwirklichung des Volksideals vom armen Leben bei den Gläubigen erwecken mußte, zu weiterer Steigerung von Reichtum und Macht der kirchlichen Organisation gebrauchen.

War die Anerkennung statt der Bekämpfung der Bestrebungen des heiligen Franziskus, die Welt zum christlichen Leben zurückzuführen, im Interesse der bestehenden kirchlichen Organisation, so doch nicht in dem der Verwirklichung des franziskanischen Ideals.

Schon bei Lebzeiten des Franziskus sollte sich der dem Papste eingeräumte Einfluß auf seine Schöpfung sehr zu seinem Schmerze geltend machen. Arbeiten im Dienste anderer kam außer Übung; die Haupt- erwerbsquclle wurde der Bettel; aus dem Bettlergewand machte die Kirche eine Uniform. Zunächst blieben Besitzlosigkeit, Armut und das Verbot von Annahme von Geld. Aber selbst die Besitzlosigkeit er- litt alsbald Einschränkungen. Franziskus hatte seinen Brüdern feste Wohnsitze verboten. Als er erfuhr, daß sie in Bologna ein Gebäude bewohnten, welches man das Haus der Brüder nannte, befahl er es zu räumen, und beruhigte sich erst, als der seinem Orden als Protektor ge- stellte Kardinal erklärte, das Haus stehe nicht im Eigenturn der Brüder, sondern nur in ihrer Nutznießung. So begann schon bei seinen Leb- zeiten sein Prinzip, daß auch die Gemeinschaft nicht eigentumsfähig sein solle, umgangen zu werden. In seinem kurz vor seinem Tode verfaßten Testamente vermag man aus der nachdrücklichen Betonung der früheren Armut und namentlich der Verpflichtung zur Arbeit deutlich den Pro- test gegen alle diese Wandlungen herauszulesen. Er verlangte darin wörtliche Erfüllung der Regel ohne künstliche Wegdeutung, und verbot die Annahme von Privilegien seitens der Kurie.

Man versetzte Franziskus zwar unter die Heiligen, aber über seinen letzten Willen schritt man hinweg. Der Orden erhielt eine Menge päpst- licher Privilegien. Bereits 1230 wird die Verbindlichkeit des Testaments aufgehoben ; das Verbot der Geldannahme wird gemildert ; das Gebot der Besitzlosigkeit wird zunächst noch aufrecht erhalten. Allein bereits 1 245 wird auch dieses in seiner Wirkung aufgehoben, indem man be- stimmte, daß das Eigentum am Besitz der Brüder der römischen Kirche zustehen solle, der Gebrauch den Brüdern. Schnell haben die Franziskaner unter dem Schutz dieser Deutung nun Schätze gesammelt und Paläste errichtet.

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Dieses rasche Preisgeben der wesentlichen Züge der franziskani- schen Ordensregel ist um so beachtenswerter als gleichzeitig ein Wandel in der kirchlichen Eigentumslehre stattfand. Unter dem Einfluß der neu bekannt gewordenen Ethik und Politik des Aristoteles bewirkte Thomas von Aquin eine große Annäherung der kirchlichen Lehre ans Leben. Der Grundgedanke der Auffassung der Kirchenväter wird von ihm aller- dings prinzipiell festgehalten. Das Eigentum steht nach wie vor allein bei Gott; aber den Menschen ist der Gebrauch gegeben. Aber während die Kirchenväter lehren, daß nach natürlichem Rechte alle Güter ge- mein seien, und im Privateigentum nur ein notwendiges Übel erblicken, sucht Thomas ihre extremen Aussprüche milder zu deuten ; auch heiße, wenn man sage, daß von Natur alle Dinge gemein seien, dies nicht, daß das Naturrecht das Privateigentum verbiete, sondern nur daß dieses durch die menschliche Vernunft dem Naturrecht hinzugefügt sei. Als Gründe, warum das positive Gesetz das Eigentum eingeführt habe, bezeichnet Thomas den gemeinen Nutzen, das individuelle Interesse und das Inter- esse der Sache selbst.

Nun ist klar, wenn man alle Rechte, welche das Eigentum verleiht, einem anderen als dem Eigentümer zuspricht, macht man das Eigentum zu einem inhaltlosen Schemen, denjenigen dagegen, welcher jene Rechte ausüben darf, tatsächlich zum Eigentümer. Das gilt sowohl für die Eigentumslehre des Thomas als auch für jene Wandlung der franziskani- schen Ordensregel, wonach den Franziskanern Besitz unter Zuschreibung des Eigentumsrechts an die römische Kirche eingeräumt wurde. Diese Distinktionen vermochten daher die überkommenen Anschauungen weder im Volke noch bei den Eifrigeren unter den Franziskanern zu verdrängen. Ich will hier nicht die Geschichte der Bewegungen wiederholen, welche nunmehr sowohl innerhalb des Franziskanerordens als auch außerhalb desselben in der Welt stattfanden, um das arme Leben in der Nachfolge Christi zu verwirklichen. Glaser hat sie im einzelnen erzählt. Im Fran- ziskanerorden sind es zunächst Antonius von Padua, Alexander von Haies, Bonaventura, welche der rasch fortschreitenden Verweltlichung des Ordens Einhalt zu gebieten versuchen; völlig vergeblich; die Instinkte der menschlichen Natur sind stärker als das Vermächtnis des heiligen Fran- ziskus und siegen über die Forderungen der Askese. Die Brüder, welche aus der Zeit des Franziskus noch überleben, werden, wenn sie demon- strieren, verfolgt; einem Bruder, der sich auf das Testament des Heiligen beruft, wird dieses auf dem Kopfe verbrannt; selbst der heilige Bona- ventura vergleicht seine Brüder mit Räubern. Die Bewegungen zur Verwirklichung des armen Lebens in der Welt aber werden mit blutiger Gewalt unterdrückt; die Saccati in der Provence werden aufgelöst, Segarelli in Oberitalien wird verbrannt, Dulcinus von Novara unter grau- samen Foltern getötet. Und ein Franziskaner, Fra Salimbene, ist es, der uns über alle diese Grausamkeiten in einem Tone berichtet, der mehr als

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alles beweist, wie völlig in kürzester Zeit der Geist des liebenswürdigen Heiligen von seinen Jüngern gewichen war.

Von allen war er allerdings noch nicht gewichen. Indes möge man bei Glaser selbst die Einzelheiten nachlesen des nun entbrennenden Kampfes der Spiritualen, der Fratricellen und Beghinen gegen die Ver- weltlichung des Ordens wie der Kirche, welche Hand in Hand mit dem in der Welt fortschreitenden Kapitalismus fortschritt, eines Kampfes, der sich innerhalb wie außerhalb des Franziskanerordens abspielte. Die ausgezeichnetsten Ordensbrüder, darunter der begeisterte Sänger der Armut Jacopone da Todi, werden wegen ihrer nicht zu erschütternden Anhänglichkeit an das franziskanische Ideal jahrelang im Gefängnis ge- halten; andere werden gemartert, ja selbst nach ihrem Tode sucht man noch einen Makel auf sie zu werfen, indem man, wie bei Olivi, ihre Gebeine ausgräbt und ihre Gräber zerstört; wieder andere, die sich beim Papste über die Nichtbeobachtung der evangelischen Armut beklagen, werden der Inquisition übergeben, vier darunter werden verbrannt, ein anderer wird eingemauert, ein anderer in Stock und eiserne Fesseln ge- schlossen; und doch bestand ihrer aller Verbrechen nur darin, daß sie gepredigt, die Regel des Franziskus sei identisch mit dem Evangelium Christi. Nicht anders ergeht es den außerhalb des Franziskanerordens auftretenden Fraticellen und Beghinen. Besonders verdient hervorgehoben zu werden der 132 1 in Narbonne ausgefochtene Streit über die Armut Christi. Ein Beghine wurde angeklagt, weil er behauptet, daß Christus und die Apostel weder gemeinsam noch für sich Eigentum besessen hätten ; einer der Richter tritt auf die Seite des Angeklagten ; die Frage wird zu einem Streite zwischen Dominikanern und Franziskanern. Die Dominikaner, um die Vorstellung zu verbreiten, daß Christus Eigentum besessen habe, lassen ihn abbilden, wie er gerade einer Geldbüchse Geld entnimmt, ja sogar mit der einen Hand ans Kreuz geheftet, mit der anderen Geld in die am Gürtel hängende Tasche steckte. Die Franzis- kaner dagegen sprachen sich 1322 dahin aus, daß die Armut und Besitz- losigkeit Christi katholische und rechtgläubige Lehre sei. Eine Reihe von Gutachten spricht sich gegen die Armut Christi aus. Der Papst Johann XXII. schließt sich diesen an. Dem Franziskanerorden aber ver- leiht er das Eigentum an seinen Gütern, das bisher der Kirche zustand ; die Unterscheidung zwischen Eigentum und Nießbrauch sei eine Fiktion, und der Verzicht auf den Besitz trage nichts zur Vollkommenheit bei. Damit war auch der letzte Rest des Unterschieds zwischen der Besitz- losigkeit der Franziskaner und der anderer Ordensmönche beseitigt. Der Streit aber dauerte fort und die Scheiterhaufen rauchten weiter.

Alvarus Pelagius, der Beichtvater desselben Papstes Johann XXII., schrieb noch 1332 (De planctu ecclesie I art. 41 lit. G & H. Lugd. 167 1) wie die Kirchenväter geschrieben: Iure nature communis est possessio et com- munis omnium possessio, und wenn einst Petrus von sich gesagt habe, daß

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er weder Gold noch Silber besitze, so müsse ein Prälat heute das Gegen- teil von sich sagen. Sein Beichtkind aber gab das Evangelium vom reichen Jüngling preis, als das wirkliche Leben der Kirche mit ihm in Widerspruch trat; und im Franziskanerorden schritt die Verweltlichung nun unaufhaltsam fort. Der Bettelorden des heiligen Franziskus wurde zu einer Organisation des Bettels zum Nutzen der Kirche. Allein so sehr es die Verwandlung des in der Kirche organisierten Christentums in eine weltliche Organisation mit sich brachte, daß jede zur Verwirk- lichung der Nachfolge Christi ihr eingegliederte Organisation alsbald mit verweltlichte, die Lehre des Evangeliums erzeugte immer wieder neue Bekenner. In den Lehren Wyclifs treten uns deutliche Anklänge an die Lehren der Kirchenväter entgegen, und richtete er seine Pfeile auch in erster Linie gegen den größten damaligen Eigentümer, die verweltlichte Kirche, so gingen seine Anhänger doch weiter. Der Priester John Ball predigte, es werde in England nie gut werden, solange es keine Güter- gemeinschaft, und solange es leibeigene Bauern und Herren gebe. Und endete die durch diese Lehren hervorgerufene Bewegung mit einer Niederlage in England, so sollten sie doch bald darauf in Böhmen eine hussitische Auferstehung erfahren.

Allen den bisher vorgeführten kommunistischen Bewegungen war eines gemein. So sehr sie sich in erster Linie gegen die Kirche rich- teten, so standen sie in der Lehre vom Eigentum doch im Prinzip auf dem gleichen Boden wie diese. Hat doch noch der sogenannte letzte Scholastiker, der 1495 gestorbene Gabriel Biel, geschrieben: Lege naturae omnia sunt omnibus communia . . . Iure humano dicitur haec domus mea: haec villa mea: hic servus meus est . . . Tolle jura imperatoris; et quis audet dicere, haec villa mea est . . . Per jura regia possidentur possessiones. Eben weil die hier erwähnten Bewegungen auf dem gleichen prinzipiellen Boden wie die kirchliche Lehre standen, hatten sie sich gegen die Kirche in erster Linie gewendet. Diese er- schien ihnen in erster Linie verpflichtet, das in Matth. XIX gesetzte Ideal zu verwirklichen; sie war am meisten von ihm abgewichen. Alle diese Bewegungen wurzelten also auf einem asketischen Gedanken. Es war eine Art negativen Kommunismus, den sie erstrebten, eine Gemein- samkeit des Besitzes auf Grundlage des Verzichts auf das Überflüssige, um mittelst desselben die Dürftigen über die Not zu erheben. Das änderte sich mit der Reformation. Sie lehrte, daß der Mensch in die Welt gesetzt sei, nicht damit er die Welt fliehe, sondern damit er in der Welt Gott diene; damit trat sie in Widerspruch mit der bis dahin empfohlenen Lossagimg von allem Irdischen; das Eigentum an irdischen Gütern, das Streben nach ihrem Erwerb und nach dem Reichtum, sowie der Handel, erschienen, weil naturgemäß, nunmehr als Bestandteile der von Gott gewollten Ordnung. Damit änderte sich auch der Charakter der kommunistischen Bestrebungen. An die Stelle eines auf Gedanken

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der Askese beruhenden negativen Kommunismus tritt fortan ein auf der Weltfreudigkeit beruhender positiver Kommunismus. Nicht mehr Verwirk- lichung des armen Lebens erscheint als das Ziel, sondern Gemeinsamkeit des Genießens der sich bietenden und zu mehrenden irdischen Güter.

Der prinzipielle Bruch mit der alten Eigentumslehre erfolgt mit Luther. Während die christliche Lehre im Anschluß an die Auffassung des alten Testaments von den Kirchenvätern bis zu Gabriel Biel den Kommunismus immer als den dem natürlichen und göttlichen Rechte entsprechenden Zustand betrachtet hatte und das Eigentum nur als ein infolge der Schwäche der menschlichen Natur notwendiges Übel, ist Luther ein entschiedener Gegner des Kommunismus. Die Anziehung des alten Testaments lehnt er ab unter Hinweis auf den Gegensatz des alten Testaments zum neuen. Dagegen beruft er sich auch fürs alte Testament auf Abraham, der selbst sehr reich an Vieh, Silber und Gold und doch sehr gottselig gewesen, und fürs neue auf Christus, der selbst Eigentum besessen habe. Ein gleich entschiedener Verteidiger des Privateigentums ist Calvin. Dabei war unter dem Einfluß der fort- schreitenden wirtschaftlichen Entwicklung im 15. Jahrhundert in den kontinentalen Ländern nördlich der Alpen das römische Recht rezipiert worden mit seiner Auffassung vom Eigentum als dem jus utendi et abutendi.

Was war die Folge? Unter dem Druck der wirtschaftlichen Ent- wicklung gelangt nun in den reformierten Ländern, auch wenn sie das römische Recht nicht rezipieren, unter dem Einfluß der reformierten Lehre, in den katholischen Ländern unter dem Einfluß der Rezeption des römischen Rechts eine neue Auffassung vom Eigentum zur Geltung : die Auffassung vom Eigentum als subjektives Recht. In der Lehre der katholischen Theologen und ihrer Geistesverwandten aber bleibt nach wie vor die alte Auffassung, daß nach dem Naturrecht der allein nor- male Zustand der Kommunismus sei, daß das Eigentum nichts weiter sei als eine infolge des Sündenfalls notwendig gewordene Konzession an der Schwäche der menschlichen Natur. So z. B. bei Pascal, Bossuet. Der Jesuit Bourdaloue, der berühmte Kanzelredner des 1 7. Jahrhunderts, wiederholt in seinen Predigten über den Reichtum und über das Almosen unter starken Anklängen an die Reden eines Basilius, Ambrosius, Chryso- stomus deren Lehren über das Eigentum.

Welches aber ist die weitere Entwicklung?

In den reformierten Ländern entstehen im Gegensatz zu der zur Herrschaft gelangenden Auffassung des Eigentums als eines subjektiven Rechtes kommunistische Sekten, wie die Wiedertäufer, die Diggers, die Huterischen Brüder. Namentlich in England erschien im 17. Jahrhundert eine Anzahl Broschüren, welche alle davon ausgehen, daß von Natur allen alles gemein sei. Indem das Sondereigentum entstand, wurden die Nichtbesitzenden die Sklaven des Eigentümers. Dem Staate wird zu-

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gemutet, in der einen oder anderen Weise die Produktion und Verteilung der Güter in die Hand zu nehmen. Wie bei den Kirchenvätern der Eigentümer nur der Verwalter seines Gutes im Interesse der Armen sein soll, so erscheint in allen diesen Schriften das Wohlergehen der Armen als der Maßstab bei Beurteilung sowohl des politischen, als auch des sozialen und wirtschaftlichen Zustands des Landes. Unter den hier- hergehörigen Schriftstellern sind zu nennen Hartlib, der Holländer Peter Cornelius, Gerard Winstanley, alles Quäker. Im Jahre 1696 veröffent- lichte John Bellers seine „Proposais for raising a College of industry of all useful trades and husbandry, with profit for the rieh, a plentiful living for the poor, and a good education for youth ; which will be advantage to the government by the increase of the people and their riches", eine Schrift mit Gedanken ähnlich denen des genannten Peter Cornelius und denen Robert Owens. 1775 wirft Thomas Spence die Frage auf, ob alle Mitglieder der Gesellschaft alle Vorteile genießen, die sie infolge ihres natürlichen und gleichen Rechtes auf Land und Freiheit zu ver- langen berechtigt sind, und beantwortet die Frage mit Nein. Wenige Jahre später tritt Professor Ogilvie in Aberdeen ein für Verstaatlichung des Bodens. Dasselbe verlangt Godwin in seiner Political Justice und 1817 verlangt Robert Owen die Reorganisation der Gesellschaft auf genossenschaftlicher Grundlage. Damit sind wir bei der modernen sozialistischen Bewegung in England angelangt, welche über Gray, Thompson, Hodgskin, Edmonds, Bray zu Karl Marx führt

In den katholischen Ländern, wo, wie bemerkt, zunächst noch die alte katholische Auffassung vom Eigentum von den Theologen aufrecht erhalten wird, ist die Entwicklung nicht anders. Diese Auffassung genügt hier, solange die Menschen wirklich katholisch denken. Wie aber, wenn dies aufhört? Die alte Auffassung vom Kommunismus als dem allein dem Naturrechte entsprechenden Zustande bleibt, aber die Recht- fertigung des Eigentums als Notwendigkeit infolge des Sündenfalls fällt. Folglich hier die heftigsten theoretischen Angriffe auf das Eigentum und Versuche, den Kommunismus theoretisch zu begründen. Das Eigentum wird als Quelle aller ökonomischen Ungleichheit und sittlichen Ver- worfenheit und politischen Mißstände hingestellt. Charakteristisch, daß alle, von denen diese Angriffe ausgehen, selbst entweder Geistliche ge- wesen sind oder doch eine theologische Bildung durchgemacht haben, und vom Christentum abgefallen. So der Abbe Morelly, der Abb£ Mably, der Pfarrer Jean Mcslier. Es ist der Kirchenvater, der den Priesterrock abgestreift. Der alte Radikalismus ist geblieben, der christliche Kompromiß mit der Wirklichkeit fiel. Darauf dann auch andere wie Brissot Babeuf sucht die neue Idee im Leben zu verwirklichen. Darauf St. Simon, Fourier, Proudhon, Cabet, Considerant bis zu den heutigen französischen Sozialdemokraten, die sich zu Marx bekennen.

Als in der Zeit nach der Reformation die moderne Wissenschaft

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aufkam, empfand sie das Bedürfnis nach einer Rechtfertigung des Eigen- tums als eines subjektiven Rechts; sie fand sie zunächst in der sei es durch einen Urvertrag, sei es durch Befehl des Gesetzgebers, dem ein- zelnen übertragenen Befugnis. So Grotius; ursprünglich war nach ihm Alles gemein; das Sondereigentum entstand auf Grund ausdrücklichen oder stillschweigenden Vertrags, ausdrücklich, wo man die Güter, die ehedem gemein waren, teilte, stillschweigend, wo man okkupierte. Der Grund, warum die Menschen auf die ursprüngliche Gütergemeinschaft verzichteten, und zwar zuerst an Mobilien, dann an Immobilien, war einmal, daß sie sich nicht länger mit einfachen Bedürfnissen zufrieden gaben, denn um besser zu leben benötigt man der Arbeit, die der Eine auf dieses, der andere auf jenes verwandte ; und sodann der Mangel an Billigkeit und Eintracht, infolge deren man keine gerechte Gleichheit weder in der Arbeit (Produktion) noch im Verbrauche des Ertrags (Ver- teilung) bewahrt haben würde. Der Grund der Anerkennung eines Sondereigentums war also die Rücksicht auf seine Wirkungen. So ferner Hobbes. Das Eigentum entsteht ihm infolge des Willens des Gesetz- gebers, da ohne seine Anerkennung ewiger Krieg herrschen würde. So weiter Wolf, Pufendorf, Montesquieu, Bentham. Nach ihnen allen wurzelt das Eigentum nicht im Naturrecht, sondern im Willen des Gesetzgebers wie nach der alten kirchlichen Lehre. Dabei findet sich auch der Hin- weis auf die Notwendigkeit, Streitigkeiten zu verhüten, den Hobbes als Motiv des Gesetzgebers in den Vordergrund stellt, schon bei Aristoteles und nach ihm bei Thomas v. Aquin. Freilich war damit nur die Not- wendigkeit des Bestehens einer bestimmten Ordnung hinsichtlich des Ge- nusses der Güter dargetan, nicht aber, daß diese Ordnung in der Aner- kennung eines Eigentums Privater bestehen müsse.

Diese Begründung hat erst John Locke zu geben versucht Seine I>ehre ist die erste, wonach das Eigentum nicht als Einrichtung der positiven Gesetzgebung, sondern des Naturrechts erscheint. Locke sieht Ursprung und Rechtfertigung des Eigentums in der Arbeit. Jeder hat Eigentum an seiner Person; an dieses hat niemand ein Recht außer ihm; die Arbeit seines Körpers und das Werk seiner Hände gehören ihm eigentümlich. Was immer also der Mensch aus dem Zustand, in welchen es von der Natur versetzt und in dem es von ihr gelassen ist, entfernt, damit hat er seine Arbeit verbunden und etwas hinzugefügt, was sein eigen ist und wodurch es somit sein Eigentum wird. Dadurch daß er es aus dem Zustand der Gemeinsamkeit, in welchen es die Natur versetzt hat, entfernt hat, ist ihm durch seine Arbeit etwas beigefügt worden, was das gemeinsame Recht anderer Menschen ausschließt: denn da diese Arbeit das unzweifelhafte Eigentum des Arbeiters ist, so kann niemand ein Anrecht an dem haben, mit dem diese Arbeit verbunden ist, wenigstens da, wo genug davon da und ebenso Gutes für den Gemein besitz anderer gelassen ist.

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Ähnlich auch die Physiokraten. Freiheit und Eigentum waren nach Quesnay schon vor der Gesellschaft vorhanden. Das Eigentum erscheint ihm als berechtigt als Ergebnis der Arbeit. Das Eigentum also ein Naturrecht. Es beruht auf der absoluten Gerechtigkeit, welche der Willkür und Wandelbarkeit der Gesetzgebung entzogen ist. So ferner noch viele andere, wie M. Mendelssohn, Charles Comte, Adolphe Thiers.

Allein die Gegner des Eigentums wurden durch diese Beweisführung nicht überzeugt. Sie hatten es nicht schwer, nachzuweisen, daß für die große Masse des bestehenden Eigentums die als Entstehungsursache an- genommene Voraussetzung nicht zutrifft Nicht aus der Arbeit des der- maligen Eigentümers oder dessen Rechtsvorgängers, sondern aus ange- eigneter fremder Arbeit sei es entstanden. Daher denn Hieronymus mit Recht sage : Omnes divitiae ab iniquitate descendunt . . . dives aut iniquus aut iniqui haeres. Nirgends seien in Europa die Spuren der mittel- alterlichen Vermögensverteilung, wie sie sowohl das Ergebnis der Feudal- wie der Kirchenverfassung seien, verschwunden. Noch heute entständen die großen Vermögen weniger durch eigene Arbeit der Inhaber als viel- mehr durch Werterhöhung und Spekulation. Auch das nicht durch Arbeit entstandene Eigentum aber werde geschützt. Die modernen Sozialisten haben daher den Gedanken eines auf Arbeit beruhenden Eigentums als Postulat, nicht aber als Rechtfertigung des bestehenden Eigentums aufgenommen. Rodbertus hat die Rechtfertigung des Eigen- tums aus der Arbeit eine Theorie des bösen Gewissens genannt. Arbeits- eigentum sei ein Ziel der Zukunft, entspreche aber nicht der Gegenwart.

Es war dann eigentlich nur die Hervorkehrung einer anderen Seite der Auffassung Lockes, wenn andere eine naturrechtliche Basis für das Eigentum darin sahen, indem sie es als natürliche Erweiterung der Per- sönlichkeit hinstellten. Auch finden sich hierfür bereits Ansätze bei den Physiokraten. So ferner Kant, Hegel und seine Schule. Darauf ant- worteten die Nichteigentümer : auch wir bedürfen der äußeren Dinge zum vollen Auswirken unserer Persönlichkeit. Voraussetzung dafür, daß das Eigentum in dieser Weise gerechtfertigt werden könne, ist, daß jeder die Möglichkeit habe, zur Aufrechterhaltung seiner Persönlichkeit sich Eigentum zu erarbeiten. Diese Voraussetzung, von der auch Locke aus- geht, trifft nicht mehr zu. Daher Uniwandlung und Erweiterung des Eigentums, so daß es für jeden Menschen seine natürliche und not- wendige Ausdehnung in Bezug auf diese Dinge, das unerläßliche Werk- zeug des Lebens und der Entwicklung wird. Aus der Apanage einer gewissen Anzahl Menschen soll es das Erbteil Aller werden.

Dann kam Stahl und zeigte abermals eine neue Seite der Grund- idee Lockes. Eigentum sei Stoff für die Offenbarung der Individualität des Menschen, aber nicht bloß dies, sondern auch für die Erfüllung seiner sittlichen Pflichten, besonders gegen sich und seine Familie. Eigen- tum sei also nicht bloß ein Mittel der Selbstsucht, sondern auch der

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Pflichterfüllung. In seiner 1864 erschienenen Schrift „Die Arbeiterfrage und das Christentum" hat Freiherr von Ketteier, Bischof von Mainz, diese Auffassung Stahls in merkwürdiger Weise mit der der Kirchenväter ver- quickt, um mit Rücksicht auf die von diesen den Reichen gepredigte Unterstützung der Armen das Postulat staatlicher Subvention von Pro- duktivgenossenschaften abzulehnen : durch eine von Majoritäten dekretierte Staatshilfe werde dem Reichen die Möglichkeit genommen, seine Pflicht gegenüber seinem armen Mitbruder zu erfüllen. Dies ist eine Recht- fertigung des Eigentums vom Standpunkte des Aristokraten. Der Nicht- eigentümer dagegen erklärte, auch er habe das Bedürfnis nach Offen- barung seiner Individualität sowie Pflichten gegen sich und andere. Er könne sich nicht dazu verstehen, durch das Eigentum anderer in Not versetzt und gehalten zu werden, um diesen Eigentümern als Himmels- leiter zu dienen, indem er ihnen Gelegenheit gebe, an ihm, dem not- leidenden Nichteigentümer, die Pflichten des Eigentums zu erfüllen. Er ziehe es vor, in der Lage zu sein, es nicht nötig zu haben, daß andere Pflichten gegen ihn erfüllten, und imstande zu sein, selbst seinen Pflichten gegen sich nachzukommen.

Adolph Thiers endlich, der im übrigen ein Anhänger der Arbeits- theorie war, suchte diese naturrechtliche Begründung noch durch einen Erfahrungsbeweis zu verstärken, indem er die völlig unhaltbare Behaup- tung aufstellte, der eigentumslose Zustand sei gegen die Natur, indem es niemals einen Zustand ohne Eigentum gegeben habe; ein solcher sei unmöglich.

Das historisch Merkwürdigste haben wir dann unter dem Pontifikate Leos XIII. erlebt : in der Enzyklika De conditione opificum „Rerum no- varurn semel excitata cupidine" vom 15. Mai 1891 hat der Papst alle die vor- stehenden naturrechtlichen Begründungen des Eigentums gewissermaßen enzyklopädisch zusammengefaßt. Es war dies eine große Neuerung. Die Kirchenväter haben aufs energischste bestritten, daß das Eigentum im Naturrecht begründet sei; es sei erst durch Akt der positiven Gesetz- gebung entstanden. Das kanonische Recht hat dieselbe Auffassung mit Nachdruck vertreten. Selbst Thomas v. Aquin hat daran festgehalten, daß die Teilung der Güter nicht auf Naturrecht, sondern auf positivem Gesetze beruhe und nur betont, das Privateigentum widerspreche nicht dem Naturrecht, sondern sei durch die menschliche Vernunft dem Natur- recht hinzugefügt. Und noch jahrhundertelang nach dem heiligen Thomas haben die größten Lehrer der katholischen Kirche sogar die Lehre eines Basilius, Gregor v. Nazianz, Ambrosius, Augustinus, Hierony- mus, Chrysostomus, häufig unter Gebrauch von deren eigenen Worten, wiederholt. In Gegensatz hierzu hat Leo XIII. in der gedachten Enzyklika erklärt: Merito universitas generis humani, dissentientibus paueorum opinionibus nihil admodum mota, studioseque naturam intuens, in ipsius lege naturae fundamentum reperit partitionis bonorum,

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possessionesque privatas, ut quae cum hominum natura pacatoque et tranquillo convictu maxime congruant, omni um saeculorum non con- secravit. Leges autem civiles, quae, cum justae sunt, virtutem suam ab ipsa naturali lege ducunt, id jus, dequo loquimur, confirmant ac vi etiam adhibenda tuentur. Dies ist eine völlige Umkehr der mehr als tausend- jährigen kirchlichen Lehre. Bisher ging diese dahin, daß gemäß dem Natur- recht allen alles gemein sei und die Teilung der Güter in Sondereigen- tum lediglich auf positivem Gesetze beruhe; Leo XIII. sagt, daß sie auf Naturrecht beruhe und daß das positive Gesetz, indem es sie mit Zwangsgewalt schütze, lediglich das Gebot des Naturrechts zur Geltung bringe. Während Clemens von Alexandrien (Paedagog. II c. 1 2 Migne, Patr. graeca VIII, 543) schrieb: „Gott hat uns das Recht des Genusses gegeben, aber nur bis zur Grenze der Notwendigkeit und seinem Willen nach muß der Genuß gemeinsam sein. Eis ist nicht in der Ordnung, daß einer im Überfluß sitzt, während mehrere darben", und Ambrosius (De off. ministr. I c. 28 Migne, Patr. lat. XVI, 67): „Natura omnia omnibus in commune profudit. Sic enim Deus generari jussit omnia, ut partus omnibus communis esset, et terra foret omnium quaedam com- munio possessio. Natura igitur jus commune generavit, usurpatio jus fecit privatum", bekämpft Leo XIII. die Sozialisten, welche „sollicitata egentium in locupletes invidia, evertere privatas bonorum possessiones contendunt oportere, earumque loco communia universis singulorum bona facere", mit den Worten : „remediura proponunt cum justitia aperte pugnans, quia possidere res privatim ut suas, jus est homini a natura da- t u m." Während der heilige Basilius wütend über den herzieht, der da sagt: „Wem tue ich unrecht, wenn ich das Meinige behalte?" und ihn als einen Räuber hinstellt, der, nachdem er einen Platz eingenommen hat, alle später Kommenden wegdrängt, behauptend, daß das, was allen zum Gebrauche gemeinsam offen steht, ihm besonders angehöre, be- zeichnet Leo XIII. umgekehrt die als Räuber „qui usum quidem soli, variosque praediorum fruetus homini privato concedunt: ut possideri ab eo et domino vel solum, in quo aedifieavit, vel praedium quod exeoluit, plane jus esse negant." Ja, während Basilius den einen Dieb nennt, „der den Nackten nicht bekleidet, obgleich er es tun kann" und ausruft: „Dem Hungrigen gehört das Brot, das du behältst, dem Nackten der Mantel, den du bewahrst, dem Unbeschuhten der Schuh, der bei dir modert, dem Dürftigen das Silber, das du vergraben hältst. Daher tust du so vielen Menschen unrecht, so vielen du geben könntest", und Hieronymus schreibt: „Wenn du mehr hast, als dir zur Nahrung und Kleidung nötig ist, so gib es weg und für so viel erachte dich als Schuldner", sagt die Enzyklika : „Nemo jubetur . . . tradere aliis quo ipse egeat ad id servandum quod personae conveniat, quodque deceat: nullus enim inconvenienter vivere debet."

Indes wo bin ich angelangt: Ich wollte eine Anzeige der

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Lujo Brentano, Zur Genealogie der Angriffe auf das Eigentum. 27 1

Schrift Glasers schreiben und der von ihm behandelten Bewegung ihre Stellung in der Entwicklung der Anschauungen über das Eigentum an- weisen und bin darüber zu einer Abhandlung über die Entwicklung der Angriffe auf das Eigentum, die Stellung, welche die kirchliche Lehre in dieser Entwicklung einnimmt, und die Wandlung, welche diese kirchliche Lehre erfahren hat, gekommen. Dabei sei bemerkt, daß sowohl Glaser wie auch ich selbst keinerlei Tadel gegen die Kirche wegen dieser Wandlung auszusprechen beabsichtigen. Wir finden sie völlig in der Natur der Dinge begründet. Nur erheischt es die wissenschaftliche Wahrhaftigkeit, daß diese Wandlung gegenüber der Behauptung einer Unwandelbarkeit in der kirchlichen Lehre festgestellt werde. Leo XIII. war ein eifriger Verehrer des Thomas v. Aquin. Er hat ihn auch in seiner Enzyklika wiederholt zitiert. Allein wenn er sich als seinen Schüler bekennt, so ist er dies nicht, indem er dessen Eigentumslehre wieder- gibt, denn die Eigentumslehre Leos XIII. ist weit moderner als die des Thomas; sie verhält sich zu dieser, wie die thomistische sich etwa zu der der Kirchenväter verhält. Leo XIII. ist der Schüler des Thomas vielmehr eben in der Art und Weise, wie er gleich diesem seine Eigenturaslehre mit den vorgeschritteneren wirtschaftlichen Verhältnissen in Einklang zu bringen bemüht ist. Glaser ist bei allem dem Fleiße, den er dem Studium der franziskanischen Bewegung gewidmet hat, doch stets bereit, die weltliche Haltung der Kirche ihr gegenüber zu ent- schuldigen- vielleicht, daß er hier und da sogar zu viel entschuldigt. Was das Eigentum angeht, so scheint er dessen Rechtfertigung nicht in den Gründen zu sehen, welche seit Locke, wie eben dargelegt wurde, für dasselbe geltend gemacht worden sind, und die alle an dem Fehler leiden, daß sie das Eigentum zwar in den Augen derjenigen, die etwas besitzen, zu rechtfertigen vermögen, auf die Nichtbesitzenden aber völlig eindrucklos bleiben. Er scheint sie vielmehr in dem zu sehen, worin bereits Grotius die Berechtigung für jene Anerkennung erblickt, welche das Eigentum nach seiner Meinung im Urvertrag, sei es ausdrücklich, sei es stillschweigend, gefunden habe, nämlich in seinen Wirkungen, und zwar in seinen Wirkungen nicht für die einzelnen, sondern für die Gesamtheit. Diese Wirkungen des Eigentums, und zwar seine wirt- schaftlichen, gesellschaftlichen und staatlichen, zu erörtern, würde diese Anzeige aber noch ungebührlicher ausdehnen, als dies schon geschehen ist.

LUJO BRENTANO.

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Der Zusammenbruch der kapitalistischen Wirtschaftsordnung im Lichte der nationalökonomischen Theorie.

Von

MICHAEL TUGAN-BARANOWSKY.

L

Vom Standpunkte der materialistischen Geschichtsauffassung wird die gesamte soziale Entwicklung durch die wirtschaftliche be- stimmt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das soziale Revolutionen hervorruft, sondern die Widersprüche des materiellen Lebens, die Konflikte zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Um die Notwendigkeit des Zusammen- bruchs der kapitalistischen Wirtschaftsweise und die Unvermeidlich- keit ihrer Umwandlung in die sozialistische nachzuweisen, dazu ist vor allem erforderlich, einen strengen Beweis zu liefern für die ökonomische Unmöglichkeit des Fortbestehens des Kapitalismus auf einer bestimmten Stufe. Ist einmal eine solche Unmöglichkeit festgestellt, so ist damit die Notwendigkeit der Verwandlung des Kapitalismus in sein Gegenteil bewiesen und der Sozialismus aus dem Reiche der Utopie in das der Wissenschaft glücklich hinüber- gefiihrt.

Das war der ganz natürliche Gedankengang von Marx und Engels, indem sie vom Standpunkte ihrer geschichtsphilosophischen Ansichten ihre sozialistischen Uberzeugungen zu begründen suchten. Die rein ökonomische Unmöglichkeit des Fortbestehens des Kapita- lismus an den Tag zu legen das müßte für sie die Hauptsache sein. Denn widerspricht etwa das weitere Bestehen des Kapita- lismus nicht den Gesetzen der Wirtschaftsentwicklung, sondern

Archiv für Soiialwittenschaft u. Sozialpolitik. I. (A. f. soi. G. u. St. XIX.) *. i8

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Michael Tugan Baran o ws k y,

unserem moralischen Bewußtsein oder den bewußten Interessen der Volksmassen, so ist damit der streng materialistische Beweis der Notwendigkeit des Sozialismus nicht geliefert, da vom Standpunkte des historischen Materialismus nicht die Moral und nicht die In- teressen der Mehrzahl der Bevölkerung, sondern die Entwicklung der Produktivkräfte und die auf ihr beruhende Entwicklung der Wirt- schaftsweise den sozialen Lebensprozeß bestimmt Wird der Schwer- punkt der ganzen Argumentation aus dem Gebiete der Ökonomie in das des Bewußtseins übertragen, so wird damit der materia- listischen Geschichtsauffassung zwar nicht Abbruch getan, da diese den Einfluß der bewußten Motive auf den Lauf der Geschichte nicht leugnet, aber allerdings die Bedeutung derjenigen Momente betont, welche diese Auffassung als abgeleitete, sekundäre betrachtet. Wenn also Kautsky die Berechtigung seiner sozialistischen Erwar- tungen vor allem darin erblickt, daß das Proletariat „an Zahl, Geschlossenheit, Intelligenz, Selbstbewußtsein, politischer Reife" *) zunimmt, so gerät er damit nicht in direkten Widerspruch mit der materialistischen Geschichtsauffassung ; doch entspräche es viel mehr dem Geiste derselben, würde der Nachdruck nicht auf Selbstbewußt- sein des Proletariats, sondern auf elementare, unbewußte Gesetze der Entwicklung des Kapitalismus gelegt. So sagt Engels : „Marx hat nie seine kommunistischen Forderungen hierauf (sc. daß die Aneignung der unbezahlten Arbeit unserem sittlichen Gefühl widerspricht) be- gründet, sondern auf den notwendigen, sich vor unseren Augen täglich mehr und mehr vollziehenden Zusammenbruch der kapita- listischen Produktionsweise". *) Ob die Bemerkung von Engels richtig ist, können wir dahingestellt sein lassen. Ich betone nur, daß man, nach der Meinung von Engels, die sozialistischen Forderungen durch den Nachweis des sich vollziehenden Zusammenbruchs der kapitalistischen Produktionsweise begründen soll.

Ist es aber Marx und Engels, und überhaupt dem Marxismus, gelungen, eine solche Begründung des Sozialismus zu geben? Allerdings steht es fest, daß diese beiden großen Sozialisten viele Versuche gemacht haben, etwas derartiges zu leisten. Schälen wir aus den zahlreichen bezüglichen Ausführungen von Marx und Engels den theoretischen Kern heraus, so gelangen wir nicht zu einer, sondern zu zwei theoretischen Konstruktionen, die

*) Bernstein und das sozialdemokratische Programm. S. 48.

■) Das Elend der Philosophie. 1885. Vorwort von Engels. S. X.

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Der Zusammenbruch der kapitalistischen Wirtschaftsordnung usw.

in gewissem Zusammenhange miteinander stehen, aber auch selb- ständige Elemente besitzen und darum nicht als unzertrennliches Ganze betrachtet werden können. Die eine von diesen Konstruk- tionen mag man als Theorie des mangelnden Absatzes für die kapitalistische Produktion bezeichnen, die andere als Theorie der fallenden Profitrate.

Was die erste Theorie betrifft, so ist sie schon in einigen älteren Veröffentlichungen von Engels ganz klar ausgeführt und be- gründet, namentlich in einer seiner Elberfelder Reden (i845)r die in den „Rheinischen Jahrbüchern" gedruckt wurde und in dem Aufsatz „Die englische Zehnstundenbill" (Neue Rheinische Revue 1850).

In der Elberfelder Rede stellt sich Engels die Aufgabe „zu be- weisen, daß der Kommunismus für Deutschland wenn keine histo- rische, doch eine ökonomische Notwendigkeit ist". Der Beweis wird folgendermaßen geführt. Deutschland hat zwischen Freihandel und Protektionismus zu wählen. Zieht es das erste vor, so wird die deutsche Industrie durch die englische ruiniert und die massen- hafte Arbeitslosigkeit eine soziale Revolution hervorrufen. Geht aber Deutschland den anderen Weg und führt hohe Schutzzölle ein, so wird das eine rasche Entwicklung der deutschen Industrie zur Fol<je haben. Der heimische Markt wird bald für die zunehmende Masse der industriellen Produkte zu eng und Deutschland wird genötigt sein, auswärtige Märkte für seine Industrie zu suchen, was zum Kampf auf Tod und Leben zwischen deutscher und englischer In- dustrie führen wird. „Eine jede Industrie muß fortschreiten, um nicht zurückzubleiben und unterzugehen, sie muß sich ausdehnen, neue Märkte erobern, fortwährend durch neue Etablissements ver- größert werden, um fortschreiten zu können. Da aber, seitdem China offen steht, keine neuen Märkte mehr erobert werden, sondern nur die bestehenden besser ausgebeutet werden können, da also die Ausdehnung der Industrie in Zukunft langsamer gehen wird als bisher, so kann England jetzt noch viel weniger eine Konkurrenz dulden, als dies bisher der Fall war". Dieser Todeskampf der deutschen und der englischen Industrie kann nur ein Ende haben den Ruin des schwächeren Konkurrenten. Ist aber der Kapitalismus in einem Lande zusammengebrochen, so wird das eine massenhafte Erhebung des Proletariats auch in anderen Ländern hervorrufen.

Die ganze Argumentation scheint Engels in hohem Grade

zwingend zu sein. „Mit derselben Sicherheit," sagt er, „mit der wir

aus gegebenen mathematischen Grundsätzen einen neuen Satz

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Michael Tugan-Barano wsky ,

entwickeln können, mit derselben Sicherheit können wir aus den bestehenden ökonomischen Verhältnissen und den Prinzipien der Nationalökonomie auf eine bevorstehende soziale Revolution schließen." l)

Diese Ansichten waren von Engels auch in seinem späteren Aufsatze (aus dem Jahre 1850) in bezug auf England entwickelt. Den Kern der ganzen Argumentation bildet der Grundsatz, daß „die Industrie auf ihrer heutigen Höhe der Entwicklung ihre Produktiv- kräfte unverhältnismäßig rascher vermehrt, als sie ihre Märkte vermehren kann". So kommt Engels zu dem Schluß, daß „englische Industrielle, deren Produktionsmittel eine ungleich höhere Expansivkraft besitzen, als ihre Debouches, mit raschen Schritten dem Punkt entgegengehen, wo ihre Hilfsmittel erschöpft sind", wo die Überproduktion chronisch wird, wo „die ganze moderne Gesellschaft an Überfülle unverwendbarer Lebenskraft auf der einen Seite, und an gänzlicher Abzehrung auf der anderen zu- grunde gehen müßte", *) wäre nicht die soziale Revolution die Macht, welche die Menschheit aus der Sackgasse des Kapitalismus hinaus- fuhren wird.

Dieselbe Theorie des mangelnden Absatzes für die Produkte der sich rasch ausdehnenden kapitalistischen Industrie bildet die theoretische Grundlage der Ausführungen über die Notwendigkeit des Zusammenbruchs der kapitalistischen Wirtschaftsordnung in anderen Schriften von Engels und Marx, so im „kommunistischen Manifeste" und in der Streitschrift Engels gegen Dühring. In dieser letzten Schrift weist Engels auf das Ausdehnungsbedürfnis der kapitalistischen Industrie, „das jedes Gegendruckes spottet. Der Gegendruck wird gebildet durch die Konsumtion, den Absatz, die Märkte für die Produkte der großen Industrie. Aber die Aus- dehnungsfähigkeit der Märkte, extensive wie intensive, wird be- herrscht zunächst durch ganz andere, weit weniger energisch wirkende Gesetze. Die Ausdehnung der Märkte kann nicht Schritt halten mit der Ausdehnung der Produktion. Die Kollision wird unvermeidlich, und da sie keine Lösung erzeugen kann, solange sie nicht die kapitalistische Produktionsweise selbst sprengt, wird sie periodisch".3) Der Kreislauf der kapitalistischen Industrie ist

l) Gesammelte Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels. Zweiter Hand. 1902. S. 393—399-

■) Gesammelte Schriften von Marx und Engels. III. Band. S. 389—394.

3) Herrn Kugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. Dritte Aufl. 1894. S. 296.

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Der Zusammenbruch der kapitalistischen Wirtschaftsordnung usw.

eine sich verengende Spirale, die mit der chronischen Überproduktion und der Unmöglichkeit der weiteren Entwicklung der kapitalistischen Industrie also mit der sozialen Revolution enden muß.

Im dritten Bande des „Kapitals" führt Marx aus, daß mit der unmittelbaren Produktion nur der erste Akt des kapitalistischen Wirtschaftsprozesses zum Abschluß gebracht wird. Es bleibt der zweite und der schwierigere Akt die Realisation, die Verwertung des erzeugten Produktes. Die Gesetze der kapitalistischen Pro- duktion und die der Realisation sind aber nicht nur nicht identisch, sondern sie befinden sich sogar in Widerstreit. Die kapitalistische Produktion ist beschränkt durch die Produktivkraft der Gesellschaft, die Realisation aber durch „die Proportionalität der verschiedenen Produktionszweige und durch die Konsumtionskraft der Gesell- schaft. Diese letztere ist aber bestimmt weder durch die absolute Produktionskraft noch durch die absolute Konsumtionskraft, sondern durch die Konsumtionskraft auf Basis antagonistischer Distributions- Verhältnisse, welche die Konsumtion der großen Volksmasse auf ein, nur innerhalb mehr oder minder enger Grenzen veränderliches Minimum reduziert. Sie ist ferner beschränkt durch den Akku- mulationstrieb, den Trieb nach Vergrößerung des Kapitals." Der auf diese Weise entstehende „innere Widerspruch -.»icht sich aus- zugleichen durch Ausdehnung des äußeren Feldes der Produktion. Je mehr sich aber die Produktivkraft entwickelt, um mehr ge- rät sie in Widerstreit mit der engen Basis, worauf die I^itisumtions- verhältnisse beruhen".

Als Schlußergebnis der Marxschen Analyse der Bedingungen der Realisation des kapitalistischen Produkts erscheint der Satz, daß „die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion das Kapital selbst ist", das ist, „daß die Produktion nur Produktion für das Kapital und nicht umgekehrt die Produktionsmittel bloße Mittel für eine stets sich erweiternde Gestaltung des Lebensprozesses für die Gesellschaft der Produzenten sind." Die Schranken der kapita- listischen Produktion (die mangelnde Ausdehnungskraft der Märkte für die kapitalistische Industrie) treten beständig in Widerstreit mit dem Ausdehnungsbedürfnis des Kapitals. „Das Mittel unbe- dingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte gerät in fortwährenden Konflikt mit dem beschränkten Zweck, der Ver- wertung des vorhandenen Kapitals." l)

') Das Kapital. III ' S. 225—232.

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Michael Tugan-Baranowsky,

Die allen diesen Ausführungen zu Grunde liegende Theorie mag folgendermaßen resümiert werden. Der Umfang des Marktes für die kapitalistische Produktion wird durch den Umfang der gesell- schaftlichen Konsumtion bestimmt. Vermehrt sich die Produktenmasse rascher als die gesellschaftliche Konsumtion, so muß ein Teil der hergestellten Produkte unveräußert und ein Teil des Kapitals un- verwertet bleiben. Ein Zustand der Überproduktion tritt ein und das Kapital liegt brach. Die Entwicklung der kapitalistischen Pro- duktion muß diese Uberproduktion immer andauernder machen, da die gesellschaftliche Konsumtion bei dieser Entwicklung eine nur sehr langsame Ausdehnung erfahrt, während die Produktion sich in immer rascherem Tempo vermehrt. Es muß also eine Zeit kommen, wo die Uberproduktion chronisch und die kapitalistische Wirt- schaftsordnung durch die Unmöglichkeit der weiteren Verwertung des sich immer neu akkumulierenden Kapitals zusammenbrechen wird.

Diese Ansichten beherrschen das sozialistische Denken bis auf den heutigen Tag. Der scharfsinnige Vertreter des modernen Marxismus Karl Kautsky ist ebenso fest wie seine Meister überzeugt, daß die kapitalistische Wirtschaft einer chronischen Uber- produktion entgegengeht, welche er als „eine Zwangslage, die, wenn sie eintritt, unvermeidlich den Sozialismus erzwingt", bezeichnet „Zu einem, solchen Zustand," führt Kautsky weiter aus, „muß es aber kommen, wenn die ökonomische Entwicklung in derselben Weise wie bisher vor sich geht, denn der äußere wie der innere Markt hat seine Grenzen, indessen die Ausdehnung der Produktion praktisch grenzenlos ist . . . Die kapitalistische Produktionsweise wird von dem historischen Momente an zur Unmöglichkeit, in dem es sich herausstellt, daß der Markt nicht mehr in demselben Tempo sich ausdehnen kann, wie die Produktion, das heißt, sobald die Überproduktion chronisch wird." l) Und bis auf diesen Moment haben wir nicht lange zu warten. Die unheilbar chronische Über- produktion bildet „die äußerste Grenze der Lebensfähigkeit der heutigen Gesellschaft". l)

Es ist übrigens ganz natürlich, daß Kautsky den Lehren seiner Meister treu ist. Interessanter ist es, daß der feine Theoretiker der „Revisionisten" Konrad Schmidt ebenso fest wie Kautsky an die Möglichkeit einer chronischen Überproduktion infolge der ge-

*) Bernstein und das sozialdemokratische Programm. S. 142 145.

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Der Zusammenbruch der kapitalistischen WirtschaAsordnung usw.

ringen Ausdehnungsfähigkeit des kapitalistischen Marktes glaubt. „Es ist dies der Gesichtspunkt," gesteht er zu, „von dem aus die Auflassung, daß die kapitalistische Entwicklung mit unentrinnbarer Notwendigkeit einer allgemeinen ökonomischen Katastrophe ent- gegengeht, sich am anschaulichsten und einfachsten entwickeln läßt. ' ')

Freilich betrachtet Schmidt eine solche Eritwicklungsrichtung des Kapitalismus nur als eine Tendenz, die durch andere Gegen- tendenzen gekreuzt wird. Trotzalledem ist es klar, daß Schmidt in bezug auf diesen Punkt auf demselben theoretischen Boden steht wie Kautsky. „Revisionisten" und „Orthodoxe" sind in diesem Punkte einig.

Aber auch „bürgerliche" Ökonomen (Lexis, Herkner, Hobson u. a.) huldigen der Theorie, daß der Umfang der kapitalistischen Produk- tion durch den Umfang der gesellschaftlichen Konsumtion be- schränkt wird und daß die kapitalistische Produktion nicht imstande ist, ohne eine Uberproduktion hervorzurufen, in rascherem Tempo als die gesellschaftliche Konsumtion geschweige denn bei dem Rückgang dieser sich auszudehnen.

Ich möchte sogar sagen, daß so etwas fast ein allgemeiner Glaube der Vertreter der heutigen ökonomischen Wissenschaft ist, welcher seinen prägnantesten Ausdruck findet in der Anerkennung der Unterkonsumtion der Volksmassen als der wichtigste Ursache der Wirtschaftskrisen. Es wird bestritten, daß der Kapitalismus zur Einschränkung der gesellschaftlichen Konsumtion führt, aber es scheint unbestreitbar zu sein, daß, wenn dies der Fall ist, die gesellschaftliche Produktion sich nicht ausdehnen kann, ohne eine Überproduktion hervorzurufen.

Angesichts dieser erdrückenden Masse von wissenschaftlicher Autorität zugunsten einer Theorie ist es vielleicht eine gewagte Unternehmung, diese Theorie als grundfalsch beweisen zu wollen. Die Aufgabe des folgenden wird jedoch in nichts anderem be- stehen.

Es ist nicht allzu schwer zu verstehen, was die Nationalöko- nomen der verschiedensten, ja entgegengesetzten Richtungen zur ein- stimmigen Anerkennung der zu kritisierenden Theorie bewogen hat. Die Sache scheint höchst einfach zu sein und keinen Streit zuzu-

') Zur Theorie der Handelskrisen und der Überproduktion. Sozialistische Monatshefte. 1901. S. 675.

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Michael Tugan-Baran owsky,

lassen. Wirtschaftliche Tätigkeit kann keinen anderen Zweck, als die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse haben. Gesellschaftliche Produktion ist eine wirtschaftliche Tätigkeit also kann sie zu nichts, wenn nicht zur Deckung des gesellschaftlichen Bedarfs nach Konsumtionsmitteln dienen. Der Zweck der Produktion die Konsumtion mag durch lange Umwege erreicht werden, immer bleibt diese der einzig mögliche Zweck der Produktion.

„Ist nicht jede Produktionsnachfrage der Natur der Sache nach eine relative, d. h. eine Nachfrage, bei der der nachfragende Kapi- talist damit rechnet, daß er die mit Hilfe dieser Produktionsmittel erzeugten Waren weiter veräußern kann, während die Konsumnach- frage sich als definitive und absolute Nachfrage darstellt, bei der es, wie der Name sagt, auf den Verzehr, nicht aber auf irgend welche weitere Veräußerung von gekauften Waren abgesehen ist?"

„Nur auf der Basis und im engen Zusammenhang mit dieser definitiven Nachfrage kann die relative Nachfrage nach Produktions- mitteln sich entfalten. Die Nachfrage nach Produktionsmitteln ist fürs erste doch einmal die Nachfrage nach Rohstoffen, Hilfsstoffen und Maschinen in den Branchen, die die genußfertigen Produkte für den Konsum herstellen." Darum kann, wie es scheint, kein Zweifel obwalten, daß „die definitive oder Konsumnachfrage die be- lebende Kraft ist, welche durch alle Stockwerke der Volkswirtschaft hindurch das ungeheuere Räderwerk der Produktion im Gang hält". l)

Soweit Schmidt. Die Argumente von Kautsky scheinen nicht minder überzeugend zu sein. „Die Produktion ist und bleibt Produktion für den menschlichen Konsum." Zwar führt die Arbeitsteilung zur Verselbständigung der Produktion der Arbeitsmittel, zur Entstehung der Produktionswerkstätte, die ausschließlich Werkzeuge, Roh- material usw. herstellen, aber trotz alledem „dienen sie alle nur dem letzten Zwecke der Herstellung von Mitteln des menschlichen Konsums und geraten alle in ihrer Tätigkeit ins Stocken, sobald dieser letzte Zweck nicht ausreichend betätigt wird". „Produzieren," schließt der Autor, „heißt Konsumtionsmittel für den menschlichen Gebrauch herstellen. Diese Tatsache kann durch die fortschreitende Arbeitsteilung nur verschleiert, aber nicht aufgehoben oder auch nur eingeschränkt werden." 2)

*) Schmidt, Zur Theorie der Überproduktion. Sozialist. Monatshefte 1901. S. 673.

•) Kautsky, Krisentheorien. 4. Neue Zeit 1902. S. 117, u 8.

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Der Zusammenbruch der kapitalistischen Wirtschaftsordnung usw. 28 1

Es sei also höchst ungereimt, etwa anzunehmen, daß das akku- mulierende Kapital sich bei der relativen oder, noch mehr, einer absoluten Verringerung der gesellschaftlichen Konsumtion, verwerten könnte. Die Frage bedürfe keiner speziellen ökonomischen Unter- suchung, da sie durch den logischen Begriff der Produktion end- gültig gelöst sei.

Nun scheint mir diese ganze Argumentation nicht zwingend zu sein. Zunächst muß ich entschieden protestieren gegen die unhistorische Auffassung der Wirtschaft als einer nicht geschicht- lichen, sondern logischen Kategorie. Es ist höchst irreführend, von Wirtschaft überhaupt als ob sie dieselbe in allen ihren ge- schichtlichen Gestaltungen bliebe zu sprechen. Es gibt Wirtschaft und Wirtschaft. Von dem uns interessierenden Gesichtspunkte aus müssen wir zwei Gruppen der Wirtschaftssysteme unterscheiden. Die erste Gruppe, deren Charakteristikum das Zusammenfallen der Personen des Wirtschaftssubjektes und des wirtschaftlichen Ar- beiters in einer Person bildet, möchte ich als harmonische Wirtschaft bezeichnen. Als besondere Wirtschaftssysteme, die diese Gruppe ausmachen, hebe ich hervor: 1. die Eigenproduktion, Pro- duktion für den Selbstgebrauch des Produzenten, 2. die auf der gesellschaftlichen Arbeitsteilung beruhende Tauschwirtschaft der kleinen selbständigen Produzenten und 3. die sozialistische Produk- tion der Zukunft, wo die Leitung der Produktion der Gesamtheit der Produzenten gehören wird. Für alle diese Wirtschaftssysteme ist es wesentlich, daß die unmittelbaren Produzenten über die Pro- duktionsmittel verfügen und die Richtung der Produktion (d. h. die Art der herzustellenden Produkte) bestimmen. Diese Wirtschafts- systeme nenne ich harmonische aus dem Grunde, weil sie keinen Interessengegensatz der an der Wirtschaft teilnehmenden Personen notwendig voraussetzen, was für die zweite Wirtschafts- gruppe unbedingt gilt.

Die zweite Wirtschaftsgruppe bezeichne ich als antagonis- tische. Ihr entscheidendes Charaktermerkmal besteht darin, daß in diesen Wirtschaftssystemen die Personen des Wirtschaftssubjektes und des wirtschaftlichen Arbeiters nicht zusammenfallen. Der wirtschaft- liche Arbeiter ist in eine ihm fremde Wirtschaft eingegliedert, deren Subjekt eine andere, an der wirtschaftlichen Arbeit nicht teilnehmende Person ist; die Produktionsmittel gehören nicht dem Arbeiter sondern dem Wirtschaftssubjekt, welches die Leitung der Produktion besorgt und ihre Richtung bestimmt. Diese Gruppe

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Michael Tugan-Baranowsky,

wird durch I. Sklaven-, 2. Feudal- und 3. kapitalistische Wirtschafts- systeme gebildet Ich nenne sie antagonistische, weil der Interessen- gegensatz ihr inneres Wesen ausmacht. Alle setzen sie das Vor- handensein wenigstens zweier gesellschaftlicher Gruppen voraus, von denen die eine die Macht besitzt, aus der anderen ein bloßes wirt- schaftliches Mittel zu machen. Da aber diese letzte, als wirtschaft- liches Mittel fungierende Gruppe, sich selbst Zweck bleibt, so führt dies zum Interessengegensatz der beiden Gruppen.

Nun ist es klar, daß wirtschaftliche Tätigkeit bei harnionischer Wirtschaft keinem anderen Zwecke als der Bedarfsdeckung der Ge- sellschaft dienen kann. Anders bei antagonistischer Wirtschaft. Am wirtschaftlichen Prozeß nehmen hier wenigstens zwei Personen An- teil, deren wirtschaftliche Rollen sehr verschiedene sind. Die eine Person ist Wirtschaftssubjekt und bestimmt die objektive Richtung des wirtschaftlichen Prozesses. Sie befindet sich offenbar in der- selben Lage, wie jede wirtschaftende Person bei harmonischer Wirt- schaft. Aber außer dieser Person des Sklavenherrn, des feudalen Grundherrn, des Kapitalisten nimmt auch die Person des als bloßes Produktionsmittel fungierenden Arbeiters mit seiner Arbeit einen Anteil an der Wirtschaft. Seine Rolle ist eine ganz andere, als die seines Herrn. Er ist ein Glied des wirtschaftlichen Mecha- nismus, der nicht seinen Zwecken dient, sondern den Zwecken einer anderen Person. Kurz, der Arbeiter ist kein Subjekt, sondern ein Objekt dieser Wirtschaft, wie Arbeitsvieh, Werkzeuge und Roh- material.

Das gilt z. B. offenbar für den Sklaven. Bleibt der Sklave sich selbst ein Selbstzweck, so übt das keinen Einfluß auf die ob- jektive Richtung des wirtschaftlichen Prozesses, da nicht der Sklave, sondern der Sklavenherr diese Richtung bestimmt. Für den Sklaven- herrn — und also objektiv für die Sklavenwirtschaft ist die Konsumtion des Sklaven von der sogenannten produktiven Kon- sumtion — von dem Verbrauch der Produktionsmittel im Prozesse der Produktion nicht zu unterscheiden. Die Sklavenwirtschaft ist nur in so weit von der Konsumtion des Sklaven abhängig, als diese ein notwendiges Moment der Produktion ist.

Der Sklavenherr muß seine Sklaven ernähren, und der kluge Sklavenherr wird sie, wie sein Arbeitsvieh, gut ernähren, aber nur aus dem Grunde, weil gute Nahrung die Arbeitsfähigkeit des Menschen wie des Viehs steigert.

Die wirtschaftliche Eigenschaft des Sklaven, als eines bloßen

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Der Zusammenbruch der kapitalistischen Wirtschaftsordnung usw.

wirtschaftlichen Mittels, wird dadurch am prägnantesten gekenn- zeichnet, daß der Sklave durch andere Produktionsmittel, ohne jegliche Beeinträchtigung des obersten Zwecks der Sklavenwirt- schaft, ersetzt werden kann. „Der altperuanische Pflug war nichts als ein Pfahl mit einem Querholz am hintern Ende, welchen Pfahl 6 bis 8 Menschen über das Feld zogen." *) Unser imaginärer Sklavenherr kann zur Einsicht kommen, daß Pferde diese Arbeit viel wirksamer verrichten können; er wird einen Teil seiner Sklaven durch Pferde ersetzen. Ein Teil seines Bodens wird den Hafer für die Pferde anstatt den Roggen für die Menschen erzeugen. Die Sklavenwirtschaft wird eine kleinere Zahl von Menschen, aber mehr Pferde ernähren. Der Sklavenherr wird darum nicht ärmer, sondern reicher, da die Bebauung seiner Felder erfolgreicher und das zu seiner Verfügung übrig bleibende Mehrprodukt eine größere Masse der Konsumtionsmittel ausmachen wird. Also Zu- nahme des Konsums des Wirtschaftssubjekts gleichzeitig mit der Verringerung des Konsums der als Produktionsmittel fungierenden Menschen. Diese letzte Verringerung kann so bedeutend sein, daß die gesamte Summe des menschlichen Konsums in unserer Wirtschaft (d. h. der Konsum des Sklavenherrn und der der Sklaven) eine absolute Abnahme erfahren wird. Die Wirtschaft wird ihr objektives Ziel die Bedarfsdeckung ihres Subjekts, des Sklaven- herrn, — ebensogut oder noch besser mit der Hilfe anderer Pro- duktionsmittel als Menschenkraft erreichen. Die Masse des er- zeugten Produktes wird zunehmen, sein dem Kapital in der kapitalistischen Wirtschaft entsprechender Teil wird ohne Rest verzehrt und produktiv konsumiert werden (aber auf andere Weise, teilweise durch Pferde statt wie früher durch Menschen), die Masse des Mehrprodukts wird wachsen. Nur der Konsum der Menschen in ihrer Gesamtheit wird geringer, was das Gleichgewicht der Sklavcnwirtschaft in keiner Weise stören wird.

Wir wollen nun zur kapitalistischen Wirtschaft übergehen. Kautsky hat gegen meine Schemata der Akkumulation des Kapitals (welche übrigens im Anschluß an Marx konstruiert wurden), die ich in meiner Schrift „Studien zur Theorie und Geschichte der Handelskrisen in England" gegeben habe, nichts einzuwenden. Aber sie beweisen, nach der Meinung meines Kritikers, etwas ganz anderes als das, was ich aus ihnen deduziere. „Tugans Schemata,"

') Lippert, Die Kulturgeschichte. 1885. I. S. 52.

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Michael Tugan-Baranowsky,

sagt Kautsky, „zeigen uns nur einen einzigen Fall, in dem ein Rückgang des Konsums ohne Krise eintreten kann: bei dem Übergange von einfacher zu erweiterter Produktion. Dieser einzige Fall wird bei Tugan zum Typus der kapitalistischen Wirklichkeit; und doch ist es einer, der in dieser Wirklichkeit sich so gut wie nie ereignet".1)

Nun bildet meines Erachtens das, was Kautsky als den ein- zigen und so gut wie nie vorkommenden Fall bezeichnet, ein im- manentes Gesetz der kapitalistischen Entwicklung. Ich werde den für meine Theorie scheinbar ungünstigsten Fall untersuchen die Akkumulation des Kapitals bei stetigem und bedeutenden Rückgang der Arbeitslöhne und keiner Zunahme im Konsum der Kapitalisten. Im nachstehenden Schema unterstelle ich, daß der Arbeitslohn, seinem Werte nach, jedes Jahr um 25 Proz. sinkt und der Wert des Konsums der Kapitalisten, trotz der Zunahme der Profitmasse, eine feste unveränderliche Größe bildet. Meiner Vor- aussetzung gemäß wird 1 :4 des gesamten Profits des ersten Jahres von den Kapitalisten akkumuliert (d. h. auf die Erweiterung der Produktion verwendet), die übrig bleibenden *4 von ihnen un- produktiv konsumiert; in den folgenden Jahren erfahrt der un- produktive Konsum der Kapitalisten seinem absoluten Werte nach keinen Wechsel also wTird ein immer größerer Teil des Profits akkumuliert.

Reproduktion des gesellschaftlichen Kapitals auf erweiterter Stufenleiter bei dem Rückgang der Löhne und der Unbeweglich- keit des unproduktiven Konsums der Kapitalisten. 2)

Das erste Jahr. I. Produktion der Produktionsmittel 1632 p -{- 544a + 544 r 2720.

rl Krisentheorien. 4. Neue Zeit 1901. S. 1 1 6.

*) Bei der Konstruktion dieses Schemas wird unterstellt, daß die Gesellschaft nur aus zwei Klassen Kapitalisten und Arbeitern besteht. Von der Ver- schiedenheit der Umschlagsperioden des stehenden und umlaufenden Kapitals wird abgesehen und angenommen, daß die Umschlagszeit des gesellschaftlichen Kapitals gleich einem Jahre ist. Für das erste Jahr wird vorausgesetzt, daß in allen Abteilungen der gesellschaftlichen Produktion das Sachkapital Produktions- mittel (p) seinem Werte nach dreimal so groß ist als das Uohnkapital die

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II. Produktion der Konsumtionsmittel der Arbeiter 408 p + 1 36a + 1 36 r = 680.

III. Produktion der Konsumtionsmittel der Kapitalisten 360p -|- i2oa+ I20r = 600.

Das zweite Jahr.

I. Produktion der Produktionsmittel 1 987,4 p + 496,8 a + 828, 1 r = 33 1 2,3.

II. Produktion der Konsumtionsmittel der Arbeiter 372,6p + 93,2 a+ I55,2r = 62i.

III. Produktion der Konsumtionsmittel der Kapitalisten 360 p 4-90*4- 1 50r = 600.

Das dritte Jahr. I. Produktion der Produktionsmittel 2585,4p 4- 484,6a 4- 1 239 r== 4309.

II. Produktion der Konsumtionsmittel der Arbeiter 366,9 p 4- 68,9a 4- 175,5 r = 61 1,3.

III. Produktion der Konsumtionsmittel der Kapitalisten 360p 4- 67,5 a 4~ 172,5 r = 600.

Dies Schema soll veranschaulichen, auf welche Weise die ge- sellschaftliche Produktion eingeteilt werden muß, damit trotz des Rückganges des gesellschaftlichen Konsums und rascher Ausdehnung

Summe der Arbeitslöhne (a) , der Profit (r) aber dem Lohnkapital gleich ist. Im zweiten Jahr ändern sich alle diese Verhältnisse aus dem Grunde, weil nach der Unterstellung der Arbeitslohn um 25 Proz. sinkt und der Profit entsprechend zunimmt. Darum sehen wir, daß im zweiten Jahre das Lohnkapital in der ihrem Werte nach unverändert gebliebenen Produktion der Konsumtionsmittel der Kapitalisten nicht 120 (wie im ersten Jahre), sondern nur 90 ausmacht (also um 30 Werteinheiten, oder um 25 Proz. abgenommen hat) ; der Profit aber hat um dieselben Werteinheiten zu- genommen und ist gleich 150. Der Wert des Sachkapitals in der Produktion der Konsumtionsmittel der Kapitalisten ist unverändert geblieben. Im dritten Jahre ist der Arbeitslohn wieder um 25 Proz., also in der III. Abteilung der gesellschaft- lichen Produktion um 22,5 Werteinheiten gesunken, der Profit hat entsprechend zugenommen, der Wert des Sachkapitals in dieser Abteilung ist unverändert ge- blieben.

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Michael Tugan-Baranowsky,

der gesellschaftlichen Produktion kein überschüssiges, nicht zu ver- äußerndes Produkt sich ergäbe. Mit p, a, r, bezeichne ich respektive Produktionsmittel (Sachkapital), Arbeitslohn (Lohnkapital) , Rente (Profit). Die Zahlen sind willkürlich gewählt und drücken in Millionen Mark die Werte der entsprechenden Abteilungen der gesellschaftlichen Produktion und der erzeugten Produkte aus. Der im ersten Jahre erzeugte Profit beträgt 800 Millionen Mark (544+ 136-}- 120). 25 Proz. dieses Profits werden, meiner Voraus- setzung gemäß, kapitalisiert. Darum bleibt für den Konsum der Kapitalisten im zweiten Jahre nur 600 Millionen Mark übrig. Die- selbe Summe beträgt der Konsum der Kapitalisten auch in den folgenden Jahren.

Am Ende des ersten Jahres werden für 2720 Millionen Mark Produktionsmittel hergestellt. Diese werden alle durch die erweiterte Produktion des zweiten Jahres verbraucht, da diese an Produktions- mitteln die Summe von (19874 + 372,6 -j- 360) = 2720 Millionen Mark erfordert. Konsumtionsmittel für Arbeiter werden im ersten Jahre für 680 Millionen Mark hergestellt ; ebenso groß ist das Lohn- kapital (also die Nachfrage der Arbeiter nach den Konsumtions- mitteln) des zweiten Jahres (496,8 -f- 93.2 -f- 90). Die im ersten Jahre erzeugten Konsumtionsmittel der Kapitalisten in Höhe von 600 Millionen Mark werden durch diese im zweiten Jahre verzehrt. Also wird das gesamte gesellschaftliche Produkt des ersten Jahres durch die Produktion und Konsumtion des zweiten Jahres ohne Rest verbraucht.

Das Lohnkapital des ersten Jahres ist (544+ 136+ I2°)» ako = 800 Millionen Mark, das des zweiten 680 Millionen Mark. Die Konsumtion der Arbeiter ist folglich um 120 Millionen Mark oder um 15 Proz. zurückgegangen, die der Kapitalisten, nach der Annahme, unverändert geblieben. Das gesamte gesellschaftliche Produkt des ersten Jahres ist (2720 + 680 + 600), also 4000 Milli- onen Mark, das des zweiten (3312,3 -f- 621 -f- 600), also 4533,3 Millionen Mark. Der Wert der hergestellten Produkte hat folglich um 13 Proz. zugenommen.

Die Erweiterung der gesellschaftlichen Produktion geht mit dem Rückgang des gesellschaftlichen Konsums Hand in Hand; das An- gebot der Produkte und die Nachfrage nach ihnen bleiben aber in einem vollkommenen Gleichgewicht.1) Im dritten Jahre sinkt das

') Es kann scheinen, daß das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage

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Der Zusammenbruch der kapitalistischen Wirtschaftsordnung usw.

Lohnkapital auf (484,6 + 68,9 -f- 67,5) 621 Millionen Mark herab, im vierten auf 611,3 Millionen Mark usw., während der Wert der Konsumtion der Kapitalisten unverändert bleibt und der Wert des gesamten gesellschaftlichen Produktes in immer rascherem Tempo zunimmt. Der stetige Rückgang der gesellschaftlichen Konsumtion bei der stetigen Ausdehnung der gesellschaftlichen Produktion ist nicht imstande, die leiseste Störung des Verwertungsprozesses des Kapitals hervorzu rufen.

Also, trotz des von mir unterstellten ungeheuren, in der Wirk- lichkeit nie vorkommenden, Rückganges der Arbeitslöhne, trotz der absoluten Verringerung der gesellschaftlichen Konsumtion, findet das Kapital keine Schwierigkeit, eine immer größere Produkten- masse zu verwerten. Die Erweiterung der Produktion, also produk- tive Konsumtion der Produktionsmittel, tritt an Stelle des mensch- lichen Konsums und alles geht ebenso glatt, als ob nicht die

in meinem Schema nicht erreicht ist. So werden im ersten Jahre an Produktions- mitteln für 2720 Mill. Mk. hergestellt. Für die Produktion der Produktionsmittel des zweiten Jahres ist die Summe von 1987,4 Mill. Mk. erforderlich. Eis werden also die Produktionsmittel für die Summe 2720 1987,4 == 732,6 Mill. Mk. in den Aus- tausch mit den Produkten der II. und III. Abteilung eingehen. Zugleich wird sich im zweiten Jahr in derselben I. Abteilung der gesellschaftlichen Produktion die Nachfrage erheben nach Produkten der II. und III. Abteilungen für die Summe von 904,8 Mill. Mk. (für 496,8 Mill. Mk. nach den Konsumtionsmitteln der Arbeiter der ersten Abteilung, für 408 Mill. Mk. nach den Konsumtionsmittcln der Kapi- talisten derselben Abteilung, da diese unserer Voraussetzung gemäß 3/4 ihres Profits des ersten Jahres (544 Mill. Mk.) selbst konsumieren). Es werden also von den Kapitalisten und Arbeitern der I. Abteilung für 172,2 Mill. Mk. Produkte mehr ge- kauft, als verkauft (904,8 732.6= 172,2). Wie ist dieses Defizit im Betrage von 172,2 Mill. Mk. zu decken?

Die Schwierigkeit ist nur eine scheinbare. Der Rückgang der Löhne und der Stillstand der Konsumtion der Kapitalisten haben zur Folge, daß die in der Pro- duktion der zwei letzten Abteilungen angelegten Kapitalien eine Abnahme er- fahren — und in die I. Abteilung, die eine bedeutende Ausdehnung erfährt, Uber- gehen. So ist im zweiten Jahre das Sach- und Lohnkapital der II. Abteilung um 78,2 Mill. Mk. kleiner als dasjenige des ersten Jahres, das der III. Abteilung im zweiten Jahre um 30 Mill. Mk. kleiner; außerdem wird durch die Kapilalisten der II. Abteilung der kapitalisierte Profit des ersten Jahres im Betrage von 34 Mill. Mk. und durch die der III. im Betrage von 30 Mill. Mk. in die I. Abteilung der gesell- schaftlichen Produktion eingelegt. Die Summe (78,2 -f- 30 -f- 34 -J- 30) ergibt 172,2: das scheinbare Defizit in der I. Abteilung wird also gedeckt durch die Kapitalien, die in diese Abteilung aus den zwei letzten Ubergehen.

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Michael Tugan-Baranowsky ,

Wirtschaft dem Menschen, sondern der Mensch der Wirtschaft diente.

Dies ist eben das fundamentale Paradoxon der kapitalistischen (wie übrigens, aber in geringerem Grade, aller antagonistischen) Wirtschaft: da nur ein Teil der Gesellschaft zum Wirtschaftssubjekt wird, während ein anderer und größerer Teil nur ein Objekt der Wirtschaft ausmacht, so wird es möglich, der gesellschaftlichen Wirtschaft eine Richtung zu geben, bei der sie aus einem Mittel zur Deckung des gesellschaftlichen Bedarfs zum Mittel der bloßen Ausdehnung der Produktion, auf Kosten dieses Bedarfs, wird und so den gerechten Zweck aller Wirtschaft vereitelt Das ist nicht mein „kühnes Paradoxon", wie es Kautsky bezeichnet, sondern ein im Wesen der kapitalistischen Wirtschaftsweise begründetes ökonomisches Gesetz.

Wir sehen also, daß sogar bei dem bedeutenden absoluten Rückgang der gesellschaftlichen Konsumtion die kapitalistische Wirtschaft nicht zusammenbricht. Der notwendige Zusammenbruch der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, infolge des mangelnden Absatzes diese Glaubenssache nicht nur der „orthodoxen" Marxisten, sondern wie es scheint, auch mancher „Revisionisten" wird durch die vorgehende Analyse als Hirngespinst nachgewiesen. Die kapitalistische Hülle der modernen Gesellschaft bricht nicht zusammen, sogar bei Bedingungen, die jeden vernünftigen Zweck der Wirtschaft zu vereiteln scheinen.

Um die totale Unhaltbarkeit der Marxschen Lehre an den Tag zu legen, habe ich den für diese Lehre scheinbar günstigsten Fall untersucht Damit will ich bei weitem nicht sagen, daß die von mir unterstellte Bedingung der Rückgang der Arbeitslöhne der kapitalistischen Wirklichkeit entspricht Ich bin vielmehr der Meinung, daß die neueste Phase der kapitalistischen Entwicklung durch das bedeutende Steigen der Reallöhne gekennzeichnet wird. Es kann also scheinen, daß meine Analyse die Marxsche Theorie zwar widerlegt, aber zum Verständnis der kapitalistischen Wirklich- keit sehr wenig beigetragen hat

Das ist jedoch nicht der Fall. Die relative Abnahme der ge- sellschaftlichen Konsumtion , trotz der absoluten Zunahme der Arbeitslöhne, bildet vielmehr das Grundgesetz der kapitalistischen Entwicklung. Ich habe namentlich bisher von dem wichtigsten Momente der kapitalistischen Akkumulation, wie sie sich in der kapitalistischen Wirklichkeit vollzieht, abgesehen d. i. von

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der relativen Ersetzung der lebendigen Arbeitskraft durch die Pro- duktionsmittel. Der technische Fortschritt besteht eben darin, daß tote Werkzeuge, Maschinen und andere Produktionsmittel an Stelle des Arbeiters in der Produktion treten. Zwar wächst die absolute Zahl der Arbeiter, aber in viel stärkerem Grade nimmt die Masse und der Wert der durch die Arbeiter in Bewegung gesetzten und verarbeiteten Produktionsmittel zu. Die Zusammensetzung des ge- sellschaftlichen Kapitals um in Marx's Terminologie zu sprechen wird immer höher. Das hat zur Folge, daß eine immer geringere Quote des gesellschaftlichen Produktes in den gesellschaftlichen Konsum eingeht. Das nicht zu konsumierende Produkt Eisen, Kohle, Maschinen usw. vermehrt sich rascher als die Konsum- tionsmittel — Nahrung, Kleidungstücke u. a. Es findet also eine relative Abnahme des gesellschaftlichen Konsums statt der Wert der Konsumtionsmittel im Vergleich mit dem der Produktionsmittel sinkt (obwohl er absolut wächst).

Wird aber nicht diese relative Ersetzung des menschlichen Konsums durch die produktive Konsumtion der Produktionsmittel zur Bildung eines überschüssigen, nicht zu veräußernden Produktes führen? Ich glaube nicht, daß nach allem Gesagten solche Fragen auftauchen können. Es ist sonnenklar, daß es keine Schwierigkeit bietet, ein neues Schema im Anschluß an das vorige zu konstruieren, und einen streng mathematischen Beweis zu liefern , daß die größte denkbare Ersetzung der Arbeiter durch Produktionsmittel keine einzige Werteinheit der letzteren überschüssig zu machen imstande ist. Sind einmal alle Ar- beiter bis auf einen einzigen verschwunden und durch Ma- schinen ersetzt, so wird dieser einzige Arbeiter die ungeheure Masse von Maschinen in Bewegung setzen und mit ihrer Hilfe neue Maschinen und Konsumtionsmittel der Kapitalisten herstellen. Die Arbeiterklasse wird verschwinden, was nicht im mindesten den Verwertungsprozeß des Kapitals stören wird. Die Kapitalisten werden keine geringere Masse von Konsumtionsmitteln bekommen, das gesamte hergestellte Produkt eines Jahres wird durch die Produktion und Konsumtion der Kapitalisten des folgen- den Jahres verwertet und verbraucht. Wollen etwa die Kapitalisten ihre eigene Konsumtion einschränken, so bildet das keine Schwierig- keit; in diesem Falle wird auch die Produktion der Konsumtions- mittel der Kapitalisten teilweise aufhören und ein noch größerer Teil des gesellschaftlichen Produktes aus Produktionsmitteln be- Archiv für Sozialwissenschaft u. Sozialpolitik. I. ( A. f. so-*. G. u. St. XIX. > 1. 19

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stehen, welche zur weiteren Ausdehnung der Produktion dienen werden. Es wird z. B. Eisen und Kohle hergestellt, die zur immer größerer Vermehrung der Produktion von Eisen und Kohle dienen werden. Die erweiterte Produktion von Eisen und Kohle jedes folgenden Jahres wird die zugenommene Masse der im abgelaufenen Jahre hergestellten Produkte verbrauchen und so ad infinitum, bis der Vorrat an nötigen Mineralien erschöpft wird.

Das alles mag sehr seltsam klingen, ja vielleicht als größter Widersinn erscheinen. Vielleicht Wahrheit ist ja nicht immer eine leicht zu verstehende Sache; trotzdem bleibt sie Wahrheit. Als Wahrheit bezeichne ich natürlich nicht die ganz willkürliche und der Wirklichkeit nicht im mindesten entsprechende Annahme, daß die Ersetzung der Handarbeit durch maschinelle zur gewaltigen absoluten Abnahme der Arbeiterzahl führt (diese Voraussetzung hat mir nur gedient, um zu zeigen, daß selbst in der unsinnigsten Weise auf die Spitze getrieben, meine Theorie nicht abbricht), sondern den Satz, daß bei der proportionellen Einteilung der ge- sellschaftlichen Produktion kein Rückgang der gesellschaftlichen Konsumtion an sich imstande ist, ein überschüssiges Produkt zu erzeugen.1) Als Grundgesetz der kapitalistischen Entwicklung be- zeichne ich die ohne bestimmte Grenze immer weiter gehende Verringerung der Quote der gesellschaftlichen Konsumtion in der gesamten gesellschaftlichen Produktion, was, trotz Marx, kein die Existenz der kapitalistischen Wirtschaftsweise gefährdendes Moment in sich einschließt. Der relative Rückgang der Nachfrage nach Konsumtionsmitteln stört nicht den Verwertungsprozeß des Kapitals und kann also in keinem Falle den Zusammenbruch der kapita- listischen Wirtschaftsordnung und ihren Übergang in die sozia- listische erzwingen.

Die hier entwickelte Theorie des Verwertungsprozesses des Kapitals stimmt meines Erachtens überein mit den Ergebnissen der statistischen Untersuchung von Werner Sombart über die Bedeutung des inneren Marktes für die kapitalistische In- dustrie. Es wird nicht nur von Marxisten, sondern auch von vielen anderen Nationalökonomen fest geglaubt, daß die kapi- talistische Industrie immer mehr der äußeren Märkte für die

') Ob und in welchem Maße die Proportionalität der gesellschaftlichen Pro* duktion durch den Kapitalismus zu erreichen ist, das ist natürlich eine andere Frage, die ich in meinem Krisenbuch zu beantworten versucht habe.

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Der Zusammenbruch der kapitalistischen Wirtschaftsordnung usw.

Verwertung der stets anwachsenden Masse ihrer Produkte bedürfe. Der innere Markt sei nicht imstande, diese steigende Produktiv- masse zu verwerten. Nun hat Sombart nachgewiesen, daß für ein so ausgeprägt kapitalistisches Land wie Deutschland, gerade das Gegenteil richtig ist. Eine immer geringere Quote der Produkte der deutschen Industrie wird exportiert, während ein immer steigender Teil derselben einen lohnenden Absatz innerhalb des Landes findet. Von dem hier vertretenen Standpunkt ist es besonders lehrreich, daß der Entwicklungsgang verschiedener Industrien in dieser Hin- sicht sehr unähnlich ist. So ist die Mehrausfuhr von Eisenfabrikaten in dem Zeitraum 1880— 1900 von 29,3 Proz. auf 7,8 Proz. der ge- samten respektiven Produktion Deutschlands gesunken, die der Stein- kohlen von 1 1 Proz. auf 7,3 Proz. ') Viel unbedeutender ist das Fallen der Ausfuhrquote in der Textilindustrie. Der innere deutsche Markt dehnt sich also sehr rasch in bezug auf Kohle und Eisen aus, viel langsamer aber in bezug auf Kleidungsstücke. Warum r Weil die kapitalistische Entwicklung vorwiegend die Nachfrage nach Produktionsmitteln, nicht aber nach Konsumtionsmitteln er- zeugt.

Es ist übrigens eine allgemein bekannte Tatsache, daß die neueste kapitalistische Entwicklung durch eine höchst rasche Aus- dehnung solcher Produktionszweige, wie die Montanindustrie, che- mische Industrie, Maschinenindustrie u. a., deren Produkte in den menschlichen Konsum nicht eingehen, gekennzeichnet wird, während I^andwirtschaft, Textilindustrie u. a. unmittelbar dem menschlichen Konsum dienende Produktionszweige fast zu einem Stillstand ge- langt sind. Früher war die Baumwoll-, heute die Eisenindustrie die führende Industrie der kapitalistischen Welt.

Darauf wird u. a. auch von Kautsky in seiner Schrift gegen Bernstein hingewiesen. Aber Kautsky versteht die Ursache der ungeheuren Ausdehnung der Eisenindustrie in der neuesten Zeit nicht und äußert die Meinung, daß in naher Zeit die Eisen- industrie in die Lage der Textilindustrie, welche neuerdings fast keine Fortschritte aufzuweisen hat, geraten muß und dann würden wir mit dem Kapitalismus fertig sein. Nun beweist das hier ausge- führte, daß keine chronische Überproduktion die Eisenindustrie be- droht und daß in der künftigen Entwicklung der kapitalistischen

') Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im neunzehnten Jahrhundert. 1903. S. 430—431.

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Wirtschaft die Suprematie der Eisenindustrie immer mehr hervor- treten muß.

Konrad Schmidt unterscheidet zwei Arten von Nachfrage absolute und relative. Die Unterscheidung ist richtig, aber ihre Anwendung bei Schmidt verfehlt. Gewiß hat die Nachfrage des Kapitalisten nach Konsumtionsmitteln für seinen Gebrauch einen anderen ökonomischen Charakter, als die nach der Kohle fiir seine Dampfmaschine. Der Unterschied besteht darin, daß die unproduk- tive Konsumtion des Kapitalisten eine bloße Wertvernichtung ist und den abschließenden Akt des Verwertungsprozesses des Kapitals darstellt, während der produktive Verbrauch der Kohle deren Wert nicht vernichtet und ein Vermittlungsmoment in diesem Prozesse bildet. Darum können wir die erste Nachfrage als definitive, ab- solute, die zweite als relative bezeichnen, da die erste den objek- tiven Zweck der betreffenden Wirtschaft ausmacht, während die zweite ein bloßes Mittel zu diesem Zwecke ist.

Zu welcher Art der Nachfrage müssen wir aber die Nachfrage des Lohnarbeiters nach den Gegenständen seines Konsums zählen? Nach Schmidt ist sie eine absolute Nachfrage. Es ist aber klar, daß die Konsumtion des Arbeiters ebensowenig den Verwertungs- prozeß des Kapitals zum Abschluß bringt, wie das Verbrennen der Kohle im Ofen einer Dampfmaschine. Zwar verzehren die Arbeiter ihre Nahrung aber die Kohle wird in der Dampfmaschine nicht minder verbraucht. Bezeichnen wir aber die Nachfrage nach Kohle als eine relative Nachfrage so muß dasselbe auch für die Nach- frage des Arbeiters nach seinen Konsumtionsmitteln gelten, da die Konsumtion des Arbeiters ein Mittel der Verwertung des Kapitals ist, nicht aber deren objektiver Zweck.

Der Schein des absoluten Charakters der Nachfrage der Arbeiter nach ihren Konsumtionsmitteln wird dadurch erzeugt, daß diese von den Arbeitern selbst, auf ihre Rechnung gekauft werden, während die Produktionsmittel der Kapitalist kauft. Es ist jedoch vom Stand- punkte des Verwertungsprozesses des Kapitals ganz irrelevant, wer der Arbeiter oder der Kapitalist als Käufer auf dem Markte erscheint. Das vom Arbeiter verausgabte Geld bekommt er aller- dings vom Kapitalisten. Bei dem Naturallohn verschwindet sogar dieser Schein und der Arbeiter wird ganz ebenso auf Rechnung des Kapitalisten ernährt wie das Arbeitsvieh. Es ist wahrlich nicht zu verstehen, aus welchem Grunde wir den Roggen, den der kapita- listische Farmer seinem Arbeiter gibt, als einen Gegenstand der

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Der Zusammenbruch der kapitalistischen Wirtschaftsordnung usw.

absoluten Nachfrage betrachten sollen, während wir den Hafer, welchen derselbe Farmer seinem Pferde gibt, zu den Gegenständen der relativen Nachfrage zählen.

K a u t s k y versichert uns, daß „produzieren heißt Konsumtions- mittel Tür den menschlichen Gebrauch herstellen". In einem gewissen Sinne ist das richtig. Die Frage ist nur, ob jeder Mensch in jedem Wirtschaftssystem als Mensch, d. h. als Zweck der Wirtschaft fungiert. Ich habe oben darauf hingewiesen, daß das nur für die von mir als harmonische bezeichneten Wirtschaftssysteme, nicht aber für antagonistische gilt. In einer sozialistischen Wirtschaft ist es unmöglich, daß gesellschaftliche Wirtschaft nicht auf die Ver- mehrung, sondern auf die Verminderung der Masse der Gegenstände der menschlichen Konsumtion gerichtet wird. So etwas ist aber möglich und unter gewissen Bedingungen notwendig bei der kapitalistischen Wirtschaft; bildet doch nicht der Mensch überhaupt, sondern nur der kapitalbesitzende Mensch das Subjekt dieses Wirtschaftssystems, während der kapitallose, arbeitende Mensch ein bloßes Mittel dieser Wirtschaft, eine Form des gesellschaftlichen Kapitals (variables Kapital, nach der Marxschen Terminologie) ist.

Marx hat immer den bürgerlichen Nationalökonomen vorge- worfen, daß sie die kapitalistische Wirtschaft als Wirtschaft über- haupt betrachten. Nun ist er selbst gerade in denselben Fehler verfallen. Wirtschaft überhaupt kann keinen anderen Zweck als die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse verfolgen. Kapita- listische Wirtschaft vereitelt aber, bis zu einem gewissen Grade, diesen Zweck. Marx hat das eingesehen und zog den Schluß, daß ein innerer unlösbarer ökonomischer Widerspruch ein Wider- spruch mit den Gesetzen der kapitalistichen Verwertung selbst in der kapitalistischen Wirtschaftsweise verborgen ist, der ihr Be- stehen, als eines historischen Wirtschaftssystems, auf einer gewissen Stufe unmöglich machen muß. Diesen ökonomischen Widerspruch des Kapitalismus hat aber Marx nur darum gefunden, weil er dem kapitalistischen Wirtschaftssystem das zu der antagonistischen Wirtschaftsgruppe gehört die Ziele der harmonischen Wirtschaft, die gewöhnlich als Wirtschaft überhaupt gilt, zugeschrieben hat. Ist aber der antagonistische Charakter der kapitalistischen Wirtschaft in seinem ganzen Umfange erkannt, so verschwindet der von Marx aufgedeckte Widerspruch, da die kapitalistische Produktion, indem sie nicht auf die Vermehrung der menschlichen Konsumtion, sondern auf die Vermehrung des Kapitals gerichtet ist (was mit einer

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relativen Verringerung der menschlichen Konsumtion Hand in Hand geht), in keinen Widerspruch mit ihrem Prinzip gerät und keinen Schwierigkeiten der Verwertung ihrer Produkte entgegengeht.

II.

Mit der ersten Variante der Zusammenbruchstheorie sind wir fertig. Gehen wir zur anderen Variante zum „Gesetz des tendenziellen Fallens der Profitrate" über. Das Gesetz selbst ist höchst einfach und scheint mit logischer Notwendigkeit aus der Arbeitswerttheorie zu folgen. Der Profit wird nach dieser Theorie nur durch einen Teil des gesamten Kapitals durch das zur Lohnauszahlung bestimmte („variable") Kapital erzeugt, da der Profit ja nichts anderes als die vom Kapitalisten angeeignete Mehrarbeit ist. Steigt etwa der in Produktionsmitteln angelegte („konstante") Kapitalteil schneller als sein variabler Teil, so muß bei anderen gleichbleibenden Bedingungen die Profitrate sinken, da die Masse des gesamten Kapitals, durch welche man die Profit- masse dividieren muß, um die Profitrate zu bekommen, der Voraussetzung gemäß rascher wächst als die Profitmasse (deren Größe nur durch den variablen Teil des Kapitals bedingt wird).

Dieses relativ raschere Tempo des Anwachsens des in Pro- duktionsmitteln angelegten Kapitals betrachtet Marx mit vollem Recht als das Grundgesetz der kapitalistischen Entwicklung. Die Tendenz zum Fallen der Profitrate scheint also ebenfalls mit dieser Entwicklung aufs engste verknüpft zu sein. Auf dem Boden dieses tendenziellen Fallens der Profitrate entwickeln sich, nach Marx' Meinung, mannigfache Störungen der kapitalistischen Wirtschaft. Nimmt etwa die Zahl der in kapitalistischen Unternehmungen be- schäftigten Arbeiter nicht zu und sind die Kapitalisten nicht im- stande, den Ausbeutungsgrad der Arbeiter zu erhöhen, so vermag keine Zunahme des Kapitals die Profitmasse zu steigern. Es gibt also unter diesen Bedingungen keinen Platz in der Produktion für neue Kapitalien. Da aber die Kapitalakkumulation nicht aufhören kann, so fuhrt die Anlegung neuer Kapitalien, bei der Unmöglich- keit, die Masse des gesellschaftlichen Profits zu heben, zum Brach- liegen der in der Produktion schon angelegten Kapitalien und zur absoluten Überproduktion von Kapital.

Das Fallen der Profitrate bildet also eine Schranke der kapita- listischen Produktion; „diese eigentümliche Schranke bezeugt die Beschränktheit und den nur historischen, vorübergehenden Charakter

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Der Zusammenbruch der kapitalistischen Wirtschaftsordnung usw.

der kapitalistischen Produktionsweise: bezeugt, daß sie keine für die Produktion des Reichtums absolute Produktionsweise ist, viel- mehr mit seiner Fortentwicklung auf gewisser Stufe in Kon- flikt tritt". »)

In der ersten Variante der Theorie des notwendigen Zu- sammenbruchs der kapitalistischen Wirtschaftsordnung wird der Nachdruck auf das Mißverhältnis der kapitalistischen Produktion und der gesellschaftlichen Konsumtion gelegt; hier aber wird das Mißverhältnis der kapitalistischen Produktion und der Profitbildung betont. Wir wissen schon, wie völlig irreführend die erste Variante ist; dasselbe gilt auch für die zweite.

Es wäre leicht, die Unhaltbarkeit des vermeintlichen Marxschen Gesetzes vom Standpunkte einer anderen, als der Marxschen Wert- theorie — etwa der des Grenznutzens zu beweisen. Eine solche Beweisführung halte ich jedoch in diesem Falle nicht für zweckmäßig. Denn bildet das Marxsche Gesetz eine logische Folge der Arbeitswerttheorie, so ist es, wenigstens als Tendenz, als ein richtiges Gesetz anzuerkennen: werden doch durch jede Werttheorie die Arbeitskosten der Waren als ein höchst wichtiges Moment der realen Preisbildung anerkannt Es wird bestritten, welches Moment etwa Grenznutzen oder Arbeitskosten als ausschlaggebend in der Wertbildung zu betrachten ist. Aber kein ernsthafter Nationalökonom hat je bezweifelt, daß die Zunahme der Produktionskosten einer Ware eine Tendenz zur Steigerung ihres Preises, deren Abnahme aber die Tendenz zum Fallen des Preises erzeugt.

Ist dem so, so muß alle wirtschaftliche Gestaltung, die auf dem Boden der Entwicklung des Arbeitswertes notwendig entsteht, wenigstens als Tendenz auch in realer Preisentwicklung ihren Aus- druck finden. Darum kann das Marxsche Gesetz des tendenziellen Fallens der Profitrate nur dadurch auch als Tendenz als nicht existierendes endgültig nachgewiesen werden, daß seine Unverein- barkeit mit der Arbeitswerttheorie festgestellt wird.

Ich glaube das in meinem Krisenbuch schon geleistet zu haben. Da aber meine Beweisführung eine mathematische Form hatte und nur sehr wenige Nationalökonomen für die Mathematik eine Neigung haben, so ist es natürlich, daß meine Ausführungen von meinen Kritikern als „außerordentlich schwerfällig und verworren" bezeichnet

') K. Marx, Das Kapital. III 1 S. 223.

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und das mag ich hinzufügen von ihnen gar nicht verstanden wurden. Der eine von meinen Kritikern Konrad Schmidt gesteht das übrigens selbst zu. An diesem Platz werde ich ver- suchen, den nötigen Beweis in einer anderen Form zu liefern und zugleich das richtige Gesetz der Entwicklung der Profitrate auf- zudecken.

Zunächst ist die Aufgabestellung von Marx falsch. Man kann nicht sagen, welchen Einfluß auf die Profitrate das Fallen der Lohnquote des Kapitals haben muß, da dasselbe eine verschiedene Wirkung auf die Profitrate ausübt, je nach den Ursachen dieses Fallens. Es kann namentlich aus zwei Gründen erfolgen: I. aus einer Verringerung der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit und 2. aus deren Erhöhung. Beide Fälle sollen besonders unter- sucht werden, damit wir zu brauchbaren Resultaten gelangen.

Wir werden dazu dieselben schematischen Konstruktionen be- nutzen, deren Gültigkeit wir schon bei der Analyse der ersten Variante der Zusammenbruchstheorie genügend erkannt haben. Marx kommt zu seinem Gesetz auf sehr einfachem Wege. Er unterstellt, daß das konstante Kapital steigt, während das variable unverändert bleibt und die Profitrate muß sinken. Auf welche Weise aber die Zunahme des konstanten Kapitals erfolgt darüber schweigt er still, als ob dies zusätzliche Kapital vom Himmel herunterfiele. Wir werden aber den zu untersuchenden Prozeß in allen seinen Phasen, vom Anfang bis zum Abschluß analysieren. Seinen Anfang bildet offenkundig die Herstellung des zusätzlichen Sachkapitals ; sein Ende die gesellschaftliche Produktion auf neuer technischer Grundlage und unter neuen Verwertungsbedingungen.

Das nachfolgende Schema bezieht sich auf den ersten Fall der abnehmenden Lohnquote des Kapitals wenn diese Abnahme, welche mit der relativen Zunahme des Wertes des Sachkapitals gleichbedeutend ist, durch die Verringerung der Arbeitsproduktivität erfolgt. Ich unterstelle, daß etwa infolge einer Erschöpfung der Bergwerke und des Bodens, die Arbeitskosten der Gewinnung von Eisenerzen, Steinkohlen, Getreide und aller Rohstoffe bedeutend steigen, was zur Zunahme des Arbeitswerts der Produkteneinheit um 25 Proz. führe. Das zwingt die Kapitalisten, einen Teil ihres Profits auf die Erzeugung des seinen Produktionskosten nach angewachsenen Sach- und Lohnkapitals zu verwenden. Um der kapitalistischen Wirklichkeit näher zu treten, setze ich weiter voraus, daß die Zu- nahme des Arbeitswerts jeder Produkteneinheit (also auch der

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Konsumtionsmittel der Arbeiter) zum Rückgang der realen Löhne der Arbeiter (d. h. der Masse der Konsumtionsmittel, über welche der Arbeiter zu verfügen hat) um 10 Proz. führt. Die Arbeiterzahl bleibt, der Voraussetzung gemäß, unverändert Keine Kapitalakku- mulation findet statt, außer der durch die Zunahme des Wertes der Produktionsmittel und des Arbeitslohns erzwungenen. Alle Zahlen sind andere als im ersten Schema gewählt.

Reproduktion des gesellschaftlichen Kapitals bei Verringerung der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit.

Erste Phase.

I. Produktion der Produktionsmittel. 250 p+ 125 a -j- 125 r = 500.

II. Produktion der Konsumtionsmittel der Arbeiter. 1 1 2 »/, p 4" 561/* a -j- r = 225.

III. Produktion der Konsumtionsmittel der Kapitalisten. 37,/9P+i8«/4a-r-i8V = 75-

Zweite Phase. I. Produktion der Produktionsmittel. 277.8 P+ i25a + 97,2r=5oo.

II. Produktion der Konsumtionsmittel der Arbeiter. 1 25 p + 56,3 a + 43,7 r = 225.

III. Produktion der Konsumtionsmittel der Kapitalisten. 97.2 p + 43,7 a + 34,1 r= 175.

Die Einteilung der gesellschaftlichen Produktion ist in diesem Schema proportioneil alle hergestellten Waren finden Absatz. Die Verringerung der Arbeitsproduktivität findet in der ersten Phase statt Darum sind die Kapitalisten gezwungen, von 200 Mill. Mk. ihres gesamten Profits (125 -|- 56V4 -j- i88/4) nur 75 Mill. Mk. auf ihre eigene Konsumtion zu verwenden. Die übrigbleibenden 125 Mill. Mk. werden in Kapital verwandelt: das Steigen der Arbeitskosten der Produktionsmittel um 25 Proz. erheischt eine zusätzliche Kapitalausgabe für die Herstellung des Sachkapitals im Betrage von 100 Mill. Mk. (in der Produktion der ersten Phase waren als Sachkapital 250 -j- 11 21/« + 37 7a = 400 Mill. Mk.

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angelegt), und das ebenso große prozentuale Steigen des Wertes der Konsumtionsmittel der Arbeiter, gleichzeitig mit dem Sinken der Reallöhne um 10 Proz., führt zur Erhöhung des Lohnkapitals um 25 Mill. Mk. (das Lohnkapital der ersten Phase ist 125 -|- 56 V4 -|- i88/4 = 200 Mill. Mk.; hätten die Arbeiter auch nach der Zunahme des Arbeitswertes ihrer Konsumtionsmittel dieselbe Masse davon erhalten, so wäre das Lohnkapital bis auf 250 Mill. Mk. gestiegen; da aber die realen Löhne der Arbeiter, unserer Voraussetzung ge- mäß, um 10 Proz. fallen, so beziffert sich das Lohnkapital in der zweiten Phase auf 225 Mill. Mk.)

Die zweite Phase stellt die gesellschaftliche Produktion nach der stattgefundenen Verringerung der Arbeitsproduktivität dar. Der Wert des in der zweiten Phase hergestellten gesellschaftlichen Produktes muß den der ersten Phase um 100 Mill. Mk. übersteigen, da die Zahl der in der zweiten Phase beschäftigten Arbeiter der in der ersten gleich ist, aber der Wert der in der Produktion der zweiten Phase angelegten Produktionsmittel um 100 Mill. Mk. zu- genommen hat (dieser Wert muß, der Arbeitswerttheorie gemäß, im Werte des hergestellten Produktes unverändert erscheinen). Der gesamte Produktenwert der zweiten Phase beträgt also 9CO Mill. Mk. (800 der Wert des gesellschaftlichen Produktes der ersten Phase, + IOO die Zunahme des Wertes der Produktionsmittel der zweiten Phase). Der Wert des gesamten Kapitals derselben Phase ist (277,8 -j- 125 + 97 >2) = 500 Mill. Mk. Sachkapital +(125 + 56,3 -f 43,7) = 225 Mill. Mk. Lohnkapital 725 Mill. Mk. Der Profit der zweiten Phase ist 900 725 = 175 Mill. Mk.

200

Die Profitrate der ersten Phase war = 33,3 Proz., die der 175

zweiten - == 24, 1 Proz. Sie ist also, trotz des Rückganges 725

der Reallöhne, bedeutend gesunken.

Wrir haben also den von Marx untersuchten Fall der Ver- ringerung der Profitrate vor uns. Bin ich etwa dazu gelangt, das Marxsche Gesetz begründet zu haben, anstatt es zu widerlegen?

Es ist gewiß nicht zu bestreiten, daß unter gewissen Bedingungen die Erhöhung der Zusammensetzung des gesellschaftlichen Kapitals zum Fallen der Profitrate fuhren muß. Welche sind aber diese Be- dingungen ? Das untersuchte Schema bezieht sich auf den Fall der Abnahme der Lohnquote des gesellschaftlichen Kapitals infolge Verringerung der Arbeitsproduktivität ; die Erhöhung der Zusammen-

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Der Zusammenbruch der kapitalistischen Wirtschaftsordnung usw.

Setzung des gesellschaftlichen Kapitals kann aber auch auf anderem Wege geschehen namentlich durch die Erhöhung der Arbeits- produktivität. Die Verbesserung der Technik führt zur Vergröße- rung des stehenden Kapitals (Maschinen, Werkzeuge u. a.), das in der Produktion angelegt wird; da aber die Erhöhung der Arbeits- produktivität in der Zunahme der Masse des durch den ein- zelnen Arbeiter verarbeiteten Rohmaterials ihren Ausdruck findet, so wird aus diesem Grunde auch das umlaufende Kapital im Ver- gleich mit dem Lohnkapital wachsen und das Lohnkapital wird zu einer immer kleinerer Quote des gesamten gesellschaftlichen Kapitals.

Auch diesen zweiten Fall der Erhöhung der Zusammensetzung des gesellschaftlichen Kapitals werde ich mit Hilfe meiner Schemata analysieren. Der Prozeß beginnt offenkundig mit der Herstellung der zusätzlichen Produktionsmittel. Seine zweite Phase (welche, übrigens nur theoretisch von der dritten abzusondern ist, in der Wirklichkeit aber mit dieser letzten zusammenfallt), besteht in dem produktiven Verbrauch der erzeugten zusätzlichen Produktionsmittel. In der dritten Phase kommt der Prozeß zum Abschluß: die hin- zugenommene Masse der hergestellten Produkte ist in die gesell- schaftliche Produktion und Konsumtion eingegangen, die Produkten- werte sind entsprechend den neuen Produktionsbedingungen ge- sunken und die gesellschaftliche Produktion gestaltet sich auf einer neuen technischen Grundlage.

Bei der Konstruktion des nachfolgenden Schemas habe ich an- genommen, daß die Kapitalisten die Hälfte ihres Profits einmal auf die Herstellung neuer zusätzlicher Produktionsmittel verwendet haben, dann aber wieder ihren gesamten Profit unproduktiv kon- sumieren. Die Arbeiterzahl verändert sich nicht. Es wird unter- stellt, daß die Einfuhrung neuer Produktionsmethoden die Arbeits- produktivität um 25 Proz. erhöht (d. h. um so viel nimmt die Masse des gesellschaftlichen Produktes zu). Zugleich setze ich voraus, um nicht als Anhänger des „ehernen Lohngesetzes" zu er- scheinen, daß aus der Zunahme der Arbeitsproduktivität auch die Arbeiter profitieren: ihre realen Löhne steigen um 10 Proz. In seiner Begründung des Gesetzes der fallenden Profitrate geht Marx von der Voraussetzung der Unveränderlichkeit der realen Löhne der Arbeiter aus. Meine Annahme muß also das Marxsche Gesetz noch schärfer hervortreten lassen.

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Reproduktion des gesellschaftlichen Kapitals bei Erhöhung der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit.

Erste Phase. I. Produktion der Produktionsmittel. 25°P+ I25a+ I25r = 500.

II. Produktion der Konsumtionsmittel der Arbeiter. 100 p -f- 50 a -f- 50 r = 200.

III. Produktion der Konsumtionsmittel der Kapitalisten. 50p -f- 25 a+ 25 r= 100.

Zweite Phase.

I. Produktion der Produktionsmittel. 222,2 p 88,9 a -f- 88,9 r = 400.

II. Produktion der Konsumtionsmittel der Arbeiter. 97.8 p-f 39,1 a + 39,1 r= 176. III. Produktion der Konsumtionsmittel der Kapitalisten. 1 80 p -)- 72 a -}- 72 r = 324.

Dritte Phase.

I. Produktion der Produktionsmittel. I77.8p-f-78i2a-}- 144^400.

II. Produktion der Konsumtionsmittel der Arbeiter. 78,2 p + 34,4 a + 63,4 r = 1 76.

III. Produktion der Konsumtionsmittel der Kapitalisten. 144 p + 63,4 a -+- 1 16,6 r= 324.

Die Einteilung der gesellschaftlichen Produktion ist in allen drei Phasen proportionell. Die erste Phase schließt mit der Her- stellung neuer zusätzlicher Produktionsmittel für den Betrag von 100 Mill. Mk (die Hälfte des gesamten Profits dieser Phase, welcher 1254-504-25, also 200 Mill. Mk. beträgt). In der zweiten Phase wird die auf diese Weise um den Wert von 100 Mill. Mk. er- höhte Masse der Produktionsmittel in der Produktion angelegt. In der dritten Phase ändern sich die Wertverhältnisse des Sach- und Lohnkapitals und des Profits entsprechend den neuen Produk- tionsbedingungen.

Der Zusammenbruch der kapitalistischen Wirtschaftsordnung usw. ßoi

Am Ende der zweiten Phase ist eine größere Produktenmasse her- gestellt. Die Erhöhung der Arbeitsproduktivität, der Voraussetzung gemäß um 1jv ist gleichbedeutend mit einem Fallen des Arbeits- werts der Produkteneinheit um Die Masse der am Ende der ersten Phase hergestellten Produktionsmittel bleibt auch in der dritten Phase unverändert (da das zusatzliche, durch die Erhöhung der Arbeitsproduktivität erzeugte Produkt nicht akkumuliert wird, sondern dem Konsumtionsfonds der Gesellschaft zufließt) ; der Wert dieser Masse in der zweiten Phase ist gleich 500 Mill. Mk. Nun muß dieser Wert in der dritten Phase, infolge des Fallens des Arbeits- werts einer Einheit des Produktes um bis auf 400 Mill. Mk. sinken. Der Wert des Lohnkapitals war in der ersten Phase gleich 200 Mill. Mk. In der dritten Phase ist die Arbeiterzahl unver- ändert geblieben. Verfügten die Arbeiter über dieselbe Masse der Konsumtionsmittel, so müßte der Wert der letzten (also das Lohn- kapital) um 1/5 abnehmen also auf 160 Mill. Mk. sich beziffern. Da aber die Reallöhne der Arbeiter in der dritten Phase um 10 Proz. gestiegen sind, so beträgt das Lohnkapital der dritten Phase

160 X = 176 Mill. Mk. N 10 '

Der Wert des gesamten gesellschaftlichen Produktes der dritten Phase muß um 100 Mill. Mk. denjenigen der ersten überschreiten, da diese 100 Mill. den Wert der zusätzlichen Produktionsmittel darstellen, und wird sich folglich auf 900 Mill. Mk. beziffern.

Das Kapital der dritten Phase ist 400 (Sachkapital) -|- (Lohnkapital), also 576 Mill. Mk. Den Profit der Kapitalisten bekommen wir, indem wir von dem Werte des gesamten Pro- duktes den des Kapitals abziehen. Der Profit der dritten Phase betragt folglich 900 576 = 324 Mill. Mk. Die Profitrate vor der Einführung neuer Produktionsmethoden war 33 1 3 Prozent

(000)' ^etzt *st s'e *^ ^roz* (570) ^at a'so' trotz ^es ^te'Sens

der Reallöhne der Arbeiter, bedeutend zugenommen, was dadurch möglich wurde, daß die Erhöhung der Arbeitsproduktivität zum Sinken des Arbeitswerts des Sach- und Lohnkapitals und zum Steigen der Mehrwertsrate von 100 auf 184 Proz. geführt hat.

Wir sehen, daß das Fallen der Lohnquote des gesellschaftlichen Kapitals eine entgegengesetzte Wirkung auf die Profitrate ausübt, je nach der Ursache dieses Fallens: nimmt der Wert des in den Produktionsmitteln verkörperten Kapitals infolge der Ver-

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ringcrung der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit zu, so sinkt die Profitrate; sie steigt aber, falls die relative Zunahme des Sachkapitals auf Kosten des Lohnkapitals durch die Erhöhung der Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit hervorgerufen wird. Es ist übrigens klar, daß es gegen alle Wirtschaftsgesetze wäre, wenn solche entgegengesetzte wirtschaftliche Momente, wie der Rückgang und die Zunahme der Arbeitsproduktivität, dieselbe Wirkung auf die Profitrate ausübten.

Welchen Fall aber den der Verringerung oder den der Er- höhung der Arbeitsproduktivität wollte Marx untersuchen ? Offen- bar den zweiten, da nur der zweite Fall der kapitalistischen Wirk- lichkeit entspricht. So sagt Marx, daß die relative Abnahme des variablen Kapitals im Verhältnis zum konstanten „nur ein anderer Ausdruck für die fortschreitende Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit ist, die sich gerade darin zeigt, daß ver- jnittels der wachsenden Anwendung der Maschinerie und fixem Kapital überhaupt mehr Roh- und Hilfsstoffe von derselben Anzahl Arbeitern in derselben Zeit, d. h. mit weniger Arbeit in Produkte verwandelt werden." *) Den Einfluß dieses Momentes auf die Profitrate wollte Marx bestimmen. Es ist ihm aber ein wunder- bares Qui pro quo begegnet. Statt den Einfluß der Erhöhung der Arbeitsproduktivität auf die Profitrate einer eingehenden Analyse zu unterwerfen, hat er den entgegengesetzten Fall den der Ver- ringerung der Arbeitsproduktivität untersucht und ist auf diese Weise zu seinem Gesetz der fallenden Profitrate gelangt. Das hier ausgeführte beweist aber, daß dies nicht nur kein wahres Gesetz ist, sondern daß sein gerades Gegenteil wahr ist: „die fort- schreitende Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit" erzeugt eine Tendenz nicht zum Fallen, sondern zum Steigen der Profitrate.

Dieses letzte Gesetz ist als T e n d e n z ein nicht zu bestreitendes höchst wichtiges Moment der kapitalistischen Entwicklung. Aber nur als Tendenz, deren Wirkung andere Gegentendenzen durch- kreuzen und aufheben.

Unter diesen Gegentendenzen mögen folgende hervorgehoben werden :

i. die Verlängerung der Umschlagszeit des gesellschaftlichen Kapitals. Alle Ersetzung der Handarbeit durch maschinelle hat die

>) K. Marx, Das Kapital. IUI S. 192.

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Tendenz die Quote des stehenden Kapitals auf Kosten des um- laufenden zu vergrößern also die Umschlagbewegung des Ka- pitals zu verlangsamen. Andrerseits haben die intensivere Aus- nutzung des stehenden Kapitals, Beschleunigung des Transports und arbeitszeitersparende Verbesserungen der Technik die Tendenz zur Verkürzung der Umschlagszeit des gesellschaftlichen Kapitals. Wir haben also zwei Momente vor uns, die in enteeeeneresetzter Richtung die Umschlagsbewegung des Kapitals beeinflussen. Es scheint jedoch, daß das erste Moment eine größere Wirkung aus- übt und die Umschlagsbewegung des gesellschaftlichen Kapitals im großen und ganzen länger wird, was als ein mächtiges, dem Steigen der Profitrate entgegenwirkendes Moment zu be- trachten ist;

2. die Verkürzung des Arbeitstages;

3. das Steigen der realen Löhne der in der kapitalistischen Industrie beschäftigten Arbeiter. Wir haben gesehen, daß dies 4 Steigen sehr bedeutend sein muß, um die Tendenz zum Steigen der Profitrate aufzuheben. Es ist aber wahrscheinlich, daß das Steigen der realen Löhne der Arbeiter, die in den kapitalistischen Großbetrieben (wo die Erhöhung der Zusammensetzung des Kapitals am schlagendsten zum Ausdruck kommt) beschäftigt sind, in der neuesten Zeit stark genug war, um gegen die steigende Tendenz der Profitrate wirksam zu reagieren;

4. das Steigen anderer Formen der Rente auf Kosten des Profits; so die ungeheure Zunahme der Rente aus dem städtischen Grundeigentum ;

5. das Steigen der Quote, die vom Staate aus dem Profit der Kapitalisten für seine Bedürfnisse durch Vermittlung der Steuer weggenommen wird.

Alle diese Gegentendenzen heben die Tendenz zur Steigerung der Profitrate infolge der Erhöhung der Arbeitsproduktivität ganz oder teilweise auf. Die Tendenz selbst aber muß bleiben, da sie nichts ist als ein spezifisch kapitalistischer Ausdruck für die Ver- mehrung des Mehrproduktes, über welches die Gesellschaft verfügt.

III.

Die zweite Variante der Zusammenbruchstheorie hat sich also als ebenso unhaltbar erwiesen wie die erste. Die gesamte Theorie ist unbedingt zu verwerfen. Die kapitalistische Wirtschaft schließt

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Michael Tugan-Barano wsky,

in sich keine Momente, welche sie auf einer gewissen Stufe etwa unmöglich machen könnten. Engels meinte in den vierziger Jahren des abgelaufenen Jahrhunderts, daß die Grenzen der kapita- listischen Entwicklung, wegen Mangels an neuen Märkten, beinahe erreicht seien und daß die kapitalistische Produktion künftig in langsamerem Tempo sich ausdehnen müsse. Das war offenkundig eine höchst unglückliche Prophezeiung. Die kapitalistische Produk- tion hat seitdem eine ungeheure Ausdehnung erfahren und das hat zu keinen neuen Schwierigkeiten im Verwertungsprozesse des Kapitals geführt. Der Markt für die kolossal angewachsene Masse der Produkte der kapitalistischen Industrie war durch diese selbst geschaffen.

Trotzdem versichert uns neustens der hervorragendste lebende Theoretiker der Marxschen Schule, daß wir heute von der letzten Grenze der Ausdehnung der kapitalistischen Produktion nicht ferne sind und daß es bald unmöglich sein wird, das Kapital zu ver- werten. Kann der geringste Zweifel obwalten, daß die Prophe- zeiung von Kautsky nicht glücklicher sich erweisen wird, als es mit der von Engels der Fall war? Die richtige nationalökonomische Theorie kann nur eines aber mit vollkommener Sicherheit vorhersagen: daß der Kapitalismus allerdings nicht aus Mangel an Märkten je zusammenbrechen wird.

Damit will ich nicht behaupten, daß der Kapitalismus auf unbeschränkte Lebensdauer rechnen kann. Die sozialistische Wirt- schaftsordnung scheint mir vielmehr ein legitimer Erbe der kapita- listischen zu sein. Die Voraussetzung einer ökonomischen Zwangs- lage, die den Kapitalismus sprengen und dem neuen Wirtschafts- system freien Platz machen wird, halte ich selbstverständlich für ausgeschlossen. Aber ich anerkenne das Vorandensein im kapita- listischen Wirtschaftssystem eines unlösbaren inneren Widerspruchs, an dem es mit eherner (obschon nicht ökonomischer) Notwendig- keit zugrunde gehen muß. Dieser Widerspruch besteht darin, daß die kapitalistische Wirtschaft aus dem arbeitenden Menschen, welcher ein Selbstzweck ist, ein bloßes wirtschaftliches Mittel macht. Das ist also der Widerspruch des fundamentalen ökonomischen Prin- zips des Kapitalismus mit der fundamentalen ethischen Norm, welche lautet: „der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum be- liebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auf andere vernünftige Wesen

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Der Zusammenbruch der kapitalistischen Wirtschaftsordnung usw. 305

gerichteten Handlungen zugleich als Zweck betrachtet werden". *) Die vorhergehenden Ausführungen haben gezeigt, daß der Kapi- talismus, seinem innersten Wesen nach, gegen diese höchste ethische Norm verstößt Die Marxsche Schule beurteilte den Kapitalismus zu günstig; sie glaubte, daß auch die kapitalistische Wirtschaft ge- zwungen sei, den arbeitenden Menschen und seine Konsumtion als einen ihrer Zwecke zu betrachten. Tut sie das nicht, so bricht sie zusammen infolge der Unmöglichkeit das Kapital zu verwerten. Diese Auffassung beruht aber auf völliger Verkennung der wahren Verwertungsgesetze des Kapitals. Der Rückgang der gesellschaft- lichen Konsumtion bei der gleichzeitigen Ausdehnung der gesell- schaftlichen Produktion ist vom kapitalistischen Standpunkte kein ökonomischer Widerspruch, da die kapitalistische Wirtschaft nicht der Deckung des gesellschaftlichen Bedarfs, sondern der Verwertung des Kapitals, welche keiner menschlichen Konsumtion bedarf, un- mittelbar dient. Das Kapital bedarf des Menschen nicht als des einzigen vernünftigen Zwecks der Wirtschaft, sondern als des wichtigsten Wirtschaftsmittels. Die mächtigste vom Menschen in seinem Streite mit der Natur geschmiedete wirtschaftliche Waffe das Kapital kehrt sich also gegen den Menschen selbst.

Die ökonomische Entwicklung verbreitet in immer weiteren Bevölkerungsschichten das Bewußtsein dieser Sachlage und schafft die Mittel zu ihrer Beseitigung. Das neue soziale Ideal wird zu einer immer größeren gesellschaftlichen Macht „Die ,Idee' blamierte sich immer, soweit sie von dem Interesse unterschieden war" hat einmal Marx gesagt Das ist richtig. Aber derselbe Marx hat sich auch anders geäußert „Nur im Namen der all- gemeinen Rechte der Gesellschaft kann eine besondere Klasse sich die allgemeine Herrschaft vindizieren" bemerkte er in bezug auf die befreiende Rolle des Proletariats in der bevorstehenden sozialen Umgestaltung. Das zweite ist ebenso richtig wie das erste. Ein soziales Ideal kann nur dann siegen, wenn es zugleich den Interessen mächtiger sozialer Gruppen und dem allgemeinen moralischen Bewußtsein entspricht Dann aber muß es siegen. Nun besitzt das sozialistische Ideal diese beiden Eigenschaften. Es entspricht den Interessen der Arbeiterklassen der großen Mehrzahl der Bevölkerung und ist zugleich als die fundamentalste Forde-

') Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten. Herausg. von Kirchmann. 1897. S. 52.

ArchW für SoxUlwiMeiuchaft u. Soiialpolitik. I. ( A. f. wr. G. u. St. XIX.) 2. 20

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Michael Tugan-Barano wsky , Der Zusammenbruch usw.

rung des Naturrechts zu betrachten. „Das angeborene Recht ist nur ein einziges" hat der größte Denker der Neuzeit gesagt, und „Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Ge- setz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht" *) Der Kapitalismus vereitelt dieses ursprünglichste Menschenrecht; drum muß er einer besseren und gerechteren Gesellschaftsordnung Platz machen. Die Menschheit wird aber den Sozialismus nie als ein Geschenk blinder, elementarer ökonomischer Kräfte erhalten, sondern muß die neue Gesellschaftsordnung zielbewußt erarbeiten und erkämpfen.

') Kant, Metaphysik der Sitten. Herausg. von Kirchmann. 1870. S. 40.

307

Die Bedeutung der Haushaltungsbudgets für die Beurteilung des Ernährungsproblems.

Von

Dr. FRITZ KESTNER

in Halle a. S.

Einleitung.

Durch die Aufnahme von Haushaltungsbudgets und die sich daran knüpfenden umfangreichen Erörterungen ist die Lehre von der Konsumtion und Distribution wesentlich bereichert, sind unsere Kenntnisse über Ernährung, Wohnung und sonstige Lebenshaltung, insbesondere der minderbemittelten Klassen erweitert, sind unserer sozialpolitischen Gesetzgebung wichtige Unterlagen gegeben worden. Es liegt nahe, weiter zu gehen und die verschiedenen Budgets einer Vergleichung zu unterziehen, um auf diese Weise Aufschluß zu er- halten über die Lebenshaltung in verschiedenen Ständen, Berufs- klassen und Vermögensschichten. Dies ist, besonders in letzter Zeit, bezüglich der Ernährungsweise vielfach geschehen. Die Auf- gabe dieser Abhandlung soll es sein, festzustellen, was wir für die Ernährungsfragen aus den Haushaltungsbudgets erfahren können, und, was vielleicht wichtiger ist, nach der negativen Seite hin ab- zugrenzen, worüber uns dieselben keinen Aufschluß geben können.1)

l) Als Grundlagen der Untersuchung sind dabei im wesentlichen folgende Haushaltungsbudgets benutzt worden:

Von älteren, zunächst die von Ducpetieux 1853 in Belgien aufgenommenen Budgets von Arbeitern aller Berufe und Lohnklassen und auch einiger wohlhabender Familien, in der für die ganze Frage grundlegenden genialen Bearbeitung durch Ernst Engel (Ztschr. des sächsischen Statist. Bureaus Nr. 8 u. 9, 22. Nov. 1857), wieder abgedruckt und erneut bearbeitet als „Die Lebenskosten belgischer Arbeiter- familien früher und jetzt" (Dresden C. Heinrich 1895). ('•) Sodann die berühmten

20*

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3o8

Fritz Kestncr,

Es handelt sich bei den bisher vorliegenden brauchbaren Budgets in der Mehrzahl um industrielle städtische Arbeiter. Für landwirt-

Familienmonograpbien von L c Play and seinen Schülern, herausgegeben unter dem Namen „Les ouvriere Europeens"*) und „Les ouvriers de dcux mondes".**) (2.) Weiter aus dem letzten Drittel des Jahrhunderts:

Die belgische Enquete vom April 1891 Fabrikarbeiter aller Art in Engels Bearbeitung von 1895.

Singer, Untersuchungen über die sozialen Zustände in den Fabrikbezirken des nördlichen Böhmens: Arbeiter einer Baumwollspinnerei, in Grotjahns Bearbeitung. Ganz schlecht gelohnte Arbeiter.

Ball in, Der Haushalt der arbeilenden Klassen. Berlin 1883. Mehrere Familien des Arbeiter- und des Mittelstandes in Berlin. (3.)

Dehn, Deutsche Haushaltungsbudgets. Annalen des Deutschen Reichs. 1879 bis 1881. 10 Mülhausener und einige andere süddeutsche und Berliner Arbeiter- familien. (4.)

Hampke, Das Ausgabebudget der Privatwirtschaften, Jena 1888. 7 Budgets von Familien verschiedener Einkommenshöbe in Halle a. S. (5.)

Schnapper-Arndt, 5 Dorfgemeinden auf dem hohen Taunus. Schmollers st.- u. sozialwissensch. Forschungen. Bd. IV, 1883: l Chausseearbeiter und 1 Nagel- schmied. Derselbe, 1 Ubrschildmacber im badischen Schwarzwald 1878. Ztschr. für die ges. Staatswisssch., 1880. Alle drei mit sehr geringem Einkommen. (6.)

Landolt, 10 Baseler Arbeiterhaushaltungen. Ztschr. für Schweiz. Statistik 1891. Davon 5 arme, 3 mittel- und 2 relativ wohlsituierte. (7.)

Fl esc h, Frankfurter Arbeiterbudgets (3) 1890. (8.)

Woerishoffer, Die soziale Lage der Zigarrenarbeiter im Großherzogtum Baden, 1889. 15 Budgets. Arm. (9.)

Woerishoffer, Die soziale Lage der Fabrikarbeiter in Mannheim und dessen nächster Umgebung. 189t. 10 Arbeiter. Nicht ganz arm. (10.)

v. Rechenberg, Die Ernährung der Handweber in der Amtshauptmannschaft Zittau. 1890. 28 Weber. Ganz arm. (11).

Kuhna, Die Ernährungs Verhältnisse der industriellen Arbeiterbevölkerung in Oberscblesien 1891 1892. 100 Arbeiter verschiedenster Lohnschichten. (12.)

F u c h s , Die soziale Lage der Pforzheimer Bijouteriearbeiter. 1901. 1 Kabinett» meister und 16 meist besser situierte Arbeiter. (13.)

Hof mann, Zwei Haushaltungsbudgets aus dem Kanton Thurgau. Zeitschr. für Schweiz. Statistik 1892. 2 Mittelstandsfamilicn. (14.)

M. May, Wie der Arbeiter lebt Berlin 1897. südwestdeutsche Arbeiter- familien aus verschiedenen Schichten. (15.)

Arbeitersekretariat Nürnberg: Haushaltungsrechnungen Nürnberger Arbeiter (44) herausgegeben von Adolf Braun, Nürnberg. 1901. Gut gelohnte Arbeiter. (16.) Ferner auch noch:

*) Im folgenden immer abgekürzt mit O. E. Abgekürzt mit o. d. d. m.

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Die Bedeutung d. Haushaltungsbudgets f. d. Beurteilung d. Ernährungsproblems. 309

schaftliche Arbeiter und wohlhabendere Personen fließen die Quellen spärlicher. Es ist aus verschiedenen Gründen äußerst schwer, genaue Budgets der ländlichen Bevölkerung aufzunehmen, die sich zur Vergleichung mit städtischen eigneten. Sie stehen größten- teils unter dem Zeichen wirtschaftlicher Gebundenheit. Ausgaben für Wohnung kann man meißtenteils nur mit Schätzungen ein- setzen; denn die Wohnung ist entweder Eigentum oder wird vom Arbeitgeber geliefert. Die verzehrten Nahrungsmittel richtig zu be- messen bietet große Schwierigkeiten, wo dieselben selbst gewonnen oder als Teil des Lohnes geliefert, jedenfalls nicht gekauft werden. Ebenso fehlt es sehr an brauchbaren Budgets der wohlhabenden Klassen. Die Führer der Haushaltsbücher gestatten nur ungern die Veröffentlichung, weil sie befürchten, an der Individualität ihrer Ausgaben von anderen erkannt zu werden, so daß der Schleier der Anonymität zerrisse. Vor allem aber fällt es äußerst schwer, typische Budgets zu erhalten, um so schwerer, je weiteren Spiel- raum das freie Einkommen den Neigungen seiner Besitzer läßt.

Will man nun eine Vergleichung dieser verschiedenen Budgets aufstellen, so muß zunächst betont werden, daß dies vom Stand-

v. d. Goltz, Die Lage der ländlichen Arbeiter im Deutschen Reich, Bericht usw. 1875. S. 486. Detaillierbare Budgets von ländlichen Arbeiterfamilien in Ost- preußen und Wernigerode.

Hemer eine Reihe anderer, jedesmal aufzuführender Einzelbudgets.

Von den Bearbeitungen dieser Budgets sind hervorzuheben, außer den bereits angeführten Abhandlungen, folgende Aufsätze und Vorträge Engels:

Engel, Der Kostenwert des Menschen. 1883. Volkswirtsch. Zeitsch., Heft 37. 38.

Engel, Das Rechnungsbuch der deutschen Hausfrau. Volkswirtsch. Ztschr. Heft 24.

Engel, Preis der Arbeit bei den preußischen Eisenbahnen. Ztschr. des pr. stat. Bureaus. 1874. I.

Ferner die schon zitierte Arbeit Hampkes, dann „Die Haushaltung der arbeitenden Klassen" von Gr über, Jena 1887 und vor allem Grotjahn, „Über Wandlungen in der Volksernährung", Schmollers Staats- und sozialwiss. For- schungen XX, 2. 1902, dessen vergleichende Zusammenstellung erst diese Arbeit ermöglicht hat, dessen Schlußfolgerungen jedoch auch den Anlaß zu der im zweiten Teil dieses Aufsatzes geübten Kritik gegeben haben.

Endlich habe ich auch an einigen Punkten Haushaltungsbudgets*) benutzen können, die ich seit *'« Jahren in Leipzig-Ostheim (einem Komplex von Arbeiter- wohnungen) aufnahm.

•) Im folgenden wird Haushaltungsbudgets immer mit HHB. abgekürzt.

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ßio Fritr Kestner,

punkt strenger Methodik ein 'Unding ist. Denn die HHB. sind alle auf ganz verschiedene Weise zu stände gekommen : die einen aus ein- oder mehrjährig geführten Aufzeichnungen (so die von Ducpetiaux, Landolt, May, Hofmann, Braun, Hampke, teilweise auch von Le Play und seinen Schülern), die anderen auf Grund von Budgets, die kurze Zeit geführt und dann multipliziert worden sind (so von Dehn, Ballin, v. d. Goltz, Singer, sowie die belgische Enquete von 1891), die dritten wieder nicht auf Grund von Haus- haltsbüchern, sondern auf Grund eigener Erhebungen (so Kuhna, Schnapper - Arndt). Wie HHB. am besten aufzustellen und zu berechnen sind, darüber besteht eine besondere methodische Literatur. l)

Wollte man nun nur die Budgets vergleichen, die auf Grund derselben Methode zustande gekommen sind, so müßte von vorn- herein jeder Versuch aufgegeben werden. Will man einen solchen aber wagen, so muß man die methodischen Widrigkeiten mit in Kauf nehmen und nur die offenbar unrichtigen HHB. ausschalten. Betont sei nur, daß die Erhebungen für kürzere Zeit, speziell bei der Nahrung, geringeren Bedenken unterliegen, als etwa bei Kleidung, Wohnung, Beleuchtung, Ausgaben, die weniger regelmäßig wieder- kehren und auch von der Jahreszeit abhängiger sind.

Aber selbst innerhalb dieser weitgezogenen Grenzen stößt die Vergleichung auf große Schwierigkeiten, weil gemeinsame Maße fehlen. Man kann nicht eine Familie mit 6 Kindern vergleichen einer mit 2, Unverheiratete nicht mit Eheleuten. Daher dürfte man eigentlich nur Familien mit ähnlicher, wenn nicht v gleicher, Kopfzahl und Alterszusammensetzung gegenüberstellen. Dann würden aber die ohnehin spärlichen Budgets auf ein Minimum zusammenschrumpfen und „Typen" ließen sich gar nicht mehr herausfinden. Um die Vergleiche weiter ausdehnen zu können, hat Engel einen Notbehelf angegeben. Er nahm an, daß ein neu- geborenes Kind 1 brauche, dann jedes Jahr um 0,1 mehr, bis der Mann mit 25 Jahren das Maximum = 3,5, die Frau mit 20 Jahren = 3,0 erreiche. Die I wird (nach Quetelct) Quet genannt.9) Kennt man das Alter der einzelnen Glieder, so kann man jede Familie in Quets umrechnen.

') Am instruktivsten die Abhandlungen von Landolt in der Ztschr. für Schwei«. Statistik 1894, 473 (Kongreß-Debatte) und Schnapper-Arndt, zur Geschichte und Kritik der Privatwirtschaftsstatistik. Bull, de l'institut internat. de statistique Ed. 2.

f) Die nähere Begründung dieser Rechnung bei Engel (s. S. 469I

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Die Bedeutung d. Haushaltungsbudgets f. d. Beurteilung d. Ernäbruugsproblems. ^ 1 1

Diese Methode ist im allgemeinen anerkannt worden, wenn auch vereinzelt mit Modifikationen, Engel selbst hat sie für die belgischen Erhebungen von 1853 und 1891 angewandt und neuer- dings hat sich G r o t j a h n der Mühe unterzogen, diejenigen zu- verlässigen Budgets, die Gewichtsangaben für Nahrung enthalten, auf dasselbe gemeinsame Maß zu bringen. Als solches wählt er 3,5 Quets, das sind die Einheiten des ausgewachsenen Mannes. Ich berücksichtige daneben auch die Budgets, die nur die Ausgaben enthalten, da sich aus diesen wenigstens das Verhältnis der einzelnen Klassen schon erkennen läßt ; auch ist auf die Quantitäten allein nicht der Hauptwert zu legen. Die Nürnberger HHB. habe ich auf Grund der mir von Dr. Adolf Braun freundlichst zur Verfugung ge- stellten Angaben über das Alter der Kinder in Quets umgerechnet.1) Dabei ist aber zu betonen, daß es sich bei diesen Maßen immer nur um einen Notbehelf handelt und daß man wirklich exakte Ver- gleiche weder aus dieser, noch aus anderen Methoden gewinnen kann.

I. Abschnitt.

Von den beiden Nahrungsmittelgruppen, die wir unterscheiden, wende ich mich zunächst den animalischen, und zwar dem Fleisch zu :

I. Grotjahn hat in der oben angegebenen Weise den Fleischverbrauch berechnet bei den in der Anm. auf Seite 1 unter 2 und 6 13 angegebenen Gruppen. Zieht man die Angaben zusammen, so erhält man folgende Resultate:

Der Fleischverbrauch war ganz minimal bei den Zittauer Webern, von denen 8/4 unter 10 kg jährlichen Verbrauch auf die erwachsene männliche Person hatten und keine Familie über 20 kg ; bei den böhmischen Spinnern, dem Chausseearbeiter und dem ländlichen Schmied von Schnapper - Arndt, durchgängig unter 10 kg. Ebenfalls sehr niedrig bei den 15 Familien badischer Tabaksarbeiter, von denen 12 unter 30 kg, 4 unter 10 kg brauchten. Von den 176 Arbeiterfamilien der belgischen Enquete verbrauchten 118 weniger als 30 kg, nur 15 mehr als 50 kg. Von den Baseler Haushaltungen (Landolt) hat die Mehrzahl ebenfalls weniger als

l) Das Alter war nicht zu erfahren bei 7 Familien mit Gesamtausgaben von 1115,47—1378,58—1410,67—1584,77—1636,42—1714,93—1940,89 Mk. Diese sind daher bei allen folgenden Geldberechnungen fortgelassen worden.

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Fritz Kestner,

30 kg. Ganz verschieden ist der Verbrauch schlesischer Arbeiter nach den multiplizierten und wenig zuverlässigen Angaben Kuhnas. Bei den Mannheimer Fabrik- und den Pforzheimer Goldarbeitern ist der Verbrauch größer, meist über 20 kg, wenn auch nur selten über 50 kg. In den städtischen und ländlichen Angaben der O. £. und o. d. d. m. aus allen Teilen Europas finden sich die ver- schiedensten Angaben; in Stadt und Land kommen hohe und ganz niedrige Ziffern vor. Ganz anders ist der Fleisch- verbrauch bei den Wohlhabenden, sowohl bei den von Ducpötiaux 1853 für Belgien beobachteten 6 Familien, als auch bei 6 wohl- habenderen aus jüngerer Zeit, 3 Berliner Kaufleuten (Ballin und Dehn), einem Berliner Arzt (Grotjahn), einem Thurgauer Beamten (Hofmann) und einem kaufmännischen Angestellten der Charente (o. d. d. m.). Ihr Fleischverbrauch ist durchgängig zwischen 80 und 150 kg.

Erkennbar ist der Zusammenhang zwischen Einkommen und Fleischverbrauch; dieser ist desto höher, je besser gelohnt die Schicht ist. Zwischen ländlicher und industrieller Bevölkerung ist ein prinzipieller Unterschied nicht zu erkennen.

Grotjahn stellt besonders fest, daß je kümmerlicher das Budget im allgemeinen, desto geringer auch der Fleischverbrauch sei, und daß er bei den unteren Klassen hinreichend nur dort sei, wo ein Schwein gemästet würde. Die Vorliebe für Fleisch sei im Wachsen begriffen.

Die anderen Budgets, die nur Ausgaben enthalten, bestätigen die obige, an sich selbstverständliche Behauptung, daß Höhe des Einkommens und Fleischverbrauch proportional sind. Zunächst handelt es sich bei diesen um die Arbeit von Engel (1) über die Lebenskosten belgischer Arbeiter 1853 und 1891. Auf 1 Quet kamen 1853 jährliche Ausgaben in Mark für Fleisch bei Gesamt- ausgaben *) von

600 fr. 900 fr. 1200 fr. 2000 fr. über 2000 fr. zusammen 0,34 1,1 1 2,9 4,41 7.97 2.15

Der Jahreskonsum einer erwachsenen männlichen Person betrug im Durchschnitt bei

') Man kann zweifeln, ob eine Vergleichung mit dem Einkommen oder Gesamt- ausgaben prinzipiell richtiger ist. Für beides sprechen Gründe. Ich folge der all- gemeinüblichen Metbode. Sehr erheblich ist der Unterschied nicht.

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Die Bedeutung d. Haushaltungsbudgets f. d. Beurteilung d. Ernährungsproblems. 3 j 3

Stadt Land

dürftigen auskommenden sparfähigen Familien 1,46 9.77 18,60

o,73 8,95 17,76

Die Familien in der belgischen Enquete von 1891 teilt er nach der Höhe der Gesamtausgaben in neun Sozialklassen ein ; es gaben jährlich pro Quet für Rind- und Schweinefleisch aus die Familien mit Gesamtausgaben von

70fr. 8cfr. —90fr. 100fr. 110fr. 120fr. 130 fr. —140fr. üb. 140fr. pro Quet 3,50 5,08 7,16 9,14 io.oi 11,21 14,88 15,71 19,43

Aus diesen Zahlen kann man mit Engel folgende Schlüsse ziehen :

1. Bei dürftigen Familien war der Jahreskonsum 1853 ganz minimal, sowohl auf dem Lande, wie in der Stadt. Auch bei aus- kommenden und sogenannten sparfähigen Familien ist er noch sehr gering. Bei den Wohlhabenden in Ixelles in der Tabelle auf- geführt — ist er beträchtlich.

2. Mit wachsendem Einkommen steigt 1853 sofort und an- dauernd der Fleischverbrauch sehr stark, von unter 600 bis über 1 200 Fr. auf das zehnfache und darüber hinaus auf das zwanzigfache.

3. 1853 war der Fleischverbrauch auf dem Lande durchgängig niedriger als in der Stadt.

4. 1891 sind die für Fleischnahrung verwandten Summen in den untersten Schichten sehr gering; auch hier steigen sie ganz regelmäßig und rasch bei steigendem Einkommen. Über die Veränderungen von 1853— 1891 s. später S. 334.

Engel bemerkt daher: Der Verbrauch tierischen Eiweißes ist ein Maßstab des Wohlstandes.

Hampke unterscheidet bei seiner Aufnahme in Halle vier Wohlhabenheitsstufen : in der ersten je ein Weichensteller, Schneider und Maler mit durchschnittlich 1094 Mk. Gesamtausgaben, in der 2. ein Rentier mit 3045 Mk., in der 3. ein Fabrikant mit 7945 Mk., in der 4. ein hoher Beamter mit 18 206 Mk. Gesamtausgaben. Es betrug der Verbrauch jährlich in Mk. in der Klasse

I. Ii. Iii.

für Heisch 72,45 315.5° 837,60

Wurst und Schinken 25.94 85,0 122,40

IV. 1188 Mk.

224

oder es stieg der Verbrauch von Stufe zu Stufe von

Fleisch 1 auf 4,3 11,6

Wurst und Schinken I 3,3 4,8

16,4

8,6

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314

Fritz Kestncr,

Viel beweisen so wenige Fälle natürlich nicht Sie bestätigen die Engel sehen Angaben.

Auch nach den Nürnberger Erhebungen von 1899 steigen die Ausgaben für Fleisch bis zu der Stufe von 1500 Mk. Gesamtaus- gaben; in den höheren Stufen sind sie prozentual gleich.

Über den Verbrauch der einzelnen Fleischsorten wird die An- gabe gemacht, daß das Verhältnis von Rind-, Schwein-, Kalb- und Hammelfleisch wäre wie 235:82:39:8. Durchschnittlich verzehre eine Familie 251 gr. Fleisch, das sei so viel, als man in bürger- lichen Familien auf den Kopf rechne.

II. Der Fettverbrauch ist bei allen beobachteten Gruppen sehr gleichmäßig. Bei der ganz überwiegenden Mehrzahl aller be- trägt er 10 20 kg jährlich für die erwachsene männliche Person.

Unter 10 kg sinkt der Fettverbrauch bei dem Chausseearbeiter und dem Schmied Schnapper-Arndts, sowie erheblichen Teilen der Mannheimer, Pforzheimer und badischen Tabaks- und Baseler Ar- beiter, der böhmischen Spinner, der belgischen und der industriellen Arbeiter der o. d. d. m.; und einem noch größeren Teil der Land- arbeiter der o. d. d. m. Dagegen steigt er bis zu 30 kg bei den wohlhabenden, sowie einem Teil der gut gelohnten Arbeiter, der ländlichen Bevölkerung, industriellen Arbeiter aus dem O. E. und der o. d. d. m., der schlesischen Arbeiter und Zittauer Weber. Über 30 kg kommen nur in vereinzelten Fällen vor. Im allgemeinen ist also der Fettverbrauch bei den Wohlhabenden etwas höher, aber keineswegs durchgängig. Zwischen Stadt und Land ist ein allgemeiner Unterschied nicht zu erkennen.

Auch Grotjahn konstatiert, daß sich die geringen Schwan- kungen in verhältnismäßig engen Grenzen hielten. Genügend sei der Fettverbrauch bei den Minderbemittelten nur, soweit sie ein Schwein hielten. Er hebt ferner die zunehmende Verdrängung der pflanzlichen durch tierische Fette und die hohe Wertschätzung der Butter hervor, die bei den Wohlhabenden fast identisch mit Fett wird.

In der En gel sehen Lebenskosten belgischer Arbeiter finden sich wesentliche Differenzen zwischen 1853 und 1891.

Der Fettverbrauch nahm 1853 von Klasse zu Klasse erheblich zu, von 1,92 Mk. pro Quet bei Gesamtausgaben von unter 600 Frcs. bis auf 10,65 Mk. pro Quet bei Ausgaben über 2000 Frcs., stieg also fast auf das 10 fache. Er war auf dem Lande etwas größer als in der Stadt. Bis 1891 ist er so stark gestiegen, daß er jetzt auf der

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Die Bedeutung d. Haushaltungsbudgets f. d. Beurteilung d. Ernährungsproblems. 3 j 5

niedrigsten Einkommenstufe so hoch ist, wie damals auf den höchsten. Auch 1891 steigen mit wachsendem Einkommen die Ausgaben für Fett, aber nur bis zu einer gewissen mittleren Grenze; von da an bleiben sie stabil. Bei Gesamtausgaben bis 70 Frcs. betragen sie 8,16 Mk. pro Quet, bei Ausgaben von 100— 1 10 Frcs. 15,16 Mk., bei Ausgaben von 130—140 Frcs. 15,70 Mk.

In den 7 Hallenser Budgets von Hampke wurden ausgegeben in der Wohlhabenheitsstufe

L II. III. IV.

flir Butter 55,77 98,50 232,50 482 Mk.

Fette 26,93 49,8o 50,90 40

oder es stiegen die Ausgaben von Stufe zu Stufe wie

bei

Butter von 1 1,8 4.2 8.6

Fetten l 1,8 : 1,8 1,5

Der Butterverbrauch steigt also mit wachsendem Einkommen wesentlich, der von Fetten unwesentlich.

Nach den Nürnberger Aufnahmen war der Verbrauch auf 1 Quet in Mark bei Gesamtausgaben bis

bei 1 000 Mk. 1 250 Mk. 1 500 Mk. 1 750 Mk. —2000 Mk. üb. 2000 Mk.

Butter 0,92 0,75 1,03 1,63 1,60 1,48

anderen Fetten 1,7 2,1 2,3 2,7 2,8 3,4

Doch sind unter 1000 Mk. nur eine und über 2000 Mk. nur zwei Familien dargestellt.

Die Angaben lassen auf einen sehr geringen und besonders in den unteren Klassen unbefriedigenden Fettverbrauch schließen.

Das Ergebnis ist darnach im ganzen folgendes:

1. Der Fettverbrauch steigt zwar mit wachsendem Einkommen bis zu einer gewissen Grenze, ist aber im ganzen nicht sehr ver- schieden ; er sinkt selten unter ein gewisses Maß, da er sich weniger einschränken läßt, als der Fleischkonsum und bei geringem Ein- kommen oft das Fleisch ergänzen muß.

2. Die Hauptunterschiede liegen hier in der Qualität; mit zu- nehmender Wohlhabenheit überwiegt die Butter.

3. Zwischen Stadt und Land ist ein prinzipieller Unterschied in der Quantität nicht festzustellen.

4. Soweit erkennbar, ist der Fettverbrauch gestiegen.

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3i6

Fritz Kcstner,

5. Zu bemerken ist noch, daß Fett wegen seiner Eigenschaft als Heizmittel *) im Norden mehr konsumiert wird, als im Süden.

III. Von andern animalischen Nahrungsmitteln, außer Fleisch und den tierischen Fetten, kommen noch Milch und Käse in Be- tracht. Es muß darauf verzichtet werden, eine Vergleichung des Milch- verbrauchs vorzunehmen, so wichtig auch seine genaue Feststellung wäre. Aber einmal sind unsere Kenntnisse über diesen Punkt zu lückenhaft und sodann hängt der Milch verbrauch in erster Linie von der Kinderzahl ab. Darum versagt hier völlig die Um- rechnung auf Engeische Einheiten. Bei den Erwachsenen aber wird der Verbrauch, in viel höherem Maße als bei Fleisch und Zerealien, von der Geschmacksrichtung beeinflußt. Bei meinen eigenen Aufnahmen in Leipzig- Ostheim fand ich zwei Familien mit fast gleichem Einkommen und Kinderzahl, von denen die eine wöchentlich 1,20, die andere 0,20 Mk. für Milch ausgab. Die erstere Familie erklärte Milch für das einzig wirklich gute Nahrungs- mittel, die andere für „schlampig" und ungesund. Die Nürnberger Erhebungen scheinen diese Erfahrungen zu bestätigen. Die jähr- lichen Ausgaben schwanken zwischen 17 und 163 Mk., zwischen 1,29 und 8,32 Proz. der Gesamtausgaben.

Ad. Braun selbst findet, daß die Ausgaben für Milch bei größerer Wohlhabenheit steigen. Dasselbe findet Engel für die belgischen Arbeiter von 1891 und Hampke für die Hallenser Familien.

Der Milchverbrauch war ferner sehr hoch bei den Baseler Ar- beitern, durchschnittlich 400 Liter jährlich für die erwachsene männ- liche Person, sehr niedrig andererseits bei den Zittauer Webern.

Grotjahn selbst konstatiert, daß die Milch in steigendem Maße von erwachsenen Personen gemieden werde.

Es läßt sich also auf Grund der HHB. wenig über den Ver- brauch an Milch und ebenso von Käse sagen. Wahrschein- lich ist auch nach sonstigen Angaben , daß mit wachsendem Einkommen der Milchverbrauch steigt. Die Qualität spielt dabei eine große Rolle. Daß das I^nd hierin und wohl auch in der Quantität die Stadt übertrifft, ist sehr wahrscheinlich. Der Milchverbrauch wird bei den Angaben über animalische Nahrung im ganzen nochmals berücksichtigt.

IV. Der Verbrauch an Zerealien hält sich ziemlich gleich-

') Dies ist nicht unbestritten.

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Die Bedeutung d. Haushaltungsbudgets f. d. Beurteilung d. Ernährungsproblems. 317

mäßig zwischen 100 und 303 kg auf den erwachsenen Mann, nur ganz ausnahmsweise sinkt er unter 100 kg; andererseits steigt er in der städtischen Bevölkerung selten über 300 kg. Etwas unter dem Durchschnitt stehen die badischen Tabaksarbeiter und durch- gängig die Wohlhabenden; etwas darüber die Zittauer Weber, die Pforzheimer Goldarbeiter, die belgischen Arbeiter und ganz erheb- lich die ländliche Bevölkerung der O. E. und der o. d. d. m. ; 31 HHB. von 45 weisen hier einen Verbrauch von mehr als 300 kg auf, 6 sogar über 500, Mengen, die die städtische Bevölkerung nie- mals erreicht.

Grotjahn konstatiert besonders, daß bei Bauern, Land- arbeitern, Gesinde und ländlichen Handwerkern die Zerealien über- wiegen, sowie daß die Wertschätzung des Weißbrotes gegenüber dem Roggenbrot stiege.

Letzteres stellt auch Engel für die belgischen Arbeiter fest; während der Weißbrotkonsum wesentlich gestiegen ist, ist der von Roggenbrot stark zurückgegangen. 1853 wuchs der Verbrauch an Weizenbrot mit steigendem Einkommen. Diese Tendenz besteht zwar 1891 noch, aber längst nicht so stark. Von einer mittleren Stufe etwa 110 fr. Gesamtausgaben pro Quet bleiben die Ausgaben für Weißbrot und Brot überhaupt stabil, während sie 1853 andauernd stiegen. 1853 verzehrte das Land an Roggenbrot das 3 4 fache, an Weizenbrot dagegen ein Drittel des städtischen Konsums. Für 1891 fehlen getrennte Angaben in Stadt und Land.

In den 7 Hallenser Budgets Hampkes gaben aus:

Wohlhabenheitsstufe I. II. III. IV.

für Weizenbrot »2,58 66,00 87,00 277.00

Roggenbrot 117,07 92,55 154.00 187,00

Hier bleiben also die Ausgaben für Roggenbrot konstant, während die von Weizenbrot sehr stark steigen.

In den Nürnberger Erhebungen ist der Brotverbrauch in den einzelnen Klassen nicht sehr verschieden; er steigt bei allen Brotsorten, sowie auch bei Kuchen (der hier in Weißbrot ein- gerechnet ist), etwas mit wachsendem Einkommen von 13,8 bezw. 11,1 Mk, pro Quet bei Gesamtausgaben unter 1000 bzw. 1250 Mk. auf 17,5 bzw. 17,7 Mk. bei Ausgaben über 1750 bzw.

oder es stiegen die Ausgaben

wie von

bei Weirenbrot .1 Roggenbrot

3 0,8

3-9 1.4

12,2

1,7

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3i8

Fritz Kestner,

2000 Mk. Die Kinderzahl spielt natürlich eine sehr große Rolle. Der Konsum von Weiß- und Schwarzbrot war ungefähr gleich, anders als in Norddeutschland. In meinen Erhebungen wird ziem- lich durchgängig für Schwarzbrot 5 6 mal soviel ausgegeben, als für Weißbrot.

Im ganzen dürfte etwa folgendes festzustellen sein:

1 . Der Verbrauch von Zerealien zusammen ist in den minder- bemittelten Klassen ziemlich gleichmäßig, erleidet nur bei sehr ge- ringem Einkommen öfters erhebliche Einschränkungen. Uns fehlen aber die Budgets der ganz armen Bevölkerung. Bei größerer Wohlhabenheit sinkt der Verbrauch im ganzen, bleibt aber noch immer ziemlich beträchtlich.

2. Mit größerer Wohlhabenheit steigt der Konsum von Weiß- brot auf Kosten des Roggenbrotes. Doch spielen lokale Verhältnisse eine Rolle. Der Verbrauch von Weizenbrot hat im ganzen mehr zugenommen, als der von Roggenbrot.

3. Der Zerealienkonsum ist in der ländlichen Bevölkerung größer als in der städtischen.

V. Der Kartoff el verbrauch weist sehr große Schwankungen auf; er ist sehr hoch, d. h. durchschnittlich über 300 kg auf den er- wachsenen Mann bei den schlesischen Berg-, den badischen Tabaks- arbeitern, den böhmischen Spinnern und den Zittauer Webern, auch dem Chausscearbeiter und Schmied bei Schnapper-Arndt. Die Wohlhabenden stehen mit durchschnittlich 200 kg etwa in der Mitte. Der Verbrauch ist gering, d. h. überwiegend unter 200 kg, bei den gut bezahlten städtischen Arbeitern der o. d. d. m. und den Pforzheimer Goldarbeitern. Die anderen industriellen Arbeiter der o. d. d. m., sowie die ländliche Bevölkerung weisen die ver- schiedensten Ziffern auf, entsprechend den verschiedenen Herkunfts- ländern.

Grotjahn stellt fest:

1. Der Kartoffelkonsum sei unter den rein geldwirtschaftlich gelohnten Industriearbeitern am weitesten gediehen, steige auch bei den ländlichen Arbeitern.

2. Mit wachsender Wohlhabenheit verschwinde die Kartoffel nicht; sie trete neben die Zerealien (Korrelation).

Aus Engels Angaben über die belgischen Arbeiter geht her- vor, daß der Konsum 1891 sehr gleichmäßig durch alle Schichten war und gegenüber 1853 etwas gestiegen ist, besonders in den

Uigitizeci by

Die Bedeutung d. Haushaltungsbudgets f. d. Beurteilung d. Ernährungsproblems. 319

unteren Schichten. 1853 war der Konsum auf dem Lande wesent- lich größer als in der Stadt.

In der Nürnberger Erhebung besteht keine besondere Rubrik für Kartoffeln, sondern nur für alle Wurzelgewächse zusammen. Die Quetbeträge sind in den Stufen

1000 —1250 1500 1750 2000 über 2000 Mk. ges. Ausgaben 2,23 2,1 2,8 1,7 2,2 1,9

Die Ausgaben fallen bis etwa 1 500 Mk. und bleiben von da an stabil. Ad. Braun konstatiert, daß eine Familie durchschnittlich 18 19 Mk. für Kartoffeln ausgebe und zwar die ärmsten 2 3 mal soviel als die besser situierten Arbeiter. Überhaupt spielt die Kartoffel eine sehr große Rolle. Vgl. die hohen Gewichtsziffern auf S. 74 dortselbst.

Eine vergleichende Betrachtung des Kartoffelverbrauchs wird aufs äußerste beeinträchtigt durch den Mangel an Angaben für die Arbeiter mit ganz niedrigem Einkommen. Von diesen besitzen wir eigentlich nur die Budgets der Zittauer Weber, sowie von einigen schlesischen, belgischen und Frankfurter Arbeitern. Vor allem ver- sagt hier völlig die Nürnberger Statistik, wo nur ein Budget ge- ringere Ausgaben als 1000 Mk. aufweist Die Angaben der O. E. und der o. d. d. m. kommen andererseits nur teilweise in Betracht; eine ganze Reihe sind in Ländern aufgenommen, wo die Kartoffel- nahrung gar keine Rolle spielt Daher ist über die wichtigste Frage, inwiefern tritt bei niedrigem Einkommen die Kartoffel an Stelle der Zerealien, nur wenig zu sagen. Andere Beobachtungen ergeben, daß dies der Fall war, ebenso auch die wenigen Arbeiter- budgets, die wir aus ganz armen Schichten haben. Hätten wir mehr, so würde sich dasselbe Ergebnis sicherlich noch schärfer herausstellen.

Abgesehen davon ergibt sich weiter:

1. Von einer gewissen Einkommenshöhe ab bleibt der Kartoffel- konsum stabil und nimmt mit steigender Wohlhabenheit nicht mehr ab. Es kann sein, daß diese von Grotjahn beobachtete Er- scheinung allgemein stimmt, obgleich es nicht feststeht Ist die Stufe erreicht, auf der es möglich wird so viele Zerealien zu kaufen als es gewünscht ist, so liegt keine Veranlassung für oder gegen Beschränkung des Kartoffelverbrauchs mehr vor. Es ent- scheiden vielmehr nun zwischen Zerealien und Kartoffeln individuelle Neigungen.

2. Ob der Kartoffelkonsum im allgemeinen auf dem Lande

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320

Fritz Kestner,

oder in der Stadt größer, ist schwer zu sagen. Grotjahn be- hauptet das letztere; die bäuerliche Bevölkerung verwende dagegen die Kartoffel zur Schweinemast. Er zitiert ferner Max Webers Untersuchungen, wonach auch unter den ostelbischen Landarbeitern die Kartoffelnahrung die von Zerealien verdrängt, je mehr an Stelle der natural-gelohnten Insten die geld gelohnten Tagelöhner treten.

Die letztere Behauptungen dürfte richtig sein. Ob sich aber die Kartoffel nahrung bei den industriellen Arbeitern wirklich mehr aus- dehnt als bei den ländlichen, ist schwer zu sagen. Aus dem vor- liegenden Material ergibt sich ein allgemeiner Gegensatz zwischen Stadt und Land nicht, vielmehr wohl nur ein Zusammenhang mit dem Einkommen. Ich gehe hierauf später nochmals ein.

3. Inwieweit endlich die Kartoffelnahrung zugenommen hat, daß sie zunimmt, weiß man aus anderen Quellen, darüber läßt sich aus den HHB. eigentlich nur sagen, was die Engeische Vergleichung zwischen 1853 und 1891 ergibt. Darnach sind die Quetbeträge auf den unteren Stufen gestiegen, auf den höheren ziemlich gleich geblieben. Andererseits ist aber zu beachten, daß nach Engel S. 87 die Detailpreise 1891 etwa um ein Viertel höher waren als 1853.

VI. Auch bei den übrigen Vegetabilien, so sehr sie bei der Ernährung ins Gewicht fallen, ist die Vergleichung fruchtlos. Grotjahn stellt fest, daß „Hafer, Gerste, getrocknete Linsen, Bohnen und Erbsen ganz aus der Volksnahrung zu verschwinden drohen". In den Nürnberger Erhebungen wird konstatiert, daß der Verbrauch von grünen Gemüsen und Salaten bei wachsender Wohlhabenheit stiege, der anderer vegetabilischer Nahrungsmittel fiele. Eine eigentliche Regelmäßigkeit läßt sich aber nicht fest- stellen.

VII. Schließlich wäre noch eins der wichtigsten Nahrungsmittel zu erwähnen, der Zucker, der sich aber durchaus nicht in allen HHB. findet und nur bei den aus letzter Zeit stammenden ver- gleichen läßt. In den p. E. und o. d. d. m., wie in den Ducpetiaux- schen Erhebungen von 1853 spielt der Zuckerverbrauch erst eine ganz verschwindende Rolle. Die Angaben Kuhnas sind sehr un- sicher. Bei den Zittauer Webern fehlt er fast völlig, bei den Baseler Arbeitern ist er sehr gering, niemals über 13 kg. Dagegen beträgt er bei den wohlhabenden etwa gegen 25 kg. Die Budgets aus England weisen durchgängig höhere Ziffern auf. Grotjahn be-

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Die Bedeutung d. Haushaltungsbudgets f. d. Beurteilung d. Ernährungsproblems. 32 1

merkt, daß der höchst wünschenswerte Zuckerverbrauch sich re- spektabel nur in den Budgets der wohlhabenden und besser gelohnten Arbeiter fände, falls letztere, wie in England und den Vereinigten Staaten von Amerika, den Zucker billig erhielten.

Engel berechnet für den belgischen Arbeiter 1 891 ein ziemlich ständiges Anwachsen des Zuckerverbrauchs von Stufe zu Stufe. Ebenso steigen in den Hallenser Budgets Hampkes die Ausgaben in den Wohlhabenheitsstufen

I. II. III. IV.

8,42 33,00 117.50 »60 Mk. oder

wie t 4 14 19

Für die Nürnberger Arbeiter ergeben sich folgende Quet-

beträge : 9

1000 - 1250 —1500 —1750 —2000 über 2000 Mk. Gesamtausgaben 1,67 1,70 2,6 2,3 2,5 2,0

Die Ausgaben sind sehr verschieden, aber ziemlich durchgängig höher bei kinderarmen als bei kinderreichen und bei besser situierten als bei ärmeren Arbeitern. Als Jahreskonsum werden pro Kopf 10 l/s kg berechnet.

Im allgemeinen steht fest, daß der Zuckerkonsum

1. stark im Wachsen begriffen ist,

2. bis zu einer gewissen Grenze mit dem Einkommen wächst, soweit nicht individuelle Gewohnheiten Abweichungen bedingen.

VIII. Die übrigen Nahrungs- und Genußmittel sind nicht so allgemein verbreitet, daß es möglich wäre, durchaus gültige Er- scheinungen herauszufinden. Dies könnte höchstens für Salz und Kaffee geschehen, der ja in Deutschland überall konsumiert wird. Wir besitzen aber für beide, wie für viele andere Stoffe, ein besseres und zuverlässigeres Material in den Ve rbrauchsberechnungen auf Grund der Produktions- und Außenhandelstatistik. Von Inter- esse wäre daher nur, den Verbrauch des gesamten Durchschnitts der Bevölkerung zu vergleichen mit dem des Arbeiterstandes; da- rüber vgl. später S. 347.

Nach Engels Berechnungen steigen die Ausgaben belgischer Arbeiter für Kaffee ganz regelmäßig mit wachsendem Einkommen von 1,49 Mk. pro Quet auf der niedrigsten, auf 4.62 Mk. auf der höchsten Stufe 1853 und ebenso 1891 von 2,89 Mk. auf 6,20 Mk. Ebenso steigen bei Hampkc die Ausgaben in den 4 Wohlhabenheits- stufen von 1 : 1,7 : 6,6 : 9,6. Dagegen ist in Nürnberg kein Zu- sammenhang mit dem Einkommen ersichtlich.

Archiv für Sonalwwsemchaft u. Sozialpolitik. I. (A. f. »01 G. u. St. XIX.) ». 21

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322

Fritz Kestner,

Feststehen dürfte wohl, daß der Kaffeekonsum im allgemeinen bei größerer Wohlhabenheit zunimmt; der Hauptunterschied liegt aber in der Qualität.

Der Salzverbrauch ist dagegen, wie aus anderen Angaben be- kannt, in den niederen Einkommensschichten höher.

IX. Äußerst wichtig wäre es, auf dem Wege des HHB. den Einflüssen des Alkohols näher zu kommen. Aber hier versagen sie m. E. fast völlig. Man erfährt, wieviel Bier die Familie zu Hause trinkt, aber fast niemals, wieviel der Mann außer Hauses braucht. Auch die Engeischen Angaben versagen hier, da in den Wirtshausausgaben Speisen und Getränke zusammengerechnet sind. Eine Ausnahme scheint nur die Nürnberger Erhebung zu machen, einmal wohl, weil sie vom Arbeitersekretariat aufgenommen ist, sodann auch, weil dort die Antialkoholbewegung die Menschen noch nicht scheu gemacht hat in der Angabe ihres Alkoholver- brauchs.

In den Nürnberger Haushalten wurden nun 9,21 °/0 der Ge- samtausgaben auf Bier verwandt. Andere Getränke kommen für Nürnberg nicht in Betracht, auch Branntwein nicht (o,il°/0 der Gesamtausgaben). Die Ausgaben sind in den einzelnen Familien sehr verschieden ; mit wachsendem Einkommen steigen sie absolut, aber nicht relativ. Es machten die Ausgaben für Getränke aus

von Gesamtausgaben 1000 —1250 —1500 —1750 —2000 über 2000 Mk. in % 11,25 10,55 9,44 10,42 8,95 6,74

Bedauerlich ist auch hier der Mangel an Budgets der schlecht bezahlten Arbeiter.

Die Maxima betragen 324,38 Mk. = 22 °/0 der Gesamtausgaben bei einem verheirateten, kinderlosen Former, 294,11 Mk. = 24°/0 und 285 Mk. = 22 °/0 (verheirateter Posamentierer). Andererseits kommen Minima bis herab zu 45,41 Mk. und 33,34 Mk. vor (d. s. Ii bzw. 9 Pf. pro Tag).

Dabei sind die Brauer noch nicht mit inbegriffen. Ad. Braun hebt hervor, daß die obigen Maxima 3V5 33/4 1 noch auf keine Unmäßigkeit schließen lassen; in Nürnberg sei eine tägliche Na- turalleistung von 7 1 für den gelernten und 5 1 für den ungelernten Brauer üblich! Er macht ferner in interessanter Weise darauf auf- merksam, daß es sich bei dem im Wirtshaus getrunkenen Bier sehr oft um Begleiterscheinungen (Geselligkeit, politische, gewerkschaft- liche Interessen) handele.

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Die Bedeutung d. Haushaltungsbudgets f. d. Beurteilung d. Ernährungsproblems. 323

Natürlich sind diese Nürnberger Angaben aber keineswegs typisch für Deutschland.

Für Tabak endlich sind die individuellen Neigungen zu ver- schieden, um allgemeine Resultate ergeben zu können. Auch hier ist auf die allgemeine Verbrauchsberechnung zu verweisen.

Aus den oben gegebenen Zusammenstellungen des Verbrauchs der einzelnen Gruppen von Nahrungsmitteln (I IX) ergeben sich von selbst die Zusammenhänge, die zwischen den einzelnen be- stehen.

A. Für die Stadtbevölkerung ist im allgemeinen folgendes zu konstatieren: der Konsum von Fleisch und Zucker, auch wohl von Milch, nimmt mit steigender Wohlhabenheit zu, immer bis zu einer gewissen Grenze. Der Fettkonsum ist ziemlich gleichmäßig, geht selten über ein gewisses Maß hinaus oder unter ein solches hinab; bei größerer Wohlhabenheit überwiegt die Butter. Der Konsum von Zerealien steigt in den untersten Schichten, bleibt dann lange stationär und sinkt bei wachsender Wohlhabenheit; der von Kar- toffeln sinkt von der untersten Schicht an bis zu einem gewissen Punkte und bleibt von da an ziemlich stationär. Soweit erkennbar, wächst der Verbrauch an grünen Gemüsen und fallt der von anderen Leguminosen mit dem Einkommen. Der Kaffee verbrauch wächst entsprechend. Über Alkohol und andere Genußmittel ist allgemein- gültiges nicht festzustellen.

Engel (1) hat zuerst mit voller Schärfe den Satz aufgestellt, daß die Größe der animalischen Nahrung ein Maßstab des Wohl- standes sei. Er liefert speziell für seine belgischen Verhältnisse eine ganz überzeugende Statistik.

Es kamen 1853 auf 1 Quet bei Gesamtausgaben

600 900 1200 2000 mehr als 2000 Frcs. für tierische Nahrung 3,22 5,37 9,77 14,22 21,82 Mk.

pflanzliche 16,38 12,49 *5.78 3*»39 5°-55

oder es stiegen die Lebenskosten bei

600 900 —1200 2000 mehr als 2000 Frcs. tierischer Nahrung von l auf 1,67 3,01 4,91 6,77 pflanzlicher 1 1,37 1,57 1,98 3,08

oder von den Gesamtausgaben entfielen auf

tierische Nahrung 11,39 12,5 17,11 17,75 17,25% pflanzliche 58,01 52,32 45,17 38,60 39,95%

21»

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324

Fritz Kcstncr,

Auch für 1891 stimmt das im wesentlichen noch, wenn auch nicht so scharf pointiert.

Es kamen auf I Quet bei Gesamtausgaben

—80 —100 —120 —200 Mk. pro Quet tierische Nahrung 15,72 23,63 29,90 36,45 pflanzliche 28,39 3C9I 35.3" 34.

oder es stiegen die Lebenskosten bei

tierischer Nahrung von 1 auf 1,5 1,9 2,3

pflanzlicher 1 1,1 1,2 t,2

oder von den Gesamtausgaben entfielen auf

tierische Nahrung 22,12 26,30 27,32 36,45 0 pflanzliche 39,98 34,42 32,21 34.7<>0/o

Diese Feststellung Engels findet in allen anderen Budgets ihre Bestätigung, natürlich nicht überall, vor allem nicht bei knapperem Material, mit derselben Schärfe. In den Nürnberger Erhebungen sind die Quetausgaben bei Gesamtausgaben

1000 —1250 —1500 1750 2000 über 2000 für animalische Nahrung 9,31 29,90 26,09 33,14 48,20 36,57 vegetabilische 21,14 22.15 «3.3» *7.04 33»7<> 31.53

Landolt hat für seine Baseler Familien berechnet, daß 6, deren Nahrung unbefriedigend ist, 5 1 °/0, die besser situierten da- gegen nur 29,7% ihres Eiweißes in vegetabilischer Form zu sich nahmen.

Natürlich spielen auch individuelle Gewohnheiten hinein und zu betonen ist ferner, daß diese Feststellungen immer nur bis zu einer gewissen oberen Grenze richtig sind. Ist eine Einkommens- lagc erreicht, die eine befriedigende Ernährung ermöglicht, so ist das was darüber hinausgeht, als freies Einkommen beliebig ver- wendbar.

B. Für die ländliche Bevölkerung sind so allgemeine Resul- tate nicht festzustellen. Dies wäre, infolge der Bedeutung lokaler Gewohnheiten, höchstens innerhalb bestimmter Gebiete möglich. Vor allem ist wichtig, wie Grotjahn hervorhebt, ob ein Schwein gehalten wird. Zu beachten ist schließlich, daß uns für ländliche Arbeiter nicht ein Massenmaterial zur Verfugung steht, wie bei einer Reihe städtischer Arbeitergruppen.

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Die Bedeutung d. Haushaltungsbudgets f. d. Beurteilung d. Ernährungsproblems. 325

Unter Berücksichtigung dieser Umstände ist folgendes zu kon- statieren : Der Fleischverbrauch ist bei der selbständigen und wohl- habenden ländlichen Bevölkerung hoch, bei der unselbständigen und ärmeren, besonders den meisten Arbeitern, sehr niedrig, ja erheblich niedriger als in der Stadt; der Fettkonsum schwankt etwas mehr als der städtische, ist insbesondere da, wo kein Schwein gehalten wird, sehr niedrig. Der Zerealienverbrauch ist durchschnittlich höher als in der Stadt ; der von Kartoffeln ist bei der wohlhabenden ländlichen Bevölkerung etwa so groß, wie bei der wohlhabenden städtischen, der Konsum der armen Bevölkerung, insbesondere der landwirtschaftlichen Arbeiter, in Gegenden, wo die Kartoffelnahrung überhaupt üblich ist, so hoch, teilweise höher, als bei der armen städtischen Bevölkerung. Da bei sonst etwa gleicher Nahrung der Zerealienkonsum auf dem Lande durchschnittlich höher ist, so ist überhaupt die Nahrungsmenge dem Volumen nach bei der länd- lichen Bevölkerung größer als bei der industriellen.

Diese Feststellung unterscheidet sich von der Grotjahns in wesentlichen Punkten. Grotjahn trennt nämlich die wohlhabende und die ärmere ländliche Bevölkerung nicht, sondern trägt der all- gemeinen Vermögenslage prinzipiell nur bei der städtischen Rech- nung. Das halte ich aber schon auf Grund seines Materials für falsch. Vergleiche darüber im folgenden Abschnitt

Ebendort siehe auch, welchen Veränderungen die Nahrung unterworfen worden ist.

II. Abschnitt.

Es erhebt sich nun die Frage : Inwieweit ist diese Nahrung ge- nügend und rationell ? Um dies festzustellen, bedarf es eines sicheren Maßstabes, was genügend und rationell ist

I. Dieser läßt sich zunächst finden in allgemeiner Anschauung. Man hat ja ungefähr einen Begriff, welche Nahrung genügend ist und nach diesem allgemeinen Begriff wird dann der betreffende Fall beurteilt Ein Beispiel dieser Art ist die Zusammenstellung, die Böhmert1) auf Grund einer Anfrage bei 106 deutschen Großbetrieben mit 104 000 Arbeitern im Jahre 1874 gemacht hatte.

l) Im „Arbeiterfreund" 1874 reproduziert. Derselbe beschäftigt sich überhaupt vielfach mit dem Thema.

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326

Fritz Kestner,

Es waren ernährt

von ioo Männern von IOO Frauen

ungenügend (Kartoffeln, Butterbrot, Kaffee)

annähernd genügend (z. T. Fleisch)

gut (Fleisch bei den Hauptmahlzeiten)

sehr gut (Fleisch auch bei anderen Mahlzeiten)

21 II

Die schlechte Ernährung der Frauen rühre von ihrer Putz- sucht her!

II. War diese Methode nur auf „Praxis" und gar nicht auf Wissenschaft aufgebaut, so ist die nächste dafür zu theoretisch. Es ist die auch von Engel zum Teil befolgte, ein festes Maß not- wendiger Kalorieneinheiten aufzustellen „Kostmaß" , dann die Budgets in Kalorien (Eiweiß, Fett, Kohlehydrate) umzurechnen und diese „Kostsätze" mit den Kostmaßen zu vergleichen. Diese Methode ist aber, auch abgesehen von der noch zu erwähnenden Schwierigkeit, ein festes Maß von Kalorien zu finden, um des- willen in praxi unbrauchbar, weil sich niemals auch nur mit an- nähernder Sicherheit feststellen läßt, wieviel Kalorien in dem be- treffenden Nahrungsmittel enthalten sind. Das ist, wie Grotjahn treffend bemerkt, nur bei Laboratoriumsversuchen durchzuführen. Um aber zu erkennen, wieviel Kalorien in „für 1 5 Pfg. Wurst" ent- halten sind, müßte man ihre Art, ihren Fettgehalt, ihre Zubereitung kennen. 1 Pfd. Rindfleisch kann mager 475 Kalorien oder fett 11 80 Kalorien enthalten.

m. Aus diesen Gründen ist auch Grotjahn von der Methode abgegangen. Er meint (S. 4), ob eine Nahrung rationell ist, ließe sich auch entscheiden, wenn der jährliche Konsum von Zerealien, Molkereiprodukten, Fett und Fleisch in Kilogramm angegeben wird. . . . „Es genüge daher, die Nährwerte von einigen Normal- budgets anzugeben, mit denen dann die übrigen Budgets ver- glichen werden können." Als solche Normalbudgets fuhrt er zu- nächst eine Aufstellung des Reichsgesundheitsamtes *) an, wonach für einen erwachsenen männlichen Arbeiter, der keine besonders strenge körperliche Arbeit leistet, auf das Jahr umgerechnet ge- fordert werden: 245 kg Zerealien, 150 kg Kartoffeln, 55 kg Leguminosen, 180 kg Magermilch, 7 kg Magerkäse, 13 kg Schmalz, 55 kg Fleisch. Deren dynamischer Wert ist 3125 Kai. (2930 Rein

*) Gesundheitsbüchlein. Bearbeitet vom Kaiserl. Gesundheitsarate 1894.

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Die Bedeutung d. Haushaltungsbudget* f. d. Beurteilung d. Ernährungsproblems.

Kai.). Dann führt Grotjahn ferner an die Untersuchung der schwedischen Ärzte Hultgreen und Landergreen *) für taglich mindestens 12 Stunden körperlich sehr angestrengt arbeitende Küstenbewohner. Der dynamische Wert ihrer Nahrung beträgt 4592 Kai., sie setzt sich zusammen aus 271 kg Brot, 191 kg Kar- toffeln, 354 1 Milch, 31 kg Butter und Speck, 50 kg Fleisch.

Die Menge der Kalorien sowohl wie der einzelnen Nahrungs- mittel ist also bei dem zweiten sehr viel größer als bei dem ersten „Normalbudget". Die Fleischnahrung ist etwas geringer, dagegen Fett, Brot, Milch und Kartoffeln wesentlich höher. Nun meint Grotjahn, die erst angegebene Nahrung würde schwerlich für einen muskelstarken, schwer arbeitenden Mann genügen, da sie zu wenig Fett enthalte, die zweite habe dagegen als normal zu gelten. Er fordert daher als Kostmaß für den erwachsenen Arbeiter unserer Breiten jährlich in Kilogramm (S. 6):

mindestens bis normalster

Zercalien

250

275

Kartoffeln

•5°

200

Leguminosen

30

40

Milch

180

35o

Fett

15

30

Fleisch

60

Mit dieser Sollnahrung vergleicht Grotjahn dann in der späteren Arbeit die sämtlichen Budgets, die Istrechnungen, und wo jene nicht erreicht wird, findet er den Verbrauch unzureichend, wo sie erreicht wird, genügend. Er kommt, um es vorwegzunehmen, zu dem Resultat, daß die ländliche Bevölkerung, soweit sie an der ausgeprägt lokalen Kost festhalte, sich noch hinreichend nähre, daß dagegen die Kost der Industriearbeiter zwar qualitativ rationell sei, indem sie die Kost der Wohlhabenden nachahme, quantitativ dagegen nur bei den hochbezahlten Arbeiterkategorieen. Bei den anderen herrsche Unterernährung, ein Beitrag zur Entartungslehre.

Aber auch diese Methode ist nicht richtig.

Der große Fehler liegt darin, daß das aus dem Verbrauch körperlich sehr stark arbeitender Menschen abstrahierte Maß auch auf die Ernährungsbudgets industrieller Arbeiter unterschiedslos angewandt wird. Einer solchen Nahrungsmenge bedarf aber nur der,

') Untersuchung über die Ernährung schwedischer Arbeiter bei freigewählter Kost 1891.

328

Fritz Kestner,

der körperlich sehr stark arbeitet Wer körperlich schwach ar- beitet, bedarf viel weniger Wärmeeinheiten, braucht daher auch quantitativ viel weniger Nahrung. Diese Tatsache kann gar nicht besser belegt werden, als durch die von R u b n e r *) gegebene Tabelle, die ich hier aus Grotjahn, S. 3, reproduziere.

in

gr un

d pro die

Beruf

Eiweiß

Fett

Kohlenhydrate

Kalorien Beobachter

Arbeiter ruhend

137

72

252

267=;

Voit

Arzt

134

102

292

2695

Forster

Ar7t

2422

Forster

Hausmeister

Il6

68

345

2522

Forster

Dienstmann

133

95

422

3158

Forster

Schreiner

131

68

494

3194

Forster

Arbeiter

«37

«73

352

3614

Voit

Starke Arbeit

156

7i

567

3625

Playfair

Angestrengte Arbeit

184

567

3739

Playfair

Bergleute

133

"3

534

4196

Steinheil

Ziegelarbeiter

167

107

675

4528

Ranke

Bauernknecht

»43

108

788

4811

Ranke

türk. Bauernknecht

182

93

968

5571

Ohlmüller

Holzknecbte

112

3<>9

691

6135

v. Liebig

Holzknechte

«35

208

876

6038

v. Liebig

Der Liebigsche

Holzknecht

verbraucht

also

mehr als das

doppelte an Kalorien als der Arzt, der Ziegelarbeiter 1 300 Kalorien mehr als der Schreiner und so fort Dabei ist der Eiweißverbrauch ziemlich konstant; er ist bei dem nicht körperlich arbeitenden Arzt so hoch wie bei dem Holzknecht Größer ist dagegen meist der Verbrauch an Fett, und sehr viel größer, das 2 3 fache, der von Kohlehydraten (d. h. Brot, Kartoffeln, Leguminosen).

Daraus folgt, daß es ein allgemeines Kostmaß für Arbeiter schlechthin nicht gibt, was ja auch Grotjahn niemals bestreitet, vielmehr ist dasselbe ganz verschieden nach dem Maße der geleisteten körperlichen Arbeit Bemerkt sei, daß nur körperliche, nicht auch geistige Arbeit von Einfluß auf den Stoffwechsel ist; dieser ist genau gleich, ob man quadratische Gleichungen rechnet oder „Die Woche" liest. Je weniger stark die körperliche Arbeit aber ist, desto weniger Fett und vor allem desto weniger Kohle- hydrate bedarf der Arbeiter.

Untersucht man nun, welche Arbeit die Arbeiter verrichten,

') Rubner, Kalorimetrische Untersuchungen 1885.

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Die Bedeutung d. Haushaltungsbudgets f. d. Beurteilung d. Ernährungsproblcms.

aus deren Budgets Grotjahn seine Schlüsse gleichmäßig gezogen hat, so findet man nebeneinander: in den O. E. und den o. d. d. m. Bergleute, Weber, Tischler, Lumpensammler, Schmiede, Typographen, Metallarbeiter, Töpfer, Laternenanzünder, Holzfäller, Steinbruch- arbeiter, Schuhmacher. Dann unter den deutschen: Uhrschild- macher, Schlosser, Spinner, die verschiedensten Fabrikarbeiter, Schneidergesellen, Maurer, Zigarrenarbeiter und -Sortierer, Former, Weber, Eisendreher, Bergarbeiter, verschiedene Arten von Gold- arbeitern und aus Belgien ein Bukett der mannichfaltigsten Berufe.

Nun weiß jeder, daß die körperliche Arbeit dieser Personen ganz verschieden ist, etwa diejenige eines Webers und eines Stein- brucharbeiters, eines Schmiedes und eines Zigarrensortierers. Dem- entsprechend ist auch der Nahrungsbedarf völlig verschieden.

Für den größten Teil der industriellen Arbeiter ist aber zweifellos, daß sie geringere körperliche Arbeit verrichten, als die Landarbeiter; nur bei wenigen Berufen, wie etwa Schmieden, Stein- bruchsarbeitern, ist sie gleich schwer. Der normale Fabrikarbeiter bedarf in sehr vielen Fällen mehr Geschicklichkeit, mehr Aufmerk- samkeit, mehr Gewandtheit, aber er braucht in der Regel weniger körperliche Kraft als der Landarbeiter.

Damit fallen aber prinzipiell sämtliche Schlußfolgerungen Grot- jahns in sich zusammen. Leistet der industrielle Arbeiter weniger körperliche Arbeit, so braucht er auch weniger Kalorien gebende Nahrung, vor allem weniger Kohlehydrate, aber auch weniger Fett, und damit ist die „quantitative Unterernährung" verschwunden. Gleichzeitig sind aber auch alle Folgerungen aus dieser vermeint- lichen Verschlechterung der Ernährung bei wachsender Industriali- sierung falsch oder doch sicher unbeweisbar; so die von Grotjahn behauptete Entartung, so auch alle auf ähnliches Material ge- gründeten Argumente in dem Streit über Agrar- und Industriestaat.

IV. Es ist also prinzipiell unrichtig, ein allgemein gültiges Normalkostmaß festzustellen. Es fragt sich nunmehr, ob eine richtige Methode vorhanden ist.

Nach obigem möchte es als das richtigste scheinen, getrennte Normalkostmaße für die einzelnen Arbeiterkategorien festzustellen und sie mit den Budgets dann zu vergleichen. Aber auch ab- gesehen davon, daß es praktisch schwer durchführbar wäre, hätte dies auch den Nachteil, daß eines der wesentlichsten Momente un- berücksichtigt bliebe: die Qualität und die Zubereitung, zusammen die Schmackhaft igkeit der Nahrung.

330

Fritz Kestncr,

Was ErnstEngels scharfer Blick vorausgesehen hatte, das wird von Jahr zu Jahr mehr durch die Forschungen der Physiologie be- stätigt : *) Die Wichtigkeit, die die Verdauung für die Ernährung hat und ferner die starken nervösen Einflüsse auf die Verdauung. Es kann sehr wohl sein, daß eine quantitativ an sich reichliche Nahrung, weil nicht schmackhaft und daher schlecht zu verdauen, auf die Dauer weniger zur Ernährung beitragen kann, als eine quantitativ geringere, aber sehr schmackhafte Nahrung. Daraus folgt aber, daß wir mit selbst noch so genauen Quantitätsangaben in den H.H.B. nicht genügend Aulschluß darüber erhalten, ob die Nahrung ausreichend und rationell ist Wenn auch geprüft werden kann, ob gewisse allgemeine Postulate, wie das Minimum der Kalorien- menge und des Fett Verbrauchs erfüllt sind, so ist doch im übrigen der Vergleich von Kostsätzen und Kostmaßen keineswegs er- schöpfend. — Dazu kommt noch, daß man mit der Menge der ein- gekauften Nahrungsmittel ja noch gar nicht weiß, wieviel davon tatsächlich in die Nahrung übergegangen ist Denn wird das Essen von einer Hausfrau besorgt, die nichts davon versteht, so werden die Nahrungsmittel schlecht ausgenutzt und es kann sein, daß höhere Ausgaben für Nahrung kein Beweis besserer Ernährung, sondern ungewandter Haushaltsführung sind.

V. Daraus folgt nun aber noch nicht, daß uns die HHB. ganz im Stiche ließen. Denn wir wissen doch immerhin durch die Physiologie ungefähr, welche Anforderungen man an die Ernährung bestimmter Personenkreise stellen muß und welche Zusammensetzung der Nahrung diesen Anforderungen entspricht

Für die Kost des normalen Industriearbeiters, der nicht zu schwere körperliche Arbeit leistet, ist mit einigen Modifikationen dasselbe bezüglich der Zusammensetzung der Nahrung zu verlangen, wie von der „frei gewählten Kost" der Wohlhabenden. Nicht ein hoher „Nährwert" ist erforderlich, sondern Eiweißreichtum und Wohlgeschmack (der Mensch braucht eine wechselnde Menge Ge- samtnahrung, je nach der Arbeit, dagegen immer etwa 100 gr Ei- weiß). Es müssen daher in erster Linie eiweißreiche Speisen, d. h. vorzüglich Fleisch, vorhanden sein. Weizenbrot enthält etwas mehr Eiweiß (7 Proz.), als Roggenbrot (6 Proz.) und erheblich mehr als Kartoffeln (2 Proz.). Des Wohlgeschmacks wegen ist

') vßl- J. P. Pawlow, Die Arbeit der Verdauungsdrüsen, deutsch von A. Walter. Wiesbaden »898.

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Die Bedeutung d. Haushaltungsbudgcts f. d. Beurteilung d. Erniihrungsproblcms. 331

von den Kohlehydraten besonders Zucker sehr erwünscht Fett, wegen seiner hohen Verbrennungswärme das wertvollste Nahrungs- mittel, muß unter allen Umständen in gewissem Maße vorhanden sein. Im übrigen richtet sich der Fettverbrauch nach der körper- lichen Arbeit Des Wohlgeschmacks wegen ist gute Qualität des Fettes sehr wichtig.

Die Nahrung muß ferner leicht verdaulich sein, weil sie sonst überflüssige Arbeit erfordert. Der Verlust bei der Verdauung ist sehr gering bei Fleisch, Fett, Milch, Käse; größer bei Erbsen, Weizenbrot und Kartoffeln, am stärksten bei Rüben und Roggen- brot Weizenbrot ist also sehr viel leichter ausnutzbar als Roggen- brot Sie darf andererseits nicht zu leicht verdaulich sein, weil sonst die Darmmuskeln erschlaffen. (Mögliche Folge: Obstipation und deren Folgen.) ')

IOO gr Eiweiß täglich sind unter allen Umständen erforder- lich, ein höheres Maß Eiweiß und viel Zucker sind sehr erwünscht für Fette und Kohlehydrate lassen sich, eben wegen der ver- schiedenen körperlichen Anstrengung, bestimmte Maße nicht fest- setzen. Unter den letzteren ist im allgemeinen Weizen- dem Roggenbrot und dieses den Kartoffeln vorzuziehen. Im übrigen entscheidet eine proportionale Zusammensetzung und eine Zu- bereitung, die die Nahrung schmackhaft macht

VI. Sieht man sich nach diesen allgemein gehaltenen Regeln nun die in Abschnitt I zusammengestellten Budgets an, so er- gibt sich:

i. Der Eiweißgehalt ist völlig hinreichend bei den Wohl- habenden, bei den besser bezahlten Arbeitern, bei einem Teil der ländlichen Bevölkerung, einem erheblichen Teil der Pforzheimer, einem geringeren Teil der schlesischen und belgischen und einem kleinen der Mannheimer Fabrikarbeiter. Sie ist nicht mehr aus- reichend bei einem Teil der schlesischen, Mannheimer und Pforz- heimer Arbeiter, einem erheblichen Teil der belgischen und Baseler sowie der industriellen Arbeiter und der ländlichen Bevölkerung der O. E. und der o. d. d. m. Er ist endlich völlig ungenügend bei den Zittauer Webern, den badischen Tabaksarbeitern, den böhmischen Baumwollspinncrn und einem Teil der belgischen Ar- beiter.

') Vgl. zum vorhergehenden die Inhaltsangabe der Vorträge in den Ludwigs- hafener Volksschulkursen 1902 von Prof. Cohnheim (Heidelberg), der auch diese Arbeit freundlichst durchgesehen hat.

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332

p

Fritz Kestncr,

2. Der Fettverbrauch deckt meist die betreffenden An- sprüche der körperlichen Arbeit. Er erscheint aber ungenügend bei einem erheblichen Teil der ländlichen Bevölkerung, wo gegen- über der schweren körperlichen Arbeit direkte Unterernährung an Fett zu konstatieren ist, sowie bei einigen der belgischen und Pforzheimer Arbeiter.

3. Der Zerealienkonsum ist im wesentlichen den An- forderungen entsprechend. Nicht genügend erscheint er bei einem Teil der ländlichen und industriellen Arbeiter der o. d. d. m., sowie erheblichen Teilen der Baseler und badischen Tabaksarbeiter. Letztere sind dieselben, bei denen der Kartoffelkonsum sehr stark ist. Im Verhältnis vom Roggen- zum Weizenbrot tritt letzteres, wie auch aus einem Teil der HHB. ersichtlich, in nicht erwünschter Weise vielfach zurück.

4. Der Kartoffelkonsum ist überall ausreichend. Er nimmt aber andererseits eine unerwünscht hohe Stellung ein bei sehr er- heblichen Teilen der schlesischen, belgischen und der badischen Tabaksarbeiter und den Zittauer Webern, sowie bei mehreren der industriellen Arbeiter der o. d. d. m., ferner sowohl bei den von Schnapper-Arndt auf dem Lande, wie unter Flesch in der Stadt beobachteten Arbeitern.

5. Der Zucker verbrauch ist am größten bei den Wohl- habenden und den englischen Arbeitern. Er ist ganz mangelhaft bei Zittauer Webern und bei Baseler Arbeitern, also den armen. Die Nachrichten der o. d. d. m. stammen aus zu alter Zeit, um be- weiskräftig zu sein.

Das Resultat ist im allgemeinen für die vergleichende Be- trachtung kein großes. Wir können aus den HHB. feststellen, in- wiefern die einzelne untersuchte Schicht rationell ernährt ist. Für die Gesamtheit ergibt sich nur die Bestätigung des eigentlich selbstverständlichen Axioms, das aber von neuem zu betonen nicht unwichtig ist: Je wohlhabender die Familie, desto rationeller und ausreichender ist die Nahrung. Innerhalb der Grenzen, die durch die verschiedenen Erfordernisse körperlicher Arbeit gezogen sind, entscheidet in Stadt und Land allein das Einkommen darüber, ob die Ernährung den physiologischen Geboten entspricht oder nicht.

VII. Eines besonderen Eingehens aber bedarf die Frage, ob die Ernährung der landwirtschaftlichen Bevölkerung eine prinzipiell bessere ist, als die der städtischen und ob sich daher mit zu-

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Die Bedeutung d. Haushaltungsbudgels f. d. Beurteilung d. Ernährungsproblems. 333

nehmender Industrialierung prinzipiell die Ernährung verschlechtert. Das ließe sich beantworten durch die Führung von zwei ver- schiedenen Beweisen:

a) Die ländliche Bevölkerung ist durchschnittlich besser er- nährt als' die industrielle.

b) Die tatsächlich industrialisierten Schichten waren, als sie noch auf dem Lande saßen, besser ernährt.

Beide Behauptungen lassen sich aus den HHB. nicht er- weisen.

a) Die Ernährung ist eine andere; die ländliche Bevölkerung nimmt, soweit erkennbar, mehr Zerealien zu sich als die städtische, wahrscheinlich auch mehr Milch. Daraus zieht Grotjahn den Schluß, daß die letztere quantitativ unterernährt ist Es beruht dies aber nicht darauf, daß die städtische Bevölkerung zu wenig Zerealien zu sich nimmt, sondern darauf, daß sie infolge geringerer körperlicher Arbeit weniger bedarf. Es gibt vielmehr schlecht er- nährte städtische und schlecht ernährte ländliche Schichten.

b) Man darf nicht gegenüberstellen die landwirtschaftlich Selbständigen, die Bauern, den schlecht gelohnten Fabrikarbeitern. Nicht aus jenen rekrutiert sich die industrielle Reservearmee, sondern im wesentlichen aus den Unselbständigen, den landwirt- schaftlichen Knechten und Landarbeitern. Ob diese besser ernährt werden, solange sie auf dem Lande leben oder sobald sie in die Stadt kommen, ist eine offene Frage. Aus den HHB. ist bisher nichts dafür zu beweisen. Denn auch unter der ländlichen Be- völkerung der O. E. und der o. d. d. m. sind gut ernährt nur die, die ein reichliches Einkommen haben, nicht dagegen *) die mit niedrigerem Einkommen, wie die meisten Arbeiter.

Es bleiben schließlich noch zwei Fragen zu beantworten: VIII. Besteht innerhalb der industriellen Arbeiter ein Unter- schied in der Ernährung zwischen den einzelnen Berufen? Darauf ist zu erwidern: Nur der, der durch die verschiedene körperliche

') Dies im einzelnen nachzuweisen, würde hier zu weit führen. Als Beispiel mag aber angeführt sein, daß die bei Grotjahn Nr. 40—43 angeführten baskischen, holländischen Fischer, schwedischer Schmied und norwegischer Giefler, deren Nahrung besonders gut und reichhaltig ist, ein Natural- und Geldeinkommen haben von 2453 fr., 5364 fr., 1264 fr., II 15 fr. in den 50er Jahren. Dagegen haben z. B. die schlecht genährten Landarbeiter aus der Bretagne und dem Dep. de l'Aisnc (bei Grotjahn Nr. 63 u. 67) ein Einkommen von nur 460 und 968 fr. Die Parallelen ließen sich leicht weiterführen.

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334

Fritz Kcstner,

Arbeit bedingt wird. Im übrigen entscheidet nur die Höhe des Einkommens.

Es ergibt sich das am besten aus Engels Untersuchungen über die belgischen Arbeiter 1891 (S. 104). Danach kamen von je 100 Mk Ausgabe in den Budgets der

auf Kohlcnbcrg- Eisenhütt.- Maschinen- Glas- Spinner u. Schrifts. u.

leute leutc bauer macher Weber Buchdr.

tier. Nahrung 24,18 19,44 28,86 31,36 23,67 31,85

pflanil. 31,85 28,33 33,17 32,27 31,49 27,68

während die jährlichen Ausgabebeträge für 1 Quet waren

93.57 84,71 98,67 103,03 89,21 m.sSMk.

Demnach haben den höchsten Verbrauch an tierischer Nahrung die Schriftsetzer und Glasmacher, die das größte Einkommen und von denen die Schriftsetzer die leichteste körperliche Arbeit haben. Dagegen ist der Zerealienkonsum bei den körperlich stark arbeitenden Kohlenberglcuten, Maschinenbauern und auch Glasmachern hoch. Bei den Spinnern und Eisenhüttenlcuten erklärt sich wieder der niedrige Fleischverbrauch aus ihrem in diesem Fall geringen Einkommen.

Auch in der sonstigen Literatur sind keine Differenzen der Ernährung in den einzelnen Berufszweigen zu finden, die sich nicht durch die zwei Momente : Höhe des Einkommens und Schwere der körperlichen Arbeit erklären ließen. Damit soll natürlich nicht geleugnet werden, daß sich lokale und territoriale Konsumgewohn- heiten herausbilden könnten. Letzteres ist besonders innerhalb der landwirtschaftlichen Arbeiter der Fall.

IX. Von dem höchsten Interesse wäre es endlich, könnte man mit Sicherheit die Änderungen feststellen, die innerhalb der beob- achteten Zeit in der Ernährung vor sich gegangen sind. Zur Lösung dieser vielumstrittenen Frage können aber die HHB. nur wenig beitragen, weil die Zeit ihrer Aufnahme nicht weit genug zurück liegt, und wir andererseits gegenüber den Budgets Le Plays aus den 50 er Jahren keine neueren Vergleichspunkte haben. Deshalb soll die wichtige Frage hier auch nur kurz gestreift werden.

Für die industriellen Arbeiter ist das einzig vorhandene Material die belgischen Erhebungen von 1853 und 1 891. Engel (S. 84) stellte bei ihrer Vergleichung fest, daß die Lebenshaltung in phy- sischer Hinsicht sehr erheblich gestiegen ist. Insbesondere hat der Verbrauch animalischer Nahrung sehr zugenommen, weniger der

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Die Bedeutung d. Haushaltungsbudgets f. d. Beurteilung d. Ernährungsproblems. 335

vegetabilischer. Es wurden jährlich in Mk. auf 1 Quet verwandt für tierische Nahrung 1853: 8,0 und 1891: 27,06, für pflanzliche Nahrung 1853: 25,60 und 1891 : 33,02. Die Ausgaben für tierische Nahrung stiegen von I auf 3,40, die für pflanzliche von 1 auf 1,29. Von 100 Mk. Gesamtausgaben entfielen auf tierische Nahrung 1853: i5,22°/0, 1891: 26,67 7o» auf pflanzliche 1853: 48,76 °/0, 1891 : 32,54 70.

Diese Engeischen Angaben bestätigen die uns auch sonst be- kannte Tatsache, daß die Lebenshaltung der städtischen Bevölkerung gestiegen ist, insbesondere der Fleisch- und Zuckerverbrauch. Die in der sonstigen Budgetliteratur vorkommenden zeitlichen Ver- gleichungen haben meist einem anderen Zweck gedient, nämlich dem, die Lebensverteuerung festzustellen, so die von Chatel enat, Schwedler, Kollmann, auch Hampke, der den naiven Ver- such macht, eine besondere Belastung des „Mittelstandes" heraus- zurechnen. —

Für die ländliche Bevölkerung liegen gar keine Möglichkeiten einer Vergleichung vor. Grotjahn meint (S.66), daß die zunehmende Merkantilisierung der Verkehrsmittel eine Verschlechterung der bäuerlichen Lebenshaltung bewirke. Er exemplifiziert auf die in der Schweiz von Schuler beobachtete Erscheinung, daß die Bauern die gute Milch in Butter und Käse umgewandelt verkaufen, nur die magere und schlechtere zurückbehalten. Ähnliche Erscheinungen wären bei uns der forcierte Zuckerexport und die Verwendung der Kartoffel zur Herstellung von gewerblichem Spiritus, statt zur Schweinemästung. Die beiden letzteren Beispiele stimmen nicht ; denn der Zuckerrübenbau entzieht dem Landwirt keinesfalls bis dahin vor- handene Nährstoffe unterstützt er doch die Viehhaltung ! und die mangelnde Schweineaufzucht liegt sicher nicht an dem Knapp- werden der Kartoffeln. Das Schweizer Beispiel dürfte richtig sein. Ob es mehr als vereinzelte Bedeutung hat, ist zu bezweifeln. Wenn, dann spräche es dagegen, in hohen Preisen der Produkte allein das Heil zu suchen, denn nur in solchen Fällen wird sie der Landwirt ja verkaufen.

III. Abschnitt.

Es liegt sehr nahe, allgemeine Zusammenhänge zwischen dem Familienstand und der Ernährung aufzustellen.

Da ist zunächst ohne weiteres klar, daß jede Familie mit

336

Fritz Kestner,

einem begrenzten Einkommen es schwerer hat, eine große Zahl Kinder aufzuziehen, als wenige. Ein Arbeiter mit IOOO Mk. Lohn- einkommen und 150 200 Mk. Nebeneinkommen durch Verdienst der Frau und Aftervermietung, die Bedeutung des Neben- einkommens in das rechte Licht gesetzt zu haben, ist eines der Hauptverdienste der HHB.-Literatur, kann sich, seine Frau und ein Kind sehr wohl rationell ernähren, nicht aber 8 oder 10 Kinder. Um dies festzustellen, bedurfte es nicht erst des zahlenmäßigen Beweises. Immerhin sind die in dieser Hinsicht vorliegenden An- gaben nicht uninteressant. Ad. Braun (16, S. 64) stellt fest, daß, je größer die Kopfzahl der Familie ist, desto mehr die animalischen hinter die vegetabilischen Nahrungsmittel zurücktreten. Ebenso ist bei Landolt der Fleischverbrauch bei den 4 kinderlosen Familien in Basel auf den erwachsenen Mann 93 66—43—45, bei den fünf kinderreichen 22 26 22 18 16 kg. Bei den Zittauer Webern kamen auf den erwachsenen Mann der kinderlosen Familien doch noch 1 1 kg Fleisch, der kinderreichen dagegen nur 5 kg. Es ließen sich noch zahlreiche ähnliche Beispiele anführen, stände die Tatsache nicht an sich schon fest.

Grotjahn (S. 45) meint, die Kinderzahl sei von ausschlag- gebender Wichtigkeit nur für die geldentlohnte Arbeiterschaft, spiele aber keine Rolle bei der in Naturalwirtschaft lebenden Bevölkerung. Das ist doch nur in enger Beschränkung richtig. Es gilt nur für diejenige selbständige und auskömmlich lebende ländliche Bevöl- kerung, die mit ihren Produkten noch gar nicht in die Verkehrs- wirtschaft einbezogen ist. Es gilt also weder für diejenige, die einen wesentlichen Teil ihrer Produkte zum Austausch bringt, worin Grotjahn einstimmen wird, noch auch für die an sich aus- kömmlich lebenden landwirtschaftlichen Schichten, die zu arm sind, sich genügend Vieh zu halten, und auch kaum für die, die einen Naturallohn empfangen. Daß in den ärmeren Schichten die Kinder- zahl auf dem Lande eine große Rolle spielt, geht gerade aus den Budget der O. E. und den o. d. d. m. hervor. Nur da kann ja die Zahl der Familienmitglieder gleichgültig sein, wo die von Kindern nicht verzehrten Produkte gar nicht verwertet werden. Ein prinzipieller Unterschied zwischen Stadt und Land in der Schwierigkeit, Kinder aufzuziehen, scheint mir, wenn überhaupt bestehend, eher vorzuliegen zwischen der bäuerlichen Bevölkerung und den entsprechenden Einkommensschichten der Stadt, also etwa kleinen Beamten und Lehrern, als zwischen der arbeitenden Bevölkerung. In Deutsch-

Die Bedeutung d. Hausbaltungsbudgets f. d. Beurteilung d. Ernährungsproblems. 337

land dürfte es allerdings kaum noch in größerem Maße Schichten geben, die noch gar nicht in die Verkehrswirtschaft einbezogen wären.

Von größerer Bedeutung wäre es, die Zusammenhänge klar- zulegen, die zwischen der Ernährung einerseits und der Tätigkeit der Frau und Mutter andererseits bestehen, ob diese nämlich außer Hause arbeitet und die Wirtschaft daher kaum oder gar nicht führt, oder ob sie wirtschaftet und nur gelegentlich dem Lohnerwerb nachgeht. Daß beides in einem ursächlichen Zusammenhang stehen muß, ist ja zweifellos, soviel auch durch andere Umstände z. B. das Wirtschaften einer ins Haus genommenen Verwandten die Sachlage sich ändern kann. Der Beweis, daß die Außerhausarbeit der Frau einen nachteiligen Einfluß nicht nur auf die sozialen Ver- hältnisse der Familie, wovon hier nicht die Rede ist, sondern gerade auch auf die wirtschaftliche Lage ausübt, ist für andere Gebiete der Lebenshaltung durch interessante Beispiele in der Budgetliteratur erbracht worden. So macht Gruber darauf aufmerksam, daß der von Schnapper- Arndt beschriebene Uhrschildmaler, dessen Frau fast ein Drittel der Gesamteinnahmen liefert, unverhältnismäßig viel 93»36 Mk. für Wäsche und Reinigung ausgibt. Auch Mehnert1) und Fuchs (13, S. 207) konstatieren die Lebensver- teuerung durch Außerhausarbeit der Frau. (Engel weist gelegent- lich auf vereinzelte Fälle hin, wo die Frau auswärts verdient und der Mann den Haushalt führt).2) Natürlich muß immer für die pe- kuniäre Seite bedacht werden, ob die Frau nicht andererseits viel mehr verdient.

Aber gerade für die Ernährung, das wichtigste, ist es un- möglich, zahlenmäßig dem Problem näher zu kommen. Denn die UnWirtschaftlichkeit äußert sich ja nicht im Mangel der Quantität, sondern der Qualität. Die Quantität wird sogar eher größer sein, weil sie schlecht ausgenützt wird, und demnach die Ausgaben höher (vgl. S. 25). Hier liegt denn auch der Kardinalpunkt für die Kritik der Beurteilung aller solcher Budgets. Wo außerdem Wirtshausbesuch an die Stelle häuslicher Ernährung tritt, fehlt jede

') Armee- und Volkscrnährung 1880. S. 334.

*) Ein interessantes Beispiel ist übrigens auch das Ahrental in Tirol, wo die Männer durch Einstellung eines Kupferbergwerkes arbeitslos geworden sind und wirtschaften, während die Frau durch Stricken und Klöppeln den Unterhalt erwirbt.

Archiv für Soiialwissennchaft u. Sozialpolitik. 1. (A. f. so*. C. u. St. XIX.) 2. 22

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338

Fritz Kestner,

Möglichkeit der Analyse. Auskunft können wir nur bekommen, wenn wir gleichzeitig erfahren, wie sich die Nahrung verschlechtert hat; d. h. also nicht aus dem Budget selbst, sondern höchstens aus den sie begleitenden Schilderungen. Dafür ist vor allem auf Fuchs (13), Landolt (7) und Meinert (a. a. O.) zu verweisen.

IV. Abschnitt.

Die in Abschnitt I und II getroffene Feststellung, welche Be- deutung dem einzelnen Nahrungsmittel innerhalb der Gesamt- ernährung zukommt, bedarf nun noch einer Ergänzung in zwei Richtungen :

1. Welchen Anteil hat die einzelne Gruppe von Nahrungs- mitteln an den Gesamtausgaben?

2. Welche Bedeutung haben die Ausgaben für Ernährung ins- gesamt an den Gesamtausgaben?

I. Allgemein läßt sich das leicht beantworten : Je geringer das Einkommen ist, desto größer ist die Bedeutung der Ausgaben für das einzelne Nahrungsmittel. Brauchen drei Familien je für 200 Mk. Brot, so bedeutet das für eine mit 20000 Mk. Einkommen I Proz., für eine mit 2000 Mk. Einkommen 10 Proz. und mit IOOO Mk. 20 Proz.

Tatsächlich ist allerdings der Unterschied ein noch schärferer, weil jede Ausgabe, die mit dem bestritten wird, was zur physischen Erhaltung nötig ist, sehr viel schwerer ins Gewicht fallt, als die, zu deren Bestreitung auch freies Einkommen herangezogen werden kann. Nehmen wir an, alle drei Familien wären gleich stark, und setzen ihr Existenzminimum auf 1000 Mk. fest, so trifft eine weitere notwendige Ausgabe von 10 Mk. die Familie mit IOOO Mk. Ein- kommen 100 mal stärker als die von 2000 Mk. denn hier trifft sie nur 1 Proz. des freien Einkommens und diese wieder 190 mal stärker, als die mit 20000 Mk. Einkommen, denn hier nimmt sie nur l!l9090 weg.

Diese Berechnung läßt sich aber nicht durchführen, weil wir die Existenzminima fast niemals genau bestimmen können. Ich will daher in praxi die Prozentberechnung der wichtigsten Nahrungs- mittel für das Roheinkommen zusammenstellen, unter Betonung der obigen Ausfuhrung. Es ist dies natürlich vor allem von Wichtigkeit für die Einwirkung von Preisänderungen. Vergleichen lassen sich aber immer nur die zur selben Zeit und auch im selben

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Die Bedeutung d. Haushaltungsbudgets f. d. Beurteilung d. Ernährungsproblcms. 339

Gebiet aufgenommenen Budgets. Das läßt sich nach unserem Material in fünf verschiedenen Gruppen durchfuhren.

1. Nach Engel (i, S. 96) entfielen von 100 Mk. jährlicher Aus- gabe auf 1 Quet bei Gesamtausgaben bis

auf 80 100 —120 —200 Mk. pro Quet.

tierische Nahrung 22,12 26,30 27,32 29,00

pflanzliche 39,98 34^2 32,21 27,62

Darnach werden die besser situierten Arbeiter durch Erhöhung der Fleischpreise um diese handelt es sich ja wesentlich bei der tierischen Nahrung um ein Drittel mehr, durch Erhöhung der Preise von Kartoffeln, Brot und anderen Vegetabilien um ein Drittel weniger betroffen als die schlecht gelohnten Arbeiter.

2. Für die Nürnberger Angaben ist das Resultat nicht un- bestreitbar, da wir von schlecht situierten Arbeitern nur eine Familie haben, also nicht wissen können, ob sie typisch ist Danach ver- wandten in Prozenten ihrer Gesamtausgaben die Familien mit

auf 1000 1250 —1500 —1750 2000 üb. 2000 Mk. Ausgaben

Fleisch 5,78

15.18

16,00

15,61

»5.57

14.74

Butter 1 ,40

0,59

o,59

0,91

1,50

i.«3

andere Fette 2,60

<M5

1,40

1,64

3.7«

2,38

Brot 21,44

9,80

7.9i

8,59

9.84

12,46

KartofT. u. Wurzelgew. 3, 1 2

1.57

M7

1,22

1,21

1,19

Zucker 2,54

1-53

1,68

1.52

MI

«.35

Wenn diese Angaben typisch sind, dann spielen bei den ärmeren Familien die Ausgaben für Kartoffeln und für Brot die zwei- bis dreifache Rolle als bei den besser situierten, die für Butter und Fett eine etwas größere, die für Fleisch eine fast drei- mal so geringe.

Sehr viel stärker treten die Unterschiede hervor, vergleicht man die ärmeren mit den wohlhabenden Familien.

3. Bei den 7 Hallenser Budgets von Hampke verwandten von 100 Mk. ihrer Ausgaben die Familien der 4 erwähnten

Wohlhabenheitsssufen

I.

II.

III.

IV.

auf Fleisch

7.00

10,30

10,50

6,50

Butter

5.30

3.20

2 90

2,70

andere Fette

2,50

1,30

0,63

0,24

Roggenbrot

10,60

3.03

1,90

1,00

Weißbrot

2,10

2,20

1,10

1,50

Kartoffeln

2,70

0,90

0,46

0,50

Wurst, Schinken

2,40

2,80

1,50

1,20

Zucker

0,80

1,10

1,50

0,88

22*

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340

Fritr Kcstncr,

Die ärmeren Familien verwenden also gegenüber den wohl- habenden das 5* und 10 fache auf Roggenbrot, das 5 fache auf Kartoffeln, das 4 fache bei Fetten, das doppelte auf Butter, Wurst und Schinken, dagegen kaum mehr auf Weißbrot und eher weniger auf Fleisch und Zucker. Dementsprechend sind auch die Preis- einwirkungen.

4. Eine solche Vergleichung ermöglichen ferner, allerdings auch nur für eine geringe Zahl von Budgets, die Erhebungen B a 1 1 i n s in Berlin und Charlottenburg, deren absolute Ziffern ich in Prozentzahlen umgerechnet habe. Es verwandten darnach in Prozenten ihrer Gesamtausgabe

Beruf

Markt- hclfer

Garten- arbeiter

Garten- arbeiter

Arbeiter in ein. Apoth.

Beamter Kaufm.

Kaufm

Gesausg. in Mk.

872

890

1041

2 266

5749

4406,50

6000

Fleisch

1 1

6

5

9

10

1 1—12

9 IO

inkl. Speck (ohne Wurst)

Milchwaren

2,2

4

5-3

3

4,7

5

(mit Eiern)

2,4

Fettwaren

7

9—10

10

>4

4

3

4

Weißbrot

4

t

7

6

2,4

Schwarzbrot

6

18

'5

9

,.» ,

} »

3

Kartoffeln

2,1

6

5

4

0,9

o,6

i,5

Zucker

2,3

2,2

3.6

2,1

1.6

1,6

0,6

Hieraus ergäbe sich, daß bei den Ärmeren die Ausgaben bei allen animalischen Produkten ungefähr gleich stark ins Gewicht fallen wie bei denen der Wohlhabenden, bei Zucker etwas mehr, bei Weißbrot und Fettwaren um etwa das doppelte, bei Schwarz- brot und Kartoffeln dagegen um das 4 5 fache.

5. Endlich lassen sich noch vergleichen die Angaben Landolts über die Baseler Arbeiter und niederen Angestellten mit zwei von Pfarrer Hofmann in Thurgau zur ungefähr gleichen Zeit auf- genommenen Budgets. Allerdings können hier nun schon lokale Verschiedenheiten eine Rolle spielen.

(Siehe die Tabelle auf S. 341.)

Das Bild erscheint infolge des hohen Milchverbrauchs sehr anders als in den deutschen Budgets. Immerhin läßt sich soviel auch hieraus erkennen, daß die Ausgaben für Brot und Kartoffeln bei dem Wohlhabenden eine sehr viel geringere Rolle spielen als in den Häusern der Ärmeren, während andererseits für Fleisch mindestens die gleichen Prozente, meist höhere, verwandt werden.

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Die Bedeutung d. Haushaltungsbudgets f. d. Beurteilung d. Ernährungsproblems. 341

Von den Gesamtausgaben entfielen in Prozenten auf:

|

*

hm

u

V

ja

3

V

1)

fc.

Beruf

a

0 </>

w

Schncidcrgcs«

Textilarbeiti

Maurergesel

0 rt

6 a

V

fc

&

bC

1)

22

JZ

1

Im W

!2 %j

je

Zigarrensorti«

Kommis

Landarbeit«

Pfarrer

Beamter

Gesamtausg. in Frcs.

1185U347

1365 1404

I488|i736|i840

1950 2109 2491(3941 4760

Fleisch

1,7

IOJ

4,6

4,4

n,3

15,5

7,7

6,6

9,2

5.i

11,1

11,7

Speck

1,7

o,3

0,4

o,i

o,3

o,5

0,4

o,7

Brot

8,7

4,»

«7,5

17,0

»4,7

3,»

6,3

»1,4

2,2

i3,o

2,6

2,9

Milch

»3,2

9,4

12,1

»3,2

16,1

9,i

8,1

12,9

6,6

12,4

1,6

2,5

Käse

2,5

1,2

0,2

0,1

0,2

0,8

o,5

0,4

1,7

o,9

oj

Fette u. Butter

2,4

2,8

4,3

3,4

3,7

3,o

2,5

1,8

4,o

5,3

2,2

o,3

Kartoffeln

1,1

2,5

»,6

3,o

0,5

0,6

o,9

0,6

ij

o,7

0,1

Zucker

.,2

o,9

1.4

1,2

1,0

0,7

0,8

i.5

0,2

0,2

0,4

0,1

Es sind also ungefähr überall dieselben Ergebnisse: Auf Fleisch und Zucker verwenden die Armen prozentual ungefähr dasselbe wie die Reichen, wenn nicht etwas weniger; auf Weiß- brot etwas mehr; auf Fette etwa das doppelte, natürlich ver- schieden nach den Sorten; dagegen sehr viel mehr auf Roggenbrot und Kartoffeln, nach den gegebenen Beispielen etwa 5 10 mal so viel. Das würde sich noch verschärfen, hätten wir Budgets von ganz Armen.

Diese Erkenntnis ist für die Einwirkung von Preisverschiebungen nicht unwichtig. Sie zeigt die unmittelbaren Wirkungen, die ein Steigen oder Fallen der Preise auf die Familie der betreffenden Einkommensschicht hat Damit ist natürlich der Einfluß von Preisanderungen noch nicht erschöpft Aber die mittelbaren Wirkungen, inwieweit ein Steigen oder Fallen der Preise den Ver- brauch des betreffenden Nahrungsmittels beschränkt oder erweitert, lassen sich aus den Ziffern der HHB. allein noch nicht erkennen.

II. Für die Bedeutung der Nahrungsausgaben überhaupt inner- halb der Gesamtausgaben wird zu gelten haben: Je kleiner das Einkommen, desto größer ist der Anteil der Ausgaben für Nahrung.

Bekanntlich hat nun die regelmäßige Wiederkehr dieser Beob- achtung, daß mit wachsendem Einkommen der Prozentsatz für Nahrungsausgaben fiele, Ernst Engel 11857 <^azu geführt, eine Gesetzmäßigkeit anzunehmen. Um dies zu verdeutlichen,

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Frite Keitner,

nicht um eine mathematische Regel aufzustellen, sagt er: Bei wachsendem Einkommen sänke der Prozentsatz der Nahrungs- ausgaben in geometrischer Progression.

Die grundlegende Tabelle Engels (1857, S. 31) lautete:

Wenn das gesamte jährliche Einkommen einer Familie beträgt, Francs :

200

300

400

500

600

700

800

900 1000 1 100 1500 2000 3000

so nehmen die Ausgaben für Nahrung davon in Anspruch Prorent :

72,96

7L48 70,11 68,85 67,70 66,65

65,69 64,81 64,00

63.25 60,75 58,65

56,90 und so fort.

Engel hat dieses Gesetz dann noch mehrere Male wieder- holt.1) Dann wurde es 1873 von v. d. Goltz für die ländlichen Arbeiter bestritten, *) während es Laspeyres*) bei den Budgets Le Plays bestätigt fand und ihm die Form gab: Mit wachsendem Einkommen steigen die Ausgaben für Nahrung absolut, aber fallen relativ. F r i e f *) bezweifelte die Richtigkeit für die schlesischen Arbeiter; hier gelte es erst, nachdem Wohnung und Heizung be- friedigend gedeckt wären. Hampke (a. a. O. S. 30 ff., wo auch weitere Literatur) unternahm dann 1885 ausführlich den Versuch an der Hand der Budgets von Zittauer Garnwebern, von Königs- berger Arbeitern (Samter) und Mühlhauscner Arbeitern (Dehn) fest- zustellen, daß es wenigstens gruppenweise stimme; aber nur mit Einschränkungen nach unten : erst müsse der standesgemäße Bedarf an Wohnung und Kleidung erfüllt sein, nach oben: nur bis zu

') In den S. 309 angeführten Schriften.

*) In verschied. Nummern der Zeilschr. Concordia 1875.

*) Ebenda 1875.

*) Frief, Die wirtschaftliche Lage der Fabrikarbeiter in Schlesien, Breslau

1876.

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Die Bedeutung d. Hausbaltungsbudgets f. d. Beurteilung d. Ernährungsproblems. 343

einer mittleren Einkommensschicht, v. d. Goltz' Widerspruch be- weise nichts, da das Gesetz immer nur örtliche Geltung habe.

Das Gesetz ist in die Lehrbücher übergegangen. Ich will hier nur hervorheben, daß es teilweise wenn auch unter Ablehnung der mathematischen Form anerkannt wird von Philippovich,1) Lexis,2) Ball in (3 S. 78), Gruber a. a. O. S. 89— 93 und Litera- turnachweis S. 149), 8) dagegen die Gesetzmäßigkeit im wesent- lichen bestritten wird von Nasse4) und neuerdings von Ad. Braun in den Nürnberger Erhebungen*) (16, S. 32 ff.).

Tatsächlich ist auch in der dort gegebenen Tabelle nichts zu finden, was für das Engeische Gesetz spräche, und das würde auch nicht der Fall sein, wenn man sie in Quets umrechnete. Nun ist die Nürnberger ja zwar keine Massenerhebung, aber sie berücksichtigt immerhin doch 44 Budgets, und Laspeyres hat 1873 behauptet, es müsse auch schon bei einer kleinen Zahl bei 40 stimmen.

Das Ergebnis ist also, daß spätere Beobachtungen z. T. die Richtigkeit ergeben haben, z. T. nicht. Es ist also kein Gesetz, enthält aber doch richtiges. Um zu erkennen, inwieweit, muß man auf die Ursachen des Gesetzes eingehen:

Dem „Gesetz" liegt zu Grunde die ökonomisch-psychologische Erkenntnis von der Rangordnung der Bedürfnisse. Die unentbehr- lichsten Bedürfnisse, das sind in unserem Klima: Wohnung, Kleidung, Nahrung, in gewissem Grade auch Heizung und Beleuchtung, müssen vor allen andern befriedigt werden. Daß eines von jenen entbehrlicher wäre als das andere, kann man nicht sagen. Sie müssen alle gedeckt sein, bevor andere Bedürfnisse befriedigt werden können. Da sie sich nun aber heute alle nur gegen Ent- gelt beschaffen lassen, so muß ein desto größerer Teil des Ein- kommens auf sie verwandt werden, je kleiner dasselbe ist. Sie

') Grundriß I. 3. Aufl. S. 338.

*) In Schönbergs Handbuch Bd. I. 3. Aufl. S. 711.

*) Roscher, I. Bd. 22. Aufl. S. 643 sagt „gewöhnlich".

*) In den Jahrb. für Nat. Ökon. u. Statistik III F. II, S. 398 ff. auf Grund eines Vergleiches zwischen englischen und Saarbrilcker Bergarbeitern.

5) Es wird dort die Möglichkeit offen gelassen, ob sich bei einer großen Zahl von Erhebungen eine Gesetzmäßigkeit einstellte. An derselben Stelle und in der Einleitung wird in sehr instruktiver Weise dargelegt, wie sich die Ausgabenverhalt- nissc verändern, wenn man nur einen Monat oder wenn man ein ganzes Jahr hin- durch die Budgets aufnimmt.

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Fritz Kestncr,

zusammen bilden das, was man physische Erhaltung nennt- Der Prozentsatz der Ausgaben für physische Erhaltung fällt also regelmäßig mit wachsendem Einkommen.') Aber nur so lange, als der Einkommenspunkt noch nicht erreicht ist, an dem die physische Erhaltung wirklich möglich geworden ist und die unentbehrlichen Bedürfnisse befriedigend gedeckt sind Von diesem Augenblick an hört jede Regelmäßigkeit auf die individuellen, eventl. auch die Standesneigungen bestimmen, für was die weiter vorhandenen Teile des Einkommens verwandt werden. Eine weitere Regelmäßigkeit ist dann nur noch schein- bar, weil auch in Nahrung, Kleidung, Wohnung sich Bestandteile finden, die zur physischen Erhaltung und solche, die zum Komfort dienen. Mehr als das obige kann man nicht feststellen.2)

Zu bemerken ist noch, daß selbst das wenige, was sich be- haupten läßt, nicht überall ausnahmslos stimmt. Es ist möglich, daß, wie das bei Beamtenfamilien berichtet wird, Entbehrungen selbst innerhalb der Sphäre physischer Erhaltung vorkommen, um die Befriedigung des anderen großen Bedürfnisses, das nach An- erkennung, zu ermöglichen.

Auch hier also zeigt sich wieder die Grenze, die allen Folgerungen aus den HHB. immer gezogen ist Daß das vor- handene Material manche Aufschlüsse bietet und in einigen Be- ziehungen auch noch weiter durchforscht werden kann, ist zweifel- los. Auf der anderen Seite aber kann nicht scharf genug hervor- gehoben werden, daß wirklich exakte Vergleiche bisher nicht möglich sind und daß man ein System nicht darauf aufbauen kann. Die Versuche, die jene Grenze überschritten, sind gescheitert Bevor sie mit Erfolg unternommen werden könnten, bedürfte es einer großen Zahl neuer HHB., besonders aus den Kreisen der wohlhabenden und der landwirtschaftlichen Bevölkerung.

') In dieser Form ebenfalls wiederholt von Engel ausgesprochen.

*) Daß Engel eine solche Gesetzmäßigkeit annahm, läßt sich vielleicht daraus erklären, daß die Preise von Wohnung und Kleidung damals noch ziemlich gleich- mäßige waren und keine große Rolle für den Beobachter spielten, als er das „Gesetz" aufstellte; die Verschiedenheit der Lebenshaltung drückte sich überwiegend in den Ausgaben für Nahrung aus.

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Die Bedeutung d. Haushaltungsbudgets f. d. Beurteilung d. Ernährungsproblems. 345

V. Abschnitt.

Zum Schluß noch einige Betrachtungen über die Folgen für Privat- und Volkswirtschaft, die sich aus vorstehendem ergeben :

I. Die wachsende Bedeutung, die die moderne Physiologie der Schmackhaft igkeit der Speisen beilegt, macht es, in Verbindung mit sonstigen volkswirtschaftlichen Erscheinungen, immer dringender notwendig, fiir eine wirtschaftliche Ausbildung derjenigen Sorge zu tragen, die dem Arbeiter und seiner Familie das Essen bereiten. Ob dies zu geschehen hat durch obligatorischen Kochunterricht in Volksschulen und Fortbildungsschulen für Fabrikmädchen, oder etwa durch Einrichtungen, wodurch für eine Reihe von Familien zusammen von einer „sachverständigen" Kraft das Essen bereitet wird, darüber können die HHB. natürlich keinen Aufschluß geben. Für jetzt wird wohl das erstere noch im Vordergrund zu stehen haben. Jedenfalls aber muß vorgesorgt werden, daß bei der Speisenbereitung im Arbeiterhaushalt größere Sach- kunde zur Anwendung kommt.

II. Für die Politik der Steuern und Zölle auf Nahrungs- mittel ergibt sich das Notwendige bereits aus dem, was über den Einfluß von Preisverschiebungen im IV. Abschnitt gesagt worden ist Wenn eine Steuer oder ein Zoll das betreffende Nahrungs- mittel verteuert, treten alle die dort beschriebenen Wirkungen der Preiserhöhung auf und gelten alle die Berechnungen über die Be- lastung des Einkommens der einzelnen Vermögensklassen.

Steuer und Zoll brauchen ja eine Verteuerung nicht zu ver- anlassen. Sie können auf dem Produzenten liegen bleiben oder von ihm durch Betriebsverbesserungen ausgeglichen werden. Letzterer kann unter gewissen bestimmten Umständen vom Ausland getragen werden, er kann auch die Produktion vergrößern und dadurch bei freier Konkurrenz die Preise wieder herabsetzen. Beide können aber auch den Konsumenten treffen, besonders wenn es sich um unentbehrliche, im Inlande nicht ausreichend hergestellte Gegen- stände handelt Wann einer dieser Fälle zutrifft, ist Sache jedes- maliger Feststellung.

Es ist bisher erst selten versucht worden, direkt die Einflüsse einer bestimmten Zoll- oder Steuerpolitik aus den Veränderungen in den Ziffern der HHB. herauszulesen. Das ist natürlich nur möglich, wenn man denselben Haushalt eine längere Zeit vor und

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Fritz Kestner,

nach der Einfuhrung eines neuen Zolls beobachtet, obgleich selbst dann noch große Schwierigkeiten entstehen können, da außer dem Zoll immer noch verschiedene andere Ursachen der Preisbildung tätig sein können. Bei Einfuhrung der Schutzzollgesetzgebung von 1879 wurden in Berlin einige HHB. aufgenommen, aus denen die Gegner derselben einen starken Einfluß des Zolls herauslesen. Die Anhänger des Schutzzolls zweifelten andererseits die Richtig- keit an.

Es ist übrigens zur Führung solcher Beweise die Aufnahme von Budgets nicht unbedingt nötig. Kennt man den durchschnitt- lichen Verbrauch und die Detailpreise am betreffenden Ort, so läßt sich die Belastung bei gegebenem Verbrauch einwandsfrei er- mitteln. Von Bedeutung wäre vielmehr nur, festzustellen, ob die Belastung eine Änderung in der Richtung des Konsums hervor- gerufen hat Zur Feststellung in dieser Hinsicht genügt unser Material bisher nirgends.

Die Arbeiterbudgets haben aber trotzdem in der volkswirt- schaftlichen Literatur vielfach dazu gedient, den Einfluß der Gesetz- gebung in Zoll- und Steuersachen auf den Privathaushalt zu er- hellen, im wesentlichen um Zölle und Steuern auf Nahrungsmittel, zuweilen auch indirekte Steuern überhaupt zu bekämpfen. Es seien als Beispiele unter der großen Literatur hervorgehoben zunächst Engel,1) ferner Conrad,2) Landolt (7), Mombert,8) dem sich Grotjahn (S. 67) anschließt, Ad. Braun (16).

Von volkswirtschaftlicher Bedeutung ist fernerhin, wie hinzu- gefugt werden mag, die durch die HHB. ermöglichte Feststellung des durchschnittlichen Konsums in einzelnen Klassen, vor allem wichtig für die Produzenten, die dadurch über dieAusdchnungs- fähigkeit im Konsum ihrer Produkte vieles erfahren könnten. Man kann dies feststellen, indem man den durchschnitt- lichen Verbrauch in der beobachteten Schicht vergleicht mit dem Durchschnittskonsum der Bevölkerung. Die Berechnung ist natür- lich nur dann möglich, wenn, wie bei Zucker, Bier, Branntwein, Salz, Tabak, Kaffee (durch den Zoll) allgemeine Verbrauchs- berechnungen vorliegen. Außerdem muß die beobachtete Schicht typisch sein.

') Z. B. in der Abhandlung von 1857, S, 31.

*) Jahrb. für Nat.-Ökon. und Statistik 1873. XVI, S. 242 fr.

s) Die Belastung des Arbeitereinkommens durch Kornzölle. Jena 1901.

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Die Bedeutung d. Haushaltungsbudgets f. d. Beurteilung d. Ernährungsproblems. 347

So war z. B. der Zuckerverbrauch der Nürnberger Arbeiter 10 V8 kg pro Kopf, d. h. 1901 so hoch wie der der ganzen Be- völkerung im Betriebsjahre 1893 94. Dabei stellen die Nürnberger Zahlen nicht den durchschnittlich, sondern den hochgelohnten Arbeiter dar. Bei Kaffee ist der Durchschnitt für den Nürnberger I Vi kg jährlich, für den Deutschen 4 kg. Allerdings ist wahr- scheinlich der Kaffeeverbrauch in Nürnberg infolge hohen Bier- konsums — niedriger als in anderen Gegenden.

Eine Vermehrung des Konsums kann herbeigeführt werden

1. durch Erhöhung des Einkommens einer Bevölkerungsschicht,

2. durch ein Herabgehen der Preise. Wie das erstere wirkt, ließe sich bei mehrjähriger Betrachtung des Haushalts konstatieren, falls sich das Einkommen der Familie aufwärts bewegt. Wie das zweite, durch eine Vergleichung der verzehrten Summen bei gleich- bleibendem Einkommen mit den Detailpreisen. Das letztere ließe sich aber wohl viel allgemeingültiger und leichter aus den Geschäfts- berichten der größeren Konsumvereine entnehmen.

Eine vergleichende Betrachtung zwischen der Tätigkeit der letzteren und den HHB. ist von Kuhna angestellt worden. Die schwierige Untersuchung, inwieweit sich der Einfluß derselben auf die Ernährung der Minderbemittelten bereits geäußert hat, wäre eine Aufgabe für sich.

IV. Uber das viel erörterte Problem vom Agrar- und Industriestaat könnten die HHB. an sich wohl manchen Auf- schluß geben, wenn es gelänge, dieselben Leute, deren Nahrung man auf dem Lande untersucht hat, nachher in der Stadt von neuem zu erforschen. Bisher ergeben die HHB. in dieser Be- ziehung gar nichts. Der von Grotjahn unternommene Versuch, eine prinzipielle Verschlechterung der Ernährung durch die Industriali- sierung nachzuweisen, muß als durchaus gescheitert angesehen werden. Auch im übrigen ist die Budgetliteratur, namentlich für die ländliche Bevölkerung, zu gering, um Aufschlüsse über die gegenwärtigen Unterschiede der Ernährung im allgemeinen zu geben. Ebensowenig ist für das Entartungsproblem bisher irgend etwas erwiesen worden.

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GESETZGEBUNG.

Die Ausdehnung des Arbeiterschutzes in Frankreich. l)

(Das Gesetz vom n. Juli 1903.)

Von

Dr. JULIUS LANDMANN

in Basel.

L

In Übereinstimmung mit den Entwicklungstendenzen, die in der Geschichte des Arbeiterschutzes in allen Ländern zum Aus-

J) Quellen: Rapport sur les conditions du travail des personnes non pro- tegees par la legislation actuellc, präsente au nom de la commission permanente [du conseil superieur du travail] par M. Victor Dalle. Rapport special sur les industries de l'alimentation par M. Jules Barafort. LIX S. 4°, Paris. Impri- merie nationale. 1901. Conseil superieur du travail. Documents annexes aux rapports de M. M. Dalle et Barafort sur la rcglementation du travail dans les bu- reaux et magasins et dans les petites industries de l'alimentation. 261 S. 40. Paris, Imprimcrie nationale. 1901. La Session du conseil superieur du travail. 3 au 13 juin 1901, Beriebt im „Bulletin de l'Office du Travail", 1901, S. 391 ff. Projet de loi (et expose de motifs) portant modification de la loi du 12 juin 1893 (document Parlament. No. 2875). Rapport fait au nom de la commission du travail chargee d'examiner le projet de loi portant modification de la loi du 12 juin 1893... Par M. Arthur Groussier, depute (doc. pari. No. 2931). Proces-verbal de la seance [de la chambre des deputes] du 6 fevrier 1902. Rapport fait au nom de la commission charge d'examiner le projet de loi, adopte par la chambre des deputes, portant modification de la loi du 12 juin 1893... Par M. Paul Strauß, senateur (doc. pari. No. 101). Proces-verbal de la seance [du senat] du 3 fevrier 1Q°3- Rapport supplementaire fait au nom de la commission chargee d'examiner le projet de loi adopte par la chambre des deputes, portant modification de la loi du 12 juin 1893... P»r M. Paul Strauß, senateur (doc. pari. No. 115). Proces-verbal de la seance [du senat] du 16 juin 1903. Rapport fait au nom de

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Julius Landmann, Die Ausdehnung des Arbeiterschutzes in Frankreich. 34g

druck kommen, weist auch die Arbeiterschutzgesetzgebung Frank- reichs in ihrem historischen Werden die Tendenz auf, ihr Geltungs- gebiet nach zwei Richtungen hin auszudehnen : es erweitert sich der Kreis der geschützten Arbeiterkategorien und gleichzeitig der Kreis der den Arbeiterschutzgesetzen unterstehenden Berufszweige.

Das Gesetz vom 22. März 1841, mit welchem der moderne Arbeiterschutz in Frankreich einsetzt, ist ein Gesetz zum Schutze der Kinder in Fabriken und Werkstätten ; es folgte das Gesetz vom 19. Mai 1874, das zwar ebenfalls auf Fabriken und Werkstätten beschränkt blieb, dagegen den Kreis der geschützten Arbeiter- kategorien erweiterte, indem es neben den Kindern noch die jugend- lichen Arbeiter und Arbeiterinnen mit in sein Geltungsgebiet ein- bezog. Das Gesetz vom 2. November 1892, betr. die Arbeit von Kindern, minderjährigen Mädchen und Frauen in gewerblichen Be- trieben, unterwarf auch die Arbeit erwachsener Frauen der gesetz- lichen Regelung und endlich zog das Gesetz vom 12. Juni 1893, betr. den Schutz der Gesundheit und die Sicherung der Arbeiter, nach dieser Seite hin die äußerste Konsequenz, da es sich auf alle Betriebe ohne Ausnahme erstreckt, mithin auch auf solche, die ausschließlich erwachsene Männer beschäftigen.

Für den Rechtszustand vor Erlaß des Gesetzes vom 11. Juli 1903, das den Gegenstand der nachfolgenden Seiten bildet, sind die nachfolgenden fünf Gesetze von ausschlaggebender Bedeutung:

1. Gesetz vom 9. September 1848, betr. die Arbeitsdauer in Manufakturen und Fabriken;

2. Gesetz vom 2. November 1892, betr. die Arbeit der Kinder, minderjährigen Mädchen und Frauen in gewerblichen Betrieben, nebst

3. Novelle zu diesem Gesetze, vom 30. März 1900 (loi Mille- rand) ;

la commission du travail chargec d'examincr )e projet de loi adopt6 par la chambre des deputes, adopte avec modification par le Senat, portant la modification de la loi du 12 juin 1893... par M. Lucicn Cornet, depute (doc. pari. No. 1144)- Proccs-verbal de la seance [de la chambre des deputes] du 3 juillet 1903. Circu- lairc [du ministcre du commerce et de l'industric] du 15 septembre 1903, concer- nant l'applicaüon de la loi du 11 juillet 1903 modifiant la loi du 12 juin 1893. „Bulletin de l'inspccüon du travail" 1903, Kr. 3. 4, S. 96 ff. Vgl. auch C ha illcy- Bert et Arthur Fontaine, Lois sociales, Paris, 1896, S. 96fr. „Bulletin des internationalen Arbeitsamtes", Bd. II, 1903, S. LXVIII ff. und S. 373.)

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Gesetzgebung.

4. Gesetz vom 12. Juni 1893, betr. den Schutz der Gesundheit und die Sicherung der Arbeiter in gewerblichen Betrieben;

5. Gesetz vom 29. Dezember 1900, betr. die Arbeitsbedingungen der in Magazinen, Kramläden usw. beschäftigten weiblichen Per- sonen.

Außer diesen fünf Gesetzen, deren Durchfuhrung der Gewerbe- inspektion obliegt, wäre noch 6. das Gesetz vom 22. Februar 1851, betr. den Lehrvertrag, zu erwähnen, mit dessen Durchfuhrung die Polizeibeamten betraut sind.

1. Das Gesetz vom 9. September 1848 ist nur auf „Manufakturen und Fabriken" (manufactures et usines) anwendbar. Die beiden Begriffe sind gesetzlich nicht definiert und auch die Praxis der Gerichte war längere Zeit hindurch schwankend. Durch einen Ministerialerlaß vom 28. November 1885 wurden endlich die Gewerbeinspektoren angewiesen, als „Manufaktur oder Fabrik" an- zusehen: a) alle Betriebe mit motorischer Kraft oder mit ununter- brochenem Feuer; b) alle gewerblichen Betriebe, die mehr als 20 Arbeiter beschäftigen.

Dem Gesetze vom 9. September 1848 unterstehen, seit dem Erlaß des Gesetzes vom 2. November 1892 nur erwachsene männ- liche Arbeiter im Alter von über 18 Jahren und auch von diesen, seit dem Erlaß der Novelle vom 30. März 1900, nur diejenigen, die nicht zusammen mit Kindern, Jugendlichen oder Frauen beschäftigt sind. Der Art. 1, Abs. 1 des Gesetzes von 1848 beschränkt die Höchstdauer der täglichen Arbeitszeit auf 12 Stunden; Art. 2 des Gesetzes, zu dessen Ausführung der seither mehrmals abgeänderte Erlaß vom 17. Mai 185 1 erfloß,1) sieht die Ausnahmen von dem im Art. 1 aufgestellten Grundsatze vor.

2. Das Gesetz vom 2. November 1892 5) regelt die Arbeitsbedingungen der Kinder, minderjährigen Mädchen und Frauen in Manufakturen, Fabriken, Bergwerken, Steinbrüchen, Bau- plätzen, Werkstätten aller Art. Es enthält im wesentlichen die nachfolgenden Bestimmungen :

a) Zulassungsalter. In den dem Gesetze unterstehenden Betrieben dürfen Kinder grundsätzlich nicht vor dem zurückgelegten

l) Zuletzt abgeändert und kodifiziert durch Erlaß vom 28. März 1902, vgl. „Bulletin des internationalen Arbeitsamtes*', Bd. I. 1902, S. 277—279 und S. XLV und 513—520.

s) Vgl. „Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik", Bd. VI, S. ll6rT.

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Julius Landmann, Die Ausdehnung des Arbeiterschutzes in Frankreich. 351

13. Altersjahre beschäftigt werden; ausnahmsweise ist die Be- schäftigung von Kindern im Alter von über 12 Jahren gestattet, falls diese ihrer Schulpflicht nachkamen und im Besitze eines ärzt- lichen Tauglichkeitsattestes sind.

b) Arbeitsdauer und Pausen. Die Bestimmungen des Gesetzes von 1892 über Arbeitsdauer und Arbeitspausen wurden durch die Novelle von 1900 einer vollständigen Änderung unter- worfen. Die Bedingungen für die Gewährung der im Gesetze vom 2. November 1892 vorgesehenen Ausnahmen wurden durch Erlaß vom 15. Juli 1893, Art. 1 und 5, genau festgesetzt.

c) Nachtarbeit. Jede Arbeit zwischen 9 Uhr abends und 5 Uhr morgens ist Kindern, Jugendlichen und Frauen verboten; für eine Reihe von Industrien, insbesondere solche mit ununter- brochenem Feuer, sind Ausnahmen von diesem grundsätzlichen Verbote vorgesehen, zu deren näheren Ausfuhrung die Art. 1, 2, 3 und 4 des Erlasses vom 15. Juli 1893 dienen.

d) Ruhetage. An dem gesetzlich vorgeschriebenen wöchent- lichen Ruhetage und an den sonstigen gesetzlichen Feiertagen dürfen Kinder, Jugendliche unter 18 Jahren und Frauen nicht be- schäftigt werden; die zulässigen Ausnahmen sind durch Art. 5 des Erlasses vom 15. Juli 1893 geregelt.

e) Gefährliche, gesundheitsschädliche und sitt- lichkeitsgefährdende Arbeiten sind für Kinder, Jugendliche und Frauen verboten; das Verzeichnis dieser Arbeiten ist im Er- lasse vom 13. Mai 1893 enthalten; ebenda sind auch diejenigen gefährlichen und gesundheitsschädlichen Arbeitsarten aufgeführt, bei welchen die Verwendung der vorerwähnten Arbeiterkategorien zwar nicht verboten, jedoch von der Erfüllung gewisser Bedingungen ab- hängig gemacht ist.

f) Durchführung und Kontrolle. Kinder und Jugend- liche im Alter unter 18 Jahren dürfen nicht beschäftigt werden, wenn sie sich nicht im Besitze eines Arbeitsbuches befinden, aus dem zu ersehen ist, daß sie den Bedingungen nachgekommen sind, unter denen das Gesetz die Beschäftigung dieser Arbeiterkategorien gestattet Die Unternehmer sind verpflichtet: 1. ein Verzeichnis der in ihren Betrieben beschäftigten Kinder und Jugendlichen zu führen; 2. das Gesetz und die auf Grund des Gesetzes erlassenen Verordnungen im Betriebe anzuschlagen; 3. einen Anschlag über die Arbeitsstunden, die Zeit und die Dauer der Ruhepausen und über den für Kinder, Jugendliche und Frauen vorgeschriebenen

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Gesetzgebung.

wöchentlichen Ruhetag im Betriebe anzubringen. Die Kontrolle über die Durchführung des Gesetzes liegt in den Händen der Ge- werbeinspektion.

3. Das Gesetz vom 30. März 1900 ist auf alle Betriebe anwendbar, die dem Gesetze vom 2. November 1892 unterstehen. Es schützt: a) Kinder, Jugendliche im Alter unter 18 Jahren und erwachsene Frauen; b) diejenigen erwachsenen männlichen Arbeiter, die zusammen mit den vorerwähnten Arbeiterkategorien beschäftigt werden. Es bestimmt:

a) daß die Arbeitsdauer in den dem Gesetze unterstehen- den Betrieben bis zum 31. März 1902 elf Stunden, vom 1. April 1902 bis zum 31. März 1904 zehn und eine halbe Stunde und vom 1. April 1904 an zehn Stunden täglich betragen soll;

b) daß die Arbeitszeit durch eine oder mehrere Pausen unter- brochen werden muß, die zusammen mindestens eine Stunde dauern sollen; während der Pause ist jede Arbeit verboten; die Zeit, in welche die Pausen fallen, ebenso der Beginn und der Schluß der Arbeitszeit müssen für alle Arbeiter des Betriebes gleichmäßig ge- regelt sein.1) Nach einer Entscheidung des Kassationsgerichtshofes vom 26. Januar 1901 sind diese Bestimmungen über die Pausen auch auf die in den dem Gesetze unterstellten Betrieben beschäf- tigten erwachsenen männlichen Arbeiter anwendbar.

4. Dem Gesetze vom 12. Juni 1893 unterstehen Manu- fakturen, Fabriken, Hüttenwerke, Bauplätze, Werkstätten usw., ohne Rücksicht auf die Kategorie der darin beschäftigten Arbeiter. Ein- zelne Bestimmungen dieses Gesetzes sind auch auf Theater- und Zirkusunternehmungen und sonstige nicht gewerbliche Betriebe, in welchen Maschinen verwendet werden, anwendbar.

Wie der Titel des Gesetzes besagt, bezweckt es ausschließlich die Sicherung des Lebens und der Gesundheit durch hygienische Maßregeln. Die Ausführungsdetails sind in einem Erlasse vom 10. März 1894 enthalten.

5. Das Gesetz vom 29. Dezember 1900 ist auf Magazine und Kramläden anwendbar, jedoch nur so weit, als darin weibliches

J) Eine Entscheidung des Kassationshofes vom 30. November 1901 sprach sich gegen die Auffassung aus, als müßten die Pausen für alle Kategorien gleich- mäßig geregelt sein. Folge dieser Entscheidung war und ist eine fast absolute Un- möglichkeit der Kontrolle der Arbeitsdauer der erwachsenen Männer; vgl. Rapports sur l'application pendant l'annee 1902 des lois rcglementants lc travail.

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Julius Landmann, Die Ausdehnung des Arbeiterschutzes in Frankreich. 353

Verkaufspersonal beschäftigt ist; es kann als eine kleine Ergänzung des Gesetzes vom 12. Juni 1893 angesehen werden, indem es wesentlich einen hygienischen Zweck verfolgt. Seine einzige Be- stimmung betrifft die Gewährung von Sitzgelegenheit für das weib- liche Verkaufspersonal.

6. Das Gesetz vom 22. Februar 1851 hat einen äußerst engen Geltungskreis. Es ist nur dann anwendbar, wenn: 1. ein Lehrvertrag mit einem Fabrikanten oder Werkstättenbesitzer (nicht mit dem Besitzer eines kaufmännischen Betriebes) abgeschlossen wurde, und wenn 2. der Lehrling den Bestimmungen des Gesetzes vom 2. November 1892 nicht untersteht. Infolge der seither er- folgten Entwicklung der Gesetzgebung ist demnach dieses Gesetz gegenwärtig nur noch auf die Lehrlinge der Kleinindustrie der Nahrungs- und Genußmittel anwendbar.

Soweit die Übertretung der Bestimmungen dieses Gesetzes unter Strafandrohung gestellt ist, und somit für die Durchfuhrung eine Handhabe geboten ist, besagen sie:

a) die effektive Arbeitsdauer der Lehrlinge im Alter unter 14 Jahren darf 10 Stunden, der im Alter unter 16 Jahren 12 Stunden täglich nicht überschreiten;

b) Lehrlinge im Alter unter 16 Jahren dürfen zur Nachtarbeit nicht herangezogen werden;

c) zur Arbeit an Festtagen dürfen Lehrlinge unter 16 Jahren nur bei Werkstättenreinigungsarbeiten verwendet werden;

d) den Lehrlingen, die noch zum Besuche des Ergänzungs- unterrichtes verpflichtet sind, müssen täglich zu diesem Zwecke zwei Stunden freigegeben werden, die von der effektiven Arbeits- dauer in Abzug zu bringen sind.

Aus der vorstehenden Analyse der sechs wichtigsten französi- schen Arbeiterschutzgesetze ist ersichtlich, daß diese Gesetzgebung hinsichtlich des Umfanges der geschützten Arbeiterkategorien ins- besondere aber hinsichtlich des Kreises der den gesetzlichen Be- stimmungen unterstellten Gewerbezweige bisher manchen derjenigen Anforderungen nicht entsprach, deren Erfüllung heute überall von einer vorgeschrittenen Sozialgesetzgebung verlangt wird, und denen auch die Gesetzgebung einiger europäischer Industriestaaten bereits nachgekommen ist.

Wir sehen in Frankreich, außer den gesetzlich geschützten Arbeiterkategorien: 1. gesetzlich absolut ungeschützte und 2. ge- setzlich nur teilweise und mangelhaft geschützte Kategorien.

Archiv für So*ia!wiMeu»chaft u. Sozialpotilik. I. (A. f. sox. G. u. St. XIX.) 1. 23

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Gesetzgebung.

I. Zu den gesetzlich absolut nicht geschützten Kategorien ge- hören :

a) die landwirtschaftlichen Arbeiter;

b) das Hausgesinde;

c) die Arbeiter und Angestellten der Transportunternehmungen zu Wasser und zu Lande. Immerhin bestehen für einen Teil der Angehörigen dieser Berufsgruppen (insbesondere für die Maschi- nisten, Heizer, das Zugpersonal und das Personal der Bahnhöfe) in den Erlassen des Ministers der öffentlichen Arbeiten Ansätze zu einem Schutze;

d) die Angestellten in Bureaus, Kontoren usw., jeden Alters und beider Geschlechter l) ;

e) Handelsangestellte und sämtliche Angestellten in kaufmänni- schen Betrieben *) ;

f) sämtliche Arbeiter und Angestellte (mit Ausnahme der Lehr- linge) in der Kleinindustrie der Nahrungs- und Genußmittel (Brot- und Zuckerbäckereien, Schlächtereien, Wurstereien) und im Be- herbergungs- und Erquickungsgewerbe l) 2) ;

g) die Arbeiter der Hausindustrie.

II. Innerhalb der zweiten nicht geschützten Kategorie können wir zwei Unterabteilungen konstatieren:

A. Arbeiterkategorien, die keinen Schutzgesetzen unterstehen, mit Ausnahme jener über Hygiene und Sicherheit; dies sind:

') Nunmehr durch die Novelle vom n. Juli 1903 dem Gesetze vom 12. Juni 1893 unterstellt.

*) Die Klcinindustric der Nahrungs- und Gcnußmittel unterstand bis Anfang der 90 er Jahre den Normen der Arbeiterschutzgesetze, insbesondere des Gesetzes von 1874 und der Kontrolle der Inspektoren; die Gesetze vom 2. November 1892 und vom 12. Juni 1893 wurden anfänglich auch auf diese Industrie angewendet Die Durchführung des Gesetzes von 1892 (Arbeitszeit) vcranlaßte eine Reihe von Rekursen und einander widersprechenden gerichtlichen Entscheidungen, die in letzter Instanz zur Abgabe eines Gutachtens durch den Staatsrat führten, wonach die Klein- industrie der Nahrungs- und Genußmittel als dem Gesetze von 1892 nicht unter- stehend zu behandeln sei, da sie keinen gewerblichen Charakter trage, sich vielmehr als eine Art von häuslicher Arbeit dasstelle. Da nun der Art. 1 des Gesetzes von 1893, in welchem die dem Gesetze unterstehenden Betriebsarten aufgezählt sind, eine fast wörtliche Kopie, mit Auslassung der Bergwerke und Steinbrüche, der Art. 1 des Ge- setzes vom Jahre 1892 ist, so hatte die Stellungnahme des Staatsrates zur Folge, daß auch das Gesetz von 1893 auf die Kleinindustrie der Nahrungs- und Genuflmittel nicht weiter angewendet werden durfte.

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Julius Landmann, Die Ausdehnung des Arbeiterschutzes in Frankreich.

a) erwachsene Männer, welche nicht zusammen mit Frauen oder Kindern in Betrieben arbeiten, die nicht „Manufakturen oder Werkstätten" sind, d. h. in Betrieben, die weniger als 20 Arbeiter beschäftigen und keine motorische Kraft verwenden; diese Männer werden lediglich durch das Gesetz vom 12. Juni 1893 ge- schützt ;

b) Arbeiter der Industrie der Nahrungs- und Genußmittel, wenn sie in Betrieben mit motorischer Kraft beschäftigt sind. Diese Be- triebe unterstehen lediglich den Bestimmungen des Art. 2 des Ge- setzes vom 12. Juni 1893;

c) das weibliche Verkaufspersonal der Magazine und Kram- läden nach Maßgabe des Gesetzes vom 29. Dezember 1900.

B. Arbeiterkategorien, die keinen Schutzgesetzen unterstehen, mit Ausnahme der Vorschriften über die Arbeitsdauer:

a) erwachsene Männer im Alter über 18 Jahren, die in „Manu- fakturen und Fabriken" beschäftigt sind und nicht zusammen mit Frauen oder Kindern arbeiten; gesetzliches Maximum der Arbeits- dauer: 12 Stunden;

b) erwachsene Männer in Betrieben, die dem Gesetze von 1892/1900 unterstehen, und die zusammen mit Kindern und Frauen arbeiten; dabei ist zu bemerken, daß wohl die Bestimmungen der Gesetzgebung von 1892/1900 über die Dauer der täglichen Arbeits- zeit, nicht aber die über das Verbot der Nachtarbeit und über die wöchentlichen Ruhetagen auf die in diesen Betrieben zusammen mit Frauen arbeitenden erwachsenen männlichen Arbeiter anwend- bar sind ;

c) endlich genießen die Lehrlinge in der Kleinindustrie der Nahrungs- und Genußmittel den Schutz des Gesetzes vom 22. Februar 185 1.

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Die parlamentarische Geschichte des französischen Arbeiter- schutzes weist eine lange Reihe von Versuchen auf, die Geltung der Schutzgesetzgebung auf bisher ungeschützte Kreise auszu- dehnen.

Schon im Jahre 1887 hat Herr Richard Waddington, damals Deputierter, jetzt Senator und Präsident der Commission supe>ieure du travail, in seinem, im Namen der Arbeitskommission der Depu- tiertenkammer erstatteten Berichte über die Entwürfe, die 5 Jahre später zum Gesetze vom 2. November 1 892 führten, die Ausdehnung

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Gesetzgebung.

der gesetzlichen Bestimmungen auf die in der Industrie der Nah- rungs- und Genußmittel und im Handelsgewerbe beschäftigten Frauen und Kinder verlangt

Dieser Antrag des Herrn Waddington ist in der Kammer nicht durchgedrungen; auch die analogen, im Laufe der Debatten ge- stellten Anträge des Herrn Dumay haben keine Majorität ge- funden.

Nach der Promulgation des Gesetzes von 1892 hat die Frage der Ausweitung des geschützten Kreises, insbesondere hinsichtlich der Magazine, Kramläden usw., die Kammer zu wiederholten Malen beschäftigt. In der Sitzung vom 8. Mai 1893 hat Herr Baron Pierard im Namen der Arbeitskommission einen Bericht über einen von ihm eingebrachten Gesetzentwurf erstattet. „Die Kommission kann nicht einsehen, warum den im Handelsgewerbe beschäftigten Frauen der Schutz vorenthalten werden soll, den das Parlament soeben den gewerblich tätigen Arbeiterinnen gewährte" und stellte den Antrag, es sei für das Handclsgewerbe das Zulassungsalter mit 1 3 Jahren zu fixieren , die tägliche Arbeitsdauer auf 1 1 Stunden einzuschränken, ein Verbot der Nachtarbeit auszusprechen und hin- sichtlich der Überzeitarbeit der Grundsatz aufzustellen, daß diese nur an 60 Tagen im Jahre und nur bis spätestens II Uhr abends zulässig sei.

Der herannahende Schluß der Legislaturperiode verhinderte die Setzung dieses Antrages auf die Tagesordnung der Kammer- debatten.

Zwei Jahre später hatte sich die Kammer abermals mit dieser Frage zu beschäftigen ; diesmal war es die Industrie der Nahrungs- und Gcnußmittel, die hierzu die Veranlassung gab; es war dies un- mittelbar nach Erlaß des durch die bereits erwähnte Entscheidung des Staatsrates veranlaßten Rundschreibens des Handelsministeriums, durch welches die Arbeiter dieser Industrie des Schutzes verlustig gingen, den sie seit dem Jahre 1874 genossen.

Die Arbeitskommission der Kammer war damals mit dem Studium der Entwürfe beschäftigt, die später zu der Novelle vom Jahre 1900 führten, und beantragte durch ihren Berichterstatter, Herrn Gustave Dron, es sei die Anwendbarkeit des Gesetzes vom Jahre 1892 auf die Industrie der Nahrungs- und Genußmittel gesetz- lich festzulegen.

Der Bericht des Herrn Dron kam im Jahre 1896 zur Beratung; bei diesem Anlaß stellten die Herren Lavy und Prudent-Dervillers

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Julius Landmann, Die Ausdehnung des Arbeiterschutrcs in Frankreich.

am 16. Juli 1896 den weiteren Ergänzungsantrag, daß auch die Magazine, Kramläden und kaufmännischen Bureaus in den Geltungs- bereich des Gesetzes von 1892 einzubeziehen seien. Auf Wunsch des Berichterstatters sind indessen diese Anträge von den Antragstellern selbst zurückgezogen worden ; doch betonte Herr Dron, er wünsche die Zurückziehung der Anträge durchaus nicht aus sachlichen oder grundsätzlichen Gründen, sondern lediglich aus Gründen der Oppor- tunität und der Methode der parlamentarischen Arbeit.

Die Kammerdebatten über den Antrag des Herrn Dron (16. bis 22. Juni 1896), führten zu folgenden Ergebnissen: Es seien auf die Industrie der Nahrungs- und Genußmittel anzuwenden: die Be- stimmungen des Gesetzes von 1892, betr. das Zulassungsalter der Lehrlinge (Art. 2), die Hygiene und Sicherheit (Art. 12 und 14), ferner, auf Antrag des Herrn Dutreix, auf die in dieser Industrie be- schäftigten Kinder die Bestimmungen über die Nachtarbeit (Art. 4) und die über den wöchentlichen Ruhetag (Art. 5).

Leider wurde infolge der Lage der parlamentarischen Arbeiten diese Debatte unterbrochen und ihr Gegenstand ist nie wieder auf die Tagesordnung gesetzt worden. Denn die Debatten, die dem Er- lasse des Gesetzes vom 30. März 1900 vorausgingen, stehen im Resultate in keiner Beziehung zu den Anträgen des Herrn Dron.

Um die Majorität des Parlamentes leichter zu gewinnen und gleichzeitig den Angestellten, wenigstens im dringendsten Punkte ihrer Wünsche Genugtuung zu geben, hat Herr Alexandre Zevaes in der Sitzung der Kammer vom 6. November 1900 einen Initiativ- antrag eingebracht, betr. den wöchentlichen Ruhetag im Handels- gewerbe. Dieser Antrag wurde der Arbeitskommission unterbreitet, die durch Herrn Georges Börry am 16. Januar 1902 ihren zu- stimmenden Bericht abgab. Nach einer kurzen Debatte wurde der Antrag des Herrn Zevaes von der Kammer in der Sitzung vom 27. März 1902 angenommen und dem Senate überwiesen, wo er bisher noch seiner Erledigung harrt.

Fast zur gleichen Zeit hat Herr Arthur Groussier einen Ge- setzesentwurf eingebracht, betr. die Ausdehnung des Geltungsgebietes der Gesetze vom 12. Juni 1893, vom 22. November 1892 und 30. März 1900 auf alle Arbeiter und Arbeiterinnen ohne Unterschied des Alters, in allen gewerblichen und kaufmännischen Betrieben. Der Entwurf wurde der Arbeitskommission überwiesen, und diese hat, um eher zu einem positiven Resultate zu gelangen, in ihren Vorschlägen von einer Erweiterung des Geltungsgebietes der Ge-

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Gesetzgebung.

setze von 1892/ 1900, welche beide die Arbeitszeit, Arbeitspausen, Ruhetage usw. betreffen, abgesehen, und lediglich die Ausdehnung des Gesetzes vom Jahre 1893 beantragt, welches gewerbehygienische Maßregeln zum Schutze des Lebens und der Gesundheit der Arbeiter enthält. Es war dabei mit die Erwägung entscheidend, daß die Ausdehnung der Bestimmungen über Arbeitszeit, Ruhepausen und Ruhetage auf bisher gar nicht reglementierte Gewerbezweige einer größeren Opposition begegnen würde, als die bloße Erweiterung des Geltungsgebietes der gewerbehygienischen Gesetzgebung.

In der Junisession desselben Jahres 1900, in der die Arbeits- kommission den Bericht über den Antrag Groussier abgab, hat sich auch der Conseil superieur du travail mit der Frage beschäftigt. Er faßte die Resolution: „Der Conseil superieur du travail drückt den Wunsch aus, daß die Köche, Pastetenbäcker, Brot- und Zucker- bäcker, Fleischer, Metzger usw., nicht länger von den Wohltaten ausgenommen sein sollen, die das Gesetz vom 2. November 1892 und vom 12. Juni 1893 den Arbeitern und Angestellten bietet, und daß sie, wie alle anderen Industriearbeiter, den Schutz des Gesetzes genießen sollen", und beschloß, auf Antrag seines damaligen Präsi- denten, des Handelsministers Millerand, in der Sitzung vom 18. Juni 1900, es sei die Commission permanente mit der Veranstaltung einer Erhebung über die Arbeitsbedingungen der gesetzlich nicht geschützten Arbeiterkategorien zu beauftragen.

Die Kommission permanente hat in der Sitzung vom 9. August 1900 die Organisation dieser Erhebung durchberaten \ sie wurde in zwei Zweige getrennt : für die Provinz wurden die Erhebungen durch Frage- bogen vorgenommen, die durch die Kommission, mit Mitwirkung des französischen Arbeitsamtes, ausgearbeitet und sämtlichen Organi- sationen der Arbeiter und Unternehmer zugestellt wurden ; für Paris wurde der Weg der mündlichen Einvernahme von Auskunftspersonen aus dem Stande der Arbeiter und der Unternehmer vorgezogen. Die Kommission hat am 21. Januar, 4., II. und 25. Februar, 4. und 8. März 1901 sechs Sitzungen abgehalten und im Mai 190 1 durch die Herren Dalle und Barafort ihren Bericht erstattet In den Bei- lagen zu diesem Berichte hat das sehr wertvolle Material, welches die Erhebungen zutage förderten, seinen Platz gefunden.

Der Bericht gelangte zu folgenden Vorschlägen: es sei das Gesetz vom 12. Juni 1893, vom 2. November 1892 und vom 30. März 1900, das Gesetz vom 22. Februar 185 1 und das Gesetz vom 9. September 1848 auf sämtliche bisher noch nicht regle-

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Julius Landmann, Die Ausdehnung des Arbeiterschutzes in Frankreich. 359

mentierten Berufsgruppen und Betriebskategorien auszudehnen und die Arbeiter aller Kategorien unter den Schutz der für sie in Betracht kommenden Bestimmungen dieser Gesetze zu stellen. Diesen Anträgen seiner Permanenzkommission stimmte das Plenum des Conseil supeYieur du travail in der Junisession 1901 bei.

Es lagen nunmehr zwei Vorlagen vor: der aus dem Gesetzes- entwurfe des Herrn Groussier hervorgegangene Entwurf der Ar- beitskommission der Deputiertenkammer und die Entwürfe des Conseil supe>ieur du travail. Der damalige Handelsminister gab den beiden Vorlagen teilweise Folge, indem er, in Anlehnung an den Entwurf der Arbeitskommission, den Kammern unter dem 16. Januar 1902 den Entwurf eines Gesetzes, betr. die Abänderung des Gesetzes vom 12. Juni 1893 vorlegte.1)

') Wortlaut des Gesetzes vom 12. Juni 1893.

Art. I, Abs. I. Den Bestimmungen dieses Gesetzes unterstchen Manufakturen, Fabriken, Hüttenwerke, Werkstätten aller Art, nebst ihren Nebenbetrieben.

Art. 2, Abs. 4. Die vorstehenden Bestimmungen sind auch auf Theater, Zir- kusse, Ladengeschäfte und ähnliche Unter- nehmungen, in welchen Maschinen ver- wendet werden, anwendbar.

Art. 3. Die Verwaltungsbehörden sollen, gestützt auf Gutachten des Ge- werbebeirates, im Verordnungswege fol- gende Vorschriften erlassen:

Wortlaut des Regierungs- entwurfes vom i6. Januar 1902.

Art 1. Die Art. 1, Abs. I, Art. 2, Abs. 4 und Art. 3 des Gesetzes ' vom 12. Juni 1893 werden abgeändert und ergänzt und lauten wie folgt :

Art. I, Abs. 1. Den Bestimmungen dieses Gesetzes unterstehen Manufakturen, Fabriken, Hüttenwerke, Bauplätze, Werk- stätten, Laboratorien, Küchen, Kellereien, Weinniederlagen, Magazine, Kramläden, Bureaus, Lade- und Löschuntcrnchmungcn, welcher Art sie auch immer seien, öffent- lichen oder privaten , weltlichen oder religiösen Charakters, selbst dann, wenn sie der Berufslehrc dienen oder Wohl- tätigkeitsanstaltcn sind.

Art. 2, Abs. 4. Die vorstehenden Bestimmungen sind auch auf Theater, Zirkusse und ähnliche Unternehmungen, in welchen Maschinen verwendet werden, anwendbar.

Unverändert.

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Gesetzgebung.

Bei dieser Einschränkung auf ein Gesetz, statt der von dem Conseil supe>ieur gewünschten Revision von 5 Gesetzen, war die Erwägung entscheidend, daß die vom Conseil supeneur gewünschte Erweiterung des Geltungsgebietes der französischen Arbeiterschutz- gesetzgebung zwar durchgeführt werden soll, und daß diese Durch- führung die Aufgabe der französischen Sozialpolitik im Laufe der nächsten Jahre darstellt, daß aber diese Durchführung sicherer in absehbarer Zeit zu erwarten ist, wenn der vom Conseil superieur gestellte Komplex von Aufgaben in seine einzelnen Bestandteile aufgelöst wird und die parlamentarische Behandlung der Novellen zu den revisionsbedürftigen fünf Gesetzen für jedes einzelne Gesetz besonders und für sich getrennt erfolgt.

Wie die Arbeitskommission der Kammer hat auch das Handels- ministerium das Gesetz vom Jahre 1893 als dasjenige angesehen, das die meisten Chancen bietet, in einer erweiterten Fassung von den Kammern angenommen zu werden, da auch ihm das Gebiet der Gewerbehygiene lange nicht mehr so strittig erschien, wie das der Arbeitszeit oder der Ruhetage. Die parlamentarische Behand- lung und Verabschiedung des Gesetzes ist denn auch tatsächlich ohne nennenswerte Schwierigkeiten vor sich gegangen. Nachdem die Arbeitskommission der Kammer ihren zustimmenden Bericht zum Entwürfe abgab, wurde er von der Kammer ohne Debatte in der Sitzung vom 6. Februar 1902 angenommen und daraulhin an

1. Drei Monate nach der Promulgation dieses Gesetzes : Vorschriften Uber die Schutz- und SanitätsmaÜregcln für alle dem Gesetze unterstellten Betriebe, ins- besondere Uber Beleuchtung, Lüftung und Ventilation, trinkbares Wasser, Abtritte und Abtrittsgruben, die Rauch- und Dampf- abfuhrung, dieSicherhcitsmaßnahmen gegen Feuersgefahr etc.

2. Nach Maßgabe der festgestellten Notwendigkeit Spezialvorschriften, sei es für bestimmte Industriezweige, sei es für bestimmte Arbeitsverfahren.

Über die im Abs. 2 dieses Art. vor- gesehenen Spezialrcglements wird der Bei- rat für öffentliche Hygiene seine Gutachten abzugeben haben.

Unverändert.

2. Nach Maßgabe der festgestellten Notwendigkeit Spezialrcglements, sei es für bestimmte Berufskategorien, sei es für bestimmte Arbeitsverfahren.

Über die im Abs. 1 dieses Art. vor- gesehenen Spezialrcglements wird der Bei« rat für öffentliche Hygiene seine Gutachten abzugeben haben.

Julius Landmann, Die Ausdehnung des Arbeiterschutzes in Frankreich. ?6i

den Senat überwiesen. Auch die Senatskommission äußerte sich zustimmend und der Entwurf hätte vom Senate schon in der Sitzung vom 3. Februar 1903 angenommen werden können, wenn nicht seitens einiger Regierungs Vertreter seine neuerliche Über- weisung an die Kommission verlangt worden wäre, zum Zweck einer Abänderung des Verhältnisses der durch den Entwurf unter das gewerbehygienische Gesetz gestellten Staatsbetriebe zu den Gewerbeinspektoren. Die Kommission trug in einem zweiten Er- gänzungsberichte diesen Wünschen Rechnung, änderte entsprechend den Text des Entwurfes, der in dieser abgeänderten Fassung vom Senate in der Sitzung vom 16. Juni 1903 angenommen wurde. Der neuen Fassung erteilte auch die Kammer in der Sitzung vom 3. Juli 1903 ihre Zustimmung und am 9. Juli 1903 wurde das Gesetz promulgiert und als „Gesetz vom 11. Juli 1903, betr. die Gesund- heits- und Sicherheitsmaßnahmen für die Arbeiter in kaufmännischen und staatlichen Betriebe" kundgemacht. Wortlaut des Gesetzes, vgl. „Bulletin des internationalen Arbeitsamtes", Bd. II. 1903, S. 373.

m.

Der Gesetzesentwurf, den das Handelsministerium den Kam- mern vorlegte, ging weniger weit, als der aus den Beratungen des Entwurfes des Herrn Groussier hervorgegangene Antrag der Arbeits- kommission. Dieser erstrebte die Ausdehnung des Gesetzes vom 12. Juni 1893 auf „Manufakturen, Fabriken, Werkstätten, Magazine, Kramläden, Bureaux, Bergwerke, Steinbrüche, Bauplätze, Transport- unternehmungen zu Wasser und zu Lande, die Arbeiten des Ver- ladens und des Löschens, auf die öffentlichen Lagerhäuser und alle sonstigen gewerblichen und kaufmännischen Betriebe". Der Re- gierungsentwurf ließ die „Bergwerke, Steinbrüche und Transport- unternehmungen" aus, „weil die Regierung zuerst den dringendsten Teil der Reform realisieren will".

Zur sachlichen Rechtfertigung dieser Auslassung ließen sich folgende Argumente anführen:

1. Die Bergwerke und Steinbrüche unterstehen einer Spezialgesetzgebung, die im Art. 50 des durch Gesetz vom 27. Juli 1880 abgeänderten Gesetzes vom 21. April 18 10, im Dekret vom 3. Januar 1813, in der durch Verordnung vom 25. September 1882 abgeänderten Verordnung vom 26. März 1843, endlich in der Ver- ordnung vom 8. Juli 1890 enthalten ist. Außerdem sind mehr ins Detail gehende Vorschriften zum Schutze des Lebens und der Ge-

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Gesetzgebung.

sundheit der Bergarbeiter in unzähligen Rundschreiben des Ministe- riums der öffentlichen Arbeiten und für jedes einzelne Bergwerk in den Erlassen der Prefekten enthalten. Es existiert gegenwärtig in Frankreich kaum ein Bergwerk oder ein Steinbruch, dessen Arbeitsbedingungen nicht Gegenstand eines oder mehrerer Prefektur- erlasse wären.

Die Durchführung dieser gesetzlichen und administrativen Be- stimmungen ist Sache der Bergwerksingenieure, die in dieser ihrer Tätigkeit durch die Delegierten der Bergarbeiter1) unterstützt werden. Durch ein Ministerialrundschreiben vom 5. Juli 1894 wurden die Bergwerksingenieure auch beauftragt, das Gesetz vom 12. Juni 1893 in allen, mit den Bergwerken verbundenen, über Tage gelegenen Betrieben und Arbeitsstätten durchzuführen.

Es war nun die Frage, ob es sich empfehlen würde, diese Sondergesetzgebung für Bergwerke und Steinbrüche aufzuheben, um an deren Stelle eine allgemeine Gesetzgebung zu setzen, die im Gesetze vom 12. Juni 1893 und in den auf Grund dieses Ge- setzes erlassenen Ausführungsverordnungen enthalten ist. Die gegen- wärtig geltenden Normen sind von Bergwerk zu Bergwerk ver- schieden, sie sind den speziellen technischen Verhältnissen jeder einzelnen Grube angepaßt und können auch sehr leicht, auf bloßen An- trag des Bergwerksingenieurs, durch einen Prefekturerlaß abgeändert werden. Sie schließen sich somit nicht allein der Sonderart des Bergwerksbetriebes an sich an, sondern können auch allen Ver- änderungen und Verschiebungen innerhalb der einzelnen Grube folgen. Dagegen ist das Gesetz von 1893 speziell mit Hinblick auf die gewerblichen Betriebe über Tage ausgearbeitet und könnte auf Bergwerke kaum zweckmäßig angewendet werden.

Nun darf nicht übersehen werden, daß die gegenwärtige französische Berggesetzgebung die Arbeiter selbst keineswegs be- friedigt ; die unzähligen Berggesetzentwürfe, die von den Vertretern der Bergarbeiter in jeder Legislaturperiode eingebracht werden und die Resolutionen der Bergarbeiterkongresse beweisen, daß eine Än- derung gewünscht wird. Es sind dies aber nicht in erster Linie die Bestimmungen über Hygiene und Sicherheit, die Anlass zur Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Bergrechte gaben ; vielmehr sind die Wünsche der Bergarbeiter auf eine gesetzliche Regelung

>) Gcset* vom 8. Juli 1890, vgl. „Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik", Bd. V, S. 188.

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Julius Landraann, Die Ausdehnung des Arbeiterschutzes in Frankreich. 363

der Arbeitsdauer und auf eine zufriedenstellende Unfallversicherung gerichtet Diese Wünsche wären durch die Ausdehnung des Ge- setzes von 1893 auf die Bergwerke der Verwirklichung kaum näher gerückt worden; sie müssen ihrer Erfüllung auf dem Wege der Spezialgesetzgebung harren.

2. Ähnlich verhält es sich mit dem Schutze der Arbeiter und Angestellten der Transportunternehmungen. Auch diese Arbeiterkategorien unterstehen einer Sondergesetzgebung, die in der durch Novelle vom 1. März 1901 abgeänderten Verordnung vom 15. November 1846 enthalten ist. Diese Verordnung ist auf alle Eisenbahnen anwendbar und enthält eine Reihe von Bestimmungen zum Schutze des Lebens und der Gesundheit der Angestellten, insbesondere der Heizer, Maschinisten und des Zugs- und Bahn- hofspersonals. Außerdem wirken die Transportreglemente, deren Hauptzwecke in der Sicherung des reisenden Publikums liegt, in- direkt auch zum Schutz des Verkehrspersonals.

Es wird nicht geleugnet, daß dieser Schutz unzureichend ist. Seine Vervollkommnung und Erweiterung bildete den Gegenstand von Erhebungen, die die Commission permanente du Conseil supe- rieur du travail im Laufe des Jahres 1903 veranstaltete; der Bericht ist im Oktober 1903 erschienen (Reglementation du travail dans les entreprises de Transport, Paris, Imprimerie nationale) und bildete die Basis der Beratung der Novembersession 1903 des Conseil superieur du travail. Die Beschlüsse, zu welchen dieser Beirat ge- langte, erwiesen aber, daß die Wünsche des Verkehrspersonals durch eine Ausdehnung des Geltungsgebietes des Gesetzes von 1893 auf das Verkehrsgewerbe kaum befriedigt worden wären, da sie im wesentlichen eine Regelung der Arbeitsdauer, der Ruhe- pausen und der Ruhetage erstreben.

Der Zweck des Entwurfes sollte, nach den Ausführungen des Motivenberichtes, in der Verwirklichung folgender zwei Zielpunkte bestehen :

1. Unterstellung unter die gesetzlichen Bestimmungen der bis- her noch nicht unterstellten Betriebe der Kleinindustrie der Nahrungs- und Genußmittel, der Magazine, Kramläden, kaufmännischen Bureaus und analoger Betriebe.

Die beruflichen Organisationen der Arbeiter und Angestellten dieser Gewerbegruppen haben in den letzten Jahren am lautesten die Unterstellung unter die gesetzlichen Schutzbestimmungen ver-

Gesetzgebung.

langt, und die großen Berufegefahren, unter denen sie leiden, er- klären hinreichend die Intensität ihrer Wünsche. *)

2. Klarstellung der Nomenklatur der dem Gesetze unter- stehenden Betriebskategorien und dadurch definitive Beilegung der Streitfragen, die über die Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit der gesetzlichen Bestimmungen auf einzelne Betriebskategorien seit langem obschwebten.

IV.

I. Die Kleinindustrie der Nahrungs- und Genußmittel, die, wie vorhin bereits ausgeführt, durch ein Gutachten des Staatsrates des gesetzlichen Schutzes verlustig ging, ist seit langem schon als die- jenige Industrie bekannt, die in erster Linie der Aufmerksamkeit der öffentlichen Hygienepflege bedarf. Schon im Jahre 1888 hat die Pariser Wohnungskommission in einem Berichte der Herren Hudelo und Napias auf die schweren Gefahren hingewiesen, denen der Beruf der Restaurationsköche ausgesetzt ist. Die im Jahre 1886 durchgeführte Erhebung der Gewerbeinspektoren über die Schlaf- räume der Lehrlinge im Pariser Bäckergewerbe hat zu erschreckenden Resultaten geführt, und die Erhebung des französischen Arbeits- amtes vom Jahre 1 892 •) hat den Beweis erbracht, daß diese Ver- hältnisse nicht allein auf das Bäckergewerbe beschränkt sind, daß sie vielmehr eine Eigentümlichkeit eines sehr großen Teiles der französischen Kleinindustric der Nahrungs- und Genußmittel bilden.

Bestätigt wurden diese Wahrnehmungen durch die Berichte der Gewerbeinspektoren für das Jahr 1899, die abgegeben wurden aus Anlaß eines ihnen vom Handelsministerium erteilten Auftrages, sich über die Zweckmäßigkeit einer Unterstellung der Kleinindustrie der Nahrungs- und Genußmittel unter die Bestimmungen des Ge-

*) Nach der Mortalitätsstatistik des Stadtkreises von Paris sterben von sämt- lichen Berufstätigen (Arbeitern und Unternehmern) im Alter von 20 39 Jahren:

29,89 Froz. im Baugewerbe,

32 ,, in der Metallindustrie,

34 ,, der chemischen Industrie,

39 im Gastwirtsgewerbe,

40,29 Kochgcwerbc,

40,61 Bäckergewerbe,

44i3° 11 n Handelsgewerbe. *) Vgl. la petite Industrie, salaires, duree du travail, tome 1-cr, l'alimentation a Paris, 1 vol. ä de 300 p., Paris 1893.

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Julius Landmann, Die Ausdehnung des Arbeiterschutzes in Frankreich. 365

setzes von 1 893 zu äußern. Wir wollen an dieser Stelle aus dieser reichen Quelle nur zwei Auslassungen registrieren.

Der Inspektor des ersten Kreises, Paris, erklärt, daß „in den Bäckereien und Schweinemetzgereien die Küchen und Arbeitsräume häufig vom hygienischen Gesichtspunkte aus äußerst ungünstig ein- gerichtet sind, daß insbesondere die Ventilation nicht hinreichend ist und daß keine Sicherheitsvorkehrungen für den Fall einer Feuers- brunst vorhanden sind".

Im 8. Kreise (Bordeaux) haben die Inspektoren eine Spezial- erhebung über die hygienischen Zustände in den Bäckereien ver- anstaltet. Der Bericht über diese Erhebung stellt fest, daß „fast alle Bäckereien in Kellerräumen untergebracht und schlecht venti- liert sind. Viele Bäckereien haben keine Aborte und es müssen infolgedessen die Exkremente auf den Fußboden abgelagert werden. Die Lehrlinge der Bäckereien und der Gastwirtschaften müssen ihr Bett in der Regel mit einem zweiten Lehrling oder einem Arbeiter teilen. Die Schlafräume sind meistens sehr klein. Wir fanden", heißt es im Berichte, „Schlafräume, die nur 6—7 m Fläche und einen Luftraum von 10 qm aufwiesen".

In den Berichten einiger Inspektoren kommen zwar hie und da Bedenken gegen die Unterstellung der Kleinbetriebe der Industrie der Nahrungs- und Genußmittel unter das Gesetz vom Jahre 1892 zum Ausdruck, alle sprechen sich aber uneingeschränkt für die Unterstellung dieser Betriebe unter das Gesetz von 1893 aus.

Im Auftrage des damaligen Handelsministers, Herrn Millcrand, hat gegen Ende des Jahres 1900 auch der Conseil d'hygiene der Gironde einige Bäckereibetriebe besichtigt und konstatiert, daß „ihr Zustand, insbesondere hinsichtlich der Reinlichkeit, meistens sehr viel zu wünschen übrig läßt . . .

Dieselben Ergebnisse zeitigten die Erhebungen der ständigen Kommission des Conseil supeVicur du travail.

Die Aussagen aller Beteiligten, und zwar ebenso der Arbeiter als auch der Unternehmer, haben im Laufe der Enquete den Be- weis erbracht, daß die Arbeitsbedingungen in der Kleinindustrie der Nahrungs- und Genußmittel dringend einer Reform bedürfen. Wir verweisen auf die beiliegende synoptische Darstellung (s. S. 366) der Resultate der Erhebung über einige der wichtigsten Fragepunkte und rekapitulieren im nachfolgenden die drei dringendsten Postulate der Arbeiterschaft dieser Betriebe:

a) Regelung der Arbeitsdauer und der Ruhepausen, und zwar

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Julius Landmann, Die Ausdehnung des ArbeiterschuUes in Frankreich. 367

nicht allein für Frauen und Kinder, sondern auch für erwachsene männliche Arbeiter;

b) Aufstellung von Maßregeln zum Schutze des Lebens und der Gesundheit der Arbeiter. Unter den gegenwärtigen ungünstigen hygienischen Verhältnissen werden besonders hervorgehoben: die Hitze, die durch die Herdfeuer verursacht, und durch die immer abends, manchmal auch den ganzen Tag brennenden Gaslichter erhöht wird; die unzureichende Größe der Räume; die schlechte Ventilation, Feuchtigkeit in den Arbeitsräumen und dumpfe Luft;

c) Besserung der Nahrungsverhältnisse und der Schlafräume der Arbeiter, insbesondere der Lehrlinge, die beim Unternehmer Kost und Logis haben.

Die Gesetzgebung wendete ihre erste Aufmerksamkeit zuerst dem zweiten dieser Postulate zu, da dieses sozusagen gar keiner Opposition mehr begegnete. Nach Bekanntgabe des Entwurfes hat z. B. die Pariser Handels- und Gewerbekammer erklärt : „Wir können uns zu dieser Erweiterung des Geltungsgebietes des Gesetzes vom 12. Juni 1893 nur zustimmend äußern. Sie ist ebenso notwendig zum Schutze der Arbeiter und Angestellten gegen Krankheiten als auch gegen Unfälle. Die berufensten Vertreter der Industrie der Nahrungs- und Genußmittel sind mit dieser Erweiterung des Geltungs- gebietes des Gesetzes auf ihre Industrie einverstanden."

Auch in den Kammern sind keine Bedenken laut geworden und ohne irgendwelche Opposition wurde die Unterstellung der Industrie der Nahrungs- und Genußmittel unter das gewerbliche Hygienegesetz beschlossen.

2. Der Schutz der Angestellten in kaufmännischen Betrieben ist in Frankreich lange Jahre hindurch wesentlich hinter den Er- rungenschaften anderer Länder auf diesem Gebiete zurückgeblieben. Im Deutschen Reiche, in Österreich, Belgien, in der Schweiz, in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten wurden überall die kaufmännischen Betriebe mindestens der Gesetzgebung zur Sicherung des Lebens und der Gesundheit unterstellt, in einigen dieser Staaten, so im Deutschen Reiche, Großbritannien und in der Schweiz drang die Gesetzgebung auch auf diesem Gebiete bis zum Erlasse von Bestimmungen über Arbeitsdauer, Ruhepausen und Ruhetage vor. Dagegen unterstanden die französischen kaufmänni- schen Betriebe bis zum Jahre 1900 keinerlei Regelung, weder einer gewerbehygienischen noch einer über Arbeitszeit und Arbeitsdauer, und das erste Gesetz dieser Art, das in Frankreich erfloß, das vom

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Gesetzgebung.

29. Dezember 1900 (Gewährung von Sitzgelegenheit an das weib- liche Verkaufspersonal) hat seine Bedeutung weniger in seinen posi- tiven Dispositionen, als in der Tatsache, daß mit dem Erlasse dieses Gesetzes der Bann gebrochen wurde und der Gewerbeinspektor in den kaufmännischen Betrieb eingezogen ist.

Die Berufsorganisationen der Handelsangestellten haben seit langen Jahren eine Unterstellung unter die gesetzlichen Arbeiter- schutzbestimmungen verlangt, und die Ergebnisse der Erhebung, die die ständige Kommission des Conseil sup£rieur du travail über die Arbeitsbedingungen im Handelsgewerbe durchführte, und die wir in ihren wichtigsten Teilen in den beiliegenden zwei synopti- schen Übersichten zur Darstellung bringen (s. S. 370—373) haben den Beweis erbracht, daß diese Wünsche mehr als gerechtfertigt ge- wesen waren. Sie bewiesen, daß im Handelsgewerbe dieselben Miß- stände, die in der Industrie zur Arbeiterschutzgesetzgebung führten, in einem sehr hohen Grade entwickelt sind.

Hinsichtlich der hygienischen Beschaffenheiten der Arbeits- und der Schlafräume haben die im Laufe der Erhebung befragten Unternehmer stets das Vorhandensein von Mißständen in Abrede gestellt, während die Angestellten gerade über diese Mißstände lebhafte Klage führten, und vor allem die Verhältnisse in den kauf- männischen Büreaus als unerträglich hinstellten. Ferner führten die Angestellten darüber Klage, daß sie in manchen, nicht mit offenen Verkaufsräumen verbundenen kaufmännischen Betrieben allen Un- bilden der Witterung ausgesetzt sind, daß die Schlafräume, insbe- sondere die Schlafräume der Lehrlinge, sehr viel zu wünschen übrig lassen, und daß in manchen Betrieben noch die Gepflogen- heit besteht, die Lagerräume und die Büreaulokalitäten nachts als Schlafräume zu verwenden.

Die Arbeitsdauer stellt, auch wenn man sich dabei auf die Aus- sagen der Chefs stützt, schwere Mißstände dar. In Paris wird das ganze Personal (mit Einschluß der weiblichen Angestellten und der Kinder) in Detailgeschäften 10— 11 Stunden, in Modewarengeschäften 11 12 Stunden, manchmal auch 13 Stunden, in Warenhäusern 13 14 Stunden täglich, in Kolonialwarengeschäften mindestens 11 Stunden beschäftigt. Die Arbeitsdauer der Ausläufer und Ver- träger ist meistens um eine Stunde länger.

In der Provinz beträgt die Arbeitsdauer sämtlicher Angestellten lll/.i 12 Stunden täglich, in manchen Städten auch darüber; so wird in den Modewarengeschäften von Lyon I28 4 Stunden täglich,

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Julius Landmann, Die Ausdehnung des Arbeiterschutzes in Frankreich. 369

in Havre I2\2 Stunden, in Toulon 12 Stunden, in Algier ebenfalls 12 Stunden, in den Warenhäusern von Algier 13 14 Stunden täg- lich gearbeitet und auch hier werden die Ausläufer und Verträger eine Stunde täglich länger beschäftigt

Im allgemeinen besteht in den kaufmännischen Betrieben in Frankreich überhaupt kein Ruhetag. In Paris halten einige Ge- schäfte Sonntag zu, sonst aber ist es üblich, den Angestellten je einen Tag in zwei Wochen, manchmal auch einen Tag in drei Wochen freizugeben. Noch ungünstiger liegen in dieser Hinsicht die Verhältnisse der Büreauangestellten, die manchmal das ganze Jahr über überhaupt keinen ganzen freien Tag haben. In der Provinz sind die Verhältnisse noch ungünstiger als in Paris. In Marseille sind die Modewarengeschäfte am Sonntag nachmittags geschlossen, alle übrigen Geschäfte stets offen. In Lyon ist es ein- geführt, den Angestellten der Modewarengeschäfte vier freie Tage im Jahre zu gewähren. In Havre, Rouen, Amiens, Toulon, Avignon und Algier haben die Angestellten überhaupt keinen freien Tag, in Versailles einen freien Tag im Monat.

Auch hinsichtlich der Unterstellung der Handelsangestellten und des Bureau personals unter das Gesetz von 1893 machte sich in den Kammern keine Opposition geltend; manche Mißstände werden mit der Durchführung dieses Gesetzes in den Betrieben des Handelsgewerbes beseitigt werden können ; eine durchgreifende Besserung der Verhältnisse wird auf diesem Gebiete auch in Frank- reich erst durch Eingriff der Gesetzgebung in die Regelung der Arbeitsdauer und der Ruhetage erzielt werden können.

V.

Die beiden bisher behandelten Punkte des neuen Gesetzes, die Erweiterung des Geltungsgebietes der gewerbehygienischen Gesetz- gebung auf die Kleinindustrie der Nahrungs- und Genußmittel und auf das Handelsgewerbe, stellten die Eroberung neuer Gebiete für den Arbeiterschutz dar. Die übrigen Bestimmungen des Gesetzes haben nicht diese große Bedeutung. Es wird hier nicht mehr Neu- land für den Arbeiterschutz erschlossen, es handelt sich um Ge- biete, die bisher schon unter den Bestimmungen der Gesetzgebung standen, und Aufgabe des neuen Gesetzes war nur eine gesetzliche Schlichtung und Klarstellung einiger Streitpunkte, die sich bei der Durchführung des Gesetzes von 1 893 ergaben. Es handelt sich um die Durchführung der gewerbehygienischen Gesetzgebung in den

Archiv für Soiialwmensch.ft u. Sozialpolitik. I. ; A. (. *oz. G. u. St. XIX). a. 24

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37Q

Gesetzgebung.

Arbeitsbedingungen in

A. Aussage eines Verbandes der Angestellten.

Betrieb

Zulassung- alter

Effektive Arbeitsdauer

Maximale Präscns- zeit

1

Nachtarbeit

Bureaus

./. Banken und Versicherungs- gesellschaften : 13 u. 14 Jahre A. Steno- typistinnen : 16 Jahre.

•t. Danxen unu Ver- sicherungsgesell- schaften : 57«— 71 ii St. ge- wöhnlich 7 St. ^. 7 St., in einigen Häusern 11 St.

A. Banken und Versiche- rungsgesellschaften 6Y4 bis 8'/4 St., gewöhnlich 8 St. A. Handel und Industrie : 8, 10 und 12 St.

1

Keine.

Engros- geschäfte1!

A. 14 Jahrcj u. 10 janre.

A. 81 j und 9 »'s St. in Mcrceriegcschäften

IO öl.

V. 8»;4-9!V4 St.

A. 9 und 10 St. c . 10 unu 1 1 au

A. Einige Nacht- wachen.

Dctail- geschäfte')

Jedes Alter.

£/. 10 u. 11 St. mit Ausnahme außerge- wöhnlicher Perioden. Kleidcrverkäufe- rinnen : 9 St. Hemdengcschäfte : 10 St.

U. Hemdengeschäfte 1 1 1 ...St. Man schließt nicht einheit- lich um 7 Uhr.

Mercericgcschältc : Man zögert mit dem Schließen wegen der Arbeiter- und

Angestelltenkundschaft.

Keine.

Mode- waren- magazine

A. Paris: 18 manchmal 17 Jahre; Grooms:

13 Jahre; Vorstädte : jedes

Alter. u. 10 lojanrc,

nie unter 15 Jahren ; in der Provinz :

14 Jahre.

A. Angestellte: 91 10, 10 '/2, 10% St.

Aufler den Vor- abenden vor Aus- stellungen usw.. Ladmdicner : I ' 4 u. 2, manchmal 3 M.

mehr. U. 11,12, manchmal

13 st.

A. Angestellte: Ii, 1 1 1 a, 12 und 12 Vj St., noch mehr an Vorabenden von Aus- stellungen usw. Ladendiener: bis zu 15 St., in der Provinz: 13 oder 14 St.

U. II 13 St. mit Einschluß der Mahlzeiten. In Maga- zinen mit Arbeiterkund- schaft muß der Beginn und Schluß der Arbeit stets sehr variieren.

A. Nachtwachen : bes. Oktober , No- vember u. Dezember vor jeder Ausstel- lung, an Weih- nachten und Neu- jahr. Montag und Sonnabend in den Vorstädten.

Waren- häuser

A. 16, 17,18 Jahre.

A. 12, 13 u. 14 St. Ladendiencr, Aus- läufer: 1 St. mehr.

A. 13 und 14 St. Ladendiener; 15 u. 16 St.

A. Bis 10 und 1 1 h. abends zu gewöhn- lichen Zeiten. Vor- abende von Festen : bis 1 u. 2 h. morgens.

1

Spezcrci- hand- lungen

i

U. 13 u. 14 Jahre.

U. Ii St

__ .

C. Beginn : im Winter : 7, 8I;4 h. ; im Sommer: ö1»» 7 h. Schluß: 9 h.. Präsenz 13'/«— U1/« St. U. Von 8 h. morgens bis 9 h. abends mit Einschluß von 2 St. Mahlzeitspausc, d. h. 13 St.

V. Nachtwachen an Sonnabenden und

Vorabenden vor Kesten in bestimmten Geschäften.

>) Mit Ausnahme der Warenhäuser, Modcwarennugazine und Spezercihandlungen.

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Julius Landmann, Die Ausdehnung des Arbeiterschutzes in Frankreich. 3 j j

kaufmännischen Betrieben.

U. = Aussage eines Verbandes der Unternehmer.

Mahlzeiten

Hygiene der Arbeitslokale

Schlafstätten

Wöchentliche Ruhe

A. Banken: 1 St. aus- wärts. A. Stenotypistinnen: 2 St. auswärts.

A Oft mittelmäßig Banken : Oft unge- nügende Ventilation,

Rauch, Auswurf. A. Stenotypistinnen: Ungenügende Ventila- tion in einigen Ge- schäften.

Keine.

A. Banken. Versichcrungs- gesellschaffcn und einige Magazine: Sonn- u. Feier- tage. — Handel und In- dustrie: 1, '/j oder keinen Tag in einigen Geschäften.

A. 1 u. i'/j St. aus- wärts. U. I1« St. in der Regel.

A. Gut bis auf Bureau- angestellte in einigen Fällen. L\ Gut.

Auswärts

A. Sonn- und Feiertage. U. Sonn- und Feiertage.

U. Kleiderverkäuferinnen haben Kost beim Unter- nehmer. — Mercerie: das Personal ißt mit dem Unternehmer.

Hemdengeschäfte : Keine Kost beim Unter- nehmer, dahin geht auch die allgemeine Tendenz.

A. Im allgemeinen gut.

C. Man kommt immer mehr davon ab.

V. In der Regel Sonn- und Feiertage, in den Vorstädten ein anderer Tag nach der Reihe. In Mercerie-, Hemdengeschäften ist der Sonntag nicht durchweg frei ; man versuchte ihn ein- zuführen , verzichtete aber darauf in Hemden- geschäften.

A. 35 Min. 1 h. je nach dem Geschäft. Eine Mahlzeit gewöhnlich im Geschäft, meist beide. Nahrung ganz gut, we- nig Abwechslung. 35. 45 Min-. ja I St.

T C\ W in fii i«r(>r \Tq hl- 1 w 1*1111. tU JCUCT -.»1AH1»

zeit. In der Provinz selten Kost beim Unter- nehmer: 45 Min. 1 h. Gesunde Nahrung, über- genug, 1. Qualität.

A. Überhitzte Luft, Staub, ungesunde Souterrains. U. Gute hygienische Bedingungen , genü- gende Ventilation, keine schlechten Gerüche.

A. Gewöhnlich gut für die Angestellten. Mittelmäßig für die Ladendiener in den Zimmern und auf den Ladentischen. U. Im allgemeinen genügend.

A. In großen Geschäften: Sonn- und Feiertage außer vor Ausstellungen. Laden- diener I von 2 oder 4 Sonntagen. In der Regel 1 Tag pro Monat, manche I Tag pro 14 oder 8 Tage. U. 1 Tag pro 8 oder 14 Tage; jährlicher Urlaub von 8 14 Tagen.

A. 2 Mahlzeiten mit höchstens je 1 St.

A. Man friert im Winter, schwitzt im Sommer. Hygiene

könnte verbessert werden.

A. Logis beim Unter- nehmer in der Pro- vinz , nicht in Paris.

Ladendiener und Kutscher schlafen in Paris auf den Laden- tischen.

A. Ununterbrochene Ruhe: 1 Tag von 14 und 1 Tag pro Monat.

U. Beinahe durchweg Kost beim Unternehmer. 3 Mahlzeiten: 2 St. 20 Min. Gute Nahrung in der Regel.

U. Ausgezeichnet.

t\ Saubere Zimmer, wenn auch nicht so groß wie es in Paris gewünscht wird. Logis beim Unter- nehmer kommt selten vor.

U. Vom 1. Mai bis 1. Okt. schließen beinahe alle Ge- schäfte an Sonntagnach- mittagen. Im Winter */« .Tag pro Woche nach der Reihe. Jährlicher Urlaub:

4 10 bezahlte Tage. U. 2 Nachmittage pro Mo- nat im Winter.

*4«

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Gesetzgebung.

Arbeitsbedingungen der Angestellten

Betriebe

Anstellungs- alter

Präsc nszeit

Mahlzeitpauscn

Bon March*.

18—30 Jahre.

Von 8 h. -7 7, h. (Ii«/, St.) während 4. Monaten. Von 8 h.— 8 h. (12 St) während 8 Monaten. In Wirklichkeit werden durchschnittlich 300 unbe- zahlte Überstunden geleistet

»/« St.

samt der Zeit zum Hinauf- gehen , Herunterkommen ; und Incrapfangnehmen der

Speisen. Vormittag: 91 , h.— ioVf b.

-tl\f h. Abend: 5 h.— 6 h. 7 b.

Louvre.

18—30 Jahre.

Von 8 h.— 7 10 h. fl 1 St.

10 Min.) Das Mittagessen, weil fa- kultativ, nicht eingerechnet

1 St

Vormittag : io*0 h.— 1 l*°h. -12" h. Abend : 7 h.

Printemps.

18 Jahre. Die Grooms werden im Alter von 13 bis 14 Jahren angestellt.

Von 8 h. oder 81/, h.— 7 h.

(11 St.) Das Mittagessen, weil fa- kultativ, nicht eingerechnet Die Ladendiener fangen um 7 h. an.

1 St

Vormittag : ioVt h. 1 1 h. I2l/j h. Abend : 7 h. Die Ladendiener essen um 8V* h. u. 4 h.

Belle Jardiniere.

18 Jahre.

Angestellte : Von 8 h.— 7 h. (II St) Ladendiener: Von6V2 h.- 7 I1.O2V, St.).

1 1 j St. für die Angestellten. 1 St für die Ladendiener.

Nouvelles Qaleries

(Avenue de Clichy.)

In jedem Alter. Doch besteht ca. die Hälfte des Personals aus jungen Leuten von 16 18 Jahren, die Kost und Loris usw., aber keine Be- zahlung haben.

Von 7"-, Ii.- 8 Ii. od.8' ,h.

( 12*' ,'«—12».« St.). Montag und Sonnabend Ladenschluß : 8»/4 oder 9',« h. Um Neujahr wird dreimal wöchentlich um 10 h. ge- schlossen. Am Tage vor Weihnachten und vor Neujahr wird um

1 h. nachts geschlossen. Die Angestellten für die Etikettierung arbeiten im Nov. und Dez bis 10 und 1 1 h. abends.

Vormittag : 45 Min. I0l/,h.— u'/ih.— I2l/?h. Abend : 35 Min.

5,,t*»--6,/4 h— 7 b.

Trote Quartiers.

17 und 18 Jahre.

Von 8 h. odcr8'/2 h.— 8 h. (12 oder 1 lV, St.).

Vormittag: St. um

11V« h.

Abend: 3«; Min. von 6h.-7» 4 h,

Old England.

Keine Altersgrenzen.

Angestellte: 12 St Ladendiener: 14 u. 15 St.

Krühstück: 50 Min. Mittagessen : 40 Min. samt der Zeit zum Gehen und Kommen.

Engrosgeschäfte.

(Quartier du Sentier).

14 und 15 Jahre.

Von 8 h.— 6 h. oder 7 h.

(9 oder 10 St.) In einzelnen Häusern wird während der Saison die ; ganze Nacht gearbeitet |

1 St und i>/j St.

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Julius Landmann, Die Ausdehnung des Arbeiterschutzes in Frankreich. 373

der Pariser Modewarenmagazine.

Sonn- und Feiertags- ruhe

Hygiene Nahrung

Bemerkungen.

Sonn- und Festtage aufler den Tagen vor Ausstellun- gen (7 8 jährlich) bis 2 h. Ferien: 8 Tage jährlich obligatorisch ohne Bezah- lung. Die Ladendiener haben nur jeden 2. Sonn- tag frei.

Überhitzte Luft.

Staub. Gute Nahrung, ') Schlafräume gut, an der rue du Bac. Die Laden- diener schlafen im Laden mit je nur einer Matratze auf dem Ladentisch.

') Frühstück und Mittagessen im Laden sind obligatorisch.

(Seit unseren Vorstellungen beim höhe- ren Arbeitsbeirat (Conseil sup. du trav.) sind verschiedene Verbesserungen einge- treten, so trat z. B. an Stelle des Mittag- essens eine Entschädigung von frs. 1,25.

Sonn- und Festtage aufler an Tagen vor Ausstellungen (7—8 jahrlich). Ferien ohne Bezahlung.

Überhitzte Luft.

Staub. Gute Nahrung. ') Ungesundes Souterrain, Temperaturwechsel.

') Das Mittagessen im Laden steht frei; es kann durch eine Entschädigung von frs. 1,20 ersetzt werden.

Sonn- und Festtage außer an Tagen vor Ausstellungen (7—8 jährlich) bis 10 h.

oder 12 h. Die Ladendiener arbeiten jeden 4. Sonntag. Ferien ohne Bezahlung.

Staub. Gute Nahrung. ') Die Ladendiener schlafen zu 20 in einem Zimmer. Schlechte Luft.

*) Das Mittagessen im Laden steht frei; es kann durch eine Entschädigung von frs. 1,05 ersetzt werden.

Ladendiener: 1 von 14 Tagen. Von I. Januar bis 15. März 1 Tag pro Woche.

1 von 14 Tagen außer in Reklamewochen, die ca. alle

6 Wochen stattfinden. Vom 15. Nov. bis 8. Jan. kein Ausgang. Im ganzen ca. 18 19 Kuhetage jährlich.

Gute Luft. Djw 2 Souterrain ist faucht * dort sind die Angestellten : der Etikettierung, Expedi- tion, des Provinzdienstes, Güterempfangs , des Re- servelagerdienstes. Die Ladendiener schlafen

im Laden. Die Nahrung läßt etwas zu

wünschen.

Diese Bemerkungen treffen für die Menagere und für die derselben Verwal- tung unterstehenden großen Bazare zu, deren Zcntralsitz 66, nie des Archivs ist. Die Angestellten bleiben nicht in diesem Unternehmen.

Sonn- und Festtage. Ferien ohne Bezahlung.

Gute Luft. 20 Ladendiener schlafen im Laden mit je 2 Matratzen auf dem Ladentisch. Gute Nahrung.

Angestellte : 1 Tag pro Woche. Ladendiener : von 14 Tagen.

Die Souterrains haben zu wenig Luft.

Sonn- und Festtage. Jährlicher Urlaub von in der Kegel 8 Tagen.

Im ganzen gut mit Ausnahme der Bureau- angestellten.

Die Arbeitsbedingungen sind gut im ganzen; dafür sind die Bezahlungen un- genügend und beträchtlich niedriger als in den Detailgeschäften.

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374

Gesetzgebung.

staatlichen Betrieben und bei staatlichen Bauten, beim Verladen und Löschen der Schiffe und um einige Änderungen mehr verwaltungs- technischer Natur.

I. Hinsichtlich der Anwendung des Gesetzes von 1893 auf die staatlichen Betriebe und auf die öffentlichen Bauten entstand die Möglichkeit einer Kontroverse lediglich infolge der Tatsache, daß der Art. 1 des Gesetzes von 1893, im Gegensatze zum Art 1 des Gesetzes 1892, nach den Worten „chantiers et etablissements industriels" nicht ausdrücklich die Worte „publics et prives" enthielt.

Für die Bauarbeiten, die im Auftrage des Staates, der Departe- mente und der Gemeinden ausgeführt werden, wurde die Streitfrage durch ein Rundschreiben des Handelsministeriums vom 16. Mai 1900 dadurch erledigt, daß das Ministerium die Gewerbeinspektoren be- auftragte, bei allen diesen Bauarbeiten für die Durchführung des Gesetzes von 1893 Sorge zu tragen. „Das Gesetz", führte dieses Rundschreiben aus, „erstreckt sich auf Werkstätten und Bauplätze aller Art", und wenn auch die Worte „public et prives" darinnen nicht ausdrücklich enthalten sind, so genügen doch die Worte „aller Art", um zu ersehen, daß es dem Willen des Gesetzgebers entsprach, das Gesetz auch auf öffentliche Bauten anzuwenden, insbesondere, da diese Bauten hinsichtlich der Arbeitsbedingungen, und der Ge- fahren, die dabei das Leben und die Gesundheit der Arbeiter be- drohen, sich in keinerlei WTeise von privaten Bauten unterscheiden. „Es wäre", fahrt das Rundschreiben fort, „eine einzigartige Anomalie, wenn der Staat, die Departemente und die Gemeinden, die mit der Durchführung der Arbeiterschutzgesetze betraut sind, bei ihren eigenen Bauten diese außer acht lassen würden".

Dem Vorgehen des Handelsministeriums schloß sich das Kriegs- ministerium an, das durch Rundschreiben vom n. März 1901 die Direktoren und Betriebsleiter der dem Kriegsministerium unter- stehenden staatlichen Betriebe angewiesen hat, in diesen Be- trieben für die strikte Durchführung des Gesetzes von 1893 Sorge zu tragen.

Daß aber diese Schritte der Verwaltung nicht genügten, um wirklich in allen staatlichen Betrieben dem Gesetze Geltung zu ver- * schaffen, dies beweisen die Klagen, die über die Arbeitsbedingungen in der staatlichen Zündhölzchenmanufaktur in Aubervilliers und in der Imprimeric Nationale laut geworden sind.

Aus diesem Grunde, und auch um den Text des Art. I des

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Julius Landraann, Die Ausdehnung des Arbeiterschutzes in Frankreich. 375

Gesetzes von 1893 mit dem des Art. 1 des Gesetzes von 1892 in wörtliche Übereinstimmung zu bringen, sah der vom Ministerium eingebrachte Entwurf die Aufnahme der Worte „public et prives" in den Gesetzestext vor, was zur Folge gehabt hätte, daß die staatlichen Betriebe nicht allein dem Gesetze unterstellt, sondern auch, daß die Kontrolle über die Durchführung des Gesetzes in diesen Betrieben in den Kreis der Obliegenheit der Gewerbeinspek- toren einbezogen worden wären.

Gegen diesen Vorschlag des Regierungsentwurfes machte sich in der Arbeitskommission der Kammer keine Opposition geltend und diese Bestimmung des Entwurfes wurde denn auch von der Kammer debattenlos und mit stillschweigender Zustimmung der anwesenden Regierungsvertreter angenommen. Dagegen machte die Behandlung des von der Kammer angenommenen Entwurfes in der Kommission des Senates Schwierigkeiten.

Die Vertreter verschiedener Departemente machten ihre Be- denken geltend. Der Kriegsminister und der Marineminister wandten ein, daß wenn sie auch keinen Widerspruch gegen die Unterstellung sämtlicher, ihnen unterstehenden Betriebe unter das Gesetz von 1893 erheben wollten, sie doch verlangen müßten, daß für eine Reihe dieser Betriebe die Kontrolle über die Durchführung des Gesetzes ihnen, und nicht den Gewerbeinspektoren, überlassen bleibe, da Gründe der Landesverteidigung gegen den Eintritt der Inspektoren in diese Betriebe sprächen. Nachdem seitens der Vertreter dieser Ministerien die Zusicherung gegeben wurde, daß zu Kontrollzwecken in den Ministerien ein besonderes Inspektionsdepartement errichtet werden solle, wurde dem Gesetzentwurfe ein neuer Artikel ange- fügt, des Inhalts, daß für diejenigen Betriebe, für die diese Aus- nahmebehandlung aus Gründen der nationalen Sicherheit geboten erscheint, und die in einer noch zu erlassenden Verordnung auf- geführt werden sollen, die Überwachung der Durchführung des Ge- setzes nicht den Gewerbeinspektoren, sondern besonderen Kontroll- organen des Kriegs- und des Marineministeriums obliegt

Eine zweite Reihe von Bedenken wurde für diejenigen staat- lichen Betriebe geltend gemacht, für die die vorstehenden Er- wägungen nicht zutreffen und die infolgedessen der Kontrolle durch die Gewerbeinspektoren unterstehen sollen. Es wurde hervorgehoben, daß die Leitung eines staatlichen Betriebes denjenigen Anordnungen des Gewerbeinspektors, deren Durchführung mit Geldausgaben ver- bunden ist, nicht eher Folge leisten könne, als bis sie hierzu einen

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376

Gesetzgebung.

erforderlichen Kredit von den Kammern votiert erhielte. Auch diesen Bedenken trug die Kommission des Senates Rechnung, indem sie die Bestimmungen der §§ 5, 6, 7, 8, 9, 12 und 14 des Gesetzes von 1893, die den Gang des Verfahrens bei Feststellung von Uber- tretungen und beim Treffen von Anordnungen seitens des Gewerbe- inspektors regeln (Aufnahme eines Protokolls, Zustellung einer Moti- vierung, Anordnung durch den Inspektor an den Betriebsleiter mit Angabe der Frist, bis zu welcher die Anordnung ausgeführt werden kann, und Schließung des Betriebes, wenn die Anordnung bis zum angegebenen Zeitpunkte nicht durchgeführt ist), für die der Kon- trolle der Gewerbeinspektoren unterstehenden staatlichen Betriebe aufhob, und einer zu erlassenden Verordnung es vorbehielt, den- jenigen Gang des Verfahrens für diese Betriebe festzusetzen, der durch ihre Abhängigkeit vom Budgetbewilligungsrecht der Kammern geboten erscheint

Die einschlägigen Bestimmungen des Gesetzes lauten nunmehr :

Art. 4, Abs. 2. Bei Staatswerkstätten, bei denen sich im Interesse der na- tionalen Sicherheit die Zulassung von Beamten, welche dem betreffenden Dienst- zweige nicht angehören, verbietet, ist die Kontrolle über die Durchführung der ge- setzlichen Bestimmungen ausschließlich denjenigen Beamten übertragen, welche vom Kriegs- bzw. Marineminister dazu ernannt werden; das Verzeichnis dieser Betriebe wird durch eine von der öffentlichen Verwaltung zu erlassende Verordnung bekannt gegeben.

Art. 12, Abs. 3. Die Art. 5, 6, 7, 8, 9, 12 Abs. 1 und 2, und Art. 14 dieses Gesetzes finden auf Staatswerkstätten keine Anwendung. Eine Verordnung der Öffentlichen Verwaltung wird über die Bedingungen Bestimmungen treffen, unter welchen die seitens der Inspektoren in diesen Betrieben gemachten Feststellungen durch den Handelsministcr zur Kenntnis der beteiligten Verwaltungsstelle zu bringen sind.

2. Hinsichtlich der I.ade- und Löscharbeiten bei Schiffen, die in der Nomenklatur des Art 1 des Gesetzes von 1893 nicht ein- begriffen waren, bestand keine Streitfrage darüber, daß es den Ab- sichten des Gesetzgebers entsprach, die Arbeiter dieses Berufes auch des Schutzes der gewerbehygienischen Gesetzgebung teilhaftig werden zu lassen, und ein Ministerialerlaß, der diesen Standpunkt zur Kenntnis der Gewerbeinspektoren brachte, hat keinerlei Oppo- sition gefunden. Um aber eventuellen in der Zukunft möglichen Kontroversen vorzubeugen, wurde dies nunmehr auch gesetzlich festgelegt und die „Lade- und Löscharbeiten" in die Nomenklatur des Art. I aufgenommen.

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Julius Landmann, Die Ausdehnung des Arbeiterschutzes in Frankreich. 377

3. Um ferner für die Zukunft Kontroversen vorzubeugen, die sich aus einer Unklarheit des Art. 1 des Gesetzes darüber ergeben könnten, ob ein Betrieb oder eine bestimmte Kategorie von Be- trieben dem Gesetze untersteht oder nicht, wurde an den Schluß des Artikels noch eine zur Sicherung dieses Zwecks dienende all- gemeine Formel gestellt.

Art. 1 des Gesetzes lautet nunmehr:

Art. I, Abs. I. Die Bestimmungen dieses Gesetzes finden Anwendung auf Manufakturen, Fabriken, Hüttenwerke, Bauplätze, Werkstätten, Laboratorien, Küchen, Keller, Gewölbe, Magazine, Kramläden, Bureaus, l-ade- und Löscharbeiten und die zugehörigen Anlagen, gleichviel ob es sich um Betriebe öffentlicher oder privater, weltlicher oder religiöser Natur handelt, und zwar auch dann, wenn sie lediglich der Berufslehre dienen oder einen Wohltätigkcitscharakter haben.

4. Endlich enthält die Novelle zwei Änderungen hinsichtlich der im Art. 3 des Gesetzes vorgesehenen, von der öffentlichen Verwaltung zu erlassenen SpezialVerordnungen, die etwa den auf Grund des § I20e der deutschen Gewerbeordnung erlassenen Be- kanntmachungen des Bundesrates entsprechen. Die Ermächtigung zum Erlaß dieser Spezial Verordnungen wurde dahin erweitert, daß solche nunmehr auch hinsichtlich der Beschaffenheit der Schlafräume erlassen werden, und daß sie sich auch auf einzelne Berufskategorien (bisher nur auf einzelne Industriezweige) erstrecken dürfen.

* * *

Das Gesetz vom 9. Juli 1903, dessen Werden und Inhalt wir vorstehend skizziert haben, ist die erste Frucht der langjährigen Arbeiten der französischen Sozialpolitiker an einer Ausdehnung und Ausweitung des Arbeiterschutzes. Seine große Bedeutung liegt im Umfange des dem Arbeiterschutze neugewonnenen Geländes be- gründet und in der Tatsache, daß durch das Gesetz auch für dessen Durchführung gesorgt wurde. Die Ansätze aber zu neuen Novellen, die wir vorhin angedeutet haben, läßt die Hoffnung ge- rechtfertigt erscheinen, daß vielleicht in nicht allzu ferner Zeit auch weitere Berufsgruppen der bisher entbehrten Vorteile des gesetzlichen Schutzes teilhaftig werden.

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Die staatliche Pensionsversicherung der Privatangestellten.

(Mit besonderer Berücksichtigung des österreichischen Gesetzentwurfs.)

Von

WILHELM ARENS

Lankwitz- Berlin.

Ein von den Organisationen der Privatangcstelltcn gebildeter „Ausschuß zur Herbeiführung einer staatlichen Pensions- und Hinter- bliebcnenvcrsichcrung der Privatangestellten" hat am I S.Oktober 1903 und in den folgenden Wochen auf privatem Wege eine Erhebung über die Standesverhältnisse der Privatangestellten in ganz Deutsch- land veranstaltet, um der Regierung das Material zu liefern, dessen diese zur Einleitung gesetzgeberischer Arbeiten auf diesem ganz neuen Gebiete der sozialen Fürsorge bedarf. Das Resultat dieser Erhebungen ist sehr zufriedenstellend; was kaum einer der Beteiligten erwartet hatte, wurde erreicht: es sind sehr viel mehr als Hundert- tausend Fragebogen ausgefüllt worden. Die Regierung wird an- gesichts dessen den Bestrebungen der Privatangcstelltcn nähertreten müssen, das um so mehr, als seitens verschiedener Parteien im Reichs- tage bereits drei bezügliche Anträge gestellt worden sind. Der weitgehendste Antrag, der anfangs die meiste Aussicht hatte, unter den 99 dem Reichstage bei seiner Eröffnung im Dezember 1903 zugegangenen Anträgen mit in erster Reihe zur Beratung zu gelangen, ist der der Konservativen. Frhr. v. Richthofcn-Damsdorf und Ge- nossen beantragen einen Beschluß des Reichstages dahingehend:

die verbündeten Regierungen zu ersuchen, die Vorarbeiten zu einem Gesetzentwurf, betr. die Pensionsversicherung der Privatbeamten, dermaßen zu fördern, daß er bei Beginn der nächsten Reichstagssession zur Vorlage gelangen kann.

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Wilhelm Arens, Die staatliche Pensionsversicherung der Privatangestellten. 379

Frhr. v. Richthofen ist derjenige Reichstagsabgeordnete, der die Frage der Privatbeamtenversicherung zuerst im Reichstage zur Sprache gebracht hat. Der energischste Verfechter der Privatbeamten- interessen im Reichstage war infolge der starken Anregungen, die aus seinem Wahlkreis Aachen hervorgingen, der Reichtagsabgeordnete Lehrer Sittart. Auch von ihm und mehreren anderen Mitgliedern des Zentrums liegt dem Reichstage ein Antrag vor und zwar dahin- gehend, das Haus wolle beschließen:

die verbündeten Regierungen zu ersuchen, in eine Prüfung der am 15. Oktober 1903 von privater Seite veranstalteten und von den Interessenten in weitem Umfange unter- stützten Erhebungen über die Lage der „Privatbeamten" einzutreten und von den Ergebnissen dieser Prüfung dem Reichstage baldmöglichst in geeigneter Form Mitteilung zu machen.

Endlich ist dem Reichstage noch von nationalliberaler Seite folgender Antrag zugegangen:

„Der Reichstag wolle beschließen, die verbündeten Re- gierungen zu ersuchen: 1) Zur Vorbereitung einer den eigenartigen wirtschaftlichen Verhältnissen der Priv atbeamten (Privatangestcllten) entsprechenden allgemeinen obligato- rischen Alters- und Invaliditäts-, Witwen- und Waisen- versicherung durch eine besondere Kommission, zu welcher neben den Vertretern der verbündeten Regierungen auch Vertreter des Reichstags, sowie der beteiligten Privatbeamten und Privatbetriebe und Vertreter der Privatversicherungs- gesellschaften hinzuzuziehen sind, Erhebungen in die Wege zu leiten und die hierfür erforderlichen Mittel noch durch einen Nachtragsetat für 1904 anzufordern. 2) Bei der im Jahre 1905 erfolgenden Gewerbezählung eine sorgfältige Feststellung der verschiedenen Kategorien der Privatbcamtcn anzuordnen."

Da die Geschäftslage des Reichstages wenig Aussicht bot, daß diese Anträge rechtzeitig zur Verhandlung gestellt werden konnten, ist der Antrag des Zentrums in Form einer Resolution zum Etat des Reichsamts des Innern eingebracht worden.

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33o

Gesetzgebung.

I. Die Entwicklung der Bewegung in Deutschland.

Es ist noch allgemein in der Erinnerung, daß s. Z. bei der Einführung des Invaliditäts - und Altersversicherungsgesetzes im Deutschen Reiche von den Privatangestellten gegen die Ausdehnung dieser Versicherung auf die Handelsgehilfen, Techniker, Werkmeister etc. mit weniger als 2000 Mk. Gehalt protestiert wurde. Nur in ganz vereinzelten Fällen fühlte sich ein Angestellter an der Gehalts- grenze von 2000 Mk. veranlaßt, sich weiter zu versichern. Damals hatte man die Bedeutung der staatlichen Versicherung in den be- teiligten Kreisen noch nicht erkannt. Erst um die Mitte der 90 er Jahre wurden Stimmen laut, die von der Selbsthilfe keine aus- reichende Befriedigung erhofften und darum ein Eingreifen des Staates auch zugunsten der bessergestellten Kreise verlangten. Es handelte sich damals zuerst um die Handelsangestellten und die Verfechter der Idee waren - das sei hier besonders hervorgehoben Prinzipale: Der Verband der kaufmännischen Vereine von Rhein- land und Westfalen verhandelte um die Mitte der 90 er Jahre auf seinen Verbandstagen wiederholt über diesen Gegenstand ; zu einem sichtbaren Erfolge führten seine Bestrebungen jedoch nicht, da in den Kreisen der Interessenten die Erkenntnis von der Tragweite einer solchen Versicherung noch nicht weit genug vorgedrungen war. Auch der vom dcutschnationalen Handlungsgehilfenverbande im Jahre 1 898 in Leipzig veranstaltete deutsche Handlungsgehilfen- tag fand den Boden noch nicht genügend vorbereitet, als er eine Resolution zugunsten eines Ausbaues des bestehenden Invaliden- versicherungsgesetzes beschloß. Der Verband der deutschen Gruben- und Fabrikbeamten in Bochum kam zu einem gleichen Resultate, und als 1899 der Verband reisender Kaufleute in Leipzig ein Rund- schreiben an die sämtlichen interessierten kaufmännischen Vereine, die Handelskammern und den Reichstag versandte, gelang es auch ihm nicht, eine Bewegung für die Alters-, Invaliden- und Hinter- bliebcncnversorgung des kaufmännischen Hilfspersonals ins Leben zu rufen, obwohl die in diesem Rundschreiben entwickelten Ideen bereits eine erfreuliche Klarheit in bezug auf Einzelheiten der ver- tretenen Wünsche erkennen ließen. Die Ursachen dieser Erschei- nung mögen vielleicht zu suchen sein in der starken Inanspruch- nahme, die andere große Fragen, zum Teil auch Fragen der Organisation, zu jener Zeit auf die kaufmännischen Angestellten

uigiiizeo

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Wilhelm Arens, Die staatliche Pensionsversicherung der Privatangestellten. 381

ausübten. Zum Teil aber lag sie gewiß auch in der Abneigung, die die bestehende, anfänglich auf die Arbeiter zugeschnittene staat- liche Alters- und Invalidenversicherung mit ihrem Klcbezwang in weiten Kreisen fand. Wenn heute eine sehr starke Bewegung zu- gunsten einer solchen Versicherung besteht, so ist das im wesent- lichen zurückzuführen auf das Erscheinen des österreichischen „Gesetzentwurfs betr. die Pensionsversicherung der in privaten Diensten und einiger in öffentlichen Diensten Angestellten", der am 21. Mai 1901 dem österreichischen Reichsrate zuging. Als er in Deutschland bekannt wurde, gewannen die gesamten bisherigen Bestrebungen ein anderes Gesicht: Eine „Pensions'Versicherung wünschte sich ein jeder und was den ersten Äußerungen bezüglicher Wünsche durch die kaufmännischen Organisationen an werbender Kraft abging, das ersetzten die anderen Berufen angehörenden Privatangestellten : Ingenieure, Publizisten etc. durch eine mit außer- ordentlicher Schärfe geführte Agitation in der Presse. Zu nennen ist da vor allem der Forster Hütteningenieur Ennesch, der wohl als erster Deutscher den österreichischen Entwurf in der deutschen Presse behandelte. Im Herbst 1901 griff dann der deutsche Gruben- und Fabrikbeamtenverband die Angelegenheit, die er bereits früher bearbeitet hatte, wieder auf und berief eine Delegiertenversamm- lung der Verbände kaufmännischer und technischer Angestellten nach Hannover. Diese Tagung, die am I. Dezember 1901 stattfand, hatte noch mit Gegnern in den eigenen Reihen zu kämpfen: Die Leiter der Altersversorgungskassen des Vereins für Handlungskommis von 1858 zu Hamburg, Möller, und des deutschen Privatbeamten- vereins in Magdeburg, Dr. Sernau, kämpften unter Verweisung auf die Selbsthilfe gegen diese Bestrebungen an. Ihrem Einfluß ist es zu danken, daß der Ausschuß, der in Hannover gewählt wurde, im ersten Jahre zu keiner ersprießlichen Arbeit kam. Nachdem im Laufe des Jahres 1902 eine sehr lebhafte Bewegung zugunsten einer Pensionsversicherung der Privatangestellten im Lande selbst groß- geworden war, trat dann am I. März 1903 der Ausschuß in Berlin zu einer neuen Sitzung zusammen und beschloß in Berücksichtigung einer Anregung, die am Tage vorher einer Deputation von Privat- angestellten vom Reichsamt des Innern gegeben worden war, die Veranstaltung jener Erhebungen über die Standesverhältnisse der Privatangestelltcn in Deutschland, die jetzt am 15. Oktober 1903 zur Ausführung gelangt sind.

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II. Die treibenden Gedanken der Bewegung.

Die Frage der Pensionsversicherung der Privatangcstellten hat zum ersten Male die verschiedenen Berufsgruppen dieses neuen Standes zu gemeinsamen Bestrebungen zusammengeführt. Bis dahin hatten die Handlungsgehilfen, die Techniker, die Werkmeister sich wohl mit Angelegenheiten beschäftigt, die ihren Beruf allein an- gingen; aber die Erkenntnis, daß sich im Laufe der letzten Jahr- zehnte in den Privatangestellten ein neuer Stand herausgebildet hatte, hatte sich noch nicht Bahn gebrochen. Erst die Frage einer gemeinsamen Pensionsversicherung lenkte die Aufmerksamkeit auf die bei allen Gliedern des neuen Standes vorhandenen eigenartigen Erwerbsverhältnisse und die mit ihnen verbundene Existenzunsicherheit des Einzelnen. Zugleich lernte man, den Bildungs- und Entwick- lungsgang des Standes der Privatangcstellten zu studieren und sich mit seinem Verhältnis zu den anderen Ständen zu beschäftigen. Zu voller Klarheit über die Grenzen des neuen Standes ist man dabei allerdings auch heute noch nicht gelangt und man wird angesichts der Veränderlichkeit des wirtschaftlichen Lebens wohl schwerlich jemals zu einer absolut zuverlässigen Definition des Begriffes „Privat- angestellter" kommen. Einen Beweis dafür scheint die Tatsache zu bilden, daß die anfangs in der Pensionsversicherungsbewegung in Deutschland im Vordergrunde stehende Frage „Wer ist Privat- angestellter ?" längst verschwunden ist und der Frage „Wer soll versichert werden?" Platz gemacht hat. Der Ausschuß der Privat- beamtenverbände hatte zwar einmal eine Definition versucht, aber diese konnte nicht in Betracht kommen, da sie sich auf die be- stehenden Gesetze stützte, die wiederum die Auslegung der einzelnen Begriffe dem Richter überlassen. Die bezügliche Kundgebung lautete : „Der Ausschuß versteht unter „Privatangestellte" alle in Diensten Privater, bei staatlichen und Gemeindebehörden, nicht pensions- berechtigte gegen Entschädigung Angestellte, deren Beschäftigung höherer Art ist und deren Arbeitsverhältnis nach den §§ 59 des Handelsgesetzbuches, 133 a der Reichs-Gewerbe-Ordnung, 88 des Allgemeinen Berggesetzes und 622 des Bürgerlichen Gesetzbuches bestimmt wird." Den Privatangestellten war diese Auslassung will- kommen, aber nicht als Definition des Begriffes „Privatangestellter" sondern als einfache Abgrenzung des Kreises der zu Versichernden; denn alle, auch von anderer Seite angestellten Versuche, aus der

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Art der Dienste, der Vorbildung, des Entgeltes, aus der gesell- schaftlichen Stellung oder den Standespflichten eine Abgrenzung zu konstruieren, waren gänzlich erfolglos geblieben. Mit dem Begriff „höhere Dienstleistungen" hatte s. Z. schon die österreichische Re- gierung in ihrer Kundmachung aus Anlaß der Erhebungen über die Privatangestellten vom Jahre 1896 operiert, damit aber wider Willen erreicht, daß in weiten Bezirken durch die niederen Behörden alle Handlungsgehilfen von den Erhebungen ausgeschlossen wurden; auch aus dem Grade und der Art der Vorbildung ließ sich ein allgemein brauchbares Kennzeichen nicht schaffen, da manche Ar- beiterkategorien eine über die Volksschulbildung hinausgehende fachliche und allgemeine Bildung haben müssen, während die Ob- liegenheiten manches Angestellten nichts als ein repräsentables Auftreten notwendig machen. In bezug auf die Entlohnung der Dienste aber konnte bei der überaus schlechten Bezahlung vieler Angestellten und der Mannigfaltigkeit in der Form der Entlohnung nach Zeitungsberichten soll z. B. eine große Berliner Buch- druckerei ihre Korrektoren schichtweise honorieren erst recht von einem entscheidenden Merkmal keine Rede sein. Damit hängt die Unmöglichkeit, sich auf die gesellschaftliche Stellung und die mit ihr verbundenen Pflichten zu berufen, eng zusammen. Auch in Osterreich hat man bald darauf verzichtet, eine brauchbare theoretische Definition zu geben, nachdem man mit dem Ausdruck „höhere Dienstleistungen" in bezug auf die Handlungsgehilfen so unangenehme Erfahrungen gemacht hatte. Auch dort fragt heute niemand mehr: „Wer ist Privatangestellter?", weil diese Frage sich gar nicht aus- reichend beantworten läßt und weil ihre Beantwortung auch nicht gerade notwendig erscheint und eine einfache Aufzählung der zu versichernden Berufe genügt. Die Angehörigen dieses neuen Standes kennen, da Zweifel nur ganz verschwindend kleine Kreise treffen, ihre Zugehörigkeit und empfinden lebhaft ihr Standesbewußtsein. Insbesondere das Wort von Prof. Schmoller von dem Privatbeamten- stande als dem „Kern des neu sich bildenden Mittelstandes" hat in der Entwicklung eine sehr anregende Wirkung ausgeübt, indem es vor allem auch zu einem Rückblick zwang. 1882, bei der ersten Berufs- und Gewerbezählung im Deutschen Reiche, wurden, ab- gesehen von den in einer anderen Kategorie gezählten Betriebs- leitern, 306668 Privatangestellte ermittelt. Die zweite Berufs- und Gewerbezählung vom Jahre 1895 wies bereits 621825 Angestellte in privaten Betrieben nach und heute, nach 8 Jahren weiteren wirt-

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schädlichen Aufschwunges und fortschreitender Entwicklung, nimmt man allgemein an, daß in Deutschland i i1» Millionen Angestellte in privaten Betrieben tätig sind. Man geht vielleicht nicht fehl, wenn man sagt, daß die Handwerker von den Privatangestellten nach 10 weiteren Jahren der Zahl nach übertroflen werden. Als- dann wird es sich in erhöhtem Maße fragen, ob und in welchem Grade der Stand der Privatangestellten auch wirklich mit jener U n - abhangigkeit ausgestattet sein wird, die den früheren „Mittel- stand" stets zu einem so wichtigen Gliede im sozialen Leben der Völker gemacht hat. Heute sind selbst die eifrigsten Verfechter der Interessen der Privatangestellten nicht in der Lage, den Hand- werkern und Detailisten Unrecht zu geben, wenn diese durch den Mund des früheren Reichstagsabgeordneten Dr. Oertel für sich eine größere Bedeutung im Wirtschaftsleben des Volkes beanspruchen, als für einen „Rayonchef bei Wertheim."

I. Die Existenzverhältnisse des Privatangestellten.

Der Privatangestellte ist abhängig von seinem Dienstgeber, der ihn nach Belieben entlassen kann oder nicht; er ist abhängig von seiner Stellung, aus der er seinen Lebensunterhalt zieht; er em- pfindet die Nachteile eines festbegrenzten Einkommens aus seiner persönlichen Tätigkeit, die auf ihn um so schärfer einwirken, als er mit einer fortdauernden Ungewißheit seiner Stellung rechnen muß und unter den bestehenden Verhältnissen keine Möglichkeit hat, sich eine genügende Sicherung seines Einkommens zu schaflfen.

a) Das unfundierte Beamteneinkommen.

Als es sich s. Z. darum handelte, die Beamten des preußischen Staates zu einem Teile von den kommunalen Lasten zu befreien, da ging man, wie der Wortlaut des Gesetzes betr. die Heranziehung der Staatsdiener zu den Gemeinelasten vom u. Juli 1822 es aus- spricht, davon aus, daß das Diensteinkommen des Beamten : „einer- seits seinem ganzen Dasein nach von dem Leben, der Gesundheit und anderen zufalligen Verhältnissen der Person abhängig und an- dererseits seinem ganzen Betrage nach bestimmt ist, und dadurch auf der einen Seite gegen Grund- und Kapitaleinkommen und auf der anderen Seite gegen Gewerbseinkommen im Nachteile steht." Diese Gedanken sind ohne Ausnahme auf die Einkommensverhält- nisse des Privatangestellten anwendbar: Auch er kann nicht, wie

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der Landwirt oder mit Kapital ausgestattete Gewerbetreibende ein fortdauerndes, wenn auch vermindertes Einkommen erhoffen, so- bald seine Erwerbsfähigkeit wegfällt; auch bei ihm ist dazu die Möglichkeit, sein Einkommen durch vermehrte Arbeit auszudehnen, die Früchte eines besonders guten Geschäftsganges sich zunutze zu machen, nicht gegeben. Dahingegen fällt bei ihm noch er- erschwerend ins Gewicht, daß „die anderen zufälligen Verhältnisse der Person" bei ihm ungleich viel stärker in die VVagschale fallen wie bei dem festangestellten Beamten des Reiches, des Staates oder der Gemeinde.

b) Die Stellenlosigkeit.

Die Gefahr der Invalidität oder des vorzeitigen Todes läßt sich unter den gegebenen Verhältnissen für den, der ein ganz festes Einkommen hat, durch den Abschluß geeigneter Versicherungen ausgleichen, und die Privatangestellten hätten keinerlei Recht, nach Hilfe des Gesetzgebers zu rufen, wenn sie von diesen privaten Ver- sicherungsmöglichkeiten ausreichenden Gebrauch machen könnten. Das aber ist unter den bestehenden Verhältnissen nicht der Fall. Wenn ein Privatangestellter, der in einem Alter von 25 Jahren zu einem Gehalt von 2400 Mk. gelangt, der nach 10 Jahren 3600 Mk. und nach 20 Jahren 4000 Mk. verdient, sich und seine Familie wirklich seinen Lebensverhältnissen entsprechend versichern will, so muß er sich für den Fall der Invalidität und des Alters auf eine Jahres- rente von 1 500 Mk. versichern und außerdem zur Versorgung seiner Angehörigen eine Kapitalversicherung auf mindestens 6000 Mk. abschließen; zu beachten ist noch, daß in beiden Fällen angesichts der Intensität der Arbeit des Privatangestellten das 60. Lebensjahr als der Abschluß der Erwerbsfähigkeit anzusehen ist, daß also mit diesem Termine auch die Einzahlungen an eine Versicherungsanstalt aufhören müssen. Für eine solche Rentenversicherung würden jähr- lich ca. 300 Mk., für die Kapitalversicherung jährlich ca. 170 Mk., zusammen 470 Mk. zu zahlen sein. Bei angestrengter Arbeit und sorgsamster Sparsamkeit würde der Versicherte, wenn sein Ein- kommen keinerlei Schwankungen unterworfen sein würde, diese Prämien aufzubringen vermögen. Anders aber wird die Sache, so- bald irgend eine Störung eintreten würde. Die Aufwendungen, die der Privatangestellte in einem solchen Falle zu machen hätte, würden seine Leistungsfähigkeit zu normalen Zeiten aufs äußerste anspannen, und sofort unmöglich werden, sobald Stellenlosigkeit das Gehalt

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wegfallen läßt. Tatsächlich aber handelt es sich bei der Stellen- losigkeit heute nicht mehr um eine Begleiterscheinung, die nur minderfahige Elemente trifft. Jede wirtschaftliche Krisis läßt Tausende von Privatangestellten beschäftigungs- und damit verdienst- los werden ; das Schicksal der Angestellten der Leipziger Bank, der Treberunternehmungen, ferner der im Jahre 1901 entlassenen nach Tausenden zählenden Bank- usw. Beamten beweist das. Ein ge- nauer Überblick über den Umfang der Stellenlosigkeit liegt uns für Deutschland nicht vor ; eine Erhebung über die Standes- und Lebens- verhältnisse der Privatangestellten gab es bisher in Deutschland noch nicht und auch die am 15. Oktober durchgeführten Erhebungen werden kein ganz lückenloses Material liefern. Dahingegen besitzt man in Österreich wenigstens einigermaßen zuverlässiges Material in den Resultaten der Erhebungen, welche die dortige Regierung 1896 über die Standesverhältnisse der Privatan gestellten vornahm. Danach kamen in den 5 dem Zähljahr vorausgehenden Jahren durch- schnittlich auf 100 Angestellte 1,75 stellenlose; auf jeden Ange- stellten entfielen durchschnittlich jährlich 2,93 Tage ohne Stellung; jede Stellenlosigkeit dauerte im Durchschnitt 167,4 Tage. Nimmt man in Deutschland die Teilresultate, die der Verein für Handlungs- kommis von 1858 in Hamburg bei seinen Mitgliedern ermittelte, so findet man, daß im Jahre 1893 durchschnittlich ein Stellenloser auf 41 Vereinsmitglieder kam. 1894 fiel diese Zahl sogar auf 33, stieg dann 1895 auf 38,7, 1896 auf 47,5, 1897 auf 51,1, 1898 auf 59,2, blieb also auch in dem wirtschaftlich so sehr günstigen Jahre 1898 noch immer doppelt so hoch, wie die in Österreich ermittelte Ziffer von 2,93 stellungslosen Tagen pro Jahr. Es erscheint übrigens, ganz nebenbei, in diesen Zahlen ein sehr treffendes Bild der je- weiligen wirtschaftlichen Lage. Zu den Zahlen, die in Österreich ermittelt wurden, bemerkt die Regierung auf Seite 9 der Erhebungen, in bezug auf die Stellenlosen sei von vornherein auf eine voll- ständige Anmeldung nicht zu rechnen gewesen. Man geht also nicht fehl, wenn man in den österreichischen Resultaten kein zu dunkles Bild der Verhältnisse sieht.

c) Der Mangel einer zuverlässigen Versorgungsgclegenheit.

Die Stellenlosigkeitsgefahr ist es, die den Angestellten der Möglichkeit beraubt, sich auf dem Wege der privaten Ver- sicherung ausreichend gegen die Nachteile des unfundierten fest- begrenzten Beamteneinkommens zu schützen und seine Hinter-

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bliebenen vor den Folgen eines doch immerhin möglichen frühen Todes zu bewahren. Die heute gebotenen Versicherungs- gelegenheiten verlangen durchweg regelmäßige Prämienzahlungen und lassen die Versicherung verfallen oder nur mit großen Nach- teilen für den Versicherten fortbestehen, sobald die Prämienzahlung wegen Mangels an verfügbaren Mitteln durch den Versicherten ein- gestellt wird. Der Stand der Privatangestellten muß aber in sehr hohem Grade für seine Mitglieder mit der Unmöglichkeit der Prämien- zahlung rechnen ; denn es liegt auf der Hand , daß ein Privat- angestellter, der die in Österreich als Durchschnitt ermittelten 167,4 Tage lang stellenlos ist, in fast allen Fällen nicht in der Lage sein wird, eine seiner Lebenshaltung entsprechende Versicherung aufrecht zu erhalten. Der Privatangestellte hat gewiß in der Mehrzahl aller Fälle ein größeres Einkommen wie der Arbeiter; er hat aber nicht die Möglichkeit, so eingeschränkt zu leben, wie jener es vermag. Die Erfahrung lehrt da, daß die Beziehungen des Angestellten zum Bürgerstande, vielleicht auch die Repräsentationspflichten seiner Stellung ihn im allgemeinen zwingen, sein ganzes Einkommen zu verbrauchen und von bedeutenderen Rücklagen abzusehen. Auf jeden Fall werden diese wohl nur selten so bedeutend sein, daß der Angestellte davon jene 167,4 Tage hindurch seine Familie zu erhalten und dann noch entsprechende Prämien zu der Versicherung zu leisten vermöchte. Es ist auch mehr wie wahrscheinlich, daß die ganzen Rettungsmöglichkeiten der Versicherung vierwöchige Respektfrist, sechsmonatige Nachzahlungsfrist mit Zinszuschlag und zweijährige Frist zur Wiederaufnahme bei gutem Gesundheits- zustand — fast in allen Fällen versagen werden, sobald eine solche langdauernde Stellenlosigkeit eintritt. Ein Blick in die Resultate der Lebensversicherungsanstalten beweist denn auch, daß der vor- zeitige Verfall außerordentlich groß ist. Man sehe sich die folgenden Zahlen, bei denen es sich um die Lebensversicherung, nicht auch Renten-, Volks- usw. Versicherungen handelt, unter diesem Ge- sichtswinkel an:

Neuaufnahmen Erreichtes Ziel Vorzeitiger Verfall

1896

1897 1898 1899 1900 1901 1902

102640 19425 27850

1 25 093 20468 32488

1 20 80S 2 1 384 32 822

121 000 24000 35000

120000 26006 38000

119005 26147 35479

122077 »7 999 42 554

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Gcsctigcbung.

Daraus ergibt sich, daß die Erwerbs- und Einkorn mens Ver- hältnisse der meisten Versicherungsnehmer die für eine regelmäßige Prämienzahlung notwendige Zuverlässigkeit nicht bieten, und da die Angestellten wegen der Eigenart ihrer Einkommensverhältnisse ein sehr großes Kontingent der Versicherten stellen, darf man mit gutem Recht die Ermittelungen über die Häufigkeit und Dauer der Stellenlosierkeit mit den Ziffern der Lcbensversicherungsinstitutionen in Bezug auf vorzeitigen Verfall von Polizen miteinander in Be- ziehung bringen. Es erübrigt, hier ausführlich darzulegen, daß auch die Kassen der Verbände der Angestellten, so manche Vor- teile sie für die Versicherten unter den Mitgliedern bieten mögen, nicht in der Lage sind, die unangenehme Erscheinung des vor- zeitigen Verfalles mit all ihrem Schaden, mit all ihrer Erbitterung weckenden Enttäuschung zu beseiten, sofern sie nicht, wie es der Verband deutscher Handlungsgehilfen in Leipzig getan hat, das System der einmaligen Prämie eingeführt haben. Dieses System, das für Versicherungsnehmer mit nicht absolut sicherem Einkommen die beste Versicherungsform darstellen dürfte, ist von den Privat- versichcrungen nicht eingeführt worden, weil das Werbesystem nichtdaraufangelegt ist: der Agent findet keine entsprechende Entlohnung seiner Mühe, wenn er anstatt einer fordauernden Zahlungsverpflichtung nur eine einmalige kleine Einzahlung erreicht Nur eine Versicherungsgesellschaft, der Allgemeine deutsche Ver- sichcrungsvercin in Stuttgart, macht mit Hilfe von Arbeiterorgani- sationen auf diesem Gebiete einen kleinen Vorstoß, der jedoch wegen der Beschränkung in bezug auf die Höhe der Versicherung (ur den Privatangestellten keineswegs in Betracht kommt, ganz ab- gesehen davon, daß er nur Kapital-, keine Rentenversicherungen bietet.

In gewiß nicht höherem Grade kann der Privatangestellte in den von vielen Großunternehmungen sicher in bester Absicht ge- schaffenen Hauskassen eine Lösung des Versicherungsproblems erblicken. Einmal ist nur ein sehr kleiner Teil der Unternehmer in der Lage, solche Kassen zu errichten, und wie das Beispiel der Leipziger Bank zeigt, ist nur ein verschwindender Teil in der Lage, für die Versicherung auch für alle Zeiten die nötigen Garantien zu schaffen. Die Momente, die gegen die Lebensversicherung sprechen, sprechen in verstärktem Maße auch gegen die Hauskassen, weil bei diesen meistens das Werk die Hälfte der Prämien einzahlt und den ausscheidenden Beamten zwingt, vom Augenblicke des Austritts

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an die doppelten Prämiensätze wie bis dahin zu zahlen. Darin liegt eine sehr starke Beschränkung der Freizügigkeit und damit des Vorankommens des Angestellten, und es ist in den Kreisen der Angestellten allgemein zur Überzeugung geworden, daß die Werke mit Pensionskassen gegenüber anderen Unter- nehmungen dieweniger guten Gehälter zahlen. Früher war es fast allgemein üblich, daß der Angestellte, sobald er frei- willig oder unfreiwillig aus dem Dienstverhältnis zur Firma aus- schied, seine Einzahlungen nach Abzug der ersten 5 Jahresprämien ohne Zinsen aus der Kasse zurückerhielt, also einen sehr be- deutenden Schaden erleiden mußte. Diesem Zustande hat das Reichsaufsichtsamt erfreulicherweise ein Ende gemacht; heute er- möglichen fast alle Institute dieser Art die Weiterversicherung gegen Zahlung der gesamten bis zum Austritt vom Angestellten und dem Dienstgeber je zur Hälfte getragenen Prämien. Dahingegen hat das Reichsaufsichtsamt der absoluten Rechtlosigkeit der Versicherten bei solchen Kassen bisher noch kein Ende gemacht. Es ist den zunächst Beteiligten fast durchweg selbst nicht bekannt, aber es ist Tatsache: es gibt in Deutschland keine Pensionskasse eines Privat- unternehmens, die ihren Mitgliedern nicht ausdrücklich das Recht zur Klage bei den ordentlichen Gerichten nähme und sie nicht an ein Schiedsgericht verwiese. Die Zusammensetzung dieses Schieds- gerichts aber tut die Unsicherheit des Versicherungsverhältnisses gegenüber der Kasse hinreichend dar: 2 Mitglieder des Schieds- gerichts sind Vertreter der Kasse und des Versicherten ; diese beiden ernennen das 3. Mitglied, den Obmann; können beide sich über den Obmann nicht einigen, so wird der Obmann von der Firma ernannt, sodaß die Mehrheit der Stimmen unter allen Umständen auf Seiten der Kasse bzw. des Werkes ist.

Die bestehende In validitätsversicheru ng ist in den letzten Jahren in den Augen der Privatangestellten sehr gestiegen. Man ruft nicht mehr nach einer Loslösung aus dieser Versicherungs- pflicht sondern fordert höchstens ihren Ausbau. Trotzdem aber ist niemand im unklaren darüber, daß die Privatangestelltcn unter einer Versicherung für sich selbst etwas anderes verstehen. Heute versichern sich ja wohl alle Angestellten, sobald sie die Gehalts- grenzc von 2000 Mk. überschreiten, weiter, aber nur, weil diese Versicherung gegenüber den minimalen Einzahlungen immerhin einen bedeutenden Vorteil bietet, dann zum Teil auch, weil sie glauben, daß die nach dem Invalidenversicherungsgesetze zurück-

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gelegte Wartezeit nach Schaffung einer besonderen Privatbeamten- versicherung zur Anrechnung gelangen werde. Das hält aber nie- manden davon ab, stets zu betonen, daß die Invalidenversicherung für Privatbeamte etwas anderes bieten muß, als das bei der doch auf die Verhältnisse der Lohnarbeiterschaft berechneten Invaliden- versicherung gegenwärtig der Fall ist.

III. Der Stand der Bestrebungen in Österreich.

Der Anstoß zu der heutigen Bewegung in Deutschland stammt aus Österreich. Dort hatten bereits im Jahre 1888 Privatangestellte eine solche Versicherung verlangt. In der ersten Hälfte der 90 er Jahre gelang es, die Regierung zu einer größeren Aktion zu ver- anlassen: Im Jahre 1896 wurden auf kaiserliche Anordnung hin die Erhebungen über die Standesverhältnisse der Privatangestellten durchgeführt. Auf Grund der Resultate dieser Erhebungen arbeitet dann die Regierung einen „Gesetzentwurf betreffend die Pensions- versichcrung der in privaten Diensten und einiger in öffentlichen Diensten Angestellten" aus und übergab ihn am 21. Mai 1901 dem österreichischen Abgeordnetenhause zur verfassungsmäßigen Be- handlung.

1. Die Erhebungen über die Standesverhältnisse.

Es scheint nicht angängig, an dieser Stelle die überaus wich- tigen Resultate der Erhebungen über die Standesverhältnisse der Privatangestelltcn ausführlich zu behandeln. Da es sich jedoch um das einzige bestehende amtliche Material über diesen neuen Stand handelt, kann die Mitteilung der wichtigen Resultate hier nicht um- gangen werden.

Die Erhebungen erstreckten sich nur auf Österreich, nicht auch auf Ungarn. Über die Zahl der in Betracht kommenden Angestellten hat die k. k. statistische Zentralkommission Untersuchungen veran- staltet und sie ist dabei zu dem Schlüsse gekommen, daß als obere Grenze der ev. zu versichernden Personen die Zahl 200 000 zu nennen sei. Dabei wird jedoch noch hingewiesen auf die große Zahl der in öffentlichen Diensten nicht fest Angestellten; nach deren Abzug glaubt die statistische Zentralkommission mit der Zahl von 160000 Privatangestellten s) als Angehörigen privater Betriebe rechnen zu

>J In der „Kundmachung betreffend statistische r>hebungcn über die Privat-

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Wilhelm Arens, Die staatliche Pensionsversicherung der Privataugesteilten. ^9 1

sollen. Von diesen haben 104491 Zählkarten ausgefüllt; 4954 wurden aus der Berechnung ausgeschieden, weil die Aussteller ent- weder keine Privatangestellte waren, oder die Tätigkeit eines solchen nur nebenamtlich versehen oder endlich ihre Tätigkeit noch nicht unter die ins Auge gefaßten Berufsgruppen gerechnet wurden. Speziell die Handlungsgehilfen wurden in hohem Grade von dieser Ausscheidung betroffen. Rund 2500 Fragekarten von Handlungs- angestellten wurden nicht berücksichtigt, weil die Betreffenden nach Ansicht der Regierung nicht „zu dem in Handelsunternehmungen für höhere Dienstleistungen Angestellten gehören". In bezug auf die Abgrenzung dieses Berufsstands besteht denn auch heute noch die weitgehendste Unklarheit. In dem einen Bezirk scheint man vor allem die Ladenbediensteten einfach ausgeschieden zu haben, während man diese offenbar mit in die Zählung hineinbeziehen wollte. Die ausgeschiedenen 2500 Zählkarten betrafen anscheinend Personen, die in Handelsunternehmungen ohne besondere Vorbildung als Hilfskräfte, vor allem zu Pack- usw. Dienstleistungen aufgenommen werden und deren Bestreben es naturgemäß ist, nach und nach sich in bessere Stellungen hineinzuarbeiten. Im allgemeinen dürfte, das geht aus den Ausführungen der „Ergebnisse" hinreichend hervor, der weitaus größte Teil der Handelsangestellten in die Erhebung hineinbezogen worden sein.

angestellten" hieß es in bezug auf den Kreis der Privatangcstelltcn : „Als Privat- angestellte gelten die vorwiegend für höhere Dienstleistungen in der Regel

mit Jahres- oder Monatsgehalt bcdicnstctcn Personen männlichen oder weiblichen Geschlechts, demnach insbesondere: Betriebsbeamte, Giiterbeamtc (Wirtschafts- und Forstbcamtc usw.), Ingenieure, Werkführer, Chemiker, Mechaniker, Faktoren, Buch- halter, Kassierer, Expedienten, Korrespondenten, Kontoristen und andere in Handcls- unternchmungen für höhere Dienstleistungen Angestellte, Zeichner, Apothekerprovi- soren, Lchrpersonen, Konzipienten (namentlich auch Advokaturs- und Notariats- kandidaten, Sollizitatoren, Sekretäre u. dgl.). Ausgeschlossen von diesen statistischen Erhebungen sind daher insbesondere die gewerblichen Hilfsarbeiter (Handelsgehilfcn, sofernc sie nicht zu den in Handelsunternehmen für höhere Dienstleistungen Ange- stellten gehören, Gesellen, Kellner, Fabriksarbeiter, Taglöhner, Lehrlinge, Prakti- kanten, Bureau- und Geschäftsdiener und ferner alle unter die Dienstboten-(Gesinde) Ordnungen fallenden Personen. Hingegen sind in diese statistische Erhebungen ein-

zubeziehen : die bei den Dienstgebern in Verwendung stehenden, in bezug

auf ihre Dienstesverrichtungen den oben bezeichneten Privatangestcllten glcichzu- haltenden Personen, auch wenn sie nur im Wochenlohne stehen oder gegen Tage- geld beschäftigt werden (Diurnisten)."

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Gesetzgebung.

Naturgemäß interessieren aus den Ergebnissen in erster Linie die Ermittelungen über das Gehalt. Man darf sich in diesem Punkte jedoch nicht durch den amtlichen Charakter der Aufnahme in zu große Sicherheit wiegen lassen; einmal ist zu beachten, daß die Fragebogen unverschlossen weiter befördert worden sind, was manchen Angestellten zu Übertreibungen veranlaßt haben wird mit Rücksicht auf den Mitangestellten, der leicht von der Höhe des Gehalts Kenntnis zu nehmen vermochte. Auf der anderen Seite aber darf nicht übersehen werden, daß der Wunsch, die in kleinen Orten mit der Polizei in engster Fühlung lebende Steuerbehörde hinters Licht zu führen, manchen abgehalten haben mag, sein wahres Ge- halt anzugeben. Die Zahlen sind also mit einer gewissen Vorsicht zu betrachten. Die Erhebungen haben nun ergeben, daß die in die Zählung einbegriffenen Privatangestellten ein jährliches Durchschnitts- Einkommen aus ihrer Tätigkeit als Angestellte in Höhe von 891 Gulden bezogen. Das Durchschnittsgehalt steigt von 461 Gulden mit 20 Jahren auf 664 Gulden mit 25 Jahren, auf 804 Gulden mit 30 Jahren, 928 mit 35 Jahren, 103 1 Gulden mit 40 Jahren, 1 105 Gulden mit 45 Jahren, 1 150 Gulden mit 50 Jahren und erreicht dann mit 53 Jahren den Höchstbetrag von 1 164 Gulden. Mit dem 55. Jahre beginnt es, was für die Versicherung von der allerhöchsten Wichtigkeit ist, zu fallen, und zwar sinkt es auf 1 163 Gulden; mit dem 60. Lebensjahre ist es bereits auf 1 1 36 Gulden zurückgegangen, mit 65 Jahren beträgt es nur noch 1050 Gulden, mit 70 Jahren nur noch 986 Gulden. Das höchste Durchschnittsgehalt erreichten die höheren administrativen und kommerziellen Beamten mit 2062 Gulden, dann folgten die höheren technischen Beamten mit 1685 Gulden, die Schriftsteller (Redakteure usw.) mit 1350 Gulden, während die höheren landwirtschaftlichen Beamten nur ein Durch' schnittsgehalt von 950 Gulden erreichten. An letzter Stelle standen die niederen landwirtschaftlichen Beamten mit einem Durchschnitts- gehalt von 459 Gulden.

Eine zweite sehr wichtige Seite der Erhebungen ist bereits oben Gegenstand einiger Mitteilungen gewesen : die Stellen- losigkeit. Hinzuzufügen ist noch, daß die Dauer der Stcllcn- losigkeit und ihr Umfang bei den verschiedenen Berufen und den verschiedenen Altersklassen verschieden ist. Wie mitgeteilt, entfallen auf jeden Angestellten durchschnittlich jährlich 2,93 stellungslose Tage. Dieser Satz stellt sich im Alter von 20—25 und von 25—30 Jahren weit höher, nämlich auf 3,99 bzw. 3,40.

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Wilhelm Arcns, Die staatliche Pensionsversichcrung der Privatangcstelltcn. 30,3

Von da an bleibt er dauernd hinter dem Durchschnitt zurück, sinkt aber nur in der Altersgruppe von 40 45 Jahren einiges unter 2 7* Tag pro Jahr. Am besten stehen sich in bezug auf die Dauer ihrer Stellung die forstwirtschaftlichen Beamten und die höheren administrativen und kommerziellen Angestellten. Dafür ist bei den forstwirtschaftlichen Beamten die Dauer jeder Stellungs- losigkeit, die sich im Durchschnitt bei allen Angestellten auf 167,4 Tage stellt, ganz bedeutend größer, nämlich 238 Tage bei den niederen und 330,3 Tage bei den höheren forstwirtschaftlichen Be- amten. Der Bericht über die „Ergebnisse" konstatiert die wichtige Tatsache, daß die Dauer der Stellenlosigkeit im umgekehrten Ver- hältnis steht zu der Häufigkeit der Stellenlosigkeit.

Den Angaben über die bestehenden Versicherungsver- / hältnisse der Angestellten ist ein besonderer Band der Ergebnisse gewidmet. Es ist vor allem wichtig, daß nur 30,70 Proz. aller An- gestellten besondere Versorgungsverhältnisse eingegangen sind. Rechnet man die Angestellten der Privatbahnen und der Schiff- fahrtsunternehmungen, die mit Rücksicht auf ihr hohes Invaliditäts- risiko zu einem ganz besonders hohen Prozentsatze versichert sind, ab, dann findet man gar, daß nur 25,05 Proz. der Angestellten in irgend einer Form versichert sind. Von diesen 25,05 Proz. ent- fallen nicht weniger als 1 1,35 Proz. auf Ansprüche an einen Pensions- fonds bei der Unternehmung, 8,03 Proz. auf Ansprüche an den Dienstgeber selbst, 2,30 Proz. auf solche an einen beruflichen Pensionsverein, 1,04 Proz. an eine private Versicherungsgesellschaft und 1,47 Proz. auf Sparfonds. Die Regierung fügt diesen Er- mittelungen bei, „daß außer der Unzulänglichkeit der bestehenden Versorgung hinsichtlich der Zahl der versorgten Personen in Einzel- fällen auch eine Mangelhaftigkeit in dem Ausmaße und der Fun- dierung der Ansprüche nicht zu verkennen ist".

2. Die gesetzgeberischen Versuche in Österreich.

1. Der ursprüngliche Regierungsentwurf, der am 21. Mai 1901 dem Abgeordnetenhause zuging, ließ an den ver- schiedensten Stellen einen recht weitgehenden Einfluß des deutschen Alters- und Invaliditätsversicherungsgesetzes erkennen, sowohl was die Organisation der Versicherung, insbesondere die Beitragsverteilung und Rentenfestsetzung, als auch die Organisation des Versicherungs- betriebes angeht.

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Gesetzgebung.

a) Umfang der Versicherungspflicht.

Nach dem § i des Entwurfs sollen versicherungspflichtig sein, vom vollendeten 18. Lebensjahre angefangen, „alle in privaten Diensten gegen Monats- oder Jahresgehalt Angestellten, sofern deren Bezüge (in bar oder Naturalbezügen) bei einem und demselben Dienstgeber mindestens 600 Kronen jährlich erreichen". Ausge- nommen sein sollten jedoch Männer und Frauen, welche erst nach Vollendung des 50. bezw. 40. Lebensjahres eine die Versicherungs- pflicht begründende Anstellung erhielten, ferner jene Personen, welche ausschließlich oder vorwiegend Gesindedienste verrichteten. Endlich hieß es da : „Ein monatlich gezahlter Tageslohn ist nicht als Monats- gehalt im Sinne des ersten Absatzes dieses Paragraphen anzu- sehen."

Diese letztere Bestimmung in Verbindung mit dem gesamten Inhalt des 1. Paragraphen gab den Gegnern der Versicherung will- kommenen Anlaß zu scharfer Kritik; sie bot nämlich Prinzipalen, die sich an den Lasten der Versicherung vorbeidrücken wollten, dazu eine gute Gelegenheit: da nur Angestellte mit Monats- oder Jahresgehalt versicherungspflichtig sein sollten, hätte eine einfache Klausel im Vertrage, daß das Monatsgehalt ein monatlich gezahlter Tagelohn sei, von der Versicherungspflicht befreit. Auch die Ein- führung von wöchentlicher Gehaltszahlung hätte dieselbe Wirkung gehabt. Besonders von den Sozialisten, die in Österreich bekannt- lich einen großen Teil der Handlungsgehilfen hinter sich haben, wurde dieser Fehlgriff in der Abgrenzung der Versicherten in weitestem Umfange benutzt, um die Bestrebungen der Regierung bei den Angestellten zu diskreditieren ; jene Kreise wünschten die Regierung zum Erlaß eines auch die Arbeiter umfassenden Ge- setzes zu veranlassen, was jedoch von der Führung der Privat - angestcllten, insbesondere von der ausschlaggebenden Privatbeamten- gruppc des allgemeinen österreichischen Beamtenvereins, abge- lehnt wurde mit Rückssicht auf die daraus zu erwartende weitere Verschleppung der Entscheidung.

b) Einteilung der Versicherungspflichtigen.

Ganz nach deutschem Vorbild teilte die Regierung die An- gestellten behufs Veranlagung für die Versicherung nach dem Ge- halt in Klassen ein. Es wurden als Gehalt angesehen alle Bezüge in bar, ferner Dienstwohnungen mit und ohne Heizung und Licht, ferner mit Beköstigung; eine Wohnung sollte mit 15 Proz. des Ge-

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Wilhelm Arcns, Die staatliche l'ensionsvcrsicberung der I'rivatangestcllten. 395

halts, eine Wohnung mit Beköstigung mit 33 *ja Proz. des Gehalts in Anrechnung gebracht werden. Die 1. Klasse bildeten die An- gestellten mit einem Jahresgehalt bis zu 1 200 Kronen ; die 2. Klasse jene mit einem Jahresgehalt vom 1200 2400 Kronen und die 3. Klasse endlich jene mit mehr als 2400 Kronen Gehalt.

Gegen diese Einteilung wurde vor allem aus den Kreisen der zu Versichernden heraus geltend gemacht, daß sie auf die Ver- schiedenheit in den wirtschaftlichen Verhältnissen der Angestellten nicht in ausreichendem Maße Rücksicht nehme; man verlangte eine Vermehrung dieser Klassen.

e) Gegenstand der Versicherung.

Die Versicherung sollte sich erstrecken auf eine Rente für den Fall der Erwerbsunfähigkeit (Invalidenrente), eine Altersrente, eine Stellenlosenunterstützung, eine Witwenrente und Erziehungsbeiträge für verwaiste Kinder. Für die Invalidenrente, die Stellenlosenunter- stützung, das Waisengeld und die Erziehungsbeiträge war eine Warte- zeit von 5 Jahren, für die Altersrente eine solche von 40 Jahren bei Männern und 35 Jahren bei Frauen vorgesehen.

d) Leistung und Gegenleistung.

Der Entwurf sah für die drei verschiedenen Gehaltsklassen folgende Renten und regelmäßige Beiträge vor.

I. Klasse 2. Klasse 3. Klasse

Invalidenrente 600 Kr. 900 Kr. 1200 Kr.

Altersrente 900 1350 1800

Witwenrente 300 450 600

Monatsbeitrag des Prinzipals . 4,50 6,75 9,00

Angestellten 3,00 6,00 9,00

Die Stellenlosenunterstützung war genau so hoch wie die Invalidenrente. Sie sollte nur auf höchstens 12 Monate gezahlt werden und begann erst nach dreimonatiger Stellenlosigkeit. Die Erziehungsbeiträge für verwaiste Kinder sollten 10 Proz., für Voll- waisen 20 Proz. des jeweils bestehenden Anspruchs auf Invaliden- rente ausmachen. Für Witwen war für den Fall der Wiederver- heiratung eine Abfindung im dreifachen Jahresbetrage der Witwen- rente vorgesehen.

Die oben mitgeteilten Prämiensätze waren nun nicht die einzigen Anforderungen, die die Versicherung an Dienstgeber und Ange-

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Gesetzgebung.

stellten stellte. Sie sollten zur Deckung der Alters- und Witwen- rente dienen. Im Falle einer Invalidität sollte die Prämienreserve für die Altersrente zur Bildung einer Leibrente für den Betroffenen verwandt werden; der Rest der Invalidenrente, ferner die Anforde- rungen der Stellenlosenunterstützung, der Erziehungsbeiträge und etwaiger Abfertigungen sollten durch eine Umlage auf die Dienstgeber aufgebracht werden, sofern die Gebarungsüberschüsse der Anstalt diese Anforderungen nicht schon deckten.

Unter den Prinzipalen bestand eine sehr starke Gegnerschaft gegen die Pensionsversicherungsbestrebungen der Privatangestellten; diese Gegnerschaft setzte begreiflicherweise besonders bei der Um- lage ein. Man verlangte deren Beseitigung und Schaffung fester von vornherein zu übersehenden Prämien, oder, wenn dies nicht zu erreichen war Ausdehnung der Umlage auch auf die An- gestellten.

e) Die Organisation des Versichcrungsbetriebes.

Zur Durchführung der Versicherung sollte in Wien eine Pensions- anstalt gebildet werden, deren Mitglieder die Angestellten und deren Dienstgeber sein sollten. Die Leitung dieser Anstalt oblag dem Vorstande und der Generalversammlung. Der Vorstand wurde von der Generalversammlung gewählt. Nur der erste Vorsitzende sollte von der Regierung aus dem Kreise der rechtskundigen Personen ernannt werden. Die Generalversammlung ging aus der Wahl der Dienstgeber und der Angestellten hervor. Zur Unterstützung der Anstalt wurden lokale Verbände der Versicherten gebildet, die un- gefähr dieselben Aufgaben erfüllen sollten, die in Deutschland bei der Invalidenversicherung der Polizei obliegen: Führung des Katasters, Prüfung der Ansprüche usw.; dann aber auch die Entgegennahme der Beiträge und Auszahlung der Renten.

Neben dieser offiziellen Pensionsanstalt waren nach Ana- logie des § 75 des deutschen Krankenversicherungsgesetzes alle Privatversicherungsunternehmungen zugelassen, sofern sie bei gleichen Prämien mindestens gleiches boten. Eine solche Bestimmung er- schien notwendig mit Rücksicht auf jene Angestellten, die bereits heute bei einem Privatinstitut versichert waren. Die Zulassung auch für die Zukunft bedeutete bei der langen Dauer einer solchen Ver- sicherung ein großes Entgegenkommen gegenüber den privaten Ver- sicherungsanstalten, hat jedoch keine Kritik gefunden.

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Wilhelm Arcns, Die staatliche Pensionsversicherung der Privatangestclltcn. ^gy

f] Der Entwurf des Referenten Dr. Fort.

Der Entwurf der Regierung blieb nach dem Eingang beim Ab- geordnetenhause über ein Jahr lang unbeachtet liegen. Erst Anfang 1903 beauftragte das Haus auf Betreiben der Interessenten den sozialpolitischen Ausschuß, die Angelegenheit weiter zu verfolgen. In welchem Grade die ganze Vorlage bereits gefährdet war, zeigte sich im Ausschuß bei der ersten Abstimmung. Die Gegner, nämlich die nach einer allgemeinen Versicherung verlangenden Sozialdemokraten und die Vertreter jenes Teiles der Dienstgeber, der die Heranziehung der Prinzipale zu den I.asten der Invaliditäts- und Altersversorgung nicht wünschte, beantragten die Einsetzung einer Sonderkommission, die sog. Begräbniskommission, die Freunde die Überweisung des Materials an einen Referenten. Es kam zu einer Abstimmung, bei der der Prager Handelskammersekretär Dr. Fort, ein Freund der Versicherungsbestrebungen, mit 16 gegen 12 Stimmen zum Referenten bestellt wurde.

Dr. Fort suchte den Wünschen der Beteiligten nach Möglich- keit gerecht zu werden. Die Angestellten verlangten eine genauere Abgrenzung des Kreises der Versicherten, ferner eine bessere Berück- sichtigung der Mannigfaltigkeit in den Einkommensverhältnissen; die Prinzipale wünschten die Umlage beseitigt oder auf die An- gestellten ausgedehnt zu sehen. Dr. Forts Abgrenzung des Kreises der zu Versichernden war wesentlich besser wie die des ursprüng- lichen Regierungsentwurfs; er versuchte zu einer Definition zu kommen durch Ausscheidung aller „unmittelbar bei der Waren- erzeugung beschäftigten Personen", ein Gedanke, der zwar allein nicht genügte, der aber einen beachtenswerten Gesichtspunkt in die Debatte brachte. Die größere Berücksichtigung der Ver- schiedenheit in den Einkommensverhältnissen suchte Dr. Fort zu erreichen durch eine andere, seinen Entwurf besonders charak- terisierende Berechnung der Renten und Prämien ; er beseitigte die Klasseneinteilung und berechnete die Prämien und Renten in Pro- zenten des Gehalts. Er setzte die Wartezeit auf 10 Jahre hinauf und ließ die Versicherungspflicht mit dem 21. Lebensjahre beginnen. Von da an sollten von dem Gehalt eines jeden Angestellten 131 2 an die Versicherung abzuliefern sein: 41 ., Proz. sollte

der Angestellte und 9 Proz. der Prinzipal zahlen. Dazu war für den Angestellten eine weitere Belastung in Höhe von Vi 2 des ersten Jahresbetrages jeder Gehaltserhöhung in Aussicht genommen.

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Gesetzgebung.

Diejenigen Lasten der Versicherung, die durch diese Einzahlungen nicht gedeckt wurden, sollten durch eine Umlage auf die Prinzipale, und sobald diese die Höhe der regelmäßigen Prämien erreicht haben würde, durch eine Umlage auf Prinzipal und Angestellten gedeckt werden. Bei der Rentenfestsetzung lehnte sich Dr. Fort eng an die deutschen Beamtenpensionsgesetze an. Er bestimmte, daß nach 10 jähriger Dienstzeit, gerechnet vom 21. Lebensjahre, ein Anspruch auf Rente für den Fall der Invalidität in Hohe von 40 Proz. des Gehalts erreicht werden sollte. Den jährlichen Steigerungssatz bemaß er auf 1 Proz., so daß ein Angestellter im Alter von 55 Jahren sofern er bereits mit 21 Jahren in einer versicherungspflichtigen Stellung stand einen Pensionsanspruch in Höhe von 65 Proz. seines Gehalts erreicht haben würde. Bei der Festsetzung der Altersrente nahm Dr. Fort Rücksicht auf die bei den Erhebungen von 1896 ermittelte Tatsache, daß vom 55. Lebens- jahre ab das Durchschnittsgehalt der Privatangestellten fallt; er bestimmte, daß jeder Angestellte nach 35 Dienstjahren berechtigt sein sollte, die ihm in der Regel alsdann als Invalidenpension zu- stehenden 65 Proz. des Gehalts als Altersrente in Anspruch zu nehmen. Jene, die weiterzuarbeiten vermochten, sollten von da an mit jedem Jahre eine Steigerung ihres Pensionsanspruchs von 7 Proz. erzielen, so daß sie mit 40 Dienstjahren einen Anspruch auf eine Altersrente in Höhe des vollen Gehalts erreicht haben würden. Die Witwenrente sollte die Hälfte des Anspruchs auf Invaliditäts- bzw. Altersrente, das Waisengeld 10 Proz. bzw. bei Vollwaisen 20 Proz. dieses Rentenanspruchs betragen. Die Stellenlosenunter- stützung ließ Dr. Fort fallen.

g) Der Einigungsentwurf der Regierung und des Ausschusses.

Nachdem der Entwurf des Referenten Dr. Fort dem Ausschuß vorgelegt worden war, trat die Regierung mit diesem in Ver- handlungen über die definitive Gestaltung der Vorlage für das Plenum des Hauses ein. Sie hielt jedoch fest an den Grundlagen ihres ersten Entwurfs unter Ablehnung der ihrer Ansicht nach zu weit- gehenden Fortschen Vorschläge. Aus den gemeinsamen Beratungen im Frühjahr 1903 ist ein fertiger Entwurf nicht hervorgegangen, da im Augenblicke der unerwarteten Vertagung des Abgeordneten- hauses nur die ersten 30 Paragraphen fertiggestellt waren. Es läßt sich jedoch schon aus diesen ersehen, wie die zukünftige Vorlage aussehen wird; denn in den ersten 30 Paragraphen sind so gut

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Wilhelm Arcns, Die staatliche Pensionsversicherung der Privatangestellten.

wie sämtliche wichtige Bestimmungen enthalten. Alle im Laufe der 2 Jahre seit der Einbringung des Gesetzentwurfes laut ge- wordenen Wünsche wurden soweit wie möglich berücksichtigt. In bezug auf die genauere Abgrenzung des Kreises der Versicherten kam die Regierung nach Möglichkeit den Interessenten entgegen; vor allem wurde ausdrücklich die Versicherungspflicht des kauf- männischen Hilfspersonals konstatiert. Die größere Berücksichtigung der Verschiedenheit in den Einkommensverhältnissen erreichte die Regierung durch die Verdoppelung der Zahl der Gehaltsklassen. Die Höhe der in Aussicht genommenen Renten in den einzelnen Klassen lässt sich aus folgender Zusammenstellung ersehen:

Gehalt Altersrente Invalidenrente Witwenrente

l. Klasse

—900 Kr.

675 Kr.

450 Kr.

225 Kr.

OOO— I2CO ,,

900

600

300

3- ..

1200 1800 ,,

1125

75°

375

I 800 2400

I350

900

45o ..

5- »

2400 3000

1575

1150

525 »

6.

über 3000

1800

1200

600

In bezug auf das Waisengeld blieb es bei 10 bzw. 20 Proz. der Invalidenrente; die Stellenlosenversicherung blieb fort.

Die Anforderungen der Versicherung an die Versicherten und ihre Dienstgeber haben im Ausschuß noch nicht einer Beschluß- fassung unterlegen; doch war man sich bei der Festsetzung der mitgeteilten Rentensätze darüber einig, daß zu erheben sein würden pro Monat

I.Klasse 2. Klasse 3. Klasse 4. Klasse 5. Klasse 6. Klasse

Kr.

Kr.

Kr.

Kr.

Kr.

Kr.

vom Dienstherrn

4.25

5,40

6,55

7,70

8,85

IO,~

vom Angestellten

2,50

4

5.5o

7-

8,50

10,—

zusammen

6,75

9,40

12,05

14,70

17,35

20,-

Zur Verabschiedung ist die Materie im österreichischen Ab- geordnetenhause bis zum Schlüsse des Jahres 1903 noch nicht gelangt

IV. Das Ziel der Bestrebungen in Deutschland seit dem österreichischen Entwurf.

Im Deutschen Reiche haben die Bestrebungen seit dem Be- kanntwerden des österreichischen Gesetzentwurfes bestimmtere

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Gesetzgebung.

Formen und vor allem eine höhere Energie angenommen. Doch steht heute unter den deutschen Privatangestellten noch nicht genau fest, welches Ziel man erstrebt. Die einen verlangen nach österreichischem Muster eine nur unter Staatsaufsicht stehende, von den Privatangestellten selbst verwaltete Versicherungsanstalt, die anderen wünschen Institutionen von der Art unserer Versicherungs- anstalten für die Ausführung des Invalidenversicherungsgesetzes, eine dritte Richtung verlangt lediglich die Schaffung eines staat- lichen Zwanges für die Angestellten zum Abschluß einer be- stimmten Ansprüchen genügenden Versicherung, eine vierte glaubt in einem Ausbau des bestehenden Invalidenversicherungsgesetzes den gangbarsten Weg zu dem erstrebten Ziele zu erblicken, und endlich fordern wieder andere die Schaffung besonderer Kassen- einrichtungen für die Privatangestellten auf Grund der §§ 8 u des Invalidenversicherungsgesetzes.

1. Die Schaffung einer besonderen Anstalt für die Pensions- versicherung der Privatangestellten unter eigener Verwaltung der Versicherten und ihrer Dienstgeber für das Unfallversicherungsgesetz wäre vielleicht das Ideal, man ist aber bei einem sehr großen Teile der Privatangestcllten der Ansicht, daß die Regierung sich niemals zur Schaffung einer Versicherung herbeilassen würde, bei dem sie nur Pflichten, aber fast gar keine Rechte haben würde.

2. Dahingegen würde eine Versicherungsanstalt nach dem Muster der bestehenden Invaliden Versicherungsanstalten zweifellos von der Regierung als geeignet angesehen werden, um so mehr, als eine solche Anstalt für die Privatangestellten wegen der höheren Beiträge, der selteneren, nur monatlichen Beitragsleistungen, der nie- drigeren Zahl von Versicherten noch wesentlich billiger arbeiten würde, wie die heute bestehenden Invalidenversicherungsanstalten in den verschiedenen Provinzen und Landesteilen.

3. Der Vorschlag, der Staat möge einfach durch Gesetz jeden Angestellten verpflichten, eine seinem Einkommen entsprechende Versicherung abzuschließen, wobei dann die Beitragspflicht des Prin- zipals, ferner die Beitragszahlung oder besser gesagt Beitragsstundung während der Zeit der Stellenlosigkeit gesetzlich zu regeln wäre, geht von dem Abg. Sittart aus und stammt vermutlich aus dem Reichsamt des Innern. Er erinnert sehr lebhaft an das französische Unfallversichcrungsgesctz und hat auf den ersten Blick mit Rück- sicht auf die große Zahl schon jetzt bestehender Versicherungsver- hältnisse etwas bestechendes. Seine offen am Tage liegenden sehr

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Wilhelm Arens, Die staatliche Pensionsversicherung der Privatangestellten. 40 1

großen Nachteile aber dürfen nicht unbeachtet bleiben ; es ist zudem sehr leicht, die bestehenden Versicherungsverträge ohne über- mäßige Belastung der Versicherten aufrecht zu erhalten, wenn man an den im § 75 des Krankenversicherungsgesetzes eingeschlagenen Ausweg denkt. Darüber sind sich alle Angestellten einig, daß die freien Hilfskassen auch bei der Pensionsversicherung bestehen bleiben sollen; man weiß nur nicht, ob man den Beitritt auch später nach dem Inkrafttreten der Versicherung zulassen oder nur die beim In- krafttreten des Gesetzes bestehenden Versicherungsverträge als voll- gültigen Ersatz ansehen soll. Die unbestreitbar großen Schäden, die die freien Hilfskassen wegen der Entziehung der gesunderen Ele- mente aus den Zwangskassen und wegen der Gewohnheit mancher Unternehmer, nur Mitglieder von freien Hilfskassen, die also die ganzen Krankenkassenbeiträge selbst bezahlen, zu beschäftigen, für die Mitglieder der Orts- usw. Krankenkassen mit sich bringen, haben den Gegnern solcher Ersatzinstitutc manche Mitkämpfer zu- geführt.

4. Der Gedanke, einfach das bestehende Invalidenversicherungs- gesetz auszubauen in der Art, wie es Herr Seelmann für die Hand- werker vorschlägt, hat in der letzten Zeit fast allen Boden verloren. Die Privatbeamten wollen nicht mit den Arbeitern gleichmäßig be- handelt werden, zum Teil, weil sie eine andere gesellschaftliche Geltung beanspruchen, dann aber und das ist der ernstlich in Betracht zu ziehende Grund weil sie einem weit geringeren In- validitätsrisiko unterworfen sind. Den Ausschlag gegen diese Be- strebungen hat schließlich der Umstand gegeben, daß an eine Ver- wirklichung dieser Bestrebungen vor der nächsten Revision des bestehenden Invalidenversicherungsgesctzes, die vor 1910 nicht in Angriff genommen werden dürfte, nicht zu denken sein würde.

5. In gewissem Grade spricht dieses Bedenken allerdings auch gegen den letzten Vorschlag: die Schaffung besonderer Kassen auf Grund der §§ 8 1 1 des bestehenden Invalidcnversichcrungsgesetzes. Die genannten Paragraphen handeln von den Knappschafts-, Eisen- bahnwerkstätten- und sonstigen Kassen, die bereits früher eine In- validenversorgung zu ihrer Aufgabe gemacht hatten und besonders geeignet erschienen, selbst die Ausführung des Gesetzes zu be- wirken. Da die Bestimmungen des Invalidcnversicherungsgesetzes betr. die Seeberufsgenossenschaft die Einrichtungen einer VVitwen- und Waisenversorgung vorsehen, glauben die Vertreter dieser letzten Richtung unter den Privatangestellten, am leichtesten zu einer

Archir für Snzialviritten'ichaft u. Sozialpolitik. I. (A. f. sox. G. u. St. XIX.) 2. 26

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Gesetzgebung.

Pensions- und Hinterbliebenenversorgung gelangen zu können, wenn durch Gesetz eine besondere Privatbeamtenkasse gebildet und durch Bundesratsbeschluß den Wirkungen der §§ 8 II des Invaliden- versicherungsgesetzes unterworfen würde. Es kann nicht verschwiegen werden, daß vom gesetzgeberischen Standpunkt aus sehr erhebliche Bedenken gegen ein solches Verfahren sprechen, da der Gesetzgeber beim Erlaß des Invalidenversicherungsgesetzes an eine solche Aus- dehnung auf einem ganzen Berufsstand nicht gedacht hat, auch die Witwen- und Waisenversicherung bisher nur für die Seeberufs- genossenschaft zulässig ist. Die Überführung der heute bereits nach dem Invalidenversicherungsgesetze versicherten Privatangestellten in die neue Versicherung würde sich auf diesem Wege allerdings am leichtesten vollziehen; auch würde den Versicherten der Reichs- zuschuß von 50 Mk. pro Jahr zu den meisten Renten gewahrt werden.

Im allgemeinen hat die Frage, in welcher Form die Wünsche der Privatbeamten und Angestellten erfüllt werden, keine sehr große Bedeutung. Hauptsache ist für die große Masse, daß überhaupt eine Versicherung kommt. Allgemein erkennt man an, daß ein gesetzgeberischer Versuch auf diesem bisher gänzlich unbeackerten Gebiete seine bedeutenden Schwierigkeiten hat; man verläßt sich auf den guten Willen und die Erfahrungen der Regierung und wird ihre zu erwartenden Vorlagen unter keinen Umständen einer solchen Kritik unterwerfen, wie sie in Österreich zur Anwendung gebracht worden ist. So darf erwartet werden, daß die Bestrebungen der Privatangestellten in Deutschland leichter und in kürzerer Zeit zu einem Resultate führen werden wie in Österreich.

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MISZELLEN.

Die Arbeiterfrage in Südafrika.

Von

HENRY W. MACROSTY, B. A.

London.

In einer Rede in Birmingham am 1 2. Januar 1904 erklärte Chamberlain, der südafrikanische Krieg sei ein Kampf zwischen einer fortgeschrittenen und einer minderwertigen Zivilisation. Viele ehrliche Imperialisten, die diesen Krieg aus einem strengen Pflichtgefühl heraus gut hießen, und opferwillig seine Beschwerden ertrugen, fragen sich jetzt, ob der Vor- schlag, im Namen einer „fortgeschrittenen Zivilisation" einen neuen Sklavenstaat in Transvaal zu errichten, nicht alle die humanen Beteue- rungen, mit denen der Krieg begonnen wurde, Lügen strafe, und alle Hoffnungen auf ein weißes Südafrika zunichte mache.

Am 6. Januar 1904 wurde in Prätoria ein Erlaß veröffentlicht, der die Einwanderung ungelernter nichteuropäischer Arbeiter regeln sollte (ausgenommen afrikanische Eingeborene von Orten südlich des 1 2. nörd- lichen Breitegrads), tatsächlich befaßt er sich mit der Importierung chinesischer Arbeiter. Sowohl in den Vereinigten Staaten als in Austra- lien hat es sich unmöglich erwiesen die Typen zweier so verschiedener Kulturen wie die europäische und chinesische nebeneinander gesund zu erhalten. In vielen Beziehungen ist die soziale Moral des Chinesen für den Weißen abstoßend und die chinesischen Viertel in Städten wie San Franzisco werden zu Herden moralischer Infektion. Die größere Bedürfnislosigkeit und der niedrigere „Standard of life" des Chinesen machen ihn zu einem gefährlichen Konkurrenten und wo auch immer man ihm erlaubt sich niederzulassen, da nimmt er alle Arten der unge- lernten Arbeit für sich in Anspruch. Wo, wie in Australien, komplizierte Arbeiterschutzgesetze existieren, hat es sich als unmöglich erwiesen, die- selben gegenüber den Chinesen durchzuführen, die so in der Lage sind, ihre weißen Konkurrenten zu verdrängen. Aus all diesen Gründen er-

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Miszellcn.

kennen sowohl die südafrikanischen Minenbesitzer als auch die Transvaal- regierung an, daß eine unbeschränkte Einwanderung der Chinesen völlig außer Frage steht.

Die oben erwähnte Verordnung, welche von der gesetzgebenden Körperschaft noch nicht bestätigt ist, und die in letzter Linie auch der Zustimmung der englischen Regierung bedarf *, schreibt vor, daß derartige Arbeiter nur zum Zwecke der Verwendung in den Goldminen des Wit- watersrand eingeführt werden dürfen. Nur autorisierte Agenten, welche eine Lizenzabgabe von 2000 Mk. (100^) zahlen müssen, sollen die Erlaubnis erhalten, Arbeiter, welche sich kontraktlich auf 3 oder 5 Jahre verpflichten, zu importieren; bei Ablauf des Kontraktes muß entweder ein neuer geschlossen oder der betreffende Arbeiter in seine Heimat zurückgeschickt werden. Die gesetzliche Strafe für unerlaubte Einführung fremder Arbeiter beträgt 100 £ und die Kosten der Heimsendung. Ein so importierter Arbeiter darf sich nicht mehr als eine englische Meile von seinem Arbeitsplatz entfernen, er muß ausschließlich in den Minen beschäftigt werden und darf Grundbesitz weder pachten noch sonstwie unter seine Kontrolle bringen. Die Übertretung dieser Vorschrift ist mit einer Strafe von 500 ^ und 5 Jahr Gefängnis bedroht. Der Agent muß eine Paßgebühr von 2 £ per Kopf zahlen und kein Arbeiter darf ohne einen Erlaubnisschein seinen Arbeitsort wechseln. Der Gouverneur soll berechtigt sein, Bestimmungen zu erlassen betreffs der Unterbringung der Arbeiter, ihren Schutz, ihre Kontrolle und ihre Heimsendung. Ein Oberbeamter und eine Anzahl von Inspektoren sollen ernannt werden, um die Durchführung des Gesetzes zu sichern, jeder Arbeiter muß auf Verlangen dem Inspektor seinen Paß vorzeigen. Wohl mag die „Times", die sich zum Kämpfer für die Minenbesitzer aufgeworfen hat, einge- stehen (7. Januar 1904), daß „es zugegeben werden muß, daß das Los des chinesischen Arbeiters vom englischen Standpunkt aus, nicht ver- spreche ein sehr angenehmes und glückliches zu sein, aber unter der Aufsicht der Regierung dürfe seine Lage wohl eine bessere sein, als diejenige, an die er zu Hause gewöhnt sei. Jedenfalls ist der Chinese willens, sich auf eine Reihe von Jahren mit beschränkten Vorteilen zu begnügen, wenn er dafür die sichere Aussicht auf Rücksendung mit einein kleinen Vorrat von Dollars in der Tasche hat".

Ein solches System der „Kontraktarbeit" ist kaum von Strafarbeit oder zeitlich beschränkter Sklaverei zu unterscheiden. Der Londoner „Standard", die führende konservative Zeitung, nennt es denn auch „ein ebenso unwillkommenes wie zweifelhaftes Experiment". Warum, dürfen wir fragen, wird es denn von englischen Beamten in Transvaal emp- fohlen, die doch hoch über dem Verdacht stehen im Interesse der

' i Die Kestatigung der gesetzgebenden Körperschaft und die Zustimmung der englischen Regierung sind inzwischen erfolgt.

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Henry W. M a c r o s t y , Die Arbeiterfrage in Südafrika.

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Minenbesitzer zu arbeiten? Wirklich überzeugte Befürworter der Chinesenarbeit sind nicht vorhanden. Einige akzeptieren den Vorschlag, weil sie glauben, daß der Versuch mißglücken wird. Sogar die Minen- besitzer sagen, daß sie darin nur eine unvermeidliche Notwendigkeit sehen. Niemand will, daß er mehr als ein vorübergehendes Hilfsmittel sei, welcher dazu dienen soll über eine Periode außergewöhnlicher Ver- hältnisse hinwegzuhelfen. Wir müssen also fragen, worin besteht denn diese angebliche Notwendigkeit? Es wird erstens angenommen, daß das Gedeihen von Südafrika von den Minen abhängt, daß die Minen von der billigen Arbeit abhängen und daß aus Mangel an geeigneten Arbeits- kräften eine Depressionsperiode angefangen hat, welche die Kolonie ruinieren wird, wenn ihr nicht schleunigst ein Ende gesetzt wird.

Letztes Jahr hat das englische Handelsministerium Herrn Henry Birchenough als Spezialbevollmächtigten ausgesandt: Ende 1903 hat dieser einen sehr wertvollen „Bericht über die gegenwärtige Lage und die zukünftigen Aussichten des englischen Handels in Südafrika" ein- gereicht (Cd. 1844 von 19°3t freis 1 sh. 6 d), in dem viele nützliche Informationen zu finden sind.

Er sagt: „Wie auch die Lage der anderen Kolonien sein mag, in Südafrika wird allgemein angenommen, daß von den Zuständen in Trans- vaal allein das gegenwärtige Gedeihen des Geschäftes im Lande abhängt. Man braucht nur nach Johannesburg zu gehen, um klar darüber zu werden, daß dort die Möglichkeiten für eine wirklich große Ausdehnung des Handels vorhanden sind. In den anderen Kolonien kann man und wird man wohl auch langsame und sichere Fortschritte zu verzeichnen haben, in Transvaal dagegen sind die Bedingungen für eine rapidere Entwick- lung gegeben. Es ist schwer, von den Zukunftsaussichten in Transvaal zu sprechen, ohne anscheinend zu übertreiben. Ohne Zweifel hängen diese Aussichten von dem Reichtum an Mineralien in der Kolonie ab. Aus den Minen und hauptsächlich aus den Goldminen müssen zuerst die Mittel für die Entwicklung des Landes und die Ausdehnung des Handels kommen. Obgleich die schon aufgefundenen Goldlager im „Rand" und in anderen Teilen der Kolonie beachtenswert genug sind, darf man an- nehmen, daß ihre Inangriffnahme eher den Anfang als das Ende eines großen Kapitels in der Geschichte der Goldminen darstellt. Es vergeht kaum ein Monat, ohne daß Entdeckungen gemacht werden, welche unsere Kenntnisse über die Gold führenden Distrikte erweitern. Kohle findet sich im Überfluß, ungeheure Eisenlager grenzen in dem Middel- burg-Ermel bezirk an die Middelburg- Kohle, welche glücklicherweise für den Hochofenbetrieb geeignet ist. Mit der Ausbeutung soll begonnen werden, und so ist Aussicht vorhanden, daß Transvaal in einigen Jahren seinen Schienenbedarf selber decken kann. Bei Prätoria sind Diamantfelder gefunden worden, welche eines Tages die von Kimberley aus ihrer Mono- polstellung drängen können. Indessen werden doch die Goldminen all-

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Miszellen.

gemein als der Hauptfaktor in der zukünftigen Entwicklung von Trans- vaal betrachtet, nicht nur, weil ihre Erträge sofort der Entwicklung des Landes zugute kommen, auch nicht als eine Kapitalsanlage, sondern weil sie einen großen ausdehnungsfähigen Markt darstellen, unmittelbar für Verhüttungsanlagen, Stampfwerke, Maschinen usw. und mittelbar für alle Arten von Produkten und Industrieerzeugnissen, welche die wachsende Bevölkerung der Minendistrikte benötigt."

Dies ist das unparteiische Zeugnis unseres Sachverständigen, doch müssen wir noch hören, was Herr Birchenough über die Landwirtschaft sagt, um die Goldminen im rechten Lichte zu sehen. „Es kann nicht bezweifelt werden, sagt er, daß die Farmer der Oranje - Flußkolonie, einiger Distrikte in Transvaal und vieler Teile der Kapkolonie einer Periode von immerhin beträchtlichen, wenn auch in keiner Weise außer- ordentlichen Wohlstand entgegengehen. Man versucht alles, um Süd- afrika in seiner Lebensmittelbeschaffung möglichst auf eigene Füße zu stellen. Die wachsenden Städte sind ein beständig an Bedeutung ge- winnender Markt für landwirtschaftliche Produkte und wenn die neuen Eisenbahnlinien das Land aufgeschlossen haben werden, werden alle Industriezweige einen mächtigen Anstoß erhalten. Weitere Zukunfts- aussichten für die Landwirtschaft erwachsen aus der Forstkultur, der Zucht von Pferden und Maultieren, der Ausdehnung und Verbesserung der Wolle- und Mohair-Produktion, dem Anbau von Tabak und Früchten." Was vor allem not tut, ist Wasser und Bewässerungsanlagen sind in Aussicht genommen, welche viele unfruchtbare Landstriche anbaufähig machen werden. Des weiteren sind bessere und billigere Eisenbahnver- bindungen notwendig."

Ein weiser Staatsmann mag deshalb von einem zukünftigen Süd- afrika träumen, wo große und verschiedenartige Industrien in gesunder Entwicklung miteinander den Reichtum des Landes erhöhen. Sicher ist das eine schönere Zukunft als diejenige, welche die Minenbesitzer zu er- streben scheinen, nämlich einen Zustand, in dem jeder mittelbar oder unmittelbar von den Goldminenbetrieben abhängt und das Land in sehr fühlbarer Weise von einigen kosmopolitischen Millionären beherrscht wird.

Diese hoffnungsvolle Entwicklung hat schon begonnen. Als der Krieg zu Ende war, sollten die sehr stark zusammengeschmolzenen Vor- räte wieder aufgefüllt werden. Die Eisenbahnen konnten den Verkehr nicht bewältigen und die Schwierigkeit in der Güterversorgung ließ offenbar die Nachfrage größer erscheinen, als sie tatsächlich war. 1897 betrug die Einfuhr nach Südafrika 23905272 £t 1902 war sie auf 45427014 gestiegen. „Man hat oft genug versichert," sagt Mr. Birchenough, „daß dieser plötzliche Aufschwung des südafrikanischen Marktes nicht andauern kann, daß, wenn die durch den Krieg verur- sachten Verwüstungen einigermaßen wieder gut gemacht sind, dann der Handel wieder auf das frühere Niveau, zurücksinken wird das ist

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Henry W. Macrosty, Die Arbeiterfrage in Südafrika-

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nicht der Eindruck, den ich erhalten habe, meine Wahrnehmungen ver- anlassen mich zu glauben, daß wir es nicht mit einer vorübergehenden Hausse zu tun haben, sondern mit einer großen und anhaltenden Auf- schwungsperiode. Rückfälle mögen und werden kommen, aber meines Erachtens doch nur als vereinzelte Zwischenfälle." Augenblicklich be- findet sich Südafrika in einer dieser Rückschrittsperioden. Zum Teil rührt dies von der Nichterfüllung unvernünftiger Erwartungen her, zum Teil von einer vorübergehenden Flauheit, wie sie natürlich und unvermeid- lich auf Zeiten fieberhafter Tätigkeit folgt, zum Teil von den unge- heueren Verkäufen der für die Armee überflüssig gewordenen Vorräte, aber hauptsächlich nach der Meinung von Herrn Birchenough von dem Mangel an einheimischen Arbeitern.

Vielleicht ist es kaum notwendig, eine Entschuldigung für das aus- gedehnte Zitieren aus diesem wertvollen Bericht vorzubringen ; wo soviele Quellen getrübt und soviele Ansichten durch persönliche Interessen be- einflußt sind, ist es von besonderer Wichtigkeit, die Arbeiterfrage des „Rand" als einen Teil des großen Problems der industriellen Entwick- lung Südafrikas in den Zusammenhang zu bringen, von welchem aus sie allein verstanden werden kann. Wir müssen deshalb noch einmal diesen scharfen und unparteiischen Beobachter zitieren: „Der Krieg kostet den Minen 7 Mill. £, aber das größte Mißgeschick war die Zerstreuung der großen Armee von schwarzen und weißen Arbeitern, welche in 13 Jahren geduldiger Arbeit zusammengebracht worden war und welche aus 12000 Weißen und 100000 Eingeborenen bestand. Selbst vor dem Krieg, ja seit der Entdeckung der Goldfelder 1886 hat es Schwierig- keiten gemacht, die nötige Arbeiterschaft zu beschaffen. Seit dem Kriege ist es aus einer Reihe von Gründen zum Teil ökonomischer Natur, zum Teil als Resultat einer verfehlten Politik der Minenbesitzer unmöglich geworden, den Minen soviel Arbeiter zuzuführen als nötig gewesen wären, die Industrie auf den Stand, den sie vor dem Krieg hatte, zu bringen. Der Rückgang, der eingetreten ist, rührt allein von dem Mangel an eingeborenen Arbeitskräften her; wäre der nötige Zufluß vorhanden, so würde der Aufschwung mit erstaunlicher Schnelligkeit ein- setzen. Ohne ihn kann der Fortschritt nur langsam und mühsam sein. Wir können hier nicht die schwierige Frage der zukünftigen Arbeitsver- sorgung diskutieren. Dieses Thema kommt bei unserer Untersuchung nur soweit in Betracht, als es die industrielle und Handelsentwicklung des Landes berührt. Es kann kein Zweifel sein, daß jetzt alles von einer ausreichenden Versorgung mit Arbeitskräften abhängt. Es wäre sehr verfehlt, darin nur eine Angelegenheit der Minenbetriebe zu sehen. Die Eingeborenenarbeit ist eben so notwendig für den Ausbau der Eisenbahnen, die Ausführungen der Regierungsarbeiten, Bauunter- nehmungen, Landwirtschaft usw. Nach allen Richtungen hin wird eine schnelle Entwicklung ohne sie unmöglich gemacht. Die Schwierig-

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keit wird erhöht durch den Umstand, daß jede Arbeit, die den Minen entzogen wird, um andere Industriezweige oder öffentliche Arbeiten zu fördern, den Zufluß an Reichtum, den das Land jetzt benötigt, ver- ringert. Die Minen müssen vor allem versorgt werden, weil von ihnen der Fortschritt überhaupt abhängt. So kann man sich kaum wundern, wenn Männer aller Stände in dem Glauben, daß nur diese eine Schwierig- keit dem überraschendsten Aufschwung entgegensteht, einen entschei- denden Schritt zu tun wünschen und die Arbeit suchen, wo sie sie finden.

Indessen haben diese Schwierigkeiten auch ihr Gutes, denn sie be- fördern die Einführung von arbeitssparenden Maschinen, besonders im Transportwesen. Das hat zur Folge, daß das Verhältnis von Schwarzen zu Weißen, von 7 zu 1 vor dein Krieg jetzt auf 5 zu 1 reduziert ist.

Bei der Beurteilung der gegenwärtigen Lage darf nicht vergessen werden, daß nur bestimmte eingeborene Stämme unter Tag arbeiten wollen. Zur Zeit bedeutet also ein anscheinend zunehmender Zufluß an Eingeborenen nicht unbedingt ein verhältnismäßig ebenso großes Wachsen der Ausbeute, wenn nicht das richtige Verhältnis zwischen Arbeitern „unter Tag4' und den anderen aufrecht erhalten wird. Man darf des- halb annehmen, daß die Ausbeute ungemein wachsen wird, wenn erst die Beschaffung von Arbeitern „unter Tag" erleichtert wird. In diesem Jahr und besonders in den letzten Monaten sind im allgemeinen mehr Eingeborene zur Arbeit gekommen und so darf man hoffen, daß ehe ein Jahr verstrichen ist, die Goldindustrie wieder den Stand einnehmen wird, den sie vor dem Krieg hatte."

Die Regierung von Transvaal hatte eine Untersuchungskommission ernannt, um die Arbeitsfrage zu studieren; im November 1903 reichte die Mehrheit, bestehend aus n Mitgliedern ihren Bericht ein. Der Be- darf an eingeborenen Arbeitskräften wurde auf 403328 geschätzt. Zur- zeit fehlten daran 241000, davon 130000 in den Minenbetrieben, 37000 beim Eisenbahnbau, 4000 beim Eisenbahnbetrieb, 49300 in der Landwirtschaft und die übrigen in anderen Gewerben. Man berechnete dabei die Minenbetriebe mit 6000 Stampfen. Man nahm aber an, daß in 5 Jahren unter normalen Verhältnissen die Zahl der Stampfen 1 1 000 betragen würde, die Schwierigkeiten würden also dementsprechend wachsen. Weder in Süd- noch in Zentralafrika seien genug einge- borene Arbeiter zu finden, um die Bedürfnisse Transvaals zu be- friedigen. — Dagegen berichtete die Minderheit von zweien, daß „in Zentral- und Südafrika vorerst mit einigen Schwierigkeiten genügend Arbeitskräfte zu finden seien. Der gegenwärtige sogenannte Arbeiter- mangel in Transvaal sei vorübergehend und wieder auszugleichen. Auch die Bedürfnisse der Zukunft würden, wenn sie solche seien, die dem ganzen Lande zugute kämen, aus den oben genannten Gebieten ge- deckt werden können; nach vielen Richtungen hin könne die Arbeit der Eingeborenen durch Weiße ersetzt und ergänzt werden."

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Henry W. Macrosty, Die Arbeiterfrage in Südafrika.

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Während die Mehrheit annahm, daß eine Stampfe 20 Arbeiter braucht, hielt die Minderheit 11 für genügend. So wurde der Bedarf der Randminen auf 75000 und der Bedarf von Transvaal überhaupt auf 259950 eingeborene Arbeiter geschätzt. Die Gesamtbevölkerung von Süd- und Zentralafrika wird auf 13 597 691 und die Zahl der er- wachsenen Männer von 1 135970 bis 1 700000 geschätzt.

Im Juli 1899 vor dem Krieg arbeiteten 91484 Eingeborene, im März 1904 72340 seit Juni 1903 hat die Zahl um 17000 zu- genommen. Die Gesamtausbeute von 1903 war 2963749 Unzen, im Vergleich zu 1704374 in 1902 und 3903810 Unzen in den 9 Mo- naten von 1899 vor dem Krieg. Im März 1904 betrug die Ausbeute 308 242 Unzen oder 2 der durchschnittlichen Monatsausbeute vor dem Krieg. Jeder, der nicht im Handumdrehen ein Millionär werden will, würde sich damit zufrieden geben und die Situation könnte noch besser sein, hätte nicht die törichte Politik der Minenbesitzer durch die Herab- setzung der Löhne den Zufluß an Arbeitskräften abgelenkt.

Der Durchschnitt der Arbeitslöhne für die Eingeborenen war 1898 47 sh. 1 d monatlich, 1902 betrug er 32 sh. 9 d und für das halbe Jahr vom 1. Januar bis 30. Juni 1903 betrug er 42 sh. 5 d. Der staatliche Bergwerksinspektor schreibt in seinem Bericht vom Sommer 1903 den vergrößerten Zufluß an Arbeitskräften den erhöhten Löhnen zu. Die Minenbesitzer könnten also den Zufluß noch um ein beträchtliches durch energisches Anwenden dieses Mittels erhöhen. Besonders da auch sonst viel für die Minen geschehen ist: die Ermäßigung der Eisenbahnfrachten im Durchgangsverkehr und für den Kohlentransport sind beträchtlich. Eine große Erleichterung bedeutet ferner die vermehrte Anlage von Ladegeleisen. Endlich sind die Preise für Sprengstoffe beträchtlich ver- mindert worden. So konnte denn auch zum Beispiel bei der Johannis- burg Consolidated Investment Co. eine Dividende von 10 Proz. zur Ver- teilung gelangen, die jedoch nur -!h des Reingewinnes beansprucht, so daß etwa 400000 £ Gewinn vorgetragen werden.

Es scheint demnach, daß die englische Regierung schon viel getan hat, um die Betriebskosten der Minen zu verringern, und daß die Minen- besitzer keineswegs der Verarmung entgegengehen , wie sie glauben machen möchten. Es sind ihnen noch Hilfsquellen geblieben, um Ar- beitskräfte zu erhalten, ohne daß ihr berechtigter Gewinn beein- trächtigt wird.

Die zweite große Frage ist, ob die Möglichkeit besteht, ungelernte weiße Arbeiter in den Minen zu verwenden. Die Mineningenieure er- klärten Herrn Chamberlain, die Kosten machten das unmöglich. Sie sagten: „Der gut entwickelte Eingeborene kommt als bloße Arbeits- maschine, wenn er die genügende Übung hat, dem weißen Mann gleich, die Überlegenheit des Weißen ist rein intellektuell. Es ist vom öko- nomischen Standpunk aus indiskutabel, bei der rein mechanischen Arbeit

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410 Miszellen.

eine einfache Arbeitsmaschine, die 20 oder auch nur 10 sh. täglich kostet, an die Stelle einer solchen zu setzen, die nur täglich 2 oder 3 sh. täglich kostet und dieselbe Energie entwickelt. Man hat eine Lohnskala vor- geschlagen, welche von der ganz ungelernten zu der gelernten Arbeit stufenweise fortschreitet. Wenn wir aber die Löhne der ungelernten denjenigen der gelernten Arbeiter etwas näher bringen, so würden die Kosten per Tonne noch höher kommen. Dann würden wohl nur die reicheren Gesellschaften in der Lage sein den Betrieb fortzusetzen."

Andererseits hat Mr. Cresswell, ein bekannter Ingenieur, Versuche mit weißen Arbeitern gemacht, die befriedigend ausgefallen sind. Er hat dies vor der Südafrikanischen Labour- Kommission erklärt und des weiteren angegeben, seine Direktoren hätten nicht auf seiner Seite ge- standen, da sie vorhergesehen hätten, daß eine zahlreiche weiße Ar- beiterschaft zu der Gründung von Trade-Unions und der Einführung von Arbeiterpolitik im „Rand" Anlaß geben würde. Er sagte im „Man- chester Guardian" (12. Januar 1904): „Das südafrikanische Klima ist eines der besten der Welt, Weiße können dort so gut arbeiten wie hier; es ist geradezu lächerlich zu sagen, daß eine ungeheure Industrie eingehen muß, weil man nicht eine genügende Anzahl nackter Wilden einfangen kann, um die Arbeit zu tun. Die Verwendung von weißen Arbeitern würde die Arbeitskosten eher herabsetzen," die Erfahrung, die man in Australien gemacht hat, bestätigen diese Ansichten. Ein Korrespondent des „Spectator'* vom 28. November 1903 gibt detaillierte Angaben über die Betriebskosten zweier großer und erfolgreicher Minen, die mit niedrig prozentigem Erz arbeiten, „The Roodepoort" Südafrika und „The Scottish Gympie" Australien

Südafrika Australien farbige Arbeil weilte Arbeit

Kosten p. Tonne Kosten p. Tonne

Minenbetrieb 14sh. 2,74 d 9 sh. 6,42 d

Sortieren, Stampfen, Waschen, Trans- port usw 1.79- 3 0,56

Verwaltung*- und allgemeine Unkosten 4 6,6 t 3 2.84 ,.

Wcitcraushau der Mine 3 n 2 4,90 .,

1 £ 6 sh. 1 1,14 d 18 sh. 2,52 d

Zu den südafrikanischen Minenkosten kommen noch 2 sh. 9,79 d per Tonne für den Cyanidprozeß hinzu, wir lassen dies aber außer Be- tracht, weil die betreffende australische Mine diesen Prozeß nicht benutzt. Die Tiefe des australischen Schachtes ist über 1600 Fuß englisch. Der resp. Reinertrag der Tonne war in der südafrikanischen Mine 10,49 dwt.; in der australischen 10,09 dwt. Gold. Die südafrikanische hatte den bedeutenden Vorteil eines weicheren Erzes, so daß sie mit 53 Stampfen 190S5 Tonnen behandeln konnte; die australische dagegen mit 125 Stampfen und ganz moderner Maschinerie nur 20300 Tonnen.'*

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Henry \V. Macrosty, Die Arbeiterfrage in Südafrika.

4II

Wir haben keinerlei Beweis dafür, daß die Minenbesitzer ernsthafte Versuche gemacht haben, arbeitsparende Maschinen anzuwenden. Aller- dings würden Eingeborene und Weiße nicht zusammenarbeiten, doch ist dies eine Organisationsfrage. Die hohen Löhne der weißen Arbeiter in Transvaal sind eine notwendige Folge der hohen Lebenskosten. Es müssen nicht nur beträchtliche Mengen von Lebensmitteln importiert werden, sondern ihre Kosten werden noch durch die sehr hohen Eisen- bahnfrachten ungemein vergrößert. Eine fortschrittliche Bahntarifpolitik würde die Nahrungspreise herabsetzen und den Handel erleichtern. Eine dauernde Erleichterung würde allerdings nur durch eine Ausdehnung der Landwirtschaft zu erreichen sein.

Wir können eine Reihe von Zeugnissen beibringen, die erweisen, daß eingeborene Arbeitskräfte zu haben sind, wenn anständige Löhne geboten werden, daß es möglich ist, ungelernte weiße Arbeiter zu be- schäftigen und daß die Minenbesitzer die dafür nötigen Ausgaben machen können, ohne sich zugrunde zu richten. So stehen wir also nicht vor einer so unabweislichen Notwendigkeit, daß wir gezwungen wären, in der uns höchst unsympathisch berührenden Einführung chinesischer Kon- traktarbeiter die einzige Rettung vor dem geschäftlichen Zusammenbruch zu sehen.

Es gibt noch zwei Fragen, welche die Eingeborenenarbeit berühren : erstens die Behandlung der Eingeborenen in den Minen. Der Vor- sitzende der Generalversammlung der „De Beers Consolidated Mines" in Kimberley hob letzten November rühmend hervor, daß seine Gesellschaft

J *

stets genug „boys" habe; es komme, sagte er, nicht nur auf die Löhne, sondern auch auf die Behandlung an, und die Sterblichkeitsrate auf das Tausend sei in den Diamantfeldem um ein beträchtliches geringer als in Johannesburg. Der zweite Punkt ist, daß man in Südafrika den Ein- geborenen als ein Jochtier, das nur die schwerste und gröbste Arbeit verrichten kann, zu behandeln pflegt. Nur in einzelnen Fällen, in einigen Missionsanstalten, macht man den Versuch die Kaffern in irgend einer Fertigkeit zu schulen; niemals überläßt man ihnen in den Minen andere als die einfachsten Arbeiten. Die einzige moralische Rechtfertigung der Ländereroberung besteht darin, daß die siegende Rasse ernstlich ver- sucht, die besiegte auf eine höhere Kulturstufe zu heben und diese Rechtfertigung fehlt ganz gewiß in Südafrika. Allerdings können ähnliche Vorwürfe allen sich ausdehnenden weißen Völkern gemacht werden.

Man rechnet bestimmt darauf, daß die Regierung des Mutterlandes die Einführung chinesischer Arbeiter in Südafrika sanktionieren wird, aber ein weitblickender Staatsmann würde vorhersehen, daß eine solche Politik den dauernden Interessen des britischen Reiches schaden wird. Der Friede in Südafrika wird am besten gewährleistet durch eine Besiedelung des Landes mit etwa der gleichen Zahl von holländischen und britischen Elementen. Zurzeit überwiegen die Holländer, aber

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man nahm an, daß die einwandernden englischen Minenarbeiter und Bauern ihnen in wenigen Jahren die Wage halten würden. Die auch nur zeitweilige Importierung von Chinesen würde die Notwendigkeit, Engländer herbeizuziehen, vermindern und den kinderreichen Holländern einen großen Vorsprung in der Rassenmischung geben. Die englischen Interessen würden also durch den Ausschluß der Chinesen gefördert. Die Entscheidung ist zu treffen, nicht zwischen Ruin und Fortschritt, wie uns die Minenbesitzer glauben machen wollen, sondern zwischen gemäßigtem Fortschritt und rapider Entwicklung, wie es Mr. Birchenough dargelegt hat. Wenn wir die Chinesen draußen halten, englische Ar- beiter heranziehen, arbeitsparende Maschinen anwenden und die Ein- geborenen erziehen, so wird die Entwicklung Südafrikas nicht rasch genug sein, um den Minenmagnaten kolossale Dividenden zu sichern, aber sie wird auf sicherer Grundlage beruhen.

Die Minenbesitzer wünschen die chinesischen Arbeiter aus zwei Gründen aus politischen, damit sie, als die pro-englische Partei gegen die Buren, die Herrschaft in der Verwaltung Transvaals festhalten können, zweitens aus ökonomischen, weil die Chinesen billig sind. Mr. Birchenough bemerkt scharfsinnig: „Man kann gewissermaßen sagen, daß es für die Transvaal- Goldminen ein Unglück ist, daß die dort do- minierenden Finanzgruppen zweierlei Geschäfte betreiben: einmal das rein industrielle Unternehmen des Minen betriebes, zum andern das rein spekulative neue Gründungen auf den Markt zu werfen und daß zurzeit ihr Interesse mehr bei dem zweiten als dem ersten engagiert ist." In ihrer Eigenschaft als Industrielle erfüllen sie eine wichtige Funktion, aber erfolgreiche Gründergeschäfte sind wohl das einträg- lichste auf Erden und als Gründer haben die Minenbesitzer wenig getan um sich den Dank der Menschheit zu verdienen.

In der Tat haben die Minenbesitzer einige Ähnlichkeit mit den amerikanischen Trusts. Diese müssen, um ihre Wertpapiere an den Mann zu bringen, Dividenden auf ihre Aktien zahlen, selbst wenn dies im Gegensatz zu den Interessen der Gesamtheit und ohne Rücksicht auf eine solide Geschäftsführung zu geschehen hat. So müssen auch die Minenbesitzer, um ihre Gründungen unterzubringen, für die schon bestehenden ungeheure Dividenden aufweisen und das können sie nur, wenn sie so billig als überhaupt möglich arbeiten.

Unter diesen Umständen müssen auch diejenigen enttäuscht werden, die zögernd der Einführung chinesischer Arbeiter zugestimmt haben, weil sie glaubten, sie sei nur vorübergehend nötig. Aber wann wird der Bedarf nach billigen Arbeitskräften aufhören? Muß man nicht im Gegenteil annehmen, daß wir, wenn erst ticferliegende Gesteinsschichten in Angriff genommen werden, hören werden, nun sei die Notwendigkeit billiger Arbeit erst recht groß und die bestehenden Einschränkungen müßten fallen. Noch nie hat das kapitalistische Interesse freiwillig auf

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Henry \V. Macrosty, Die Arbeiterfrage in Südafrika. 413

seine Privilegien verzichtet In den Vereinigten Staaten hat man hohe Einfuhrzölle erhoben um die „jungen Industrien" zu schützen, aber nun, da diese Industrien groß und mächtig geworden sind und hunderte von Milliardären großgezogen haben, erscholl der Ruf nach Zollschutz lauter denn je.

Aber sagt man uns Südafrika braucht die Chinesen. Eben jetzt legt Jameson, der frühere Adjudant von Cecil Rhodes dem Kap- parlament einen Gesetzentwurf vor, der die Einfuhr von Chinesen in die Kapkolonie verhindern soll. Wie die „öffentliche Meinung" in Trans- vaal bearbeitet wird, zeigt der oben schon angeführte Artikel im Man- chester Guardian vom 12. Januar 1904. „Das finanzielle Interesse," heißt es dort, „beherrschte die Versammlungen in den Bergwerken, wo den Arbeitern nur eine Seite der Frage klargemacht wurde und ihr Gefühl und ihre Vorurteile in jeder Weise beeinflußt wurden. Die dort gefallenen Behauptungen über die Wirkung, die eine Vermehrung der weißen Arbeiter auf die Löhne der Angestellten haben würde, lassen sich kaum mit parlamentarischen Ausdrücken charakterisieren. Aber niemand, der irgendwie mit den Minen zu tun hatte, durfte wagen, diesen Behauptungen öffentlich entgegenzutreten und die Arbeiter auch auf die andere Seite der Krage aufmerksam zu machen. Aber selbst so konnten die Minenbesitzer eine beträchtliche Mehrheit nicht auf ihre Seite bringen. Den Arbeitern fehlte es natürlich an Mut, den Ansichten und der Politik, die ihre Arbeitgeber mit aller Macht befürworteten, entgegenzutreten, führerlos und ohne das Gefühl eines Rückhaltes in der Heimat, wie sie es waren. Eine der Johannesburger Zeitungen nach der anderen, die sich zuerst alle der Chineseneinfuhr gegenüber ablehnend verhalten hatten, sahen sich plötzlich veranlaßt, auf die Dienste ihrer Redakteure zu verzichten. Alle diese Maßnahmen zu- sammen mit der finanziellen Depression und der Arbeitseinschränkung in manchen Minen verfehlten ihre Wirkungen nicht und riefen eine Stimmung hervor, die sich mit einigem Geschick als ein allgemeiner Wunsch aller Weißen nach chinesischen Arbeitskräften darstellen ließ.

Wir brauchen uns nicht damit aufzuhalten, die Schwierigkeiten der Durchführung der gesetzlichen Vorschriften darzulegen, welche die Chineseneinwanderung mit sich bringen würde welchen Wert haben z. B. die Pässe, da es fast unmöglicli sein wird, die Identität festzu- stellen? Aber weittragender ist die Frage, ob Chinesen unter den oben angeführten Bedingungen überhaupt zu haben sind. Sie strömen nach den Straits - Settlements und nach allen englischen Kolonien, wo Be- wegungsfreiheit herrscht, aber es wäre voreilig anzunehmen, daß sie eben so leicht nach Transvaal gehen würden, um wie das Vieh ein- gepfercht zu werden, ohne die Freiheit des Kommens und Gehens, ohne die Möglichkeit ihre Beschäftigung frei zu wählen, sich anzusiedeln oder in die Heimat zurückzukehren. Ohne Zweifel konnten durch eine in

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chinesischen Regierungskreisen übliche Praxis einige Mandarinen dahin gebracht werden, den Arbeitern das englische Anerbieten als günstig darzustellen. Und vielleicht soll man sich sagen da angedeutet wurde, daß man diese Art der Überredung anwenden würde, es sei prüde vor der Bestechung zurückzuschrecken, wenn man die Sklaverei zuläßt. Aber klug wird es sein, die Geduld des britischen Publikums auch in den Kolonien nicht allzusehr auf die Probe zu stellen. Schon jetzt hört man bittere Worte genug. *)

Aber werden die Chinesen kommen ? Mr. Skinner, den die Johannes- burger Bergwerkskammer aussandte, um Informationen einzuholen, gab zu, daß es schwer sein würde chinesische Kulis zu erhalten. Die chine- sische Regierung ist außerdem ungehalten über den Ausschluß der Chinesen aus Australien und Britisch-Columbien und wird vielleicht die Auswanderung nach Südafrika verbieten oder für die Erlaubnis Kon- zessionen fordern, welche die anderen Kolonien nicht bewilligen würden. Jedenfalls würde die Einwanderung von Chinesen in den ersten Jahren nicht sehr groß sein.

Aus all diesem ergibt sich: i. daß die Hoffnung auf eine schnelle Umwandlung Transvaals in ein Märchenland von Reichtum und Fort- schritt entsprechend hinausgeschoben werden muß und 2. daß die vor- übergehende Periode, während der allein, wie viele hoffen, chinesische Arbeit gestattet werden soll, von sehr langer Dauer sein wird. Nur die Kapitalisten würden den Vorteil davon haben, wenn es ihnen gelingt dem Publikum der Fondsbörse den Glauben an einen angeblichen un- geheuren Aufschwung beizubringen.

Alles führt uns zu derselben Schlußfolgerung, nämlich daß die chinesische Einwanderung weder der politischen noch der ökonomischen Entwicklung Südafrikas förderlich sein würde. Wir wollen, daß Süd- afrika nicht nur den Weißen gehört, sondern daß er ein demokratisches Gemeinwesen werde. Die Minenbesitzer wollen es zu einem Sklaven- staat machen im Interesse der Fondsbörse. Sie wollen uns mit Trug- bildern von ungeheurem Reichtum und fabelhaftem Aufschwung des Handels blenden, aber wir ziehen langsamen und sicheren Fortschritt, der auf der Freiheit aufgebaut ist, vor.

') Anmerkung d. R. Vergleiche die neuerliche Protestbewegung in Australien und Neuseeland.

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Henry W. Macrost y, Die Arbeiterfrage in Südafrika.

415

Nachtrag.

Seit Vorstehendes geschrieben wurde (Januar 1904), ist die Frage der Einführung chinesischer Arbeiter im englischen Parlamente mehrfach behandelt worden. Lord Lansdowne sagte bei dieser Gelegenheit: „Es handelt sich um eine Krisis, die alle Industrien bedroht, es ist zweifellos, daß wenn nicht Hilfe in irgend einer Form gewährt wird das Resultat sowohl für Transvaal, wie für die angrenzenden Kolonien ein verderbliches sein kann. . . . Die Quellen für einheimische Arbeiter sind erschöpft, es ist nachgewiesen worden, daß die Kosten ungelernter weißer Arbeit unerschwinglich und deren Verwendung untunlich ist. Die einzige Alternative ist die asiatische Arbeit. Wir ergreifen diesen Ausweg nicht leichten Herzens oder weil wir einen unbegrenzten Zufluß von Chinesen wünschen. Aber wir wollen das Experiment in be- schränktem Umfange und mit allen Kautelen, welche die Erfahrung an die Hand gibt, machen".

Die Tatsache des allgemeinen Arbeitermangels wird durch eine Reihe inzwischen veröffentlichter Blaubücher bestätigt, jedoch scheint nicht genügend berücksichtigt worden zu sein, daß dieser Mangel seine Ursache zum Teil in dem allgemeinen Bestreben findet die Zerstörungen des Krieges wieder gut zu machen. Es wird behauptet, daß den Minen noch dreißigtausend Eingebome fehlen und daß dreitausend Stampfen stillstehen, die 8000 Weiße beschäftigen könnten.

Die Schwierigkeit schwarze Arbeiter zu bekommen, ist in gewissem Grade eine Folge der schlechten Verpflegung und sonstigen ungünstigen Bedingungen auf dem Rand. Sir Godfrey Lagden früher Administrator von Basutoland, berichtet, daß die Häuptlinge sagten : „Wir wollen nicht, daß unsere Leute nach Johannesburg gehen, denn sie gehen dahin, um zu sterben." Und Mr. Grant, einer der besten Kenner der Arbeiter- frage in Südafrika, sagte vor der Kommission aus, daß die heutigen Schwierigkeiten das Resultat falscher Maßnahmen in der Vergangenheit seien.

Fast ohne Ausnahme sind die Ingenieure der Randminen der Überzeugung, daß ein Betrieb mit ungelernten weißen Arbeitern nicht möglich sei. Dem gegenüber hält Mr. Cresswell daran fest und gibt in einem Briefe an die Times (1. Febr. 1904) die Resultate seiner Versuche mit weißen Arbeitern in der Village Main Reef Mine, die der beste Beweis für die Ausführbarkeit seines Vorschlages sind:

„Arbeit in den Cyanidewerken : Kosten per Tonne Juli 1 899 (Kaffern) 5,30 d per ton; Kosten per Tonne Juli 1903 (Kaffern fast sämtlich durch ungelernte Weiße ersetzt) 4,92 d per Tonne.

Arbeit in der Stampfmühle : Kosten per Tonne Juli 1899 (Kaffern) 4,83 d per Tonne; Juli 1903 (Kaffern durch ungelernte Weiße ersetzt), 4,25 d per Tonne.

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Bohrarbeit usw.: Mai bis August 1899 (KarTern) 7 sh 0,64 d per Tonne; Juli und August 1903 (ungelernte Weiße) 6 sh 9,46 d per Tonne.

Die große Schwierigkeit liegt darin, daß die Weißen in den Kolonien es für entwürdigend halten, Arbeiten zu verrichten, die von Schwarzen getan werden; tausend englische Erdarbeiter, die von der Regierung zur Verwendung bei Eisenbahnbauten hinausgeschickt wurden, mußten nach einiger Zeit wieder zurücktransportiert werden, weil sie sich die Vorurteile ihrer Umgebung aneigneten und mit der Arbeit unzufrieden wurden.

Trotzdem es allerdings untunlich erscheint, die Minen mit gemischten Arbeitern zu betreiben, so scheint die Möglichkeit in einigen nur Weiße und in anderen nur Schwarze zu verwenden, nicht genügend diskutiert worden zu sein. Ebensowenig hat die Regierung versucht, die Haupt- schwierigkeit, die sich der Verwendung weißer Arbeiter entgegenstellt die enorme Kostspieligkeit des Lebensunterhaltes infolge der hohen Eisenbahn- und Dampferfrachten aus dem Wege zu räumen. Dazu kommt die Abneigung der Bergwerksbesitzer gegen eine zahlreiche weiße Arbeiterbevölkerung, aus Furcht vor dem Entstehen einer starken Arbeiterpartei, die wie in Australien nicht nur die Lohnfrage, sondern auch andere rein politische Fragen in den Bereich ihrer Wirk- samkeit ziehen könnte.

Die Argumente, die sonst noch Mir die Zulassung chinesischer Arbeiter vorgebracht werden, sind keineswegs durchschlagend. Allerdings fanden sich im gesetzgebenden Rate nur vier Stimmen gegen die Zu- lassung und auch vier Burenvertreter stimmten dafür; auch wurde eine dahingehende von 47 000 Personen unterzeichnete Petition dem Gouverneur Lord Milner überreicht, aber selbst dieser mußte zugeben, daß in ganz Südafrika zahlreiche Leute prinzipiell gegen die Einführung fremder Arbeiter seien.

Die Regierung in England und in Transvaal gibt selbst zu, daß eine unbegrenzte chinesische Einwanderung unheilvoll sein würde. Alles wird also davon abhängen, ob die aufgestellten Regulativen wirklich eine dauernde Niederlassung verhindern werden, ohne einen Zustand zu schaffen, der von Sklaverei kaum zu unterscheiden ist. Wenn dabei von Seiten der Regierungsvertreter Vergleiche wie der mit der Ableistung des Militärdienstes gebraucht werden, und wenn der Pfarrer einer Kirche in Johannesburg sagt, daß die Gelegenheit zu Missionsarbeit in den Compounds ihm die Sache sehr wünschenswert erscheinen ließe, so richtet sich das von selbst. Was die Chinesen selbst von den Bestim- mungen denken, unter denen die Zulassung ihrer Landsleute gestattet werden soll, geht aus den Zusatzbedingungen hervor, die der chinesische Gesandte verlangte: „Daß der Arbeitgeber oder sein Beauftragter den Arbeiter nicht körperlich züchtigen dürfe und daß Übertretung dieser Vorschrift eine gesetzliche Strafe nach sich ziehen solle; daß der „Im-

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Henry W. Macrosty, Die Arbeiterfrage in Südafrika.

porteur" selbst Arbeitgeber und nicht „Händler oder Spekulant in Arbeit" sein solle ; daß die Überlassung oder Übertragung des Arbeiters an einen anderen Arbeitgeber nur mit der Zustimmung des Betreffenden selbst und unter Billigung des Konsuls zulässig sein solle. Dies wäre not* wendig um zu verhindern, daß der importierte Arbeiter als Ware behandelt würde."!!

Der Versuch der Regierung im Parlamente ein Tadelsvotum für Einbringung des Gesetzentwurfes zu erteilen, wurde im Unterhaus mit 5 1 Stimmen abgewiesen, ein anderer, denselben nicht in Kraft zu setzen bis die Ausführungsbestimmungen dem Parlament vorgelegt seien, mit 56 Stimmen. Die endgültige Billigung des Vorgehens der Regierung erfolgte mit einer Mehrheit von 57, gegenüber der regulären Regierungs- majorität von 106.

Ein Punkt bleibt ganz im Dunkeln: den Chinesen soll gestattet sein, ihre Familien mitzubringen, aber wie weit diese den für die Ar- beiter geltenden Vorschriften unterworfen sein sollen, wird nicht gesagt. Die Regelung aller Details betr. Zwang zur Einhaltung der kontraktlichen Bedingungen, Rücksendung, Kontrolle der Familien, Verhütung von Desertation usw. wird der lokalen Regierung in Transvaal überlassen. Die englische Regierung hat sich zu keiner zeitlichen Beschränkung der Chineseneinfuhr verstehen wollen und es ist wenig wahrscheinlich, daß die Nachfrage nach billigen Arbeitskräften abnehmen wird, wenn erst die tieferliegenden Schichten der Minen aufgeschlossen werden. Sir William Harcourt hat dies vorausgesehen, als er sagte: „Im Interesse der minderwertigen Erze müssen wir eine minderwertige Kolonie schaffen."

Die Würfel sind jetzt gefallen: Unter dem ausgesprochenen Wider- spruch der australischen Kolonien und dem unverhüllten Widerwillen der meisten Engländer wird das gefährliche Experiment versucht werden ; aber vielleicht nie waren die Aussichten für ein demokratisch regiertes und wirtschaftlich gesundes Südafrika so düster als jetzt, wo der Schatten chinesischer Arbeit auf das Land fällt.

Archiv für Soiialwiwetuchaft u. Soitalpolitilc. 1. ( A. f. so*. G. u. St XIX.) 2. 27

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Kritische Anmerkungen zur revisionistischen

Agrarpolitik. *)

Von

Dr. O. PRIXGSHEIM

in Hreslau.

Der landwirtschaftliche Großbetrieb, insbesondere das Rittergut in Ostelbien wurde von mir in einem früheren Artikel als „Manufaktur" bezeichnet. *) Es sollte natürlich damit nicht behauptet werden, daß die spezialisierte ausgebildete Arbeitsteilung etwa der Nadelmanufaktur sich in der Landwirtschaft wiederhole.3) „Solche gesellschaftliche Großbetriebe, in denen wesentliche Teile des Produktionsprozesses noch durch Handarbeit ausgeführt werden, erklärt Sombart, nennen wir Manufaktur."4) Ergänzend hat neuerdings J. German hinzugefügt: „Das Kriterium des handarbeitenden Verfahrens ist nicht erschöpfend für den Unterschied zwischen Fabrik und Manufaktur. Nur dann ist ein Betrieb Manufaktur, wenn außer diesem Kriterium noch ein relativ geringer Umfang der Arbeitsmittel zu konstatieren ist." a) Im Sinne dieser beiden Definitionen darf man einen Teil der deutschen Land- wirtschaftsbetriebe, namentlich die meisten Rittergüter, als „Manufakturen" betrachten. Denn die Handarbeit ist trotz Maschinenverwendung in diesen Wirtschaften vorherrschend. Die Produktionsmittel haben einen

J) Eduard David, Sozialismus und Landwirtschaft. Erster Band: Die Be- triebsfrage. Berlin 1903. Verlag der Sozialistischen Monatshefte (702 S.). 2) Archiv für soziale Gesetzgebung, XV. S. 406 f.

s) Daß die Arbeitsteilung in der Landwirtschaft nicht voll entwickelt ist, ist richtig. Dies ist aber keineswegs ein Vorteil. Neuerdings hat Gewerberat Mentc beobachtet, daß der Wechsel der landwirtschaftlichen Arbeiten die Unfallgefahr erhöht.

*) Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert. S. 352.

fi) J. German, Die Grenzen für die Automatisierung des Produktionsprozesses. Neue Zeit Nr. 41 1903.

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O. Pringsheim, Kritische Anmerkungen zur revisionistischen Agrarpolitik. 419

verhältnismäßig geringen Umfang; viele Güter ergänzen ihr Inventar bei Lohnunternehmungen, von denen sie Dreschmaschinen, Dampfpflüge, zuweilen auch Fuhrwerk entleihen. Es ist somit das Rittergut ein halber Großbetrieb.

Durch diese Definition gelangt man zu einer richtigeren Auf- fassung der landwirtschaftlichen Entwicklung als es Eduard David möglich war. Eine Kritik seines Werkes wird zeigen, wie notwendig eine neue Untersuchung der landwirtschaftlichen Betriebsformen ist.

I.

David verfällt in den Fehler der meisten agrarstatistischen Unter- suchungen. Er kennt nur die Kategorien landwirtschaftlicher Großbetrieb und Kleinbetrieb und bestimmt diese hauptsächlich nach der Größe der Anbaufläche. Gelegentlich allerdings erkennt der revisionistische Theo- retiker selbst an, daß die Berücksichtigung lediglich der Anbaufläche irreführend sein kann. So heißt es: „Es liegt auf der Hand, daß mit der Größenbestimmung von 2 20 ha die Kategorie der Kleinbetriebe nicht so scharf umgrenzt ist. Je nach der klimatischen Lage, der Bodengüte, der Produktionsrichtung und der Intensität der Betriebe ist das zum Unterhalt einer Familie erforderliche Areal größer oder kleiner. Für hochintensive Gemüse-, Obst-, Wein- und Handelsgewächsbetriebe fällt die Größenklasse von 5 10 ha schon in die Gruppe der Mittel-, die von 10—20 ha schon in die Gruppe der Großbetriebe. ') Nichts- destoweniger stellt David, um die Überlegenheit des Kleinbetriebes darzutun, die ganze Gruppe von 2 20 ha der Gruppe von 100 ha und mehr gegenüber. Dann vergleicht er aber nicht mehr Klein- betriebe mit Großbetrieben, sondern nach eigenem Geständnis Groß- betriebe der einen Art mit Großbetrieben anderer Art. Umgekehrt sind in der Klasse von 100 ha und mehr nicht lediglich Großbetriebe enthalten.2)

Abgesehen von diesem Fehler ist es ganz irrig, die reinbäuerlichen Selbstwirtschafter mit dem Inhaber der Betriebe von 2 20 ha zu identifizieren. Rauchberg bemerkt: „Der landwirtschaftliche Mittel-

') David, a.a.O. S. 49, 50.

*) „In den ungünstigen Distrikten der Kreise Karthaus, Bcrend und Tuchel werden unter Umständen Güter bis zu 1000 Morgen (250 ha) den Bäuerlichen zu- gezählt und in bäuerlicher Art bewirtschaftet." Sehr, des Ver. f. Sozialpolitik. Bd. 55 S. 242. In den Kreisen Elbing, Marienburg usw. herrscht der großbäuerliche Besitz. Die Besitzer arbeiten in der Erntezeit mit, die Güter betragen bis zu 100 ha stellen- weise auch mehr." a.a.O. Bd. 55 S. 200. Größere Bauern bis 125 ha - im Kreise Birnbaum a. a. O. S. 439.

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stand fängt erst bei Landgütern von solcher Größe an, daß sie den Inhaber und seine Familie zu ernähren vermögen. Hierfür ist die von dem Zählungswerk gezogene Untergrenze von 2 ha Betriebsfläche ent- schieden zu niedrig gegriffen auch die Stufe von 2 5 ha um- faßt jedenfalls zum großen Teil Parzellenbesitz, so daß die hierher- gehörigen formell selbständigen Landwirte eher zur unbemittelten Klasse als zum landwirtschaftlichen Mittelstand zu rechnen sind." Dann scheidet aber ein großer Teil der von David in Betracht gezogenen Betriebe aus, wenn man die Lage der reinbäuerlichen Wirtschaft untersuchen will. Aber auch nach oben hin muß die Gruppe von 2 20 ha ver- mindert werden. David selbst bemerkt: „Beim Anbau von feinem Gemüse genügt 1 ha um die Bauernfamilie voll zu beschäftigen, bei Hackfruchtbau 3 5 ha, bei Roggenbau 10 20 ha.1) Wir müssen also annehmen, daß die meisten Betriebe über 15 ha fremde Hilfs- kräfte beschäftigen und daher nicht zu dem lediglich mit Familienmit- gliedern wirtschaftenden Bauerstande gehören. Aber selbst wenn wir die Klasse von 2 20 ha entsprechend reduzieren, sind die Schluß- folgerungen, die David aus ihrem Wachstum zieht, nicht vollauf ge- rechtfertigt. Die Anbaufläche wäre nur dann ein zutreffender Maßstab der Bedeutung eines Landwirtschaftbetriebes, wenn die in der Wirtschaft wirksamen Kapitalien genau der Anbaufläche proportional wären. Leider hat sich die Statistik nur wenig mit dieser Frage befaßt. Doch scheint aus den Untersuchungen , die L a u r für die Schweiz , von S e e 1 - hörst für Deutschland angestellt hat, hervorzugehen, daß der Kapital- aufwand mit zunehmender Betriebsgröße für die Flächeneinheit ab- nimmt. *) Sollte dies der Fall sein, so erscheinen bei Vergleichung der Anbauflächen die Wirtschaften mit kleinem Areal unbedeutender als sie in Wirklichkeit sind. Eine weitere Fehlerquelle entspringt aus dem Umstand, daß David den bäuerlichen Nebenerwerb nicht richtig ver- anschlagt. Kr will sich nicht mit den Zwergbesitztüraern, die nicht volle Existenz und Beschäftigung gewähren, befassen, sondern mit dem Schicksal der kleinen reinbäuerlichen Selbstbewirtschafter , d. h. der kleinen Landwirte, die eines Nebenerwerbes nicht bedürfen.*) Will David etwa behaupten, daß der Nebenerwerb nur für die Parzellen- betriebe unter 2 ha von Bedeutung ist? Die Statistik weist im Gegen- teil nach, daß von 100 selbständigen Landwirten in der Klasse von 2 5 ha noch 25,54 Proz. einen Nebenberuf hatten. In der Gruppe von 5 20 ha noch 15,26 Proz. und selbst in der Gruppe von 20

J) David S. 651.

*) Vgl. von Seclhorst, Deutsche landwirtschaftliche Presse Nr. 42, 1903 und A. H. Hüllmann, die Landwirschaft im Kreise Bonn (1903) S. 33.

•j David S. 512, 513.

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100 ha noch 8,32 Proz. *) Und ist für die Gastwirte, Mühlenbesitzer, Milchpächter nicht der Nebenerwerb die Hauptsache, der Grund, der ihren Landwirtschaftsbetrieb existenzfähig macht?

Aus den vorangegangenen Erörterungen kann man ersehen, daß es prinzipiell unzulässig ist, die Größenklassen der Reichsstatistik als öko- nomische Kategorien anzusehen und sie für die Frage des landwirt- schaftlichen Großbetriebes zu verwerten. Ist somit die Grundlage der Beweisführung Davids hinfällig, so läßt sie sich auch im einzelnen anfechten. David verweilt besonders gern bei den reichsstatistischen Aufnahmen von 1882 und 1895 und verweist mit besonderem Nach- druck auf die Tatsache, daß der Arealzuwachs der landwirtschaftlichen Betriebe von 2 20 ha nicht weniger als 659259 ha während jener 13 Jahre betragen habe. Damit sei bewiesen, daß der Großbetrieb im Niedergang, die Betriebe der bäuerlichen Selbstwirtschafter dagegen im kräftigsten Aufschwung befindlich seien.

Man muß sich jedoch erinnern, daß zwischen 1882 und 1895 die preußische Rentenguts- und Ansiedlungsgesetzgebung auf etwa 1 30 000 ha neue Bauernstellen schuf. Der Erfolg der gesetzgeberischen Maßnahmen beweist nichts für ein aus eigener Kraft erfolgendes Aufsteigen des Bauernstandes.8) Nun sind allerdings auch zahlreiche private Par- zellierungen erfolgt. Aber das Opfer dieser waren weit mehr die Großbauern als die Rittergutsbesitzer. 8)

Ein Teil des Arealzuwachses der Kleinbetriebe ist offenbar aus rein formalen Gründen zu erklären. Gegen 1882 wurde 1895 eine um 3 106 661 ha größere Gesamtfläche, eine um 648969 ha oder 2,03 Proz. größere landwirtschaftlich benutzte Fläche von der Reichsstatistik ermittelt. Es ist wahrscheinlich, daß der größere Teil der neu aufgenommenen Betriebsfläche auf Kleinbetriebe entfällt. Denn die größere Genauigkeit der Erhebung von 1895 machte sich vor allem bei den Kleinbetrieben

') Otto Most, Der Nebenerwerb in seiner volkswirtschaftlichen Bedeutung. Jena 1903, S. 43.

*) In der Provinz Posen ist die Vermehrung der Betriebe von 2 20 ha fast ausschließlich auf die behördliche Tätigkeit zurückzuführen. „Darnach hätten die Grobbauern in der Provinz, ebenso wie die Kleinbauern im Bezirk Bromberg etwas zugenommen. Doch diese Zunahme ist nicht natürlich, sondern eine Folge der Tätigkeit der Ansiedelungs- und Generalkommission . . . nach Groflmanns Berech- nung sind bloß durch jene beiden Behörden Ii 70 Besitze über 5 ha mit 20751 ha entstanden, so daß die Provinz Posen von 1878— 1893 ohne diese Tätigkeit 1508 Be- sitze mit 22452 ha verloren hätte. Leo Wcgener, „Der wirtschaAliche Kampf der Deutschen mit den Polen um die Provinz Posen."

*) Wcgener a.a.O. S. 114.

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geltend, namentlich bei den mit Forstfläche verbundenen Landwirtschafts- betrieben, den Gärtnereibetrieben und den Deputatländereien. ')

Der Arealzuwachs der Kleinbetriebe ist also wesentlich geringer, als David annimmt. Auch das weitere statistische Material, das er zuungunsten des Großbetriebes vorführt, ist anfechtbar. „In den kleinen zwergbäuerlichen Betrieben kommen doppelt und dreimal soviel Stück Großvieh auf die gleiche Fläche, wie in den Großbetrieben über 100 ha." Da die Großbetriebe große Waldflächen, *) Gewässer, Park, Hofräume umschließen, auf die kein Vieh verrechnet werden kann, so erklärt schon dieser Umstand zum Teil die schwächere Viehhaltung der Großbetriebe. Die Möglichkeit, Dampfpflüge zu benutzen, Dünger zu- zukaufen, und dadurch den Viehstand einzuschränken, bedeutet wirt- schaftliche Kraft, nicht Schwäche. Wenn übrigens die Betriebe über 100 ha von 1882 1895 ihren Pferdebestand um 10,8 Proz., ihr Rind- vieh um 27,3 Proz. und ihre Schweinehaltung um 85 Proz. vermehrten, so deuten diese Ziffern nicht darauf hin, daß die Viehwirtschaft des Großbetriebes zugunsten des Kleinbetriebes abdanken wird. David spricht von der Viehhaltung der kleinsten und kleinen Betriebe. Die Reichsstatistik warnt ausdrücklich davor, die Viehhaltung der Parzellen- betriebe ohne Einschränkung mit den anderen Größenklassen zu ver- gleichen, da dort das Vieh nicht bloß mit dem Ertrag der zugehörigen Fläche, sondern mittels anderer Hilfsquellen ernährt wird.3) David dagegen formuliert ein allgemeines ökonomisches Gesetz, daß der Tier- bestand der Flächeneinheit mit der Kleinheit des Betriebsareals wächst.4) David spricht in diesem Zusammenhang auch von der blühenden Vieh- zucht der Bauern in Oldenburg, Schleswig-Holstein usw. Er Übersicht nur die Kleinigkeit, daß die Marschenwirtschaften zu den kapitalinten- sivsten Betrieben überhaupt gehören. Das Viehkapital beträgt dort 400 500 Mk. pro ha, während in sächsischen Rübenwirtschaften nur 180 Mk. berechnet werden.5) Das gehört also mehr auf das Konto des Großbetriebes, als des Kleinbetriebes. Aber angenommen, die von David berechneten viehstatistischen Ziffern gelten ohne Einschränkung, was wird damit bewiesen? „Mit den einfachen Zahlen," bemerkt von Ollech sehr richtig, „ist es damit nicht getan, man muß auch untersuchen, wie es mit der Qualität beschaffen ist, es gibt auf diesen

') StaL d. D. R., N. F. Bd. 1 1 2 S. 9.

*) David, Neue Zeit, 18. Jahrg. 1899— 1900. S. 229 erwähnt selbst Betriebe über 1000 ha ganz ohne Nutzvieh, also Waldkomplexe. *) Stat. d. D. R., N. F. Bd. 112 S. 31. 4) David, S. 674.

*) B. Skalweit, Die ökonomischen Grenzen der Intensivierung der Land- Wirtschaft (1903) S. 12, 47 und 60. Vgl. auch Ziegenbein, Die Viehzucht im Großhcrzogtum Oldenburg 1903, S. 17.

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kleinen Besitzungen miserabel ernährtes Vieh ... da kommt man mit der geringeren Stückzahl auf großen Gütern doch weiter." *)

Befriedigt die statistische Behandlung der Streitfragen nur wenig, so klärt uns auch die prinzipielle Erörterung Davids über Großbetrieb und Kleinbetrieb kaum auf. Hierbei wird auf mehr zufällige Erschei- nungen zu großes Gewicht gelegt. So läßt sich die mangelhafte Buch- führung des Kleinbetriebes ebenso leicht verbessern, wie die ungenügende Beaufsichtigung der Arbeiter im Großbetriebe. Wichtiger wäre es, wenn der Vorwurf erhöhter Viehseuchengefahr, den David den großen Gütern macht, begründet wäre. Indessen widerlegt er sich selbst. Er berichtet, daß die Maul- und Klauenseuche 1899 nicht weniger wie 162657 Ge- höfte mit 1885774 Rindern befallen habe. Und diese Ziffer beweist, daß die Ansteckung nicht vor den bäuerlichen Ställen Halt macht. Die Anklage, daß der Großbetrieb den Boden ausraube, wird durch einige Reminiszenzen aus Liebig nicht erledigt. Wenn durch Raub- bau gesündigt wird, so geschieht es von großen, wie von kleinen Wirten. -)

Großes Gewicht legt unser Apologet des Kleinbetriebes auf den Umstand, daß im letzteren das Inventar besser geschont wird, als die Geräte des Großbetriebes von nachlässigen und rohen Knechten. Die Tatsache ist unbestritten, jedoch nicht von entscheidender Bedeutung, denn im Durchschnitt von 1525 Betrieben machten die Ausgaben für Instandhaltung des Inventars und der Gebäude nur 7,8 Proz. der Ge- samtausgabe aus. :t) Überdies wird dieser Vorteil der Kleinbetriebe durch die größere Höhe seines Gebäudekapitals wieder ausgeglichen.4)

*) von Ollech, Über Zölle und kleine Mittel zur Erhebung der Landwirt- schaft (1901) S. 26. Vgl. Über die Minderwertigkeit des kleinbäuerlichen Viehes auch Hollmann a.a.O. S. 105. Otto Grciß, Die wirtschaftliche und soziale Bedeutung der Latifundien mit besonderer Bezugnahme auf Böhmen S. 1 10. Klawki in Thiels landwirtschaftlichen Jahrbüchern, Bd. 28. 1899 S. 446. Illu- strierte landw. Zcitg. Nr. 26 1903. Nach Schätzungen betrug 1895 das Lebend- gewicht der Kühe in den östlichen preußischen Provinzen und Mecklenburg durch- schnittlich 419 kg, in den großbäuerlichen Distrikten (Schleswig- Holstein, Olden- burg usw.) durchschnittlich 453 kg, in Süddcutschland und Rheinland durchschnitt- lich 410 kg.

e) Neuerdings hat Stoklasa darauf hingewiesen, daß die österreichische Landwirtschaft ein enormes Defizit an Kali hat. Die bäuerlichen Kronländer sind daran mehr beteiligt, als die Regionen des Großgrundbesitzes, Böhmen und Mähren.

3) Deutscher Landwirtschattsrat : Die Ergebnisse der Erhebungen über die Rentabilität bestimmter Landwirtschaftsbetriebe im Jahre 1898 S. 508.

4) Gebäudewert pro ha 291 Mk. in Westpreußen, 342 Mk. in Posen, 510 Mk. in Schlesien, dagegen 709 Mk. im Rheinland, I0t8 Mk. im Regierungsbezirk Wies- baden, Hohcnzollern 698 Mk., Baden 660 Mk.

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Eine sehr wesentliche, aber von David nicht beachtete Schwäche des Großbesitzes in seinem jetzigen Betriebsumfang ist das Einbeamten- system. Während in der Industrie sich mehrere Beamte gegenseitig be- obachten, spielt auf den meisten Großgütem der Wirtschaftsbeamte die Rolle des Betriebsleiters, Buchhalters und Kassierers in einer Person. Nebenbei ist er oft noch Amtsvorsteher und Gemeindeschreiber. Durch diesen Umstand wird die Kontrolle für den Besitzer erschwert, auch leiden durch die Kumulierung der Funktionen einzelne derselben. Ein Vorteil des Kleinbetriebes gegenüber dem Großbetriebe ist aller- dings ebenso wichtig, wie unbestreitbar. Während dieser auf seine Lohn- arbeiter angewiesen, durch Interesselosigkeit und Widersetzlichkeit schwer leidet, arbeitet der Bauer mit seiner Familie mit rastlosem Fleiß und tätigem Interesse. Diese Darstellung Davids könnte den Anschein er- wecken, als ob alle Bauern nur mit Familienangehörigen arbeiten. Nach Davids eigener Berechnung kommen auf die bäuerliche Wirtschaft durchschnittlich 5,5 durch verwandtschaftliche Bande verknüpfte Personen und 2 volle Arbeitskräfte einschließlich des Betriebsinhabers. ') Von den 6,5 Millionen nicht berufsmäßig tätigen Angehörigen ist ein großer Teil zu jung oder zu alt, um für die Wirtschaft in Frage zu kommen. Aber auch von den Erwachsenen bleibt ein großer Bruchteil nicht im Hause. Von 1063 erwachsenen Bauerntöchtern im Kreis Steinburg waren nur 214 bei den Eltern tätig, im Kreis Jüterbog-Luckenwalde ist das Verhältnis 314 zu 935, im Kreis Gumbinnen 76 zu 168. 2) Die Söhne verlassen natürlich noch in größerer Zahl die Heimat. Aber auch wo die Familienarbeitskräfte vollzählig zur Verfügung stehen, gereicht dies nicht unbedingt dem bäuerlichen Betrieb zum Vorteil. „Die bäuerlichen Wirtschaften sind vielfach mit Familienmitgliedern überfüllt . . ., so ist oft eine Tagelöhnerwirtschaft besser gestellt als die mit Verwandten und Gesinde überlastete bäuerliche. 8)

So schwankt das Zünglein der Wage hin und her. Daß jede land- wirtschaftliche Betriebsgröße ihre eigenartigen Vorzüge und Mängel hat, ist sicher. Unbewiesen aber bleibt auch von David die Lehre vom nahen Untergange des Großbetriebes und seines bevorstehenden Ersatzes durch bäuerliche Kleinbetriebe. Der Wunsch ist hier der Vater des

l) David, Soz. Monatshefte 1903 Nr. 9 S. 659.

*) F. Heiser-Harttung, Die Berufswahl der ländlichen Jugend und das Schicksal der in die Städte abgewanderten. Thiels landw. Jahrb. Bd. 33 (1903) S. 403 ff. Die Zahl der in der Landwirtschaft mittätigen Familienangehörigen nahm von 1882— 1895 um 24209 ab, in Süddeutschland betrug die Abnahme sogar 160252, dieselbe wird durch geringe Zunahme in anderen Gebietsteilen teilweise kompensiert.

•) H. Gr oh mann, Betrachtungen über die Wirtschaften der ländlichen Tage- löhner. Schmollcrs Jahrb. 16 S. 217.

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Gedankens, und wenn das Genossenschaftswesen dem Kleinbetriebe Flügel verleihen soll, so werden wir später auf einige Schranken des landwirt- schaftlichen Genossenschaftswesens hinweisen.

Jedenfalls war David auf Grund seines Materials nicht berechtigt, die schroffsten Verdammungsurteile über den landwirtschaftlichen Groß- betrieb zu fällen. Man höre: „Der Großackerbau hält sich nur durch die schandbarste Menschenausbeutung über Wasser. Der landwirtschaft- liche Großbetrieb hat überall, wo er in der Geschichte aufgetreten ist, seinen bodenausraubenden Charakter gezeigt Mühsam auf Zoll- und Liebesabgabenkrücken gestützt, hielt sich der Großackerbau aufrecht."

Mir scheint, daß David örtliche und zeitliche Erscheinungen zu rasch verallgemeinert. Als guter Lokalpatriot denkt er stets an seine rheinisch-hessischen Verhältnisse und vergleicht sie mit gewissen Groß- betrieben des Ostens. l) Aber welche Unterschiede 1 Hier ein frucht- bares, dicht bevölkertes Land mit klimatischen Vorzügen, ausgezeichneten Verkehrsmitteln, glänzenden Absatzverhältnissen und alter Kultur. Dort der Boden seit Generationen verqueckt und verdistelt, entsetzliche grund- lose Wege, die Ernte am Halm verkauft und am Wochenschluß kein Geld zur Löhnung. Welche Gerechtigkeit, diese Unterschiede zu über- sehen und dann allgemeine Schlüsse über den Großbetrieb zu ziehen! Gibt es doch noch ein ganz anderes Bild des landwirtschaftlichen Groß- betriebs. ,,Wer sehen will, was intensiv ist, gehe und sehe sich den Betrieb unserer besten Domänen in Sachsen an Barby, Wanzleben, Benkendorf und wie sie alle heißen. Man sehe und staune, was dort für Zugvieh sich auf Feldern und Straßen bewegt 1 Man gehe in die Ställe und sehe das Mastvieh, die Milchkühe an, man beobachte, welche Schiffsladungen von Kunstdünger, von Futterstoffen verwendet werden! Man inspiziere die Maschinenschuppen und berechne sich das Kapital, das in Dampfpflügen und besten anderen Maschinen investiert ist. Man überschaue aus der Vogelperspektive die Anzahl von Wohn- häusern, Ställen, Scheuern, Schuppen, Lagerstätten, die mit dem Gesamt- betriebe verbundenen Zuckerfabriken, Brennereien, Mühlen, alles nachts vom elektrischen Licht bestrahlt, und man weiß, wie die Zentrale einer intensiv betriebenen Wirtschaft aussieht." 2) Und ist es etwa in Böhmen anders? Die Großkultur, sagt Otto Greiß, ist es, die die Einführung des landwirtschaftlichen Fortschritts ermöglicht. Die Großwirte sind als die alleinigen Träger der Bodenkultur in Böhmen anzusehen.8) Selbst

') Wie unwissenschaAlich David bei solchen Vergleichen verfahrt, zeigt der Vergleich der Ernteerträge in Ostelbien mit Württemberg, Baden und Hessen (S. 425)* Abgesehen von der Unsicherheit der Frntcstatistik kann man nicht ein Gebiet von 200000 qkm mit Landstrichen von 7681, 15081 und 19517 qkm vergleichen.

*) H. v. Bismarck, Der intensive Betrieb. III. landwirt. Zeitg. Nr. 92 1903.

*) Otto Greiß, a. a. O. S. 33 u. 34.

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aus dem klassischen Lande des Kleinbetriebs, aus Baden, wird berichtet : „Hervorragendes auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Selbsttätigkeit leisten die Großwirtschaften des Landes. Von diesen Wirtschaften kann gesagt werden, daß sie technisch und kaufmännisch auf der Höhe der Zeit stehen, und mit Einrichtung und Betrieb vorbildlich auf die land- wirtschaftliche Bevölkerung einwirken." l)

II.

Wohin steuert nun die agrarische Entwicklung der europäischen Völker? Die Rückkehr zum extensiven Betrieb verwirft David mit vollem Recht. Es wäre ein Rückschritt der landwirtschaftlichen und der allgemeinen Kultur. In erster Reihe aber würden die Landarbeiter hier- durch geschädigt. Es bleibe nur der Übergang zur intensiven Wirt- schaft. Je intensiver sich diese gestalte, desto größere Aussichten habe der Kleinbetrieb. Während der Getreidebau immer mehr den über- seeischen Gebieten anheimfalle, könne die Spatcnkultur und die inten- sive Viehzucht in Deutschland Eroberungen machen.

Eine Ausdehnung der Obstgärten, Gemüsekultur usw. ist ebenso möglich wie wünschenswert. Aber in dem von David angenommenen Umfang ist sie in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Wie soll das Gartengelände auf 3 Millionen ha, auf 10 Proz. der landwirtschaftlichen Fläche anwachsen, wenn heute in den gärtnerisch gesegnetsten Gauen, im Rheinlande, nur 1,97 Proz. der Wirtschaftsfläche diesem Zwecke dienen. „100000 Morgen Meerrettich mehr, erklärte Professor Albert in der Winterversammlung der D.L.G., lassen sich ebensowenig in Deutsch- land verwerten, wie 1 00 000 Morgen mehr Knoblauch." -) Noch größere Erwartungen hegt David hinsichtlich der Ausdehnungsfähigkeit der Viehzucht. Hier eröffneten sich für die kleineren Betriebe die glän- zendsten Chancen. Es sei nicht ausgeschlossen, in Deutschland einen Viehstand zu erhalten, der das Zehnfache und mehr vom heutigen aus- mache. 8) Voraussetzung sei allerdings die freie Einfuhr von Kraft- futter. Von Kraftfutter allein kann das Vieh jedoch nicht leben. Die klimatisch für Weidewirtschaft begünstigten Gegenden Deutschlands Ostfriesland , Oldenburg, Schleswig-Holstein, teilweise Ostpreußen nähern sich bereits dem von David gepriesenen dänischen Vorbild.

') Die Lage des Ackerbaus in Baden. Bericht des Domänendirektor Hoff- mann, Jahrb. d. deutsch. Landwirtschaft» - Gcscllsch. Bd. 17 (1902) S. 200. In Galizien bleibt der Kleinbetrieb auf vorzüglichem Schwarzerdeboden hinter dem Großbetrieb in seinen F.rnteerträgen zurück. In einzelnen Distrikten sind diese um ein Viertel geringer, als im Großbetrieb. Zofia Daszynska, Soz. Monatsh. 1903 Nr. 5, S. 351.

») Verhandig. der Wintervers, der D. L. G. 1903, S. 88. s) David, S. 672.

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Während im Reichsdurchschnitt die Einnahmen aus der Viehhaltung 40,1 Proz. betragen, steigen sie in Schleswig-Holstein auf 64,3 Proz., in Oldenburg auf 63,5 Proz., in Hannover auf 58,7 Proz. Ist hier eine sehr wesentliche Steigerung kaum denkbar, so läßt sich in anderen Gegenden die Viehzucht nicht improvisieren. Es sind oft kost- spielige — Stallbauten, Körordnungen und andere staatliche Maßnahmen, gute Wiesenverhältnisse und Ausdehnung des Futterbaues notwendig, wenn der Viehstand vergrößert werden soll.

Nach einer von landwirtschaftlichen Autoritäten gemachten Berech- nung genügt eine Vermehrung der deutschen Rindviehzucht, um 8,8 Proz., wenn der Bedarf der Bevölkerung gedeckt werden soll.

Aber selbst angenommen, die Vermehrung der Viehwirtschaft erfolge nach Davids Wünschen und Maßstäben, so würde diese keineswegs lediglich den kleinbäuerlichen Betrieben zugute kommen. Der Groß- betrieb würde unter gewissen nicht unwahrscheinlichen Umständen seine Nutzviehhaltung stark ausdehnen *) und auch der Import von Vieh- produkten aus überseeischen Gebieten kann noch erheblich steigen.2)

David freilich räumt rasch mit dem Großbetrieb auf: „wir stehen nicht an, die Verwandlung der landwirtschaftlichen Großbetriebe in bäuerliche Kleinbetriebe als erstrebenswertes Ziel hinzustellen."8) Auch die landwirtschaftliche Brennerei soll beseitigt werden, vermutlich, um dem kleinen Mann den Markt für SpeisekartofTeln zu verderben.

Wir sahen, daß die Lage des landwirtschaftlichen Großbetriebes noch nicht so hoffnungslos ist wie David sie darstellt. Sie würde noch günstiger werden, wenn es gelänge, den elektrischen Betrieb allgemeiner als bisher zu machen. Freilich begegnet dieser noch mannigfachen Schwierigkeiten 4) und selbst Elektrotechniker denken jetzt recht pessi- mistisch über die Aussichten ihres Gewerbes auf dem Lande. 5)

Aber hätten wir die elektrische Kraftübertragung nicht, wir müßten sie heute erfinden, denn zwei wichtige Probleme, die Elektrokultur Ä) und

') Im Falle des Ersatzes der Zugtiere durch elektrische u. a. Motoren, vgl. meine Berechnung, Archiv für soz. Gcsctzgebg. Bd. 17, S. 720 fr.

») „Australien hat noch unermeßlichen Raum zur Ausdehnung seiner Viehzucht." Die Landwirtschaft Australiens vom landwirtschaftlichen Sachverständigen in Sydney.

') David, S. 699.

*) Vgl. über die Schwierigkeiten bei Anwendung des elektrischen Pfluges, Backhaus, Das Versuchsgut Quednau, S. 131. Jedoch erklärte die Güterdirektion Marschwitz, daß der elektrische Pflug von Jahr zu Jahr sich besser einrichtet und mehr geleistet wird. Untersuchungen elektrischer Pfluganlagen. Bericht von In- genieur M. Schiller. (Arbeiten der D. L. G., Heft 85), S. 48.

*) Emil Krell er, Die Entwicklung der deutschen elektrotechnischen In- dustrie (Schmollers Forschungen, Bd. 22), S. 34.

°) Vgl. M. E. Guarini, L'etat actuel de lelectroculture (1903).

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die elektrische Bindung des Luftstickstoffs *) sind ihrer Lösung näher gerückt, und schon deshalb brauchen wir die Elektrizität auf dem Lande.

So notwendig eine weitere Verbilligung der Strompreise ist, so braucht man den Kostenpunkt nicht allzu ängstlich erwägen. „Denn es handelt sich um allmähliche Bessergestaltung des Landlebens überhaupt, um die Förderung einer intensiveren Kultur. " *) Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, daß das bereits abgeschwächte Interesse am elektrischen Betriebe sich bei den Landwirten gänzlich verliert.

Gleichviel! Die Herrschaft von Ochs, Pferd und Kuh, welche David für gesichert hält, wird auch von anderer Seite bedroht. Die Maschinenzeitung Nr. 21, 1903 bringt unter der Überschrift „Motor gegen Pferd" folgende Mitteilung: „Unaufhörliche Regengüsse während der Erntemonate haben dieses Jahr die Klagen über die Unrentabilität des Getreidebaues in England noch verstärkt. In der „Agricultural Gazette" hat sich daraufhin eine Debatte entsponnen, wieweit die Ver- wendung eines Petroleummotors für die gesamte Bestellungs- und Ernte - arbeit die Produktionskosten verbilligen könne. Ein Herr John Scott aus Edinburgh geht von der extremen Voraussetzung aus, daß sich sämtliche landwirtschaftliche Arbeiten auf einer 400 acres großen Farm mit einem Motortractor bewältigen ließen. Er berechnet das Inventar nach der alten Wirtschaftsweise auf 15260 Mk., auf 11 300 Mk. nach der neuen Methode und nimmt an, daß die bisherigen Arbeitskosten von 75 Mk. für 1 ha sich auf 38 Mk. bei Motor Verwendung ermäßigen lassen." Die Berechnimg im einzelnen wird angefochten, jedoch fügt das deutsche Fachblatt hinzu: „Die Frage der Motorverwendung für die Ackerarbeit wird jedenfalls auch bei uns nicht sobald aus der öffent-

M Durch zwei verschiedene Methoden werden aus der Atmosphäre Kalk* Stickstoff und Flammenbogenstickstoff hergestellt, die beide zur Düngung an Stelle von Salpeter dienen sollen. Vgl. F. v. Lcpel, Die Bindung des atmosphärischen Stickstoffs insbesondere durch elektrische Entladung (1903). E. Büchner, Be- ziehungen der Chemie zur I^ndwirtschaft S. 8 u. 9. Ich bemerke bei dieser Ge- legenheit, daß der Vorschlag, elektrochemische Fabriken auf dem Land zu bauen, um die landwirtschaftliche Benutzung der Elektrizität zu erleichtern, nicht von mir herrührt, sondern von P. Mack, Der Aufschwung unseres Landwirtschaftsbetriebes durch Verbilligung der Produktionskosten, S. 50. Vgl. übrigens jetzt v. Lepcl, S. 41, „Man kann annehmen, daß sich eine Salpetersäure- oder eine Ammoniak- industrie ausbilden wird. Ja. man kann noch weiter gehen. Die Apparatur bei Benutzung der Flamme ist eine relativ einfache. Es ist also vielleicht erreichbar, daß sich jedermann, der will, seinen Bedarf an Stickstoffverbindung selbst her- stellen kann."

*) Nach einem Vortrag von R. Hcmpel kann durch Gründung von Elcktri- zitätsgenossenschaften die Maschinenarbeit in der Landwirtschaft zur Verminderung der Produktionskosten verwendet werden. Mitt. d. D. L. G. 1903, Stück 27.

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liehen Diskussion verschwinden." Es gibt bereits Spirituspfluge, Spiritus- kraftwagen, mit Benzin betriebene Mähmaschinen und Kultivatoren mit Petroleummotor. ») Ein neuer Maschinentypus ist im Entstehen begriffen, die automobile Feldmaschine. 2)

Mag diese noch unvollkommen sein, sie interessiert uns hier nur als Symptom, als Anzeichen, daß eine Umwandlung der alten Betriebs- form sich vorbereitet. Auf dem einen oder anderen Wege kommt es zum Ersatz von mehr und mehr Hand- und Gespannarbeit durch Ma- schinen und Motoren. Dann kann die landwirtschaftliche Manufaktur, der halbe Großbetrieb, der bisher herrschte, zu einem ganzen wirklichen Großbetrieb auswachsen und zu einer neuen Blüte gelangen. Freilich nach Davids Ansicht ist der Fortschritt des landwirtschaftlichen Maschinen- wesens recht belanglos. Die Bedeutung der Handarbeit wächst immer mehr, je intensiver der Betrieb wird, während die Maschinenarbeit auf den höchsten Stufen der Bodenkultur ganz verschwindet.8) David wirft hier die verschiedenen Arten von Handarbeit zusammen. Der Bedarf an qualifizierter Pflegearbeit für Pflanzen und Tiere wird bei intensivem Betrieb allerdings zunehmen, während die rohe Handlangerarbeit eher abnimmt In der Industrie ist es übrigens nicht anders. Die hoch- feinen Qualitäts- und Luxusprodukte werden auch bei größter Entwick- lung der maschinellen Prozesse durch Handarbeit hergestellt.4)

„In der Landwirtschaft handelt es sich um die Entwicklung lebender Wesen. In der Industrie um die Verarbeitung toter Dinge." 5) Mit solchen Antithesen ist nicht viel gewonnen. Auch in der Industrie spielen biologische Prozesse eine Rolle. Man denke an das Gärungs- gewerbe und die Herstellung der Sera in den Farbwerken.

Und läßt etwa die wissenschaftliche Landwirtschaft die Organismen sich unbeeinflußt entwickeln, und wird die Natur nur durch Gehorsam bezwungen? Es sind keine geringen Eingriffe, sucht man doch neuer- dings sogar das Wachstum der Bakterienflora des Bodens teils zu fördern, teils zu stören. Ein gegen heute sehr vervollkommnetes Maschinen-

') G. Kühne, Deutsches und englisches landwirtschaftliches Maschinenwesen. Mitt. d. D. L. G. 1903, Stück 47, N. Wender, Die Verwertung des Spiritus für technische Zwecke, Kap. 7 u. 8.

3) ,,Ein Automobil leistet so viel wie 64 Bauernwagen", Vortrag des Haupt- mann v. Tlaskal in Wien.

') David, S. 654. Wenn David zum Beleg auf die Unmenge Handarbeit in der Rübenkultur verweist, so kann sich gerade hier das Bild leicht ändern. In Jetiter Zeit sind drei Patente auf Rübenköpfmaschinen genommen worden, sogar die schwierige Konstruktion einer Rübenverziehmaschine wird versucht.

*) Herstellung von Büttenpapier, feinen Schuhwaren durch Handarbeit. Vgl. S. und B. Wcbb, Arch. für suz. Gesetzgebung Bd. 10, S. 112 ff.

>) David, S. 70.

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system, die immer stärkere Beherrschung der Tier- und Pflanzenproduktion, das sind die großen Ziele, die der Landwirtschaft winken. Bisher war überwiegend der Großbetrieb der Träger des landwirtschaftlichen Fort- schrittes. Und warum sollte dies in Zukunft anders sein?

Da sollten wir in den Ruf einstimmen: Zerschlagung des Groß- betriebes und Schaffung von kleineren Betrieben auf seinen Ruinen? Was wäre aus unserer Technik, was wäre aus unserem modernen Leben geworden, wenn etwa in den 40 er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die eben zur Großindustrie sich entwickelnde Manufaktur zum Hand- werk zurückgeschraubt worden wäre ?

Freilich hat der landwirtschaftliche Großbetrieb die wichtigste und für seine Fortentwicklung entscheidende Frage, die Arbeiterfrage nicht gelöst. Diese wird um so bedeutungsvoller, je mehr die Landwirtschaft Qualitätsprodukte herstellt und ein kompliziertes maschinelles wie chemisches Verfahren an Stelle einer primitiven Technik tritt. „Der Landwirt von heute, der mit dem kostbarsten Material arbeitet, ge- braucht eine zuverlässige, zu den höchsten Leistungen befähigte, auf sein Interesse bedachte Arbeiterschaft". *) Angeblich soll das patriarcha- lische System befriedigende Arbeiterverhältnisse besessen haben. a) Seit- dem aber die patriarchalische Wirtschaft mehr und mehr sich auflöst, ist es nicht zweifelhaft, daß die Landwirtschaft eine ganz anderen Zeiten entstammende Arbeitsverfassung nicht wie ein rudimentäres Organ herum- schleppen kann.

David proklamiert die Notwendigkeit des Klassenkampfes für die Landarbeiter. Heute nennt Paul Karapffmeyer den Klassenkampf eine Begleiterscheinung des gesellschaftlichen Fortschrittes und sieht diesen hauptsächlich in der Ausweitung der Produktivkräfte begründet.3) Wenn letztere in der Landwirtschaft sich ungehemmt entfalten, wozu allerdings in dieser schwierigen Übergangsperiode einige Ruhe gehört, dann wäre es denkbar, daß eine Hebung der Landbevölkerung statt- finden könnte, ohne daß alle die zum Teil verlustvollen Phasen der in- dustriellen Arbeiterbewegung sich wiederholen. Daß die Landwirtschaft in ihrer heutigen Verfassung keine Arena für Kraftproben abgeben kann, sieht übrigens David selbst ein. Er sagt, so wenig eine Industriekrisis

') Neue Pr. Ztg. Nr. 603 vom 25. Dezember 1903.

r) Man beobachtet denn auch, zumal auf den alten Familiengütern, daß der Arbeiter, der solcherart dem Gesichtskreis des Herrn näher gerückt war, sich ein- gehender Fürsorge für sein leibliches und geistiges Wohl erfreuen durfte." Neue Pr. Ztg. Nr. 603 vom 25. Dezember 1903. Patriarchalische und kapitalistische Wirt- schaft — im Reinecke Fuchs wird das patriarchalische System anders beschrieben : „Unser Herr ist der Löwe, und alles an sich zu reißen, hält er seiner Würde gemäß. F.r nennt uns gewöhnlich Seine Leute.** 3) Soz. Monatshefte 1903, Nr. 9 S. 669.

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O. Frings heim, Kritische Anmerkungen zur revisionistischen Agrarpolitik. 43 j

für die industrielle Arbeiterschaft von Vorteil ist, so wenig erleichtert das Darniederliegen der Landwirtschaft dem landwirtschaftlichen Lohn- arbeiter die Existenz. r)

Für David vereinfacht sich die Arbeiterfrage ungemein. Er schreibt den Landarbeitern nur einen Wunsch zu, Sehnsucht nach Land und Streben nach eigener Wirtschaft. Nun ist notorisch dieser Wunsch bei einer Anzahl von Arbeitern nicht vorhanden, bei anderen fehlt die notwendige Befähigung zur eigenen Wirtschaftsführung. Erwürbe übrigens die ganze Arbeiterschaft Grundbesitz, so wäre die Existenz des Groß- betriebes gefährdet und Davids Vorschlag ist daher nicht weiter diskutabel.

m.

Eine außerordentlich wichtige Rolle schreibt David dem land- wirtschaftlichen Genossenschaftswesen zu. „Die Produzenten -Ge- nossenschaft übernimmt, ohne den eigentlichen Landwirtschaftsbetrieb an- zutasten, die zweckmäßigere, planmäßigere Gestaltung der Bezugs- und Verwertungsarbeit. Im weiteren Ausbau dieser genossenschaftlichen Or- ganisation entsteht ein Organisationssystem größten Maßstabs, das den Kleinbauer in unmittelbaren Verkehr zum Zentralmarkt bringt. Die einzig große Bewegung genossenschaftlicher Art, die wir auf landwirt- schaftlichem Gebiete sehen, ist die produzentengenossenschaftliche Organi- sationsbewegung, die den selbstwirtschaftenden Bauer mit seinesgleichen

zusammenführt In dieser Bewegung pulsiert der landwirtschaftliche

Fortschritt, in ihr vollzieht sich die Umwälzung des alten isolierten in den modernen organisierten Landwirtschaftsbetrieb."

„Die genossenschaftliche Bewegung legt ein glänzendes Zeugnis ab für die Fortschrittsfähigkeit der Bauernschaft."

David beziffert die landwirtschaftlichen Genossenschaften in Deutschland auf über 17000. Er entwirft eine begeisterte Schilderung ihres raschen Wachstums und ihrer heutigen Wirksamkeit. Die revisio- nistischen Paradepferde, die dänischen Butter- und Eierverkaufsgenossen- schaften *) werden vorgeführt, sogar der Bund der Landwirte muß auf- marschieren.

So wenig die großen Leistungen der ländlichen Genossenschaften verkannt werden sollen, so sehr ist eine kritische Würdigung geboten. Es ist leider nicht alles Gold, was genossenschaftlich glänzt, nicht jede Genossenschaft ist ein ökonomischer Fortschritt. Professor Backhaus bemerkt hierüber: „Überall ließ sich die Erfahrung machen, daß die Genossenschaft immer relativ schwerfälliger als das Einzelvorgehen ist,

»j David, S. 326.

*) David gibt den Wert des dänischen Butterexportes für 1900 mit 120 Mill. Kr. an. Ein Teil der exportierten Butter stammt jedoch aus dem Ausland.

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432

Miszellen.

und daß daher immer da, wo wirtschaftliche Unternehmungen durch private Initiative durchgeführt werden können, der Erfolg größer ist, als beim genossenschaftlichen Vorgehen. Es werden meistens durch die Genossenschaft die Geschäfte schleppender, die Unkosten größer, die Leistungen geringer, als bei dem Einzelunternehmen. Bei einer Ent- wässerungsgenossenschaft wurde beobachtet, daß die Ausführung der Arbeiten dreimal solange dauerte und vielleicht zweimal so viel kostete, als wenn von den einzelnen Interessenten die Entwässerung durchgeführt worden wäre. ')

Auch die Begeisterung und Befähigung der kleineren Produzenten zur genossenschaftlichen Arbeit ist nicht so allgemein, als David voraus- setzt. Sehr lehrreich sind folgende Bemerkungen von Grabein, General- sekretär des allgera. Verbandes landw. Genossenschaften: „Die Kornhaus- genossenschaft Hanau berichtet : Die Bauern sind so bequem in hiesiger Gegend, daß sie nicht mal die Säcke vom Boden herunter tragen mögen und das Getreide zum Kornhaus fahren. Es ist dies ein in gewisser Beziehung bedauerlicher Umstand, der dem Kornhaus viel Getreide ent- zieht. — Bei den Großgrundbesitzern war in den meisten Fällen die Kenntnis der Marktlage eine genauere, die Behandlung des Erdrusches eine bessere, als bei den kleinen Landwirten, und war zudem die Möglich» keit der Lieferung größerer Posten gegeben. Es ist naturgemäß leichter, etwa 1 00—200 größere Besitzer zu einer großen Kornhausgenossenschaft zu vereinigen, als die zehnfache Zahl von kleineren Besitzern, die er- forderlich wäre, um ein Kornhaus von den gleichen Dimensionen ge- nügend auszunützen. Auch wird die geschäftliche Leitung eines solchen aus Tausenden von kleineren Genossen bestehenden Unternehmens eine sehr verwickelte. Mangel an genossenschaftlichem Sinn zeigte sich besonders in der öfters bei Absatzgenossenschaften aller Art beobach- teten Erscheinung, daß die Genossen dem Lagerhaus nur das minder- wertige Getreide zum Verkauf anboten." -)

In letzter Zeit haben sich die Mißstände im landw. Genossenschafts- wesen gehäuft, daß man nicht an zufällige Erscheinungen glauben kann. :Ji In Bayern wurde über Vettern und Basenwirtschaft geklagt, die in den

') Backbaus, Das Versuchsgut Quednau, S. 265. „Wahrscheinlich vollzieht sich der Absatz durch die Vermittelung des privaten Handels ebenso billig, wie es durch den Verwaltungsapparat einer Genossenschaft geschehen könnte." Holl- mann, Die Landwirtschaft im Kreise Bonn, S. 176.

*) M. Grabein, Stand und Erfolge des genossenschaftlichen Getreideverkaufs in Deutschland (Deutsche landw. Genossenschaftsbibliothek Bd. 6, S. 48, 58, 19 u. 75.

*) Die schlimmsten Mißstände enthüllt die Denkschr. betr. die Haupt-Ein- und Verkaufsgenossenschaft für Getreide und landw. Bedarfsartikel filr Westfalen zu Dortmund. Wechselreiterei, falsche Bilanzen und Protokolle, arglistige Täuschung fallen dem Vorstand dieser verkrachten Genossenschaft zur Last

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O. Pringsheim, Kritische Anmerkungen zur revisionistischen Agrarpolitik. 433

Raiffeisenvereinen herrsche. Leichtsinnige Gründung von Genossen- schaften und andere Übelstände wurden in der Provinz Posen kon- statiert. — Selbst von den Molkereigenossenschaften erklärte jüngst Geheimrat Werner, daß sie ihren Höhepunkt überschritten hatten. „Am gefährlichsten für die Entwicklung der Rinderzucht erweisen sich die in den naturgemäßen Zuchtgebieten Norddeutschlands immer zahlreicher auftretenden Molkereigenossenschaften, weil sie die Aufzucht zurückhalten und geradezu ruinös dort wirken, wo sie die Milch unter den Selbst- kosten bezahlen." l)

David feiert die landwirtschaftlichen Genossenschaften als Pflanzen- schulen genossenschaftlichen Geistes und deutet sogar an, daß der Sozia- lismus in sie Eingang finden könne. Er hätte sich erinnern sollen, daß Bernstein diese Genossenschaften als Tummelplatz aller antisozialistischen Elemente bezeichnet hat. *) In der Tat sind viele dieser Genossen- schaften unter dem Patronat bestimmter politischer Parteien entstanden. Dazu kommt eine so kräftige Staatshilfe, daß schon die Berliner Handels- kammer gegen diese Politik Einspruch erheben mußte.8) Auch der Großgrundbesitz hat dazu beigetragen, die Genossenschaften, die an- geblich aus freier Entschließung der Bauern entstandenen Schöpfungen zu fordern. „Es muß mit Dank anerkannt werden, bemerkt Eschenbach ausdrücklich, daß der Großgrundbesitz sich vielfach um die Gründung derartiger Genossenschaften selbst, sowie ihre Leitung, sehr verdient ge- macht hat, wenn er auch selbst ebenso der Teilnahme an den Vorteilen entsagte . . . Gerade die allerersten und schwersten Anfänge wären wahrscheinlich überhaupt nicht zustande gekommen, wenn nicht der Groß- grundbesitz in den betreffenden Gegenden sich der Gründung von der- artigen Kassen angenommen hätte.4) Sollte plötzlich ein anderer Geist in die Genossenschaften einziehen, so würden sie viel von ihrem Einfluß verlieren. Würde etwa die Ansiedlungskommission mit dem Raiffeisen- verbande zusammenwirken, wenn er sozialdemokratisch wäre?

David verficht mit großem Eifer einen an sich sehr schönen Ge- danken. Er schlägt vor, daß die bäuerlichen Produzentengenossenschaften den städtischen Konsumvereinen die Hand reichen, und daß diese oder

') Geheimrat Werner, Reiseerfahrungen aus deutschen Zuchtgebictcn. Illustr. landw. Ztg. Nr. 100 (1903). Weitere Polemik über diese Frage Illustr. landw. Ztg. 1904, Nr. 2 und folgd. Nrn.

*) F.. Bernstein, Voraussetzungen S. 1 58.

*) Vgl. auch H. Pott ho ff, Handel und Genossensch, in der Landw. (Das freie Wort 1904 Nr. 23.)

*) Eschenbach, Genossenschaftliche Erfahrungen, zugleich Geschäftsbericht der landw. Provinzial-Genossenschaftskasse für die Mark Brandenburg für das Jahr 1902 p. 16. Für die Mitwirkung des Großgrundbesitzes ist es auch bezeichnend, daß der schlcsische Bauernverein jüngst unter dem Vorsitz eines Reichsgrafen tagte. Archiv für Soziatwis«en«chaft u. Soxialpolitilc. I. (A. f. tot. G. u. St. XIX.) 2. 28

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Miszellen.

ihre Einkaufsgesellschaften direkte Abnehmer für landwirtschaftliche Pro- dukte werden. Ohne diese Verbindung ist der Absatz zu angemessenen Preisen ein schwieriges, unsicheres und risikoreiches Stück Arbeit auch für die ländlichen Genossenschaften.

So bestechend die Idee Davids ist, so wenig dürfte sie eine Besserung der landwirtschaftlichen Marktverhältnisse in absehbarer Zeit herbeiführen. Ein Teil der landwirtschaftlichen Erzeugnisse dürfte kaum für eine überwiegende Arbeiterkundschaft geeignet sein. *) Was kann diese überhaupt bedeuten, wenn der Gesamtumsatz der deutschen Konsum- vereine 200 250 Millionen betrug gegenüber einer landwirtschaftlichen Gesamtproduktion von 7,5 Milliarden Mk.? Wenn David auch die bäuerliche Bevölkerung In die Konsumvereine aufgenommen wissen will, so ist daran zu erinnern, daß nur etwa 32000 Landwirte sich unter 424275 Konsumvereinsmitgliedern befanden.

Im günstigsten Falle handelt es sich um die Eskomptierung einer für Deutschland noch entfernten Zukunft

Überall in Stadt und Land Produzentengenossenschaften im Verein mit Konsumentengenossenschaften, beide zusammengefaßt durch den eisernen Ring der Parteiorganisation, welch verlockender Gedanke. Die heute schon vorhandenen Schwierigkeiten der Gründung und Leitung vielköpfiger Genossenschaften würden bei Hunderttausenden von Klein- bauern und Häuslern progressiv wachsen. Daß die bereits heute so schädliche Verquickung von politischer Agitation und wirtschaftlicher Arbeit in den unter Parteieinfluß stehenden Genossenschaften der Zu- kunft erst recht sich geltend machen würde, auch davon schweigt der Verfasser.

David konnte auf keine höhere Warte steigen, als auf die Zinne seiner Partei. So ist trotz anerkennenswerten Fleißes und vieler wert- voller Einzelausführungen kein wesentlicher Fortschritt über die marxis- tische Auffassung der Agrarfrage hinaus zu verzeichnen.

Um so mehr tritt jetzt an die Wissenschaft die Aufgabe heran, eine neue Agrartheorie zu schaffen und aus den einzelnen Bausteinen ein solides, vor politischen Stürmen gesichertes Gebäude aufzuführen.

') Im Jahre 1893 wurde zu Damery eine Winzergenossenschaft gegründet, welche noch gegenwärtig unter dem Namen „Pur Champagne" besteht. „Die Ge- nossenschaft hat sich seit 1898 der französischen Arbeiterpartei angeschlossen. Sie hat das ohne Zweifel in der Absicht getan, auf diese Weise mit den Arbeiter-Kon- sumvereinen leichter Geschäftsverbindungen anzuknüpfen. Es ist ihr auch gelungen, verschiedene Konsumvereine als ständige Abnehmer zu gewinnen. Dafl die Ge- nossenschaft hierbei eine besonders gute Kundschaft erworben hat, ist vom rein geschäftlichen Standpunkt aus nicht anzunehmen, denn im allgemeinen sind auch in Frankreich die Arbeiter keine Champagnertrinker." Arno Pfütze, Die land- wirtschaftlichen Produktiv- und Absatzgenossenschaften, S. 5S.

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435

Die Preise der Konsumvereine und der Detaillisten.

(Preisvergleichende Untersuchung für Frankfurt a. M.)

Von

F. WETZLAR-KILZER

in Frankfurt a. M.

Seit Jahren führen die Kleinhändler und Mittelstandsfreunde einen erbitterten Kampf gegen die Konsumvereine. In Wort und Schrift werden allerlei Schäden und Nachteile, welche die Konsumvereine an- geblich im Gefolge haben, angegriffen. Mängel, welche ab und zu tat- sächlich vorkommen, werden nicht selten verallgemeinert und übertrieben. Naturgemäß haben diese Angriffe die Konsumvereine selbst zu leb- haftestem Widerstand entfacht, auch sie vertreten in Wort und Schrift ihre Interessen und auch da fehlt es nicht an Einseitigkeiten in der Begründung.

Unter diesen Umständen ist es schwer, sich ein wahrheitsgetreues Bild über eine Reihe von Vorgängen im Konsumvereinsleben zu schaffen.

Am wenigsten geklärt ist noch die Frage, wie sich die Preise und Gewichte in den Konsumvereinsläden zu denjenigen bei den anderen Formen des Nahrungsmittelverschleißes verhalten.

Während die Krämer behaupten, daß die Preise in den Konsum- vereinsläden vielfach teurer, jedenfalls aber nicht billiger seien als in ihren eigenen, verneinen dies nicht nur die Anhänger der Konsumvereins- bewegung, sondern sie sagen, daß im Konsumvereinsladen immer volles Gewicht gegeben wird, im Gegensatz zu den Gegnern, und daß selbst bei gleichen Preisen das Konsumvereinsmitglied noch den Anspruch auf Dividende am Jahresschluß habe.

Welche dieser Behauptungen zutreffen, wird sich allgemein für ganz Deutschland nicht eher entscheiden lassen, als bis eine Reihe von preis- vergleichenden Untersuchungen in zahlreichen Orten stattgefunden hat, deren Konsumvereine möglichst große Verschiedenheit der Mitglieder-

28»

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Miszcllen.

zahl, des Umsatzes und der Geschäftsführung zeigen und wo auch die sonstigen Lebensbedingungen möglichst von einander differieren. Man wäre alsdann wohl berechtigt, aus den erhaltenen Resultaten eine Be- urteilung der Konsumvereinsfrage zu begründen.

Ein Versuch der Preisvergleichung, der sich vorerst nur auf zehn Artikel der Lebensmittelbranche erstreckte, mit Berücksichtigung der Qualitäts- und Gewichtsfrage, ist vor kurzem in der Stadt Frankfurt M. unternommen worden. Ehe wir auf die Methode dieser Untersuchung und deren Ergebnisse näher eingehen, ist es notwendig, die in hiesiger Stadt obwaltenden Verhältnisse des Nahrungsmittelverschleißes kurz zu erwähnen. Es teilen sich darin verschiedene Konsumvereine und in überwiegender Weise das Privathändlertum. Der Konsumverein, dessen Laden wir unsere Proben entnahmen, besteht seit dem Jahre 1900. Seine Mitgliederzahl war am Schlüsse des ersten Geschäftsjahres 2046 gegen 3536 am Schlüsse des dritten (Juni 1903). Der Gesamtumsatz betrug während des ersten Geschäftsjahres in 643 Mk. gegen 377 021 Mk. während des letzten. Die Zahl der Verkaufsstellen ist von 3 auf 11 gewachsen. Außer den Konsumvereinen mit eigenen Läden bestehen auch noch eine Reihe von Rabattkonsumvereinen, sog. Familienver- einigungen. Das Privathändlertum hat verschiedenartige Gestalt ange- nommen und zeigen die einzelnen Arten scharf ausgeprägte Unterschiede. Man findet Großdetaillisten mit einem großen, gewöhnlich in bester Ge- schäftslage befindlichen Laden; sie suchen ihre Kundschaft hauptsäch- lich unter den wohlhabenden Klassen, und sind bestrebt, dem Bedürfnis nach Waren kostspieligster Qualität und der Bequemlichkeit, welche durch einen ausgedehnten Wagendienst erreicht wird, zu genügen.

Diesen Großdetaillisten steht der Großdetaillist gegenüber, welcher zahlreiche kleinere Läden in der Stadt und Umgegend unterhält. Eine großkapitalistische Betreibung des Kleinhändlergeschäftes, welche gleich dem Konsumverein am Prinzip des Verkaufs gegen bar festhält.

Die Kleinhändler endlich besorgen größtenteils die Warenvermittlung an den wirtschaftlich schwächeren Konsumenten, dem sie, wenn es not tut, Kredit gewähren. Es gibt ihrer eine große Anzahl am Platze und zahlreiche Abstufungen je nach der Lage: Peripherie, Innenstadt, Ost oder West und die Konkurrenz unter ihnen ist eine scharfe. Es gibt dann natürlich noch eine ganze Reihe von mittleren Geschäften. Auch befassen sich die Warenhäuser und Großbazare mit dem Verkauf von Lebensmitteln.

Unsere Aufgabe lag also darin, Waren bei je einem typischen Ver- treter dieser Geschäi'tsgattungen zu kaufen und Preis, Quantität und Qualität einander gegenüberzustellen.

Gekauft wurden solche Kolonialwaren und Landesprodukte, die täg- lich im Haushalte gebraucht werden und deshalb einer Untersuchung keine Schwierigkeiten boten. Es wurden in den verschiedenen Läden

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F. Wctzlar-Kilzer, Die Preise der Konsumvereine und der Dctaillisten.

437

entnommen : Gerste, Linsen, Sago, grüne und gelbe Erbsen, weiße Bohnen, gemahlener Zucker, Hafergrütze, Gries, Reis, und zwar wurden verlangt je */« pfd. Bei dem Warenhaus mußte eine Ausnahme gemacht werden, da die verlangten Waren nur in schon abgewogenen Paketen von mindestens einem Pfund erhältlich waren. Die Lieferanten waren:

1. Der Konsumvereinsladen.

2. Kleinhändler 1 1 beide in unmittelbarer Nähe des Konsum-

3. Kleinhändler II J vereinsladens.

4. Kleinhändler in der Altstadt.

5. Großdetaillist, der seine Kunden unter den wohlhabenden Klassen findet

6. Großdetaillist mit Filialen in verschiedenen Teilen der Stadt.

7. Ein Warenhaus.

Der Einkauf geschah unauffällig durch dritte Personen, die wiederum nicht wußten um was es sich handle, so daß der Zweck in keinem Falle erkannt werden konnte.

Die eingekauften Waren wurden zunächst mit und ohne Papier- hülle gewogen, sowie die Preise notiert, sie und die gefundenen Ge- wichte sind aus Tabelle I ersichtlich. Es war also der durchschnittliche Preis von Pfd. Ware:

im Warenhaus 10,35 Pfg-

beim Großdetaillist mit Filialen 10,50

Konsumverein 11,20

Kleinhändler 1 11,40

Kleinhändler in der Altstadt 11,50

Kleinhändler II 11,66

Großdetaillist 15,25

Wir sehen daß am billigsten das Warenhaus verkaufte, es folgt an zweiter Stelle der Großdetaillist mit Filialen, an dritter der Konsum- verein und hinter ihm reihen sich die verschiedenen Kleinhändler und an letzter Stelle der Großdetaillist an. Bei diesem muß jedoch bemerkt werden, daß er auf Wohlfeilheit keinen Anspruch macht.

Es zeigte sich auf durchschnittlich 250 Gramm

beim Großdetaillisten ein Mindergewicht von 0,50 Gramm

Warenhaus 1,80

Kleinhändler 11 2,06

in der Altstadt 2,75

Konsumverein 3,70

Großdetaillisten mit Filialen 6,60

Kleinhändler I Mehrgewicht 8,70

Nachdem diese Berechnungen zu Ende geführt waren, wurden Proben von den gekauften Waren entnommen, mit einer Nummer ver-

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438 Misiellen.

Tabelle

Konsumverein

Kleinhändler I

Kleinhändler II

Artikel

brutto

Tara

VT «Ii

iNetto

Preis pro Pfd.

nrutlo

Tara

iVCltO

Preis pro Pfd.

Brutto

Tara

-Netto

Preis pro Pfd.

gr

gr

gr

gr

gr

gr

gr

gr

gr

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6

246

20

273

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26

253

57.

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6

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26

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20

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6

246

24

270

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2637.

28

253

57.

2477.

24

Grüne Erbsen ....

256

6

250

24

259

67.

252V.

28

t

t

t

t

Gelbe ....

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6

244

18

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24

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24

Weifie Bohnen . . .

252

6

246

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16

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57.

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20

Gemahlener Zucker . .

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6

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24

Gries

6

245

20

262

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20

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57.

248 V.

22

Reis

254

6

248

32

263

67.

2567s

24

253

57.

2477«

24

Summa ....

Durchschnitt

Durchschnittspreis pro •/» Pfd.

2523 252.3

60 6

2463 246,3

224 22,4

11,20

2652 265,2

65 67*

2587 258,7

228 22,8

n,4o

2281 253.44

497« 51,

2231 v* 247,94

210 23.33

11,66

f) war nicht erhältlich.

•) war eine Mischung von Sago und Gerste.

sehen und einem im praktischen Leben stehenden Sachverständigen zur Prüfung vorgelegt.

Er hat den Detailmarktwert einer jeden geprüften Ware so genau als möglich festgestellt. Das Ergebnis findet sich in Tabelle II und zwar in Kolumne 1 der tatsächlich gezahlte Preis jeder Ware, und in Kolumne 2 der Detailmarktwert jeder Ware. Kolumne 3 enthält das prozentuale Verhältnis des Preises zum Marktwert, dort zeigt sich also, wenn der tatsächlich bezahlte Preis den Detailmarktwert übersteigt, eine Zahl über 100 und wenn der bezahlte Preis unter dem Detailmarkt- wert bleibt eine solche unter 1 o o.

Als Erläuterung diene folgendes Beispiel:

Beim Konsumverein kostete das Pfd. Gerste 20 Pf., der Marktwert ist 24 Pfg. Der Käufer bezahlte nur 83,33 Proz. des Detailmarktwertes.

Beim Kleinhändler II ist der Preis desselben Artikels 26 Pf. pro Pfd. und der Marktwert 24 Pfg. Der Käufer bezahlte also 108,33 Proz. des Mark wertes.

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F. Wetzlar-Kilzer, Die Preise der Konsumvereine und der Detaillistcn. 439

I.

Kleinhändler in Altstadt

der

Großdetaillist

Großdctaillist mit Filialen

Warenhaus

brutto

t

-

•Netto

Preis pro Pfd.

Urutto

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Preis pro Pfd.

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2

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Preis pro Pfd.

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ß

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Netto

Preis pro Pfd.

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184

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65

2495

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63

2434

210

5057

75

4982

207

256,25

9

247,25

23 11,50

256

6'/,

1

249,5

30,5 15,25

249,7

6,3

243,4

21 10,50

505J

77,

498,2

20,7 »0,35

Die auf diese Weise erhaltenen Resultate im Durchschnitt und der Höhe nach genannt sind

beim Warenhaus 88,48 Proz. des Detailmarktwertes

>>

Großdetaillisten mit Filialen

98,42

M

»

Konsumverein

102,91

»

M

»»

Kleinhändler I

»•

»>

f

Kleinhändler 11

126,96

•>

M

"

>>

Großdetaillisten

134,24

»»

"

Kleinhändler in der Altstadt 137,67

»

Wir sehen also, daß relativ am billigsten das Warenhaus verkaufte, es folgt an zweiter Stelle der Großdetaillist mit Filialen, an dritter Stelle der Konsumverein und hinter ihm reihen sich die verschiedenen Klein- händler und der Großdetaillist an.

Werfen wir nun einen Rückblick auf das Ergebnis unserer Unter- suchung, so finden wir bezüglich der Gewichtsfrage, daß soweit also Frankfurt in Betracht kommt, bei allen untersuchten Formen des Nahrungsmittelverschleißes mit einer Ausnahme, kleine Fehlbeträge im Gewicht sich zeigten.

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440

Miszcllen.

Tabelle

Konsumverein

Kleinhändler I

Kleinhändler II

Artikel

Preis Detail- pro markt- Pfd. wert

Der Preis beträgt

Proz. des DMW.1)

Preis Dro Pfd.

Detail - markt- wert

Der Preis beträgt

Proz. des DMW.

Preis pro Pfd.

Detail- markt- wert

Der Preis beträgt

Proz. des DMW.

A.

A

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20

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24

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24

24

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26

20

130, -

20

17

117,65

24

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160,-

24

22

109,09

28

22

127,27

24

20

120,

Grüne Erbsen ....

24

26

92,30

28

16

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Gelbe

18

18

100,—

24

20

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24

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Weiße Bohnen . . .

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16

16

100,—

20

16

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Gemahlener Zucker . .

24

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109,09

22

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104,76

24

21

ii 4,29

Hafergrütze ....

20

22

90,90

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Griefl

20

20

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20

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22

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24

20

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Summa ....

224

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228

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1153,67

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1 142,62

Durchschnitt . .

22,4

22,2

102,91

22,8

20,2

115.36

23.3

18,8

126,96

l) DMW. = Dctailmarktwert.

•) war eine Mischung von Sago und Gerste.

f) nicht erhältlich.

Hinsichtlich der absoluten, sowie der relativen Wohlfeilheit ergab es sich, daß das Warenhaus und der Großdetaillist mit Filialen billiger und die Kleinhändler, sowie der Großdetaillist teurer als der Konsum- verein verkauften und muß bei dieser Gelegenheit bemerkt werden, daß bei allen Berechnungen die Dividende des Konsumvereins außer Betracht blieb (sie betrug bei dem in Frage stehenden Konsumverein 3 Proz. im letzten Geschäftsjahr). Für die allgemeine Befriedigung des Nahrungs- mittelbedürfnisses kommt in Frankfurt in anderen Städten wird dies auch der Fall sein das Warenhaus nur nebenher in Betracht, weil es der Natur der Sache nach im Herzen der Stadt gelegen sein muß, so daß die große Masse der Konsumenten wohl doch nur gelegentlich eines anderen Einkaufes Nahrungsmittel dort entnehmen wird.

Die allgemeine Befriedigung des Nahrungsmittelbedürfnisses durch den Großdetaillisten mit Filialen ist eine Form, die unseres Wissens außer in Frankfurt nur in einigen wenigen Großstädten zu finden ist.

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F. Wetzlar-Kilzcr, Die Preise der Konsumvereine und der üetaillisten. 44 1

IL

Kleinhändler in der Altstadt

Großdetail list

Großdetaillist mit Filialen

Warenhaus

Preis pro

A I VI*

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Der Preis

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Detail- markt-

Der Preis

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19

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27

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90

184

»33

1101,33

305

231

1343,42

210

215

984,22

207

244

884,89

23.0

16,6

137.67

30,5

23.10

134,34

21,0

21,5

98,42

20J

244

88,48

Es wird sich also an den meisten Plätzen um den Befund bei den Kleinhändlern und deren Abstufungen und den bei den Konsumvereinen handeln. Wie wir zu Beginn gesagt haben, wird ein endgültiges Urteil in der Streitfrage zwischen Konsumverein und Kleinhändler nicht eher zu fällen möglich sein, als bis zahlreiche Untersuchungen, ähnlich der unseren, ja wenn möglich noch eingehender, gemacht sein werden. Wenn unsere Ausführungen dies herbeiführen können, dann sind sie nicht vergeblich gewesen.

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442

LITERATUR.

Stein, Ludwig, Dr. ord. Professor der Philosophie an der Uni- versität Bern, Die soziale Frage im Lichte der Philosophie. Vorlesungen über Sozialphilosophie und ihre Geschichte. Zweite verbesserte Auflage. Stuttgart. Enke, 1903.

Die erste Auflage dieses Buches habe ich im „Archiv für syste- matische Philosophie" VI, 4 (1900) mit anderen Werken, die in das Gebiet der Soziologie und in die Jahre 1897 und 1898 fielen, ange- zeigt. Ich hatte dem Buche einen „ganz überwiegend exoterischen", sodann einen eklektischen und synkretistischen Charakter zugeschrieben. Ich hatte nachgewiesen, daß in der Anlage und in den Grundgedanken eine große Verworrenheit und widerspruchsvolle Unklarheit anzutreffen ist; ich hatte die Weichheit der Denkgesinnung hervorgehoben, und die Schreibart „vielfach geradezu schwülstig" genannt. Gleichwohl ist mir privatim von mehreren Seiten der Vorwurf gemacht worden, und zwar auch von Personen, deren Urteil dem Autor offenbar mehr gilt, als das meine, daß ich zu günstig, zu milde über das Buch geurteilt habe. Ich hatte mich allerdings bemüht, auch einiges Gute daran zu lassen, und hatte gelobt, was ich mit gutem Gewissen loben konnte und um gerecht zu sein, loben wollte.

Im Vorwort der neuen Auflage sagt der Verfasser, er sei den Kritikern der ersten durchweg zu großem Danke verpflichtet; Winke und Ratschläge, die ihm in der wohlwollendsten Weise für die zweite Auflage von mehreren Seiten erteilt worden seien, werde man beherzigt und dankbar verwendet finden. Winke und Ratschläge hatte ich nicht erteilt ; auf eine Wirkung meiner Kritik deuten also diese Worte nicht. Eis ist aber nicht nur für mich, sondern auch für die Sache von einigem Interesse, ob der Verfasser die schweren Fehler, die von mir an- gemerkt und gerügt waren, als solche erkannt und berichtigt habe.

Meine Ausstellungen bezogen sich hauptsächlich auf Plan und Ein- teilung des Werkes, also auf die Logik seiner Struktur. Ich konnte

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F. Tönnies: Stein, Ludwig, Die soziale Frage im Lichte der Philosophie. 443

keinen Sinn darin finden, „das soziale Zusammenleben der Menschen" den „3 Momenten einer sich von selbst einstellenden (??) philosophischen Betrachtungsweise" unterwerfen zu wollen, die vorgestellt werden als a) Ursprung alles menschlichen Gemeinschaftslebens, b) geschichtlicher Werdegang der sozialen Organismen, c) der augenblickliche Stand der sozialen Probleme und dies so auszuführen, daß der ganze zweite Abschnitt (S. 175 511 in 1. Aufl.), der das „Moment" b zu entwickeln bestimmt ist, nichts als den „Umriß einer Geschichte der Sozial- philosophie" enthält. Zu meinem großen Erstaunen muß ich be- merken, daß dieser grobe logische Fehler in der zweiten Auflage un- verändert wiederkehrt. Im Wesen unverändert. In der Form durch eine scheinbare Verbesserung verschlimmert. Seinem Quid pro quo hatte der Verfasser einen falschen Schein der Begründung dadurch zu geben versucht, daß er den „geschichtlichen Werdegang der sozialen Organismen" einen zwiefachen sein ließ: a) ihr unreflektiertes Wachs- tum, b) ihren reflektierten Zustand, der seit etwa 100 Jahren daher komme, daß der menschliche Geist das menschliche Gemeinschaftsleben dem unbewußten Wachstum entrücken „wolle", um es bewußt umzu- formen. Wie fadenscheinig diese Begründung war, brauche ich nicht zu erörtern; man sieht ja die Fäden. Die neue Auflage hat auf das Ge- wand ein paar Flicken gesetzt: statt von sozialen Organismen wird von sozialen Institutionen geredet, statt der immanenten Teleologie des Naturge- schehens (durch welche pompöse Künstlerin das unreflektierte Wachs- tum jener „vorgezeichnet" wurde) tritt jetzt einfach „der Gang" des Naturgeschehens auf übrigens alles beim alten. Aber ein neuer Satz ist hinzugekommen (S. 37), der die vielfachen Umschreibungen des „Planes" vermehrt. „Sobald es uns .... gelungen sein wird, den Ur- sprung menschlicher BeziehungsformeD aufzudecken [das soll den Inhalt des ersten Abschnittes bedeuten], werden wir in einem Abriß einer Ge- schichte der Sozialphilosophie den Werdegang der sozialen Institutionen, *so wie* 1 ) dessen * W i d e r s p i e g e 1 u n g* in den Köpfen der Denker zu schildern haben." Dieser Zusatz hält aber den Autor nicht ab, gleich nachher aus der ersten Auflage zu wiederholen: „im zweiten geschicht- lichen Abschnitt werden wir die soziologischen ^Gedankengänge* der führenden Kulturvölker von ihrem ersten durchsichtigen Cmpordämmern an bis zu ihren gegenwärtigen . . . Formen hinauf verfolgen." Dieses Wiederholte hat wenigstens den Vorzug, daß es den wirklichen literar- historischen Charakter des Abschnittes, wenn auch in geschwollenen Worten, ausdrückt. Jener Zusatz ist einfach unwahr. Von dem Werde- gang der sozialen Institutionen ist weder in den einundzwanzig Vorlesungen der ersten noch in den ebensovielen der zweiten Auflage die Rede. Oder sollen etwa die dürftigen Bemerkungen über den spartanischen Kommu-

j Die in Sternchen stehenden Worte sind im Original nicht hervorgehoben.

444

Literatur.

nismus (S. 148 -), über das Imperium romanum und den Universal episkopat (S. 192), über die französischen Nationalwerkstätten (S. 274), Bemerkungen, die nicht einmal den bescheidensten Anforderungen ge- recht werden, die man an eine Darstellung jenes „Werdegangs", wenn auch nur in seiner Bedeutung für die Geschichte der Sozialphilo- sophie stellen müßte, eine solche Darstellung ersetzen?! Vor der die „Widerspiegelung in den Köpfen" in die zweite Stelle zurücktreten würde? Wofür hält der Verfasser seine Leser?

Ich hatte in meiner Kritik auf noch einen anderen Versuch, dem Gedankengang eine Basis zu verleihen, hingewiesen. Stein unterscheidet „stabile" und „labile" Formen des Zusammenlebens („sozialen Zusammen lebens" sagt er, pleonastisch, wie fast in jedem Satze). Jene, nämlich „Familie und Eigentum, Gesellschaft und Staat, Sprache, Recht und Religion" seien gleichsam sozialer Wildwuchs; Regeln des Verhaltens, die das soziale Telos mit immanenter Logik „schaffe" dies soll sich also decken mit dem, was sonst „das unreflektierte, von der immanenten Teleologie des Naturgeschehens vorgezeichnete Wachstum der sozialen Organismen" genannt wurde. Hingegen wird nun deren „reflektierter Zustand" ausdrücklich und ausschließlich bezogen auf „Moral und Wissenschaft, Technik und Kunst": die moralischen künstlerischen und wissenschaftlichen Imperative („hingegen") seien „bereits" „A u s f 1 u ß der namentlich in der Philosophie zum Selbstbewußtsein gelangten, das Wesen dieser Befehle zergliedernden, und die Möglichkeit einer ge- flissentlichen Umbiegung derselben erwägenden menschlichen Vernunft". (In der 2. Aufl. dieselben Sätze, nur ist statt „Ausfluß" „Wirkungen" eingesetzt). Ich hatte darauf aufmerksam gemacht, daß nach dem Zu- sammenhange, und namentlich nach dem Absätze, der den „ersten Ab- schnitt" beschloß, verstanden werden müsse, Moral und Wissenschaft, Technik und Kunst seien durch sozialphilosophische Reflexion ins Leben gerufen oder bewirkt oder erzeugt. Nach dem Schlußsatze sollte eine geschichtliche Skizze des sozialphilosophischen Ideenganges der Mensch- heit uns in den Stand setzen, die Spiegelungen der sozialen Funktionen in den Köpfen der bedeutsamsten Sozialphilosophen zu beobachten, sowie die bisher zutage getretenen Vorschläge zur Umformung dieser sozialen Funktionen kennen zu lernen. Als soziale Funktionen werden hier die Dinge bezeichnet, die sonst Formen des sozialen Zusammen- lebens hießen, und im ersten Abschnitt, wie der Verlasser versichert, behandelt wurden, „wie sie sich in ihrem natürlichen Wachstum ent- wickelt haben". Er will sie im zweiten, wie es an dieser Stelle dann hieß, „in ihrem geistesgeschichtlichen Werdegang belauschen". „Zu den vergleichsweise stabilen Formen der sozialen Gemeinschaft rechnen wir a) Familie, b) Eigentum . . . c) die Gesellschaft . . . d) den Staat. Zu den labilen rechnen wir: a) die Sprache, b) das Recht, c) die Religion . . . weiterhin Technik und Kunst, Moral und Philosophie" (2. Aufl. S. 38).

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F. Tönnics: Stein, Ludwig, Die soziale Frage im Lichte der Philosophie.

Das sind alles soziale Funktionen, die sich in den Köpfen der bedeut- samsten Sozialphilosophen „spiegeln"! Aber nein: in der 2. Auflage ist jener Schlußabsatz gestrichen worden: vielleicht eine kleine Wirkung meiner Kritik. Auch in der 1. Aurlage war die Philosophie an dieser Stelle eskamotiert worden, dagegen traten als „labile soziale Funktionen" „Moral, Wissenschaft, Kunst, Strategie und Technik der Erfindungen" auf; die beiden letzteren heißen in der 2. „Kriegskunst und Erfindungs- kunst". In beiden folgt eine Seite nachher (S. 144 •) der Satz: „Moral und Wissenschaft, Technik und Kunst sind bereits Erzeugnisse reflektierter Imperative". Gewiß ein sehr tiefer Satz. Wenn ich ihn nur ergründen könnte! Glücklicherweise umschreibt der Verfasser seine „Gedanken" regelmäßig in neuen Sätzen. Derselbe Sinn, den der angeführte Satz haben soll, wird in dem vorhin schon zitierten Satze wiedergegeben, wo- nach die moralischen, künstlerischen und wissenschaftlichen (wo bleibt die Technik?) Imperative Wirkungen (früher „Ausfluß") der nament- lich in der Philosophie zum Selbstbewußtsein gelangten , das Wesen *dieser Befehle zergliedernden* und die *Mögl ichkeit* einer geflissentlichen Umbiegung derselben *er wäg enden* mensch- lichen Vernunft sind. Man merke also wohl: Moral und Wissenschaft, Technik und Kunst sind „bereits" von reflektierten Imperativen erzeugt worden. Die menschliche Vernunft bewirkt (oder läßt aus sich heraus- fließen) moralische, künstlerische und wissenschaftliche Imperative, auch „bereits" sind es dieselben „reflektierten" Imperative, die Vater und Mutter von Wissenschaft, Technik und Kunst sind, oder sind es andere ? Einen Sinn kann ich weder in der einen noch in der anderen Alter- native entdecken. Aber weiter: die menschliche Vernunft bewirkt nicht nur diese Imperative, sie zergliedert auch ihr Wesen und erwägt die Möglichkeit einer geflissentlichen Umbiegung „derselben". Gleichzeitig gelangt diese sonderbare alte Dame „in der Philosophie" zum Selbst- bewußtsein. Gott sei Dank! Denn nun kommen wir doch zur Sozial- philosophie — zur Motivierung für die Mitteilungen über deren „Ge- schichte" sollen ja diese Umschweife dienen. Ein scheinbarer Begriff wird uns gegeben mit dem Worte „sozialer Wildwuchs" oder, wie gleich nachher umschrieben wird, der „pfadlose Urwald sozialer Imperative, wie er wirr und planlos in die Höhe geschossen ist" oder, wie in einem ferner folgenden Satze nochmals umschrieben wird, „was bisher an Regelungen der Beziehungen von Menschen untereinander, sowie der Beziehungen des Menschen zu der ihn umgebenden organischen und un- organischen Natur wildwüchsig weil nur unbewußt-zweckmäßig geworden und erwachsen ist". Der Begriff ist völlig unklar und wertlos. Solange es Menschen gibt, hat an menschlichen Institutionen vernünftiges Denken mitgewirkt. Freilich in sehr verschiedenem Grade, auf sehr verschiedene Weise, mit sehr verschiedener Kraft. Mehr oder weniger klar und scharf, mehr oder weniger mythologisch und theo-

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446

Literatur.

logisch, vor allem mehr oder weniger frei gegenüber der Tradition und aller anderen Autorität ist gedacht worden. Was der Verfasser hier meint, kann ja nicht zweifelhaft sein : etwa dies, daß in späteren Epochen einer Kultur mehr und mehr freies, mehr und mehr klares, mehr und mehr wissenschaftliches Denken auf die sozialen Institutionen Einfluß gewinnt. Daß er dabei, als bisher oder in den Anfangen, wildwüchsig, Familie und Eigentum, Gesellschaft und Staat, Sprache, Recht und Reli- gion, in einem Topf durcheinander rührt, wollen wir passieren lassen. Irgendwelche zunehmende Wirkungen der „Vernunft" auf alle diese Dinge kann man ja behaupten. Auf die Sprache wirkt die Vernunft (oder Unvernunft) der Grammatiker, der Dichter und Schriftsteller, auf das Recht die Vernunft der Juristen und Politiker, auf die Religion die Vernunft der Theologen und Philosophen ... auf Gesellschaft und Staat ? meinetwegen alle zusammen, ich würde freilich denken, sie wären im Rechte irgendwie enthalten, die Gesellschaft im Privatrecht, der Staat im öffentlichen Recht; ebenso würde ich Familie und Eigentum zunächst als Rechtsbegriffe definieren, und dann etwa einen Begriff der sozialen Ordnung suchen, der unterhalb alles positiven Rechtes läge. Soziale „Funktionen1' sollen das alles sein und als solche Familie und Sprache, Eigentum und Religion auf einer Fläche liegen ? Welch ein Ungedanke 1 Aber lassen wir das. Was meint also unser Verfasser? Mit der Be- trachtung zunehmender Einwirkung der „Vernunft" auf die sozialen Institutionen vermischt und verwirrt sich ihm die Vorstellung des Ein- flusses, den philosophische oder wissenschaftliche Reflexionen über diese Institutionen auf Gesetzgeber, Theologen usw. gehabt haben mögen, oder verwirrt sich schlechthin die Betrachtung der Tatsache solcher literarischen Kopf-Spiegelungen ! Denn es heißt und damit schließt jetzt dieser Abschnitt : „Was bisher . . . wildwüchsig ... das wird jetzt planmäßig umgestaltet und bewußt-zweckmäßig reorganisiert. Die Vernunft übernimmt das heikle, verfängliche Geschäft, die Natur zu meistern, die Instinkte zu überwachen, und, wo es not tut, umzugestalten, indem sie [neue Paraphrase !] die unbewußte Zweckmäßigkeit der sozialen Institutionen , wie sie die immanente Teleologie hervorgetrieben hat, durch eine bewußte zu ersetzen sucht : es entsteht mit einem Worte eine Sozialphilosophie". Ja, mit einem Worte! Und doch bleibt es nicht bei diesem einen Worte. Die erste Vorlesung des zweiten Abschnittes (überhaupt die 1 3te) ist überschrieben : „Die ersten sozialphilosophischen Regungen des bewußten Geistes in der Geschichte." Darin ist (S. 145 149) ein wenig von der Legende eines goldenen Zeitalters, ein wenig von den Übergängen von der vorhistorischen Gens zum geschichtlichen Staat auf dem klassischen Boden von Hellas, ein wenig vom spartanischen Kommunismus, endlich ein wenig von der Scheidegrenze, welche die Kultur in typischer Weise von der Barbarei trenne, die Rede. „Hier scheiden sich aber auch unsere Wege von der

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K. Tönnies: Stein, Ludwig, Die soziale Frage im Lichte der Philosophie.

Marxschen Geschichtsauffassung, welche nur ökonomische Motive als Fermente sozialer Klassenbildungen anerkennt. In der Barbarei sind es überwiegend Ökonomische Vorbedingungen, welche den Klassenkampf erzeugen und so die soziale Entwicklung fördern. Im Kulturzustand hingegen (NB. nun kommt eine neue Paraphrase des uns schon sehr be- kannten „Gedankens") erhebt sich der menschliche Geist in seinem re- flektierenden Bewußtsein zu einer sozialen Macht, welche neben der ökonomischen eine wesentliche Einwirkung auf die Gesellschafts- und Staatenbildung ausübt. [Hier bleiben also Familie, Sprache usw. außer Ansatz]. Waren die sozialen Gebilde [welche also?] früher *nur mehr* das Erzeugnis eines unreflektierten Naturprozesses, so werden sie jetzt [wann?] Gegenstand der Beobachtung und Untersuchung seitens des be- wußten Geistes" [Nochmalige Paraphrase, die wievielte?]. Punkt. Ab- satz. „In dem Augenblick, da der menschliche Geist jene Reife er- langt, wie sie sich in einer umfassenden philosophischen Weltanschauung ausprägt, schiebt sich sehr bald [in dem Augenblicke sehr bald!] die soziologische Frage in den Vordergrund, ob man die Organisation der Gesellschaft noch weiter dem Spiel der sozialen Naturkräfte blindlings überlassen und nicht vielmehr nach reiflich erwogenen, planvoll er- dachten Prinzipien selbst regeln sollte. „Es entsteht mit einem Worte die Politik als Wissenschaft" (S. 150). Also nicht die Sozialphilosophie? Oder ist das ein und dasselbe? Bei dem Verfasser muß man immer die Tendenz zum ein und demselben voraussetzen. Wozu aber dann nun nochmals das eine Wort? Der dritte Satz der nun folgenden 14. Vorlesung (betitelt „Das erste Auftauchen der sozialen Frage bei den Griechen") heißt dann wieder: „In dem Augenblicke (!) da *große Gesetzgeber* allgemein gültige öffentliche Befehle erlassen ist die Vernunft an die Stelle des Instinktes getreten." „Die soziale Vernunft setzt ein mit großen Gesetzgebern wie Drakon und Solon . . ." Ist das nun die Politik als Wissenschaft? oder die Sozialphilosophie? oder mit einem Worte . . .?

In den Vorträgen über Geschichte der Sozialphilosophie ist viel- leicht (ich habe nicht alle eingehend geprüft) manches zur populären Belehrung Taugliche enthalten. Die Anlage ist von höchst seltsamer Art. Zuerst wird in 5 Vorlesungen über das Altertum (Piatons Republik, Aristoteles Politik usw.), dann in je einer über das Urchristentum und über Sozialphilosophie des Mittelalters und über die Sozialphilosophie im Zeitalter der Renaissance gesprochen. Die folgenden 12 (S. 220 345) handeln von nichts als von Sozialismus und Kommunismus, zuerst nämlich von „Staatsromanen", zuletzt von Staatssozialismus, Kathedersozialismus, offizieller Sozialdemokratie usw. Dann kommt auf einmal die letzte und unverhältnismäßig lange 33. Vorlesung, und betitelt sich „Zur Ge- schichte der Sozialphilosophie von der Renaissance an bis auf die Gegen- wart". Also alles was in den 12 Vorlesungen mitgeteilt wurde, gehörte

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Literatur.

nicht zur Sozialphilosophie? Und doch war von der „werdenden National- ökonomie", von Quesnay und Turgot, war von Adam Smith die Rede, dann von Rousseau, Saint Simon und Fourier; endlich von Proudhon, von Marx, von Lassalle. . . . Jene 33. Vorlesung überrascht uns gleich im Anfange wieder mit einem sonderbaren Satze: „Von einer Sozial- Philosophie als eigener Disziplin, welcher die Prüfung und klassifika- torische Verarbeitung der psychologischen, ästhetischen und ethischen Faktoren im gesellschaftlichen Organismus obliegt, kann recht eigentlich erst seit dem Auftreten von Auguste Comte ernstlich ge- sprochen werden." Dann folgt nach einigen Zwischensätzen: „Das phi- losophische Staatsrecht und die Rechtsphilosophie gehen der Sozial- philosophie zeitlich voraus." Nachdem auf den folgenden Seiten noch mehrfach umschrieben, „in welchem Augenblicke" eine Sozialphilo- sophie als eigener Wissenszweig sich auftun konnte, wann der zwin- gende Anlaß zur Entstehung einer Sozialphilosophie gegeben war, folgt S. 350 als Disposition: „Sehen wir uns aber genötigt, die in den Natur- rechtsschulen und staatsphilosophischen Systemen von der Renaissance bis auf Comte sporadisch aufblitzenden sozialphilosophischen Gedanken- gänge nur als vorbereitende Etappen zur Bildung einer Sozialphilosophie als Wissenschaft zu betrachten, so wird man es begreiflich und der Ökonomie unserer Auseinandersetzung entsprechend finden , wenn wir diese vorangegangenen Etappen nur in aller Knappheit skizzieren, um dafür bei Comte und seinen Nachfolgern desto länger verweilen zu können." Hier wird also mit dürren Worten ausgesagt, daß die sämt- lichen Nationalökonomen, Kommunisten und Sozialisten in eine Geschichte der Sozialphilosophie überhaupt nicht hineingehörten. Und doch die 12 Vorlesungen! Doch halt! Wenigstens die Staatsromane stehen doch in einem Verhältnis zur Sozialphilosophie! Den Utopismus be- zeichnet nämlich unser Autor als den mystischen Schatten der werdenden Sozialphilosophie (S. 220). Hören wir mehr über die Utopisten. „Was die Apostel religiös bedeuten, das sind die Uto- pisten politisch: * Erlöser*. Sie sind * Herolde*, welche das Heran- rauschen einer neuen Zeit ankündigen. Man kann nämlich den Nach- weis führen daß, in der Neuzeit zumal, jeder weitergreifenden und in die Tiefe gehenden sozialen Bewegung ein Utopist als * Fahnenträger * vorangegangen ist." Will jemand diesen Nachweis kennen lernen ? „Die erste neuzeitliche Utopie ist die des Thomas Morus (erschienen 1516). Ein Jahr darauf schlug Luther in Wittenberg seine 95 Thesen an und gab damit das Signal zum Ausbruch (!) der Reformation, deren Ziele zwar religiöser Natur waren, deren Ausgangspunkt aber auch ein sozialer gewesen ist." Dies also war der erste Streich. . . . „Etwa ein Jahr- hundert später findet die Utopie des Thomas Morus eine bemerkens- werte Reihe von berufenen und unberufenen Nachahmern. Der eng- lische Lordkanzler B a c o n . schreibt seine Nova Atlantis (1621), Cara-

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F. Tön nies: Stein, Ludwig, Die soziale Frage im Lichte der Philosophie. 449

panella seinen Sonnenstaat (1630). Harrington seine Oceana (1656), Vairasse seine Histoire de Sevarambes (1677) lauter Staatsromane, die nach dem Muster der Utopie eine glückliche Insel schildern, wo politische und soziale Idealzustände herrschen. Und was folgt historisch auf diese Wiederbelebung des Staatsromans? Wieder eine soziale Be- wegung, welche um die Mitte des 17. Jahrhunderts (1648) in England ausbrach, deren Adepten man in der Geschichte als „Levellers" be- zeichnet. Aus diesen * Puritanern oder Levellers* die sich durch stark kommunistische Tendenzen auszeichneten, zweigte sich die große Sekte der Quäker ab, aus denen wieder die kommunistische Sekte der Shaker, die sich über ein Jahrhundert lang unter streng kommunistischen Ver- hältnissen erhalten konnte, herausentwickelt hat ] soll wohl heißen: „sich herausentwickelt hat"]. Das also war der zweite Streich. Doch der dritte folgt sogleich. „Im 18. Jahrhundert schrieb Morelly den Staats- roman „Basiliade" (1753), zu deren Verteidigung er zwei Jahre darauf (1755) seinen „Code de la nature", ein sozialistisches Manifest, heraus- gab. Rousseau schreibt seine „neue Heloise" (1771). **Und was war die Folge? Die große französische Revolution.** Man höre ! man staune ! „Ein weiteres Jahrhundert später als die große französische Revolution?!] endlich erschien der letzte Staatsroman in großem Stile, Cabets Voyage en learie (1842) . . . „Was folgte auf Ca- bets Voyage en Icarie? Das blutige Revolutionsjahr 1848, in welchem sich der deutsche Sozialismus anzukündigen begann" (der bekanntlich in den vorhergehenden Jahren schon recht sehr kundbar war). Dies der vierte und letzte Streich. Die Meinung dieser Zusammenstellungen kann, wie jeder sieht, nur sein, daß die viermalige zeitliche Folge auf einen ursäch- lichen Zusammenhang zu schließen gebiete. Wenn die französische Revolution schon im Ausdrucke als die kausale Wirkung der genannten Bücher hingestellt wird denn „die Folge" kann in deutscher Sprache keinen anderen Sinn haben so ist daran nur eine der nicht ganz wenigen von mangelhaftem Sprachgefühl zeugenden Ausdrucksweisen schuld, die uns in dem Buche begegnen. In der Tat schließt sich in (ge- wohntem) pomphaftem Gewände jener Gedanke an: „Es kann unmöglich ein bloßes Possenspiel („bloßes Spiel" wäre zu einfach) des Zufalls sein, wenn bisher auf jeden bedeutsamen Staatsroman eine große soziale Be- wegung gefolgt ist. Die Regelmäßigkeit der Aufeinanderfolge verbietet eine solche Auslegung. Aus dieser historischen Zusammenstellung muß die philosophische Betrachtung vielmehr folgern, daß zwischen dem Er- scheinen der Staatsromane und dem Ausbrechen großer sozialer Be- wegungen . . Nun , was kommt ? doch wohl , daß ein Verhältnis von Ursache und Wirkung besteht? „auch ein gewisser Zusammen- hang herrscht". Ein gewisser Zusammenhang ? Das ist alles ? Parturiunt montes ... Es scheint unmöglich . . . Und siehe : als der Berg zum ersten Male kreißte, da war es eine richtige Ratte ! In der ersten Auf- Archiv für Sozial wU»en*chaft u. Sozialpolitik. I. ( A. f. *». G. u. St. XIX.) a. 29

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Literatur.

läge (S. 289) heißt es dick und plump: „daß zwischen dem Erscheinen der Staatsromane und dem Ausbrechen großer sozialer Bewegungen * auch ein gewisser Kausal nexus herrscht * Betrachten wir die Ratte etwas näher natürlich „philosophisch". An die Ratte müssen wir uns halten, denn das Mäuschen hat ja nur einen Sinn, insofern es auf die Ratte hinweist. Sagen wir also ehrlich, daß die Ratte ein sehr häß- liches graues Nagetier ist. Hören wir zunächst zu Ende. Nach: „ein gewisser Zusammenhang (ein „Kausalnexus") herrscht". „Und so sind denn die Utopisten jene poetischen Sturmvögel, die das orkanartige Heranrauschen einer neuen Zeit künden." Was sind denn die Utopisten nun eigentlich? „Mystische Schatten" „Erlöser" „Herolde" „Fahnenträger" „poetische Sturmvögel". Und zwar sehr ungewöhn- liche Sturmvögel, denn sie sind zugleich die Ursachen des Sturmes, den sie ankündigen. Sehr ungewöhnliche Fahnenträger, sehr ungewöhnliche Herolde, sehr ungewöhnliche Schatten. Es ist wohl kaum nötig zu sagen, daß es mit dem kausalen Zusammenhang rein gar nichts auf sich hat. Die einfache Wahrheit ist, daß die Unruhe der Gemüter, die besonders in den Ländern, die an der fortschreitenden Entwicklung am lebhaftesten beteiligt sind, seit der Krisis der mittelalterlichen Lebensformen die Menschen erfüllt, einerseits in Volksbewegungen und Staatsumwälzungen oder darauf zielenden Versuchen, andrerseits in massenhaften literarischen Erscheinungen sich kundgibt und abbildet, und daß diese beiden Arten des Ausdruckes gegenseitig und zwar vorzugsweise fördernd aufeinander wirken, wenngleich sie ihrem Wesen nach unabhängig voneinander sind. Daß nun gerade die sporadisch auftretenden literarischen Idealgebilde gesellschaftlicher und politischer Zustände in dieser Hinsicht eine erheb- liche Wirkung haben, kann man nicht mit Grund sagen. Im Gegenteil : sie sind immer nur literarischen Feinschmeckern, also den oberen, in der Regel nicht aufrührerisch gesinnten Schichten zugänglich gewesen, nicht, wie andere Literaturprodukte, als Flugschriften, Prophezeiungen, periodische Preßerzeugnisse der großen gärenden Menge. Von den hier ge- nannten Büchern ist, soweit es wirkliche Staatsromane sind, das erste, die Utopia Sir Thomas Mores in weiten Kreisen gelesen worden, aber fast ausschließlich in Kreisen der Humanisten, die von der kirchlichen Re- volution teils mit Widerwillen gegen das Theologengezänk und die Volks- aufwicglung sich abwandten, teils das retardierende Moment in ihr bildeten. Vollends ist es unbegründet, von irgendwelchem Zusammenhange der Bauernkriege und der anabaptistischen Aufstände mit der geistreichen Satire des gelehrten Juristen zu orakeln.1) Wenn man a priori sagen

') Es wäre eher ein umgekehrter Zusammenhang, als der hier gemeinte, daß nämlich die früheren in England an Wycliffe, auf dem Kontinent an Hus anknüpfen- den Volksbewegungen auf Mores Ideen gewirkt hatten; wie Ziegler, Einleitung zu seiner und Michels' Ausgabe der Utopia (Berlin 1S95) S. XXVI wenigstens als roög-

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möchte, daß zwischen bedeutenden Phänomenen der gleichen Zeit von irgendwie gleicher, d. h. hier gegen bestehende Zustände kriti- scher Richtung, irgend ein Zusammenhang vermutet werden dürfe, so könnte doch gerade dies als ein klassisches Beispiel dafür gelten, daß solcher Zusammenhang erfahrungsmäßig oft als eine verschwindende Größe, die wir gleich Null zu setzen Ursache haben, sich erweist. Steins Satz ist wir erinnern uns , daß jeder weitergreifenden und in die Tiefe gehenden sozialen Bewegung ein Utopist als Fahnenträger vorangegangen ist Welches ist denn nun der zweite Fall einer solchen Bewegung ? . . . Die der „Levellers". Du meine Güte ! Weiter greifend und in die Tiefe gehend? Die Levellers waren eine der vielen radi- kalen, mehr oder minder anabaptistisch-chiliastisch-kommunistischen und schwärmerischen Sekten im Heere Cromwells. Sie hatten einen be- gabten Führer John Lilburne , der die unklaren Ideen von Gleich- heit, Abschaffung des Eigentums am Grund und Boden und Güter- gemeinschaft, die stärker oder schwächer in allen diesen Independenten lebten, in eine Art von System brachte und in dem Jahre (1648), wo nach Stein wieder eine soziale Bewegung ausbrach , eine Meuterei im Heere verursachte, die rasch erstickt wurde. Die Sekte blieb infolge- dessen in starker Opposition gegen Cromwell und begünstigte sogar die Restauration. Die Puritaner, deren Haupt Cromwell war, mit ihnen zu identifizieren, ist ein starker Irrtum. Daß sich die „Freunde", die sog. Quäker, von den Levellers „abgezweigt" hätten, ebenso irrtümlich. Die Sekte des Schuhmachers Fox kam um dieselbe Zeit auf, sie war aber in der Armee kaum vertreten und verabscheute den Kriegsdienst; sie wurde von Cromwell protegiert, der die Levellers bekämpfte. Was bleibt also ? „wieder eine soziale Bewegung" ? Aber lassen wir sie gelten, oder nehmen wir an, da der Verf. Puritaner und Leveller für identisch hält, er meine eigentlich die ganze „puritanische Rebellion" es soll also „ein Utopist als Fahnenträger" dieser sozialen Bewegung vorangegangen sein. Welcher Utopist? es werden vier genannt; war es Bako oder Campanella oder Harrington oder Vairasse? Die Jahreszahlen ihrer Werke werden beigesetzt; aber Harrington mit der Oceana (1656), Vairasse mit der Histoire de Sevarambes (1677!) gehen doch nicht voran, wenn der „Ausbruch" der sozialen Bewegung 1648 war?l Bleiben also Campanella mit der Civitas Solis, dem die falsche Jahreszahl 1630 gegeben wird; in Wahrheit war das Buch zuerst einzeln 1620, dann als

lieh gelten läßt. Aber auch dieser Zusammenhang ist, wie Zicgler richtig erkennt, ohne Bedeutung. Die Vorstellung einer communio primaria, und daß das Privat- eigentum Produkt der Sünde sei, war allen kirchlich und scholastisch Gebildeten tief eingepflanzt. Sie blieb für More, was sie ihrer Natur nach war, rein akademisch ; während die Schwarmgeister und Bauern sie ernst und eigentlich nahmen : daß näm- lich das „Evangelium'' die Sünde und folglich auch das Eigentum abschaffen müsse.

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Literatur.

Anhang zu einem anderen Werke 1623 herausgekommen (beidemal in Frankfurt a. M.), und Bako mit dem Novus Atlas (so ist der richtige lateinische Titel); die Jahreszahl 1621 ist ganz und gar willkürlich angesetzt, denn man kennt die genaue Zeit der Abfassung nicht, das Werk wurde 1629, 3 Jahre nach seinem Tode herausgegeben; sicher ist aber, daß „der englische Lordkanzler Bakon" es nicht schrieb wie wir bei Stein lesen sondern der im Ruhestande lebende Philosoph, nachdem er aller seiner Ämter entsetzt war (auch die Jahreszahl ist unbedingt falsch, da man doch das Jahr der Publikation verstehen muß ; verfaßt ist das Buch vermutlich nicht lange vor Bakos Tode (1626) und eben darum Bruch- stück geblieben). Aber das tut ja nichts zur Sache. Einer von beiden muß gemeint sein : der italienische Dominikaner-Mönch Campanella oder der aristokratische Naturforscher. Sagen wir ehrlich: das eine ist so unsinnig wie das andere. Widerlegen würde Argumente verschwenden heißen. Gehen wir vielmehr sogleich auf die Suche nach dem Erlöser, Herold, Fahnenträger, Sturmvogel der großen französischen Revolution! Denn auch hier werden zwei genannt : 1 . Morelly aber seine Schriften liegen beinahe 40 Jahre hinter der französischen Revolution zurück der Abstand ist doch für einen Fahnenträger etwas zu weit. Zu schweigen davon, daß die französische Revolution nicht in dem Sinne der hier gemeint ist (nämlich im Sinne sozialistischer oder kommu- nistischer Ideen) eine „soziale Bewegung" war. Also 2. Rousseau „schreibt seine neue Heloise (1 7 7 1 )'* da wäre wenigstens der zeitliche Ab- stand auf ca. 20 Jahre reduziert, wenn ... ja wenn die Jahreszahl richtig wäre! Leider ist sie wiederum falsch. Die neue Heloise ist 1761 erschienen, also immer noch fast ein Menschenalter vor der Revolution. Gleichwohl: daß Rousseau auf mehrere der leitenden Revolutionäre Ein- fluß gehabt hat, ist ja eine bekannte Sache, von Taine mit besonderer Emphase hervorgehoben. Aber die neue Hdloise?? Ich denke, es war der Contrat social, ein rein theoretisches Werk über Naturrecht. Und die neue Heloise ein Staatsroman ? eine Utopie ? Die Liebesgeschichte im ersten oder der Tugendroman im zweiten Teil? Rousseau hat sich ge- rühmt, der Welt vor Augen geführt zu haben, daß die Idylle nicht an die unwahren Gestalten eines erträumten Arkadiens gebunden, son- dern überall vorhanden sei, wo in natürlichen Zuständen natür- liche Menschen treu miteinander verbunden leben ist das die Tendenz einer Utopie? Im Ernste kann davon keine Rede sein. Der Gedanke ist hier ebenso windig, wie dort. Von Cabet und der Februar- revolution zu reden können wir uns sparen. Der Kuriosität halber werde aber der Satz noch zitiert, mit dem das ganze tiefsinnige ge- schichtsphilosophische (das will es sein) Räsonnement sich einführt (S. 221): „Nun taucht eines Tages *in einem entlegenen Erden- winkel ein völlig unbekannter Schriftsteller* auf, der die uns peinigende Kluft der sozialen Revolution mit einem feingewobenen,

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F. Tonn i es: Stein, Ludwig, Die soziale Frage im Lichte der Philosophie. 453

rosenfarbenen Schleier verdeckt und uns einen berückenden Ausblick in ein soziales Eden gewährt." Hübsch gesagt, nicht wahr? Aber wer sind denn die völlig unbekannten Schriftsteller in entlegenen Erden- winkeln ? ? Etwa Thomas Morc, der in London lebte, der jüngere Freund und Korrespondent des Erasmus, schon dadurch den Humanisten Europas wohlbekannt? Oder der Verfasser der Instauratio magna, und des No- vum Organon: völlig unbekannt, als der Novus Atlas 3 Jahre nach seinem Tode herauskam? Oder Tommaso Campanella, der schon um die Wende des Jahrhunderts als Anti-Aristoteliker berühmt war? Oder Rousseau, als er die neue Heloise schrieb? Was sollen also jene blümeranten Redensarten? sind sie nur gebraucht, weil sie (dem eigen- tümlichen Geschmack des Verfassers) „schön" zu sein schienen, ohne alle Rücksicht auf Grund und Wahrheit? Es ist leider keine andere Deutung möglich. Eine solche Summe von Schiefheiten und Verkehrt- heiten, ein so hohles Theoretisieren, wie auf diesen zwei Seiten geleistet wird, ist ja nicht überall in dem Buche anzutreffen. Man ist geneigt, einem so umfangreichen Werke, in dem so viele Gegenstände, wenn nicht behandelt, so doch gestreift, so viele Namen genannt, Bücher und Abhandlungen massenhaft zitiert werden, einige Mängel und Ungenauig- keiten zugute zu halten. Aber es darf nicht verschwiegen werden, daß die hier durchgenommenen zwei Seiten charakteristisch sind für die Arbeits- wie für die Schreibweise des Verfassers. Man kann das Buch kaum aufschlagen, ohne auf etwas Nichtiges oder Verkehrtes oder Aufge- bauschtes und Schales zu stoßen. Ein paar Proben mögen dies harte Urteil noch belegen. Es ist von Herbert Spencer die Rede. Nach einem schrecklichen Satze über „die metaphysischen Kleinmeister und soziologischen Wickelkinder", die angeblich einen höhnischen Ton gegen diesen geistigen Recken anschlagen, als die Scylla, und den „gut ge- schulten in alle Gegenden der Windrose zerstreuten Chor der Spen- cerianer", der angeblich einen Jubelhymnus allenthalben anstimmt, als der Charybdis, zwischen denen versteht sich die Bark „Sozial- philosophie Ludwig Stein" ihren sichern Kurs steuert [diesmal ist es meine Bildersprache , läßt sich deren Steuermann also vernehmen: „Wir setzen dieser organischen Methode einem Nachklang der „organischen Staatslehre" die vergleichend-geschichtliche gegenüber" (S. 381). Ob sich die organische Methode mit Recht ein Nachklang der organischen Staatslehre nennen lasse, wollen wir nicht prüfen. „Die Gefahren metho- dologischer Einseitigkeiten treten in der Regel bei den Schülern noch offenkundiger zutage als beim Meister, wie sich dies schon in der orga- nischen Staatslehre (v. Savigny) gezeigt hatte." Ist Savigny hier der Meister? oder einer von den Schülern? Hat Savigny eine Staatslehre verfaßt? oder in irgend einer Schrift eine Theorie des Staates entworfen? Und da doch wohl an Savigny als den Meister der „historischen Rechts- schule", die ja allerdings in einem gewissen Verwandt Schaftsverhältnis

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Literatur.

zur organischen Staatslehre steht, gedacht ist: welche Schüler Savignys haben organische Staatslehren geschrieben? Oder hat eben nur ein vager Begriff von jenem Verwandtschaftsverhältnis vorgeschwebt? Ich glaube, so ist es. „Ihm (Spencer) ist eben „Prinzip der Gesellschaft: so wenig als möglich Zwang, Prinzip des Staates: so viel als möglich Zwang." Daraus erklärt sich seine nervöse Angst vor jeder Einmischung des Staates, in welchem er ja nur eine Zwangsanstalt sieht" (S. 383). Man bemerke wohl, daß die Worte Prinzip bis Zwang in dem Buche selber von Anführungszeichen umgeben sind. Dazu bemerkt in der ersten Autlage eine Fußnote : „F. Tönnies, Philosophische Monatshefte, Bd. XXVIII, 1892, 63; Emile Dürkheim, Division du travail social. Paris 1893. S. 218 fT." In der 2. Auflage ist diese zitierende Note ge- strichen und durch folgende ersetzt: „Vgl. meine (Ludwig Steins) beiden Abhandlungen: Herbert Spencer, Literaturblatt der N. Fr. Presse vom 22. Juni 1902 und Herbert Spencers Schwanengesang, ebenda 31. Aug. 1902, wo ich usw." Offenbar hat Hr. Stein die Worte „Prinzip" bis „Zwang" für ein Zitat aus Spencer gehatten ; er hat gemeint, daß es ebenso zu seiner Verfügung stehe, wie zu meiner; daß er es zufällig zuerst bei mir gelesen hatte, schien ihm unerheblich. Unglücklicher- weise ist der Satz kein Zitat, er ist auch gar nicht zur Charakteristik eines Spencerschen Theorems bestimmt; Spencer kennt den Dualismus der Begriffe „Gesellschaft" und „Staat" gar nicht. Der Satz ist aus- schließlich mein Satz, er will meine Begriffe von Gesellschaft und Staat bezeichnen ; ich füge ihn ein in den Gedanken : „Kontrakt und Zwang balancieren zwar gegeneinander, aber viel tiefer und stärker ist ihr ge- meinsamer Unterschied und ihre gemeinsame Entfremdung gegen alle Arten innerer sozialer Kausalität, von denen Spencer sehr wenig gesehen und auf seine endlichen Konstruktionen nichts hat influieren lassen", was nur aus meinen Begriffen von Gesellschaft (mit Einschluß des modernen Staats) einerseits, Gemeinschaft andererseits verstanden werden kann, folglich von Herrn Stein nicht verstanden worden ist. Den Satz also wörtlich anführen und mich nicht zitieren, ist nun ist eben ä la Ludwig Stein.

Auch Unklarheit über Inhalt und Zweck des dritten Abschnittes hatte ich früher dem Buche zur Last gelegt. Der Verfasser scheine zu denken, daß seine „Reformvorschläge" mit der „voraussichtlichen" Ge- staltung der Formen des menschlichen Zusammenlebens sich decken. Seine Wünsche, Hoffnungen, Postulate, hatte ich gesagt, fließen mit der angeblichen Prognose in einen breiten Strom zusammen. Daß auch in dieser Beziehung die zweite Auflage nicht besser ist, brauche ich kaum zu konstatieren. Was nun seine Reformvorschläge betrifft, so tut der Verf. sich viel zugute auf den, wie er raeint, von ihm erfundenen „Rechtssozialismus". Dieser wird, wie das denn nicht wohl anders sein kann, auf na tu rre c h 1 1 ic h e Post u la te begründet. „Das Fundament

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F. Tönnies: Stein, Ludwig, Die soziale Frage im Lichte der Philosophie.

eines jeden Rechtssozialismus wird immer die gesetzliche Anerkennung eines Rechtes auf Existenz bilden" (S. 470). „Das Recht auf Existenz . . . bleibt eine Halbheit, wenn es nicht durch das Recht auf Arbeit ergänzt wird" (S. 472). Das Recht auf Arbeit wird der erste Ansatzpunkt zu einer bewußten Sozialisierung des Rechts genannt (S. 473). So geschieht denn auch Berufung auf Autoritäten des Naturrechts. „Ahnungen" des Rechtes auf Existenz „tauchen bereits bei Locke ... auf. „Der erste Theoretiker des Rechtes auf Existenz und des Rechtes auf Arbeit ist J. G. Fichte." „Aber schon die Schöpfer des preußischen Landrechts" haben das Recht auf Arbeit „postuliert". Bekanntlich standen diese unter unmittelbarem und starkem Einfluß der naturrechtlichen Ideen, wie solche in der Wölfischen Schule akademische Geltung erhalten hatten. Derselbe Einfluß charakterisiert in etwas anderen Formen die Kodifikation Napoleons. „Der Code Napoleon stellt den ersten Schritt im Sozialisierungsprozeß des Rechtes dar" nach L. Stein S. 464 [NB. der Code, dieses durch und durch bürgerlich-liberale Gesetzes- werk!]. Diese Anlehnung seines Sozialismus an das Naturrecht hin- dert unsern „Sozialphilosophen" keineswegs zu schreiben, wo er von Christian Wolff spricht (S. 362): „Der außerordentlichen Verbreitung seiner Schriften . . . hat es die Naturrechtsschule zu danken, daß sie bis auf den heutigen Tag *in einigen rückständigen Zopfgelehrten ein wenn auch nur kümmerliches Dasein fristet*". Ein Satz, der obendrein gänz- lich falsch ist. Was im Sinne des alten Naturrechts während des 19. Jahr- hunderts in Deutschland lebendig geblieben ist, beruht fast ganz und gar auf der Kantischen Rechtslehre; daneben ist nur der Versuch einer Restituierung durch Hegel und seine Schule, der bekanntlich auch im vormärzlichen Sozialismus wirksam war, von Bedeutung.

Eine kleine Nachlese von Gedankenfrüchten und Redeblüten, wobei anerkannt werde, daß von den letzteren einige der schlimmsten in der neuen Auflage ausgetilgt sind, nachdem sie von mir und von anderen angekreidet worden (jedoch ist eine erkleckliche Menge übrig geblieben). S. 35 : „Nichts ist darum widerlicher als jene Prostituierung des Geistes, welche sich mit wissenschaftlich sein wollender Schminke herausputzt und mit soziologischer Phraseologie protzen möchte." S. 103: „Denn solche grandiosen Menschenschlächter (Alexander, Cäsar, Napoleon) stauen die Zivilisation mit einem urkräftigen Ruck gleich um Jahr- hunderte weiter." S. 105: „Dergleichen Tiraden (über das soziale Leid der Gegenwart) können doch niemals die soziale Tatsache aus der Welt schaffen, daß wir da sind und daß wir so sind, wie die immanente soziale Zweckmäßigkeit uns nun einmal geknetet hat." S. 239: „Mag Colbert selbst die Schutzzölle nur als Krücken angesehen haben . . . so wird man gleichwohl nicht umhin können, in ihm den hervorragendsten * Theoretiker * des Merkantilsystems zu erblicken" (dies vielleicht nur ein lapsus calami, aber in beiden Auflagen!). Ibid.: „Die auch für den

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Literatur.

Laien augenfälligen Mängel des extremen Merkantilsystems sollten sich in England sehr bald fühlbar machen" (bekanntlich ist in England nie eine extreme Merkantilpolitik zur Geltung gekommen). Folgen eine Reihe von Sätzen, darunter der Satz : „Der Pflug wurde mit der Maschine ver- tauscht (wann ? ?), ein sozialer Vorgang von welthistorischer Bedeutung", die man schlechterdings auf England beziehen muß, zuletzt : „Als jedoch dieses künstliche Merkantilsystem . . . kläglich zusammenbrach, die Fa- briken aus Mangel an Aufträgen geschlossen werden mußten, da hatte man ein städtisches Proletariat von so erschreckendem Umfange, daß das ganze Staatsgebäude darunter erzitterte. *Als Ludwig XIV. starb, stand der Staatsbankerott vor der Tür*." Folgen Sätze über die fr an- zösischen Finanzen, über Law u. dergl. Übrigens gab es weder in Eng- land noch in Frankreich ein städtisches Proletariat „von so erschrecken- dem Umfange". Die 29. und 30. Vorlesung müssen den Marxkennern zur Prüfung empfohlen werden. S. 291 f.: „Diesen „ökonomischen Mate- rialismus" haben Marx und Engels auf * folgende Formeln* gebracht: „Die Produktionsweise . . . bedingt usw." . . . „Unsere Richtung be- trachtet politische und juridische * Bewegungen * literarische und philo- sophische * Bedingungen * gleichsam als einen Überbau. Das Funda- ment bilden die volkswirtschaftlichen * Bedingungen * Die Geschichte einer Epoche liegt nicht in der Philosophie, sondern in der Ökonomie derselben." Absatz. „Hier ist in knappster Formulierung die Quintessenz des ökonomischen Materialismus wiedergegeben." Die knappste Formu- lierung besteht, abgesehen von dem ersten Satze, aus entstellten und verflachten Sätzen, teils Marxischen (der Vorrede von „Zur Kritik"), teils dem Engelsschen Antidühring 8 S. 286 entlehnt, wo der Satz heißt: „Hiernach sind *die letzten Ursachen* aller gesellschaftlichen Verände- rungen und politischen Umwälzungen ... zu suchen nicht in der Phi- losophie, sondern in der Ökonomie der betreffenden Epoche." So enthalten denn auch die folgenden Seiten eine stark vergröberte, die Kernpunkte kaum streifende Wiedergabe der Marx-Engelsschen Ansicht europäischer Entwicklungen. Etwas besser ist die Reproduktion der Wert- und Mehrwert-Doktrin. S. 304: Vergleich des angeblich von Marx in Anspruch genommenen „kopernikanischen Standpunkts" mit anderen „kopernikanischen Standpunkten": „Auch * forderte* Kant auf Grund seiner Entdeckung, die er auf empirisch-erkenntnistheoretischem Wege gemacht hat [die transzendentale Deduktion der reinen Verstandes- begriffe nicht etwa *wie Marx* eine vollständige Revolutionierung unseres gesamten Lebens, sondern * allenfalls* eine erkenntnistheoretische Rückwärtsrevidierung unserer Begriffe." Wenn das nicht geistreich, schlagend, packend ist ... S. 305 : „Zudem hat Marx die wissenschaft- liche Unvorsichtigkeit begangen, seine ganze Sozialphilosophie an das Schicksal des Materialismus als philosophischer Weltanschauung zu ketten." Bekanntlich eiferte Marx gegen den abstrakten naturwissenschaftlichen

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F. Tünnics: Koigcn. David, Die Kulturanschauung des Sozialismus. 457

Materialismus, den einer seiuer Freunde, von ihm als „unser Philosoph" anerkannt, nämlich J. Dietzgen, beschränkten, mechanischen Materialismus nennt; was Dietzgen lehrt, ist Spinozismus und Panlogismus, also vom metaphysischen Materialismus himmelweit verschieden ! S. 356 : (Hobhes) teilt mit Telesio und Bako jenen ausgesprochenen Zug seiner Zeit, den man in die Worte kleiden könnte : „zurück zur nach aristotelischen Philosophie!" Durch und durch falsch. Nichts charakterisiert diese Denker, und ganz besonders Hobbes mehr, als daß sie auf niemand „zurück" gehen, sondern ausschließlich vorwärts gehen wollen, den eigenen Sinnen und der eigenen Vernunft vertrauend, im Übermaße ver- trauend! — Hiermit haben wir das Buch nur ungefähr bis zur Hälfte durchgenommen. Jedoch es sei genug. Wie mehrmals angedeutet, ließe sich allenfalls auch eine Lese von besseren Ähren daraus gewinnen. Trotz der großen Fehler ist der literar-historische Teil noch der beste. Besonders in bezug auf die griechische Philosophie scheint der Autor (der scheinbar alles kennt) in Wirklichkeit etwas zu kennen, und auf Grund eigener Studien zu reden.

Dem Buche als ganzem kann, wie sich von selbst ergibt, ein „Recht auf Existenz" nicht zuerkannt werden.

F. TONNIES.

Koigcn, David, Die Kulturanschauung des Sozialismus. Ein Bei- trag zum Wirklichkeitsidealismus. Mit einem Vorwort von Eduard Bernstein. Berlin 1903, Dümmler. XIV u. 134 S.

Ein Büchlein von großen Ansprüchen. Auf der Grundlage des marxistischen Sozialismus will es den, wie gemeint wird, wesentlichen und notwendigen Inhalt der dazu gehörigen Ethik und sogar Religion entwickeln. Diese Lebensauffassung oder Kulturanschauung soll allen sonst vorhandenen entgegengesetzt und als die vollkommene und allein haltbare vertreten werden. In den beiden ersten Kapiteln werden jene vorhandenen klassifiziert und kritisiert. Bei der Klassifikation geht es darunter und darüber. Neben ethischen Systemen erscheinen Vorstellungen über Wert, Zweck und Sinn der menschlichen und sozialen Entwicklung, also Dinge, die zu einer ganz anderen Gattung gehören. Die Klassifika- tion ist auch nicht klar durchgeführt. Im 2. Kap. werden die „imma- nenten" Kulturanschauungen eingeführt und in zwei „Gruppen" ge- schieden, von denen die eine immanenter Positivismus, die andere immanenter Idealismus genannt wird. Warum diese durchaus verschieden, ja als Gegensätze zu denken seien, wird außer durch die Bezeichnung des einen als „real beschränkt", des anderen als „real bedingt", nicht er-

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Literatur.

klärt. Ob nun einige der in dem Kapitel kritisierten „Kulturanschau- ungen" zum Idealismus, oder alle zum Positivismus gehören, darüber werden wir im Zweifel gelassen. Eine Grenze wird nicht angegeben. Gelegentlich ist allerdings (S. 40) von radikalen und sozialistischen Ge- danken die Rede, die zugleich als nachträglicher, als ethischer, „resp. negativer" und nach rückwärts gerichteter „Idealismus" bezeichnet werden. Gleichwohl (oder eben darum) scheint doch nur der von Kap. 3 ab geschilderte „W'irklichkeitsidealismus" eine etwas desperate Wort- bildung — als wirklicher Idealismus gelten zu sollen, und auf diesen wird nun eine Fülle von Licht ausgegossen. Obgleich wir meinen mußten, daß eine Kulturanschauung im Unterschiede von einer Welt- anschauung (S. 1) entworfen werden solle, so geschieht doch innerhalb jener Schilderung sehr rasch der Übergang auf die der positiv-immanenten Weltbetrachtung (worunter hier dasselbe verstanden wird was sonst als Wirklichkeitsidealismus, als sozialistische Kulturanschauung und unter mehreren anderen Namen auftritt), also auf die ihr entsprechende Religion, die sie „in sich berge". „Wir ahnen deutlich genug" „die neue Gestalt der Weltreligion" (S. 63). Die Wissenschaft „stellt sich ihr zur Ver- fügung" (S. 65). Sie ist „der Abschluß des .sozialistischen' Lebens" (S. 68). Es gibt „richtige Ideale" (S. 72); die Weltreligion bedeutet die allge- meingültige Form des höchsten Ewigkeitslebens" (S. 73). „Der höchste Punkt der kulturellen Entwicklung hat die Identität von Gott und Mensch zu dokumentieren" (S. 75). Der Mensch erzieht sich zum Schöpfer, in der kulturellen Schöpfung gelangt der tiefere Sinn der gesamten humani- tären Kultur zur Äußerung (ib.). Auf die Religion und das „kultur- philosophische Postulat" folgt die „ethische Formel" „des Sozialismus, sowie des Wirklichkeitsidealismus". Der Imperativ Guyaus „Du sollst und mußt weil du kannst" eignet sich dazu am besten (S. 76). Im Gegensatze zur Kantischen Formel gedacht schließt sie doch diese, wenn man von ihrer metaphysischen Grundlage abstrahiert, nicht aus, sondern wird von ihr vorausgesetzt (S. 77, 78). „Aus dem immanent-schöpferischen Idealismus der sozialistischen Doktrin ergibt sich der Menschentypus" des schöpferischen Renaissancemenschen, „für den der Sozialismus als kultur- philosophische Lehre einzutreten hat" (S. 80). Er ist „ein bejahend- bauender" (S. 82). ,,Der Lebensstil der sozialistischen Demokratie ist seiner entwicklungs-soziologischen Tendenz nach" dem Nietzsche'schen verwandt: denn er ist ein „Streben, aus jedem einen ,Herrn' zu machen .... einen Herrn über sich selbst und über die Welt der natürlichen und kulturgesellschaftlichen Verhältnisse" (S. 93). „Im Prin- zipe sehen wir im arbeitenden Kulturmenschen der Entfaltung des Renaissancemenschen in seiner Universalgestalt entgegen" (S. 102).

Der Renaissancemensch löst den Revolutionsmenschen ab. „Und es paßt sich vortrefflich, daß zurzeit sich zum Vorteil der sozialistischen Demokratie ein neuer Wissenschaftszweig, die sogenannte Sozialpädagogik

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F. Tönnies: Koigcn, David, Die Kulturanschauung des Sozialismus. 459

entfaltet" (S. 105). Der Sozialismus ist nicht ausschließlich Lehre der „unteren Klassen". In den Kreisen des „Bildungsproletariats" wird „eine neue Geistesaristokratie gezüchtet" (S. 108). Sie muß in ein intimes Verhältnis zum „Stammproletariate" treten, das schon angebahnt war, aber gutenteils wieder zerstört wurde. Das „wunschlose geistige Treiben" der Boheme „ist dem Tode geweiht" (S. 111). „Aus der Lebens- anschauung des Renaissancemenschen ergibt sich seine Lebensführung. Das aktuell-schöpferische Lebensprinzip des All-Idealismus tritt hier in der Form des unausgesetzten Heroismus zutage" (S. 1 1 4), des „All- Heroismus" an Stelle des „sporadischen Heroismus" des Negationstypus, des Revolutionsmenschen. Die „breitgedachten Horizonte der marxisti- schen Welt" sind allmählich „verengert" worden (S. 119). Ohne „ein Bündnis" „mit der Renaissanceauffassung des Kulturlebens" „geht dem Sozialismus sein idealistischer Schwung und . . . seine tiefere philo- sophische Basis verloren" (S. 120). „Das Bewußtsein der Klasseninter- essen" ist „an und für sich kein sozialistisches Bewußtsein" (S. 126). „Eine völlig neue Vorstellung von ,Glück' bringt die sozialistische Renaissance mit sich" (S. 127). „Im kulturellen Bauen" müssen die Massen „ihr großes Glück aufsuchen" (S. 128). „Das muß geschehen, soll einmal die sozialistische Ära zum zweiten schönen Tag der Welt- geschichte werden" (S. 128) .. .

Daß es eine nicht unbedeutende Schrift ist, die wir vor uns haben, werden die mitgeteilten Proben des Gedankenganges erkennen lassen. Ihre Hauptstärke besteht aber in der Glut des Enthusiasmus, der Zuver- sicht des Glaubens, der sie erfüllt. Ihr Prophetenton entbehrt nicht der Größe und Schönheit, er ist nicht bloß schwungvoll und pathetisch, sondern gibt den Eindruck tiefer und echter Gesinnung. Aber freilich es ist Prophetenton, überschwänglich, schwärmerisch, für Kritik nicht eben empfänglich. Ein streng geschultes Denken verträgt sich schlecht mit diesem Tone. So ist denn manches mit Emphase Ausgesprochene, z. B. die angebliche Verwandtschaft des „sozialistischen Lebensstiles" mit dem Nietzscheschen nichts als leeres Phantasma.

Ihrem Kerncharakter nach kann eine sozialistische Ansicht und Wertung der Kultur nur neben zwei andere, die sie an Kraft und Be- deutung erreichen oder übertreffen will, sich stellen ; neben die reaktionäre (resp. konservative) und neben die liberale Ansicht und Wertung. Dies ist eine sehr simple Wahrheit, aber wer solide Theoreme bauen will, muß simple Wahrheiten zugrunde legen. Unser Autor hätte wohl daran getan, den mannigfachen Arten konservativer und liberaler Denkungsart nachzuspüren, sie in ihren Gegensätzen und Verwandtschaften darzustellen, und wiederum die Gegensätze und Verwandtschaften sozialistischer Ideen, wie sie empirisch vorliegen, mit der einen wie mit der anderen Grund- richtung und mit ihren verschiedenen Formen zu verfolgen ; woran dann der Autor seine eigene oder die marxistische Idee in seiner Fassung

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Literatur.

hätte anknüpfen dürfen. Ansätze zu einer solchen Darstellung sind in dem Büchlein allerdings vorhanden. 1 ) Aber die Aufgabe selber in ihrem trockenen wissenschaftlichen Gehalt ist von dem beredten Schriftsteller nicht ins Auge gefaßt worden. Die Vision, die dichterische Begeisterung geht mit ihm durch. So bedeutet seine Schrift ihrem wesentlichen Zuge nach eine Reaktion zugunsten des utopistisclvn Sozialismus gegen den ~- y wissenschaftlichen Sozialismus, auf der Basis des letzteren. Die letzten ••• Worte des Textes lauten: „Die radikale Utopie trägt ständig den

Sieg davon und bewährt sich unter den Lebenden "

Die kleine Schrift enthält manche geistreiche, auch witzige Einzel- heiten. So ist recht hübsch, was S. 23 über den „heutzutage herum- tanzenden charakterlosen, naiv-kulturellen Varietehedonismus" ausgeführt wird. Überhaupt zeigt sich eine starke Begabung für die Durchdringung von allerhand ideologischen Phänomenen. Ich darf auch hinzufügen, dal3 die philosophische Gesinnung, die das Büchlein erfüllt, im ganzen danach angetan ist, lebhafte Sympathien zu erwecken; besonders durch den Kontrast gegen den moralischen Nihilismus, der von den Marxisten strenger Observanz, wenn nicht immer, so doch nicht selten, wenn nicht gehegt, so doch zur Schau getragen wird.

FERDINAND TÖNNIES.

Schmidt , Richard, Dr. Prof. a. d. Univ. Freiburg i. B., Die gemein- samen Grundlagen des politischen Lebens. Allgemeine Staats- lehre, I. Band. Leipzig, C. L. Hirschfeld, 1901. (Hand- und Lehrbuch der Staatswissenschaften, begründet von Kuno Frankenstein, fortgesetzt von Max v. Heckel. III. Ab- teilung: Staats- und Verwaltungslehre.)

Wir leben im Zeitalter der Methodologie. Auch der Verfasser des vorliegenden Werkes huldigt dieser modernen Richtung und glaubt an der Hand der „Ergebnisse der älteren Staatslehre" und durch „Aus- einandersetzung mit der Philosophie" eine methodologische Fundamen- tierung seines eigenen der neueren Forschung durchaus entsprechen- den — historisch-empiristischen Standpunktes geben zu müssen. Über- haupt spielen in dem selbst vor den letzten und schwierigsten Problemen niemals zurückschreckenden Buche von Schmidt „philosophische"

') An einer Stelle (S. 94 f.) kommt die Dreifachheit des Typus zu deutlichem Ausdruck. Eine eingehende Analyse dieser Typen würde zeigen, wie .,der dritte Typus" auch in nicht-sozialistischen, sondern liberal-radikalen ., Zukunftstaaten", wie den Idealen Comtes und Spencers, um sein Leben ringt.

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Kmil Lask: Schmidt, R., Die gemeinsamen Grundlagen d. politischen Lebens. 46 1

und „methodologische" Erörterungen eine wenigstens der Seiten- zahl und den äußerst vielversprechenden Überschriften und Redewendungen nach sehr stark hervortretende Rolle.

Als „methodologisch" gibt sich zunächst die Einleitung mit ihrer Betonung des „praktischen" Charakters der allgemeinen Staatslehre (vgl. z. B. S. 5 f., 20 f., 23 f., 25, 27, auch Bd. II S. 826, 839, 851) und mit ihrer Zusammenfassung von allem „Deskriptiven" oder nicht „Po- litischen" unter den viel zu weiten und unbestimmten Sammelbegriff des „Juristischen" (vgl. S. 26 f., 255). Soweit es sich jedoch bei diesen ein- leitenden Auseinandersetzungen lediglich um in methodologischer Hin- sicht anfechtbare Begriffsbestimmungen handelt, soll vorläufig nicht näher darauf eingegangen werden. Nur soviel sei schon jetzt angedeutet, daß das Verhängnisvolle des Schmidtschen Buches gerade in einer genauen Übereinstimmung zwischen der wissenschaftlichen Behandlung der Probleme selbst und der „methodologischen" Orientierung besteht: Der Unbestimmtheit der Methodologie nämlich entspricht genau die Unge- schiedenheit aller Einzelausführungen. Der ganze auf Isolierung der Arbeitsmethoden basierende Fortschritt der publizistischen Begriffsbildung im letzten halben Jahrhundert, dessen Verdienst es insbesondere war, die staatsrechtliche Systematik aus unjuristischen Verdunklungen heraus- gerettet zu haben, wird bei Schmidt illusorisch gemacht, und die Forschung erscheint bei ihm wieder auf jenen Zustand universalistischer Verschwommenheit zurückgeworfen, der in der ersten Hälfte des 19. Jahr- hunderts herrschte. Mögen auch heutzutage die einzelnen Vertreter der Wissenschaft über das zulässige Maß des öffentlich-rechtlichen Forma- lismus sich streiten; daß überhaupt die scharfe Herausarbeitung einer Staatsrechtsdogmatik heute für jeden eine unentbehrliche Voraus- setzung aller staatswissenschaftlichen Erkenntnis geworden ist, diese Grundtatsache hat wenigstens in Deutschland sowohl in prinzi- pieller methodologischer Reflexion es sei beispielsweise nur an Jellinek, Gierke (vgl. Schmollers Jahrbuch Bd. VII, Heft 1) und Laband erinnert als besonders in der wissenschaftlichen Praxis selbst einen nahezu einmütigen Ausdruck gefunden. Bei Schmidt hingegen verhält sich dies nicht nur hinsichtlich der Methodologie, sondern auch der Einzelausführungen gerade umgekehrt. Hierbei ist aber nicht das Störendste, daß er alles „juristisch" (in seinem Sinne) nennt, sondern vielmehr, daß er nichts „juristisch" (im technischen Sinne) behan- delt. Sein ganzes Buch zeigt eine auffallende Abneigung gegen die unerbittlich Schärfe und Klarheit erfordernde juristische Methode. Seiner Staatslehre fehlen denn auch, wie sich später zeigen wird, sämtliche juristische Grundbegriffe. Es findet sich nicht die leiseste Spur einer wahrhaft juristischen Erfassung des Staats- subjekts, des Staatsgebiets, des Staatsorgans, der subjektiven öffentlichen Rechte, der Souveränetät, der Staatsformen, der Volksvertretung usw.

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Literatur.

Allerdings ist um auf diesen jedem sich aufdrängenden Einwand einzugehen die juristische Methode nur eine unter den verschie- denen staatswissenschaftlichen Forschungsarten. Niemals darf sie, wie es naturrechtlicher und juristischer Formalismus sich zuweilen angemaßt haben, die freie historische Würdigung des in keine Systematisierung eingehenden politischen Lebens hindern oder ersetzen wollen. Es muß darum von vornherein anerkannt werden, daß auch die allgemeine Staatslehre von R. Schmidt der Tendenz nach mit ihren über- wiegend „politischen" Ausführungen selbstverständlich etwas durchaus Verdienstliches anstrebt, und daß ferner, was Schmidt mit Recht geltend macht, eine durchgehende reinliche Scheidung zwischen „Juristischem" und „Politischem" weder möglich noch wünschenswert ist Auch soll nicht bestritten werden, daß Schmidt gelegentlich durch seine Bei- bringung historischen Materials manches besser aufhellt, als es doktri- närer Begriffsspalterei je gelingen könnte. Aber alles dies zugegeben ist es andrerseits ebenso unbestreitbar, daß er, wie sich später ergeben wird, für die Beseitigung des Juristischen dennoch leider gar keinen rechten Ersatz zu bieten vermag, daß er dem unhistorischen Doktri- narismus im großen und ganzen doch nur die Auflockerung aller festen Begriffe, die relativistische Auflösung und Erweichung aller staats- wissenschaftlichen Dogmatik und Konstruktion, die Umdeutung sämt- licher systematischer Gedanken in farblose politische Allgemeinheiten entgegenzusetzen weiß. Nur in diesem Sinne hat sich die „praktische" Tendenz bei ihm bewahrheitet.

So sehr uns also auch erst die wissenschaftlichen Leistungen des Werkes selbst den endgültigen Aufschluß über sein eigentliches Wesen geben können, so zwingt uns dennoch die Ausführlichkeit, der sichere Ton, die verheißungsvolle Art, in der die „methodologischen" Unter- suchungen des Buches auftreten, auch diesen Bestrebungen Schmidts einige Beachtung zu schenken.

Ein eigenartiges Mißgeschick hat den von den Vorzügen des Histo- rismus und Empirismus doch so stark durchdrungenen Verfasser gerade bei dem Versuch einer Begründung seiner antispekulativen Tendenz den Verführungen der Spekulation selbst in überreichlichem Maße ausge- liefert. Schmidt hat es nämlich, wie bereits angedeutet wurde, für nötig gehalten, den endgültigen Aufschluß über den methodischen Standpunkt seines ganzen Werkes erst von einer „energischen Grenz- ziehung gegen die Philosophie" abhängig zu machen; zu diesem Zwecke einer „orientierenden Vorbereitung der methodologischen Dar- legung" schien es ihm ganz unumgänglich, zwar nicht eine Geschichte der früheren Staatstheorien, wohl aber eine nicht viel weniger als den dritten Teil des Buches einnehmende ,,Skizze dieses großen Denk prozesses, eine Bilanz des Erkenntniswertes, der ihm in seiner Zu- sammenfassung zukommt" wie es so äußerst vielversprechend heißt ,

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uns darzubieten. Während die vorher erörterten Punkte sich leicht fest- stellen ließen, „bedarf die Beziehung zwischen Staatslehre und Staats- philosophie einer eingehenden (!) Beleuchtung. Sie ist nur so möglich, daß in Kürze (!) zwischen beiden eine Rechnung aufgemacht wird." (S. 33.) Auf die also angekündigte „Rechnung" genauer einzugehen, wäre an sich nicht erforderlich, da sie ihr Material meist Windelbands philo- sophiegeschichtlichen Werken und Rehms Geschichte der Staatsrechts- wissenschaft entnimmt und dabei höchstens kleine Modifikationen an- bringt, die aber durchaus nicht in der Richtung auf die beabsichtigte methodologische Klärung liegen.

Trotzdem lassen sich die Eigentümlichkeiten des ganzen Buches gerade in diesen Partien mit am besten studieren. Allerdings muß dabei auf ein Eindringen ins Detail, aber ebenso auf ein Hinabsteigen in die Tiefe der Probleme von vornherein verzichtet werden. Nur auf das Elementarste soll die Aufmerksamkeit gerichtet sein und dies gilt gleichmäßig von allen Teilen unserer Besprechung. Aus Gründen der Anpassung an den Charakter des vorliegenden Werkes sind wir nämlich zu der entsagungsvollen Maxime gezwungen, allen nicht auf der Oberfläche liegenden und einer gewissen communis opinio mehr oder weniger teilhaftigen Problemen und Kontroversen aus dem Wrege zu gehen. Im Zusammenhange damit haben wir uns auch bei den für unsere Erörterungen notwendigen Literaturhinweisen grundsätzlich auf die allerbekannteste Literatur beschränkt, und es genügte uns dabei vollkommen, ausschließlich die von Schmidt selbst zitierte Literatur heranzuziehen, woraus also hervorgeht, wie wenig selbst diese vom Verfasser berücksichtigt worden ist.

In welch überraschenden Linien Schmidt, da wo er in dieser „Skizze" kleine Abweichungen versucht, sogar die dem Juristen doch sonst vertrautesten und in der Entwicklung der Rechtsphilosophie mar- kantesten Gestalten zu zeichnen unternimmt, mag an dem Beispiel des Grotius veranschaulicht werden. Da Schmidt gemäß der streng inne- gehaltenen Einförmigkeit seiner Beurteilungsmaßstäbe nur eine einzige Art von staatswissenschaftlichem Fortschritt kennt, nämlich die Eman- zipation von der Metaphysik, so begnügt er sich nicht, die juristisch- politischen Verdienste des Grotius hervorzuheben, sondern er unter- nimmt es kurzweg, die Hauptbedeutung dieses Klassikers des philo- sophischen Naturrechts, dieses großen Begründers der abstrakten und rationalen Methode gerade dahin zu verlegen, daß Grotius eine „Wissen- schaft" geschaffen habe, „die, aller Metaphysik abhold, den Streit auf das Feld der empirisch-praktischen (!) Erscheinungen verlegt, die als Staatslehre auftritt, ohne ,!) Staatsphilosophie sein zu wollen." Die Originalität dieser Deutung wird sodann durch folgende denkwürdige Begründung auf die Spitze getrieben: „Denn (!) das ist und bleibt vor allem Grotius Tat, daß er es ausspricht, für das Naturrecht keine tiefere

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Literatur.

Quelle nötig zu haben als sein Vorhandensein in der Vernunft des Ein- zelnen: est ius naturale adeo itnmutabile ut ne a deo quidem mutari queat." So entpuppt sich dieser weltberühmte Ausspruch, der den früheren Jahrhunderten in ihrer Verblendung stets als die stolze Ver- kündung eines nicht nur für jede irdische Macht sondern sogar für die Gottheit unabänderlichen, rein aus dem Gedanken aufgebauten Vernunft- rechts galt, plötzlich bei Schmidt als Dokument eines „aller Metaphysik abholden" gediegenen Empirismus! (Nur im Verkennen der Veränderlich- keit unserer Rechtsüberzeugungen zeige sich die Schwäche dieser Natur- rechtslehre.) Einen weiteren Vorzug des Grotius, so belehrt uns der Verfasser ferner, sollen wir darin erblicken, daß bei ihm das Naturrecht nicht nur „einen für die theoretische Konstruktion notwendigen Begriff', sondern „eine Realität, eine lebendige inhaltreiche Macht über dem Staat" be- deutet. Also an einer Gleichsetzung des ungeschichtlichen, zeitlosen und abstrakten Naturrechts mit einer „Realität" soll es sich bewähren, daß die Diskussion „durch die geistige Potenz des Hugo Grotius auf dem realistischen (!) Boden festgehalten wird". Es scheint fast, als sei hier mit beabsichtigtem Wortwitz auf die mittelalterlich „realistische" Hypostasierung abstrakter Begriffe angespielt. Denn es ist Schmidt doch wohl bekannt, daß eine Anschauung um so realistischer, um so historischer ausfällt, je mehr das Naturrecht lediglich als „Konstruktion" und regulatives Prinzip und je weniger es als „Realität" gefaßt wird, ja, daß ein „Naturrecht" nur, wenn es ausschließlich als „kon- struktives Hilfsmittel" gilt, unter Umständen mit einer historischen Be- trachtungsweise verträglich sein kann? Daß Schmidt sich über die ge- samte Naturrechtsepoche der üblichen Auffassung recht fernstehende und wohl überhaupt nicht ganz durchschaubare Meinungen gebildet haben muß, davon möge man sich eine Vorstellung machen, wenn man hört, daß er an einer späteren Stelle die Zeiten und die Schriftsteller auf- zählt, die sich am meisten von philosophischen Erörterungen freihielten und deshalb jedesmal die „besten und reichhaltigsten, neuesten (!) und praktisch brauchbarsten Resultate" lieferten, und daß er bei dieser Musterung neben Aristoteles, Macchiavelli, Bodin, Grotius und der histo- rischen Staatslehre des 19. Jahrhunderts ganz unbefangen auch die „Aufklärungslehre" nennt! (S. 99.) Er ist also so unbegreif- lich uns das auch erscheinen mag nicht zu dem Ergebnis gekommen, daß die durch die Idee des Naturrechts charakterisierte „Aufklärungs- lehre" für ihn nach allen seinen modern antirationalistischen und histo- risch gerichteten Voraussetzungen gerade den eigentlichen Inbegriff des methodisch Verwerflichen darstellt.

Weniger auffällig, wenngleich ebenfalls irreführend ist die Gegen- überstellung von Bodins und Grotius „Konkurrenzauffassungen von Staat und Recht", wonach Bodin das Recht als Produkt des Staats, Grotius als über dem Staat stehend erklären soll. Hierbei wird doch gerade

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die der Naturrechtsperiode eigentümliche Lösung dieses Problems, näm- lich die Unterscheidung zwischen natürlichem und positivem Recht und damit das Wesentliche außer acht gelassen. Bodin verteidigt allerdings die Entbundenheit des Souveräns vom positiven Recht; aber erstens vertritt Grotius hinsichtlich der „bürgerlichen Gesetze" (allerdings nicht hinsichtlich der „Grundgesetze") dieselbe Ansicht, und andrerseits erkennt Bodin in Übereinstimmung mit Grotius bekanntlich Naturrechts- schranken der Staatsgewalt ausdrücklich an. (Vgl. dazu z. B. Gierke, Althusius S. 2 8 5 ff., 295 Anra. 75, 297 ff. ; Rehm, Geschichte S. 229, 246). Schmidts Behauptung, Grotius verwerfe „mit noch größerer Prä- zision als Bodin das Postulat einer Volkssouveränetät", ist entgegenzuhalten, daß erstens von Bodin die Vorstellung der Volkssouveränetät noch als „selbstverständliche Basis festgehalten" wird (s. Gierke, Alth. S. 80 u. vgl. S. 84 Anm. 27 u. 28) und daß zweitens von einer „präzisen" Ver- werfung der Volkssouveränetätslehre auch bei Grotius keine Rede sein kann; im Gegenteil, Grotius vermag sich gerade von der Annahme einer ursprünglichen Volkssouveränetät gar nicht völlig loszureißen (vgl. Gierke, Alth. S. 174 f. u. 84 Anm. 27).')

Die Darstellung der Aufklärungslehre beschränkt sich wenigstens im großen und ganzen auf eine paraphrasierende, wenn auch wie stets in nicht gerade reservierter Sprache gehaltene Wiedergabe des aus den ver- schiedenen Lehrbüchern zusammengestellten Stoffes. Daß bei solchem etwas eiligem Verfahren hie und da, wenn es der Zufall gerade will, irrige Ergebnisse anderer Forscher ungeprüft übernommen werden, ist freilich nicht zu vermeiden (vgl. z. B. über eine derart zustandegekommene „Verzerrung Montesquieus" den Nachweis Jellineks in Grünhuts Zeit- schrift Bd. XXX S. 1 ff.). Es mag hervorgehoben werden, daß unter anderem alles, was über das Prinzip der Gewaltenteilung bei Locke und Montesquieu berichtet wird, durch eine allzu ungenaue Benutzung der sekundären Quellen schief geworden ist. Weder dringt Locke ausschließ- lich auf eine vollständige Trennung von Legislative und Exekutive, noch unterscheidet sich Montesquieu durch eine stärkere Vermengung beider. Das Umgekehrte zu behaupten wäre richtiger gewesen (vgl. z. B. Jellinek, Gesetz und Verordnung S. 64 ff., Rehm, Allgemeine Staatslehre S. 229, 236). Auch hätte Schmidt Locke und Montesquieu nicht ausdrücklich den gemeinsamen Vorwurf machen sollen, daß sie die Regierung ledig- lich als mechanische Exekutive des Gesetzeswillens auffaßten (S. 261), während doch in Wahrheit, wie Jellinek ausführlich dargetan hat (a. a. O. S. 30, 64 ff.), Locke sich gerade durch Betonung des selbständigen Moments in der Regierung (Prärogative) von der französischen Theorie

') Wir zitieren aus den oben (S. 463) angegebenen Gründen mit Vorliebe gerade dies für jede auch nur flüchtige Darstellung älterer Staatstheorien unentbehrliche Buch von Gierke.

Archiv für Soxiatwiwenschaft u. Soitalpolitik. 1. (A. f. ml G. u. St. XIX.) 1.

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Literatur.

des Konstitutionalismus unterscheidet. Hume wird aus der Aufklärung' vollständig herausgenommen, und mancher ganz Unkundige könnte sich leicht zu dem Irrtum verleiten lassen, als ob Hume hier wirklich von Schmidt eine ihm gebührende „weit höhere Rangstellung" zum ersten Male angewiesen worden sei; und dies im Gegensatz zu der „bis heute üblich gebliebenen" Manier, Hume „mehr als Totengräber der Aufklärung denn als Herold einer neuen Betrachtungsweise" hinzustellen und ihn, wie auch die „neueren Philosophiehistoriker" Kuno Fischer und Windel - band getan haben, als „bloßen Nachfolger der Lockeschen Aufklärungs- philosophie" zu behandeln. Sieht man sich nach dieser wiederum viel- versprechenden Einleitung an, was Schmidt über Hume eigentlich zu sagen weiß, so merkt man zu seiner Enttäuschung sofort, daß er im wesentlichen auch hier das reproduziert, was schon bei dem „neueren Philosophiehistoriker" Windelband sich findet. Es handelt sich um die beiden Gedanken, daß Hume einmal durch Eingliederung des In- dividuums in das Gesamtleben der Gesellschaft und sodann durch seine Leugnung der atomistischen und abstrakten Vertragstheorie über das Aufklärungszeitalter hinausweise (vgl. bes. Windelband Geschichte der neueren Philosophie, 2. Aufl. Bd. I, S. 348 fr., Geschichte der Philo- sophie 2. Aufl. S. 423). Hätte Schmidt sich wenigstens über seinen Lieblingsdenker die gangbarste sekundäre Literatur angesehen, so hätte er übrigens erfahren können, daß Hume die Vorstellung des Urvertrags (original contract) keineswegs, wie Schmidt meint, schon ganz konsequent verwirft und „endgültig erledigt" (S. 71, 76, 84), ja daß er gerade an die Tatsache eines ursprünglichen Vertrages glaubt, ihm jedoch für die späteren Generationen was allerdings sehr bedeutsam ist keine bindende Kraft zuerkennt (vgl. z. B. Gierke, Alth. S. 82 Anra. 21, 84 Anm. 27, 88 Anm. 38, auch 112 Anm. 91).

Das genaue Gegenstück zu Hume in der Schätzung des Verfassers bildet Rousseau. „Vom Standpunkt der wissenschaftlichen Erkenntnis aus betrachtet" habe Rousseau „nur zersetzend und auflösend in den großen Geistesprozeß der Epoche eingegriffen". Die Bedeutung von „wissen- schaftlich" muß hier sehr eng gemeint sein. Denn z. B. die von Kant und Hegel akzeptierte, auch für die „Wissenschaft" bekanntlich sehr ein- flußreich gewordene Betonung des Willensmomcnts in Staat und Recht (vgl. darüber z. B. Ahrens, Naturrecht 6. Aufl. I S. 180, 182 Anm., Fester, Rousseau u. d. deutsche Geschichtsphilosophie S. 2 78 f., Jellinek, System d. subj. öfltl. Rechte S. 40) und ebenso die Unterscheidung von partikularen Gesellschafts- und universalen Staatsinteressen, durch die Rousseau gleichfalls ein Vorläufer Hegels geworden ist (vgl. Jellinek a. a. O. S. 133 f., Haymann, J. J. Rousseaus Sozialphilosophie S. 7 6 ff.), hätten doch auch von dem wissenschaftlichen Standpunkt Schmidts aus wenigstens als mildernde Umstände wirken sollen; dasselbe gilt noch mehr von der für die Folgezeit vorbildlichen scharfen Ausprägung des

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Gesetzesbegriffes bei Rousseau, die einen gewaltigen Einfluß nicht nur auf die gesamte Verfassungsgeschichte des Revolutionszeitalters, sondern auch auf die „Wissenschaft", sogar auf die positivste Jurisprudenz aus- geübt hat (vgl. Jellinek, Ges. u. Verordn. S. 51fr., 54, 96 f.; über den Einfluß von Rousseaus Volkssouveränetätslehre auch Rehm, Allg. Staatsl. S. 238/39). Rousseau, sagt Schmidt, „enthält die Methodelosigkeit der Naturrechtslehre dadurch, daß er sie ins große übertreibt". Nichts ist überhaupt dem Verfasser mehr zuwider als Methodelosigkeit und Unexakt- heit in der Wissenschaft! So wendet er sich an einer späteren Stelle in einer kleinen, aber wuchtigen Anmerkung (S. 288) gegen „die für den Unkritischen verführerischen politischen Aphorismen des soeben ver- storbenen methodelos philosophierenden Poeten Nietzsche" ; so erteilt er aber auch Stammler eine strenge Verwarnung, weil er Marx gerade so ernsthaft widerlege, als handele es sich um die Theorien eines wirk- lichen ordentlichen Gelehrten. „Stammler tut der ganzen Theorie wohl zuviel Ehre an, wenn er mit dem schwersten wissenschaftlichen Kaliber diese Widerlegung unternimmt" (S. 106 Anm.).

Ganz anders ab Rousseau wird Kant behandelt, der doch gerade als Politiker Rousseau sehr nahe steht. Wo Schmidt freilich die großen Gedanken des Auf klärungszeitalters berührt, da tut er es auch bei Kant mehr entschuldigend, als würdigend, nennt sie „weitausgreifende Speku- lationen", die für den „alternden Philosophen" den „näherliegenden praktischen Kern" seiner Lehre „in seinem Innenleben verdunkelten". Er bemüht sich darum, seinen Grundbestrebungen treu, die Ideen Kants möglichst in „näherliegende" praktische Verdienste umzuwandeln, wobei er zu dem merkwürdigen Ergebnis kommt, daß die Wahrung des Rechts bei Kant nicht einziger Staatszweck sei, sondern neben die Kultur- tätigkeiten trete (vgl. S. 84 f. u. 146 Anm. 1). Wie wenig Schmidt sich mit der Bedeutung der wenn auch aus fremden Büchern entnommenen so doch immerhin von ihm selbst gebrauchten Termini vertraut gemacht hat, erkennt man um wieder lediglich ein Beispiel herauszugreifen daraus, daß er zwar unbedenklich zugibt, Kant betrachte das Vertrags- prinzip „nur" wie es ausdrücklich heißt als „regulative Idee", nichtsdestoweniger aber Kant vorwirft, er gerate dadurch mit seiner eigenen Rechtslehre in Widerspruch. Denn nach dieser entstehe das Recht erst im Staat, der Staatsvertrag hingegen setze doch schon einen Rechtssatz voraus. Schmidt hat also nicht recht beachtet, daß wenn man den Staatsvertrag lediglich ein regulatives Prinzip nennt, er dann eben nur einen ideellen Prüfstein und nichts formell Rechtliches be- deuten soll, insofern also gerade nicht „einen Rechtssatz voraussetzt".

An sich wäre es ungerecht, dem Verfasser als einem Einzelwissen- schaftler Fremdheit gegenüber der Philosophie vorzuwerfen. Aber warum zeigt er dann den Ehrgeiz, die großen philosophischen Systeme mit be- sonderer Vorliebe zu behandeln und zwar meist viel wortreicher als ihre

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staatswissenschaftlichen „Ergebnisse"? Ein Grund dafür ist wirklich nicht zu entdecken. Für Leser mit sehr großer Vertrauensseligkeit muß man aber deshalb bange sein, weil bei Schmidt gerade alles „Philosophische" in einem seltsamen Tone von Sicherheit und in nicht gerade schlichter Sprache vorgetragen wird; z. B. : ,,Als echtes und rechtes Kompromiß- produkt der Scholastik und der Renaissancephilosophie verlegt er (Locke) seine Marschroute in die Mittellinie zwischen die bisherige dualistische und materialistische Richtung" (S. 64) oder: „Allerdings läßt die neue Syste- matik auf die Staatslehre ihr Licht nur zögernd fallen (!), und auch dann ist die Beleuchtung zunächst eine sehr einseitige. Bacon von Verulam, obwohl als Minister Jakobs I. mit allen Salben der politischen Praxis ge- rieben, vermied doch ein theoretisches Eingehen auf das Staatsleben . . ." (S. 60) usw. ') Von Spinoza heißt es: „Die mathematische Denkmethode Descartes' mit einer starken pantheistischen Überzeugung verschmelzend erhebt er den allumfassenden und einzigen geometrischen Raum zur Ein- heit der göttlichen Substanz" (S. 61). Hier ist offenbar ein kleiner Irr- tum bei der Quellenbenutzung untergelaufen. Windelband sagt nicht, daß Spinoza den Raum irgendwie zur Substanz macht oder „erheb t" ; das wäre ja völlig sinnlos, da, wie jeder weiß, der jemals etwas von Spinoza gehört hat, die Räumlichkeit nur eins der Attribute der Sub- stanz ist; nein, Windelband gebraucht den Raum nur als veranschau- lichende „Analogie" zur Erläuterung des Wesens der Substanz. Ganz in dieser Art ist alles „Philosophische", insbesondere aber die neun Seiten füllende Darstellung Kants ausgefallen, von der sechs Seiten der Philosophie allein gewidmet sind. Da heißt es, daß man Kant zwar zu- nächst als Fortsetzer Humescher Gedanken zu betrachten habe. Und dann folgt der vielsagende Satz: „Aber man versteht Kant doch nur dann ganz, wenn man sich klar macht, daß er sich selbst von dem begabtesten seiner Vorläufer nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ unterscheidet" (S. 78). Auch die Kantische Moral philosophie, der sogar an mehreren Stellen eine sehr eingehende Beachtung gegönnt wird, ist unter den Händen Schmidts zu einem recht eigentümlichen Gebilde ge- worden (vgl. bes. S. 80 83, 169 174). Den verschiedenen Windungen dieser Darstellung zu folgen dürfte unmöglich sein. Bald erscheint die „Willensautonoraie" als der Grundpfeiler der Kantischen Ethik, bald soll gerade umgekehrt dem „Streit um Autonomie oder Heteronomie" „ein eigentlicher Gegensatz nicht oder doch nicht notwendig zugrunde liegen". „Der prinzipielle Gegensatz Kants mit (!) den. älteren Ethikern" zeigt sich vielmehr erst an der Frage, wie das Dasein der Wert- urteilsformen zu erklären und wie es „innerhalb der menschlichen Gattung" entstanden sei (S. 173 Anm. 1). Schmidt widerlegt (!)

J) Ein wirklich anschauliches Bild von der das ganze Buch gleichmäßig aus- zeichnenden Geschmücktheit der Sprache zu geben, ist unmöglich.

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sodann die Berechtigung dieser ungehörigen Kantischen Fragestellung nach der „Herkunft" der Sittlichkeit (vgl. S. 81 f. u. 173 f.) und be- lehrt uns. daß in Wahrheit sich „dieser Meinungsgegensatz mit den Mitteln objektiver psychologischer Forschung nicht schlichten" lasse. Im ganzen stellt sich Schmidt aber durchaus auf die Seite des von ihm dergestalt gereinigten Kantischen „Intuitivismus", der das Sittengesetz als „das nicht tiefer erklärbare Produkt des intelligenten Menschen oder des übererfahrungsmäßigen höheren Willens" erfaßt (S. 172). Hoffen wir wenigstens, daß dieser „intelligente Mensch" durch das Mittelglied eines Druckfehlers vom „intelligiblen Charakter" abstammt!

Der das Resultat der historischen Übersicht resümierende Schluß- paragraph des Kapitels enthält zunächst im engsten Anschluß an Dilthey und v. Below einige völlig zutreffende und überzeugende Ausführungen über die prinzipielle Unmöglichkeit, durch geschichtsphilosophische Spekula- tion und soziologische Systematik die geschichtlichen Inhalte in ihrer konkreten Einmaligkeit zu erfassen (S. 103 fr.). Im übrigen aber ist der Ertrag an „methodologischer" Einsicht doch sehr dürftig ausgefallen. Insbesondere bleiben all die häufig wiederkehrenden Bemerkungen über „periodische Gesetzmäßigkeit" oder „gesetzmäßige Pendelschläge", die trotzdem keineswegs „regelmäßig und konstant" auftreten sollen, über „politische Entwicklungsgesetze" usw. in so proteusartiger Vieldeutigkeit, daß darunter ungefähr jeder überhaupt mögliche Standpunkt gedacht werden kann (vgl. dazu S. 6, noff., 238 fr., 253, 2S4, 2S7, 289 f., Bd. II, S. 863, 874 fr.). In Wahrheit liegt Schmidt das Interesse für die metho- dologische Betrachtungsweise völlig fern. Wir würden dies zu erwähnen ja keinen Grund haben, wenn nicht durch die ganze dogmengeschicht- liche „Skizze" des ersten Kapitels die hier endlich fixierte „methodolo- gische Grundlage" so großartig vorbereitet worden wäre. Und auf das peinliche Mißverhältnis zwischen den eigenen Ankündigungen des Ver- fassers und seinen Leistungen mußte auch an diesem Punkte hinge- wiesen werden.

Das 2. Kapitel (Bedingungen, Aufgaben und Wesen des Staats) muß trotz der rhapsodischen Anordnung des Stoffs und des auch hier fühl- baren Mangels an Selbständigkeit als das am besten gelungene bezeichnet werden. In diesen strenger Systematik von vornherein unzugänglichen Regionen des ethnologischen, soziologischen und historisch-politischen Forschungsgebietes können die sonstigen wissenschaftlichen Eigentümlich- keiten des Werkes am meisten zurücktreten. Wir rinden hier anfangs im Anschluß an Großes Buch über die Formen der Familie Bemer- kungen über die Urentwicklung von Familie und Stamm, über die Be- deutung der Seßhaftigkeit, über die ethnologisch wie begrifflich begründ- bare Unabhängigkeit des Staates von der Abstamraungsgemeinschaft. Es zeigt sich auf diesem Gebiete die Bekanntschaft des Verfassers mit historischer Literatur und seine Fähigkeit, die Darstellung durch zuweilen

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Literatur.

glücklich gewählte Beispiele anschaulicher zu machen 14 und 15). *) Manche gute historische Belege enthält auch der Paragraph über die „Aufgaben des Staates" (5 17), der im übrigen jedoch Allzugeläufiges viel zu breit behandelt.

Mit Recht statuiert Schmidt in diesem Kapitel, in dem auch der weiteste soziale Begriff des „Organs" gewonnen wird, von seinem all- gemeinsten sozial wissenschaftlichen Kriterium des Verbands- begrines aus eine Wesensgleichheit sämtlicher Verbände : des Staates, der Gemeinde, der Provinz, der Kolonie, der Horde und des Stammes (j{ 16). Diese „Wesensgleichheit aller Verbände" ist überhaupt eine der durch das ganze Werk sich hindurchziehenden Lieblingsideen des Verfassers. Leider steigen aber bei ihm derartige an sich ja berechtigte Behaup- tungen, die jedoch in dieser Allgemeinheit lediglich weder beweisbare noch bestreitbare Apercus bedeuten, selten bis zu solcher Schärfe und Durchdachtheit empor, daß sie für die wissenschaftliche Erkenntnis recht fruchtbar werden könnten. So dürfte er, auch in diesem Punkte in allzu generalisierender und unbestimmter Denkungsweise verharrend, den Wert der „weitschichtigen" (S. 142), aber trotzdem nicht ganz unange- brachten neueren Untersuchungen über die nach so vielen Richtungen denn doch erheblichen Gegensätzlichkeiten innerhalb des umfassenden VerbandsbegrifTs unterschätzen. Er weiß sich in der Lehre von der Gleichartigkeit aller Verbände mit Gierke, ferner z. B. mit Rosin und Preuß eins (vgl. z. B. S. 13, 142 f.) und konstatiert mit Genugtuung und ohne allzuängstliches Abwägen, daß in dieser Frage jetzt eine allgemeine Einmütigkeit eingetreten sei. „Auch diejenigen Gelehrten, die früher (!) geneigt waren, eine Sonderstellung des Staates vor den übrigen Ver- bänden zu behaupten, haben die Richtigkeit dieses Standpunktes aner- kannt (vgl. z. B. Laband, Staatsrecht des deutschen Reichs I. 63, wo er auch in der Familie das Element der Herrschaft über ihre Glieder in der an und für sich gleichen Form betont, in der es auch im Staat auf- tritt)". (S. 13 Anm.) Jedem auch nur ganz flüchtigen Kenner der neueren staatsrechdichen Literatur wird diese Bemerkung eine gewaltige Überraschung bereitet haben. Sollte Schmidt wirklich die in zahl- losen Lehrbüchern reproduzierte Stellungnahme Labands in dieser be- rühmten Streitfrage nicht kennen? Sollte er nicht wissen, daß Laband nach wie vor Anhänger der „Herrschaftstheorie" Gerbers geblieben ist und auch in den neueren Auflagen seines Staatsrechts daran festgehalten hat, im Merkmale des „eigenen Herrschaftsrechts" (so die Formulierung seit der 2. Aufl.) den „spezifischen Unterschied" zwischen dem Staat und den übrigen Verbänden, den „festen Punkt zur begrifflichen Unter- scheidung zwischen Staat und Gemeinde" zu sehen? Laband polemi-

') Vornehmlich an solche Bestandteile des Schmidtschen Buches hat die sehr lobende Besprechung v. Bclows angeknüpft (Historische Zeitschrift Bd. 90;.

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siert ja gerade ausdrücklich gegen die von Gierke, Rosin und anderen vertretene Lehre von der prinzipiellen Gleichstellung des Staates mit den Gemeinden und den Korporationen des Privatrechts, somit genau gegen die Auffassung, zu der er sich nach Schmidt bekehrt haben soll. Wenn Schmidt sich nun gar auf die Bemerkung Labands über die Familie be- ruft, so gewinnt man den Eindruck, als ob er diese bekannte Stelle gar nicht vor Augen gehabt haben könne. Denn sonst wäre ihm doch gewiß aufgefallen, daß Laband die Familiengewalt, die nämlich noch einen „schwachen Abglanz" ihres „ehemals staatlichen Charakters" bewahrt habe, gerade als eine die Regel bestätigende Ausnahme behandelt, daß er deshalb behauptet, von diesem „geringfügigen Rest" abgesehen gäbe es keine Privatgewalt im heutigen Recht und daß er eben deshalb gerade auch an dieser Stelle seine ihn von Gierke, Rosin u. a. tren- nende Auffassung auf das schärfste formuliert und fortfährt: „Der Staat allein herrscht über Menschen. Es ist dies sein spezifisches Vorrecht, das er mit niemandem teilt." Wir haben dies Beispiel hervorgehoben, um Schmidts überall etwas souveränes, jedes Eindringen und alle Genauigkeit verschmähendes Verfahren zu kennzeichnen, und zu zeigen, mit welch überraschender Leichtigkeit er sich ganz gelegent- lich über die wichtigsten Fragen der Publizistik mit fremden Autoren auseinandersetzt.

Im 3. Kapitel (Verhältnis des Staats zum Recht) kann es sich der Verfasser, der nun einmal durchaus nicht nur als Methodolog, sondern auch als Philosoph auftreten will, leider wieder nicht versagen, in größter Breite auf „philosophische" Prinzipienfragen einzugehen. Bei dieser Ge- legenheit zeigt er aufs neue seine auffallende Vielseitigkeit, indem er Kant, Savigny und Gierke zu einer rechtsphilosophischen Mischung eigener Art zusammenarbeitet. Aus Kant will er herausgelesen haben, daß, weil die Rechtssätze ihren Inhalt der Moral und Sitte entnehmen, die rechtsschaffende Kraft im „Seelenleben des Einzelmenschen" und zwar in „der nicht weiter zerlegbaren Fähigkeit (!) der Willensautonomie" liege. Es ist überhaupt ein angeblich von Kant hergeholter Lieblings- gedanke Schmidts, daß das Recht einer „regelproduzierenden Kraft im Individuum" entstamme (z. B. S. 170 f., 174, 192, 218, 239). Wie Schmidt mit einem so absonderlichen Individualismus und Atomismus in der Lehre von der Rechtserzeugung noch den Standpunkt Savignys und der historischen Rechtsschule in Einklang zu bringen vermag, muß rätsel- haft bleiben. Dagegen gewährt uns diese spätere Stelle einen erwünschten Aufschluß über einen an sich mystisch klingenden Vorwurf gegen Savigny (s. die Darstellung Savignys S. 93 fr.). Savigny, der im übrigen wie Schmidt auf Grund seiner Hume- und Kantforschungen konstruiert „die Hauptgedanken der Humeschen und Kantischen Moralphilosophie zu einer neuen Wendung zusammenzieht", blieb dennoch die für das Ver- ständnis der Rechtserzeugung ganz unerläßliche „Wichtigkeit der Willens-

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autonomie des Individuums verschlossen"; und daraus erklärt sich „die gewisse Flüchtigkeit, mit der Savigny über die Vorstellung eines unmittel- bar rechtschaffenden Volksgeistes zur Tagesordnung überging". Welche bisher ungeahnten gleichzeitig historischen und systematischen Perspektiven eröffnen sich hier wieder einmal! Die „Willensautonomie" unter der sich der Verfasser einen geheimnisvoll funktionierenden psychischen Apparat zu denken scheint unentbehrlich für die Erkenntnis der Rechtsentstehung I Diese ganze Behandlung, der Savigny hier unterworfen wird, zeigt wiederum, in welchem Sinne Schmidt bei seiner ebenso vielseitigen wie unbefangenen Anlehnung an ältere Autoritäten sich nicht nur die Ideen Kants, sondern auch die Gedankenwelt Savignys angeeignet hat, den er doch als eins der Vorbilder der modernen Wissenschaft mit größter Emphase feiert.

In gewohnter Kürze und mehr im Vorübergehen sucht Schmidt von seinem Hume-Kant-Savignyschen Standpunkt aus auch zur „Hauptfrage (?) der modernen Rechtslehre", ob das Recht einen „Allgemeinwillen" oder eine „allgemeine Rechtsüberzeugung" bedeute, Stellung zu nehmen. Mit seiner Basierung des Rechts auf die „Überzeugung" der Individuen meint er sich im Sinne der letzteren Anschauung entschieden zu haben und insbesondere auf seiten Gierkes zu stehen. Er lebt nämlich in dem Glauben, die Überzeugungstheorie unterscheide sich von der Willens- theorie durch Verwerfung der staatlichen Omnipotcnz der Rechts- schöpfung und durch Verlegung der rechtserzeugenden Kraft in die „Überzeugung" der einzelnen. Daß bei solchen Formulierungen die Übereinstimmung mit der Überzeugungstheorie und insbesondere gerade mit Gierke wieder etwas äußerlich ausfallen mußte, liegt auf der Hand. Von der Art von Individualismus, die Schmidt entdeckt hat, sind ja alle Theorien gleich weit entfernt, und alle betonen den sozialen Ursprung des Rechts. Ganz überraschenderweise verquickt Schmidt hier außerdem, seine philosophische Kombinationsgabe noch einmal erprobend, mit dem Gegensatz der beiden Theorien die Kantische Unterscheidung von Legalität und Moralität. Er belehrt uns nämlich, daß nur die Willenstheorie, verfuhrt durch diese „anfechtbare" Kantische Unterscheidung, „zwischen Moral und Recht einen prinzipiellen Unter- schied mache", „dem Recht eine prinzipiell andere Funktion (Regelung der äußeren Freiheit) im Gegensatz zur Moral zuspreche" (5. 1 7 r Anm.). Jeder, der auch nur den allgemeinen Teil unserer juristischen Lehrbücher angeblättert hat, wird uns eine ausführliche Widerlegung dieser ver- blüffenden Behauptung erlassen. Wäre eine solche erforderlich, so würden wir uns auch hier auf einen einzigen Anhänger der Überzeugungstheorie beschränken, auf Gierke und innerhalb der Schriften Gierkes auf eine einzige Stelle, nämlich auf die von Schmidt selbst zitierte im „Deutschen Privatrecht", woselbst Gierke das Recht im objektiven Sinne als die Normen definiert, die nach der erklärten Uberzeugung der Gemeinschaft das menschliche Wollen äußerlich binden.

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Doch wir müssen nach so vielen rechtsphilosophischen Leistungen den Verfasser nun auch als eigentlichen Juristen kennen lernen.

Am eingehendsten wird das „rechtliche Wesen des Staats", die „Staatspersönlichkeit" 2 5), untersucht. Hier wird die „prinzipale Alternative (!), vor die sich die Wissenschaft gestellt sah , die Wahl zwischen den drei (!) Möglichkeiten" Herrscher-, Fiktions- und orga- nische Theorie richtig reproduziert. Ein individuelleres Gepräge er- halten diese Ausführungen aber erst, sobald des Verfassers Versuche be- ginnen — entsprechend seiner in der Einleitung angekündigten Tendenz , alles Theoretische und Begriffliche auf möglichst wenig verwickelten Umwegen in irgend einen „praktischen" Sinn umzudeuten (S. 22311.). Schon wenn er sich damit begnügt, in der Herrschertheorie „den prä- zisen Ausdruck des absoluten Staates" zu erblicken, vermag er bei solch ausschließlicher Beachtung der politischen Seite der Lehre ihrem syste- matischen Gehalt, ihrer Deutungs- und Konstruktions seite doch gar nicht gerecht zu werden. Der für die gesamte Entwicklung und systematische Erkenntnis der staatsrechtlichen Grundbegriffe so bedeut- same, in der „Herrschertheorie" typisch ausgeprägte Charakter einer Identifikation von Staat und Staatsorgan wird von ihm grundsätzlich un- berücksichtigt gelassen. Keine große Kenntnis der Herrschertheorie veiTät ferner die Behauptung, daß die Anerkennung der Bürger als „dem Staat gegenüber gebundener und berechtigter Subjekte" über den Streit der Theorien erhaben sei (S. 222 Anm. 2; vgl. demgegenüber z. B. einfach Bornhak, Allgemeine Staatslehre, bes. S. 78 ff.). Nicht recht verständlich ist Schmidts Polemik gegen die „gemischte Staatsform", die er mit der Herrschertheorie in engsten Zusammenhang bringen will. Zuzugeben ist Schmidt soviel, daß die Herrschertheorie an der Konstruk- tion von Staaten mit mehreren voneinander unabhängigen obersten Organen scheitert, da ja nach ihr mit der Unteilbarkeit der Staatsgewalt im objektiven Sinne auch eine Mehrheit von obersten Organen nicht verträglich ist. Wenn er aber daraus die Doktrin der „gemischten Staatsform" als Konsequenz und einzigen Ausweg der Herrscher- theorie hinstellt, so kann er in diesem Augenblick nicht gut irgend etwas im Sinne gehabt haben, was man sonst unter der Lehre von der „ge- mischten Staatsform" versteht; es wurde ja auch diese Doktrin gerade von Anhängern der Herrschertheorie stets verworfen und umgekehrt von deren Gegnern, wie z. B. in der Gegenwart von Rehm, vertreten (vgl. die von Schmidt selbst S. 224 Anm. zitierte Stelle: Rehm, Allgemeine Staatslehre S. 192 ff.).

Ihre höchsten Triumphe aber feiert diese praktische „juristische" Erklärungsmethode bei Entscheidung der Frage, ob der Staat als fingierte oder als reale Gesamtperson zu gelten habe. Zwar sei, so argumentiert Schmidt zunächst, durch die Unannehmbarkeit eines realen Gesamtwillens auch der Nachweis einer realen Staatseinheit durchaus gescheitert, so daß

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also anscheinend die „Fiktionentheorie" gesiegt hat. Aber das ändert sich sofort, sobald man sich nur zu dem hinter all dem Theoretischen steckenden verborgenen Sinn durchzuringen vermag. Auch hier muß selbstverständlich eine „praktische Frage den Ausschlag geben", und zwar die, welche Theorie wohl dem Verhältnis der Staatsbürger zur Regierung „besser entspricht". Und stellt man die Frage so, dann muß der organischen Theorie sofort ein Vorzug eingeräumt werden. Denn keine andere Theorie versteht es, das Zusammengehörigkeitsbewußtsein der Volksgenossen, das „unter der gemeinsamen Gesetzgebung, Regierung und Verwaltung erwächst und fortbesteht" (S. 230), so gut zum Aus- druck zu bringen wie eben die organische Theorie. Ja, was bedeutet denn überhaupt die „These, daß die Verbandsperson nicht nur eine fingierte, sondern eine reale Gesamtperson sei?" Was soll denn diese ganze Genossenschaftstheorie Gierkes ? Sie ist, so vernehmen wir an der entscheidenden Stelle, „nur die Einkleidung der Forderung, daß wenn gesunde politische Verhältnisse bestehen sollen, möglichst viele einzelne, der Durchschnitt der Bürger, die Tätigkeit der Staatsorgane billigen müssen, oder, um es anders auszudrücken, daß die staatlichen Organe bestrebt sein müssen , in ihrer Tätigkeit den Erwartungen und An- schauungen der Bürger Rechnung zu tragen". So versteht es der Ver- fasser Gierkes Genossenschaftstheorie in milde Weisheit sanft aufzulösen. Seine Fähigkeit, das Unbequeme, das leider theoretischen Konstruktionen nun einmal anhaftet, bis auf den letzten Bodensatz zu beseitigen, erreicht an dieser Stelle wohl ihren Höhepunkt. Den Staat mehr oder minder real nennen das bedeutet, ihm einen höheren oder niederen „Grad der rechtlichen Vollkommenheit" zuschreiben, und „die reale Gesamt- person bezeichnet den relativ obersten Grad der Vollkommenheit". Je mehr einzelne Bürger die Staatstätigkeit billigen, desto weniger fiktiv und desto realer wird der Staat. Der Verfasser sagt es selbst so schön: „Die Ver- bandspersönlichkeit des Staats steigert sich um so mehr zu einer realen Gesanitpcrson, je breiter und intensiver der Rückhalt ist, den die hinter den handelnden Organen stehende Billigung der Bürger, deren einheit- liche Rechtsüberzeugung bietet" (S. 237). Welcher Reiz liegt allein in der hier angenommenen Gradationsfähigkeit der Realität!

Die derart vollbrachte Entdeckung Gierkes wirft zugleich ein über- raschendes Licht auf die frühere Bemerkung Schmidts, daß Gierke in- folge seiner Verwandtschaft mit Althusius dessen Lehre etwas zu hoch einschätze. Man kann es zwar Gierke nicht gerade verdenken, wenn er erstaunt fragt (Alth. 2. Aufl. S. 330 Anm. 11), „wo der die Unbefangen- heit trübende Zusammenhang zwischen geschichtlich- organischer Staats- auffassung und naturrechtlicher Gesellschaftskonstruktion stecken soll". Allein wir verstehen nunmehr vollständig, was hier gemeint war. Den Sozialvertrag im Sinne Kants und Rousseaus erläutert Schmidt durch die regulative Idee einer allgemeinen Zustimmung der Staatsbürger. Es wird

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nun an der betreffenden Stelle (S. 84 Anm. 2) darauf aufmerksam ge- macht, daß über den „realen Kern" dieser Fiktion unser Paragraph über die Staatspersönlichkeit ($ 25) Aufklärung gäbe. Auf denselben Para- graphen aber verweist auch die Anmerkung über die Verwandtschaft zwischen Althusius und Gierke (S. 58 Anm. 1). Dadurch enthüllt sich uns sofort der ganze Zusammenhang : der reale Kern des naturrechtlichen Sozialvertrags ist der Gedanke der allgemeinen Zustimmung, und der reale Kern von Gierkes Genossenschaftstheorie ist ebenfalls der Gedanke der allgemeinen Zustimmung. Überdies wird ja in dem Kapitel über Staatspersönlichkeit ausdrücklich hervorgehoben, daß Gierke mit seinem realen Gesamtwillen „offenbar" dasselbe „vorschwebt" wie Kant mit seiner Idee des übereinstimmenden „Willens aller", und in demselben Kapitel wird Rousseaus Volkssouveränetätslehre deshalb verworfen, weil sie allzu Gierkisch ist, zu wenig individualistisch, zu sehr auf die Idee eines realen „Gesamtwillens" aufgebaut! (vgl. S. 227 234. Gierke selbst scheint von diesen Schmidtschen Entdeckungen nie etwas geahnt zu haben; wenigstens polemisiert er umgekehrt gegen den in Rousseaus und Kants Idee des Allgemeinwillens steckenden schroffen Individualismus ; vgl. z. B. Alth. S. 116 f., 120 Anm. 121, 203 f., 208). So sehen wir denn Gierke in eine äußerst individualistische und revolutionäre Gesell- schaft geraten und überhaupt alle erdenklichen Gegensätze durch eine leicht und frei gefügte Kette von Assoziationen in friedlichste Nachbar- schaft zusammengerückt. Was noch nie jemand gewagt hat hier wird es Ereignis: kraft Eindringens in die realen praktischen Kerne werden Naturrechtslehre und Genossenschaftstheorie, Althusius, Rousseau, Kant und Gierke zu einer versöhnenden Einheit, zu einer coincidentia oppositorum empor- und aufgehoben.

Weniger vieldeutig als diese „juristischen" Aufschlüsse über das Wesen der Gesamtperson sind die der herrschenden Meinung wieder enger angelehnten Bemerkungen über den Rechtsstaatsgedanken, über die Ebenbürtigkeit von Staat und Recht, über die Unzulänglichkeit „bloß formaler" d. h. nicht in Volksmoral und Volkssitte wurzelnder Rechts- sätze. Auch im einzelnen jedoch entnimmt Schmidt gerade hierbei häufig das Material mit solcher Treue und so durchaus ohne eigene Verarbeitung fremden Schriftstellern (meist Preuß), daß ein genaueres Eingehen darauf unangebracht wäre. In dem Paragraphen über den Verfassungsstaat (jC 24) wird im wesentlichen mit größter Breite der eiserne Bestand der öffentlich-rechtlichen Lehrbücher vorgetragen, mit der bei dieser Sachlage etwas befremdenden gelegentlichen Bemerkung, daß auf anderweite Darstellungen „kaum" verwiesen werden könne. Leider ist von dem hierbei erwähnten „Ineinandergreifen" der staatsrecht- lichen Betrachtung mit den Forschungsergebnissen der „neueren Straf- rechts-, Strafprozeß- und Zivilprozeßliteratur" (S. 206 Anm.) nicht der geringste Ansatz zu merken. Auch die bereits im Vorwort stehende

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und an späteren Stellen öfter wiederholte Ankündigung, durch genaueres Eingehen auf ..Verwaltung und Rechtspflege" „die bisher übliche Form der allgemeinen Staatslehre erweitern" zu wollen, bereitet, was den auf ganz unbestimmte Andeutungen sich beschränkenden ersten Band an- langt, jedem Kenner der bisherigen Literatur über das Rechtsstaats- und Verfassungsstaatsproblem nur bittere Enttäuschungen (vgl. Vorrede S. VII, Bd. II, S. 841, 881 f.).

Es finden sich allerdings, worauf bereits anfangs im allgemeinen von uns hingedeutet wurde, unter allen diesen „praktischen"' Erwägungen und politischen Erörterungen auch solche, denen zweifellos eine etwas andere Bedeutung zugesprochen werden muß. So werden, wie anzuer- kennen ist, die Ausführungen über den kärglichen Bestand der Völker- rechtsordnung, über die durch Rassen- und Klassengegensätze erzeugten Konflikte der Rechtsüberzeugung im innerstaatlichen Leben, über den Wert von Verfassungsrechtssätzen durch manche Beispiele aus der poli- tischen Geschichte in wohltuender Weise verlebendigt (vgl. die 21, 22, 23). Mehr wird man freilich auch hier nicht zugestehen dürfen, da der Gewinn an pelitischer Einsicht überall äußerst gering ist, was besonders auch von den einen Teil des vierten Kapitels füllenden Ausführungen über die „Parteien" gilt, bei denen man nach neuen Anregungen gegen- über den hier zum treu befolgten Vorbild dienenden „Fragmenten zur Sozialwissenschaff Merkels vergeblich sucht (S. 238 255). Überall aber, auch bei den sonst durchaus annehmbaren politischen Deduktionen, wie z. B. bei denen über die „Staatsformen", stört die durch gänzliche Vernachlässigung juristischer Gesichtspunkte verschuldete Einseitigkeit. Wie alle übrigen staatsrechtlichen Begriffe bleiben insbesondere die des Staatsorgans, der Repräsentation, der Volksvertretung in undurchdring- lichem Dunkel; ebenso wird, wie nicht anders zu erwarten, bei den Bemerkungen über „die sogenannte politische Freiheit und Gleichheit" 21) von jedem Versuch abgesehen, die subjektiven öffentlichen Rechte etwa juristisch zu erfassen. Über die Frage der Zentralisation und De- zentralisation (§ 32) vernehmen wir nur die beim Verfasser üblichen vagen Bemerkungen über „Verteilung der politischen Bedürfnisse" mit einigen universalgeschichtlichcn Rückblicken, aber mit ängstlicher Ver- meidung gerade der modernen auf das Verhältnis von Staat und Gemeinde sich beziehenden Problemstellungen.

Es muß darum wenn wir unser Urteil noch einmal zusammen- fassen — sowohl vom philosophischen als vom einzelwissenschaftlichen Standpunkt aus bestritten werden, daß der Verfasser im ersten ') Bande seines Werkes das Ziel einer Grundlegung der „allgemeinen Staats- lehre" in irgendeinem Sinne erreicht hat. Denn seine philosophischen

l) Anm. d. Redaktion: Die folgenden Bände werden von juristischer Seite besprochen werden.

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und methodologischen Bemerkungen können hierbei nicht gut in Betracht kommen. Und als juristisch-politischem Dogmatiker ist es ihm nicht gelungen, „allgemein" und doch nicht unbestimmt und inhaltslos zu sein. Für das Fehlen aller staatswissenschaftlichen Konstruktion hat er aller- dings durch unaufhörliche Hinweise auf die gewiß unbezweifelbare Mannig- faltigkeit der geschichtlichen Welt eine Art von Ersatz zu bieten gesucht. Allein gerade dadurch ist selbst die an sich berechtigte historische Ten- denz jedenfalls in dem unserer Besprechung zugrundeliegenden ersten Bande unfruchtbar und gestaltlos geblieben, außer wo sie etwa bei ge- legentlich auftretenden historischen Einzelprobleraen bereits zur Geltung kommen konnte.

Zum Schlüsse können wir es uns nicht ersparen, auch auf einige Äußerlichkeiten des vorliegenden Buches hinzuweisen, weil gerade bei diesem Werke die äußere Herstellung ein treues Spiegelbild seiner sachlichen Eigenart ist und uns über vieles erst den endgültigen Auf- schluß gibt. Es entspricht nämlich schon die äußere Benutzung fremder Autoren genau der Unverarbeitetheit des Inhalts. Im allgemeinen soll doch die Auswahl und Zusammenstellung der einschlägigen Literatur wenigstens einigermaßen der eigenen Initiative des Forschers entspringen. Dies vermißt man jedoch bei Schmidt in einem das Übliche weit über- steigenden Grade. Die bunte Menge der Anmerkungen und Zitate sind allzuhäufig zur bedeutungslosen Staffage herabgesunken und geben dem Buch einen ungleich gelehrteren Anstrich als ihm gebührt. Selbst beim ersten Paragraphen (über die Aufgabe der allgemeinen Staatslehre), bei dem man doch noch am ehesten eine individuelle Auslese erwarten sollte, wird die gesamte Literatur aus § i und 2 der Rehmschen Staatslehre einfach herübergenommen, 12 Schriftsteller, darunter ein Zeitschriftenaufsatz und sogar eine kleine Rezension (!) ; es werden dabei ausnahmslos nur solche Seitenzahlen und nur solche einzelne Sätze aus den betreffenden Werken bei Schmidt angeführt, die sich auch bei Rehm schon zitiert fanden und also nur abgelesen zu werden brauchten (vgl. d. Literatur S. 1, ferner z. B. S. 8 Anm., S. 26 Anm.; mit der Zusammenstellung von Stellen S. 149 Anm. 1 vgl. Rehm S. 35 Anm. 4, mit S. 9/10 Anm. 1 a. E. vgl. Rehm S. 32). Als ein anderes Beispiel dieser Ablesetechnik mag erwähnt werden, daß die 20 und 24 sowie die Anmerkungen an einigen anderen Stellen in ähnlich bequemer Weise Anregungen von Preuß (Gemeinde, Staat, Reich) erfahren haben (z. B.: mit S. 176 Anm. 2, 178 Anm. 1, 183 Anm. 1 vgl. Preuß S. 201, 2, mit S. 214 Anm. 1 vgl. Preuß S. 215 f., mit S. 218 Anm. 1 vgl. Preuß S. 151 u. 152 Anm. 45, mit S. 147 Anm. 1 vgl. Preuß S. 80 Anm. 178, mit S. 222 Anm. 3 vgl. Preuß S. 299 u. 264). Es fällt uns keineswegs ein, hier etwa im Sinne der Plagiatriecherei ein verwerfliches Verhalten aufdecken zu wollen; nur das soll ausdrücklich festgestellt werden, daß diesem ganzen Herstellungsverfahren die allergrößte Eile deutlich anzumerken

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Literatur.

ist und daß sich Schmidt nicht einmal die Zeit nimmt, die von ihm angeführten Bücher auch nur anzusehen! (So zitiert er z.B. S. 22s Anm. 3 einige Definitionen aus: „Gerber, Grundzüge des deutschen Staatsrechts S. 16", die gar nicht in Gerbers „Grundzügen" vorkommen ; bei Preuß S. 264 steht nämlich bei den betreffenden Gerberschen Sätzen „a. a. O. S. 16", was sich jedoch, wie man beim Zurückblättern sieht, auf einen Zeitschriftenaufsatz von Gerber bezieht 1 Bei anderen Autoren irrtümlich angegebene Zitate werden von Schmidt ohne jede Nachprüfung reproduziert; so wird z. B. Stammler falsch zitiert S. 96 Anm., nach Below, Histor. Zeitschr. Bd. 81, S. 213, richtig Below, Hist. Zeitschr. Bd. 78, S. 82 , ebenso die Jahreszahl von Dahlmanns „Politik" S. 27 Anm., nach Rehm, Allg. Staatsl. S. 9 Anm. 2 , und auch sonst sind mannigfache Spuren der Herübernahme falscher Zitate zu merken. S. 120 Anm. heißt es: „Dies ist vor allem durch B. Delbrück in der Historischen Zeitschrift Bd. 71 S. 463 ff., 489 ff. und in den Preußischen Jahrbüchern Bd. 79, 1895, S. 16 erwiesen worden." In Wahrheit findet sich nur an der zuletzt genannten Stelle ein Aufsatz von Delbrück; von den beiden anderen dagegen ist die eine eine mit N. unter- zeichnete Besprechung einer Schrift von Delbrück, die andere eine Be- sprechung Belows von Lamprechts Deutscher Geschichte 1 Wieder andere Anmerkungen von Schmidt enthalten in der Eile irrtümlich zusammen- gedruckte Satzteile oder Auslassungen, z. B. S. 176/7 Anm., 223 Anm.; der Untertitel „Gewalt und Recht" ist in die Überschrift von § 22 ge- raten, statt in die von § 23 ; usw.)

Dies sind alles nur vereinzelte Proben von der eiligen Herstellung des Schmidtschen Werkes, und es könnte sich gegen solche Ausstellungen leicht der Vorwurf der Kleinlichkeit erheben. Deshalb ist es unver- meidlich, darauf hinzuweisen, daß solche äußere Flüchtigkeit der cha- rakteristische Grundzug des gesamten Buches ist, daß es in den Literaturangaben und sonstigen Hinweisen durchweg von stören- den Fehlern wimmelt und alles Weiterforschen nach den Weisungen des Verfassers zu einem äußerst beschwerlichen und oft Kombinations- gabe erfordernden Unternehmen wird, da man auf Schritt und Tritt irreführenden Flüchtigkeiten begegnet. Wir verzichten jedoch der Raumersparnis wegen darauf, ein ausgewähltes Verzeichnis von über 50 (!) solcher Fehler (falsche Jahreszahlen, Seitenzahlen und Büchertitel) hier folgen zu lassen und bemerken nur, daß der Verfasser durch zahl- reiche Versehen sogar das Nachschlagen innerhalb seines eigenen Buches dem Leser nicht leicht gemacht hat.

All diese Beobachtungen bestätigen es, wie sehr die äußere Form des Buches seinem Inhalte adäquat ist.

EMIL LASK.

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Fuchs: Bauer, Stephan, Die gewerbliche Nachtarbeit der Frauen.

Die gewerbliche Nachtarbeit der Frauen. Berichte über ihren Umfang und ihre gesetzliche Regelung, eingeleitet und herausgegeben von Prof. Dr. Stephan Bauer; Verlag von Gustav Fischer, Jena- 1903.

Durch die konstituierende Versammlung der internationalen Ver- einigung für gesetzlichen Arbeiterschutz, welche in Basel am 27/28. Sep- tember iooi tagte, erhielt das Bureau der Vereinigung u. a. den Auf- trag, „vergleichende Untersuchungen der bestehenden Nachtarbeit der Frauen und ihrer Wirkungen in der Industrie der verschiedenen Länder, sowie der Wirkungen, welche die Aufhebung der Nachtarbeit in den Staaten gehabt hat, in denen sie nicht mehr besteht, anzustellen." Es sollte das Material beschafft werden, auf Grund dessen praktische Schritte zu möglichster Unterdrückung der gewerblichen Frauen nachtarbeit unter- nommen werden könnten. Trotz aller Schwierigkeiten dieses Problems hat die Vereinigung sich mit Recht desselben zuerst angenommen; ist doch die Überzeugung heute fast allgemein, daß der arbeitenden Frau als Gattin und Mutter ein besonderer Schutz gebühre; fast alle In- dustriestaaten haben dem Rechnung getragen. Die Vereinigung durfte daher gerade in dieser Frage nicht allein in der öffentlichen Meinung, sondern, was nicht minder wichtig ist, bei den Regierungen Unter- stützung und Verständnis erwarten.

Das Internationale Arbeitsamt in Basel hat in den Jahren 1902 und 1903 mit Hilfe der Sektionen für alle in Betracht kommenden Industrie- staaten Berichte gesammelt, welche teilweise schon den Verhandlungen des Komitees der Vereinigung zu Köln am 26 27. September 1902 und vervollständigt jenen der vom Komitee eingesetzten Spezialkommission, welche vom 9., 10. und 11. September 1903 zu Basel beriet, als Grund- lage dienten. Das Komitee in Köln schöpfte aus den Berichten die Überzeugung, daß das grundsätzliche Verbot der Nachtarbeit der Frauen in allen industriell entwickelten Staaten gerechtfertigt und durchführbar sei; die Spezialkommission in Basel bekräftigte auf Grund des vervoll- ständigten Materials die gezogene Schlußfolgerung und erklärte die Forderung einer 12 stündigen zusammenhängenden Nachtruhe für ge- rechtfertigt und nach dem Stand der technisch-wirtschaftlichen Entwick- lung für alsbald durchführbar. Ausnahmen von dem Verbote der Frauen- nachtarbeit erschienen gerechtfertigt bei drohender oder bereits ein- getretener Betriebsgefahr, bei der Verarbeitung von Rohmaterialien, welche einem raschen Verderben ausgesetzt sind (Fischkonservicrung und Obstverarbeitung), endlich für Saisonindustrien während einer Übergangs- zeit, derart daß die ununterbrochene Arbeitsruhe auf 10 Stunden be-

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schränkt werden kann. 1 ) Selbst die fortgeschrittensten Gesetzgebungen bleiben hinter diesen Postulaten weit zurück. Diese Tatsache verleiht der Untersuchung eine überaus wichtige Bedeutung für die Fortbildung des Arbeiterschutzes. Für Deutschland haben die Berichte im gegen- wärtigen Augenblicke, von dem wir eine gründliche Revision der Ar- beiterinnenschutzbestimmungen erhoffen, besonderes Interesse. Man muß wünschen, daß die maßgebenden Faktoren aus den Erfahrungen in anderen Ländern die richtigen Schlüsse ziehen.

Für Deutschland lagen zwei Berichte vor. Fabrikinspektor Dr. Fuchs behandelt objektiv den bestehenden gesetzlichen Zustand, die Handhabung der Bestimmungen unter leichter Kritik der Ausnahmen und schließt mit Hervorhebung der durchaus günstigen Erfahrungen des bestehenden Nachtarbeitsverbotes. Dr. Hirsch untersucht die Frage von dem Stand- punkt der notwendigen Reformen; er erörtert deshalb zuerst die be- kannten gesundheitlichen und sittlichen Nachteile und die ökonomische Minderwertigkeit der Frauennachtarbeit. Er verlangt die radikale Be- seitigung aller Ausnahmen von dem bestehenden Verbote und will selbst nicht einmal für Unglücksfälle den Arbeiterinnen Nachtarbeit gestatten. Mit guten Gründen bekämpft er die Ausnahmen, welche auf Grund des § 138 a G.O. bei „außergewöhnlicher Häufung der Arbeit" in so weitem Umfang gegeben werden. Er begründet die dringende Notwendigkeit, das Nachtarbeitsverbot auf die bisher fast ganz ungeschützte Kategorie der Arbeiterinnen in der Bekleidungs- und Reinigungsindustrie auszu- dehnen und lenkt die Aufmerkasmkeit auf die Schäden in der Haus- industrie. Der Nachweis, daß es dringend not tue, die verbreitete Frauennachtarbeit in den zahlreichen kleinen Betrieben der genannten Industrien zu verbieten und gleichzeitig die Hausindustrie gesetzlich zu regeln, ist der wesentliche Inhalt des von Bse v. Arlt erstatteten Berichtes für Österreich. Die Darstellung bietet einen wenig erfreulichen Einblick in die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der Hauptarbeitsberufe der Frauen, vor allem in der Großstadt Wien. Einer der vollständigsten Berichte ist derjenige des belgischen Komitees zur Förderung der Ar- beiterschutzgesetzgebung von Louis Varlez in Gent bearbeitet Mit auf- fallender Schärfe geißelt er die merkwürdige belgische Gesetzgebung, welche gerade den Müttern den Schutz versagt, den sie den Arbeiterinnen unter 2 1 Jahren gewährt. Sie treibt dadurch die Mütter in um so größerer Zahl zur Nachtarbeit, welche in Belgien besonders in der Wollindustrie noch in großem Umfang besteht. Eine schwere Anklage erhebt Varlez gegen die Aufsichtsbehörden, welche die zahlreichen Gesetzesverletzungen in bewußter Weise geschehen lassen. Das belgische Arbeitsamt sucht durch eine längere Erklärung einige Beschuldigungen zurückzuweisen,

') Vgl. Soziale Praxis, Jahrg. VII, Nr. 52 vom 24. Sept. 1903. Die Verhand- lungen der ständigen Kommission der I. V. f. g. ArbeiterschuU.

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Fuchs: Bauer, Stephan, Die gewerbliche Nachtarbeit der Frauen. 4g t

ohne daß es gelingt den schlechten Eindruck, den man von der belgi- schen Gesetzgebung und ihrer Ausführung erhalten hat, ganz zu ver- wischen. Im Anschluß daran gibt Prof. Ernst Dubois einen sehr sach- lichen Bericht über die belgischen Verhältnisse unter eingehender Be- rücksichtigung der Schwierigkeiten, welchen die strenge Durchführung der Gesetzgebung und deren Ausbau in dem kleinen, auf Export ange- wiesenen Industriestaat begegne; dies gilt vorzugsweise hinsichtlich der Wollkämmerei, Kammgarn und Streichgarnspinnerei von Verviers, deren mißliche Lage von Robert Centner und Prof. Ernst Mahaim in beson- deren Beilagen geschildert wird. Wir sehen hier die alten Argumente der rückständigen Unternehmer Wiederaufleben: die Frauennachtarbeit bewahrt die Arbeiterinnen vor der Sünde; sie ist zwar nicht als hygie- nisches Mittel zu empfehlen, aber doch auch nicht der Gesundheit ge- fährlich; denn man kann am Tage ebensogut schlafen wie in der Nacht. Diskutabler ist der Hinweis der belgischen Fabrikanten auf die hohen Zölle einzelner Staaten, welche zu äußerster Ausbeutung der Arbeitskraft zwingen um konkurrenzfähig zu bleiben. Hier liegt vielleicht eine der größten Schwierigkeiten für den Fortschritt der Sozialreform gerade für die kleinen Exportstaaten. Man wird schwerlich ein Land zu einem Ver- such bewegen können, der mit großer Wahrscheinlichkeit eine große In- dustrie vernichtet, solange seine Nachbarn durch hohe Zölle seine Er- zeugnisse abhalten. Die Vorstellung von den Pflichten der Gesetzgebung gegen die Gattin und Mutter, das Hervorkehren der ethischen Seite des Gesetzgebungsproblems, oder die einfache Ablehnung einer Verbindung des zollpolitischen Gesichtspunktes mit dem des Arbeiterinnenschutzes wird niemals vermögen den Selbsterhaltungstrieb zurückzudrängen. So klein auch die absoluten Zahlen der nachtarbeitenden Frauen sind, um die es sich in Belgien handelt, die verhältnismäßig umfangreichen Be- richte, welche in keineswegs angemessenem Verhältnis zu den gesetz- geberischen Fortschritten des Landes stehen, sind für die Arbeiterschutz- bestrebungen auf internationalem Wege unter die lehrreichsten zu rechnen. Sie haben dementsprechend auch bei den mündlichen Verhandlungen der oben genannten Kommission eine besondere Beachtung gefunden und zu einer temperamentvoll geführten Debatte Veranlassung gegeben. Eine Lösung hat dabei die angedeutete Frage nicht erfahren. Die Schilderung der Arbeiterinnenverhältnisse in der Kleinindustrie und Heim- arbeit ist in anschaulicher Weise durch Fräulein Gatti de Gamond erfolgt. Lediglich den Umfang der Frauenarbeit und den bestehenden gesetz- lichen Stand schildern die Berichte der Fabrik inspektorin Annette Vedel für Dänemark und des Statistikers Adna F. Weber für die Ver- einigten Staaten, wo in den einzelnen Staaten außerordentliche Ver- schiedenheiten bestehen. Ein Vorrecht auf Beachtung besitzt der Be- richt der französischen Sektion, bearbeitet von Prof. P. Pic. Er sucht die Frage nach den wünschenswerten und möglichen Reformen zu lösen.

Archiv für So/ialwissenichaft u. So*ialpolitik. I. (A. f. so*. G. u. St. XIX/> 2.

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Literatur.

Aufgebaut sind die Schlüsse auf gründlichen Voruntersuchungen und ernsten Beratungen innerhalb der Sektion. Zu den fuhrenden Männern der französischen Sektion gehören bekanntlich die hervorragendsten So- zialpolitiker der verschiedensten Parteien, Theoretiker und Praktiker. Deshalb sind die Resultate der Untersuchung beachtenswert; sie haben auch einen wesentlichen Einfluß auf die Beschlüsse der Kommission un- verkennbar ausgeübt. Frankreich wird vom i. April 1904 an den Zehnstundentag erhalten; es bestehen aber noch Ausnahmsbestimmungen, welche einer ganzen Reihe von sog. Saisonindustrien, deren Liste vom Senat immer mehr verlängert worden ist, Überarbeit bis zu 12 Stunden täglich an 60 Tagen im Jahre gestattet. Diese Ausnahmen sind die schädlichsten ; sie ergeben sich aus der Nachsicht der Gesetzgeber gegen die schlechten Gewohnheiten der Konsumenten ; sie können von dem Augenblicke an verschwinden, wo man die Heimarbeit gesetzgeberisch erfaßt und dadurch verhindert, daß ein Abströmen der Werkstätten- arbeitcrinnen an die Hausindustrie erfolgt. Von den sämtlichen In- dustrien ist nur die Fischkonservierung zur dauernden Ausnahme be- rechtigt. In Fällen von Betriebsstörungen sollen die Gesetze von den Behörden zeitweilig suspendiert werden dürfen. Man hat den Ein- druck, welcher bei Kenntnis der in der Sozialpolitik führenden Persön- lichkeiten, die ihre Auflassung aus tiefinnerster Überzeugung vertreten, noch verstärkt wird, daß Frankreich bald an die Spitze der Arbeiter- schutzgesetzgebung getreten sein wird; es hat jedenfalls in den letzten Jahren durch Millerands Verdienst ein stark beschleunigtes Tempo ein- geschlagen. England, der alte Industriestaat mit seinem konsolidierten und zurzeit fortgeschrittensten Arbeiterinnenschutz ist von Interesse im Hinblick auf die günstigen Erfahrungen, welche von der Chefinspektorin Miß Adelaide Anderson und von George H. Wood übereinstimmend mitgeteilt werden. Erstere sagt kurz: „Augenscheinlich sind sowohl ökonomische als auch soziale und moralische Fortschritte trotz oder infolge des Verbotes der Frauennachtarbeit (in Verbindung mit einer an- gemessenen Beschränkung der Tagesarbeit) zu verzeichnen". Letzterer: „die moderne Industrie gedieh unter den Fabrikgesetzen, und ... sie dienten als Ansporn zur Vervollkommnung der Maschinen- und Pro- duktionstechnik. Die Verkürzung des Arbeitstages hob die Leistungs- fähigkeit der Arbeiter ... die Ausfuhr nahm nicht ab, sondern in fast allen Industrien bedeutend zu . . . die Regelung der Industrie war eine Wohltat für das ganze Gemeinwesen." Selbst in den Wäschereien wird die demnächst zu erwartende Beseitigung der Frauennachtarbeit keinen Schwierigkeiten begegnen; nur die Fischpökelei und Obstkonservierung Englands kann die Nachtarbeit nicht entbehren. Über die Möglichkeit einer Beseitigung der Überarbeit in dringenden Fallen, welche in Nicht- Textilfabriken 2 Stunden täglich an höchstens 3 Wochentagen und in 30 Fällen innerhalb 12 Monaten erlaubt ist, sprechen sich die Berichte

Fuchs: Bauer, Stephan, Die gewerbliche Nachtarbeit der Frauen.

leider nicht aus. Sollte nicht gerade darin ein Beweis liegen für die Schwierigkeit, der französischen Forderung schon jetzt praktisch zu ent- sprechen? denn in England ist ja die Schutzgesetzgebung schon so- lange hoch entwickelt, ohne daß man daran gedacht hätte, diese von Theoretikern auch in Deutschland viel angefochtene Ausnahme ganz zu beseitigen, obwohl in England das Publikum doch wohl weit besser er- zogen ist, als in Deutschland oder Frankreich. Der sehr objektiv gehaltene Bericht des niederländischen Arbeitsinspektors G. J. van Thiemen be- spricht die geltende Gesetzgebung ohne kritische Stellungnahme und entkräftet durch ausführlichere Schilderung der Wirkungen des Gesetzes und der Zustände vor dem Nachtarbeitsverbot die zahlreichen Scheingründe der Gegner. Sehr wenig erfreulich ist die Darstellung der traurigen Zu- stände in der industriellen Bevölkerung Rußlands durch Dr. Blocher. Wenn irgend etwas die Notwendigkeit des Verbots der Frauennachtarbeit und der Reduktion der übermäßigen Tagesarbeit beweist, so ist es die Mortalität, insonderheit die Kindersterblichkeit in den Industriegegenden. In Rußland erheischt das Interesse der Textilfabrikanten der entwickelten Bezirke des Westens und Petersburgs das Verbot der Frauennachtarbeit; die zentralrussische Konkurrenz, welche ihre Arbeitskraft aus den be- völkerten Bauerndörfern schöpfen und ausnutzen kann, hat das gegen- teilige Interesse. Zwar wurde die Nachtruhe zwischen 9 Uhr abends und 5 Uhr morgens endlich gesetzlich festgelegt, jedoch unter derartigen Ausnahmebestimmungen, daß mit Hilfe des sozialpolitisch rückständigen Beamtentums eine Umgehung sehr leicht ist; der Gouverneur kann „in beachtenswerten Fällen" die Nachtarbeit der Frauen unbeschränkt zu- lassen. Eine kurze geschichtliche Darstellung der Schutzbestimmungen und eine klare Übersicht über den neben der schweizerischen Bundes- gesetzgebung hergehenden kantonalen Arbeiterinnenschutz in der Schweiz gibt der leider verstorbene hervorragende Fabrikinspektor Dr. F. Schuler. Aus den Fortschritten, welche einzelne Kantone, unbekümmert um ihre nächsten Kantonsnachbarn, gemacht haben, darf man wohl den Schluß ziehen, daß die Verbesserung der Schutzgesetzgebung nicht in so hohem Maße von dem Stande der Gesetzgebung anderer Länder abhängig ist, wie gemeinhin und zumeist von den Industriellen angenommen wird. Es wird wenigstens in der Schweiz nicht im geringsten Klage darüber geführt, daß die Industriellen in Kantonen mit strengerer Gesetzgebung hieraus Nachteile erlitten hätten. In besonderen Berichten behandeln Pfarrer Eugster die Frauennachtarbeit in der Stickereiindustrie des Kan- tons Appenzell und Außer-Rhoden und Gottlieb Vogt jene in der Uhren- industrie des Jura, beide unter Berücksichtigung der Heimarbeit. Die Ungarische Sektion legt ein kurzes Referat aus der Feder des Dr. Andor von Maday über die Beschäftigung der Frauen in der Industrie vor. Das Land hat bisher nur die Nachtarbeit jugendlicher Arbeiterinnen untersagt; große Sympathie scheint eine Fortführung des Schutzes nicht

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zu genießen, selbst nicht bei den Sozialpolitikern, die noch vom „Arbeitsrecht" der Frauen sprechen und fürchten, daß das Verbot der Nachtarbeit der Frau sie ins materielle und moralische Verderben stürze, es sei denn daß man ihr zuvor neue Erwerbsquellen öffne; nach den Er- fahrungen anderer Staaten sind das recht überflüssige Sorgen. Bemerkens- wert ist das gründliche Vorgehens Italiens, worüber der bekannte Führer der christlichen Demokraten, Prof. Toniolo berichtet; mit dem Jahre 1907 wird die Arbeit aller Arbeiterinnen zwischen 8 Uhr abends und 6 morgens in industriellen Betrieben, Steinbrüchen und Bergwerken radikal verboten sein; die gesamte Übergangszeit von einem unge- regelten Zustand beträgt nur 5 Jahre! Ein Bericht des Prof. Matsuzaki in Tokyo zeigt uns die rasche Industrieentwicklung Japans mit starker Frauenarbeit in den Spinnereien, welche ununterbrochenen Tag- und Nacht- betrieb haben; dazu treten niedrige Löhne, schlechte Unterkunft, lange Bindung der Arbeiterinnen; es sind Zustände, wie sie anfangs des 19. Jahrhunderts in England herrschten. In internationalen Verein- barungen wird man auf Japans Mitwirkung rechnen müssen; ist es doch auch derjenige Staat, der die Durchführung des Weißphosphorverbotes in einzelnen europäischen Staaten, welche noch eine große Zündholzausfuhr haben, erschwert. Der Vollständigkeit wegen seien noch erwähnt die kurzen Mitteilungen der Commission de Reformas Sociales über Spanien, des Staatsrats Dr. Neumann über Luxemburg, des Dr. Kiaer über Nor- wegen und des Departement of Labour and Industry of New South Wales.

Die sämtlichen inhaltreichen Berichte sind von Prof. Dr. Bauer, dem Direktor des Arbeitsamtes, zu einem vorangestellten Gesamtbericht verarbeitet, welcher einen Überblick über die äußerst verschiedenartig gestalte Gesetzgebung gibt und in seinem Hauptteii erörtert, ob und inwieweit die Ausnahmen von dem Verbot der Nachtarbeit beseitigt werden können.

Die vorliegende erste Untersuchung der internationalen Vereinigung enthält zahlreiches und vortreffliches Material für die Fortführung des Arbeiterinnenschutzes in allen Industriestaaten. Die Zusammenstellung ist für den praktischen Sozialpolitiker von unschätzbarem Wert. Als erste große Arbeit der jungen Vereinigung darf sie als gelungen be- zeichnet werden. Als Mangel empfindet man die Ungleichartigkeit der Behandlung der Frage durch die einzelnen Berichterstatter; bezeichnend ist, daß nur Herr Varlez sich an das vom Internationalen Arbeitsamt ausgegebene Fragenschema gehalten hat. Die Vergleichbarkeit ist da- durch erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht. Zu seiner Zusammen- fassung mußte Prof. Bauer tatsächlich noch neues Material beschaffen, da es nicht vollständig in den Einzelberichten enthalten ist. Das lag vielleicht teilweise an der Fragestellung des Amtes, welche mit der Mangelhaftigkeit der Gewerbestatistik nicht gerechnet und deshalb zu viel gefragt hat, noch mehr aber wohl an der unvollkommenen Funktion

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Fuchs: Bauer, Stephan, Die gewerbliche Nachtarbeit der Frauen.

des Apparates der Vereinigung. Die Sektionen und das Arbeitsamt machten Erhebungen, welche nebeneinander hergingen. Jedenfalls müßte über die Gesichtspunkte, welche alle Einzelberichte gleichmäßig zu beachten hätten, zukünftig erst eine Vereinbarung getroffen werden ; alsdann sollten die Sektionen die Einzelarbeit leisten, so daß das Amt nur dort unmittelbare Erhebungen anzustellen hätte, wo sich noch keine Sektionen gebildet haben. Die Erhebung ist augenscheinlich eingeleitet worden, ohne daß man sich vorher über das ungefähre Ziel geeinigt hatte. In einigen Berichten ist der Heimarbeit und das mit Recht kein Raum gewidmet. Denn von einem Verbot der Nachtarbeit in der Heimindustrie kann keine Rede sein. Dennoch hat der Fragebogen des Ar- beitsamtes sich ausdrücklich auch auf die Heimarbeitsverhältnisse bezogen. Die Einleitung einer Enquete über die gewerbliche Heimarbeit ist eine besondere, sehr schwierige Aufgabe der Zukunft. So dankenswert auch die Ausführungen einzelner Berichterstatter hierüber an sich sein mögen, für die vorliegende Krage sind sie irrelevant und bilden einen unnützen Ballast. Es wäre ferner wünschenswert, daß vor der Erstattung der Be- richte durch eine Vorberatung das vorläufige Ziel der Erhebung auch nach der positiven Seite genauer festgestellt würde. Man kann doch gewisse Minimalforderungen für den Arbeiterinnenschutz z. B. zwölf- stündige Nachtruhe für alle gewerblich außer ihrem Hause beschäftigten Arbeiterinnen a priori aufstellen und die Berichterstatter zur Prüfung der Verhältnisse unter diesem Gesichtspunkte auffordern ; damit bleiben Nach- erhebungen erspart, wie sie für einzelne Länder gemacht werden mußten, weil die Berichterstatter sich auf objektive Darstellung des bestehenden Zustandes beschränkt hatten. Sehr bedauerlich ist, daß die Untersuchung außer der Erörterung der Nachtruhe nicht auch zugleich sich mit der täglichen Maximalarbeitszeit beschäftigt hat; der innige Zusammenhang beider und die Tatsache, daß fast alle Gesetzgebungen die Notwendig- keit eines Maxiraalarbeitstages für Arbeiterinnen anerkannt haben, hätte der Vereinigung Anlaß geben können, das Problem nicht auf die Nacht- ruhe zu beschränken. Der Maximalarbeitstag der arbeitenden Frau ist für sie in der Regel auch viel wichtiger als die Festlegung einer Nacht- ruhezeit innerhalb bestimmter Stunden. Ist letztere die Zeit zwischen 8 Uhr abends und 6 Uhr morgens, so kann dazwischen eine dreizehn- stündige tägliche Arbeitszeit liegen ; bei zwölfstündiger zusammenhängender Nachtruhe ist noch immer eine elfstündige Tagesarbeit möglich. Der Wert einer internationalen Vereinbarung über eine zehn- oder selbst zwölfstündige Nachtruhe würde ohne Vereinbarung über die Dauer der Tagesarbeit sehr gering sein, sowohl für die Arbeiterinnen, welche nach wie vor zu lange beschäftigt werden könnten, als auch für die Industrie fort- geschrittener Länder mit kurzem Arbeitstag, welche gegenüber ihrer Kon- kurrenz mit langem Arbeitstag auch fernerhin schutzlos bliebe. Bei der Beurteilung der Untersuchung darf allerdings nicht vergessen werden,

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Literatur.

daß sie von einer internationalen Vereinigung ausgeht ; die Grund- anschauungen der einzelnen Elemente sind oft sehr heterogen, eine Ver- ständigung, welche meist nur auf schriftlichem Wege erfolgen kann, ist schwer zu erzielen.

Fragt man nun, was denn von den Kulturstaaten zum Schutz der gewerblich tätigen Arbeiterinnen gegen Nachtarbeit schon geschehen ist, so sind die Berichte geradezu beschämend für das soziale Ge- wissen. Prof. Dr. Bauer führt allerdings für einzelne Staaten recht er- hebliche Zahlen als „geschützte Arbeiterinnen" an. Es sind zumeist solche in den Großbetrieben. Diese Zahlen haben aber praktisch nicht entfernt die Bedeutung für das Problem der Frauen nachtarbeit, wie es bei oberflächlicher Betrachtung erscheinen könnte. Die Nachtarbeit der Frauen hatte in den großen Kulturstaaten, Deutschland, Frankreich, England, Vereinigte Staaten von Amerika, in den Fabriken auch vor dem Eingreifen der Gesetzgebung keine bedeutende Ausdehnung; in Deutschland zählte man z.B. im Jahre 1884 nur 13000 regelmäßig in Nachtschichten beschäftigte Fabrikarbeiterinnen. Im übrigen handelte es sich um Verlängerung der Tagesarbeit durch Überstunden in die Nacht hinein. Diese werden aber dank § 138a G.O. noch immer in so reich- lichem Maße erlaubt, daß hinsichtlich der Überarbeit ein allzugroßer Fortschritt gegen früher nicht eingetreten sein dürfte, wenigstens nicht als eine Wirkung des Gesetzes und seiner Durchführung. Es will dem- nach nicht viel besagen, wenn 789132 Arbeiterinnen in Deutschland als „geschützt" und nur 203170 als „ungeschützt" aufgeführt sind. Klugerweise gibt der Bericht des Arbeitsamtes diese Zahlen und dies gilt vorzugsweise von den „ungeschützten" mit „aller Reserve" wieder. Denn gerade die letzteren entziehen sich der Feststellung. Wo aber die Frauennachtarbeit von je am meisten in Blüte stand und wo sie unter den ungünstigsten Verhältnissen vorkam und noch immer be- steht, da haben die meisten Gesetzgebungen nicht daran gerührt, das sind die umfangreichen Gewerbe der Reinigungs- und der Bekleidungs- industrie mit der großen Zahl kleiner Werkstätten, gar nicht zu sprechen von der Heimarbeit. Die bisherige Gesetzgebung muß sich mit dem Erfolg bescheiden, in der Großindustrie das weitere Umsichgreifen der Frauennachtarbeit verhindert zu haben; sie darf sich aber ja nicht blenden lassen durch die Zahlen der sog. geschützten Arbeiterinnen, sondern muß es als ihre Zukunftsaufgabe betrachten, nun auch an die schwierigere Arbeit der Beseitigung alteingewurzelter Gewohnheiten im Kleingewerbe heranzutreten. Das gilt vor allem für Deutschland, welches auf seinen Arbeiterinnenschutz nicht besonders stolz sein kann. Nicht allein, daß es hinter England zurückbleibt, selbst von Staaten, die noch vor wenig Jahrzehnten nicht einmal zu den Kulturstaaten gerechnet werden konnten, wird seine Gesetzgebung überflügelt: von Italien, welches keinen Unterschied zwischen Groß- und Kleinbetrieb macht,

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von Neuseeland mit seinem 8* 4 stündigen Maximalarbeitstag, von einigen Staaten der Union mit ihrem zehnstündigen Arbeitstag ohne Unterschied der Betriebsgröße; es ist beschämend bekennen zu müssen, daß in Deutschland die große Masse der Industriellen gegen die gesetzliche Festlegung der zehnstündigen Arbeitszeit der Arbeiterinnen sich stemmt, während der italienische Berichterstatter erklären kann: „Es ist für Italien charakteristisch und ehrenvoll zugleich, daß die Gesetzgebung für unbedingten Ausschluß der Frauennachtarbeit von den Industriellen selbst, durch das Votum des Handelsrates (1897) befür- wortet wurde." Eine starke Abschwächung erfährt das Verbot der Frauen- nachtarbeit in den weitaus meisten Staaten durch zahllose Ausnahmen, deren Unbegründetheit durch die Abwesenheit einer im Lande A vorhandenen Aus- nahme im Lande B ain besten erwiesen ist. In Nachtschichten werden Frauen in ununterbrochen arbeitenden Betrieben , oder Hochöfen , Glasfabriken, Walz- und Hammerwerken, Zuckerfabriken in einzelnen Staaten beschäf- tigt, also unter den ungünstigsten lokalen Verhältnissen; in einigen Staaten hält man Frauen zum Herrichten von Grubenlampen für unent- behrlich; bei uns kennt man diese Nachtbeschäftigung nicht; der Be- seitigung der Ausnahme steht nichts weiter im Wege als die Scheu sich eine große Anzahl von Lampen anzuschaffen, damit die Arbeit am Tage verrichtet werden kann. Deutschland hat hier bereits gut aufgeräumt. Außer den Ausnahmebestimmungen für den Bezirk Oppeln bestehen zurzeit keine mehr für ununterbrochene Betriebe. Zurückgeblieben sind mit gutem Grunde nur noch die Arbeitszeitverlängerungen für die Ver- arbeitung leicht verderblicher Rohstoffe: Milchsterilisierung und Kon- servenfabrikation. Die umfassendste, in allen Gesetzgebungen außer in derjenigen der Schweiz enthaltene Ausnahme betrifft die Gewährung von Überarbeit über die normale Dauer der Tagesarbeit hinaus für eine ge- wisse Anzahl von Tagen (30 60 im Jahr) und mit gewöhnlich 2 Über- stunden für den Fall außergewöhnlicher Häufung der Arbeit. Mit vollem Recht wird diese Bestimmung scharf bekämpft; die Überarbeit nach einem zehn- oder elfstündigen Arbeitstage überanstrengt die Ar- beiterinnen zu sehr, nimmt ihnen die Möglichkeit zur Besorgung des Hauswesens; sie führt zu unerlaubter Ausdehnung der Arbeitszeit; sie wird den unbescheidenen Industriellen gewährt meist ohne Prüfung denn eine solche ist selten möglich , der loyale Fabrikant hält sich an die gesetzliche Regel; dadurch erleidet er einen Nachteil gegenüber seinem Konkurrenten; er kann sich und seine Arbeiter gegen unbillige An- sprüche der Konsumenten durch Hinweis auf die Unbeugsamkeit des Ge- setzes nicht schlitzen ; es bürgern sich im Geschäftsleben immer üblere Ge- wohnheiten in bezug auf Kürze der Lieferfristen ein : Arbeitsüberhäufung wechselt ab mit Geschäftsstillstand. Die Arbeiter haben naturgemäß am meisten darunter zu leiden. Das zeigen uns die Berichte an zahlreichen Stellen. Die Abschaffung der Überzeitbewilligungen ist somit eine

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durchaus gerechtfertigte Forderung. Die Schweiz hat sie erfüllt und zwar sofort bei der Schaffung ihres Fabrikgesetzes i. J. 1877. Der Er- folg des radikalen Vorgehens scheint jedoch kein vollkommener zu sein ; sagt doch der verstorbene Fabrikinspektor Dr. Schuler im Hinblick auf zahlreiche entdeckte und unentdeckte Gesetzesübertretungen in seinem Berichte: „Wir können uns daher nicht rühmen, daß in der Schweiz, die Nachtarbeit der Frauen auch nur in den Fabriken gänzlich ver- schwunden sei; aber sie kommt doch mit äußerst seltenen Aus- nahmen — nur in den ersten Nachtstunden, als ungesetzliche Verlänge- rung des Normalarbeitstages vor." Die Konsumenten müssen erzogen werden; dieser Prozeß kann nur allmählich erfolgen; er wird gefördert durch eine zunehmend engere Begrenzung der Ausnahmen. Auf diesen Standpunkt hat sich nach langen Debatten, in denen die Vertreter der Schweiz und Frankreichs die weitestgehenden Forderungen aufstellten, die permanente Kommission der internationalen Vereinigung in Basel ge- einigt. Nachdem in Deutschland seit 1891 keine Änderung eingetreten, dürfte es an der Zeit sein zu prüfen, ob nicht an Stelle von 40 Über- arbeitstagen 30 Tage zu je 2 Überstunden gesetzt werden können (Eng- land). Eine weitere Abschwächung erfahren die bestehenden Frauen- nachtarbeitsverbote durch eine weitgehende Nachsicht in der Ausführung, durch welche in einzelnen Ländern z. B. Belgien und Rußland die Wirkung der Gesetzesbestimmungen fast annulliert zu werden scheint. Je nach der Organisation der Aufsichtsbehörden und der Einsicht der Gerichte wirken die Gesetze sehr verschieden. Über mangelndes Ver- ständnis der Gerichte wird fast allgemein Klage geführt; in Deutschland ist es in den letzten Jahren darin etwas besser geworden. In Anbe- tracht dieser Unterschiede haben die Vertreter der Niederlande bei den Basler Beratungen die Frage aufgeworfen : „welche Garantien für die gleichartige Durchführung der getroffenen internationalen Vereinbarungen können gefordert werden?" Gleichartige gesetzliche Bestimmungen in allen Staaten verbürgen noch nicht gleichartige strenge Durchführung. In Deutschland ist man gewöhnt alle erlassenen Gesetze in vollem Um- fang durchzuführen, selbst wenn es sich um längst veraltete Vereins- gesetze handelt und die Staatsgewalt sich bewußt ist sich lächerlich zu machen. Für die Durchführung von Arbeiterschutzbestimmungen ist aber nicht nur die sozialpolitische Auffassung und das Pflichtbewußtsein der Beamten sondern wesentlich die Mitwirkung der Arbeiterschaft maß- gebend. In industriellen Mittelpunkten mit gut organisierter Arbeiterschaft sind vermöge der Überwachungstätigkeit der Organisationen offene Über- tretungen fast nicht möglich; in rückständigen Bezirken und in Ländern mit gleichgültiger, niedrigkultivierter Arbeiterschaft entbehren die Be- hörden dieser wichtigen Mithilfe; das Gesetz bleibt fast unwirksam. Schon hieraus erhellt, daß selbst, wenn es gewisse Garantien für die gleichartige Durchführung der internationalen Vereinbarungen gäbe

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vielleicht denkt man an ein internationales Aufsichtsamt diese in keinem Falle die erheblichen nationalen Unterschiede im Kulturnivcau der Arbeiter, aber auch nicht die Unterschiede der Qualität der lokalen Ausführungsbehörden auszugleichen vermöchten. Auch diese für den Erfolg der Bestrebungen der internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz bedeutungsvolle Frage bleibt bis auf weiteres offen. Trotz mancher vorstehend geäußerter Bedenken besteht die Möglich- keit, durch Vereinbarungen der hauptsächlichsten Kulturstaaten nicht nur eine gewisse Gleichartigkeit in die Gesetzgebung zum Schutze der Frauenarbeit zu bringen sondern auch die rückständigeren Staaten zu einem Nachrücken zu veranlassen. Setzt man auch keine großen Hoff- nungen auf die Schnelligkeit und Intensität des Fortschrittes, so wird durch die Arbeiten der Vereinigung doch den Staaten Anlaß zu weiteren Verbesserungen gegeben, welche auf dem Boden der natio- nalen Sozialreform sehr wohl erreicht werden können. Sie wird für die nächste Zeit noch immer das Hauptarbeitsgebiet der Sozialpolitiker bleiben ; dies liegt aber ganz im Sinne der internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz und der rührigen deutschen Gesellschaft für soziale Reform unter Führung ihres Präsidenten, Staatsminister Frei- herr von Berlepsch. Die Untersuchungen über die Frauennachtarbeit sind von dem Gesichtspunkte der kraftvollen Weiterbildung des deutschen nationalen Arbeiterinnenschutzes von hervorragender Bedeutung, wie sich hoffentlich auch bald durch eine entsprechende Gesetzesvorlage der deutschen Regierung erweisen wird.

Karlsruhe. FUCHS.

Vog e Ist ein , Theodor , Dr., Die Industrie der Rheinprovinz 1888—1900. Ein Beitrag zur Frage der Handelspolitik und der Kartelle mit einer Vorbemerkung von Walther Lötz. Stuttgart und Berlin 1902. Verlag J. G. Cottasche Buchhandlung Nach- folger. 112 S. in 8°.

Pieper, Lorenz, Dr., Die Lage der Bergarbeiter im Ruhrrevier. Stuttg. und Berlin 1903. Verlag J. G. Cottasche Buchhandlung Nachfolger. 266 S. in 8 °.

Gottheiner, Elisabeth, Dr., Studien über die Wuppertaler Textil- industrie und ihre Arbeiter in den letzten 20 Jahren. Verlag von Duncker und Humblot. Leipzig 1903. 96 S. in 8°.

Die in den letzten Jahren in Deutschland zum Vorschein gekommene Tendenz, der Handelspolitik eine andere Richtung zu geben, rief eine reichhaltige Literatur hervor, die sich teilweise mit den Wirkungen der

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Literatur.

vom Grafen Caprivi abgeschlossenen Handelsverträge auf die allgemeine Lage der Industrie, des Handels und der Landwirtschaft beschäftigte, teilweise den Einfluß dieses Moments auf die Entwicklung einzelner Industriezweige und endlich dessen Einwirkung auf die wirtschaftliche Lage der einzelnen Gebiete Deutschlands erwog.

Die Arbeit von Vogelstein beschäftigt sich nun mit den Problemen der letzteren Kategorie und zwar mit dem Einfluß der Caprivischen Politik auf die wirtschaftliche Entwicklung der Rheinprovinz. Der be- scheidene Titel bleibt weit hinter der Bedeutung der Arbeit zurück, besonders wenn wir uns der Tatsache erinnern, daß die Rheinprovinz nicht nur eines der Hauptzentren der deutschen Großindustrie, sondern auch das Hauptzentrum der Tätigkeit der mächtigsten Kartelle ist, deren engherzig rücksichtslose Tätigkeit bereits so viel Staub aufgewirbelt hat. Kein Wunder daher, daß der Verfasser im Laufe seiner ganzen Untersuchung stets den Syndikaten, den von ihnen bezahlten Ausfuhr- prämien und der Klarlcgung der Ursachen der letzteren Erscheinung seine Aufmerksamkeit widmet.

Das Vorwort und das erste Kapitel geben eine allgemeine Charak- teristik der Industrie der Rheinprovinz und ihrer Lage in den letzten 12 Jahren, und es ist zu ersehen, daß im Laufe der letzten Jahrzehnte des XIX. Jahrhunderts die Großindustrie dort nicht nur gewaltige Fort- schritte zu verzeichnen hatte, sondern auch für die dortige Bevölkerung zur Hauptquelle des Unterhalts geworden ist. Um so trauriger mußte unter diesen Umständen die seit 1891 eingetretene scharfe Krise wirken, der sich noch die ungeheure Steigerung der Brotpreise anschloß, welche bekanntlich, selbst von agrarischer Seite. Anträge zur Suspension der Getreidezölle veranlaßte. Zieht man noch allerlei Komplikationen in der allgemeinen Politik, den Einfluß des Mac Kinley Tarifs u. dgl. mehr in Betracht, so wird es klar, daß viele Industriezweige sich während dieser Zeit in einer schlimmen, ja in einer verzweifelten Lage befanden. Es haben deshalb die vom Grafen Caprivi nach langen inneren und äusseren Konflikten abgeschlossenen Handelsverträge nicht umsonst bei den deutschen Unternehmern den Namen der „rettenden Tat" erhalten.

Das zweite Kapitel widmet Vogelstein der Textilindustrie der Rhein- provinz, die besonders stark in den Weltverkehr mit verflochten ist, wie das schon daraus zu entnehmen ist, daß die Einfuhr wie die Ausfuhr an Materialien und Fabrikaten der deutschen Textilindustrie je über eine Milliarde ausmacht. Seinen weiteren Angaben ist zu entnehmen, daß in der Spinnerei das Rheinland mit ca. 3 1 400 Erwerbstätigen dem Königreich Sachsen kaum nachsteht. In der Weberei übertrifft es mit 103700 dasselbe um ein paar Hundert. Mit seinen 43000 Erwerbs- tätigen der Seidenweberei stellt es vier Fünftel dieser ganzen Industrie usw. usw. Sehr charakteristisch für die dortigen Verhältnisse ist dabei die Tatsache, daß von ca. 31400 Personen, die in den Spinnereien der

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Rheinprovinz beschäftigt waren, mehr als 17000 in 40 Unternehmungen mit mehr als 200 Arbeitern beschäftigt waren ein Beweis, daß die Großindustrie in diesem Industriezweig schon lange eine hervorragende Rolle spielt. Ohne auf die Einzelheiten der interessanten Tabelle auf S. 34 näher einzugehen, können wir nur unser Bedauern aussprechen, daß der Verfasser die Rheinprovinz nur mit Elsaß-Lothringen verglich. Auch macht sich die Abwesenheit der Prozentberechnungen zur Charak- teristik der Bedeutung des Klein- und Großbetriebes unangenehm fühlbar.

Im folgenden schildert der Verfasser die allgemeine Lage dieses Industriezweiges, wie sie sich unter dem Einfluß der Taktik der Kohlen- syndikate einerseits und der allgemeinen Richtung der deutschen Wirtschafts- politik andererseits gestaltete. Von größerem Interesse ist seine Charak- teristik der Bemühungen der Weber, die sich vor einigen Jahren bekanntlich unter Führung der interessierten Handelskammern im Ver- band deutscher Baumwollgarnkonsumenten vereinigt haben, um auf die Ermäßigung der Garnzölle hinzuwirken. Da die Verteuerung der Pro- duktion sich besonders unangenehm auf dem Weltmarkte fühlbar machte, so wurde von ihnen vielfach wenigstens eine Rückvergütung bei der Ausfuhr von Webwaren verlangt. Mit Recht vertritt der Verfasser dabei den Standpunkt, daß, wie erklärlich dieses Bestreben auch sein mag, es doch auf unüberwindliche Schwierigkeiten zu stoßen scheine. Denn ganz abgesehen von anderen Hindernissen, wird es unmöglich sein, die Identität bei der Ausfuhr festzustellen ; verzichtet man aber auf den Identitätsnachweis, so bedeutet die Vergütung zum Teil eine direkte Ausfuhrprämie, die mit Ausnahme von einigen landwirtschaft- lichen Produkten als Staatsmaßregel in Deutschland nie üblich war.

Im Anschluß daran läßt der Verfasser die Versuche der Selbsthilfe an uns vorüberziehen, wie sie in Form der Kartellbildung in der Textil- industrie zum Vorschein kamen. Die von ihm genannten Verbände für Baumwollgarn, Kammgarn, Vigognegarn, der Buntweber usw. sind aber fast lauter Kartelle niederer Ordnung, die außer etwa der Regelung der Zahlungsbedingungen, der Musterabgabe u. d in. höchstens noch prozentuale Produktionseinschränkung vornahmen.

Indem wir den Leser, der tieferes Interesse für die Ursachen der schwachen Entwicklung der höheren Kartellformen in diesem Industrie- zweig hat, auf die S. 41 ff. der Vogelsteinschen Schrift verweisen, wollen wir hier nur noch seiner Vergleiche der deutschen und schweizerischen Zollsätze für die hier in Betracht kommenden Waren gedenken. Diese zeigen nämlich, daß die deutschen Zollsätze, obwohl in Deutschland die Großindustrie weit stärker entwickelt ist, bei weitem die schweizerischen Zollsätze übertreffen. Man kann nur lebhaft bedauern, daß die sehr vernünftigen Ansichten, welche i8qo die Aachener Handelskammer ver- trat, neuerdings von der Regierung nicht genügend berücksichtigt wurden. Diese Ansichten lauteten nämlich: „Es kann nicht oft genug betont

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Litcralur.

werden, daß die Seiden- und Sammtindustric Deutschlands hemmenden Zollschranken entschieden abhold ist; sie kann jeder ausländischen Kon- kurrenz die Spitze bieten. Schutzzölle, die gegen Italien, Frankreich und die Schweiz gerichtet sind und von diesen Ländern Repressalien hervorrufen dürften, werden der deutschen und speziell der nieder- rheinischen Seidenindustrie zweifellos Schaden bringen." Unter dem Einfluß der hochschutzzöllnerischen Manie der letzten Jahre blieben diese Warnungen leider unberücksichtigt, und so haben auch andere Staaten als Antwort zur Erhöhung ihrer Zollsätze gegriffen, deren Wirkungen für Deutschland kaum segensreich werden dürften.

Im III. Kapitel beschäftigt sich Vogelstein mit der Montan- und Eisenindustrie. Die hervorragende Bedeutung des Großbetriebes in diesem Industriezweig läßt sich ohne weiteres durch die Tatsache charakterisieren, daß von ca. 133000 dort beschäftigten Arbeitern auf 125 der größten Betriebe ca. 124000 Arbeiter entfielen, d. h. mit anderen Worten, daß jede Unternehmung durchschnittlich tausend Arbeiter zählte. Unter dem Einfluß dieser starken Konzentration des Kapitels einerseits, und einer Reihe anderer Momente andererseits, haben sich in diesen Industrie- zweigen einige mächtige Kartelle entwickelt, deren Tätigkeit der Verfasser eingehend schildert. Schon im Anfang dieses Kapitels erfahren wir, daß die deutschen Syndikate bereits vor vielen Jahren dem Auslande die Kohlen um 10 bis 25 Proz. billiger lieferten. Auf S. 64 schildert er dann die rücksichtslose Preispolitik dieser Kartelle und insbesondere des Kokssyndikats, das im Sommer 1899 ohne weiteres die alten Verträge aufhob und den Abschluß von neuen Verträgen mit zweijähriger Dauer zu erheblich gesteigertem Preise erzwang.

Im IV. Kapitel, betitelt: „Die Handelspolitik und die Kartelle der Montan- und Eisenindustrie" gelangt der Verfasser zu folgendem Ergebnis: „Eine Gewinnerhöhung ist nur auf zwei Arten möglich, entweder durch Verringerung der Kosten oder durch Steigerung der Preise. Beides kann bekanntlich von Seiten der Kartelle geschehen, jedoch ist mir bei den Unternehmerverbänden der Rheinischen Industrie eine Ermäßigung der Produktionskosten von Kartell wegen nur in äußerst wenigen Fällen bekannt gewotden. Dagegen fast überall der Versuch die Einnahme zu erhöhen." Im Anschluß daran macht der Verfasser interessante Angaben über die Rentabilität dieser Industriezweige. Die kolossalen Dividenden von 20, 30, 40 und noch mehr Proz., die von den größeren Unter- nehmungen längere Zeit hindurch bezahlt wurden, gestatteten diesen Verbänden den Luxus, der exportierenden Industrie einige Millionen als Ausfuhrprämien zu schenken.

Zum Schluß wollen wir noch hinzufügen, daß die Arbeit Vogelsteins auch in der Hinsicht ein Interesse bietet, wenn man sie den Ergebnissen der deutschen Kartellenquete gegenüberstellt. Vergleicht man das reichhaltige Material dieser Schrift mit den oft ganz verschwommenen Darstellungen

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der offiziellen Kartellenquete, so kann man in bezug auf die letztere sich kaum des Eindrucks erwehren, daß man von mancher einflußreicher Seite nur zu gerne dem Sprichwort : Den Pelz zu waschen, ohne ihn naß zu machen, gefolgt wäre

Gleich interessante Einblicke, wie die Arbeit Vogelsteins in die Handelspolitik, gewährt die 2. von uns zitierte Schrift in die Sozialpolitik. Im Vorwort macht Dr. Pieper interessante Angaben über die abbau- würdigen Flöze des Ruhrreviers, woraus zu entnehmen ist, daß da- selbst im ganzen ca. 1 30 Milliarden Tonnen Kohle vorhanden sind, was selbst, wenn die Jahresproduktion, welche jetzt etwa 60 Mill. Tonnen beträgt, auf 100 Mill. Tonnen gesteigert würde, noch für ca. 1300 Jahre ausreichen könnte. Im folgenden schildert der Verfasser die Veränderungen der Technik der Produktion einerseits und der Berggesetzgebung anderer- seits, wobei er eine rasch vor sich gehende Konzentration des Kapitals in diesem Industriezweig feststellt. Besonders lebhaft soll dieser Prozeß in den letzten drei Jahren gewesen sein, indem die Anzahl der Zechen deren Gesamtproduktion 500000 Tonnen überstieg, allmählich von 3S im Jahre 1898 auf 45 im Jahre 1900 stieg, während die Zahl der kleineren Zechen mit einer Produktion von mindestens 50 000 bis 500 000 Tonnen von 99 auf 93 gesunken ist.

Zur Charakteristik der Bedeutung der Kohlenförderung des Ruhr- reviers wird dabei vom Verfasser die Tatsache angeführt, daß seit Ende des XVIII. Jahrhunderts die Belegschaft sich um das 140 fache vermehrte, die Förderung nach der Menge um das 288 fache, nach dem Werte um das 545 fache. Aus dem Ruhrvevier stammt gegenwärtig etwa die Hälfte der gesamten Steinkohlenproduktion Deutschlands. Allein seit 1 894 steigerte sich der Wert der Ruhrkohlenproduktion um 75 Proz., die Menge um ca. 45 Proz., die Arbeiterzahl um ca. 44 Proz. Ebenso rasch stieg die Verwendung der Dampfkraft, und zwar zählte man an Dampf- maschinen um die Mitte des XIX. Jahrhunderts ca. 142 mit ca. 10000 effekt. Pferdekräften gegen ca. 5000 mit ca. 500000 effekt. Pferde- kräften am Ende des Jahrhunderts. Noch bedeutender war vielleicht die Zunahme der Koksproduktion und einer Reihe von Nebenprodukten so- wie sonstiger industrieller Unternehmungen, so daß gegenwärtig das Ruhrrevier zu einem der Hauptzentren des deutschen Industrielebens ge- worden ist. Schon 1890 soll dort nämlich der Güterverkehr pro Kilo- meter 25 mal, pro Einwohner 56 mal größer gewesen sein als der durch- schnittliche Verkehr Deutschlands.

Nach dieser allgemeinen Schilderung der technischen und wirt- schaftlichen Entwicklung des Ruhrbergbaus im XIX. Jahrhundert ver- sucht der Verfasser den tiefgehenden Einfluß zu beschreiben, welchen diese Faktoren auf die Morphologie der Bevölkerung und die Arbeits- gliedcrung ausgeübt haben. Ohne bei den Einzelheiten stehen zu bleiben, wollen wir uns nur mit der Hervorhebung der Tatsache begnügen, die

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Literatur.

auch in den weiteren Erörterungen des Verfassers eine große Rolle spielt. Wir meinen damit die starke Heranziehung zur Bergarbeit der Arbeiter aus den östlichen Provinzen des Reiches, aus Österreich u. dergl. m.t so daß schon zu Anfang des Jahres 1900 in den Bergwerken mehr als l/„ sämtlicher Arbeiter aus jenen Gegenden stammten ; zusammen mit Frauen und Kindern belief sich ihre Zahl auf ca. 175 000.

Im zweiten Kapitel gibt der Verfasser einen Überblick über die Gestal- tung des Arbeitsvertrages, woraus zu entnehmen ist, daß der gewaltige Auf- schwung des Ruhrbergbaus seit Mitte des XIX. Jahrhunderts wesentlich auf der erfolgreichen Geltendmachung folgender drei Forderungen beruht, und zwar 1) Verringerung der Bergwerksabgaben, 2) Beseitigung des staat- lichen Direktionsprinzips und 3) Verringerung der regalherrlichen Vor- rechte. Der Verbesserung der Lage der Unternehmer stand indessen keine entsprechende Verbesserung der Lage der Arbeiter gegenüber ; denn die Knappen, die früher gewissermaßen Staatsbeamte waren und eine Reihe weitgehender Privilegien hatten, wurden durch das allgemeine Berggesetz von 1865 ihrer sämtlichen früheren Vorrechte beraubt, was zu einer fortschreitenden Entrechtung und wachsender Proletarisierung der Bergarbeitermassen Anlaß gab. Eine Verschlechterung trat auch in der Hinsicht ein, daß der Arbeitstag heute sehr oft viel länger ist als früher, indem die von den Ruhrbergleuten stets geforderte „von den Vätern ererbte Achtstundenschicht" heute tatsächlich zu einer 9 10 Stunden- schicht ausgeweitet wurde. Auch der Streik von 1889 brachte in dieser Hinsicht nur eine vorübergehende Besserung. Aus den Mitteilungen des Verfassers geht hervor, daß, ebenso wie vor 1889, die Beamten manchmal sogar in unerlaubter Form die Schichtdauer durch aller- hand Praktiken verlängerten, die Überschichten nicht genau notierten u. dergl. m. Als Beweis führt er auf S. 52 zahlreiche Zechen- anschläge sowie die Tatsache an, daß durchschnittlich jeder Ruhrberg- mann zu Anfang der neunziger Jahre ca. 300 Schichten anfuhr, während diese Durchschnittszahl in den Jahren 1899 bzw. 1900 317 und 318 betragen hat. Im Anschluß daran behandelt Pieper die Frage des Arbeitslohns, wobei von ihm die außerordentliche Mangelhaftigkeit der amtlichen Lohnnotierungen mit vollem Rechte sehr scharf ange- griffen wird. Ohne bei den Einzelheiten zu verweilen, mag hier die Erwähnung der Tatsache ausreichen, daß während noch 1895 Feier- schichten eingelegt wurden, im Jahre 1900 eine Überschicht die andere jagte, so daß monatlich hic und da 40 45 Schichten verfahren wurden. Man kann Pieper nur zustimmen, wenn er den entsprechenden Mehr- verdienst daraus nicht Lohnsteigerung benannt haben will, da er auf Mehrarbeit und nicht auf Erhöhung des Gedingelohns beruht. Nach dem Eintreten der Krise begannen die Löhne, teilweise übrigens unter dem Einfluß der verminderten Zahl der Schichten, zu sinken. Sehr charakteristisch sind in dieser Hinsicht die nachstehenden Angaben des

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allgemeinen Knappschaftsvereins in Bochum, die vom Verfasser auf Seite 79 angeführt werden. Und zwar traten in der Lohnhöhe folgende Veränderungen ein. Es erhielten einen durchschnittlichen Tagelohn in Proz. der Gesamtbelegschaft :

bis 2,60 Mk. von 2,61 bis 3,80 Mk. von 3,81 bis 5 Mk. über 5 Mk.

1900 5,9 Proz. 17,7 Proz. 24,4 Proz. 52,0 Proz.

190« 6,8 20,0 28,9 44.3

»902 7,8 20.9 39,6 31,7

Der Prozentsatz der Arbeiter, deren Tagelohn 5 Mk. übertraf, sank demnach von ca. 52 auf kaum 32 Proz. der Gesaratzahl. Dabei darf folgende Tatsache nicht unerwähnt gelassen werden. Pieper konstatiert nämlich, daß bei Zechen, deren spezifische Kohlensorten noch gut ab- gingen, ferner bei den großen Zechen, die durch ihre großartigen Auf- bereitungsanstalten die besten Stückkohlen und Nußsorten lieferten, die Lohnminderung nicht beträchtlich war, während die kleineren Zechen die ungünstige Gestaltung der Konjunktur auf die Arbeiter abzuwälzen suchten. Alle diese Angaben gewinnen ein besonderes Interesse, wenn wir uns die Behauptungen der Apologeten der Syndikate in Erinnerung rufen, denen zufolge die Syndikatsgründung eine Verminderung der Lohnschwankungen, größere Stetigkeit der Beschäftigung der Arbeiter u. dergl. m. nach sich gezogen hätte. In Wirklichkeit konnte man in Deutschland sehr oft das Gegenteil feststellen, da gleichzeitig mit dem Sin- ken der Löhne viele Zechen erhebliche Arbeiterentlassungen vorgenommen haben. Die Syndikatsgründung hat ferner keineswegs zu einer Besserung der Lage der Arbeiter geführt, sofern es sich um die Organisations- bestrebungen der letzteren handelt. Darüber bemerkt z. B. der von Pieper zitierte Berginspektionsbericht Witten vom Jahre 1901: „Hin und wieder ist der Rückgang in der Geschäftslage von den Werksverwaltungen auch benutzt worden, um ihnen agitatorisch lästig gewordene oder her- vorragend unbotmäßige Leute aus der Belegschaft zu entfernen." Außer- dem beschwerten sich die Bergarbeiter darüber, daß nicht einmal die Feierschichten gleichmäßig verteilt, sondern sog. Günstlinge davon ver- schont bleiben. Außerdem kommen auch jetzt Fälle vor, in denen die Abkehrzeugnisse der Arbeiter trotz des gesetzlichen Verbotes mit geheimen Abzeichen versehen werden. Da seit der Syndikats- gründung diese im Geheimen Gemaßregelten viel schwerer eine neue Stelle finden können als vordem beim Vorherrschen der freien Kon- kurrenz — so kann man sich kaum darüber wundern, daß in den Berg- arbeiterkreisen überall eine tiefe Erregung herrscht, wobei sich vielerorts sogar Ansätze zum offenen Streik zeigten, indem man hie und da die Anfahrt verweigerte. Nur der besonnenen Leitung der beiden Berg- arbeiterverbände ist es zu danken, meint Pieper, daß die allgemeine Erregung zurückgehalten und verhindert wurde, daß wie im Jahre 1889 die

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Literatur.

Welle eines Riesenstreiks sich über das Ruhrkohlenbecken hinwälzte. Ihre Parole an die drängenden Kameraden war: „Haltet euch an der Arbeit. Laßt euch nicht aufreizen ! Sorgt für Aufrechterhaltung der Ordnung, wirkt beruhigend auf die Erregten ein, stärkt die Organisation. Wenn es Zeit ist, wird das Signal schon kommen."

Wie die Arbeiter diese Worte beherzigt haben, läßt sich aus folgenden Daten über die Mitgliederzahl und die Einkünfte beider ge- nannten Organisationen ersehen:

Alter Verband

Christlicher Gewerkverein

im Jahre

Mitgliedcrzahl

Hinnahmen

Mitgliederzahl

Einnahmen

1899

33100

90100 Mk.

22000

48 400 Mk.

1900

36400

215200

29 300

«13000

1901

38000

323 3oo

34000

206 500

1902

48300

462 600

40000

291 300

Wollte man sogar zugeben, daß diese Angaben etwas übertrieben sind, so läßt sich doch eine bedeutende Zunahme trotz der Krise nicht in Abrede stellen. Bei dieser Gelegenheit muß noch betont werden, daß das berüchtigte Nullen nach Ansicht des Verfassers sich bis auf den heutigen Tag nicht nur im alten, sondern im erweiterten Umfange fortgepflanzt habe, während in England durch Einführung des Abwiegens der Förderwagen die betreffenden Streitigkeiten zwischen den Unter- nehmern und Arbeitern schon lange ihre alte Bedeutung verloren haben. Mit Wehmut konstatiert Pieper, daß alle Versuche des Abgeordneten Dasbach bei der Beratung der preußischen Berggesetznovelle, eine Besserung in dieser Hinsicht durchzusetzen, von der Mehrheit des Hauses, in deren Mitte sich viele Kohlcnbergwerksbesitzer befanden, abgelehnt wurden.

Ohne auf die Besprechung des Verhältnisses zwischen der Lohn- steigerung und der Steigerung der Unternehmergewinne einzugehen (in seinen diesbezüglichen Ausführungen hat Pieper hier auch einige Unter- nehmungen erwähnt, die außer der Kohlengewinnung noch die Her- stellung anderer Artikel betreiben, was die LTnternehmerpresse ihm sehr übel nimmt), wollen wir hier nur seine überaus interessanten Mitteilungen über das Verhältnis von Arbeitszeit und Arbeitslohn zur Arbeitsleistung er- wähnen. Die von ihm zitierten Untersuchungen des Bergwerksdirektors Kirschniok ergaben nämlich, daß in seinen oberschlesischen Kohlengruben die Durchschnittsleistung der Pfeilhauer auf denselben Flözen und unter denselben Verhältnissen pro 1 2 -Stundenschicht von 1881— 1888 ca. 7,59 t betragen hat. Dagegen betrug sie pro 8-Stundenschicht in den Jahren 18S9— 1898 ca. 9,28 t und in den Jahren 1899 1901 pro 8-Stundenschicht sogar 10,1 t. Uber die erhöhte Arbeitsenergie der Belegschaft bemerkte Kirschniok: „Es weiß wohl jeder Bergmann, vom jüngsten Schlepper bis hinauf zum Betriebsführer, daß der oberschlesische Arbeiter, wenngleich er gezwungen ist, 12 Stunden in der Grube zu sitzen, doch nur kaum 8 Stunden arbeitet. Gibt man ihm nun Gelegen-

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f. Gold stein: Theodor Vogclstein, Loreni Pieper, Elisabeth Gottheiner. 497

heit, die Leistung einer 12 stündigen Schicht in 8 Stunden zu voll- bringen, so verspeist er sein mitgebrachtes Brot weit lieber erst nach Beendigung der Schicht, nur um die hierfür notwendige Zeit nicht während der Schicht zu verschwenden".

Von hervorragendem Interesse sind ferner die Mitteilungen des Verfassers über die tötlichen Verunglückungen der Bergleute. Die von ihm auf Seite 134 angeführten Daten zeigen, daß während in England und Belgien die Zahl dieser Unfälle außerordentlich rasch zurückging, die entsprechenden Daten für Preußen keinesfalls gleich günstig lauten. Leider hat der Verfasser für die neueste Zeit nur die Daten für das Jahr 1900 angeführt, was den Wert seiner Vergleiche erheblich herab- mindert und außerdem einen berechtigten Anlaß zu Beanstandungen seitens der Unternehmerpresse bietet. Indirekt wird seine Auffassung von der Tatsache bestätigt, daß während um die Mitte des XIX. Jahrhunderts eine englische Kommission nach Preußen kam, um die Ursachen der niedrigen Unfallziflfer Preußens zu studieren, gegen Ende des Jahrhunderts Preußen eine Untersuchungskommission nach England sandte, um dort die Gründe der geringen Unfallziflfer zu erforschen. Und obgleich die Verminderung der tödlichen Unfälle fast überall der Aufnahme der Arbeiterdelegierten in die Bergwerksinspektion zugeschrieben wird, hat sich die preußische Regierung zur Durchführung dieser Maßnahme noch nicht entschließen können, und zwar wesentlich unter dem Einfluß der Berichte der Bergwerksinspektion, die unter dem Druck der Syndikate stehend sich gegen eine beschleunigte Durchführung dieser Reform aussprach. Ebenso ungünstig gestaltete sich unter dem Einfluß der zahlreichen Überschichten am Ende der 90 er Jahre die Erkrankungs- häufigkeit (vgl. insbesondere S. 167). Ohne uns mit allen anderen Er- krankungen zu beschäftigen, wollen wir nur der neuerdings so oft besprochenen Wurmkrankheit gedenken, deren Geschichte uns deutlich zeigt, wie unzureichend die preußische Bergwerksinspektion die Interessen der Bergarbeiter wahrnimmt. Ärztliche Autoritäten, wie die Fachblätter der beiden Bergarbeiterorganisationen haben nämlich schon seit Jahren auf die Größe der Gefahr hingewiesen und auf energische Maßregeln gedrungen. Trotz alledem behauptete man amtlicherseits, die Krankheit sei in steter Abnahme begriffen und hielt die eingeleiteten Maßnahmen für recht zweckmäßig. Im Jahre 1902 erkrankten aber pro 10000 Mann der Belegschaft bereits 53 Bergleute gegenüber 41 im Jahre 1901, ca. 12 im Jahre 1900 und 4 6 in den Jahren 1896—1899. Neben diesen Schattenseiten, welche der Nachlässigkeit der Bergwerksinspektion und der zu weitgehenden Nachsicht der Regierung den syndizierten Zechen gegenüber zugeschrieben werden müssen, hebt der Verfasser auch einige Lichtseiten hervor, die man hauptsächlich dem technischen Fortschritt zu verdanken hat. Außer der Zunahme der Mitgliederzahl der Arbeiter- organisationen gehört zu diesen Lichtseiten insbesondere die Anwendung

Archiv fiii Sozialwissenschaft u. Sozialpolitik, I. { A. f. soz. G. u. St. XIX.) a. 32

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Literatur.

der Schrämmaschinen, mit deren Hilfe in Nordamerika im Jahre 1900 bereits etwa J/4 der gesamten Kohlenproduktion gewonnen wurde. Im Ruhrrevier datiert ihre Verwendung erst seit 1898 und zwar nur auf wenigen Zechen, weil die amerikanischen Konstruktionen sich hier als untauglich erwiesen haben. Neuere deutsche Konstruktionen haben diese Mängel gehoben, so daß bei weniger Arbeitskosten eine um 50 80 Proz. erhöhte Arbeitsleistung und vor allem eine bedeutende Herabminderung der Unglücksfälle erzielt wurde. Die entschädigungspflichtigen Unfälle durch Stein- und Kohlenfall betrugen nämlich pro 1000 versicherte Personen :

im Jahre

bei der Sektion II

»uf Zeche Dorstfeld

1896

5.87

7,00

1897

5.76

6.36

1898

5.36

6,13

1899

5.56

3,76

1900

5.22

3.5i

Seit der Verwendung der Schrämmaschinen auf der Zeche Dorst- feld (1898) stürzte also die UnfallzifTer dort jäh ab.

Das IV. und V. Kapitel sind der Bergarbeiterbewegung, der Knapp- schaftskassenreform und anderen Forderungen der Arbeiter gewidmet. Die Durchsicht der diesbezüglichen Beschlüsse des 2. deutschen Berg- und Hüttenarbeitertages (Alter Verband) und des ersten Delegiertentags der christlichen Bergarbeiter, welche in der Forderung auf Einsetzung von gesetzlichen Arbeitcrausschüssen, Vereinheitlichung des gesamten deutschen Knappschaftswesens, freier Ärztewahl, Selbstverwaltung der Kassen u. dgl. m. gipfeln, zeigt uns deutlich genug, daß es sich im großen und ganzen um durchaus berechtigte Ansprüche der Arbeiter handelt. Dies wird u. a. auch dadurch erwiesen, daß in den fiskalischen Bergwerken die Arbeiterausschüsse bereits eingeführt sind, während man den syndizierten Privatzechen diese Verpflichtung nicht aufzubürden wagt, obwohl die Behandlung der Bergarbeiter durch die Vorgesetzten eine nie abreißende Kette von Beschwerden und Klagen bildet. In einer Eingabe des christlichen Gewerkvereins vom Februar 1900 heißt es: „Eine ständige Quelle der Klage ist die sehr oft inhumane, teilweise sogar unan- ständige Behandlung der Arbeiter durch Betriebsbeamte." Pieper berichtet sogar, daß es gerichtlich mehrmals erwiesen wurde, daß nicht nur Pferdejungen und andere jugendliche Arbeiter, sondern auch Erwachsene Stock- und Faustschlägen ausgesetzt waren, wobei zur Zeit ungünstiger Geschäftslage regelmäßig eine schlechtere Behandlung eintritt. Die Bildung der Syndikate hat also auch in dieser Hinsicht keineswegs zur Besserung der Arbeiterlage beigetragen.

Im VI. Kapitel behandelt der Verfasser die Lebenshaltung und ins- besondere die Wohnungsverhältnisse der Arbeiter. Wie wichtig gerade diese letzteren sind, geht daraus hervor, daß der Bevölkerungszuwachs

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J. Goldstein: Theodor Vogelstein, Lorenz Pieper, Elisabeth Gottheiner, ^gg

im Ruhrrevier von 1871 1900 ca. 200 Proz. betragen hat, während die Einwohnerzahl Berlins im gleichen Zeitraum nur um ca. 128 Proz. zunahm. Kein Wunder daher, daß die Wohnungsverhältnisse in den letzten Jahren sich erheblich verschlechterten, obwohl die Zechen eine große Zahl von Arbeiterwohnungen gebaut haben.

Gleich traurig klingen die Mitteilungen über die Ernährungsverhält- nisse der Arbeiter. Leider beschränkte sich der Verfasser auf die Mit- teilung der Lebensmittelpreise für einzelne Jahre, statt die entsprechen- den Daten für das ganze Jahrzehnt anzuführen, was wiederum der Unter- nehmerpresse Anlaß zu mehr oder weniger berechtigten Beanstandungen bietet. Berücksichtigt man die fast völlige Abwesenheit der größeren Konsumvereine und die trotz wiederholter Klagen der Arbeiter noch fast überall übliche monatliche Lohnzahlung, welche die Arbeiter zur Borgwirtschaft verleitet einerseits, und die rapide Steigerung der Woh- nungspreise andererseits, so wird man im großen und ganzen Pieper darin zustimmen können, daß der Reallohn der Arbeiter sich keineswegs erheblich gebessert hat. Ebenso ungünstig lautet sein Urteil über die geistige Nahrung, die den Arbeitern geboten wird; denn für die allge- meine Bildung der Bergarbeiter und die Beschaffung edlerer Genüsse durch Unterstützung von Büdungsvereinen , Veranstaltung von Volks- bildungsabenden, Volksunterhaltungen, Schriftenverbreitung, Bibliotheken und Lesehallen geschieht seitens der Zechen wenig.

Das letzte Kapitel handelt von dem Charakter der Bergarbeiter und der Polenfrage im Ruhrrevier. Wegen Mangelhaftigkeit der Arbeiter- organisationen, des starken Drucks seitens der Zechen u. dergl. m. zeichnet sich der Charakter der Bergarbeiter durch eine Reihe unsym- patischer Züge aus, so z. B. durch Eigensinn, unglaubliches Mißtrauen, Arbeitsneid usw. Zusammen mit dem weitverbreiteten Aberglauben und der Sprachverschiedenheit (im Jahre 1893 waren im Ruhrkohlenbecken 36 Sprachen vertreten) erschweren diese unsympatischen Züge den Fort- schritt der Arbeiterorganisation, was zu trüben Betrachtungen über die künftige Gestaltung der Beziehungen zwischen den Arbeitnehmern und Arbeitgebern Anlaß gibt.

Trotz mancher zu weitgehender Generalisierungen und einer Reihe anderer Mängel wird die Arbeit Piepers in Deutschland vielleicht die- selbe Rolle spielen, wie der berühmte Roman Zola's „Genninal" vor einigen Jahrzehnten in Frankreich, denn seine Schilderungen verlangen gebieterisch ein entschiedenes Eingreifen der Staatsgewalt.

Zum Schluß muß noch nachstehender Wirkung der Arbeit Piepers gedacht werden. Schon einige Wochen nach deren Veröffentlichung hat das Organ der Bergwerksbesitzer „Glückauf" einen größeren Artikel ver- öffentlicht (Jahrg. 1903, Nr. 48 }, der die „Unwissenschaftlichkeit" der Pieper- schen Untersuchungen nachzuweisen versuchte. Die nähere Betrachtung der Gegenargumente des „Glückauf" spricht schon deshalb für ihre fast

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völlige Unhaltbarkeit, weil daselbst die Tatsache verschwiegen wird, daß die Lohnsteigerung am Ende des XIX. Jahrhunderts wesentlich der Vermehrung der Überschichten zugeschrieben werden muß. Die forcierte Arbeit erfordert aber eine verbesserte Ernährung, so daß die geringwertige Steigerung des Reallohnes besonders angesichts der rapiden Steigerung der Mietpreise sich unmöglich mit der Erhöhung der Dividende um 100 300 Proz. messen kann. Außerdem sind die Einwände des „Glückauf" auch deshalb wenig stichhaltig, weil das Organ der Unternehmer nur die Maximalpreise der Lebensmittel anführt, ohne die Minimalpreise zu berücksichtigen, obwohl die letzteren für die Arbeiterklasse die wichtigsten sind, da die Arbeiter gewöhnlich die schlechteren Qualitäten kaufen. Um so größere Bedeutung gewinnt daher natürlich das Geständnis des Unternehmerorgans, dem zufolge („Glückauf", S. 1163) nach dem Eintreten der Krise die Lebens- haltung der Arbeiter im Jahre 1902 sich in einer ungünstigeren Lage befand als in dem für die Arbeiter keineswegs besonders günstigen Jahre 1897.

Die letzte der obenangeführten Schriften wird wohl keinen so großen Eindruck machen, wie die Arbeiten Vogelsteins und Piepers, und zwar schon deshalb, weil sie weniger originell ist. Sie bildet sozu- sagen die Fortsetzung der bekannten Schrift von Alfons Thun „Die Industrie am Niederrhein und ihre Arbeiter," die vor 25 Jahren er- schienen ist. Inzwischen ist die Bevölkerung der Hauptzentren dieses Gebietes, der Städte Elberfeld und Barmen von ca. 175 000 auf über 300000 gestiegen. Dies wie eine Reihe anderer Umstände veranlaßte die Verfasserin eine erneute Untersuchung der in Frage kommenden Verhältnisse vorzunehmen.

Im ersten Teil wird von der Verfasserin die Tatsache konstatiert, daß seit der Zeit der Veröffentlichung des Thunschen Werkes eine erhebliche Besserung der Verhältnisse insofern eintrat, als die früher vielfach beobachtete 13 14 stündige Arbeitszeit bei den Frauen wenigstens nicht mehr anzutreffen ist. Im weiteren wird von ihr berichtet, daß die Handarbeit auch in dieser Provinz einen völlig aussichtslosen Kampf gegen die Maschine gekämpft hat; denn gewisse Zweige der Samt- und Seidenweberei, welche die Handarbeit als unveräußerliches Eigentum zu besitzen glaubten, wurden ihr entrissen, und Gewebe, die man noch Anfang der 80 er Jahre nur auf Handstühlen hatte herstellen können, werden jetzt auf Kraftstühlen gefertigt. Leider fehlen den Ausfuhrungen der Verfasserin die ziffermäßigen Grundlagen über die Zahl der Hand- und Kraftstühle in den einzelnen Jahren, so daß der Entwicklungs- prozeß nicht mit genügender Klarheit hervortritt.

Das 2. Kapitel des I. Teils wird dem Einfluß der amerikanischen Zollpolitik auf die Textilindustrie von Elberfeld-Bannen gewidmet. Wenn

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J. Gold stein. Theodor Vogelstcin, Lorenz I'ieper, Elisabeth Gottheiner. 50 1

wir auch zugeben, daß die stetigen Änderungen der amerikanischen Tarife vor allem wegen der Tendenz zur Erhöhung der Zollsätze auf die Textilindustrie des Wuppertals einen schädigenden Einfluß aus- üben mußten, so kann man dennoch die Verwunderung kaum unter- drücken, daß Fräulein Gottheiner, welche hier, wie auf S. 10, von der protektionistischen Manie spricht, die Erwähnung der Tatsache vergessen hat, daß diese Erscheinung wesentlich Deutschland selber durch seinen am Ende der 70 er Jahre geschaffenen autonomen Zolltarif mit ver- schuldet hat. Die Verfasserin berührt ferner kaum den großen Einfluß, welchen die Rohstoffverbände Kohlen- und Eisensyndikate auf die Textilindustrie ausübten, obwohl in dieser Hinsicht, wie die Kartell- enquete zeigte, sehr reichhaltiges Material vorliegt.

Im letzten Kapitel des I. Teils, sowie im II. Teil wird von der Verfasserin die Lage der Industrie dieses Gebietes von 1895 bis zur Gegenwart geschildert. Obwohl der durchschnittliche Arbeitsverdienst von 1895 D's 18 99 um 10—15 Proz- gestiegen ist, hat der letzte Auf- schwung leider keineswegs eine entsprechende Verbesserung der Lage der Arbeiter geschaffen; denn zu gleicher Zeit, wie Frl. Gottheiner im Kapitel über die Wohnungsverhältnisse (S. 60) und Ernährungsver- hältnisse (S. 73) zeigt, sind auch die Wohnungsmieten und die Lebens- mittelpreise erheblich in die Höhe gegangen. Nach dem Eintreten der Krisis ist aber in dem Gesamtverdienst vieler Arbeiter ein Rückgang meist um x/5 eingetreten (S. 25). Leider hat die Verfasserin es zu er- wähnen vergessen, daß in den letzten Jahren eine weitere Verschlechte- rung der Lage der Arbeiter noch dadurch eintrat, daß gleichzeitig mit dem Sinken der Löhne eine erhebliche Steigerung der Fleischpreise und mancher anderer Lebensmittel stattfand.

Die Schilderungen der Lohnverhältnisse führen die Verfasserin, insbesondere, sofern es sich um die Arbeiterinnen handelt, zu keines- wegs rosigen Schlußfolgerungen. „Die wenigsten Arbeiterinnen", sagt sie, „werden imstande sein, mit ihrem geringen Verdienst, ihren voll- ständigen Lebensunterhalt zu bestreiten." Der Preis für volle Pension beträgt den Angaben der Barmener Stadtverwaltung zufolge heute im Wuppertal 520 bis 550 Mark jährlich. Da die Löhne diesen Be- trag nur selten erreichen, so ist nur natürlich, daß die Wuppertaler Textilarbeiterinnen ein beträchtliches Kontingent der dortigen Prosti- tuierten stellen. Die Richtigkeit dieser Tatsache wird sowohl seitens der Arbeiter als auch der Arbeitgeber und Gewerbeinspektoren be- stätigt. Einer von den letzteren erklärte in bezug auf die traurigen sittlichen Zustände des Bezirkes schon vor vielen Jahren, daß die Hauptschuld auf die Länge der Arbeitszeit, auf unsaubere und ge- hetzte Arbeit, heiße und mangelhafte Arbeitsräume, zahlreiche Ordnungs- strafen, knappe Löhne und Akkordsätze und geringe Vorsorge von Seiten der Arbeitgeber zurückzuführen ist. Wenn auch in den letzten Jahren

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Literatur.

in dieser Hinsicht eine Besserung zu verzeichnen ist, so muß doch fest- gestellt werden, daß das Vorwiegen kleiner und mittlerer Betriebe, so- wie älterer Fabriken der Besserung der sanitären Zustände große Hinder- nisse in den Weg legt. Kein Wunder daher, daß die Gesundheits Ver- hältnisse sehr traurig sind, und die Mehrzahl der Textilarbeiterinnen an Bleichsucht oder Schwindsucht leiden. (S. 44).

Im Kapitel über den Einfluß des erhöhten Arbeiterinnenschutzes auf Arbeitslohn und Arbeitsleistung gelangt die Verfasserin zum Schluß: die Produktivität der Arbeit sei während der letzten Jahre unter dem Einfluß der Zeitverminderung erheblich gestiegen. Die Behauptungen der Fabrikanten, die Verkürzung der Arbeitszeit müsse zum Sinken des Arbeitsverdienstes führen, haben sich, wie die von ihr angeführten Bei- spiele zeigen, nicht bewahrheitet. Wenn man überhaupt von schädlichen Wirkungen des Elfstundentages sprechen kann, so kann dies nur insofern geschehen, als manchmal die früher von den Fabriken allein bewältigte Arbeit in besseren Zeiten auf die Hausindustrie abgeschoben und diese dadurch überlastet wurde. So war in diesem Fall wegen nicht weit genug gehender Gesetzgebung nichts erreicht als eine Übertragung der Last auf andere Schultern. Im weiteren Kapitel werden die Arbeiter- und Unternehmerorganisationen geschildert. Den diesbezüglichen Mit- teilungen der Verfasserin ist zu entnehmen, daß die Frauen nur wenig an den Organisationen beteiligt sind. Die stärkere Beteiligung der Männer am Gewerkvereinsieben kann den Einfluß des stetigen Wechsels der Mode, der kurzen Lehrzeit, welche die Züchtung einer grolien Reservearmee begünstigt, und anderer ebenso schädigender Momente nicht paralysieren. Bedenkt man, daß in Elberfeld und Barmen im Jahre 1899 kaum 10 Proz. aller Textilarbeiter Mitglieder der Filialen des Textilarbeiterverbandes waren, so wird man sich kaum wundern, wenn die Verfasserin die Tatsache feststellt, daß seit der Gründung des neuen Arbeitgeberverbandes die Arbeiter bisher bei allen Kämpfen, bei denen der Unternehmerverband eingriff, unterlegen sind (S. 84).

Zum Schluß erübrigt es sich, zu erwähnen, daß die Verfasserin leider viele wichtige Fragen kaum einer Erwähnung würdigt. So wird z. B. von den Kartellen und Konventionen nur die „Allgemeine deutsche Zanellakonvention" etwas eingehender besprochen. Des ferneren fehlt es der Arbeit an Schilderungen persönlicher Untersuchungen oder wenigstens Beobachtungen, was insbesondere bei der Charakteristik der Wohnungs- verhältnisse sehr am Platze wäre. Auch würde es den Wert der Arbeit erheblich erhöhen, wenn bei Vergleichen mit England neuere Daten statt der Berufung auf die für das Ende der 80 er Jahre geltenden Nachweise von Schulze-Gaevernitz angegeben sein würden.

Zürich.

J. GOLDSTEIN.

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Agrarstatistische und sozialpolitische Betrachtungen zur Fideikom mißfrage in Preußen.

Von

MAX WEBER.

Der längst erwartete „Entwurf eines Gesetzes über Familien- fideikommisse" liegt seit dem Herbst 1903 in „vorläufiger" Redaktion in zwei voneinander in einigen Punkten abweichenden Fassungen vor, von denen wir hier die im Verlage der „Post" erschienene, mit einer Begründung versehene spätere Lesart zugrunde legen.1) Das

*) Aus der Literatur über den Entwurf seien hervorgehoben die Aufsätze von

1. Conrad in seinen Jahrbüchern 1903 (Bd. 81) S. 507 ff., mit dem ich mich in allen wesentlichen Punkten in erfreulicher Übereinstimmung befinde.

2. Dr. Wygodzinski und

3. Sering, beide in Schmollers Jahrbuch (1904, Heft 1 S. 47 f. bxw. 61 f.) auf die zurückzukommen sein wird.

4. Prof. M. Wolff (Berlin), Die Neugestaltung des Familienfideikommiflrechts in Preußen. Berlin 1904, Carl Heymanns Verlag eine sehr gut ge- schriebene wertvolle Kritik der juristischen Konstruktion des Ent- wurfs, die uns als solche hier nicht interessiert, nebst kurzem Resum6 der prinzipiellen Standpunkte de lege ferenda.

Aus der vorhergehenden Literatur des letzten Jahrzehnts seien erwähnt: I. P. Hager, Familienfideikommisse, Jena 1895 (Bd. VI Heft 5 der Elsterscheu „Studien"), eine mäßige Doktordissertation ohne wissenschaftlichen Wert. Den Motiven hat sie offenbar ab? Hauptquellc gedient, besonders für die Ansichten der „Gegner" der Kideikommisse. 3. Eugen Moritz, Die Familienfideikommisse Preußens. Berlin looi.

Ich würde diese Schrift, die mir erst jetzt vor Augen kommt, nicht er- wähnen, wenn nicht der Verf., der seiner Zeit die Arbeit in meinem Seminar Archir für So/ialwi**enschaft u. Sozialpolitik. I. (A. f. so». G. u. St. XIX.) 3. 33

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Max Weber,

in Aussicht genommene Gesetz soll zunächst den überaus bunt- scheckigen Rechtszustand, der zurzeit in Preußen besteht, verein- heitlichen und mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch in ein klares Ver- hältnis setzen: zu diesem Zweck wird den bestehenden Fideikom- missen bei Strafe des Erlöschens die Unterwerfung unter alle wesentlichen Bestimmungen des neuen Rechts auferlegt. Es ver- folgt darüber hinaus den Zweck, das Institut mit dem modernen

begann, dann nach auswärts ging, meiner als seines „hochverehrten Lehrers" in der Vorrede gedächte. Die Verantwortung für die Art ihrer Ausführung muß ich ablehnen. Wie diese ausgefallen ist, dafür nur ein Beispiel : der Verf. erörtert die Bevölkerungsabnahme in manchen Kreisen des Ostens und meint (S. 41): „Wir sind geneigt, den Rückgang der Be- völkerung nicht auf Konto der Gutsbezirke, sondern der Landgemeinden zu setzen, welche beide bei dieser Betrachtung nicht zu trennen waren, d a hier jedes amtliche Material versagt." Diese Bemerkung ist seitens des Verf. ein starkes Stück. Aus dem Gemcindelexikon, auf welches der Verf. von mir hingewiesen war und welches er S. 12 selbst zitiert, können nicht nur jene Zahlen getrennt festgestellt, sondern die Bewegung der Bevölkerung für jede einzelne Gemeinde- cinheit, auch jedes Fideikommißgut, ermittelt werden, und eben diese mühsame, dem Verf. zu mühsame , aber unter Umständen recht lohnende Aufgabe hatte ich ihm s. Z. gestellt. Ich meinerseits mußte mich, da ich zur Zeit mit weit abliegenden anderen Arbeiten befaßt bin, nachstehend meist mit der Verwertung einigen Zahlenmaterials begnügen, welches ich vor Jahren zum Zweck einer größeren agrarstatis- tischen Arbeit über den landwirtschaftlichen Kapitalismus zusammen- gestellt bzw. überwiegend selbst errechnet hatte. Wenn ich auf diese Arbeiten demnächst einmal zurückkomme , hoffe ich dasselbe zu er- gänzen. Wie lückenhaft es ist, empfinde ich selbst am peinlichsten. Mehr als illustrativen Wert haben meine Zahlen nicht. Die Fideikommiß- statislik knüpft an die Arbeiten Evcrts (Z. des preuß. Stat. Bureaus 1897 S. I f.) und Kuhnerts (das. 1902 S. 134 f.) an, durch welche die älteren bahnbrechenden Leistungen Conrads heute meist, jedoch keineswegs in allen Punkten, überholt sind.

Wirklich schlüssige neue Ergebnisse Uber die Wirkung der Fideikommisse könnten nur umfassende, auf gründlicher langdauernder Autopsie und historischen Studien beruhende Spczial arbeiten über die hauptsächlichen Fideikommißdistrikte in Verglcichung mit anderen geben, vorausgesetzt, daß die nötige Unbefangenheit des Arbeiters außer Zweifel steht. Heute, wo feststeht, „was herauskommen wird", sind solche Arbeiten, wenn amtlich unterstützt, nach allen Erfahrungen schwerlich noch zu gewärtigen.

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Agrarstatistische u. sozialpolit Betrachtungen zur Fideikoramißfragc in Preußen. 505

„Rechtsempfinden" so weit in Einklang zu bringen als dies eben möglich ist; und endlich wird wie wir noch sehen werden ganz offensichtlich beabsichtigt, das Institut zu propagieren und des- halb insbesondere durch Schaffung unzweideutiger einheitlicher und privatwirtschaftlich zweckmäßiger Rechtsnormen die Fideikommiß- interessenten zu deren Benutzung zu ermutigen und ihnen jede etwaige Besorgnis zu benehmen, es könne eines Tages gegen das ganze Institut gesetzlich vorgegangen werden.

Die für uns wesentlichsten Bestimmungen des 245 Paragraphen umfassenden Entwurfes sind in summarischstem Auszug die folgen- den: Jede1) neue Errichtung von Fideikommissen soll künftig königlicher Genehmigung unterliegen, Erweiterungen bestehender Fideikommisse um Grundstücke von mehr als 10000 Mark Wert nur ebenso, andere mit ministerieller Genehmigung zulässig sein. Die wichtige Bestimmung über den bei der Errichtung fälligen Fideikommißstempel fehlt noch. Gegenstand fideikommissarischcr Bindung soll nur ein der Hauptsache nach land- oder forstwirt- schaftlich genutztes Grundstück sein können, andere Vermögens- gegenstände nur als Zubehör eines solchen, Kapitalien nur als eine mit landwirtschaftlichen Grundbesitz verbundene Kapital- stiftung, insbesondere als Meliorationskapital (Verbesserungsmasse), als Abfindungs- und Austattungsstiftung für die Angehörigen des Be- sitzers (s. u.), sonst aber nicht in einer den hundertfachen Betrag des Jahreseinkommens aus dem landwirtschaftlichen Besitztum über- steigenden Höhe. Das Fideikommißgut muß ein Einkommen von mindestens 10000 2) Mark (nach Abzug aller Jahresleistungen) aus dem landwirtschaftlichen Grundbesitz nachhaltig zu gewähren im- stande sein, davon mindestens 5000 Mark aus einer ein wirtschaft- liches Ganze bildenden Besitzung, und es dürfen ferner die für Schuld, Zinsen und Amortisation, für Abgaben und gesetzliche Verpflichtungen des Besitzers, auch solche, die der Gesetzentwurf ihm auferlegt, aufzubringenden Beträge nicht mehr als die Hälfte des Ertrages des Grundbesitzes in Anspruch nehmen.8) Die Fidei-

*) Bisher nach dem Prcuß. Landrecht nur bei mehr als 30000 Mk. Ertrag und Erweiterung bestehender Fideikommisse über diesen Betrag hinaus. In Hannover bestand kein Gcncbmigungserfordernis.

') Bisher nach Landrecht 7500 Mk. einschließlich Kapitalzinsen, in Hannover 3600 Mk.

') Ähnlich, jedoch im einzelnen abweichend, A.LR. II 4 § 51 f.

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Max Weber,

kommißerbfolge ist stets agnatische Primogenitur-Erbfolge,1) vor- behaltlich bestimmter Fälle der Anwartschaftsunwürdigkeit. Die Verfügungsgewalt des Fideikommißinhabers ist nicht unerheblich er- weitert. Nach dem preußischen Landrecht bedarf es in allen Fällen der Veränderung der Substanz des Fideikommißgutes, bei Abverkauf, Verpfändung oder sonstiger Belastung, eines von der Fideikommiß- behörde aufzunehmenden und zu bestätigenden einstimmigen Familien- schlusses. Ohne einen solchen ist eine Verschuldung nur in be- stimmten Fällen einer genau umschriebenen unverschuldeten außer- ordentlichen Notlage zur Erhaltung des Fideikommisses, oder nach Maßgabe des Landeskulturrentenbank-Gesetzes usw., Abveräußerung nur bei Enteignung und bei kleineren Parzellen nach Maßgabe der Rentengutsgesetzgebung möglich. Der Entwurf setzt außer für Fälle, welche direkt den Bestand des Fideikommisses überhaupt oder in seiner bisherigen Beschaffenheit berühren, an die Stelle des Familienschlusses die (in gewissen Fällen der Genehmigung der Fideikommißbehörde bedürftige) Zustimmung des Familienrates, der von der Fideikommißbehörde nach bestimmten Regeln aus der Reihe der Familienmitglieder zu bestellen ist. Dies gilt namentlich für Belastungen, die daneben einmal regelmäßig an eine Verschuldungs- grenze (2/g des Ertragswerts) und ferner an bestimmte begrenzte Voraussetzungen (nachhaltige Verbesserungen, öffentliche Pflichten) geknüpft sind , für die an ähnliche Voraussetzungen geknüpfte Ver- äußerung „kleinerer Teile" des Besitztums, ferner auch für die Auf- stellung der für Forsten und Bergwerke vorgeschriebenen Wirt- schaftspläne und für die Kapitalanlage. Er gestattet dem Fidei- kommißbesitzer in den wichtigsten Fällen einer grundlosen Ver- weigerung, diese Zustimmung durch Anrufung der Fideikommiß- behörde ergänzen zu lassen. Der Abschluß von Pachtverträgen auf kürzere Zeit (6 Jahre) und von Arbeitsverträgen wird dem Fidei- kommißbesitzer in Abänderung des geltenden Rechts auch ohne Konsens mit Wirkung gegen den Nachfolger gestattet und für die regelmäßigen Verwaltungsgeschäfte bleibt er von jeder Genehmigung entbunden, die also nur für wesentliche Umgestaltungen der Wirtschaft (z. B. Ubergang zur Weidewirtschaft u. dgl.) erforderlich ist. Der Fideikommißbesitzer ist eine wichtige und, wie anzuerkennen ist, sehr wertvolle Neuerung im Anschluß an das allerdings vom Entwurf in nicht durchweg zweckmäßiger Weise abgeänderte

') Nach A.L.R. entschied bisher die Verfügung des Stifters.

Agrarslatistischc u. sozialpoHt. Betrachtungen zur Fideikommißfrage in Preußen. 507

sächsische Institut der Familienkasse J) verpflichtet, aus den Ein- künften des Fideikommisses 3 verschiedene Kapitalfonds aufzu- sammeln, sofern nicht schon der Stifter dieselben in einer bestimmten Minimalhöhe mitgestiftet hat. Zur Ausstattung und zur Abfindung bedürftiger und, wenn die Mittel reichen, auch anderer Familien- angehöriger bestimmterVerwandtschaftsgrade soll je eine Ausstattungs- und eine Abfindungsstiftung errichtet und durch jährliche Beiträge von mindestens \'Ä des Jahreseinkommens bis zur Erreichung eines in „angemessener" Höhe vom Stifter, evtl. von der Behörde, festzu- setzenden Höchstbetrages der Kapitalien gespeist werden. Daneben ordnet der Entwurf die Ansammlung einer „Verbesserungsmasse" an, für welche in „angemessener" Höhe und bis zur Erreichung des auf das Hundertfache des Fideikommißeinkommens festgesetzten Höchst- betrages Beiträge vom Besitzer zu leisten sind. Sie soll regelmäßig nur für Erhaltung und nachhaltige Verbesserung des Fideikommißgutes Verwendung finden dürfen. Die Bestimmung über die, wie aus dem allem hervorgeht, höchst einflußreiche Fideikommißbehörde fehlt noch. Als unbedingt souveränes höchstes Organ bleibt endlich die zum „Familienschluß" versammelte Familie, welche alles, auch die Auflösung des Fideikommisses beschließen kann, bestehen.

Uns interessiert nun hier von dem Inhalt des Entwurfes nur sein Gehalt an sozialpolitisch (im weitsten Sinne des Worts) bedeutungsvollen Bestimmungen. Deshalb bleiben die bloß technisch juristischen Vorschläge und ferner diejenigen außer Erörterung, welche die Sicherung der Interessen der Fideikommißanwärter und Familienmitglieder bezwecken.2) Irgend welche „ethische" Sentimen- talität in bezug auf ihr Schicksal wäre übrigens wenig am Platze. Sie sind damit nicht so unzufrieden, wie oft geglaubt wird. Mit gutem Grund : sie betrachten, und mit Recht, die Zugehörigkeit zur Familie des Besitzers als Chance ersten Ranges für die Bcamten-

v, Iber diese uns hier weniger interessierenden Fragen s. v. Koller in der „Kreuz- zeitung" 1903 Nr. 383 fr.

s) In dieser Hinsicht ist die weitgehendste Bestimmung des Entwurfes der Vorschlag, dem Familienrat nach eingeholter Zustimmung der Fideikommißbehörde die Befugnis zu geben, vom Besitzer Rechnungslegung über das Vermögen zu verlangen 22). Wenn Sering und andere diese Bestimmung für Uberflüssig oder gar gegen die „Würde" des Fideikommiübesitzcrs verstoßend halten, so wird jeder, der einmal praktisch die Interessen von Fidcikommißanwärtcm zu vertreten hatte, sie für die ein- zige halten, die zu einer materiellen Sicherung der Interessen derselben führen kann. Alle anderen Rechte funktionieren stets erst, wenn es zu spät ist.

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karriere. Diese Anweisung auf die „Staatskrippe" ist ja eins der wesentlichsten Momente, die der Stifter von jeher in Betracht zog und künftig, nach den Aussichten, welche die Motive (S. 13) eröffnen, erst recht Anlaß hat, in Betracht zu ziehen.

Von den uns interessierenden Bestimmungen des Entwurfes fällt als, wenn auch praktisch unwichtig, so doch charakteristisch, zunächst die (scheinbare) Unterdrückung des G e 1 d -Fideikommisses und die (ebenfalls scheinbare) Beschränkung der Fideikommisse auf land- und forstwirtschaftlich benutzten Boden auf, welche die Motive (S. 18) mit pathetischen, aber sachlich gehaltlosen, Worten begründen. Nun ist das reine Geldfideikommiß von praktisch geringer Bedeutung. Sieht man aber näher zu, so unterdrückt der Entwurf auch gar nicht, wie es scheinen könnte, die Kapitalanhäufung, auch nicht die An- häufung städtischen oder bergbaulich oder industriell genutzten Bodens in Fidcikommißform die Kapitalanhäufung erzwingt er vielmehr geradezu sondern er gibt lediglich den ländlichen Grundbesitzern das Monopol, nicht nur ländlichen Boden, sondern Boden jeder Art und Kapitalien in sehr bedeutendem Umfange fideikom missarisch zu akkumulieren. Das Fideikommiß soll also lediglich agrarisches Sonderrecht landsässiger Kapitalisten sein.1) Vergegenwärtigen wir uns also, welche Rolle heute die Fidei- kommisse in der preußischen Agrar Verfassung spielen.

I.

Die Fideikommißbildung hat, nachdem das Verbot, welches noch die Verfassung von 1850 enthält, bereits 1851 wieder auf- gehoben war, seitdem ganz erhebliche Fortschritte gemacht und macht sie noch. Über die Hälfte (599 von 11 19) der preußischen Fideikommisse sind in den letzten 50 Jahren neu entstanden, davon freilich ein Bruchteil nicht ganz ein Drittel durch Umwand- lung von Lehen in Fideikommisse. Die Zahl der X e u gründungcn (also exkl. Lehenumwandlungen) hat sich 1880 95 gegen 1850— 80

') Mit einem Rittergut im Werte von 300000 Mk. z. H. können eventuell neben Bergwerken und Fabriken auch Kapitalstiftungen von über 3 Millionen Mk. verbunden werden. Man kann also die Bestimmungen des Entwurfs kurz auch dahin formulieren: „Wer Kapitalien durch fideikommissarischc Bindung nobilitieren will, muß '/,0 davon in ländlichem Grundbesitz anlegen und bestimmte Teile derselben für Ausstattung und Abfindung von Angehörigen sowie als „Verbesscrungsmassc" für speziell landwirtschaftliche Zwecke festlegen." Diese Formulierung bringt das, was der Entwurf will, ungeschminkter zum Ausdruck.

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Agrarstatistischc u. sozialpolit Betrachtungen zur Fideikomraißfrage in Preuflen. 509

in den östlichen Provinzen nur in Posen und Westpreußen (aus politischen Gründen) nicht vermehrt, sonst in allen. In Schlesien und Brandenburg ist in den 15 Jahren 1880 95 mehr, in Schlesien um über 1L mehr Boden neu gebunden worden als in den 30 Jahren 1850 80. Aber auch in der letzten Zeit schreiten die Fideikommißbildungen und zwar im ganzen mit der Tendenz zur Beschleunigung, nicht zur Verlangsamung vorwärts, wie die Nachweisungen für die Jahre 1895 1900 ergeben. In diesen Jahren ist die Fideikommißfläche um 3,58 Proz. gestiegen. Der Zuwachs dieser 5 Jahre, 75000 ha, umfaßt eine Fläche, die von der Durch- schnittsfläche eines ganzen Landkreises nur in wenigen Regierungs- bezirken mit sehr ungünstigem Boden übertroffen wird. Es finden sich unter den preußischen Landkreisen 10, welche hinter dem bloßen Jahreszuwachs z. B. des Jahres 1898 allein (24098 ha) zurückbleiben. Die heute bestehenden Fideikommisse umfaßten 1900: 2177000 ha oder 1 ,6 des gesamten Staatsgebietes. Städte, Wege, Wässer, Moore, Öd- und Unland eingerechnet, eine Fläche, welche diejenige der Provinz Westfalen er- heblich übertrifft. In 33 Kreisen waren über 1 Ä, in 6 über 40 Proz. der Fläche gebunden. Den Höchststand weist die Provinz Schlesien auf. Von den 26 Kreisen mit je mehr als 20000 ha Fideikommiß- fläche gehören 1 7 der Provinz Schlesien, 3 der Provinz Sachsen an, also denjenigen Provinzen, in welchen der rein kapitalistische Charakter des landwirtschaftlichen Großbetriebes am konsequentesten entwickelt ist und speziell in ihrer Arbeitsverfassung am deutlichsten hervortritt

Sieht man sich nun die B o d e n kategorien an, welche die Fideikommißbildung mit Vorliebe ergreift, so zeigt sich, daß zu- nächst der Waldboden in besonders hohem Grade zur Fidei- kommißbildung neigt. Etwa 46 Proz. der Fideikommißfläche sind Waldungen. Zwar wäre es eine starke Übertreibung, wenn man behaupten wollte wie es früher geschah , daß das Fidei- kommiß in erheblichem Maße einer drohenden Entwaldung steuere. In waldarmen Kreisen teilen auch die Fideikommisse diese Eigen- schaft. Und selbstverständlich ist die Existenz jener 46 Proz. Wald- bestände nicht Folge der Fideikommißeigenschaft des Bodens, sondern umgekehrt : die Eigenart der Forstwirtschaft Länge der Umschlagsperiode und (relative) Bedeutungslosigkeit des Betriebs- kapitals — drängt speziell den Waldboden der fideikommissarischen Bindung zu. Aber immerhin ist die Chance, daß Walddevastationen

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JIO Max Weber,

unterbleiben, bei Fideikommißen doch wohl eine relativ starke und es entspricht den allgemeinen Erfahrungen, daß die dem feudalen Empfinden von jeher eigene, kultur- und wirtschaftsgeschichtlich so höchst wichtige Freude am Walde der Qualität der Fidei- kommißwälder zugute kommt. Auch die hohen Durchschnitts- reinerträge der Holzungen in manchen Fideikommißkreisen *) sprechen vielleicht, soweit es sich um alte Fideikommisse handelt, dafür, obwohl natürlich im allgemeinen das Kausalverhältnis so liegt, daß gerade die besseren Waldlagen fideikommissarisch ge- bunden wurden.2) Wie steht es nun mit dem landwirt- schaftlich nutzbaren Boden?

Die amtlichen Publikationen ergeben, daß auch hier die Fidei- kommisse die von Natur (oder durch Marktnähe) besser ausge- statteten Bodenlagen im allgemeinen bevorzugen, und zwar da, wo dies näher ersichtlich ist, in ganz auffallender Weise.3) Natürlich muß man hier zwischen den Fideikommissen alten Bestandes, die aus großen Lehngütern hervorgegangen sind, welche naturgemäß vorzugsweise den Verkehrs ferneren rein agrarischen Gebieten an- gehörten, und denjenigen neueren Fideikommißbildungen unter- scheiden, welche im Laufe der letzten Jahrzehnte vorgenommen worden sind. Was aber diese letzteren anlangt, so bestätigt eine speziellere Untersuchung der Grundsteuerreinerträge des landwirt- schaftlichen Bodens, wie sie mit Hilfe des Gemeindelexikons und

') Zu vergleichen etwa die starke Differenz zwischen den Reinerträgen der Holzungen der Gutsbezirke gegenüber den Dörfern im Fidcikommißkreisc Militsch gegenüber dem Nachbarkreis Guhrau.

*) Dies tritt z. B. in der gegen den Nachbarkreis Guhrau besonders niedrigen Qualität der Bauernwälder im Fideikommißkreisc Militsch hervor.

») Wo immer der Grundsteuerreinertrag des gebundenen Bodens hinter dem Durchschnitt zurückbleibt, handelt es sich um alte Forstbestände. Wo dies nicht der Fall ist, steht der durchschnittliche Reinertrag der Fideikommisse höher, teil- weise ganz erheblich höher als der Durchschnitt. So betrug er z. B. per ha in Mk. in: Königsberg 9,13 (gegen 7,47 durchschnittlich), Potsdam 10,26 (gegen 9,84), Stettin 13,68 (gegen 11,12), Schleswig 24,22 (gegen 19,69), Hannover 22,36 (gegen 13,32!), Stade 41,16 (gegen 21,22 !), Wiesbaden 23,75 (ßegen 16,71), Düsseldorf 32,73 (gegen 29,20). Man sieht, daß überall speziell die Nähe großer Kapital- zentren (Berlin, Hamburg, Hannover, Frankfurt, Rheinland) die Qualität des ge- gebundenen Bodens in die Höhe treibt. Mit steigender Kapitalkraft wird es natür- lich in steigenderem Maß geschehen, daß das Anlage und Nobilitierung suchende Kapital sich den besten Boden wegfischt und den schlechten den Bauern läßt.

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Agrarstatistischc u. sozialpolit. Betrachtungen zur Fideikommißfragc in Preußen. 511

der Handbücher des Grundbesitzes möglich ist, jene Beobachtung, daß die Fideikommisse gute Bodenlagen bevorzugen, im ganzen denn natürlich kreuzen sich allerhand „Zufälligkeiten" des gegebenen Besitzstandes damit auf das eklatanteste.1) Und zwar scheint es, daß dies im Laufe der letzten Zeit im ganzen in steigendem Maße der Fall ist, wie dies auch für die Jahre 1895 1900 die amtlichen Publikationen bestätigen. Das Fideikommiß sucht den Boden, der Grundrente, und möglichst hohe und risikofreie Grundrente, trägt. Es ist, soweit es nicht früheres Lehngut ist, eine spezifisch modern- kapitalistische Form der Renten bildung, ganz ebenso wie die ver- zinslichen Wertpapiere.*) Im Vaterlande der modernen kapitalisti- schen Landwirtschaft England ist diese seine Funktion : Schei- dung von Bodenbesitz und Betrieb, von Rente und Unternehmerrisiko, am gründlichsten durchgeführt. Es erwächst überall aus dem Ver-

') Durch Stichproben bei Neugründungen leicht zu erweisen. Eis wird im ganzen nicht der allerbeste Boden gebunden er ist zu teuer, weil nur durch sehr intensive Kultur voll zu verwerten und vor allem ist grade hier der Brutto- stcmpcl von 3 Proz. bisher störend sondern etwa die Garnitur „Ib". Schlechter Boden gehört zu Fidcikommisscn in irgend beträchtlichem Umfang nur, wenn sie alte Fideikommisse frühere Lehen usw. sind.

*) Wenn Scring a. a. O. die Anhänger einer Ausdehnung der Fideikommisse als „Freunde einer antikapitalistischen Agrarreform1', ihre Gegner als Vertreter des „kapitalistischen Standpunkts" bezeichnet, so ist eigentlich das Bedauerlichste daran, daß er selbst wie jeder der ihn kennt, weiß an die Bedeutung solcher ganz inhaltsleeren Wendungen aufrichtig glaubt. Wenn der Minister v. Miquel solche Wendungen zu politischen Rcklamezwecken verwendete, so wußte er, daß er die Phrase in seinen Dienst nahm, wenn Nationalükonomen sie aussprechen, so ist das Dienstverhältnis das umgekehrte. Man kann nur bedauern, daß z. B. auch in der Frage des ländlichen Erbrechts mit solchen Mitteln gearbeitet worden ist. Auch wer selbst stets durchaus der Meinung gewesen ist, daß sich für Gebirgsgegenden, marktferne Gebiete, Uberhaupt von Fall ru Fall sehr wohl über die Zweckmäßig- keit einer Änderung im Erbtax verfahren und über die Anordnung, daß dort bäuerlicher Besitz in dubio d. h. mangels Testament ohne Teilung unter Zugrundelegung des „Ertragswerts" vererbt werden solle, reden lassen würde, ja daß es Fälle gebe, wo geschlossene Hofgütcr ihre Berechtigung haben können, mußte durch die widerliche Miquelschc Reklame, welche solche nach lokalen Verhältnissen rein sachlich zu diskutierenden Maßregeln der Erbrechts t e c h n i k unter den pompösen und in diesem Zusammenhang lächerlichen Gesichtspunkt eines „Kampfes gegen den Kapitalismus" stellte, zum Protest gereizt werden. Ein „Kampf gegen den Kapitalis- mus" auf agrarischem Gebiet sähe anders aus als die Stümpereien, die heute sich als ein solcher gebärden.

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Max Weber,

such, zugleich dem Venvertungsinteresse des Kapitals und den Interessen sozial herrschender Schichten an einem relativ stabilen „standesgemäßen" Einkommen Raum zu schaffen. Es ist die Form, in welcher „satte" kapitalistische Existenzen ihren Erwerb aus der stürmischen See des ökonomischen Kampfes in den Hafen eines „Otium cum dignitate" einer briefadligen Rentnerexistenz zu retten pflegen. Es fühlt sich daher am wohlsten da, wo guter Boden und Großgrundbesitz zusammentreffen mit einer starken bergbau- lichen oder industriellen Entwicklung, welche (wie in Schlesien) Kapital für die Anlage in Grund und Boden „ausschwitzt", zumal, wenn gleichzeitig niedrige Arbeitslöhne einer proletarisierten und dennoch durch Parzellenbesitz an den Boden gefesselten Land- arbeiterschaft (wie wiederum in Schlesien) die dauernde Erzielung hoher Grundrenten gewährleistet.1) Die schlechten d. h. die rentelosen Böden meidet es. Die Kreise mit den ungünstigsten Bodenverhältnissen im Osten wiesen 1897 überhaupt keine Fidei- kommisse auf, und die von den Freunden des Instituts früher ver- breitete Legende, das Fideikommiß sei das geeignete Mittel, auf schlechtem Boden den Großbesitz und Großbetrieb als „Träger der Kultur" zu erhalten, ist solange man die Bindung besserer Böden nicht gesetzlich verbieten will ein für allemal gründ- lich zerstört. Vielmehr zeigen die Tatsachen, daß die Fideikommisse gerade diejenigen Boden zu okkupieren trachten, welche infolge ihrer Eignung für intensive Betriebsformen, der Entwicklung zur Verkleinerung der Betriebe zustreben müßten oder, nach der offiziös-preußischen Theorie von der „glücklichen Mischung" der Be- triebsgrößen, für bäuerliche, speziell „groß bäuerliche" Existenzen die Unterlage bilden könnten, während sie die schlechten, angeblich nur in Großbetrieben zu bewirtschaftenden, Bodenklassen ihrem Schicksal, das heißt der Besiedelung durch rentelose Wirt- schaften, speziell im Osten mehr oder minder stark naturalwirtschaft- liche (namentlich polnische) Parzellcnbauern, überlassen. In wesent- lich gesteigertem Maße wird dies natürlich der Fall sein nach dem etwaigen Inkrafttreten der neuen Getreidezölle, die ja ent- sprechend der Maxime jedes Hochprotektionismus: „wer da hat, dem wird gegeben" speziell die Grundrente der besten, der VVeizenböden in die Höhe schrauben und speziell diese dadurch noch mehr „fideikommißfähig", machen.

') Die „günstigen Abeiterverhältnisse" haben hier bei der Grundsteuerbonitie- rung ebenso wie bei den im Bodenverkehr gezahlten Preisen ihre Rolle gespielt..

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Agrarstatistische u. sozialpolit. Betrachtungen zur FiJcikommiöfragc in Preußen. 513

Die Frage: wie wirkt nun diese in großen Gebieten schon ganz außerordentlich vorgeschrittene fideikommissarische Bindung des landwirtschaftlich genutzten Bodens ökonomisch und sozialpolitisch? ist von den Motiven auf 6 Seiten in ganz und gar unzulänglicher Weise behandelt. Ehe dazu Stellung genommen wird, einige „theoretische" Vorbemerkungen.

Von den verschiedenen Gesichtspunkten, unter denen man eine Agrarverfassung beurteilen kann, kommen, soweit sie in quantitativen, der Messung zugänglichen, äußeren Massenerscheinungen ausdrückbar sind, zunächst drei in Betracht, nämlich: 1. das Produktions- interesse : möglichst viel Erzeugnisse von einer gegebenen Fläche, 2. das populationistische Interesse: viel Menschen auf einer gegebenen Fläche, 3. das um es einmal ad hoc so zu nennen „sozialpolitische" *) : möglichst umfassende und gleichmäßige Ver- teilung des Besitzes a n einer gegebenen Fläche. Soweit das platte Land in Betracht kommt, sind die beiden Interessen zu 2 und 3, im allgemeinen wenigstens, in bester Harmonie miteinander, während wenigstens bezüglich der Getreide produktion beide mit dem Produktionsinteresse vielfach kollidieren. Es besteht nicht der mindeste Zweifel, daß, wenn es sich um die Erzeugung von möglichst viel Getreide von der gegebenen Fläche handelt, mindestens alle mittleren und kleineren bäuerlichen Besitz- und Be- triebseinheiten schlechterdings vom Übel sind, und wer die Deckung des deutschen Getreidebedarfs durch inländische Produktion an- strebt — sei es auch nur als ideales Ziel muß für deren Be- seitigung, damit aber f ü r die Schärfung der sozialen Gegensätze auf dem Lande und für die numerische Schwächung der Landbevöl- kerung eintreten und er betrügt andere oder sich, wenn er dies verschweigt. Hier gibt es kein „sowohl als auch", sondern wenn man den technisch leistungsfähigsten Groß betrieb künstlich stützen will, so muß man insoweit die dauernde Verdünnung der an- sässigen Landbevölkerung wollen. Und zwar würde, je kapital- intensiver die Wirtschaft betrieben werden soll, desto mehr sich die Bevölkerung zuungunsten wenigstens der relativen Be- deutung, oft auch der absoluten Zahl, der Landbevölkerung ver- schieben. Denn desto mehr wird e i n Teil des „Ertrags des Gutes" in Wahrheit in den Kaligruben, Thomas-Hochöfen, Maschinenwerk- stätten etc. der industriellen Gebiete produziert und ein anderer

') Es soll damit hier noch gar kein Werturteil zuguusten dieses Gesichts- punktes kaptiviert werden.

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SU

Max Weber,

durch Saisonarbeiter, die auf dem Gut nicht ansässig sind, er- zeugt, desto weniger also bleibt relativ Raum für die Verwendung einheimischer mit der Scholle verwachsener Arbeits- kräfte, desto mehr von dem Arbeitslohn wird auswärts (in Russisch-Polen !) , desto mehr von dem Arbeits p r o d u k t von städtischen Konsumenten, desto weniger von der ansässigen Landbevölkerung verzehrt. Auf eine möglichst einfache (und des- halb natürlich nur relativ gültige) Formel gebracht : Der bäuer- liche Betrieb alten Schlages fragte : wie mache ich es, um mög- lichst viel Köpfe an Ort und Stelle auf der gegebenen Fläche durch ihre Arbeit zu ernähren? der kapitalistische Betrieb fragt (das ist sein Begriffsmerkmal): wie mache ich es, um auf der gegebenen Fläche mit möglichster E r s p a r n i s an unnötiger Arbeit ein möglichst großes Quantum Güter für den Absatz auf dem Markt disponibel zu machen ? *) Dieser höchst einfache Ausgangs-

l) Man vergleiche etwa die Dichtigkeit der Siedlung auf guten und schlechten Böden, wie sie beispielsweise in folgenden sich in ähnlichen Relationen sehr oft wiederholenden Zahlen zutage tritt:

Im Kreise Militsch (Kidcikommiflkrcis) kam 1885 in den Reinertrags- klassen von pro ha Mk. : unter 10: 10—15: über 15:

auf 1 Wohngebäude (m dcn Dörfern 4,39 5,66 6,29

ha Ackerland und [

Wirscnfläche: lauf dcn Gütern 49,8 43,7 55,6

Man sieht: dem besten Boden entspricht die dünnste Bebauung. Für den kapitalistischen Betrieb auf den besseren Böden ist eben das Wohnhaus der Ar- beiter Teil der Produktionskosten. Die enorme Differenz zwischen Dörfern und Gütern spricht hier für sich selbst.

Es kam ferner in den gleichen Rcinertragsklassen 1 spezifische Forstgüter mit mehr als 50 Proz. Wald ausgeschlossen):

unter 10: 10—15: über 15:

a) auf 1 Kopf ha [™ dcn Dörfern 0,79 0,87 0,95 Gesamtfläche: |auf den Gütern (5,82) 4,9© 5><>7

b) auf 1 Kopf ha |in dcn Dörfern 0,71 0,78 0,87 Acker- u. Wiesen- [

fläche: (in den Gütern (3,67) 3.23 3.82

Eine Serie weiterer ähnlicher Zahlen s. in anderem Zusammenhang unten S. 537 f.

Man sieht, daß mit steigender Bodcnqualität, also steigender „Produktivität der Arbeit", die Besetzung der bewirtschafteten Fläche nicht nur mit Gebäuden, sondern auch mit ortsanwesender Bevölkerung (WintcrbevÖlkerungJ die Tendenz zur Ab- nahme zeigt, wie die wegen des störenden Einflusses der Forsten am besten ver- gleichbaren Zahlen der Landgemeinden, innerhalb deren hier viel aufgekaufter und gebundener Gutsboden liegt, beweisen. Der schroffe Gegensatz zwischen

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Agrarstatistische u. sozial pol it. Betrachtungen zur Fideikommißfrage in Preußen. 515

punkt aller Betrachtungen über die Wirkung des Großbetriebes und die sozial* und bevölkerungspolitische Kehrseite des Produktions- interesses in der Landwirtschaft sofern nämlich darunter Ge- treide produktion im Fruchtwechsel mit Hackfrüchten verstanden wird muß immer wieder betont werden. Wer nun der Meinung ist, daß die sozialen Kontraste im Osten der Abschwächung bedürftig seien, oder wer meint, daß es heute vor allem gelte, so- viel selbständige landwirtschaftliche Existenzen wie nur irgend möglich auf den dünn besiedelten, der Abwanderung und der Überschwemmung durch Ausländer oder doch Stammfremde preis- gegebenen Boden des Ostens zu setzen, der muß für den Osten die Beseitigung aller Institutionen verlangen, welche dem direkt entgegengesetzten Ziele zustreben, gleichviel, ob dadurch eine Schädigung der Produkt ionsinteressen wie dies wenigstens für das Getreide wahrscheinlich ist eintritt. Viele deutsche Land- leute müssen ihm mehr wert sein als viel deutsches Korn. Übrigens läßt sich heute auch nicht die allerentfernteste „Gefahr" eines Verschwindens oder auch nur einer dem Ge- treide-Produktionsinteresse in fühlbarer Weise zuwiderlaufenden starken Reduktion des Großbetriebes für den Osten wahrschein- lich machen. Was dort z. B. etwa in Pommern an Reduktion der G r o ß betriebsfiäche vor sich geht, ist in weit überwiegendem Maße eine Reduktion der Betriebsgröße auf ein technisch erträg- liches Maß. Bei Aufhebung aller Fideikommisse, stufenweiser Be- seitigung aller Getreidezölle, progressiver Bodenbesitzbesteuerung und einer noch sehr verstärkten inneren Kolonisationstätigkeit würden

Dorf und Gut, der diese Tendenz besonders deuUicb illustriert, tritt auch hier hervor. Die eingeklammerten Zahlen für die unterste Klasse der Güter zeigeu mit der nächsthöheren verglichen die Wirkung extensiven Betriebs. Die Abnahme der Siedelungsdichte auf der höchsten Stufe zeigt, daß Kapitalintensität und Arbeitsintensität der Wirtschaften verschiedene Wege gehen. Der beste Boden trügt auch bei den Gütern, wie die Zahlen ad b zeigen, die geringste Zahl von ortsansässigen Menschen. Ich kann hier diese in mannigfachen Abschattierungcn an den sehr zahlreichen Beispielen anderer Kreise, die ich durchgerechnet habe, sich wiederholende Erscheinung nicht eingehender prinzipiell erläutern, behalte mir dies vielmehr für künftig vor. Es ist nicht nur die Tendenz zur Saisonarbeit, sondern die Tendenz zum Arbeitsparen überhaupt welche diese Erscheinungen in den kapitalistischen Betrieben hervorbringt. Auf den schlechten Böden der Dörfer bat für die Bevölkcrungs Verdichtung natürlich auch die gewerbliche Nebenarbeit ihre Rolle gespielt. Vgl. dazu die vortrefflichen Ausführungen Sombarts im 2. Band seines „Kapitalismus."

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Max Weber,

nach hundert Jahren im Osten noch so außerordentlich zahlreiche Exemplare von Grafen, Freiherrn und Rittergutsbesitzern übrig sein, daß jeder gefühlvolle Romantiker sich an ihnen über Bedarf erquicken könnte. Daß die Bäume der Bauernkolonisation nicht in den Himmel wachsen, dafür ist durch die historisch gegebenen, nur im Lauf vieler Generationen zu ändernden Verhältnisse nur allzu sehr! ge- sorgt. —

Die Motive machen nun keinen Hehl daraus, daß ihnen vor Allem der Schutz des Großbesitzers wie wir später sehen werden, auch des Großbetriebes am Herzen liegt. Seine Verminderung betrachten sie als diejenige Gefahr, welcher der Entwurf entgegentreten soll. Sie heben hervor, die Fideikommiße sollten einen Schutz bieten gegen die „fortschreitende Überschuldung des ländlichen Grundbesitzes, sowie gegen eine nicht der folge- richtigen Entwicklung der wirtschaftlichen Verhält- nisse, sondern der Notlage des Besitzers entspringende Boden zerStückelung". Es wäre dankenswert, wenn die Motive angedeutet hätten, was denn die „folgerichtige" Entwicklung wäre und woher für sie der Maßstab zu gewinnen sei in einer auf Privateigentum gegründeten Gesellschaftsordnung ? In jener wunderbaren Wendung hat aber lediglich das unklare Ineinanderschieben des Seienden mit dem Seinsollenden und die Unfähigkeit oder Abneigung, mit klaren Be- griffen zu arbeiten, wie sie der „romantischen" Schule eignet, ein Para- digma ihren Konsequenzen geliefert. Denn die „folgerichtige Ent- wicklung" ist hier doch wohl einfach die, welche der Verfasser der Motive für erwünscht hält. Oder soll damit gesagt sein, daß in der Uberschuldung d. h. doch: in der zum ökonomischen Zu- sammenbruch fuhrenden Verschuldung gerade des Groß besitzes individuelle, vom ökonomischen Standpunkt aus „zufallige", Momente zum Ausdruck kämen, da doch die technische Überlegenheit des Großbetriebes eigentlich eine geringere ökonomische Ge- fährdung des Groß besitzes bedingen müsse ? Dann wäre der Satz einfach falsch und beruhte teils auf falschen tatsächlichen An- nahmen, teils auf irrigen ökonomischen Ansichten. Gerade weil der Großbetrieb kapitalistische Markt- Produktion bedeutet, ist der ihm als Grundlage dienende Groß besitz soweit Wirtschafter und Besitzer identisch sind ganz „folgerichtiger" Weise konjunkturen- cmpfindlicher. l) Tatsächlich unrichtig ist aber überdies die

') Dies zeigen folgende, nach den Angaben in der Publikation von Evcrt,

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Agrarstatistischc u. sozialpolit. Betrachtungen zur Fideikommißfragc in Preußen. 5 1 y

Behauptung, daß eine irgend im Verhältnis zu anderen Besitz- gruppen — ins Gewicht fallende „Bodenzerstückelung" im Bereich speziell des durch Fideikommisse zu schützenden Groß- besitzes zu beobachten wäre, man müßte denn eine Zerstückelung, die bei ungestörtem Fortgang in mehreren Jahrhunderten den Groß- besitz dann ernstlich bedrohen würde, wenn der „Zerstückelung" keinerlei Zukauf gegenüberstände, eine solche nennen. In allen anderen Besitzkategorien umfaßte 1896 99 der Besitzwechsel prozentual mehr Fälle von „Abtrennung" und „Zerstückelung" als gerade im Großbesitz, und zwar im ganzen: je weiter nach unten hin, desto mehr1), und das wird so bleiben, solange unsere Zoll-

Zeitschr. des Prcuß. Stat. B. Bd. 29, 1889 S. Höf., errechnete Zahlen über 1. die Zahl und 2. die Gründe, welche in den Jahren 1 886— 89 zur Zwangsver- steigerung ländlicher Grundstücke führten:

Es entfallen

auf Betriebe bzw. Besitzungen

von

unter 2 ha 2 10 ha

10—50 ha

über 50 ha

a) von der Belriebsflache Proz.

'•52

14,68 | 37,90

. 45.90

1886/7

0.79

5.t°

»5.99

78,12

b) von der zwangs-

18878

0,81

5.02

15.50

78,67

versteigerten Besitzflächc Proz.

1888/9

durch- schnitt- lich

o,77 } 0,79

5.87 5.33

15.72 15.70

77.64 78,14

Die Durchschnittsrlächc zu b) bleibt hinter den nach der Be- triebsverteilung fa) auf die Größenklasse entfallenden Quo- tenbetrag zurück ( j bzw. über- steigt ihn (-J-) um Proz.

-48,1

- 63.7

- 58,6

+ 7o,2

Als Gründe des Vermögcns- verfalles ist der Einfluß der Konjunkturen angegeben in Proz. der Fälle

> 3,58

4.03

7,21

15,52

Dagegen rein persönliche Ver- hältnisse (Wucher, Verschulden, Familienverhältnisse usw. Proz.

| 71,75

63. »5

57.»

45,oi

Also zunehmende Bedeutung der allgemeinen Einflüsse der Marktkonjunk- turen bei den größeren Betrieben. Ich habe mich über diese Frage und den Wert dieser Zahlen in meinem Gutachten über das Heimstättenrecht für den 24. 'uristentag geäußert.

J) Kühnert, in der Ztschr. d. Pr. Stat. B. 1902 S. I f. Die Motive, welche die Arbeit des gleichen Verfassers über die Wanderungen (s. il) sich nutzbar zu machen

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Max Weber,

politik den nun seit 20 Jahren für den Osten ungefähr gleichmäßig hohen und jetzt noch zu steigernden, speziell den Großbetrieb und -besitz fördernden Getreidezollschutz nicht herabsetzt. Stei- gerung des den Großbesitzern zugute kommenden Zollschutzes, speziell des gerade den besten Böden zugutekommenden, und Anreiz zu fideikommisso - rischer Bindung gerade dieser Böden, verbunden mit wie noch zu erörtern sein wird erzwungener Er- haltung und Schaffung von Großbetrieben ist aber offenbar das ganz bewußte Ziel der Regierungspolitik.

Inwieweit dadurch auch nur das von den Motiven in den Vordergrund geschobene Getreide-Produktionsinteresse gefordert wird, ist höchst fraglich. Denn es ist endlich auch unzutreffend, daß die Verschuld b a r k e i t des freien Großgrundbesitzes heute als ein irgend wesentlich ins Gewicht fallender Grund ökonomischer Rück- ständigkeit gegenüber den un verschuldbaren Fideikommissen ange- sprochen werden könnte, so oft und kritiklos dies auch geschieht. Daß die tatsächliche Verschuldung diese Rolle spielen kann, ist durchaus zuzugeben. Aber den ganz unzweifelhaft vorkommenden Fällen, wo ein überschuldeter Grundbesitzer, der nicht verkaufen will und nicht verpachten kann, sich in jahrelanger Agonie befindet, stehen ebenso viele Fälle unzulänglichen Betriebskapitals1) und relativ

versucht haben, haben für diese sehr viel schlüssigeren Zahlen charakteristischer- weise gar kein Auge gehabt, trotzdem aber das alte agrarische Schlagwort wieder- holt. — Die wucherische „Güterschlächterci" wird wohl allseitig gleichmäßig beur- teilt, ihre Tragweite aber, soweit der Groß besitz in Betracht kommt, ist im ganzen eine schlechthin minimale. Die Zahlen der oben zit. Abhandlung leiden vorläufig notgedrungen unter dem Mißstand, daß wir nicht wissen, welches Maß von Hinzuscblagungcn den Abzweigungen gegenübersteht Ferner natürlich unter einer gewissen Divergenz zwischen gezählter Besitzeinheit und Eigcntumskomplex. Manche Auffälligkeit möchte damit zusammenhängen. Auch würden wichtige Resul- tate erst bei einer Entzifferung für weit kleinere Bezirke (der einzelnen Gerichte) her- vortreten, namentlich stände erst dann die Erörterung über die Wirkungen des Erb- rechts auf etwas festerem Boden. Aber wenigstens dieses Zahlenmaterial beschafft zu haben, bleibt trotzdem ein ganz hervorragendes Verdienst. Mehr darüber bei einer künftigen Gelegenheit.

') Darin schafft natürlich für die Eigenwirtschaft auch die „Vcrbcsserungs- raasse" des Entwurfs, so dankenswert auch dieser obligatorische Sparzwang sonst ist, keinen entscheidenden Wandel, denn eben als Betriebskapital soll sie ja nich t verwendet werden. Die eventuelle technische Stärke des von „Besitzschulden" freien Betriebs wird nach wie vor durch Verpachtung bedingt sein.

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Agrarstatistische u. sozialpolit. Betrachtungen zur Fideikommißfrage in Preußen. 519

weit mehr Fälle unzulänglicher landwirtschaftlicher Kenntnisse von Fideikommißbesitzern mit alsdann noch viel länger dauernder Misere gegenüber, und nur bei großen Komplexen kann durch Verpachtung oder, infolge der ökonomischen Potenz der ganz großen Grundherrn, durch Gewinnung hervorragender Kräfte für die heute keineswegs mehr unbedingt hinter der Selbst- wirtschaft eines Offiziers a. D. zurückstehende Administration *) und deren Ausstattung mit großen Betriebsfonds abgeholfen, und dann freilich oft sehr günstige Ergebnisse erzielt werden : aber Vor- aussetzung ist dann eben, daß man worauf wir noch oft zurück- kommen — den Lieblingsgedanken von den fideikomm issarisch ge- sicherten „Rücken besitzern" aufgibt. Leider freilich werden notorisch und auch nach Ausweis der Güterlexika gerade auf großen Herr- schaften immer noch Offiziere a. D. als die qualifiziertesten Ad- ministratoren und selbst Pächter angesehen. Eine Überlegenheit des selbst wirtschaftenden kleinen Fideikommißbesitzers vom Stand- punkt des Produktionsinteresses aus aber ist generell in keiner Weise wahrscheinlich. Die armen, chronisch notleidenden Güter der östlichen sandigen Höhengebiete (Pommern, Preußen) meidet das Fideikommiß, auf den besten Boden ist der freie Besitzer dem kleinen selbstwirtschaftenden Fideikommißbesitzer höchstwahr- scheinlichganz erheblich überlegen, auf den mittleren findet jedenfalls schwerlich das Gegenteil statt. Die Statistik reicht soviel ich sehe nicht aus, um für die hier wesentlich in Betracht kommende G e - trei de Produktion etwas bestimmtes festzustellen.*) Es bleibt also,

J) Eine nähere Erörterung hierüber muß hier unterbleiben.

') Der einzige spezifische Fideikommißkreis, den ich bei Durchsicht einiger früher gemachter Notizen für die 5 Jahre 1888 1892 mit auffällig hohen Getreide- erträgen, höheren als in den Nachbarkreisen ähnlicher Reinertragsklassen, notiert finde, ist Öls (große Herrschaften des Königs von Sachsen und des preußischen Kronprinzen, also finanziell potenter nicht selbst wirtschaftender Großbesitzer). Der Fideikommiß- kreis Militsch stand hinter dem benachbarten Kreise Guhrau im Weizenertrag stärker zurück, als die Differenz der Bodenbonitierung erwarten läßt, ohne daß der ebenfalls pro Fläche weniger ertragende Roggen die Divergenz ausgliche. Der Fideikommißkreis Franzburg stand bei minimalen Differenzen des Grundsteuerreinertrages in allen jenen 5 Jahren hinter den Nachbarkreisen Grcifswald und Grimmen im Weizenertrage zurück außer in einem, wo er wenigstens den Kreis Grimmen etwas Ubertraf. Doch ist mit den betreffenden Zahlen und ähnlichen nicht viel anzufangen, da ent- scheidend stets der im Osten immer negativ ins Gewicht fallende Anteil der kleineren Bauern an der Fläche ist. In den hauptsächlichsten Fideikommißkreisen (speziell Archiv für Sorialwifienschaft u. Sozialpolitik. 1. (A. f. soi. G. u. St. XIX.) 3. 34

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Max Weber,

wenn man irgend einen verständigen Sinn jener Worte der Motive zu ermitteln sucht, nur die Annahme übrig, daß dem Verfasser dabei der oft besprochene Gegensatz der „Besitz"- und „Betriebs"- schulden vorschwebte und er die „Besitz"verschuldung schon um dieses Charakters willen für verwerflich erachtet. Nun muß hier der Nachweis, daß diese Unterscheidung keineswegs so einfach ist, wie die auf Rodbertus fußende, und noch nicht über ihn fortgeschrittene Theorie annimmt, unterlassen werden. Nur auf eins sei hingewiesen : die fideikommissarische Bindung großer Teile des Bodens schränkt das für den Ankauf durch fachmäßig tüchtig vorgebildete Landwirte verfügbare Areal ein, steigert also natürlich wenn nicht die Zahl derartiger Kaufreflektanten und damit der Zustrom von In- telligenz und Kapital abnimmt seinen Preis1) und damit die „Besitz "Verschuldung des nicht gebundenen Bodens. Die später noch zu berührende Erscheinnng, daß in spezifischen Fideikommißkreisen die Zahl der Kleinbauern besonders stark steigt, dürfte eben jener Verringerung des Bodenangebots im Ver- hältnis zur Nachfrage zuzuschreiben sein. Es gelangen nur d i e Leute zum Bodenkauf, die ä fonds perdu Ersparnisse darin anlegen, um eine gesicherte Stätte der Verwertung ihrer Arbeitskraft zu gewinnen, es sei denn, daß die Fideikommisse eine so starke Verminderung der landwirtschaftlichen Bevölkerung herbeiführen, daß jene verstärkte Nachfrage nicht eintritt2), daß sie also ent- völkernd wirken.

Schlesiens) bat dieser aber allerdings, wie noch zu erörtern, die Tendenz, stärker zu steigen, als derjenige der mittlereren Betriebe, also das Ergebnis hcrabzudrücken. Den Viehstand lasse ich für diesmal unerörtert, obwohl natürlich gerade hier die Stärke der Bauern liegt, da für ihn wohl niemand von den Fidcikommisscn mit Großbetrieb Heil erwartet.

') Schon die gesteigerte Nobilitierung des Bodenbesitzes wirkt ja darauf hin. Ist doch die soziale Position des Gutsbesitzers einer der Hauptgründe der Überwertung des Bodens schon jetzt.

!) Über die grundsätzlichen Fragen der „Bcsitz"-Verschuldung ein andermal. Richtig ist natürlich, daß die Grundrcntenbildung, die in ihr sich äußert, das Agens der Trennung von Besitz und Betrieb, Rente und Untcrnchmcrrisiko ist, welches in der Fideikommißbildung seinen konsequentesten Ausdruck findet. Eben deshalb ist diese ja wie schon gesagt ein echtgeborenes Kind des AgTar- kapitalismus, der sich hier bis zu einem eigentümlichen Umschlag in eine Ver- kehrs lose Bcsi tz Organisation unter Erhaltung der verkehrswirtschaftlichen Be- triebsorganisation aufgipfell. Daher die Vorliebe mancher Sozialdemokraten

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Agrarstatistiscbc u. sozialpolit. Betrachtungen zur Fideikommißfragc in Preußen. 52 1

Außer den bisher erörterten unzutreffenden theoretischen Be- merkungen beschränken sich die Motive zur Begründung des öko- nomischen Werts der Fideikommisse , neben relativ breiten Aus- führungen über die Bedeutung der Forstwirtschaft, auf die Hervor- hebung der technischen Vorzüge des Großbetriebes, schließen aus dem Umstände, daß die n e u gegründeten Fideikommisse gerade auf guten Böden zu entstehen pflegen, darauf, daß „die Behauptung, die Fideikommisse seien weniger intensiv bewirtschaftet" als andere Güter, unbegründet sei,1) und sprechen in vagen Redewendungen von jener sattsam bekannten „glücklichen Mischung" größerer, mitt- lerer und kleinerer Betriebe, welche zu erhalten und zu fördern das Ziel der Agrarpolitik sein müsse. Daraus geht zunächst wiederum nur das eine hervor, daß sie sich das Fideikommiß speziell als Stütze des Großbetriebes denken, den sie, wie wir immer wieder sehen werden, mit dem Groß besitz zu identifizieren bemüht sind. Im übrigen begnügen sie sich damit, hervorzuheben, daß die Fidei- kommisse nicht, „wie die Gegner des Fideikommißwesens es dar- stellen", die ländliche Abwanderung „in hervortretendem Maße" mit veranlassen. Auf diesen letzteren Punkt mag, da er eben schon berührt wurde, hier zunächst kurz eingegangen werden.

Vorauszuschicken ist dabei eins: Es ist kein Zweifel, daß starke Bewaldung eines Gebietes, die natürlich regelmäßig mit sehr dünner Besiedelung desselben identisch ist, diese geringere einmal vorhandene Bevölkerung in relativ hohem Grade auf dem Lande festzuhalten geeignet ist infolge der Winterarbeitsgelegenheit, die hier im Gegensatz zu dem zunehmenden Saisoncharakter rein land- wirtschaftlicher Großbetriebe geboten wird. Da nun der Wald in besonders hohem Grade nach fideikommissarischer Bindung strebt, und also Kreise mit starker Bewaldung besonders häufig Kreise mit viel

für das Fideikommiß, welches theoretisch betrachtet mit Recht als eine Staffel des „Expropriationsprozesses" aufgefaßt wird.

') Allerdings ein wunderbarer Schluß. Natürlich ist unter Anwendung der nötigen Vorsicht die Annahme zulässig, daß bei sonst gleichen Verhältnissen innerhalb eines Gebietes auf einem Hodenkomplex von höherer Ertragsfähigkeit auch auf hohe Erträge hingcwirtschaAet werden wird. Auch ich werde sie hier mehrfach zu machen haben. Aber daraus, daß der werdenwollendc Fideikommißbesitzer heute die guten Böden aufkauft, auf seine Qualität als Betriebsleiter zu schließen, ist denn doch ein starkes Stück. Es fragt sich gerade, was auf unter sich gleich- wertigem Boden der freie und der selbst wirtschaftende gebundene Be- sitzer im allgemeinen als Betriebsleiter zu leisten pflegen.

3*'

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J22 Max Weber,

Fideikommissen sind, so müßte man in den Fideikommißkreisen g^anz allgemein eine besonders niedrige Abwanderungsziffer erwarten, ohne daß aus einer solchen natürlich für die Wirkung der Fideiko m- misse, vollends der landwirtschaftlichen Fideikommisse, irgend etwas folgen würde. Gerade die ganz großen Fideikommisse sind ferner alten Ursprungs. Ihre Wirkung bzw. ihre N i c h t Wirksamkeit auf die Bevölkerungsverhältnisse kann nicht aus der jetzigen Wander- bewegung, sondern muß aus den Dicht igkeitsziffern geschlossen werden.1) Sie haben ihre Wirkung : Verhinderung der Vermehrung der selbständigen Bauern schon in der Vergangenheit getan. Ein Mitglied des preußischen statistischen Büreaus hat gleichwohl den Versuch gemacht, durch Nebeneinanderstellung von Kreisen, deren Eigenart in bezug auf Grundbesitzverteilung und Fideikommißbestand charakteristisch voneinander abweicht, den Beweis zu erbringen, daß die Fideikommisse in der Gegenwart die Wanderbewegung günstig, d. h. im Sinne der Verminde- rung der ländlichen Abwanderung beeinflußt hätten. Ich gehe unter dem Strich *) auf diese übrigens sehr verdienstlichen Aus-

*) Wie es damit steht, kann daraus entnommen werden, daß auf einen haupt- beruflich in der Landwirtschaft Erwerbstätigen im Durchschnitt der Provinz Schlesien 2J2 ha landwirtschaftliche Nutzfläche (also exkl. Forsten) kamen, im Durchschnitt der schlesischen Fidcikommiflkreisc dagegen 3,26 ha, daß also im Durchschnitt der Provinz die Dichte der hauptberuflich landwirtschaftlichen Bevölkerung um größer ist, als in den Fideikommißkreisen, trotz der in diesen letzteren wie noch zu erörtern sein wird so sehr zahlreichen Parzellenwirtschaften. Die liederliche Art, in der die schon früher erwähnte Broschüre von E. Moritz gearbeitet ist, tritt schon darin hervor, daß hier die ländliche Volkszunahme der Fidcikommiflkreisc des Regierungsbezirks Oppeln als Beweis dafür angesprochen wird, daß die Fidei- kommißbesitzer die Landarbeiter durch „patriarchalc" Vorsorge usw. an sich tu fesseln gewußt hätten. Ich entnehme einigen gelegentlich früher gemachten Notizen, daß 1895 von den Inhabern der ca. 105 000 Landwirtschaftsbetriebe dort 17885 Land- arbeiter, Knechte, Mägde, Tagelöhner, Forst- und Fischerei-Arbeiter, dagegen 41319 hauptberuflich in anderen als landwirtschaftlichen Berufen tätig waren. Schon ein Blick in das Gcmeindclexikon zeigt als Pcrtinenzcn der Gutsbezirke : Zinkhütten, Eisenhütten, Bergwerke u.sw. Das sind die Mittel, die dortige „Land- bevölkerung" zu halten.

*) Kuhnert greift diejenigen 33 preußischen Kreise heraus, in denen mehr als 20 Proz. der Fläche fideikommissarisch gebunden sind (Gruppe a). Diesen werden 20 andere mit wenig Fideikommiß-, aber viel allodialer Gutsfläche (Gruppe b) und endlich weitere 26 Kreise mit sowohl wenig Fideikommiß- als wenig Gutsfläche Gruppe c) gegenübergestellt. Er gelangt nun zu dem Ergebnis, daß die Abwände-

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Agrarstatistische u. sozialpolii. Betrachtungen zur Fideikommißfrage in Preußen. 523

fuhrungen etwas näher ein, um zu zeigen, daß, soweit die Zahlen uns etwas Bestimmtes auszusagen gestatten, das Gegenteil davon

rung der Bevölkerung der Landgemeinden und Gutsbezirke in den Fideikommiß- kreisen nicht sehr wesentlich andere Erscheinungen aufweise, als in den anderen. Speziell im Osten der Monarchie, auf den wir uns hier beschränken, sei aber 1875 bis 1900 in den Fideikommiflkreisen die Abwanderung sogar geringer gewesen, als in den beiden anderen Gruppen, wenn schon erheblich höher, als im Durch- schnitt der Monarchie. Letzteres führt der Verfasser auf das Eindringen der In- dustrie in die Landkreise des Westens zurück, ohne aber zu berücksichtigen, daß gerade die größten Fideikommißkreise des Ostens in Schlesien ganz spezifische Industriekreise sind. Er gibt in dieser Hinsicht zu, daß vielleilcht „besondere Örtliche Verbältnisse" die Zahlen auch des Ostens beeinflusst hätten, meint jedoch, daß diese „nicht ohne weiteres feststellbar" seien. Das ist mir, offen gestanden, unverständlich. Wir haben doch die Zahlen der Berufszählungen von 1882 und 1895 für jeden Kreis und es konnte daraus die weit vorwiegend industrielle Qualität solcher Landkreise wie Schmalkalden, Waldenburg, Reichenbach und der oberschlesischcn Fideikommiß- kreise ohne weiteres ersehen werden. Ferner aber kann man daraus auch die Ziffern speziell der land- und forstwirtschaftlichen Bevölkerung für jeden Kreis berechnen und vergleichen. Und auf deren Berechnung muß es doch an- kommen, da kein Verständiger glauben wird, daß die fideikommissarische Bindung des Bodens die Zahl etwa der Berg- und Hüttenarbeiterbevölkerung wie sie gerade in den Landgemeinden und Gutsbezirken mancher der größten Fideikommißkreise Schlesiens in der großen Mehrheit ist, beeinflusse, und da überhaupt die Bewegung gerade der landwirtschaftlichen Bevölkerung das ist, was bei der ganzen Erörterung in Frage steht. Dabei ist nun natürlich die Beschränkung auf ein möglichst zu- sammenhängendes größeres Gebiet mit in sich ähnlichen Verhältnissen geboten, um Zufallszahlen, wie sie beim Herausgreifen einzelner, zerstreut liegender Fideikommiß- kreise unterlaufen würden, möglichst auszuschließen. Nehmen wir also das klassische Land der Fideikommisse, Schlesien, das einzige größere Gebiet, welches jene Eigen- schaften und daneben besonders große Kontraste in dem Grade der Fidcikommiß- bildung aufweist, und vergleichen wir die hauptberufliche Erwerbstätigkeiten in den vom Verfasser in Betracht gezogenen schlesischen Kreisen 1882 und 1895, so zeigt sich, daß die landwirtschaftlich im Hauptberuf Erwerbstätigen in den 17 schlesischen Kreisen der Gruppe a sich von 1882 bis 1S95 um 4,18 Prozent ver- minderten, während die landwirtschaftlich hauptberuflich Erwerbstätigen der zu- sammen 12 schlesischen Kreise der beiden anderen Gruppen sich im gleichen Zeit- raum nur um 1,07 Prozent verminderten. Auf die 17 Fideikommißkreise kommen nur ebensoviele mit einer Zunahme der landwirtschaftlich Hauptberufstätigen wie aut die nur 12 Nichtfideikoramißkreisc. Die Abnahme der hauptberuflich in der Landwirtschaft Erwerbstätigen war also in den Fidoikommißkreiscn zusammen vier- mal so stark, als in den Kreisen mit vorwiegend freiem Bodenbesitz, trotzdem doch die weit stärkere Bewaldung der Fideikommißkreise, (die hier wie Uberall

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524

Max Weber,

richtig ist. Im übrigen aber ist niemals behauptet worden, daß die Rechts form der fideikommissarischen Bindung des Bodens als solche unmittelbar die Abwanderung der Landbevölke- rung bedinge, sondern es ist von dem im Großbetriebe ge- nutzten Großgrundbesitz behauptet worden, daß er bei starkem Vorherrschen auf landwirtschaftlich genutztem Boden die Entvölkerung des Landes fördere und deshalb auf gutem, fiir baue r- liehe Besiedelung geeigneten Boden allerdings direkt und wesentlich für sie verantwortlich sei. l) S o w e i t der gebundene Groß- besitz den Großbetrieb mit sich führt oder begünstigt wie dies der Entwurf ausdrücklich als seinen Zweck hinstellt ist er es, der unter den erwähnten Bedingungen die Schwächung der land- wirtschaftlichen Bevölkerung verschuldet. Ob die Zusammenklamme- rung des Besitzes durch Hypotheken oder durch fideikommissarische Bindung herbeigeführt wird, wäre an sich gewiß gleichgültig, nur daß eben die Schranken der Hypotheken so außerordentlich viel leichter zu beseitigen sind. Das Institut des Fideikommisses spielt also eine Rolle in diesem Zusammenhang und zwar eine recht

dem Schwerpunkt nach natürlich nicht Folge, sondern Ursache der Fideikommiß- bildung ist) das gerade umgekehrte Verhältnis keineswegs erstaunlich erscheinen lassen würde. Jener Unterschied der Abnahme ist aber um so bemerkenswerter, als bei den bekanntlich im Sommer stattfindenden Bcrufszählungen die Zahlen speziell der großen Güter infolge der Mitzählung der S a i s o n arbeiter stets erheblich zu hohe und zwar infolge der steigenden Verwendung der Wanderarbeiter natürlich in steigen- dem Maße zu hohe sind, ein Umstand, welcher da, wo uns die Landkreise mit starkem Großgrundbesitz steigende Zahlen der landwirtschaftlichen Bevölkerung vor- täuschen, stets sehr im Auge zu behalten ist. Jener Umstand kommt z. B. darin zum Ausdruck, daß in den Kideikommißkreiscn Mittel- und Niederschlesiens auf loo Erwerbstätige nur 101,5 Angehörige kommen. In Oberschlesien ist das Ver- hältnis besser, da hier die andersartige polnische Lebenshaltung und die Frauen- arbeit stark ins Gewicht fallt- Auf die Agrarverfassung der Fideikommißkreise komme ich weiterhin zu sprechen.

Noch eine Einzelheit: den Kreis Habelschwerdt, dessen Fideikommißhcstand erst nach 1895 von 8 auf 22 Proz. stieg (!), durfte der Verf. doch wohl nicht in die Vergleichung einbeziehen. Auf eine weitere Kritik der zur Verglcichung heran- gezogenen Kreise verzichte ich, da natürlich jede Auswahl, auch die weiterhin von mir gelegentlich getroffene, anfechtbar ist und solche Zahlen stets nur illustrativ verwertet werden dürfen.

') Daß die Abwanderung vom Lande nicht n u r da stattfindet, wo Großbetrieb vorherrscht, ist durchaus richtig. Daß sie durch das Vorherrschen des Großbetriebs exzessiv gesteigert wird, ist aber ganz ebenso unzweifelhaft.

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Agrarstatistische u. sozialpolit. Betrachtungen zur Fideikoramißfrage in Preußen. 525

erhebliche, indirekt, indem es, wenn es seinen in den Motiven ausdrücklich hervorgehobenen Zweck erfüllt, den Großbetrieb künst- lich zu erhalten, dies gerade auf Böden tut, wo die Entstehung von mittleren und kleineren Betrieben wirtschaftlich möglich, und zwar generell gesprochen ganz besonders gut möglich wäre. Diese Behauptung ist durch die Publikationen des preußischen statistischen Bureaus nicht etwa, wie der Verfasser der Motive des Gesetzentwurfes sich einredet, widerlegt, sondern vielmehr be- stätigt worden, denn sie wird durch die unbestreitbare Tatsache bewiesen, daß heute gerade die besseren landwirtschaftlich nutz- baren Bodenlagen der Fideikommiß-Neugründung anheimfallen.

Mit dem Gesagten sind wir bereits bei der entscheidenden Frage: wie wirkt die Fideikommißbildung auf die grundlegenden Elemente der Agrarverfassung, Boden b e s it z - und Betriebs Vertei- lung und das Verhältnis von Besitz und Betrieb zueinander. Obwohl es nun ganz unmöglich ist, diesen Punkt, der von den Freunden des Instituts, z. B. Sering, einfach nicht erörtert worden ist, im Rahmen dieser Studie erschöpfend zu behandeln, so muß doch einiges wenigstens über die Beeinflussung des stets so stark hervor- gehobenen Interesses an der „Erhaltung des Bauernstandes" durch das Fideikommiß auch hier gesagt werden. ')

Was zunächst die Entwicklung des bäuerlichen Bodenbesitzes, speziell im Osten der Monarchie, den wir hier allein heranziehen, anlangt, so wird er heute durch zwei Tendenzen zuungunsten des Bestandes speziell der größeren und mittleren Bauernstcllen be- einflußt. Einerseits durch den Landhunger der Parzellenbesitzer, 2) welche und dies gilt insbesondere für die zahlreiche Klasse der grundbesitzenden Sachsengänger um jeden, auch einen gänzlich unwirtschaftlichen Preis durch Bodenzukauf selbständig zu werden

*) Die nachstehenden Zahlen sind durchweg nach dem Gctneindclexikon von 1885 und 1895, ferner nach den preußischen Grundbesitzaufnahmen von 1878 und 1892, den Berufszühlungcn von 188a und 189$, den Erntestatistiken (alles in den Tabellen teils der amtlichen preußischen Statistik, teils der Reichsstatistik enthalten) und den im preußischen „Statistischen Jahrbuch" gegebenen Ziffern errechnet, soweit sie nicht direkt entnommen werden konnten. Ich habe der Raumersparnis halber auch nur die Verhältnis- nicht die absoluten Zahlen hergesetzt. Die nur begrenzte Vergleichbarkeit der „landwirtschaftlichen" mit den „Anbau"rlachen von 1895 bezw. 1882 steht der Vcrglcichung der Kreise untereinander nicht im Wege.

*J Der natürlich sehr stark mitbedingt ist durch das Verschwinden der ge- werblichen Nebenarbeit auf dem platten Lande.

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Max Weber,

trachten und dadurch den Bodenpreis in die Höhe treiben : Abnahme der größeren unselbständigen, Zunahme der kleinsten selbständigen und Abnahme der, zugunsten jener Nachfrage vorteilhaft zu parzellieren- den, größeren selbständigen Besitzungen sind die Folgen. Auf der anderen Seite ist es der Landhunger zunächst des bürgerlichen Kapitals, welches Anlage in Bodenbesitz wegen der sozialen Position des Gutsbesitzers sucht, daneben aber auch der Landhunger des Fidei- kommißbesitzes , der nach Erweiterung seiner Rentenbasis strebt« Soweit nicht ganze Rittergüter, sondern Bauernländereien angekauft werden, verkleinern beide naturgemäß nicht den Bereich des seiner- seits selbst landhungrigen Parzellenbesitzes, sondern gerade den der größeren und mittleren Bauernbesitzungen, dies auch deshalb, weil naturgemäß überall die mit Gebäuden weniger belastete Fläche billiger zu erstehen ist. Beiden Tendenzen zur Seite steht nun die Benachteiligung derjenigen Eigentümer betriebe, welche nicht entweder ganz oder annähernd ganz durch die eigene Familie bestellt werden können, oder aber den regelmäßigen Bezug großer Scharen wandernder Saisonarbeiter lohnen, infolge der Steigerung der Löhne und der bekannten Entwicklungstendenzen der Arbeits- verfassung im Osten. Dem Umsichgreifen der Bodenbesitz- Akkumulation wirkt nun auf dem Gebiete des ungebundenen Bodens zurzeit die unzweifelhafte Tendenz zur Verkleinerung unwirt- schaftlich großer Betriebe derart entgegen, daß heute auch in der Sphäre der nicht gebundenen großen Besitzungen im ganzen die Tendenz zur Abnahme der Durchschnittsgrößen überwiegt Allein diese Abnahme erfolgt, bei der größeren Rentabilität der Ausbeutung des Landhungers der Parzellisten, in weitaus stärkerem Maß zugunsten ganz kleiner Bauernstellen als zugunsten mittlerer oder größerer. Wie sich nun die Fideikommißbildung zu diesen Entwickungstendenzen stellt, versuchen wir uns wieder an dem Beispiel Schlesiens zu verdeutlichen und greifen auch hier als Fidei- kommißkreise, die in der erwähnten amtlichen Publikation ausge- wählten 17 schlesischen Kreise heraus. Die Grundbesitzverteilung dieser schlesischen Fideikommißkreise weicht nun von dem durch- schnittlichen Zustande Schlesiens zunächst darin ab, daß die Zahl der selbständigen im Verhältnis zu den unselbständigen Besitzungen eine erheblich kleinere ist: 1878 1 13,4 in der Provinz, 1 : 4,9 in den Fideikommißkreisen , 1893: 1:2,9 in der Provinz, 1:3,8 in den Fideikomißkreisen. Zwar hat, wie diese Relationen zeigen, von 1878— 1893 die Zahl der selbständigen Besitzungen in allen

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Agrarstaüslischc u. sozialpolit. Betrachtungen zur Fideikommiflfrage in Preußen. 527

Fideikommißkreisen zusammengerechnet schneller zugenommen als im Durchschnitt der Provinz, aber diese Zunahme ist weit über- wiegend nicht durch Neuentstehung von mittleren Bauernbesitzungen, sondern dadurch herbeigeführt, daß, besonders in den industriellen Fideikommißkreisen, in überdurchschnittlich hohem Maße der Bruchteil derjenigen Parzellenbesitzungen von ungefähr 60 Talern Reinertrag gestiegen ist, welche als „selbständige" Nahrungen gezählt wurden, verbunden mit einer teils absoluten, teils relativen Abnahme der unselbständigen, früher auf gewerbliche Nebenarbeit sich stützenden Parzellenbesitzungen. Die Zunahme kam also lediglich den eben über die Schwelle der Selbständigkeit herausragenden Kleinstbaucrn zugute. Das entsprechende zeigt sich bei spezieller Betrachtung des bäuerlichen Grundbesitzes. Wenn man als Grenzen der bäuerlichen Besitzungen nach unten das Nichtvorkommen „un- selbständiger" in der betreffenden Reinertragsklasse, nach oben das Auftreten von Gutsbezirken im Umfang von mehr als 1 10 der Fläche der betreffenden Reinertragsklasse annimmt, so stellen die Besitzungen zwischen 60 und 300 Talern Reinertrag im Pro- vinzialdurchschnitt und (mit nur zwei Ausnahmen) auch in allen Fidei- kommißkreisen „bäuerlichen" Besitz dar. Wie in der ganzen Provinz, so sind nun 1878 1893 auch in den Fideikommißkreisen Zahl und Fläche der Besitzungen dieser Klasse gesunken, aber der Zahl nach langsamer, als im Provinzialdurchschnitt (minus 1,3 Proz. gegen minus 2,4 Proz.), dagegen der Fläche und also auch der Gesamtbedeutung innerhalb der Agrarverfassung nach schneller (minus 5,3 Proz. gegen minus 3,8 Proz.), d. h. wie auch ein näheres Eingehen auf die Zahlen lehrt: es ist in den Fidei- kommißkreisen in stärkerem Maße als im Provinzialdurchschnitt die Schicht der kleinen Bauern begünstigt gewesen, also erhalten geblieben oder (teilweise) gewachsen, dagegen sind die mittel- und großbäuerlichen Besitzungen schneller gesunken, als im Provinzial- durchschnitt, und zwar obwohl sie ohnedies in den Fideikommiß- kreisen im allgemeinen am schwächsten vertreten waren. Die Er- haltung und weitere Verbreitung der Fideikommisse, welche das Angebot käuflichen Bodens dauernd und zunehmend künstlich herabsetzt und die Masse der Bevölkerung in verstärktem Maße auf die ungünstigsten Böden zusammendrängt, würde, soweit sich urteilen läßt, in den Bodenbesitzverhältnissen die Tendenz zum Nebeneinander großer Bodenkomplexe und kleiner Stellen, die zur Beschäftigung und Ernährung einer Familie mit möglichst niedriger

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Max Weber,

Lebenshaltung eben ausreichen, fühlbar verstärken, wie dies ja dem früher theoretisch Entwickelten entspricht. Die Bewegungen innerhalb der Sphäre des großen Besitzes sollen, da hier die ge- zählten Besitzeinheiten am wenigsten mit den Eigentumseinheiten koinzidieren, für jetzt beiseite bleiben. Wir wenden vielmehr unsere Aufmerksamkeit der Betriebs Verteilung zu.

Von der gesamten

WirLschaftsfläche umfaßten 1895 Proz.

die Betriebe von ha

o— 2

2—5

i\J— IW

über 100

5—100

Regierungsbezirk Breslau1)

2,90

8,27

24,66

23,82

40,35

48,48

Kreise : Groß-Wartenberg

4,71

10,97

29,52

9.89

44,91

39.41

Öls

2,40

6,74

20,05

17.97

52.84

48,02

Militsch . . .

3,37

7.99

32,07

13.89

42.68

45 96

Reichenbach . .

2,46

7,61

19.98

26,75

43,20

46,73

Waldenburg . .

4,91

9,44

52,40

27,74

5.5«

80,14

Reeierunesbczirk Lictrnitz

3,95

11,36

30,28

26,01

28,40

56,29

Kreise : Freistadt . . .

2,50

7.85

29.74

22,58

3 4. 33

52.32

Sagan ....

3>87

13,01

32,36

26,76

24,00

59,12

Sprottau . . .

2,05

6,91

26,71

32,16

32,17

85,87

Hirschberg . .

6,94

17,42

37,74

30,39

7.5i

68,13

Regierungsbezirk Oppeln

7,29

1346

33.29

»4.74

3 ^ t**

A 80 X

Kreise: Rosenberg. . .

5.92

10,89

33,86

8,o8

41,25

41,96

Lublinitz . . .

6,36

15,16

34,44

7.o8

30,96

41.51

Tost-Gleiwitz . .

6,x6

13.12

28,57

5.39

46,76

33.96

Tarnowitz . . .

19,64

17,92

14.91

3.51

44,02

21,42

Pleß

10,73

17,57

34,38

9,38

27.34

43,76

Ratibor. . . .

11,31

14,37

30,76

6,27

87,29

37,05

Kosel ....

7,59

12,92

3«.27

7.86

40,36

39,13

Die vorstehende Tabelle zeigt die Betriebsverteilung der Fidei- kommißkreise im Jahre 1895 nach den 5 Größenklassen, welche die Reichstatistik unterscheidet, im Vergleich mit den Durchschnitts- zahlen der betreffenden Regierungsbezirke. Es zeigt sich zunächst,

') Der Kreis Habclschwcrdt ist hier aus den früher angegebenen Gründen fort- fortgelassen. Fett gedruckt sind die Zahlen in den Kreisen, wo die betreffende Größenklasse die Proportion des Regierungsbezirks übersteigt.

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Agrarstatistische u. sozialpolit. Betrachlungen zur Fidcikommißfrage in Preußen. 529

daß in 12 von den 16 Fideikommißkreiscn die Großbetriebe und zwar zum Teil recht erheblich, mehr von der gesamten Wirt- schaftsfläche okkupieren, als im Durchschnitt der einzelnen Re- gierungsbezirke. Dagegen stehen sie in zwei Kreisen (Waldenburg und Hirschberg) ganz auffallend und in einem weiteren (Sagan) merklich dahinter zurück und diese selben sowie ein benachbarter Kreis (Sprottau) sind die einzigen schlesischen Fideikommißkreise,1) in denen der „großbäuerliche" Betrieb eine Tür Schlesien überdurch- schnittliche Stelle einnimmt In allen diesen Kreisen sind nun die Fideikommißkreise zu mehr als ,/4, in einem zu 9/10, der Fläche Forstfideikommisse. Die Gruppe des kleineren bäuerlichen Besitzes (5 20 ha) ist allerdings in der Hälfte (8) der Kreise stärker als im Durchschnitt der Regierungsbezirke vertreten, darunter aber 3 jener spezifischen Forst fideikommiß- kreise, während 4 weitere auf den Regierungsbezirk Oppeln die Region der Polen fallen. Vergleicht man in den Kreisen mit besonders starker Vertretung dieser Klasse die Betriebsgrößenent- wicklung zwischen den Zählungen von 1882 und 1895, so zeigt sich,2) daß die durchschnittliche Betriebsgröße in den vergleichbaren Größenklassen der bäuerlichen Betriebe sich dort derart verschoben hat, daß wiederum mit Ausnahme eines F o r s t fideikommiß- kreises die Zunahme gerade den kleineren, noch eben selb- ständigen, Betrieben zugute gekommen ist.3) Aus dem gleichen Grunde zeigen auch die an bäuerlicher Betriebsfläche stabilen oder abnehmenden Kreise meist eine Zunahme der Zahl der Betriebe. Abgenommen hat, wie in der Provinz überhaupt, so auch in der überwiegenden Mehrzahl der Fideikommißkreise, Fläche und Zahl der unselbständigen Betriebe unter 2 ha, jedoch sind anderer- seits in einer Anzahl von Fidcikommißkreisen eine erhebliche Zahl von K 1 ei nstparzellisten (unter 1 ha) neu entstanden. Beginnt man nun, wie es notwendig geschehen muß, in die lokale Einzelvergleichung einzutreten, so erfordert die Deutung der dabei z. T. etwas mühsam

*) Nur im Kreise Reichenbach ist neben den Betrieben über 100 ha auch die Klasse 20—100 ha überdurchschnittlich vertreten. Von ihm wird später besonders tu reden sein. Hier sei nur bemerkt, dafl nach seinen Bodenverhältnissen hier die gröfleren Betriebe dieser Klasse bereits als Großbetriebe gelten müssen.

*) Ich will diese wei^äufigen Rechnungen nicht auch noch hier abdrucken.

*) So hat z. B. im Kreise Militscb die Zahl der Betriebe in der Klasse von 10 50 ha um 14 Proz., die Fläche nur um io'/g Proz. zugenommen, in der Klasse von 2 10 ha die Zahl um 10,8 Proz., die Fläche nur um 61/, Proz.

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53o

Max Weber,

zu errechnenden Zahlen eine eingehendere Darlegung, als sie hier gegeben werden kann. Es muß genügen, hier unter dem Strich l)

') 1. Latifundien und freier Grundbesitz in rein agrarischen Kreisen. In den Kreisen Guhrau und Militsch sind beiderseits über s4 der wirtschaftlich über- haupt Tätigen (Gruppen A. B. C. der Berufsstatistik) landwirtschaftlich h au pt berufs- tätig. Der etwas bessere Boden in Guhrau wird durch das von der Kavalleriegarnison in Militsch repräsentierte große Konsumzentrum ausgeglichen, Guhrau ist wesentlich schwächer bewaldet als Militsch, dagegen sehr viel stärker unter den Pflug ge- nommen | Verhältnis der Ackerfläche von Guhrau zu Militsch (1885) gleich 9,1 : 10, der gesamten Kreisfläche dagegen nur wie 7,3:10 und der Waldflächc nur wie 5,3 : 10). Die Großbetriebe über 100 ha umfaßten 180.5 in Guhrau 50,8, in Mi- litsch 42,7 Proz. der Fläche. Dagegen sind in Guhrau 5'/j Proz., in Militsch da- gegen 43 Proz. der ganzen Kreisfläche fideikommissarisch gebunden und zwar dem Schwerpunkt nach in 5 großen Herrschaften mit 80 einzelnen Rittergütern und Vorwerken. In Guhrau hat der Großbetrieb 1882— 1895 an Umfang der Wirt- schaftsfl iiche sich behauptet, an Durchschnittsgröße der Betriebe etwas abgenommen, im Fidcikommißkrcisc Militsch ist er an Fläche etwas gestiegen, an Zahl der Groß- betriebe hat er ab- und also an Durchschnittsfläche des Großbetriebes z u genommen. Die bäuerlichen Besitzgruppen zwischen 10 und 100 ha haben 1882 1895 in beiden Kreisen an Gesamtflächenquote 130 Proz.) sich so gut wie nicht verändert, dagegen an Zahl beiderseits, in Militsch aber doppelt so stark als in Guhrau zu- genommen, so daß die Durchschnittsflächc pro bäuerlichen Betrieb in diesen Klassen jetzt in Guhrau 20,2, im Fidcikommißkrcisc Militsch nur 17,8 ha beträgt, trotzdem in Militsch Anerbensitte, in Guhrau Vererbung ohne Bevorzugung eines Erben vorherrscht. In der Klssse 2-10 ha hat die Gesamtfläche beiderseits zuge- nommen, in Guhrau um 5, in Miliisch aber um 16 Proz. Da die Zahl der Be- triebe in Militsch um 10 Proz. gestiegen ist, in Guhrau aber um l1/, Proz. ab- genommen hat fdurchschnittliche Betriebsgrüße 4,9 ha in Militsch gegen 5,1 ha in Guhrau) und da endlich bei den Parzellisten unter 2 ha ebenfalls die Zunahme der Zahl in Militsch (-(- 7 Proz.) einer Abnahme in Guhrau ( 16 Proz.) gegenübersteht, so zeigt alles in allem der Fideikommißkreis im Gegensatz zu dem Kreise mit nicht gebundenen Boden heute die Tendenz der Steigerung der Extreme auf beiden Seiten, Parzellisten und Kleinbauern mit abnehmender Durchschnitlsfläche einerseits, Großbetrieb mit zunehmender Fläche andererseits, auf Kosten der mittleren Betriebe. Dementsprechend ist 1895 der Kleinstbctrieb unter 5 ha in Militsch mit II1/, Proz. gegen 7,9 Proz. in Guhrau vertreten, die bäuerliche Besitzklassc 5 20 ha zwar in Militsch jetzt noch starker als in Guhrau (32 gegen 24 Prozent), wobei aber zu berück- sichtigen ist, daß in Militsch noch in der Größenklasse 14 18 ha ljl0 der Besitzungen als unselbständig gezählt sind. Dagegen ist die Betricbsklasse 20—100 ha, also der selbständige Bauernbetrieb, in Guhrau stärker, als im Fidcikommißkreise vertreten. Eine Ergänzung des Bildes bietet die Boden- besitzstatistik, welche folgendes ergibt: der unselbständige ParzellcnbesiU bis zu 5 ha (bis zu welcher Größe beide Kreise nur je 2 selbständige Besitzungen aufweisen),

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an drei Beispielen benachbarter Kreise mit in bestimmter Beziehung charakteristisch differierenden, im übrigen möglichst ähnlichen Ver- zeigt in der Zahl der Besitzungen in beiden Kreisen keine nennenswerte Veränderung. Die Bcsitzklassc zwischen 5 und 18 ha, in denen selbständige und unselbständige Besitzungen nebeneinander stehen, hat sich der Zahl nach im Fideikommißkrcisc Militsch etwas stärker als im Kreise Guhrau vermehrt. Innerhalb dieser Klasse ist die Zahl derjenigen Besitzungen, die als selbständige gezählt wurden, im Kreise Guhrau, wo sie bis dahin schwach vertreten waren, von 29,7 auf 56,5 Proz., dagegen im Kreise Militsch, wo sie der Zahl nach auch jetzt noch größer ist als in Guhrau, nur von 38,8 auf 45,9 Proz. gestiegen, wahrend die unselbständigen Besitzungen im Kreise Guhrau absolut und relativ weit stärker abgenommen haben. Die so gut wie ausschließlich selbständigen Besitzungen zwischen 18 und 50 ha weisen in beiden Kreisen der Zahl nach eine Verminderung: im Kreise Guhrau um 12,3, in Militsch um 11,9 Proz. auf; der absoluten Zahl nach ist diese Klasse jedoch in Guhrau noch immer stärker vertreten, als in Militsch. Das Verhältnis der selb- ständigen zu den unselbständigen Besitzungen stellte sich im Kreise Guhrau 1 878 l;3»37. '893 we 1:2,20, in Militsch 1878 wie 1:3,96, 1893 wie 1:2,82. Die relative Bedeutung der selbständigen Besitzungen ist also gleichmäßig gestiegen, in Militsch aber immer noch erbeblich geringer als in Guhrau. Die Bevölke- rungszahl der Dörfer ist im Kreise Militsch seit 1871 stetig zurückgegangen, bis 1895 um 14 Proz., in Guhrau um 12,9 Prozent, wovon jedoch */4 erst auf die Zeit seit 1885 fallen. Die Güter weisen im gleichen Zeitraum in Militsch eine Ab- nahme ( 1,7 Proz.), in Guhrau eine erhebliche Zunahme (-{- 10,7 Proz.) auf: die Gutsbevölkerung hatte sich in Militsch bis Anfang der 1 880 er Jahre aufsteigend be- wegt (1880 -f- io Proz. gegen 1871) und war dann rasch gesunken, in Guhrau hatte der Anstieg bis 1885 angehalten f-f- 13 Proz. gegen 187 1) und dann eine kleine Abnahme eingesetzt. Hiernach zu urteilen vollzog sich in Guhrau die Ein- schränkung der Großbetriebe auf das für intensive Wirtschaft zweckmäßige Ausmaß, ohne daß sie in ihrer Stellung irgend erschüttert worden wären, während sie in Militsch nach Flächen expansion strebten.

Der Unterschied der Volksdichte zwischen Dörfern und Gütern war 1885 wo wir Areal und Volkszahl vergleichen können in Militsch mehr als doppelt so groß als in Guhrau (l : 9 dort, 1 : 4' /a hier) und selbst wenn man den in Militsch quali- tativ weit besseren Wald abzieht und die Gesamtbevölkerung einschließlich aller direkt und indirekt durch ihn in Nahrung Gesetzten nur zu dem Acker- und Wiesen- land in Beziehung setzt, waren in Militsch die Dörfer 4 mal, in Guhrau nur 3 mal dichter besiedelt als die Güter. Die stärkeren Kontraste des Fideikommis- kreises treten auch hier hervor. Die landwirtschaftlich (h a u p t beruflich) erwerbs- tätige Bevölkerung hatte 1882—95 in Militsch um etwas stärker zugenommen (H~ 3i3^ Proz. gegen -f- 3,25 in Guhrau) und war, auf den Grundsteuerreinertrag be- zogen, in Militsch dichter (pro Kopf 58,5 Mk. gegen 75,6 Mk. in Guhrau), weil Bewaldung und Parzellisten in Militsch die Quote herabdrücken. Neben der Arbeits- intensität (= Kapitalarmut) der Militscher Kleinbetriebe kommt darin aber, da

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Max Weber,

hältnissen einige wichtigere Entwicklungsmomente zu illustrieren, nicht: zu „beweisen", denn dazu bedürfte es der Vor-

die Zählungen im Juni stattfanden, offenbar die stärkere S a i s o n arbeiterver- wendung zum Ausdruck, denn die Abnahme der Angehörigen der landwirtschaftlich Erwerbstätigen ist im Kreise Militsch auffallend stark (21 Proz.) und mehr als doppelt so hoch als in Guhrau. (Auch in der Provinz Posen sind die Fideikommissc stärker als der Durchschnitt der Güter an der Verdrängung deutscher durch polnische Arbeiter beteiligt).

Bei alledem ist zu beachten, daß es sich im Kreise Militsch um Fideikommissc alten Bestandes und sehr großen Umfangs auf relativ nicht allzu hoch klassifiziertem Boden handelt (der Ernteertrag der Gutsbezirke in Weizen war regelmäßig in Militsch niedriger als in Guhrau). Nicht nur ist unter solchen Verhältnissen die Neigung zum Bauernauskaufen wenigstens regelmäßig geringer als bei kleinen, auf Zuwachs ausgehenden Fideikommisscn auf Boden hoher Ertragsfähigkeit, sondern es besteht auch häufiger die Möglichkeit, bäuerliche Pachtstellen mittleren Umfangs zu scharfen, wo der kleine Betrieb privatwirtschaftlich begünstigt ist. Daher die (relativ) noch immer starke Vertretung größerer bäuerlicher Betriebe in Militsch, aber auch die starke Vertretung der Pacht, trotz des nicht besonders guten Bodens. Die Pachtquote war 1882 eine Vcrgleichung mit späteren Zahlen war nicht mög- ich in den beiden Kreisen nach den 5 Betricbsgrößcnklasscn : Uber 100 ha: Guhrau 11,0, Militsch 33,1 Proz.; 50 100 ha: G. 0,4, M. 11,8 Proz.; 10 50 ha: G. 3,0, M. 5,1 Proz.; 2—10 ha: G. 8,5, M. 16,6 Proz.; unter 2 ha: G. 16,1, M. 57,9 Proz. Bei den Großbetrieben hat inzwischen in der Provinz Schlesien die Verpachtung zugunsten der Selbstbcwirtschaftung abgenommen. Wie es in dieser Hinsicht mit den Fideikommissen speziell steht, ist leider nicht bekannt.

2. Fo rst fideikommissc: Die Kreise Waldenburg und R eichen bach stim- men in der Quote der Fideikommißflächc und in der stark überwiegenden Bedeutung der industriellen Bevölkerung (Waldenburg Bergbau, Rcichenbach Textilindustrie) Uberein. Entsprechend der weit ungünstigeren Bodenqualität des Kreises Waldenburg (Acker- reinertrag 12 Mk. pro ha gegen 28 in Rcichenbach) hat in Waldenburg nicht der landwirtschaftliche, sondern der Forstboden die fideikommissarischc Bindung gesucht Die Forstquote beträgt in Reichenbach nur */, von derjenigen in Waldenburg. In Reichenbach nimmt im Gegensatz zur Mehrheit der umliegenden Kreise und zum Durchschnitt des Bezirks die Fläche der Betriebe über 100 ha, wie in Militsch, trotz gleichbleibender Zahl zu (1882 1895 um -f- 37 Proz.) und beträgt jetzt über 43 Proz. der Fläche, in Waldenburg ist sie stabil und beträgt Proz. der Fläche. Dagegen umfaßt der bäuerliche Betrieb (5 100 ha) in Rcichenbach 43, in Walden- burg aber 80 Proz. der Fläche. Die selbständigen bäuerlichen Betriebe zwischen 10 und 100 ha nehmen in Rcichenbach an Zahl und Fläche ab, in Waldenburg in beiden zu, während die überwiegend unselbständige Betriebe zwischen 2 und 10 ha in Waldenburg im Gegensatz zu Reichenbach a b nehmen. Die Durchschnittsbctriebs- flächc der bäuerlichen Betriebe steigt in Waldenburg, in Rcichenbach sinkt sie, in beiden Fällen freilich nur unbedeutend. Dabei ist zu beachten, daß in Rcichenbach

Agrarstatistische u. sozialpolit. Betrachtungen zur Fideikommiflfrage in Preußen, 533

führung eines weit umfassenderen Materials, die ich mir gern für eine künftige Erörterung dieser Dinge unter wissenschaftlich wert- schon sehr zahlreiche Betriebe unter 100 ha im sozialen Sinne Großbetriebe sind. Die Parzellisten endlich, speziell die Betriebe unter I ha, sind infolge der starken landsässigen Bergarbeiterbevölkerung in Waldenburg stärker als in Reichenbach ver- treten, wo sie infolge der Verschiebung der Textilindustrie abnehmen. In dem Forstfidcikommißkrcise also Stärkung des bauerlichen Betriebes, in Reichenbach Schwächung desselben zugunsten der Großbetriebe, deren Durchschnittsgrößc steigt. Die geschlossene Vererbung mit Vorzugsquote herrscht in Reichenbach im Gegensatze zu Waldenburg vor. Die Lage des bäuerlichen Besitzes in dem immerhin noch stark bewaldeten Fidcikommißkreisc Reichenbach ist dabei freilich noch immer wesentlich günstiger, als in dem anstoßenden waldarmen Oderebenenkreise Nimptsch, in dem der sehr fruchtbare Boden zu 60 Proz. in den Händen der Groß- betriebe haftet. Allein die Großbetriebe haben in Nimptsch seit 1882 an Zahl weit langsamer zu-, und im Gegensatz zu Reichenbach an Durchschnittsflächc abge- nommen, die bäuerlichen Betriebe aber (to— 100 ha) weisen ebenfalls im Gegen- satz zu Reichenbach eine Flächen z u nähme auf. Und in dem in diesen Grund- verhältnissen (Bewaldung, Industriebevölkerung) Rcichcnbach und Waldenburg nahe- stehenden, aber nur zu 7 Proz. der Fläche gebundenen Kreise Lan^eshut liegen die hier in Betracht kommenden Verhältnisse : relativ weit geringere Quote der Groß- bctricbtrlächc (5 Proz.), stärkerer Bauernstand (77 \.» Proz. der Fläche), ähnlich wie in Waldenburg, nur ist im Kreise Landeshut mit freiem Boden gerade der mittlere und größere bäuerliche Vertrieb noch stärker vertreten, als in Waldenburg (Betriebe zwischen 20 und 100 ha in Landeshut 33' i Proz. gegen 27^ Proz. in Waldenburg). Kine Erleichterung oder auch nur ein weiteres Fortschreiten der Fideikommißbildung würde hiernach die rein kapitalistische Agrarverfassung der oderebenen Kreise, wie Nimptsch, Strehlen usw. dauernd festlegen und sie in die Bahn des Kreises Reichen- bach (T 1 äc h e n ausdehnung der Großbetriebe) treiben. Nimptsch hat bereits 10 Proz. Fideikommißfläche. Die landwirtschaftlich im Hauptberuf Erwerbstätigen haben infolge der erwähnten entgegengesetzten Entwicklung der mit Landwirtschaft kombinierten Industriearbeit der Parzellisten und infolge der Mitzählung der Saisonarbeiter in Rcichcnbach, wie sie sich in der dort erheblich geringeren Zahl von Angehörigen aus- spricht, in Waldenburg ziffernmäßig schneller als in Rcichcnbach abgenommen, da- gegen in den Nachbarkreisen mit geringerem Fideikommißbcstand (Landeshut, Nimptsch) zugenommen. (Die sehr bedeutende Zunahme der gesamten Landbevölkerung in Waldenburg im Gegensatz zu Reichenbach ist durch die industrielle Entwicklung bedingt.)

3. Latifundien in landwirtschaftlichen und Latifundien in industriellen Kreisen : Die nahe beieinander gelegenen Kreise Pleß und Tarnowitz, beide der Bevöl- kerung und dem Gesamtcharakter nach spezifisch oberschlcsisch, umfassen beide sehr große Fidcikommissc (Tarnowitz 45, Pleß 31 Proz. der Fläche) mit starker Waldquote (Tarnowitz 73, Pleß 62 Proz.). Das Fürstentum Pleß ist seinem Schwerpunkt nach eine Grundherrscbaft landwirtschaftlichen Charakters, die

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volleren Gesichtspunkten als dem Augenblickszweck einer Gesetz- gebungskritik, vorbehalten möchte. Zu jenen Punkten, auf die es hier ankommt, gehört zunächst die sehr verschiedene Bedeutung von Fors t - fldeikommissen und landwirtschaftlichen Fideikommissen. Das landwirtschaftliche Fideikommiß ist der weitaus schärfste Feind des bäuerlichen Besitzes. Roseggers „Geschichte Jakobs des Letzten"

Grafen Henckel-Donnersmarck in Tarnowiu sind spezifische Repräsentanten der schlesischen „Starostenindustrie". Die beiden Kreise verhalten sich in berug auf die Quote der landwirtschaftlich Hauptberufstätigen entgegengesetzt: in Plefl beträgt das Verhältnis der Gruppen B. und C. der Berufsstatistik zur Gruppe A. (Land- wirtschaft usw.) rund l : 2,3, in Tarnowitz dagegen umgekehrt das der Landwirt- schaft zu jenen Gruppen nur rund l : 3,2. Die Verteilung der Fläche auf die Be- triebe war 1895 folgende:

Betriebe: unter 2 ha 2 5 ha 5— 20 ha 20— 100 ha über 100 ha Plefl 10,7 Proz. 17,6 Proz. 34,4 Proz. 9,4 Proz. 27,9 Proz. d. Fläche

Tarnowitz 19,6 17,9 »4,9 3-5 «»0 Also ungemein viel stärkere Vertretung der größten und kleinsten Betriebe in dem industriellen, relativ starke Vertretung wenigstens der kleinen Bauernstellen in dem agrarischen Latifundienkreise. In Tarnowitz stehen 62 „selbständige" 1650 „un- selbständigen'1 Besitzungen gegenüber, in Plefl 947 der ersteren 7976 der letzteren. Die landwirtschaftlich hauptberuflich Erwerbstätigen nehmen in beiden Kreisen ab, in Tarnowitz aber, obwohl dort nach der gegen Plefl weit geringeren Zahl der Angehörigen zu schließen, ungleich mehr Saisonarbeiter gezählt sind, viermal so stark. Während in Tarnowitz eine gewaltige im Hauptberuf industriell tätige Parzellistenbcvölkerung mit landwirtschaftlichem Nebenberuf sich entwickelt hat, welche die hauptberuflich landwirtschaftlich Tätigen an Zahl um fast »/* überragt, ist dies letztere in Pleß trotz ebenfalls starker Nebenberufsentwicklung umgekehrt. Alles in allem eine wescnüichc Schärfung der Extreme in dem industriellen Lati- fundienkreise und damit eine Steigerung der charakteristischen Eigenart der Agrar- Verfassung Schlesiens, welche im schroffsten Kontrast zu dem angeblich „Natür- lichen" den Großbetrieb auf den besten Boden und nahe an die Märkte, die kleinen Bauern aber auf schlechten Boden und in die Gebirgstäler legt. Eine weitere Vermehrung der Fideikommisse würde jetzt in Schlesien wesentlich der Ebene und den Industriegebieten und damit der immer weiteren Verschärfung dieses Kontrastes zugute kommen. Dagegen wird auf ungünstigen Böden in rein agrarischer Gegend eine große Standesherrschaft weit eher die großen Betriebe wenigstens innerhalb eines betriebstechnisch zweckmäßigen Umfangs halten. Das ist offen- bar im Kreise Pleß, wo die Standesherrschaft erst letzthin eine Neueinteilung ihres großen Areals unter betriebstechnischen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten vorgenommen hat, in der Tat der Fall gewesen, wie namentlich auch der Gegensatz gegen den Nachbarkreis Rybnik (mit allerdings etwas stärkerer gewerblicher Bevölkerung als Pleß) zu zeigen scheint.

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Agrarstatistische u. sozial polit. Betrachtungen rur Fideikommiöfrage in Preußen. 535

ist ein Vorgang, der in Gebieten mit gutem, für moderne kräftige Bauernwirtschaften überhaupt qualifiziertem Boden sich wenigstens nicht allzu oft ereignen wird. Die kapitalisierte Forst- rente ist im allgemeinen doch zu erheblich niedriger, als der Kauf- wert der Bauerngüter. Das Expansionsbedürfnis des regelmäßig den besseren Boden aufsuchenden landwirtschaftlichen Fideikommisses dagegen richtet sich, wie gesagt, naturgemäß gerade auf die mit weniger und älteren Baulichkeiten bestandene Fläche des großen und mittleren Bauernbesitzes weit stärker, als daß es den Versuch machte, mit der landhungrigen Bodennachfrage der Kleinsten zu konkurrieren. Die Fideikommißkreise Schlesiens zeigen, auch da, wo die ganz großen Fideikommisse alten Bestandes in stark vorwiegend oder gänzlich landwirtschaftlichen Gegenden noch ein anderes Bild aus der Vergangenheit konserviert haben, heute die Tendenz, die charakteristischen Eigenarten der kapitalistisch degene- rierten schlesischen Agrarverfassung weiter zu steigern, deren soziale Kontraste zu schärfen und zwar am meisten da, wo in- dustriell akkumulierte Kapitalien auf den Weg zur Bodenanhäufung instradiert werden. Aufsaugung des guten landwirtschaftlichen Bodens, es kann nicht oft genug gesagt werden: gerade desjenigen Bodens, auf dem nach der Meinung der modernen Theoretiker von der „glücklichen Mischung der Betriebsgrößen" die Bauern sitzen „sollten", durch das Kapital und seine Festklammerung in Fideikommissen, daneben kleine, selbstgenügsame und an der Ostgrenze kulturfeindliche Bauernwirtschaften zusammengedrängt auf den rentelosen Bodenklassen, das sind jene beiden Tendenzen der östlichen ländlichen Entwicklung, welche die Fideikommisse zwar sicherlich nicht etwa geschaffen haben, welche sie aber, statt ihnen entgegenzuwirken, verstärken.

Der Entwurf scheint, in seinem Eifer, nur ja den Großbesitz und -Betrieb zusammenzuklammern, eine solche Entwicklung geradezu zu wollen. Denn er will die Möglichkeit, auf Grund von „Un- schädlichkeitsattesten" gemäß § 1 des Gesetzes vom 27. Juni 1891 über die Errichtung von Rentengütern, auch größere Trennstücke aus dem Fideikommißnexus zwecks Abveräußerung zu entlassen, beseitigen und nur die Veräußerung von „kleineren Teilen" des Fideikommißgutes zur Errichtung von bäuerlichen Stellen „kleinen und mittleren Umfanges" und zur Ansiedlungvon Arbeitern zulassen 29), welche überdies vom Stifter beschränkt oder be- seitigt werden kann. Mit Recht tritt Sering in Ausfuhrungen,

Archiv für Sozial wUtentchaft u. Sozialpolitik. I. t A. f. soz. G. u. St XIX.) 3. 35

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denen man sich freut durchweg zustimmen zu können, dieser Be- schränkung entgegen: es ist kein Gesichtspunkt erkennbar, der sie rechtfertigt.

Endlich die Wirkungen auf die Arbeitsverfassung. Hier können ohne Zweifel, wie namentlich das Beispiel der Holsteiner „Grafenecke" beweist, wenigstens die großen Fideikommisse regelmäßig nur diese, denn die kleineren unterschieden sich darin in nichts von den anderen Gütern im eigenen Interesse die Erhaltung einer ansässigen und doch nicht Schollenpflichtigen Arbeiterschaft durch Eingehung günstiger kombinierter Pacht- u. Arbeitsverträge in höherem Grade fördern, als ein einzelner Gutsbesitzer, dem mehr die Ver- suchung nahe liegt, schlechte Außenschläge in dieser Form abzu- stoßen. Geschehen wird es freilich wesentlich nur da, wo die Boden- qualität niedrig, das Opfer an wertvollem Land also nicht erheb- lich ist: auf gutem Boden hat die Steigerung der Grundrente die ansässige Arbeiterschaft auf Fideikommißboden im allgemeinen ganz ebenso wie auf freiem Boden enteignet. Und tatsächlich läßt sich aus der großen Zahl der Parzellenkleinpächter in manchen Fideikommißkreisen mit nicht zu gutem Boden so in MUitsch auf eine ähnliche Entwicklung schließen. Aber der Bedarf der durch die Fideikommisse gestützten Großbetriebe an Saison- arbeitern und der allgemeine Zug der kapitalistischen Betriebe zur Verdünnung und Zusammendrängung der Bevölkerung Ver- dünnung: nach der Zahl der Köpfe auf die Fläche gerechnet, Zu- sammendrängung: nach der Zahl der Haushaltungen und Köpfe auf die Wohngebäude berechnet1) überwiegt im Effekt jene

') Daß es sich bei den erwähnten Tendenzen um einen spezifischen Zug agrarkapitalistischcr Entwicklung handelt, mag vorbehaltlich einer künftigen eingehenderen Darstellung, auch hier etwas näher erläutert werden.

Man kann die Dörfer und Güter von Landkreisen, die sich als Untersuchungs- objekt eignen, nach ihrer Bodengüte (d. h. nach ihrem Grundstcuerrcinertrag) klassifiziert mit der Dichte ihrer Besiedclung vergleichen. Alsdann zeigt sich nicht nur die, wie längst bekannt, durchweg außerordentlich viel geringere Volksdichtc der Güter, sondern ferner der Umstand, daß dieselbe, während die östlichen Dörfer darin keine Regelmäßigkeiten zeigen, auf den Gütern mit zunehmender Ertragsfähig- keit des Bodens keineswegs regelmäßig zu-, sondern gar nicht selten abnimmt, daß aber mit großer Regelmäßigkeit die Zusammendrängung der Bevölkerung in den Behausungen die in den Dörfern sich ebenfalls ganz individuell gestaltet, auf den Gütern mit zunehmender Ertragsfähigkeit zunimmt. Je mehr möglicher, „Mehrwert" aus der Arbeitskraft nach Lage der natürlichen Produktionsbedingungen zu gewinnen ist, desto stärker für den Großbetrieb der Anreiz zur vollen Ausbeutung

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der Arbeitskräfte und damit desto größer die Haushaltungs- und Kopfzahl pro Wohngebäude, die Kopfzahl pro Haushaltung. Beispiele:

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Max Weber,

individualistische Entwicklung weit, ganz abgesehen davon, daß jene

Eingeklammert sind Zahlen, bei denen in der betreffenden Reinertragsklasse bei einigen Gütern nicht sicher , aber wahrscheinlich Parzellen Verpachtung, industrielle Betriebe usw. die Vergleichbarkeit stören. Die Zahlen sind aber am schlüssigsten und dem „Typus" entsprechendsten Überall da, wo ich mir die (recht erhebliche !) Mühe gemacht habe, an der Hand des Handbuches des Grundbesitzes Gemeindeeinheiten, bei denen dies offenbar der Fall war, auszuscheiden. Es ist ganz charakteristisch, kann aber hier nicht auch noch erörtert werden, daß und warum auch im Osten zuweilen gewisse Kreise (z. B. Goldap, Angerburg, Kreise in national gemischten Bezirken usw.) a b weichende Erscheinungen zeigen. Trotz vereinzelter Abweichungen die sich namentlich durch das Hineinspiclen von Parzellenverpachtungcn erklären ist das Bild schon nach diesen, älteren Notizen entnommenen Beispielen ein sehr gleichmäßiges. Je besser der Boden, desto stärker die Belegschaft der Gebäude mit Haushaltungen und Köpfen, der Haushaltungen mit Köpf cn (daß hier die persönliche herrschaftliche Dienerschaft und die über durchschnittliche Größe des herrschaftlichen Haushalts erheblich ins Gewicht fiele, muß bei der absoluten Höhe der Zahlen es sind eben deshalb nur größere Güter gewählt namentlich aber, wenn man die Gestaltung des Verhältnisses zwischen Haushaltungen und Wohngebäuden beachtet, ausgeschlossen erscheinen). Dem entspricht es, daß, während die einstöckigen Häuser in den Gutsbezirken des Re- gierungsbezirks Königsberg 1878 98,8 Proz. aller betrugen, die Produktion von Cercalicn 1884—88 in den Gutsbezirken pro Kopf ihrer 1885 er Bevölkerung 854, an Hackfrüchten 985 kg, in den Regierungsbezirken Breslau und Liegnitz die ent- sprechende Quote der einstöckigen Häuser 70,4 bzw. 66,1 Proz.f die Produktions- quoten in den Gutsbezirken pro Kopf in der Provinz Schlesien (im ganzen) 2768 kg Ceralien, 5622 kg Hackfrüchte ausmachten. Die Gutsarbeiterkasernen Schlesiens ent- sprechen der hohen „Produktivität" der Arbeit in den kapitalistischen Betrieben. So kommen auch von den oben behandelten Kreisen nach Rcinertragsklassen von unten herauf gestaffelt z. B. im Kreis Fischhausen auf den Kopf der Bevölkerung M. Reinertrag: 25,7, 35,2, 43,5, 67,5 bei einer von 15,8 bis zu 25 Köpfen pro Wohngebäude ansteigenden Zusammendrängung. Für Schlesien muß ich mich z. Z. auf die folgenden Durchschnittszahlen beschränken :

Es kamen

Köpfe auf I ha

Haushalt, auf ein

Köpfe auf

im Reg.-Bez.

in den

Fläche

Acker und

Wiese

Wohn- gebäude

l Haus- halt

1 Wohn- gebäude

Breslau j

Landgemeind. Gutsbezirken

o,7 4,8

0,63 2,79

1.73 3>25

4.35 4.58

7.55 M.95

Liegnitz j

Landgemeind. Gutsbezirken

1,0 9,o

o,75 3.59

1.36 2,26

4,12 4,63

5.63 10,49

('Landgcmcind. Oppeln <Ci

( Gutsbezirken

o,5 4.*

°<49 1.77

1,72

3.3i

4.56 4,85

7,88 16,09

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Agrarstatistischc u. sozialpolit. Betrachtungen zur Fideikommißfrage in Preußen. 539

neugeschaffenen Pachtstellen der Güter im Osten heute da, wo sie

Die Fi dei kommißkreise im speziellen anlangend, so stehen sie in bezug auf die Wohndichtigkcitsvcrhältnisse ihrer Gutsbezirke verschieden, und zwar im ganzen je nach der Bodenqualität unter oder über den vergleichbaren Nachbar- kreisen. Der auf schlechterem Boden gelegene Fideikommißkreis Militsch z. B. steht mit (auf den Gütern) 2,92 Haushaltungen und 12,8 Köpfen pro Wohnhaus unter dem besser gestellten freien Kreis Guhrau mit bzw. 3,47 und 14,1 ; der auf gutem Boden belegene Fidcikommitikreis Öls dagegen überragt bedeutend den letztgenannten Kreis ebenso wie den Bezirksdurchschnitt; und so öfter. Analysiert man den Kreis Militsch spezieller vgl. dazu oben S. 514 Anm. so zeigt sich folgendes Bild :

Es kamen in den Reinertragsklassen von pro ha Mk. :

unter 10

10 15

über 15

Haushaltungen auf

f in den Dörfern

1.7»

1,66

1,69

I Wohngcbäude

| auf den Gütern

3»i6

3.ia

3.2»

Köpfe auf I Wohn-

( in den Dörfern

7.43

7,26

7,22

gebäude

( auf den Gütern

13,5

»3.5

»4,5

Nicht nur die typisch stärkere Belegung der Wohngebäude auf den Gütern, sondern auch die Steigerung der Belegung auf den besten Böden der großen Güter treten deutlich hervor, ebenso die abweichende Gestaltung in den Dörfern.

Außerhalb Schlesiens fügt sich Kr. Franzburg in den Unterschieden zwischen den Keinertragsklassen durchaus der Regel. - - Die Verhältnisse auf der Holsteiner Grafenecke (Kreis Plön, Oldenburg, Eckernförde) mit ihren großen und alten landes- herrlichen Fideikommisscn und modernen bäuerlichen Pachtbetrieben sind in dieser Hinsicht nicht ganz so konsequente, immerhin nicht grundsätzlich abweichende. (Im ganzen steigende Belegung der Wohngebäude mit Köpfen und Haushaltungen, aber geringere Kopfzahl der Haushaltungen auf besseren Böden: keine Scharwerkerl). Aber, verglichen mit anderen Kreisen aus anderen Gebieten sind in diesem ganzen Winkel Ostholstein, Mecklenburg, Neuvorpommern die Verhältnisse der an- sässigen Arbeiter, wie die Enquete von 1892 zeigte, noch mit die günstigsten Deutschlands aus Gründen, die hier nicht zu wiederholen sind. Diese günstigen Verhältnisse teilen die Fideikommißkreise.

Bei den obigen Zahlen, welche die Vcrdünnungs- und Zusammcnhäufungs- tendenz der Güter deutlich illustrieren, ist nun noch im Auge zu behalten, daß die Insassen der Wanderarbeiterkasernen dabei noch gar nicht mitgezählt sind, da die Zählung im Dezember stattfand, auch die Saisonarbeit erst nach Bismarcks Rücktritt ihre jetzige Ausdehnung gewann. Ein Institut, welches den Großbetrieb stützt, wirkt dem Individualismus des Wohnens entgegen. Im Westen fallen auf dem Lande Haushalt und Wohngebäude der Zahl nach fast zusammen, und von Regierungsbezirk zu Regierungsbezirk steigt mit der durchschnittlichen Betriebsgröße die Zusammendrängung der Landbevölkerung in den Wohngebäuden die dann

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bestehen, sehr klein sind (unter i ha) und nichts mit den alten Heuerlingsstellen des Nordwestens zu schaffen habe.

im Osten auf den Gütern wesentlich höher ist als in den kleineren Städten und zwar im allgemeinen cetcris paribus um so höher, je besser der Boden.

Es ist also absolut unwahr, daß das ländliche Wohnungselcnd Folge der „schlechten Lage" der Gutsbesitzer sei.

über die in den vorstehenden Zahlen nur gestreiften Zusammenhänge künftig einmal unter adäquateren Gesichtspunkten. Nur das eine sei hier noch bemerkt: Die Tendenz des bürgerlichen Kapitals zum Bodenerwerb besteht nicht nur im Osten, sie ist eine durchaus allgemeine und wäre nur abzuschwächen, wenn die gesellschaftliche Bevorzugung des Grundbesitzes schwände. Aber im Westen bleibt, auch wo sie sich geltend macht, gleichwohl weit häufiger der Kleinbetrieb (als Pachtbetrieb) und damit die ländliche Volksdichtc auf den günstigen Böden und vor den Toren der Städte und mit ihm der allmähliche Übergang zwichen Stadt und Land, erhalten, und es ist denn doch sehr fraglich, ob ein beweglicher nicht schollcnfestcr Kleinpächterstand nicht unter fast allen in Betracht kommenden Ge- sichtspunkten in diesem Rayon kleinen Eigentümern sogar vorzuziehen wäre. Im Osten okkupiert dagegen der bevülkerungsverdünnendc Großbesitz gerade die marktnahen besten Böden. (Über den Kampf dieser Vcrdichtungs- und Verdünnungs- tendenz miteinander in der Provinz Sachsen siehe die Arbeit von Dr. Goldschmidt in der von mir edierten Enquete des Ev. Soz. Congr. Heft I S. I J.) Der Gesetzentwurf würde, da er den Großbetrieb erzwingt, die östliche Entwicklung verschärfen und auch in den Westen verpflanzen, soweit das Kapital zur Bodenbindung greift Es sind nicht „natürliche", sondern zunächst historisch gewordene, dann aber durch bestimmte „Gesetze" agrarkapitalistischer Entwicklung gesteigerte Verhältnisse, welche den Gegensatz in dem Siedlungscharakter etwa der Oberrheinebene gegen die Oderebene bedingen. Auch wer aus irgend welchen Gründen eine stärkere Vertretung größerer Betriebe auf dem Lande wünscht, als sie am Rheine vorhanden sind, wird sie und den geschlossenen Besitz nicht vor die Tore der Stadt legen und die Kleinbetriebe in die Berge und auf die schlechten Böden drängen wollen. Man setze für die Fideikommisse und übrigens z. B. auch für das Anerbenrecht, wo es gelten soll Rayons nach Maßgabe der heute dafür noch immer brauchbaren Grund- stcuerr ein ertrage und der Nähe der Großstädte und Industriezentren fest, derart daß sie nur in Gebieten mit unterdurchschnittlichem und marktfernem Boden gelten und schreibe unter Authebung aller hiernach unzulässigen landwirtschaftlichen Fideikommisse für die letzteren eine entsprechende Prüfung als Vorbedingung der Weitergabe zur Genehmigung gesetzlich vor, wenn man durch jene Institute nicht die spezifisch modernen „Entwicklungstendenzen", die man beklagt, ver- schärfen will. Aber freilich, den kapitalistischen Interessen, mit denen man rechnen muß und welche die heutige Gesetzgebungsmaschinerie in ihren Dienst zwingen, wäre damit nicht gedient, und deshalb wird die amtliche Terminologie den Vorschlag „mechanisch" oder dergl. nennen und auf die „Prüfung des konkreten Falls" verweisen, obwohl deren Wirkungslosigkeit ja genugsam aus der Statistik

Agrarstatistische u. sozialpolit. Betrachtungen zur Fidcikommißfragc in Preußen. 541

Gerade für die Fideikommißbesitzcr liegt nun aber die Ver- suchung nahe, die Ansässigmachung" der Landarbeiter auf R e n t e n - gütern zu versuchen, zu der sich der freie Großgrundbesitz immer- hin nicht so leicht entschließt, da sie ein für den Fideikommiß- besitzer leichter mögliches systematisches Vorgehen erfordert, wenn sie erhebliche Resultate : billige Arbeiter erzielen soll. Wenn nun die Landarbeiterenquete von 1893 irgend ein sicheres Er- gebnis gehabt hat, so war es die sozialpolitische Verwerflichkeit des Grund eigentums bei Landarbeitern in Gegenden mit starkem Großbesitz und wenig Bauern. Es bedeutet dort das Angewiesensein auf die Arbeitsgelegenheit allein des oder der wenigen unmittel- bar benachbarten Rittergüter und Schollenfestigkeit, also absolute Auslieferung an die Ausbeutung durch die Gutsherren. Das un- erhört niedrige schlesische Lohnniveau ist der Ausdruck dessen.1) Bei Renten gütern ist das natürlich in noch viel gesteigertem Maße der Fall. Nur Polen würden sich bei Kenntnis der Verhältnisse als Reflektanten für solche melden. Selbst der damalige Landwirtschaftsminister v. Heyden hatte auf Grund des Ergebnisses der Enquete damals im Landtage eindringlich vor den Gefahren eines „grundbesitzenden Proletariats" gewarnt. Nur die Parzellen p a c h t kann Bodenständigkeit und Freiheit des Arbeiters vereinigen. Das hindert den Entwurf nicht, gerade die kleinen Rentengüter zuzulassen2) und die Motive sprechen von der Mög- lichkeit, sich dadurch einen „Stamm" ansässiger Arbeiter zu schaffen,

hervorgeht, und obwohl vor allem, nach S. 60 der Motive ja die Vorlegung an den König zur Entscheidung erfolgen muß, wenn die formalen Bedingungen er- füllt sind. Hierüber s. weiter unten.

l) Die Durchschnittstagelöhne männlicher dauernd beschäftigter Arbeiter betrugen 1 892 in der Provinz Ostpreußen (Durchschnittsreinertrag pro ha Ackerland M. 9,40) je nach Bezirken 1,10 1,50 M-, in Pommern (Durchschnittsreinertrag M. 13,32), 1,22 1,76 M., im Regierungsbezirk Oppeln (Durchschnittsreinertrag M. 16,06 0,87-0,95 M.), im Regierungsbezirk Breslau (Durchschnittsreinertrag M. 22,32) 0,94 bis 1,18 M. Lohndrücker sind hier auch außerhalb des polnischen Rayons überall die ParzcllenbesiUer, wie die Enquete mit vollkommenster Deutlichkeit ergab. (S. Schriften der V.f. Sozialpolitik Band 55.) Vorstehende Nebeneinanderstcllung der Löhne und des Reinertrags möge auch den Wert der Behauptung beleuchten, daß die Landwirte ihrer schlechten Lage wegen schlechte Löhne zahlten. Das Umgekehrte ist, so paradox es klingt, wahr.

•) Sering, der jene Ergebnisse genau kennt, hat (a. a. O.) gegen diese Zulassung gleichwohl nichts zu erinnern !

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Max Weber,

ganz wie es der von den Landwirtschaftskammern vertretene Agrar- kapitalismus zu tun pflegt Für diese Gesetzmacherei sind eben alle Erfahrungen nicht vorhanden, nicht nur weil sie oberflächlich, sondern weil sie, wo die Interessen der Großgrundbesitzer in Frage stehen, sozialpolistisch schlechthin ohne Gewissen ist.

TL

Wollten die Freunde des Fideikommisses die vorstehend dar- gestellten Konsequenzen der Fideikommißbildung, namentlich die Bindung gerade des guten Bodens, vermeiden, so gäbe es dafür ein einfaches Mittel: Beschränkung der Fidei- kommisse auf Wald und aufWTohngebäude (nebst Per- tinenzen) in direktem räumli chen Anschluß an Fidei- kommißwaldungen. Die Konsequenz einer solchen Bestimmung würde sein, daß jenes Kapital, welches Boden zum Zweck fidei- kommissarischer Bindung sucht, nicht wie jetzt dem besten, sondern dem ärmsten, für kräftige moderne Bauern wirtschaften ungeeigneten zur Beforstung geeigneten Boden zugute käme, daß also diejenigen ärmeren und dünn besiedelten Kreise, für welche die Ansässig- machung kaufkräftiger und intelligenter deutscher Familien wirklich etwas in ökonomischer und nationaler Hinsicht bedeuten kann, mit solchen Landsitzen besetzt würden. Und kann man sich zu einer absoluten Beschränkung auf Forsten nicht entschließen, so läßt sich eine gewisse Annäherung an diesen Effekt vielleicht schon dadurch erreichen, daß landwirtschaftlicher Boden nur in Verbindung mit mindestens 80 Proz. Waldfläche gebunden werden dürfte.1) 23 Proz. der Fläche des Staates sind Wald, noch nicht ein Viertel der Privatwaldungen (mit Ausschluß der genossenschaftlichen) ist fideikommissarisch gebunden: es ist Platz genug für noch sehr viel Forstfideikommißbesitzer vorhanden. Auf die Verwirklichung dieses Vorschlages rechne ich natürlich nicht. Denn ganz abgesehen von der Macht der agrarkapitalistischen Interessen geht aus den Motiven

') Noch in der Forst be tri e b s -Größenklasse von 1000 bis 2000 ha sind mit 800000 ha Forstflächc 1 40 000 ha landwirtschaAliehc Fläche in 272 Betrieben verbunden. Ich sehe übrigens, daß schon Dade (bei Roscher, Nat. Ok. des Ackerbaus, 13. Aufl. S. 777) einen ähnlichen Vorschlag gemacht hat: vorzuschreiben, daß stets 50 Proz. der Fideikommißnache Forsten sein müssen. Das ist, wie die schlesischen Verhältnisse zeigen, ganz ungenügend, um die spezifischen Wirkungen der Waldfideikommisse zu sichern.

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Agrarstatistischc u. sozialpolit. Bclrachtungen zur Fideikommißfrage in Preußen. 543

des Entwurfes zur Genüge hervor, daß fiir die Zulassung und Be- günstigung der Fideikommisse ganz andere Beweggründe als irgend eine agrarpolitische Sorge für eine (unter irgend welchen Ge- sichtspunkten) „gesunde" soziale Verfassung des platten Landes den Ausschlag geben, und daß die preußische Regierung gar nicht daran denkt, der weiteren Verbreitung der Fideikommisse irgend welche ernstlich fühlbaren Hemmnisse in den Weg zu legen.

Der Entwurf weist den Gedanken, die Errichtung von Fidei- kommissen allgemein für jeden Fall an einen Akt der Gesetzgebung (nach Art englischer „private bills") zu binden was in Österreich geltendes Recht ist ab. Er würde, nach den Motiven, voraus- sichtlich eine Einschränkung der Fideikommißgründungen zur Folge haben und das genügt charakteristischerweise, um über diesen denn doch im höchsten Grade erwägenswerten Vorschlag, der vor allem allein die Sicherheit geben würde, daß auch andere Interessenten, als die Fideikommißstifter zu Gehör gelangten, und daß überhaupt die Vorgänge der Fideikommißbildung einer gewissen Publizität unterworfen würden, hinweg zu gehen. Ob zu hoffen ist, daß die Mehrheit des Abgeordnetenhauses hierin anderer Ansicht sein wird, muß hier dahingestellt bleiben. Der Entwurf glaubt eine hinlängliche Kontrolle über die Entwicklung der fkleikommissarischen Bindung des Bodens zu schaffen, indem er dieselbe auch da, wo dies bisher nicht der Fall war, an die Genehmigung des Königs bindet. Es ist fast unglaublich, daß die Motive es wagen können, dies Erfordernis als eine Schranke der Fideikommiß- bildung anzusprechen. Dasjenige Gebiet, für welches da hier 95 Proz. aller Fideikommisse ursprüngliche Fideikommisse, nicht Lehensumwandlungen sind schon b ish er die dort für große Fidei- kommisse erforderliche königliche Genehmigung ihre Wirksamkeit hätte erproben können, ist Schlesien, das Land mit dem absolut und relativ größten Fideikommißbesitz an Latifundien, deren Um- fang selbst den leidenschaftlichsten Vertretern des Instituts Bedenken erregt, und der ein konstantes weiteres Umsichgreifen zeigt. Gar keine Genehmigung fordert das hannoversche Recht und Hannover hat die geringste Fideikommißfläche. Die gesellschaftlichen Gründe, aus denen gerade die Hereinziehung des persönlichen Entschlusses des Königs anstatt der verantwort- lichen Entschließung der Minister1) völlig das Gegenteil

') Denn darum bandelt es sich: Die Minister dürfen, mögen sie das

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Max Weber,

einer Erschwerung der Fideikommißgründung bedeutet, ist es wohl nicht nötig, hier näher zu erörtern.

Die einzige wirksame Schranke der Fideikommißgründung ist heute der Fideikommißstempel von 3 Proz.1) des Bruttowertes. Die Frage seiner künftigen Höhe ist für die weitere Entwicklung der Fideikommißbildung ausschlaggebend und man kann dreist be- haupten, daß für die Fideikommißinteressenten der Entwurf in seinem übrigen Inhalt nur Kulisse ist für die anderweitige Regulierung dieses Punktes. Ominöserweise läßt der Entwurf den Abschnitt, der vom Stempel handeln soll, offen mit dem Bemerken, derselbe solle im Einvernehmen mit dem Finanzminister „demnächst" fest- gestellt werden. Der Fideikommißstempel hat nun zunächst (aber nur nebenher) den Sinn, die steuerliche Begünstigung des Fideikommißbesitzes gegenüber den anderen Grundstücken abzulösen. In Betracht kommt zunächst die Stempelsteuer von I Proz. bei Verkäufen von Grund und Boden, welche für Fideikommißboden

formell korrekt nachgesuchte Fideikommiß für noch so schädlich ansehen, die Vorlegung des Gesuchs an den König zur Entschließung nicht ablehnen! Dies sprechen die Motive S. 60 ausdrücklich aus. Jeder weiß, was das praktisch bedeutet, und es ist rund herausgesagt eine selbst das bei amtlichen Äußerungen neuerdings üblich gewordene Maß überschreitende Un a u fri c h ti g k ei t, eine solche Rechtslage für eine erhöhte Gewähr gegen ein Überhandnehmen der Fidcikoramisse auszugeben. Im Landtage würde daraufhin natürlich die übliche Verweisung auf die Person des Königs jeder Kritik entgegengesetzt werden. Es handelt sich also hier lediglich um ein Mittel, den Ministern Deckung hinter dem Könige zu schaffen. Es hat noch keinen Monarchen gegeben, der Napoleon nicht ausgenommen nicht ge- glaubt hätte, seine Stellung durch Befriedigung der Eitelkeit der Leute mit dem großen Geldbeutel zu festigen. Und bei der subalternen Auffassung, welche eine Erbschaft des Bismarck'schen Regimes heutige Minister in Preußen von ihrer Stellung und Verantwortung haben, ist damit das ganze „Genehmigungsverfahren" zur Farce ge- stempelt. Es wäre wirklich zu viel verlangt , daß man in höflicher Form mit solchen Äußerungen der Motive diskutieren sollte, wie S. 58 oben : „Sollten sie", (nämlich gewisse bedenkliche aber formal zulässige Bestimmungen des Stifters) „sich ereignen, so wird ihnen durch Versagen der Genehmigung 8) zu begegnen sein." Die Naivität sondergleichen, dem sie volo sie jubeo des Königs, welches § 8 in Ver- bindung mit § 20 statuiert, in diesem Ton Vorschriften zu machen, wäre höchst achtbar, wenn man glauben könnte, daß sie „echt" wäre. In Wahrheit soll der schrankenlosen Expansion der Fideikommisse der Weg geebnet und jeder etwaige Widerspruch durch Ilereinziehung des Königs erstickt werden.

') Zur Würdigung seiner Höhe (oder vielmehr des Gegenteils) sei erinnert, daß der badischc gewöhnliche Boden um satzstempcl schon Proz. beträgt.

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ganz entfallt und weiter die Erbschaftssteuer, welche nur nach der Lebenserwartung des Fideikommißerben berechnet wird, während der überschießende Bodenwert ganz frei bleibt, es sei denn, daß der Gesetzentwurf mit dem Satz, daß das Fideikommiß dem Fidei- kommißbesitzer „gehört", auch insteuerlicherBeziehungfür künftig ernst machen und jenes Privileg beseitigen wollte, woran (natürlich!) nicht zu denken ist. Der Umsatzstempel allein könnte rein technisch, nach der Umsatzgeschwindigkeit des ge- samten Bodens der großen Besitzungen bemessen, wohl durch eine jährliche Abgabe von etwa */« Promille abgelöst werden ') Die Erbschaftssteuer ist heute, wo sie nur von Seitenverwandten er hoben wird, von noch nicht allzu großem Gewicht, die Begünstigung wird aber sehr bedeutend werden, wenn, was ja früher oder später unvermeidlich ist, die gerade Linie, sei es seitens des Staats oder des Reichs in die Besteuerung einbezogen wird. Alsdann würde2) bei einer Höhe von 1 Proz. der Steuer die Begünstigung schon der heutigen rund 1000 Fideikommißfamilien in jeder Generation etwa 8 bis io Millionen Mk. betragen.3) Man wird annehmen dürfen, daß heute zur bloßen, nach den dem Fiskus entgehenden Durchschnittsbeträgen kapitalisierten Steuerablösung etwa 2 Proz. ausreichen würde, wenn es eben mit dem Gedanken einer wirklichen Steuer verträglich wäre, daß sie abgelöst wird nach rein privatwirtschaftlichen Kapitalisierungsprinzipien.4) Allein die rein steuerliche Gerechtigkeit ist ja in keiner Weise der wesentliche Sinn des Fideikommißstempels. Derselbe war vielmehr, wie schon die ganze Art seiner Bemessung zeigt, als eine sozial- politische Maßnahme gedacht und sollte diese extremste Form der Monopolisierung des Bodens in Schranken halten. Nur ein alsbald zahlbarer und hoher, d. h. den gewöhnlichen Kaufstempel von

') Die Berechnung nach der Besitzwcchselstatistik gibt dabei aus mehrfachen hier nicht zu erörternden Gründen zu niedrige Zahlen.

■) Wenn man ein Durchschnittsalter des Nachfolgers von 35 40 Jahren an- nimmt.

*) Daß auch heute schon gelegentlich ganz gewaltige Beträge in Betracht kommen können, beweist wohl der bekannte Millioncnprozcfl des Fürstenberger Fidcikommisses gegen den badischen Fiskus.

*) Wie unangemessen es ist, zeigt sich daran, daß z. B. eine durchschnittlich in Zukunft seltener als alle 30 Jahre fällige Abgabe von I Proz. nach diesen Grund- s&tzen mit einmaliger Zahlung des Betrages von 1 Proz. müßte abgelöst werden können, selbst wenn man den heutigen Zinsfuß zugrunde legt

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Max Weber,

i Proz. um ein vielfaches überragender Betrag des Stempels bürgt dafür, daß nicht die nichtigste und erbärmlichste Eitelkeit irgend eines Grundbesitzes, die kindischste Sucht nach dem ländlichen Hof lieferantentitel : dem Adel, und ähnliches den Sieg selbst über alle ernsteren und sachlichen privaten Erwägungen davon trägt-1) Diese Kontrolle durch eine hohe Abgabe kann durch keinerlei staatliche Einmischung ersetzt werden, am wenigsten natürlich dann, wenn die Staatsverwaltung, wie ja der Entwurf ausdrücklich als wünschenswert bezeichnet, mit agrarischen Interessenten möglichst stark durchsetzt ist.

Den naheliegenden Gedanken, da, wo wie in fast allen Teilen des preußischen Ostens der Großgrundbesitz bereits eine die Agrarverfassung beherrschende Stellung einnimmt, durch Festsetzung einer Maximal flächenquote, die in jedem Kreise (oder etwa innerhalb ad hoc gebildeter etwas größerer Bezirke von je 3 6 Kreisen) nicht überschritten werden dürfte etwa 5 Proz. der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche 2) die ndeikommissarische

'} Traurige Beispiele dafür hübe ich selbst aus der Nähe gesehen. Wenn also Sering, nachdem er die Herabsetzung des Stempels für bedenklich erklärt hat, seine Umwandlung in eine Abgabe suggeriert, so steht das im Widerspruch mit- einander. — Man würde den Stempel wohl auf etwa 5 Proz. festzusetzen haben, wenn eben sachliche Gründe hier etwas bedeuteten.

*j Im ganzen Staat ständen danach 1620000 ha landwirtschaftlich nutzbare Fläche zur Bindung zur Verfügung, d. h. an landwirtschaftlicher Fläche reichlich 600000 ha mehr als sie deren heute (ungefähr) schon umfassen. Da aber dir Masse der Fideikommisse sich heute in einigen wenigen Bezirken zusammendrängt, so wäre faktisch in den anderen, bisher nicht so stark mit Fidcikommissen durch- setzten Gegenden noch einer sehr viel größere Vermehrung, meist eine Verdoppelung möglich. Dazu würden dann noch 3 Millionen ha bisher noch nicht gebundener Privatforsten kommen. Wie Sering es miteinander vereinigen kann, in einem Atem die obcrsclilcsischen Zustände als „übergroße Ausdehnung der Fideikommisse" zu bezeichnen und dann alsbald vorzuschlagen, eine Grenze der Bindung erst da ein- treten zu lassen, wo ein Viertel ^!) der landwirtschaftlichen Fläche sich in toter Hand befinde oder die Betriebe über 250 (!) ha mehr als die Hälfte derselben um- fassen — selbst da noch wegen möglicher „Unbilligkeit" (!) Dispens zulassend, das ist mir absolut unverständlich. Fin Blick in die Statistik kann ihn belehren, daß dies nichts anderes bedeutet, als eben die obersch lesischen Zustände für den ganzen Staat als Norm zu proklamieren. Von seinen Bauern- kolonisationsidealen ist eben Sering trotzdem er sie für „weitaus wichtiger" er- klärt — gänzlich abgekommen: man kann nicht zween Herrn dienen. Eine solche „Schranke" hätte lediglich den Sinn einer Attrappe.

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Bodenhäufung zu hemmen, weist der Entwurf mit dem Bemerken ab, dies würde zur Folge haben, daß seitens der Behörden alsdann bis an diese Grenze ausnahmslos, also auch, wenn das Gesetz sach- liche Prüfung vorschreibt, ohne Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse herangegangen würde.1) Vielleicht beurteilt der Ent- wurf die Art, wie preußische Fideikommißbehörden unter den heutigen Verhältnissen arbeiten würden, richtig. Bei einer so wenig schmeichelhaften Einschätzung der Wirksamkeit ihres Pflichtgefühls aber erscheint dann die Notwendigkeit, durch Mitwirkung des Land- tages, dem sicherlich prinzipielle Fideikommiß feindschaft ebenso fern liegt, wie dem österreichischen Reichsrat (der bisher noch kein Fideikommißgesuch abschlägig beschieden hat), wenigstens ein gewisses Maß von Öffentlichkeit zu schaffen, um so unabweislicher. Alles in allem ergibt sich, daß der Entwurf, der z. B. an die Möglichkeit, gelegentlich der Umformung der bestehenden Fidei- kommisse wenigstens für Gebiete, wie Schlesien, die Frage des Fortbestehens der dortigen Latifundien erneut zu prüfen, offen- bar gar nicht im entferntesten, auch nur gedacht hat, irgend eine praktisch wirksame Schranke der Bodenanhäufung eben einfach nicht will. Dies fällt besonders deutlich ins Auge, wenn man berücksichtigt, daß die Bodenanhäufung, durch die Fidei- kommisse keineswegs nur im Wege der Bildung von Fideikom- mißen erfolgt. Zunächst steht neben der Begründung neuer die Erweiterung bestehender Fideikommisse. Von 1100 bestehenden haben fast 200, also zwischen l/6 und aller allein in den Jahren 1895 1900 eine Erweiterung erfahren, im Jahre 1900 allein 46. Man kann getrost sagen, jedes bestehende Fideikommiß ist normaler- weise ein Zentrum der Bodenakkumulation: die „Psychologie" (wie man heute zu sagen pflegt) des Fideikommißbesitzers macht es auch durchaus plausibel, daß sein Streben nun einmal in der Richtung auf Land und immer mehr Land ausgerichtet ist. Er denkt (normalerweise) gar nicht daran, landwirtschaftlicher Unternehmer sein zu wollen, er will Rente, stand es gern äße Rente, mehr standesgemäße Rente haben und dazu braucht man eben Land.

J) Wenn übrigens auch hier wieder wie noch sonst gelegcnüich die Motive den flüchtigen Leser (der die Bemerkungen auf S. 60 nicht beachtet) in die Täuschung versetzen, daß eine sachliche Prüfung formal korrekter Fideikommiß- gesuche und eine Ablehnung der Weitergabe an den König im Fall eines un- günstigen Resultats überhaupt zulässig sein soll, so sucht man auch hier wieder vergebens nach einem parlamentarischen Ausdruck dafür.

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Max Weber,

Er will eine nach Sombarts Ausdruck „seigneurial e", keine Unternehmer-Existenz ') führen. Der Vergleich mit den ebenfalls (und der bloßen Zahl nach sogar recht zahlreich) vertretenen Ver- kleinerungen bestehender Fideikommissc zeigt, daß es sich bei diesen um weitaus kleinere Flächen handelt. Bei diesem ganzen Prozeß steht wiederum Schlesien oben an: Hier tritt die Neu- begründung gegenüber dem Umsichgreifen schon bestehender Fidei- kommisse ganz in den Hintergrund. Ähnlich steht es in einigen westfälischen Distrikten, wo gleichfalls Kapital in den Händen der im eigentlichsten Sinne des Wortes „Schlotbarone" sich an- sammelt und im Boden Anlage sucht. Es wird bei weiterer wohl- wollender Behandlung der Fideikommißbildung immer häufiger werden, daß ein Fideikommiß relativ klein anlangt, und „auf Zu- wachs" begründet wird.2) Die Zukäufe werden dann meist sehr

'} Das soll heißen : wo er irgend kann, wird er gerade wenn er tüchtig ist den Nachdruck darauf legen, seiner Familie eine in gesteigertem Maße sichere Basis ihrer standesgemäßen und möglichst immer noch standesgemäßeren Existenz zu hinterlassen, und kraft der sozialen Schätzung, die der Bodenbesitz, zu- mal in Fideikommißform, genießt, wird er normalerweise nicht daran denken, ihn um betriebstechnischer Vorteile willen zu verkleinern, sondern ihn oft selbst trotz betriebstechnischer Schwierigkeiten im Interesse des splcndor familiae zu ver- größern. Jedermann fragt nun einmal bei einem großen Gut zuerst, wie groß es ist und nicht, mit wieviel Kenntnissen und Betriebskapitalien es wohl bewirt- schaftet werden möge, und taxiert nach jener Fläche die soziale Position des Mannes. Das wissen die Fideikommißbcsitzer so gut wie jeder andere. Die, natürlich auch vorkommenden, Ausnahmen „bestätigen" hier so gut wie irgend- wo die Regel. Die Zunahme der Durchschnittsflächc der Großbetriebe in Fidei- kommißkreisen, die wir oben (Fußnote zu S.530f.) beobachteten und die der normalen Entwicklung des nicht gebundenen Betriebs entgegenlaufen, sind keine „Zufällig- keiten".

«) Ein Drittel der 939 Fideikommißbesitzcr entfiel 1897 auf die regierenden Häuser, Standesherren und Grafen (unter diesen bekanntlich mehrfach briefadlige) etwas über *'9 sind „sonstiger Adel" (darunter viel Briefadel) nicht ganz 1!l0 (90) sind bürgerlich. Die Masse der Grafen befindet sich in der Größenklasse iooo bis 5000 ha, der Adel hat seinen Schwerpunkt in den Klassen von 200 bis tooo ha, *'f, der Bürgerlichen in der Besitzgruppc unter IOO ha, natürlich nicht, weil Bürger- liche überhaupt arme Schlucker wären im Gegensatz zum Adel, sondern weil je nach der Größe des Geldbeutels nach vorgenommener Metamorphose in Grundbesitz und Fideikommißbildung die Chance steigt, adlig, Freiherr, Graf zu werden. Die Bürgerlichen sehen sich also darauf hingewiesen, durch Bodenanhäufung (Bauern- auskaut usw.) die Qualifikation zu etwas Höherem zu erwerben. Und ebenso für

Agrarstatistische u. sozialpolit. Betrachtungen zur Fideikommißfrage in Preußen,

leicht als p r i v a t wirtschaftlich zweckmäßig zu rechtfertigen, der Konsens zur Einverleibung in das Fideikommiß, zumal nachdem der Kauf doch einmal erfolgt ist, schwerlich je zu verweigern sein. Die Bestimmung des Entwurfes, daß die Einverleibung von Boden in schon bestehende Fideikommisse konsensbedürftig sein soll, ist daher schon an sich von auf die Dauer sehr ge- ringer praktischer Bedeutung. Denn die Bodenakkumulation durch die Fideikommißbesitzer erfolgt eben keineswegs nur im Wege der Einverleibung in das Fideikommiß, oder hat diese notwendig zur Folge. Es sind ganz beträchtliche Latifundien im Osten entstanden, von denen nur ein Bruchteil fideikomm issarisch gebunden ist. Das von Sering befürwortete Verbot, stiftungsmäßig die Neu- erwerbung von Grundbesitz vorzuschreiben, und die Beschränkung des Bodenerwerbes aus Fideikommiß m i 1 1 e 1 n genügt aber natürlich absolut nicht; es wäre ein Verbot jedes Bodenerwerbes durch Fideikommißbesitzer, außer in Fällen nachweislicher Beseitigung gemeinwirtschaftlicher Schäden und etwa gegen Zahlung sehr hoher Spczialabgaben erforderlich und, bei der rechtlichen Sonderstellung, welche die Fideikommißbesitzer nun einmal überhaupt einnehmen, natürlich auch mehr als gerechtfertigt

Die alte Forderung endlich, daß für die einzelnen Fidei- kommisse ein Maximal u m fa n g gesetzlich festgestellt werde, er- ledigt der Entwurf mit der Bemerkung, daß damit ja nicht die Herbeiführung des gleichen Gesamtergebnisses durch Entstehung mehrerer kleiner Fideikommisse gehindert würde. Der große Be- sitzer, der Boden zukauft, will ja aber gar nicht neue kleinere Fideikommisse gründen, und jenes gerade im Munde des angeblich so latifundienfeindlichen Verfassers der Motive höchst sonderbare Argument spräche eben wieder für die Festsetzung einer Maximal- flächenquote, für deren Ablehnung aber der Entwurf, wie wir sahen, ähnlich nichtige Vorwände bereit hält. In Wahrheit will man eben den großen Fideikommißfamilien nicht an den Leib und wo immer es sich um ernstliche Schranken der Fideikommisse handelt, sind dem Entwurf die Gründe dagegen sehr billig und scheut er wie wir schon sahen vor direkten Unaufrichtig- keiten nicht zurück.

die höheren Staffeln, denn warum sollte die Eitelkeit bei dem Erreichten Halt machen? Abhilfe gäbe es nur, wenn man, nach badischem Vorbild, nur A 1 1 adlige zur Fidcikommißstiftung zuließe. Aber wir werden davon noch reden so ziemlich das gerade Gegenteil ist das Ziel des Entwurfs.

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550 M** Weber,

Indessen praktisch weit wichtiger ist die Frage, welche M i - n i m a 1 erfordernisse in bezug auf den Umfang des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens eines Fideikommißgutes gestellt werden. Die Motive lassen die Frage, ob in Zukunft ein dem Fideikommißrecht analoges Recht („Stammgüterrecht") auch dem Bauernstand zu- gänglich zu machen sei, ausdrücklich dahingestellt: in der Konse- quenz des Geistes der jetzigen preußischen Agrarpolitik würde es unzweifelhaft liegen. Für die Fideikommisse fordert der Entwurf, wie wir sahen, den Nachweis eines „nachhaltigen" Minimal-Netto- einkommens von ioooo Mk. (nach Abzug auch der Beiträge für die verschiedenen „Massen"), wovon 5000 Mk. aus einem ge- schlossenen „wirtschaftlichen Ganzen". Für die Beurteilung dieser Bestimmungen1) kommt für die Zukunft folgendes in Betracht:

Das traditionelle große Gut des Ostens, auf den wir uns auch hier beschränken, stellte 1885 in Ostpreußen5) eine Fläche von durchschnittlich 590 ha, (davon 280 ha Acker und Wiesen), in Pommern von 720 ha (davon 420 ha Acker und Wiesen), und in Schlesien von 500 ha (davon 225 ha Acker und Wiesen) dar. Es herrscht unter den Agrarpolitikern wohl Einstimmigkeit darüber, daß selbst die schlesische, jedenfalls aber die nordöstliche, Fläche als Durchschnitt für eine modernen Anforderungen entsprechende Bewirtschaftung von einem Zentrum aus technisch zu groß ist. Diesen betriebstechnischen Motiven zur Verkleinerung der Fläche der kapitalistischen großen Betriebe steht nun aber der

*) Für die Gegenwart bedeutet die Anforderung von ioooo M. Ertrag natürlich eine F.rhöhung der Erfordernisse. Seinerzeit waren selb verstand lieh die 2500 Tlr. des A.L.R. ein nach der Kaufkraft des Geldes, noch mehr aber nach dem Verhältnis zum Durchschnittseinkommen gerechnet, ganz außerordentlich viel höherer Betrag.

*) Nach dem Umfang der Gutsbezirke gerechnet. Diese geben im ganzen oft ein sichereres Bild der sozialen Qualität des Besitzes als irgend ein Umfang der Betriebe. Natürlich befindet sich viel Grofibesitz und -Betrieb auch in den Dörfern und die Beziehungen zwischen Rittergut im administrativen und im öko- nomisch-sozialen Sinn sind auch nach Provinzen schwankend. Vergleicht man z. B. die Fläche, welche von Betrieben über loo ha einerseits, von Gutsbezirken anderer- seits okkupiert wird, so stand 1885 die ersterc hinter der letzteren in Schlesien um 3,7 Proz. zurück, in Pommern übertraf sie dieselbe um -j- 4.4, in Ostpreußen um -f- 21,1 Proz. und in Sachsen um -J- 40,5 Proz. Im letztgenannten Falle war also eine Identifikation der administrativen mit der ökonomischen Kategorie völlig ausgeschlossen, in Pommern und Schlesien im ganzen durchaus zulässig.

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privatwirtschaftliche Zwang zur Vergrößerung des Umfangs des großen Besitzes gegenüber. Das traditionelle Rittergut des Ostens „trägt keine Herrschaft mehr", wie sich der Minister Miquel, der ja, wenn er wollte und namentlich privatim, äußerst zutreffende Bemerkungen machen konnte, mir gegenüber einmal äußerte. Das heißt: eine Familie, welche eine die „großbürgerliche" erreichende und sogar überragende Lebensführung sich erhalten will und, wie dies ja beim Fideikommißbesitzer der Fall ist, soll welche also ihre erwachsenen Söhne (im ganzen etwa 12 Jahre lang) studieren lassen und durch die Zeit bis zur Anstellung mit Gehalt „standes- gemäß" erhalten will, welche ferner in den gesellschaftlichen Formen der „oberen" Klassen verkehren will, usw. , kann bei den heutigen Kosten einer solchen Lebensführung sich aus dem Ertrag eines rein landwirtschaftlich oder gar zu einem erheblichen Teile forstwirtschaftlich genutzten Gutes von jener Durchschnittsgröße auf ungünstigen Böden nur sehr mühsam erhalten. Die Lebens- kosten steigen und erfordern mehr Rente und das bedeutet für eine Fideikommißfamilie: mehr Land als Unterlage für eine wirklich „sturmfreie" Existenz, das heißt eine solche, die sich eben auf ein sicheres Einkommen, eine Rente, nicht auf den schwankenden Gewinn, der durch Verwertung von hohen Betriebskapitalien etwa zu gewinnen wäre, gründet Und eine solche Existenz soll doch der Fideikommisbesitzer darstellen. Der intensive Betrieb erfordert mehr Betriebskapital, was dem Fideikommißbesitzer, je mehr er der Tendenz zur Bodenanhäufung nachgibt, desto häufiger, und je mehr er wirklich eine dem Schwerpunkt nach rein landwirtschaft- liche Existenz ist, desto sicherer fehlt.1) Ein Reinertrag von nach Abzug aller Lasten und Ausstattungspflichten 10 000 Mk. ist heute auf den ungünstigeren Böden des Ostens aus einem einzelnen

') Die Motive können Betriebs- und Meliorationskapital nicht unterscheiden, wenn sie die Verbesserungsraasse als Betriebskapital bezeichnen, ihren Zweck aber in der „nachhaltigen Besserung" des Gutes finden. Gewiß kann sie - und ebenso Grundstücksabverkaufe nach § 30* auch zu einer erstmaligen Inventur- beschaffung verwendet werden, aber doch offenbar nicht als Kapital für einen „Umschlagsbetrieb',. Das entspräche ihrem Sinn nicht und stellte jederzeit ihre Existenz aufs Spiel. Übrigens könnte gerade Meliorations kapitalien der selbst- wirtschaftende Fideikommißbesitzer sehr leicht und billig anders als durch Kapital- aufspeieberung erhalten. Vielleicht könnte aber diese Masse im Sinn des englischen Joint business" bei Meliorationen verpachteter Guter eine Rolle spielen, ferner beim Bau von Brennereien, Zuckerfabriken u. dgl.

Archiv für Soiialwi»*en»chaft u. Sozialpolitik. I. ( A. f. soz. G. u. st. xix.) 3. 36

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Max Weber,

Rittergut von betriebstechnisch zweckmäßigem Umfang selbst beim Mangel irgend erheblicher Schulden nicht als „nachhaltiges" Einkommen eines Besitzers, der nicht selbst mit allen seinen Fa- milienmitgliedern in Stall und Feld nach Bauernart ständig mit- arbeitet, derart zu gewährleisten,1) daß die Fideikommißbehörden bei gewissenhafter Prüfung sich zur Konzessionierung des Fidei-

l) Nimmt man an, daß durchschnittlich etwa das 21 9- oder etwas mehrfache des Grundsteucrrcinertrags als „nachhaltiges Einkommen" angesetzt werden dürften, daß ferner mindestens etwa 30 Proz. Forstflächc (gegen jetzt im Durchschnitt 45 Proz.) mitgestiftet werden und daß eine Verschuldung von 25 Proz. eingebracht wird, so kommt man für den Osten für einen Ertrag von jedenfalls über 1 2 500 M. wie dies zur Erzielung eines dem Besitzer verbleibenden Einkommens von loooo M. nötig ist auf eine durchschnittliche Minimal fläche von ca. 7c» ha, für Schlesien natürlich auf wesentlich weniger, für den Nordosten aber, wo die Reinerträge bis dicht an 4 M. im Kreisdurchschnitt herabgehen, auf den ungünstigen Böden, die gerade die ndeikommißbedürftigen wären, auf jedenfalls über 3000 ba als Minimum zur Erziclung jener Rente. Für einen einheitlich geleiteten Betrieb ist schon jene erstgenannte Fläche als M i ni m um jedenfalls zu groß. Wollte man ernstlich „Rückenbesitzer4 im eigentlichen Sinn des Wortes auf Fideikommissen wachsen lassen, dann bliebe diese Art von Fideikommissen im Osten Privileg der Böden der schlesischcn Ebene, des unteren Weichsel- und Odcrtals und einzelner Striche in der Provinz Brandenburg. Auf ihnen würde der erzwungene Großbetrieb seine Stätte finden, während die Theorie von der „glücklichen Mischung" der Besitz- und Betriebsgröße ihn auf die schlechten Böden verweisen möchte und, wenn nicht alle nationalen und Kulturinteresscn dem Agrarkapitalismus geopfert werden sollen, auch müßte.

Sering (S. 70 a. a. O.) glaubt, beiläufig bemerkt, die geringe Wahrscheinlich- keit, daß eine erhebliche Kideikommißbildung zu erwarten stehe, durch den Hinweis darauf begründen zu können, daß in den 4 Nordostprovinzen auf dem Lande nur 923 und nach Abzug von etwa 100 Fabrikanten (?) u. dgl. nur etwa 800 Personen von mehr als 12500 M. Einkommen ansässig seien bei einer Anzahl von schon jetzt 216 Fideikommissen. Da sicher die Mehrzahl der 600 hiernach Fideikommiß- fähigen mit mehr als der Hälfte des Wertes verschuldet seien (? gerade die ver- mögendsten Leute?!) so sei eine erhebliche Fideikommißgründung nicht zu er- warten. — Gewiß: Nicht die verschuldeten heutigen Landwirte, wohl aber potente Käufer kommen, wenn der Fideikommißstcmpel, der das Entscheidende ist, herab- gesetzt wird, zwar nicht in den ersten paar Jahren, wohl aber nach Sermgs eigenem Vorschlag schon nach 10 Jahren als Reflektanten in Betracht. In Schlesien ferner stehen nach Serings eigener Rechnung 155 Fideikommissen 1079 Personen jener Einkommensklassc gegenüber, und gerade das industrielle Kapital ist es hier, welches (wie im Saarbezirk) landwirtschaftliche Besitzungen und Großbetriebe aufsaugt und „nebenamtlich" zu „betreiben" weiß.

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kommisses entschließen dürften. So kleine Fideikommisse wären das Privileg der Besitzer der besten Böden. Der Entwurf „ge- stattet" nun, daß ein Fideikommiß auf eine halb so große *) Einheit, kombiniert mit Streubesitz, gegründet werde, und die Motive be- gründen dies charakteristischerweise damit, daß sonst im Westen, da hier Güter größeren Umfangs nicht sehr häufig seien, zu wenig Fideikommisse gegründet werden würden. Unter einem „wirt- schaftlichen Ganzen" aber versteht der Entwurf nach Seite 50 der Motive einen einheitlich geleiteten Großbetrieb, wobei auch ein Zentralbetrieb mit Vorwerken zusammen als ein Betrieb angesehen werden soll. Nicht zulässig ist also z. B. eine Verpachtung dieses Stammgutes an mehrere selbständige bäuerliche Wirtschaftsleiter. Man sieht: hier ist der Zweck der Schaffung Ökonomisch „sturmfreier" Existenzen mit der Absicht der künst- lichen Stützung des Großbetriebes verkoppelt. Das Ergebnis kann im Falle des Erfolges für den Westen, z. B. das Rheinland, nur sein, daß das Kapital, welches dort im Boden An- lage gesucht hat, um nun auch „fideikommißfahig" zu werden, die als Pächter auf dem gekauften Land sitzenden kleinen Wirt- schaften „legen" muß, und daß überall Besitztümer, die für sich allein mit $000 Mk. Ertrag jedenfalls kaum mehr als eine großbäuerliche Lebenshaltung gewähren, um die vorgeschriebene Basis der Lebenshaltung eines Fideikommißbesitzers zu bieten, mit einem Strahlenkranz von damit nicht zusammengehörigen Parzellen, die rund umher zugekauft und verpachtet worden sind, kombiniert werden, und daß die Besitzer sich auf stetigen Zukauf weiterer Parzellen hingewiesen sehen. Daß derartige Gebilde unter irgend welchen Gesichtspunkten auch nur im mindesten erfreulicher sein sollten, als ein Rentenfonds von reinem Streubesitz, leuchtet denn doch wahrlich nicht ein. Wohl aber sind sie natürlich als Boden- anhäufungszentren höchst wirksam und zugleich ein Mittel, Betrieben, die für sich allein „keine Herrschaft tragen", deren Inhaber vielmehr schlecht und recht als „Klutenpetter" ein bürgerliches Er- werbsleben mit scharfer Mitarbeit in Stall und Feld führen müßten, die Qualifikation zu verleihen, in Verbindung mit Parzellenpacht- wucher eine Basis prätenziöser „herrschaftlicher" Existenzen zu werden, die dann in den Augen der Romantiker als „Rückenbesitzer"

») In Wahrheit weniger als halb so grofie, da die Lastenanrechnung anders geregelt ist.

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glänzen. Der Entwurf fordert die Erhaltung bzw. Schaffung von Betrieben bestimmter Minimalgröße, anstatt, wenn er Streufidei- kommisse nicht liebt, Geschlossenheit oder nachbarliches Zusammen- liegen der Fideikommißbesitzu ngen zu verlangen.

Andererseits ist natürlich der Betrag von ioooo Mk. Netto- einnahme ganz und gar unzulänglich, um darauf irgend welchen „splendor familiae" zu gründen. Ein Einkommen von ioooo Mk. bedeutet heute eine einfache bürgerliche Existenz. Einen Mann mit 10 15000 Mk. zum Fideikommißbesitzer stempeln, heißt jemanden, der durch seine Verhältnisse auf bürgerliche Lebenshaltung hin- gewiesen wäre, mit albernen feudalen Ansprüchen erfüllen, denen er nicht ohne fortgesetzte Gefahr nachleben kann.

Sollten weiterhin derartig kleine Fideikommisse in erheblicher Anzahl entstehen,1) so sind, wenn der Umfang klein bleibt, und die Besitzer wirklich ländliche Existenzen sind, diese entweder dem Schwerpunkt nach Schnapsbrenner, Zuckersieder, Stärke- oder Ziegelfabrikanten und dergleichen, oder wenn sie dazu zu kapital- schwach bleiben, so entsteht bei irgend erheblicheren pekuniären Extravaganzen eine mir aus der Anwaltspraxis wohl bekannte chronische Misere, die zu ganz unglaublich widerlichen und nament- lich mit den sozialen Ansprüchen übel kontrastierenden Erschei- nungen fuhrt. Oder aber, das kleine Fideikommis bildet eben als Luxusgut einen Bestandteil des Vermögens von großindustriellen Familien, die mit den Interessen des platten Landes nichts zu tun haben. In Schlesien sind von den Inhabern der Betriebe über 100 ha schon jetzt im Regierungsbezirk Breslau 11,54 Proz., im Regierungs- bezirk Oppeln 12,06 Proz. in andern als landwirtschaftlichen Be- rufen hauptberuflich tätig, im Saargebiet (Regierungsbezirk Trier) 25,0 Proz. Der Anreiz dazu wird natürlich durch die Möglichkeit fideikommissarischer Bindung bedeutend gesteigert. Wo irgend ein kleiner Fideikommißbesitzer aber ökonomisch bei Kräften ist oder

') Ob dies geschieht, hängt für die Gegenwart noch wesentlich von der Regelung der Stempel frage ab. Wird der derzeitige Stempel erhöht oder mindestens erhalten, so ist die Gefahr wenigstens zurzeit geringer, als die andere, welche durch das Umsichgreifen der bestehenden Fideikommisse geschaffen wird. Für die Zukunft liegt es m. E. freilich anders. Unsere ganze Wirtschaftspolitik züchtet Rentner, und die Neigung, bürgerlichem Kapital ein otium cum dignitate durch Anlage in Hoden zu verschaffen, wird mit der Sättigung Deutschlands an Kapitalbcsitz und der Steigerung des protektionistischen Abschlusses der Staaten gegeneinander rasch zunehmen.

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z. B. durch eine reiche, wenn auch „unstandesgemäße" Heirat ökonomisch zu Kräften kommt, da wird er wenn dem nicht ein absolutes V e r b o t im Wege steht um sich greifen und Boden kaufen, wo immer er zu haben ist, sei es, daß derselbe formell zum Fideikommiß geschlagen wird oder daß er formell ungebunden bleibt. Die Behörden würden wie gesagt wohl nie in die Lage kommen, den Konsens zur Bindung des Zugekauften zu verweigern, da ja jede Arrondierung hier eine Verbesserung der Existenzchance bedeutet. Die Mehrzahl aller Fideikommisse strebt normalerweise nach Vergrößerung, für die kleinen aber ist sie auf die Dauer geradezu Existenzfrage. Sie bilden, wenn sie überhaupt prosperieren, Bodenaufkaufszentren. Und dies Aufkaufen geschieht, dem Schwer- punkt nach, nicht unter betriebstechnischen Gesichtspunkten, sondern lediglich unter dem Gesichtspunkt der Verbreiterung der Rentenbasis. Nur eine wesentlich höhere Mindestgrenze des Er- trages — etwa 30000 Mk., oder noch besser eine Mindestgrenze des Umfangs, sagen wir 3—4000 ha,1) verbunden mit der noch zu erörternden Beschränkung auf altadlige oder wenigstens altansässige Familien und vor allem mit dem Verbot, außer etwa in Fällen nachweislicher g e m e i n wirtschaftlicher Vorteile (Möglichkeit der Urbarmachung von Ödland und dergleichen eng zu begrenzende Fälle), überhaupt weiteren landwirtschaftlich genutzten Boden (Forsten sind natürlich anders zu behandeln) zu kaufen, könnte hiergegen schützen. Aber das Phantom des Rückenbesitzes wenn man darunter ständige eigene Betriebsleitung versteht müßte freilich bei jener Mindestgrenze fallen gelassen werden.

Ich vermag, wenn man den Glauben aufgibt, ein moderner Landwirt könne dauernd dem Typus des altpreußischcn Junkers vergangener Zeiten entsprechen,2) in Übereinstimmung mit Conrad, keinerlei ökonomische oder sozialpolitische Gesichtspunkte zu erkennen, unter denen dies zu bedauern wäre.

Was zunächst die ökonomische Seite der Sache anlangt, so

') Natürlich vertrüge sie sich aufs beste mit einer gleichzeitig festzusetzenden Maximalflächengrenzc (etwa 8000—10000 ha) und besonders einer Maximal q u o t e der in den einzelnen Bezirken zu bindenden Fläche.

') Dafl man diesen Glauben aufgeben muß, darüber siehe meine Ausführungen in Bd. 55 der Schriften des V. f. Sozialpolitik, gegen die von keiner Seite etwas Stichhaltiges gesagt worden ist, so viel ich sehe.

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bieten gerade die großen, zumal die geschlossen zusammen- liegenden Fideikommißherrschaften, bei denen der weit überwiegende Teil der landwirtschaftlich genutzten Fläche verpachtet, ein Teil des Rests administriert wird, eben das, worauf es den Verfassern des Entwurfes (angeblich, und vielleicht auch vermeintlich) ankommt : wirt- schaftlich wirklich „sturmfreie" Existenzen mit der gesicherten Möglichkeit hoher Lebenshaltung und entwickelter geistiger und ästhetischer Kulturbedürfnisse, vor allem aber auch mit der Mög- lichkeit und dem Anreiz, auf landwirtschaftlichem Gebiet wirklich in großemStile ökonomisch zu schalten. Die Elastizität gegen- über Krisen, wie sie die englische Agrarverfassung gezeigt hat, beruht auf der Verteilung des Stoßes auf zwei starke Schultern. Das „joint business" von Landlord und Pächter, wie es sich in Eng- land entwickelte, hatte ebenfalls die bedeutende Größe der dortigen Fideikommisse und die ökonomische Potenz der Landlords zur Voraussetzung. Die ökonomische Aufgabe, den einzelnen landwirt- schaftlichen Betrieb dem Markt und der Entwicklung der Technik anzupassen, ist bei gebundenem Boden nur da wirklich sicher realisierbar, wo es dem Grundherrn auf längere Zeiträume hinaus gleichgültig sein kann, ob die Rente des einzelnen Betriebes unter das Maß dessen sinkt, was für den traditionellen Unterhalt einer Familie erforderlich ist Und das gleiche gilt von der Ge- staltung des Umfangs der Betriebe: auch sie wird gerade da in produktionstechnisch zweckmäßigster Form erfolgen können, wo nicht, wie beim Eigentümerbetrieb und natürlich ganz ebenso beim kleinen Fideikommiß, die Rente eines oder weniger einzelner Betriebe gerade das Ausmaß dessen darstellen muß, was als Ein- kommen einer Familie von bestimmter Lebenshaltung erfordert wird. Diese Unabhängigkeit des Betriebsausmaßes von dem erforderlichen Ausmaß eines privatwirtschaftlichen Einkommens ist es ja, welche unter der kapitalistischen Wirtschaftsorganisation die Stärke des Fideikommisses darstellt. Das große Fideikommiß wirkt eben, wenn man es rein technisch betrachtet, wie eine Art Vergesellschaftung des Produktionsmittels Boden, verbunden mit einer monarchischen und privatwirtschaftlich interessierten und ver- antwortlichen Spitze. Mit jeder Herabminderung des Ausmaßes des Fideikommisses mindert sich naturgemäß dies Element der Stärke, und wo das Fideikommiß mit dem Umfang eines oder zweier Rittergüter zusammenfällt, da ist jener Konflikt, der in der Natur unserer privatwirtschaftlichen Produktionsordnung liegt: daß

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technisch zweckmäßiges Betriebsausmaß und standes- gemäße Rente je ihre eigenen Wege gehen, in voller, ja trotz aller Privilegien des von Erb- und Kaufschulden freien Besitzers in gesteigerter Schärfe vorhanden, da ja keine Macht der Welt durch die Generationen hindurch die Speisung des Eigenbetriebes mit dem, zumal für eine im Sinne schnelleren Kapitalumschlages intensivere Wirtschaft erforderten, Betriebskapital gewährleisten kann, und da der Übergang zur Verpachtung, je kleiner der Besitz, um so weniger sicher gerade jenes Ausmaß von Rente einträgt.

Ganz ähnlich steht es auf sozialpolitischem Gebiet. Der große Fideikommißbesitzer, je größer je mehr, kann seinem Besitz ohne Gefährdung seiner eigenen ökonomischen Lebensinteressen in ähn- licher Weise gegenüberstehen, wie etwa ein Mecklenburger Groß- herzog seinem Domanium, er kann, wie dieser es getan hat, „Agrarpolitik" treiben, und ist bei der großen Zahl der von ihm Abhängigen, bei seiner der Öffentlichkeit und ihrer Meinung immer- hin exponierten Stellung, bei seiner relativen Entrücktheit aus den konstanten Spannungen des wirtschaftlichen Alltagskampfes darauf sogar in gewissem Maße hingewiesen. Tut er es nicht, preßt er seine Pächter aus, baut schlechte Arbeiterwohnungen usw. so hat das eben in der Tat vorwiegend persönliche, nicht aber den ganz allgemeinen Grund, der bei den kleinen Grundherren solche sozialpolitische Arbeit großen Stils normalerweise ausschließt: daß sie selbst ihre Maut zu Markte tragen und es deshalb Selbstbetrug oder Phrase ist, wenn man ihnen irgend andere Motive als normaler- weise maßgebend andichtet, als diejenigen, die jeden kapitalistischen Unternehmer irgendwelcher Art irgendwo und irgendwann' be- seelt haben und beseelen. Ein großer Fideikommißbesitzer k a n n z. B., auch in seinem eigenen Interesse, auf die von ihm ab- hängigen Mittelbetriebe erziehlich wirken und so Vorbilder für kleinere Wirtschaften schaffen, worauf die Motive solches Gewicht legen. Was die Bauern von einem durchschnittlichen Rüben- oder Branntweinbaron eigentlich ökonomisch lernen sollten, leuchtet da- gegen nicht ein, und um ihnen die technischen Fortschritte, deren Anwendung ihnen möglich wäre, vor Augen zu führen, dazu genügt ein Zehntel der jetzt im Osten vorhandenen Großbetriebe. Ein Dutzend kleiner Fideikommißbesitzer, etwa von je 400 ha an, an Stelle eines großen von 4 5000 ha sind selbstverständlich schlecher- dings nicht in annähernd ähnlichem Maße anpassungsfähig wie dieser es ist. Schlechte Zeiten werden sie wohl zur Abstoßung von

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Außenschlägen an kleine Rentengutserwerber oder Parzellenpächter führen beides Formen des Bodenwuchers, die der Güterschlächterei wesensgleich sind oder der künstlich in der einmal gegebenen Verteilung festgeklammerte Betrieb muß an einen möglichst viel bietenden Pächter zur Ausraubung vergeben werden. Aber eine planvolle Neugestaltung der Betriebsgrößen unter umfassenderen technisch-ökonomischen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten ist ihnen einfach unmöglich.') Überhaupt aber ist irgend ein spezifisch „weit- sichtigeres" Verhalten eines solchen kleinen Fideikommißbesitzers gegenüber irgend einem anderen Betriebsleiter, allgemein gesprochen, so unwahrscheinlich wie möglich, denn dazu gehört nun einmal ein Besitz mit nicht nur zeitlich, sondern vor allem auch räum- lich weiterer Perspektive. Die ökonomische Elastizität und An- passungsfähigkeit gegenüber dem Stoß der Konjunktur, welche, bei Zusammenfassung des Bodens in einer ganz großen Fideikommiß- besitzung mit vielen Einzelbetrieben in Pacht oder Administration, gegenüber der Verteilung des Bodens unter lauter freie Eigentümer- betriebe in der Tat erheblich erhöht sein kann, ist bei der Fesselung des Landes in der Hand vieler einzelner kleiner Fidei- kommisse vielmehr verringert. Zahlreiche kleine Fideikommisse können hier in den entscheidenden Punkten geradezu entgegen- gesetzt wirken, wie einzelne große.

Es ist angesichts alles dessen geradezu ein Unheil, daß die Motive dieFideikommmißpolitik unter den Gesichtspunkt der Stützung des Eigentümergroßbetriebes und vollends unter die sattsam be- kannte Spießbürgerphrase von der Beförderung einer „glücklichen Mischung" der verschiedenen Betriebsgrößen stellen. Diese Redens- art sollte wirklich schon aus dem Grunde endlich aus der Diskussion verschwinden, weil die Frage ja eben ist, welche Mischung denn nun die „glückliche" sei, die im Westen vorhandene, die Westfalens oder Hannovers, oder die in Schlesien oder die in Ostpreußen be- stehende: — denn mit Ausnahme ganz weniger Gegenden sind hier, wie überall in Preußen, die Betriebsgrößen irgendwie „gemischt",

') Wenn Sering den Fideikommißbcsitzern die Abveräußerung auch größerer Besitzteile gegen Rente wie Kapital gestatten will, so wird man zwar gern zustimmen. Aber daß bei „Kückenbesitzern" dabei etwas Erhebliches und Verständiges (vom ag rarpolitischen Standpunkt aus!) herauskomme, ist (generell wenigstens) aus- geschlossen, wie ich schon vor 13 Jahren einmal ausführte. Nur ganz große Grund- herren können Kolonisationspolitik treiben. Andere werden allenfalls Hungerbauern abzweigen.

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und auch mit Großbetrieben untermischt oder welche andere? Nach früheren Äußerungen von Berliner Agrarpolitikern durfte man annehmen, daß wohl der deutsche Nordwesten, etwa Hannover, das gelobte vorbildliche Land sei. Nun: die Provinz Hannover ist diejenige Provinz, welche der Fläche nach im ganzen Staat das Minimum von Fideikommissen aufweist: 2, 1 3 Proz. Nimmt man aber vollends an, daß die Ausgleichung der vorhandenen schroffen Kontraste in der preußischen Agrar- verfassung der Sinn jener Redewendung sei worüber sich ja recht wohl reden ließe , so muß es geradezu als ungeheuerlich erscheinen, einem Institut im deutschen Osten irgendwelche weitere Ausdehnung zu gestatten, welches ausgesprochenermaßen bezweckt, den Großbetrieb, dessen Überwiegen dort gerade jenen Kontrast gegen den Westen hervorruft, zu stützen.

Will man also das Fideikommiß-Institut beibehalten, gleichzeitig aber doch nicht den Parvenüintercssen die sozialpolitischen, und den Interessen der Großgrundbesitzer die populationistischen In- teressen, die auf dem Lande, zumal im Osten, wahrzunehmen sind, in allzu starkem Maße opfern, dann wäre etwa zu fordern:

1. Beseitigung aller Fideikommisse außer den F o r s t fideikom- missen; eventuell wenn man denn durchaus nicht soweit gehen will unter Gestattung der Kombination von 20 Proz. land- wirtschaftlich nutzbarer Fläche mit 80 Proz. Forstfläche, dabei aber

2. Beschränkung der Bindung 1 a n d wirtschaftlich nutzbaren Bodens auf solche Böden, die um sagen wir: >jA unter dem durch- schnittlichen Grundsteuerreinertrag des betreffenden Kreises stehen, und auf Kreise, in denen mindestens *ja der wirtschaftlich erwerbstätigen Bevölkerung hauptberuflich in der Landwirtschaft erwerbstätig sind.

3. Netto - Ertrags m i n i m u m von 30000 Mk. und Flächen - m i n i m u m von 3000 ha, sofern landwirtschaftlicher Boden mitgebunden werden soll; Flächenmaximum pro Fideikommiß von 8 10000 ha; außerdem und vor allem Maximalquote der Bindung landwirtschaftlich nutzbaren Bodens in einem und demselben Kreise von 5 Proz. der landwirtschaftlich genutzen Kreis- fläche außer in Kreisen, mit abnorm ungünstiger Durchschnitts- bodenqualität: etwa unter 1/2 des Durchschnittsreinertrags des Re- gierungsbezirks. Aufhebung aller dem nicht entsprechender Fidei- kommisse.

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4. Beschränkung der Ausdehnung eines Fideikommisses auf höchstens zwei unmittelbar benachbarte Kreise.1)

5. Beschränkung der Fideikommisse auf Familien, die seit 100 Jahren adlig und seit ebenso langer Zeit, oder doch seit mehr als 2 Generationen im Besitz der größeren Hälfte des betreffenden Grundbesitzes oder wenn man selbst das nicht will wenigstens seit diesem Zeitraum im Kreise als Besitzer landwirtschaftlich nutz- baren Bodens von einem erheblichen Umfang ansässig sind. (Aus- nahmen etwa zugunsten verdienter Staatsmänner und Feldherrn durch Spezial g e s e t z.)

6. Erfordernis der Zustimmung des Landtages. Verbot, dem Landtage bzw. dem Könige Fideikommißgesuche vorzulegen, bei denen die vorstehenden Erfordernisse fehlen und bei denen nicht außerdem nach dem Ermessen der Generalkommissionen der Nachweis geliefert ist, daß „gemeinwirtschaftliche" Interessen nicht gefährdet werden.

7. Verbot, selbst oder durch Dritte weiteren Grundbesitz zu erwerben, für den Fideikommißbesitzer.

8. Beseitigung des Zwanges, eine „wirtschaftliche Einheit", d. h. einen landwirtschaftlichen Großbetrieb aufrecht zu erhalten; Zu- lassung des Abschlusses auch langjähriger Pachtverträge durch den Besitzer allein.

9. Beseitigung der Beschränkung der zulässigen Abveräußerungen auf „kleine und mittlere" Stellen, dagegen Beschränkung auf selbständige, bäuerliche Stellen.

10. 5 Proz. Brutto- Verkehrswert-Stempel (natürlich mit Ausschluß des Erlasses im Gnadenwege!).

Eine Fideikommißreform, die nicht, wenn auch etwa in anderer Fassung der Bestimmungen denn auf die Form und die Einzelheiten kommt es nicht an , den vorstehenden Bedenken Rechnung trägt, wäre lediglich eine erneute Kapitulation des Staatsinteresses vor dem Agrarkapitalismus, die Hunderttausende von Hektaren deutschen Bodens dem verächtlichen Streben nach Adelsprädikaten

r) Denn was soll es für eine Schranke des „Streubesitzes" sein, wenn man den Fideikommissen, wie der Entwurf, tut, die Ausdehnung über eine ganze Pro- vinz (!) gestattet. Das ist auch eine der vielen reinen Attrappen, die der Entwurf enthalt. Wie man dabei noch von „Rückenbesitzern" sprechen kann, ist vollends dunkel. Von positiver ökonomischer Bedeutung im Sinne der früheren Ausführungen ist nur ein geschlossenes großes Fidcikommißareal. Nur ein solches bindet auch die Familie irgendwie an eine bestimmte Gegend mit ihrem Interesse.

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oder einer adelsartigen Position opfert. Allein es liegt im Zuge der heute in Preußen fuhrenden Staatsweisheit, den bürgerlichen Geld- beutel mit dem minimalen politischen Einfluß des Bürgertums durch Gewährung einer Art von „HofiTähigkeit zweiter Klasse" zu versöhnen, und in den dafür empfanglichen Kreisen wäre nichts unpopulärer, als wenn der „Nobilitierung" von Kapitalien, die im Handel, in der Industrie, an der Börse erworben sind, durch deren Metamorphose in die Form des Ritterguts Schwierigkeiten gemacht würden.

Wie wenig Chancen daher heute solche Vorschläge, wie sie vorstehend gemacht werden, oder ähnliche, haben, weiß ich natürlich nur zu wohl. Den Urhebern des Entwurfes liegt ja in Wahrheit nichts ferner, als die agrarpoli tische Fürsorge für eine unter welchem Gesichtspunkt immer „gesunde" soziale Verfassung des platten Landes. Eingestandenermaßen entscheiden hier (vermeint- liche) politische Tagesinteressen. Da die Motive selbst solche in den Vordergrund stellen und die Freunde des Entwurfes erst recht, so kann leider auch hier nicht vermieden werden, auch auf diese Seite der Sache noch etwas einzugehen.

Vorher nur noch eine Bemerkung.

Die Freunde des Fideikommißinstituts wie namentlich Sering beruhigen sich gern mit der Betrachtung, daß der Entwurf ja doch trotz allem eine Erschwerung der Fideikommißerrichtung, namentlich immerhin eine Erhöhung der Minimalanforderungen in finanzieller Hinsicht, bedeute. Demgegenüber sei zunächst erneut mit allem Nachdruck betont, daß der entscheidende Punkt in dieser Hinsicht die Frage des Stempels ist. An seine Er- höhung ist leider kaum zu denken, man muß vielmehr fürchten, daß er nicht einmal in seiner jetzigen Höhe erhalten bleibt. Wird er aber herabgesetzt, so gibt das eine Anreizune zur Fideikommiß- bildung, der gegenüber alles andere, was der Entwurf verlangt, Nebensache ist. Die Mitglieder des Herrenhauses müssen in diesem Punkt doch wohl sachverständig sein: nichts als die Stempelfrage hat sie interessiert. Dazu kommt nun aber, daß die Hereinziehung der persönlichen Entschließung des Königs die Eitelkeit fideikommißfahiger Familien aufs äußerste kitzeln muß. Der Ge- danke, daß die allerhöchste Person sich mit den Verhältnissen und der „Würdigkeit" der eigenen Familie ganz speziell befaßt, sie in Ordnung befunden und danach an dem Stiftungsakt des Familien- hauptes sich gutheißend beteiligt habe, muß ein wohltuendes Emp- finden für jedes „königstreue" Herz bedeuten, ein Empfinden,

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welches eben in vermehrter Fideikommißbildung zum Ausdruck kommen wird. Man vergleiche nur, wie oben geschehen, Hannover, wo keine königliche Genehmigung erfordert wird und die finanziellen Anforderungen die geringsten sind, mit Schlesien. Und endlich sind wir denn doch wohl berechtigt, den Entwurf unter dem Gesichts- punkt zu betrachten : daß er eine geeignete Grundlage für eine dauernd gültige Fideikommiß reform darstellen soll und will, und ihn darnach, nicht aber durch Vergleichung mit dem Gegen- wartszustand, zu kritisieren.

III.

Die Motive (S. 13) fuhren aus, es komme darauf an, „Familien zu erhalten, die dem Staat eine Gewähr dafür bieten, daß sich jederzeit Kräfte finden, die geeignet und bereit sind, die immer steigenden Anforderungen freiwilliger Beschäftigung auf politischem und sozialem Gebiet in staatserhaltendem Sinne zu erfüllen". An einer anderen Stelle (S. 49) wird auf die „Anforderungen des öffentlichen Lebens in Gemeinde, Kreis, Provinz und Staat" angespielt. Was heißt das nun? In der Gemeinde ist der Fideikommiß- besitzer bekanntlich nicht tätig, er bildet seinen „Gutsbezirk" für sich, überläßt, wie der Großgrundbesitz überhaupt, den Bauern zum guten Teil die Erziehung seiner Arbeitskräfte in der Volks- schule und möglichst auch deren Unterhalt im Falle der Verarmung, und wenn sich z. B. einmal die Bauern über die schweren Miß- stände, welche die ausländischen Saisonarbeiter des Ritterguts für sie mit sich bringen, beklagen, so erklärt der Vertreter des Land- wirtschaftsministers im Herrenhause, daß die „Interessen der Ge- meinden (lies : der Bauern ) hinter den Interessen der Landwirtschaft (lies : des Großgrundbesitzes) zurückstehen müßten." Die Gemeinde hat also wohl auszuscheiden. Sind nun etwa für die Verwaltung der Kreise und Provinzen nicht mehr die nötigen Kräfte zu finden? Das müßte ja in dem großgrundbesitzlosen Westen des Staates ver- hängnisvoll hervorgetreten sein, Nachweisungen oder selbst An- deutungen darüber fehlen aber und würden auch schwer zu beschaffen sein. Oder sollte es gar an Referendaren mangeln: oder etwa an Kandidaten für die Wahlen ? Oder endlich was das einzig ernst zu nehmende wäre an Nachwuchs für das Offizierkorps? Auch hierfür fehlt jeder Anfang eines Nachweises. Die oben von mir gesperrten Worte sind eben wohl die allein aufrichtig gemeinten : es handelt sich um einen Versuch der Sicherung agrarischer und

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konservativer Parteiherrschaft innerhalb der Lokalverbände und des Beamtentums und um sonst gar nichts. Das allein bedeuten auch die „hohen Erwartungen", denen gerecht zu werden „der Groß- grundbesitzerstand besonders berufen" erscheint eine Bemerkung übrigens, die vor 2 Jahrzehnten lediglich als eine Dreistigkeit ge- wirkt hätte und in einem anderen deutschen Staat (Mecklenburg und Sachsen etwa ausgenommen) auch heute nicht, ohne den schärfsten Widerspruch zu finden, gewagt werden könnte.

Sehen wir nun, wie sich diese in ihrer Durchsichtigkeit immerhin verständlichen Ziele in den Köpfen der agrarpolitischen Romantiker idealisieren. Sering singt zunächst das Loblied dessen, der „durch gebundenen Besitz auf alle Zeiten für sich und seine Familie eine Heimat gefunden" habe. Das Heimatsgefühl der 1000 Fidei- kommißbesitzer ist aber teuer erkauft. Denn wie steht es dabei mit dem Heimatsgefühl der übrigen Bevölkerungsschichten ? Auf dem Grund und Boden des Fideikommisses werden neben Proletariern nur Pächter hausen, und soweit des Fideikommiß seinen Zweck, den Groß- betrieb künstlich zu erhalten, erreicht, konserviert es auch alle Folgen, die der Großbetrieb für das Heimatsgefühl der ländlichen Bevölkerung hat. Welches diese sind, ergibt jede Nebeneinanderstellung der Durchschnittsgrößen der landwirtschaftlichen Betriebe in vergleich- baren Gebieten mit der Quote der Landbevölkerung, die in dem Kreise, in dem sie gezählt wurde, geboren war. Der Grad, in dem die ländliche Bevölkerung sich aus Leuten rekrutiert, denen die Stätte der Arbeit als ihre Heimat gelten kann, ist ceteris paribus Funktion des Grades, in dem dieselbe am Bodenbesitz bzw. am selbständigen Landwirtschaftsbetrieb beteiligt ist.1) Jedes

*) Ein eingehender Nachweis läßt sich natürlich nur an der Hand der Zahlen für die einzelnen Kreise führen, worauf hier verzichtet werden muß. Es ist in dieser Hinsicht vorläufig auf einige in den von mir herausgegebenen Arbeiten über die Landarbeiterverhältnisse (Enquete des Ev. Soz. Kongresses) gegebenen Zahlen zu verweisen. Einige Angaben mögen ihnen immerhin beigefügt werden.

Es kamen z. B. auf 1 landwirtschaftlichen auf 100 Ortsanwesende

1885: Betrieb ha landw. Fläche auf dem Lande Kreisgebürtige

im Reg.-Bez. Minden 3,8 90,7

Osnabrück 4,1 89,1

Hannover 4,6 81,9

Münster 5,2 8 1,8

Also : je größer der Durchschnitt der Betriebe desto ortsfremder die Bevölkerung. Diese 4 Regierungsbezirke sind ihrer untereinander nicht grundsätzlich ab-

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Max Weber,

Institut, welches durch künstliche Stützung des Großbesitzes und -Betriebes und seiner Erweiterung die Anteilnahme am Boden er- schwert, gräbtdemHeimatsgefühlderLandbevölkerung die Wurzel ab.

Die Fideikom misse, so meint nun Sering weiter, sollen „Pflege- statten einer edlen Lebensführung" sein, indem sie „die Tugenden der Voreltern gewissermaßen verdinglichen". Gesetzt, daß hinter diesem Satze irgend erhebliche Realitäten des Lebens steckten was dahingestellt bleiben mag , so müßten die Fidcikommisse eben auf altpreußische „historische" Geschlechter und daneben etwa

weichenden Agrarverfassung wegen gewählt Die einzelnen agrarischen Kreise der Rheinprovinz mit noch kleinerer Durchschnittsbetriebsfläche bewegen sich in noch wesentlich hühcren Zahlen, hie und da bis dicht an loo Proz. Von den rheinischen Regierungsbezirken mit stärker agrarischem Charakter bat z. B. Koblenz mit 2J ha Durchschnittsfläche 88,7, Trier mit 3,3 Proz. Durchschnittsfläche 86,6 Proz Kreisgebürtige.

In den Gegenden kapitalistischen Landwirtschaftsbetriebs stellt sich die Sache in einigen Beispielen folgendermaßen :

Es betrugen 1885 die Kreisgebürtigen in Proz. in den:

Dörfern

Gütern

im

Rcg.-Bcz.

Erfurt

89,4

59,8

Magdeburg

81,0

65,7

11

Merseburg

62,4

52,9

•1

n

Liegnitz

79,6

55,8

11

Breslau

78,3

60,7

•»

Oppeln

85,5

63,0

In Schlesien ist die Hcimatsqnotc der Polen die größte. Die Oppelner Stellenbesitzer sind ähnlich seßhaft wie die Erfurter Kleinbauern und die west- deutsche Bauernschaft. Dagegen stehen die Güter nicht nur überall tief unter den Dörfern, sondern auch tief unter den industriellen Landbezirken des Westens mit starkem Klcinbcsitz: es haben Düsseldorf 75,2 Proz., Arnsberg 72»4 Proz., Köln 85,0 Proz., Aachen 88,8 Proz. Kreisgebürtige und ebenfalls unter dem Durch- schnitt der meisten mittleren Industriestädte, sowie wenn man die Zu- wanderungs quote in Anrechnung bringt, selbst der Großstädte wie z. B. Berlins. Der landwirtschaftliche Kapitalismus steht in bezug auf Bevölkerung*- mobilisicrung allen anderen voran.

Aber auch im „patriarchalischen" Nordosten ist die Erscheinung überall dieselbe.

Die Zahlen waren z. B. Dörfer Güter

im Reg.-Bcz. Stettin 82,5 Proz. 68,8 Proz. t Kreis-

Köslin 84,9 72,8 /gebürtige

und so fort.

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Agrarslatistischc u. sozial polit. Betrachtungen zur Fideikommiflfragc in Preußen. 565

auf Nachfahren unserer größten Staatsmänner und Feldherren be- schränkt bleiben.1) Sering selbst macht freilich wenig glücklich formuliert 2) einige Bedenken gegen das Parvenü-Fideikommiß geltend und es entspricht durchaus meiner Ansicht, wenn er mit energischen Worten eine gewisse Besitzdauer als Vorbedingung zur fideikommissarischen Bindung festgelegt haben möchte, in der Tat die einzig mögliche Schranke gegen das Überhandnehmen des Zusammenkaufs von Boden ad hoc zum Zweck der Fideikommiß- bildung und späteren Erlangung des Briefadels. Aber freilich: 10 (!) Jahre als eine solche Frist vorschlagen heißt auch hier wieder „den Pelz waschen, ohne ihn naß zu machen". Denn zehn- jähriger Bodensitzer steht tief unter der heutigen durchschnittlichen Besitzzeit der von Sering an den Pranger gestellten „Besitzer ad interim"8) und selbst unter der üblichen Pachtfrist. Will man nicht bis auf 100 Jahre gehen, so müßte doch mindestens Besitz seit mehr als zwei Generationen erfordert werden. Will man aber jenen

') Niemand, der historisch empfindet, wird sich dem Gefühlswert einer „Ver- dinglichung" solcher Reminiszenzen verschließen, obwohl ich gerade hier um Bei- spiele für den Satz, daß der Apfel unter Umständen oder vielmehr auffallend oft sehr weit vom Stamme fallt, nicht verlegen wäre und obwohl es mir wie wohl den meisten nicht fraglich ist, daß z. ß. heute unsere tüchtigsten Offiziere, so- weit sie überhaupt dem Adel entstammen, aus dem Nachwuchs der oft sehr be- scheiden bemittelten alten preußischen Ofhzicrsfamilien, nicht aber der reichen Fideikommißherrcn , noch weniger freilich aus den Parvcnü-Fideikommißbcsitzern hervorgehen.

?) Denn was soll es heißen, wenn Sering (S. 68) meint, der Besitzer solle Gelegenheit gehabt haben, sich „als guter Arbeitgeber" auszuweisen? Soll etwa ein Plebiszit der Instlcute oder Saisonarbeiter veranstaltet werden. Derartige rein de- korative Äußerungen fordern doch den Spott heraus. S. weiß übrigens so gut wie ich oder konnte es erfahren, daß z. B. die Polenimportkonzessionen in den 90 er Jahren von den letzten 5 6 Jahren weiß ich nichts auch gegen das Votum der Dezernenten an notorisch „schlechte" Arbeitgeber gegeben wurden, wenn es sich um Leute handelte, die Uber parlamentarische Patronagc oder gesell- schaftlichen Einfluß verfügten. Wir haben alle Schäden des Parlamentarismus ohne dessen Lichtseiten. Und was die „nationale Gesinnung" im Osten betrifft, von der S. auch spricht (S. 67), so sind gerade die FidcikommißgUter in der Pro- vinz Posen, wie Wegcncr in seiner Schrift über den „Wirtschaftlichen Kampf der Deutschen mit den Polen" nachweist, mit der Polonisierung ihrer Arbeiterschaft an der Spitze marschiert

*) Vgl. den früher zitierten Aufsatz Kühnerts in der Zeitfchr. d. Pr. Stat. B. f. 1902.

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Max Weber,

Anreiz nicht vermindern, dann ist es schon aufrichtiger, von der- artigen ostensiblen und dekorativen Bestimmungen abzusehen.

Aber Serings Schätzung der gewaltigen Bedeutung des Fidei- kommißinstitutes erreicht ihren Höhepunkt erst in den nun folgen- den Säuen: „Kurz, die ratio der Fideikommisse liegt in dem sitt- lich (!) politischen Wert aristokratischer Überlieferung und Gesinnung. In letzter Linie ist die Fideikommißgesetzgebung ... ein Problem der nationalen Charakterbildung." Ungern nimmt maxi in einer Zeitschrift wissenschaftlichen Charakters von solch vagen Be- merkungen, die sich jeder wissenschaftlichen Diskussion entziehen, Notiz, aber schließlich ist es nicht zu vermeiden, auch sie auf ihren Gehalt hin zu prüfen. Es hat nun zunächst die Meinung etwas Groteskes, dadurch, daß man, sagen wir: 2000 (zum guten Teil voraussichtlich sehr neugebackene) Grundbesitzer rücklings an je einige hundert oder tausend Hektar deutsche Erde festklebt, ihnen aristokratische Gesinnung und ihren Kindern aristokratische Traditionen einzuflößen und durch diese 2000 Familien wiederum den „Charakter" der Nation mit dieser Gesinnung zu durchtränken. Kann man etwa behaupten, die Bauern des Ostens von den Landarbeitern zu schweigen seien in irgend einem Sinne „Höhen- menschen ?" Doch wohl eher das Gegenteil, verglichen mit anderen Gebieten. Wenn irgendwo, dann ist ein, hier nicht weiter zu analysierendes, Etwas von einer solchen Art Bauernstolz, wie ihn die agrarpolitischen Romantiker lieben und wer empfände in diesem Punkte nicht mit ihnen ? in dem früher auch von ihnen mit so viel Liebe in den Vordergrund gestellten deutschen Nord- westen, also Hannover und Teilen von Westfalen, zu Hause. Nun umfassen aber gerade hier die Fideikommisse einen so kleinen Bruchteil der Fläche wie sonst nirgends im preußischen Staate.1) Und ist es denn so wunderbar, daß sich ein ähnlicher Bauernstolz im Osten generell gesprochen nicht resp. so sehr viel weniger findet? Wo die mittleren und größeren Bauern nicht nur in allen Selbstverwaltungskörpern außer dem Dorf, dem der Gutsherr vornehm fernbleibt die Hand des Herrn über sich fühlen,

') Andererseits gibt es dort eine ihrer verschwindend kleinen Fläche wegen sozialpolitisch gänzlich belanglose Anzahl wahrer Karrikaturen von Fideikommisscn ; so im Regierungsbezirk Hildesheim ein Fideikommiß von i ha, anderwärts einige Dutzend Bauernfideikommisse von 20 60 ha. Daher die relativ große Zahl an Fideikommisscn in der Provinz {119) trotz gänzlichen Zurücktretens ihrer Bedeutung.

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Agrarstatistische u. sozialpolit. Betrachtungen zur FideikommißTragc in Preußen, tßj

wo den dicht gedrängt sitzenden kleinen Leuten der Dörfer die breiten Flächen der Güter, durch eine staffellose Lücke in der sozialen Stufenleiter geschieden, gegenüberstehen, und wir sahen, daß, wie es ja auch selbstverständlich ist, die Fideikommissc diesen Zustand fördern, da könnte doch wohl auch nach Serings Ansicht nur ein Schwätzer von einer „aristokratischen Gesinnung" reden, welche den Bauern jetzt innewohnte oder künftig, wo- möglich infolge der Zunahme der Fideikommisse, innewohnen werde. Soziales und ökonomisches Gedrücktheits- und Abhängig- keitsgefühl ist die einem solchen Zustand adäquate, keineswegs immer klar bewußte, aber auf die Dauer immer wieder wirksam werdende Empfindung, wobei man sich sehr wohl vor der Illusion hüten möge, daß dies Gefühl etwa normalerweise und dauernd in politischer Obödienz leistung sich äußern werde, im Gegen- teil! — Oder ist etwa der königlich sächsische „Volkscharakter" in Stadt und Land durch die Geschlossenheit der Rittergüter zu einem Vorbild deutschen Unabhängigkeitssinnes oder gar irgendwelcher heroischer Tugenden entwickelt worden? Oder ist Sachsen ein Vorbild von „Staatsgesinnung" der Massen? Folglich kann es sich in der Tat nur um die „aristokratische Gesinnung" der Fidei- kommißbesitzer selbst und etwa ihrer Angehörigen handeln. Ver- weilen wir so trivial solche Erörterungen notwendig ausfallen müssen dennoch etwas bei diesem Punkt, da in Serings Be- merkungen sich ja nur wiederspiegelt, was sehr viele andere, und zwar ziemlich ebenso unklar wie er, empfinden, bei der Frage also : was wird hier unter dem Wort „aristokratische Gesinnung" an Re- alitäten des Lebens eigentlich vorgestellt?

Zunächst jedenfalls nicht ein besonders hoher Standard ge- schäftlich loyaler und reeller Gesinnung. Den Tanz um das goldene Kalb in den Gründerjahren haben diejenigen Schichten, welche das Hauptkontigent der Fideikommißbesitzer stellen, in Preußen und Österreich weit stärker mitgemacht, als irgendeine andere Volksklasse. Jeder Geschäftsmann, der mit den östlichen Gutsbesitzern etwa als Getreidehändler dauernd zu schaffen hatte, kann Sering die Nachweise dafür liefern, wie unendlich schwer es war und wenigstens zum Teil bis heute ist, diese Herren zur Reellität im bürgerlichen Sinne zu erziehen. Nicht deshalb weil sie schlechtere Menschen wären, sondern weil das, was Sering in seiner Art „vornehme Berufsauffassung" nennt, eine gewisse

Archiv für So*ialwivsen*cha(t u. Sozialpolitik. 1. < A. f. so*. G. u. St. XIX.) 3. 37

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Mai V. *; ?r.

Nichtachtung strenger und nüchterner bürgerlicher Rechtlichkeit 1 * nun einmal in der Luft liegt in der sie leben. Ich persönlich habe- zufällig in ziemlich ausgedehnten Ma;ie Gelegenheit gehabt, in der gerichtlichen und namentlich der hierin weit lehrreicheren Anwalts- praxis mit Fideikommi^besitzem zu tun zu haben, darunter Namen deren Klang jedem Kenner der preußischen Geschichte das Herz im Leibe lachen macht. Es wäre gewiß höchst verwerflich, die zum Teil kaum glaublichen Erfahrungen, die ich wie wohl recht viele, die in gleicher Lage waren, dabei in immerhin auffallender Häufig- keit zu machen hatte, in irgend einem Sinn zu generalisieren : damit geschähe vielen Hunderten höchst ehrenhafter Familien ganz, ebenso bitteres Unrecht, wie den Bankiers und Börsenhändlern mit dem so beliebten Hinweis auf die im Gegensatz zu jenen agrarischen Fäulnisprozessen im vollen Licht der Öffentlichkeit katastrophenartig sich abspielenden Bankbrüche zu geschehen pflegt- Aber eins steht, für mich wenigstens, fest: könnte man diese Dinge überhaupt ziffernmäßig schätzen und von ..Durchschnitten" reden, so könnte jedenfalls von einem höheren Geschäftsstandard gerade der Fideikommißbesitzer etwa gegenüber der vielgeschmähten „Börse** in ke i n e m wie immer gedachten Sinn auch nur im allerentferntesten die Rede sein. 2 >

•j Seine Meinung über das Wesen d«-s Handels schöpft der in ostelbischea Eindrucken aufwachsende junge aktive oder Rcserveoiüricr zum nicht geringen Teil aus den Erfahrungen mit Vieh- und Roä-„Tauscr.crn'* oder, wenn er Kavallerist ist, aus den Erfahrungen beim Pferdekauicn ..unter Kameraden". Daö bei diesem letzteren, unbeschadet aller sonstigen gesellschaftlichen Qualitäten der Beteiligten, der SaU „caveal cmpior" in des Wortes verwegendstcr Bedeutung gilt, ist bekannt und eine kulturgeschichtlich leicht ru rubrizierende Erscheinung. Fürst Bismarck bat, wie bekannt, seine Vorstellung von dem Wesen der Handelspolitik nach Analogie solcher Eindrücke gebildet. Diese Nonchalance tritt auch außerhalb des rein wirt- schaftlichen Verkehrs überall in die Erscheinung. Jedermann weiß wenn er es wissen will dutt Personen, die nach ihren ökonomischen Antezedenxien von jeder Börse mit Protest ausgeschlossen würden, es in den agrarischen Organisationen so, wie sie heute in Preuöcn sind zu Ehren- und Vertrauensstellungen bringen, ja auch in das Herrenhaus einziehen können. Der Agrarkapitalismus auf dem Boden alter Kulturländer ist eben unter den heutigen Verhältnissen dazu ver- urteilt, eine Mischung „seigneurialer*4 Prätensionen mit „bourgeois"mänigem Trieb zum Golde zu sein. Lnd in unserer Zeit der „mittleren Linie" rindet dies seinen durchaus adä-juaten Ausdruck in einer KideikommißgeseUgcbung, welche diesen beiden Trieben gerecht zu werden trachtet.

*i Es mag überflüssig oder selbst kleinlich erscheinen, dies so ausführlich ru

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Agrarstatistische u. sozialpolit. Betrachtungen zur Fidcikommißfrage in Preußen. ij6c>

Etwas anderes ist es, wenn man die ökonomische Unab- hängigkeit der Fideikommißbesitzer als ein Element von poli- tischem Wert anspricht. Man kann unter den verschiedensten Ge- sichtspunkten die Teilnahme ökonomisch unabhängiger Persönlich- keiten am politischen Parteileben die sozialdemokratische Partei wäre dabei nicht ausgenommen, vielmehr ein hervorragendes Bei- spiel — als außerordentlich bedeutsam für die Aufrechterhaltung politischer Überzeugungen gegenüber dem reinen Fraktions- Opportunismus ansehen. Daß gerade der Fideikommißbesitz in diesem Zusammenhang erheblich mitspiele, ist freilich sehr zu bezweifeln, da in der konservativen Partei, der dies heute vor- nehmlich zugute käme, gerade er sich den gesellschaftlichen Ein- flüssen des Hofes am wenigsten entzieht. Er würde eventuell eher in der staatlichen und militärischen Karriere wirksam werden können. Um nun die Dinge etwas konkreter zu erörtern, so ist z. B. für jeden, der die betreffenden Verhältnisse näher kennt möchten auch seine Überzeugungen noch so „waschecht" demokratische sein es keinem Zweifel unterworfen, daß ein pekuniär unabhängiger, vermögender Beamter oder Offizier seine großen Lichtseiten namentlich vom Standpunkt der ihm Untergebenen aus, also als Vorgesetzter, hat. Jeder, der weiß, was ein „nervöser" und opportunistischer Oberst für ein Offizierkorps bedeutet, der etwa Gelegenheit hatte zu sehenr wie außerordentlich diese seit 1888 epidemische „Nervosität" und Ängstlichkeit bei sonst gleichen Charakterqualitäten naturgemäß durch Vermögenslosigkeit gesteigert wird, muß dies zugeben. Aber auch vom Standpunkt der sachlichen Interessen liegt die Sache

erwähnen. Allein w i e sich die agrarische Welt in den Köpfen der Romantiker malt, dafür statt vieler nur ein ergötzliches Beispiel: Der Entwurf bestimmt, in An- wendung bekannter Grundsätze unseres bürgerlichen Rechts, in § 49 : „Hat der Fidei- kommißbesitzer dem anderen Teile gegenüber der Wahrheit zuwider die Genehmigung des Familienrats behauptet, so ist der andere Teil . . . zum Widerruf berechtigt." Dazu bemerkt entrüstet Herr Dr. Wygodzinski (a. a. O. S. 60): „Den stärksten Ausdruck findet das Mißtrauen, mit dem der Entwurf augenscheinlich (!) den Fideikommiß- besitzer betrachtet, in § 49, wo ausdrücklich (!) der Fall vorgesehen ist, daß der Fideikommißbesitzer lügt." Dann wäre es doch wohl an der Zeit, dem Reichs- strafgesetzbuch, welches allen Reichsangehörigen ohne alle Standesunterschiede mehrere hundert zum Teil höchst abscheuliche Strafuten zutraut, im Einführungs- gesetz einen Artikel vorauszuschicken etwa des Inhalts: „Fideikommißbesitzer und andere Personen „aristokratischer Gesinnung" bleiben von den nachstehenden Vor- schriften unberührt."

37*

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5/0

Max Weber,

vielfach ähnlich : selbst in der Tätigkeit etwa von Fabrikinspektoren ist rücksichtslose Unabhängigkeit billiger für den vermögenden Mann. Nur ist wenigstens mir wiederum nichts davon bekannt, daß gerade das Fideikommiß hier eine nennenswerte Rolle spielte : die prosaischen Konsols taten es, soweit ich sehen konnte, auch, in gewissem Sinn sogar noch besser. Und vor allem: damit das Fideikommiß diese Rolle spielte, müßten eben die Fideikommißbesitzer selbst in das Heer oder die höhere Beamtenschaft eintreten, könnten also unmöglich die Rolle von „Rückenbesitzern" spielen wollen, müßten namentlich auch wirklich „sturmfreie" ganz große Besitzer sein, die 12000 MIc Gehalt leicht verschmerzen können. Es kämen sonst ja nur die Seitenverwandten der Fideikommiß- besitzer in Betracht und mit ihnen dürfte die Sache wohl so liegen, daß nicht sowohl der Staat auf sie, als sie auf den Staat ange- wiesen sind und schwer ersichtlich ist, woher bei ihnen ein spezifisches Unabhängigkeitsgefuhl kommen sollte. Daß es zahlreiche Gesichts- punkte gibt, unter denen die Rekrutierung des Beamtentums aus einem Nachwuchs, der nicht ausschließlich oder auch nur sehr stark vorwiegend in städtischer Luft aufgewachsen ist, erwünscht er- scheinen kann, ist (m. E) gänzlich unbestreitbar. Aber es wäre wiederum geradezu grotesk, heute eine Gefahr zu sehen, daß in irgend- welchen noch so großen Zeiträumen jener Zustand eintreten könnte Der gegenteilige Zustand eine Beamtenschaft, die den breiten Schichten der modernen bürgerlichen und Arbeiterklassen kenntnis- und verständnislos und mit nichts als einer unklar empfundenen agrarisch gefärbten Antipathie gegenübersteht ist doch wohl sehr viel näher daran verwirklicht zu werden. Daß die Ange- hörigen von Fideikommißbesitzern sich je durch Entwicklung besonderer Charakterqualitäten ausgezeichnet hätten, ist mir un- bekannt. Urteile mit dem Anspruch auf generelle Geltung wären hier ungerecht gegen die zweifellos zahlreichen vortrefflichen einzelnen Persönlichkeiten dieser Art, aber unter sonst gleichen Verhältnissen ist es an sich wahrscheinlich und stimmt, soviel mir bekannt, mit zahlreichen Erfahrungen, daß das Bewußtsein, bei gleichen oder selbst geringeren Leistungen unbedingt einer bevorzugten Behandlung in der Beförderung sicher zu sein und daß dem so ist, wird vielleicht einmal vom Ministertisch, nie aber unter vier Augen bestritten werden seine Wirkung nicht zu verfehlen pflegt. Eine noch weitere Steigerung der Schwerkraft der privilegierten Talentlosigkeit in der preußischen Verwaltung kann heute wahrlich niemand für

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Agrarstatistische u. sozialpolit Betrachtungen zur Fidcikommißfrage in Preußen. 571

ein Bedürfnis ansehen. Und von den alten preußischen „Traditionen" ist heute in Preußen nicht mehr viel übrig, sie leben, wie auch der entschiedenste Feind jedes „Partikularismus" anerkennen muß,, in manchem kleineren Staat reiner fort als in Preußen und sind etwas ganz anderes als was heute dort so genannt wird. Vollends die Produkte des modernen Parvenü-Fideikommisses sind wahrlich nicht ihre Träger. Sie sind vielmehr wiederum ohne erfreuliche E i n z e 1 ausnahmen irgendwie zu bestreiten man kann sagen: notorisch und aus sehr verständlichen Gründen, dazu prädisponiert, die eifrigsten (aber allerdings nicht die einzigen) Vertreter jener immer weiter um sich greifenden absolut Charakter- und gesinnungslosen „Schneidigkeit" zu werden, welche ihre „Satisfaktionsfähigkeit" in der Presse affichiert und dies, verbunden mit dem läppischsten Mandarinen-Hochmut im dienstlichen Verkehr nach „unten", als „preußische Tradition" oder, wie manche elsässischen Beamten preußischer Provenienz es in den 80 er Jahren in stolzem Über- legenheitsgefühl ihren badischen Kollegen gegenüber taten, als „preu- ßische Verwaltungspraxis" auszugeben. Der Fehler liegt eben nicht darin, daß jene Herren z u „vornehmer,, Abkunft wären, sondern darin, daß sie es nicht sind. Die breite Masse der bürgerlichen Beamten sucht ihren bürgerlichen Ursprung zu vergessen, ohne es zu können. Das Mittel des Reserveoffiziers- und Korpsstudenten wesens1) dient zur

') Für viele sind diese studentischen Verbindungen ja keineswegs in erster Linie Pflegestätten studentischer Ehre und Sitte, sondern einfach Avancements-Versicherungs- Anstalten. Die kümmerlichsten Sprößlinge deutscher Geheimrätinnen oder auch Kommerzienrätinnen müssen darin den bei der heutigen Praxis recht bescheidenen „Mut" prästieren, sich durch einige Narben abstempeln tu lassen, weil mir sind selbst solche Fälle wiederholt von den betreffenden besorgten Eltern geklagt worden es für die „Konnexionen" unentbehrlich ist Aber schlimmer ist, daß dies Treiben nunmehr die Techniker und, wie es fast scheint, wenigstens Anfänge dazu sind bemerkbar - auch die Zöglinge der Handelshochschulen ergreift. Die Vermutung, daß mit der Gründung der letzteren zuweilen in erster Linie nicht dem Wissensbedürfnis der Kaufleute, sondern ihrem Wunsch, an der pa- tentierten „akademischen" Bildung teilzunehmen, dadurch „satisfaktionsfähig" und damit u. a. auch Rcrscrve-Offizicr = fähig zu werden, entgegengekommen werden soll, ist leider recht naheliegend. Ich kann mich den vortrefflichen Be- merkungen von Wittich in seinem Aufsatt „Deutsche und französische Kultur im Elsaß" nur anschließen. Daß wir uns mit einer Entwöhnung von der intensiven Arbeit, wie sie dies „akademische" Treiben heute regelmäßig mit sich bringt, als Macht neben den großen Arbeitsvölkern der Erde, speziell den Amerikanern, auf die Dauer behaupten, ist mehr als fraglich. Feudale Prätensionen ersetzen den

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Max Weber,

Aneignung gewisser äußerer Formen der Schichten, zu denen man sich gern zählen möchte, ohne doch das Parvenügefühl ganz zu beseitigen. Je mehr die autoritäre Position, in die sich der moderne preußische Beamte dieses Schlages den „Untertanen" gegenüber gestellt fühlt, von diesen letzteren und, im Grunde seines Herzens, auch von ihm selbst, als Prätension empfunden wird, um so mehr wird sie betont. Vorurteilslose Mitglieder des heutigen preußischen Beamtentums pflegen die Degeneration der altpreußischen Tradition zu jenem charakterlosen, nach unten „schneidigen", nach oben geschmeidigen „Assessorismus" der Gegenwart mit seiner über- zeugungslosen Pflege der rein formalen „Staatserhaltung" ohne alle inhaltlichen Ziele1) stets zuzugeben, mit dem typischen Zusatz: „aber die Bürgerlichen sind immer die schlimmsten". Gewiß: Bürgerliche mit feudalen Prätensionen, eben solche, wie sie der Fideikommißentwurf in Reinkultur massenhaft züchten will.

Es gibt m. E. schlechthin keinen Gesichtspunkt, unter welchem die weitere Durchsetzung des preußischen Beamtentums mit jenem Typus der „Gernegroßen" als ein Gewinn erscheinen könnte. Durch die Zu- Geist rücksichtsloser bürgerlicher Arbeit nicht. Der Begriff der „Satisfaktions- fäbigkeit" übrigens, speziell in seiner wechselnden Beziehung zu den in Deutschland k 1 as sc n bildenden Bildungspatenten (Maturität, F.injährigenzcugnis etc.) wäre seiner ganz erheblichen Kulturbcdeutung wegen einer historischen Spezialuntersuchung wohl wert.

') In „ideallypischer" Reinheit spricht sich dieser Banausen-Standpunkt auch in dem folgenden schönen Satz der Motive (S. 17) aus: „Denn für ein gesetzgeberisches Vorgehen können nicht allgemeine philosophische Erwägungen, sondern nur die Rücksichten auf die tatsächlichen Verhältnisse maßgebend sein." Es möchte freilich wenig Ersprießliches an den Tag kommen, wenn der Verfasser dieses Scnti- ments sich auf das Philosophieren verlegen würde. Aber man möchte gern wissen, was unter „Rücksichtnahme auf die tatsächlichen Verhältnisse" verstanden ist, es sei denn ganz einfach die Rücksicht auf die im preußischen Landtag ausschlag- gebenden Interessen des Agrarkapitalismus. Vermutlich liegt die übliche Anspielung auf die „Realpolitik" darin, wie man sich denn in Deutschland regelmäßig dann auf Bismarck zu berufen pflegt, wenn es sich um ein Feigenblatt für die ödeste Ideal- und Gesinnungslosigkeit handelt. Es mag hier, am Schluß unserer Be- trachtungen, doch dem Erstaunen darüber Ausdruck gegeben werden, daß das preußische Landwirtschaftsministerium, welches doch mindestens über eine wissen- schaftlich ausgezeichnet geschulte und verdiente Kraft verfügt, die Abfassung der wirtschaftlichen Teile der „Motive" dieses Entwurfes offenbar irgend einem völlig unreifen Anfänger überlassen konnte. Der Kontrast gegen die bei allen auch in dieser Hinsicht bestehenden Bedenken scharf und gründlich durchdachten rein juristischen Partien ist geradezu blamabel. Es war ein Ding der Unmöglichkeit, diesen Plattheiten gegenüber überall höflich zu bleiben.

Agrarstatistischc u. sozialpolit. Betrachtungen zur Fidcikommißfragc in Preußen. 573

lassung zahlreicher kleinerer Fideikommißgründungen vollends wird nicht „aristokratische Gesinnung" in irgend einem Sinn des Wortes erzeugt, sondern wie immer wieder gesagt werden muß es werden Familien, die nach ihren Einkommensverhältnissen auf be- scheidene bürgerliche Lebensführung hingewiesen wären, mit feu- dalen Prätensionen erfüllt. Die Möglichkeit bürgerlicher und briefadliger Fideikommißgründung überhaupt aber lenkt, indem sie die verächtlichste Eitelkeit kitzelt, das bürgerliche deutsche Kapital von dem Wege ökonomischer Eroberungen in der weiten Wrelt in verstärktem Maße auf die Bahn der Schaffung von Rentiers- existenzen, die ohnehin im Zuge unserer protektionistischen Politik liegt.

Denn Renten schütz ist ja die Signatur unsereriWirtschaftspolitik. Welchen allgemeineren Gesichtspunkten sich die Konsequenzen dieses Systems fügen, ist hier nicht zu erörtern. Nur auf einen Punkt, der auch in unseren Zusammenhang gehört, sei hingewiesen. Die Gefahren des sog. „Industriestaates": „Abhängigkeit" vom fremden Markt bei industriellem Export, von fremder Zahlungs- bereitschaft beim Kapitalexport, von fremden Getreideüberschüssen bei beiden, da beide den Getreide-Import mit sich ziehen pflegen düster und in den lächerlichsten Übertreibungen geschildert zu werden. Unsere Wirtschaftspolitik sperrt das ausländische Korn aus und läßt das eigene durch Hunderttausend ausländische Menschen mit- produzieren, die importiert werden und ohne welche ein großer Bruch- teil der Großbetriebe des Ostens, eben derer, welche die großen Ge- treideüberschüssc liefern, heute nach ihrer eigenen Behauptung nicht mehr bestehen können. Ein Federstrich der russischen Regierung ist also imstande, sie zu Boden zu schleudern und ich möchte denn doch eine Form der „Abhängigkeit vom Ausland" kennen lernen, die an verhängnisvoller Tragweite an diese heranreichte. Eine Politik, welche diese Großbetriebe künstlich zu stützen sucht, wie der Entwurf es will, verknechtet uns russischer Polizeiwillkür. Das hier keine Gespenster an die Wand gemalt werden, haben gewisse, nach meinem Gefühl für uns entwürdigende Vorgänge, die sich abspielten als ein russisches Sachsengängerverbot zu drohen schien, jedem, der sehen will, deutlich genug zeigen können. 1 ) Dem politischen System, unter dem wir zu leben haben: der inter-

') Hei dem heutigen Gang unserer Politik würde es nicht überraschen, wenn man uns unter Berufung auf den italienisch-französischen Vertrag unter der Etikette „internationale Sozialpolitik" ein Abkommen mit Kußland bescherte, durch welches feigen Konzessionen ! die Russen den Gutsbesitzern die ver-

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Max Weber, Agrarstatistische u. sorialpolit Betrachtungen usw.

nationalen Solidarität der „staatserhaltenden" Interessen, welche uns, durch imaginäre dynastische und sehr materielle kapitalistische Inter- essen getragen, zu einem Vasallenstaat machen wird und der Gering- schätzung der Welt preisgegeben h ajt diesem System fugten sie sich nur zu gut ein. Wer aber die beneidenswerte Stirn besitzt, eine solche Politik im Gegensatz zu irgend einer anderen eine „natio- nale" zu nennen, mit dem mag diskutieren, wer Zeit und Lust zu dem Versuch hat, die ekelerregende Herrschaft der „konser- vativen Phrase" bei Leuten zu bekämpfen, deren materielles Interesse damit verknüpft ist, daß sie selbst oder daß wenigstens diejenigen, „deren kein Ende ist", an diese Phrasen glauben.

Möchten schließlich die politischen Gründe für die Beibehaltung der fideikommissarischen Sicherung eines gewissen Bestandes groß- grundbesitzlicher Familien noch so gewichtige sein und wir haben uns nicht davon zu überzeugen vermocht, daß dies unter den heutigen Verhältnissen unter irgend welchen Gesichtspunkten der Fall sei, so würde es dennoch unter allen Umstanden jetzt hohe Zeit sein, das „goldene Buch" zu schließen. Mehr als der Flächeninhalt einer ganzen Provinz ist jenen angeblichen Interessen bereits geopfert: das muß auch dem extremsten Fana- tiker für dies Institut genügen. Der vorgelegte Gesetzentwurf aber, anstatt materielle Schranken zu schaffen gegen die Gelüste des Kapitals, Boden als Rentenfonds zu Nobilitierungszwecken aufzu- häufen, frönt in dieser Hinsicht dem gewissenlosesten „Manchester- tum", offenbar in der dunklen Vorstellung, durch Bindung des Bodens und Nobilitierutig seiner Besitzer an die Stelle des unbe- quemen Geschreies agrarischer Interessenpolitiker von heute bequeme und satte Parvenüs zu setzen, die das Bedürfnis haben, sich in der Gnade der Hofes zu sonnen. Ob auch nur diese natürlich un- ausgesprochene — Hoffnung auf dem betretenen Wege zu erfüllen wäre, bleibe hier dahingestellt. Es genügt, konstatiert zu haben, daß die Auslieferung der besten Böden an die Eitelkeits- und Herrschaftsinteressen des Agrarkapitalismus das Ergebnis der vom Entwurf sanktionierten materiellen Fideikommißgründungs- freiheit einem Lebensinteresse der Nation : dem an einer zahl- reichen und kräftigen Bauernbevölkerung jede Zukunft abgräbt

tragsmäfligc Sicherheit geben würden, Polen zu importieren. In dieser Hinsicht ist heut schlechthin Alles möglich.

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Dreizehn Jahre sozialen Fortschrittes in Neuseeland.

Von

RICHARD H. HOOPER,

London.

Von dem Beginn der Selbstverwaltung an bis zum Jahre 1891 ist die Richtung der inneren Politik Neuseelands vorwiegend be- stimmt durch die Interessen der Großgrundbesitzer und der Finanz- kreise, die in der Kolonie festen Fuß gefaßt hatten und die die Verhältnisse der alten Welt, aus denen sie entsprungen waren, auf die neue übertrugen.

Es soll damit nicht gesagt sein, daß es dem alten Regime an weitsichtigen Maßnahmen und großdenkenden Staatsmännern fehlte, wenn auch die letzteren durch Parteieinflüsse oft gelähmt wurden. Neuseeland verdankt ihnen sein Staatsbahnsystem, ein staat- liches Lebensversicherungsamt, ein geregeltes Grundbuchwesen, Diäten für die Parlamentsmitglieder u. a. m. Auch das allge- meine Wahlrecht für alle mündigen männlichen Personen wurde unter ihrem Regime erkämpft. Freilich waren einige dieser Maß- nahmen weniger die Folgen einer überlegten Politik als des Zwanges der Verhältnisse ; die Wahlrechtsreform insbesondere war dem Druck der öffentlichen Meinung und dem Einfluß Sir George Greys zu verdanken, der sich zum Verfechter liberaler Ideen machte.

Das so gewonnene allgemeine Wahlrecht war es vor allem, das den Sturz des alten Regimes herbeiführte.

Das Ende der 80er Jahre brachte schlechte Zeiten für Neu- seeland. Die Kolonie litt unter den Nachwirkungen einer Hausse- periode, die Finanzlage des Staates war ungünstig, die Preise der Stapelprodukte fielen und der Handel stand im Zeichen der De- pression. In dem jungen, dünn bevölkerten I^ande, mit seinen

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Riebard II. Hooper,

reichen, noch unentwickelten natürlichen Hilfsmitteln sahen sich da- mals Tausende der besten Arbeiter durch die Ungunst der Verhält- nisse zur Auswanderung, meist nach Australien, gezwungen. Durch eine drastische Einschränkung der Ausgaben im Zusammenhang mit Erhöhung der Steuern gelang es der Regierung, das Budget ins Gleichgewicht zu bringen; mehr war nicht zu erreichen, weil die wirtschaftlichen Reformen, welche allein eine Besserung bringen konnten, im direkten Widerspruch zu den Traditionen und Prin- zipien der herrschenden Partei standen. Die Unzufriedenheit mit der Verwaltung war auf ihrem Höhepunkt angelangt und die Zeit für eine durchgreifende Änderung gekommen.

Die im Jahre 1890 stattfindende allgemeine Wahl bot den An- laß zum gemeinsamen Vorgehen aller fortschrittlich gesinnten Ele- mente. Die Wahl drehte sich vor allem um die Ersetzung der all- gemeinen Vermögenssteuer durch eine Grundwertsteuer wie sie die Liberalen der damaligen Oppositionspartei forderten. Die bestehende Vermögenssteuer verdankte ihre Entstehung den persönlichen, staats- sozialistisch angehauchten Ideen des Führers der Regierungspartei, Sir Harry Atkinson, welcher sie als die am meisten der Gerechtig- keit entsprechende Steuer betrachtete, sie lastete mit besonderer Schwere auf den Landwirten, weil alle Meliorationen von ihr ge- troffen wurden. Die Gegenagitation zugunsten einer reinen Grund- wertsteuer basierte auf den Ideen von Henry George, die damals zum ersten Male Einfluß gewannen; auch konnte sie sich frühere lokale Erfahrungen zunutze machen, denn Sir George Grey hatte 1878 1879 eine kurzlebige Grundsteuer eingeführt.

Abgesehen von der Landfraee standen viele unter dem Ein- fluß der allgemeinen sozialistischen Ideen , welche damals die angelsächsische Welt überfluteten, jener Bewegung, in welcher Bücher wie Bellamys „Looking Backward" und die „Fabian Essays" eine so hervorragende Rolle spielten. Endlich gab der große Streik der Seeleute im Jahre 1890, der die Demokratie Austral- asiens energisch aufrüttelte und erst kurz vor den Wahlen in Neuseeland ein Ende fand, der oppositionellen Richtung einen mächtigen Aufschwung. Die organisierten Arbeiter, die im Streik unterlegen waren, nahmen nun die politische Arbeit mit einem bestimmten Endziel, das ihnen bis dahin gefehlt hatte, auf und machten gemeinsame Sache mit der liberalen Partei Das Resultat der Wahl war ein entscheidender Sieg der vereinigten demo- kratischen Kräfte. Das Ministerium Atkinson demissionierte im

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Dreizehn Jahre sozialen Fortschrittes in Neuseeland.

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Januar 1891 und eine neue Regierung kam unter der Führung von John Ballance ans Ruder; zu seinen Mitarbeitern zählten Richard Seddon, John McKenzie, W. P. Reeves und J. G. Ward, alles Männer, die bestimmt waren eine bedeutsame Rolle in der Geschichte der Kolonie zu spielen.

Der neuen parlamentarischen Partei gehörten etwa 6 Arbeiter- vertreter an, aber die liberalen Elemente des Mittelstandes, wozu auch die Vertreter der kleinen Landwirte zu rechnen sind, bildeten den an Zahl und Einfluß ausschlaggebenden Teil. Die Partei als ganzes nennt sich selbst die „liberale", obgleich manchmal der Doppelname „liberale Arbeiterpartei" gebraucht wird. Die Bezeich- nungen: „Radikal" und „Sozialistisch" sind in der neuseeländischen Parteiphraseologie niemals im Schwung gewesen. Auf europäische Verhältnisse angewendet würde indessen die Bezeichnung „sozial- radikal" die neue Partei besser kennzeichnen. Des weiteren hat die alte Partei, die seit 1891 die Opposition bildet, den ent- sprechenden Namen der „Konservativen" nie akzeptiert oder unter ihm gekämpft; sie betrachtet ihn als Beleidigung, da sie ebenso vom Geiste des wahrhaften Liberalismus erfüllt sei, wie die Re- gierungspartei. Von einigen Schriftstellern ist die demokratische Partei Neuseelands auch nach dem Beispiel der fortschrittlichen Partei in der Londoner Gemeindepolitik die „progressive" genannt worden. Indessen wollen wir in diesem Artikel, um der lokalen Korrektheit und der Kürze willen, die Bezeichnung „liberal" für die seit 1891 herrschende Partei festhalten.

x. Die liberale Politik: X891 1903.

Die neue Regierung, der politische Propheten nur ein kurzes Leben voraussagten, zögerte nicht ihr sozialreformatorisches Pro- gramm zu verwirklichen. Eine scharfe Opposition war im volks- tümlichen Unterhaus zu bekämpfen, doch der konnte man offen entgegentreten. Schwerwiegender war die Obstruktion im Ober- haus, das aus lebenslänglichen Mitgliedern bestand (später wurde die Dauer der Mitgliedschaft auf 7 Jahre reduziert) und durch seine Feindseligkeit der Arbeit des ersten Parlaments sehr hinderlich war. Sir Harry Atkinson hatte nach seiner Niederlage bei den Wahlen vor seiner Abdankung noch sich und ein Dutzend seiner Anhänger zu Mitgliedern des Oberhauses ernannt, dessen Präsident er wurde. Diese eigenartige Taktik hatte zur Folge, daß die Liberalen im Ober-

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bause nur auf etwa 6 Stimmen von den vorhandenen 46 rechnen konnten. Da der hauptsächlichste Punkt des Regierungsprogrammes jedoch die Abänderung der Steuer betraf, auf welche das Oberhaus verfassungsgemäß nur einen geringen Einfluß ausüben konnte, so gelang es die Vermögenssteuer abzuschaffen und durch eine Hin- kommens- und Grundwertsteuer zu ersetzen.

Ferner tat die Regierung den ersten Schritt auf dem Gebiete des Arbeiterschutzes durch die Einführung eines primitiven Fabrik- gesetzes. Wir werden später auf die wichtigsten, den Grundbesitz und die Arbeitsverhältnisse betreffenden Gesetze der neuen Re- gierung zurückkommen. Kleinere Gesetze usw. werden wir kurz im Laufe dieser Einleitung erwähnen.

Im folgenden Jahre (1892) war das Parlament vor allem mit einem Niederlassungsgesetz beschäftigt Das Gesetz John McKenzies änderte die Niederlassungsbedingungen zugunsten der bona fide Ansiedler und führte ein auch dem kleinen Mann zugängliches staat- liches Erbpachtrecht ein. Durch das Gesetz über Landerwerb zu Niederlassungszwecken wurde der Staat in die I-age ver- setzt große private Besitzungen einer dichteren Besiedelung wieder zugänglich zu machen. Sir Harry Atkinson starb in diesem Jahr.

Ehe die Sessionsperiode von 1893 begann, erlitt die Regierung einen schweren Verlust durch den Tod des Premierministers Ballance. Das Ministerium wurde unter der Leitung Seddons, aber ohne weitere wesentliche Änderungen, neu gebildet. In dieser Sessions- periode war nach mancherlei parlamentarischem Hin und Her in beiden Parteien vor allem die Ausdehnung des Stimmrechtes auf die Frauen zu verzeichnen. Des weiteren wurde das öffent- liche Interesse stark durch die Alkoholfrage in Anspruch genommen, die durch energische Anhänger der Abstinenzbewegung in der liberalen Partei in den Vordergrund gerückt wurde. Die Regierung erledigte die Frage durch das Gesetz über die Überwachung des Verkaufes von alkoholhaltigen Getränken, durch welches ein System direkter lokaler Abstimmung eingeführt wurde, welche alle drei Jahre über die Beibehaltung, Beschränkung oder Abschaffung der Schankkonzessionen entscheidet und die zugleich mit den Parlamentswahlen, nach dem gleichen Stimmrecht und mit der- selben Wahlkreiseinteilung stattfindet Obgleich für die Abschaffung der Konzessionen eine Zweidrittelmajorität erforderlich ist, wurde sie in mehreren Distrikten durchgeführt, während zugleich die Stimmenzahl der Prohibitionisten ständig wächst.

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Unter den kleineren Arbeiterschutzgesetzen, die dieses erste liberale Parlament zustande brachte, können wir noch verzeichnen : ein Truckgesetz, ein Gesetz über die Priorität der Lohn- forderungen der Arbeiter bei Submissionsarbeiten, das ihnen ein Pfandrecht sicherte, ein Gesetz über die Auszahlung der Löhne, das eine prompte regelmäßige Auszahlung der Löhne durch die Unternehmer sicherstellen sollte. Im Bergwerksgesetz und im Gesetz über Kohlenbergwerke befassen sich besondere Ab- schnitte mit den Interessen der Arbeiter; Frauen und Kinder dürfen in Kohlengruben nicht beschäftigt werden. Das Gesetz über die Haftpflicht der Unternehmer wurde ebenfalls verschärft.

Auch in der Verwaltung brachte die Periode von 1 891 93 mancherlei Bemerkenswertes, so die Errichtung eines Ackerbau- und eines Arbeitsamtes. Des weiteren ist die Einführung der genossen- schaftlichen Arbeit bei der Herstellung öffentlicher Bauten zu er- wähnen. Das System wird hauptsächlich beim Straßen- und Eisen- bahnbau angewandt und hat dem Privatunternehmerwesen mit seiner häufig minderwertigen Arbeit so ziemlich ein Ende gemacht. Die Arbeit wird an genossenschaftliche Gruppen im Akkord zu „ge- rechten" Lohnsätzen vergeben, das Verdienst beträgt im Durch- schnitt 7,/9 bis 8 sh. täglich. Das System ermöglicht der Regierung, die Arbeitslosigkeit zu kontrollieren und ihr abzuhelfen. Es hat sich im Laufe der Jahre bewährt, nachdem einige schwache Punkte mit zunehmender Erfahrung verbessert worden sind und besteht heute in voller Wirksamkeit. Dann ist die Erwerbung des 84000 acres umfassenden Cheviot Estates durch die Regierung zu er- wähnen, zu welcher das Gesetz über die Grundsteuer die Veran- lassung bot. Der Eigentümer hatte sich nämlich über die zu hohe Steuerveranlagung beklagt; die fragliche Summe betrug 260000^, aber die Regierung, die ein Exempel statuieren wollte, gab nicht nach und der Erfolg hat für sie gesprochen. Zur Zeit der Übergabe er nährte der Besitz einige Schäfer und Landarbeiter, im ganzen etwa 80 Personen; heute, nachdem die Regierung Tür eine dichte Be- siedelung gesorgt hat, sind dort tausend Personen ansässig ; schmucke Heimstätten sind über das Land verstreut und die Siedelung bringt dem Staat eine gute Rente. Die anderen Großgrundbesitzer haben sich dies zur Lehre dienen lassen.

Ende 1893 mußte die Regierung den ersten VVahlkampf durch- fechten. Sie konnte sich auf einen guten Anfang berufen und die Handlungsweise des Oberhauses sorgte für eine wirksame Wahl-

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parole. Ein Element der Ungewißheit wurde durch das neue Frauenstimmrecht in den Kampf hineingetragen, da jede Seite auf diese Unterstützung rechnete. Die Wahl brachte den Liberalen einen entscheidenden Sieg und eine verdoppelte Majorität Nach dieser nachdrücklichen Bejahung der fortschrittlichen Politik durch das Volk die das Oberhaus wohl nachdenklich stimmen konnte ist es nicht erstaunlich, daß das Jahr 1894 besonders ereignisreich wurde. An erster Stelle unter den wiederaufgenommenen und diesmal angenommenen Gesetzen steht das Gesetz über die ge- werblichen Einigungsämter undSchiedsgerichte. Ein sehr fortschrittliches Arbeiterschutzgesetz ersetzte dasjenige von 1 891. Das Gesetz über „Kaufläden und kaufmännische Angestellte" sorgte auf ähnliche Weise für eine andere Klasse von Arbeitern. Den Interessen der Seeleute wurden wichtige Er- weiterungen des Gesetzes über Schiffahrt und Seeleute ge- recht. Das Koalitionsrecht wurde durch einen Zusatz zu dem Gesetz über Verschwörungen (Conspiracy law) freiheitlicher ge- staltet. Auch für die agrarischen Interessen (unter denen man in Neuseeland im allgemeinen diejenigen der kleinen Ansiedler ver- steht) wurde gesorgt. Bei dem großen Preissturz der landwirtschaft- lichen Rohstoffe sahen sich die Landwirte durch die noch herr- schenden hohen Hypothekenzinsen sehr benachteiligt. Der Staat griff deshalb ein und benutzte in dem Gesetz über die Vorschüsse an Ansiedler seinen Kredit um den Bauern billiges Geld unter be- quemen Bedingungen und mit geringer Amortisationsquote zu ver- schaffen. Das Gesetz über Landerwerb wurde durch die Einführung einer Zwangsenteignungsklausel verschärft. Durch ein Gesetz über die Molkerei-Industrie wurde der erste Schritt auf dem Gebiete einer staatlichen Förderung und Kontrolle des Exportes von Landes- produkten getan. Zu erwähnen ist ferner das Garantiegesetz für die Bank von Neuseeland, durch welche die Regierung den Zu- sammenbruch des führenden Finanzinstitutes verhinderte und Neu- seeland vor einer Bankkrisis, wie sie damals in Australien ausbrach, bewahrte.

Zwei kleinere Arbeiterschutzgesetze kamen 1895 zustande: dasjenige über Lohnpfändung, welches die Pfändung eines Lohnes, von weniger als 2 £ die Woche verbot und das Gesetz über Ar- beitsvermittlung, welches die privaten Stellenvermittler einer strengen staatlichen Kontrolle unterwarf.

Im Jahre 1896 gelang es der Regierung nach längerem Wider-

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stand des Oberhauses das Prinzip der Grundwertbesteuerung für die Kommunalsteuern in Anwendung zu bringen, allerdings nur fakultativ. Die Landfrage wurde auch indirekt berührt durch das Gesetz über: „Government Valuation of Land", durch welches das Prinzip der staatlichen Taxierung des Grundwertes ausgesprochen wurde, um eine einheitliche Bewertung sowohl zum Zwecke der Staats- und Kommunalbesteuerung, wie auch für Beleihungen zu er- zielen. Das Gesetz war speziell dazu bestimmt eine klare Definition und eine möglichst vollständige Erfassung des unmeliorierten Wertes neben demjenigen des in den Boden gesteckten Kapitals zu ermög- lichen, in Übereinstimmung mit den von dem Lande aufgestellten Prinzipien der Besteuerung.

Die Arbeitergesetzgebung bestand in einem freiheitlich gefaßten Zusatz zu dem Gewerkschaftgesetz. Eine Änderung des Wahlgesetzes schaffte die letzte Spur des Privilegs des Eigentums in politischen Dingen ab, indem es den Grundbesitzer das Recht nahm, welches ihnen gestattet hatte, entweder dort zu wählen, wo ihr Grundbesitz lag oder da, wo sie ihren Wohnsitz hatten. Dies war der Ab- schluß des vollständig gleichen allgemeinen Wahlrechts.

Zu Beginn dieses Jahres hatte der Arbeitsminister dem das Gesetz über die obligatorischen Einigungsämter u. a. m. zu ver- danken war, Mr. Reeves die wichtige Stellung als Generalagent für Neuseeland in London übernommen, die er noch heute inne hat- Das Portefeuille des Arbeitsministeriums ging an Mr. Seddon über, der heute noch an der Spitze dieses Departements steht.

Gegen Ende des Jahres 1 896 fand wieder eine allgemeine Wahl statt, die zugleich einen der kritischsten Punkte in der Geschichte der liberalen Partei bezeichnet. Aus ihrer einigermaßen schwer- fälligen Majorität hatte sich ein linker Flügel ausgeschieden, haupt- sächlich bestehend aus Radikalen und Unzufriedenen, dem es jeden- falls nicht an Tüchtigkeit mangelte, die aber mit einem guten Teil von Verschrobenheit durchsetzt war. Die eigentliche Oppositions- partei machte sich, indem sie sich auf verschiedene angebliche Sünden der Verwaltung berief, zu einem starken Widerstand bereit. Trotz alledem ging die Regierung aus dem Kampfe mit einer wenn auch stark reduzierten Majorität hervor, die jedoch zur Führung der Geschäfte vollständig ausreichte; der linke Flügel war in den Wahlen fast gänzlich in die Brüche gegangen.

Das neue Parlament widmete sich im Jahre 1897 mit einem bedeutenden Aufwand von Zeit und Energie einem Altersversorgungs-

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gesetz, welches jedoch vom Oberhaus verworfen wurde. Im fol- genden Jahre wurde dasselbe Gesetz nochmals von der Regierung eingebracht, und nach langen und schwierigen Kämpfen, welche bedeutende Änderungen zur Folge hatten, im Unterhaus ange- nommen. Im I^aufe der letzten Jahre hatte die Regierung nach und nach so viele ihrer Anhänger zu Mitgliedern des Oberhauses ernannt, daß die Parteien sich hier so ziemlich die Wage hielten; trotzdem waren die Gegner des Gesetzes noch stark genug. Die Sache ging jedoch sehr zahm aus, indem der Präsident des Ober- hauses den Gesetzentwurf als einen finanziellen bezeichnete, der verfassungsgemäß im Oberhaus nicht abgeändert werden dürfte, sondern in der vorliegenden Form anzunehmen oder zu ver- werfen sei. Die Folge war die Annahme des Gesetzes, welches die erste Altersversicherung ohne Beiträge der versicherten Per- sonen darstellt In derselben Legislaturperiode wurde auch ein Gesetz üher die Reform des Kommunalwahlrechts perfekt, welches dasselbe auf die Höhe des englischen Wahlrechtes erhob. Die Kommunalpolitik war bis dahin ziemlich vernachlässigt worden, da die Reformpartei ihre ganze Kraft der staatlichen Gesetzgebung gewidmet hatte; auch heute noch ist das Interesse für kommunale Angelegenheiten ein weit geringeres als dasjenige für staatliche Maßnahmen.

In demselben Parlament (1897—1899) wurde noch ein Gesetz erlassen, welches die Sonntagsarbeit in Bergwerken verbot, weil die Bergwerksgesellschaften nach und nach den sonntäglichen Ruhetag für sich in Anspruch genommen hatten; ferner ein Ge- setz , welches die Errichtung genügender Schutzhäuser für die Schaf- scherer auf den großen Schafzüchtereien vorschrieb, sodann ein Ge- setz, welches das im Oktober gefeierte Arbeitsfest zu einem öffent- lichen Feiertag machte; endlich ein Gesetz, das den Unternehmern verbot von den Lohnzahlungen Abzüge für Unfallversicherung zu machen, ein Gesetz, welches jedoch teilweise nur fakultativ ist.

Die Regierungsmajorität war gegen Ende der parlamentarischen Session allmählich stark zusammengeschrumpft und die Hoffnungen der Opposition wurden neu belebt. Die Wähler blieben jedoch dem fortschrittlichen Programme treu und nach der Wahl, die Ende 1899 stattfand, sah sich die Regierung wiederum an der Spitze einer Majorität, welche der am Beginne der Session 1896 ungefähr gleich war.

Das neue Parlament beschäftigte sich im Jahre 1900 mit einem

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Gesetzentwurf über die Entschädigung von Arbeitern für Unfälle usw. In der Form, in welcher dieser Entwurf Gesetz wurde, kann er als sehr weitgehend angesehen werden. Da der Wortlaut es zweifel- haft erscheinen ließ, ob auch die ländlichen Arbeiter unter seine Bestimmungen fielen, so wurden dieselben 1902 ausdrücklich ein- bezogen. Es sei hier erwähnt, daß bereits 1899 die Errichtung «ines staatlichen Unfallversicherungamtes erfolgt war, hauptsächlich um die Versicherung desjenigen Risikos zu ermöglichen, welches das Gesetz den Arbeitgebern für Unfälle ihrer Arbeiter auferlegt hatte. Im Jahre 1900 wurde ferner ein Gesetz erlassen, welches die Zahlung bestimmter Minimallöhne bei allen von öffentlichen Körperschaften vergebenen Submissionen vorschrieb.

In demselben Jahre wurde der Landwirtschaftsminister John Mc Kenzie durch Krankheit genötigt sein Amt niederzulegen; er starb im Jahre 1901, nachdem er wie vor ihm Ballance und Atkinson seine Gesundheit dem Staatsdienst geopfert hatte.

Das Jahr 1901 brachte ein Gesetz, durch welches die Regierung in den Stand gesetzt wurde, Kohlenbergwerke zu erwerben und zu betreiben. Es sollten in erster Linie die Bedürfnisse der Staats- eisenbahn und Staatsdampfer hierdurch befriedigt werden, etwaige Überschüsse dürfen auf dem Markt verkauft werden; die Absicht war, ein drohendes Kohlenmonopol zu verhindern.

Im Jahre 1902 ist nur ein Gesetz über Beaufsichtigung von Maschinen zu erwähnen, welches eine Anzahl früherer Bestimmungen konsolidierte. Das neue Parlament (1900 1902) hat sich weniger mit neuen Maßnahmen als vielmehr mit dem Ausbau der alten be- faßt, es wurde besonders die Fabrikgesetzgebung und diejenige über die Einigungsämter weiter ausgebaut, wobei die letzteren von der Opposition stark angegriffen wurden.

Am Schlüsse des Jahres 1902 gelang es der liberalen Partei, zum vierten Male siegreich aus der allgemeinen Wahl hervorzugehen, ihre Majorität stieg sogar unerwarteterweise auf die Höhe der bis dahin unerreichten von 1893. Das neue Parlament ist dasjenige, welches heute im Amte ist. Es hat bereits gute Arbeit geleistet : das Arbeitsamt wurde gesetzlich konstituiert und ihm die Befug- nisse verliehen, deren es zu seiner Arbeit bedarf. Es steht unter der Leitung von E. Tregear, der es bereits mit so großem Erfolg in seiner früheren Form geleitet hatte. Es mag sonderbar er- scheinen, daß man diesem so wichtigen Amte erst jetzt eine gesetz- liche Basis gab; man muß jedoch bedenken, daß bei seiner Ein- Archiv für Sozialwissemchaft u. Soiialpolitik. I. ( A. f. sox. G. u. St. XIX.) 3. 3&

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richtung die Arbeiterschutzgesetzgebung noch in den Kinderschuher» steckte und die Regierung, die damals ihrer Majorität durchaus, nicht sicher war, hielt es für richtiger dies so viel angefeindete Amt nicht den Angriffen in der Kammer auszusetzen. Später war mar» zufrieden, keine Änderungen zu machen, jetzt aber ist auch dieses Amt in den Verwaltungskörper der Kolonie fest eingegliedert, so daß auch ein reaktionäres Ministerium ihm nicht viel schaden kann. Ein sozialistisches Gepräge trägt die Gesetzgebung über staatliche Feuerversicherung, die schon seit Jahren zur Diskussion gestanden hat. Sie wird jedenfalls dazu beitragen, daß kein Syndikat der Versicherungsgesellschaften die Prämien allzusehr in die Höhe treiben kann; dem Widerstand der Gesellschaften ist es zu verdanken, daß diese Maßregel erst jetzt zur Durchführung gelangte. Die Regierung ist zurzeit mit der Organisation dieses neuen Amtes beschäftigt. Durch das Gesetz über den Export von Landesprodukten sowie durch dasjenige gegen die Schädlinge in den Obstplantagen usw. erhielt die Regierung eine weitgehende Kontrolle über den Ausfuhr- handel; sie hat jetzt genügende Befugnisse um die Ausrottung von Schädlingen der Obstindustrie in die Wege zu leiten. Ein weiteres Gesetz gab der Regierung einen Anteil und die Kontrolle über die Bank von Neuseeland, wir werden hierauf noch zurückkommen.

Wir haben hiermit die wichtigsten Maßnahmen des neuen Re- gimes bis auf den heutigen Tag Revue passieren lassen ; es ist selbst- verständlich, daß die besprochenen Maßnahmen nur einen geringen Teil der Gesetze und Verordnungen umfassen, die während dieser Periode erlassen wurden und unter denen sich manche interessante halbsozialistischen Maßnahmen befinden. Zu erwähnen wäre viel* leicht noch die imperialistische Politik der liberalen Regierung, be- sonders die tatkräftige Unterstützung, die dem Mutterlande während des Transvaalkrieges zuteil wurde und ebenso die Schaffung eines Zolltarifes, durch welchen Großbritannien eine bevorzugte Stellung eingeräumt wird. Neuseeland hat hierdurch gezeigt, daß sich eine imperialistische Politik auf breiter Grundlage wohl vereinigen läßt mit der Durchführung weitgehendster sozialer Reformen im Innern.

2. Der wirtschaftliche Aufschwung.

Wenn wir die Wirkungen der geschilderten Politik untersuchen wollen, so ist vor allem zu sagen, daß Neuseeland sich während der letzten Jahre eines allgemeinen Wohlergehens erfreut hat und

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daß die Kolonie sich in einer günstigen Lage befindet Das müssen selbst die erbittertsten Gegner der liberalen Regierung zugeben. Seit dem Beginn des neuen Regimes im Jahre 1891 ist der Wert der in der Kolonie hergestellten Fabrikate von 8 auf 17 Mill. £ gestiegen; der Außenhandel von 16 auf 27 Mill. £, die Sparkassen- einlagen von 3 auf 8 Mill., die Erträgnisse der Einkommensteuer von 67000 £ auf 200000 £. Die staatlichen Einkünfte sind in ständiger Zunahme begriffen und werfen seit Jahren Überschüsse ab» die hauptsächlich zu öffentlichen Bauten verwendet werden ; die Be- siedelung des Landes ist entsprechend dichter geworden und die Arbeitslosigkeit hat sich in engen Grenzen gehalten.

Die Zunahme des Volksreichtums ist nicht das Resultat einer starken Bevölkerungsvermehrung durch Einwanderung oder Geburten- überschuß, sondern ist vielmehr einer gesteigerten Produktivität zu verdanken. Im Jahre 1902 schätzte man das Privatvermögen per Kopf im Durchschnitt auf 297 £ gegen 232 £ im Jahre 1893. Zahlen wie die obigen können natürlich ein sehr irreführendes Bild der Lage eines Volkes geben; aber man darf wohl behaupten, daß in Neuseeland die produzierende Bevölkerung sowohl die Lohn- arbeiter wie die Bauern sich einen großen Teil dieses zahlen- mäßig dargestellten Zuwachses gesichert haben und daß die Ver- teilung tatsächlich eine einigermaßen gerechte ist. Dies ist zum großen Teil der Gesetzgebung des neuen Regimes zu verdanken, die die Monopolisierung des Grundbesitzes eingeschränkt und die den Arbeitern durch die Wirkungen des Einigungsamtes und ähn- licher Gesetze eine bessere Bezahlung gesichert hat.

Betrachten wir die Zunahme des Wohlstandes ohne Rücksicht auf seine Verteilung, so scheint es fast unnötig auf die befruchtende Wirkung der liberalen Politik hinzuweisen, die eine dichtere Be- siedelung förderte, billiges Geld und sachverständigen Rat für Meliorationen schaffte, den Staatseisenbahnbetrieb nach den Wün- schen der Produzenten gestaltete und den Exporthandel über- wachte, lassen wir uns mit diesem Hinweis auf den Anteil der liberalen Politik an dem Gedeihen des lindes genügen. Andere Faktoren sollen nicht vergessen werden unter diesen ist vor allem zu erwähnen die Möglichkeit, leicht verderbliche Nahrungs- mittel in Kühlräumen auf weite Strecken zu transportieren, des weiteren die günstigen Preise, welche die neuseeländischen land- wirtschaftlichen Produkte auf dem Weltmarkte erzielt haben.

Da Neuseeland auf den Zufluß fremder Kapitalien angewiesen

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ist, so muß es mehr exportieren als importieren, um seinen Ver- pflichtungen nachkommen zu können. Bis jetzt sind Ackerbau und Viehzucht die Haupterwerbsquellen des Landes. Für den Export kommen vor allem Wolle, gefrorenes Fleisch sowie Butter und Käse in Frage, die gewerbliche Produktion (besonders die Herstellung von gebrauchsfertigen Gegenständen) kommt erst in zweiter Reihe, nimmt aber unter der Herrschaft des Schutzzolles ständig zu, doch kommen ihre Erzeugnisse nur auf die lokalen Märkte. Obgleich der Goldexport ziemlich beträchtlich ist, so ruht doch die Gold- produktion Neuseelands auf keiner durchaus sicheren Basis und mit einigen Ausnahmen ist, in Ansehung des zu verzinsenden Kapitals, der Ertrag der Minen zu ungleich und unzuverlässig, um den Goldexport in der Handelsbilanz der Kolonie in den Vorder- grund zu stellen. Die Kohlenproduktion genügt eben für den lokalen Konsum; die Eisenindustrie ist noch unentwickelt.

So ist die Kolonie hauptsächlich auf den Verkauf landwirt- schaftlicher Produkte angewiesen. Als vor etwa 30 Jahren der große Preissturz in Wolle und Weizen stattfand, wurde Neuseeland hart getroffen und eine allgemeine Depression trat ein. Gerade zu der ungünstigen Zeit, anfangs der 80 er Jahre, wurde die künstliche Konservierung durch Kühlmaschinen auf den überseeischen Dampfern eingeführt und dadurch die Antipoden in den Stand gesetzt, die Versorgung des großen englischen Marktes mit frischem Fleisch usw. zu übernehmen. Die ganze Situation war verändert. Fleisch, Butter u. v. w. konnten nur gefroren ausgeführt werden und der Handel mit diesen Produkten hat in den letzten Jahren zum Segen Neuseelands ungeheuer zugenommen. Auf den Überscemärkten womit in Neuseeland tatsächlich England gemeint ist haben die Produzenten durchschnittlich recht lohnende Preise erzielt, besonders in den letzten zwei oder drei Jahren. Zeiten mit niederen Preisen wären natürlich ein negativer Faktor in der Entwicklung der Kolonie.

3. Die gewerblichen Schiedsgerichte.1)

Wir sind nun genügend orientiert um einige der wichtigsten den Grundbesitz und die Arbeitsverhältnisse betreffenden Gesetze näher zu betrachten. In der Gruppe der letzteren ist unstreitig das

*) Vgl. die Ahhandlung von \V. P. Recvcs: „Die obligatorischen Schieds- gerichte in einigen englischen Kolonien"; in diesem Archiv Bd. XI, S. 635—57.

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wichtigste das Gesetz über die gewerblichen Einigungsämter und Schiedsgerichte (Industrial Conciliation and Arbitration Act), oder wie wir es kürzer und bezeichnender nennen können, das Gesetz über die obligatorischen Schiedsgerichte, denn der Zwang ist sein vitales Prinzip. Obgleich dieses neuseeländische Gesetz den Nationalökonomen bekannt sein wird, sollen hier seine Hauptpunkte kurz aufgeführt werden. Das Gesetz hat zur Voraussetzung das Vorhandensein gewerblicher Vereinigungen, welche aus zwei oder mehr Unternehmern oder aus 7 oder mehr Arbeitern bestehen, die behördlich eingetragen werden können und dann den Be- stimmungen des Gesetzes unterstehen. Jede solche Vereinigung kann, wenn sie bestimmte Bedingungen erfüllt hat, einen Streitfall vor das für den industriellen Distrikt bestehende Einigungsamt bringen. Wenn das Amt keine Einigung zustande bringt, kann der Fall vor das Schiedsgericht gebracht werden, dessen Entschei- dung Rechtskraft hat wie diejenige des obersten Gerichtshofes. Die Entscheidung des Schiedsgerichtes kann gegen einen einge- tragenen Verein von Arbeitgebern oder Arbeitnehmern oder gegen einen einzelnen Unternehmer bis zu einer Summe von 500 £ an- gerufen werden.

Das Gesetz ist, wie schon erwähnt, 1894 angenommen worden; doch dauerte es einige Zeit, bis die Arbeiter seine Tragweite er- kannt und noch länger währte es, bis die Unternehmer sich in die neue Sachlage fanden und sich demgemäß organisierten. In den letzten Jahren haben indessen die Arbeiter ihre anfängliche Zu- rückhaltung reichlich wieder gut gemacht, ja es ist ihnen sogar, selbst von Freunden des Gesetzes, die an seinem Zustandekommen stark beteiligt waren, vorgeworfen worden, daß sie zu weit in ihren Forderungen gingen. Doch kann man dies ruhig für eine vorüber- gehende Phase halten. Das Gesetz sollte vor allem Streiks und Aussperrungen, die sich aus Streitigkeiten zwischen Arbeit und Kapital entwickeln, verhindern; die Schiedsgerichte sind aber in praxi die Instanz geworden, die über Löhne, Arbeitszeiten und alle Arbeitsbedingungen in der ganzen Industrie entscheidet und die gelegentlich die geheiligte Lehre von Angebot und [Vachfrage ziemlich respektlos behandelt Wir heben hervor, daß die zur- zeit im Gesetz enthaltene Definition von „Arbeiter" so lautet : jede Person jeglichen Alters und Geschlechts, die von irgend einem Unternehmer gedungen ist, gelernte oder ungelernte, Hand- oder Schreibarbeit für Lohn oder Entgeld zu verrichten." Für fast

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jedes Gewerbe in der Kolonie besteht so eine besondere Lohn- und Arbeitsordnung in Gestalt eines gesetzlich zustande gekommenen Einigungsbeschlusses oder Schiedsspruches, ihre Zahl beträgt zur Zeit über 200.

Während tatsächlich alle Gewerbe in der Kolonie unter dem Gesetz organisiert sind, überwiegen doch die unorganisierten Ar- beiter; auch bei den Unternehmern verhält es sich ähnlich. Da das ursprüngliche Gesetz die Bildung gewerblicher Vereinigungen unterstützen wollte, so hat das Schiedsgericht den Ansprüchen der organisierten Arbeiter auf Bevorzugung gegenüber den nichtorgani- sierten meistens Rechnung getragen. Bedenkt man, daß die un- organisierten Arbeiter bei jeder anderen Gelegenheit die von ihren organisierten Genossen erkämpften Vorteile mitgenießen, so scheint dies nur gerecht und vernünftig.

Die Lage des Arbeiterstandes hat sich durch die Wirkungen des Gesetzes erheblich verbessert. Wo die Arbeiter nicht alles erreicht haben, was sie wollten, haben sie doch meist einen guten Teil ihrer Forderungen durchgesetzt. Doch darf man nicht glauben, daß die Arbeiter nur den Mechanismus des Gesetzes in Bewegung zu setzen brauchen, um erhöhte Löhne oder andere Vorteile zu er- langen. Um einzelne, gegenteilige Beispiele anzuführen, wurden Minenarbeiter in den Auckland- Goldfeldern ebenso wie die Arbeiter an den Setzmaschinen von dem Schiedsgericht energisch abgewiesen. Ja selbst Herabsetzung der Löhne oder dementsprechende Maß- nahmen sind vorgekommen. In solchen Fällen haben sich die Arbeiter dem Schiedsspruch loyal unterworfen und wenn auch im Ärger drohende Äußerungen gefallen sind, hat die Vernunft zuletzt doch immer die Oberhand behalten. Desgleichen haben die Arbeit- geber das Gesetz und seine Bestimmungen respektiert.

So sind die pessimistischen Vorhersagungen der kapitalistischen Kritiker des Gesetzes nicht in Erfüllung gegangen: Das Gesetz sollte die Industrie lähmen; wir rinden aber, daß, während 1895, als das Gesetz in Kraft trat 29 879 Fabrikarbeiter in der Kolonie gezahlt wurden, ihre Zahl im Jahre 1903 59049 betrug, außer den etwa 2200 Arbeitern der Regierungswerkstätten. Solche Zahlen zugleich mit den oben angeführten Zahlen über den allgemeinen Wohlstand sprechen für sich selbst.

Neuerdings ist vielfach behauptet worden, daß das Gesetz den Arbeitern nicht wirklichen Nutzen gebrachr habe, da es eine Ver- teuerung der Lebenshaltung verursacht habe. In den letzten zwei

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bis drei Jahren ist unleugbar eine starke Preissteigerung eingetreten, doch können wir der Wirkung des Gesetzes nach dieser Richtung hin keinen so starken Einfluß einräumen. Der Durchschnittskritiker übersieht andere handgreifliche Ursachen, vor allem die große Zu- nahme des Produktenexportes. Wenn die Erträgnisse der Kolonie an Nahrungsmitteln wie Fleisch, Butter, Käse mit Profit exportiert werden können, anstatt wie früher den lokalen Markt zu über- schwemmen, versteht es sich von selbst, daß eine Preissteigerung auf dem letzteren eintreten muß. Auch hat eine solche Zu- nahme des Wohlstandes, wie die, deren sich die Kolonie nun seit Jahren erfreut, gewöhnlich überall ein Anwachsen der Lebenskosten zur Folge. Die Mieten sind z. B. in Neuseeland stark in die Höhe gegangen und zwar viel stärker, als die Erhöhung der Baukosten durch Entscheidungen des Schiedsgerichtes auch nur entfernt be- tragen könnte. Ferner ist auch zu bemerken, daß nicht alle Güter, deren Produktion sich unter der Herrschaft der schiedsgerichtlichen Entscheidungen vollzieht, teurer geworden sind. Dies zeigt ebenfalls, daß andere Faktoren die Verteuerung der Lebenshaltung bedingen. Welches auch immer die Ursachen dieser Verteuerung sein mögen, so behaupten die organisierten Arbeiter doch, daß das Gesetz ihnen Vorteile gebracht habe, die Löhne sind eben noch stärker gestiegen als die Preise.

Das Schiedsgerichtgesetz ist stetig verbessert und sein Wirkungs- kreis mit zunehmender Erfahrung vergrößert worden. Das Gesetz wurde 1900 kodifiziert, doch erhielt es 1901 und 1903 weitere Zu- sätze. Die Einigungsämter waren eine Zeitlang etwas in Mißkredit geraten, da sie wenig freiwillige Übereinkommen zustande brachten und die Tätigkeit eines derselben sogar berechtigte Mißbilligung hervor- rief. Das Zusatzgesetz von 1901 gab jeder Partei in einem gewerb- lichen Streit das Recht, unter Umgehung des zuständigen Einigungs- amtes sogleich das Schiedsgericht anzurufen. Eine Folge davon war die Geschäftsüberhäufung des Schiedsgerichtes und die An- sichten über diese Ausschaltung der Einigungsämter sind noch geteilt. Die Freunde der Einigungsämter weisen unter anderem darauf hin, daß selbst wo sie keine Einigung erzielten, die Ämter doch wertvolle Arbeit leisteten, indem sie das Material beschafften und sichteten und so dem Schiedsgericht viel fruchtlose Mühe ersparten. Jetzt kann das ordentliche Schiedsgericht auch noch auf andere Weise ausgeschaltet werden, indem nämlich ein Fall, auf Wunsch einer der Parteien einem besonderen, nur für diese Gelegenheit

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vorübergehend konstituierten und aus Sachverständigen zusammen- gesetzten Einigungsamt vorgelegt werden kann.

Andere wichtige Zusätze zu dem Gesetz unterstellen die auto- matische Ausdehnung der Schiedssprüche auf ganze industrielle Distrikte resp. ihre Beschränkung auf gewisse Teile desselben der Entscheidung des Schiedsgerichtshofes. Um der schwierigen Frage, wie der Konkurrenz zwischen zwei Distrikten abzuhelfen sei, zu begegnen, hat der Gerichtshof die Macht erhalten, den Schieds- spruch, der in einem Distrikt gefällt wurde, auf andere mit jenem konkurrierende auszudehnen.

Die Regierung von Neuseeland hat sich mit Konsequenz und nicht ohne gute Gründe gegen die Einbeziehung der Staatsange- stellten unter die Gerichtsbarkeit der Schiedsgerichte gewehrt. Diese ablehnende Haltung mußte gegen den fortschrittlichen Flügel der Liberalen und seltsamerweise auch gegen die Opposition verteidigt werden. Die letztere hatte aber wohl nur die Absicht, die Re- gierung in Verlegenheit zu setzen. Es ist indessen bemerkenswert, daß die Regierung in einem Falle nachgab: nach dem Gesetz von 1900 gilt die vereinigte Gesellschaft der Eisenbahnangestellten als eingetragener Gewerkverein und der Eisenbahnminister ihm gegen- über als Unternehmer. Diese Gesetzgebung würde einen Streik, wie denjenigen der vor kurzem in Ungarn den Verkehr hemmte und so bedauerliche Resultate zeigte, in Neuseeland auf alle Zeiten un- möglich machen. Die betr. Paragraphen des Gesetzes sind jedoch bis jetzt noch nicht in Kraft getreten.

Die wichtigste neuerliche Entscheidung des Schiedsgerichtes bestimmt, daß verabredete Handlungen beider Parteien, wie Streiks oder Aussperrungen, nach dem Gesetz strafbar sind. Früher hatte man angenommen, daß solche Handlungen nur strafbar seien, so- lange der Streitfall bei Gericht anhängig war, aber nicht nach der Fällung des Urteils. Jetzt kann man wohl ohne Einschränkung sagen, daß in der organisierten Industrie Neuseelands Streiks und Aussperrungen ungesetzlich sind. Die obige Entscheidung wurde im Zusammenhang mit einem Streik in der Möbelindustrie in Auck- land, der viel Aufsehen erregte, gefällt. Das Gesetz hat aber seit seinem Bestehen den Streiks und Aussperrungen organisierter Ar- beiter tatsächlich schon ein Ende gemacht; ein oder zwei un- bedeutende Arbeitsniederlegungen haben bei den unorganisierten Arbeitern stattgefunden, sie verdienen aber nicht der Erwähnung.

Das Gesetz über Schiedsgerichte hat das Glück gehabt, sich in

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Neuseeland unter günstigen Bedingungen einzubürgern. Eine ver- ständnisvolle Verwaltung und die günstige parlamentarische Lage haben ihm über die ersten kritischen Stadien hinweggeholfen. Seit- dem es in Kraft ist, haben Handel und Gewerbe zugenommen, während zugleich die Produkte Neuseelands im Preise stiegen. Des weiteren hat es den Vorteil, in einem gut geleiteten, die Ge- setze achtenden Staatswesen gehandhabt zu werden, dessen Ein- wohner einen stark entwickelten Bürgersinn besitzen.

Wir können hier nicht entscheiden, ob obligatorische Schieds- gerichte nach dem Neuseeländischen System in älteren und volks- reicheren Ländern denselben Erfolg haben würden. Das beste Zeugnis ist dem neuseeländischen System von Neusüdwales und Westaustralien ausgestellt worden, die nach seinem Vorbild ähn- liche Gesetze erlassen haben. Die Vereinigten Staaten von Australien bereiten ein Gesetz über Schiedsgerichte vor und Victoria scheint seine Lohnämter durch Schiedsgerichte ersetzen zu wollen.

Alles in allem kann man ruhig sagen, daß das Gesetz über Schiedsgerichte in Neuseeland mit bemerkenswertem Erfolg funk- tioniert hat und noch funktioniert

4. Die Arbeiterschutzgesetzgebung.

Die Fabriken. In seinem im Jahre 1901 kodifizierten Fabrik- gesetze besitzt Neuseeland eine ausgezeichnete und fortgeschrittene Regelung dieser Verhältnisse. Nur wenige Arbeiter fallen nicht unter das Gesetz, da das letztere als Fabrik oder Werkstätte jeden Ort, wo zwei oder mehrere Personen für Lohn gewerblich ar- beiten, bezeichnet. Kein Kind unter 14 Jahren darf in Fabriken arbeiten. Der Schulgesetzgebung der Kolonie entsprechend muß jedes Kind, ehe es in eine Fabrik geht, die 4. Klasse der staatlichen Schule besucht oder ein entsprechendes Examen abgelegt haben. Die Arbeit von jungen Leuten beiderlei Geschlechts und von Frauen in gefahrlichen oder gesundheitschädlichen Gewerben unterliegt weitgehenden Beschränkungen. Die Arbeitswoche für Frauen und Knaben unter 16 Jahren beträgt 45 Stunden; wird über diese Zeit hinaus gearbeitet, so müssen Uberstunden bezahlt werden, doch ist auch die Zahl der jährlichen gestatteten Uberstunden beschränkt. Für Männer ist keine Maximalarbeitszeit vorgeschrieben, doch muß die Arbeitszeit, die 48 Stunden in der Woche überschreitet, be- sonders bezahlt werden. Gewöhnlich sind die Arbeitsstunden so

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eingerichtet, daß der Samstag ein halber Feiertag ist. Knaben und Mädchen dürfen unter keinerlei Vorwand ohne Lohn beschäftigt werden, der Lohn darf nicht unter 5 Shilling per Woche betragen. Dem „Schwitzsystem" ist durch das Verbot des Zwischenmeister- wesens in der Bekleidungsindustrie so ziemlich ein Ende gesetzt worden, und die Vorschrift, daß Kleidungsstücke usw., welche in Privathäusern oder nicht eingetragenen Werkstätten angefertigt worden sind, ein sichtbares Abzeichen tragen müssen, haben dem System den letzten Stoß versetzt; so wird auch das Publikum vor Ansteckungsgefahr geschützt. Für sanitäre und hygienische Arbeits- bedingungen, desgleichen für Unfallschutz wird aufs beste gesorgt.

Die Fabrikgesetzgebung hat sich bei Arbeitgebern und Arbeit- nehmern vollkommen eingebürgert, sie ist auch nicht wie das Ge- setz über Schiedsgerichte ein Gegenstand der öffentlichen Dis- kussion. Es ist daher auch an dieser Stelle nicht nötig, näher auf sie einzugehen.

Kaufläden und kaufmännische Angestellte. Das Gesetz über Kaufläden und kaufmännische Angestellte hat, nach- dem es 1894 in Kraft getreten war, mehrere Jahre lang sehr viel von sich reden gemacht. Dies erklärt sich aus der Tatsache, daß der Geltungsbereich des Gesetzes, der Detailhandel, sich in steter Fühlung mit dem großen Publikum befindet. Auch ist der Durch- schnittsladenbesitzer ein empfindliches Individuum, das die Gabe zu haben scheint, über ihm angeblich zugefügte Benachteiligungen mehr Geschrei zu erheben als die meisten anderen Sterblichen. Doch ist man allmählich über dieses Stadium hinausgekommen; die Beteiligten haben sich nach und nach an die neuen Vor- schriften gewöhnt und das Gesetz funktioniert jetzt ohne erhebliche Reibung. Die wichtigste Bestimmung des Gesetzes schreibt einen wöchentlich halben Feiertag vor, den jede Stadt selbst bestimmen kann und an dem die Läden geschlossen sein müssen. Es sind natürlich Ausnahmen vorgesehen, aber alle Angestellten müssen an irgend einem Wochentag einen halben Feiertag erhalten. Als „An- gestellte" werden alle im Detailhandel beschäftigten Personen be- zeichnet, auch diejenigen, welche die Waren abliefern oder die Auf- träge einsammeln. Abgesehen von den halben Feiertagen bringt das Gesetz den kaufmännischen Angestellten manche der Wohl- taten, welche die Fabrikgesetzgebung den Arbeitern verschafft hat, hygienische Arbeitsbedingungen, Sitzgelegenheiten usw. sind vor- geschrieben. Ein früher Ladenschluß ist durch das Gesetz nicht

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vorgesehen, doch dürfen Frauen und junge Leute beiderlei Ge- schlechts unter 1 8 Jahren nicht mehr als 52 Stunden in der Woche arbeiten, nur während der Inventuraufnahme sind Ausnahmen hier- von gestattet. Allen Angestellten muß mindestens eine Stunde zur Einnahme der Mittagsmahlzeit gewährt werden.

Bureaus sollen um 5 Uhr geschlossen werden außer an Sonn- abenden, wo um 1 Uhr geschlossen wird; natürlich sind auch hier Ausnahmen vorgesehen, so z. B. beim Bücherabschluß. Das Gesetz ist jedoch in den Bureaus nie streng durchgeführt worden; vor einiger Zeit zeigte man in Wellington in dieser Beziehung be- sonderen Eifer, doch erregte dies einen Sturm der Entrüstung. Die Mehrzahl der Angestellten wünschte offenbar ein Eingreifen der Gesetzgebung nicht, da sie glaubten, sich besser zu stehen, wenn sie sich direkt mit ihren Arbeitgebern auseinandersetzten, im all- gemeinen sind die Bureaustunden und sonstigen Gepflogenheiten (inkl. des allgemein gewährten jährlichen Urlaubs) recht günstige, so daß die meisten, die dem Gesetz widerstrebten, selber nie unter dem Druck ungünstiger Bedingungen gestanden hatten. Am schlechtesten sind die Verhältnisse bei den Banken, welche von ihren Angestellten viel Nachtarbeit ohne Extrabezahlung fordern.

Das Arbeitsamt ist bestrebt, die Arbeitsbedingung der in Läden Angestellten möglichst mit den in Fabriken und Werkstätten vor- geschriebenen in Ubereinstimmung zu bringen, besonders soweit die Arbeitszeit für Frauen und Jugendliche in Betracht kommt. Man sieht nicht ein, warum in den Kautläden 52 Stunden ge- arbeitet werden soll, wenn die Arbeitszeit in Fabriken 45 Stunden beträgt, besonders da die Arbeit in den ersteren oft schwerer ist als diejenige in manchen Fabriken. Auch die Festsetzung einer Minimalaltersgrenze von 14 Jahren für Ladenbedienstete, sowie die- jenige eines Minimallohnes wurde vorgeschlagen; ein Gesetz- entwurf, der eine Reihe von diesen Bestimmungen enthielt, wurde im vorigen Jahre eingebracht, gelangte aber infolge der Über- häufung mit Geschäften nicht zur Verhandlung, ein entsprechendes Gesetz wird wahrscheinlich in diesem Jahre erlassen werden.

Das Gesetz über Kaufläden ebenso wie das Fabrikgesetz er- heischen, soweit die Beaufsichtigung in Betracht kommt, nicht die Anstellung von besonderen Aufsichtsbeamten. In den kleineren Städten und auf dem Lande geschieht die Beaufsichtigung durch bestimmte Polizeibeamte im Nebenamt, die Polizei ermangelt in Neuseeland des militärischen Charakters, den sie auf dem euro-

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päischen Kontinente trägt. Sie steht in freundlicher Beziehung zu dem Publikum und eignet sich, was Intelligenz und Befähigung an- betrifft, sehr wohl zur Ausübung von Pflichten wie die obigen.

Der Arbeitstag. Die drei wichtigen Gesetze, mit denen wir uns soeben beschäftigt haben: Einigungsämter, Fabrik- und Ladenaufsicht beschäftigten sich sämtlich direkt oder indirekt mit der Länge der Arbeitszeit; ein Gesetz, welches nur auf diese Be- zug hätte, existiert nicht. In den letzten zehn Jahren sind ver- schiedentlich Gesetzentwürfe über den Achtstundentag eingebracht worden, keiner von ihnen ist Gesetz geworden. Als Grund hat man die Abneigung der Regierung ihre eigenen Angestellten einem solchen Gesetze zu unterstellen angegeben, der wahre Grund ist jedoch, daß kein besonderes Bedürfnis für ein derartiges Gesetz vorhanden ist und daß selbst die Arbeiterpartei sich nicht be- sonders für ein solches interessiert. Und zwar deshalb, weil seit langen Jahren der gewohnheitsmäßige Achtstundentag das normale in den meisten Gewerben ist; dadurch daß das Fabrikgesetz be- stimmt, daß über 48 Stunden in der Woche hinausgehende Arbeit als Überzeit zu bezahlen sei, wird die Gewohnheit gesetzlich be- stätigt. Auch die Entscheidungen der Einigungsämter, die sich fast durchgehend auf die Regulierung der Arbeitszeit beziehen, nehmen den Achtstundentag als Basis. Das Resultat ist, daß mit wenigen Ausnahmen dieser den gewerblichen und anderen Arbeitern in Neuseeland auch gesetzlich so ziemlich gesichert ist Nur die Landarbeiter haben an diesen Vorteilen noch keinen Anteil; selbst Neuseeland hat bis jetzt die Lösung des schwierigen Problems der I>age der Landarbeiter noch nicht in Angriff genommen. Letztere haben auch selbst noch keine Schritte getan, um sich zu organi- sieren, trotzdem sind die Bedingungen, unter denen sie leben, keines- wegs besonders schlechte. Ihre Löhne und Lebenshaltung stehen über denjenigen ihrer europäischen Berufsgenossen, aber im Ver- gleich mit den gewerblichen Arbeitern der Kolonie stehen sie doch zurück. Der Grund hierfür liegt in der durch ihren Beruf er- zwungenen eigentümlichen Art der Lebensweise und der Arbeit, die auch für die sie beschäftigenden Bauern und Pächter gilt.

5. Die Landfrage.

Die Besteuerung des Grund und Bodens. Auf die große Bedeutung, welche der Landfrage für die Eroberung der

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politischen Macht seitens der liberalen Partei zukam, ist bereits oben hingewiesen worden; wir wollen hier zuerst auf die verschiedenen Stadien der Besteuerung des Grundwertes eingehen, deren Resultat in einem kombinierten Grundwert- und Einkommenveranlagungs- gesetze kodifiziert sind.

Die „gewöhnliche Grundsteuer" wird auf den unmeliorierten Wert („unimproved value") des Landes unter Abzug der Hypotheken- schulden erhoben; soweit die sich ergebende Summe weniger als 1 500 £ beträgt, bleiben weitere 500 £ steuerfrei. Die Steuerrate beträgt seit dem Bestehen der Steuer 1 d per £ (rund 4 %0).

Hypotheken unterliegen ebenfalls der Grundsteuer und zwar gilt der Hypotheken g 1 ä u b i g e r prinzipiell in der Höhe des Wertes der Hypothek als Eigentümer, doch hat er seit 1902 statt I d nur s/4 d vom £ zu zahlen. Zu der gewöhnlichen Grundsteuer kommt noch eine progressive hinzu, die von Be- sitzungen erhoben wird, deren unmeliorierter Wert 5000 £ oder mehr beträgt. Hypotheken dürfen natürlich bei dieser zweiten Steuer nicht nochmals abgezogen werden. Von 1893 bis 1902 betrug der Steuersatz für die Zuschlagsteuer V8 d Dei Steuersummen zwischen 5000 und 10 000 £ und stieg in Stufen von ljs d bis auf 2 d vom £ bei einem Steuerkapital von 210000 £ und darüber. Letztes Jahr wurden die Steuersätze vom Parlament revidiert; die Skala ist verfeinert worden und beginnt jetzt mit J/I€ d vom £ bei einem Wert von 5000 £ und steigt dann in Sechzehntel pence bis zu einem Maximum von 3 d, wenn die Steuersumme 210000 £ und darüber beträgt.

Alle Eigentümer, deren Land auf weniger als 500 £ unmelio- rierten Wert geschätzt wird, sind also vollständig von jeder Grund- wertsteuer befreit. So sind tatsächlich alle kleinen Grundbesitzer in den Städten steuerfrei ; und da auf dem Land in vielen Teilen der Kolonie der unmeliorierte Wert des Grund und Bodens ziemlich niedrig ist, so sind auch viele Bauern, die IOO 300 acres besitzen, in derselben günstigen Lage. Von ungefähr 1 15000 Grundbesitzern in der Kolonie werden nur etwa 18500 von der Steuer getroffen. Unter den von der Steuer Befreiten be- finden sich etwa 24000 ländliche Grundbesitzer, deren Besitz im ganzen einen unmeliorierten Wert von 4 500000 £ hat und 66726 Besitzer von städtischen Grundstücken im Wert von 6 500000 £. Dies repräsentiert für den Staat einen Einkommensverlust von etwa 45000 £, wobei der obenerwähnte Abzug, welchen die

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mittleren Grundbesitzer für die ersten 500 £ machen können, noch nicht eingerechnet ist. Abgesehen vom prinzipiellen Standpunkt indessen, liegt es auf der Hand, daß die Erhebung der Steuer von den kleinen Grundbesitzern im Vergleich zum Ertrage sehr kost- spielig sein würde. Die steuerzahlende Minderheit der Grund- besitzer kontrollieren zusammen Land im Wert von 50 60 Mill. so daß die Steuer auf wirklich leistungsfähige Schultern fällt. Die gewöhnliche Grundsteuer bringt jetzt ungefähr eine Jahreseinnahme von 220000 £ und die progressive Zusatzsteuer etwa 80000 j£*.

Die Absicht, welche man mit der geschilderten Besteuerung verfolgte, war einmal, den unverdienten Mehrzuwachs zu treffen und dann eine Aufteilung der in den ersten Dezennien entstandenen großen Besitzungen herbeizuführen ; hierfür rechnete man besonders auf die graduierte Zusatzsteuer. Eine 1 2 jährige Erfahrung hat aber gezeigt, daß die Steuer in dieser Beziehung wenig Erfolg gehabt hat. Die Zahl der allergrößten Güter hat allerdings etwas abge- nommen, aber dies ist hauptsächlich auf das Vorgehen der Re- gierung zurückzufuhren, die einige der größten Besitzer auskaufte. Die Steuer wird allerdings die Aufteilung und Veräußerung wert- voller brachliegender Ländereien beschleunigt haben, aber wo es sich um gute sorgfältig bebaute und ordentlich verwaltete Besitzungen handelte, haben die Besitzer die Steuer bezahlen können und ihre Ländereien festgehalten. Einige Grundbesitzer zahlen allein an Grundsteuer über 1000 £. jährlich und kommen doch voran. Wenn so die Wirkungen der Steuer nicht sehr ein- schneidende waren, so hat sie doch sehr heilsam gewirkt, wenigstens in den letzten 10 Jahren. Wir müssen nun abwarten, welchen Einfluß die neuerdings erhöhten Raten der höheren Stufen der progressiven Zusatzsteuer haben werden. Um das Steigen des un- verdienten Mehrzuwachses zu zeigen, können wir erwähnen, daß von 1891 1003 der Wert der Liegenschaften in Neuseeland, nach Abzug der Meliorationen von 75 Millionen auf 103 Millionen ge- stiegen ist. Wie schon erwähnt, hat das Parlament den Steuersatz für die gewöhnliche Grundsteuer, der jährlich festgesetzt wird, nie über den ursprünglichen Penny vom £ erhöht. Man hätte an- nehmen können, daß die Schraube bald fester angezogen, daß etwa ein zweiter Penny vom £ gefordert oder die steuerfreie Summe herabgesetzt worden wäre, um so mehr, als Henry Georges „Single- tax" Theorie in der Kolonie eine wachsende Zahl von Anhängern besitzt. Indessen zeigen die Tatsachen, wie wenig eine ökonomische

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Doktrin, selbst wenn sie im Prinzip richtig ist, das Volk und die Politiker beeinflußt; allerdings muß erwähnt werden, daß die kleinen und mittleren Grundbesitzer in der gesetzgebenden Körper- schaft stark vertreten sind.

Des weiteren hat die Kolonie niemals die Grundsteuer als Haupt- einnahmequelle betrachtet, denn diese liegt seit langem in den Zöllen. Die Industriearbeiter aber sind allgemein an der Auf- rechterhaltung des Zolltarifes interessiert und die freihändlerisch gesinnten Bauern fühlen, daß, wenn derselbe erheblich herabgesetzt würde, die Grundsteuer entsprechend steigen müßte. Aus der in- direkten Besteuerung (Zölle und Verbrauchsabgaben) fließen etwa drei Viertel des Staatseinkommens, aus der direkten Besteuerung (Grund-, Einkommen- und Stempelsteuer) nur ein Viertel. Das Einkommen aus den Zöllen ist in den letzten Jahren besonders stark gestiegen. So sind auch einige Zölle auf Thee, Kaffee, Kakao und dgl. durch die gegenwärtige Regierung herabgesetzt, oder ganz aufgehoben worden, ohne daß es nötig war, für den Ausfall Ersatz zu schaffen. Auch in anderer Beziehung sind Konzessionen ge- macht worden und doch hat das Einkommen der Kolonie in den letzten IO Jahren die Ausgaben beträchtlich überstiegen.

Jedenfalls scheint eine Erhöhung der gewöhnlichen Grundsteuer nicht in Aussicht zu stehen, die Verstärkung der Progression für die ganz großen Besitzungen hat aber allgemeinen Beifall gefunden. Selbstverständlich werden davon verhältnismäßig wenig Personen betroffen.

Ein anderer sehr populärer Zusatz zu der Grundsteuer hat die Extrabesteuerung der nicht im Lande wohnenden Grundbesitzer von 20 Proz. auf 50 Proz. erhöht, da man fand, daß die bisherige Belastung keinerlei Wirkung ausübte.

Es sei hier noch kurz erwähnt, daß die Einkommensteuer nur von Einkommen über 300 £ erhoben wird, diese Summe bleibt auch bei höherem Einkommen steuerfrei. Seit dem Bestehen der Steuer betrug die Rate 6 d. vom £ für die ersten versteuerbaren 1000 £ (2 Va Proz.) und 1 sh. für alles was 1000 / übersteigt (5 Proz.). Aktiengesellschaften und nicht im Lande wohnende Per- sonen zahlen 1 sh. per £ und dürfen keinerlei Abzüge machen. Die Einkommensteuer bringt etwa 200 000 £ jährlich ein, die Land- und Einkommensteuer zusammen 500 000 £.

Die Agrarverfassung. In Neuseeland werden zurzeit etwa 36000000 acres Land bewirtschaftet, davon etwa 16 Mill. von

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den Eigentümern; der Rest ist Pacht- und Erbpachtland und zwar gehören : 3 */» Mill. Privaten oder öffentlichen Körperschaften, 1 */4 Mill. den Eingeborenen und 1 5 Mill. dem Staat. Zu diesem letzteren gehören aber n Mill. acres von der Regierung verpach- tetes Weideland (große Strecken von rauhen, bergigen und ent- legenen Ländereien), es bleiben dann noch 4 Mill. acres staatl. Renten- und Erbpachtgüter auf Boden, der für dichtere Besicdelung geeignet ist.

Aus obigem ist ersichtlich, daß der Staat noch der größte Grundbesitzer ist; zu den erwähnten 15 Mill. acres kommen noch weitere Kronländereien, über die noch keine Verfügung getroffen ist. Unter der früheren Verwaltung wurden die Kronländereien stetig verringert und zwar ohne wirksame Vorschriften über die Aufteilung, über Meliorationen u. dgl. So gelangten die besten Ländereien in Privatbesitz. In den 80 er Jahren wurde ein Erb- pachtsystem mit periodischer Neufestsetzung der Pachtsumme fakul- tativ eingeführt, doch wurde eine Kaufklausel eingefügt, die es ziem- lich wirkungslos machte.

Das Gesetz über Grundbesitz von 1892 eröffnete eine neue Ära in der Verwaltung der Regierungsländereien. Nicht daß es etwa eine Umwälzung hervorgerufen und dem Weiterverkauf von Regierungsländereien ein Ende gesetzt hätte, aber es bewirkte eine ungeheuere Änderung zugunsten der bona fide Ansiedler. Es be- grenzte das Areal, das von einer Person vom Staat erworben oder gepachtet werden konnte, es stellte wirksame Bedingungen auf in bezug auf Ansiedelung und Melioration und machte so die Speku- lation und das Strohmännertum unmöglich. Bei den gewöhnlichen Kronländereien steht es dem Reflektanten frei, zu welcher Art von Eigentum er das Land erwerben will. Folgende drei Möglichkeiten sind vorhanden: I. Erwerb zu freiem Eigentum gegen Barbezahlung; das volle Eigentumsrecht wird aber erst erteilt, wenn gewisse Meliorationen vorgenommen worden sind. 2. Ansiedelung mit Vor- kaufsrecht, d. h. Pacht zu 5 Proz. des Wertes. Die Pacht dauert 25 Jahre mit dem Recht nach dem 10. Jahre das Land zu dem ur- sprünglichen Wert zu kaufen oder es auf Grund dieses Wertes in ein Erbpachtgut zu verwandeln. 3. Erbpacht (auf 999 Jahre) zu einem Pachtzins von 4 Proz. des ursprünglichen Wertes.

Dieses Erbpachtsystem war das vollständig neue an dem Ge- setze. Erhöhungen der Pacht sind ausgeschlossen und das in Verbcsserungen angelegte Kapital geht dem Ansiedler nicht ver-

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loren. Ferner ermöglicht es Verkauf, Verpfändung, Teilpacht und testamentarische Verfügung. Der Ansiedler wird tatsächlich zum Eigentümer, aber er braucht Kapital nur zu Melioriationszwecken u. dgl. Der Staat reserviert sich jedoch gewisse Befugnisse, mittels deren er Zusammenlegungen und sonstige mißbräuchliche Benutzung verhindern kann.

Um diese Art der Ansiedelung populär zu machen, wurde die Rente auf 4 Proz. festgesetzt, während, wie schon gesagt, der An- siedler mit Vorkaufsrecht 5 Proz. zahlt. In den ersten Jahren nach Einführung des Erbpachtsystems zogen es die Ansiedler auf Re- gierungsländereien allem anderen vor. Jetzt scheint aber die An- siedelung mit Vorkaufsrecht beliebter zu sein. Ohne Zweifel hat der zunehmende Wohlstand der letzten Jahre den Käufern mehr Mut gemacht. Die Zahl der auf Regierungsländereien ansässigen Siedler und der Umfang der Siedelungen ist ungefähr für beide Systeme die gleiche, doch zeigt die Zählung von 1902/03 ein nume- risches Überwiegen der Ansiedler mit Vorkaufsrecht. Werden in- dessen die nach dem Gesetz über Landerwerb zu Ansiedelungs- zwecken Angesiedelten zugezahlt, so überwiegen die Erbpächter. Besitzungen, welche nach diesem Gesetz erworben und zerschlagen werden, können nur in Erbpacht vergeben werden. Der Grund hierfür liegt auf der Hand: es wäre eine traurige Politik, wollte der Staat große Privatbesitzer mit großen Kosten auskaufen und kleinere Besitzungen ins Leben rufen, um nachher alle Kontrolle über das Land zu verlieren und so neue Anhäufungen in einer Hand zu ermöglichen. Der Flächeninhalt des gegen bar erwor- benen Regierungslandes ist gering im Vergleich mit demjenigen, das auf Erbpacht oder mit Vorkaufsrecht vergeben wurde.

Es ist stark kritisiert worden, daß die Erbpachtländereien nicht periodisch neu taxiert werden, dem Doktrinär erscheint dies natürlich als eine arge Verfehlung gegen das richtige Prinzip. Es läßt sich allerdings, besonders, wo es sich um unbebaute oder stark bewaldete Ländereien handelt, viel dafür sagen. Natürlich sollten solche Erbpächtereicn der Grundsteuer unterworfen werden, sobald der Wert des Landes entsprechend gestiegen ist, hiergegen liegt kein gesetzliches Hindernis vor.

John McKenzie hat nachher seine Schöpfung, das Erbpacht- system, als einen durch die damalige politische Lage bedingten Kompromiß hingestellt. Es ist richtig, daß die Regierung damals verhältnismäßig schwach war, aber auch später, als die Majorität

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starker und das Oberhaus regeneriert war, hat die Regierung doch keinen Versuch gemacht, die periodische Neueinschätzung zwecks Revision der Pachten einzuführen und noch weniger hat sie an das Aufhören der Ansiedelung von Eigentümern gedacht. In Anbetracht der agrarischen Einflüsse in der liberalen Partei würden die Neuein - Schätzungsvorschläge wohl wenig Chancen haben, im Gegenteil, man hat neuerdings dafür agitiert, daß die Erbpächter berechtigt sein sollten, das volle Eigentum an ihren Pachtstellen zu erwerben. Einer der Vor- schläge geht dahin, daß es dem Erbpächter gestattet sein solle, Abzah- lungen auf den Kaufpreis in beliebigen Raten zu leisten unter ent- sprechender jedesmaliger Verringerung dre Pachtsumme für den noch verbleibenden Rest, dabei soll aber dem Staate doch ein dauernder Einfluß gesichert bleiben. Andere wollen nur den Umfang des von einer Person zu freiem Eigentum erwerbbaren Bodens in be- stimmten Grenzen halten, sind aber auch für gewisse Beschrän- kungen in bezug auf Wohnsitz usw. Konzessionen nach dieser Seite hin würden aber sicher am Ende zum Verschwinden der Erb- pächter und damit zu einer dauernden Veräußerung der Regicrungs- ländereien fuhren, die nicht wünschenswert ist. Jedenfalls zeigen die auch von Befürwortern der reinen Eigentumssiedelung ge- forderten Kautelen, daß alle Kreise von der Notwendigkeit gewisser Landreformen durchdrungen sind.

Im Jahre 1903 betrug die Zahl der Erbpächter auf Regierungs- land 3569 mit 1052365 acres; dazu kommen auf von der Re- gierung aus Privatbesitz erworbenen Ländereien angesiedelte 2229 mit 370 549 acres. Dies scheint für europäische Begriffe eine kleine Zahl, aber sie sind über die ganze Kolonie zerstreut Eis wäre in- dessen ein Fehler, wollte man sie alle als Agitatoren für das freie Eigentum und die Anullierung ihres Vertrages mit dem Staat halten. Viele sind zu dankbar, um die Leiter, welche ihnen hinauf- geholfen hat, nun wegzustoßen, wo sie ihre Hilfe nicht mehr brauchen. Die Agitation wird hauptsächlich durch Elemente, die außerhalb des Kreises der Kronpächter stehen, geschürt. Wir werden darauf noch zurückzukommen haben.

VerstaatlichungdesBodcns. Die Verstaatlichung großer Privatbesitzungen zu Ansiedelungszwecken geht erfolgreich voran. Bis März 1903 sind 127 Güter mit 600000 acres für 2l/2 Millionen £ angekauft worden. Etwa 2500 Personen hatten sich auf dem aufge- teilten I-and angesiedelt, die Familien usw. mitgerechnet etwa 7500 Seelen. Der Jahresabschluß wies für den Staat einen Überschuß

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von 27 369 £ auf, nach Abzug der Zinsen des Ankaufkapitals und der Verwaltungskosten. Auch aus den vorhergehenden Jahren haben sich beträchtliche Uberschüsse angesammelt. Die Pachten betrugen 5 Proz. auf den ermittelten Wert, der Ankaufspreis und Kosten für Vermessung, Verwaltung und Anlage von Wegen decken muß. Die nötigen Gelder werden durch Anleihen aufgebracht, die Regierung hat die Befugnis, entsprechend den Bestimmungen des Gesetzes über Landerwerb, jährlich eine halbe Million £ aufzuwenden.

Im Anfang hat man einige Fehler begangen, doch sind in der letzten Zeit nur vorteilhafte Ankäufe gemacht worden. Die Re- gierung gibt den ersten Anstoß zu den Ankäufen, die unter ihrer Kontrolle erfolgen. Doch steht ihr in allen Fällen ein Sachver- ständigen-Ausschuß, der sehr sorgfaltig ausgewählt wird, zur Seite. Viele Güter werden der Regierung freiwillig zum Kauf angeboten, bei anderen werden die Besitzer und die Regierung auf ein Angebot der letzteren hin handelseinig.

Dies ist gewöhnlich der Fall, wo eine bekannte Besitzung infolge eines Ausdehnungsbedürfnisses des betreffenden Ortes zum Ankauf kommen soll. Außerdem hat die Regierung im Notfall die Zwangsbestimmungen des Gesetzes in Reserve, welche den Besitzer immerhin beeinflussen; bis jetzt sind erst 4 Besitzungen zwangsweise erworben worden. In diesen Fällen wird die Kauf- summe durch einen speziellen Gerichtshof (compensation court) festgesetzt, der aus einem Richter des obersten Gerichtshofes und zwei Beisitzern besteht, von denen der eine von der Regierung, der andere vom Grundstücksbesitzer ernannt wird Diese Ein- richtung tritt ebenfalls in Kraft, wenn der mit dem Erwerb be- traute Ausschuß über die Ankaufsbedingungen sich mit dem Eigen- tümer nicht einigen kann. Die Entscheidungen dieses Gerichts- hofes haben sich bis jetzt als ziemlich kostspielig für die Regierung erwiesen, indem den Besitzern höhere Preise als die ihnen ursprünglich offerierten zugesprochen worden sind; es ist nicht ausgeschlossen, daß dieser Umstand dazu beigetragen hat, daß die Regierung die oberen Sätze der progressiven Grundsteuer bedeutend erhöht hat.

Die angekauften Besitzungen bestehen meist aus sehr extensiv bewirtschaftetem Lande, das zwar zum Ackerbau geeignet, aber vor dem Ankaufe hauptsächlich zur Viehzucht verwendet wurde, was bei zunehmender Bevölkerung und dem relativ beschränkten zu- gänglichen Areal dieser Art, eine Anomalie war. Das Vorhanden- sein eines wirklichen Landhungers offenbart sich in dem großen

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Andrang zu den von der Regierung erworbenen Ländereien ; häufig waren hunderte von Reflektanten vorhanden, so daß man zur Aus- losung schreiten mußte. Bemerkenswert ist hierbei die große An- zahl von Ansiedlersöhnen, die eigene Bauernhöfe erwerben wollen, statt wie in anderen Ländern in die Städte zu ziehen. Ein Teil des so erworbenen Landes besteht aus Grundstücken in der Nähe der Städte, auf denen Arbeiter ihre Heimstätten erbauen. Der Maximalumfang für derartige Stellen beträgt 5 acres, die Regierung gibt Vorschüsse zum Hausbau, zur Einzäunung usw. Die Idee, dem städtischen Arbeiter eine Stätte zu geben, wo er seine freie Zeit zur Kleinkultur verwenden kann, ist keine neue. Bis jetzt haben aber die neuseeländischen Ansiedler wenig Interesse dafür gezeigt Da die Landankäufe auf Anleihen basieren, so hat man darauf hingewiesen, daß ihre Ausdehnung an enge Grenzen gebunden sei. Solange sich der Staat jedoch darauf beschränkt, nur solche Lände- reien zu erwerben, deren er zu einer dichten Besiedelung durchaus bedarf, ist kein Grund vorhanden, warum das System nicht gesund bleiben soll.

Staats-Hypotheken. Die Motive und die Ausdehnung der staatlichen Hypothekengewährung sind bereits oben in dem Gesetz über Vorschüsse an Ansiedler (1894) kurz erwähnt worden. Das hierfür errichtete Amt ersetzt zum größten Teil die ländlichen Kreditinstitute anderer Länder. Darlehn können auf Land zu freiem Eigentum und darauf verwendete Meliorationen bis zu */* des Wertes gewährt werden, wie auch auf staatliche Rentengüter bis zur Hälfte des vom Inhaber erworbenen Anrechtes, wodurch den Staat in der Lage ist, seinen eigenen Pächtern billiges Geld zur Meliorierung ihrer Stellen zu verschaffen. Die Darlehnssummen dürfen zwischen 25 und 3000 betragen; der Zinsfuß ist 5 Proz., reduziert sich jedoch bei prompter Zinszahlung auf 41/2 Proz. Die Darlehnsnehmer können sich für ein Amortisationssystem ent- scheiden, bei welchem durch halbjährliche Abzahlungen die Darlehn in 36 Jahren amortisiert werden. Außerdem können sie jederzeit das Darlehn ganz oder teilweise zurückzahlen. Das Gesetz, welches ursprünglich nur für das flache Land galt, wurde 1 899 auf städtisches Eigentum ausgedehnt. Das System ist jetzt seit 10 Jahren in Kraft und das Resultat kann als ein praktischer und finanzieller Erfolg bezeichnet werden. Außerdem hat es dazu gedient, den Hypotheken- zinsfuß im allgemeinen niedrig zu halten, eine Wirkung, die sich sofort nach Erlaß des Gesetzes fühlbar machte.

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Bis zum März 1903 sind 3 581 660 ^ an 11 293 Personen aus- geliehen worden. Davon sind 925 741 £ zurückgezahlt worden, 2 590 543 £ stehen noch aus. Von den 1 1 293 Darlehnsnehmern haben nicht weniger als 10 534 Summen unter 500 £ geborgt ein Beweis, daß das System gerade den kleinen Ansiedlern zugute kommt. Die Darlehn sind so vorsichtig gewährt worden, daß Verluste nicht zu verzeichnen sind, auch der Betrag der rück- ständigen Zinsen ist gering.

Der Staat und die landwirtschaftlichen Produ- zenten. Da Neuseeland vor allem auf Ackerbau und Viehzucht angewiesen ist, so ist es natürlich, daß der Staat diesen Erwerbs- zweigen seine besondere Aufmerksamkeit widmet und daß ihr Interesse ihm ebenso am Herzen liegt wie dasjenige der In- dustriearbeiter. Das Landwirtschaftsamt, dessen Errichtung wir er- wähnt haben, ist eine weitverzweigte Einrichtung mit wissenschaft- lichen Versuchsstationen und beaufsichtigenden und belehrenden Funktionen. Seine Sachverständigen stehen mit den Rohstoffpro- duzenten in steter Fühlung. Am meisten befaßt sich aber die Regierung neuerdings mit dem Exporthandel, den man eine der Lebensadern der Kolonie nennen kann. Die Regierung überwacht ihn sehr ener- gisch, um auf gute Qualität, Gleichmäßigkeit, volles Gewicht usw. hinzuwirken. Die Überwachung besteht hauptsächlich in einer Zwangsinspektion der Waren im Verschiffungshafen, wo sie klassi- fiziert und mit entsprechenden Abzeichen versehen werden. Völlig minderwertige Ware, die dem Handel schaden könnte, kann ver- nichtet werden. Diese Überwachung gelangte zuerst für Butter und Käse zur Anwendung, deren Produktion von der Regierung durch Genossenschaftsgründungen erst in die Wege geleitet worden war. Die Klassifizierung erregte im Anfang das höchste Mißfallen der Verlader, die darin eine ungehörige Einmischung in den freien Verkehr und in Privatunternehmungen u. dgl. mehr sahen. Doch hatte das System den Erfolg für sich. Abgesehen von seinem erzieherischen Einfluß, erleichterte es durch die Garantien, die es hat, den Abschluß der Geschäfte ungemein. Heute ist das Zertifikat der neuseeländischen Warenabschätzer tatsächlich ein Handels- dokument in dem Molkereiproduktenhandel der Kolonie geworden und bildet zusammen mit dem Klassifizierungsmaßstab die übliche Unterlage für die Kontraktabschlüsse. Butter aus Neuseeland kann nach England auf die Regierungsklassifizierung hin verkauft werden, ehe sie gemacht ist. Neuerdings hat man das System auf neu-

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seeländischen Flachs (Phormium tenax), Getreide, Früchte, Hopfen und Geflügel ausgedehnt, jetzt aber mit uneingeschränkter Zu- stimmung des Handels und der Produzentenkreise. Mehrere Jahre lang wurden in den Verschiffungshäfen unentgeltlich Kühlräume zur Lagerung zur Verfügung gestellt, jetzt werden die Kosten da- für allmählich auf den Produzenten und Exporteur abgewälzt Das für den Export präparierte Fleisch wird von staatlichen Inspek- toren geprüft und mit einem entsprechenden Etikett versehen; in England, dem Hauptmarkt für Neuseeland, ist ein Beamter, der „Produce Commissioner", stationiert, der die Interessen der Produ- zenten wahrnimmt, die Ladungen bei der Ankunft inspiziert und Winke zur Hebung des Exportes gibt. Neben seinen regelmäßigen schriftlichen Berichten, telegraphiert er jede Woche der Regierung die Marktpreise und Absatzverhältnisse der hauptsächlichsten Pro- dukte. Die so erhaltenen Informationen werden sofort in den neuseeländischen Zeitungen veröffentlicht und dienen den neusee- ländischen Produzenten als Richtschnur beim Verkauf und bei der Verladung ihrer Ware. Zum gleichen Zwecke ist ein Beamter auch in Südafrika stationiert

6. Kommunale Besteuerung.

Trotzdem, wie wir sahen, die Regierung nie versucht hat, die gewöhnliche Grundsteuer zu erhöhen, so hat sie sich es doch früh- zeitig zur Aufgabe gemacht, das dieser zugrunde liegende Prinzip in die kommunale Besteuerung einzuführen. Das Oberhaus hat dieses eine Zeitlang verhindert, aber im Jahre 1896 wurde das Gesetz über die Besteuerung des unmeliorierten Wertes endgültig angenommen; dies gestattete den Lokalbehördcn die fakultative Anwendung des Systems. Die Initiative muß von den Steuerzahlern ausgehen, von denen eine gewisse Anzahl eine Abstimmung über den Vorschlag verlangen kann. Das Resultat dieser Abstimmung entscheidet die Frage auf drei Jahre, d. h. vor Ablauf dieser Periode darf eine neue Entscheidung für oder gegen nicht getroffen werden. Ur- sprünglich verlangte das Gesetz, daß ein Drittel der Steuerzahler sich an einer solchen Abstimmung beteiligte, da es sich aber herausstellte, daß die Widersacher des Systems sich einfach der Wahl enthielten, so wurde bestimmt, daß die Majorität der abge- gebenen Stimmen die Entscheidung herbeiführen solle.

Die Einführung des Systems wird sehr erleichtert dadurch, daß

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die von dem staatlichen Schätzungsamt aufgestellten Schätzungen den unmeliorierten Wert festlegen. Der Steuerfuß wird so nor- miert, daß die Steuer ebenso hoch ist, als wenn der volle Wert des Grundstücks versteuert würde; wo früher eine Ertragssteuer eingeführt war, beträgt die Steuer dreiviertel Pence per £ auf den unmeliorierten Wert, statt 1 Schilling per i: des jährlichen Er- trages.

Der Vorzug einer Besteuerung des unmeliorierten Wertes, wird hauptsächlich darin gesehen, daß sie eine Strafe auf die Grundspekulation besonders in den Städten darstellt, welche leere Baustellen aus dem Markte hält und so die Entwicklung des be- treffenden Ortes behindert Die große Anzahl der kleinen Grund- besitzer in den Städten war bis jetzt insofern benachteiligt, als unter dem System einer Ertragssteuer jede Verbesserung, die sie an ihrem Grundstücke anbrachten, eine entsprechende Steuerer- höhung mit sich brachte, sie waren daher dem neuen System ge- neigt, trotz des ev. zukünftigen Verlustes des unverdienten Wert- zuwachses, der aus demselben resultieren kann. Die Feinde des neuen Systems argumentierten im Parlamente, daß Banken, Ver- sicherungsgesellschaften und ähnliche reiche Institute, die wertvolle Baulichkeiten in den Städten besitzen, unter dem neuen System weniger Steuer zahlen würden, aber da es bekannt war, daß die Opposition sich vor allem aus interessierten Kreisen rekrutierte, so war der Eindruck dieses Argumentes gering. Nur in einer Hinsicht wurde die Wirksamkeit des Gesetzes beschränkt: es kommt nur für die allgemeinen Steuern zur Anwendung und nicht für die speziellen Umlagen für Wasser, Beleuchtung, Hospitäler usw.

Bis März 1903 war das neue System in 51 lokalen Verwaltungs- körpern, nämlich in 30 Städten (Boroughs), 12 Grafschaften, einem Stadtbezirk und 8 Straßenverbänden eingeführt worden, nur in S Städten war eine Majorität für dasselbe nicht zu erreichen. Die bis jetzt gesammelten Erfahrungen sprechen zugunsten des neuen Systems. In den meisten Ortschaften, in denen eine Abstimmung vorgenommen wurde, war die Majorität zugunsten des neuen Systems so bedeutend, daß die Regierung sich veranlaßt sah, die obliga- torische Einführung desselben zu beantragen; aber gerade in dem Augenblick, als der betr. Gesetzentwurf dem Parlamente vorlag, fand eine Abstimmung in Auckland, einer der vier großen Städten der Kolonie statt, und zwar wurde hier die Einfuhrung mit einer Zweidrittelmajorität verworfen; die Folge war, daß die Regierung

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Richard H. Hoopcr,

den Entwurf zurückzog. Die Abstimmung in Auckland ergab das genannte Resultat deshalb, weil es den Widersachern des neuen Systems gelang, die Sache so darzustellen, als ob die Einführung der neuen Steuer nur der Anfang einer völligen Konfiskation wäre ; es gelang ihnen dies, weil die für die Einführung Stimmenden sämtlich Anhänger des Singletaxsystems von Henry George waren und es so ein Leichtes war, den Durchschnittssteuerzahler glauben zu machen, daß es sich um Einführung einer Bodenreform handle, wie sie Henry George befürwortet hat, und die gerade in Auckland sehr viele Anhänger findet.

Höchst wahrscheinlich wird trotz alledem innerhalb der nächsten 10 Jahre auf dem Wege der fakultativen Annahme die Besteuerung des unmeliorierten Wertes für Zwecke der Kommunen in der ganzen Kolonie zur Anwendung gelangt sein. Die Abstimmung in Auckland ist die einzige schwere Niederlage, welche das Prinzip bis jetzt erlitten hat und in keinem Falle hat dort, wo das neue System einmal eingeführt worden ist, eine Rückkehr zum alten stattgefunden. Unter den Ortschaften, welche das neue System eingeführt haben, befinden sich zwei der anderen Großstädte der Kolonie, nämlich Wellington und Christchurch.

7. Die Altersversorgung („Old age pensions").

Wie bereits erwähnt wurde, hat Neuseeland im Jahre 1 898 die erste, nicht auf Beiträgen der Versicherten beruhende staatliche Altersversorgung eingeführt. Da die Kolonie nicht in der Lage war, eine allgemeine Altersversorgung zu gewähren, trotzdem die- selbe natürlich das Ideal bilden muß, so wollte man sich doch nicht auf die Schwierigkeiten und Verzögerungen, die eine Ver- sicherung mit Beiträgen der zu Versichernden mit sich bringen muß, einlassen. Man entschloß sich deshalb, nur denjenigen eine Pension auszuzahlen, welche keine genügenden Einkommensquellen besitzen und moralische Ansprüche auf eine solche haben, nämlich alte Kolonisten in schlechten Verhältnissen und von gutem Ruf. Die Kosten dieser Pension trägt die Regierung. Bedingung ist ein Alter von 65 Jahren, von denen 25 in der Kolonie verbracht worden sind (kürzere Abwesenheiten werden nicht berücksichtigt). Die Normalpension beträgt 18 jährlich, der Besitz eines kleinen Privat Vermögens, sofern es 270 J? Kapital oder 52 £ Jahresein- kommen nicht übersteigt, macht den Anspruch auf die Pension

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nicht hinfallig. Doch wird für jedes £ Einkommen über 34 £ oder für jede 15 £ Vermögen über 15 £ von der genannten Pension 1 £ in Abzug gebracht bis zur Erreichung des erwähnten Limits.

Das Gesetz von 1898 beschränkte die Dauer dieses Versuches auf 3 Jahre. Da die Regierung durch die Wahlen von 1899 in ihrer Politik bekräftigt wurde, verlor der Minister Seddon keine Zeit, das Gesetz zu einem dauernden zu machen, das nur durch Parlamentsbeschluß außer Kraft gesetzt werden kann. Es wurden zugleich eine Anzahl kleinerer Verbesserungen vorgenommen. Im Jahre 1902—03 betrug die Zahl der Pensionsberechtigten 12 481 (darunter 892 Maoris), die zusammen 211 591 £ vom Staat be- zogen.

Das Gesetz wird ohne große Kosten durchgeführt, sie be- trugen im Jahre 1902—03 nur 3805 £. Die Verwaltung besteht aus einem Inspektor („Registrar") mit einigen Unterbeamten, die lokalen Beamten rekrutieren sich meist aus den Sekretären der Lokalgerichte; die Entscheidung über zu gewährende Pensionen liegt in den Händen der Lokalgerichte und die Post besorgt die Auszahlungen.

Man kann jetzt, nachdem das Gesetz 5 Jahre funktioniert hat, sagen, daß es günstig wirkt. Obgleich die Armenpflege der Lokal- behörden nicht in dem erwarteten Maß entlastet wurde, sind doch die vielen pessimistischen Prophezeiungen der Feinde des Gesetzes nicht in Erfüllung gegangen.

8. Praktische Politik der nächsten Zukunft.

Trusts und Kartelle. Obgleich die liberale Partei einen großen Teil ihres Programmes verwirklicht oder doch in Angriff genommen h*t, fehlt es der Regierung doch nicht an Initiative neu auftauchenden Problemen gegenüber. Ein Beweis hierfür ist die Art, in welcher man die Frage der Trusts und Kartelle in Handel und Gewerbe behandelt hat Diese neuesten Produkte der kapita- listischen Entwicklung zeigen sich neuerdings auch in Neuseeland. Das Vorgehen eines umfassenden Korn-Mühlensyndikats hat z. B. (ob mit Recht oder Unrecht bleibe dahingestellt) bei den Händlern und dem Publikum weitgehende Befürchtnngen hervorgerufen. Der Premierminister Seddon trug der öffentlichen Meinung Rechnung, indem er erklärte, daß Kartelle und Syndikate amerikanischer Art

Richard H. Hooper,

in Neuseeland nicht geduldet werden würden ; er brachte demgemäß auch letztes Jahr den Entwurf eines Gesetzes über die „Verhinderung von Handelsmonopolen" ein, der aber nicht durchgebracht wurde. Man hatte wohl vorerst nur die Absicht gehabt, die vorhandenen Ansichten über den Gegenstand zur Klärung zu bringen und eine fruchtbare Kritik wachzurufen. Jedenfalls hatten die Kreise, auf die das Gesetz gemünzt war, eine Warnung erhalten.

Einige Einzelheiten des Entwurfes werden für den National- ökonomen von Interesse sein. Das Gesetz soll den rechtmäßigen Handel und das Gewerbe schützen, indem es Monopole, die dem öffentlichen Interesse zuwiderlaufen, verhindert Als „Handels- monopol" gilt eine Vereinbarung, welche zum Zweck hat, „die freie (reasonable) Konkurrenz anderer Händler zu nichte zu machen, zu beschränken oder zu verhindern und den Preis der Waren über den durch die freie Konkurrenz entstehenden hinaus zu treiben." Die Bildung von Trusts oder Syndikaten mit abnorm großem Kapital oder abnorm ausgedehnten Geschäften gilt auch als Monopol. Das Gesetz kann auf den Antrag von 50 Bürgern oder auf denjenigen des Arbeitsministers oder des Handelsministers in Funktion treten. Dann sollen die Kronjuristen den Fall einer vorläufigen Unter- suchung unterziehen ; entscheiden sie, daß ein prima facie Fall vor- liegt, so wird er einem „Monopolgericht" überwiesen, daß aus dem Chief Justice und zwei Richtern des obersten Gerichtshofes besteht ; diese haben ausgedehnte Befugnisse Zeugen vorzuladen, Bücher ein- zusehen und dgl. Unter anderem gilt abnormer Gewinn als be- lastendes Moment. Sollte das Gericht entscheiden, daß ein Monopol vorliegt, so können sie das Ende dieses Monopols und seiner Ge- schäfte aussprechen, abgeschlossene Verträge aufheben usw., Aktien- gesellschaften können aufgelöst werden. Eine Geldstrafe von nicht über 1000 £ und die Tragung der Kosten kann auferlegt werden. Wird die angeklagte Partei freigesprochen, so trägt die Regierung die Kosten.

Das Gesetz wird ohne Zweifel dieses Jahr wieder vorgelegt werden. Neuseeland mag einmal zum Kollektivismus kommen, aber jedenfalls nicht auf dem Wege der Syndikate und Trusts.

Das Staatsbankwesen. Auf dem Gebiet des Geldwesens hat Neuseeland, trotz seiner sonstigen kühnen wirtschaftlichen Ge- setzgebung keine besonderen Neuerungen eingeführt. Fortgeschrittene Politiker rechnen schon seit langem auf die Zeit, wenn die Kolonie für ihre innere Entwicklung von dem großen internationalen Geld-

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markt möglichst unabhängig sein wird. Zu wiederholten Malen ist die Errichtung einer staatlichen Notenbank und die Ausführung öffentlicher Arbeiten mit Hilfe von Staatskassenscheinen oder anderer staatlicher Kredite geplant worden. Doch ist diese schwierige Frage, abgesehen von einer kleinen Ausdehnung des Scheckwesens, nicht über das akademische Stadium gefördert worden.

Indessen sind neuerdings Anzeichen vorhanden, daß man zu praktischen Maßregeln übergehen will. Letztes Jahr erwarb der Staat fast Mill. £ Anteile der Bank von Neuseeland, dem fuhrenden Institute der Kolonie. Seitdem die Regierung vor etwa 10 Jahren die Bank vor dem Zusammenbruch bewahrt hat, übte sie ein weitgehendes Aufsichtsrecht über dieselbe aus. Indessen be- nutzte die Bank die Wiederkehr günstigerer Zeiten dazu, die Re- gierungsvorschüsse zürückzuzahlen und sich so allmählich von der Kontrolle freizumachen und im vergangenen Jahre erwies sich eine Neuordnung des Verhältnisses als notwendig. Die Regierung konnte drei Wege einschlagen: 1. Die Bank übernehmen und sie zu einer Staatsanstalt machen. 2. Die bestehende Kontrolle und die Be- teiligung des Staates vergrößern und zu einer dauernden machen. 3. Jede Verbindung des Staates mit der Bank auflösen und diese sich selbst überlassen. Die Regierung schlug den Mittelweg ein ; so daß, obgleich keine besondere neue Verwaltungsabteilung ge- schaffen wurde, doch .ein mächtiger finanzieller Apparat zur Ver- fügung steht, mittels dessen eine allmähliche und vorsichtige Reform des Geld- und Kreditwesens in die Wege geleitet werden kann.

Die andauernde ungünstige Lage und Haltung des Londoner und anderer führender Geldmärkte haben diese Frage aktuell ge- gemacht. Neuseeland, das sich der Größe seines öffentlichen Ver- mögens und der reproduktiven Anlage des größten Teiles seiner Anleihen wohl bewußt ist, empfindet die neuerliche Zurückhaltung des englischen Kapitals als ungerecht und wird versuchen, sich von diesem unabhängig zu machen.

Die Regierun gsmaschinerie. Hier sind seitens der Liberalen fast keine Neuerungen eingeführt worden. Ein Gesetz- entwurf, welcher die Wahl des Kabinetts durch das Parlament vor- schreibt, ist Jahr für Jahr von einigen Liberalen eingebracht worden, jedoch ohne Erfolg, da die Regierung dagegen ist. Auch kennt die Kolonie die Initiativanträge und das Referendum nicht. Vor- schläge, für das proportionale Wahlsystem haben wenig Beifall ge-

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Richard H. Hooper,

funden. Der Kern der Sache ist, daß die Regierung bis jetzt sich bei dem bestehenden System gut gestanden hat und sich daher mit diesen Angelegenheiten nicht befassen wollte. Sollte sie je- mals ihre günstige Stellung verlieren, so würde das die Situation allerdings ändern.

Nach einer Richtung hin scheinen allerdings diese Änderungen nahe bevorzustehen. Der Minister Seddon hat neuerdings die politische Welt Neuseelands überrascht, indem er sich für die Ab- schaffung des Oberhauses und seinen Ersatz durch eine kleine revi- dierende Körperschaft von Juristen und anderen Sachverständigen aussprach. Das Oberhaus besteht jetzt zum größten Teil aus von Seddon selbst ernannten Mitgliedern und gilt als demokratische Körperschaft, auf welche die Regierung mit Sicherheit zählen kann. Mr. Seddon behauptet aber, daß die Atmosphäre des Oberhauses unweigerlich auf seine Mitglieder einen konservativen Einfluß hat und daß es außerdem überflüssig geworden sei. So ist die alte Bewegung gegen das Oberhaus, welche nach seiner Regeneration eingeschlafen war, wieder entfacht, zur Freude des radikalen Flügels der Liberalen.

Die politische Lage. Die etwas heterogene Zusammen- setzung der neuseeländischen liberalen Partei hat sich seit 1891 kaum geändert Eine besondere Arbeiterpartei wie in den australi- schen Staaten hat sich in den 13 Jahren nicht entwickelt. In der Partei hat das liberale Element stets die Oberhand behalten; wo vereinzelte Repräsentanten der Arbeiter der Partei nicht treu blieben, sind sie meist bald von der politischen Bildfläche verschwunden. Gelegentlich haben die Arbeiter nach größerer Unabhängigkeit von der Partei gestrebt, doch sind diese Bemühungen bis jetzt sporadisch und resultatlos geblieben. Die Arbeiter haben tatsächlich einge- sehen, daß der fortgeschrittene Liberalismus ihre Interessen am besten vertritt und gewiß hat das Bündnis für beide Teile die besten Früchte gezeitigt Es darf auch nicht vergessen werden, daß die Regierung das Feld nicht so lange behauptet hätte, wäre sie haupt- sächlich von den Arbeiterstimmen abhängig gewesen. Man sollte denken, daß die Städte mit ihrem großen Prozentsatz industrieller Bevölkerung die Hochburgen der Regierung seien die Erfahrung hat gezeigt, daß dies ein Irrtum ist. Die großen Städte haben in gewissen, für die liberale Partei kritischen Momenten versagt, und zu diesen Zeiten verdankte die Regierung den Sieg der Unter- stützung der ländlichen Kreise. Um die Städte zu gewinnen, muß

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die Regierung außer auf die Arbeiter auf die tatkräftige Unter Stützung des Mittelstandes rechnen.

Diese Mittelklassen fühlen sich mehr und mehr zu der liberalen Partei hingezogen. Im Anfang waren die Angehörigen des Handels- standes auf der Oppositionsseite. Nach und nach änderte sich die Stimmung, als es sich erwies, daß die liberale Politik Handel und Gewerbe nicht hemmte, sondern eher förderte. Heute gehören viele führende Geschäftsleute der liberalen Partei an. Es mag sein, daß diese Annäherung an die Kreise des „Privatunternehmertums" die Regierung etwas von dem bisher innegehaltenen Weg ablenken wird. Doch ist hervorzuheben, daß die liberalen Führer sich nie- mals unumschränkt für den Kollektivismus ausgesprochen haben und daß einige von ihnen Geschäftsverbindungen und Geschäfts- interessen haben.

Das sind die Faktoren, die auf einen weiteren Zusammenschluß hinwirken doch fehlt es auch nicht an Zeichen der Auflösung. Da ist vor allem die drohende Absplitterung der agrarischen Parteigänger zu erwähnen. Seit zwei bis drei Jahren bildet sich ein Gegensatz zwischen Stadt und Land heraus, hauptsächlich durch die Wirksamkeit einer über das ganze Land verbreiteten agrarischen Organisation, der „Farmers' Union". Ihr angeblicher Zweck ist die Förderung der Interessen der Landwirte, ihr unpolitischer Charakter wird betont merkwürdigerweise sind aber die meisten der ton- angebenden Organisatoren und Führer Gegner der Regierung. Man verbreitet den Gedanken, daß die Bauern nicht genügend be- rücksichtigt worden sind und daß die Arbeiterpolitik der Regierung ihren Interessen zuwiderläuft

Vor allem wird für das freie Eigentum im Gegensatz zur staat- lichen Erbpacht agitiert. Die „Farmers' Union" hat sich im allgemeinen für das freie Eigentum ausgesprochen und auch einige liberale Parla- mentsmitglieder für sich gewonnen ; wir haben von dieser Bewegung bereits weiter oben in dem Abschnitt über die Landfrage berichtet Sollte die Frage im Parlament zur Abstimmung kommen, so läge eine große Gefahr vor, da ja die Opposition einstimmig gegen die Erbpacht ist. Indessen hat sich Premierminister Seddon nicht ein- schüchtern lassen. Er erklärte in einer Ansprache, daß, wenn die Regierung in dieser Frage überstimmt würde, er die Kammer auf- lösen werde und gewiß werde sich das Volk für die Beibehaltung der Erbpacht aussprechen. Abgesehen von dieser offiziellen Ab- wehr, betreiben einige fortgeschrittene Liberale, Anhänger der

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Richard H. Hooper,

Lehren Henry Georges, eine energische Gegenagitation. Sie wider- setzen sich jedem Landverkauf durch den Staat und sprechen sich für die periodische Pachtfestsetzung der Erbpächtereien aus.

Bei den Wahlen von 1902 konnten die Drohungen der „Farmers Union" dem Minister Seddon nichts anhaben. Er konnte den Bauern klar beweisen, wieviel die Regierung für sie getan habe. Aber damals war die „Farmers' Union" noch verhältnismäßig neu, ihre Kräfte noch nicht gesammelt und ihre Propaganda noch nicht so wirksam. Die Krisis steht noch bevor. Doch hat Mr. Seddon, nach der Aufnahme zu urteilen, die er neuerdings bei einer Reise in den ländlichen Distrikten der Südinsel fand, an Popularität bei den Bauern noch nichts eingebüßt.

Auch von der anderen Seite wird die Solidarität der liberalen Partei bedroht Es scheint zweifelhaft, ob die Arbeiter auf die Dauer zu halten sein werden ; so sprach sich der jährliche Gewerk- vereinskongreß letzte Ostern für eine unabhängige Arbeiterpartei aus. Natürlich werden Konkreßbeschlüsse nicht sofort zur Wirk- lichkeit, doch wird der Erfolg der Arbeiterpartei im australischen Bundesparlament die Bewegung verstärken. Das politische Pro- gramm des Kongresses geht ziemlich weit es umfaßt folgende Punkte: I. Staatsnoten mit gesetzlicher Zahlungskraft; 2. keine weiteren Verkaufe des Kronlandes und periodische Pachtfestsetzungen der Erbpächtereien; 3. Ausdehnung des parlamentarischen Wahl- rechtes auf die Kommunalwahlen. NichtSteuerzahler sollen sich auch bei Abstimmungen über Steuermaßregeln beteiligen dürfen; 4. Initiative und Referendum; 5. gesetzlich festzulegende Bevor- zugung von Gewerkvereinlern bei den Entscheidungen des Schieds- gerichts; 6. Abschaffung des Oberhauses.

Seddon, der 1 1 Jahre lang Premierminister von Neuseeland war, ist auch heute noch der unbestrittene Führer der Liberalen. Große Begabung und arbeitsfreudige Leistungsfähigkeit, ein prak- tischer Blick, parlamentarische Gewandtheit, ein reiches Maß demo- kratischer Überzeugung und eine volkstümliche Liebenswürdigkeit das sind die Eigenschaften, denen „König Dick" seine lange Re- gierungszeit zu verdanken hat. Kein anderer Mann hätte die libe- rale Partei auf ebensolange Zeit zusammenhalten können. Ge- wiß haben immer einzelne Parteimitglieder sich gegen die Herr- schaft ihres Führers empört, schon die Kraft seiner Persönlichkeit hat das mit sich gebracht, aber keiner hat sich auf die Dauer ihm gewachsen erwiesen. Andere Führer hätten vielleicht Größeres

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versucht und die Partei ruiniert oder aber weniger Initiative gehabt und sich die Avantgarde entfremdet. Seddon, der ein feines Ge- fühl für die Strömungen der öffentlichen Meinung hat, wußte wie weit er gehen konnte und hatte seine Maßregeln in Bereitschaft, wenn die Gelegenheit kam. Das mag nach Opportunismus klingen, aber es ist viel damit erreicht worden.

Den größten Einfluß nach Seddon hat im Ministerium Sir Joseph Ward, der verglichen mit seinem Chef suaviter in modo ist ; er ist der Schöpfer des Gesetzes über die Darlehn an Ansiedler und ein geschickter Verwaltungsbeamter. Im Privatleben ist er Kaufmann mit weitverzweigten Geschäftsinteressen. Er scheint An- wartschaft auf die Nachfolgerschaft Seddons zu haben. Doch würde wohl, sollte der letztere abdanken, bald eine allgemeine Umwälzung eintreten, besonders im Hinblick auf die jetzt schon vorhandenen Tendenzen zur Auflösung der Partei. Man ersieht hieraus, wieviel von Seddons Persönlichkeit abhängt Wenn er seine alte Frische behält, so kann er seine Partei wohl noch auf lange Zeit zusammenhalten. Sein Gesundheitszustand erfüllt indessen seine Freunde mit Sorge, die Ärzte mußten ihm Ruhe vorschreiben elf Jahre angestrengter Arbeit als verantwortungsvoller Leiter der Kolonie sind eben auch an ihm, trotz seiner eisernen Konstitution, nicht spurlos vorübergegangen.

Die Führerschaft in der Opposition hat sich vor kurzem auf bezeichnende Weise verändert. Seit letztem Jahr ist W. J. Massey ein kleinerer Grundbesitzer, einer der Freunde der Farmers' Union und Vertreter eines ländlichen Kreises an die Stelle von Sir William Russell, einem großen Viehzüchter und alten Anhänger der ehe- maligen Atkinsonschen Regierung getreten.

Die Oppositionspartei selbst ist nicht mehr die alte vom Jahr 1891, denn die ist unter dem Einfluß des seit 13 Jahren herrschenden liberalen Geistes auf immer verschwunden. Das alte Regime wäre jetzt in der Kolonie undenkbar. Eine Reaktion kann ja bis zu einem gewissen Grad eintreten, aber sie wird nur der zurück- weichenden Welle gleichen der Fortschritt wird darum nicht gehemmt.

Internationale Faktoren. Neuseeland gilt allgemein als ein besonders bequemes Versuchsobjekt für sozialpolitische Experi- mente. Die Jugend der Kolonie und die Elastizität ihrer Institu- tionen, auch ihre verhältnismäßig kleine Bevölkerungszahl sprechen dafür. Es ist aber ein großer Fehler anzunehmen, daß die sozialen

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Riebard H. Hoopcr,

Probleme in Neuseeland nur auf lokaler Basis zu behandeln seien. Neuseeland ist keine unabhängige, sich selbst genügende Republik auf genossenschaftlicher Grundlage. Durch die Art ihrer Besiedelung und Entwicklung ist sie in das verwickelte Getriebe des Welt- marktes, auf dem sie kaufen und verkaufen muß, mit hineinbezogen. Die staatlichen Eingriffe zur Verbesserung der sozialen Verhält- nisse dürfen deshalb nicht ohne Berücksichtigung der Arbeits- bedingungen anderer Länder geschehen, denn so etwas wie geo- graphische Isolierung gibt es heute nicht mehr. Um so mehr muß man anerkennen, wie viele von den Übelständen, mit denen die menschliche Gesellschaft heute zu kämpfen hat, in Neuseeland ge- mildert worden sind. Auch hier tritt der internationale Charakter der Arbeiterfrage in den Vordergrund, denn große Fortschritte sind nur möglich wenn sie überall einigermaßen gleichmäßig erfolgen.

Die bemerkenswerten Erfolge der neuseeländischen Gesetz- gebung sind vor allem der verständnisvollen und gleichmäßigen Handhabung durch die Regierung zu verdanken, aber auch dem Interesse des Parlamentes, das nie versagte, wenn die gemachten Erfahrungen die Notwendigkeit von Verbesserungen und Zusätzen erwiesen. Wäre die liberale Partei vor einigen Jahren, als die Gesetze eben erlassen waren und noch etwas den Charakter von Experimenten an sich trugen, verdrängt worden, so würden wir heute nicht von einem so großen Erfolge berichten können. Selbst wenn die Gesetze dann von der Opposition nicht gerade auf- gehoben worden wären, so hätte doch eine verständnislose Hand- habung außerordentlich viel schaden können. Auch die allgemeine günstige finanzielle Lage war für die Anfangsstadien der sozialen Gesetzgebung von Vorteil. Wir haben alle diese Punkte schon erwähnt, hier soll nur hervorgehoben werden, daß Neuseeland nicht wesentlich mehr für eine fortgeschrittene soziale Gesetzgebung ge- eignet ist, als andere Länder.

Schluß.

Man darf nicht annehmen, daß, weil in Neuseeland die soziale Gesetzgebung sehr ausgebildet ist, nun der Durchschnitts-Neusee- länder ein Kollektivist oder doktrinärer Landreformer sei. Auch die liberalen Führer sind das nicht Gewiß haben fortschrittliche sozialökonomische Theorien die öffentliche Meinung stark beein- flußt, doch war die neuseeländische Gesetzgebung eher das Resultat

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Dreizehn Jahre sozialen Fortschrittes in Neuseeland. 615

praktischer Bestrebungen die Probleme, die dem Volk täglich ent- gegentraten, zu lösen.

Weder das kollektivistische Programm: „Verstaatlichung der Produktions-, Verteilungs- und Umlaufsmittel" noch die Gesamt- theorien Henry Georges spielen als solche eine große Rolle in der praktischen Politik der Kolonie. Aber man strebt doch in manchem nach ähnlichen Zielen, vor allem nach einem möglichst gleich- mäßig verteilten Volkswohlstand, ohne sich an besondere Methoden oder Theorien zu halten. Bis jetzt hat Neuseeland noch keinen Millionär hervorgebracht und wird es wohl auch nicht tun. Die Antimonopolbewegung ist dafür zu stark.

Man kann Neuseeland im Vergleich zu anderen Ländern das „Arbeiterparadies" nennen. Freilich nur sehr vergleichsweise; in Wirklichkeit fehlt daran noch viel. Doch berechtigen die weit- gehenden Befugnisse des Staates als Aufsichts- und Kontrollbchörde und die gesunden durch die Arbeits- und Landgesetzgebung ge- gebenen Grundlagen der allgemeinen Entwicklung zu dem Glauben, daß Neuseeland auf dem rechten Wege ein gutes Stück voran- geschritten ist.

ArchW für Soxialwiitenschaft u. Sozialpolitik. I. (A. f. sox. G. u. St. XIX.) 3. 40

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GESETZGEBUNG.

Die neuere Kinderschutzgesetzgebung in Deutschland

und in Großbritannien.

Von

Prof. Dr. STEPHAN BAUER

in Basel.

In den Tagebüchern Lord Shaftesburys ist ein merkwürdiges Gespräch des großen Sozialreformers mit König Friedrich Wil- helm IV. von Preußen vom Januar 1842 verzeichnet „Welche Aussichten haben Sic," fragte ihn der König, „Ihr Fabrikgesetz im Parlamente durchzubringen ?" „Keine Aussicht, Sire," erwiderte Lord Shaftesbury, „nicht die geringste. Der Premierminister hat mir heute geschrieben, er werde mir opponieren." „Indeed," sagte der König; dann nach einer Pause: „Wir haben das Gesetz für Sie in Preußen gemacht." „Ja, Sire, ich weiß es und tausend und zehntausend Herzen segnen dafür Eure Majestät." Darauf der König: „Ich habe das Gesetz nicht erlassen; es ging von unseren Kaufleutcn und Fabrikanten aus, ich habe es nicht veranlaßt." „Nein, Sire, es war das Werk des Vaters Euer Majestät." „Ja, alles Große und Gute in Preußen ist das Werk meines Vaters." Damit schloß das Ge- spräch. x)

Die preußische Gesetzgebung von 1839 war m der Tat über ihr englisches Vorbild von 1833 in mancher Hinsicht hinaus- gegangen. Bezog sich Lord Althorps Act nur auf Baumwoll- und Wollwarenfabrikcn, so schützte das preußische Regulativ die Ar-

») E. H od der: The Life and the Work of the seventh Earl of Shaftesbury, K. G. 1886, vol. I, p. 401.

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St. Bauer, Kinderschutzgesctzgebung in Deutschland und Großbritannien. 617

beiter in allen Fabriken, Berg- und Hüttenwerken ; es stellte ferner den Grundsatz auf, daß der obligatorische Elementarschulunterricht unter der Fabrikarbeit nicht leiden dürfe. Das englische Gesetz verlangte dagegen zwar täglich zwei Stunden Unterricht für die Arbeiterkinder, traf aber für die Erteilung des Schulunterrichtes keinerlei Anstalten. In der Tat war nach den Aussagen der In- spektoren dieser Schulzwang „ein Hohn auf jeden Unterricht". l)

Ein Fabrikschulmeister stellte zumeist Zeugnisse über die Prä- senz der Kinder aus, die in Wirklichkeit in der Fabrik gearbeitet hatten. Wo solche Betriebsschulen nicht eingerichtet waren, konnten die Kinder in die National Schools, oder in jene der British and Foreign School Society nicht geschickt werden, da diese nicht vor 9 Uhr morgens begannen und vor 5 Uhr nachmittags schlössen. Gänzlich ungeschützt und ausgebeutet waren Kinder in Seiden* und Spitzenfabriken.

Das britische wie das preußische Gesetz ließ die Fabriksarbeit nach vollendetem 9. Lebensjahre zu. Für die 9— 13 jährigen führte das englische Gesetz einen Maximalarbeitstag von 9 Stunden täg- lich, 48 Stunden in der Woche ein. Für die 13 1 8 jährigen galt der Zwölfstundentag. Das preußische Regulativ fuhrt dagegen den von Shaftesbury so energisch verfochtenen Zehnstundentag für die Jugendlichen ein, ist also für die 13 16 jährigen Arbeiter günstiger als das englische Vorbild.

Beide Gesetze verbieten die Nachtarbeit der Jugendlichen ; das Verbot erstreckt sich allerdings in England bis zum 18., in Preußen bis zum 16. Lebensjahre und die Dauer der Nachtruhe beträgt hier acht, dort neun Stunden. Aber im ganzen genommen hätte eine Ausdehnung des Zehnstundentages nach der damaligen Rechtslage in Preußen näher gelegen als in England. Dennoch hat im Jahre 1847 England diesen Fortschritt vollzogen, der im Deutschen Reiche noch heute der Vollendung harrt.

Inzwischen sind in Großbritannien die Wirkungen der fünfzig- jährigen Kinderschutzgesctzgebung immer deutlicher geworden. Vor allem hat die Gesetzgebung auf den Altersaufbau der Fabrik- bevölkerung einen eingreifenden Einfluß ausgeübt. In Großbritannien betrug in den Textilfabrikcn der Anteil der Arbeiter im Alter von weniger als 13 Jahren im Jahre 1835: 13; 1885:9; 1895 jener der

*) Report from the sclect Commiltee on the act for the regulation of Mills and Factories 18. February 1841, p. 12.

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Gesetzgebung.

weniger als 14jährigen: 5,2 vom Hundert aller Arbeiter.1) Es stieg sodann in England die Relativzahl der erwachsenen Männer; kon- stant blieb seit 1847 jene der männlichen Jugendlichen. Im Deutschen Reiche ging in der gesamten Fabriksindustrie die Vertretung der Kinderarbeit von 1890, wo ihre Zahl 27485 betrug, auf 8077 im Jahre 1902 herab. In der Textilindustrie beträgt ihr Anteil in den Fabriken nur drei Zehntel vom Hundert aller Arbeiter.2)

Zugleich ist nun zwar die Fabrikbevölkerung ein immer erheb- licherer Anteil der gesamten gewerblichen Arbeiterschaft geworden ; diese selbst umfaßt aber infolge der Abnahme der landwirtschaft- lichen Bevölkerung einen stärkeren Bruchteil der gesamten Berufs- tätigen als früher. Man hat daher leicht übersehen können, daß neben der geschützten und gesetzlich verbotenen für eine unge- schützte und gefährliche Kinderarbeit im Erwerbsleben reichlich Platz sei.

Zwar haben schon die Gegner der ersten Schutzgesetze in England darauf hingewiesen, daß nicht in den Fabriken die ärgste Kinderausnützung stattfinde. Man konnte ihnen aber damals er- widern, daß innerhalb der neuen Fabriken die Kinderarbeit in einem der letzten Generation unbekannten Maße vertreten sei. So führt der Bericht Dr. Mitchells vom Jahre 1834: 19690 Baum- wollindustriearbeiter auf, von welchen über ein Drittel weniger als 16 Jahre alt war. Kaum ein Drittel war über 21 jährig und daraus schloß man, daß, wenn die Gesetzgebung im Interesse der Jugendlichen eingreife, sie von selbst auch die Arbeitsbedingungen für die Erwachsenen regle.8)

Dazu kam die Beobachtung des ruinösen Einflusses ununter- brochener Arbeit der Kinder in feuchten, selten gelüfteten Fabrik- lokalen. Von je 350 jugendlichen Arbeitern in Lancashire, die Dr. Hawkins untersuchte, waren nur 143 gesund, während von je 350 in anderen Berufen tätigen Jugendlichen 241 hygienisch nicht zu beanstanden waren. 4)

Bis zum Gesetze von 1844 zum Schutze der Jugendlichen ist

*) George H. Wood, Factory Legislation, Journal R. Statistical Society, 1902.

») Jahresberichte der Gcwerbeaufsichtsbeamten und Bergbehörden für das Jahr 1902. Bd. IV, S. 80.

*) Factorics Inquiry. Supplementary Report from Commissioners, pari 1, March 1834, p. 38.

*) Factories Inquiry Commission. Second Report, 15. July 1833, D. 3, p. 2.

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St. Bauer, Kinderschutzgesetzgebung in Deutschland und Großbritannien. 619

nach allen Berichten die Hygiene der Fabrikskinder eine schlechtere gewesen als jene in anderen Berufen, ja selbst als die der in der Heimarbeit beschäftigten Kinder. So ergab sich denn die größte Dringlichkeit, nicht nur die leichtere Durchführbarkeit des Fabriks- kinderschutzes als Konsequenz.

Durch das Werkstättengesetz von 1867 wurde der Kinderschutz formell und durch Übertragung der Inspektion der Werkstätten an die staatliche Inspektion seit 1870 faktisch im Kleingewerbe ein- geführt. Für die 8— 13 jährigen wurde eine tägliche Maximal- arbeitszeit von 6V2 Stunden und wöchentlich 10 Stunden Schul- unterricht, zusammen 49 Stunden vorgeschrieben. Hierzu kamen besondere Vorschriften, die den Kinderschutz in besonderen Be- schäftigungen regelten. Wie dringend es z. B. in der Bäckerei war, schützend vorzugehen, bewies die Tatsache, daß Kinder, welchen die Ärzte die Zulassung in Fabriken verweigerten, in den Bäcke- reien Aufnahme fanden, wo sie ununterbrochen durch 16 Stunden arbeiteten. Der Arbeiterwitz nannte das: „die Kinder zur Reife ins Treibhaus schicken". ')

Dagegen wollte man von einer Ausdehnung des Kinderschutzes auf Berufe, die nicht in geschlossenen Räumen betrieben wurden (out-door employments) nichts wissen. Im Kaminfegergewerbe hatte man allerdings bereits das Zulassungsalter auf 21 Jahre fest- gesetzt und die Konzessionierungspflicht den Meistern auferlegt (1834, 1840, 1864, 1875). Vom Straßenhandel und der Verwendung auf Kanalschiffen hoffte man den Zuzug von Kindern durch das neue Schulgesetz abzulenken. In der Landwirtschaft hatte bereits die Kinderschutzenquete von 1862 1867 die Mißstände langer Arbeitszeiten und der Ausnützung durch Gangmeister aufgedeckt; es folgte ihr die Konzessionierung der Gangmeister und das Verbot der Beschäftigung von Kindern unter 8 Jahren durch die Agricultural Gangs Acts 1867. Diesem Gesetze folgte das Kinderschutzgesetz für die Landwirtschaft (Agricultural Children Act) von 1873, das durch das Schulgesetz (Elementary Education Act) von 1876 aufgehoben wurde. Das Gesetz dehnte das Zulassungsalter von acht Jahren, das früher nur für die von Gangmeistern angeworbenen Kinder galt, auf alle Kinder aus, die nicht von ihren eigenen Eltern oder auf dem elterlichen Grundstück verwendet wurden, und erhöhte das Zulassungsalter für die im Gangsystem verwendeten Kinder auf

*) Factory and Workshops Act Comraission. Report Vol. I, p. XVII, 1876.

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zehn Jahre. Kinder von zehn bis zwölf Jahren sollten vor ihrer Verwendung in der Landwirtschaft sich über ein bestimmtes Bildungs- minimum ausweisen. Dieses Gesetz erwies sich als undurchführbar; man war außerstande, die Inspektion mit dieser Aufgabe zu be- lasten und erhoffte auch hier alles von der Schule.

Was nun die ungeschützte Arbeit der Kinder in geschlossenen Räumen betrifft, so erhoffte man im Handelsgewerbe alles von den freien Vereinbarungen mit den Prinzipalen und von der Frühladen - Schlußbewegung; in diesem Sinne war die National Early Closing League tätig. In der Heimarbeit, sofern nur die Wohnungsinsassen beschäftigt werden, erklärte man nichts vorkehren zu können und der Handhabung der Sanitätsgesetze durch die Gesundheitsbehörden alles überlassen zu müssen.

Indessen blieb trotz der Schulgesetze die Tatsache bestehen, daß selbst Kinder, die in geschützten Betrieben verwendet wurden, nach der Fabriksarbeit zu ungeschützter Lohnarbeit verwendet werden konnten. Diese Lohnarbeit fand hie und da selbst in lebensgefährlichen Berufen statt und fiel hier zuerst ins Auge. Das Zulassungsalter für Kinder bei öffentlichen Schaustellungen oder Produktionen, die von Hause aus Leben oder Gesundheit gefährden können, wurde durch die Children's Dangerous Performances Act 1879 auf 14 Jahre und durch die Dangerous Performances Act 1897 auf 16 Jahre für männliche und auf 18 Jahre für weibliche Per- sonen erhöht. •»

Indessen war man auf die Zunahme der Kinderarbeit im De- tailhandel, in Gastwirtschaften und im Straßenhandel aufmerksam geworden. Die Shops Hours Regulation Acts 1886 sowie jene von 1892 1895 schrieben für Personen unter 18 Jahren, welche in I^äden, Märkten, Buden, Warenhäusern, Wirtshäusern und sonstigen Erquickungsgewerben gegen Lohn beschäftigt werden, eine Maximal- arbeitszeit von 74 Stunden in der Woche mit Einschluß der Mahl- zeiten vor. Die eigenen Kinder und Familienmitglieder sowie das häusliche Gesinde wurden von diesem Schutze ausgenommen.

Die Zunahme der in die Form des Straßenhandels oder des Straßensängertums sich hüllenden Kinderbettelei, der Kinder- bedienung in Kneipen, der Verwendung von Kindern in Theatern und Varietes, die Fälle der Mißhandlung solcher Kinder durch brutale Arbeitgeber und ihrer Vernachlässigung durch die Eltern führte zu den Prcvention of Cruelty to Children Acts von 1889 und 1894. Sie verbieten bei Strafe der die Kinder dazu veranlassenden

Di

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Personen Knaben unter 14, Mädchen unter 16 Jahren den ver- steckten Straßenbettel, den Aufenthalt in Gastwirtschaften, in denen geistige Getränke verabreicht werden, die aktive Teilnahme an Theatervorstellungen zwischen 9 Uhr abends und 6 Uhr morgens und allen noch nicht 16jährigen Kindern die Ausbildung als Akrobaten, Schlangenmenschen, Zirkusleute oder ihre Verwendung bei anderen von Natur gefahrlichen Schaustellungen. Doch ge- stattete das Gesetz von Fall zu Fall gegen Konzession der Ver- waltungsbehörde (der Schulbehörde in Schottland) Kinder im Alter von mehr als 7 Jahren in Theatern oder Zirkussen bei ungefähr- lichen Produktionen zu verwenden (Art. 3).

Alle diese Maßregeln milderten wohl die augenfälligsten Schäden der ungeschützten Kinderarbeit, konnten aber ihrer Zunahme keinen Einhalt gebieten. Um die Mitte der neunziger Jahre begann man daher in den Kreisen der Lehrerschaft systematisch die Kinder- lohnarbeit zu beobachten.

Der Erziehungsausschuß des Womens Industrial Council pflog Erhebungen, deren Ergebnisse im August 1897 in der Nineteenth Century von Mrs. Hoggs veröffentlicht wurden. Im folgenden Jahre setzte dieser Verein ein eigenes Committee on Wage-Earning Children ein, das sich zunächst an das Erziehungsamt mit der Bitte um Veranstaltung von Erhebungen über Beschäftigung, Zahl, Alter, Arbeitszeit und Entlohnung der gewerbetätigen schulpflichtigen Kinder wandte.

Diese Enquete war unvollständig; schlüssig ist sie wohl nur für London, wo von 425000 über 7jährigen Schulkindern 30 800, also über 7 Prozent, vor oder nach der Schule in Fabriken oder Werkstätten gegen Entgelt beschäftigt waren. Hiervon waren 12 130 Kinder, fast 3 Proz. also, über 20 Stunden wöchentlich be- schäftigt; für rund 40000 Schulkinder in England wurde diese Dauer der Beschäftigung nachgewiesen; in 3000 Fällen wurde sogar mehr als 40 Stunden hindurch gearbeitet. l) Angesichts dieser zwar unvollständigen, aber überraschenden Tatsachen setzten das Home Office, das Erziehungs- und das Handelsamt gemeinsam eine Regierungskommission ein, welche über die Beschäftigung schulpflichtiger Kinder, über die bestehenden Kinderschutz- und Schulgesetze und deren Vollzug Bericht erstatten sollte. Die Kommission vernahm vom 13. Februar bis 22. Juli 1901 128

') Elementary Scbools (Children Working for Wages). 1899.

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Gesetzgebung.

Zeugen, insbesondere Lehrer, und erstattete am 25. November 1901 ihren Schlußbericht.1)

Das Ergebnis dieser Enquete ist sehr bemerkenswert ; von etwa 585000 schulpflichtigen Kindern im Alter von 13— 14 Jahren waren nur 208000 in die Schulregister eingetragen. Die Enquete wies 150000 schulpflichtige Kinder aus, die in Fabriken oder Werk- stätten Vollzeit, und 103978, welche Halbzeit arbeiten. Da die Gesamtheit aller Schulkinder 3V9 Millionen betrug, konnte man die Vollzeit arbeitenden und daneben noch berufstätigen Schulkinder auf 4 Proz. veranschlagen. In London stieg ihre Zahl auf 6lj9 Proz.; in Liverpool auf 7 */« Proz.; Spezialerhebungen ergaben, daß die offiziellen Ziffern um fast 2 Proz. unter der Wirklichkeit geblieben waren. Die Enquetekommission schätzt aber die Zahl der Kinder, um welche es sich handelt, auf 300000. Die Feststellungen der Arbeitszeit ergaben ähnliche Differenzen; an Samstagen kamen Fälle von 13 I7stündiger Arbeit vor; endlich wurden einzelne Fälle excessiver Arbeit bei häuslichen Diensten, sowie beim Aus- tragen von Zeitungen festgestellt.

Nach Erwerbszweigen und Betriebsformen ergab sich für die Beschäftigung von Kindern in Großbritannien das folgende Bild:

1. In den Fabriken und Wer ks tätten beträgt das Zulassungs- alter 12 Jahre für die Halbzeit, 13 Jahre für die Vollzeit arbeitenden Kinder. Die Halbzeitarbeit (nur am Vormittage, nur an Nach- mittagen, oder nur jeden zweiten Tag) beträgt in Textilfabriken 27%, in anderen Fabriken und in Werkstätten 30 Stunden in der Woche; dazu kommen 13 1 4 Schulstunden. Im Jahre 1898 betrug die Zahl der Halbzeitarbeiter in Fabriken 41 000, in Werkstätten gegen 2000. Im Jahre 1889 hatte sie noch 82000 in Fabriken betragen. Die Zahl der 13— 14 jährigen Vollarbeiter in den Fabriken betrug 50059.

2. In die gewerbliche Heimarbeit hat die Gesetzgebung auch insoweit regelnd eingegriffen (Factory Act 1901, Section Iii, 115), als es sich um Familienbetriebe, domestic factories and Workshops, handelt

Darunter versteht das Gesetz nichtmotorische Betriebe, die in Räumen, die als Wohnung dienen, von Mitgliedern der dort wohnenden Familie betrieben werden. Die Arbeitszeit für Kinder,

l) Employment of School Children Committce. Minutes of Evidence taken before the Inter-Departmental Committce on Employment of School Children. 190a.

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darf nur von 6 Uhr morgens bis 1 Uhr nachmittags oder von 1 Uhr bis 8 Uhr abends (Samstags bis 4 Uhr nachmittags) dauern; nach 5 stündiger Arbeit muß eine halbstündige Mahlzeitspause eintreten. Das Gesetz beschränkt also hier die Kinderarbeit auf 39 Stunden in der Woche. Sie ist unbeschränkt in der Strohflechterei, Polsterei, Handschuhmacherei und der Fertigstellung von Waren für den Ver- kauf; ebenso treten für unregelmäßige Nebenarbeit der Kinder die Schutzbestimmungen außer Kraft. Inspektoren wie private Beob- achter sind über den geringen Wert dieser Vorschriften einig.1)

In England scheint allerdings außer in den kleinen dem Gesetze nicht unterworfenen Wäschereien die Zahl der Kinder in der Heim- arbeit gering zu sein; es gehören aber die Fälle der schwersten Überarbeitung der Kinder hierher.

3. Die Zahl der schulpflichtigen, erwerbstätigen Kinder in Bergwerken und Brüchen ist ganz unbedeutend,

4. dagegen ist über die Hälfte dieser Kinder (über iooooo) in Handelsbetrieben tätig. Etwa 40000 sind Zeitungsausträger, der Rest trägt in die Häuser der Kunden Milch, Kohle, Petroleum, Kram waren, oft in großen Quantitäten und zwar durch 2 3 Stunden vor und 2 Stunden nach Schluß der Schule. Am langwierigsten und moralisch am verderblichsten ist die Beschäftigung in Barbier- stuben, die in den armen Quartieren hier und da als Spielhöllen fungieren.

5. Gegen 50000 Kinder finden als häusliche Aushilfen (beim Messer- und Schuhereinigen, Kohlentragen) gegen Lohn Be- schäftigung. Den schwersten Arbeiten waren nach den Erhebungen aber Kinder ausgesetzt, die bei den eigenen Eltern solche Arbeit verrichteten; niemand konnte dagegen eine Abhilfe finden.

6. In der Land Wirtschaft konstatierte man nur 6 115 Voll- zeit arbeitende und zugleich schulpflichtige Kinder; mit den Halb- zeit arbeitenden Kindern zusammen steigt aber ihre Ziffer auf etwa 40000 50000. Aus der Enquete ging hervor, daß mit Ausnahme des Steinabsammelns und Jätens im Akkord die landwirtschaftliche Arbeit keine ungesunde sei; daß bei der Hopfenernte die Arbeits- zeit eine zu lange, aber keine übermäßige, daß auch ihre Wirkung auf den Charakter der Kinder eine gute sei, außer in denjenigen Fällen, wo sie mit dem Auswurf der Städte oder Stromern zu-

') Miss G. Tu ck well, The morc obvious defects in our factory code, in: The casc for the factory Acts, Edited by Mrs. Sidney Webb 1902, p. 146.

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sammen arbeiten. Schwer geklagt wird dagegen über die Un- regelmäßigkeit ihres Schulbesuches; es wird empfohlen, die Dispense vom Schulbesuch im Sommer nur als Belohnung regelmäßiger Frequenz im Winter zu erteilen.

7. Im Straßenhandel sind es weniger die von den Eltern beschäftigten als die auf eigene Rechnung als Zeitungsjungen, Zünd- hölzchenverkäufer u. dgl. tätigen Kinder, etwa 25000 an der Zahl die in den Zentren der Großstädte den größten Ver- suchungen ausgesetzt sind; die hygienischen Bedenken treten diesen gegenüber in den Hintergrund.

8. Etwa 15000 Kinder werden gegen Lohn als Treiber, Golf- jungen, zum Wecken der Arbeiter am frühen Morgen, bei dem Zu- tragen ihres Essens, dem Milchaustragen u. dgl. verwendet. Manche dieser Verrichtungen rauben den Kindern den Morgenschlaf und ihre Schulbildung leidet darunter.

Es handelt sich also im ganzen um etwa 300000 Kinder; und aus der Tatsache, daß die unbestritten günstige Wirkung der Fabrik- gesetzgebung diesen Kindern nicht zuteil wird, schloß die Kom- mission, daß eine Erweiterung des Kinderschutzes notwendig sei. Selbst rein wirtschaftlich gesprochen, sei die ständige Arbeit von Ii 13jährigen Kindern eine Vergeudung, denn ein Verdienst von zwei Shillings in der Woche können sie später selbst als unge- lernte Arbeiter in einigen Monaten reichlich einbringen. Sie war aber ebenso überzeugt, daß ganz mäßige Beschäftigung viele Kinder vor Verwahrlosung bewahre. Ein hervorragender Pädagoge, Mr. Chilton Thomas, erklärt es für geradezu grausam, ein Kind von 14 Jahren nicht an physische Arbeit zu gewöhnen, um sodann von ihm ein volles Tagewerk zu verlangen.

Der Kommission lagen im übrigen Ansätze zu einer Kodifikation bereits vor. Die Regelung der Kinderarbeit in England war auf dem Ge- biete des Straßenhandels bereits zum Teil erfolgt. Der Chefinspektor der Zwangserziehungsanstalten hatte schon in seinem Jahresbericht von 1896 (p. 51 54) auf die Verkommenheit der häuslichen Ver- hältnisse der meisten Straßenkinder in Liverpool hingewiesen, die, kaum entlassen, immer wieder in die Anstalt zurückkehrten. Die Hälfte dieser Kinder waren Mädchen. Die Knaben frönten dem Spiel. Für manche Mädchen gab der Straßenhandel den Vorwand für Diebstahl, Prostitution und Erpressungen ab. Eine eigene von der Polizei unterstützte Vereinigung zur Bekleidung der Straßen- kinder wurde gegründet; sie hatte in 5 Jahren in 10500 Fällen

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einzuschreiten; viele Kinder weigerten sich, Kleider anzunehmen, „weil das Geschäft darunter leiden würde". Es wurde daher ein Subkomitee von der Stadtverwaltung im Jahre 1897 eingesetzt, das den Antrag stellte, es möge die Stadt sich an das Home Office um Gewährung zweier Vollmachten wenden: um Gestattung der Kon- zessionierung des Straßenhandels durch Kinder, sowie um die der Er- richtung von Logierhäusern für dieselben. Der Staatssekretär des Innern erklärte seine Zustimmung, da die besonderen Verhältnisse Liverpools außerordentliche Vollmachten erheischten. Es wurde aus- drücklich erklärt, daß die Verweigerung der Konzessionierung nur etwa dann, wenn ein Kind die Annahme ordentlicher Kleidung ver- weigere, erfolgen, dagegen keine begünstigte Klasse von Straßen- händlern geschaffen werden solle. Die Bedingungen der Konzessionie- rung (Tragen von Abzeichen, Bezeichnung der Plätze und Stunden, Bußen) sollten der Genehmigung des Staatssekretärs unterliegen. Die Liverpooler Corporation Act 1898 gab ferner der Stadtverwaltung die Befugnis, die Wohnungen der Eltern und Vormünder der Kinder zu besuchen, um für ihre gute Behandlung zu sorgen und Logier- häuser für sie zu errichten. Die genehmigten Regulative vom 31. Mai 1899 bestimmten, daß kein Kind unter II Jahren die Konzession erhalten, und daß Knaben unter 14, Mädchen unter 16 Jahren der Konzessionierung unterliegen sollten. Der Versuch, diese Konzes- sionierung in einzelnen Fällen von dem Wohnen in städtischen Logierhäusern abhängig zu machen, schlug fehl; die katholischen Mitglieder des Stadtrates verlangten, es sollten Kinder ihrer Kon- fession nur in Logierhäuser geschickt werden, die unter Kontrolle von Katholiken ständen. Die Stadtverwaltung lehnte es ab, in jedem Falle Nachforschungen über die konfessionelle Angehörigkeit eines Kindes vorzunehmen.

Ähnliche Bestimmungen erflossen in den nächsten Jahren in Huddcrsfield, Bradford, Halifax, Scarborough, Southport, Manchester, Bolton, Bury, Swansea, Lowestoft. In Liverpool wurden vom 1. Juni bis 31. Dezember 1899 1049 Konzessionen gewährt, 284 verweigert; am 31. Dezember machten 565 Kinder von der Konzession Ge- brauch; 647 waren wegen Übertretung der Bedingungen gebüßt worden, 61 Kindern hatte man die Konzession entzogen. Es wurde die Erhöhung des konzessionspflichtigen Alters für Knaben bis zu 16 Jahren und die Erschwerung der Konzessionierung für Mädchen in Antrag gebracht.

Als die britische Kinderschutzkommission ihren Schlußbericht

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erstattete, war im Deutschen Reiche ein Gesetz erflossen, das, viel- fach auf den Ergebnissen der britischen Fabrik- und Werkstätten - gesetze von 1891 bis 1901 beruhend, gleichfalls die Regelung der ungeschützten Kinderarbeit sich zum Ziele setzte. Es ist dies das Gesetz betreffend Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben vom 30. März 1903.1) Es knüpft an eine ziemlich bewegte Vorgeschichte an.

In Preußen, Sachsen, Baden und in der Schweiz beförderte die Einführung des Schulzwanges die Notwendigkeit des Fabrikkinder- schutzes. Sollten Lehrlingsgesetze und Schulmandate durchgeführt werden, so mußte den Fabrikskindern und ihren Eltern die Mög- lichkeit ihrer Befolgung ermöglicht werden. Allerdings hören wir von Eltern, die ihre Kinder nach zehnstündiger Arbeitszeit zweimal wöchentlich in die Schule schicken, sie aber an den übrigen Tagen in der Wohnung nach der Fabriksarbeit arbeiten lassen.4)

Jedenfalls waren es diese Motive, die dann in Preußen zu einer Verschärfung des Fabrikkinderschutzes im Jahre 1853 führten.

In der industriellen Entwicklung der nächsten dreißig Jahre ging aber jene Wandlung vor sich, die zur Folge hatte, daß die Kinderarbeit in der Heimarbeit und in der Landwirtschaft ihren früheren Charakter einer leichten Hilfsarbeit veränderte und daß ein Teil der Kinder in Berufen Aufnahme fand, in welchen sie bis- her nicht Verwendung gefunden hatten. Hatte man beim Erlasse der älteren Kinderschutzgesetzgebung vielfach geglaubt, es könne durch Erschwerung der Kinderarbeit das Anwachsen des Fabrik- systems unterbunden oder doch verlangsamt werden, so zeigten sich jetzt ihre Schrecken gerade in denjenigen Gebieten des Erwerbs- lebens, die man gegen das Fabriksystem zu stärken gehofft hatte.

Dennoch wurden die im Reichstage am 14. Januar 1885 ein- gebrachten Anträge auf weitere Beschränkung der Kinderarbeit (Hertling, Schorlemer-Alst, Lieber) nach eingehender Kommissions- beratung und Annahme durch den Reichstag vom Bundesrate 188S verworfen.8)

') Der Text des deutschen Gesetzes im Bulletin des internationalen Arbeitsamts Bd. II (1903) S. 1—7, des britischen Gesetzes S. 375— 380. Die Bibliographie ist in demselben Bulletin unter dem Stichworte „Kinderarbeit" S. 785 verzeichnet.

*) C a r n o t , Lettre ä Mr. le Ministre du commerce sur la legislation qui regle dans quelques etats de l'AUemagne les conditions du travail des jeunes ouvriers. 1840.

•) K. Agahd, Kinderarbeit 1902, S. 14 und in diesem Archiv Bd. XII, (1898) S. 419.

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Insofern diese Anträge auf weitere Beschränkung der Kinder- arbeit sich auf Kinder in Fabriken bezogen, trug ihnen dann die Gewerbenovelle vom 1. Juni 1 891 Rechnung. Das Zulassungsalter der Kinder wird durch sie (vom 9. Juli 1900 an auch in motorisch betriebenen Werkstätten) auf das 13. Lebensjahr angesetzt, darüber hinaus von der Absolvierung der Schulpflicht abhängig gemacht ; die Beschäftigung der Kinder unter 14 Jahren wurde auf 6 Stunden beschränkt, die Nachtarbeit (8Va Uhr abends bis 5 Uhr morgens), verboten.

Der glänzende Aufschwung der deutschen Industrie ist von dem seither vollzogenen Rückgang der Kinderarbeit in Fabriken unberührt geblieben. Dagegen wies die Berufszählung von 1895 nicht weniger als rund 215000 erwerbstätige Kinder unter 14 Jahren auf, von welchen über drei Fünftel auf die Landwirtschaft, fast ein Fünftel (38267) auf die Industrie entfielen; der Rest stand zu überwiegen- dem Teile in häuslichen Diensten. Somit war von sämtlichen in der Industrie tätigen Kindern nur etwa ein Sechstel oder ein Siebentel gesetzlich geschützt. Da aber eingestandenermaßen die von der Berufszählung für die Kinderarbeit angegebenen Ziffern unter der Wirklichkeit blieben und über den Grad der Inanspruchnahme der kindlichen Arbeitskraft keine Auskunft gaben, war es geboten, durch Nacherhebungen diese Lücken zunächst auszufüllen.

Vorarbeiten hierfür waren bereits im Jahre 1894 von den Lehrern zu Rixdorf auf Anregung Konrad Agahds getroffen worden ; und die Geschichte dieser Bestrebungen, die der deutschen Lehrerschaft zur bleibenden Ehre gereichen, ist in Agahds Schriften und namentlich im XII. Bande dieser Zeitschrift nachzulesen.

Den Erhebungen des deutschen Lehrervereins von 1897, die hieran anknüpften, und welche alle Erwerbszweige umfaßten, folgte die durch den Erlaß des Reichskanzlers vom 7. Dezember 1900 angeordnete Erhebung. Die Beschäftigung der Kinder in Land- wirtschaft und Gesindedienst wurde bei dieser Erhebung nicht weiter verfolgt. Dagegen ergab sich eine Gesamtziffer von 306 823 in der Industrie tätigen Kinder und im ganzen von 532283 er- werbstätigen Kinder. Dazu kommen noch rund 140000 Kinder, die nach Angaben der Berufszählung von 1895 im Gesindedienst oder in der Landwirtschaft beschäftigt sind, also zusammen rund 70OOOO Schulkinder, die zugleich erwerbstätig sind.

Vergleicht man nun die Erhebungen in Großbritannien und in Deutschland über den Umfang der ungeschützten Kinderarbeit, so

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erhellt aus ihnen, daß in beiden Ländern die Aufgaben der Gesetz- gebung verschiedene sein müssen. Die Gesamtziffer von 300000 lohnarbeitenden Kindern ist in England geringer als die der un- geschützten in Deutschland, die rund 700000 beträgt; da aber die gesamte hauptberufstätige Bevölkerung hier im Jahre 1895 rund 23 Millionen, in England und Wales (ohne Schottland) dagegen 1 3 Millionen Personen betrug, ist diese Differenz von relativ geringer Bedeutung. Der Anteil der lohnarbeitenden Kinder an der Er- werbstätigkeit des Volkes ist hier wie dort fast derselbe. Aber die Art dieser Erwerbstätigkeit ist eine verschiedene. In Deutsch- land sind rund drei Siebentel dieser Kinder in der Industrie tätig; in England ist es nur rund ein Fünftel. Ein ganz geringfügiger Anteil der Kinder ist in Deutschland nach der Berufszählung mit häuslichen Diensten beschäftigt; in England ist es ein Sechstel. Nur etwas über zwei Siebentel aller erwerbstätigen Kinder sind in Deutschland in Handel, Verkehr, Gast- und Schankwirtschaften mit Austrage- und Laufdiensten beschäftigt ; in England ist es über die Hälfte der erwerbstätigen Kinder. In beiden Ländern scheint endlich rund ein Sechstel dieser Kinder in der Landwirtschaft tätig zu sein.

Das Land des älteren Kinderschutzes hat jedenfalls den Vorteil errungen, daß seine Kinder in physisch weniger anstrengenden Be- rufen tätig sind, als im Lande des jüngeren Industrialismus und Arbeiterschutzes.

Das gilt selbst von der Verteilung der Kinder auf Fabriksindustrie und Heimarbeit. In England schätzt man die Zahl der Kinder in der Hausindustrie auf 15000 unter 60000 industrietätigen Kindern. Dagegen sind 83 Proz. der in der deutschen Industrie nachgewiesenen Kinder in vorwiegend hausindustriellen Erwerbszweigen tätig.

Ein Vergleich beider Enqueten zeigt ferner, daß in England aus dieser Verschiedenheit vorwiegend Mißstände moralischer, wirt- schaftlicher und erziehlicher Natur hervorgehen. In Deutschland überwiegt die Gefahrdung der Gesundheit durch Überarbeitung und Verwendung in gesundheitsschädlichen Betrieben.

In beiden Ländern haben endlich die Mißstände der Heimarbeit dazu geführt, daß mit dem in der Gewerbeordnung und in früheren Fabrikgesetzen noch gewahrten Grundsatze der Nichteinmischung in den häuslichen Familienbetrieb gebrochen werden mußte. Die Erfahrung, daß die Not des Erwerbes auch Eltern zur Ausnützung der Kinder im eigenen Heime treibt, hat zum Abbruch dieser letzten

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St Bauer, Kinderschutzgesctzgebung in Deutschland und Großbritannien.

Bastion der „Arbeitsfreiheit" geführt. Denn je stärker sich die Gesetzgebung gezwungen sieht, in die Arbeitsverhältnisse der kleinen Werkstätten einzugreifen, desto größer ist in gewissen Industrien die Tendenz zur Auflösung dieser Zwergwerkstätten in Familien- betriebe. Gegenwärtig scheint in manchen Hausindustrien der Fa- milienbetrieb bereits völlig zu überwiegen. Es ist selbst von der Handelskammer zu Sonneberg bekannt worden: „abgesehen von 202 Kindern seien sämtliche obengenannte Kinder (5106) in den Arbeitsstätten der eigenen Eltern beschäftigt; damit stimme es überein, daß die Lehrer nichts von Beschwerden über fremde Ar- beitgeber, dagegen sehr viel von übermäßiger Inanspruchnahme der kindlichen Arbeitskraft durch die eigenen Eltern zu berichten hätten." »)

Welche Wirkungen hat nun in beiden Ländern die Schutz- losigkeit erwerbstätiger Kinder hervorgebracht?

Vor allem werden die Bildungsziele der Schule nur mangelhaft oder gar nicht erreicht. Dies war in England in ungeschützten Betrieben um so mehr der Fall, als wenigstens eine formale Kontrolle des Schulbesuches nur den Arbeitgebern in Fabriken und Werk- stätten bei Buße vorgeschrieben ist. In allen übrigen Betrieben hatte der Arbeitgeber eines Kindes nur ein für allemal sich davon zu überzeugen, daß das Kind den teilweisen Dispens vom Schul- besuche erhalten habe.2)

Die deutsche Lehrerenquete zeigt wieder, daß 40 70 Proz. der erwerbstätigen Schüler in Industriebezirken unternormale Lehrer- ergebnisse aufwiesen. Diese Kinder sind träge, schläfrig, teilnahms- los. Daran mag ja zum Teile auch unser Schulbetrieb selbst Schuld tragen, der nach der Anschauung hervorragender Physiologen zu Ermüdungsnarkosen führt, welche die Schüler unfähig machen, ihre natürlichen Kräfte zur Erfassung des Unterrichtsstoffes auszunutzen.8)

Ob aber diese Monotonie des Schulbetriebes durch starke körperliche Anstrengungen mit Vorteil unterbrochen würde, ist noch, nicht klargestellt und wird von denselben Physiologen stark an- gezweifelt. Man verweist zwar in England auf die Vorzüge des gewerblichen Vorunterrichtes, die namentlich in den schwedischen

M K. Agahd: Kinderarbeit und Kinderschutz, 1902, S. 120. *) Education Departement. Report of Departmental Coramittee appointed to inquire into Conditions of School Attendance and Child Labour 1893 p. 26. J) E. Kraepelin, Cber geistige Arbeit Jena 1903, S. 17.

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Kinderwerkstätten (Arbeitsstugor fbr Barn) hervorgetreten seien.1} Es unterliegt aber keinem Zweifel, daß die Erwerbstätigkeit im Straßenhandel den Widerwillen gegen die Schuldisziplin nicht minder erhöht wie die übermäßige gewerbliche Kinderarbeit die Aufnahmsfahigkeit der Kinder beim Unterricht untergräbt.

Inwiefern die Erwerbstätigkeit der Kinder zur Erhöhung der jugendlichen Kriminalität beiträgt, ist schwer festzustellen. Jugend- liche Verbrecher geraten vor allem durch die Not des Hauses oder durch das Beispiel erwachsener Mitarbeiter auf die Bahn des Lasters. Wenn wir aber finden, daß zwei Drittel der Kinder, welche in England in Zwangserziehungsanstalten übergeben werden mußten, Straßen- handel getrieben hatten, so läßt dies doch auf die mit dem spezifisch Gewerbebetriebe verbundenen Versuchungen schließen.

Die starke Kriminalität der Jugendlichen in hausindustriellen •Gebieten im Deutschen Reiche bietet hierzu das natürliche Gegen- stück. Die Versuchung zum kleinen Diebstahl, die geschlechtliche Frühreife hier, der Anblick des städtischen Nachtlebens dort, die Zusammerpferchung in elenden Wohnstätten fuhren hier wie dort zur physischen und moralischen Entartung. Daß die Abbüßung der Freiheitsstrafen jugendlicher Übeltäter in Gesellschaft alter Häft- linge ihre Rückfälligkeit nur fördert, ist allbekannt. So wirkt denn hier eine Reihe von Einflüssen zusammen, deren Wirksamkeit Stück für Stück abzuschwächen die Aufgabe der sozialen Fürsorge bildet.

Die Schwächung der Leistungsfähigkeit der aufwachsenden Arbeitergeneration ist jedenfalls eines der gewichtigsten Motive ge- wesen, das zur Regelung der ungeschützten Kinderarbeit geführt hat. Die Intensität, mit welcher Kinder zur Erwerbstätigkeit in Deutschland und England herangezogen werden, illustrieren ganz ungefähr die folgenden Zahlen: In England waren 1898 von 140000 Kindern 30 vom Hundert über 20 Stunden wöchentlich, in Preußen von 1 10682 Kindern 68,61 Proz. vier- bis siebenmal wöchentlich durch mehr als 3 Stunden beschäftigt. In Sachsen-Meiningen wird in einigen Schulgemeinden bis 2, 3, 4 Uhr morgens und gegen AVeihnachten die ganze Nacht hindurch von Kindern gearbeitet. Bedenkt man, daß die hausindustrielle Beschäftigung der deutschen Kinder weit anstrengender ist, als jene der englischen, vorwiegend

'} Employment of School Children Committee 1902, Mioutes of Evidence. Appendix 53, S. 473.

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St. Bauer, KinderscbuUgeseUgebung in Deutschland und Großbritannien. £31

im Handel tätigen Kinder, so geht, soweit bei der Verschiedenheit der Fragestellung Schlüsse zulässig sind, die ungemein starke Belastung des deutschen Kindes durch Erwerbstätigkeit hieraus hervor.

Auch in Deutschland waren nun Ansätze zu einer Regelung der Erwerbstätigkeit schulpflichtiger Kinder in den Polizeiverord- nungen einer Reihe von Städten vorhanden. Sie verbieten die Beschäftigung von Kindern bald unter zehn, bald unter 12 Jahren, nach einer bestimmten Stunde (bald acht, bald neun Uhr abends) in Gastwirtschaften, beim Kegelaufsetzen, Austragen von Backwaren, Milch, Zeitungen, bei Schaustellungen und in Theatern. In einzelnen Fällen wird schulpflichtigen Kindern jede gewerbliche Nachtarbeit d. h. bald nach 7, bald nach 9 Uhr und bald bis 5*/, bis 6ljt Uhr morgens, in Düsseldorf bis zum Beginn des Unterrichtes verboten. Hier und da finden diese Verbote nur auf Kinder Anwendung, die nicht von ihren Eltern oder den Personen, in deren Haushalt sie leben, beschäftigt werden. Wie man sieht, waren diese städtischen Verordnungen ziemlich ungleichartiger Natur; ihre Rechtsgrundlage wurde ihnen durch einige Oberlandsgerichte 1897 abgesprochen, dann wieder durch das Kammergericht zuerkannt; 1901 war sie wieder in Frage gestellt worden. In einzelnen Gemeinden waren frühere Kinderschutzverordnungen in Vergessenheit geraten.

So kann man wohl sagen, daß diese unbefriedigende Regelung durch die städtische Selbstverwaltung nach Abhilfe drängte. Sie lag in dem Erlasse eines Reichsgesetzes, das gleichartige Normen schaffen sollte. Aus dem verschiedenartigen Ergebnisse der städtischen Kinderschutzpolitik in Großbritannien und im Deutschen Reiche erklärt sich auch der Unterschied, den die Reichsgesetze hüben und drüben in bezug auf die Befugnisse der Selbstverwaltung statuieren.

Vergleichen wir nunmehr die beiden Gesetze selbst, so beant- wortet jedes der Gesetze schon die Frage des Umkreises des Schutzes verschiedenartig.

I. Das deutsche Kinderschutzgesetz bezieht sich auf die Ver- wendung in gewerblichen Betrieben im Sinne der Gewerbeordnung 1), also nicht auf Landwirtschaft und Gesindedienst. Der Kreis dieser Betriebe wird nur erweitert auf Räume, die zum Schlafen, Wohnen oder Kochen dienen, wenn darin gewerbliche Arbeit ver- richtet wird, sowie auf im freien gelegene gewerbliche Arbeits- stellen (§ 18). Diese Kinder schützt nun bereits die englische Fabrik- Archiv für Sozialwilsenschaft u. Sozialpolitik. I. (A. f. »oz. G. u. St. XIX.) 3. 41

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Gesetzgebung.

und Werkstättengesetzgebung von 1901 ; während daher im wesent- lichen der deutsche Gesetzgeber bemüht ist, Versäumtes nachzuholen und den Schutz auf die Heimarbeit auszudehnen, ist es vielmehr die Ausdehnung auf Handelsgewerbe und auf die Landwirtschaft, sowie auf die noch ungeschützten, durch das Fabrikgesetz ausge- nommenen Familienbetriebe (Wäschereien usw.), die dem britischer» Gesetzgeber obliegt. Er definiert daher den Kreis der zu schützenden Beschäftigungen als „Beschäftigung mit irgend einer Arbeit, die gewerbsmäßig oder mit Gewinnabsicht betrieben wird, mag der Gewinn dem Kinde oder irgend einer anderen Person zufließen" (Art. 13). Nicht zu schützen sind lediglich die in den Handarbeits- schulen und Zwangserziehungsanstalten beschäftigten Kinder (Art. 10). Es ist somit die gesamte Produktions- und Handelstätigkeit der Kinder der Möglichkeit einer Regelung unterworfen.

II. Beide Gesetze enthalten Minimalbestimmungen, welche, natürlich unter Berücksichtigung derjenigen reichsrechtlichen Be- stimmungen, zu welchen die Kinderschutzgesetze ergänzend hinzu- treten, im Deutschen Reiche durch die Bundesstaaten 30), in Großbritannien durch die Lokalbehörden mit Genehmigung des Staatssekretärs des Innern erweitert werden können (Art. 1 4, 9). In bezug auf diesen Minimalschutz unterscheidet das deutsche Gesetz zwischen zwei Kategorien von Kindern: zwischen fremden und eigenen Kindern (§§ 1 3). Der Schutz der eigenen Kinder betrifft die mit dem Arbeitgeber oder dessen Ehegatten bis zum dritten Grade verwandten, die an Kindesstatt angenommenen, bevor- mundeten sowie die zur Fürsorgeerziehung zugewiesenen, mit eigenen Kindern im Haushalte des Arbeitgebers, ferner die im Auftrage dritter Personen im Haushalte der Eltern, Vormünder beschäftigten Kinder 3). Zwar ist es weder bei eigenen noch bei fremden Kindern notwendig, daß ein Arbeitsvertrag mit dem Arbeitgeber abgeschlossen sei. Aber die größere Leichtigkeit der Kontrolle der Beschäftigung fremder Kinder hat den deutschen Gesetzgeber ver- anlaßt in denjenigen Fällen beide Arten von Kindern ungleichartig zu behandeln, in welchen nicht die Gefahr der Begünstigung des Familienbetriebes allzu offenkundig war, oder jene Schwierigkeiten der Kontrolle nicht bestanden.

Diesen Unterschied macht die britische Gesetzgebung nicht; sie überläßt es den Lokalbehörden, über die Schwierigkeiten der Kontrolle hinwegzukommen. Es ist vorauszusehen, daß, sobald die Zahl der fremden erwerbstätigen Kinder in Deutschland stark ab-

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genommen haben wird, eine Revision des Gesetzes im Sinne mög- lichst gleichartiger Behandlung der eigenen und fremden Kinder wird Platz greifen können.

III. Innerhalb der so abgesteckten Anwendungsgebiete wird der Begriff des erwerbstätigen schutzpflichtigen Kindes ähnlich abgegrenzt, soweit die Verschiedenheiten der Volksschulpflicht dies gestatten. Das deutsche Gesetz betrachtet als „Kinder" Knaben und Mädchen unter dreizehn Jahren, sowie solche Knaben und Mädchen über dreizehn Jahren, welche noch zum Besuche der Volksschule verpflichtet sind 2).

Das britische Gesetz versteht unter Kindern Personen unter 14 Jahren (Art. 13) und gibt den Lokalbehörden die Befugnis, die Beschäftigung von Kindern im Straßenhandel bis zum 16. Lebens- jahre zu untersagen (Art. 2) ; überhaupt wird nur, insofern nicht die Vorschriften der Bergwerksgesetze und des Fabriksgesetzes ent- gegenstehen, den Lokalbehörden in bezug auf das Zulassungsalter, die Normierung der Arbeitsdauer oder die Höchstzahl der Stunden der zulässigen Verwendung in der Woche freie Hand gelassen (Art. 1, 9). Auch im Deutschen Reiche gibt das Kinderschutzgesetz den Polizeibehörden die Befugnis, bestimmte Beschäftigungen zu beschränken und zu untersagen; so können auch eigene Kinder beim Austragen der Waren ihrer Kitern und bei Botengängen solchen Regelungen unterworfen werden 17); ebenso in Gast- und Schankwirtschaften zur Beseitigung erheblicher die Sittlich- keit gefährdender Mißstände; endlich überhaupt auch in zu- lässigen Beschäftigungen, sofern dabei erhebliche Mißstände zutage getreten sind, und zwar auf Antrag oder nach Anhörung der Schul- behörde (§ 20). Diese Bestimmung gehört zu den erfreulichsten des Gesetzes, da sie die Initiative und Kontrolle der Lehrerschaft wachruft. Sie deckt sich mit jenen des britischen Gesetzes, das aber allerdings den Lokalbehörden das Recht gibt, bis zum 16. Jahre Regulative und Verbote zu erlassen, und sogar direkt die Wünsch- barkeit solcher Verbote für Mädchen unter 16 Jahren in bezug auf den Straßenhandel ausspricht.

IV. Zwischen den einzelnen Minimalschutzvorschriften lassen sich folgende Vergleiche ziehen: Die Kinderbeschäftigung wird in beiden Gesetzen geregelt : erstens durch Festsetzung eines bestimmten Zulassungsalters bei gewissen Berufen, zweitens durch völlige Ver- bote jeder Kinderarbeit bis zum 13. oder 14. Lebensjahre.

Das Zulassungsalter wird fixiert: in Werkstätten, im

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Handels- und Verkehrsgewerbe auf zehn Jahre für eigene, auf 12 Jahre für fremde Kinder im Deutschen Reiche.

In den Werkstätten Großbritanniens gelten hier die Vorschriften des Fabrikgesetzes 19 01 Art. 62; für eigene wie fremde Kinder gilt das 12. Lebensjahr als Beginn der Ge Werbetätigkeit. Das gilt auch von der Heimarbeit, soweit sie nicht durch Gesetz (Art. 114) oder Verordnung ausdrücklich ausgenommen ist. Da- gegen macht das deutsche Gesetz eine subtile Unterscheidung: fremde Kinder dürfen vom Heimarbeiter nicht vor dem 12., eigene Kinder, welche für die Eltern zu Hause arbeiten, vom 10., dagegen wenn sie für Dritte arbeiten, auch nur vom 1 2. Jahre an beschäftigt werden. Es ist abzuwarten, ob nicht gerade hierdurch die Kontrolle erschwert wird.

Für Handelsgewerbe und Gastwirtschaften ist durch die britische Gesetzgebung kein Zulassungsalter festgesetzt ; nur für den Straßen- handel setzt das neue Gesetz (Art. 3) ein solches Minimalalter von

1 1 Jahren für eigene wie für fremde Kinder fest. Das deutsche Kinderschutzgesetz verbietet dagegen Kinder unter 12 Jahren eigene wie fremde im Betriebe von Gast- und Schankwirt- schaften zu verwenden und von Mädchen unter 1 3 Jahren die Gäste bedienen zu lassen. Nur auf dem flachen Lande und in kleinen Landstädten (Orten mit unter 20000 Einwohner) werden zugunsten der eigenen Kinder Ausnahmen zugelassen; es dürfen also hier be- reits die zehnjährigen Kinder des Wirtes bedienen, Kegel auf- setzen u. dgl. (§§ 7, 16). Das Minimalalter der beim Austragen von Waren und sonstigen Botengängen beschäftigten Kinder ist nur in Deutschland geregelt worden; hier ist das Minimalalter von

12 Jahren für eigene wie für fremde Kinder festgesetzt; nur wenn die eigenen Kinder von ihren Eltern beschäftigt werden, ist die Be- schäftigung eigener Kinder reichsrechtlich uneingeschränkt zulässig <"§ 1 7). Sowohl in dieser Hinsicht, als insbesondere in bezug auf den Schutz der Theaterkinder ist das deutsche Gesetz weitergehender als das britische. Nach hartem Kampfe hat man in England durch- gesetzt, daß Kindern unter zehn Jahren Konzessionen zu Schau- stellungen nicht erteilt werden sollen (Art. 11). Im Deutschen Reiche ist das Verbot der Kinderbeschäftigung bei öffentlichen theatralischen Vorstellungen und anderen öffentlichen Schau- stellungen bis zum 13. Lebensjahre für fremde wie für eigene Kinder ausgesprochen worden (§§6, 15). Ausnahmen werden nach Anhörung der Schulaufsichtsbehörde nur dann zugelassen, wenn

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ein höheres Interesse der Kunst oder Wissenschaft obwaltet. Diese sollen, den Motiven des Gesetzes gemäß, daher an Akrobaten, Artisten oder für Zirkusvorstellungen nicht erteilt werden können.

Die Dauer der täglichen Kinderarbeit zu bestimmen ist in England der Ortsbehörde überlassen worden. Es bestehen gesetzliche Vorschriften nur für Kinder in der Heimarbeit, im Detailhandel und in den Gast- und Schankwirtschaften. In der Heimarbeit gestattet das englische Fabriksgesetz den Kindern eine Nettoarbeitszeit von 2 !/2 Stunden (Art. 1 1 1 c u. d) ; in Läden und Wirtschaften dürfen Personen unter 18 Jahren wöchentlich mit Ein- schluß der Mahlzeiten durch höchstens 74 Stunden beschäftigt werden (Shop hours act 1892 art. 3). Hier liegt also noch für die Lokalbehörden ein weites Feld brach. Dagegen hat das deutsche Gesetz die Heimarbeit der Kinder zwar weniger eingeschränkt, aber kontrollierbarer gestaltet, als der britische Gesetzgeber. Es gestattet fremden Kindern über 12 Jahren nicht länger als drei Stunden, während der Schulferien nicht länger als vier Stunden zu arbeiten 5). Dagegen dürfen eigene Kinder von zehn Jahren ange- fangen für ihre Eltern, und von 12 Jahren an für Dritte nach dem Vormittagsunterricht, dann zwei Stunden nach der Mittagszeit und eine Stunde nach beendetem Nachmittagsunterrichte bis 8 Uhr abends beschäftigt werden. In den Ferien tritt in diesem Falle nur der durch das Verbot der Nachtarbeit und das Gebot der zweistündigen Mittagspause hergestellte Zehnstundentag in Kraft (§§ 5 u- Diese Bestimmungen betreffen auch den Betrieb von Werkstätten, das Handels- und Verkehrsge werbe.

In bezug auf das Verbot der Sonn- und Festtagsarbeit ist der deutsche Gesetzgeber für die bisher ungeschützten Betriebe strenger als der englische. Während dieser das Verbot der Sonntags- arbeit (Art. 34 des Fabrikgesetzes) für domestic Workshops nicht auf- recht hält (Art. Iii 4c), wird es durch das deutsche Kinderschutz- gesetz neu eingeschärft 9). Nur beim Austragen von Waren und Botengängen durch fremde Kinder ist Sonntags eine längere als zweistündige Beschäftigung, jede Arbeit während des Gottesdienstes oder in der letzten halben Stunden vor Beginn desselben und nach ein Uhr mittags untersagt. Dasselbe gilt, wenn sie durch die Eltern für Dritte beschäftigt werden; dagegen ist in Gast- und Schankwirtschaften und bei Botengängen die Sonntagsarbeit eigener Kinder gestattet.

Wir wenden uns nunmehr den Beschäftigungsverboten zu.

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Gesetzgebung.

Das Verbot der Nachtarbeit erstreckt sich in Großbritannien auf alle Kinder bis 14 Jahren (Art. 3). In Deutschland gilt es für fremde Kinder von 12 13 Jahren, für eigene Kinder von 10 13 Jahren (§§ 5 u- !3)- Als Nacht betrachtet in diesem Falle das deutsche Gesetz die Zeit von 8 Uhr abends bis 8 Uhr morgens und die Zeit vor dem Vormittagsunterrichte, der britische Gesetzgeber die Zeit von 9 Uhr abends bis 6 Uhr morgens (Art. 3), und er gestattet von Fall zu Fall der Lokalbehörde diese Stundeneinteilung abzu- ändern. Nur in der Heimarbeit Englands bleibt es natürlich bei der Bestimmung des Fabrikgesetzes, der Nachtruhe von 8 Uhr abends bis 6 Uhr morgens (Gesetz von 1901 Art. Iii, 1 d). Verboten ist ferner eigenen wie fremden Kindern im Deutschen Reiche die Be- schäftigung in motorischen Betrieben (Bekanntmachung vom 9. Juli 1900 R.G.B1. S. 565, und Kinderschutzgesetz § 12), ferner in einer Reihe von gesundheitschädlichen und gefahrlichen Betrieben, die das Gesetz taxativ aufzählt 4 und Verzeichnis) und die der Bundesrat zu erweitern ermächtigt ist. An Stelle dieser Aufzählung verfugt das britische Gesetz (Art. 3, Abs. 4, 5) : „Kein Kind soll mit dem Heben, Tragen oder Schieben von Gegenständen, die infolge ihrer Schwere dem Kinde Schaden zufügen können, und kein Kind in irgend einem Berufe beschäftigt werden, der sein Leben, seinen Organismus, seine Gesundheit oder Erziehung nach Maßgabe seiner körperlichen Entwicklung schädigen könnte." Das Zeugnis eines approbierten, registrierten Arztes dient der Lokalbehörde in diesem Falle als Beweisstück gegen Zuwiderhandlungen der Arbeit- geber.

In einer Reihe von gefahrlichen Industrien ist in Großbritannien jedoch bereits durch Art. 77 und auf Grund des Art. 78 des Fabrik- gesetzes von 1901 das Verbot der Kinderbeschäftigung ausgesprochen worden. Mit dem Verbote der Kinderbeschäftigung in den durch die Bleiglasurarbeiten gefahrlichen Töpfereien, in Glasbläsereien, Spiegelbelegen, Metallschleifereien, in Bleibctrieben und Gummi- fabriken ist England vorausgegangen. Die reichsrechtlichen Spezial- verbote werden derzeit in Großbritannien einer Revision unterworfen, bei welcher die deutsche Liste wertvolle Dienste leisten dürfte. In mancher Hinsicht geht bereits die Gesetzgebung Englands hier weiter; so schließt sie von der Arbeit in Ziegeleien auch die unter 16jährigen Mädchen aus; in Deutschland sind nunmehr alle unter 13 jährigen Kinder beiderlei Geschlechts ausgeschlossen. Die leichte Individualisierung der Fälle, die durch das Vorgehen der englischen

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Lokalbehörden ermöglicht wird, bildet einen gewissen Vorzug des britischen Gesetzes.

Die Eigenart des britischen Fabrikgesetzes, welches Kindern von 12—14 Jahren die Halbzeitarbeit gestattet, hat endlich ein Verbot der Verwendung von Kindern nach vollendeter Halbzeit- arbeit notwendig gemacht (Art. 3). Solche Verbote bestanden bis- her: für die Arbeit von Kindern in Fabriken und Werkstätten nach Verrichtung von Halbzeitarbeit (Fabrikgesetz Art. 31) und für die Verwendung in Läden und Gastwirtschaften nach solcher gewerb- licher Halbzeitarbeit (Shops hours Act 1892 Art 3). Im Grunde genommen handelt es sich für diese Kategorie von Kindern um eine Ausdehnung des Verbotes auf Landwirtschaft, Gesindedienst und Straßenhandel. Da das deutsche Gesetz die Verwendung von Kindern in Fabriken und Werkstätten von der Absolvierung der Schulpflicht abhängig macht, genießt hier die Verwaltung den Vor- teil, der schwierigen Überwachung der Arbeit der Halbzeitkinder enthoben zu sein.

Uberblickt man das ganze System der Minimalschutzbestim- mungen in beiden Ländern, so ist es kaum möglich zu sagen, welches Land für seine Kinder mehr getan habe. In bezug auf den Kreis der möglicherweise in Landwirtschaft und Gesindedienst geschützten Kinder gebührt England der Vorrang; in bezug auf die Strenge des Schutzes der fremden Kinder, insbesondere in ge- sundheitsgefahrlichen Betrieben, aber nicht der eigenen, ist das Deutsche Reich vorgeschrittener. Aber auch hier können in einigen Jahren der Bundesrat, die Bundesstaaten sowie die Polizei- behörden, dort die Lokalbehörden die Unterschiede ausgeglichen haben. Von ihnen sowie von den Aufsichtsbehörden hängt bis zur nächsten Revision der Kinderschutzgesetze alles ab. Wir haben daher noch die Vorschriften beider Länder über die A u f s i c h t und die Ausführung der Gesetze zu betrachten. Das britische Gesetz legt seine Durchführung grundsätzlich in die Hände der Lokalbehörden ; es sind dies die borough Councils, city Councils, county Councils in England; in Schottland werden die Lokalverordnungen über Kinder- beschäftigung und über Beschäftigungs verböte vom Erziehungsamte erlassen; dieses hat auch die Aufsicht über ihre Durchführung zu besorgen, alle anderen Bestimmungen werden vom Stadtrate durch- geführt; in Irland liegt sie den Distrikts- und Grafschaftsräten ob (Art. 13, 14, 16). Die staatliche Gewerbeinspektion interveniert nur dann, wenn eine Übertretung des Verbotes der Beschäftigung

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Gesetzgebung.

von Halbzeitkindern der Fabriken und Werkstätten in früher unge- schützten Berufen stattfindet (Art. 9). Die Beamten der Lokal- behörden erhalten durch das Gesetz die Befugnis, binnen drei Monaten (ebenso § 18 des deutschen Gesetzes) nach erfolgter Über- tretung darüber beim Friedensrichter Klage zu erheben.

Dieser kann den Beamten beauftragen, binnen 48 Stunden die Arbeitsstelle des Kindes, „sei dies ein Gebäude oder nicht, zu irgend welcher Tageszeit" (at any reasonable time) aufzusuchen und den Tatbestand aufzunehmen. Bei Einlaßverweigerung kann bis zu 20 Pfd. Sterling Buße verhängt werden.

Das deutsche Kindcrschutzgesetz legt grundsätzlich die Ge- werbeaufsicht in die Hände der Polizei und der einzelstaatlichen Gewerbeinspektion, insoweit nicht durch Bundesratsbeschluß oder durch die I Landesregierungen die Aufsicht anderweitig geregelt ist 21). In Privat Wohnungen, in denen ausschließlich eigene Kinder beschäftigt werden, dürfen Revisionen während der Nachtzeit nur stattfinden, „wenn Tatsachen vorliegen, welche den Verdacht der Nachtbeschäftigung dieser Kinder begründen".

Es ist von vornherein klar, daß die Belastung der Inspektion einerseits, die Belästigung der Polizei andererseits die meisten Bundes- staaten dazu führen dürfte, die Lehrer, die Ärzte, und nach dem Vorschlage des Gewerbeinspektors Lösser auch intelligente Arbeiter zur Mitaufsicht heranzuziehen. Diese Elemente sind gegenwärtig bereits in den britischen Lokalbehörden vertreten.1) In der Tat haben z. B. Hamburg und Hessen die Mitwirkung der Lehrer durch Er- teilung von Auskünften, durch Führung von Verzeichnissen der gewerblich tätigen Kinder, durch Stellung von Anträgen bei Be- schwerden gegen behördliche Verfügungen bereits verfügt.4)

Das deutsche Kinderschutzgesetz verpflichtet ferner die Arbeit- geber, welche fremde Kinder nicht bloß zu gelegentlicher Beschäf- tigung mit einzelnen Dienstleistungen (also wohl ständig oder

') „Im allgemeinen werden die aus dem neuen Gesetze fließenden Kompetenzen denjenigen durchaus verwandt sein, welche den von den Stadträten ernannten Schul- aufsichtsbeamten übertragen sind, und infolge dieser ihrer Pflichten werden diese Beamten jedem Inspektor oder Funktionär, der dieses Gesetz oder die Durchfiihrungs- erlasse in Kraft zu setzen hat, die größten Dienste leisten, wenn sie nicht über- haupt selbst damit direkt betraut werden." Rundschreiben des Home Office vom 14. November 1903 p. 8.

a) Bulletin des internationalen Arbeitsamts, Bd. II (1903) S. 602, Bd. III (1904) S. 16.

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periodisch oder in intensiver Weise in längeren Zeitabschnitten) verwenden, zur schriftlichen Anzeige bei der Ortspolizeibehörde und zur Lösung einer Arbeitskarte Ii). Diese kann, wenn sich bei der Beschäftigung erhebliche Mißstände ergeben, entzogen und die weitere Beschäftigung untersagt werden 20). Wie man sieht, will man in erster Reihe sich einen Einblick über die Ab- oder Zunahme der Arbeit der fremden Kinder verschaffen und zu ihrer Verringerung beitragen. Für die reinen Familienbetriebe der Heim- arbeit ist diese Anzeigepflicht ohne Belang.

Dagegen kennt das britische Fabrikgesetz den Registrierungs- zwang auch für die Heimarbeit (Fabrikgesetz von 1891 Art. 27, von 1895 Art. 42, von 1901 Art. 107); man verzeichnete im Inspektoren- berichte für 1899 (S. 78) 3804 solcher Listen mit 73 174 Outworkers; 67 344 entfielen davon auf das Bekleidungsgewerbe. Auf Vorschrift des Staatssekretärs kann dieser Zwang auch auf Familienbetriebe, also auch auf die Verwendung der eigenen Kinder ausgedehnt werden (Gesetz von 1901 Art. in, Abs. 2).

Der Straßenhandel der Kinder kann durch die Lokalbehörden in England von einer Konzession abhängig gemacht werden (Art. 2). Auch hier wird zwischen eigenen und fremden Kindern ein Unter- schied nicht gemacht. In diesem Falle gibt es hier, wie beim Gangsystem in der Landwirtschaft, volle Anzeigepflicht. Die Straf- vorschriften des britischen Gesetzes treffen sogar die Kinder selbst, welche die Vorschriften über den Straßenhandel übertreten (Art. 5, Abs. 3), jene des deutschen Gesetzes betreffen nur die Arbeitgeber und die Eltern, diese minder streng, als jene (§§ 23, 29).

Man kann sich nicht verhehlen, daß der große Fortschritt, den die Kindergesetzgebung in Deutschland wie in England grund- sätzlich gemacht hat, eine Fülle neuer Verwaltungsaufgaben ge- schaffen hat, deren Lösung erst abzuwarten ist. Der Rechtszustand wird sich in beiden Staaten zunächst noch weiter komplizieren, und erst die Erfahrungen der nächsten Jahre werden lehren, welches Land den Kinderschutz am wirksamsten durchgeführt hat; die Trag- weite dieser Erkenntnis für Volkswirtschaft, Schule und Verwaltung wird keine geringe sein. Daß der Schutz der Kinder in der Heim- arbeit gegen Überarbeit, vor allem das Verbot ihrer Nachtarbeit, sich als durchführbar erweisen wird, darf am ehesten erwartet werden. An solche Erfahrungen wird eine Regelung der Heim- arbeit auch international anknüpfen können.

Ein Rückblick auf die Anfänge des Kinderschutzes läßt aber

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Gesetzgebung.

die Tragweite der neuen Gesetzgebung für jede Nation unschwer erkennen. Vor zwei Menschenaltern galt es noch, die Kinder der Arbeiter den Klauen der Maschinerie zu entreißen; heute gilt es, ihre physische und moralische Entartung im Erwerbsleben zu ver- hüten und für die Charaktergrundlagen des jugendlichen Arbeiters Vorsorge zu treffen. Aus vereinzelten Maßregeln polizeilicher Ab- wehr ist so im Laufe der Entwicklung ein Stück nationaler Selbst- erziehung geworden.

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Die Fortschritte auf dem Gebiete des Arbeiter- Schutzes in den Niederlanden.

Von

Dr. PH. FALKENBURG,

Amsterdam.

Die Redaktion dieser Zeitschrift ersucht mich eine Übersicht zu geben über die Fortschritte der niederländischen Arbeiterschutz- gesetzgebung in den letzten Jahren. Diese Einladung, so ehrenvoll sie für mich ist, bringt mich in nicht geringe Verlegenheit. Denn von Fortschritten ist in den letzten Jahren unter dem Ministerium Dr. Kuypers nicht die Rede mehr. Seit 1897 sind keine Fort- schritte aufzuweisen mit Ausnahme einiger wenig wichtigen Ab- änderungen und Erweiterungen der Schutzgesetze. Im Gegenteil, was über die Wirksamkeit des am Ruder stehenden Kabinetts auf diesem Gebiet zu berichten ist, sind keine Fortschritte, son- dern Rückschritte. Vielleicht bringt aber die Zukunft im laufenden Jahre, dem letzten der jetzigen Legislaturperiode 1901 1904, noch etwas erfreuliches und deshalb erachte ich es angebracht, den heutigen Stand der Arbeiterschutzgesetzgebung kurz zusammen- zufassen, damit ich dann später an das schon hier Gesagte an- knüpfen kann.

Etwa 1897 war die niederländische Arbeiterschutzgesetz- gebung zum vorläufigen Abschluß gelangt. Es lagen damals drei Gesetze vor, die man später zu kodifizieren gedachte. Es waren:

I. das Gesetz vom 5. Mai 18891) gegen übermäßige und ge-

') Wortlaut des sogenannten Arbeitsgeseties in deutscher Übersetzung, s. Band II dieses Archivs p. 510.

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Gesetzgebung.

fährliche Arbeit von Frauen und Jugendlichen. Es erstreckt sich auf Frauen und Kinder unter 16 Jahren, die in Fabriken und Werk- stätten (einschließlich der Hausindustrie) arbeiten.

Bis 1874 hatte jeder Arbeiterschutz gefehlt; von 1874 ab war die gewerbliche Beschäftigung von Kindern unter 12 Jahren ver- boten. Erst das Gesetz von 1889, eine Folge der Arbeitsenquete von 1886 87, brachte eingehendere Bestimmungen. Unter Arbeit versteht das „Arbeitsgesetz" von 1889 alle gewerbliche Beschäftig-ung- mit Ausnahme von Land- und Gartenwirtschaft, Forstbetrieb, Vieh- zucht und Torfgraberei. Arbeit von Kindern unter 12 Jahren bleibt untersagt. Durch königlichen Erlaß kann die Beschäftigung jugend- licher Arbeiter unter 16 Jahren und Frauen jeglichen Alters für gewisse Arbeiten, welche mit besonderen Gefahren für Leben und Gesundheit verbunden sind, entweder gänzlich untersagt oder von gewissen Bedingungen abhängig gemacht werden (Erlaß, in letzter Abfassung, vom 16. Mai 1903). l)

Ein absolutes Verbot spricht dieser Erlaß nur aus für Arbeit in a) Bergwerken unter Tag, b) Arbeitsräumen, in welchen Blei- oxyd, Bleizucker, Bleiweiß, Mennig oder Chromatstoffe erzeugt, elek- trische Akkumulatoren verfertigt oder Quecksilber, Quecksilberfolie oder weißer Phosphor verarbeitet werden. Jugendlichen Personen ist verboten die Arbeit als selbständiger Maschinenführer oder Heizer, weiter die Bearbeitung von Explosivstoffen und das Ziehen, Schieben oder Tragen einer Last, wenn diese augenschein- lich die Kräfte übersteigt, und schließlich die Ausübung gefährlicher artistischer Produktionen.

Frauen und Jugendlichen in Ziegelbrennereien ist außerdem verboten das Führen beladener Schubkarren, das Entnehmen der Steine aus den Formen, die mehr als einen Stein fassen, das Ver- laden der Steine durch Zuwerfen oder Tragen, das Herausnehmen der noch nicht ganz abgekühlten gebrannten Ziegel aus den Öfen (Erlaß vom 4. November 1903). *)

Arbeiterinnen dürfen während vier Wochen nach der Nieder- kunft nicht beschäftigt werden.

Die tägliche Arbeitszeit der Frauen und Jugendlichen ist auf 11 Stunden beschränkt und zwar zwischen 5 Uhr morgens und

J) Wortlaut in deutscher Übersetzung im Bulletin des Internationalen Arbeitsamts, Bd. II, Nr. 10, S. 544—549. •) Wortlaut ebendaselbst S. 549.

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Ph. Falkenburg, Fortschritte des Arbeiterschutzes in den Niederlanden. 64 3

7 Uhr abends mit wenigstens einer Stunde Mittagspause. Wegen besonderer Umstände kann der Provinzialgouverneur, in dringenden Fällen auch der Bürgermeister, für die Dauer von 6 Tagen täglich 2 Überstunden, oder für 14 Tage jeden zweiten Tag Überstunden gestatten. Nach Verlauf von 8 Tagen kann eine neue Überzeit- bewilligung nachgesucht werden.

Nachtarbeit nach 10 Uhr abends ist gänzlich untersagt. Sonn- tagsarbeit, ausgenommen bei der Butter- und Käsefabrikation, ist den Arbeiterinnen gleichfalls verboten. Die Sonntagsruhe ist den Jugendlichen wenigstens von 6 Uhr morgens an während 23 Stunden gewährt

II. Das Gesetz vom 20. Juli 1895 zum Schutz der Personen, welche in Fabriken und Werkstätten arbeiten, gegen Krankheit und Gefahren (über die Sicherheit beim Verbleiben in Fa- briken und Werkstätten und darum kurz „Sicherheitsgesetz" genannt). Mit diesem Gesetze wurde zum ersten Male auch den erwachsenen männlichen Arbeitern ein legaler Schutz verliehen. Es beschränkt sich auf Fabriken und Werkstätten, in denen eine Kraftmaschine oder ein Ofen benutzt wird oder mindestens zehn Personen dauernd beschäftigt sind.

Die Beschäftigungszeit Erwachsener ist dabei nicht geregelt. Nur ist bestimmt, daß in Räumen, wo hohe und niedrige Tempera- turen, schädliche Dünste, Gase oder Staub vorkommen, vom Ar- beitsinspektor die Arbeitszeit beschränkt werden kann. Die eigent- lichen Hauptbestimmungen über die Einrichtung der Arbeitsstätte findet man nur in zwei Artikeln. Der eine (Art. 6) bestimmt, daß eine königliche Verordnung nähere Bestimmungen erlassen muß, der andere (Art. 7), über welche Gegenstände eine königliche Ver- ordnung den Arbeitgebern Verpflichtungen, welchen diese nach den näheren Vorschriften der Arbeitsinspektoren nachzukommen haben, auferlegen kann. All dieses ist durch den königlichen Erlaß vom 7. Dez. 1896 geregelt. Die Bestimmungen des letztgenannten Er- lasses beziehen sich auf: a) Luftraum, b) Ventilation, c) Beleuchtung, d) Vorkehrung gegen Feuersgefahr, e) Ankleide- und Speiseräume, f) Aborte, g) Reinlichkeit, h) Temperatur, i) schädliche Dünste, Gase oder Staub, k) Unfallverhütung, 1) Trinkwasser. Für jede neu zu errichtende Fabrik oder Werkstatt müssen Pläne und Be- schreibung der Einrichtung der Arbeitsinspektion zur Begutachtung vorgelegt werden, welche zu beurteilen hat, ob diese mit den Be- stimmungen des Gesetzes in Einklang stehen oder nicht.

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Mit der Ausführung beider Gesetze ist die seit 1889 be- stehende und durch das Gesetz vom 20. Juli 1895 und den Erlaß vom 18. Mai 1900 *) reorganisierte Fabrikinspektion betraut. Das ganze Land ist in neun territorial begrenzte Arbeitsinspektionen eingeteilt. In jeder Inspektion fungieren ein Inspektor, ein oder mehrere Hilfsinspektoren und Hilfsinspektorinnen und Aufseher.

Zu dieser gedrängten Auseinandersetzung der Arbeiterschutz- gesetzgebung in engerem Sinne sei hinzugefügt, daß ein Gesetz vom 28. Mai 1901 die Verfertigung der Phosphorstreichhölzer gänz- lich untersagte und die Verwendung, die Einfuhr und den zum Verkauf vorhandenen Vorrat regelte. *)

III. das Gesetz vom 2. Mai 1897 betreffend die Errichtung- von Arbeitskammern. 8)

Wo das Bedürfnis dafür vorliegt und eine vorschriftsmäßige Zusammensetzung sich ermöglichen läßt, wird durch königlichen Erlaß für eine oder mehrere Gemeinden und für ein einziges Ge- werbe oder für eine Mehrzahl von Gewerben eine Arbeitskammer errichtet. Die Arbeitskammern haben die Aufgabe, die Interessen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu gemeinschaftlichem Zu- sammenwirken zu fördern und zwar:

a) durch Sammeln von Informationen über Arbeitsangelegen- heiten;

b) durch Erstatten von Gutachten über alle das Arbeitsver- hältnis angehenden Fragen an die öffentlichen Behörden sowie an Interessenten;

c) durch Vorbeugung und Beilegung von Streitigkeiten über Arbeitsangelegenheiten und, sofern es nötig, durch Herbei- führung einer schiedsrichterlichen Aussprache zwischen den Parteien.

Eine Kammer besteht zur Hälfte aus Arbeitgebern gewählt von denjenigen Arbeitgebern, deren Betriebe in der Kammer ver-

') Wortlaut in französischer Übersetzung im Annuaire de la legislation du travail, public par l'Officc du travail deBclgique. Tome IV, p. 811.

") Wortlaut in deutscher Übersetzung im Bulletin des Internationalen Arbeitsamts, Bd. I, Nr. I, 2, 3. S. 56—59.

*) Wortlaut der hauptsächlichsten Artikel des Gesetzes in diesem Archiv Bd. XI, S. 758 ff. und ausführlicher in Nr. 12 der Schriften der Gesellschaft für Soziale Reform.

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Ph. Falkenburg, Fortschritte de» Arbeiterschutzes in den Niederlanden. 645

treten sind und zur anderen Hälfte aus Arbeitnehmern, deren Wahl durch die in den vertretenen Betrieben beschäftigten Arbeit- nehmer bewirkt wird. Mitglieder einer Kammer können nur die- jenigen Männer und Frauen sein, welche die Staatsangehörigkeit besitzen, das 30. Lebensjahr erreicht haben und in einem in der Kammer vertretenen Betriebe während einer bestimmten Zeit im Kammerbezirk als Arbeitgeber oder Arbeitnehmer tätig waren. Wahlberechtigt sind männliche und weibliche Staatsangehörige, welche das 25. Lebensjahr erreicht haben und während einer be- stimmten Zeit innerhalb des Gebietes der Kammer in einem der in der Kammer vertretenen Gewerbe tätig gewesen sind.

Die Kammer hat zwei Vorsitzende, die je von den Arbeit- gebern und Arbeitnehmern gewählt werden und abwechselnd ein halbes Jahr amtieren.

Jede Kammer versammelt sich mindestens viermal im Jahre. Das Beratungslokal wird unentgeltlich von den Gemeinden zur Verfügung gestellt.

Ihre Wirksamkeit gipfelt nach dem Gesetze in der Auf- gabe Streitigkeiten beizulegen. Wenn in einem Gewerbe ein Streit zu entstehen droht oder entstanden ist, so kann durch die Parteien die Vermittlung eines Versöhnungsrates angerufen werden. Die Mitglieder dieses Rates werden aus dem Kreise der Kammer gewählt, zu gleicher Zahl Arbeitnehmer und Arbeitgeber, unter Vorsitz eines Kammermitglieds oder eines außerhalb der Kammer Stehenden. Der Versöhnungsrat versucht, die Parteien zu einigen. Von vornherein strebt der Vorsitzende zu erreichen, daß die Par- teien sich verpflichten, während der Dauer der Verhandlung weder die Arbeit niederzulegen noch eine bei dem Konflikt beteiligte Person zu entlassen. Nach beendeter Untersuchung und Beratung teilt der Versöhnungsrat seine Ansicht und seine Vorschläge schriftlich mit und kann seinen Bericht ganz oder teilweise veröffentlichen. Dies ist das einzige ihm zugestandene Mittel, um einen gewissen mo- ralischen Druck auf die Parteien auszuüben.

Über die Erfolge und die Praxis der drei genannten Gesetze kann ich mich kurz fassen. In den ersten Jahren nach 1889 hatte die Arbeiterschutzgesetzgebung mit der Einwendung zu kämpfen, sie benachteilige die Konkurrenzfähigkeit der Industrie. Erst all- mählich verschwindet auch ein anderer Übclstand, nämlich das Fehlen des richtigen Verständnisses Tür die Arbeiterschutzgesetzgebung beim

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Richterstand. Immer und immer wiederholten sich die Klagen der Gewerbeinspektoren über zu niedrige Strafen für selbst wiederholte Übertretungen der Schutzbestimmungen.

Und was die Arbeitskammern betrifft, so kann man leider nicht behaupten, daß sie den auf sie gesetzten Erwartungen ent- sprochen haben, wiewohl erfreuliche Einzelleistungen verzeichnet werden müssen.

So war der Stand der Arbeiterschutzgesetzgebung, als das Kabinett Kuyper nach den Wahlen vom Sommer 1901 die Regierung antrat. Das Unfall Versicherungsgesetz vom 2. Januar 1901 y) war noch durch das vorige Ministerium Pierson zu glücklichem Ende gebracht und die Absicht bestand schon seit Jahren, die be- deutendsten Arbeiterschutzbestimmungen zu einem einzigen Arbeits- gesetz zusammenzufassen.

Seit diesem Augenblicke hat das niederländische Staatsblatt weder Gesetze noch Erlasse veröffentlicht, die einen Fortschritt auf diesem Gebiete bedeuten. Ich lasse kleinere Umänderungen älterer Bestimmungen außer Betracht. Vielmehr ist ein gewisser Rückgang zu verzeichnen.

Erstens ist bei dem Gesetz vom 21. Oktober 1902 der Art. 5 des Arbeitsgesetzes (Schutz von Frauen und Jugendlichen) in reak- tionärem Sinne ergänzt worden. 2)

Das Arbeitsgesetz verbot, wie gesagt, die weibliche Nacht- arbeit zwischen 10 Uhr abends und 5 Uhr morgens. Trotz des Verbots schien die Frauennachtarbeit beim Heringspeilern üblich gewesen zu sein. Eine Strafverfolgung fand aber nie statt. Es kann so bestimmte nun das neue Gesetz unter gewissen Be- dingungen in einigen Gemeinden durch königlichen Erlaß gestattet . werden, daß die beim Heringspeilern beschäftigten Arbeiterinnen über 16 Jahren in der Zeit vom 1. Oktober bis zum 15. März bis 12 Uhr nachts und in der Zeit vom 15. März bis 1. Juni bis höchstens 2 Uhr nachts beschäftigt werden dürfen, wenn die Ar- beitsdaucr innerhalb 24 Stunden 8 Stunden nicht überschreitet. Der königliche Erlaß vom 18. März 1903 dekretierte, daß der Ar- beitgeber bei der Nachtarbeit zugegen sein muß, damit er im

') Wortlaut in französischer Übersetzung im Annuaire de la leg isla tion du travail, public par l'Office du travail de Bclgique, 1901, p. 439.

«) Wortlaut in deutscher Übersetzung im Bulletin des Internationalen Arbeitsamts Bd. I, Nr. 11/12, S. 668 ff.

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Ph. Falkenburg, Fortschritte des ArbeiterschuUes in den Niederlanden. 647

Interesse der eigenen Nachtruhe nicht länger arbeiten lasse, als unbedingt notwendig ist, daß weiter ein erhöhter Lohn bezahlt wird und die Frauen nach der Nachtarbeit in den ersten 7 Stunden nicht mehr beim Speilern beschäftigt werden.

Zweitens sind leider noch gesetzliche Bestimmungen zu ver- zeichnen, die für die Arbeiterbewegung und die ruhige Weiter- entwicklung einer gesunden Sozialpolitik weit schwerwiegender und verhängnisvoller sind als die vorn erwähnte.

Der bekannte allgemeine Eisenbahnarbeiterstrike vom 31. Jan. 1903 bot den dem Emporkommen des Arbeiterstandes wenig freundlich Gesinnten die erwünschte Gelegenheit, das ziemlich unbeschränkte Koalitions- und Strikerecht zu beschränken. Die Regierung brachte am 25. Februar des vorigen Jahres bei der Zweiten Kammer drei Vorlagen ein. Unter dem Einfluß der Opposition der liberalen Partei gegen gewisse besonders drakonische Bestimmungen des gegen das Strikerecht gerichteten Gesetzent- wurfs hatte die Regierung sich zu einigen nicht unwesentlichen Abschwächungen desselben bestimmen lassen, die aber keineswegs ausreichten, um dem Gesetz seinen gefahrlichen Charakter zu nehmen. Gegen die abgeänderten Vorlage wurde im Parlamente nur noch von sozialdemokratischer und von radikaler Seite oppo- niert und dies besonders weil die Gewerkvereine während einiger Tage einen Generalstrike durchzusetzen versucht hatten. Die Vor- lagen wurden vom Parlament angenommen und bilden die Gesetze vom 1 1. April 1903. !)

Zwei dieser Gesetze bestimmen die Schaffung einer militä- rischen Eisenbahnbrigade und die Einsetzung einer Staatskommission, welche die Rechts- und Dienstverhältnisse der Eisenbahnbediensteten untersuchen sollte. Mit beiden Gesetzen waren fast alle Parteien einverstanden. Anders aber mit dem Gesetz zur Ergänzung und Änderung des Strafgesetzbuches.

Mit Gefängnis bis zu neun Monaten oder Geldstrafe bis zu 300 Gulden wird bestraft derjenige, welcher einen anderen durch ■Gewalt oder irgend eine andere Tätlichkeit, oder durch Drohung mit Gewalt oder irgend eine andere Tätlichkeit, sei es gegen diesen anderen, sei es gegen dritte Personen, widerrechtlich etwas zu tun, zu unterlassen oder zu dulden nötigt und gleichfalls der-

*) Wortlaut in deutscher Übersetzung im Bulletin des Internationalen Arbeitsamts Bd. II, Nr. 10, S. 176fr.

Archir für Sozialwiwetuchaft u. Sozialpolitik. I. ( A. f. «oz. C. u. St. XIX.) 3. 4*

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Gesetzgebung.

jenige, welcher einen anderen durch Drohung, Beleidigung oder Schmähschrift nötigt, etwas zu tun, zu unterlassen oder zu dulden.

Derjenige, welcher widerrechtlich auf einem öffentlichen Wege einen anderen an seiner freien Bewegung hindert oder sich mit einem oder mehreren Dritten einem anderen gegen dessen ausdrück- lich ausgesprochenen Willen fortgesetzt aufdrängt oder ihm auf hinderliche Weise fortgesetzt folgt, wird mit Haft bis zu I Monat oder mit Geldstrafe bis zu 100 Gulden bestraft.

Durch diese Bestimmungen ist das Postenstehen bei Strikes sehr erschwert, ja fast unmöglich gemacht, zumal weil das Reichs- gericht im Haag in letzter Zeit ein „auf hinderliche Weise folgen" schon annahm, wenn der Gefolgte das Folgen an sich unangenehm findet, ohne daß ein objektives Element in der Weise des Folgens anwesend zu sein braucht.

Überhaupt ist das Niederlegen der Arbeit Beamten eines öffent- lichen Dienstes oder in dem öffentlichen Eisenbahnverkehr bei Strafe von 6 Monaten Gefängnis oder bei Geldstrafe bis zu 300 Gulden verboten worden. Wenn drei oder mehr Personen infolge einer Verabredung striken, so werden die Schuldigen, sowie die Anführer oder Anstifter mit Gefängnis bis zu 2 Jahren bestraft.

Beamten in öffentlichen Diensten, Reichs-, Provinzial- oder Gemeindearbeitern ist also jeder Strikeversuch untersagt. Da nun das Disziplinarverfahren gegen solche Beamten in den meisten Diensten und bei den privaten Eisenbahnen ungeregelt war und deshalb Schiedsgerichte, bei denen Berufung gegen auferlegte Strafen eingelegt werden konnten, völlig fehlten, war es die Pflicht der Regierung das Versäumnis nachzuholen, soweit es ihr mög- lich war. Bis jetzt sind nur Bestimmungen getroffen für die Eisen- bahnbeamten. ')

Für die Gemeindearbeiter, welche in großen Städten schon jetzt durch ausfuhrliche Arbeitsordnungen geschützt sind, wird außerdem gesorgt durch eine bis jetzt noch nicht zur Verhandlung gekommene Vorlage zur Abänderung des Gemeindegesetzes.

Das Urteil über die sozialpolitische Tätigkeit der jetzigen Re-

') Wortlaut der Ergänzung der Vorschriften für den Dienst auf den Eisen- bahnen und der Bestimmungen betr. die Dienstordnung des Eisenbahnpcrsonals in deutscher Übersetzung im Bulletin des Internationalen Arbeitsamts, Bd. II, S. 177 f. und 404 ff.

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Ph. Falkenburg, Fortschritte des Arbeiterschutzes in den Niederlanden. 649

gierung kann also nur ungünstig sein. Wird die nächste Zukunft zu einer Besserung Anlaß geben? Das ist kaum zu erwarten. Gegen die in letzter Zeit eingebrachte Vorlage eines allgemeinen Arbeiterschutzgesetzes erheben sich schon viele Stimmen und nicht nur aus der sozialdemokratischen Partei. Ein neuer Gesetzentwurf über den Arbeitsvertrag, eine Umarbeitung des vom freisinnig- demokratischen Prof. Dr. Drucker verfaßten Entwurfes hat ebenso- wenig überall Beifall gefunden. Ich unterlasse es über beide Ent- würfe Näheres mitzuteilen, weil in letzter Zeit die sozialpolitischen Entwürfe während der schriftlichen und mündlichen parlamentarischen Behandlung so vielen Umänderungen unterzogen worden sind, daß selbst eine kurze Berichterstattung über einen ersten Entwurf in dieser Zeitschrift nicht am Platze wäre. Hoffentlich werden im nächsten Jahre die Verhandlungen über diese Entwürfe weit genug fortgeschritten sein, um eine Besprechung an dieser Stelle zu recht- fertigen.

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650

MISZELLEN.

Die neue Arbeiterpartei in England.

Von

EDWARD R. PEASE,

London.

In den letzten drei oder vier Jahren beginnt in der englischen Po- litik ein Faktor sich geltend zu machen , dessen Bedeutung nur verein- zelte Engländer und natürlich noch weniger Fremde richtig bewerten.

Bei den Hauptwahlen von 1900 war die Arbeiterpartei nur ein Kind von wenigen Monaten. Seitdem hat sie ihre Kräfte in einer be- trächtlichen Anzahl von Nachwahlkämpfen gezeigt. Bei den nächsten Hauptwahlen wird jedermann die neue politische Macht vor Augen sehen.

Die Arbeiterpartei ist ein Resultat der Gewerkschaftsbewegung. Die britischen und irischen Gewerkschaftsvereine sind für politische Zwecke seit langem lose zusammengehalten durch einen jährlichen Kongreß, der das „parlamentarische Komitee" wählt, das ihre politischen Interessen vertritt. Diese Körperschaft ist insofern von Einfluß, als sie die offizielle Vertretung von beinahe 2 Mill. organisierter Arbeiter darstellt, aber die Gelder, die sie zur Verfügung hat, sind unbedeutend und sie hat selten mehr versucht als Deputationen an die Regierung zu organisieren oder Zusammenkünfte zu veranstalten, um dem Parlament vorliegende Gesetz- entwürfe, welche die arbeitenden Klassen unmittelbar berührten, zu be- sprechen.

Schon lange ist es aufmerksamen Beobachtern der treibenden Kräfte in der politischen Bewegung Englands klar, daß dort eine einflußreiche sozialistische oder Arbeiterpartei mit einiger Aussicht auf Erfolg nur durch die Gewerkvereine geschaffen werden kann, weil diese fast alle besser be- zahlten Arbeiter der zentralisierten Industrien umfassen und sowohl über außerordentlich große Kapitalien verfügen als auch den nötigen Apparat besitzen, um alle benötigten weiteren Summen zu sammeln.

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Edward R. Pcasc, Die neue Arbeiterpartei in England. 651

Im Jahre 1901 betrug die Mitgliederzahl der 1236 eingetragenen Gewerkvereine 1 922 780 und das vorhandene Kapital der 100 größten mit ungefähr 2/a der Gesamtmitgliederzahl betrug 4 161 916 £, während ihr jährliches Einkommen sich auf 2 061 So 1 £ belief. Dazu kommen zahlreiche meist kleinere Gewerkvereine, welche vorerst von den Vor- teilen der Eintragung keinen Gebrauch gemacht haben.

Geschichte der parlamentarischen Arbeiter Vertretung.

Vor 30 Jahren wurden zum erstenmal Arbeiter als Arbeitervertreter in das britische Unterhaus gewählt. Bei den Haupt wählen von 1874 wurde Macdonald für denjWahlkreis Staribrd gewählt und Thomas Burt von den Bergleuten von Northumberland für den Kreis Morpeth, den er heute noch vertritt. Seit dieser Zeit war stets eine Anzahl von Arbeitern im Parla- mente vertreten, von drei im Jahr 1880 bis zu 15 in den Jahren 1892, 1899 und 1904. Alle früheren Arbeitervertreter waren indessen Mit- glieder der liberalen Partei und wollten auch nichts anderes sein. Nur einmal hat ein Gewerkvereinler sich als konservativer Kandidat aufstellen lassen und zwar 1899, als der allmächtige Generalsekretär der Lancashire Baumwollarbeiter James Maudesley bei einer doppelten Nachwahl in Oldham sich zusammen mit einem Tory aufstellen ließ ; beide Sitze gingen durch sie der Partei verloren.

Eine Änderung begann sich zu zeigen , als bei den Wahlen von 1892 die Londoner Liberalen in Battersea zugunsten von John Burns und in West Harn von Keir Hardie, dem jetzigen Führer der „unab- hängigen Arbeiterpartei" sich der Aufstellung eines Kandidaten enthielten ; beide wurden mit großer Majorität gewählt, obgleich sie sich keineswegs der liberalen Partei verpflichtet hatten.

John Burns hat seinen Sitz noch heute inne, Keir Hardie verlor den seinigen 1895 u"d gehört erst seit 1900 wieder dem Parlamente an.

Wir müssen hier unsere Leser vor einer Verwechselung von zwei ganz verschiedenen Körperschaften, deren Namen aber sehr ähnlich lauten, warnen. Die „unabhängige Arbeiterpartei" (Independent Labour Party) ist eine sozialistische Vereinigung, die größte in England, hat aber nur etwa 13000 Mitglieder. Diese sozialistische Vereinigung wollen wir von jetzt ab mit ihren wohl bekannten Initialen I.L.P. nennen. Die „Arbeiter- partei" (Labour-Party), welche ebenfalls Wert darauf legt unabhängig zu sein, ist der offizielle Name der neugegründeten Gewerkvereinspartei, deren Ge- schichte wir jetzt erzählen wollen.

Im Jahre 1899 wurde die handarbeitende Bevölkerung im Unterhaus durch etwa 15 Gewerkvereinler vertreten, die offiziell alle Mitglieder der liberalen Partei waren, mit Ausnahme von John Burns, der immer gewissermaßen für sich allein eine Partei bildete. In diesem Jahr nahm der Gewerkvereinskongreß eine Resolution an, welcher sein parla-

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Miszellen-

mentariches Komitee beauftragte, einen Kongreß von Gewerkvereinen und sozialstischen Gesellschaften einzuberufen um die politische Ver- tretung der Arbeiter zu organisieren. Das Resultat war, daß die drei sozialistischen Vereine, die I.L.P., die sozialdemokratische Föderation und die Fabian Society von dem parlamentarischen Komitee aufgefordert wurden , die Tagung miteinzuberufen. Diese konstituierende Zusammen- kunft wurde im Februar 1900 in London abgehalten und war von 129 Delegierten als den Vertretern von etwa 6 7 Gewerkvereinen mit 545 316 und den 3 sozialistischen Vereinen mit 22861 Mitgliedern besucht. John Burns und andere parlamentarische Arbeitervertreter nahmen eben- falls teil. Auf dieser Versammlung, die sich durch eine enthusiastische Stimmung und im ganzen durch eine allgemeine Übereinstimmung aus- zeichnete, wurde beschlossen ein Komitee zu bilden, welches das Arbeiter- Vertretungskomitee (Labour Representation Comittee) heißen sollte; von den Mitgliedern sollten die Gewerk vereine 7, die I.L.P. und die sozial- demokratische Föderation je 2 und die Fabian Society eines wählen. Ein Generalsekretär (J. Ramsay Macdonald) wurde ebenfalls damals ge- wählt.

Zwei Jahre später traten die Sozialdemokraten aus und ihre Sitze in der Exekutive fielen den Gewerkvereinen zu. Man kam überein, die „Trade Councils" (lokale Vereinigungen der Gewerkvereine in den ein- zelnen Städten) aufzufordern, sich dem Komitee anzuschließen und einen Vertreter in die Exekutive zu wählen. Diese besteht demnach zurzeit aus 9 Delegierten der Gewerk vereine, 1 der „Trade-Councils" und 3 der beiden sozialistischen Gesellschaften.

Die Hauptfrage bei der ersten Zusammenkunft und auch später war die Stellung der neuen Vereinigung gegenüber den bestehenden Parteien. Wie schon gesagt, waren (und sind in der Tat noch) die Masse der Gewerkvereinler, besonders die Bergleute, welche den größten und geschlossensten Gewerkverein bilden, Liberale, aber in Lancashire, in Belfast und etwas weniger an manchen anderen Orten, sind eine große Zahl von Gewerkvereinlern Konservative, oder jedenfalls Anti- Liberale, wie denn auch alle großen Städte, vor allem London, Glasgow, Liverpool ganz oder zum größten Teil durch Konservative vertreten werden, während die liberale Partei ihren Rückhalt in den Grafschafts- Wahlbezirken hat, besonders in den alten keltischen Ländern, Wales, Schottland und Cormvall und in den kleineren Landstädten.

Da beide, konservative und liberale Gewerkvereinler, in die Ge- werkvereinskasse zahlen, scheinen zwei Lösungen möglich. Entweder muß die parlamentarische Gewerkvereinspartci als neue und unabhängige Partei für sich allein stehen; oder ihre Mitglieder müssen eine Gruppe bilden, die für bestimmte Zwecke, d. h. für Arbeiterfragen, zusammen- hält und sonst die Freiheit hat, sich bei anderen Fragen einer der be- stehenden Parteien anzuschließen. Aber gegen beide Auswege lassen

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Edward R. Pease, Die neue Arbeiterpartei in England.

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sich triftige Einwände erheben : Für den ersten wäre Geld und eine be- sondere Organisation nötig gewesen, und die wenigen Siege, auf die man zu hoffen wagte, hätten viele fruchtlose Kämpfe gekostet. Auf der anderen Seite konnte man einwenden, daß, obgleich die Gewerkvereins- kandidaten sich ja sowohl als Liberale als auch als Konservative auf- stellen lassen könnten, sie faktisch doch alle oder zum weitaus größten Teil als Liberale kandidieren würden und so würden die konservativen Gewerkvereinler beständig fiir liberale Arbeitervertreter zu stimmen und zu zahlen haben, während von den Liberalen ein ähnliches Opfer kaum je verlangt werden würde.

Diese letztere Schwierigkeit schien indessen der ersten Versamm- lung nicht so gewichtig wie die erste und so wurde denn beschlossen, eine Arbeitergruppe von Parlamentsmitgliedern zu schaffen, die zu ge- meinsamer Arbeit in allen die Arbeiter betreffenden Fragen verpflichtet, im übrigen aber frei sein sollten sich entweder den Liberalen oder den Konservativen anzuschließen und in anderen Fragen nach Gutdünken zu stimmen.

Als die Wahlen von 1900, die mitten in den südafrikanischen Krieg fielen, auszukämpfen waren, war das Labour Representation Comittee erst wenige Monate alt und seine Organisation nichts weniger als voll- ständig. 1 5 Kandidaten, welche seine Unterstützung annahmen und sich zu seinem Programm bekannten, wurden aufgestellt. Einige waren Liberale; andere von den Sozialdemokraten und der I.L.P. nominierte Sozialisten, noch andere waren einfach Arbeitervertreter. Die Konservativen siegten auf der ganzen Linie und nur zwei von den L.R.C.-Kandidaten hatten Erfolg, Richard Bell, der Generalsekretär des Vereinigten Bundes der Eisenbahnangestellten (Amalgamated Society of Railway-Servants) , der mit Hilfe der Liberalen in Derby gewählt wurde, und Keir Hardie von der I.L.P., der in Merthyr Tydvill in Wales einen Sitz gewann.

Keiner von diesen Siegen war bemerkenswert. Die erstaunlichen Wahlerfolge der neuen Partei wurden in den Nachwahlen der letzten zwei Jahre errungen.

Während des Jahres 1901 beteiligte sich das L.R.C. an keiner Wahl. Aber 1902 wurde in dem Wahlkreis Clitheroe, einem abge- legenen Distrikt von Lancashire, der hauptsächlich von der Baumwoll- industrie lebt, ein Sitz frei. Bis jetzt hatte ihn unumstritten ein Liberaler innegehabt, der ihn 1892 mit einer Majorität von 21 51 gewonnen hatte. Die L.R.C. -Exekutive berief schleunig eine Konferenz von Gewerkver- einlern nach dem Hauptplatze Colne und dort wurde einstimmig be- schlossen, D. J. Shackleton von dem Textilarbeiter-Gewerkverein als L.R.C.-Kandidaten, unabhängig von der liberalen oder konservativen Partei aufzustellen. Die Liberalen suchten umsonst einen Gegenkandidaten zu rinden. Die Tories hatten keine Aussichten, wenn kein liberaler Gegner da war; und so konnte zuletzt die neue Partei ihren Mann tatsächlich

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ohne jeden Kampf wählen, ein Ereignis, das in der langen Geschichte der englischen Parlamentswahlen einzig dasteht.

Der zweite VVahlkampf verlief beinahe ebenso überraschend. YVool- wich, ein Londoner Wahlkreis, der von dem königlichen Arsenal mit seinen Tausenden gut organisierter Arbeiter beherrscht wird, war seit Jahren eine konservative Hochburg, die 1896 mit 2805 Stimmen Mehr- heit behauptet und seitdem nicht wieder angegriffen worden war. Im Januar 1903 legte der Admiral Lord Charles Beresford seinen Sitz nieder und die lokale Arbeiterpartei beschloß William Crooks aufzu- stellen, einen Böttcher, bekannt als Vorsitzender der Armenverwaltung, in deren Schule er als Armenkind seine Erziehung erhalten hatte. Liberale unterstützten Crooks kräftig mit Geld und persönlichen Diensten, aber er hatte sich zur Unabhängigkeit ihnen sowohl wie den Konser- vativen gegenüber verpflichtet und gewann den Sitz mit der über- raschenden Mehrheit von 3229 gegen einen Konservativen, der durch- aus nicht etwa ein unbekannter Mann war.

Darauf folgte eine Niederlage in Preston und dann kam eine andere Nachwahl, diesmal in Barnard Castle, Durham, wo die Bergleute seit den letzten 30 bis 40 Jahren einen liberalen Minenbesitzer gewählt hatten. Bei seinem Tod beschloß Arthur Henderson, ein am Ort wohl- bekanntes Mitglied des Eisengießervereins, sich als Arbeiterkandidat auf- stellen zu lassen. Diesmal beschlossen sowohl die Liberalen als auch die Tories den Kampf aufzunehmen, aber Henderson besiegte beide, den Tory mit der kleinen Mehrheit von 47 und den Liberalen mit 563 Stimmen bei einer Gesamtstimmenabgabe von 9502.

Eine Niederlage in einem Kampf nach zwei Seiten in Norwich im Dezember war das Resultat bei der letzten Wahlbeteiligung, aber das Verzeichnis der Erfolge, 3 Siege in 4 aufeinanderfolgenden Wahlen ist ohne Parallele bei einer so jungen Partei und fast unbekannten Männern.

Die Wahlpolitik der Partei.

Unterdessen hat sich in den Grundlagen der Partei eine Änderung vollzogen. Der Kampf zwischen der Mehrheit, die eine Allianzpolitk mit einer der beiden anderen Parteien (tatsächlich mit der liberalen) vorzog und der von der I.L.P. geführten Minorität, welche für völlige Unabhängigkeit war, wurde unablässig innerhalb und außerhalb der Or- ganisation fortgeführt. Im Anfang des Jahres 1903 schlössen sich die Textilarbeiter von Lancashire, 103000 an der Zahl, dem Komitee an und bei der jährlichen Zusammenkunft in Newcastle wandte sich das Blatt. Nach einer lebhaften Debatte wurde mit 659 gegen 154 Stimmen (für je Tausend Mitglieder wurde eine Stimme abgegeben ; das ange- brochene Tausend galt für voll) eine Resolution angenommen des Inhalts, daß alle Kandidaten und Beamten des Komitees „streng davon absehen

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Edward R. Pease, Die neue Arbeiterpartei in England.

sollten, sich mit der liberalen oder konservativen Partei zu identifizieren oder deren Interessen zu fördern", ferner sollten alle Kandidaten allein das Wort „Labour" als ihren Parteinamen gebrauchen. ')

Dieser überwältigende Sieg machte der Frage ein Ende. Die Mi- norität war zu klein, den Kampf fortzuführen und die oben betrichteten Wahlsiege waren ein Beweis dafür, daß die Politik der Unabhängigkeit weniger Schwierigkeiten hatte, als ihre Gegner erwarteten. Vom Februar 1903 datiert also die Gründung einer neuen politischen Partei in England.

Die Organisation der Partei.

Die neue Partei hat sich nach dem bewährten Muster der eng- lischen Gewerkvereine organisiert. Ihr Parlament ist eine jährliche Ge- neralversammlung in irgend einer großen Provinzstadt.

Die Tagung in Bradford, im Februar 1904 wurde von 355 Dele- gierten beschickt, die 121 Gewerk vereine, 43 Trade-Councils und 2 so- zialistische Gesellschaften vertraten. Die Delegierten haben eine Stimme für je 1000 Mitglieder der von ihnen vertretenen Körperschaften. Vereine unter 1000 Mitglieder haben eine Stimme.

Die Befugnis, die einzuschlagende Politik zu bestimmen, die Statuten zu ändern, Gelder zu bewilligen usw. steht allein der jährlichen General- versammlung zu. Während ihrer Tagung tun sich die Delegierten der 4 verschiedenen großen Körperschaften, der Gewerkvereine, Trade-Coun- cils, I.L.P. und Fabian-Society gesondert zusammen, um die ihnen zu- stehende Zahl von Mitgliedern für die Exekutive zu wählen. Die ver- einigte Generalversammlung wählt dann den Generalsekretär. Die Dele- gierten der Gewerkvereine und Trade-Councils sind nach heißem Kampfe gewählt worden; der Generalsekretär J. Ramsay Macdonald hat seinen Posten seit Beginn inne, ohne einen Gegenkandidaten gefunden zu haben.

Finanzen und Mitgliedschaft.

Das Komittee besitzt zwei Fonds , einen allgemeinen für die laufenden Ausgaben, der durch eine Umlage von 10 sh. pro 1000 Mitglieder von den Gewerkvereinen und Sozialisten und von £ 1 von jedem Trade- Council aufgebracht wird. Bei der letzten Generalversammlung wurden diese Beiträge auf 15 resp. 30 sh. erhöht. Das Einkommen aus dieser Quelle betmg 1 903 4 : 646 £. 1 903 wurde ein Parlamentsfonds er- richtet, um jedem in das Parlament gewählten Parteimitglied jährlich 200 £ zu zahlen, außerdem jedem Kandidaten 2 5 Proz. der offiziellen Wahl-

') Wir haben, dem deutschen Sprachgebrauch gemiß, Labour-party usw. stets mit Arbeiterpartei übersetzt. Anm. d Übers.

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Miszellen.

ausgaben, die seitens der Regierung im voraus von jedem Kandidaten er- hoben werden. Die Beiträge zu diesem Fonds waren auf 1 Penny per Mitglied festgesetzt und sollten jährlich etwa 4000 £ einbringen- Im ersten Jahr war die Leistung der Zahlung freiwillig, die Generalversamm- lung von 1904 machte sie obligatorisch.

Man beschloß, daß der Fonds nicht angegriffen werden dürfe, ehe 2500 £ vorhanden seien; diese Summe ist jetzt erreicht und so wird mit der Zahlung von Diäten an die Arbeitervertreter begonnen werden. Die Trade-Councils steuern nicht zu den Parlamentsfonds bei, ihre Kan- didaten erhalten auch keine Unterstützung aus diesem.

Das Wachstum der Partei ist bemerkenswert: Man vergleiche die nachfolgende Tabelle:

Gewerkvereine Trade-Councils Sozialist. Vereine Jährl. Zunahme

Jahr

Zahl

Mitglieder

Zahl

Zahl

Mitglieder

in Vrot.

1900—1

41

353070

7

3

22861

1901 2

65

455450

21

2

13861

24.8

1902—3

127

847315

49

2

13835

83Ö

1903-4

165

956025

76

2

«3775

12,6

Die Mitgliederschaft der Trade-Councils kann nicht in Rechnung gestellt werden, da sie hauptsächlich aus Personen bestehen , die schon als Mitglieder ihrer Gewerkvereine angeführt sind, aber man kann mit Sicherheit sagen, daß eine Million englischer und irischer Arbeiter sich dem L.R.C. angeschlossen haben. Unter diesen sind verhältnismäßig wenige Iren. Die Schotten haben eine ähnliche, aber gesonderte Organi- sationen mit denselben Zielen. Die unter ihren Auspizien gewählten Parlamentsmitglieder werden ohne Zweifel im Einklang mit der englischen Arbeiterpartei handeln.

Zwei Kategorien von Arbeitern muß sich das L.R.C. noch erobern : Man kann sagen, daß im großen ganzen, die Masse der englischen Ge- werksvereinler sich dem L.R.C. angeschlossen haben, mit einziger Aus- nahme der Bergleute. Von diesen gehören nur 37 700 Lancashire- und Cheshire - Kohlengrubenarbeiter und 6700 Bergleute aus den Cleveland- Eisenerzgruben dazu; die 450000 anderen Bergleute, die zurzeit schon 6 Vertreter im Parlament haben, halten an ihrer Zugehörigkeit zur liberalen Partei noch fest. Die zweite Kategorie bilden die (1903) 2 116 127 Mit- glieder der Genossenschaften ; Konsumvereine u. a. m.) mit ihrem Kapital von 37 158 239 J?. Es sind natürlich zum großen Teil dieselben Leute in einer neuen Kombination. Es sind Zeichen dafür vorhanden, daß sie sich anschließen werden, doch bis jetzt halten sie, mit einer Aus- nahme, an ihrem Grundsatz fest, Politik und Erwerbsleben nicht zu ver- mengen.

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Edward R. Pease, Die neue Arbeiterpartei in England.

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Das Programm der Partei.

Hier können wir uns kurz fassen: die Arbeiterpartei hat kein offizielles Programm, ihre Kandidaten und Anhänger haben sich auf keinerlei spezielle politische Ziele festgelegt.

Die Partei als Ganzes hat für den Gesetzentwurf der Gewerkvereine gearbeitet, welcher die „Taff-Vale" und andere neuere richterliche Ent- scheidungen, die dem Gewerkvereinswesen feindlich sind, annullieren sollte und so groß ist der Einfluß der Gewerkvereine , daß das Unterhaus vor kurzem den Entwurf in der zweiten Lesung mit einer Mehrheit von 39 annahm, obgleich die Regierung mit der sie unterstützenden großen Mehrheit sich ablehnend verhielt und ohne Zweifel, weil ohne die Unter- stützung der Regierung die von Mitgliedern eingebrachten Entwürfe wenig Aussicht haben, die Endstadien zu durchlaufen.

Die Partei hat offiziell eine Anzahl von politischen Flugblättern her- ausgegeben, aber diese wenden sich fast alle gegen konservative Maß- nahmen, wie Schutzzölle, chinesische Arbeit in Südafrika usw. Außer der Verstaatlichung der Eisenbahnen und der Reform der Tradeunion- Gesetzgebung geht nichts, was die Partei erstrebt, irgendwie über das liberale Programm hinaus.

Das Ziel der Partei ist, eine Partei zu gründen. Sie ist sich Selbst- zweck. Ob ein so engbegrenztes Ziel in der Zukunft genügen wird, ist eine andere Frage.

Die Arbeiterpartei und der Sozialismus.

Die Beziehung der neuen Partei zum Sozialismus ist eine merk- würdig komplizierte Sache. Die Sozialisten als solche haben nur etwa 14 Stimmen von 992, der größten, auf der Generalversammlung von 1904 abgegebenen! Stimmenzahl, obgleich sie 3 von den 13 Mitgliedern der Exekutive wählen. Aber die I.L.P. hat seit vielen Jahren einen großen Einfluß in den Gewerkvereinen ausgeübt und eine große Anzahl der hervorragenden Gewerkvereinler sind Mitglieder irgend eines sozialisti- schen Vereins Diese Männer werden natürlich als Delegierte zu den Generalversammlungen entsandt und gelangen so in andere verantwort- liche Stellungen. Die ausgesprochensten Sozialisten des L.R.C. waren meist die Vertreter nicht der Sozialsiten, sondern der Gewerkvereine. Die positiven Ideen der Sozialisten gewinnen immer mehr Boden unter den Gewerkvereinlern ; eine Feindschaft gegen den Sozialismus existiert kaum. Die Stellungnahme des nicht-sozialistischen Teiles bedeutet: „Ich bin zu alt, um meinen Glauben zu ändern, aber wenn ihr weiter voran wollt, so tut es!"

Den Sozialisten paßt das natürlich sehr. Sie haben Ideen und eine Politik ; aber ihre Truppen sind wenig zahlreich und ihre Finanzen völlig

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Miszcllcn.

ungenügend. Ein Bündnis, bei welchem sie die Führer und die Ideen, die Gewerkvereinler das Geld und die Stimmen stellen, paßt der sozia- listischen Partei natürlich durchaus. Wenn sie warten können und nicht all- zuschnell vorwärts drängen, ist die Zukunft der Arbeiterpartei unzweifel- haft in ihren Händen.

Die Zukunft.

Was wird die Zukunft bringen ? Bei den nächsten Wahlen wird die neue Partei etwa 50 Kandidaten aufstellen. Ihre Liste zählt jetzt 4 7 mit Einschluß der 5 gegenwärtigen Abgeordneten. Einige von diesen werden wohl wegfallen, dafür werden andere eintreten und es wird die Gesamtsumme nicht viel unter 50 sein. Eine beträchtliche Zahl von diesen darf sicher auf Erfolg hoffen, weil die Liberalen ihnen ihre Sitze abtreten werden. In Leicester z. B., wo die Liberalen selbst in schlechten Zeiten eine sehr große Majorität haben , werden sie nur einen Kandidaten für zwei Sitze aufstellen und den anderen Macdonald, dem Generalsekretär des L.R.C. überlassen. Außerdem können die Arbeitervertreter einige Sitze in Schottland gewinnen. So darf die neue Partei mit ziemlicher Sicherheit auf 20, vielleicht 30, möglicherweise sogar 40 Anhänger im neuen Parlament rechnen.

Zurzeit stellen sich ihr zwei Schwierigkeiten entgegen: vor allem der alte Streit über die Unabhängigkeit. Allerdings ist in der Organi- sation als solcher diese Frage erledigt; aber die Kandidaten kommen bei einer Wahl in die Versuchung, die Hilfe der Liberalen anzunehmen, ohne die ihre Aussichten ihnen hoffnungslos erscheinen könnten. Auch das Geld der Liberalen ist eine Verlockung. Die Kandidaten der großen Gewerkvereine verfügen über genügende Gelder, aber einige der hervor- ragendsten Gewerkvereinler gehören ganz kleinen Vereinen an, die absolut nicht in der Lage sind, die 400 oder 500 £ auszugeben, die der Wahl- kampf für einen billigen Sitz kostet, ganz abgesehen von den 1000 bis 1200 £, die in den großen Grafschaftswahlkreisen nötig sind. Andere sind Gegner der Unabhängigkeit aus anderen Gründen : so hat sich z. B. Richard Bell M. P. niemals mit der neuen Politik ausgesöhnt und es ist ganz möglich, daß er seinen bedeutenden Gewerkverein dazu bringt, aus- zutreten. Und wenn so etwas erst einmal geschehen ist, läßt sich das Ende nicht leicht vorhersehen.

Eine andere Schwierigkeit liegt darin, daß die I.L.P., als politische Körperschaft, viele Kandidaten aufstellt das ist ihr Hauptzweck; ihre Mitglieder zahlen verhältnismäßig wenig und können doch große Kosten verursachen. Des weiteren hat die neue Partei keine ausgesprochene Politik und hat bis jetzt noch keine Führer entdeckt. John Burns, der einzige englische Arbeiter, dem in hervorragendem Maße jene ge- heimnisvolle Macht gegeben ist, welche andere zur Gefolgschaft zwingt, hält sich fern.

Edward R. Peasc, Die neue Arbeiterpartei in England.

Vielleicht findet sich unter den 20 oder 30 zukünftigen Abge- ordneten ein Führer. Viele von ihnen sind Männer von ausgesprochener Begabung und fast alle haben ihren Weg zur Front ohne die Vorteile einer wissenschaftlichen Bildung und ohne ererbtes Vermögen erkämpft. Aber keiner von ihnen ragt bis jetzt als der Feldherr hervor, der be- rufen ist, seine treuen Truppen zum siegreichen Kampf gegen die zahl- reichen, wenn auch schlecht organisierten Mächte, die den Arbeitern entgegenstehen, zu führen.

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Wohnbedarf und Kinderzahl.

(Ein Beitrag zur Wohnungsfrage.)

Von

HENRIETTE FÜRTH,

Frankfurt a. Main.

I. Material und Methode.

Die nachfolgende Untersuchung: in welchem Grad die Kinderzahl in einer bestimmten Bevölkerungsschicht die Befriedigung des Wohn- bedürfnisses und die Höhe der dafür aufzuwendenden Mittel beeinflußt, beruht in erster Linie auf dem urschriftlichen Material des Hauspflege- vereins in Frankfurt am Main. Seinen Büchern und Aufzeichnungen wurde ein Auszug entnommen, der die verpflegten Familien nach ihren Einkommensverhältnissen und zugleich nach ihrer Kinderzahl und ihren Mietausgaben erfaßt.

Das verarbeitete Material muß insofern als ein besonders ge- eignetes angesprochen werden, als die Pflegeobjekte des Hauspflege- vereins sich fast ausschließlich aus jenen Bevölkerungsschichten rekru- tieren, die, ohne der öffentlichen Armenpflege zur Last zu fallen, doch nicht „in der Lage sind zu ersparen, weil ihr Lohn eben ausreicht, die laufenden Bedürfnisse zu decken." *) Hier ist es, wo jede Erhöhung der Anforderungen, sei sie nun durch Familienzuwachs, Mietsteigerung, Krankheit oder was auch immer veranlaßt, durch Ersparnisse an irgend einer anderen Stelle ausgeglichen werden muß und das auf die Gefahr hin, dadurch unter das Niveau des zum Leben eigentlich Unumgänglichen herabgedrückt zu werden.

Hier werden sich daher auch in geradezu typischer Reinheit die inneren Beziehungen zwischen den von uns angezogenen Faktoren des Familienlebens herausstellen und dies um so sicherer, als alle die Fälle ausgeschieden wurden, in denen es sich um Familien handelte, die in

) Fl esc h, Die Hauspflege und ihre Organisation. Jena 1901, S. 16.

Henriette Fürth, Wohnbedarf und Kinderrahl.

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öffentlicher Armenpflege waren und ferner alle die, die nachweisbar durch Aftervermietung sich die Mietlast zu erleichtern suchten. Auf die ersteren wurde verzichtet, weil der gewohnheitsmäßige Unterstützungs- empfänger nicht als Typ jener Volksschichten betrachtet werden kann, die sich redlich, wenn auch kärglich durch ihrer Hände Arbeit ernähren. Von jenen, die Teile ihrer Wohnung in Aftermiete geben, wurde darum abgesehen, weil hier, in Erwägung der in Frage kommenden Kreise, von vornherein anzunehmen ist, daß von einer schon beschränkten Wohnung, des Mieterträgnisses willen, der oder die besten Räume abgegeben werden, indes die Familie sich in irgend einem Winkel zusammendrängt. Von menschenwürdigem Wohnen kann da überhaupt nicht die Rede sein. Höchstens kann und muß man diese Fälle als Beweistitel dafür registrieren, wie bitternotwendig die Beschaffung solcher Wrohnungen ist, die es auch dem Ärmsten ermöglichen, eine Heimstatt zu besitzen, die diesen Namen halbwegs verdient und familienfremde Elemente aus- schließt. Schließlich blieben noch die vereinzelten Fälle unberück- sichtigt, in denen es sich um kinderlose Familien handelt, da ja für diese unsere Untersuchung belanglos ist.

Wir hatten sonach von den 1574 Familien,1) die in den Jahren 1901 und 1902 vom Hauspflegeverein verpflegt wurden, 248 auszu- scheiden. Da indes, trotz der vorgenommenen Sichtung, sich unter den übrigbleibenden 1326 eine ganze Reihe von Fällen befanden, über die nur höchst seltsame oder widerspruchsvolle Angaben vorlagen, sei es daß Miete und Verdienst oder daß Miete und Kinderzahl in einem aller Erfahrung zuwiderlaufenden Verhältnis zueinander standen, wurden Stichproben veranstaltet und nähere Auskünfte und Aufklärungen bei- gebracht. Dabei wurde der Versuch gemacht, soweit das irgend mög- lich und gegen das Mißtrauen der Befragten durchzusetzen war, gleich- zeitig Angaben über die gesamte Lebensführung, die Verteilung der Ausgaben, die Küchenbehandlung der Lebensmittel und ähnliches mehr zu erlangen.

Schließlich wurde auch die eine und andere Wohnung der Aktien - baugesellschaft für kleine Wohnungen einer eingehenden Prüfung unter- zogen und durch C Gegenüberstellung der Preise, der Bedingungen und der sonstigen Beschaffenheit einer Wohnung alten Stiles mit jenen, die die genannte Gesellschaft für ihre Mieter bereit hält, die Schaffung einer Grundlage dafür versucht, in welcher Richtung und nach welchem Ziele hin die Tätigkeit gemeinnütziger Baugesellschaften sich zu entwickeln habe, und zwar mit besonderer Berücksichtigung kinderreicher, der untersten Mieterschicht angehörender Familien. Die vorliegenden Jahres- berichte der Gesellschaft wie auch der ähnliche Zwecke verfolgenden „Stiftung für Erbauung billiger Wohnungen in Leipzig" enthalten neben

>) Siehe Berichte von 190: u. 1902, S. 3 bez. 5.

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Miszellen.

einer Fülle von Anregungen ein schätzbares Beweismaterial dafür, daß es möglich ist, in gewissem Sinne selbst unter Wahrung des fiskalischen Standpunktes, zweckmäßige und billige Wohnungen auch für kinderreiche Familien zu schaffen.

Der Behandlung des eigentlichen Themas schicken wir eine Über- sicht voraus, die auf den Berichten des Hauspflegevereins beruht und die während der letzten vier Jahre Verpflegten nach Beruf, Einkommen und Kinderzahl klassifiziert. Eine solche Zusammenfassung erwies sich als notwendig, um jedem Leser eine selbständige Urteilsbildung darüber zu ermöglichen, ob es sich hier in der Tat um diejenige Bevölkerungs- schicht handelt, für die die Wohnfrage zu einer Kalamität geworden ist, weil ihr Einkommen eine sachgemäße Befriedigung des Wohnbedürf- nisses unmöglich macht, während trotzdem die Höhe der Mietpreise für schlechte und in jedem Sinn unzulängliche Wohnungen ihnen eine Lebenshaltung aufzwingt, die hart an die Grenze des Hungers heran- reicht und manchmal unter diese Grenze sinkt. Und dies, weil es sich andererseits, nicht durchweg aber zum großen Teil, um Bevölkerungs- elemente handelt, die lieber die äußersten Entbehrungen ertragen als daß sie die öffentliche Armenunterstützung mit ihren degradierenden Folgen auf sich nehmen.

Wer je Gelegenheit hatte, solche Zustände aus der Nähe zu sehen, der wird der sittlichen Kraft und Widerstandsfähigkeit, die sich in solchem Verhalten offenbart, seine Anerkennung nicht versagen können. Aber er wird sich auch der Einsicht nicht verschließen dürfen, daß die hier verpflichteten Instanzen alles tun müssen, um die Wohnfrage einer allseitig befriedigenden Lösung entgegenzuführen und dies ebenso im Interesse der körperlichen wie der sittlichen Kraft und Gesundheit des Volksganzen.

II. Zusammensetzung der Pfleglinge des Hauspflege- vereins nach Beruf, Einkommen und Kinderzahl.

Unseren Ausführungen liegen die Berichte über die Jahre 1899 bis 1902 inklusive zugrunde. Innerhalb dieser 4 Jahre wurden 2950

Familien verpflegt. Davon waren :

Taglöhner 819

Gelernte Arbeiter 1488

Kaufleute bzw. Angestellte ... 85

Beamte 237

Diener, Kellner 194

Musiker, Künstler 21

Witwen 76

Mann in Haft 3

Ohne Beruf 20

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Summa 2950

Henriette Fürth, Wohnbedarf und Kindcrzahl.

663

Über die Hälfte der Verpflegten sind gelernte Arbeiter, das heißt also solche, von denen man in einem so blühenden Gemeinwesen, wie Frankfurt es ist, annehmen darf, daß sie von Ausnahmefällen abgesehen, in regelmäßiger Arbeit stehen oder als kleine Handwerker, Schuhmacher, Schneider, teils für Geschäfte, teils für eine kleine Privatkundschaft arbeiten. Ihnen zunächst kommen die Taglöhncr, deren Familien mit 819, das sind knapp 2S Proz., als verpflegt figurieren. Diese Leute, wie auch die mit stark 6. Proz., also einer recht geringen Quote be- teiligten Diener und Kellner, werden zuerst von allen Schwankungen des Wirtschafts- und Arbeitsmarktes getroffen. Sie repräsentieren immer- hin einen ziemlich beträchtlichen Teil der für unseren besonderen Zweck in Frage kommenden Bevölkerung, wennschon jenen, der teilweise unter die Zahl derer zu rechnen ist, denen selbst durch gemeinnützigen Wohnungsbau auf breitester Grundlage nicht zu helfen ist, da ihr Ein* kommen, auf die Kopfzahl der Familie umgerechnet, keine so große Aufwendung für Miete gestattet als erforderlich wäre, um Bau- und Ge- ländekosten mäßig oder selbst niedrig zu verzinsen.

In Frankfurt a. M. beträgt der ortsübliche Tagelohn 3,10 Mk. Da- von sind die Beträge für Kranken- und Invaliditätsversicherung in Ab- zug zu bringen. Von dem verbleibenden Betrag, selbst bei kleiner Kopf- zahl der Familie, neben allem übrigen auch noch die Miete für eine auskömmliche Wohnung zu bestreiten, ist nach meiner Erfahrung, soviel Gegenteiliges auch ständig geredet oder ge- schrieben wird, durchaus unmöglich. Die 237 Beamten gleich & Proz. der Verpflegten sind meistens subalterne Bedienstete der Polizei oder der städtischen Ämter.

Nach Kinderzahl und Einkommen gliedern sich die verpflegten Familien in folgender Weise:

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1620 das sind 55 Proz. der innerhalb 4 Jahren Verpflegten hatten danach mit einem Wocheneinkommen von Mk. und weniger zu rechnen. Lassen wir aber selbst, als völlig unfähig aus eigenen Mitteln durchzukommen, jene 209 außer Betracht, die weniger als ijj Mk. vereinnahmten, so bleibt immer noch reichlich die Hälfte, die in der teuersten Großstadt Deutschlands mit ijj bis i_8 Mk. pro Woche wirt-

Archiv für Sorialwisscnschaft u. Sozialpolitik. (A. f. soz. G. n. St. XIX.) 3. 43.

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Schäften sollen. Und selbst von den 435 Familien, die 23 und mehr Mk. Wocheneinkommen haben, müssen 231, also mehr als die Hälfte für 4 und mehr Kinder sorgen. Wir werden festzustellen haben, welche Lebenshaltung sich auf Grund solcher Verhältnise ermöglichen läßt und wollen einstweilen nur, zur Ehre der Verpflegten konstatieren, daß in einer ganzen Anzahl der 204 Pflegefälle, in denen es sich um besser- gestellte Familien mit wenig Kindern handelte und in denen Hauspflege wegen länger andauernder Erkrankung oder aus sonstigen Ausnahme- gründen eintrat, die Kosten der Hauspflege ganz oder teilweise zurück- erstattet wurden.

III. Einkommen, Mietpreis und Kinderzahl.

Aus vorstehender Tabelle (S. 664 65) geht hervor, daß von den 1326 Familien, die nach Abzug der auf Rechnung des Armenamtes Verpflegten, und jener, die Zimmer in Aftermiete geben, noch übrig bleiben, 291 das sind 21,8 Proz. mit einem Einkoramen unter 18 Mk. zu rechnen haben. Davon zahlen 83, das ist die Hälfte aller Familien, die bei 1 3 Kindern ein Einkommen unter 18 Mk. haben, bis zu 4,40 Mk. Wochenmiete, ßei den Familien, die 4 und mehr Kinder haben, finden wir nur noch 43 34,5 Proz. in den unteren Mietstufen. In der Mietoberstufe, das heißt bei jenen, die wöchentlich 6 Mk. und mehr für Miete verausgaben, ist hier das Verhältnis umgekehrt. Den 38 = 22,5 Proz. der Familien, die bei r 3 Kindern 6 Mk. und mehr an wöchentlicher Miete zahlen, stehen 33 = 27 Proz. der hier zu zählenden gegenüber, die bei 4 und mehr Kindern 6 Mk. und mehr für wöchent- liche Miete verausgaben. Während sonach auf dieser geringen Ein- kommenstufe die Zahl der Familien, die mehr für Miete ausgeben, mit der Kinderzahl absolut fällt, steigt sie relativ, das heißt im Verhältnis der hier überhaupt zu zählenden Familien. Hier bestätigt sich also die Auffassung, daß mit wachsender Kinderzahl auch die Mietaufwendung vergleichsweise wächst. Dabei sind indes verschiedene Einschränkungen zu machen. Die erste und wesentlichste ist die, daß mit Sicherheit an- zunehmen und durch überzeugende Beispiele zu belegen ist, daß bei größerer Kinderzahl und einem Einkommen unter 18 Mk. die Lebens- haltung, und sei sie noch so ärmlich, nicht ausschließlich aus eigenen Kräften bestritten werden kann. Es bleibt daher der Einzeluntersuchung vorbehalten, zu ergründen, ob und welche Unterstützungen in Gestalt von Geld, Kleidern oder Naturalien selbst in den Fällen bezogen wurden, in denen der Bezug von Unterstützungen nicht sofort nachweisbar oder in Abrede gestellt ist. Ferner bleibt am Einzelbeispiel zu prüfen, in welcher Weise das Wohnbedürfnis im einen oder anderen Falle be- friedigt wurde.

Ein Einkommen von 18 Mk., mit dem bekanntlich weite Bevölke-

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Henriette Fürth, Wohnbedarf und Kindercah). * 667

rungsschichten regelmäßig auskommen müssen, bezogen von 1326 Familien 339 = 24,6 Proz. Nahezu ein Viertel aller Verpflegten hat mit diesem für Frankfurter Verhältnisse völlig unzulänglichen Einkommen zu rechnen. Die Zustände gestalten sich denn auch ganz ähnlich wie bei der ersten Kategorie. 51 Proz. der Familien mit 1 3 Kindern zahlen wöchentlich bis zu 4,40 Mk. Miete. 16 Proz. zahlen 6 Mk. und mehr. Von den Familien mit 4 und mehr Kindern 37 Proz. bis zu 4,40 und 23 Proz. 6 Mk. und mehr.

Von den 327 Familien (25,6 Proz.), die 19 20 Mk. Wochenein- kommen hatten, wandten 30 Proz. jener, die 1 3 Kinder hatten, bis zu 4,40 Mk. wöchentlich für Miete auf und 28 Proz. 6 Mk. und mehr. Von denen mit 4 und mehr Kindern 31 Proz. bis zu 4,40 und 26 Proz. 6 Mk. und mehr.

Hier finden wir also bei einer an sich nur unwesentlichen, in dem vorliegenden Fall aber höchst bedeutungsvollen Erhöhung des Ein- kommens eine prozentual ziemlich beträchtliche Mehrausgabe für Miete. Die unteren Mietstufen partizipieren nicht mehr mit 5o, sondern nur noch mit 30 Proz. an der Mietausgabe, während die höchsten Miet- stufen statt mit 16 bzw. 23 Proz. nunmehr mit 28 bzw. 31 Proz. ver- treten sind. Eine Tatsache, die jenen zur Beachtung empfohlen sei, die immer wieder mit dem Märchen hausieren gehen, daß in Arbeiterkreisen jeder etwaige Mehrverdienst für Alkoholika, Putz und dergleichen draufginge.

Als eine in gleichem Sinne bemerkenswerte Nebenerscheinung, ist zu verzeichnen, daß bei den Familien, die über ein Wocheneinkommen von 19 20 Mk. verfügen, 44 bzw. 40,5 Proz. jener, die 1 3 Kinder , haben, in der mittleren Mietstufe (4,60 5,80 Mk. pro Woche) zu finden sind. Daraus geht doch wohl auch hervor, daß, wer es irgend kann, vor allen anderen Dingen das Wohnbedürfnis in angemessener Weise zu befriedigen sucht.

Nicht der gleiche Schluß ist aus der Tatsache zu ziehen, daß auch die Familien mit 5 und mehr Kindern bei einem Einkommen von 1 9 bis 20 Mk. mit 48 Proz. in dieser Mittelstufe anzutreffen sind. Hier drängt sich vielmehr unabweisbar der Rückschluß auf, daß diese Familien, wenn sie 27 Proz. ihres Einkommens für Miete aufwandten, bis an die äußerste Grenze ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit gegangen sind, um nur das Minimum an Wohngelegenheit zu bekommen, das minder kinderreichen Familien für weniger Geld zu Gebote steht.

Wir kommen nun zu den 265 Familien (20 Proz.), die 21 24 Mk. Wocheneinkommen beziehen. Hier finden wir nur 22,5 Proz. der Familien mit 1 3 Kindern in den unteren Mietklassen, in den obersten dagegen 43,5 Proz. Die Familien mit 4 und mehr Kindern nehmen mit 29 Proz. an den untersten und mit 31,5 Proz. an den obersten Mietstufen teil. Hier tritt zum ersten Mal mit aller Schärfe die Er-

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scheinung auf, daß bei gleichem Einkommen bei wachsender Kinderzahl die Aufwendung für Miete nicht wächst, sondern herabgeht. Absolut, das heißt im Vergleiche zu den Familien mit gleicher Kinder- zahl aber auf geringerer Einkommenstufe, ist der Anteil an der höheren Mietquote auch bei den kinderreichen Familien um ,/2 Proz., also ganz unbedeutend gestiegen, relativ aber, das heißt im Vergleich zu den kinderarmen Familien, ist er herabgegangen, da die Beteiligung an den höchsten Mietsätzen sich bei den kinderarmen Familien von 23 Proz. auf der niedrigen Einkommenstufe auf 43,5 Proz., also um reichlich 20 Proz. erhöht hat.

Halten wir dagegen, daß eine große Familie zweifellos einer größeren, d. i. also teureren Wohnung bedarf oder sie wenigstens haben sollte, und vergegenwärtigen wir uns andererseits, daß der Haus- besitzer noch nicht geboren ist, der aus reiner Menschenliebe kinder- reiche Familien um einen billigeren als den üblichen Preis wohnen läßt, so bleibt nur die Schlußfolgerung übrig, daß kinderreiche Familien um so viel schlechter wohnen, als sie weniger Miete bezahlen. Ja, noch mehr: Die Hausbesitzer vermieten an kinderreiche Familien nicht nur nicht billiger: sie lassen sich die nämliche Wohnung, die sie kinderlosen oder kinderarmen Familien um den ortsüblichen Preis vermieten würden, von kinderreichen Leuten, sofern sie sich überhaupt herbeilassen solche zu nehmen, weit höher bezahlen. Sie machen, von ihrem Standpunkt aus mit Recht, geltend, daß die Wohnung stärker abgenützt, die Ruhe des Hauses beeinträchtigt würde u. ähnl. m., so daß eine Familie mit 4 und mehr Kindern lange suchen kann, bis sie überhaupt eine Wohnung findet. Aus alledem geht hervor, daß Familien mit vielen Kindern bei gleicher Mietzahlung schlechter behaust sind als kinderarme Familien, während die von uns zahlenmäßig erfaßte Tatsache eines geringeren Mietaufwandes nur den Rückschluß mangelhaftester und ungenügendster Behausung zuläßt, eine Annahme, die durch die vorgenommenen Einzel- untersuchungen in vollem Umfang bestätigt wird.

Noch schärfer treten die gekennzeichneten Einzelheiten bei der 5. Kategorie von Familien hervor, jenen 104 (8 Proz.), die 25 Mk. und mehr Einkommen haben.

Hier finden wir die Familien, die bis zu 3 Kindern haben, nur mit 6 Proz. in den untersten Mietstufen vertreten gegen 63,5 Proz. in den obersten. Bei den Familien mit 4 und mehr Kindern stellt sich das Verhältnis mit 10 Proz. in den unteren zu 68 Proz. in den oberen Mietklassen. Vergleichen wir diese Zahlen mit unseren 51 bzw. 16 Proz. bei einem Einkommen von 18 Mk. und kinderarmen und 37 bzw. 23 Proz. bei 18 Mk. und kinderreichen Familien, so ergibt sich als völlig zweifellos, daß die Aufwendung für Miete vergleichsweise noch stärker steigt als der Zuwachs an Einkommen. Die Gleichung heißt demnach : Wenige Kinder gleich mehr Aufwand an Miete, gleich besseres

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Henriette Fürth, Wohnbedarf und Kindcrzabl.

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Wohnen. Viele Kinder gleich die sachgemäße Befriedigung des Wohn- bedürfnisses ist unmöglich, da das Geld für andere notwendige Dinge gebraucht wird: daher schlechte und unzureichende Befriedigung des Wohnbedürfnisses. Damit wird der Vorwurf hinfällig, daß das Wohn- bedürfnis bei der arbeitenden Bevölkerung nur schwach entwickelt sei. Ja es erhellt sogar aus diesen unantastbaren Zahlen für jeden, der die Dinge ohne Voreingenommenheit zu betrachten weiß, daß der kleine Mann, sobald nur erst einmal Hunger und Kälte abgewehrt sind, großen Wert auf eine menschenwürdige Wohnung legt. Und wir können selbst sehen, daß manchmal sogar etwas Hunger aus diesem Grunde mit in Kauf genommen wird, wenn man als Hunger eine qualitativ und teil- weise auch quantitativ unzureichende Ernährung bezeichnen darf.

Noch besser illustriert wird die Feststellung, daß mit der Kinder- zahl der Mietaufwand nicht entsprechend steigt, durch folgende Zu- sammenstellung :

Von 394 Kam. mit 1—2 Kindern zahlten Miete bis 4,40 Mk. wochentl. 139 = 35,3 Proz.

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Vergegenwärtigen wir uns dasselbe unter Ausschluß der Familien, die weniger als 18 Mk. Einkommen angaben (wir haben oben darauf hingewiesen, daß das einer ungenügenden Aufklärung über die Ein- koramensverhältnisse gleichkommt und daß hier unbedingt noch andere Einkommenquellen unterstellt werden müssen), so ergibt sich das folgende Bild:

Von 304 Farn, mit 1—2 Kindern zahlten Miete bis 4,40 Mk. wöchentl. 98 = 32,2 Proz.

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Die Zahl der Familien, die (bei Ausschluß der Einkommen unter 1 8 Mk.) mehr als 4,40 Mk. aufwenden, d. h. also das Wohnbedürfnis besse befriedigen können, beläuft sich sonach auf 67,8 bzw. 64,3 °/0 bei den Familien mit 1 2 und mit 3 Kindern, und auch die Familien mit 4, 5 und mehr Kindern weisen kein anderes Verhältnis auf, das heißt auch sie bleiben trotz des] infolge der größeren Kopfzahl verstärkten Wohnbedürfnisses mit einem Drittel der Fälle unterhalb des Miet- aufwandes der, von Ausnahmen abgesehen, eigentlich als der minimale zu gelten hat.

Von besonderem Interesse ist die Einkommensklasse von 21 bis 24 Mk. Hier haben wir es unstreitig mit der regulären Arbeiterschicht in gesicherten und keineswegs ungünstigen Einkommensverhältnissen zu tun, da ein Tagelohn von 3,50 4 Mk. im Jahresdurchschnitt nur vom

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qualifizierten Arbeiter bezogen zu werden pflegt. Wir dürfen daher diese Arbeiterschicht als typisch behandeln und können auf Grund der hier festzustellenden Wohnverhältnisse und Mietpreise uns ein für weite Kreise zutreffendes Bild des in dieser Beziehung auch unter relativ gün- stigen Umständen erreichbaren machen. Da finden wir denn, daß von den 265 in diese Abteilung gehörigen Familien nur 67 = 25,3 °0 bis zu 4,40 Mk Wochenmiete zahlen. Und von diesen 67 Familien gehören, bezeichnenderweise, 35 also mehr als dieHälfte derZahl jener an, die 4, sund mehrKinderhaben. Wäre die Bedürfnis- frage das Entscheidende, so müßte das Verhältnis mindestens das umge- hehrte oder vielmehr der Mietaufwand der kinderreichen Familien un- vergleichlich höher sein. Bei den Familien, die 25 Mk. und mehr Ein- kommen haben, verhält sich die Sache ganz anders. Hier scheiden die kinderreichen Familien, die durch ihr Einkommen in der glücklichen Lage sind, sich eine einigermaßen angemessene Wohnung zu sichern, aus der unteren Mietklasse fast völlig aus. Von 104 Familien sind es hier nur 12 11,5 °/0, die bis zu 4,40 Wochenmiete zahlen, und von diesen gehören 10 der Gruppe mit 5 und mehr Kindern an. Hier tritt deutlich hervor, daß trotz guten Einkommens die Aufwendungen für andere dringliche Dinge so viel Raum einnehmen, daß dadurch die Be- friedigung des Wohnbedürfnisses beeinträchtigt wird.

Wir sehen also, daß die Mietausgabe selbst in den höheren Ein- kommensklassen mit der Kinderzahl nicht so wächst, als man im Interesse einer ausreichenden Befriedigung des Wohnungsbedürfnisses wünschen müßte, während naturgemäß die kinderreichen Familien der unteren Ein- kommenklassen nicht mehr, sondern weniger Tür Miete aufwenden können, als ihre kinderarmen Kollegen der gleichen Einkommenstufe.

Besonders lehrreich sind auch die bezüglichen Ergebnisse in der Normalschicht, die über ein Einkommen von 19—20, bzw. von 21 24 Mk. verfügt. Hier finden wir 44 bzw. 40,5 und 35 bzw. 33 °/0 der Familien mit 1 3 Kindern in der mittleren Mietstufe (4,60 5,80 Mk. pro Woche), während die kinderreichen Familien derselben Klasse mit 36 und 50,5 bzw. mit 38,5 und 4T °/0 in der mittleren Mietstufe figurieren. Auch hier wieder der Beweis, daß die kinderreichen Familien nicht mehr, sondern relativ weniger für ihre Wohnung aufwenden können: Demnach auch hier wieder eine starke Mahnung, Mittel und Wege zu finden, die diesem Übelstand abzuhelfen oder vielmehr für das verfügbare Geld sachgemäße Wohngelegenheit zu beschaffen vermögen.

IV. Reformbestrebungen und ihre Ergänzung.

Die Wohnfrage ist eine Lohnfrage. Aber sie ist nicht nur das. Zahl- reiche Einzelforschungen, wie auch die fortgesetzte verdienstliche Tätig- keit des Vereins: „Reichs- Wohnungsgesetz" haben längst den Nachweis

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Henriette Fürth, Wohnbedarf und Kinder* ahl.

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erbracht, daß die Wohnfrage zugleich eine Frage des Bodenbesitzes, das ist der Grundrente, der Baukosten, der Bebauungspläne und Ordnungen, der Verkehrserleichterung und Dezentralisation und ähnlicher Dinge mehr ist. Wir haben in den voraufgehenden Darstellungen den Nachweis hinzugefügt, daß die Wohnfrage ebenso eine Frage der Geburten- frequenz ist.

Will man nun nicht aus der Unvereinbarkeit des Kindersegens mit den Mietpreisen ein Recht auf Herabsetzung der Geburtenfrequenz her- leiten, so hat man in erster Linie sein Augenmerk darauf zu richten, wie den üblen Folgen des Kinderreichtums auf diesem Gebiet zu begegnen sei. Es liegt auf der Hand, daß die übrigen Mittel der Wohnungsfürsorge hier versagen, bezw. nicht den vorgesetzten Zweck erreichen. Einer Lohn- erhöhung folgt die Mietsteigerung, einer Verschärfung der Bauordnung die Wertsteigerung des bebauten Bodens und damit die Erhöhung der Mieten, dem Ausbau des Vorortverkehrs das Anschwellen der Mietpreise auch dort und an der Peripherie der Städte.

Ebenso wird die Zonenenteignung, die Kommunalisierung des Grund- besitzes, die Propagierung des Erbbauwesens und die Beförderung des gemeinnützigen Wohnungsbaues den mit der Sorge für zahlreiche Kinder belasteten Familien nur insofern zugute kommen, als eine allgemeine Herabsetzung des Mietzinses auch ihre Lage zu verbessern geeignet ist. Soll ihnen indes so geholfen werden, wie es im Interesse der Gesundheit der heranwachsenden Generation und einer sinngemäßen Verteilung des Einkommens auf die Befriedigung der verschiedenen Lebensbedürfnisse wünschenswert erscheint, dann muß anderweitge Vorsorge in der Weise getroffen werden, daß die gemeinnützige und genossenschaftliche, und vor allen Dingen, daß die kommunale Bautätigkeit sich die Aufgabe stellt, ausreichend große, gesunde und zugleich billige Wohnungen für kinder- reiche Familien zu bauen.

Als ein äußerst bemerkenswerter Versuch in dieser Richtung charakterisiert sich die Unternehmung der Aktienbaugesellschaft für kleine Wohnungen in Frankfurt am Main. Es verlohnt sich der Mühe, die Prinzipien, auf denen sie aufgebaut ist, die Richtung, in der sie wirkt und die Ergänzungen, die sie durch die Munifizenz Privater erfährt, einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Ich folge dabei den vor- liegenden Jahresberichten und einem Artikel der Frankfurter Zeitung,1) in dem es heißt:

„Der Ausgangspunkt der Gesellschaft war von dem vieler anderer Wohnungsunternehmungen wesentlich verschieden. Es ward nicht zu- erst gefragt: Wie soll die zu erbauende Arbeiterwohnung beschaffen sein? und wie stellt man diese Wohnung möglichst billig her?,

') „Von kleinen Wohnungen und wie sie ergänzt werden." Von Stadtrat Dr. Karl Flesch, Frankfurt. Frankfurter Zeitung vom 7. 11. 02.

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sondern gerade umgekehrt: Was kann der Tagelöhner zahlen?, und wie fängt man es an, für den ermittelten Preis möglichst viel zu bieten.**

Und sie fugte diesen Erwägungen die weitere hinzu, wie man drei- räumige Wohnungen für kinderreiche Familien um einen billigen Preis erstellen könne, ohne sich indes der Einsicht zu verschließen, daß zwei Wohnräume und ein kleines Schlaf kabinett bei einer großen Familie irgendwie „höheren" Kulturansprüchen nicht genüge. So war die Ge- sellschaft von Anfang an darauf hingewiesen, die Wohnung zu ergänzen.

„Die Einrichtung einer Kellerabteilung zur gemeinschaftlichen Bade- und Waschküche war relativ leicht", während die Vorteile dieser Ein- richtung, die in regelmäßigem Turnus den Mietern zu Gebote steht, ungemein schätzbar sind. Ebenso der Gasautomat, der Brief- und Brötchenkasten Air jeden Mieter.

Noch wertvoller aber sind andere Ergänzungen, die in erster Linie gerade den von der Gesellschaft bevorzugten und ohne Rücksicht auf das religiöse oder politische Bekenntnis ausgewählten kinder- reichen Familien zugute kommen. Da ist zuerst die günstige Lage der Blocks, die dem Licht und der Luft von allen Seiten freien Zutritt ge- währt. Und während z. B. durch die städtische Bauordnung eine un- bebaute Fläche von 33, 40 und 50 Proz., je nach Lage in der Innen- stadt, Vorstadt oder Peripherie vorgeschrieben ist, bleiben bei den Häusern der Aktienbaugesellschaft 50 60 Proz. unbebaut. Diese freien Flächen sind in Spiel- und Bleichplätze, Gartenanteile für die Mieter usw. umgewandelt.

Wird auf diese Weise schon eine willkommene Ergänzung der Wohnung geschaffen, die völlig den Charakter einer Vergrößerung trägt, so ist das noch mehr der Fall durch die sonstigen Veranstaltungen, die in Gestalt von Vereinshäusern den Bewohnern der Blocks zugänglich sind. Diese Vereinshäuser, die ihre Erbauung und Ausstaltung den Zu- wendungen der Frankfurter Herren Speyer, Wertheim, Hallgarten u. a. danken, enthalten Krippe, Kindergarten- und Hort, Volksküchen, Biblio- theken, Flickschulen, Versammlungssälc usw.1)

Die Aktienbaugesellschaft für kleine Wohnungen verfügt heute über 832 Wohnungen zu zwei und drei Zimmern. Die Bevölkerung der Häuser, die sich auf 5 Baublocks verteilen, betrug am 1. Januar 1904: 875 Fa- milien mit 4303 Personen, daher auf die Familie 5 Personen. Darunter befanden sich über 2000 Kinder unter 14 Jahren. „Bei anderen ähn-

l) Erwähnt sei auch noch die Hauspflegekasse, die ihren Mitgliedern gegen einen geringen Beitrag (30 Pfg. monatlich) das Recht auf eine Hauspflegerin in Krankhcits- und Wochcnbettfallen sichert, und deren Aufgabe darin besteht, durch Besorgung der Hausgeschäfte und der Kinder in allen Stücken für die arbeits- unfähige Hausfrau einzutreten. Weiter die Ermöglichung des gemeinsamen und billigen Bezuges von Kohlen und Kartoffeln.

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Henriette Fürth, Wohnbedarf und Kinderzahl. 673

liehen Zwecken dienenden Gesellschaften stellt sich das Verhältnis wesentlich niedriger. So hat beispielsweise die „Gemeinnützige Bau- gesellschaft" bei 450 Familien mit 1690 Personen im Jahre 1902 588 Kinder unter 14 Jahren, d. h. auf die Familie 1,3 Kinder, die A.-B.-G. dagegen auf die Familie 2,54 Kinder unter 14 Jahren."

Wir ersehen daraus, daß die Gesellschaft ihrer Aufgabe, kinder- reiche Familien unterzubringen nach Möglichkeit gerecht zu werden sucht Nun bleibt zu untersuchen, ob ihr dies ebenso in bezug auf Flächenraura und Preise gelingt.

Bei einer Höhe von durchgehends 3,10 Metern haben die Zwei- zimmerwohnungen einen Flächeninhalt von 37 48 qm, die von drei Zimmern 41 51 qm. Die Preise stellen sich auf 14—22 Mk. für die Zwei- und auf 22 26 Mk. für die Dreizimmerwohnungen. Vereinzelt kommen auch Mansardenwohnungen vor. Die Preise richten sich einmal nach den Stockwerken und außerdem nach der Lage der Blocks, da der der Mietberechnung zugrunde liegende Bodenpreis im Zentrum der Stadt natürlich wesentlich höher ist als an der Peripherie. Trotzdem stellen sie sich durchgängig billiger als die schlechten Wohnungen in der Altstadt und die besseren der Vorstadt, denen überdies auch noch die von uns aufgeführten Ergänzungen fehlen. So kostet der Quadrat- meter Fläche, in den drei ersten Fällen 70, 77 und 87 Pfg., in den Häusern der A.-B.-G. dagegen durchschnittlich 49 Pfennige.

Noch klarer wird dies, wenn wir an der Hand des Berichtes für 1902 einen vergleichenden Blick auf die von den Mietern des neubezogenen Erbbaublocks früher innegehabten Wohnungen und die dafür gezahlten Preise werfen. Eine sehr übersichtliche Tabelle gibt uns darüber Aus- kunft.

(Siehe Tabelle S. 674, 675.)

Folgen wir nun noch einen Augenblick den Ausführungen des Be- richts. Es heißt dort in bezug auf den eben dem Verkehr übergebenen Erbbaublock: „Von 486 Mietgesuchen wurden 162 berücksichtigt. Diese 162 Familien beziehen ein Wocheneinkommen von 3546 Mk., d. h. also durchschnittlich 21,89 Mk. Die frühere Mietausgabe betrug 4329 Mk., durchschnittlich also 26,72 Mk. pro Monat. Während so- nach früher ein knappes Drittel des Einkommens für Miete aufge- wandt werden mußte, wird heute nur !/5 des Einkommens dafür ver- ausgabt.

Neben der eigentlichen Mietersparnis kommt nun noch die be- deutende Verbesserung der Wohnverhältnisse in Betracht. Früher dunkle, kleine Kammern, heute für weniger Geld luftige, geräumige, helle Zimmer, ausgestattet mit allen Annehmlichkeiten einer bürgerlichen Wohnung. Das Waschen und Trocknen der Wäsche aus der Wohnung hinaus ver- legt und Vorsorge getroffen, daß die Kinder tagsüber sich in geräumigen Spielsälen oder ebensolchen Spielplätzen tummeln können. Außerdem

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Henriette Fürth, Wohnbedarf und Kindcrzahl.

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fand die weitere Absicht der A.-B.-G., insbesondere kinderreiche Familien zu berücksichtigen, ihre Verwirklichung."

Wie wohltuend diese Art der Fürsorge empfunden wird, und wie groß, trotz des Verbotes der Aftervermietung, die Nachfrage nach solchen Wohnungen ist, selbst wenn sie wie der Erbbaublock, an der äußersten Grenze der Stadt liegen, geht daraus hervor, daß für 324 im Jahre 1902 verfügbare Wohnungen etwa 1000 Meidungen einliefen.

Aus alledem erhellt, wie segensreich die Gesellschaft wirkt, aber auch, wie bitter notwendig gerade diese besonders die kleinen Leute mit zahlreicher Familie berücksichtigende Art der Wohnungsfürsorge ist.

Vielleicht ließe sich hier künftig noch eine Verbesserung anbahnen, indem man bei zu erwartenden Neubauten die Mietpreise so kalkuliert, daß sie sich noch besser als es jetzt der Fall ist, der Kinderzahl und den verschiedenen Einkommensstufen anpassen. Ein bedeutsamer An- fang in dieser Richtung ist in Leipzig gemacht worden. Dort besteht eine „Stiftung l) für Erbauung billiger Wohnungen", als deren Leitsatz gilt: „daß der auf die Wohnung zu verwendende Betrag in einem ge- sunden Verhältnis zum Gesarateinkommen stehen muß", und „der Finan- zierung des Unternehmens liegt der Gedanke zugrunde, daß bei gleicher Kopfzahl der Familien, Mieter mit 1600 Mk. oder 900 Mk. Verdienst gleiche Raumbedürfnisse haben, und der besser situiertc Mieter zugunsten des weniger gut situierten Mieters höhere Miete zahlen muß."

Ihre Verwirklichung findet diese Absicht durch eine ziemlich be- trächtliche Abstufung nach Stockwerken, so daß z. B. die Mieter des Parterre- und ersten Stockes für die gleiche Wohnung, die in den oberen Stockwerken 187 bzw. 145 Mk. kostet, 210 Mk. zu zahlen haben. Wir haben auch bei der Frankfurter Gesellschaft eine ähnliche Abstufung, die aber keine so großen Dimensionen annimmt, sondern sich im Rahmen Örtlicher Gepflogenheit hält.

Dies erklärt sich daraus, daß es sich in Leipzig in erster Linie um eine Wohltätigkeitssache handelt, die mit einem ungemein billligen Ver- waltungsapparat arbeitet und im Jahre 1902 für Verzinsung und Tilgung der investierten Gelder nur 2,75 Proz. ergab; infolgedessen absorbiert auch dort die Miete nur des Einkommens, gegen Va in Frankfurt Unter heutigen Verhältnissen kann aber an eine wenigstens teilweise Lösung des Problems auf breiter Grundlage nur gedacht werden, wenn es gelingt, unter Wahrung des fiskalischen Standpunktes durch Heraus- wirtschaftung einer bescheidenen Rente (3 bis 3 */• Proz.) eine sinn- gemäße Abstufung der Mietpreise nach Stockwerken herbeizuführen.

Denn mit einer geringeren Verzinsung kann sich die A.B.G., die fast ausschließlich mit verzinslichem Gelde arbeitet, nicht begnügen, sowie es

•) Achter Bericht, März 1903.

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Henriette Fürth, Wohnbedarf und Kinclorzahl.

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keine andere auf gleicher Basis errichtete und in gleicher Weise ver- waltete Veranstaltung könnte. Es müßte daher, wenn die Sache in der nötigen weit ausgreifenden Weise betrieben werden soll, sehr billiges Geld beschafft oder umfassende Bauten in städtischer Regie aufgeführt werden.

Nun ist gegen das Bauen in städtischer Regie der Einwand zu erheben, daß es sich gemeinhin teurer stellt als die private Bautätigkeit. Ferner fällt ins Gewicht, daß es leicht dahin kommen könnte, daß dem Wohnen in solchen städtischen Häusern, soweit es sich nicht um An- gestellte der Stadt handelt, das Odium der Armenunterstützung in an- derer Form anhaftete. Darum erscheint es zweckdienlicher, wenn die Städte mit allen Kräften den Ausbau und die Anwendung des Erbbau- rechtes betreiben und der gemeinnützigen Bautätigkeit große Beträge zu außerordentlich billigem Zinsfuß (vielleicht 21/., Proz.) mit der aus- drücklichen Bedingung der Wohnungsfürsorge für kinderreiche Familien zur Verfügung stellen. Eine starke Verpflichtung für die Städte liegt hier zweifellos vor. Davor müßte der fiskalische Standpunkt zurück- treten, wennschon auch dieser zu seinem Recht käme in Ansehung der Tatsache, daß nicht nur das Armenbudget eine wesentliche Erleichterung erfahren, sondern auch der körperliche und moralische Habitus größerer Bevölkerungsteile eine begrüßenswerte und dem Gedeihen des Gemein- wesens nützliche Förderung erfahren würde.

Nicht in gleichem Grade besteht eine Verpflichtung zur Hergabe extra billigen Geldes für die Alters- und Invaliditätsversicherungsanstalten, die heute in beträchtlichem Umfang am gemeinnützigen Wohnungsbau beteiligt sind, wiewohl auch ihre Inanspruchnahme durch Renten- empfänger nicht unbedeutend verringert, das heißt also ihre Leistungs- fähigkeit erhöht würde, wenn der städtische Arbeiter gesund und billig wohnen und infolgedessen den Pflichten gegen seine Familie wie gegen sich selbst besser nachkommen könnte.

Das Volk ist ein vielverzweigter und in allen seinen Teilen und Beziehungen von einander abhängiger Organismus, und die Wohnungs- fürsorge ist eine der stärksten Wurzeln seiner Kraft.

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LITERATUR.

Die Entwickelung der italienischen Nationalökonomie

in jüngster Zeit

Von

ACHILLE LORIA.

Ich komme um so lieber dem Wunsche der Herausgeber dieser Zeit- schrift nach, eine Darstellung der Entwickelung der italienischen National- ökonomie zu geben, als die Wissenschaft, welcher ich mich gewidmet habe, in letzter Zeit hervorragende und tüchtige Vertreter gefunden hat und durch eine ansehnliche Reihe ausgezeichneter Publikationen be- reichert worden ist. Ein beredter Beweis für den bedeutenden Platz, den Italien in der ökonomischen Literatur der Welt einnimmt, ist die Tatsache, daß einer der größten österreichischen Nationalökonomen, Karl Menger. von seinen Schülern das Studium der italienischen Sprache verlangt, als ob diese jetzt grundlegend für ein tieferes Eindringen in die ökonomischen Disziplinen wäre. Ein deutlicherer Beweis aber sind die immer häufiger werdenden Übersetzungen italienischer Werke, und den Einfluß, welchen die italienischen Nationalökonomen auf das zeitgenössische Denken aus- üben, kann kein Unj>arteiischer leugnen. Das flüchtige Bild, das wir zu entwerfen suchen, wird, schmeichle ich mir, diese Behauptung be- kräftigen und wird ein weiterer Beweis für die Reife und die fort- schreitende Entwicklung der soziologischen Studien auf unserem frucht- baren italienischen Boden sein.

Der Reifegrad, den die ökonomische Wissenschaft bei uns bereits erreicht hat , wird vor allem durch die Tatsache bewiesen, daß auch in unserer Literatur endlich das Lehrbuch erschienen ist.

Unglaubliche Tatsache! Bis zur jüngsten Zeit hatte Italien wohl national-ökonomische Handbücher, wie das sehr gelungene, aber heut veraltete Buch von Boccardo, sowie die ausgezeichneten Werke von Gossa und Nazzani und das kürzere und zusammenfassendere von Pantaleoni,

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Ach ille Lorta, Die Entwicklung d. Hai. Nationalökonomie in jüngster Zeit 679

aber wir besaßen kein Lehrbuch der Volkswirtschaft, denn man kann zu unserer Literatur nicht die französierten Schriften aus der Zeit von Pellegrino Rossi oder von Reymond und neuerdings von Pareto rechnen. Erst in diesem Jahre ist unsere Literatur durch ein schönes und aus- führliches Lehrbuch von Supino bereichert worden, das seinen außer- ordentlichen buchhändlerischen Erfolg wohl verdient hat, ferner erschien ein starkes und vollständiges Handbuch aus der Feder des Prof. Graziani, ein ausgezeichnetes Werk, in dem'seltene und glänzende Gaben von Geist und Gelehrsamkeit zutage treten. Die Methode und die Absichten dieses Werkes unterscheiden sich wesentlich von denen der deutschen Lehrbücher. Während diese ein subjektives und persönliches Gepräge tragen, oder sich vornehmen, die Nationalökonomie so darzustellen, wie sie der Autor auffaßt, wie sie durch sein geistiges Prisma erscheint, verschwinden dagegen in dem Werk von Graziani die Person des Ver- fassers und seine subjektiven Überzeugungen und machen der Darstellung und rationellen Anordnung der jüngsten Lehrmeinungen Platz; und das ganze Streben des Schriftstellers ist darauf gerichtet, ein möglichst gutes und vollständiges Bild des gegenwärtigen Standes der Wissenschaft zu geben und soweit als möglich die verschiedensten Doctrinen und Systeme einander zu nähern und zu versöhnen.

Wir wollen nicht leugnen , daß in einer solchen Arbeit des systema- tischen Eklektizismus der Autor sich oft im Kampfe mit fast unüber- windlichen Schwierigkeiten befindet und daß nicht selten die Gegensätze, die er zu verschmelzen sich bemüht, sich seiner versöhnenden Arbeit widersetzen. Nichtsdestoweniger scheint es dem Buch von Graziani zu gelingen, ein höchst wertvolles Hilfsmittel für die Studierenden zu werden ; diese können daraus eine vollständige und tiefe Kenntnis der heut herrschenden Doktrinen gewinnen, auch wird, dank der großen Belesen- heit des Verfassers und vermittels der häufigen und genauen Citaten, für jede Frage eine sehr reichhaltige und gewählte Bibliographie geliefert.

Gerade wegen dieses Charakters spiegelt das Buch von Graziani bewundernswert die Art und das Wesen der italienischen National- ökonomie wieder, welche in ihren verschiedenen Richtungen eine be- sondere Vorliebe für Eklektizismen und eine ausgesprochene Abneigung gegen mehr einseitige und strengere Ansichten zeigt. Und in der Tat, wenn wir den Blick auf die bemerkenswerteren Produktionen richten, welche sich in schnellem Tempo von einem Ende der Halbinsel zum anderen verbreiten, so werden wir uns vergeblich bemühen, sie einer Schule oder einer speziellen Geistesrichtung zuzuteilen. In ihrer großen Mehrheit werden sie zu gleicher Zeit von den verschiedensten Schulen inspiriert, aus allem suchen unsere Schriftsteller das beste zu ziehen und suchen offenbar feindliche Ansichten zu versöhnen. Es gibt allerdings in Italien Schriftsteller, die Anhänger eines sehr intransigenten Optimis- mus und Liberalismus sind; unter diesen, ist zu erwähnen, Domenico

Archiv für Sozialwissenschaft u. Sozialpolitik, I. (A. f. soz. G. u. St. XIX.) 3. 44

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68o

Literatur.

Berardi, der speziell durch seine Schrift über „Grenznutzen und Repro- duktionskosten", Bologna iqoi bekannt ist, ferner Bertolini, Martello, Pinna- Ferrä, Pareto u. a. Aber in Wirklichkeit nehmen diese Schriftsteller die praktischen Forderungen des Liberalismus auf, in der Theorie jedoch schenken sie der klassischen Schule erneute Achtung. Es gibt anderer- seits Schriftsteller, die sich zum Sozialismus bekennen, aber man kann nicht sagen, daß sie in der Theorie ausgesprochene Abweichungen von den gewöhnlichen ökonomischen Doktrinen zeigen. Es gibt und noch mehr gab es Nationalökonomen, die ihre Vorliebe für die öster- reichische Schule nicht verbergen, aber auch diese, die sich von den anderen durch ihre Richtung entfernen, haben sich dieser Schule nicht absolut ergeben, sie haben ihre Dogmen immer weise mit den Ent- deckungen der historischen und der englischen Schule wie mit den siche- reren Resultaten der Statistik verbunden. Wir haben ferner Schriftsteller, welche die Forschungen von historischem Charakter bevorzugen (wie der verewigte Cognetti de Martiis und Toniolo), aber auch diese wollen nicht die Theorie von der Geschichte trennen, sondern sie suchen durch das Mittel der Geschichte, die Doktrinen der britischen Schule zu er- neuern. Es gibt auch unter uns Denker, welche der Schule des Kathcder- sozialismus angehören, aber sie akzeptieren diese Theorien nur unter dem Vorbehalte mancher Einschränkungen und Abschwächungen und schließen sich nicht den extremen Forderungen A. Wagners an; anderer- seits verschmähen auch die entschiedenen Anhänger dieser Richtung nicht die Schlußfolgerungen der deduktiven Schule, sondern nehmen sie in die eigenen Behauptungen auf. So ist es im ganzen schwer, einen ita- lienischen Nationalökonomen zu finden, der einen sozusagen monolithischen Charakter trägt, dessen Doktrinen unter eine Etikette oder unter eine Fahne gebracht werden können. Daher kann man sagen, daß die ita- lienische Nationalökonomie jene harmonische Verschiedenheit von Nuancen, Farben und Horizonten, die so charakteristisch uud bezaubernd Air unser unvergleichliches Land ist, wiedergibt.

Auch der Versuch, den schon Pecchio machte, und der heute von Zeit zu Zeit erneuert wird, einige Unterschiede im Charakter und in der Doktrin der italienischen Nationalökonomen nach dem Landesteil, dem sie angehören, zu machen, scheint mir keinen Erfolg zu haben, weil ein uniformer Zug von einem Ende der Halbinsel zum anderen herrscht. Gewiß ist der Glaube an die englischen Doktrinen stärker in den indu- striellen, mehr entwickelten Gegenden Überitaliens, wo die wirtschaftlichen und sozialen Formen nicht wesentlich von den angelsächsischen Ländern abweichen; dagegen finden in den südlichen Landesteilen die deutschen und österreichischen Theorien leichte Annahme. Nach der Bemerkung eines neueren Autors J) ist die österreichische Werttheorie richtig, wenn

') Cornclissen, La Thegric de la Vakur, Paris 1903. 304—5.

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Achillc Loria, Die Entwicklung d. ital. Nationalökonomie in jüngster Zeit. 68 1

man auf die Vergangenheit blickt, sie zeichnet genau die realen Zustände im Schöße einer vorkapitalistischen Ökonomie, wo die Konkurrenz noch immer embryonal ist; und gerade deshalb mußte eine solche Lehre in Österreich entstehen, das noch immer großenteils in einem wirtschaftlichen Mittelalter lebt. Um so mehr mußte diese Theorie Gönner in Süditalien finden, das noch viel zurückgebliebener und barbarischer ist. Während ferner die Schriftsteller des industriellen Nordens entschiedene Anhänger des Freihandels sind, neigen die Schriftsteller des ackerbauenden Südens weit mehr zu schutzzöllnerischen Ansichten und vor allem zum agra- rischen Protektionismus. Während die Schriftsteller des Nordens An- hänger des Zentralbanksystems sind, verteidigen diejenigen des Südens, welche die Banken von Neapel und Sizilien als das Palladium des süd- italienischen Kredites ansehen, das System des dezentralisierten Bank- wesens. Man bemerkt ferner bei den südlichen Schriftstellern häufig eine theoretische Naivität oder das Fortbestehen von sonst allgemein aufge- gebenen Doktrinen, z. B. die übertriebene Bedeutung, die man den Edel- metallen zuschreibt, die, unter Wiederholung merkantilist isdier Vorurteile, zu oft mit dem Reichtum verwechselt werden. Ferner bemerkt man bei den süditalienischen Nationalökonomen die geringe Wertschätzung grund- legender ökonomischer Verhältnisse im Vergleich zu der außerordentlichen Beachtung oberflächlicher Wirtschaftsformen, schließlich den Mangel eines wahren Sinnes für Wirklichkeit, der allein durch anhaltende Berührung mit entwickelteren und stärkeren Äußerungen des sozialen Lebens ge- wonnen werden kann. Auf dem Gebiet der Soziologie überwiegen bei den süditalienischen Schriftstellern die abstraken Arbeiten, die auf Grund eines kompilatorischen und überstürzten Studiums der Werke von Natur- forschern, Reisenden und der schönen Literatur geschrieben wurden und die ohne Methode oder technische Vorbereitung von Grund aus alle Gebiete des Wissens berühren, während die soziologischen Publikationen des Nordens unzweifelhaft viel beachtenswerter und bedeutender sind.

Aber alles dies wird sich aus der weiter unten gegebenen Auf- zählung der hauptsächlichsten italienischen Publikationen der letzten Jahre über Nationalökonomie, Finanzwissenschaft, Statistik und Soziologie klar ergeben.

In Italien mehr als anderwärts wird die ökonomische Wissenschaft durch die vielfachen Funktionen geschädigt, die ihre Vertreter ausüben; diese betreiben abgesehen von ihrer Lehrtätigkeit die Advokatur, oder nehmen an einer unendlichen Reihe von Kollegien teil, oder sind in der Politik und Verwaltung tätig. Mehr als je gilt von uns, was schon Schiller von der Wissenschaft sagt:

„Einem ist sie die hohe, die himmlische Göttin, dem anderen Eine tüchtige Kuh, die ihn mit Butter versorgt."

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Literatur.

Aber nichtsdestoweniger spricht sich der starke italienische Geist in bemerkenswerten Produktionen aus.

Auf dem Gebiet der theoretischen Nationalökonomie ist vor allem die sehr schöne Arbeit von Einaudi, „die Bergwerksrente" (Turin 1900) hervorzuheben. Sie enthält eine sehr eingehende Untersuchung der Bergwerksrente, nicht allein auf Grund der deduktiven Methode, son- dern auf Grund eines fleißigen Studiums der technischen Berichte und mit einer sehr reichen Fülle von Daten und Theorien. Ich stehe nicht an, dieses Buch als das bedeutendste monographische Werk zu bezeichnen, das in letzter Zeit auf dem Gebiet der Volkswirtschaft in Italien erschienen ist.

Eine wertvolle Arbeit ist auch die von Jannaccone über die „Pro- duktionskosten" (Turin 1901). Er stellt sich die Aufgabe, nicht nur auf deduktivem Wege, sondern durch fleißiges Studium der Tatsachen und der Statistik die Produktionskosten zu analysieren , sie in ihre konsti- tuierenden Elemente zu zerlegen, die modifizierenden Umstände aufzuklären und erledigt die Aufgabe in wahrhaft lobenswerter Weise. Man kann jedoch dem Buch den Tadel einer gewissen Zersplitterung und Weit- schweifigkeit nicht ersparen.

Von dem allzu früh der Wissenschaft entrissenen Nationalökonomen Carlo A. Conigliani wurden aus dem Nachlaß zahlreiche und bemerkens- werte Essays veröffentlicht, durch die die Wissenschaft bereichert wird. Es ist ein stattlicher Band entstanden, in dem die verschiedensten Fragen behandelt werden, z. B. die Ökonomie hoher Löhne, der Zonentarif, die Ausgleichung der Profitraten, die kapitalistische Ökonomie im theo- retischen System von Loria, die subjektiven Grundlagen des Tausches usw.

Auch Valenti veröffentlicht ein wichtiges Werk: „Der Grundbesitz und die Wirtschaftsordnung, Kritischer Versuch über das System von A. Loria" (Bologna 1901), über dessen Wert ich selbstverständlich nicht richten kann. Es enthält jedenfalls sehr scharfe Kritiken und wertvolle Beobachtungen.

Pantaleoni liefert eine wertvolle Arbeit über den „Ursprung des Tausches". Er schrieb ferner über „Die theoretischen Grundlagen der Kooperation" weiter über Syndikate und Kartelle, anschließend an das Buch von Merkel, dann noch über die Preisbildung in Fällen, in denen kein Marktpreis vorhanden ist, auch veröffentlichte er eine Sammlung von Essays „Verschiedene ökonomische Schriften."

Wir besitzen noch sehr viele andere Arbeiten auf dem Gebiet der allgemeinen Wirtschaftslehre, die in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert und interessant sind. So die Arbeiten von Ricca-Salerno über die Wert- theorie und über den Arbeitslohn, von Graziani über die „Maschinen", den „Lohn", die „Wertmessung", von Supino über das „Lohnkapital", von Mase-Dari über die „Rententheorie von Marx", von Artur Labriola „Verteilung des Ertrages und Grenzproduktivität" (Neapel 1900), von

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Achille Loria, Die Entwicklung d. ital. Nationalökonomie in jüngster Zeit. 683

Lorini über den „Kapitalprofit" (Rom 1901), diejenige des berühmten Mathematikers Volterra über die „Anwendung der Mathematik auf die biologischen und sozialen Wissenschaften" (Rom 1902), des Doktor Tivaroni „Die Korrektive der heutigen Reichtumsverteilung" (Turin 1903), von Graziadei über die „Preise bei freier Konkurrenz und Kartell- bildung" (1903).

Wie immer so haben auch in letzter Zeit die italienischen National- ökonomen mit besonderer Vorliebe sich mit den Fragen über das Geld und den Handel beschäftigt, in deren heutigen praktischen Gestaltungen bei uns die größten Lücken und die bedauernswertesten Fehler bestehen. Über diesen Gegenstand sind die Arbeiten von Lorini bemerkenswert; er hatte von der Regierung die wichtige Mission erhalten, die Währungs- verhältnisse und Reformen des Auslandes zu studieren, und er hat die Resultate seiner eigenen Untersuchungen in einigen bedeutenden Schriften niedergelegt: „Über die Münzreform in Österreich-Ungarn, in Rußland und Persien". Er veröffentlichte jüngst ein Buch über Argentinien (Rom 1902), das eine geistreiche Theorie über das Geld enthält. De Viti schrieb eine interessante Abhandlung über die Funktionen der Banken (1898), wo er auf Grund einer Untersuchung der mittelalterlichen Banken zu zeigen sucht, daß diese besser als die heutigen Banken, den wesentlichen Aufgaben einer Bank gerecht wurden, die ihrer Natur nach nicht ein Kreditinstitut, sondern eine Anstalt für Zahlungen und Kom- pensationen ist. In dieser Arbeit ist die Tendenz bemerkenswert, die so oft in den weniger entwickelten Ländern beobachtet wird, in der Theorie unvollkommene Formen, die anderwärts der wirtschaftliche Fort- schritt beseitigt hat, zu idealisieren und zu versteinern. Supino lieferte eine ausgezeichnete Arbeit über Börse und unproduktives Kapital (1898); dann ist die Arbeit von Ambron zu nennen, „Der Zweck und die Auf- gaben der Emissionsbanken" (Florenz 1903) und einige hübsche Arbeiten von G. Luzzatti.

Über das Thema des Transportwesens sei die wahrhaft klassische Arbeit von Supino „Schiffahrt vom ökonomischen Gesichtspunkt" er- wähnt, in der alle Fragen über die Frachten und die wirtschaftliche Wirkung der Schiffahrt mit seltener Meisterschaft studiert und aufgeklärt werden. Höchst beachtenswert ist auch die Arbeit des Verfassers die Binnenschiffahrt betreffend, über welche jetzt der umfangreiche Parla- mentsbericht über die Flußschiffahrt in Italien, den man Romanin ver- dankt, helles Licht verbreitet.

In betreff der Handelsfragen sei an die Arbeit von Cabiati und Einaudi erinnert, „Italien und die Handelsverträge" (1903 1, im frei- händlerischen Sinn. Ferner Fontana Russo, „Die Handelsverträge und die Volkswirtschaft" (Rom 1902», eine Schrift, in der man am besten die Geschichte und die verschiedenen Richtungen unserer Handels- politik studieren kann. Sabbatini, Sekretär der Mailänder Handelskammer,

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Literatur.

veröffentlichte eine wichtige Abhandlung „Ober unsere Exporte", in welcher die Richtungen des italienischen Exports und die Mittel, ihn zu fördern, untersucht werden. Neuerdings hat derselbe Autor einen starken Band über die „Italienische Ausfuhr nach Zentral-Europa" herausgegeben (1904), der eine Analyse und sehr genaue Schätzung unserer europäischen Exporte enthält. Zum Schluß sei erwähnt die Arbeit von Coletti über den „Statistischen Wert der Ziffern des Welthandels", in der der Wert der statistischen Daten über Ein- und Ausfuhr mit bewunderungswürdiger Tiefe erörtert wird. Die Studien über diese Gegenstände bewegen sich nicht ausschließlich auf theoretischem Gebiet. Es fehlen auch nicht fruchtbare Versuche, eine Freihandelsliga zu gründen mit der Aufgabe des Kampfes gegen den Protektionismus, der Italien seit 1887 schädigt. Die Liga hat in allen Provinzen eine kräftige Propaganda gegen das un- qualifizierbare System der Hungerzölle organisiert.

Auch die Schriften, die andere praktische Fragen der Volks- und Weltwirtschaft erörtern, sind zahlreich und bedeutungsvoll. Wir erwähnen auf dem Gebiet des ländlichen Grundeigentums das schöne Buch von Lo Re, , .Historische Schilderung des italienischen Ackerbaus" (1002). Von demselben Verfasser erschien „Die traurige Capitanata" (1896). Ferner der tiefe Versuch von Di Muro, „Wirtschaftlichkeit und Ab- schätzung von Bodenmeliorationen" (Palermo 1902) und eine andere Ar- beit desselben Verfassers über die „Rationalität eines neuen Systems der Verteilung des Nützlichen" (Palermo 1902). In gewisser Beziehung ge- hören auch die Schriften von A. G. Sella hierher, „Studien über die Wirkungen der Getreidespekulation" (Turin 1904) und von Gatti „Über Ackerbau und Sozialismus" (Palermo 1900). Über industrielle Fragen verzeichnen wir die Arbeit von Racca, „Das Eisensyndikat in Italien" (Turin 1900), sie denunziert die Bildung eines Eisentrust bei uns. Cossa schrieb über die „Industriellen Syndikate", Tombesi über die „Italienische Baumwollindustrie am Ende des 19. Jahrhunderts" u. a. m.

Zahlreich und bemerkenswert sind die Schriften, die sich mit der Arbeiterfrage befassen. Wir erwähnen E. Cossa, „Konflikte und Bünd- nisse zwischen Kapital und Arbeit", Deila Volta „Probleme der Arbeiter- organisation (Florenz 1903), Bertolini über die „Landwirtschaftlichen Arbeitseinstellungen", Contento über die „Arbeitergesetzgebung*4 (Turin 1901), Profumo über „Arbeiterversicherung", Virgilj über das „Genossen- schaftswesen im Prinzip und in der Gesetzgebung", Boggiano über die „Gewerbliche Organisation", Valenti über die „Kooperation", im all- gemeinem, und Lorenzoni über „Das Genossenschaftswesen in Deutsch- land" (ein vorzügliches Buch).

Giretti denunziert den Löwenpakt, der dem italienischen Staat von den Stahlwerken zu Terni abgenötigt wurde. Er greift auch die enormen Mißbräuche, die sich in der italienischen Zuckerindustrie geltend raachen, an. Bekanntlich erhält diese Industrie heute von der Regierung eine

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exorbitante Prämie, die der Differenz zwischen dem Zuckerzoll (Lire 99 per Quintale) und der Fabrikationssteuer (Lire 70,15) gleichkommt. Und während die übrigen Staaten, die an der internationalen Konferenz in Brüssel teilnahmen, die Zuckerprämien auf ein Maximum von Lire 6 j>er Zentner festsetzten, setzte Italien, das auf dieser Konferenz durch einen großen Zuckerfabrikanten vertreten war, Befreiung von dieser Vorschrift durch, bis Zucker iu bedeutendem Maß exportiert wird. Noch mehr, die Brüsseler Konferenz hat die Einigung der Zuckerindustrie in Italien bewirkt und ihr Monopol verstärkt, da die fremde Konkurrenz beseitigt ist. In der Tat, als die anderen Staaten dem Zucker hohe Prämien gewährten, konnte der fremde Fabrikant den italienischen Pro- duzenten Konkurrenz machen, indem er den Zucker billig zu uns expor- tierte; aber die Brüsseler Konferenz hat durch Reduktion der Prämien die Möglichkeit dieses Exports beseitigt und so ist das Monopol der italienischen Zuckerfabrikanten definitiv befestigt worden, welches schließ- lich zur Bildung eines nationalen Zuckertrusts geführt hat. Auch diese Untersuchungen sind nicht allein einfache literarische Äußerungen, sondern sie setzen sich in fruchtbare Agitation um, und schon beginnt man bei uns, dank de Viti, Giretti u. a. Anhängern des Freihandels, zu denen sich einige Vorkämpfer des Sozialismus gesellen, die schädlichsten Äußerungen unserer Handelspolitik aufzuklären und zu tadeln.

Es ist fast nicht zu verwundern, daß in einem Lande wie dem unseren, wo die Auswanderung so stark ist, sich die Schriften häufen, die über Auswanderung und Kolonisation handeln. Bemerkenswert ist das Buch von Cosatini über die „Wanderarbeiter" (Rom 1903). Das Buch von Einaudi „Ein Handclsfürst, Studien über die koloniale Aus- dehnung Italiens" (Turin 1900), schildert die italienische Kolonisation Argentiniens in der Person eines ihrer hervorragendsten Represäntanten und bei dieser auf den ersten Blick biographischen Studie findet der Verfasser Gelegenheit, die ökonomischen Verhältnisse dieser privilegierten Nation und ihre interessantesten Schicksale zu schildern. Noch origineller und theoretisch wichtig ist die Arbeit von Fanno „Kurze Skizzen über die britische Kolonisation". Er studiert diese Frage unter einem ganz neuen und unerwarteten Gesichtspunkt. Während in der Tat der größere Teil der Schriftsteller die englische Kolonisation im Zusammenhang mit den kolonisierten Ländern schildert, so studiert sie dagegen Fanno in den kolonisierenden Ländern*, er beschäftigt sich mit der ökonomischen und sozialen Lage des englischen Mutterlandes und zeigt, in welcher Weise diese Verhaltnisse die überseeische Expansion hervorriefen.

Bei dem Thema der angewandten Ökonomie verdienen Erwähnung einige Schriften über die volkswirtschaftlichen Verhältnisse in den ver- schiedenen Landesteilen. Wir bemerken die Arbeit von Nitti, „Nord und Süd"; er sucht hierin zu zeigen, daß die so ungünstigen Ver- hältnisse des Südens der systematischen Bevorzugung der norditalie-

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nischen Provinzen durch den Staat zuzuschreiben sind, wo bei ge- ringerem Steuerdruck die öffentlichen Aufwendungen größer sind. Die Behauptung ist in gewissem Sinn gerechtfertigt, soweit die Steuer- bürde in Betracht kommt, jedoch nicht wahr hinsichtlich der Staats- ausgaben, weil die Landesteile, wo diese gemacht werden, durch die Staatsbedürfnisse selbst streng bestimmt sind und die Ausgaben nicht künstlich auf andere Provinzen übertragen werden können. So ist es z. B. wahr, daß die Kosten zum Unterhalt der Befestigungen fast aus- schließlich an der Nordgrenze Italiens gemacht werden, aber es ist auch wahr, daß sie gerade in diesem Teil Italiens gemacht werden müssen und daß es keinen Sinn hätte, in den südlichen Gegenden diese Auf- wendungen zu machen. Auf dem Gebiet der Munizipalökonomie ist ohne Zweifel die bedeutendste Arbeit die Schrift von Montemartini, „Die Munizipalisierung der öffentlichen Dienste" (1900), aber es gehören hierher auch die zahlreichen Schriften von Bachi, die sich bemühen, die verwickelten Erscheinungen und sehr verschiedenen Gestaltungen der Gemeindeunternehmung aufzuklären.

Auch auf dem Gebiet der Finanzen betätigen die italienischen Nationalökonomen mit Glück ihren starken Geist. Wir erwähnen vor allem das wahrhaft vortreffliche Buch von Einaudi: „Studien über die wirtschaftlichen Wirkungen der Steuern" (Turin 1902). Sehr inter- essant ist auch die Arbeit von Marsili-Libelli „Für die Progressiv- steuer" (Florenz 1903). Er sucht hier nach einer Formel für die Progression, die die totale Konfiskation der größeren Einkommen ver- meidet und gelangt, allerdings auf Grund von Hypothesen und Kon- jekturen, zu sehr bedeutungsvollen Schlüssen. De Flamini veröffent- lichte auf Grund sehr genauer gründlicher Studien in England ein sehr wichtiges Werk „Form und Inhalt des englischen Staatshaushalts" (Turin 1904), welches von nun an ein klassischer Führer durch das Rechnungswesens des britischen Staates sein wird; den Wert des Werkes erhöht noch die geistreiche und wichtige Vorrede des Schatzministers Luzzatti. Alessio veröffentlicht eine ausgezeichnete Abhandlung über die Lokalsteuern und eine sehr tiefe Studie über einen rationellen Reformentwurf des italienischen Steuersystems. Flora gab die zweite Ausgabe seines glänzenden Handbuchs der Finanz- wissenschaft heraus. Man kann es als ein ganz neues Buch bezeich- nen, das von Gelehrsamkeit und Geist strahlt Emilio Cossa veröffent- lichte eine Arbeit über die Steuertheorien (Mailand 1902), Nitti ein „Handbuch der Finanzwissenschaft" (Neapel 1903), Carano Donvito eine Arbeit über „Die Fundamentaltheorien der finanziellen Statik und Dynamik", dann Tivaroni eine Schrift „Über die direkten Steuern, vom beweglichen Vermögen und vom Einkommen" (Turin 1904). Puviani verfaßte eine originelle Schrift „Über die Theorie der finanziellen Illusionen" (Mailand 1903), Bonomi eine Arbeit über „Lokalfinanzen und ihre

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Achillc Loria, Die Entwicklung d. ital. Nationalökonomie in jüngster Zeit. 687

Probleme", Jannaccone eine Abhandlung über „Die speziellen Steuern" (Turin 1904).

Nicht zahlreich jedoch von Bedeutung sind die Arbeiten der statistischen Wissenschaft, Der verewigte Messedaglia hatte ein umfangreiches Manu- skript über die mittleren Zahlen hinterlassen, von dem man hoffte, daß es druckfertig sei. Groß war die Spannung der italienischen Intelligenz, als dieser Band angekündigt wurde, von dem man neue und stärkere Aufklärung erhoffte, aber unglücklicherweise erklärten die Mathematiker, denen die Prüfung des Manuskripts oblag, dasselbe für ungeeignet zur Veröffent- lichung, und wir können nur unseren Schmerz aussprechen, das uns dieser Lichtblick unerwartet verschlossen wurde. Wir erwähnen unter den statistischen Schriften das Handbuch von Colajanni, eine Arbeit von Gennaro über „Statistik und Soziologie", ein populäres Buch von Virgilj, ein anderes Handbuch der Demographie von Benini. Aber stärker als auf theoretischem Gebiet hat sich die Statistik bei uns in mehr konkreten Untersuchungen entwickelt. Hierher gehören zahlreiche Erhebungen seitens des Staates und seitens privater Gesellschaften. Das Auswande- rungskomitee veröffentlicht ein ausgezeichnetes Bulletin, reich an höchst interessanten Berichten seiner Agenten und Beauftragten. Ein wichtiges Bulletin veröffentlicht ebenfalls das Arbeitsamt, das 1902 errichtet, schon mit großem Erfolg arbeitet. Der Direktor desselben ist ein tüchtiger Nationalökonom, Professor Montemartini. Die Societä umanitaria von Mailand, begründet von einem reichen Bürger dieser Stadt um eine Anstalt für die Arbeitslosen zu schaffen, unternimmt eine Reihe von Untersuchungen über verschiedene Teile des landwirtschaftlichen und industriellen Italiens und veröffentlicht die bemerkenswertesten Resultate in wichtigen Berichten.

Über die Geschichte der ökonomischen Institutionen handeln die wichtigen Arbeiten von Beloch (Professor in Rom), die zu ganz neuen und unvorhergesehenen Resultaten über die Entwicklung der italienischen Bevölkerung im Laufe der Jahrhunderte gelangen. Einen großen Ruf hat auch seine Geschichte Griechenlands, welche durch die überwiegende Wichtigkeit, die sie dem ökonomischen Element als Faktor der griechi- schen Geschichte beimißt, und die Hintansetzung des religiösen, ästhe- tischen und juristischen Elements, in Deutschland die klassische Ent- rüstung idealistischer Kritiker hervorrief. Es ist jedoch nur gerecht hinzuzufügen, daß in diesem bemerkenswerten Buch, das den ökono- mischen Faktor der Geschichte in so geeigneter Weise hervorhebt, die ökonomischen Irrtümer nicht fehlen. Beloch behauptet z. B„ daß Philipp von Mazedonien den Bimetallismus auf Grund des Verhältnisses von 1:12 1 2 einführte, aber daß dann der allmähliche Rückgang des Wertes des Goldes dieses bimetallistische System unmöglich machte und dann zur Silberwährung führte 354). Nun ist jedem, der sich einigermaßen mit ökonomischen Forschungen beschäftigt hat, wohl-

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bekannt, daß in einem bimetallistischen System das entwertete Metall das andere verdrängt und so alleiniges Währungsmetall zu werden strebt, weshalb in dem vorliegenden Fall nicht das Silber, wohl aber das Gold Währungsmetall hätte werden müssen.

Es sind noch zu erwähnen die genialen und anregenden Schriften von Ciccotti und besonders das wichtige Buch über den „Untergang der Sklaverei", in dem er nach den strengen Grundsätzen des öko- nomischen Materialismus die Entstehung, Entwicklung und das Ende der auf Sklaverei beruhenden Wirtschaftsordnung untersucht. Nur die Untersuchung des Verfassers im letzten Teil, wo er die Auflösung der Sklavenwirtschaft erklären will, scheint mangelhaft, denn er sieht in der Abschaffung der Sklaverei das Resultat der produktiven Überlegenheit freier Arbeit gegenüber der Sklavenarbeit ; er vergißt, daß in der Tat die Sklaverei nicht unmittelbar von der freien Arbeit verdrängt wurde, sondern von der weniger gewaltsamen und mehr produktiven und milderen Form der Hörigkeit. Bemerkenswert ist ferner die Arbeit von Pivano über „Agra- rische Kontrakte in Italien während der ersten Jahrhunderte des Mittel- alters." Andere Arbeiten junger intelligenter und sehr gelehrter Schrift- steller erklären vortrefflich die ökonomische Grundlage unserer politischen Institutionen im Mittelalter. So z. B. das Buch von Salvcmini. „Mag- naten und Volksparteien in Florenz" (Florenz 1899), Arias „Die Handels- verträge der florentinischen Republik" (Florenz 1901), auch das neuere Buch von Miglioli „Die kremonesischen Zunftkorporationen in der mittelalterlichen statutarischen Gesetzgebung" (Verona 1904) mit einer Vorrede von Professor Brandileone. Die wirtschaftlichen Studien werden auch mit großem Glück von den Rechtshistorikern betrieben , die endlich zu verstehen anfangen, daß das Lebensprinzip der Rechts- verhältnisse ganz auf den wirtschaftlichen Tatsachen beruht. Unter den Rechtshistorikern, welche am besten und verständigsten ökonomische Anschauungen annehmen, seien erwähnt Salvioli, der über Bevölkerung und Grundeigentum im italienischen Mittelalter schrieb, Calisse, der eine glänzende Abhandlung über die Arbeit im Mittelalter verfaßte, und Cavaglieri mit seiner wichtigen Studie über den „Ökonomischen Faktor in der Geschichte des internationalen Rechts".

Den ersten Platz unter den Werken über Soziologie, Rechtsphilo- sophie und verwandte Gebiete, die in letzter Zeit in Italien veröffentlicht wurden, verdienen unzweifelhaft die Vorlesungen über Rechtsphilosophie, gehalten vom verewigten leilio Vanni an der Universität Rom, jetzt vom Prof. Brini herausgegeben. Es ist ein ausgezeichnetes Werk, in welchem die Theorien des kritischen Positivisnius meisterhaft ent- wickelt und schön mit den sicheren Resultaten der evolutionistischen Philosophie verbunden sind u. zw. in einer höchst liebenswürdigen, heiteren und versöhnlichen Form. Vaccaro vereinigt seine zahlreichen Artikel über Soziologie und Kriminalistik zu einem gelehrten Werk, wäh-

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Ac Hille Loria, Die Entwicklung d. ital. Nationalökonomie in jüngster Zeit. 689

rend Squillace, Pasquale Rossi, Fragapane, Vadalä-Papale, Groppali u. a. die mannigfachen Anschauungen der neuentstehenden Disziplin aufklären. Salvadori veröffentlicht ein wahrhaft beachtenswertes Werk über die öko- nomische Wissenschaft und die Theorie der Entwicklung (Florenz 1901). Endlich ziehen auch die heißumstrittenen Probleme des Sozialismus unsere besten Geister an. In theoretischer Hinsicht sei erwähnt das schöne Buch von Rignano, „Über einen Sozialismus in Übereinstimmung mit der liberalen Wirtschaftslehre", das neuerdings ins Französische übersetzt wurde. Es enthält einen bemerkenswerten Reformplan des Erbrechts. Leone beleuchtet in einer Propagandaschrift das Verhältnis zwischen der reinen Ökonomie und dem Sozialismus. Arthur Labriola diskutiert in feuriger Weise das ewige Dilemma zwischen Reform und Revolution.

Nach dieser langen Aufzählung von Titeln und Verfassern können wir uns fragen, ob die italienische Nationalökonomie wirk- lich einen gleichmäßigen Rhythmus zeigt, ob man an ihr eine feste Richtung auf bestimmte Ziele zu wahrnehmen kann, und ob endlich ihre gegenwärtigen Äußerungen sich von denen der Vergangenheit unter- scheiden. Der Ausgangspunkt unserer Untersuchungen muß die Schöpfung des Einheitsstaates oder das Jahr 1870 sein, weil erst von dieser Epoche die wissenschaftliche Phase der italienischen National- ökonomie datiert. Vor dieser Periode bestand bekanntlich in Italien die geistige Diktatur eines großen Nationalökonomen, Francesco Ferrara, dem es weit weniger um die objektive Erforschung der Wahrheit als um den Triumph seiner Gedanken oder seiner optimistischen und libe- ralen Vorurteile zu tun war. Aber lassen wir diese prähistorische Phase der wissenschaftlichen Nationalökonomie beiseite und beschränken wir unsere Aufmerksamkeit auf die Entwicklung seit 1870. Damals warf sich zum ersten Mal eine Handvoll genialer Jünglinge, stark an Wissen und voll stolzer Ideale, auf die ökonomische Forschung mit der Absicht, aus der Deduktion und aus dem Zusammenhang der Tatsachen die Wahrheit heraus- zulocken. Wenn wir unser Augenmerk auf die Entwicklung der italienischen Nationalökonomie in Italien in den ruhmvollen dreißig Jahren ihrer Existenz richten, so bemerken wir ohne Mühe drei Hauptphasen : in der ersten, die in großen Umrissen das erste Dezennium 1870 80 umfaßt, ist die italienische Nationalökonomie von den Theorien Adolf Wagners und speziell vom Staatssozialismus inspiriert. In dieser Epoche werden die Phänomene und wirtschaftlichen Einrichtungen vor allem mit der Absicht dem Studium unterworfen, ihre Mängel aufzudecken und dem reformaturischen Staat die Fingerzeige für seine Maßnahmen an die Hand zu geben. Aber jemehr das Studium der ökonomischen Tatsachen vorwärts schritt, desto mehr bemerkt man die Oberflächlichkeit einer solchen Methode, welcher es nicht gelingt, die Gesetze der Dinge zu entdecken, sondern höchstens die auffallendsten Dissonanzen zu be-

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schreiben; andererseits verhallt der Appell an den Staat an der unver- besserlichen Gleichgültigkeit der Machthaber. Nun schreitet die öko- nomische Wissenschaft Italiens zu einer weiteren Stufe fort, auf welcher der Nationalökonom ehe er die Phänomene von oben nach unten oder vom Gesichtspunkt des Staatsmanns erforscht, um geeignete Maß- regeln zur Verbesserung der Zustände zu treffen sucht auf den Grund der Dinge zu gehen, um ihre Natur und ihr innerstes Wesen zu studieren. Daher werden mehr als die Werke von Wagner, Stein und Schätfle, die von Marx, Lange, Brentano und Schmoller studiert. Die angestrengsten Bemühungen deren Methode und Resultate mit denen der klassischen englischen Schule zu versöhnen, bilden das wesentlichste Merkmal der italienischen Nationalökonomie von 1880 1890. Aber auch diese mühevolle Versöhnung der deutschen induktiven Schule mit der englischen Deduktion führte nicht zu wichtigen Resultaten. Des- halb suchen die italienischen Geister mit unerschöpflicher Sehnsucht eine neue und fruchtbarere Bahn, auf der die wissenschaftliche Forschung sich siegreich durchsetzen könnte. Die neue Richtung er- schien in der Tat gegen 1890 mit den Theorien vom Grenznutzen, zu denen unsere Nationalökonomen im folgenden Jahrzehnt vielfache Illu- strationen und Kommentare lieferten. In der Tat kann man sagen, daß von 1890 1900 die italienischen Nationalökonomen ihre Studien fast ausschließlich dem Prinzip des Grenznutzens und seinen verschiedenen Änderungen zuwenden. Sie teilten sich aus diesem Anlaß in zwei große Gruppen, da die einen (Ricca-Salerno, Graziani, Conigliani, Tangorra) speziell den Theorien von Menger, Böhm-Bawerk und Wieser anhangen, während die anderen (Pantaleoni, Pareto, Montemartini, Benini, Cabiati) mehr von Jevons, Marshall und Walras inspiriert werden.

Die subjektiven Theorien, die in dieser Hinsicht herrschen, haben ihre Anhänger nicht nur unter den Doktrinären der orthodoxen Schule, selbst die sozialistischen Schriftsteller scharen sich unter ihre Fahne. Und in Wahrheit, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf die theoretischen Schriften der heutigen italienischen Sozialisten richten (sie sind übrigens nicht sehr zahlreich, weil die Mehrheit unserer Sozialisten und voran ihre Führer, Bissolati, Ferri und Turati sich ausschließlich mit Fragen der Taktik und der Propaganda beschäftigt), so finden wir, daß sie alle mit ihren Studien darauf hinarbeiten, ihre Kritiken des kapitalistischen Zu- Stands mit den für unerschütterlich gehaltenen Dogmen der hedonistischen Schule zu versöhnen. Dies entspricht übrigens der jetzt hundertjährigen Tradition des wissenschaftlichen Sozialismus ; denn dieser hat, wenn man genauer zusieht, in jeder Epoche nichts anderes getan, als sich in die herrschenden ökonomischen Theorien einzuwurzeln, um sie zur Förderung der proletarischen Forderungen zu benutzen. Wie St. Simon und Fourier sich auf die Theorie von Adam Smith und J. B. Say stützten, wie Proudhon und Marx später ihre eigenen negativen Folgerungen als

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Achillc Loria, Die Entwicklung d. ital. Nationalökonomie in jüngster Zeit. 69 1

Korollarien der Theorien von Ricardo hinstellten, so suchen heute die italienischen Theoretiker des Sozialismns ihre praktischen und politischen Anschauungen in Harmonie zu bringen mit den hedonistischen Doktrinen von Menger, Marshall und VVieser. Welches auch das Urteil sein mag, das man über die theoretische Versöhnung der offi- ziellen und der sozialistischen Ökonomie fallen kann, so scheint mir doch, daß die gegenwärtige Form dieser Versöhnung so abstoßend und barock wie möglich ist. Und wenn Ricardo, durch die sozialistische Kritik filtriert, ihr das unsterbliche Hauptwerk von Marx gegeben hat, so kann man zweifeln, ob Menger, filtriert durch die modernen sozia- listischen Elukubrationen, eine andere Frucht tragen wird, als ein mon- ströses und nicht lebensfähiges Phantom.

Übrigens auch auf dem Gebiet der orthodoxen ökonomischen Wissenschaft läßt die italienische Begeisterung für die hedonistische Schule in letzter Zeit nach. Die scharfsinnigsten Denker der Halbinsel bemerken in der Tat bereits, daß die utilitarische Schule die Erforschung der Wirtschaftsordnung nicht um einen Schritt weiter gebracht hat, und daß sie, wenigstens bei den Epigonen, nur ein fades Geschwätz zustande gebracht hat, das unnützerweise von einem Haufen mathematischer Demonstrationen durchsetzt ist, die zu keinem Resultat führen. Und schon hat die Zeit dieser ganzen wissenschaftlichen Richtung Gerechtig- keit angedeihen lassen, indem von den unzähligen hedonistischen Publi- kationen der letzten Jahre kaum noch eine Erinnerung bleibt.

Heute, nachdem die Schule des Grenznutzens ihren Zauber fast ganz verloren hat, ohne daß eine andere dazugekommen wäre, ihren Platz ein- zunehmen, wird die italienische Nationalökonomie von einer Art Ungemach getroffen, welches die natürliche Folge der wenig ermutigenden Er- fahrungen und der Enttäuschungen der Vergangenheit ist Die Er- fahrungen der wissenschaftlichen Nationalökonomie des ersten Dezen- niums hatten in der Tat im italienischen Geiste den Glauben an den Staatssozialismus erschüttert; der darauffolgende eklektische Versuch, die englische Deduktion mit dem deutschen Realismus zu verknüpfen, hat keinen großen Erfolg gehabt und der Versuch der Schule des Grenznutzens ist wesentlich unfruchtbar geblieben. Angesichts eines so traurigen Schiff- bruchs der drei nacheinander eingeschlagenen Richtungen ist es kein Wunder, wenn der italienische Nationalökonom heute scheu und ungewiß ist; es ist unzweifelhaft diesem mutlosen Mißtrauen zuzuschreiben, daß die theoretischen Studien in den letzten Jahren bei uns so allgemein aufgegeben wurden. Daher ist andererseits das Übergewicht der Studien über die speziellen Probleme der praktischen Verwaltung im Wachsen, daher nehmen die Monographien über die Arbeitsämter, die Steuern von beweglichen Vermögen , die Verstaatlichung dieses oder jenes Be- triebszweiges, die industriellen und landwirtschaftlichen Strikes, die Frauenarbeit usw. überhand.

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Ein solcher Stand der Dinge ist übrigens nicht allein Italien eigen- tümlich, sondern für die heutige Phase der ökonomischen Wissenschaft bei allen zivilisierten Völkern charakteristisch ; denn heute zeigt sich allenthalben von Frankreich bis Australien, von Deutschland bis Argen- tinien, dieselbe Verachtung der Theorie und der Fundamentalgcsetze der Volkswirtschaft, dieselbe Vorliebe für Spezialuntersuchungen oder für mikrologische Monographien. Bei dieser Gelegenheit kann ich nicht um- hin, an die beredten Worte zu erinnern, mit denen Swiatlowski vor wenigen Monaten seine Studien über die neueste Nationalökonomie Europas und Amerikas schloß : „Über wesentlich theoretische Fragen der Methodologie, Systematik und Analyse der Ökonomischen Grundbegriffe ist nichts Neues publiziert worden, obwohl derartige Publikationen von allen denen ge- fördert werden müßten, die unbefriedigt vom theoretischen Sozialismus, jedoch seinem Programm sympathisch, neue theoretische Fundamente für seine praktischen Forderungen verlangen. Aber für eine kritische Re- vision der Fundamentalprinzipien genügt es nicht, Nationalökonom oder Soziolog zu sein, sondern es ist ein wesentlich philosophisches Studium nötig. Nun gerade der philosophische Gedanke wendet sich heute weniger der Nationalökonomie als irgend einer anderen Disziplin zu und die ursprüngliche Ausstattung mit veralteten philosophischen Begriffen fällt immer mehr. Der Krieg gegen die Synthese und die Generalisation, der Krieg gegen die großen Theorien und Programme, der Krieg gegen die kühnen Hypothesen und die Erforschung der Wahrheit durch den Irrtum, alles das ist charakteristisch für die heutige Nationalökonomie und ihre Literatur."

„Es ist jedoch," fährt der Autor fort, „klar, daß ein derartiger Zustand, für jede Art von Spezialisten förderlich, aber absolut anormal für die Wissenschaft selbst ist, und nicht lange dauern kann. Wenn auch unsere schwachen Warnungen nicht imstande sein werden, die Dinge zu ändern, so vertrauen wir jedenfalls auf das toskanische Sprichwort: „Mit Hahn oder ohne Hahn, Gott macht Tag".1)

Wenn wir fragen, in welcher Weise die ökonomische Wissenschaft und speziell die Italiens, auf die sich unsre Ausführungen beziehen, aus dem monographischen Marasmus zu synthetischen allgemeineren An- schauungen sich erheben kann, so erscheinen zwei große Rettungswege vor uns, das Leben und die Philosophie: das Studium der Tatsachen, aber nicht mehr der vereinzelten, zellenartigen speziellen Tatsachen, sondern der großen Strömungen des Lebens, wie sie sich in den Doku- menten der Statistik und den Denkmälern der Geschichte aussprechen, das ist das erste Mittel , um die italienische Nationalökonomie zu rege- nerieren, um unserer Intelligenz die neuen Probleme zu enthüllen, welche ihr drohend entgegentreten. Aber die Tatsachen allein genügen nicht

') In der russischen Revue „Die Nationalökonomie" 1903.

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Achille Loria., Die Entwicklung d. ital. Nationalökonomie in jüngster Zeit.

um der Theorie einen Impuls zu geben, wenn sie nicht von philosophischen Kriterien erleuchtet und durchdrungen sind, von synthetischen An- schauungen, welche die Philosophie allein geben kann. Nun diesen beiden Zielen hat sich die italienische Nationalökonomie noch nicht genähert: gar nicht in ihrer ersten und dritten Phase, in denen einseitige und aus- schließliche Richtungen vorherrschten, und auch nicht in der zweiten, die immerhin weniger weit von jenen Zielen entfernt war als die anderen. Denn auch in dieser beschränkte das theoretische Studium sich auf eine Umschreibung der englischen Nationalökonomie, wobei man vergaß, daß diese ihre glänzende Laufbahn bereits durchlaufen hatte und Nachzüglern nicht erlaubte, mehr als eine armselige Ähre auf den von ihr bebauten und erschöpften Feldern zu lesen ; und das Studium der Tatsachen beschränkte sich auf zerstreute Fragmente, aber es begriff noch nicht das soziale Leben in seiner harmonischen Einheit. Nun sind es in Wirklichkeit nicht die zerstreuten Tatsachen, nach denen wir begierig sind, sondern die großen Linien der menschlichen Begebenheiten; wir streben nicht nach ihnen, um unser Notizbuch zu vergrößern, um in unser Register eine mehr oder minder interessante Anekdote aufzunehmen, sondern um daraus Philosophie zu ziehen, um das Geheimnis, das sie in ihren Busen tragen, zu enthüllen. Dies ist die Aufgabe der italienischen Nationalökonomie, der Wissenschaft unserer Zeit, das ist das Problem, das sie zu lösen hat, der Gipfel zu dem sie aufschauen muß. Hier wird sich ihre Kraft zeigen 1

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Zur Literatur über die Wohnungsfrage.

Von

Dr. HUGO LINDEMANN,

Degerloch bei Stuttgart.

Die Übersicht, die wir über die Literatur der Wohnungsfrage des Jahres 1901 im XVII. Bande dieses Archivs gegeben haben, soll im nach- stehenden wieder aufgenommen und fortgeführt werden. Das Jahr 1901 bedeutete insofern einen gewissen Abschluß und Höhepunkt in der Geschichte der Wohnungsliteratur, als die „Untersuchungen" des Vereins für Sozialpolitik das Problem der Wohnungsfrage nach den ver- schiedensten Seiten hin behandelten und die Resultate der Forschungen zusammenfaßten. Ihnen haftete aber, wie wir dies bereits in unserer früheren Besprechung kurz erwähnten, ein Mangel an, der allen solchen Kollektivarbeiten nicht erspart bleiben kann, der Mangel einer einheit- lichen Auffassung und Darstellung. Mag der Kreis der Mitarbeiter von dem Leiter der Enquete noch so sorgfältig gerade unter diesem Gesichtspunkte der Einheitlichkeit gewählt sein, unmöglich kann aus dem Zusammenarbeiten so verschiedener Elemente die geschlossene Leistung hervorgehen, die der einzelne von selbst erzeugt, wenn er nur zur Klar- heit über das von ihm behandelte Problem in seiner Totalität gelangt ist. Und die Meinungen und Äußerungen der Mitarbeiter werden um so weniger zusammenstimmen, je Tüchtigeres die einzelnen von ihnen zu leisten, je originaler sie zu denken und zu schreiben gewöhnt sind. Diesen Vorzug der einheitlichen Anffassung besitzt das einzige Buch, das seit den „Untersuchungen" des Vereins für Sozialpolitik den Versuch macht, das ganze Problem der Wohnungsfrage zu behandeln, so wenig es auch sonst an die dort gegebenen Leistungen herankommt wir meinen das von Dr. E. Jäger verfaßte Werk (1) „Die Wohnungsfrage'1 (2 Bände, Berlin 1902 und 1903) deren zweiter Teil in unsere Berichts- periode des Jahres 1903 fällt. Dr. Jäger hat später aus seinem zwei- bändigen Werke einen Extrakt für die bayrische Kammer der Abge-

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Hugo Lindctnann, Zur Literatur über die Wohnungsfrage.

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ordneten (2) Denkschrift über dieWohnungsfrage (Beilage 1021, Dezember 1903) angefertigt, der in der Hauptsache das dort Gesagte kürzer wiederholt und außerdem einige Ergänzungen beibringt. Beide Schriften werden von uns am besten gemeinsam besprochen.

Dr. E. Jäger ist ein hervorragendes Mitglied der Zentrumsfraktion ; seine Auffassung von den Problemen der Wohnungsfrage ist daher die der katholischen Sozialreformer, aus deren Reihe Männer wie Brandts, Trimborn usw., um nur einige zu nennen, auf diesem Gebiete eine be- sondere Tätigkeit entwickelt haben. Die Wirtschaftsauffassung des Zentrums ist auch die seine, und die aus ihr fließende Wirtschafts- politik wird auch von ihm vertreten. Der entschiedene Parteimann tritt uns daher auf allen Seiten des Jägerschen Buches entgegen. Die Größe und Herrlichkeit des Zentrums und seiner Bestrebungen wird uns in beredten Worten gepriesen, der Liberalismus weitschweifig und einseitig ungerecht bekämpft und natürlich vor allem die Sozialdemokratie aufs schärfste angegriffen. Das tritt besonders in dem Kapitel des L Bandes „Die Wohnungsfrage in Deutschland bei den Regierungen und Parteien" hervor. Von einem tieferen Eindringen in die kausalen Zusammen- hänge, die zwischen den wirtschaftlichen Auffassungen der politischen Parteien und den steter Änderung unterliegenden wirtschaftlichen Ver- hältnissen bestehen, ist keine Spur zu finden. Die historische Dar- stellung des erwähnten Kapitels ist daher nichts anderes als ein chronologisches Aneinanderreihen von Tatsachen, mögen das nun Bücher, Kongreßbeschlüsse, Programme von Parteien sein. Dieses Aneinander- reihen wird dadurch nicht besser, noch eine Verknüpfung der neben- einander liegenden Glieder erreicht, daß nach bewährter Tradition das Manchestertum als die Wirtschaftspolitik des Liberalismus, „die absolute Staatshüfe mit dem politischen Kommunismus der Produktionsmittel und mit Ausschluß der privaten Selbsthilfe" als die der Sozialdemokratie und die Vermittlung zwischen Liberalismus und Sozialdemokratie als die der christlichen Sozialpolitik bezeichnet wird, wie sie „ihre Vertretung in der Zentrumspartei und bei den protestantischen Konservativen findet" (I, 161). Daß es unmöglich ist, mit einem derartigen bis zur Simplizität vereinfachten Schematismus die Entwicklungsgeschichte politischer Parteien während vier Jahrzehnten voll der gigantischsten Umgestaltungen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens unserer Nation zu begreifen, brauchen wir an dieser Stelle nicht auseinanderzusetzen. Mit solchen Schlag- worten mag man im politischen Alltagskampf, vielleicht auch noch in Parlamenten operieren, deren geistige Höhe sich auf der der bayrischen Abgeordnetenkammer bewegt ; wer sie aber in wissenschaftlichen oder den Charakter der Wissenschaftlichkeit zur Schau tragenden Werken anwendet, der setzt sich dem Verdacht aus, der Tendenz die Wahrheit zu opfern oder ein Nichtwisser zu sein. Nur ein Beispiel zur Kenn- zeichnung zentrümlicher Geschichtsklitterung. Auf Seite 162 des

Archiv für Sozialwmenschaft u. Soiialpolitik. 1. (A. f. soz. G. u. St. XIX.) 3. 45

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I. Bandes heißt es: „Die christlichsoziale Auffassung trat zum ersten- mal positiv im Reichstage hervor im Jahre 1877 durch einen Antrag der Zentrumspartei (Graf Galen), als die Partei noch mitten im Feuer des sogenannten Kulturkampfes stand. Wenn auch die Wohnungsfrage zunächst hier noch nicht erwähnt wurde (der Antrag forderte öffentliche Sonntagsruhe , gesetzliche Beschränkung der schrankenlosen Gewerbe- freiheit, gewerbliche Schiedsgerichte, Arbeiterschutz usw. unter dem usw. versteckt sich schamhaft auch die Revision der Gesetze über die Freizügigkeit, die Jäger nicht erwähnt ) so lag der Schwerpunkt des Antrages in der grundsätzlichen Abdrängung des Staates vom Grund- satze der Nichteinmischung in das Wirtschaftsleben und in der Betonung seiner positiven Pflicht, gesetzgeberisch hier einzugreifen, wenn es sich um Abteilung großer sozialer Volksmißstände handle. Einstweilen freilich wurde das Auftreten des Zentrums von den herrschenden Parteien verhöhnt, aber allmählich kam die Wandlung". Dabei existierte der Verein für Sozialpolitik schon seit 1872, hatte der Reichstag bereits im Jahre 1873 beschlossen, Erhebungen über die Lage der Arbeiter vorzu- nehmen, und hatte bereits im Jahre 1867 der Sozialdemokrat v. Schweitzer einen vollständigen Gesetzentwurf von 47 Paragraphen über den Arbeiter- schutz ausgearbeitet und im Norddeutschen Reichstage eingebracht. Trotz- dem heißt es auf Seite 167 des Jägerschen Buches: „Jahrzehntelang hatte diese Partei (die sozialdemokratische) die Arbeiter durch Hinweis auf den Zukunftsstaat gegen jede Reformtätigkeit von Staat und Ge- meinde, gegen jede Selbstmitwirkung dazu und überhaupt gegen jede Selbsthilfe eingenommen." Auf Seite 155 wird ausgeführt, die sozial- demokratische Partei habe gegen alle Gesetze gestimmt, die die Lage der Arbeiter verbesserten, weil im jetzigen Klassenstaat jede wirksame Reform unmöglich sei, kleine Reformen aber den allgemeinen Krach verzögerten und das goldene Zeitalter des Zukunftsstaates hinausschöben, und dann in einer über zwei Seiten gehenden Anmerkung das Datum des großen „Kladderadatsch" behandelt. Vergeblich fragt man sich, was haben das Datum des großen „Kladderadatsch", der Antrag Galen, die Ablehnung einiger Sozialgesetze durch die sozialdemokratische Fraktion des Reichstages usf. usf. mit der Wohnungsfrage zu tun? In der Tat haben sie nur die Aufgabe, in majorem gloriam des Zentrums die Schlechtigkeit und Rückständigkeit der liberalen Parteien und der Sozial- demokratie auf sozialem Gebiete zu erweisen, damit der Leser dann um so leichter die gewünschten Schlüsse vom Allgemeinen aufs Besondere ziehe. Das ganze Jägerschc Buch ist eine Tendenzschrift zur Verherr- lichung der Sozialpolitik des Zentrums im allgemeinen und seiner Wohnungspolitik im besonderen. Und diese Tendenz tritt so klar und deutlich hervor, ist so dick aufgetragen, als handle es sich um ein zen- trümliches Wahlpamphlet zu den Reichstagswahlen oder zu den Wahlen zur bayrischen Abgeordnetenkammer. Die Mittel, mit denen der Verfasser

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Hugo Linderaann, Zur Literatur über die Wohnungsfrage.

arbeitet, erheben sich kaum über das Niveau eines Wahlpamphletes hinaus.

Das Jägersche Buch ist stark in der Tendenz -, das macht es als Agitationsschrift für Zentrumspolitiker wertvoll, nimmt aber auch den Teilen viel von ihrem Wert, in denen die Tendenz sich nicht so über- mäßig vordrängt. Sie ist übrigens die einzige Stärke des Buches. Haften an der Oberfläche, mangelhaftes Eindringen in die kausalen Zusammen- hänge, ungenügende Disposition, infolge deren Zusammengehöriges ge- trennt wird, Kritiklosigkeit, Unklarheit in den Organisationsfragen das sind einige der Hauptschwächen des Buches, über die die approbierte Parteigesinnung vielleicht den weniger anspruchvollen Zentrumsleser, aber keinen anderen hinüberhelfen mag. Eine große Masse Material rudis indigestaque moles disjecta membra das ist der Eindruck des Jägerschen Buches, mit dem sich der Wunsch verknüpft, der Verfasser hätte wenigstens noch einen Teil der Horazischen 9 Jahre auf die Aus- arbeitung verwendet. Einige Beispiele sollen unser scharfes Urteil er- härten.

Für das mangelhafte Eindringen des Verfassers in die kausalen Zu- sammenhänge sind die Kapitel, die sich mit den Ursachen der Wohnungs- not, mit den Ursachen für die Verbreitung der Mietskaserne, mit der Bedeutung der Grund- und Bodenspekulation beschäftigen, geradezu schlagende Beispiele. Auf Seite 76 des I. Bandes werden als die beiden spezifischen Ursachen der Wohnungsnot bezeichnet: das starke An- wachsen der Bevölkerung in den Städten und Industriegegenden und das Zurückbleiben der Bautätigkeit hinter dem Bedürfnis der mittleren und unteren Schichten dieser Bevölkerung. Zwei Seiten später ist die eine große Ursache der modernen Wohnungsnot die Konzentration eines wichtigen und großen Teiles der nationalen Produktionskräfte in wenigen größeren Städten usw. und liegt die zweite große Ursache darin, „daß die Menschenmassen, welche sich, Arbeit und Verdienst suchend, in diesen Mittelpunkten sammelten, dem ,.freien Spiel der Kräfte" über- lassen blieben". Das ist alles, was Dr. Jäger in seinem Buche über die Ursachen der Wohnungsnot beizubringen weiß. Man kann nicht gerade behaupten, daß seine Ausführungen sonderlich tief, klar und einheitlich sind. Denn was ist damit erklärt, wenn das Anwachsen der städtischen Bevölkerung und der Mangel an Wohnungen als die Ursachen der elenden Wohnungsverhältnisse bezeichnet werden. Damit ist doch der Ausdruck Wohnungsnot nur umschrieben.

Ebenso mangelhaft ist die kausale Erkenntnis bei der Darstellung des Siegeszuges der Mietkaserne (II, 8 ff.). „Das Vorwiegen der Miet- kaserne, heißt es dort, der Ausschluß der breiten Volksmassen vom Hausbesitz wird einzig durch die Verwaltungspraxis herbeigeführt, die teils unbewußt und ohne Ahnung der Folgen, nur das schlechte Bei- spiel der Vergangenheit nachahmend, teils aber auch bewußt, im Inter-

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esse der Grund- und Geldbesitzer wirkt." Wir begegnen also bei Jager der gleichen Überschätzung der Verwaltungspraxis, deren Unbegründet- heit wir schon in unserer früheren Übersicht P. Voigt gegenüber nach- wiesen. Übrigens reproduziert Jäger, soweit es sich um die Theorie der städtischen Grundrente, um die Schätzung der Bodenspekulation, die Entwicklung der Mietkaserne, die Bedeutung der Bauordungen und Bebauungspläne für die Bodenpreise und Mieten usw., kurz soweit es sich überhaupt um theoretische Sätze handelt, ausschließlich die An- schauungen von P. Voigt, Eberstadt u. a., ohne auch nur im geringsten zu untersuchen, ob dieselben mit den tatsächlichen Verhältnissen überein- stimmen oder inwieweit sie von anderen Forschern widerlegt worden sind. Aus Eigenem gibt er nur die zentrumspolitische Sauce, die aller- dings dem servierten Gericht ökonomischer Theorie einen höchst eigen- tümlichen Beigeschmack gibt.

Paul Voigt hatte in seinem bekannten Buche die Bedeutung der Spekulation bei der Bildung der Boden- und Mietpreise in glänzender Weise behandelt, wenn er auch meines Erachtens nicht in allen, ja nicht einmal in den entscheidenden Punkten recht hat. Er hat aber trotz aller entschiedenen Feindschaft gegen die Bodenspekulation niemals daran gedacht, in ihr zwischen berechtigter und unberechtigter Speku- lation zu unterscheiden. Das zu tun, blieb Dr. Jäger vorbehalten, der übrigens in diesem Punkte ganz in den Spuren der Zentrumstra- dition wandelt. In der unwissenschaftlichsten Weise überträgt er poli- tische Postulate seiner Partei in die ökonomische Theorie und muß infolgedessen zu Resultaten kommen, die das Ende aller Theorie be- deuten. Hier die Jägerschen Ausführungen! (FI, 32fr,, 118 119, 164). Er wirft die beiden Fragen auf: wie weit ist die Verschuldung des städtischen Bodens durch die Baukosten der Häuser und durch den natürlichen Bodenwert gedeckt und wie weit ist sie durch die Spekulation künstlich gesteigert? In dieser Fragestellung ist die Unterscheidung zwischen natürlichem und künstlichem Bodenwert, der die anderen von berechtigter und unberechtigter Bodenspekulation, von normalen und anormalen Mieten entsprechen, schon vorweg genommen, während doch ihre Nachweisung in den tatsächlichen Verhältnissen die Aufgabe war. Eberstadt hatte in seinem Buche „Der deutsche Kapitalmarkt" zwischen materieller und immaterieller Wertsteigerung unterschieden und unter der ersteren die Wertsteigerung des Bodens durch nützliche Aufwendung (Melioration des Bodens im weiteren Sinne) und unter der zweiten die Erhöhung des Bodenwerts ohne nützliche Aufwendung (Preistreiberei, Bodenspekulation) verstanden. Er wollte auf diese Weise die reine Bodenverschuldung, mit anderen Worten die Belastung der Bodennutzer, der Mieter, mit der reinen Bodenrente feststellen. Nach Jäger trifft aber die Eberstadtsche Unterscheidung nicht den Kern der Unter- suchung. Denn dieser liegt wir lassen die eigenen Worte des Ver-

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fassers folgen in der Frage „wie weit diese spekulative Preistreiberei die Bodenverschuldung über den wirtschaftlich berechtigten Hauswert, über die normale wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Mieter erhöht." Was ist nun der „wirtschaftlich berechtigte Hauswert" und was „die normale wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Mieters?" Die materiellen Aufwendungen auf dem städtischen Boden, wie Häuserbau, Straßenan- lagen, Kanalisation usw. „bilden noch nicht die einzigen wirtschaftlichen Unterschiede der Bodenwerte und ihrer Erhöhung. Schon der Unter- schied zwischen städtischer und ländlicher Bodenbenutzung schafft wirt- schaftlich berechtigte Werterhöhungen. Die Differenzierung der Ge- schäftslage differenziert die Grundrente in der Stadt noch stärker und diese Wertunterschiede sind an sich wirtschaftlich begründet und daher berechtigt." Nach Jäger sind also alle Steigerungen des Bodenwertes berechtigt, die durch die Überführung des landwirtschaftlich benutzten Bodens in die städtische Bebauung das ist die Hauptaufgabe der Bodenspekulation durch die Anlage von Straßen, von Kanalisation, durch den Bau von Häusern das sind die Mittel, mit denen der landwirtschaftlich benutzte Boden der städtischen Bebauung zugeführt wird durch die Entwicklung von Verkehrsstraßen und -vierteln auch diese Umbildung von Wohnquartieren zu Verkehrsvierteln ist ein wichtiges Tätigkeitsgebiet der Bodenspekulation bewirkt werden, denn sie sind wirtschaftlich begründet. Selbst dann, wenn große Unter- nehmer, kapitalkräftige Aktiengesellschaften oder Private das Terrain- geschäft in die Hand nehmen, die Urbesitzer auskaufen, die Straßenlinien ziehen, also die richtige Bodenspekulation einsetzt, bleibt das Geschäft nach Jäger solid, vorausgesetzt, daß sie die einzelnen Baustellen ztir sofortigen Bebauung verkaufen oder selbst bauen, auch das Baugeschäft selbst in der Hand behalten. Daß sie dabei, wie Jäger an einer anderen Stelle selbst im Anschluß an P. Voigt anführt, die Bodenpreise bis zu der Höhe treiben, bei der die gegebene bauliche Ausnützung überhaupt noch möglich ist, scheint unserem Verfasser nichts auszumachen. Un- solide wird das Geschäft und die „Jagd nach dem goldenen Kalbe" (I) beginnt erst dann, wenn sie die einzelnen Baustellen verkaufen und freigeben. Dann beginnt in den Worten Jägers in Zeiten lebhaften wirtschaftlichen Aufschwunges vielfach ein toller Schwindel und eine fieberhafte Preistreiberei. Danach wäre also die primäre, große Speku- lation solide und berechtigt, die sekundäre oder die wilde der Amateur- spekulanten unberechtigt !

Zu diesen berechtigten Wertsteigerungen fügt nun immer nach Jäger der spekulative Hausbesitzer, der ein Haus nicht besitzt, um in erster Linie darin zu wohnen, sondern um damit gewerbsmäßig zu spe- kulieren, „auf Grund der Bauordnung, Ringbildung, des Ausschlusses der Mieter von der Selbsthilfe usw. noch eine künstliche, die auf Ausbeutung der Mieter beruht und wirtschaftlich nicht berechtigt ist." Ebenso un-

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berechtigt wie diese Wertsteigerung sind auch die dadurch bewirkte Bodenverschuldung und die übernormalen Mietpreise. Normal sind nach Jäger Mietpreise, die dem Mieter von seiner standesgemäßen Einnahme nur so viel wegnehmen, daß er von dem Reste noch standesgemäß leben kann. Der spekulative Hausbesitz treibt die Mieten aber über dieses normale Maß hinaus. Aus dieser Scheidung von berechtigter und unberechtigter Bodenverschuldung muß dann das Weitere folgen, daß die nationale Arbeit den Zins für die wirtschaftlich begründete Bodenver- schuldung leicht aufbringen kann, dagegen durch die Verzinsung der wirtschaftlich unbegründeten Verschuldung, die der gewerbsmäßige, spe- kulative Hausbesitz erzeugt, schwer belastet wirdü Ja Jäger versteigt sich sogar zu dem Satze, daß die Lasten der „wirtschaftlich und sittlich als Trieb zur Arbeitsamkeit, zur Sparsamkeit und zum wirtschaftlichen Fortschritt berechtigten" Verschuldung meist der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des einzelnen entsprechen, während „die spekulative Verschuldung den Völkern immer drückendere Lasten zugunsten der Eigentümer der mobilen Werte" auferlegt.

Es hieße diesen Jägerschen Ausführungen zu viel Ehre antun, wollten wir sie überhaupt einer Kritik unterwerfen. Wir haben sie auch nur deshalb ausführlicher dargestellt, um an ihnen einmal zu zeigen, mit wie billigem Aufwände von Geäst man es heutzutage zu dem Rufe bringen kann, eine Autorität auf dem Gebiete der Wohnungsfrage zu sein, und zweitens um an einem Beispiele nachzuweisen, wie die Be- dürfnisse der praktischen Politik, hier der Zentrumspolitik, der soge- nannten wissenschaftlichen Untersuchung die Resultate vorzeichnen, zu der sie kommen muß. Die ganze Unterscheidung zwischen berechtigter und unberechtigter Bodenwertsteigerung, berechtigter und unberechtigter Spekulation ist ein Ausfluß der Mittelstandspolitik des Zentrums. Dem kleinen Grund- oder Hausbesitzer, der in vielen Fällen zugleich Ge- werbetreibender ist, soll das Recht gewahrt bleiben, mit seinem Haus- oder Grundbesitz zu spekulieren, die Wertsteigerungen zu seinem Vor- teile auszunützen. Wenn er die Mieten seiner Hausleute hinaufsetzt, so geschieht das nur aus patriarchalischem Wohlwollen; er wird sich dabei stets in den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit halten, niemals die Mieten übernormal steigern. Anders bei dem mobilen Kapital und dem speku- lativen Hausbesitzer. Ihre Spekulation ist wild, sittlich unberechtigt, da wirtschaftlich unbegründet usw. usw.

Dasselbe Zweiseelentum tritt uns auch in der Art und Weise ent- gegen, wie Jäger die politische Bedeutung des Grund- und Hausbesitzer- standes für die Wohnungsfrage behandelt. An zahlreichen Stellen seines Buches betont er, daß der durch das Gemeinderecht verbürgte Einfluß desselben auf die Gemeindeverwaltung die schädlichsten Wirkungen ge- zeitigt habe. Die Grund- und Hausbesitzer benützen ihre Macht, um die Erschließung neuer Baugründe durch die Gemeinde aufzuhalten und

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so die Nachfrage nach ihren Wohnungen zu steigern (II, 23). Die kurz- sichtige Hergabe von Gemeindeland wird durch das Dreiklassen Wahl- system und durch die Bestimmung so vieler deutscher Städteordnungen, daß die Hälfte der Stadtverordneten Haus- oder Grundbesitzer sein muß, begünstigt (II, 87.). Es ist notwendig, die Gemeinden zur Anwen- dung des Wohnungsgesetzes zu zwingen, weil in vielen Städten Haus- besitzer und Bauspekulanten einen ungebührlichen Einnuß haben und die Hausbesitzer durch das Wahlsystem bevorzugt sind, so daß immer wieder aus persönlichen Gründen versucht wird, die Stadterweiterung teils zu hemmen, teils nach bestimmten persönlichen Richtungen zu leiten (II, 142). Ein ganzes Kapitel wird der sozialpolitischen Rückständig- keit vieler öffentlicher Vertretungen, insbesondere der Gemeindever- tretungen, ein weiteres der Darstellung des Gemeindewahlrechtes in den größeren deutschen Staaten gewidmet (II, 231 245). Man sollte nun annehmen, daß Jäger mit allem Nachdrucke eine Reform des städtischen Gemeindewahlrechts, die Aufhebung der Privilegien des Grund- und Hausbesitzertums verlangen müßte, daß auch für ihn die unumgängliche Vorbedingung für jede erfolgreiche Wohnungspolitik die Heranziehung der jetzt mehr oder weniger ausgeschlossenen Arbeiterschaft zu der Ge- meindeverwaltung sein müßte. Die Rücksicht auf die Zusammensetzung der Wählerschaft des Zentmms gestattet es aber nicht, eine solche For- derung klipp und klar aufzustellen. Wohl zitiert Jäger eine Äußerung F. Brandts, daß in nicht zu ferner Zeit Änderungen des Gemeinde- wahlrechtes zugunsten der Arbeiterschaft nötig seien, vor einer eigenen direkten Meinungsäußerung in zustimmendem Sinne aber hütet er sich ängstlich. Um so ausführlicher trägt er dafür die Theorie vor, daß das größte Hindernis für die Ausdehnung des Wahlrechts zu den Volks- und Gemeindevertretungen zurzeit die Sozialdemokratie sei, gegen die er ganz in der Weise und im Ton der gehässigsten Zentrumsagitation po- lemisiert. Auch Jäger gehört zu der Klasse von Politikern, die bereit sind das Wahlrecht des Volkes zu erweitern, falls dasselbe den Ge- brauch davon macht, den sie für richtig halten. Wenn aber die Arbeiter- schaft sozialdemokratisch wählt, ist sie ihrer Ansicht nach für ein er- weitertes Wahlrecht nicht reif.

Da also Jäger den Einfluß des Hausbesitzertums in den Gemeinde- vertretungen nicht durch die Aufhebung ihrer Wahlprivilegien brechen will, so ist er bereit der Staatsbureaukratie die Machtmittel zu geben, um den Gemeindeverwaltungen eine fortschrittliche Wohnungspolitik auf- zuzwingen. Wenn sich die Stadtverwaltungen unter dem Einfluß der Grund- und Hausbesitzer nicht entschließen, eine sozialpolitisch durch- gebildete Bauordnung zu erlassen, so sollen sie von den Regierungen dazu gezwungen werden, schreibt er II, S. 71. Deshalb schlägt er vor, in jeder größeren Stadt einen königlichen Kommissär zur Leitung und Überwachung des gesamten Besiedlungs- und Wohnwesens einzusetzen.

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Mit anderen Worten heißt das, der städtischen Selbstverwaltung das wichtigste Gebiet, auf dem zu wirken sie gerade als lokale Körperschaft besonders berufen und geeignet ist, zugunsten einer staatlichen Bureaukratie entziehen, der jede Verbindung mit der Einwohnerschaft der Lokalität fehlt. Wie gerne übrigens diese bereit ist, solchen An- regungen zahlreicher Wohnungsreformer, denen die genügende Einsicht in die Bedürfnisse der Gemeindeverwaltung fehlt, nachzugehen, das zeigt der preußische Wohnungsgesetzentwurf deutlich genug.

Bei dem beschränkten Räume, der für diese Übersicht zur Verfügung steht, können wir uns mit den einzelnen Ausführungen des Jägerschen Buches nicht weiter beschäftigen, so lehrreich es für eine Charakterisierung der Wohnungspolitik des Zentrums auch wäre. Wir müssen uns daher dar- auf beschränken, den Leser auf einige Punkte, wie z. B. Jägers Stellung zu dem Bau von Arbeiterwohnungen durch die Unternehmer, wozu er Großbetriebe oder Aktiengesellschaften, deren Erzeugnisse einen höheren Zollschutz genießen, sogar gesetzlich verpflichten will, seine Empfehlung kapitalkräftiger Aktiengesellschaften, überhaupt der Prämiierung des privaten Wohnungsbaues, um ihn zum Bau von Kleinwohnungen zu ver- anlassen, seine Einwände gegen den kommunalen Wohnungsbau, die schon dutzendmal vor ihm in der gleichen Weise gemacht und ebenso oft widerlegt worden sind, usf., aufmerksam zu machen. Im großen und ganzen bringen die praktischen Vorschläge, mit deren Formulierung das Buch abgeschlossen wird, so wenig etwas Neues und Originales, wie die theoretischen Untersuchungen über die Ursachen der Wohnungsnot, die Entstehung»-der städtischen Bodenrente etc. Das Jägersche Buch ist eben seinem Wesen nach eine Kompilation, der gegenüber Vorsicht und Kritik unbedingt am Platze sind. Sein Wert besteht nicht in dem Eigenen, das es bringt, sondern in den zahlreichen Auszügen, Abdrucken von Verordnungen, Drucksachen etc., die man in ihm bequem, aber weder vollständig noch immer richtig ausgewählt bei der Hand hat.

Eine über Spezialgebiete hinausreichende allgemeinere Bedeutung kommt auch dem Buche (3) R. Eberstadt's „Rheinische Wohn- verhältnisse und ihre Bedeutung für das Wohnungswesen in Deutschland" (G. Fischer, Jena) zu, so spezielle Gebiete auch der Hauptteil des Buches behandelt. Der Verfasser will die Einzelheiten der Entwicklung des städtischen Bodens am praktischen Beispiele zeigen. Er schildert zu diesem Zwecke die Wohnverhältnisse dreier Großstädte Düssel- dorf, Elberfeld und Barmen, die er deshalb ausgewählt hat, weil in ihnen nicht der Massenmietsbau mit Hofwohnung vorherrscht, sondern das schmale und flache, selten mit Hofwohnungen versehene Grundstück, das Dreifenster- bzw. Vierfensterhaus, die Hauptform der städtischen Bebauung bildet. Bei seiner Untersuchung beschränkt er sich aber nicht auf die eigentlichen Wohnungsverhältnisse, sondern erörtert das „System der städtischen Wohnweise in seiner Gesamtheit" und untersucht „die Zusammenhänge

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zwischen den einzelnen Gebieten der Volkswirtschaft, der Verwaltung und Technik", mit anderen Worten er gibt einen Überblick über den ganzen Prozeß der Bebauung von der Aufteilung des Baubodens bis zur fertigen Wohnung und zum Hausbesitz. Hier macht er aber leider halt; über die Belegung der Wohnungen, also die eigentlichen Wohn- verhältnisse erfahren wir nichts. Ihre Darstellung wäre aber zur Vervollständigung des Bildes unbedingt notwendig gewesen, denn die schönsten Grundrisse, die zweckmäßigsten Hausanlagen können durch die Belegung und Benutzung in ihr Gegenteil verkehrt werden.

Ein rühmenswerter Vorzug der Eberstadtschen Schrift ist es, daß sie sich nicht auf das vorliegende Material der Gegenwart beschränkt, sondern uns die Normalform des Arbeiterhauses in der Entwicklung vor- führt, wie sie von der privaten Unternehmung ausgebildet worden ist. Diese Partien des Buches, die durch Hauspläne illustriert werden, sind ohne Zweifel das Beste an ihm. Der Verfasser führt uns an präguanten Typen vor, wie sich in Düsseldorf und Elberfeld das alte Drei- bzw. Vierfensterhaus in verschiedener Weise entwickelt hat. In Düsseldorf ist der Endpunkt der Entwicklung das Drei- bzw. Vierfensterhaus mit Anbau, das zwei oder drei Kleinwohnungen auf einer Etage enthält. Charakteristisch für diesen Typus ist der „Anbau", ein angehängter Rückrlügel von 2 Zimmern mit Fenstern auf den Hof, und die dadurch bewirkte Zer- legung der einen Wohnung in zwei Hälften, von denen die eine (meist ein Zimmer) an der Straße, die andere (meist zwei Zimmer) am Hofe belegen ist. Diese Trennung der Wohnung ist unseres Erachtens ein schwerer Übelstand, da sie die Abvermietung des dritten nach vorn gelegenen Zimmers geradezu herausfordert. Als weiterer Übelstand kommt der Mangel jeder Abgeschlossenheit hinzu. Keine Wohnung bildet ein abgetrenntes Ganze für sich. Man braucht sich nur die in der Schrift abgedruckten Grundrisse auf die Zersplitterung der Woh- nungsanlage hin anzusehen, um das Urteil Eberstadts, der dieselbe „durchaus befriedigend" nennt, als durchaus unzutreffend zu erkennen. Mit Fug und Recht strebt der neuere Kleinwohnungsbau dahin, auch dem Arbeiter in seiner Wohnung das Gefühl der „privaey" zu geben, dieselbe so zu gestalten, daß nicht die große Mehrzahl der Vorgänge des häuslichen Lebens sich in der Öffentlichkeit der übrigen Parteien ab- spielt. Viel zweckmäßiger hat sich der Elberfelder Normaltypus ent- wickelt, in dem auf den hofwärts gelegenen Anbau verzichtet, und der Treppe eine zentrale Lage gegeben ist. Hier bilden die zwei nicht wie in Düsseldorf 3 Wohnungen geschlossene Ganze, zu denen der Zugang von der Treppe aus allerdings auch ohne Vorplatz direkt in die Wohnküche erfolgt. Unzweckmäßig ist auch hier die Lage des für beide Wohnungen gemeinsamen Abortes an der Treppe. Die Barmer Bauform stimmt mit der Elberfelder im wesentlichen überein.

In allen drei Städten fehlt das System der Hofwohnung, wie es

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z. B. in Berlin in so weitgehendem Maße ausgebildet ist, und die Miet- kaserne, für die nach Eberstadt der tiefe Baublock und die Hofwohnung charakteristisch ist. Die allgemeine Hausform ist vielmehr das kleine und mittlere Bürgerhaus. In Elberfeld gab es im Jahre 1900 2269 Ge- bäude mit nur 1, 2139 mit nur 2, 912 mit 3, 964 mit 4, 668 mit 5, 524 mit 6 Haushaltungen. In Häusern mit 4 Haushaltungen lebten 3856 Haushaltungen dies die stärkste Gruppe , dann folgen der Reihe nach die Haustypen von 9 Haushaltungen (Gesamtzahl 3564), von 7 Haushaltungen (Gesamtzahl 3493). In den Haustypen von 1 bis 6 Haushaltungen ist über die Hälfte aller Haushaltungen untergebracht. Ähnlich sind die Verhältnisse in Düsseldorf und Barmen. Ihnen ent- sprechend ist auch die Zahl der Hausbesitzer eine beträchtlich größere als in den Städten mit vorherrschender Mietkaserne. Übertrieben ist es aber, wenn Eberstadt schreibt, daß der breitesten Schicht der Be- völkerung die notwendige Beteiligung am Grundbesitz verblieben sei. Umgekehrt ist es richtig ; auch in den drei von ihm behandelten Städten mit relativ kleineren Häusern ist die breiteste Schicht der Bevölkerung vom Grundbesitz ausgeschlossen geblieben. In Düsseldorf gibt es 5716 Hausbesitzer, von denen 75 1229 Häuser = 12 Proz. des gesamten Grund- besitzes zu Eigentum haben, gegenüber einer Bevölkerung von 213 711 Personen. Eberstadt berichtet uns ferner, daß sich die Hausbesitzer eine straffe Organisation gegeben haben und ihre wirtschaftlichen Standes- interessen nachdrücklich vertreten, und erzählt von einer scharfen Miß- stimmung der Bevölkerung gegen den Hausbesitzerstand, deren Grund in den starken und fortgesetzten Mietsteigerungen zu suchen sei. Das sieht doch nicht nach der Beteiligung der breitesten Schicht der Be- völkerung am Hausbesitz aus. In Elberfeld beträgt die Zahl der Haus- besitzer 45 10, wovon 3256 nur 1 bebautes Grundstück, 1254 menr ^ 1 besitzen, die Bevölkerung belief sich auf 156963 Einwohner, die Zahl der Haushaltungen auf 34978.

Soviel nur über den ersten darstellenden Teil des Buches. Der zweite Teil, Ergebnisse und Folgerungen betitelt, sucht die Tatsachen des ersten zur Erhärtung der Eberstadtschen Theorien, wie er sie in seinen bekannten Büchern „Städtische Bodenfragen", „Der deutsche Kapital- markt" und anderwärts niedergelegt hat, nutzbar zu machen. Einzelne dieser Ausführungen, insbesondere die über die Bildung der Boden- preise, seien im folgenden besprochen. Eberstadt bezeichnet es als all- gemein wahrnehmbare Tatsache, die durch seine Untersuchungen über die Bodenpreise in Düsseldorf, Elberfeld, Barmen wiederum bestätigt sei, „daß die Bodenpreisc da am höchsten stehen, wo die weitesten Geländetlächen zur Verfügung sind und die Stadterweiterung sich in nahezu ungehinderter Weise vollziehen kann". Naturgemäß sei gerade die entgegengesetzte Preisbildung, daß nämlich auf reichlich vorhandenem, leicht zugänglichein und leicht bebaubarem Gelände die Bodeuwerte am

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Hugo I. in de mann, Zur Literatur über die Wohnungsfrage.

niedrigsten stehen, am höchsten dagegen da, wo die Bodenverhältnisse ungünstig seien und die Stadterweiterung auf Geländeschwierigkeiten stoße. Femer hat sich nach Eberstadt bei allen neueren Stadterweite- rungen und Eingemeindungen ergeben, daß die reichliche Zufuhr des Baulandes zu einer allgemeinen Steigeiung der Bodenpreise geführt hat. Die Erklärung dieser Tatsachen, die nach ihm die Beugung eines natür- lichen Gesetzes sind, findet er in der Bodenspekulation und den für ihre Tätigkeit notwendigen Voraussetzungen. Das Gebiet der Bodenspekulation seien die städtischen Außenbezirke; für ihre Wirksamkeit sei daher die Leichtigkeit bestimmend, mit der das Außenland zusammengekauft und festgehalten werden kann. „Die weiten Geländenachen des Flachlandes, die Geländezufuhr durch eine Stadterweiterung und Eingemeindung sind die geeigneten Grundlagen der spekulativen Unternehmung." Hier sei also die spekulative Preistreiberei am stärksten entwickelt und seien daher auch die Preise am höchsten. Die Spekulation in unbeweglichen Gütern beruhe in letzter Instanz auf dem Kreis verwaltungsmäßiger Ein- richtungen, die Deutschland zu dem klassischen Lande der Boden- spekulation gemacht haben. So weit die Eberstadtschen Ausführungen. Es ist nicht leicht, diese die tatsächliche Entwicklung der Bodenpreis- bildung auf den Kopf stellenden, die Vorgänge Berlins in unberechtigter Weise verallgemeinernde Theorie mit ihrer Überschätzung der Ver- waltungsmaßregeln in Kürze zu widerlegen. Einige Widersprüche in den Eberstadtschen Ausführungen seien zunächst hervorgehoben. Eberstadt erwähnt, daß sich das Gelände um Düsseldorf in festen Händen befindet, die Bodenspekulation einen Gürtel um die Stadt gelegt hat. Düssel- dorf liegt in der Ebene; vom Rhein abgesehen sind seiner Ausdehnung keine natürlichen Grenzen gesteckt. Hier stimmt also die Sache. Von Elberfeld heißt es auf S. 72: „Das weite Gelände in größerem Abstand um die Stadt ist aufgekauft und wird spekulativ festgehalten." Diese Stadt liegt aber auf hügeligem Gelände, das „in dem Stadtmittelpunkt indes noch für die umfangreiche Geschäftsstadt Raum läßt und von hier aus bald steil, bald weniger scharf emporsteigt nach den umliegenden Höhen, die der baulichen Ausdehnung reichlichen Platz gewähren". Auch in Stuttgart gibt es trotz der hügeligen Bodenbeschaffenheit eine lebhafte Bodenspekulation. Diese hängt also offenbar nicht von der Ge- ländebeschaffenheit ab. Obwohl ferner in Düsseldorf wie in Elberfeld die Außenbezirke in den Händen der Bodenspekulation sind, stehen doch in Elberfeld die Mietpreise nicht unbedeutend niedriger als in Düsseldorf. Erklärlich wird dieser Irrtum, der die Bodenspekulation und die Flachlandslage in Verbindung bringt, aus dem Ausgangspunkt der Eberstadtschen Untersuchungen, den Bodenpreisverhältnissen Berlins und der Lage dieser Stadt. Und diese Lage im Flachlande teilt Berün mit anderen großen, rapid gewachsenen Städten, wie München, Han- nover etc.

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Ebenso fehlerhaft sind die Behauptungen, daß in den im Flachlande gelegenen Städten die „weitesten Geländeflächen" zur Verfügung stehen, und daß bei den Stadterweiterungen und Eingemeindungen die reichliche Zufuhr des Baulandes zu einer allgemeinen Steigerung der Bodenpreise geführt habe. Eine Zufuhr von Boden an und für sich ohne jede Quali- fikation gibt es in der Praxis nicht. Daher muß jede Theorie, die mit solchen Begriffen arbeitet, falsch sein. Es gibt nur Boden in einer be- stimmten Lage, und der Wert dieser Lage ist in erster Linie durch die Entfernung von dem Geschäftsmittelpunkt oder Mittelpunkten bedingt. Daher kann man auch von einer Konkurrenz, die die Böden weit draußen in den Außenbezirken denen in den Innenbezirken machen sollen, für Geschäftszwecke überhaupt nicht und für Wohnzwecke nur in sehr bedingtem Maße sprechen. Die „weitesten Geländeflächen" verlieren also die Bedeutung, die Eberstadt und andere mit ihm ihnen zuschreiben. Wenn durch Eingemeindungen oder ähnliche Vorgänge das Gebiet der Stadt ausgedehnt wird, so kommen damit die einverleibten Bodenflächen nicht ohne weiteres auf den Markt oder üben einen preisdrückenden Einfluß auf die alten Bodenflächen aus. Man kann daher auch nicht behaupten, daß die Vermehrung des Angebots die Bodenpreise erhöhe. Es ist sehr charakteristisch, daß Eberstadt in einer Anmerkung schreibt : „Bei dem hier behandelten Vorgang sollte überhaupt das Gesetz von Angebot und Nachfrage nicht mit der fast allgemein beliebten Aus- schließlichkeit herangezogen werden." In gewissem Sinne ist die Mahnung wohl begründet ; aber eine Warnung vor Eberstadts paradoxem Ver- zicht, dies wirtschaftliche Gesetz zur Erklärung der Vorgänge bei der Bodenpreisbildung überhanpt heranzuziehen, noch viel begründeter.

Die Unterscheidung zwischen natürlicher und künstlicher Bodenpreis- bildung, die eigentümliche Auffassung von der Rolle, die die Speku- lation dabei spielt, die Überschätzung des Einflusses von Vcrwaltungs- maßregeln auf wirtschaftliche Vorgänge, die Rollenvertauschung von Bebauungsplan und Bauordnung alle diese Bestandteile der Eber- stadtschen Städtebautheorie sind schon zu häufig von anderer Seite wider- legt oder auf ihre richtige Bedeutung zurückgeführt worden, als daß wir uns hier noch einmal dieser Aufgabe unterziehen müßten. Nur zwei Pimkte seien hier richtig gestellt, der eine, weil er zum ersten Male von Eberstadt vorgebracht wird, der zweite, weil er die Schwäche Eberstadts recht deutlich zeigt, juristische Institute für wirtschaftliche Erscheinungen verantwortlich zu machen. Bei Berechnungen, die er mit Düsseldorfer Bodenbesitzern gemacht hat, ist ihm als bemerkenswert aufgefallen, wie der Bodenspekulant es für durchaus selbstverständlich hält, seinen Zinsverlust als objektiven Wert in Rechnung zu stellen und danach den Preis der Baustelle zu bestimmen. Dies jedermann bekannte Faktum ist für Eberstadt eine Offenbarung. Voll Stolz schreibt er: „Auf ein be- sonderes Moment (der Stadterweiterung) hat dagegen unsere Dar-

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Hugo Lindemann, Zur Literatur über die Wohnungsfrage.

Stellung . . . wohl erstmalig (!I) hingewiesen; es ist die Tatsache, daß der Boden rings um die Städte, der sich im Besitz der Bodenspekulation befindet, ganz automatisch durch Anrechnung des sogenannten „Zinsver- lustes" Jahr für Jahr seinen Kaufpreis steigert." So gern wir Eberstadt die Freude an dieser Entdeckung gönnen, so müssen wir ihn doch darauf aufmerksam machen, daß diese Zinszuschläge als Tendenz, nicht als Faktum, wohl jedem bekannt geworden sind, der sich mit den Anfangs- gründen der Theorie der städtischen Grundrente gelegentlich einmal be- schäftigt hat.

Der zweite Punkt betrifft das Hypothekenwesen. „Lediglich unser Hypothekensystem ist daran schuld, daß die Bodenpreise spekulativ ge- steigert werden können" schreibt Eberstadt auf S. 42. Das ist direkt falsch. Unser Hypothekensystem mag die Bodenspekulation erleichtern, aber schuld an ihr ist es nicht, so wenig wie der Verfasser. „In Wirk- lichkeit, schreibt dieser weiter, bestehen die hohen Preise nicht ; niemand zahlt sie, weder der Bodenbesitzer, noch der Bauunternehmer, noch der Hausbesitzer." Auch das ist nicht richtig. Die Kapitalbeträge sind nur der kapitalisierte Ausdruck der jährlichen Rente, die von den Mietern als Tribut für die Benutzung des Bodens aufzubringen und für diese sehr real ist. Durch das Hypothekensystem ist aber dieser Vorgang der Tributzahlung, auf den allein es ankommt, in keiner Weise bedingt. Auch in England mit seinem Leaseholdsystem haben wir spekulative Steige- rungen der Bodenrente so gut wie bei uns ; dort kommen sie in den höheren leases zum Ausdruck, nicht wie bei uns in den Kapitalbeträgen für bebaute Grundstücke. „Der Wert steckt nur in der Verschuldung; er wird dem Boden aufgeladen und auf den Mieter abgewälzt" heißt es dann zum Schluß. Offen gesagt können wir uns unter dem Wert, der nur in der Verschuldung steckt und dem Boden aufgeladen wird, durchaus nichts denken.

An diese Schriften allgemeinen Inhalts seien gleich die Publikationen angeschlossen, die sich die Berichterstattung über die Vorgänge auf dem Gebiete der Wohnungsreform zur Aufgabe gemacht haben. Fortlaufend wird diese Berichterstattung von den beiden Zeitschriften, (4) Z e i t sc h r i f t für Wohnungswesen, herausgegeben von Prof. Albrecht, Verlag von C. Heymann, und (5)Zeitschrift für Wohnungswesen inBayern, herausgegeben von Dr. K. Singer und Dr. P. Busch ing, geführt. Die Gebietsabgrenzung zwischen den beiden Zeitschriften ist meines Er- achtens eine durchaus zutreffende, und die Herausgeber der bayrischen Zeitschrift haben durch die Tat deutlich bewiesen, daß neben der allgemeinen Zeitschrift für Wohnungswesen die spezielle ihre Existenz- berechtigung hat. Es liegt auf der Hand, daß die allgemeine Zeitschrift lokalen Vorgängen nicht die Aufmerksamkeit und den Kaum widmen kann, wie eine Publikation, die sich auf ein kleineres abgegrenztes Gebiet beschränkt. Gerade dieser lokale Charakter der meisten Wohnungs-

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Probleme erfordert aber sorgfältige Berücksichtigung, sollen nicht in der Praxis und Theorie Verallgemeinerungen gemacht werden, die eine zweck- mäßige Lösung der Aufgaben aufs schwerste schädigen müssen. Dazu kommt, daß eine allgemeine Zeitschrift in der Hauptsache nur allge- meinere Anregungen zu geben vermag und auch geben soll. Sie muß der praktischen Tätigkeit ferner bleiben. Dagegen ist es gerade die Aufgabe der besonderen Zeitschrift, die Agitation für die einzelnen Auf- gaben energisch ins Leben zu rufen, direkt einzugreifen in die Be- strebungen des Tages, mögen sie sich auf den Erlaß einer Bauordnung, auf den Bau eines Ledigenheimes usw. konzentrieren. Man braucht nur die bisher erschienenen Nummern der Zeitschrift für Wohnungswesen in Bayern daraufhin durchzublättern und man wird finden, wie richtig die Herausgeber ihre Aufgabe erfaßt haben. Es wäre zu wünschen, daß auch in anderen Landesteilen des Deutschen Reiches derartige Zeit- schriften entständen ; die praktische Förderung der Wohnungsprobleme würde dadurch einen energischen Anstoß erhalten.

Eine einmalige zusammenfassende Übersicht über alle Vorgänge auf dem ganzen großen Gebiete der Wohnungsreform und über die Literatur im Jahre 1903 gibt das von dem tätigen Schriftführer des Vereins Reichs- Wohnungsgesetz, Dr. K. von Mangoldt als Anhang zu dem 6. Ge- schäftsbericht dieses Vereins zusammengestellte (6) „Jahrbuch der Wohnungsreform im Jahre 1903". Es bedeutet einen ersten Ver- such, der wohl als gelungen bezeichnet werden darf. Trotz aller Kürze der Bericht umfaßt 37 Seiten gibt er eine zutreffende Orientierung und ermöglicht dem Leser durch die Hinweise auf die verschiedenen Publikationen, sich für die ihn interessierenden Punkte ausführlichere In- formation zu verschärfen. Das ist auch alles, was von einer solchen Über- sicht verlangt werden kann, falls sie nicht zu einem dickleibigen Bande anschwellen soll.

Wir wenden uns nunmehr zu den Schriften, die sich speziell mit der Bodenfrage und -politik beschäftigen, und beginnen mit dem Vor- trage (7) Dr. K. von Mangoldts „Die städtische Bodenfrage", (Göttingen, Vandenhoeck und Rupprecht), 1904, der uns wegen der nüchternen Abwägung der in Betracht kommenden Momente bemerkens- wert erscheint. Mangoldt hält sich von der Überschätzung der Boden- spekulation, der man geradezu abenteuerliche Kräfte zuzuschreiben liebt, durchaus fern. Sehr richtig scheidet er zwischen den Ur- besitzern und Terrainspekulanten. Jene können warten, bis ihnen die goldene Ernte in den Schoß fällt, diese müssen ihr Kapital oft haben sie den Boden schon teuer gekauft verzinsen. Daher gilt auch für sie das ökonomische Gesetz, die Umlaufszeit möglichst zu verkürzen. Sie schließen ihre Terrains mit aller Energie auf und suchen, die Bau- plätze mit Vorteil natürlich, möglichst bald wieder loszuwerden. Es gibt keinen größeren Unsinn, als die Schilderung der Bodenspekulation

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sie ist auch von Jäger ausführlich zitiert worden nach der der Spekulant das Terrain ankauft und es nun 20 Jahre (!) lang ruhig liegen läßt, bis es ihm teuer genug geworden zu sein scheint. Diese Phantasie- sorte von Bodenspekulant verdiente auf einer Raritäten- und Monstrosi- tätenausstellung öffentlich ausgestellt zu werden. Ebenso zutreffend sind die Ausführungen Mangoldts über die Steuer nach dem gemeinen Wert. Bleibt diese Steuer niedrig, 1 2 Promille, so verfehlt sie jeden Effekt auf die Bodenbesitzer; setzt man sie höher, *4 Froz., so vertreibt sie den kleinen Grundbesitzer zum Vorteil der großen aus seinem Besitz; auf alle Fälle aber spielt sie neben der 4 oder 5 prozentigen Verzinsung des für den Boden gezahlten Kapitals eine unbedeutende Rolle. Tatsächlich ist die Steuer nach dem gemeinen Werte nur eine Finanzsteuer, die den Kommunen größere Erträge bringt, als die staatliche Grundsteuer. Als solche hat sie ihre gewisse Berechtigung; für die Boden- und Wohnungs- reform ist sie bedeutungslos.

Als LTrsache des steigenden Bodenwertes bezeichnet Mangoldt die monopolähnliche Stellung der Baulandbesitzer und -Verkäufer. Kr führt diesen Gedanken dahin aus, daß trotz der theoretischen Fülle des nach allen Seiten ungehindert sich erstreckenden Flachlandes „als Bau- land und speziell als Baustellen nur ein ganz schmaler Streifen Land jeweilig in Betracht kommt, der sich unmittelbar an das bereits bebaute Land anschließt". Wir haben die gleichen Gedanken bereits oben bei der Besprechung des Eberstadtschen Buches nur unter anderer Bezie- hung ausgesprochen, als wir behaupteten, daß die Außenböden den Innenböden keine Konkurrenz machen können. Wichtig ist dann ferner nach Mangoldt, daß die Stadterweiterung im wesentlichen ein privat- kapitalistisches Geschäft ist und daher alle die Mängel solcher Ge- schäfte besitzen muß. Ausführlich weist er dabei nach, welche Be- deutung bei der privatkapitalistischen Stadterweiterung den Zinszuschlägen zukommt, ohne allerdings wie Eberstadt für diese Ausführungen den An- spruch der Neuheit zu erheben. In dem Schlußteile seines Vortrages entwickelt dann der Verfasser seine schon früher an anderer Stelle (Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik 18. Bd. Heft 1 2) aus- führlicher begründeten Vorschläge zur Abhilfe: Ausbildung einer gemein- verständlichen Statistik, Schaffung von Konkurrenz unter den Kodenver- kuufern durch Anlage zahlreicher Straßen, durch Ausbildung der Straßen- bahnnetze und Erlaß einer tiefgreifenden Bauordnung, ferner Besteuerung des Wertzuwachses, Hinausverlegung der Industrie in die weitere Um- gebung der Städte, Stadtverjüngung. Da in diesen Ausführungen nichts Neues enthalten ist, erübrigt sich ein näheres Eingehen darauf.

Auch ein großer Teil der üaniaschkeschen Schrift „Aufgaben der Gemeindepolitik" (Vom Gemeindesozialisraus), (Jena- Fischer), die nun- mehr in 5. Auflage vorliegt, beschäftigt sich mit den Problemen der Boden- politik, insbesondere vom kommunalen Gesichtspunkte aus. Damaschkes Aus-

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führungen haben in Dr. F. Pabst, der das bodenreformerische Steuer - programm vom Standpunkte der Hausbesitzer prüft, einen scharfen Kritiker gefunden, dem wir in vielen Punkten recht geben müssen. In seiner Schrift (8) „Damaschke und die Hausagrarier" (Dresden und Leipzig, Piersons Verlag, 1903) vergleicht er zunächst das Programm der Bodenreformer, das den Konjunkturgewinn an Grund und Boden durch die Umsatzsteuer, Bauplatzsteuer und Zuwachssteuer zu fassen sucht und daneben die bestehenden Grund- und Gebäudesteuern er- halten oder umgestalten will, mit dem Programm der „objektiv denkenden Hausbesitzer". Dasselbe schlägt eine einzige Konjunkturgewinnsteuer vor, die für unbebautes und bebautes Land in verschiedener Form er- hoben werden soll, und empfiehlt, das System der Interessensteuern, wie Anliegerbeiträge , Kanalisationsabgabe , Trottoirsteuer usw. auszubauen. Die heutigen Grund- und Gebäudesteuern sollen beseitigt werden; eine besondere Umsatzsteuer wird als überflüssig und schädlich bezeichnet In der Polemik gegen Damaschke hat Pabst in den meisten Punkten recht. Die alte, von den Bodenreformem als Glaubensartikel immer und immer wiederholte Fabel, daß Steuern auf die Grundrente stets aus- schließlich auf die Eigentümer des Grund und Bodens fallen müssen, wird von ihm mit durchschlagenden Gründen widerlegt. Man braucht sich auch nur die Verhältnisse einmal klar zu machen, um zu dem gleichen Resultate zu kommen. Die von der Gesamtheit der Einwohner einer städtischen Markung zu zahlende Grundrente ist zu einer bestimmten Zeit ein fester Betrag. Nun denke man sich eine allgemeine städtische Grundsteuer eingeführt, die z. B. nach dem gemeinen Wert berechnet gleichfalls einen bestimmten Betrag ausmacht. Auch Damaschke wird kaum annehmen, daß nun die Grundbesitzer in ihre Tasche greifen und den ganzen Betrag der Steuer selbst aufbringen werden. Im Gegenteil! Die Tendenz, diesen ganz auf die Mieter abzuwälzen, wird eine sehr starke sein und in den meisten Fällen sich durchsetzen. Von den Steuererleichterungen z. B., die durch die Einführung der Grundsteuer nach den gemeinen Wert den Besitzern der Häuser mit kleinen Wohnungen zuteil wurde, haben die Mieter nicht den geringsten Vorteil gehabt. Ebensowenig hat sie eine Herabsetzung der Grundstückpreise ge- bracht — , das hat noch keiner der zahlreichen Anhänger dieser Steuer behauptet viel eher wird eine Wertsteigerung eingetreten sein, da der Ertrag ein größerer geworden ist. Muß aber zugegeben werden, daß die Tendenz zur Abwälzung besteht, so ist damit auch das Bestehen der weiteren Tendenz zugestanden, den Vorteil einer allgemeinen Aufhebung der Grund- und Gebäudesteuer, wie sie von den Hausbesitzern und von Pabst gefordert wird, völlig den Grund- und Hausbesitzern zuzuwenden. So berechtigt daher die Kritik dieses letzteren an Damaschke und den Bodenreformern ist, weil sie die allgemeine Aufhebung der Grundsteuer sehr richtig als „persönliches Geschenk" an die Grund- und Hausbe-

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sitzer verurteilen, dagegen widersprechenderweise ihre Reduktion für Teile des Hausbesitzes, z. B. durch die Besteuerung nach dem gemeinen Werte begeistert fordern mit dem gleichen Rechte muß der Vorwurf der Inkonsequenz gegen Pabst erhoben werden, da er von einer gene- rellen Steuerbeseitigung infolge der durch sie bewirkten „Konkurrenz der gesamten Boden- bzw. Gebäudeeigentümer" ein Herabgehen der Mieten erwartet, das Vorhandensein dieser selben Konkurrenz aber ab- streitet, um die von Damaschke behauptete Nichtabwälzbarkeit der Grundsteuer zu widerlegen.

Gehen wir also davon aus, daß die Tendenz zur Abwälzung der Steuern auf Grund und Boden allgemein vorhanden ist, und daß eine Besteuerung der Konjunkturgewinne berechtigt ist, so wird das Problem so zu formulieren sein: wie ist die Wertzuwachssteuer auszubilden, daß die Möglichkeit der Abwälzung ein Minimum wird. Dabei wird zwischen bebautem und unbebautem Boden zu unterscheiden sein, aber nicht, um nach dem Vorschlage Brentanos in seinem Vortrage (9) „W ohnungs- zustände und Wohnungsreform in München" (Ernst Rein- hard, München 1904) den ersteren steuerfrei zu lassen, sondern weil die Abwälzung der Steuer bei beiden eine verschiedene ist. Die Schwierig- keit, bei den Gebäuden zu unterscheiden, welcher Teil des Wertzu- wachses auf eine am Gebäude vorgenommene Melioration, welcher auf den Boden entfällt, wird von Brentano bei weitem überschätzt. Auch seine Hoffnung, daß die Freilassung des bebauten Bodens von der Zu- wachssteuer einen sehr starken Antrieb zum Bauen bilden würde, können wir nicht teilen. Dagegen würde eine solche Freilassung den Ertrag der Steuer ganz gewaltig beschneiden.

Nach Pabst wird sich nun der Trieb zur Abwälzung der Grund- steuer dann nicht geltend machen, wenn die Steuer wirklich realisier- bare Leistungsfähigkeit trifft. Bei einem Mißverhältnis zwischen Steuer- last und Steuerfähigkeit werde dagegen stets der Versuch zur Abwälzung gemacht werden. Eine wirklich steuertechnisch nutzbare Leistungsfähig- keit sei beim Boden- und Hausbesitz aber nur da vorhanden, wo der Wertzuwachs, sei es als Einnahmesteigerung, sei es als realisierter Ge- winn wirklich in die Erscheinung getreten sei. So sehr wir mit Pabst darüber übereinstimmen, daß die Besteuerung des unverdienten Wertzu- wachses da ansetzen soll, wo dieser in die Erscheinung tritt, also real und steuertechnisch greifbar wird, so wenig halten wir die Verbindung, die er zwischen steuerlicher Leistungsfähigkeit und Abwälzungstendenz herzustellen sucht, für irgendwie begründet. Eine Steuer, die auf die leistungsfähigen Schultern gelegt wird, ist deshalb nicht unabwälzbar, noch wird dadurch die Neigung, sie weiter zu wälzen, abgeschwächt. An Erfahrungsbeweisen dafür fehlt es nicht. Es sei nur auf ein Beispiel aus jüngster Zeit hingewiesen. Die Warenhausbesitzer haben sofort die ihnen auferlegte Umsatzsteuer abgewälzt , obschon es sich bei den

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meisten Warenhäusern doch um sehr leistungsfähige Gebilde handelt. Der von Pabst aufgestellte Grundsatz hilft uns also nicht weiter. Wollen wir zu einem Resultate kommen, so müssen wir das wirtschaftliche Grundprinzip von Angebot und Nachfrage heranziehen und vom ein- zelnen Grundstück, nicht aber von Klassen von Grundstücken oder von dem ganzen Grundbesitz einer städtischen Markung ausgehen. Der Preis des einzelnen Grundstückes kann nicht beliebig nach Laune des Besitzers hinaufgesetzt werden. Es bilden sich auf dem Grundstücks- markt Lageklassen, in die die einzelnen Grundstücke infolge der Wir- kung von Angebot und Nachfrage einrangiert werden. Daraus ergibt sich, daß eine Steuer, die das einzelne Grundstück gewissermaßen aus seiner Klasse heraushebt, es isoliert und dann in seiner Isoliertheit steuerlich erfaßt, a priori nicht abgewälzt werden kann. Wie im einzelnen die Wertzuwachssteuer eingerichtet sein müßte, um diese anzustrebende Isolierung zu erreichen, können wir hier nicht des näheren erörtern; es kam uns nur darauf an den Grundsatz klar herauszustellen.

Mit dem Einfluß der industriellen Krisis auf die Bodenwerte be- schäftigen sich fünf Abhandlungen im 7. Band der „Störungen im deutschen Wirtschaftslebens während der Jahre 1900 fr.", herausgegeben vom Verein für Sozialpolitik, die von sehr ungleichem Werte sind. Die beiden Abhand- lungen von Dr. F.Hecht, (10) „Dresden und die Grundstücks- krisis" und (11) „Die städtische Bodenentwicklung in Leip- zig" sind von dem Verfasser bzw. der Leipziger Immobiliengesellschaft abgefaßt worden, weil es nicht gelang geeignete Bearbeiter für diese Themata zu finden. Die wissenschaftliche Bedeutung beider Schriften ist sehr gering. Hecht kommt für Dresden zu dem Resultate, daß die Krisis des Grundbesitzes daselbst in erster Linie auf lokale Ursachen zurückzuführen, ihr Eintritt aber durch den Eintritt der Depression be- schleunigt und verschärft worden sei. Viel wertvoller sind die anderen drei Abhandlungen: (12) D. J. Feig, Die Verhältnisse des Grund und Bodens in Düsseldorf unter dem Einflüsse der Wirtschafts- krise von 1900, (13) Dr. H. Silbergleit, Zur Bodenentwicklung Magdeburgs, und (14) Dr. L. Maaß, Die neuere Entwicklung der Bodenverhältnisse in München unter Berücksichti- gung der Krisis der Jahre 1900 und 1901. Leider können wir bei dem beschränkten Räume, der zur Verfügung steht, nicht auf die ein- zelnen hochinteressanten Untersuchungen eingehen. Nur das eine sei daher hervorgehoben, die außerordentlich große Relativität aller Vor- gänge der Bodenwertbewegung. Liest man die drei Schriften hinter- einander, so erhält man einen recht deutlichen Eindruck davon, wie grundverschieden die Verhältnisse von Stadt zu Stadt sind, und eine ebenso deutliche Warnung davor, aus Einzelbeobachtungen , die auf einem beschränkten Gebiete gemacht worden sind, generelle Schlüsse zu ziehen, die sich nur zu oft als falsch erweisen, wenn man sie an den

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Beobachtungen eines anderen Gebietes nachprüft. In Düsseldorf z. B., wo in den Jahren 1898 und 1899 die Klagen über Wohnungsnot all- gemein waren und außerordentlich große Mietsteigerungen stattfanden, hat die Bodenwertsteigerung auch nach Eintritt der Krisis fortgedauert, wahrscheinlich aber in verlangsamtem Tempo. Die Mietpreise sind nicht zurückgegangen, aber auch nicht weiter gestiegen, da sich infolge des reichlich fließenden Baukredits gerade in den Krisenjahren eine leb- haftere Wohnbautätigkeit entwickelt hat. Feig kann also geradezu einen wohltätigen Einfluß der Krise auf die Bau- und Wohnungsverhältnisse feststellen. In München haben wir dagegen zur gleichen Zeit „auf dem Terrainmarkte und besonders im Baugewerke starke krisenmäßige Störungen", für die von Maaß die industrielle Krisis nur zum Teil mit verantwortlich gemacht wird.

Mit einer einzelnen Frage der Bodenpolitik beschäftigt sich die Schrift (15) Dr. K. Grünberg's, Bauten auf fremdem Grund, ein Beitrag zur Würdigung des Erbbaurechtes (Wien, F. Deuticke, 1903). Die Bestrebungen, das Rechtsinstitut des Erbbaurechts auch in Österreich einzuführen, haben den Verfasser veranlaßt, sich eingehender mit der Frage zu beschäftigen, ob die angestrebte Rezeption überhaupt nötig ist. Seine Forschungen haben ergeben, daß in Österreich bereits ein dem Erbbaurecht ähnliches Institut in dem Superädifikat besteht, durch das es Zeitpächtern ermöglicht wurde, Baulichkeiten auf Pachtgrund zu errichten. Zahlreich sind die Superädifikatsverträge besonders in Wien und in den Gemeinden der Umgebung; sie finden sich aber auch sonst in Niederösterreich, in Ungarn usw. und zwar hauptsächlich auf ge- bundenem Boden. Das Institut war also ziemlich verbreitet, ein Beweis, daß es wirtschaftlichen Bedürfnissen entsprach. Der Verfasser unter- wirft nun die wichtigeren Typen dieser Superädifikatsverträge einer ein- gehenden Analyse sowohl nach ihrer juristischen wie wirtschaftlichen Seite und kommt beide Male zu einer Verurteilung des Instituts. Die juristische Konstruktion der Bauten auf fremdem Grund, die dieselben prinzipiell als Fahrhabe ansieht, hat in der Praxis zu Schwankungen und inneren Widersprüchen geführt, für die uns der Verfasser eine Reihe interessanter Beispiele beibringt. Wirtschaftlich mußten diese dahin führen, die Ausnutzung des Grundstückes für Bauzwecke durch die Pächter zu verhindern, sowie die Kreditfähigkeit desselben zu untergraben und zu vernichten, da ihm der Realkredit versagt blieb, und auch der Personal- kredit nur in sehr beschränktem Maße und zu ungünstigen Bedingungen ermöglicht wurde. Der Grundeigentümer ist stets bestrebt, seine Ver- fiigungsfreiheit über den Pachtboden möglichst groß zu erhalten oder zurück- zugewinnen, und das wird um so mehr der Fall sein, wenn sich ihm eine günstigere Verwertung seines Grund und Bodens bietet. In den im Ver- hältnis zum Bodenwert so niedrigen Pachtraten kommt daher die Ge- fahrenprämie zum Ausdrucke, die den Pächtern für die fehlende Ständigkeit

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ihres Pachtverhältnisses gewährt wird. Nach dieser Kritik des Superädifi- kates wendet sich der Verfasser zur Besprechung des Erbbaurechtes, das als Ersatz für jenes empfohlen worden ist. Er stellt zunächst im An- schluß an Andre u. a. fest, „daß über eine Reihe prinzipiell höchst wichtiger, ja entscheidend bedeutsamer Punkte die vollste Unklarheit herrscht", und prüft dann den möglichen oder wahrscheinlichen Inhalt der Rechtsform. Wir können diesen Ausführungen nicht im einzelnen nach- gehen, so wichtig dieselben zur Charakterisierung des Erbbaurechtes sind. Mehr interessiert uns hier die scharfe Kritik, die der Verfasser an der wohnungspolitischen Bedeutung des Erbbaurechtes übt. Auch hier stimmen wir seinen Ausführungen im wesentlichen zu. Ganz ab- gesehen davon, daß wir von der Nützlichkeit des Eigentums für Arbeiter durchaus nicht überzeugt sind, können wir, so wenig wie Grünberg, in dem Erbbaurecht ein Mittel sehen, den Eigenhausbesitz des Arbeiter- standes zu fördern. „Denn glaubt man wohl: der Fabrikant oder Guts- herr, der um eines festen Arbeiterstammes willen Gründe zu Erbbau- recht austut, werde anstehen, sich durch Beisetzung von Resolutivbedin- gungen und anderen Vertragsklauseln vollste Bewegungsfreiheit seinen Hintersassen gegenüber zu sichern? Wie soll sich dann aber der Arbeiter das Baukapital verschaffen?" schreibt Grünberg sehr zu- treffend. Ganz das gleiche gilt auch von den anderen Vorzügen, die man dem Erbbaurecht nachrühmt. Die englischen Erfahrungen mit dem Leascholdsy stem ermuntern gerade nicht dazu, dem Erbbaurecht eine weite Verbreitung in der privaten Wohnungsproduktion zu wünschen. Und wenn darauf hingewiesen wird, daß in England Private Privaten gegenüberstehen, in Deutschland dagegen die Eigentümer des Erbbau- geländes den Gemeinden und infolgedessen die Verhältnisse ganz andere sein würden, so muß um so mehr betont werden, daß alles von der Art der Verträge abhängt, die von den Gemeinden und den Erbbaulustigen ge- schlossen werden. Will die Gemeinde eine Verbilligung der Mieten erreichen, so muß sie sich gegenüber den Erbbaulustigen das Recht der Mietfestsetzung vorbehalten. Auf eine solche Bestimmung kann sich aber die private Bauunternehmung nicht einlassen, will sie nicht ihre eigene auf der Ausbeutung der Grundrente beruhende Existenz negieren. So kommt denn Grünberg zu dem Schluß, daß das Erbbaurecht in keiner Art als Mittel zur Lösung der Wohnungstrage oder auch nur zur Linderung der herrschenden Wohnungsnot angesehen werden könne. Dieses Urteil scheint uns zu weitgehend, alles zu verdammen. Unseres Erachtens kann das Erbbaurecht in dem beschränkten Maße Anwendung finden, als es von den Gemeinden Baulustigen bewilligt wird, die auf die Ausbeutung der Grundrente verzichten und sich der Festsetzung der Mieten durch die Gemeinden unterwerfen. Es kamen also nur Bau- genossenschaften mit Gemeineigentum und gemeinnützige Gesellschaften in Frage. Das Problem des Profits würde in diesen Fällen ausscheiden.

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Durch die Benutzung des Erbbaurechtes würde den Gemeinden nur das Geschäft des Wohnungsbaues und -Vermietung abgenommen, wofür sie den Grund und Boden und den größeren Teil der erforderlichen Bau- kapitalien zu beschaffen hätten. Allerdings ließe sich bei einer der- artigen Anordnung die Frage aufwerfen, ob es nötig ist, den Umweg über das Erbbaurecht zu nehmen, und ob das gleiche Ziel nicht kürzer mit gleichem Erfolge erreicht werden kann.

Zu den schwierigsten Hindernissen einer zweckmäßigen Bebauung gehört die namentlich in Süd- und Westdeutschland sehr weitgehende Zersplitterung des Grundbesitzes. Aus ihr muß sogar einer der wenigen Rechtfertigungsgründe für die Bodenspekulation abgeleitet werden, die durch den Zusammenkauf der zersplitterten Grundstücke und Parzellierung des neugebildeten Ganzen die für die Bebauung erforderliche Lage und Größe der Baugrundstücke herstellt. Durch freiwillige oder gesetzlich er- zwungene Zusammenlegung und Umlegung der Parzellen der verschie- denen Eigentümer hat man das gleiche Ziel zu erreichen gesucht, ohne den Umweg über die Bodenspekulation zu machen. Zahlreiche Versuche, die Grundeigentümer für ein derartiges Vorgehen zu gewinnen, sind von den Gemeinden gemacht worden teils mit, teils ohne Erfolg. Über eine erfolgreiche Grundstücksumlegung, die das bedeutende Gebiet von 167,54 ha umfaßte, berichtet die Schrift (16) „Die Grundstücksum- legung in Stadtfeldmarken und in der Südostfeldmark Dortmund" von de Weldige-Cremcr und Dr. Fahrenhorst, Dortmund 1903. In Dortmund wurde für die Aufschließung der Süd- ostfeldmark die landwirtschaftliche Verkoppelung auf Grund des Gesetzes vom 2. April 1872 betr. die Ausdehnung der Gemcinhcitsteilungsordnung angewendet. Auf diese Weise wurde wohl durch Schaffung eines guten Wegenetzes mit Gräben, also besserer Zugänglichkeit und Entwässerung der Grundstücke, durch Vornahme einer Xeumessung und Ordnung des Grundbuches, durch wirtschaftlichere Gestaltung der Grundstücke den land- wirtschaftlichen Interessen in erster Linie gedient, zugleich aber auch das 650 Morgen große Gebiet der Bebauung erschlossen, die bisher bei den eigenartigen Besitzverhältnissen so gut wie unmöglich war. Für die Gemeinde aber erwuchs der gewaltige Vorteil, daß sie in den Besitz des gesamten für das zukünftige Straßennetz erforderlichen Bodens im Be- trage von ca. 130 Morgen gelangte, ohne auch nur die geringsten Auf- wendungen machen oder Zinsverluste erleiden zu müssen. Die zu- künftigen Straßen wurden in der Breite der normalen Wirlschaftswege aus der Masse entnommen, die Erbreiterungsflächen bis auf die Straßen- breite von den Anliegern sogleich mit abgetreten, enthaftet und der Gemeinde überwiesen; jene behielten aber die Nutzung der über 9 m hinausgehenden Straßenlandstreifcn. Die ganze Umwandlung vollzog sich im Laufe eines Jahres ohne Beschwerde seitens der Interessenten. Die Vorteile, die den Grundbesitzern zugewachsen sind, haben für weitere

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Verdoppelungen Propaganda unter den Grundbesitzern in anderen Feld- marken gemacht, so daß eine Fortsetzung des Verfahrens zu erwarten ist. Über die Verkoppelung der Südwestfeldmark gibt nun die an- geführte Schrift ausführlichen Bericht, zugleich will sie damit den Nach- weis liefern, daß es mit den Verkoppelungsgesetzen sehr gut möglich ist, Umlegungen von Stadtfeldmarken durchzuführen, die sich im Über- gangsstadium zur baulichen und industriellen Benutzung befinden, und dabei allen Bedürfnissen der Landwirtschaft, des Verkehrs und der Be- bauung Rechnung zu tragen. Dabei muß allerdings eine Reihe von Voraussetzungen erfüllt sein: der Antrag einer genügenden Mehrheit muß vorliegen, die Zuständigkeit der Auseinandersetzungsbehörden be- gründet, durch Einverständnis der Beteiligten die volle Berücksichtigung der zukünftigen Bebauung gesichert und eine nur kleine Zahl von Par- zellen vorhanden sein, die nach § 3 des Gesetzes vom 2. IV. 1872 der Umlegung an sich nicht unterworfen sind. Gegenüber dem fakultativen Charakter der auf Grund der Agrargesetze stattfindenden Umlegungen bedeutet daher die Lex Adikes auch nach Ansicht der Verfasser einen erheblichen Fortschritt. Die materiellen Sätze dieses Gesetzes werden von ihnen im wesentlichen gebilligt, gegen die das Verfahren regelnden Vorschriften aber um so schwerere Bedenken geltend gemacht. Sie werfen die Frage auf, ob es nicht zweckmäßiger sei, die Leitung des Verfahrens und vor allem die Aufstellung des Verteilungsplanes nicht einer ad hoc von dem Regierungspräsidenten ernannten Umlegungs- kommission, sondern den Auseinandersetzungsbehörden zu übertragen, die über eine reiche Erfahrung und ein in der Umlcgungstechnik ge- schultes Beamtenpersonal verfügen. Zugleich empfehlen sie eine Ab- änderung der Agrargesetzgebung in einigen Punkten, um die Ausein- andersetzungsbehörden in weiterem Umfange für die Schaffung von Bau- gelände nutzbar machen zu können. Wir können auf eine Kritik dieser Ausführungen nicht eingehen, da sie uns zu tief in die komplizierte Ura- legungsmateric hineinführen würde. Es sei hier nur hervorgehoben, daß es sich bei den städtischen Umlegungen doch vor allem um Probleme des Städtebaus handeln wird und unserer Ansicht nach gerade die städtischen Behörden sachverständige Vertreter des Gemeinwohles sind. Anstatt diesen Behörden die Leitung des Verfahrens und die Aufstellung des Verteilungsplanes zu übertragen, hat man sie überall als Literessenten betrachtet, denen gegenüber der Grundbesitzer nach allen Richtungen hin geschützt werden müsse.

Mit der „Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege" beschäftigte sich im September 1903 der „Deutsche Verein für öffent- liche Gesundheitspflege" auf seiner Vereinsversammlung zu Dresden. Die Referate lagen in den Händen des Geh. Regicrungsrat Rumpelt und dem Baurat Stübben, die ihre Anschauungen nach dem Gebrauche des Vereins in Leitsätzen niedergelegt hatten. Eine Besprechung der Ver-

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Hugo Lindemann, Zur Literatur über die Wohnungsfrage. y\y

handlungen liegt nicht im Rahmen dieser Arbeit. Mit der Bauordnung beschäftigte sich ferner ein Vortrag des Prof. K. Mayreder, der in der „Österreichischen Gesellschaft für Arbeiterschutz4' gehalten worden ist In erweiterter Form liegt derselbe als 5. Heft der Schriften dieser Gesellschaft unter dem Titel : (17) „Städtische Bauordnungen mit besonderer Berücksichtigung der Wohnungsfrage" (Wien, Franz Deuticke) vor. Die Schrift gibt in kurzen Zügen einen orientierenden Überblick über die bei dem Erlaß einer Bauordnung in Frage kommen- den Momente, wobei das Zurückbleiben der österreichischen Bauord- nungen, insbesondere der Wiener hinter den anerkannten Forderungen der Hygiene, der Städtebautechnik nnd der Wohnungspolitik energisch hervorgehoben wird. Entstand doch noch im Jahre 1894 die neue Bauordnung für Brünn und im Jahre 1900 die für Linz einfach dadurch, daß man die veraltete Bauordnung für Wien kritiklos abschrieb. Diese Bauordnungen wurden überdies noch auf eine ganze Reihe kleinerer Städte ausgedehnt. Kein Wunder, daß sich dann Wohnungszustände herausbilden, die jeder Beschreibung spotten. Ein Vorzug der May- rederschen Schrift sind die Pläne, an denen klar gemacht wird, wie die Bestimmungen verschiedener Bauordnungen auf die Bauweise, die Über- bauung der Grundstücke usw. einwirken.

Zu den wenigen deutschen Städten, die durch den Bau von Arbeiter- häusern für das allgemeine Wohnungsbedürfnis der nichtbesitzenden Klassen gesorgt haben, gehört die Stadt Ulm, die seit dem Jahre 1894 in größerem Stile als Unternehmerin von Kleinwohnungen aufgetreten ist. Über ihre Tätigkeit unterrichtet uns in trefflicher Weise die von dem Oberbürgermeister W a g n e r herausgegebene Schrift : (18) „Die Tätig- keit der Stadt Ulm a. D. auf dem Gebiete der Wohnungs- fürsorge für Arbeiter und Bedienstete" (Ulm, J. Ebner). An- laß zu der städtischen Bautätigkeit gab weniger der Mangel an Wohnungen, als vielmehr die übermäßigen Preise und die geringe Beschaffenheit der Wohnungen, in denen die arbeitende Bevölkerung hausen mußte. Wir haben hier also ein Beispiel für die Bekämpfung der chronischen Wohnungsnot, während im allgemeinen die Bautätigkeit der Stadtver- waltungen durch Ausbrüche akuten Wohnungsmangels in Bewegung ge- setzt worden ist. Die Häuser wurden von der Stadt zum Weiterverkauf gebaut, und dieses System wurde gewählt, weil man bei den Eigentümern eine bessere Pflege und Instandhaltung erwartete und weil man durch die Erhebung des Lohnarbeiters zum Eigentümer einen „Damm gegen umstürzlerische Bestrebungen" errichten wollte. Die praktischen Erfahrungen haben dieses System der Wohnungsfürsorge als unzweckmäßig erwiesen, wobei wir ganz davon absehen, ob das Ziel der Sozialistenbekämpfung erreicht wurde oder nicht. Schon die Kaufverträge, die bei den Häusern der ersten Serie abgeschlossen wurden, enthielten eine Reihe von Be- stimmungen, die das Eigentumsrecht der Käufer nach gewissen Richtungen

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hin beschränkten. Unter anderem behielt sich die Stadt ein Rückkaufs- recht auf die Dauer von 15 Jahren vor, das außer in anderen Fällen insbesondere dann wirksam werden sollte, wenn der Schuldner das An- wesen veräußern oder falls er Wohnungen zu einem den üblichen Miet- zins übersteigenden Mietzins vermieten oder derartige Aftervermietungen durch seine Mieter dulden sollte. Sehr bald stellte es sich aber heraus, daß die genannten Bestimmungen nicht ausreichten, um Mißbräuchen mit Erfolg entgegenzutreten. Dieselben wurden also durch weitere Be- stimmungen verschärft, die auch von einer größeren Anzahl Hausbesitzer nachträglich anerkannt wurden. Der wichtigste Zusatz war der folgende : „Der Gemeinderat setzt jeweils den Höchstbetrag der zulässigen Miet- zinse fest." Das war wohl der tiefste Eingriff in das Eigentumsrecht der Käufer, da er sie an der Ausnützung der steigenden Grundrente hinderte. Als dann die Stadt im Jahre 1902 ihre Baupolitik fortsetzte, verzichtete sie auf die Anwendung des Erbbaurechtes, erweiterte aber in den neuen Verträgen die Dauer ihres Rückkaufsrechtes von 15 auf 100 Jahre und gestaltete die Verträge so aus, daß von dem Eigentumsrecht der Käufer so gut wie nichts zurückblieb. Sie sind nur nominell Eigentümer, tat- sächlich aber die Hausagenten der Stadt Ulm, der sie die Unannehm- lichkeiten der Vermietung und Verwaltung des Hausbesitzers, sowie das Risiko des Mieteinganges abnehmen. Wäre es da nicht einfacher und den Käufern gegenüber auch ehrlicher gewesen, wenn die Stadt das Eigentum der Häuser behalten und dieselben zur Vermietung an eine Mietgenossenschaft ausgetan hätte? Nähert sie sich doch so wie so Schritt für Schritt diesem Ziele. Die Zahl der Angehörigen der nicht- besitzenden Klassen, die eine Anzahlung von 10 Proz., wie Bedingung, auf die Häuser leisten können, hat sich erschöpft, und die Stadtverwaltung sieht sich gezwungen, bei der Fortsetzung ihrer Baupolitik ein „Wohnungs- recht für dieselben zu konstituieren, aus dem das Eigenturasrecht im Laufe der Zeit herauswachsen kann und wird". Auch hier muß man sich fragen, wozu ein formelles Eigentumsrecht zu entwickeln, das tat- sächlich nicht viel anderes als ein Wohnungsrecht ist? Nur um einen Kampf gegen die Sozialdemokratie zu führen, dessen Erfolglosigkeit die Abstimmung dieses Wohnviertels bei den letzten Reichstagswahlen deut- lich erwies?!

Besonders wertvoll ist die Ulmer Leistung für uns dadurch, daß sie einen schlagenden Beweis für den Arbeiterwohnungsbau durch die Kommune beibringt. Mit aller Entschiedenheit hebt Oberbürgermeister Wagner dieses Ergebnis in seiner Schrift hervor. Einen großen Teil des XII. Kapitels widmet er der Widerlegung der Einwände, die gegen den kommunalen Regiebau immer und immer wieder erhoben werden, und er ist in der glücklichen Lage die unwiderleglichen Beweise aus der eigenen Praxis beibringen zu können. Wir können mit diesen seinen Ausführungen unsere volle Übereinstimmung aussprechen, wobei uns das

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entschiedene Eintreten für das kleine Wohnhaus und das als Ideal an- gestrebte Einfamilienhaus besonders sympathisch berührt. Skeptisch stehen wir dagegen dem System des Eigenhausbaues gegenüber, wobei wir uns insbesondere auf das beziehen, was wir oben angeführt haben. Die Fesselung des Arbeiters an das Haus kann nicht bestritten werden, und sie kann im Falle einer größeren Krise, einer Boykottierung durch Arbeitgeberverbände ihm verhängnisvoll werden, ja seinen wirtschaftlichen Ruin verursachen. Diese Gefahr wird um so grüßer sein, je größer die Zahl der Arbeiterhäuser ist.

Die Ulmer Stadtverwaltung war sich darüber vollkommen klar, „daß eine Arbeiterwohnungsfürsorge im großen Stil . . . sich nur durchführen lasse, wenn die Stadt über ein möglichst großes Grundeigentum verfüge, und ferner, daß die Erhaltung und planmäßige Vermehrung des letzteren auch noch andere . . . Errungenschaften in sich schließe", so beginnt das interessante Kapitel, das die Ulmer Bodenpolitik darstellt. Durch Ankäufe von Grundeigentum, die sich seit 1891 auf ca. 249 ha be- liefen, ist die Stadt in der günstigen Lage von dem gesamten Überbau- baren Gelände im Betrage von 456 ha ca. 282 ha, also mehr als 8 f5 zu besitzen. Die Verwaltung ist aber nicht nur als Käuferin, son- dern auch als Verkäuferin aufgetreten : sie hat in den letzten 1 2 Jahren 35 ha an Fabrikanten, Bauunternehmer und an die Käufer der Arbeiter- eigenhäuser um 1 979 237 Mk. veräußert, so daß die zugewachsenen, jetzt der Überbauung zugänglich werdenden 180 ha noch auf 216659 Mk. zu stehen kommen. Es ist also finanziell sehr geschickt operiert worden. Wie rechtfertigt aber die Stadtverwaltung den Verkauf kommunalen Grundeigentums? Die Konkurrenz der Gemeinden und industriellen Unternehmungen habe zum Verkauf gezwungen, da sich diese bei Erb- oder Zeitpacht zweifellos anderswo niedergelassen hätten. Auch der Villenbau von Rentnern wäre in diesem Falle nicht möglich gewesen. Theoretisch sei das Festhalten des Grundeigentums der Gemeinde mit dem Institut der Erbpacht durchaus begründet und in größeren Städten, die eine bedeutende Anziehungskraft auf die Industrie besäßen, auch praktisch durchführbar. Kleinere Gemeinden dagegen wären nicht in der glücklichen Lage und müßten sich zum Verkaufe von Grund und Boden entschließen, wollten sie industrielle Unternehmungen zur Ansied- lung veranlassen. Wir sind nicht in der Lage zu untersuchen, ob diese Behauptung für Ulm in vollem Umfange zutrifft. Doch kann ohne weiteres zugegeben werden, daß das Fehlen des Bodeneigentums bei der Aufnahme von Darlehen einen beträchtlichen Nachteil bedeutet. Einen Ausweg aus diesem Dilemma zwischen den Bedürfnissen der Praxis und der Erkenntnis der Theorie hat die Stadtverwaltung darin gesucht, daß sie in den Kaufverträgen die Spekulation mit dem Grund und Boden einzuschränken suchte. In den Verträgen über Fabrikanlagen behält sich die Stadt ein Wiederkaufsrecht zu dem ursprünglichen Kaufpreise vor,

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wenn der Käufer das Grundstück der im Vertrage festgelegten Zweckbe- stimmung (Überbauung mit industriellen Anlagen bzw. mit zu diesen Anlagen gehörigen Wohnhäusern für die Eigentümer der Anlagen, seine Angehörigen oder Bediensteten und Arbeiter) entzieht. Auch bei der Veräußerung unbebauter Teile des Grundstücks hat die Stadt ein solches Wiederkaufsrecht, nur muß sie in diesem Falle den ursprünglichen Kaufpreis mit 3 Proz. verzinsen. Hat sich die Stadt in diesem Vertrage die Ausnützung der ev. gestiegenen Grundrente durch Aufschließung des Fabrikareals für allgemeine Wohnbauten gesichert, so läßt sich das gleiche von dem Vertragsschema, das bei dem Verkauf von Grundstücken für Wohnhäuser in Anwendung kommt, nicht behaupten. Hier begibt sich die Stadtverwaltung jedes Rechtes, sobald das Wohnhaus erbaut ist; und gerade in diesen Fällen läßt sich der erwähnte Einwand der Abschreckung von Baulustigen mit viel geringerer Berechtigung erheben.

Ein weiterer Abschnitt des Buches stellt die Versuche dar, die von der Stadtverwaltung gemacht worden sind, um die durch Aufhebung der Rayonbeschränkungen im Werte gestiegenen Grundstücke einer Wert- zuwachssteuer zu unterwerfen. Der von der Staatsregierimg eingebrachte Gesetzentwurf, der der Stadt das Recht zur Erhebung einer solchen Steuer gewähren sollte, ist bis jetzt noch nicht vor der Kammer der Abgeordneten erledigt worden.

Wir haben im vorstehenden vornehmlich die Leistungen der Kommune behandelt; zur Vervollständigung sei darauf hingewiesen, daß das Buch Wagners auch über die Bautätigkeit des „Wohnungsver- eins", einer gemeinnützigen Aktiengesellschaft, sowie der Baugenossen- schaften unterrichtet, sodaß wir also ein vollständiges Bild von der Wohnungsbautätigkeit erhalten, die nicht von privaten Unternehmern des Profits wegen unternommen wird. Alles in allem ein Bild lebendigen Strebens!

Über den Arbeiterwohnungsbau in England sind im Jahre 1903 bzw. 1 904 zwei Bücher erschienen : (1 9) W. Lehweß, Englische Arbeiter- wohnungen, Berlin, Ed. Ernst und Sohn, als Sonderabdruck aus der Zeit- schrift für Bauwesen und in viel größerem Umfange (20) W.Thompson, The Housing Handbook, das im Auftrage des National Housing Reform Council abgefaßt worden ist. W. Lehweß gibt zwar im ersten Teile seiner Schrift einen Überblick über die englische Wohnungsgesetzgebung. Da derselbe aber weder vollständig ist, noch eine originale Betrachtungs- oder Darstellungsweise aufweist, außerdem noch mancherlei Irrtümer ent- hält und sehr naive Begriffe von geschichtlichen Zusammenhängen ent- hüllt, so wäre er zum Vorteil der Schrift besser fortgeblieben. Die beiden Hauptteile stellen die Tätigkeit der städtischen Verwaltungen und gemeinnützigen Vereine und Aktiengesellschaften auf Grund der Wohnungsgesetze dar und beschreiben an ausgewählten Beispielen die

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Hugo Lindemann, Zur Literatur über die Wohnungsfrage.

verschiedenen Arten der Arbeiterwohnungen. Im letzten Abschnitt wirft der Verfasser anschließend an eine Beschreibung der beiden Arbeiter- dörfer Port Sunlight und Bournville, in denen in künstlerischer Weise das Ideal der Gartenstadt für die Arbeiter zweier Fabriken erreicht ist, einen Ausblick auf die zukünftige Entwicklung der Wohnungsverhältnisse. Er ist der Ansicht, daß die großzügige Sanierungspolitik der englischen Städte die Grenzen ihrer Wirksamkeit erreicht habe. Ebensowenig werde aber die Ansiedlung in Arbeiterkolonien der Vorstädte bei dem stets größer werdenden Weg zur Arbeitsstätte und dem dadurch bedingten Zeitverlust auf die Dauer möglich sein, da der Arbeitstag des Arbeiters auf absehbare Zeit noch bedeutend länger bleiben würde, als der der höheren Erwerbsklasscn. So bleibe nur der eine Ausweg mög- lich, die Verlegung der gewerblichen Betriebe auf das Land und der Bau von Arbeiterdörfern in Verbindung mit den Fabrikanlagen. Der Verfasser glaubt, daß dieser Vorgang auch die anderen Klassen des Volkes erfassen wird. Dann bleiben die alten Städte als Mittelpunkt des Handels und Verkehrs große ständige Märkte, wie es die City von London schon heute ist, mit einer geringen Zahl ständiger Bewohner. Auf dem Lande aber entstehen neben den Landhausansiedlungen der wohlhabenden Klassen die weit und luftig angelegten Industrie-Garten- städte. Das sind also die gleichen Gedanken, die von der Gartenstadt- bewegung in England und Deutschland propagiert, die von anderen Wohnungsreformern unter den Titeln Stadtverjüngung oder Dezentrali- sation der Wohnbevölkerung vertreten werden. Es liegt auf der Hand, daß eine derartige grundstürzende Umgestaltung der heutigen Wohnver- hältnisse nicht ohne eine begleitende Umgestaltung des gesamten Pro- duktions- und Distributionsprozesses auf der einen Seite und der häuslichen und sozialen Lebensweise der Gesellschaft auf der anderen denkbar ist. Wer das eine will, muß auch das andere wollen und zugleich über beide Entwicklungen im klaren sein. Er muß auch die Mittel wollen, die zum Ziele führen, und das erste Mittel wäre die Erweiterung der groß- städtischen Markungen, wo sie notwendig ist, und die Kommunalisierung des gesamten Bodens auf denselben. Erst dann ist eine planmäßige Dezentralisierung oder Stadtverjüngung oder wie man den Vorgang be- zeichnen will, möglich.

Das Thomsonsche Buch ist ein praktisches Kompendium für jeden, der sich mit den englischen Wohnungsverhältnissen und den Be- strebungen zu ihrer Reform eingehender beschäftigen will. Theorien, ohne die in Deutschland auch nicht die kleinste Broschüre über die Wohnungsfrage geschrieben werden kann, enthält es nicht, um so mehr „facts". Deshalb ist auch eine angemessene Besprechung seines reichen Inhalts in dem engen Rahmen unseres Berichtes ausgeschlossen. Es sei nur darauf hingewiesen , daß das Buch außer einer Darstellung alles dessen, was auf dem großen Gebiete der Wohnungsreform in England

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insbesondere von der Local Authorities bisher geleistet worden ist, auch eine Analyse und einen Abdruck der wichtigsten auf die Hau- sung der arbeitenden Klassen sich erstreckenden Wohnungs- und Ge- sundheitsgesetze enthält.

Sehr richtig weist W. Lehweß in seiner oben erwähnten Schrift darauf hin, daß die Logierhäuser common lodginghouses, wie sie in England heißen , Ledigenheime, wie man sie geschmacklos verdeutscht hat in Deutschland fast unbekannt sind, und bedauert es, daß noch keine Stadt ein solches Logierhatis errichtet hat. Zugleich entwickelt er kurz die Grundsätze, die auch unseres Erachtens bei dem Betriebe solcher Häuser maßgebend sein müssen. Die Logierhäuser sollen nicht als Wohltätigkeitsanstalten erscheinen, die die Besucher zu Almosen- empfängem herabdrücken. Ferner dürfen die Hausordnungen nicht zu streng sein, so daß die Leute vom Besuche abgeschreckt werden, noch dürfen sie dieselben in politischer oder religiöser Hinsicht beeinflussen wollen. Erst in neuester Zeit richtet sich auch in Deutschland und Österreich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Errichtung solcher Ledigenheime und ist man in verschiedenen Städten, wie Fürth, Essen, Münster, Wien usw., ihr näher getreten. Mit ihr beschäftigt sich insbesondere auch der von uns schon erwähnte Vortrag L. Brentanos ,,Wohnungszustände und Wohnungsreform in München'* sowie (21) der 8. Jahresbericht des Kaiser Franz Joseph I. J u b i 1 ä u m s S t i f t u n g f ü r V o 1 k s w o h n u n g e n u n d W o h 1 f a h rt s - einrichtungen. Brentano bezeichnet sie in zutreffender Weise als die Vorbedingung für die Durchführung einer energischen Wohnungsinspek- tion, und auch der erwähnte Bericht sieht darin das wichtigste Mittel, um das Schlafstellenwesen in Wien gibt es ca. 75 80000 Bett- geher — mit seinen hygienischen und sittlichen Mißständen zu be- kämpfen.

Das wichtige Problem der Wohnungsfrage, inwieweit sich durch zweckmäßige Gestaltung des Lokalvcrkehrs eine energische Dezentrali- sation der Wohnbevölkerung bewirken lasse, hat zum ersten Male eine aus- führlichere Behandlung in der Schrift von (2 2) C 1. Heiß, Wohnungs- reform und Lokal verkehr, gefunden, die in der Sammlung des Vereins Reichs- Wohnungsgeseta : Die Wohnungsfrage und das Reich als Nr. 7 erschienen ist. Der Verfasser hat sein Buch in zwei große Teile geteilt, von denen der eine eine Beschreibung der Verkehrsmittel, der andere eine kritische Würdigung der bestehenden Verhältnisse und Ein- richtungen gibt. Daran schließt sich dann zum Abschluß eine kurze Zusammenfassung der Aufgaben der Wohnungsreform und eine Aufzäh- lung der Reformvorschläge an. Man kann füglich im Zweifel sein, ob diese Scheidung von Darstellung und Kritik zweckmäßig gewesen ist, namentlich da die Scheidung an verschiedenen Stellen vom Verfasser selbst aufgegeben wird, und kritische Bemerkungen in die Darstellung

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Hugo Lindemann, Zur Literatur über die Wohnungsfrage.

eingeschoben werden. Die Folge dieser Scheidung ist ein gewisser Mangel an Zusammenhang, eine gewisse Planlosigkeit, die den Wert des Buches leider beeinträchtigt. Einige Beispiele mögen den Nachweis führen. Heiß hat sich in zutreffender Weise nicht auf die deutschen oder kontinentalen Zustände beschränkt. Er gibt uns vielmehr an erster Stelle ein sehr ausführliches Bild von den Einrichtungen des amerika- nischen Lokalverkehrs, von dem, wie auch von unseren Technikern an- erkannt wird, noch viel zu lernen ist. Merkwürdigerweise schließt das Kapitel mit einer Kritik des europäischen Straßenbahnwesens, wobei dasselbe recht schlecht wegkommt. Ohne Widerspruch zitiert der Ver- fasser einen Angriff H. Vellguths in der Juninuramer des Street Railway Journal von 1902. Unter den Hindernissen, die der Entwicklung des elektrischen Betriebes in Europa bereitet worden seien, werden nämlich aufgeführt: „Schwierigkeiten, wie sie Betriebsgesellschaften infolge der Gleichgültigkeit der Munizipalitäten unter dem Vorwande der Sicher- heitsgewährung in den Weg gelegt werden, und wegen ihrer Politik, für Konzessionen und Rechte aller Art lächerlich hohe Gebühren herauszu- schlagen." Diese bis zum Überdruß vom privaten Straßenbahnunter- nehmertum wiederholten Behauptungen hätten von dem Verfasser mit aller Schärfe zurückgewiesen werden müssen, um so mehr als er doch sonst den Kommunalisierungsbestrebungen nicht unfreundlich gegenüber- steht. Um zu den Resultaten des Abschnittes über den amerikanischen Lokal verkehr zu gelangen, müssen wir einen großen Sprung von S. 33 bis S. 70 machen dazwischen liegt die Beschreibung der englischen und kontinentalen Verkehrsverhältnisse und finden dort einige kurze Bemerkungen über den Fünfcentstarif und die Umsteigebilletts. Dann erfahren wir auf S. 90 , daß der Lokalverkehr auf die Entwicklung der amerikanischen Städte einen unmittelbaren Einfluß ausgeübt hat, er- halten einige Seiten später einige Daten über das Wachstum der ameri- kanischen Städte, auf S. 116 wieder eine Notiz über die Senkung der Grundrente durch eine weitschauende Verkehrspolitik und können nun versuchen, uns aus diesen über das ganze Buch zerstreuten Be- merkungen ein Bild zusammenzuflicken. Ganz das gleiche gilt für die englischen Verhältnisse, und noch krasser für das deutsche Lokal- und Straßenbahnwesen. Von S. 55 ab, also im ersten beschreibenden Teile, wird der Berliner Lokalverkehr wesentlich im Anschluß an die von P. Voigt gegebene Darstellung behandelt, daran schließt sich ein Kapitel über die Straßenbahnen. Der 2. kritische Teil beginnt mit einem kurzen Kapitel über die Straßenbahnen, das im wesentlichen darstellender Natur ist. Ihm folgt ein Kapitel über die Staatsbahnen und den Lokalver- kehr, dessen zweiter Abschnitt die Vororttarife der außerpreußischen deutschen Eisenbahnen rein beschreibend behandelt. Beiläufig sei hier auf einen Irrtum Heiß' hingewiesen. In Baden wird das Kilometerheft nicht, wie er meint, hauptsächlich wohl von Geschäftsreisenden benutzt.

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Literatur.

Es ist im Gegenteil tief in die weitesten Kreise der Bevölkerung einge- drungen.

Im Mittelpunkt der Heißschen Untersuchung steht natürlich die Frage, ob der Lokalverkehr auf die Entwicklung der Städte einen Ein- fluß gehabt und ob er vor allem eine Dezentralisation des Wohnens bewirkt hat. Der Verfasser kommt zu dem Resultat, daß der Lokal- verkehr die Dezentralisation der Bevölkerung nicht unmittelbar gefördert, sondern nur einer weitergehenden Zentralisation entgegengewirkt habe. Den ersten Teil dieser These sucht er durch die Tatsache zu beweisen, daß ohne Rücksicht auf die Ausbildung der Verkehrsmittel sich in London das Einfamilienhaus, in Berlin und seinen Vororten die Mietkaserne be- hauptet habe. Heiß vermischt hier offenbar die Art des Wohnens mit der Art der Ansiedlung. Bei dem Problem der Dezentralisation handelt es sich aber in erster Linie um die Ansiedlung der dem Großstadt- zentrum zuströmenden Bevölkerung nicht in der Großstadt selber, sondern in den Vororten und Nachbargemeinden. Ob sich in diesen die groß- städtische Art des Wohnens, also die Mietkasernen, oder das kleine Miet- und Einfamilienhaus durchsetzt, ist erst die zweite Frage. Daß der Einfluß des Lokalverkehrs auf die Art des Wohnens wenigstens in den deutschen Großstädten nur ein sehr geringer gewesen ist, räumen wir ohne weiteres ein. Daraus folgt aber noch nicht, daß der erste Teil der Heißschen These bewiesen ist. Die Ansiedlung in den Vor- orten ist doch auch im Berliner Gebiet nur durch die Eisenbahnen und Straßenbahnen möglich gewesen. Vorbedingung für den Aufschluß von Terrains in den Außenbezirken und für die Gründung von Wohnkolonien ist die Anlage einer Eisenbahnhaltestelle oder Anschluß an die Straßen- bahn. Es sei hier ferner auf die interessanten Untersuchungen hin- gewiesen, in denen Großmann (Die kommunale Bedeutung des Straßen- bahnwesens, Dresden 1903) den dezentralisierenden Einfluß der Dresdener Straßenbahnen auf die Dresdener Siedlungsverhältnisse nachweist. Ob sich diese dezentralisierende Bewegung so vollzieht, daß sich die ein- wandernde Bevölkerung in den alten Stadtvierteln des Zentrums nieder- läßt und die dort ansässige in die Außenbezirke verdrängt, oder ob sie gleich in diese einwandert, ist hierbei nebensächlich. Das kann ferner Heiß unbedenklich zugegeben werden, daß durch zweckmäßigere Anordnungen die dezentralisierende Wirkung des Ix>kalverkehrs noch in ganz anderer Weise ausgelöst werden könnte, als bisher. Die hohen Tarife der Eisenbahnen für größere Entfernungen des Nahverkehrs, der mangelhafte Ausbau des Eisenbahnnetzes im Umkreis der Großstädte, das Fehlen des Schnellverkehrs im Nahverkehr, die ungeschickten Fahr- zeiten des Vorortverkehrs, die durch die Zugfolge des Fernverkehrs be- dingt sind, alle diese Umstände tragen daran ihr Teil Schuld. So wird die Vorbedingung der Dezentralisation, daß die Mietpreise der Vororte plus Fahrgeld niedriger sind, als die Wohnungen im Innern des Großstadt-

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Hugo Lindemann, Zur Literatur über die Wohnungsfrage.

Zentrums, auch deshalb nicht erfüllt, weil der eine Faktor, das Fahrgeld, zu hoch ist. Widmen wir zum Schluß den Reformvorschlägen des Ver- fassers noch einige Worte. Im Anschluß an Dr. A. Mülberger fordert er die Scheidung von Nah- und Fernverkehr und die verschiedene Be- handlung der beiden, Verbälligung der Eisenbahntarife, Einführung der Umsteigebilletts bei den Straßenbahnen, Ausgestaltung des Nah-Schnell- verkehrs, da es darauf ankommt, die stets größer werdenden Entfer- nungen des Vorortsverkehrs in kürzester Zeit zurückzulegen, und damit es möglich würde, die entfernteren Vorortbezirke zu besiedeln, und schließlich zweckmäßige Anordnung der Fahrpläne besonders mit Rück- sicht auf die Bedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung. Hand in Hand damit soll eine weitschauende Bodenpolitik des Staates und der Ge- meinden gehen. Es sind das alles Forderungen, die heutzutage nichts Neues mehr bedeuten, deren Durchführung aber an der Trägheit und Herrschsucht der staatlichen Bureaukratie, soweit der Staat, an dem Wider- stand der Haus- und Grundbesitzerklasse, soweit die Gemeinden in Frage kommen, stets gescheitert ist. Das ist auch Heiß nicht unbekannt, weist er doch selbst auf diese Widerstände hin. Trotzdem beläßt er das ganze Eisenbahnwesen in den Händen der Staatsbureaukratie und glaubt durch die Aufstellung von besonderen Beamten für die Leitung der neu zu schaffenden Nahverkehrs-Zonen und die Einrichtung von Lokalverkehrs- beiräten sein Ziel zu erreichen. In größeren Städten sollen Lokalver- treter- und Stadterweiterungskommissionen gebildet werden. Ja, wenn es mit der Einsetzung von Kommissionen getan wäre! Die meisten unserer Sozialreformer haben einen wunderbaren Glauben an die Allmacht staatlicher Verwaltungstätigkeit und Gesetzgebung. Als ob man die Wohnsitten eines Volkes, den gesamten Produktions- und Distributions- mechanismus einer Gesellschaft mit ihnen fundamental umgestalten könnte. Darauf laufen aber die Vorschläge der Stadtverjüngung, der gartenmäßigen Ansiedlung usw. hinaus. Aufs engste mit dieser Überschätzung verbindet sich femer bei ihnen das Mißtrauen gegen die selbstverwaltende Demo- kratie. Solange es aber nicht gelingt, deren Kraft in Bewegung zu setzen, nachdem man ihr die heute überall versperrte Bahn frei gemacht hat, solange nicht das Fühlen und das Erkennen des Bedürfnisses das freie Handeln der Volksmassen auslöst, wird auch die Wohnungsreform sich in dem engen Rahmen erfolglos abmühen, in den sie seit Jahrzehnten gezwängt ist.

Lippen tf Co. (G. Päu'iche DucMruekereii, Naumburg a. S

Rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät Freiburg i. B.

Preisausschreiben der Dr. Rudolf Schleiden-Stiftung.

Die rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät Freiburg i. B. setzt in Gemäßheit der bei ihr bestehenden Dr. Rudolf Schleiden- Stiftung einen Preis von

Eintausend Mark

für die beste Arbeit über folgendes Thema fest:

„Die Zunftgeschichte Freiburgs i. B."

Genauere Angaben über das Thema und über die Bedingungen der Preisbewerbung können von dem Sekretariat der Universität bezogen werden.

Freiburg i. B., den i. August 1904.

Der Dekan: gez. Rosin.

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