—AI

FROM THE BEQUEST OF

Evert Jansen Wendell

*

On PET Nr —— u We BP - >, = PR

4

* —*

Die Schaubübne

Herausgeber Siegfried Jacobſohn

Dritter Jahrgang | Erfter Band

Oeſterheld & Co. | Verlag | Berlin 1907

LIBRARY

Jen 26, 1450

Y

Sachregiſter

Die fetten Ziffern bezeichnen die Nummern, die magern die Seiten des dritten Jahrgangs

Academie, Ein Offizier der a 237 Aglavaine und Selyfette . . . nenn. 18 448 135

Alten Heim, Im (Guftav Coma) i Amerifanifhe® . . Er

Antoined ‚Zulius Cäfar‘ j

Applaus, Der .

Bahr, Der Kritiker . Belletriftifches Die Schaufpielerin : Beantwortung einer Anfeage ee Me Eine Theatervorftellung - » > 2 2 2 220202. 10 254

sy ©. nun so 2 in

In der Provinnng.. nen. 12 307 Die Taolentprobe . » > > 2 2 2 nenn nn. 14 357 Kapentbeatr . > 2 nn US 461 Euftfpielabend . > 2 2 m nr nenn u RL 532 Eine Schaufpielerin - 2 0 nn 24 600 Kleiſt m Sbun:. . - > 2 2 2 2 0 25 621 Beerbohbm Tree, Bon . nn. 17 424 Benignend Erlebnid (Eduard von Befeling) nn. Hl 275 Bergftröm, Hialmar . . er a 19888 Berihtigung . . en a 24 608 Berliner Gaftipiele in "Bien —F ee a DLE Berliner Oper, fiehe: Oper, Berliner ‚Berliner Theater . . . rennen. 13 333 Berliner Theater*) D Wingelfpiel Bahr) . . . . Er —— 3: Mifh und Philippi (Kinder. Der Seifen 2. 1 80

) A= Stammerfpiele des Deutfchen Theaters, B= Schaufpielhaus, D = Deutſches Theater Sigaro, H = Neues Schaufpielhaus, K = Kleines Theater, L = Leffingtheater, N = Neues Theater, O = Kroufches Theater, S= Schillertheater. W = Theater des Weſtens. Die Klammern ( ) bedeuten, dab die Vorſtellung nur in ben Räumen, nicht von dem ftändigen Enfemble des Theaters gegeben worden iſt.

IV

D Goethe: Geſchwiſter, Die Mitfchuldigen. B] ſlaſſiſches Enuis: Wallenſteins Lager, Die —* 2 lomini L bſen: Wenn wir Toten erwachen. A} Briedensfefe Hauptmann: Das Friedenfet) H Herthas Hochzeit (Mar srl ; —F (N) Suzanne Deöpr&d . . A B Wallenſteins Tod (Schiller) j D Romeo und Julia (Shafefpeare) . . L Die Zungfern vom Bifchofsberg (Hauptmann) ndrejew: Zu den Öternen. Delmar- N} Zwei Welten (* von Kablenberg: Meißner Doreen) F Scheerbartſpiel (Fünf Alte Revolutionäres Theater) . L Der Kal Brahm (Hirfchfeld: ER und m K Die Kralle (Henri Bernflein) . . ; 51 Kainzend und Matkowskys Sao. . - » . . 10 4 Bon Kain; undandern Dingen (Shen es Eifer) 11 S Scillertheater (Schiller: Die Räuber, Rittner: Narren- glanz) 11 2 Zwei Jbfen- Aufführungen ——— 30) 12 K Kleines Theater (Heijermans: Allerfeelen) . . . . 12 D Der Gott der Nahe Ah) . . ... | Shafefpeare: Was ibr wollt. x

—A

J Komoͤdien und / Beaumarchais: Der Barbier von A Komödien Sevilla, Die Hochzeit des Figaro Sbfen: Komödie der Liebe N eitiferd Taftifinder ET ; BVorbeftraft) 14 (W) Mandragola (Mackhiavell) . a |.“

N Der Dieb (Genri Bernflein) . > 2 22.2..16 B Die Rabenfteinerin;MWildenbruh) . . » . . .16 (L) Marguife (Sardou) 16

(0) Bon Beerbohm Tree (Shatefpeare: Richard a ın

K Die Pächterin von Litchfield (Melt) i A Aglavaine und Selyſette (Maeterlind) . . 18 (K) Wiener Bürgertheater Franz: Das Kuckucksei, Hawel:

Beimtehn) 18 A Gpged und fein Ring (Hebbel) . 19 > Ein Falliffement Bihrnfon) . . 2 2 22

HI Poſſen Naeder: Nobert und Bertram. Wilfen: (D) Hopfenraths Erben. Pohl: Der Zongleur,

S Schillertheater( Hebbel: Moloch, Dinter: = K Der Kanmerfänger (Wedefind) a

40

63

Berlind neue Theaterbauten . . Berlioz, Tſchaikowsky und . Berner Theater. ; Bernid, Die Rettung des Role Vvorſencomier, a Bonn, Für A Brahm Der Fall Breslauer Theater . Bromwning, Robert als Dramatifer. nen NE: u ae ee ee re AO Birherbefprechungen Karl Scheffler: Zur Entwirrung der Kunftbegriffe Hermann Bahr: Gloffen. Zum wiener Theater . Theodor Sternberg: Charafterologie ald Bifenfhaft. Georg Gellert: B hnen-Defameron a Paul Ernft: Der Weg zur Form. . A Paul Wertbeimer: Die Frau des Baiab. Meuer Theateralmanah . . . Walter Turszinsky: Berliner Theater. ng Hermann Bahr: Grotedfen.. . ; Durch Irren zum Gluͤck. Tagebuchblätter von beobei Karl Felner: Zur ChriftußsTragödte . . . Friedrich Kayßler: Der Pan im Salon . . . Alfred Schmieden: Die buͤhnengerechten Einrichtungen” der Schillerſchen Dramen für das Königliche WERTE zu Berlin. Wilhelm Tell : } Meter Alvor: Das neue Shafefpeare-Evangelium ; Bühnenfauft, Zum Buͤchnenſchriftſteller, oen ſetin der deut Öereidien - Buͤhnentalent, Was iſt —?. . j Blrgertheater, Wiener Burddard, Mar . Burgtbeaterfandidaten .

Ebarlottenburg, Das eig in Ehinefifche, Dad Drama . Ed Ehriftine Sebbel . . . . Ehriftus-Tragddie, Zur .

Darwin und dad Drama . .

Davids, 3. J. Werke

Desprèͤs, Suſanne

Deſtinn, Emmy

Deutſche Uraufflihrungen, ſiehe: uUrauffuͤhrungen, Deuiſche

VV ————— 2522453235

=

—_ DD S

VI

Deutſches, Ein Weihnachtäfptel . Devrient, Mar —. . Dialog vom Sherlod Holmes 5 Dichter und Dieb, Der . . ; Dinfpel, Anton . i IR Darwin und dad Das dhinefi Ihe Journaliſten m —. . , Über dad Dtto Gadmiat , Wege zum j Dramatif, Holländifhe ; Dramatifer, Nobert Bromning als Dramatiſches Der Andere. . . Doftor Eifenbart . . Die Witwe von Epheſus Dramaturgie als Wiſſenſchaft Dramenbeſprechungen

Wilhelm von Scholz: Meros. Oscar A. H. Schmitz: Der Herr des Lebens; Montmartre Otto Hinnerk: Cyprian. Franz Duelberg: König Schrei;

Eduard Goldbed: Krüppel . . . .

Kurt Martend: Der Freudenmeifter . Dresden

Sm alten Heim (Guftav Esmann)

Dresdner Hoftheater u rue) .

Dur Seren zum Glüd . Dufe, Frau

Einakter von Strindberg . . Elberfeld, Das neue Thaliatheater in. Elſaͤſſiſches Theater Entwirrung, Zur der Kunſtbegriffe Entwurf zu einem

Epigramme .

Eulenberg, Uber Herbert

„„Von und Muͤnchhauſen

Fall, Der Brahm Falliſſement, Ein . Kauft

Zum Bühnenfauft .

MWitkomsfis ‚Kauft‘ in Reipjig . .

Der zweite Teil des ‚Faufl‘ am Varstheate Fiorenza (Thomas Fed. . Florettwechfel, Der im „Banlet Form, Der Weg zur Franzöfifchen, Die Moralität des Theater. Frau des Rajah, Die . Friedenäfefte . es te Fi

Gaftfpiele, Berliner in Wien . Gawaän (Eduard Studen) Gedichte

Epigramme .

Bühne .

Srols Sterbelied .

Ballade . .

Liebhaber von Senf.

An Tolftoi .

Erfter Sturm :

Das Theater

Leſſing . .

Adam und Eva

Märhenfpruh .

Schaufptelerd Antwort

Shell. . .

Schwangefang .

Ecce Germania —F

Spinnſtubenlied vom Himmel

Einblick

Trauerſpiel

Im Turm der Winde

Sappbifhe Dde . .

Die Braut . .

Los

Graue Stunde . j

Nabe Verbundene ; 5

Die Stadt am Strande .

Dämmerung .

Komsdiantenlied

Der Findling Simeon —PF

Der Meiſter und die —— Gefaͤlligkeitsakzepte. Geſchaͤftsmann, Dichter und Girardi und Nieſe. Gott der Rache, Der

VII

412 548 558

VIII

Grillparzer

Der Traum ein Reben

Cihbufa . . Große Baal, Der Suftao German Grotesken

Gpged und fein Ring

Hamburg

Gefaͤlligkeitsakjepte (Andres: Alkeſtis, Roettiger: in tebe)

Hamlet, Der Florettmechfel im . Hauptmann, Gerhart

Die Weber in London

Das Friedendfelt . .

Die AJungfern vom Biſchofsberg

Hauptmann jenſeits vom Naturalismus

Hauptmannd ‚Florian Geyer‘ Hebbel Ehriftine Hebbel Die Er ; Die aufptelerin Gyges und fein Ring . Durch Seren zum Gluͤck Ein —— Moloch . . Herbarium . . Herthad Hochzeit ‚Hidalla‘, Wedekinds Hoftheateraffäre, Die männer Hoftheaterprozeß, Der muͤnchner Hollaͤndiſche Dramatik F

Ibſen Wenn wir erwacen . Hedda Gabler . Die Stüben der Geſellſchaft Komoͤdie der Liebe Die Rettung des Ronfuld Bernick Ibſen fuͤrs Bolt . . Ibſen⸗ Auffuͤhrungen, Zwei . Idealtheater, Ein —J

Journaliſten im Drama . Judenſtuͤcke N Jungfern vom Biſchofoberg, Die

22 556°

Juriſtiſches Die Plaͤtze men. den Volontaͤre Theaterrecht

Kainz, Bon und andern Dingen . Kainzend und Matkowskys Kammerſaͤnger, Der . . KRafperletheater Berliner Taffopremieren . Aus den Theaterfanzleien Kleines Theater . . ; Ein fhddeutfches Softbente Bunbuy. . . . ; Die beimliche Premier ; Menfhen . ; : Am Citeraturcafe ; Meißner Porzellan . .

Brieffaflen - © > ...9 35 10 257 12 310

Gonfetti . . Eine figlige Geſchichte Bei Jacques Merk Theaternachrichten Der Intendant. An der Antihambre . . Ein intereffantes Gaftfpiel Rautenburgs Abfchied . . Kennen Ste Meier? . MWiedbaden . h Das Kritiferzimmer Der Kunft eine Kaffe . Die ne Kayßler, Friedrich ‚Kientopp‘, Der Kindes, Die Shenfieltum des —. Klaſſiſches —F Kleines Theater Kleift-Darfteller, Mas brauht e es zu einem _? Kleift in Thun . . . i Komoͤden und Komsbdien . ; Komddie (Kurt Martend: Der Greubenmeiten und Zeitfritif . j Kopenhagen . . Korallenfettlin Franz Duelberd Kralle, Die —. . Keippenfpiel, Ziroler —.

IX.

L 286: 4 101

26 642

. 11 267 . 10 247 . 25 631

1 21

2 53 5 130 3 9 4 104 6 155 7 179 8 210 5 381 11 281

. 11 281 . 13 331 . 14 360 . 16 409 . 17 434 . 18 465 . 19 489 . 20 509 . 22 553 . 23 585

. 26 652 . 23 565

12 314

X

Kritifer, Der Bahr . . j Kritifers Taftif in der Verdammnis Kritikerzimmer, Das

Krüppel (Eduard Goldbed) . Rulturwert, Bom des Theater . Kunftbegriffe, Zur Entwirrung der

Leipꝛig

Witkowskis ‚Fauft‘ in Leipiig . . -

Der große Baal gan Lewinsky, Joſehh . . . London

Die Weber in London

Die londoner Oper .

Bon Beerbohm Tree. . ;

Shaw und Wedelind in London Ludwigs, Über dad Drama Otto

Mandragola Mannheim

Bon Eulenberg und feinem ——

Mannheimer Marquiſe Matkowskys, Kainens und Taſſo Merve (Wilhelm von Schol;) . Miſch und Philippi . . Moderne Sklaven, fiehe: Sklaven, Moderne Momentbilder von fremden EN Weiber in der Arena . Sndifhe Pantomime .

Hahnenkampf Bibelbilli

Monſieur L. Schoͤnboff Monte Carlo in Berlin .

Moralität, Die des framöfiigen = Sheet

Müller, Hand

München Der Traum ein Leben . Die Waffen nieder (Mobert Neinert) . Die münchner Hoftheateraffäre . gran Doc . s

orallenfettlin Fran; Duelberg)

Gawn (Eduard Studen) . . . Ein Spealtheater .

412 414 277

29 181 424 629

85

388

312 559 415 247 612

30

19 50 76 126 107 398 111 386

122 283 378 411 478 524 529

Der müncner Hoftbeaterproseh - > 2 2.2.2.%2

Merve (Wilhelm von Shol)) . . : 2: 2 2.2.2. %5 Muͤnchhauſen, Bon Eulenberg und feinem . . . . . 12 Namen ded Könige, Im ae er are Naturalismus, Hauptmann ee vum —. .: 22.2 ..4183 Neuer Theateralmanadh . . a a een 2 U Miefe, Sirardi nd . : > 2 2 2 m nn nn. 17 Offizier, Ein der Academie. . - : 2 2 2 22.2.9 Dper, Berliner )

K Puccini (Zotca) . . 4

K Romeo und Julia auf dem Dorfe (Frederif Delius) 9

Alerander Ritter: Der faule 0) Oper und Operette | Gfaude Terraffe: Paris . 1 H\ Tſchaikowsky und Berlioz Pique Dame, Fauſts Ver⸗

K dammung) 13

H Monte Carlo in Berlin. . . . 2 22.22.16

Die Londoner . . Be an le A nern a

Bari ifer a er ee ee rer ii 20

Operngaftfpielreifen J 17

Organiſation der beutſch⸗oſterreichiſchen Buhnenſchriftſteller .29

Paͤchterin von Litchfield, Die ——.... 417 Paris

Suzanne Desproͤ . 4

Antoines ‚Zulius Cäfar‘ . N a

Pariſer Over . . 2 2 2 2 2 22,8 2ll 20

Pathos, Vom neuen RE |

Peints par eux-m&mes (&hhnen-Defameron) . . 6

m Miſch und ; 1

Plaͤtze, Die den Säulen . 1

Hoffen . 24

re . . 8 Preſſe, Di

Bahr: Miſch: Kinder. ae: * zii 1

Hauptmann: Die Jungfern vom 7

Hirſchfeld: Mieze und Maria . . 9

Nittner: Narrenglani. . . ‚1

Ah: Der Gott der Rache 13

Wildenbruch: Die Rabenſteinerin. Mell: Die pachierin

von Litchfield 17 Provinz, Zenfur in dr . . . 2 2 2 2 nn. 4 Mierhofer, Artbur —. . : 2 2 2 2 nn 4 SBREREE: A 6666

2) F Figaro, O = Königliche Oper, K = Komiſche Oper

Al

Mabenfteinerin, Die . Negieführung um 1800 .

Nepertoire, Dad eines deutfchen T Theater

Rettung, Die Konfuld Bernid Rezitation und Golofjene Nichtiaftellung .

Ningelfpiel .

Nittner ;

Nomen und Zulia ,

Nomen und Zulia auf dem Dorfe GSrederik Delius) .

Säulen, Die Pläße hinter den: Schaufpieler (und Sänger) Emmy Deftinn Thielſcher

Suzanne Despres Mar Devrient . . Chriftine Hebbel .

Kainz

rau Dufe.. Sirardi und Niefe Nittner .

Die Rettung des Konſuls Bernick Mitterwurzer. Baſſermann.

Friedrich Kayßler Weidemannn e

Schaufpielfunft, Die des Kindes J

Sceerbartfpiel . Scyillertheater .

Schillertheater, Das in Sarlttenburg

Schoͤnhoff, Monfieur 8. Schultheater Er Schwänfe Shafefpeare Momeo und Yula . . Antoined ‚Julius CAfar‘ . Was ihr wollt.

Hartmann

Bon Beerbopm Tree Richard der Zweite, Hamlet)

1m

Der Florettwechfel im .„Bamlet‘ . » 2 2 2202.89 492 Das neue Shafefpeare-Evangelum . . » : 2....%6 637 Shaw :und Wedekind in London . 2 2 2 2 25 629 ‚Sherlod Holmes, Dialog vom . . 2.2.2. . 412 304 Sfandinavifches Theater - > > 2 2 2 nn 42686 646 Sflaven, Moderne I Einleitunng. nenn. 14 355 II Der Vertrag 15 371 II Sntendanten und Direktoren Deutfche Vuͤhnen. genoſſenſchaft Theateragenten . . . 16 403 IV Rlınftlerifehe und Konturen der ' Bühren- fünftlr . . . . 17 429 V XAbbülfe. . 48 451 VI Beifall und Hervorruf Kritit 19 482 Soloſzene, Rezitation und . . VF 12 813 und Szenenſoloooo. . 20 516 Spiel, En —. : > 2: 2 N nn nn nn nenn 26 637 Strindberg Über Strindberg . . a er Se ee an ar Einafter von Strindberg. nee... 18 455 Strindbergd ‚Traumfpiel‘ . > 2 2 2 2 020202..8%0 513 Taſſo, Kainzend und —“ —, .10 247 Terafoya . . Led re a er hr Thaltatheater, Das neue in Elberfeld nn. RO 514 Theateralmanah, Neuer 2 2 22 in... LO 258 Sheaterbauten, Berlind neue . » 2 2 2 20. 1 10 Sperteerelt - - 2 - 2 0 0 nen 2306 688 Thielſcher . ne ne der De ren ee ee ar Tiroler Rrippenfpiel De a ee a a ae er A aa er Tragifhe, Dad . A 20.2... 419 469 Zraum ein Leben, Der (Gritpanıen er 5 Tree, Von Beerbohm ... ee ei 424 Trpjaner, Die (Berlio)) >: » > 2 2 2020200020. 40 260 Tſchaikowsky und Berl . » > 2 2 N nn nenn. 13 322

Mraufführungen, Deutfhe 3 84 4 110 6 162 7 188 8 214 9 210 10 264 11 290 13 333 14 364 15 390 16 416 18 468 20 518 21 538 24 608

Ballentin, Richard : 2: 2 2 20 502 Darists und Theateer. 13 3236 Bolontire . . . .. 242 Me A

Moripiel, Entwurf zu einem NER ET ER 2410 428

XIV

Waffen nieder, Die —! (Mobert :

MWallenfteind Tod . . . Was braucht ed zu einem Rtef-Dartelkert Was ift Bühnentalent? . . . . Mauer, Herr William Weber, Die in London . Wedekind, Shaw und In London . Mebdefinds ‚Bidalla‘ j Weg zur Form, Der Mege zum Drama. . . . Weidemann, Friedrih Meibnachhtöfpiele . . j Weihnachts ſpiel, Ein deutfches - Weisſtein, Gotthilf . = Wien

Mar Burdhard

Der Kritifer Bahr

Grillparzer . Sournaliften im Drama . Die Frau ded Rajah. Benignend Erlebnis . Lewindy .

Baridtd und Theater . Hand Müller .

Siardi und Miele. . . Einafter von ia Judenſtuͤcke

Wiener Bürgertheater Wedekinds ‚Hidalla‘ . Nichard Ballentin. . Die Rettung des ‚Konful Bernick

Der zweite Teil des ‚Fauft‘ am Burgtheater

Hauptmannd ‚Florian Geyer‘ . Friedrich Weidemann. . . . Berliner Baftipiele in Ein Spiel

Wiener Notizen

Miedbaden . A k

Wiſſenſchaft, Dramaturgie als —.

Witkowskis ‚Fauft‘ in Leipzig

Beitfritif, Komddie und Zenfur in der Provinz Zwei Welten . .

. 11‘ 283

%

un 2 —2

RO = De

Autorenregüter

Die Ziffern bezeichnen die Seiten des dritten Jahrgangs

A., U. 652 Adelt, Leonhard 435 Altman, Georg 233. 412. 492

Bab, Julius 1. 33. 56, 94. 137. 193. 271. 313. 333, 443, 475. 490. 516. 536, 555. 565. 618

Bahr, Hermann 163. 205

Balthafar 489, 585

Bergman, Bo 513

Bernauer, Rudolf 628

Berftl, Julius 571

Bethge, Hand 552

Blafe, William 300. 504

Bodman, Emanuel von 170. 488

Borde, Albert 55

Brandes, Georg 193

Braun, Felix 315. 447

Braungart, Richard 378, 529. 560

Brieger-Wafferoogel, Lothar 291

Earoffa, Hand 535

Ehriftian 155

Elown 355.371. 403, 429. 451. 482 Cohn, Alfons Fedor 157, 646 Cohn, Williani 200

Euno 642

Devrient, Eduard 610 Diehl, Earl 588

Eeden, Frederik van 215 Elchinger, Richard 57. 285 Emerfon, Ralph Waldo 469 Emwerd, Hannd Heinz 19. 76. 126

Faldenberg, Otto 539

Feder, Ernft 133

Fellow 409

Fern 556. 608

Fred, W. 50

Frefe, Heinrich 514

Freund, Franf 29. 181. 629 Friedel, Egon 105. 122. 304 Fuchs, Georg 68

Geiger, Benno 641

Gever, Emil 365

Goldbeck, Eduard 189. 284

Greiner, Leo 59. 241. 283. 478, 524, 612

Greve, Felix Paul 154, 570

Großmann, Stefan 637

Handl, Willi 46. 72, 147. 185, 194. 251, 277. 326. 386. 391. 417. 458, 502, 519, 548. 589.

615. 644

Hardefopf, Ferdinand 30. 83. 134.

160, 213. 238. 363, 389. 467

Hauptmann, Hand 136

XVI

Heilbut, Felix 28 Hermann, Georg 10 Hotho, Friedrich 174

Iſolani, Eugen 537

J. ©. 6. 40..63. 90. 114. 143, 171. 205. 221. 247. 269. 295. 319. 346. 382. 395. 415. 424.

448. 499. 545. 593. 631

Kahn, Harry 592

Kauder, Guftaf 600

Kayßler, Friedrich 9. 37. 89. 245. 230, 318. 370

Köhrer, Erich 82

Kronau, Arthur 467. 525. 561

Kuh, Emil 141

Kutfh 609

2., P. 106

Lautenſack, Heinrih 563 Fiber 210. 434, 553. 604 Liffaner, Ernft 62. 364 Lunovis 179, 281. 331 Lyck, Hugo 651

Matta-Fatta 79

Mel, Mar 85

Mell, Roman Albert 411-

Michel, Wilhelm 265

Momud 465

Morgenftern, Chriſtian 5.118, 220. 345. 423

Meiffer, Arthur 211. 260. 511

Olden, Balder 212. 237 Olden, Hand 107

Peterchen 21 Polgar, Alfred 275. 352. 455. 493

Meiß, Walter 262

Salten, Felix 221

Schmig, Oscar U. H. 111 Sebaſtian 281

Servaes, Franz 339

Sindheimer, Hermann 184. 312. 559 Specht, Richard 596

Speth, Willi 491. 587

Tausk, Victor 439

Telmann, Frig 42

Tieck, Ludwig 609

Treitel, Nihard 26. 101

Trinfulo 53. 104

Turszinsky, Walter 26. 83. 110, 188, 258. 314. 388

Walfer, Robert 132. 177. 236. 254. 282. 307, 357. 394. 428. 461. 532, 621 Warbeck, Hand 16. 118. 230. 287. 322, 393 Weiße, Kurt 58. 414 Weyl, Martin 606 Wertheimer, Julius 558 Wildberg, Bodo 135. 506 Minds, Adolf 151

Hiller, Fran; 433 Zwid, Doftor 130

Gedruckt bei Imberg & Lefſon in Berlin W.

a aa 1 2 * ur: 2W er „uulviuuun! „vuuvsvuuviuun, I A ar 0 u I

» SE » 5

Ei N Be

3. Januar 1907 * III. Jahrgang Nummer 1

* ee Drama] von Julius Bab

Itwas mehr ald ein Jahr ift vergangen, feit ich in diefen Blättern meine Betrachtungen über die jlingfte Generation unfrer dramatifhen Dichter, über ihre Ziele und ihre Wege zum Drama abihloß. In einer Epoche ftarfer, vorwärtd treibender Entwidlung wäre ein Jahr mehr ald genug, meinen Befund von damals gruͤndlich ver- alten zu machen. Niemand follte ſich mehr freuen als ih, wenn ich heute befennen fünnte, daß neue Taten der fchon damals be- fannten oder dad Auftauchen ganz neuer Talente den aftuellen Teil jener Betrachtung überholt haben, daß neue, ganz unvermutete Wege gewiefen find. Es ift nichtd derartiged gefhehen. Ein paar Feine Hoffnungen, ein paar leichte Enttäufhungen bat das vergangene Jahr dem Beobachter unfrer dramatifchen Produktion gebracht. Aber feine Tat gefchab, Fein Blitz zuͤndete, fein fefter Vorwaͤrtsgang war zu fplren und wenn wir auch nicht muͤde werden wollen, und zu fagen, daß jede Stunde diefer Kunft den Bollender gebären fann, und daß troß allem das Land voller Zeichen und Verheißungen auf feine Ankunft ift, foviel müffen wir und eingeftehen: ermutigend, luft- weckend ift der Umblick über die fo ernfte, fo gluͤckloſe dramatiſche Arbeit der Gegenwärtigen in Deutfchland nicht. Es ift nicht das Schaufpiel einer ftarfen, aus der Fülle blühenden Epoche. Wohl find Ernft und Einficht in den legten Zahrzehnten, wie auf allen fünftlerifchen Gebieten in Deutſch⸗ (and, auch in dramaticis gewaltig gewachſen aber die Kräfte wuchfen nicht in gleihem Grade. Iſt ed nicht lähmend, heute zu feben, daß Frank Wedekind die dichterifche Vollkraft feined Erftlingd (Fruͤhlings Erwachen) in feinem Punft je wieder erreicht hat? daß Hofmannsthald Produftion immer mehr dad Schaufpiel eines gebildeten Geiftes ſtatt einer bildnerifchen Kraft bietet? daß die bitterernfte Mühe eines Eulenberg ſich in immer gleichem, zu engem reife dreht, daß frohbegrüßte Talente enttäufchen, und daß die Belten unter den Neuanfömmlingen talentvolle aber —— ſchlechte Stücke ſchreiben?!

Talentvoll und ſchlecht: das ift Überhaupt die betrübende Signatur, die die fo refpefteinflößende, ernfthafte, menſchlich und aͤſthetiſch hochſtrebende Produktion des Nachwuchſes heute zeigt. So Üiberfchlittet find wir mit talentierten, intereffanten, nahezu bedeutenden, faft genialen und legten Endes doch dilettantifch ohnmächtigen Produftionen, dag man oft genug in Gefahr gerät, fein aͤſthetiſches und fulturelled Gewilfen zum Teufel zu jagen und fich ein, auf welcher Bafid auch immer, Flar, kraͤftig und ficher durch⸗ geflihrted Theaterſtuͤck berbeizufehnen. Was und vor diefer Gefahr bewahrt, ift dann freilich die geiftige Gemeinheit, die feelifhe Roheit, die Fulturelle Verlogenheit unfrer geſchicktern Buͤhnenhandwerker. Mein, dann noch lieber den trümmerbafteften Eulenberg ald den perfefteften Sudermann. (Und diefe Sudermannd find feit einigen Jahren nicht einmal perfekt.) Unſer Zeitalter bat feinen Theaterfchriftfteller von dem Geſchick und der relativen Unfchäd- lichfeit eined Kotzebue oder Raupach. Bei und heißt es gleich Blumenthal oder Philippi. Mein, es ift bei uns, gottlob oder leider, unmöglih, vor Verdruß Über die ſchlechte Kunft das gute Handwerk zu loben. Wir fallen der Scylla der gebaltlofen Könnerfchaft nicht anheim und fo verfchlingt und die Eharybdis: Talentvoll und ſchlecht.

Talentvoll und ſchlecht find merfwürdigerweife aud) die Produftionen jener Männer zu nennen, die ald Wiffende der dramatifchen Form, ald bervor- ragende Analptifer fyenifcher Wirkungsmoͤglichkeiten beftimmt fein follten, gerade „gute”, das beißt bühnenmögliche und buͤhnenkraͤftige Stüde zu ſchreiben. Es ermweift fi) aber, daß ihre Theorien uͤber die ideelle Konftruftion des Dramas praftifch völlig unerheblich find, dag ohne finnlid überwältigende faenifche Erfindungen, ohne feelenaufrührende Wortfhöpfungen die aller forrefteft gebauten Tragddien und Komödien und eidfalt laffen. Und wenn diefe Stuͤcke nicht blos ſchlecht, will fagen zu ſchwach zum Bühnenleben, fondern dabei auch talentvoll find, fo kommt das nicht daher, daß ihr Grund⸗ riß richtig fonftruiert ift, fondern lediglich Davon, daß diefe Theoretifer nebenher und nur nicht genug Dichter find, Dichter, die wenigftens in Momenten ihren Aftpetifch leeren Gedanfenaufrig mit finnlihen Farben der Sprachfunft zu flllen vermögen. Ich denfe dabei vor allen an Paul Ernft, von dem im Laufe des letzten Jahres nicht weniger ald vier dramatifche Dichtungen erfchienen find. Keines diefer allzu planvoll gebauten Werke ift wirklich gut, ganz durchftrömt von wirkſam fünftlerifchem Leben. Aber in allen gibt es böchft talentuolle Stellen; Zeilen vol lyriſcher Kraft, ſzeniſche Bilder voll großer Anfhauung. Mur daß im Ganzen ded Werks ſich nie diefe unwillfürliche Kraft offenbart, die aus dem Gefühl ind Gefuͤhl wirft, fondern einzig die Fuge Abſicht eines aͤſthetiſchen Dogmatikers. Auch mit Wilhelm von Schol; ſteht es nicht viel anderd. So fehr wir audy eine dDramatifche Tat diefes reichen Lyrikers und. ftarfen Denkers hofften und weiter hoffen wollen: feine „Meroe“ (Berlin, Dr. Wedelind & Co.) bedeutet feinesfalld einen Fort- fchritt über den „Juden von Konftanz“ hinaus. Diefe ftofflih fo ganz fonventionelle Koͤnigsgeſchichte ift gewiß mit tiefem Plan nad allen Regeln

2

der Scholjfhhen Dramaturgie gefügt; aber fie ift weder an fjenifcher Bild» Fraft noch an ſprachlicher Potenz originell und flarf genug, um den Bor gängen einen und irgendwie wichtigen, und irgendwie nahen Sinn zu ent⸗ (orten. Es gibt wiederum nur ſchoͤne, „talentbezeugende” Detaild. Talent- soll und ſchlecht und beides in höchftem Grade ift auch Leo Greiners „Liebesfönig“, von dem ja an diefer Stelle ſchon mehrfach die Rede war. Greiner unter den wirklich Aufgeführten des legten Jahres fo ziemlich, der einzige Meuling von Belang fteht jenem Kreife von „Wiffenden“, von Kompofitiond-Gläubigen nah. Aber er ift zweifellos eine viel elementarere Natur ald Ernft oder Scholj. Und weil er für alle, die ihr literarifches Intereſſe nicht gerade auf die berliner Theaterpremieren einfchränfen, feinen Dichterberuf längft bewiefen bat, müßte man feine weitern dramatifchen Arbeiten mit größtem Nefpeft abwarten felbft wenn der „Liebesfönig“ ein viel fchlechtered Stud wäre, ald er tatfächlich if. Indes auch dies ift und lange Wartenden ein halbes Verfprechen ftatt eined ganzen Geſchenks.

Ein wirklich neues Geficht ift anno 1906 unter den deutfchen Dramatifern überhaupt kaum aufgetaucht. Auch wo mir ein neuer Name erflang, war ed feine neue Phyſiognomie. Es war nur ein Beiſpiel mehr fuͤr einen neuen Typus. Mur einen etwa möchte ich ausnehmen Friedrich-⸗Frekſa, den jungen muͤnchner Autor, von deſſen „Ninon“ ich bier unlaͤngſt ausd« führlich gefprochen habe. Mit einer in Deutſchland ganz feltenen geiftigen Grazie ded Konverfierend verbindet fein Dialog eine an Ibſen gebildete Kraft, inmitten ftärfiter Vorwaͤrtsbewegung dad Zuruͤckliegende zu erponieren. So find feine Afte reizvoll und ftarf zugleih. Seine Bühnenphantafie ſetzt nie aus: er ſieht jeden Moment in vollfarbigem und fehr geihmadvoll nuanciertem Bild. Und all diefe Kraft wird nicht im felbftgentgfamen Spiel vertan, fondern von einem tiefen Temperament Stoffen von großzügig er- faßter Sinnbildlichfeit zugeführt. Noch drebt fich diefer Sinn mit einer gewiffen engen Vorliebe um die erotifche Zuſpitzung der Lebensprobleme, noch zerfpringt die feine Klinge diefes Dialogs zuweilen fpröde in den ftärfften Augenbliden des dramatifchen Kampfes. Aber bier ift ein Keim, in dem ſich geiftige und finnliche Kräfte ganz befonders mifhen. Wenn Prophezeien nicht ein fo lebendgefährlihes Wagnis wäre, ich möchte ftarfe Worte ge- brauchen fir meine Erwartungen von diefem Talent.

Die jungen Autoren von einigem Wert, die mir fonft nod im vorigen Jahr zuerſt begegnet find, heben ſich nur durd eine leichte perſoͤnliche Nuance aus ihrer Gruppe ab. Sie find wefentlid durch ihre literarifche Abftammung determiniert. VBefonderd regfam ift jeßt die Nachkommenſchaft der „Blätter für die Kunft“. Seitdem ihr Hofmanndthal es zu einigem Theaterruhm gebracht bat, meinen diefe vorber fo erflufiven jungen Herren nunmehr auch die Bühne ftürmen zu müffen. Seit ein paar Jahren fchreiben fie, mit viel Eifer und wenig Gluͤck, Theaterftüde. Ihr geringes Glüd ift erflärlic genug: Meifter Georged Kunft ift ftarf Durch die hoͤchſt forgfältige, durchaus individuelle Wahl der Worte, fie ift ſchwach durch den voͤlligen

3

Mangel eines fampfesmutigen, dramatifchen Temperaments, deri'fich, nicht immer ganz uͤberzeugend, als diftanzierende Vornehmheit masfiert. Bei feinen theaterlüfternen Süngern num bleibt in der Negel die Dramatifche Impotenz; die Vornehmbeit wird zum blafierten Dandytum, und die Föftlihe Wortwahl wird eine leere, anſpruchsvolle Poſe. Die Diftion diefer Autoren gleicht der. Hofmannsthald fo etwa, mie die Körnerfche Sprache der Schillerſchen. Etwas von eigenem Ton und eigener Haltung verrät bier am eheften noch Oscar A. H. Schmig. Seine Sprache, die freilich mit nicht fehr fruchtbarer Ausſchließlichkeit der Erörterung erotifcher Spezialitäten gewidmet ift, bewahrt ein Salzkorn intelleftueller Schärfe und cdharafterifierender Härte, das die epifuräifche Phrafeologie feiner literarifhen Stammesbrlder längft aufgeloͤſt bat. Schmitz, der ein fehr intelligentes Schriftchen ber „Don Juan, Caſanova und andre erotifche Charaftere” verfaßt bat, ftellt in Dem dramatiſchen Skizzen⸗ band „Der Herr des Lebens” (Axel Zunder) felber einen Typus des Erotifers auf, den er Don Manuel nennt. Diefe Szenen, die die dramatifche Form mit der fouveränen Willfir der Ohnmacht behandeln, die fo planlos Ioder neben einander fteben, ald ob fie Paul Ernft ald abſchreckendes Beiſpiel für Kompofitiondlofigfeit gefchaffen hätte, diefe Szenen, die eben durchaus fein Drama, fondern dialogifhe Charafterftudien find, haben doch erhebliche Dichterifche und fogar dramatiſche Dualitäten. Die Sprache vergißt die Pflicht, Menfhen zu charafterifieren, nie ganz, felbft nicht in den lyriſchen Orgien, wie fie dem Sprößling der „Blätter flır Die Kunſt“ natuͤrlich unerlaͤßlich find. Sie kann fid aber in fnapper Wechfelrede zu wirklich kaͤmpferiſcher Prägnanz verdichten, und fie fann Bilder von großer Pracht in die zitternde Atmofpbäre einer angftvollen Spannung tauchen und fo dramatifc fruchtbar machen. Mit all dem find diefe pinchologifhen Pbantafien gewiß beachten®- werte Talentproben. Aber nun fchreibt diefer felbe Schmig ein modernes Proſaſtuͤck, und es wird beflemmend offenbar, aus wie geringen Tiefen diefe grazidfe Kunft ihre Kraft faugt, wie fie ohne den Außern Flugapparat von Vers und Koſtuͤm in dirftigfter Alltäglichfeit am Boden Flebt ſchwunglos wie ein Schaufpieler, dem man Schminfe und Rampenlicht genommen bat. Dabei ift nicht dies Gebundenfein an eine beftimmte Art der Wortfunft dag Fatale. Ein Genie wie Anzengruber bat, fobald er den Boden feiner Dialeftiprache verließ, troftlofe Plattheiten produziert, und Grillparzer Fonnte durchaus feine Proſa fchreiben. Erſchreckend ift nur die tiefe Einfichtölofigfeit, mit der diefe fo unnaiven und alfo jeder Entſchuldigung baren Geifter ihrer Kunft gegentiber ftehen, die Kritiflofigfeit, mit der fie ſich auf ihnen völlig verbotene Gebiet wagen, und die tiefe Trivialität ihrer dort gefertigten Produfte verfennen. Schmig alfo fhreibt ein dreiaftige® Stuͤck, Montmartre“, in dem erzäblt wird, wie ein parifer Mädel durch ihr eigenwilliges eben und ihren freiwilligen Tod einen durd und durch von den Phraſen des deutfchen Philiftertums befeffenen Maler von etlichen erotifhen Vorurteilen furiert. Schmitz fieht nicht, wie winzig und unoriginell diefer Vorgang für ein. dreiaftiged Stuͤck iſt, er fühlt nicht, mie fentimental und verlogen diefer

4

angeblich naive Deutfche gefeben ift, wie lächerlich das feelifche Gewicht diefer ganzen Fiebeshändel überfchägt, und wie fehr damit das Ganze in die Sphäre des fonventionellften Ruͤhrſtuͤcks geruͤckt iſt. Dabei bietet Schmig in feinem Dialog zwifchen fchriftdeutfchen Plattheiten doch audy manchen gut gefchliffenen, intereflanten Saß, zwifchen banalften Theaterfituationen mand) feiner geftimmten Augenblid, und damit fteht er immer noch ein Stod'werf über dem Niveau, in das feine Sippen bei ähnlichen Verfuchen mit bürgerlicher Brofa niederftürzten. Man denfe an die Marlittiade, die Bollmoeller „Der deutfche Graf” nannte, oder an die Sffländerei, die Ernft Hardt „Ein Kampf ums Nofenrote” taufte. Daß diefe Autoren, fobald fie die Konvention ihrer Versſprache verlaffen, in plattefte® Papierdeutſch verfinfen, daß ihr vielbetonter Tiefjinn fi flugs ald bombaftifch drapierte Trivialität offenbart: das ift dad Nieder: fehmetternde an diefen Produften. Wie fehr muß die geiftige und äfthetifche Kultur diefer Menfhen an die Oberfläche gebunden fein, wenn fie mit ihrer gewohnten, in ihrem Kreife fchon rein mechanifchen Redeweiſe zugleich jede Spur menfchliher und Fünftlerifcher Wornehmbeit und Eigenart aufgeben. Bon den Georgefhen Pretiöfen haben wir nichts zu hoffen, auch wenn eine eigenere Intelligenz, wie diefer Schmiß, fi unter ihnen zeigt. (Schluß folgt)

Epigramme] von Chriſtian Morgenftern

Dem Schaffenden

Vom zerfegenden Geifte

fürchte Agent

Ward fonft dein Geift nur hell und frei, geb ihm vorbei

und ob dein befter Freund es jei.

Dichterbefanntfchaft

Zubaus in meiner Träume Welt, wie hab ich ihn mir vorgeftellt! Doch ach, wie ganz betrog ich mid: Der Ejel fieht ja aus wie ich.”

Der Allzubeihäftigte Unendlich viel gefchab,

juft da

ih Menſch geweien.

Und mad gefhah von Dir? Von mir?

Das, was gefchab, zu lefen.

Süngling und Mann Der Züngling ſchwoͤrt es, und der Mann vergift es. Der fagt: fo foll e8 fein! und der: fo iſt es.

Ringelſpiel

Jenedig, Lido. Sonne, Sand, Wind, Flut. Diefe Elemente

hbaſſen das Gebild der Menſchenhand. Menfchenwerf find auch V J die Satzungen der Ziviliſation, die Inhalte der Pflichtenlehre,

{ die Normen, nad) denen ſich die Beziehungen der Geſchlechter 395 94V 4 regeln. Im Angeficht der Natur werden fie faljh und Dumm und nichtig. In der Sonne, im Sand, in der Flut wird das Leben lichter und einfacher, wird es jung und neu und ſchwerlos. Sein Sinn? Daß es feinen bat. Seid doch froh. Mehmet ed bin, „Erft wenn der Menſch von ‚jedem Zweck genefen und nichtd mehr willen will als feine Triebe, dann offenbart fi) ihm das wahre Wefen verliebter Torheit und der großen Liebe.”

Zum Ningelfpiel treten drei Paare an, die von der uͤberwaͤltigend großen Liebe bis zur törichteften Verliebtheit alle oder doc, ſechs Grade erotifcher Verzuͤcktheit und Erfranftheit darftellen. Rune Dohn liebt ihren Julius Eggers mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzem Gemüte, Sie. ift lebendernft und fieht mit tiefem Schauder auf das Getriebe um fie ber. Aber fie ift auch lebensfromm und fiebt zugleich, andächtig, wie auf ein Wunder, auf alle diefe Wandlungen der Venus. Daß man fähig ift, zu lieben, ohne zu lieben. Daß es Liebe gibt und Liebe, wilde und. milde, himmliſche und irdifche, auch in derfelben Perfon und. zu derfelben Perfon und nur nie zu einer Zeit. Für fie ift Zulius alles. Sie ift fir Julius Eine. Er redet fi) ein, fie zu lieben, wie er es ſich noch bei jeder eingeredet hat. Aber auch ihr, Rune, zuliebe läßt er feine Frau, Franzl, nit aus feinem Leben, weil fie es ihm, ohne alle Erotik, ſchmuͤckt; und diefer Schmud feines Lebens wird noch frifch fein, wenn Rune ihre Macht uͤber fein Leben laͤngſt an eine andre abgegeben bat. Frau Franzl ift ſchier unverwüftlih. Sie iſt die wahrhaft Lebendige, die ganz Animalifhe. Seid umfchlungen, Millionen! Ein italienifher Kellner tuts auch, wenn Herr Harald Sandel zu zagbaft iſt. Der gute Zunge liebt fie von Herzen, mit Schmerzen, will aber nicht ohne Ming am Finger. Er ift noch viel firenger ald Rune; und ähnlich wie diefe zu Franzi, ſteht er zu King, dem alten Heiden. Der glaubt nicht mehr an den Ernft des Lebens, feit er den Tod gefeben bat. Der Ernft ift drüben. Hier find wir auf Urlaub. Hier laßt uns fingen und fröhlich fein... . in den Roſen. Pfluͤcket die Nofe, eb fie verblüht, Eine ſchoͤne Frau ift wie der Himmel oder ein Stern oder dad Meer: fein Privateigentum. Le plaisir sans cceur, ift Kings Wahlſpruch in der Piebe, und die Kleine Domenica, die ihm gehört und gern von ihm geliebt fein möchte, wird ausgelacht, wenn fie auch nur verlangt, ihn lieben zu dürfen.

A EL Ar LO

6

Alle Beftandteile zu einem Drama fheinen gegeben, zu drei Dramen in einem. Die fhönften Gegenfäge: drei Liebende und drei Verliebte und fämt- lich fo gepaart, daß Leichtbihtigfeit mit Schwerblütigfeit, Seelenfrieden mit Sinnenfreude, Sentimentalität mit Naivität, Gewiſſen mit moralifher Un- befümmertheit in Ronflift geraten muß. Hier berrfcht der Kampf, und nur die Stärfe fiegt. Stärfer ift die Partei, zu der der Dichter hält. Hält er zu den Traurigen, fo gibt ed eine Tragddie. Hält er zu den Luftigen, fo gibt es unter Umftänden eine Komödie. Ein tragifches Wintermärden oder ein beiterer Sommernadjtötraum: die Wahl war fr Bahr nicht ſchwer, da ihm dad Stück unmittelbar aus einem bochfommerlichen dolce far niente entftand Lido, Zuli 1906, beißt ed im Buch. Mit diefer Stimmung war zugleich) der vollfommen undramatifhe Charakter des Stuͤcks gegeben. Bahr kann viel. Er beftätigt fih felbft, was er alles fann: er kann den Geiftreihen „machen“ und den Tiefen, den Überlegenen, den Charmeur, den Flimmernden, den Meifter, der mitallem lächelnd fpielt. Dasfanner, under fann auch den Dramatifer „machen“, indem er eine Anzahl Perfonen abwechfelnd das fprechen läßt, was er mit ihnen auszudruͤcken bezweckt, und mas er etwa fonft noch auf dem Herzen bat. Aber er ift fein Dramatifer. Es hilft ihm gar nichts, daß feine Figuren von Jahr zu Jahr mehr Fleiſch anjegen und dadurch menſchenaͤhnlicher werden; daß ſich Die forcierte Öyfterie mancher feiner Typen allmählich befänftigt; daß ihm immer wieder eine Geftalt, diedmal ift es die Franzl, zu rundefter Lebensechtheit gedeiht. Zum Dramatiker wird er damit nicht. Ihm feplt die Unverruͤckbarkeit des Standpunkts; ihm feblt der primitive Glaube an die Unentrinnbarfeit menfchlicher Konflikte. Er ftellt den Menfchen mit feiner Qual in die Natur, und fieb, es lacht die Au oder die Sonne oder dad Meer uͤber das Heine Leid der Kreatur. Rune in Wien ift eine Tragddienheldin. Rune am Lido ift eine Komoͤdienfigur zu der nur leider die Komödie nicht fertig geworden ift, nicht fertig werden fonnte. Denn eine Komoͤdie ift gleichfalls ein Drama, und wenn man Dramenfonflifte in die Natur verlegt, um fie ind Michtd oder richtiger: ins AU aufzuldfen, fo weiß ich nicht, wie diefer Auflöfungsprozeg wiederum ein Drama ergeben follte. Das wäre ja auch gar nicht nötig. Zft der , Sommernachtstraum“ ein Drama nad der Tabulatur? Aber Shafefpeared Wald lebt. Ich möchte den Irr⸗ tum zerftreuen, ald ob „Ringelfpiel” an der Abweſenheit von Handlung und Bewegung oder an irgendwelchen andern dramatifchen Schwächen verendet iſt. Wie wäre fonft Maeterlindd Wirkung zu erklären? Aber Bahrs Meer ift tot. Es fteht in den Negiebemerfungen. Es bat feinen Salzgeruch, feine Brife, feinen Wellenfchlag. Es ift nicht einmal Waffer. Es ift nur Pappe oder Leinewand, ein gemalter Hintergrund. Das ift denn allerdings ſchlimmer ald alle fieben dramaturgifhen Todfünden zufammen. Wenn man mit Hilfe

7

der Natur die Lebensſchwerfaͤlligkeit menſchlich tlichtiger Charaktere durch die Rebensleichtigfeit zigeunerifcher Geblüte ad absurdum führen will, ed nur mit Hilfe der Natur kann oder zu können glaubt und die Natur fhuldig bleibt: dann darf man ſich nicht wundern, daß einem ſchlechte Pſychologen in die Gefinnung fchieben, was Mangel an Phantafie und Geftaltungäfraft ift.

Die Aufführung des Deutfchen Theaters hat alles getan, um den fchlechten Pſychologen Vorfhub zu leiften und eine Entſchuldigung zu fchaffen. Diefes „Ringelfpiel“, an deffen ernften fünftlerifhen Abfichten Fein Lefer zweifeln fonnte, noch zweifeln wird, bat auf der Bühne tatſaͤchlich laͤppiſch und frivol gewirkt. Die Natur war, da der Autor an ihr gefcheitert war, nicht durch dad groß und Fleine Himmelslicht, nicht durch Mafchinen und Profpefte zu erzwingen. So fam ed darauf an, menfchlihe Eindrüde zu erzielen, zwischen Kulifen und Verſatzſtuͤcke Menfhen zuft ellen, fo ftarf und reich, fo uͤppig und blühend, fo geiftig überlegen und frei, daß fie fehen und hören alles verftehen und verzeihen hieß. Solche Männer gibt ed, wie ein Bli ind Leffing- Theater lehrt. Es wäre ein ungewöhnlicher Gluͤcksfall, wenn Rein- bardt aus diefem Haufe denjenigen Schaufpieler hätte, der Bahrs Julius Eggers glaubhaft und fompathifch machen würde, und mit ungewöhnlichen Gluͤcksfaͤllen darf nicht gerechnet werden. Aber ed ift ein ungewöhnlicher Unglüdöfall, daß Reinhardt flır diefe Figur und alle ähnlichen weiter niemand bat ald Herrn Steinruͤck, der in feiner Art und auf feinem Felde gar nicht unverdienftlich ift. Hier wurde aus einem vierzigjährigen, bereitd angegrauten Mann von Welt, Geift und reifer Febenderfahrung ein junger ftämmiger Feldwebel mit einem blonden Sonntagsausgehfcheitel, ein Kerl, aus deffen Mund jeder Sat der Bahrſchen Figur geradezu widerlich gefhmwollen und verlogen Fang. Wer dad Buch gelefen hatte, der fonnte ermeffen, wieviel Mahrung der wachſende Unwille auch des beffern Publifums aus diefer Karikatur fog. Der fonnte weiter ermeffen, wie unvorteilhaft ed war, daß der alte King, ein Hirn von beweglicher Anmut und ein Gemlt von ftoifcher Nube, auf den Kommißton feines Freundes einging; dag Nune, die Seele, Seele und abermals Seele ift, nichts fo fehr entbehrte, wie Seele. Ya, fogar wer dem Stüd diente, fchadete ihm. Die Sorma, als Franzl, rettete durch ihre Bravour, die ſich im Anfang ihrer felbft zu bewußt war, den zweiten Aft, vereinigte fchnell alled Intereffe auf fi und verfchob Damit das Schwer- gewicht des Stuͤcks, das ſich ſchließlich wie ein techniſch mißglücter parifer Schwank ausnahm. Und ift doc der Verſuch einer Komödie, die ihren Wert in der Heiterkeit eines ffeptifchen Geiſtes und in der Höhe feiner Natur« und Lebenäbetrahtung haben möchte. Möchte! Daß diefer Verſuch auf der Bühne nicht einmal ald Verfuch kenntlich wurde, ift nicht mehr Schuld des Autors, fondern einzig Schuld des Deutfchen Theaters.

8

Bühne) von Friedrich Kayßler

—ſiefbewegte Menfhen wandeln zwiſchen Bäumen auf und nieder, N wifchen Felfen, zwifhen Bäumen, . 8 die gemalte Schatten werfen. Rhythmiſche Bewegung wallet

binter jedem ihrer Schritte:

unfihtbare Feſtgewaͤnder,

Trachten einer fernen Welt.

Sieb, wie jener Mann die Hände

der Gefährtin ſtill ergreifet

zweier Körper ſtummes Meigen

wird in einem Kuß zur Flamme.

Tränen find in ihren Augen,

während dort ein Silberlachen,

wie aud Nacht ein heller Mondftrabl, binter Bäumen ſich bervorftieplt.

Sind ed Menfhen? Sinds Gefangene eined fernen großen

der fie uͤbermaͤchtig haͤlt?

Der ihr Lachen, der ihr Weinen, ihrer Koͤrper ſtummes Neigen,

ihrer Füße Taͤnzerſchritte,

ihrer Üinpen Flammenfüffe,

ihrer Hände ftummesd Ningen hberweife, urgewaltig

bindet in ein einzig Lied?

Oder fließen ihre Tränen,

quillt ihr filberhelled Lachen, ftrömen ihres Körperd Rhythmen aus den Gründen ihrer Seele,

aus den unfichtbaren Quellen eigenen unerforfchten Lebens?

Sind ed Feſte, die fie feiern? Sind ed Spiele? Iſt ed Wahrheit? Sind ed Menfhen, find ed Bilder meiner eigenen Phantafie?

7 4

*

Immer, immer muß ichs fragen; denn ich hoͤre, wie fie lachen, und ich böre, wie fie weinen aber alles flingt fo ferne,

flingt fo weit, fo fern berüber wie aus einer andern Welt,

Berlind nene Theaterbauten] von Georg Hermann

PFPEFFFT Theaterbau entwickelt ſich nur ſchwer und langfam. 4: —— Auf irgend eine Loͤſung irgend eines gluͤcklichen Architekten

u. Aa folgen gewöhnlich jahrelang Nüudfchläge. Die Bedirfniffe dp: ld der Bühne, die Bedürfniffe des Publifums ändern fich, dies“ FF TZ ebenfo wie der allgemeine Geſchmack, und vor allem ändert ——— ſich die innere Struktur des Theaterſtuͤcks. Aus all dieſen ae Gruͤnden iſt es außerordentlich ſchwierig, Bauten zu er⸗ richten und Näume zu ſchaffen, die zweckdienlich und kuͤnſtleriſch befriedigend find und Beſtand haben. Za, fhon der Gedanke, daß in demfelben Haus Scauftücte, moderne Dramen, Tragddien und moderne uftfpiele, Opern und phantaftifhe Märchen gefpielt werden follen, daß in ihm naturaliftifches Leben neben Stilifiertem, Farbiged neben Farblofem, Großzügiged neben Kleinem ſtehen foll, zeigt eigentlich, weld ein Unding unfer ganzer moderner Theaterbau ift.

Der Stil des antifen Schaufpield findet feinen vollfommenen Ausdruck in dem Bau des antifen Theaters. Aber unfer Schaufpiel bat fo wenig einen Stil, wie ed unfre Theaterbauten haben, und es fcheint mir durchaus nicht glüclich, eine antife Formenwelt in unfre modernen Theaterbauten bineinzutragen, wie ed mir kaum weniger unglüdlich erſcheint, die Formen⸗ welt ded Nofofo, ded achtzehnten Jahrhunderts in dem dad moderne Theater geboren wurde nun ald dad Einsund-Alled, ald Ewiged und Unvergängliches für den modernen Theaterbau anzufehen. So entzlidend und auch irgend welche alten Hoftheater, die bier und da erhalten find, er- fheinen mögen, fo würden wir doch bald ſehen, daß fie in feiner Weife den feelifhen Bedürfniffen, die und das Theater befriedigen foll, heute noch genügen fünnten, und daß das Gefallen, das wir an ihnen finden, doch nur jenem Gefallen gleihfommt, da® wir an einer hübfchen und gefhmadvollen, geiftreihen und bizarren Maskerade haben. Fr die mechfelnden Beduͤrfniſſe unferd heutigen Theaterlebens fcheint ed im Theaterbau noch feine Form zu geben. All das, was vielleicht Niemerfchmidt, Endell, der Baumeifter Dülfer verfucht haben, hat noch die Probe abzulegen, ob es und nicht mach zwei Jahrzehnten nur noch eben fo wenig zu fagen bat, wie und heute ein „Theater des Weſtens“ zu fagen hat, dad man aud einmal ald etwas Meued und Geſchmackvolles pried, und das uns heute doch mit feiner uͤbertriebenen Aus- ftaffierung recht unglüdlich erfcheint. Vielleicht werden wir dahin fommen, einzufeben, daß das Theater bei den wechfelnden Beduͤrfniſſen und fie wechfeln fchnell nicht mehr fein foll als ein angenehmer, neutraler Auf» enthalt, in dem und nichtd beläftigt, nichts abzieht, daß es nicht mehr fein foll ald der Hintergrund zu einem Bild, der der gleiche bleiben kann, auch wenn wir auf ihm ein Kinderporträt, Blumen oder ein Stilleben malen

10

wollen. Man wird: dahin fommen, in den. Theaterbauten jede . Dekoration. nah Möglichkeit zu vermeiden, mit vornehmem Material zu wirfen, durch: fünftlerifche. Farbenharmonien den Beſchauer in die. ruhige: Stimmung, bie; er für dad Genießen. braucht, zu verfeßen, und Naum und Ränge nur nad). ihrem Zwed zu gliedern, nämlich dem Zweck: das, was auf der Bühne vor. geht, allen Beſuchern ſichtbar und börbar zu machen. Dabin wird man. fommen. Der Hauptihmud des Raumes wird. die Beleuchtung fein, deren Formen ſich wieder aus der Beweglichfeit der: Glühbirne ergeben.

Da das. Theater der Gegenwart mit dem Kunfttempel fehr wenig zu tun bat, fo follten wir auch den Mut haben, im Außenbau alle antiken. An⸗ ‚länge zu vermeiden, und die. Faſſade nicht mit Pilonen, riefen, Säulen. und Türmen zu etwas aufzupußen, das. dem Inhalt und dem Zweck dei Gebäudes gar nicht entfprict. Um: dad Gebäude von außen und: innen ſchoͤn zu gliedern, dazu gibt ja die Verwendung und. Anordnung der Junenraͤume genug. ®elegenbeit. Und ich. fehe wirklich nicht ein, warıım. man and einem. Theater. eine Burg oder einen Tempel machen fol, beflebt und bebangen. mit Zierformen, die an diefer Stelle feine Berechtigung haben, und mit Bal« fons und Ausdlugen dort verfehen, wo. uͤberhaupt niemand bingelangen: fann, er fei denn Schornfteinfeger oder Putzer. Daß eine einfache Sache zum: mindeftend ebenfo fchön fein, kann wie eine reiche, wird niemand: beftreiten, der in dad. Weſen der Architektur eingedrungen ift und. weiß, daß die Schoͤn⸗ beit ‚eined Baus in der Abmeflung feiner Fenfter, in der Umrahmung einer Tür, in. der Gfiederung eined Profils: liegt, in der. Verteilung von Licht und: Schatten und in..der feinen Abwägung der Baumaflen zu einander. Cha- raftervoll und eigenartig kann ein begabter Architekt in einem einfachen Zweck⸗ bau fein: auch in ihm gibt ed unbegrenzte Möglichkeiten, und der Spiel⸗ raum zwiſchen Können und Nichtfönnen ift dort ebenfo. groß, wie. in der nur auf dußere Deforation geftellten Architektur, die man und in Theater- bauten meift vorzufeßen beliebt.

Wenn. wir mit diefen. Borausfegungen die drei neuften. Thenterbauten Berlins betrachten, fo bleibt eigentlich nur das Fleine Haus der Kammerfpiele beftehen, von dem Architekten Müller, Die Komiſche Oper des Architekten Bieberfeld muß: immerhin originell genannt: werden. und fpricht: und. als Aufenthalt durch die geſchickte Wahl der Farbe an; wahrend von dem Neuen Schaufpielhaus des Arditeften Fröhlich nicht ſehr viel übrig bleibt. Seine Faflade hat zwar michtd mit dem Theater zu tun, ift aber architektoniſch trotz großen Mängeln nicht unwirffam. Die Innenraͤume zeigen eine folhe Summe von Gefhmadlofigfeit, daß man nur bedauern fann, wieviel Mühe und Koſten bier erfolglos aufgewendet find:

Die ſchwierigſte Aufgabe hatte der Archielt Bieberfeld, der auf einem fehr engen Raum dieſen Rundbau, diefed Pantheon errichten mußte, Er war dadurd gezwungen, um Überhaupt Menſchen unterzubringen, außers

411

ordentlich in die Höhe zu gehen. Die Mänge liegen der Bühne zu nahe, fo daß die Ausficht von den obern Mängen auf dad Theater eine aufer- ordentlich fteile wird. Aus dem Drchefter, welches tief in der Verſenkung liegt, quellen die Töne mit einer Macht gerade hoch in den Raum hinein und ftehen gleihfam wie eine Mauer vor den Tönen der Gingenden, dag die Begleitung, wenn fie laut ift, den Geſang verfchlingt, zum mindeften aber die Worte der Singenden ſchwer verftändlich macht. Das, duͤnkt mic, ift ein akuftifcher Fehler, der durch die Höhe und die Form ded Raums gegeben if. So unmdglic der Vorſchlag Flingt: man hätte dad Orcheſter binter die Bühne legen ſollen. Mielleiht wird man überhaupt einmal in unfrer Oper dabin fommen. Denn anders wird die ewige Divergenz; zwiſchen Drchefter und Gefang nicht behoben werden, eine Divergenz, die in unfrer Königlihen Oper, da der Raum weiter ift, fich zwar ftarf, aber doc nicht fo ftarf wie in der Komifchen Oper geltend macht. Es ſcheint mir Afthetifch unzuläffig, daß die Oper, die auf Menfchenftimmen geftellt ift, einzig von der inftrumentalen Begleitung beberrfcht wird. Aber das ift eine Bemerfung allgemeiner Natur, und für diefen Fehler fann man den Arditeften nicht verantwortlih machen. Wofuͤr man Bieberfeld aber verantwortlih machen kann, ift, daß ein Mann von feiner Eigenart und feinem Geſchmack der fi z. ®. in den Geitenrängen, in den Foyers, in den Treppen äußert dag ein folder Mann eigentlich von dem Weſen der Architektur feine Ahnung bat, vom Aufbau, von dem Tragen und Laften, von den ganzen ftatifchen Geſetzen, die ſich bis in das legte Ornament fortpflanzen müffen. Er baut, ald ob er nicht Baufteine, nicht Steinmaterial, fondern Ton unter den Fingern hätte, Er fnetet, er wurftelt, fchafft Biegungen, Linien, Formen, die archi⸗ teftonifh unmöglich find. Nicht daß er dabei ganz der Eigenart oder troß einer gewiſſen Roheit des Geſchmacks entbehrte. Aber er bat Gedanfen, er erzäblt im Bau; irgendwo fommen mit einem Mal Delpbinföpfe beraus; um Ventilation und Beleuchtung Über der Bühne gliedert fi) ein großer Tintenfiſch; die Profile, welche in Bändern dad Haus umfpinnen, find wie aus weichem Material gebogen, gedreht und herumgelegt. Alle fhönen Gedanfen in der Baufunft waren biöher feine Anekdoten, Wie, Apergus oder Erzählungen, fondern waren uͤberraſchend dur Form, Kon⸗ ftruftion und Ebenmaß, und ich glaube nicht, daß etwas, was dem fo ab=- ſichtlich entgegenläuft, fo abfichtlih Architektur jenfeits des Architeftonifchen ift gefhmadvoll, aber phantaftifh und ungegliedert daß das und auf die Dauer befriedigen fanı. Daß man fich in der Komifchen Oper nicht unbebaglic fühlt, wie im Neuen Schaufpielhaus, und daß fie intim und von einer mondainen Vornehmheit in der Wirkung ift, will ich nicht ab= ftreiten. Aber, wad und an ihr mißfällt und was einen wigigen Architekten und Arcitefturfritifer zu der luftigen Bezeichnung der „Sehr Komifchen Oper” verleitete, kann mit den Jahren und ein Theater ift ja für Jahr⸗ zehnte berechnet und völlig unerträglic werden.

12

Daß ed noch möglic wäre, im-Sahre 1906 auf den Innenraum eines Theaterd den Tapezierer loszulaſſen, daß ed noch möglich wäre, die eifernen Stüßen, welche die Nänge halten, zu vergolden und oben ſolche Akantus⸗ ſachen beranzufegen, wie man das in der böfeften Zeit des Eifenguffes tat, damals, ald man dad Walballa- oder dad Viftoria-Theater baute das hat und erft dad Neue Schaufpielhaus gelehrt, das in feinem Innenraum wirflich in foftbarer Weife verftanden hat, von dem Heutigen wie von dem Altmodifchen dad Schlechte zu nehmen. Man denfe fi ein Theater, wo ed oben unter den Eogen einen Abſchluß von hängenden Pofamentierfranfen gibt (Strippen, die als ardhiteftonifches Glied wirken follen); man denfe ſich Rangabteilungen, die von einander durch fo etwas wie niedere fpanifche Wände geteilt find, auf die in rotem Sammet eine Wafferrofenfezeflion große Applikationen gefebt bat; man denfe ſich einen großen Buͤhnenvorhang mit den Gehängen imitierter Bernfteinperlen und wilden Stidereien und man wird ermeffen, welch ein Sinn für „Achiteftur“, meld ein Gefchmad bei dieſem Bau Pate ftand. Ich fürchte, man tut dem Architeften Fröhlich unrecht, wern man derartiges auf fein Schuldfonto ſchiebt. Dad wird wohl der Geſchmack deffen fein, der und ald Erbauer auf großen eingefegten Tafeln vor dem Haus, im Haus, uͤberall da begegnet, wo wir lefen koͤnnen: „Entworfen und aus-

a geflihrt Durch Boswau & Knauer, Architeften.” Nun gehört Herr Boswau " nebft Odin, Viglipugli und Pallad Athene dem Sagenreih an, während Herr Knauer der Menfchenwelt angehört und ald Bauunternehmer die Aus- flhrung von Bauten gefchäftlih unternimmt. Er bat es zum Prinzip er⸗ boben, zum Entwerfen feiner Bauten denn ihm felbit geht diefe Käbigfeit ab (wo follte er fie auch herhaben?) ſich irgend einen „dummen Kerl“ beranzubolen, der die Sache verfteht einmal einen Bruno Schmig, einmal einen Sebring, einmal einen Schaut, oder, wie bier, den jungen Architekten Froͤhlich und dann weiter nichts zu tun, als neben der Verantwortung für die Bauleitung und Bauausführung auch die Verantwortung für den fünftlerifhen Zeil der Arbeit fid) anzurechnen. Der Kuli, den er bezahlt, fol anonym bleiben. Derfelbe Kuli, der das Recht hat, mit Malern und Bildhauern zufammen ald Kümftler faft auf allen Ausftellungen Deutſchlands auszuftellen.. Das ift natlrlicd eine Anmaßung des Kaufmanndftandes, eine Anmaßung des Unternehmertumd gegenüber der Fünftlerifchen Arbeit, der man nicht fcharf genug entgegentreten fann. Denn ed wird nicht nur zu einer anonymen Proletarifierung des Ardjiteften führen, fondern ed wird aud für die Architeftur als Kunft ſchwere Schädigungen mit fi) bringen. Der Unternehmer, der Gefhäftdmann und nur Geſchaͤftsmann ift, hat nicht das Fünftlerifche Verantwortungsgeflihl, dad der Architeft von Auf haben muß und bat, das die Meffel, die Hoffmann zwingt, ihre Bauten audreifen zu laffen, die Formen in jenem Material auszuführen, das fie beanfpruchen, und an die Arbeit der mithelfenden Künftler, Maler und Bildhauer, äfthetifche Anfprüche zu ftellen. Ich halte den jungen Fröhlich flr einen begabten Menfhen noch nicht auf der Höhe, aber beachtendwert und bin der

13

Meinung, daß vieles, was und an dieſem Bau äfthetifch beleidigt, auf die fünftlerifche Verantwortungslofigfeit ded Bauunternehmers zuruͤckufuͤhren ift, dem daran liegen mußte, dad Ganze fchnell und billig und ‘dabei doch fo, daß es nach etwas: ausſah umd das Publikum biendete, in die Höhe zu bringen. Weder ift dad Projekt fo durchgearbeitet, wie man ed hätte durcharbeiten mliſſen, noch kann es in den Intentionen ded Künſtlers gelegen haben, da der ‚ganze obere Zeil des Baues nur in Stucflähen ausgeführt wurde, welche vie Steinwirkung fchlecht und falfch imitieren, umd welche nur allzu bald eben als das erfiheinen werden, was fie find, nämlich, als ungluͤckliche, ſchlecht gewählte Gurrogate. Freilich, daß der Platz für dad Theater ein unguͤn⸗ fliger ift, daß man feinen Standpunkt hat, von dem aus Die beiden ineinander geſchobenen Faſſaden einander nicht verdeden und ſchaͤdigen ſo daß immer ein Bauteil vorne einen Bauteil hinten unfidhtbar oder fonftruftiv unmoͤg⸗ kich macht das hätte fi der Architekt überlegen müffen. Der Nollen⸗ dorfplag, durch die Hochbahn in zwei Hälften geteilt, ift fein Platz, fondern nur eine breite Straße. Die ganzen Formen ded Baus eignen ſich aber nur für einen weiten Platz und für ein freiftehendes Theater. Hier, in: die ‚Straße ringezwängt, fehe ich nicht ein, was man mit ihnen will. Und ebenfo, wie dad Ganze verfehlt ift, können wir an ihm auch nicht allzuviel gelungene Detaild gewahren. Die Durchfahrten und Portale, welche wie Maufelöcher niedrig und gedrückt in diefer ſchweren Faſſade ſtehen, find wohl am trefflichften mißlungen. Alles in allem können wir in diefem Theater weder eine Be- reicherung ded Theaterbaus, noch eine Verſchoͤnerung des Stadtbildes finden. Mein, ed ſcheint mir vielmehr fomptomatifch für eine leere und dekorative Großftadtarchiteftur, die mıt ihren Talmiwirfungen nirgends fo gut gedeiht, wie gerade in Berlin. Daß ich bei alledem den jungen Fröhlich für nicht unbegabt halte, habe ich fhon ausgeſprochen.

Dad Kammerfpielhaud ded Deutſchen Theaters ift die einzige von den drei Bühnen, die in ihrer AnfpruchBlofigfeit und in ihrem Gefchmad Zukunft in fic) trägt. Man fol in Amerika ſchon ähnliche holzverkleidete Theater haben, deren Schönheit allein auf der Materialwirkung und auf einfacher, gefälliger Gtiederung der Holzarchiteftur fteht. Der eigentlihe Theaterraum ift ganz im Farbenflang Dot und Weiß. Rot die ſchwer gepolfterten Sitzreihen, tief» ot der Vorhang, rot der Teppich und in ungefärbtem Mahagoni alfo in einem fatten Braunrot die Wände. Weiß dagegen ift die Dede, weiß wirft der Beleuchtungskoͤrper in der Mitte, der auf einer durchbrochenen Meffingfcheibe für die Bentilation angebracht ift, weiß, filbern weiß mit feinen perlenden Kriftaltropfen ; und diefed Silberweiß wiederholt fi in den Wand⸗ leuchtern, in zwei Drittel Höhe an den Pilaftern, die die Holzverfleidung rchythmiſch mit ihren zarten Profilen unterbrechen. Diefer ganze Raum gleicht dem Sitzungsſaal eines Klofterd im achtzehnten Jahrhundert, Da findet man die vornehmen, ganz leid in fi gegliederten Holgverfleidungen, dieſe fatte, einbeitlihe Toͤnung. Und von der gleihen Stelle ſcheint die Galetie

44

berzuftammen, die in der Ruͤckwand den Theaterraum abfchließt: ein Uber⸗ bau, eine Loge und ein paar rotverhangene Fenfter bineingefchnitten. Oben im Räppele bei Würzburg ift folche Loge mit den ſchoͤn gefchweiften Fenftern; und man ftellt fi) vor, daß irgend einer der Schönbornd mit feiner Ge- liebten dort wie einem Stüd, dem man Beifall klatſcht, der Meſſe bei⸗ wohnte, um. dann in feiner Staatöfaroffe wieder ind bifhöfliche Palais hin⸗ abzufahren.

Man empfindet hier in dieſem Theater keine ſozialen Trennungen. Der letzte Platz ſo gut wie der erſte. Die Seſſel ſchier amerikaniſch tief und weich. Man kann den Koͤrper ruhen laſſen, vergeſſen, waͤhrend man den Geiſt auf die Weide ſchickt. Man kann bier vergeſſen, daß man Überhaupt im. Theater iſt. Man empfindet diefen Aufenthalt bald nicht: mehr direft, fondern indireft, ald ein unbeſtimmtes wohliges Etwas, als einen neutralen Raum, einen neutralen Hintergrund und find die Farben des Stückes bel oder düfter, fie fteben darauf, fie, fommen zur Wirfung. Und felbft wenn ich das Theaterchen verlafle: im Heinen Vorraum, im Bohnenfaal nad; feiner Form fo genannt die gleihe Stimmung. Was ic drin ger fehen bier fann ed weiter wirken. Und das runde weiße Foyer mit dem parfettierten Boden ift vornehm feftlid und bleibt doch neutral,

Gewiß, diefed Theater ift flr Wohlhabende. Aber jeded Theater ift eigentlich für Wohlhabende. Die Oper noch viel mehr ald die Kammerſpiele Und Berlin bat genug Reichtum, um ein ſolches Theater zu tragen.

Aber nehmen wir an, die Materialien find fehr koſtbar troßdem, unter und, dad Ganze ift billig, ift ja nur ein umgebauter Tanzſaal nomine Emberg. Einft war er der befcheidenen Studentenliebften geweiht; fpäter, ald diefe Gattung das Zeitliche gefegnet hatte, ſchwang in ihm Venus vulgivaga ihre Fußſpitze nach achtlofen Fylinderhüten. Nehmen wir an, die Materialien find bier fehr koſtbar, was hindert und, ähnliche Theater zu erbauen, anſtaͤndig, doch mit einfachern Mitteln?! Zum Beiſpiel eine wirflihe Luftfpielbübne, wie fie Berlin nicht hat, für dad Fleine intime Luftfpiel der Moderne, das feine, beilhörige, burleöfe, fatirifche. Und fie müßte dann aud) von außen fo anftändig fein, ohne Ziertirme und unerfteigliche Wogelnefter von Balfons, fo einfach, wie das bier, im Stil von 1820.

Wenn man. fpäter. in Berlin. intime Theater erbauen wird und unfer Leben ift nun einmal ein intimes, bürgerliches Reben heute, und jeder einzelne will in feinem Kunftbedürfuis füch mehr und mehr von dem Markt der Menge zurischhieben fo wird man in diefem Theater ein Vorbild fehen.

Emmy Deftinn/ von Hand Warbed

Immy Deftinn, die wir lieben und nur mit Trauer im

Bes 'nB Herzen an den Moloch Conried in Amerika abgeben, fingt

D | jet am berliner Röniglihen Opernhaus alles. Heute das

Evchen in den „Meifterfingern“, morgen die Santuna in „Cavalleria Ruſticana“; die Diemut in „Feuersnot“, NNSCHLECEN I die Elöbeth, im „Roland von Berlin“ und die Dörte ——— D im „Langen Kerl”. Sie tut dad natürlich mit al der technifchen Meifterfchaft und dem fichern Geſchmack, deffen eine reife Künft- lerin von Können und Verſtand fähig if. Aber ihr Talent liegt doc zu fcharf nach einer beftimmt vorgezeichneten Richtung, ald daß fie ohne Schaden dauernd davon abweichen koͤnnte. Auf ihrem runden, fleiſchigen Gefidht, aus dem zwifchen großen, dunfeln Augen eine ftarfe, auf elementare Leidenfchaften deutende Nafe hart bervorfpringt, und das ein blaͤulich⸗ſchwarz ſchimmerndes Nabenhaar in glatten Scheiteln ſchlicht umrahmt, gebt nicht allzu viel vor. Die maffige, unterfegte Figur mit den vollen Armen und der Ippigen Bruſt entbehrt der Elaftizität, der feinern Agilität. Differenzierte Charaftere mit zart veräfteltem Nervenſyſtem wird man ihr alfo nicht geben. Vielmehr fteben ihr folhe Menfhen am nädten, die nach großen Gefichtöpunften bandeln und in mwuchtigen Gefühlöfompleren ſich entladen. So ift fie in eriter Linie beftimmt für Wagner, der feine Geftalten ftetd mit mächtigen Leidenschaften ausftattet und fie auf ein unverruͤckbares Ziel ausſchickt. Senta, die im Bilde den fliegenden Holländer liebt und für den Raftlofen ſich opfert; Elifabeth, die in Liebe für den Buhlen der Venus entbrennt und ihre Glut mit dem Tode buͤßt; Elfa, die den vom Gral gefandten geheimnis- vollen Retter ald Gatten nimmt und in weiblicher Neugier die verhängnis- volle Frage tut; Eochen, die fi im Kampf mit den verfnöcherten Meiftern den Nitter erobert das find die Nollen, in denen fie ihr Beſtes und Eigentiimlichfted gibt. Schließlich ift es immer dasfelbe Weib, das fie dar- ftellt: das fehnfüchtig-erwartungsvolle, dad hingebendeliebende, das treu- aufopferungsvolle. Aber fie weiß doch feine Unterfchiede zu machen und auf den Höhepunften die Nuͤancen zufammenzudrängen. Zwei Bilder halte ic) da vor allem in der Erinnerung fe. Wie fie ald Senta, umgeben von den plaudernden und fpinnenden Mädchen, im Armftuhl figt, den Blick bypnotifiert auf den bleihen, finftern Mann richtet und dann, ald das Urbild in die Tür tritt, mit hyſteriſchem Schrei zurlcfährt, um in einer flarren Stellung lange, bange Minuten zu verbarren. Wie fie ald Elfa die gütigen Fragen des Königd mit einem leifen Achfelzuden, einem Meigen des Haupted, einem ſchmerzlichen Auficlagen der Augen beantwortet, vor der Tuͤcke des argliftigen Paares Telramund-Drtrud zuruͤckbebt und dem Sproffen Parfifald, der auf einem jchimmernden Nahen, gezogen von einem Silberfhwan, and Land ſchwimmt, in tiefer Magdergebenbeit an die Bruft finft. Hier im „Lohengrin“ bleibt auch ihre aͤußere Erfcheinung nicht hinter ihrer Kunftleiftung zurück.

Jr

16

Die ſchmucken Gewaͤnder das fchlichte, fliegende im erften Aft, das prun- fende, flimmernde im zweiten, das bräutlic.verführerifche im dritten Aft geben ihr eine Haltung, die dad Auge unmittelbar erfreut.

Inneres Kraftgeflihl und Außere Erfolge verführen natürlich den Künftler, Aufgaben in feinen Bereich zu ziehen, die im tiefften Grund von ihm los— fireben. So ftellt die Deftinn die Santuzja, die Carmen und die Salome dar, drei Frauen, die die ganze Sfala vom primitivften, gröbften Liebesgenuß bis zum raffinierteften, außgeflügeltften Sinnenfigel durchlaufen. Santuzza entfernt fih noch nicht allzu weit von den Geftalten, die die Deftinn mit ibrem MWefen ganz ausfüllt. Starfe Sinnlichfeit, glühende Nache und dumpfe Reue, das find piychologifhe Vorgänge, die fie mit ihren ehrlichen Mitteln zu zeichnen weiß. Anders ift der Fall in „armen“. Diefe Zigeunerdirne fennt ald oberfted und einziges Prinzip nur den brutalen Genuß. Aber diefe Genußſucht wird geleitet und beeinflußt durch einen verbrecherifchen Trieb, der bald oben, bald unten ift, bald wie ein unterirdifches Ninnfal jene Grund: natur durchfließt. Die Deftinn ift nur finnlih. So finnlidheaufdringlich, daf fie in der Seguidilla des erften Aftd und in der großen Liebesſzene des zweiten fat fomifch wirft. Umſomehr, als fie ſich bier eine ob ihrer Naivität entzuͤckende Nüance ausgedacht bat. Während Don Joſe noch fein Alcala- Lied hinter der Szene trällert, zieht fie fi die Obertaille aus und präfen- tiert fi) dem in langer Gefängnishaft Verſchmachteten in einer Fleiſchlich⸗ feit, die zu rufen fcheint: „Weiß hinein!” Ihr Auftritt im erften Aft bleibt ziemlich eindruckslos. Das „Nimm Did in Acht“ wirft nicht, wie die Mufif ed beabfichtigt, ald ſcharf gefchliffener Dolch unter lahenden Blumen. Vom dritten Aft an ift der Weg geebnet. Für die abwechslungsſuͤchtige Zigeunerin bringt fie einen dumpfen Groll auf, der fi in der Kartenfjene zu einem fhaurigen Todesgrauſen verdüftert und in den Schlußtaften zu grimmigem Daß auflodert. Das MWiederfehen mit Don Jofe im vierten Aft fpielt fie in großen, rafhen Zügen. Übrigens hat dad Drama bier ein Tempo, das nicht zu vergreifen ift. Als Salome ift die Deftinn glänzend innerhalb der Aufführung des Königlichen Opernhaufes, die befanntlicy die Wildefchen Szenen aus einer fhwülsforrupten Atmofphäre in eine freundlich abgefüblte verfegt. Einmal fiebt fie wundervoll aud in ihrem grünfeidenen Gewand, das die geichickt gruppierten Glieder fofend umſchließt, mit dem bleichen Antlig, auf dem alle after ihre tiefen Spuren binterlaffen baben, mit ihrem leuchtenden Saar, in dem Perlenfchnüre und duftende Nofen niften. Dann ift fie unuͤbertreff⸗ lid) in der rapiden Entwiclung der Szenen, in dem fugenlofen Aufbau ihrer Gedanfen von ihrer erften Frage: „Wer war das, der bier gerufen bat?“ biß zu ihrem legten matten Auffchrei: „Ich babe ihn gefüßt, Deinen Mund.” Der freilich hinter diefer robuftsbegebrlihen Tochter der Herodias die kalt⸗ lüfterne Demivierge der Wildefhen Dichtung fucht, wird fid) irren. Er wird weder das bald fanft bittende, bald hart aufichreiende Stimmchen der Enfoldt finden, noch dad Phosphoreszieren ihres Katzenauges und dad Schlaͤngeln ihres balbreifen Reibes.

17

In den legten zehn Jahren bat fi im bewußten Gegenfag zu den ab⸗ foluten Sängern eine Klaffe von Künftlern berangebildet, die das menſchliche Organ nicht ald ein felbftherrliches Wefen anerfennen, fondern in ihm nur ein brauchbares Mittel des dramatifchen Ausdrucks erbliden. Typiſche Ver⸗ treter dieſer Doktrin find im Konzertſaal Ludwig Wüllner, Ludwig Heß, Hermann Gura, auf der Buͤhne Gemma Bellincioni und Frau Schoder⸗ Gutheil in Wien. Man weiß, wie die geniale Italienerin den Ton charakteriſtiſch zu faͤrben verſteht, wie die zerbrechliche Stimme ihren feinſten Willenszuckungen gehorcht. Man kennt auch Frau Schoder⸗Gutheil, die mit ihrem ſtumpfen, flachen, rauhen Sopran, namentlich in „Carmen“, die erſtaunlichſten Wirkungen erzielt. Zu diefer Gruppe gehört Emmy Deftinn nicht, und darin ift fie im beften Sinne unmodern. Ihre Stimmmittel find viel zu ſchoͤn, zu felbftändig, zu ausgiebig, ald daß fie fi) mit einem Afchenbrödeldafein, einer Magdrolle zufrieden gäben. Sie paffen fi) genau den Bewegungen ded KRunftwerfs an. Sie fünnen demuͤtig bitten, grimmig baffen und weich binfchmelzen. Aber fie laffen nicht das Wort uͤber den Ton, den Berftand uͤber die Geele, den Ausdruck uͤber die Schönheit triumpbieren. Ald die Deftinn frifch vom Konfervatorium an die Bühne fam, war ihr Sopran einer wie viele andre, Allerdings ungewöhnlich Fräftig, gut tragend und von einem dunkel⸗ leuchtenden Timbre, das den Kunftfreund aufhorchen machte. Heute fteht das prachtvolle Organ in voller Blüte. Es hat ſich hauptfächlic nach der heroifchen Seite großartig entwidelt. Die Tiefe iſt voller, fonorer geworden. Die Höbe bat die Biegfamfeit einer jungen Tanne. Dad Ganze in feinem fieghaften Glanz, feiner ftrogenden Kraft, feinem fehmeichlerifch-finnlihen Schimmer hat einen durchaus perfönlihen Charakter, der ed aud andern Stimmindividualitäten fofort beraushebt. Man kann die Augen ſchließen und fagt ohne Befinnen: „Das ift die Deftinn.” Wie Paul Schlenther immer Flagte, daß auf feinen Kainz-Öymnus die Leute ind Theater gingen und den Meifter dann bei fchlechter Laune fänden, fo gilt, was ich eben firierte, natürlich nur von Emmy Deſtinns Feierſtunden. Deren haben wir aber in dieſem Winter zwei erlebt. Ald fie mit Carufo in „Aida“ fang und im dritten Aft, bingeriffen von dem Temperament des Stalienerd, machtvoll aus ſich herauſsging. Und juͤngſt in Richard Straußens „Salome“. Während alled um fie herum den erbittertften Kampf mit dem wuͤhlenden Orchefter führte, fparte fie fich gelaffen auf, um dann am Schluß fpielend Über das tofende Heer der Inftrumente zu fiegen. Was dad heißt, kann jeder ermeflen, der weiß, daß Richard Strauß an Kraft, Ausdauer und Trefffiherheit vom menfchlichen Organ das Letzte und

Hoͤchſte verlangt.

18

Momentbilder von fremden Schaubühnen] von Hanns Heinz Ewers Weiber in der Arena PS Feder Stierfämpfer ift ein Proftitwierter warum follen | Vroftituierte nicht Stierfämpferinnen fein?

Monterey im Staate Coahila, Nordmerifo. Die freis- runde Arena, dad Amphitheater eine Bretterbude, wie FA überatt. Seyreien, Spuden, Fohlen im Publikum. Der A Polizeichef in feiner Loge, dick, fettig, mit vielen Brillant-

SAT ringen. Indianiſche Soldaten ringeherum. Auf den langen Bänfen in der Sonne Mexikaner, Spanier, Indianer, dazwifchen ein paar Mulatten und Ehinefen. Die Fremdenfolonie in den obern Logen, referviert, Deutfche und Franzofen. Und die größten Schreier: Danfees, die fi) als Herren fühlen, Bahnbeamte, Mechaniker, rob, betrunfen. Auf der Schatten- feite, in der Mitte, Madame Baferd Penfion, neun gefchminfte, hochblond⸗ gefärbte Weiber. Kein Rutfcher möchte fie mehr anfaffen in Galvefton und Nemw-Drleand ; bier raufen fich die Merifaner um fie, beftreuen fie mit Brillanten,

Es ift vier Uhr. Bor einer Stunde fhon follte der Kampf beginnen. Die Merifäner warten geduldig, hullen Madame Baferd Damen in ein Bad brünftiger Slide. Die aber reden fi, genießen die freien Stunden, wo ihr Fleifch nur von Augen begehrt if. Doch die Amerifaner werden ungeduldig, ſchreien immer lauter:

„Die Weiber! Die verdammten Weiber!”

„Sie mahen nod Toilette!” ruft einer.

„Sie follen nadt fommen, die alten Dirnen!” brüfft ein Langer, Hagerer. Und die ganze Arena freifcht vor Entzüden: „Sie follen nackt kommen!“

Die Euadrilla fchreitet in die Arena. Voran Confuelo da Llarios y Bobadilla, der weibliche „Fuentes“, die Lippen gefehminft, voll blauen Puders, eig gepreßt ind Rorfett, den riefigen Bufen bis zum Kinn heraufgeſchnuͤrt. Hinter ihr vier Dicke, zwei Magere, alle in den eng anliegenden Höschen der Zoreadored, welche die zu langen oder zu furzen Ebeine groteöf zeigen. Drei noch rittlingd zu Pferde auf uralten Schindmähren, im Koſtum der Piradores, die Lanze in der Hand,

Das Volk jubelt, Hlatfcht in die Hände. Taufend Schamlofigfeiten, wider- lihe FZoten bhageln in den Sand. Nur eine von Madame Baferd Damen ‚zieht unbewußt die Lippen —ein halbes Mitleid, ein Fleiner Tropfen Solidaritätd- bewußtfein. Der weibliche Alguazil in ſchwarzem Samtmäntelchen bringt den Schlüffel: von zehbntaufend die ſchwammigſte Metze der Stadt, nad) allen Seiten das gichtbruͤchige Maultier überfettend, das unter der Laft faft zufammenbriht. Das Tor öffnet fi fnarrend, ein junger Stier, vielmehr ein Kalb, wird in die Munde geflogen. Die Weiber freifchen, flettern und wälzen ſich liber die Barriere. Aber das Tier bat gar feine Luft, irgend

19

einem etwas zuleide zu tun: es blöft laut auf und will wieder zuruͤck. Es bat Angft und drückt fi) eng an die Planfen, durdy deren Spalten Indianer« buben ihm mit Stöden größern Mut einzutreiben verfuhhen. Die Weiber fommen beran, fpreiten die roten Mäntel vor feine Augen, fchreien, reizen dad Nind mit dem Erfolg, daß es fi umdreht und den blöden Kopf feft gegen dad wacklige Tor drüdt. Confuelo, die berühmte Klinge, faßt fi) ein Herz, fie zieht dad Tier am Schwanz; ſo, wie ſie ihren Fuhr⸗ knecht am Schnurrbart ziehen mag.

Die Merikaner ſchreien: „Feige Bande! Feiger Stier! Feige Weiber!“

Und ein total betrunkener Danfee brüllt unaufhoͤrlich: „Blut! Blut!”

Die Damas Picadores treiben ihre Gäule an. Mit dem langen Sporn am linfen Fuß baden fie ihnen tiefe Löcher in den Leib, bringen aber doch die alten Mähren nicht von der Stelle. Die andern Weiber fchlagen fie mit dicken Knuͤppeln auf die morfhen Beine, zerren fie am Zügel hin zu dem ÖStiere. Und fie drefchen mit langen Hafenftöden auf das Tier: es fol ſich wenden, fol dad Pferd angreifen.

Und ed wendet ſich auch. Die beiden Tiere ftehen einander gegenüber, blöfen und wiehern unter den wuchtigen Sieben. Aber fie denfen nicht daran, fi) etwas zuleide zu tun.

Die Weiber holen die Banderillas. Sie laufen an dem Rind vorbei und ftechen ed mit den Safenpfeilen in den Naden, den Rüden, wo es gerade trifft. Unbeweglich, in lächerlicher Angft, läßt fich das Tier alles gefallen.

„Feiger Stier! Feige Weiber!” fchreien die Mexikaner.

„Blut! Blut!” brüllt der Danfee.

Man fchleppt dad Pferd weg. Conſuelo da Llarios y Fuentes laͤßt ſich die Klinge geben. Grüßt, zielt und ſticht in die Seite! Die Galerie raft vor Wut: der Stich muß zwifchen den Hörnern durchgehen, durd den Naden das Her; treffen, fo daß der Stier glei in die Knie finft. Sie ftößt noch einmal in die Schnauze. Das Blut fiert in den Sand, das arme Tier blöft und zittert.

Die Menge fchreit wie aud einem Mund; man macht Miene, in die Arena zu dringen.

Aber der betrunfene Danfee übertönt alles mit feinem Gebrüll: „So iſts recht! Gut fo! Blut! Blut!“

Der Polizeihef Fnallt feinen Revolver in die Luft, um ſich Gehör zu verfchaffen: „Seid doc nicht unvernünftig!” ruft er. „Das ift ja gerade der Wit davon! Sie find einander wert, dad Weib und der Stier!”

Da lat die Menge: „Aha! Site find einander wert!” Und dad Weib ftiht auf das Rind, das ſich nicht rührt. Sechs, acht, zehnmal ftößt fie ihm die Klinge in den Leib. Einmal trifft fie auf einen Knochen, da biegt fich die Klinge und fällt ihr aus der Hand. Das Weib kreiſcht und das Tier zittert und biöft.

Aber dad Volk hat jegt den grandiofen Witz begriffen: ed lacht und windet fih vor Lachen.

20

Eine der fetten Banderillerad bringt einen neuen Degen; aber fie will ihn der Eſpadadame nicht geben, will felbft ftehen. Die feift und reißt ihn ihr fort. Da nimmt die andre die verbogene Klinge vom Boden auf und beide rennen auf das Tier. Und wieder eine, mager wie ein Gerippe, die den runden Dold führt, um verendenden Pferden und Stieren den Gnadenftoß ind Gehirn zu geben, kann ſich nun nicht mehr halten: fie reißt die furze Waffe aud dem Gürtel.

Und alle drei fpringen auf dad Tier. Gie zielen nicht mehr, ftoßen, ftogen. Weißer Schaum tritt ihnen vor die Lippen, roted Blut fprigt uͤber und über auf ihre Gold- und Silberflitter. Das Tier fteht immer noch, unbeweglich, biöfend, aus hundert Löchern Blut fpeiend. Sie reifen ed am Schwanz, an den Beinen zur Erde, ftoßen ihm von unten in den Leib. Und die Magere rennt ibm den Dolch auf, nieder in beide Augen.

Das Tier ift tot, aber die Weiber morden weiter. Sie fnieen, liegen über dem Kadaver und zerfegen ihn. Und Eonfuelo da Llarios y Fuentes reißt ibm die Schnauze auf und ftößt bis zum Heft die Klinge hinein.

Die Merifaner gröblen und wollen fchier berften vor Lachen. So ein Pig, fo ein herrlicher Wig!

Ein beiferer Trompetenftog man jerrt ein andred Kalb in die Arena.

Rasperlefherter

Berliner Taffo-Premiere/ von Peterchen

Goethes Tragddie ald ‚Novität”, gefehen von berliner Kritifern der Gegenwart

Sulius Hart In der Welt ded Goethefhen „Taſſo“ leben Renaiffancemenfchen felt- famer Art. e und leife Geftalten, denen ein lauted® Wort fhon DBer- brechen ift; Menfchen, die die höchfte Blüte neufter europäifcher Wobl-, ad) faft zu Wobhlerzogenbeit ihr eigen nennen. Wie feltfam müßten diefe allzu fenfibeln und ein wenig dinnblütigen Goethemenfhen den Augen der wirf« lihen Renaiffancemenfhen erfchienen fein. Was hätte der Dichter ded „Be— freiten Jeruſalem“ und feine uͤppig wilden Freunde und Freundinnen wohl zu diefer Taffowelt von 1800 gefagt? Diefer Welt, von peinlichfter Kultiviert» beit, wo jeder fo unendlich fchonend mit dem eigenen lieben Ich und der empfindlichen Perfon der andern umgeht. Aber einmal wird in diefer Welt denn doch ein lalıted Wort geſprochen. Die durd) fein Taftgefübl fo ganz zu meifternde Leidenſchaft der Liebe entpreßt dem Goetheſchen Taſſo einen Schrei und ſiehe da: in dieſer ſcheinbar ſo umfriedeten, ſo zarten Kultur bat die alte Wildheit und Sinnenbrunſt nnr geſchuͤtztere gefaͤhrliche Formen

21

ängenommen, und der Goethe⸗Taſſo tft zugleich auch der wahre und wirkliche Renaiffance-Taffo. Der alte Geift menſchlicher Fremdheit und menſchlichen Gaſſes bat nur eine feiner vielen Verwandlungen durchgemacht und zeigt uns auch noch in diefer formal raffinierten Gpethewelt fein alted Tierwefen. AU diefe ängftliche Rücfichtnahme, diefer vorfichtige Taft druͤckt legten Endes die alte Barbarenfurdyt aus, mit der fi) Tſchandalen und Bufhmänner auch gegenüberftehen, und die „gefellfchaftliche Kultur“ ift bier mir wieder der große Schamane, die durdy und durch aberglaͤubiſch verehrte Zauberin und Heilfimftlerin, die den Haß und die Fremdheit, die überall zwiſchen den Menſchen lauern, wandeln fol. Aber die wahre Zauberfünftlerin, jene alle zu ‚einem mwandelnde Liebesmacht, jene Macht, vor der Haß und Fremdheit wirklich ſchwinden und das Ich zum Du, das Du zum Ich wird, dieſe Macht

Alfred Kerr I

Man hat und geftern den „Zorquato Taſſo“ des Wolfgang Goethe gefpielt. In fünfzig Fahren wird man diefed Jahr nicht nach irgendwelchen Bataillen und Traftaten dadraußen meflen man wird fagen: dies Jahr ift charafterifiert dadurd, dag man in der Preußen-Hauptftadt Berlin den „Zorquato Taffo” fpielte... Und neben diefer Tatfache wird die Charakteriſtik ded Jahres etwa noch diefe Kritif verzeichnen. In einem gewiſſen Abftand vielleicht. Aber verzeichnen. Oder ich will ein fchlechter Menſch fein.

I

Man bat den „Torquato Taffo” von Goethe gefpielt. „Geſpielt“ —? Nun ja doch! In des Wortes ängftlihfter Bedeutung gefpielt. Es bleibt zu bedenfen, daß ımfre an Kogebuefcher Kunft großgezogenen Spieler über⸗ baupt den Wortlaut ſolches Sprachwerks vernehmlich zu machen wußten. Als ich in Ägypten an einem kobaltbiauen Sommertag eheul die Spradhe unferd Wafferlandes bat Fein natürliches Wort für felhen Tag! als id alfo auf dem Marft von Alerandrien einen Gaufler fab, der mit den Zehen Beige fpielte: da waren es nicht die mufifchen Qualitäten des Mamıes, die man bewunderte, fondern daß er ed uͤberhaupt fonnte.) An unfern Taffo- fpielern bleibt zu (oben, daß fie es Überhaupt fonnten. Sonft nichts Jmmerbin: man fol diefen Taſſo fpielen. Wie auch immer. Denn diefer Zaffo ift ein Eoufin von mir. Stille! Ein Vetter der beffern Mitteleuropäer von heute. Ein entfernter Meffe vom Hamlet ded W. Shafefpeare aus Stratford. Diefer Tao

Alfred Holzbod

Die literarifhe Bedeutung unfrer thiringifhen Herzogtuͤmer, deren größte geiftige Kraft von heute fih in der weimarer Dichterfchule offenbart, kam geftern im Nationaltheater durch die Aufführung ded „Torquato Taſſo“ zu Wort, welcher befanntlih den herzoglich weimarifhen Staatsminiſter Wolfgang von Goethe, der bier ein Stüͤck Selbſterlebtes, audgeflattet von der Phantafie des Dichterd, wiedergibt, zum Verfaſſer bat. Der befannte Dichter, der ſich der intimften Beziehungen zu feinem erlaudhten Landed- fürften ruͤhmen darf, bat bier aus eigenen Empfindungen und Erinnerungen geſchoͤpft und fich dabei ais ein Poet bewährt, der in großen Worten, in

22

feinen Stimmungen, in wundervollen Bildern feine Empfindungen ausleben läßt, ausleben laſſen kann. Diefem ungewöhnlichen Ereignis entſprach dann auch die Zufammenfegung einer erlauchten Zuhoͤrerſchaft. Zwar fand leider die im Ausficht geftellte Anmefenheit Sr. Kol. Hoheit ded Prinzen Auguft die der Spitze dieſer Gefellihaft die Krone aufgeſetzt hätte, micht ſtatt, doch ſah man dafür viele ausgezeichnete Perfönlichfeiten des literarifchen, kuͤnſt⸗ lerifhen und politifhen Lebens die Ränge und das Parfett anfüllen. Wie immer tbronte auf einem Balfonfig unfer erfolgreichiter Dramatifer Kotzebue. Neben ihm gewahrte man ——

Erich Sclaifjer

Meine literarifhe Bildung bat ein unangenehmes Loch ich fenne den modeberlihmten Wolfgang Goethe nicht. Ob er nur ein Liebling der Mode oder auch ein Liebling der Götter ift, vermag ich mithin nicht zu fagen. Er tauchte in Berlin auf, als ich gerade fein Theater befuchte, und wird viel« leicht über Nacht verjchwinden, wie er uͤber Nacht gekommen iſt. Geine Verehrer ruͤhmen ihm allerlei Guted nah. Mag er fonft fein, wie er nur immer will: in den fünf Aften ded „Torquato Taſſo“ ift er fade und matt und blöde. Ein Piebling der Mode, aber ein trifter Stieffohn der Götter. Der Held daß Gott erbarm! ift beftenfalld ein impotenter Jammer⸗ ferl, der die Welt mit feinem franfen Schluchzen beunruhigt, weil er mit den Mufen und andern Weibern nicht zuredyt fommen kann. Daß ift ein Motiv, dad beißt ein Motiv! Um den eiteln Geden von Helden tanzen Schemen, teild nichtig und teild widerwärtig; aber immer Schemen, Schemen, Scemen. Diefe Sorte tut fünf gefchlagene Afte lang nichts, als iiber ſchwaͤch⸗ lihen Liebeskram neurafthenifch zu flennen und zu plaudern und dann wieder. zu plaudern und zu flennen, bid der Zufchauer ſich bei dem oͤden Hin und Ber windet und am liebften auf die Bühne binaufrufen möchte: „Gebt zufammen oder gebt auseinander oder hängt Euch in Gotted Namen auf; aber, Simmelfreuzdonnerwetter, laßt mich gefälligft ungefchoren!” Es ift viel zu milde, zu fagen, daß Herr Goethe fein Dramatiker fei; er ift die fchlanfe Megation aller dramatifhen Kunft. Von irgend einer intereffanten menſch⸗ lichen Entwiclung ift feine Rede, und ebenfowenig von irgend einer äußern theatralifhen Spannung. Langeweile und Ohnmacht find die- Reichenzlige, die diefed fogenannte Drama eines inferioren Kopfes fenntlih mahen. Wenn man das defadente Gefchwäß von Liebe und Liebespein beifeite läßt, bleibt ein regelrechtes Oberlehrerſtuck von nadtefter Armfeligfeit. Herr Wolfgang Goethe, wie wild er ſich auch geberden mag, ift ein Oberlehrer der Defadenz. Sch will mich gerne bangen laffen, aber erft nachdem ich ed gefagt habe: Ein Haudfneht der Geſundheit wäre mir lieber! Wollte ich noch weiter auf dad qualvolle Machwerk eingehen, fo müßte ich eine Abhandlung zur Pſychologie des Dilettantismus fchreiben, und dazu habe ich in diefem Augen- blick nicht die Zeit und nicht den Raum; auch koͤnnte ed nur in einem had. fünftlerifhen Organ gefhehen. Aber, hold der Teufel, ed wäre die Mühe und das Papier nicht wert. Befaſſe fi) mit- dem perverfen Quarf, wer feinen Anblick ertragen bat. Ich war mir in einem dunfeln Drange des rechten Weges wohl bewußt gewefen und hatte fchon nad) dem zweiten Akt einen meifterhaft ausgeführten Ruͤckzug in eine Kneipe angetreten, die viel beffer war ald das Stüd.

23

Thielfcher balia-Theater. Man bat wieder einmal, der Not gehorchend, nicht

dem eigenen Triebe, die Anfangd« fjenen einer der ungeſchickten Bühnen- Rohbauten ertragen, welche ihre Ver⸗ fertiger die Dichterdirektoren Jean Kren und Alfred Schönfeld opti⸗ miftifch „Poffe” nennen. Ein paar Chormaͤdchen, im Koftum einander fo gleich wie in ihren, faft militärifch exaften, Armbewegungen, haben dem vollgepferchten Parfett erzählt, daß fie „ed“ (alſo irgend etwas) „nicht länger aushalten”, oder daß fie „ihn“ (alſo irgend wen) frobgeftimmt er- warten. Eine Goubrette bat mit anerfennendwertem Selbitbewußtfein ‚feftgeftellt, daß fie ein feſches Maͤdel fei: denn die fefchefte ift, wer wollte ed leugnen, ja immer die Verlinerin, zumal, wenn diefed Vefenntnid vor einem ausſchließlich berlinifchen Audi⸗ torium abgelegt wird. Dann bleibt die Bühne eine Sekunde lang leer. Ploͤtzlich aber durchfauft eine bigige Galoppmelodie dad Haus. Die Fana⸗ tifer der heitern Kunſt rücken ſich in den Seffeln zurecht. Und oben fchießt die Füße berühren faum mehr den Bühnenboden ein dicker, Fleiner Herr aus einer Seitenfuliffe. Während er, dem Applaus der Anhänger danfend, fur; mit dem Kopf nidt, fann man feine originelle Figur betradhten. Den Kugelfopf mit der mauskahl gefchore- nen, in der Diftanz graublond ſchim⸗ mernden Schädelmölbung, den liftigen Augen, den glatten, feiften Rundungen der Wangen, der fleinen Rnopfnafe und einem Fettfinn, deffen ſich Fal- ftaff nicht zu ſchaͤmen brauchte. Aber

24

ſchau

dieſer wohlbeleibte kleine Herr, dem des Baͤuchleins Fülle ſchwer auf den furzen, dicken Beinen laftet, bat fich auf eine faft turnerifhe Behendigkeit feiner flrammen lieder trainiert. Sein Körperhen kennt fo wenig das Raſten wie feine Sprache, dieſe Sprache mit dem typiſch berliniſchen ſingenden Einklang und der Gewohnheit, etwa zwoͤlf Worte hintereinander im Tempo prestissimo herauszuſprudeln, um auf dem dreizehnten, deſſen Vokale dann beſonders lang gedehnt werden, auszuruhen. Gerade diefePerpetuum- mobile-Zehnif der Thielſcherſchen Mund» und Körperfprache, die mit feinem auf gemaͤchliches Verweilen, trodene, rubige Komif eingerichteten Embonpoint wenig zufammenpaflen will, fchafft eine Kontraftwirfung, die dem Fleinen Guido immer den größten Erfolg verfchafft hat. Daß er nadı= drüdlichere Charafterifierungsfäbig« feiten befigt, bat er faft zehn Jahre lang nicht mehr zeigen fönnen. Wird er nicht mebr zeigen fönnen, fo lange er fich nicht nad) den Maßen einer Aufgabe zu richten bat, fondern feine quide, krab⸗ belige Perfönlichfeit, einfach, wie fie da iſt, in dad Zentrum irgend einer gleihgiltigen Fulle finnlofer Szenen geftellt wird.

Da wirft er befonders in einerSjene. Es taucht nad alter Poffenfitte, die fogar der größere Blumenthal adaptiert hat irgend eine Perfön- lichfeit vor feinem verſchmitzten Blid auf, die ihm gerade in Diefem Moment in der Hölle am angenehmften wäre. Und nun bricht er in jenes lıberlaute Gelächter aus, mit deffen Geräufchen man fo gern eine beifle Situation als

harmlos erfcheinen läßt. Er fpringt bo, wirft die Beine durcheinander, fteft die Hände in die Tafchen, reckt den Oberf vor, den Bauch zurück und fchleudert dem ganz verblüfften Gegenüber einen immer wieder von jenem zwangvollen Lachen unterbroche⸗ nen Wortſchwall an den Kopf. Er fpriht, nur um einen Angriff zu ver⸗ bindern, immer weiter, immer weiter. Zugleich aber irren, von den Augen⸗ winfeln ber, einpaar Mitleid beifchende Verlegenbeitöblide in den Zuſchauer⸗ raum. Hilflos fagen fie: „Na, Kinder, Ahr wißt doch Veiheid .... So reißt mich doch raus. Ihr feht ja, wieic mich anftrenge.” Endlich fommt der Moment, wo er fich wieder frei fühlt, und, lautlos, in einer ganz gro- teöfen Tanzimprovifation, die runde, mit Fleiſch ſozuſagen ausmwattierte Fi⸗ gur über die Bühne wirbelt. Bei alledem macht ed ihm gar nichts aus, in feinen Sprechcouplets denn der Lieder fügen Mund verfagte ihm Apoll Direft mit feinem Publifum anzu= binden, ihm ragen vorzulegen, es zu fritifieren. Aber auch inmitten diefer brutalern Werbungen um den Erfolg wird dad Wort „Hanswurſt“, dad man zuweilen jhon auf den Rippen bat, doch ſogleich unterdrüct, wenn man abermals bedenft, auf welchem Poften Tdielſcher jegt ſeit Jahren verharren muß. Wenn man dieſe zeitweiligen Begleiterſcheinungen ſeiner Komik nur als Kampfesmittel nimmt, die ihm das Anſehen bei der breiten Maſſe be— wahren ſollen, bis einmal wieder der Tag der Auferſtehung kommt. Wenn man ſich erinnert, daß nur dieſes kleinen Mannes bald grazioͤſe, bald bizarre Beweglichkeit dad Thalia » Theater einigermaßen aufredt hält.

Seine Befäbigung flr die kuͤnſt⸗ lerifche Komödie hat Guido Thielfcher längft bewiejen. Natüuͤrlich nicht im Rahmen der Adolph⸗Ernſtſchen Poſſen⸗ unfunft, die ihn in Berlin einführte

und ihn ſchon Damals auf einen ein⸗ jigen Typus, auf den in Berlin einge» wanderten Provinzfchauten, feftlegte. Die deutfhe Kleinftadt, einmal auch Köln, ein andred Mal fogar China waren die Brutftätten dieſes auf den [hönen Namen „Tute“ oder „Timpe” oder aͤhnlich hörenden Dreiviertelfres tind, der am Ende ftetd von Anna Baͤckers, der urderben berliner Sou⸗ brette, geheiratet wurde. Anno 1896 aber fchlüpfte Guido füreinefurze Zeit bei Brahm unter, und nur die Unraft, die diefer queckſilberige Komifer im Leibe hat, und ein beftridtender Antrag ded Metropol-Theaterd rif ihn aus einem geiftigen und fünftlerifchen Fort» bildungsprozeß, der heute bereits hätte vollendet fein fönnen. Daß damals im „Deutfhen Theater” Shbafe- fpeared Totengräber und Schillers Pater von Thielfherd Rundgeſtalt fürd erfte ind deutlichſte Poſſenber⸗ linifh übertragen wurden und durd) ihre Lachertolge auf die Bedeutung der ernfthaften Gegenfpieler drüdten, war fein Wunder. Aber fein Theater- direftor in Schniglerd „Freiwild“, diefer glattsgefhmäßige, verruchte Geck, und feine verfoffene, halb ver- blödete Beamtenruine im „Biberpelz“ jeigten, daß bier eine fidele Indivi— dualität nur des verfeinernden Lehr⸗ meiſters bedurfte, um dauernden Kunſt⸗ wert zu gewinnen.

Leider ward Guido vorher fabnen«- flüchtig. Und ift feither der Träger andrer „Aufgaben“ geworden. Er bat den Berlinern einige hundert Male die befannte, ber den Erdball verbreitete Frage vorgelegt, ob fie denn noch immer nicht den Fleinen Cohn gefeben hätten. Und er wird auch in der hundertften Novität des „Thalia-Theaters“ abermald in der Mitte des gleihen Vorgangs fteben. Er wird auch dann noch ein patenter Kerl von bewegter Vergangenheit fein, der ein erotifches Geheimnis zu ver-

25

bergen bat und fein wahrhaftiges Geſicht nicht einmal feinen nächiten Angehörigen Frau, Schmwieger- mutter, Schwefler, Bafe und Muhme zeigen darf. Obligatorifch ift da- bei eine biutrünftige, erotifhe Dame, die mit wüften Leidenſchaften Guidon auf den Ferfen ift. Unentbehrlich ift ferner, daß unfer Perpetuus mobilis, am Schluß des erften Afted, unter eine Dachtraufe, Dufhe, Waſſer⸗ feitung gerät; daß er, am Ende des zweiten Afts, in einem feinen Körper- umfang amlfant einfleidenden Mas⸗ fengewande angeritten, angeflettert, angetanzt,angeiprungen fommt. Was fonft auf der Bühne gefprochen wird, ift gänzlich belanglos. Iſt die Feine Kugel Thielſcher erft auf die Bühne gerollt, fo werden Extratricks nicht mehr erforderlich. Es wird dann zur unbedeutenden Nebenſache, ob der Theaterzettel durch die Überjchrift „Eine vergnügte Doppelehe“ oder durch den Titel „Wenn die Bombe platt” näher individualifiert wird. Thielſcher fpricht einfach, was er will. Und wenn er mad in einer der legten Poſſen paffierte von feiner Gegenfpielerin gefragt wird: „Willſt Du nicht endlich mal ein ver- nuͤnftiges Wort fprehen?” und er, mit jämmerliher Miene, jagt: „Ich kann nicht,“ fo Flingt dad den Wiffen- den weniger wie ein Witz, ald wie ein ebrlicher, gegen feine dichtende Doppeldireftion gerichteter Vorwurf des luſtigen Gefellen. Denn jene koͤnnte wirklich nicht Beſſeres tum, als endlich einmal ihrem auf ein geift- loſed Schema F eingeftellten Theater- ftumpffinn abzufagen und an guten Volksſtuͤcken (auch Altern Datums) die bildungsfäbige, volfötümliche Kraft ihred beften Manned in gefunden Sinne zu erproben.

Walter Turszinsky

26

DiePlaͤtzehinterdenSaͤulen

at man als Theaterbeſucher An⸗

ſpruch darauf, von ſeinem Platz aus die Buͤhne zu uͤberſehen? Es ſei bier eine gerichtliche Entſcheidung über diefe Frage mitgeteilt. Eigentlich ift die Antwort ja, könnte man. denfen, felbftverftändlih. Schließlich gebt nie⸗ mand ind Theater, um nichts zu ſehen. Trogdem müffen doch einmal Zweifel an der einzig richtigen Antwort ge= fchwebt haben, denn fonft wäre es vermutlich zu feinem Prozeß gekommen. Und weiter: Was bat der Prozeß famt feiner Entfheidung genügt? Gibt es jegt in den Theatern fagen wir nur: in denen Berlind feine Pläge mehr, von denen man nichts ſieht? Man denfe gerade an die eriten Theater, in denen die Preife am teuerften find, um eine Antwort zu erhalten. Daraus ergibt fich, daß dad Thema heute wie immer eine gewiffe Aftualität bat. Jeder Theaterbeſucher kann in die Lage fommen, wiffen zu müffen, was er mit einem Platz anfangen fol, von dem aus er nichts ſehen kann.

Vorausgeſchickt ſoll noch werden, daß es an einzelnen Theatern Kaſſierer gibt, die einen freundlicherweiſe gleich auf das bevorſtehende Mißgeſchick vor⸗ bereiten. Es wird ſich fragen, was dieſe Erklaͤrung für eine rechtliche Be—⸗ deutung hat, wenn man trotzdem das Billet kauft.

Zunaͤchſt alſo: Muß man von feinem Platz aus die Bühnehberfehen koͤnnen? Von ſeinem Sitzplatz aus, und zwar, wenn man ſitzen bleibt. (Es gibt auch Beſcheidenere. Wenn ſie im Sitzen nichts ſehen koͤnnen, ſtehen ſie auf. Von einer ſolchen Beſcheidenen hoͤrte ich einmal auf meine Frage, wie der Platz geweſen ſei: „Ich babe ganz gut geſeſſen aber laͤnger haͤtte ich nicht ſtehen koͤnnen.“ Alſo dieſe Be— ſcheidenen bleiben außer Betracht.)

Die Entſcheidungen bejahen die

pen ee age. Und zwar aus 28 den. Der Vertrag, —— Theater beſucher mit dem en abſchließt, iſt ein trag. Tür ein beſtimmtes von der Direktion zu liefernded Werk, die Theatervorftellung, zahlt der Vefucher einen beſtimmten Preis. Die Hoͤhe des Preiſes bemißt ſich danach, von welchem Platz aus der Beſucher das Werkentgegennehmen will. DieHaupt- ſache an dem ganzen Vertrag iſt die, daß dad Werf, das einem verſprochen wird, einem auch geleiftet wird. Wel⸗ ches die Erforderniffe des Werkes find, die notwendig erfüllt werden möüffen, ift ja nicht ohne weiteres ge- mau -zu beftimmen. Soviel ift aber ſicher: Gehör und Geſicht muͤſſen alles umfaffen fönnen, was fih auf der Bühne abfpielt. Wird einem der freie Blick auf die Bühne, z. B. durch Säulen, verfperrt, fo leiftet die Diref- tion nicht, was fie zu leiften nach dem Vertrag "verpflichtet ft. Es kann niemand zugemutet werden, daß er bald rechts, bald links an der Säule vorbeizufehen fucht, ganz abgefehen davon, daß man dadurd; feine Nach⸗ barn beläftigt. Schon garnicht braucht man etwa aufzufteben. Denn der Pag, den einem die Direftion dazu anmeift, dad gefchuldete Werf ent- ‚gegenzunehmen, muß fo beſchaffen fein, dag man ohne weitere Verrenfungen und Unannebmlichfeiten ſehen fann. Was tut man alfo, wenn man auf einen Platz gelangt, von dem aus man nicht fiebt? Man wartet den Beginn des Stüded ab und Fonftatiert, daß man nichts feben kann. Das unter- liegt allerdings der objektiven Nach⸗ prüfung durch das Geriht. Darauf ibt man fich zu dem Kaffierer und Art, daß man, ohne eine Friſt zu ſetzen die an ſich erforderlich ſein koͤnnte, die aber hier nach den ge⸗ ebenen Umständen natlırlid) nicht ges * t zu werden braucht den Werk⸗

vertrag aufloͤſe und ſeine Vorleiſtung

ſich nicht ein andres Billet aufreden zu laſſen. Die Friſt, die man ge $ 684 B. G. B. fegen müßte, ift nur zur Befeitigung ded Mangeld des gelieferten TBerfeb da. Sie kann alfo in feiner Weiſe in Betracht kommen. Der „Kauf“ eined neuen Billetd wäre ein neuer@Berfvertrag ‚den der Theater⸗ beſucher natuͤrlich mh abzuſchließen braucht. So hat das Oberlandesgericht Celle und das Landgericht J Berlin in zwei Fallen entgegen dem Land⸗ gericht Hannover entſchieden.

Der Kaſſierer kann einem nicht ent= gegen balten, man babe einen Aft mitangefeben, und er werde darum einen entfprechenden Abzug machen.

r die Teilleiftung, die am ſich wert- 08 fein kann und befonders wertlos wird, weil ja der Theaterbeſucher nichts gefeben bat, braucht er nichts zugablen.

alles gilt aber nicht für den

ar = der Kaffierer einen vor dem auf des Billetd vor dem Platz ge⸗ —— hat. Nach einer Warnung des

Kaſſierers iſt dem Theaterbeſucher ſchließlich das gewaͤhrt worden, was er hat erwarten fönnen. Das Ober- landeögericht in Celle hat es audge- fprohen, daß der Theaterbeſucher,

fchaffenheit des Platzes bei feinem Beichluß bebarrt und das Billet ver⸗ langt, died auf die Gefahr tue, wenig oder gar nichts zu ſehen. Für diefen

all ift der Theaterbefucher alfo micht

erechtigt und ebenfowenig der Kaſſie⸗ rer verpflichtet, das Billet abzugeben oder zuruͤckzunehmen.

Man kann ald Regel annehmen, daß einer fich nicht darauf verfteifen wird, ein ſchlechtes Billet trog der Warnung des Kaſſierers zu nehmen. Immerhin wäre es beffer, wenn der Kaffierer gar nicht in die Rage kaͤme,

27

vor etnem Platz ſeines Theaterd warnen zu müffen. Aber vorfommen wird beides. zur. wird e8 leider faft immer geben, und Kaſſierer werden warnen. Diefed wird allerdings feltener vorfommen als jened. Deshalb ift ed ganz gut, wenn man in der Lage ift, die Situation zu überfehen. Der Kaflierer wird meift wenig geneigt fein, etwas zuruͤckzuzahlen. Dadurd) laffe man fich nicht fehreden. Ein paar eugen findet man, die einem vor iht befunden können, dag man dad Theater aus diefem beftimmten Grund lange vor Schluß verlaffen bat. Das übrige findet fih dann ſchon. Dr. Richard Treitel

Anton Dinſpel

Jfrten Dinfpel ift Pfarrer in Kirn

a. d. Mabe. Mebenbei aber ift er Dichter: Dramatifer. Kein Ge— ringerer ald er ift 5. ®. der Ver—⸗ faſſer der dramatifhen Dichtung: „Der Geſchaͤftsfuüͤhrer“ oder „Unentwegt auf rechtem Pfade”, Schaufpiel in drei Aufzuͤgen mit acht, nur männlichen, Nollen. Nun fenne ich zwar diefed ebenfo wie die andern Werfe Anton Dinfpeld nur dem Namen nach. Aber ih möchte, ebe ich mich weiter mit dem Autor befaffe, auf das allen feinen Arbeiten Gemeinſchaftliche hin⸗ weifen: das Fehlen der weiblichen Mollen. Dad mag num feinen Grund darın haben, daß in Kirn (a. d. Nabe) die Schaufpielerinnen nicht ganz auf der Höbe ihrer männlichen Kollegen ſtehen. Oder auch in der Abneigung des Fatholifchen Geiſtlichen gegen das Weib an fih. Gleichviel jedoh ich glaube, Dinfpel geht darin etwas zu weit.

Den Eindrud hatte ich wenigftend, als ich eine Arbeit Dinfpeld fennen lernte. Allerdingd handelt e& ſich in diefem Falle niht um ein Driginal« werf von ihm, fondern um die Be-

28

arbeitung einer mwenigftend mir ſchon befannten Dichtung von Friedrich Sciller. Hierbei ift es Anton Dinfpel nicht nur gelungen, die Handlung zu vereinfachen, fondern aud, wie er fhon in der Einleitung hervorhebt, die Frauenrollen zu befeitigen. Der Name diefer Arbeit ift: Wilhelm Tell, In diefem Stüd wird beifpielöhalber eine Dame namend Berta von Bruneck durch einen alten Diener, Bernard genannt, erfeßt. Und auf die glüclichfte Weife erſetzt. Diefer Bernard erzäblt nämlich (in Dinfpel- fher Sprade), was feine Herrin ſagenwuͤrde (in Schillerfcher Sprade), wenn fie nicht gerade abweſend wäre.

Überhaupt die Dinfpelfche Sprade! Die ſchoͤn find diefe JZamben! Man muß die Leichtigkeit bewundern, mit der er fuͤr jede fehlende Silbe ein erquichend fFräftiged „Ha!“ findet.

Ich bin ficher, diefe Sprache würde 7

felbft unferm geftrengen Profefforh, c. Adolf Bartels genügen.

Alle überflüffigen Szenen weiß Anton Dinfpel zu vermeiden. Mit Recht. Es hieße doch Eulen nad Athen tragen, wuͤrde er eine Selbft- verftändlichfeit, wie z. B. die, daß ein lächelnder See zum Bade ladet, noch befonders erwähnen. Und was geben die von Schiller erzählten Familien⸗ angelegenbeiten die Offentlichfeit an? Die find doc mehr ald Überflüffig. Ja, die find oft um es gerade berauszufagen direft indisfret.

Trog feiner nicht genug anzuer⸗ fennenden Selbftändigfeit zeigt Anton Dinfpel zuweilen doch eine gefunde Anpaflungsfäbigfeit. Er ehrt den ſchon verftorbenen Kollegen Schiller, indem er ſich deffen Wuͤnſchen nicht immer widerjegt. Da ift gleich dad Arrange- ment der Ruͤtli⸗Szene: „Wald- und Wiefenfuliffen. Wenn fi die von Schiller gewuͤnſchten Eisgebirge refp. der See im Hintergrunde darftellen ließen, wäre fehr zu empfeblen. Es

He as

genügt aber auch eine huͤbſche Dar- ftellung der Wald und Wiefengegend.” Ich könnte noch viele Vorzüge der Dinfpelfhen Dichtung hervorheben. Aber ich denfe, daß ich befler daran tue, wenn id) dad Außerft preiswerte Buch ed foftet nur eine Marf allen denjenigen Lefern, deren Inter⸗ effe wachzurufen mir gelungen ift, zum Kauf empfehle. Verlegt ift dad Werf von der Paulinud-Druderei in Trier. Felix Heilbut

Die Weber in London

ie Euglish Stage Society bat Hauptmannd „Weber“ gefpielt. Freilich ſchon einmal waren fie wie es fcheint, in uͤberaus primitiver und völlig ungenüigender Weife vor einer Reihe von Zahren „ald Kampfruf und Feuerbrand” am Weltfeiertage, dem erſten Mai, in englifher Sprache auf» geführt worden, ohne indes irgend wel- chen fünftlerifchen Eindrud zu hinter» laffen. Diesmal handelte ed fih um die werbende Kraft des Stüdes ald dramatiſches Kunftwerf. Und als fol- ches ward ihm bier fein Sieg befchie- den. Der größte Teil diefes doch „er⸗ lefenen” Publikums blieb kalt und gab nur einigen tüchtigen Leiftungen und dem ganzen ernftbaften Streben feinen abgemeflenenBeifall.BondemDrama, feinem Thema und deflen Behandlung mochte es nichts wiflen. Das tritt denn aud in den Kritifen deutlich zutage, die zum Teil fogar die Stage Society wegen der Darbietung fold eines düfte- ren Gemaͤldes fchelten. William Archer, der zwar meint, der Society fei zu danfen, denn gerade für ſolche Taten exiſtiere fie, nennt das Stuͤck vom eng⸗ liſchen Standpunkt aus nur eine lite⸗ rariſche Kurioſitaͤt und geſteht, daß es ihmweder äftbetifched Vergnuͤgen, noch auch intellektuelle Befriedigung ge⸗ waͤhrt habe. Geiſt wie Herz blieben leich unberuͤhrt. Wo dies nicht mit⸗ pricht, kann jener ja um ſo ſchaͤrfer

tätig fein und leicht all dad heraus⸗ finden, was dem Werf ald dramatifche und kuͤnſtleriſche Schwaͤche vorzumerfen iſt. Man ftieß fi an feiner Korm- lofigfeit, dem Mangel einer Entwid- lung, der Grau-in- Grau- Malerei. Hauptmannd allgemeine Humanität war nicht ftarf genug, wenigftend nicht in diefem intelleftuellen Kreife, die Menfchen zu ergreifen. Manch einer im Auditorium mag, wie Archer, ſich wenig „comfortable“ im bequemen Parfettfig gefliblt haben, ald er dieſe Bilder furchtbarer Armut an fi vor- beizieben fah, „ohne daß dabei auf irgend eine mögliche Loͤſung binge- deutet wurde”. Soll man nun bier die große Frage von der Aufgabe der Kunit, von der Stellung der Kunft zum geben aufroflen, um zu zeigen, wie in diefem Kunft zuges gebennicht feblerfreie, nicht olympifche, wohl aber ihrer felbft fihere und klar⸗ gewordene Kunft fi mit dem Leben, dem aus beftimmten Bedingungen ge» wordenen, freilicdy gedrüdten und ge= plagten Leben zu einer Einheit ver- bindet? Soll man darzutun verfuchen, dag nicht bloß Aftbetifches Vergnügen und intellektuelle Befriedigung Folgen des Kunftempfangend find, daß viel mebr der ganze Menſch mit all feinem Begehren und Sebnen, feinem Denfen und Fühlen durd die Kunft durch⸗ drungen und gehoben werden fol, wenn anders Kunſt wirflic die hehre Himmelstochter ift, und daß foldy eine Empfängnis, wie jede, mit Wonnen auch Schmerzen und ſchwere Erſchuͤtte⸗ rungen verbindet? Daß man ſich „in- comfortable“ in feinen Lebnfeffeln fühlte, ift wenigftend ein Zeichen, daß dody immerhin ein wenig von dem Mollen ded Werkes ſich Bahn ge- broden bat.

Und warum nidyt mehr? Sit da die Aufführung zu tadeln? Zum, Teil wenigftend. Einmal mar die Über» fegung nur ftredfenweife gut. Manche

29

der Perfonen fprachen falt wie ein Buch. Auch hatte fich die Überfegerin, ebe fie an ihre ficherlich fchwere Auf⸗ gabe ging, nicht die fchwierige Frage des Dialekts klar gemacht. So wurde der Dialekt ſporadiſch und daher um ſo auffallender gebraucht. Dann aber kam das Bild nicht ganz ſicher und

feſt in ſeinen Umriſſen, ſeiner Plaſtik

und Perſpektive heraus. Daß in dieſer

oßen Zahl von Figuren jede eine Peftimmie Stoffe fpielt, die zum Ganzen und feiner Wahrheit unbedingt not=

wendig ift, hatte man nicht genügend-

bedadıt, und fo fam ed, daß einige hen völlig falfch angepadt waren.

Theologiefandidat Weinhold, der feine Stelle bei Dreifiger ob feiner Liebe zu den Webern einblißt, wurde verförpert wie ein Sudermannſcher Salonmenfdy mit deffen Jargon und Bewegungen. Der Polizeileutnant be- muͤhte fich, eine Art Abklatfch des Wehrhahn in englifcher Rarifatur das heißt: mit Schnurrbart à la Haby abzugeben, zu der jede uniformierte deutfche Figur bier unmeigerlidy wird. Der Tifchlermeifter Wiegand, diefer Krieher und Schleier, fuchte ſich durch Schreien dafür ſchadlos zu halten, daß man ihm den größten Zeil feiner charakteriſtiſchen Reden geſtrichen hatte. Mit ſolchen Willkuͤrlichkeiten läßt ſich denn freilich kein getreues und wirk⸗ ſames Bild geben. Aber daß die eng⸗ liſchen Schauſpieler ſo voͤllig unfaͤhig ſein ſollten, dieſe deutſchen Figuren wirklich zu verkoͤrpern, das glaube ich nicht. Dem widerſpricht einmal eine ganze Reihe recht tuͤchtiger, wenn auch nicht in allen Nuͤancen treffficherer Leiftungen in diefer Vorftellung felbft, ſodann audy der Umſtand, daß in Eng⸗ land felbft im. vorigen Jahrhundert im Weberdiſtrikt aud) einem Lands» fteich, der zwifchen Nord und Süd wie eingefeilt it ganz ähnliche Vorgänge mit ähnlichen, fehr ähn- lichen Menfchen ſich ereignet haben;

30

daß alfo die Schaufpieler hier eigent- lich nicht fremdländifche Wefen, fon- dern Öeftalten von eigenem Fleiſch und Blut zu verförpern hatten, mit denen zu gemeinfamer Volkseinheit verbun- den zu werden für fie nur die richtige- Sprachform zu finden nötig war. Das freilich gelang eben nicht. Wenn irgend» wo eine „Adaption, was man bier fo nennt, die Berpflanzung eines Stuͤckes auf den eigenen Boden mit dem dazu erforderlihen Mamensänderungen ıc. vom fünftlerifchen Standpunft aus zu rechtfertigen ift bier ift der Fall ges geben. Dann würde fidy zeigen, was die englijchen „Weber vermögen. So batte Herr Andrefen, der Direftor des biefigen deutfchen Theaterd, der die Regie für die Society führte, einen übeln Stand; denn die Macht des Regiſſeurs ift bier nicht groß. Erflärt fi) doch aus diefer flr die Buͤhnen⸗ geftaltung der dramatifchen Dichtungen oft fo verhängnisvollen Ohnmacht ger rade eine Erfcheinung wie Gordon Craig mit feinen Allmachtswuͤnſchen für den Regiffeur wie eben Drud Gegendrud erzeugt. Frank Freund

Mifch und Philippi

U“ unfern langweiligen Freun«

den entdeden wir mit den jahren Abftufungen der Odheit; ein Gefan- gener unterfcheidet vermutlich heller und dunfler fchattierte Tage ; und felbft in der Hölle (Strindbergd Inferno- beweift e8) gibts auf dem düfter flam⸗ menden Grunde der Qual leife nuan⸗ cierte Foltergrade. So erwirbt, wer öfter in berlinifche Theater gehen muß, einengewiffen Spürfinn für die Schich⸗ tungen der Snferiorität, fr Art, Dicke und Parfiim der peinlichen Geifter deren Fangarme von der Bühne herab ihn ſchleimig umminden. Es entſteht etwas wie eine Pſychologie des Un⸗ angenehmen, eine Anti» Afthetif, die die Merven des Theaterbeſuchers fehnellftend verbraucht und ihn. alle

feine Munterfeit einbügen läßt. Eine refignierte, deprimierte Art der Kritif kanns nur noch fein, die von ſolchen Verdammten geliefert wird, ein Ab» wägen übler Latwergen auf den Schalen der Unluft. Immerhin erfennt man, was Die geringern, was Die ganz widrigen Unholde find... . Ich war einen Abend ind Meue Theater zu Miſch und den nädften ind Meue Schauſpielhaus zu Philippi eingefperrt und muß fagen: wie danfe ich dem Philippi, daß er nicht ift wie Mifch! Denn Herr Miſch, deſſen unfeliger Feder die „Kinder“ entſprangen, bat damit einen Mangel an Diſtanzgefuͤhl, an innerm Takt offenbart, der ihn füralle Zeit indiskutabel machen follte. Diefed Unterprimanerftid‘, vom Autor ald „KRomddie” empfunden und mit den entiprehenden Seichtheiten aus⸗ geftattet, bringt einen Gymnaſiaſten auf die Bühne, der ſich erfchießen will, Mit dem Revolver in der Hand figt er da, auf der Banf des Parks, ein Kind, das auf frühen Pfaden an die Schlünde der Verzweiflung ge⸗ raten ift... Dem brutalften Zu- fchauer muß diefed (wenn auch von einem Macher zufällig erraffte) Bild: der Knabe in brüllenden Qualen, an des Herzens Herz rühren. Herr Miſch empfindet nichtd davon. Fuͤr ihn iſt die Selbſtmordabſicht des Siebzehn⸗ jährigen der Höhepunkt einer Poffe, ein Fleine Spannung, von der man leiht in bebagliches Philifterland zu» rüdleiten kann, indem man einen Regierungsaffeflor im legten Moment aus den Büfchen bervorfpringen, ihn dem Knaben die hübſche, neckiſche Waffe „entwinden” und an den ver⸗ binderten Selbftmord eine amüfante bürgerliche Berlobung anfnüpfen läßt. er möchte Herrn Miſch, den Gut⸗ um einen Seelenzuſtand eneiden, der ſolcherlei ermoͤglicht?! Nein, raſch hinweg von dieſer Jammer- poffe, die fäfig ift, wo fie witzig fein

möchte, und unfäglid roh, wo fie in Seeliſches bineinftapft, und mit der gerade wegen diefer Qualitäten Herr Miſch an den richtigen Schmieden

ogebue, wäre, fdheint mi

folder Häßlichfeiten unfähig. Er ift und ta genug, die Seele abfolut aus dem Schaufpiel zu laffen. Sein „Helfer“, eine ziemlich, faubere Hirnarbeit, fann den Internierten des Parfetts fogar ganz leidlich über die Stunden der Gefangenfchaft hinmweg- beifen. Ein hamburger Handelöherr, Patrizier, muß fih in Zablunge- fchwierigfeiten an eben jenen finanz- genialen Emporfömmling um Hlilfe menden, der ihm die (angefrefiene) Tochter verführt hat. Der Empor- fümmling ift eine Bombenrofle für Harry Walden; er fpielt fie wunder⸗ voll. Nur follte er feiner angefreffenen Geliebten (dieimmer Zigarren raucht !) zu einem franzöfifchen Kurfus, es fann ja nahe am Nollendorfplag fein, raten, auf daß fie nicht mehr fage: Apres moiledelusch! und: C’estlam&me Schoss! Dann wärealles in Ordnung. Ferdinand Hardekopf

Die Preffe

1. Bahr 2. Mifh 3. Philippi Berliner Lofalanzeiger

1. Ein ſchlechtes Stuͤck ohne Saft und Kraft.

2. Daß Ganze ift ein wirffames Stlick geworden, das feine Theater- fhuldigfeit erfüllt hat. Freilich, nad) dem dritten Aft zu urteilen, hätte Miſch nicht nötig, fich mit folchen Erfolgen zu begnügen.

3. Überrafchend ift immer wieder, obwohl wir ed dod gewußt baben, die biß zu verblüffender Routine gehende vollendete Technik Philippis, die Auftritte von ftarfer dramatifcher Wirkung zu Schaffen vermag, fo lang der Berfaffer fühl beredhnen und nur mit

31

Buͤhnenfaktoren, nicht mit pfochologi- fhen Momenten zu arbeiten braucht.

Berliner Börfencourier 1. Das Wunderlichfte bleibt, daß man eigentlich die ſchlechte Moral und nicht das fchlechte Stüd ablehnte. Man befämpfte die Ideen, nicht den Schriftiteller. Ich aber ging hinaus mit dem Empfinden, daß man nicht dem Werk, fondern dem Verfaſſer Unrecht tut. Auch wo er in feinen Philoſophemen von der geltenden Moral fich weit entfernt, ift doc) fo etwad wie ein fittliher Wahrheits⸗ drang nicht zu verfennen. 2. In die Tiefe dringt diefe Gym- nafiaftengefchichte niht. Der erfte weckt feinerlei Anteilnahme, im jweiten wird® lebendiger, der dritte bringt die uͤbliche Selbftmordepifode, der vierte die freundliche Loͤſung. 3. Das Schaufpiel, das im guten alten Theaterfinn ein Handlungs- und fein Analyfendrama ift, das handelnde Perfonen und nicht Seelen vorfübrt, feffelte die Hoͤrerſchaft. Nur diebreiten Neden und die brüsf banale Moral ließ die Stimmung merklich abfühlen.

Voſſiſche Zeitung

1. Das Ganze ift eine Reihe von Momentpbotograpbien, von denen die erften reizen und neugierig machen, die ſpaͤtern enttäufchen und andden.

2. Der Autor durdhftudiert Die fleine Welt, um fie am Ende geben zu laffen, wie ed einem richtigen Theaterpublifum gefällt.

3. Les affaires sont les aflaires.

Berliner Tageblatt

1. Selbft diefe miferable Komödie wäre zu ertragen, wenn der geiftige Aufwand des Dialoge flır die Dramas tifche Armut entichädigte.

2. Ein Bau mit allem theatrali- fhen Komfort der Neuzeit. Da ift das Kellergefhoß mit der fauftdiden Nührung, die Beletage mit den mo—

dernen Gefühlen, die hoͤhern Stock- werfe mit der bürgerlichen Ehrbarfeit, und auf dem Dache figt der Storch.

3. Nur beim legten Fall des Vor⸗ hangs wurde der ſtuͤrmiſche Applaus durh Ziſchen beeinträchtigt. Galt diefe Demonftration der feelenlofen Mache, der brutalen Spannungs technik, der plumven Satire? Oder druͤcte ſie Enttaͤuſchung aus, weil dem Autor im Schlußakt die Rnall- effefte audgegangen waren?

Täglihe Aundſchau

1. Wir fönnten das bewies der grazidfe Dialog des erften, die feine und Heiterkeit des zweiten

in Bahr den beſten deutſchen —5 unſrer Zeit haben, wenn es ihm gelaͤnge, in feinen Buͤhnenwerken ſchließlich mit dem Herzen dahin zu gelangen, wohin er mit dem Verſtand geraͤt.

2. Es iſt dasſelbe Milieu wie in Fruͤhlings Erwachen“. Nur daß Herr Miſch den Stoff allzu gruͤndlich verbirchpfeifferte, daß er in der Charak⸗ teriftif mit der feinen Schraffierung der neuruppiner Bilderbogenfünftler arbeitete und ftatt der Erlebniffe Er⸗ leaniffe darbietet.

3. Es ift vielleiht Doch dad Ba⸗ nalfte, was dieſer an Alltaͤglichkeit und Gewoͤhnlichkeit der Mache uͤber⸗ reiche Autor geliefert hat.

Der Tag

1. Bahr, der Philoſoph, der und mit einem gewiſſen Ernſt ſeine uͤber Tod und Leben triumphierende Welt⸗ anſchauung predigt, und Bahr, der Witzbold und Komiker, ſprechen, der eine rechts, der andre links. Was die Philoſophie vernichtet, haͤlt der Witz aufrecht.

2. Ganz fabelhaft unwahr. Tan⸗ tiemen⸗Nieritz.

3. Alles verrinnt im Theatraliſch⸗ Weſenloſen.

Verantwortlich für die Redaktion: Siegfried Jacobſohn, Berlin SW. 10 Berlagvon Defterheld & 60.,BerlinW.15 Drud von Imberg & Lefſon. BerlinW.o

4 Jo. Januar 1907 N Is Jahrgang Yrummer 2 ae RZ

ine fo ftarfe Gefchloffenheit, wie fie die aa der sresiöfen durch die Schule Georges, befist, haben die andern Wanderer zum neuen Drama nicht. Immer⸗ bin bindet auch diejenigen, die nicht im der feierlichen Erhöhung der Wortgeflge an fich, fondern in der anti- tbetifchen Zufchärfung der Säße ihre fprachfünftlerifche . WBaſis haben, eine ftarfe®emeinfamfeit der Temperamente, und faft fo, wie jene Stefan George, haben fie zum gemeinfamen Erzieher Shafefpeare. Schon damit ift gefagt, daß die dramatifchen Strebungen diefer- Gruppe hoffnungsvoller, ihre Unfälle weniger bodenlos find. In ihren Nerven wohnt viel mehr vom Inſtinkt ded wirflihen Dramatifers ; nur daß noch feinem von ihnen ſich biöher die ordnende Kraft gefchenft bat, die am Feuer der inbrünftig wilden dramatifchen Lyrik diefer Dichter ein feft und rein gegliederted Erzbild aufzuftellen im Tempel des hoͤchſten Gottes gefchmiedet hätte. Noch ſchwelt und praffelt in finnlofer Selbft- gentgfamfeit die Glut. Uberall. Bon Wedefind und Eulenberg ſprach ic) fhon. Auch ein andred fchönes Talent diefer Artung hat mit feinem letten Werk viele Hoffnungen unerflllt gelaffen. Otto Hinnerf, der Dichter des „Srafen Ehrenfried“, hat wieder ein Märchenftücdt gedichtet: „Cyprian“ (Arnold Bopp, Zürih). Das Grundmotiv: ein aͤngſtlich Schneiderlein, das auf Grund äußerer Ahnlichfeit an Stelle eines verlorengegangenen ftolzen Königfohn® angenommen wird und allmählich in fein Fönigliches Kleid hin- einwächft, bietet Anlaß genug, einen tieffinnigen Maͤrchenhumor voll bunter Lichter fielen zu laffen. Einzelheiten gelingen denn auch Hinnerk wieder im Stil feines koͤſtlichen „Ehrenfried“. Lächelnde Schalfheiten eines tumben Kindergemütd werden in Fleinen Zügen mit ruͤhrender Liebe und einer fart Brentanofhen Märchennaivität verftreut. Dem Ganzen aber fehlt jede ftarfe, originelle Erfindung in der Handlung. Die VBewegungsvorgänge, die den Peg von der Schneider- zur Königsfeele führen follen, find ganz triviale Staatdaftionen, alte Hofintrigen ohne finnbildlihen Wert. So muß die

33

Eutwicklung dadurch dargeftellt werden, daß der Schneiderprinz Cyprian in unaudgefegten Monologen feine Seelenzuftände erörtert und mit Entichlüffen wandelt; ein dramatiſch völlig unliberzeugendes, theatraliſch tödlich lang« weilended Verfahren. Das ſchoͤne pſychologiſche Problem der Dichtung, das iberdied durch die Hineinziehung andrer fozialpolitifher Themen geträbt wird, vermag ſich fo nicht zu feelifcher Wirkung zu entfalten. So gewiß auch Died Stüd noch Spuren eined echten Dichters zeigt, ſo gewiß iſt es ein ſehr ſchlechtes Stüd.

Talentvoll und ſchlecht: das bleibt ſchließlich die Signatur auch fuͤr die beiden Dramen desjenigen Autors, der von den neuen Dramatikern des Jahres 1906 der betraͤchtlichſte ſcheint. Der Mann iſt Franz Duelberg, und ſeine beiden Dichtungen heißen: „Koͤnig Schrei“ (Piper & Co., Muͤnchen) und „Korallenkettlin“ (E. Fleiſchel & Co., Berlin). „König Schrei” iſt ein Monſtrum; die zweihundert Seiten dieſes vorgeblichen Dramas, das, im Koſtuͤm eines phantaſtiſchen Balkanſtaates, in unendlichen philoſophiſch⸗lyriſchen Reden die ſoziale, erotiſche, kulturaͤſthetiſche, politiſche und einige andre Fragen diskutiert und ineinanderwirrt dieſe zweihundert Seiten zu leſen, iſt eine ungemein muͤhevolle Arbeit, und doch muß man ſie auf ſich nehmen, denn in dieſem Dilettantenchaos find Goldkoͤrner eines reihen Talents ver- ſteckt. Das fchönfte bleibt die Erfindung,. die dem Stüd den Titel gab: Eine Revolution ift niedergeworfen; da, als die legten Elendeften, in einer Bergfirche zufammengedrängt, den Tod erwarten, entringt fi) der Unfeligften von allen ein Schrei: „Mir ift weh mir ift Schlimmes gefhehen achraiachraffeiachrail” Der Schrei wählt uͤber alle in der Kirche hin, kommt in den Mund aller Erliegenden, wählt zum Orkan an auf den Lippen aller Leidenden und wird eine Macht, die Heere vor fich bintreibt und Gemalt- baber entwaffnet. Mit waffenlos verfchlungenen Händen, den Schrei im Munde, durchziehen die Elenden im Triumph Stadt und Land. Dies ift eine wundervolle Erfindung. Allerdings eine Balladenerfindung, das heißt: obwohl einen Bewegungsvorgang darftellend, von rein Iprifcher, nicht dialektiſch gefpaltener Schönheit. Und Duelberg bat fie auch keineswegs etwa zum Mittelpunft eined Dramas gemacht. Weder dad Werden, nod) dad Wirfen des Schreis ift in Flar Dialogifcher Form ald ergreifendes Rampffpiel geordnet; es ift eine Kette häufig fchöner, meift bemegungslofer und ftetd mit druͤckender Allegorie belafteter Bilder, in deren Mitte ald ſchoͤnſtes das Sinnbild vom König Schrei ſteht. Duelberg bat wohl ein tiefes Fünftlerifches Bemühen um ftarffarbig fontraftierende Sinnlichfeiten und epigrammatifche Konzentriert- heit in feiner Sprache. Aber diefe echt Dramatifche Anlage, die ihn im die Naͤhe der Shafefpeare-Jünger rückt, dient ihm einftweilen nicht dazu, indivi- duelle Menfchen zu geftalten, jondern vage Typenfiguren zu umreißen, deren Blut und Hirn voll jugendlic pathetifcher Gemeinpläße ift. ine große Abſicht und ein tiefes Grundtemperament, ein ftarfed Talent im legten Detail, im fprachlihen Atom, aber dazwischen die Bläffe abfichtövoller Sinnbildnerei. Die naive Hingabe an einen wirflichen, felbft finnvollen Vorgang fehlt ihm

34

bier noch völlig. Ein verworrener Hinterfinn quält den Lefer auf jedem Blatt und raubt den Genuß. Statt bedeutungsreichen Lebens leblofe Be— deutfamfeiten: ein fehr weit verbreitetes Genre bei unferm „dramatifchen Nachwuchs“. Für Duelberg fpricht ed immerhin, daß er aus dem Chaos Fraufer Allegorien die fhönfte finnlihe Erfindung hervorhob, indem er das Stüd nad) ihr nannte. Intellektuell naͤmlich ıft der Titel nicht im mindeften zu rechtfertigen: zwanzig andre Motive jcheinen gedanflicd gleichwertig. Um fo mehr beweift die Wahl des Titeld etwas fir den Fünftlerifchen Inſtinkt Duelberge, Den bezeugt num noch mehr der fehr wefentliche Fortſchritt, den das „KRorallenfettlin” gegenüber dem erften Stud darftellt. Ein Drama ift es freilich auch noch nicht, wohl aber eine Kette zum Zeil fehr ſchoͤn gerundeter Balladenbilder. Der dichterijche Impetus führt nicht einen großen ſchickſalsvollen Kampf vom erften bis zum letzten Wort in einheitlihem Fuge vor er befchreibt von Aft zu Aft einen Kreis, der in ſchwerer Stimmung ein Schickſal umſchließt. Dann fegt er ab und hebt von neuem an. Das erite und fötlichfte Bild ift eine Ballade vom Mägdlein in der Dirnengaffe. Eine mittelalterlih deutfhe Stadt. Die Dirnengaffe an einem Sommer- abend. Bunte Laternen glimmen vor den Häufern. Die Dirnen fommen gegangen, den gelben Schandflef auf den prächtigen Kleidern, In ihren Worten jpielt Gemeined und Edles, nicht anders als bei andern. Sie geben. Da fommt das Kätchen vom Schließenberg gelaufen. Ein harter, verbitterter Vater will dad Kind zur Monne machen; fie aber ift voll füßer, wilder, kaum bewußter Sinnlichfeit; fie entfpringt; fie fommt in die Gaffe gelaufen, die ihre abnungslofe Einfalt ald eine Stätte heiterer Luft wähnt. Sie nimmt von der Klamingowirtin dad Korallenfettlein einer eben geftorbenen Dirne zum Zeichen an: „Das Kettlein mit all den roten Kugeln, die wie Hunderte von Lippen find, die meinen Hals füffen.” Sie weiß nicht, was fie tut. Als der erfte, ein alter, reicher Lüftling, nad) ihrem Leib greift, erhebt ſich in wahnfinnigem Schred ihr ftarfes, fehnfuchtreined Magdtum. Sie ftößt ihn nieder. Man greift fie. Nun muß fie „iterben, eb mich einer gefüßt, und fterben eb ic) einen lieb gehabt”. Dies ift die wunderſchoͤn gedichtete Ballade aus Duelbergd erftem Akt. Im zweiten erfcheint dann plöglic ein fiegreiher Prinz Aldowyn in der Stadt, fieht ein Bild des Kaͤtchens und verlangt ihr Leben für fich, indem er den Ratsherren fehr lange und fehr heftige Reden über ethifche Kultur und erotiſche Sittlichfeit halt, Hier beginnt bereitd in der verworrenen und abftraft debattierenden Abwicklung der wenig tiefen Jdee die dramatifche Schwäche des Std fühlbar zu werden. Aber auch diefer Aft hat noch feine große Valladenfchönheit: „Der Prinz als Henker“. Denn im roten Mantel kommt Aldowyn zu Kätchen, ald wollte er fie zur Nichtftatt fiihren; dann wirft er ihn ab und fteht da im Kleid von weißer Seide. So bietet er ihr die Krone der Welt. Aber Kätchensd Mut ift erdrüct von der Laft ihrer unfchuldigen Schuld, und fie willigt ein, die Seine zu werden, unter der Bedingung daß er fie am achten Tag mit dem Richtſchwert töte. Im Henkerskleid fam er; nun foll fein

35

‚Spiel ernft fein. „Die Sonne muß fcheinen an tem Tag, fo fcheinen, das aller Augen geblendet werden. Und du wirft dein Schwert ſchwingen und ed niederfallen laffen auf meinen Hald. Und wirft meinen weißen Hals jerfchneiten mit deinem reinen Schwert, Prinz Aldowyn!“ Das ift die zweite Ballade, Noch ſchoͤn, aber der erften an Einfachheit und fünftlerifcher Reinheit nicht mehr gleih. Mehr noch mißlingt die dritte, die ſich Über zwei Afte verteilt: „Der Prinz umd der Prieſter“. Die beiden fliegen nämlich eine Wette um die Seele des Kätchen, das num doch wieder zum Leben ver- langt. Aber e8 entzieht ſich ihnen beiden und gebt fchlieglich zwifchen ihnen bindurch freiwillig in den Tod. Diefe Ballade enthält wohl noch Einzel- ſchoͤnheiten. Dad Ganze aber ift völlig verzettelt in dem MWirrwarr zu vieler Motive und Tendenzen, in ein ſchwindliges Spiel im Spiel, mit dem Prinz wie Priefter täufchend das Rätchen erproben wollen. Diefer lette Doppelaft, der fehr an Greinerd „Liebeskoͤnig“ erinnert, an dramatifcher Klarheit aber noch unter ihm fteht, enthillt dann vor allem die Schwächen Duelbergs, feinen geiftigen Dilettantiömus, der, ftatt einem großen Willen bart und Flar zu folgen, in einem Meer ftimmungsvoller Einfälle plätfchert. In diefem legten Teil wird die undramatifche (weil innerlich unverbundene), aber ſchoͤne (weil in jedem Zeil abgerundete) Balladenfette das „Korallen- fettlin” einfach ein „ſchlechtes Stud”. Dabei bleibt dad Talent des Dichters groß und unbezweifelbar. Die Geftalten wachſen, namentlih in Neben- figuren, zu ganz anderm individuellen Leben an ald im „König Schrei“, und die Sprache ifttroß vielen abftraften Entgleifungen reich an den zauberifchen Sinnlichfeiten der Kunſt. Mad Kaͤtchens Tat nimmt fi ihr Vater das Leben. Der Bürgermeifter berichtet dad fo: „Weißt du, daß dein Water, ald die Machricht von deiner Tat durch die Stadt rannte, daß dein Vater ſich in der Werfftatt einfchlog, den Nagel in die Wand haͤmmerte, den Strid fih um den Hald band und dann den Schemel mit den Füßen fortſtieß.“ Ein Schriftfteller wide fagen: „Dein Vater erhängte fih.” Daß Duelbery das fo fagt, macht ihn zum Dichter.

Wenn ein Autor von folhem Talent nur Typus der Oberfchicht des dilettierenden Publifums wäre, von der ſich ab umd zu einer, wie hier etwa Duelberg, zu der auf höherm Niveau fchaffenden Zahl der Künftler erhebt, fo finde e8 gut um umfre Dramatif, Daß man Duelberg ald das beinah einzige neue Talent der legten Zeit, ja fat noch ald den Könner, den relativen Kuͤnſtler unter viel ärgern Dilettanten begruͤßen muß: das zeigt, wie ſchlecht es um unfre Produftion ftebt! Was unfrer Generation fo fehr fehlt, was ihr die Größe nimmt, das ift der Mangel geiftiger Leiden⸗ (haft. Sie ift falt in ihren tiefflaren Gedanfen fie ift wirr und ober- flählih in ihren beißen Sinnlichfeiten. Wenn einer fommt, der um den Kern des Lebens, das Weſen der Gottheit, das Nätfel des Sittlihen wie ihr ed nennen wollt mit fo wilder Inbrunſt ringt, daß er bierfür mit all den lebenfhaffenden Sinnlihfeiten gerhftet wird, die die Velten von heute bloß für ihre erotifchen Problemchen aufbringen, dann wird ein

36

großer Schickſalskampf Far und voll geftaltet werden. Dann werden wir ein Drama haben. Solange nur dogmenfühle Theoretifer oder augenblicd- beiße Senfualiften Stüde fchreiben, wird das Gepräge unfrer dramatiſchen Produktion bleiben: Talentvoll und fchlecht.

Trolls Sterbelied/ von Friedrich Kayßler

ch fiel als Kind in den Gletſcherſpalt, da fam eine Elbin und fäugte mic alt.

Sie fhenfte mir Mantel und Kappe und ron, da ward ih ein Elbenkoͤniginſohn.

Ald Elbenfohn ging ih an Meeres Strand, allwo eine herrlihe Rieſin mich fand.

Die fchleppte mich mit auf ihr fleinern Schloß, da ward ich aus Liebe ihr Ehegenoß.

Ich af wohl täglih an fieben Laib Brot, da ward ich ein Niefe und fchlug fie tot.

Da bieb ih das fteinern Schloß in drei Stücken und {ud mir eined davon auf den Nücden.

Sechs Tage lang trug ich den fleinernen Vers, da ward ich am fiebenten Abend ein Zwerg.

Da wollt ich erfaufen im Bergſtrom wild, da ſah ich im Waſſer mein eigenes Bild,

Da lachte ich hundert Tage wie fol, da ward ich am hunderteinften ein Troll.

Der Tod ift kurz daß Leben ift lang. Dies ift eined Trollen Sterbegefang.

BIN:

Klaſſiſches

u Spieljahr bat feine Höhe uͤberſchritten. Man hat in der { erften Hälfte des Winters faft allenthalben emfig gearbeitet.

D Fuͤnfzehn große berliner Theater haben ſechſsunddreißig neue

| Stüuͤcke eingeflihrt und fehsundzwanzig alte Stuͤcke aufgefrifcht. ze Eine Unfumme, mo nicht von Talent, fo doch von Fleiß ift verbraucht, ift verfchwendet worden. Nutlofe Plage, Muͤh ohne Zweck; aus Bappe bad ich fein Schwert. Was bleibt, wenn man die Dichterftimmen nicht zählt, fondern mwägt? Was wird auch mur im die zweite Hälfte des Winters binliberflingen? „Geſpenſter“ und „Frühlings Erwachen”. Dramen vom Anfang der achtziger und vom Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Was heute gedichtet iſt, kann mit Ach und Krach dreimal gegeben werden. Was geftern gedichtet ift, wirft; wirft tief, ftarf und breit. Es ift nur zu begreiflich, daß die Vergangenheit wieder mehr und mehr bevorzugt wird, Wo die Produktion verdorrt, blüht die Neproduftion auf. Von den drei Jahrzehnten ded Deutichen Theaters war das erfte notgedrungen Flaffifch, weil die deutfhen Dramatifer der achtziger Jahre Lindau und Blumenthal bießen und der große Norweger noch nicht verftanden wurde; war das zweite mit Begeifterung modern, weil Ibſen zufehends um fi griff und Hauptmann und Schnigler reiften; wird das dritte wieder notgedrungen Flaffifch werden, wofern die Beherrfcher der neunziger Jahre nicht eine neue Jugend erleben und der Nachwuchs nicht biihmenfähiger wird, ald er ſich bis jegt erwiefen bat. „Riebesfönig” und „Nitter Blaubart“: vestigia terrent. Es lebe Shafefpeare, ed lebe Goethe! VBereiten wir „Nomeo und Julia” vor, und ver- fuchen wird vorher mit den , Geſchwiſtern“ und, zum zweiten Mal, mit den, Mit⸗ ſchuldigen“. Auferftehung ded L'Arrongeſchen Repertoirs. Aber der langjährige Schlaf hat ihm mehr gefchadet ald genügt. Es ift erfchredlic abgemagert. Der Bericht des Deutfchen Theaters uͤber das Spieljahr 1886/87 verzeichnetan drei= bundert Abenden fiebenundvierzig verfchiedene Dramen. Anno 1906/7 werden wir nicht viel uͤber fiebzehn zählen. Das wäre kaum entfcheidend, Der Verfall des Fleiſches brauchte die Knochen nicht angegriffen zu haben; die Kräfte koͤnnten gleich groß geblieben oder gar gewachien fein. Dem ift mun leider nicht fo. LArronge bewältigte mühelos „Othello“, „Rear“, „Richard den Dritten“, „Hamlet“, „Macbeth“; den ganzen Goethe und den halben Schiller; Leffing, Kleift und Grillparzer. Reinhardt dürfte an alles das nicht denfen: nicht an den hoͤchſten Shafefpeare; nicht am „Fauſt“ und „GB“, noch an „Don Carlos” und „Fiesko“; nicht an „Nathan, die „Hermannsſchlacht“ und die „Juͤdin von Toledo”. Das wird keineswegs feitgeftellt, um mit dem Alten den Jüngeren zu erfchlagen. Dem Juͤngeren ſoll nicht gefchadet,

38

fondern genußt werden. Er wird es folange hoͤren miüıffen, daß fein Enfemble zu ſchwach ift, bis es flr feine beiden Bühnen ftarf genug if. Wenn er nicht das Gluͤck oder die befondere Fähigfeit hat, neue Dramatifer oder auch nur neue Dramen von Wert zu finden, fo möge er immerhin auf alte und ältefte zuruͤckgreifen. Aber er möge ſich fagen, daß gerade hier unfre An- fpriiche an die Darftellung durch Muftervorftellungen verwöhnt find, dag ed ohne große Schaufpielfunft feine große Theaterfunft gibt, und daß es auf die Dauer nicht angeht, abwechſelnd eine von den beiden gleich maß— gebenden Buͤhnen um der andern willen zu vernachlaͤſſigen. Um in dem Kammerfpielen einen Feiertag der Kunſt zu genießen, wie ihn die Befeßung des „Friedensfeſtes“ verbeißt, müffen wir und im Deutfchen Theater durd) einen Fafttag der Kunft Fafteien, wie ihn die Aufführung der beiden Goetheſchen Dramen darftellt. Mit dem „Friedendfeft” ging numerifch, fozufagen, Feine andre neue Vorftellung zufammen als diefe. Sie hat nämlich nicht mehr als flnf Schaufpieler nötig. Deren Qualität darf aber nicht fo gering fein wie ihre Quantität. Wenn Reinhardt fir Hauptmanns Wilhelm und Goethes Wilhelm nur einen Darfteller hat und beide Geftalten zugleich gefpielt ſehen will, fo hat er entweder zu viel Theater oder zu wenig Schaufpieler von Belang. Dad Kammerfpielhaus wird niemand mehr miffen wollen. Es bleibt aljo nichts übrig, als die belangvollen Schaufpieler ded Enfembles zu vermehren. Im Verein der Bühnenfünfte ift ja feine fo wichtig wie die Schaufpielfunft. Sie fann für alle andern auffommen. Aber alle andern zufammen fönnen fie nicht erſetzen. Die leßten drei berliner Theatervor⸗ ftellungen haben ed wieder einmal bemiejen.

Die „Geſchwiſter“ in Blumenthald Leffing-Theater. Ein konventioneller Raum, in dem fich hundert Szenen abgefpielt haben. Wilhelm ift noch poefielofer, Fabrice noch fteifer ald bei Neinhardt. Der eine will fi) gerade dem andern entdecken da fommt Marianne. Eine Frau von flnfund« fünfzig Jahren. Sie ift unförmig beleibs, mwatfchelt und bat fich weder die Nunzeln noch die Tränenfäce weggefchminft. Aber fie heißt Hediwig Niemann. Sie Öffnet den Mund, und es gefchieht ein Wunder, In diefer Stimme ift ewige Jugend und ein Meer von Seele. Sie lacht und weint, daß wir jauchzen und ſchluchzen. Marianne ift fechzehnjährig, und Goethe lebt... . Fräulein Höflic tritt in ein Zimmer, das ein Maler fir diefen einen Aft biftorifch treu geftellt, mit zeitechten Möbeln, Supraporten und Silhouetten gefhmüct hat; ein Zimmer, in dem Marianne gefchaltet haben koͤnnte. Fräulein Höflic fieht aus, wie Marianne ausgeſehen haben koͤnnte. Sie bat Ehriftel an der Hand und beeilt fi, die Kebrfeite des Knaben dem Publitum zuzudrehen. Es wiehert. Iſts etwa fein berrliher Wit, daß ſich dad Hemdzipfelhen dur ein Spältchen des Höschend hervorgezwaͤngt bat?

39

Ich bin wohl übertrieben empfindlich, aber fir mic) war mit dieſem Hoſen⸗ mägchen die Stimmung der Goethefhen Dichtung gemordet. Ich folgte nur noch widerwillig und mißtrauifd einer Schaufpielerin, die fi) fo wenig auf ihre Natur verläßt, daß fie ſolch einen Regieeinfall duldet und unterſtützt. Infolgedeſſen hörte ich auch Feine Natur und fab, fo gimftig alle aͤußeren Umftände waren, in feinem Augenblid Mariannen, fondern immer nur eine Scaufpielerin, die ihrer Kuͤhle die vorgefchriebenen Herzenstoͤne abzwang.

Danach begab es fih, daß die „Mitfchuldigen” verpufften. Acht Monate zuvor waren fie durch einen arg mißratenen „Tartlff“ erdruͤckt worben, hatten aber doch das Geflhl binterlaffen, daß fie nur mit einer ebenblrtigen Vorftellung verbunden zu werden brauchten, um wochenlang ein greß Publifum zu ergeßen. Diesmal verfagten fie ganz durch ſich ſelbſt. Damals batte die eingelegte Entkleivung Alceſts am Schluß des zweiten Aftd feinen Menfchen verlegt. Diedmal verlegte fie faft alle. Die „Mitfchuldigen” als Movität hätten damals einen vollftändigen Erfolg, diesmal hätten fie einen Ahtungsmißerfolg gehabt. Es bleibt mein ceterum censeo: ein einziger Scaufpieler ift Here tiber Leben und Tod eined Dramas. Damals bieß er Engeld; diesmal beißt er Arnold. Wie von ungefähr erwuchs dem alten Engelö, der weder ein denfender noch ein gebildeter Schaufpieler ift, in dem neugiergeplagten Wirt eine Figur, von der man nicht wußte, ob man mehr ihre verblüffende Stilechtheit oder ihre menſchliche Glaubhaftigfeit bewundern follte. Sie erweckte mit ihrer drolligen Matvität und ihrem fprühenden Witz einen Sturm von Heiterkeit, der die Mitfpieler mitrig und alle Be— denfen mwegfegte. Auf diefen feinen urfpringlichften, faftigften und groß- zügigften Schaufpieler hat Neinhardt verzichtet. Es war nicht wohl getan, wie ſich jett wieder zeigt. Herr Arnold, ein ulfigefrecher Epifodift, hat das Engelsſche Menfhenbild in den Pantalonetypus der alten Harlefinaden und Pirfelheringsfpäße zuruͤckverwandelt und den Wirt ganz auf Die ımergiebige Komik von kraͤchzenden Kehllauten and biipfenden Bewegungen geftellt. Man fann anderthalb Stunden davor fiten, ohne eine Miene zu verziehen. Alle Wechſelwirkung, dad anftachelnde Fluidum von Lachſalven bleibt aus. Die Mitfpieler ermatten, weil fie nicht wirfen, oder uͤbertreiben, weil fie durch⸗ aus wirfen wollen, und jeder gebt verdrießlich aus dem Haus,

Im dritten Fall ift glüͤcklicherweiſe die Gegenwart beffer ald die Ver- gangenbeit, Der „Wallenftein” des Königlihen Schaufpielhaufes verfpricht, nad) langen Jahren der Verflimmerung, wieder eine Angelegenheit der Kunft zu werden. Nur bätte man gleich ganze Arbeit tun ſollen. Es ift zu wenig, daß man ein paar Nollen erneuert, daß man die wichtigfte glanzvoll er- neuert bat, Auch die alten Mannen müßten zum Zeil umlernen. Sei im Beſitze, und du wohnt im Recht, ift nirgends jo unmahr wie an einem

40

Hoftheater. Dad „Lager“ ift ſchauſpieleriſch ſcmmuddlig. Es wimmelt von Muancen, die im Augenblick der Erfindung ihre kuͤnſtleriſche Berechtigung gehabt haben mögen, die aber laͤngſt verſteinert find. Sie werden erſt ver- ſchwinden, wenn einmal einer mit jungem Auge vor diefed Gedicht treten und ed einftudieren wird, ald wäre ed heute entitanden. Das ift ja das Geheimnis aller fiegreihen Erneuerungen der Klaffifer, von L'Arronges „Car⸗ 108” bis Reinhardts „Minna“. Dann wäre ed auch zu Ende mit dem ſche— matiſchen Auflageton, in dem vielfach die unmiderftehlihften Schillerworte ihren Sinn, ihren Klang, ihre Farbe verlieren. Der geborene Erneuerer des ganzen großen „Wallenftein“ ift Reinhardt. Das Enfemble aber, in dem er einzig feine Arbeit mit Erfolg verrichten koͤnnte, ift nicht in der Schumann- ftraße, fondern am Gendarmenmarft heimiſch. Es bleibt ein Jammer, daß der befte Regiffeur nicht zu feinem Material, daß die ftärfften Männerfpieler nicht zu ihrem Beherrfcher fommen follen. Man fehe diefe „Piccolomini“. Wenn ihnen der „Tod“ gefolgt ift, mag ausführlicher dargeftellt werden, wie bier die Haupt⸗ elemente zu einer erfchöpfenden Gefamtverförperung gegeben find, und wie das er⸗ reihbare Ziel doch in der Ferne liegen bleibt, weil, das Genie, ich meine: der Geiſt“ eined befeuernden Führerd fehlt. Aber dad Heer! Da ift eine dritte Sarnitur von namenlofen Sprechern, mit denen dad Deutfche Theater von heute Staat machen fönnte. Da ift eine Fülle von zuverläfjigften Enfemble- fpielern, von denen einige anderswo im Mittelpunft fteben wirden: wie flug ift Herr Pohl, wie mannhaft Herr Kraußneck, wie einfach Herr Kepler, wie fiher Herr Patry, wie frifch Herr Staegemann, wie vornehm Herr Sommerftorff! Da ift der herrliche Vollmer. Da ift Matfowsfy. Der bat jetzt eine Sfizze feines Wallenftein fo nachdrücklich bingefchleudert, daß man von dem ausgeführten Gemälde alles erhoffen darf, Eigentlich zu nahdrüdlih. Er fcheint in dem einen Aft der „Piccolomini“ ſchon alles das fagen zu wollen, wozu er im „Tod“ fünf reichlich lange Afte hat. Er fehrt das Gebieteriſche und das Vifionäre ded Mannes nicht nur hervor, fondern er unterftreiht ed auch. Darin liegt eine Unterſchaͤtzung feiner felbft. Wenn er dafteht, ıft er Gebieter; er braucht nicht „gebieteriſch“ dazufteben. Wenn er leife fpricht, Flingt ed geheimnisvoll; er braucht nicht „gebeimnisvoll” zu daͤmpfen und zu dehnen. Die Geftalt ald Ganzes hat er fhon jegt. Vom Wirbel bis zur Zehe. Von der biftorifchen Maske bis zum Gang. Vom derben Pagerton, der feinen Leuten gefällt, bis zur Mimif der Hände, deren Bewegungen unglaublid) ausdrucksvoll find: die rechte bedingungslos beberrfchend, die linfe verächtlicd wegwerfend. Gegen Mar und Thekla ift er nicht zu weich, gegen Queftenberg nicht zu brutal. In Wahrheit ein Verein und eine Bildung, die auch ald Wallenftein, wer nicht alles truͤgt, nur die Erinnerung an Mitterwurzer zum Rivalen haben dürfte.

41

Drganifation der deutfch-öfterreichifchen Bühnenfchriftiteller/ von Fritz Telmann

© einer der letzten Sitzungen des engern Komitees, das die Gruͤndung der „Genoſſenſchaft denſch ifterreihiſher Buͤhnenſchriftſteller“ vorbereitet, erhob ſich ploͤtzlich einer unſrer verdienſtvollſten Dramatiker und erflärte zu nicht 5 I geringem Erftaunen der übrigen in großer Ervegtbeit: ie sun Du; er könne micht mehr mittun, denn man berate da unter Slannansaaaaaseli} anderm uͤber Tantiemenfragen, er ftehbe aber auf dem Standpunkt, der Dichter dürfe für feine Werfe feine Bezahlung annehmen, folle lieber hungern, bis der Staat auf die einzig vernünftige Idee gefonnmen fei, alle Dichter mit Gebältern zu verforgen. Sprachs, nahm feinen Hut und ging. Und in einer andern Sitzung diefed Komitees machte ein andrer vielgenannter oͤſterreichiſcher Bühnenfchriftfteller alle Ernfted den Vorfchlag, mit der Generalvertretung der zu gruͤndenden Standesorganifation jenen Agenten zu betrauen, deffen Gefhäftsführung in erſter Linie Anftoß zu der Meugrindung gegeben bat. Ich babe diefe beiden Kuriofa angeführt, um zu zeigen, mit wieviel Hemmniffen, aud) innerer Natur, der Organifationd- gedanfe zu fämpfen bat, und um es begreiflic zu machen, daß mehr ala Halbjahräfrift nach der erften, unter Karl Schönberrd Vorſitz abgebaltenen Verſammlung und der Wahl ded engern Komitees verftreihen mußte, bis die Beratungen uͤber dad Statut der „Genoffenjchaft deutſch-oͤſterreichiſcher Blhnenfchriftiteller” beendigt waren. Mun liegen die Satzungen ein ſchmales Heftchen, von Mar Burckhard revidiert vor: fehr wenig, wenn man erwägt, wie weit ed vom Statut zur lebendfähigen Gruͤndung ift; jebr viel, wenn man bedenkt, daß zum erften Mal die Öfterreichifchen Dramatiker jeder Farbe und Partei ſich zu gemeinfamer Aftion geeinigt haben, daß, wie auch die Gruͤndung ausfallen möge, diefe Statuten ihr die Marfchlinte angeben werden, und daß fir unfre Kollegen im Reich damit ein Weg gewiefen ift, auf dem fie und wohl bald folgen werden.

Bevor ich aber daran gebe, die Sauptbeftimmungen des Statuts dar- zulegen, möchte ich zunächft zwei Irrtuͤmer berichtigen, die in Wien, wahrſcheinlich auch in Deutfchland, im Schwange find. Man glaubt vielfah, daß wir die Agenten überhaupt abfchaffen wollen, und ich kann mir wohl worftellen, daß die berufdmäßigen Verleger von Buͤhnenwerken, aber auch manche Autoren, die durd Bande des Vertrauend oder ded Geldes an ihre Agenten gefeffelt find, aus diefem Grunde der geplanten Gründung mit fehr gemifchten Gefühlen entgegenfeben. Dem ift num nicht fo. Wir betrachten es natuͤrlich ald deal, daß die öfterreihifhen Autoren ihre Werfe ausſchließlich durch die Genoſſenſchaft vertreiben laffen, und wir werden einen eigenen Buͤhnen⸗ vertrieb organifieren. Wir verwebren ed aber feinem unfrer Mitglieder, fich für den Vertrieb eines Agenten zu bedienen. Wir erlegen fir diefen

42

Fall dem Mitglied nur in feinem Sintereffe und im Intereffe der Gefamtheit gewifle Verpflichtungen binfichtlihh der gemeinfamen Vertragdformulare auf und refervieren dad Inkaſſo, deffen Handhabung durd die Agenten zu den lauteften Klagen Anlaß gab, ausfchließlih der Genoſſenſchaft. Es find ferner wiederholt in den öffentlihen und gefchloffenen Verfammlungen der Öfterreichifchen Bühnenfchriftfteller die Worte „Truſt“ und „Boykott“ gefallen. Ich habe das aus mehrfachen Gründen bedauert. Vor allem deshalb, weil ich glaube, dag man von einem „Truft” oder „Boykott“ nicht ſprechen fol, bevor man ihm nicht wirklich durchführen kann. Ferner, weil durch folche Worte der neuen Gründung der Charafter einer Organifation, die A tout prix „fämpfen” will, aufgedrüctt und der Anfchein erweckt wird, daß wir leichthin zu jenen fchärfften Mitteln des wirtfchaftlihen Kampfes greifen wollen, deren Anwendung auf andern Gebieten wir fo oft im fozialen Intereſſe unfrer Volksgenoſſen befämpfen muͤſſen. Nun haben wir zwar in unfern Statuten eine Beftimmung, daß unfre Mitglieder nur mit folchen Bühnen Verträge abfchließen dürfen, „die nicht ausdruͤcklich von dem Gefchäfts- verfehr mit der Genoſſenſchaft ausgeſchloſſen find“. Es ift aber jelbft- verftändlich, daß wir zur Maßregel der Ausfchliefung einer Bühne nur im aͤußerſten Notfall, wenn alle friedlihen Unterbandlungen vergebend waren, und wenn wirklich vwitale Intereſſen der Dramatifer auf dem Spiele ſtehen, fchreiten werden. Notabene natlırlid auch nur dann, wenn wir und mächtig genug fühlen, diefe „Ausſchließung“ zu einer fir jene Bühne empfindlichen Mafregel zu geftalten.

Die neue Organifation tritt ald Genoffenfhaft mit befchränfter Haftung ind Feben. Sie bat ihren Sig in Wien, ift aber berechtigt, in allen Orten, wo ihr Died zweckmaͤßig erfcheint, Vertretungen zu beftellen ($ 2 der Statuten). Wir denken zunähft an Zweigvereine in Prag, Bruͤnn und Graz. Zur Aufnahme ift der Nachweis erforderlih, daß „ein vom Aufs nahmswerber allein oder in Gemeinfchaft mit einem andern in deutfcher Sprache verfaßted oder im die deutfche Sprache uͤberſetztes Buͤhnenwerk auf einer ſtehenden Öfterreichifchen Öffentlichen Bühne zur Öffentlichen Aufführung gelangt oder Fontraftlic zu einer derartigen Auffuͤhrung an einer Bühne der vorbezeichneten Art 'angenommen iſt“ ($ 4). Danach wären alfo Buch— dramatifer von der Erlangung der Mitgliedfchaft ausgeſchloſſen. Von einem Nachweis moralifher Qualitäten beſchloß man nad eingehender Debatte abjufehen. Ebenfo vom Nachweis der Fkünftlerifhen Dualififation. Es fann jedes unfrer Mitglieder fo gute oder fo ſchlechte Stüde fchreiben, wie ed will. Ald Zweck ded Unternehmens wird ($ 7) bezeichnet: der Schuß der Mitglieder gegenüber allen denjenigen, welche ihre literarifhen Werke zum Vortrag oder zur Aufführung bringen oder welche folhe Vorträge oder Aufführungen veranftalten; insbefondere auch der Bühnenvertrieb; ferner die gerichtliche Wahrnehmung der Urheberrechte, indbefondere die Einhebung der Öpnorare und Tantiemen. Ju dem zweiten Punft: Wahrnehmung der Urheberrechte, wäre zu bemerfen, daß die Gefellihaft ex ofio im Intereffe

43

des einzelnen Mitgliedd und der Gefamtbeit Prozeffe anzuftrengen ji vor— behält, was für den Fall von Wichtigfeit ift, daß ein Autor dad Odium fcheut, felbft einen Prozeß mit einer beftimmten Direftion oder einem beftimmten Agenten zu führen. Als weitere Zwede nennt $ 7 Erridtung eined Penfiond- und Unterftigungsfonds für die Mitglieder (es ſoll nicht wieder vorfommen, daß flr einen öfterreihifhen Dramatifer öffentlich gefammelt wird) und für deren Witwen und Waifen. Endlih wird als Zweck noch die Förderung der Mitglieder in ragen von allgemeiner, nicht perfönlicher Bedeutung angegeben (bierher wäre etwa eine Initiative in der Zenfurfrage zu rechnen). Zu den Betriebömitteln zählt $ 8 die mit zehn Kronen feſtgeſetzte Eintrittögebühr und die Einzahlungen zum Geſchaͤfts— anteilfonds. Jedes Mitglied hat mindeſtens einen Gefchäftsanteil zu hundert Kronen zu zeichnen, doc farm diefer Betrag nad und nach, wie bei der parifer Societe, von den eingebenden Tantiemen abgezogen werden. $ 13 ftatuiert unter anderm, daß die Mitglieder ded Vorſtandes Präfenzgelder erhalten, deren Höhe von der Generalverfammlung beftimmt wird. Jedes Mitglied überträgt der Genoflenfchaft dad Recht, die Tantiemen für feine bei der Genoſſenſchaft angemeldeten Werfe einzubeben ($ 14). Von den Bruttoeingangen werden fünf Prozent für die geſamten Negie- und Ver— waltungsfpefen abgezogen; der Neft wird dem bezugsberechtigten Mitglied vierteljährlich ausbezablt. Der Vorftand ift berechtigt, nad) eigenem Ermeſſen Vorſchuͤſſe auf Honorarbeträge den Mitgliedern zu gewähren. $ 22 beftimmt, dag Mitglieder der Genoſſenſchaft, die Direktoren oder Angeftellte einer Bühne find, nicht in den Vorftand wählbar find, eine im Intereſſe der Unabbängigfeit der Organifation notwendige Maßregel. $ 27 fichert jedem Mitglied unentgeltlih Rechtshilfe zu. F 30 ftatuiert ald Korrelat ded Rechtes der Gefellfchaft, die Tantiemen einzubeben, eine Anmeldepflidt binfichtlich der neuen dramatifchen Werke. „Jedes Mitglied muß jeded von ibm ver— faßte oder uͤberſetzte Werf vor deſſen Veröffentlihung bei der Genoſſenſchaft bebufs Negiftrierung anmelden und der Anmeldung zwei Eremplare des Werks beilegen.“ „Die Genoffenfhaft übernimmt den Bühnenvertrieb aller bei ihr regiſtrierten Werfe in Ofterreih, dem Deutfhen Reich und jenen Fändern, auf die der Voritand den Betrieb auszudehnen beichlieft, falle ihn fih ein Mitglied nicht in einer formellen Erflärung im allgemeinen oder fir ein beitimmtes Fand oder ein beitimmted Werk vorbebalten bat“ ($ 31), Selbſtverſtaͤndlich kann nad) Abgabe einer folhen Erflärung ſich dad Mitglied auch irgend eines Mittelömannesd (Agenten) bedienen und ihn nad) feinem Ermeffen für feine Mübewaltung entlohnen. Dod muß der Vertrag des Mitglieds mit der Bühne auch in diefem Fall nach dem von der Genoffen« ſchaft genehmigten Vertragsformular ausgearbeitet fein und darf, wie bereits oben erwähnt, nur mit jenen Bühnen abgefchloffen werden, die „nicht vom Geichäftöverfehr mit der Genoſſenſchaft ausgeſchloſſen worden find“. Auf die Übertretung diefer beiden Beftimmungen find Geldftrafen von zweihundert bis dreitaufend Kronen feitgejegt.

44

Wie wird fid) num in Zufunft das Verhältnid des Dramatiferd zu den Bühnen geftalten? Jedes Mitglied, das ein Buͤhnenwerk vollendet hat, wird es bei der Genoſſenſchaft anmelden. Gleichzeitig die Erflärung ab- geben, ob den Vertrieb durch die Genoflenfhaft oder Eigenvertrieb (Ver- trieb durch einen Agenten) winfcht. Die Genoffenfchaft nimmt das Werk in ihre an alle Direftionen zu verfendenden Liften auf, forgt im erften Fall für die Verfendung des Werfd an die Bühnen und nach Kräften fir eine Annahme unter möglihft günftigen Bedingungen. Im zweiten Fall wird diefe Arbeit, fo wie jegt, dur den Agenten beforgt, nur mit dem Unter- ſchied, daß die Mitglieder, bevor fie die „Korfarenbriefe” der Agenten unter- fohreiben, diefe erft den rechtäfundigen Organen der Genoffenfchaft vorlegen werden. Die Direftionen fenden in allen allen, wo es ſich um bei der Genoſſenſchaft regiftrierte Werfe handelt, die Verrechnung über die Tantiemen an die Genoffenfhaft, die dann die Auszahlung beforgt. So erfcheint der Agent vollfommen aus der Geldgebahrung audgefchaltet. War er früher Herr des Kunſtwerks und damit oft Herr über den Künftler, fo wird er jet das fein, was er immer bätte fein follen: ein Mittler zwifchen Autor umd Direktion, dem jede Möglichfeit der Lbervorteilung des Autord genommen ift.

Welches werden nun die naͤchſten Aufgaben der Genoffenfchaft fein? Zu- naͤchſt wird das Formular fir die Verträge zwiſchen Autoren und Direftionen ausgearbeitet werden. Es wird ferner dad Gebiet des Theaterrechtd, ſoweit das Intereſſe der Autoren in Betracht fommt (insbeſondere dad Zenſur⸗ und Konzeffiondwefen) ftudiert, und ed wird mit Neformvorfchlägen an die gefeß- gebenden Körperfchaften berangetreten werden. Die literarifchen Preidgerichte miürfen im dem Sinne reformiert werden, daßüberall, wo über dramatifche Werke entfchieden wird, ein Fachmann (dramatifcher Schriftiteller) Sig und Stimme bat. Die Genoffenfchaft wird weiter an die Generalintendan; der wiener Hoftbeater herantreten und verlangen, daß dem unwuͤrdigen Vorgehen des Burgtheater, das prinzipiell feine Verträge mit Autoren ſchließt, ein Ende gemacht werde. Es wird auch dagegen eingefchritten werden, daß Theater, die ibre Einnahmen zur Hälfte aus Freifartengebübhren beziehen, diefe Ein— nahmen bei der Berechnung der Tantiemenquote für den Autor nicht in Anschlag bringen, und andre mehr. Wie man fiebt, ein reiches Feld der Tätigfeit, Wie fruchtbar fich diefe geftalten wird, das haͤngt in erfter Linie von dem Ernft, dem Eifer und der Begabung der literarifchen Köpfe des zu gründenden Unternehmens ab. Soweit ich die in Betracht fommenden Perfönlichfeiten fenne, wird es in feiner Hinficht fehlen. Wie fie aber auch werden mag, die neue Genoflenfchaft, eins ift ficher: fie wird werden. Uns deutfch-öfter- reichifche Dramatifer zwingt die eiferne Not der Zeit, die Ruͤckſicht auf die Erhaltung unfrer Perfönlichfeit, die Sorge um dad Wohl unfrer Kinder, die Bedachtnahme auf die Würde unfrer Schaubühne. Laſſet und aus Sflaven der Agenten, der Direftoren, der Preſſe und des Publifumsd materiell und moralifch freie Menfchen werden, und ihr follt feben, was ihr für eine Bühne baben werdet!

45

Mar Burckhard/ von Willi Hand!

hriftſteller find in Wien nur felten populär, Juriſten noch 3 h 8 —— ſeltener, Hofraͤte am ſeltenſten. Populaͤr ſind Schauſpieler. A) ER Und wenn fonft einer im Gefühl der biefigen Menfchen 4) > ein beſtimmtes und dauerndes Bild von ſich aufzurichten Be )\ alt vermochte, fo ift zu vermuten, daß ihm dabei Züge feines

‚Di! AT: Weſens geholfen haben, die auch beim Schaufpieler den

min a FE starken, unabweisbaren Eindrud erwirfen. Dad kann Art geſchehen, wie es eben zweierlei Schauſpielerei gibt. Der eine „macht“ etwas und macht es ſehr gut, macht es fortwaͤhrend und macht es ſo zu ſeiner zweiten Natur, hinter der man die erſte, wahre kaum mehr vermutet. Man weiß von ihm, ſein Weſen iſt nun einmal in dieſen gut bekannten Formen ſpurlos verſteckt; er ſelbſt mag ſehr unverlaͤßlich ſein, aber auf das, was er ſpielen wird, kann man ſich immer verlaſſen. Der andre aber iſt etwas und iſt es vehement und ruͤckſichtslos, und iſt es zuletzt ſo bewußt, daß er es ganz und gar verſchmaͤht, auch zum flüchtigen Schein, auch zur notwendigen Täufhung nur etwas Fremdes in die Form bineinzunebmen, die er als feine gültige und gute erfannt bat. Diefer muß freilich, wenn er die Menge überzeugen will, in irgend etwas Außerlichem mit ihr verwandt ſein; oder ſie muß es wenigſtens glauben koͤnnen. Vom Hofrat Burckhard, der zu dieſer zweiten Art gehoͤrt, glaubt ſie alſo, er ſei „feſch“ und damit wirke er ſo ſehr; es iſt in allen Witzblaͤttern zu leſen, auch in den unfreiwilligen.

Feſch ſein heißt aber, auf eine gefaͤllige Art ordinaͤr und leichtſinnig ſein; heißt, Kultur und Bildung verachten, kein Ziel haben, ſich gehen laſſen, an Ernſt und Arbeit nicht glauben; heißt, leicht und ſchnell und ohne Inhalt leben. Keine Spur davon iſt in Max Eugen Burckhard. Er hat, ſeitdem wir ihn kennen, immer einen Zylinder mit flachem Rand getragen, das iſt wahr; er iſt ein wohlgebauter, blonder Mann mit einem heitern Geſicht, das iſt wahr; er geht ſchnell, arbeitet ſchnell, ſpricht ſchnell und ohne pathetiſchen Ton; man hat ihn niemals deklamieren hoͤren, niemals weinen oder in ſchwerer Entruͤſtung ausbrechen ſehen, oft aber lachen, viel oͤfter noch laͤcheln; ja, er ſoll ſogar laͤchelnd und pfeifend, die Haͤnde in den Taſchen, wichtige Amtsgeſchaͤfte erledigt haben. Das alles iſt wahr. Und das alles kann auch ungefaͤhr ſo von den gewiſſen feſchen Menſchen in Wien geſagt werden; es iſt ihr Merkmal und ihr Stolz. So nahm man den Hoftheaterdirektor Doktor Burckhard denn da erſchien er zum erſten Mal als oͤffentliche Perſon fuͤr einen von den Feſchen und hatte ihn lieb. Man freute ſich, wenn er gelobt wurde, und freute ſich noch mehr, wenn er beſchimpft wurde; denn man hatte ihn lieb. Er konnte ſpaͤter Dramatiker und Journaliſt werden, was ſonſt die Beliebtheit empfindlich ſchaͤdigt, er konnte Richter werden, was ſie gewoͤhnlich toͤtet, und ſogar Hofrat, was ihr endguͤltiges Begräbnis zu fein pflegt; ihn hatte man immer noch lieb. Und

46

wenn ſich die Leute fragen, warum fie diefen Mann, der doch Schriftiteller, Zurift und Hofrat ift, troß alledem in ihrem Herzen baben und halten, ſo wiſſen fie feine Antwort, ald: Weil er halt fo ein fefcher Kerl ift.

Kindliher Irrtum. Weil er nad wiener Art feich zu fein nur ſcheint, ed aber dennoch abjolut nicht ift, gerade darım kann fein Bild und fein Name bei und beftehen. Sonft wäre er, mad er auch aus der Zeitung, vom Stuhle ded Nichterd, von der Bühne ber den Leuten gejagt baben mag, längft in Gleichgültigfeit, wenn nicht in Vergeffenbeit gejunfen. Denn der „feihe Menſch“ ift, wie dies feine Natur bedingt, nur eine Form. Diefe muß rafh und angenehm auffallen, wenn fie an einem weithin ficht- baren Punft ericheint, wohin ſich das allgemeine Intereſſe gerne fpannt, wo die lauten Meinungen der Öffentlichkeit einen billigen und gefabrlofen Pag haben, fih auszuturnen; bei einem Theaterdireftor zum Beifpiel. An ftillern, weniger ausgejegten Stellen wird fie, ein allzu befannter Typus, diöfret verfchwinden. Der Zufall diefer Form bat es vermodht, daß der Direftor Burkhard, gleidy ald er fam, von den Wienern bemerft und willig angenommen worden ift. Aber womit er jet noch auf und alle wirft, muß mehr fein ald diefe Form. Es iſt Perfönlichfeit. Ein ftarfer Geift, der auf eigenen Wegen denft, eine herzliche Liebe zur Natur und zum Natürlichen, ein unverruͤckbares fittlihes Gefühl firömen da, aus den Tiefen eines nie berubigten, aber furdtlofen und feiner felbft frohen Temperaments, zu einer befondern Einheit von Fräftigfter Prägnanz zufammen. Und die Sprache feines Geiftes erfcheint und allen börendwert, feine Liebe zur Matur liebendwert, fein fittlihes Gefühl glaubendwert, weil fein Temperament bewunderndwert ift. Es ſcheint darin ganz Öfterreichiich zu fein, daß es ſich leiht und ohne haͤßlichen Lärm bewegt; aber darin ift es wieder ganz gegen die biefige Art, daß es nicht abfpringt und nicht ausſetzt, fich nicht plöglich wendet, fondern ftetig in feiner Nichtung treibt und weiter treibt und feine Ziele wil. Das bat ihn frifh und munter und unverjebrt gehalten in dem gefährlihen Mancherlei ſeelenſchlachtender Berufe, durch die er gegangen ift: Juriſterei, Theatermacheret und Zeitungsfchreiberei. Das ordnet ihm die uͤberreichen, flr einen wiener Schriftfteller und Hofrat ganz beifpiellofen Schäte feines Wiſſens, organifiert fie zum hilfreichen Werkzeug, fpielt ihm fchlagfertig dad Material in die Hand, das feine Zwecke brauchen.

Diefe Zwecke geben immer irgendwie die Menfchbeit an. Fu ihr drängt ihn fein Temperament unweigerlich bin, fo fehr ihn auch fein Geift von ihr gefchieden bat. Er kann nicht los. Sein eben verläuft unfoztal, in Ver— achtung der Gefellichaft, aber feine Arbeit ift doch immer zur Allgemeinheit bin gerichtet, mit dem Willen, zu belfen, zu flären, zu beffern. Beides aus demfelben einfachen Grunde: Die Gefellihaft, in der wir leben, fommt ihm ganz fhleht und unmsglih vor. Darum flieht er fie ungeduldig; aber darum fucht er fie ebenfo ungeduldig wieder, um ed ihr menigftend zu fagen. Darum bat er Ämter und Stellen von fich abgetan und lebt monatelang einfam, beinabe verfchhanzt, in feinem Haus am See; darıım

47

fhreibt er aber auch faum einen Sa, der nicht irgendiwie darauf aus wäre, einer Allgemeinheit anflagend oder beſchuͤtzend beizuftehen, Nichtige® zu raten, Gutes zu tun. Er bat gezeigt, wie unfinnige und quälerifche Geſetze abzuändern, wie fehlende neu zu erfchaffen wären. Er bat an unmenfchlic wiürgenden Paragraphen rütteln geholfen. Seine große juriftifche Autorität bat er oft und oft Bedruͤckten, die zu ibm famen, wie ein wertvolled Gefchenf mit- gegeben. Menfchen gegen Satzungen zu ſchuͤtzen, dazu treibt es ihn immer; auch gegen Saßungen, die nirgends aufgezeichnet ftehen. Sein Herz ift fogar mit den armen Hofräten (und den andern Menfchen), denen in der unbarmberzigen Mühle ihres Amtes der Charakter langfam abgefhliffen wird; ed ift in feinem legten Roman, dem prachtvollen „Gottfried Wunderlich” mit den armen Convict- Studenten, die von allerlei gefchriebenen und ungefchriebenen Statuten an ihrer beften Lebensfreude bedroht werden. Es ift mit allen, die irgendwie unter verrofteten Normen leiden. Sin die Ver- fchränfungen und Verkittungen finnlo8 einengender Vorfchriften dringt er mit einer unerbittlichen Logik, der feine Leidenfchaft die befte Schärfe gibt. Zur Menfchlicfeit und zur Natur! ruft feine Loſung. Diefer Hofrat, fo menfchenflüchtig und geſellſchaftsmuͤd, ift dennoch ftändig auf Erhöhung und Befreiung von und allen bedacht, ein unnachgiebiger Revolutionaͤr.

Sein Geheimnis ift, daß er ſich micht fürchtet. Wenn man nur beffer wüßte, wie viel damit allein bei und auszurichten it, wir hätten vermutlich dad Leben, dad wir bier brauchen und das wir in brennenden Schmerzen vergebens erſehnen. So aber beftaunen fie den Furchtlofen ald eine unbe- greifliche Kuriofität. Und gewohnt, von jedem, der auffällt, zu glauben, daß er nur auffallen wollte, rechnen fie ibm feinen Mut ald geglüdte Schau- fpielerei an und find niedrig genug, auch da noch die feſche Pofe zu bes klatſchen. Diefe Unverftändigen wiſſen nicht? von dem innern Wert und den Bedeutjamfeiten der Form. Denn der pſychiſche Untergrund, fozufagen die bewegte Subftanz feines Mutes, ift fein Temperament; die Form aber, jeder Pofe fremd und feind, ift reine Sadlichfeit und Logik. In feinen Schriften wird ſich kaum ein Wort finden, das nur um ded Worted willen gefagt wäre. Seine Unerfchrodenbeit gebt, wenn es nottut, auch gegen die Schönheit der Sprache; fie ftellt den Gedanfen unbedingt voran, läßt das Satzgefuͤge achtlos binterberlaufen, und wenn es darlıber den Atem verliert. Er ift fein Stilift. Er befigt die leidenſchaftliche Gefcheitheit, die fich, viel zu ungeduldig, von der Sorge um Klang und Stellung der Worte nicht aufhalten läßt. Für Gehirne fchreibt er, nicht fir Obren. So bat er der Sprache und ihrer Entwidlung nur wenig zu geben. Und dort, wo fein Urteil fünftleriiche Gebilde von eminent fprachliher Gewalt zu treffen bat, ſchlaͤgt es auch öfters fehl. In rein literarifchen Dingen ift er ein mittel- mäßiger Rritifer. Sein Sprud über die „nad Kommißknopf ftinfende Luft“ im „Prinzen von Homburg” ift berüchtigt; und andre, weniger unfterbliche, waren nicht weniger erfchredend. Worauf er prüfend fiebt, das ift die Drdnung der Welt, nicht die Natur des Einzelnen; diefe fer, wie jie will,

48

fofern fie feinen Nächten flört oder gar unferdrüdt. Wie die Menfchen miteinander und nebeneinander leben fünnen, nicht wie jeder fir ſich ift, Dad gebt den Schriftfteller Burkhard an. So ift ed Flar, daß feine un- genierte Art des verftändigen, mit dem Gedanfen gerad fortlaufenden, loder geformten Vortrags und fein Blick auf das Allgemeine, Gefellfhaftlihe am beften dem proſaiſchen Epos, dem Noman dienen. Seine Romane „Simon Thums“ und „Gottfried Wunderlich” find, mit ein paar Movellen von entzuͤckender Aufrichtigfeit, das Beſte, was er Fünftlerifch hervorgebracht bat.

Aus einem ſolchen Roman, der das gefährliche Untereinander von Menfchen fritifiert, aus dem „Nat Schrimpf* ift dann ein Theaterftücf geworden. Es bat alle Spuren ded Romans behalten, fett fich in logifchen, ftatt in drama— tifchen Zufammenhängen fort, ohne Gebeimnis, ohne ſpannende Verwidlung, ohne Lberrafhung, nur mit der Frifche und Durchfichtigfeit ftarfer, eigener Gedanken unaufhörlich reizend. Diefe mehr epifche Methode des regellos berzbaften Zugreifens, ded Hinftellend und Ableitend um der Sache, nicht um der Wirfung willen, läßt fi) auch bei feinen andern Stüden vermerfen, die nur jcheinbar, nicht tatfächlih, aus Romanen gezogen find. Da war „'s Katherl“, eine volkstuͤmlich kraͤftige Gefchichte von einem Mädchen, das fhon einen Erften hatte und nun den Zweiten liebt; da war „Die Bürger- meifterwahl”, einige witzig durchgefprocdhene Beiſpiele von ländlicher Juſtiz und ländlihem Gemeindewefen. Da ift nım fein letztes „Im Paradies“, Geſpraͤche und Erempel von Ehe und Eherecht in Oſterreich. Natlırlic auch Menfhen der Ehe und Menfchen der Zuftz. Und man kann abfolut nicht jagen, daß in diefen Menſchen, die doch zunächft wegen ihrer Worte, wegen der Worte des Autors, da find, fein Blut und fein Herz wäre. Ihr Leben ift reht warm und mirflich, ihre Schmerzen fchreien von innen ber, ihre Fröblichfeit und ihr Leid find auch dem Gleichgültigen fihtbar. Aber das Licht, das auf fie fallt und von ihnen zuruͤckſtrahlt, fließt nur aus der Quelle diefed einen Gedanfend: Gebt ber, eure Eben find ſchlecht, und die Geſetze machen fie womöglich noch fchlechter. Alles rein Perfönliche, alles, was nicht den logifchen Sieg dieſes Gedanfend verfiindet oder bewirft, bleibt im Dunfel. So fommt die Maftif der Figuren über ein fcharfes Relief nicht empor. Ihre Gruppierung um den gedanflihen Mittelpunft it der Sinn des ganzen Bildes; ihre menſchliche Ausgeftaltung nimmt nur ala not- wendiges Mittel hierzu, nicht ald eigener Zweck, die fchöpferiichen Kräfte in Anſpruch. Die Sache wills! Einer Sache, einer befreienden und reinigenden Sache dient auch diefes Stuͤck. Es dient ihr mit dem Mut eined Mannes, der ſich nicht fürchtet, mit der Logif eines Geifted, der Geifter zu zwingen weiß. Darin beruht auch fein ftarfer, fauerftoffhaltiger Witz. Man bat ihn geruͤhmt, ald ob es die gefällige Flinfheit eines gewandten Feuilletoniſten wäre; aber man tut daran nicht recht. Denn diefer Wit ift nichts als ftrenge, fachgerechte Logik, die fi für Momente der Umftändlichyfeit entledigt. Diefer Pig it Beweis, der jäb über die Zwiſchenglieder ſetzt, iſt uͤberrumpelung blödfinnig unordentlicher Tatſachen durch einen Forreften und geordneten

49

Denfapparat. Es ift der gefährlichfte Witz, den ed gibt. Er ıft eigentlich gar nicht feſch und kann in Ofterreih nur Hofräten erlaubt werden, weil er nämlich bei ihnen am unerlaubteften ift.

Diefer Wit bat auch ein ganz andres Gelächter aus den Leuten heraus— getrieben, als ſonſt Schwänfe oder Komddien fünnen. Im Deutfchen Volfs- theater, wo das Stuͤck jegt ganz vortrefflich gefpielt wird die Gloͤckner, Tyrolt und Kramer harafterifieren mit unnachahmlicher Echtheit und Leichtigkeit fehen die Menfchen in den Reihen einander ganz jonderbar an, und jeder ſpuͤrt, daß von ihm felbft die Rede ift. Katbolifh oder nicht meiftens nicht ein jeder fplırt doch, wie ihm diefer bittere Wit mitten ind Gewiſſen fpringt, wie er ſich felbft, wie er der Ehe, wie die Ebe ibm, wie der Staat uns allen in böfem Unrecht nahe tritt. Und fpiırt, wie bier einer iſt, der Recht will, Necht fucht, Necht mit richtigem Licht zu beleuchten weiß. Darüber vergißt man gern ein paar dramatifche Forderungen. Iſt doch die eine, nächte, erfüllt, daß unfer eigenes Leben auf der Bühne lebendig wird! Es ift ein äußerer, allgemeiner, von weiten Begriffen umzirfelter Kreid. Aber von da aus laufen fichtbare Wege ind Innerfte jedes Fuͤhlenden. Diejes Stüd geht alle Menſchen an und wird von allen verftanden. Es gehört zu denen,. die von der Oberfläche ber unfeblbar ind Tiefe wirfen. Mehr folhe, und wir hätten eine Wirfung ded Theaterd, wie fie idealer nicht gewinfcht werden fünnte. Eine Wirfung, die fhlieplih, ungewollt, bloß durch die natürliche Funktion des Fünftleriichen Lebens und der Entwicklung, vom wichtigen Gegenftand aud zur hoͤchſten Form binaufführen müßte.

Momentbilder von fremden Schaubühnen Indiſche Pantomime/ von IB. Fred")

FREI einem Nachmittag bin ich hinuntergegangen, den Blick 15 RE ld binliber nach den fernen hoben Bergen, und ald ich an P 2 einen Kreuzweg fam, ſah ich unten im Dorf der Mongolen A % 21.2 eine große Menge Leute berumfigen. Eine Art Ampbi- da: FF theater war da erbaut aus ein paar Baͤnken und Kiffen. A In der Mitte fchien etwas Geheimnisvolles vor fich zu EunZ:) geben, und rings herum war alles, was im Dorfe laufen fonnte. Kein einziger Europäer fonft, auch niemand, der ein Wort unferd Idioms verfteben konnte. Aber wie ih auf die Menſchen zutrete, öffnet fi) der Kreis, und man läßt mich vortreten. Hier und da fpricht einer auf mich ein und kann ſich nicht vorftellen, daß ich Feine Ahnung davon babe, was er jagt. Es find gewiß zmeibundert Menfchen, vielleicht mehr. Die

*) Aus W. Freds anfchaulihen und umfaffenden Aufzeihnungen über feine „Indische Reife”, die bei R. Piper & Co., München, erfcheinen.

50

Fülle der Farben, die fi dem erfaffenden Blick aufdrängen, ift ungebeuerlich, die Vielfältigkeit der Kormen macht ganz wirr; was da im Kreife berumfigt, auf Sandhaufen liegt, an einem Zaun lehnt, ift jo ziemlich das Farbigſte, das fi ein Menſch denfen kann. Da find ganz Fleine Kinder in blauen oder orangegelben Kitteln, junge Leute in gelbfeidenen Mänteln, auf dem Kopf Pelzhuͤte mit roten Quaften, Weiber, die unzählige bunte Papierblumen auf dem Kopfe tragen, uralte Mannweiber oder Weibmänner, die mit riefigen Ohrgehaͤngen dafigen, junge Mädchen, die Zigaretten rauchen, ernfte junge Menfhen, die nur auf das feben, was in der Mitte diefed Kreiſes geichiebt. Ya, was geichieht da? Aus einem Kubftall, der ein paar Schritte von der BVerfammlung ftebt, tanzt von Zeit zu Zeit ein Mann beraud, der eine Maske vord Geficht gebunden bat oder als rau verfleidet ift, oder jonft einen fonderlihen Aufputz bat, der fpringt in die Mitte, wo auf einer Banf ein ähnlich gefleideter Mann figt, und während Trommeln einen flrchterlichen Lärm vollführen und ein fonderbares Blechinftrument auch Töne von fich gibt, wird dann um die Banf, um die Mitte herum, von einem, zweien oder dreien ein Tanz audgeführt, ein Sang gefungen, der wirklich nur aus einem tiefinnerlihen Bedürfnis, Laute herworzubringen und Bewegungen zu machen, hervorgehen kann, denn es ift fo ziemlich dad Naivfte und Groteskeſte, was man fi vorftellen kann.

Man möchte nun gerne wiffen, wad das alles bedeuten joll. Ich juche berum, ob nicht irgend ein Handwerker oder Krämer unter den Menſchen ift, der die notwendigften englifhen Wörter erlernt hat, vielleicht einer, der Soldat gewefen ift oder ein Rikshawzieher oder fonft wer. Aber es hilft nichtde. Sie wiſſen von Zeit zu Zeit »yes«e oder »lama« zu fagen, aber mitten in diefen engliſchen Sprachſchatz mengen fie dann lange Auseinander- fegungen, von denen man fein Wort verftebt, und da aud) die Gebärden diefed Volkes jo ganz andre Dinge bedeuten, ald eine ähnliche Pantomime bei und bedeuten würde, zudt man machtlos die Achſel umd möchte nur gern den Nedeftrom bannen, den man entfeflelt bat. Dazu fFichern die Mädchen, die vorne fißen, die dien alten Frauen, die ed gar nicht notwendig bätten, ihre Zähne zu zeigen, und man ift nun felbft ein Theater neben dem andern, das in der Mitte des Feſtes offiziell vor fi gebt. Ein paar alte Leute ärgern ſich auch, weil man vermutlich die Heiligfeit der ganzen Zeremonie ftört, und dann fommt ein febr ernfter, aber doc etwas fomödienbaft ausfehender Herr mit einem gruͤnen Damaftmantel, aber amerifaniichen Patentlederichuhen, dem ein langer Zopf binten herunterhaͤngt, auf mich zu und fagt irgend etwas. ch nike mit dem Kopf, weil dieſe Höflichkeit doch ſchließlich nichts Foftet, und er geht wieder weg. Mach ein paar Minuten wird ein ganz großer Stuhl gebracht, ſehr zerriffen, fürchterlich (hmußig, und dann nimmt man mich beim Arm und feßt mich mitten in den Kreis der vornehmften Leute auf diefen Stuhl. Nach ein paar Sefunden fommt aud eine dicke Frau mit einem fehr großen und merfwürdigen Gefäß aus Kupfer umd ftellt das vor mich bin. Ich mache das oben auf, alle

51

Leute lachen, weil man dad vermutlich nicht oben aufmacht, aber ich babe bei diefer Gelegenheit doch wenigftend erfahren, daß oben eine merfwirdige Art von Körnern liegt, vielleicht Neid oder irgend etwas ähnliches, unten aber macht man eine Art Hahn auf und dann fließt etwas heraus, was die Leute trinfen. Man bringt mir einen fehr fchönen, ungemein großen und merfwürdigen Pofal, ed fommt eine andre jüngere Dame und gibt ihn mir in die Hand, und ich mache dann fo, ald ob ich von diefem graußlichen Zeug tränfe. Ich ſehe mih nun etwad um. Die Leute fißen da und rauchen, vor manchen fteben Fleine Saufen von Zuckerzeug, Humpen mit einer Flüffigfeit, die der meinen aͤhnlich fiebt, oder audy Tee. Die Leute find alle ungemein aufgepugt; eine Fülle diefer charafteriftifchen tibetanifchen Ketten aus allerhand Edelfteinen und Fraufem Silber, die übrigens für das moderne Runftgewerbe eine ganze Menge von Anregungen gegeben zu baben fcheinen, bangen auf den Brüften der Frauen. Farbige Steine gibts ja bier genug, man braucht nur eine halbe Stunde in der Erde zu wuͤhlen und findet eine Menge blaues, rotes, gelbes Geltein, dad in der Regel jwar gar micht® wert ift, aber jo ausfieht wie Tuͤrkiſe, Amethyſte oder ähnliches. Das reiht man dann in Schnüre, faßt es in Ketten, Ninge, große Armbänder und pußt fi damit auf. Rechts von mir ftebt in einem fupfernen Schrein ein Feiner Gott, ein tibetanifcher Lama mit einem kleinen Blumenftrauf, und dad Ganze ftebt, damit man es beffer fiebt und zur Erhöhung der Würde, auf einer Whisky-Kiſte. »Real Scotch Whisky- Dewarse« ſteht nody mit den deutlichften Buchſtaben darauf gemalt.

Mit einem obrenbetäubenden wilden Lärm fpringen nun wieder die Männer aus dem Kubftall hervor; jetzt find fie Geier, die Weinlaub hinter den Obren haben. Alles wird furchtbar aufgeregt, ein paar Kinder vorne fchreien, die räudigen Hunde, die mitten in der Feſtverſammlung berumlaufen, fangen an zu bellen. Während diefed Höbepunfted des Feſtes Führt jener alte Herr im grünen Damaftmantel nun einen jungen Herrn zu mir, der fhon bedenklich von der europäifchen Kultur beleckt zu fein fcheint. Er hat nämlich ungefähr das gemeinfte Geficht, das ein Menſch haben kann, und er ftellt fich mir ald ein Dolmetſcher vor, der glänzend engliſch kann und der mir jeßt fagen wird, mad das Ganze bedeutet. Aber troß dieſen Ver— fprehungen fann ich aus ibm nur berausbefomnen, daß es fih um ein Lamafeſt handelt, und daß die pantomimifchen Tänze in irgend einer Beziebung zu den Schieffalen der alten tibetanifhen Könige fteben, und daß das reichite Mädchen des Dorfes Darjeeling, die Befigerin eines Weingartens, aljo einer Art Gaſthaus, diejes Feſt gibt, das entweder felbit „Botichantaifhopab” beißt, oder deffen Geberin jo genannt wird. Ach muß fagen, mir it nicht ganz Flar geworden, wie man fiebt, welcher Zeremonie ih ald Ehrengaſt beiwohnte, nur die Ziffer von fünfhundert Rupees iſt mir noch in Erinnerung geblieben, die mir der Dolmetich ald Geſamtkoſten einer ſolchen Veranitaltung mitgeteilt bat... .

Rasperlelheater

Aus den Theaterfanzleien

Kleines Theater/ von Trinkulo

Derdeutfhe Dihter (ericheint im Sprechzimmer. Mit der Schüchtern⸗ beit und dem Anftand, den er hatte, legt er einige Manujfripte man fieht ihnen die Spuren häufiger Reifen an auf einen Tifh und wartet)

Der Dramaturg Adolphe Yang ſſprich »Langsse«] (tritt ein. Sehr foigniert): Ah pardon, monsieur. Wie id fann Ihnen fteb zu Dienft? Parlez-vous frangais? Offentlich ... Aber, cher ami,.. wie fein Ihre Nam?

Dichter: Friedrich Wilhelm Knille... Ich babe ein Stüd gefchrieben. „Der Nachtwandler“. Glänzende Rolle fir Harry Walden.

ang: Ab, quel horreur! „Knille.“ Oh, was ift die deutfche Spraf für eine arme Spraf. Mais... dad madıt nie. Man fann .. . wie fagt man doch gleidy . . . audbeflern, corriger. Knille, das fein das, was die Berliner fagt für ivre betrunfen. Tres bien: nennen wir die auteur von die Stüd Frederic Ivre. C'est excellent, n’est-ce-pas?

Der Dramaturg the very honourable Giles Schaumberger, Es q. (erfcheint. Polodreß. Shagpfeife. Hände in den Tafchen): Ach, halloh, old boy. What the matter with this gentleman?

Fang: Er und bringen eine Stüd. Malheureusement: eine deutiche Stud...

Schaumberger (hebt mit unverfennbarer Ausdrudsfraft den rechten Stiefelabfag in der Richtung ded Dichterd): Halloh . . .

Lantz (ibm in den Fuß fallend): Mais, laissez donc, mon ami. Pourquoi ga? Wir werden fie lefen, diefe Stud. Wir werden fie, wenn fie und gefallen, jegen über in die langue frangaise.

Schaumberger (fpudt über die rechte Schulter feines Kollegen): God damn your eyes, You are a Trottel. „Man ift nie dämlicher, ald wenn man Flug ift” jagen irgenduo meine Fieblingsdichter Oscar Wilde. Wenn uird gefegt über, uird gefegt über im Englifb. (Er pfeift nervös einen nigger song)

Fans (wütend): Saprifti! Das wir werden fehen. La France haben toujours den Vorzug. La France fein die Trägerin von die Kulturen, die Berbreiterin von die Künfte . . .

Schaumberger: Aoh,bloodiesFrenchmen! „Die Kaltuafferbeilänftalt fein die befte Verbreiterin von die Kultur,” fagt irgenduo die große Dihter Bernard Sham.

Fang: Ab, maudit Anglais......

Schaumberger (in Auslageftellung): Halloh, will you box?

(In der Luft fhwingen plöglich die Töne des „roten Sarafan”. Man bört ein laute® »Tschort wos mie. Dann fommt Vaͤterchen Victor Abrahamowitſch Barnowskij herein. Er tanzt zunaͤchſt einen ruffifchen National⸗ tanz, dann fagt er ganz rubig)

Barnowäfij: Aber, Brüderhen Adolf Sergejewitfh ...... Brüderchen Julius Nicolajewitfh! Aber, Ihr lieben Brüderhen! Welch ein Teufeldhen ſitzt Euch denn nur im Nacken? Gebt: zum Beiſpiel. Wenn nicht die Liebe unter Euch) ift, ja, wohin fommen wir dann? Schon Lew Tolftoj fagt Ihr guten Kinder, alfo was fagt er? Man muß ſich lieben, fagt er. Und was fagte, Ihr guten Kinder, unfer braver Marim Gorfij, als ihn die vortrefflihen berliner Schaufpieler Leopold Iwald und Anderly Lebius und die andern aus dem Gefängnis befreit hatten? Man muß fidh lieben, fagte er. Weiß Gott; das und nicht? andres fagte er. Und Leonid Andrejem und Peter Iwanowitſch und die andern Guten, was fagen fie? Man muß fich lieben, lieben, lieben, lieben... (er redet weiter, bis ihn die Dramaturgen beruhigen)

Dichter: Verzeibung, Viterhen Victor Abrahamowitſch. Ich babe ein Stick gefchrieben. Ein deutfches Stüdf. Das ift bier nicht möglich: ich babe es jchon eingefeben. Und nun ftreiten fich die Herren, ob man es als englifche oder franzöfifhe Arbeit ausgeben foll.

Barnowskij: Aber, Du gutes Wobltäterhen. Was Ddiefer will, was jener will, wie ift ed doch fo gleichgiltig! Was würde denn das alte Mütter- hen Rußland dazu meinen, wenn ich von feiner Fahne wiche? Ob nein. Ruſſiſch wird es fein, das huͤbſche Stuͤck, und gefallen wird es, und flimpernde Nubel werden fallen in Deinen Schoß und ...... (Die Dramaturgen toben witend los, fchreien durcheinander. Barnowskij reift eine Nagaifa aus dem Kaften, fchreit „Paſcholl“. Die Dramaturgen trollen ſich, fnurrend) So iſt ed recht, Ihr Edlen. Was fagft Du, Brüderhen? Wie ih Dir bereits mitteilte. Die Hauptfache bleibt eben doch: man muß fidy lieben, lieben, lieben, lieben, lieben ...... (Die Wiederholungen dauern fort, biß der unſichtbare Beobachter diefer Szene außer Hörmeite it)

MRundkhau

BurgtheatersKandidaten

er Weg zum guten Engagement

war früher nicht fo leicht wie heutzutage. Laube ſchickte einen An⸗ fänger erft auf zwei Jahre am ein kleines Bühnchen, dann auf ein paar Spielzeiten an ein guted Stadttheater, ebe er ibn für geeignet und würdig bielt, in dad Enfemble der Burg ein- zutreten. Und da wurde der junge Acher zunaͤchſt auch noch recht knapp gehalten.

Heute geht der wiener Konſer— vatoriumsſchuͤler, und gar wenn er bei der Hauptpruͤfung einen Preis erhielt, ab wie eine warme Semmel. Seinen Burgtbeater-VBertrag bat er in der Taſche, und nur, weil da eine ganze Horde diefer frifchgebadfenen Mimen berummwimmelt, die ſaͤmtlich ſchon das Kainz⸗ Zeichen an der Stirn tragen, und die erft untergebracht oder nad) einemJahr weggeſchickt werden muͤſſen, begnadet er inzwiſchen ein andres großes oder mittleres Theater mit ſeinen Leiſtungen, macht dem Re— giſſeur innige Freude und fallt einſt⸗ weilen mehr durch ſein Gebahren hinter der Szene, als durch himmelſtuͤrmende kuͤnſtleriſche Taten auf.

Sicher nimmt nun der ältere Kollege ein Erfledlihes an Arroganz und Auf⸗ fchneiderei von dem dramatifchen Em- bryo bin, denn erftend: Jugend bat nicht Tugend, und zweitend: er bat ed in feinen Anfängertagen auch nicht beffer gemacht. Aber die Möglichkeit, die fihere Erwartung der fchnellen Karriere zeitigt heutzutage bei diefen jungen Daͤchſen eine Gefinnung, die nad) juriſtiſchem Ausdrucd „das Maß des Erlaubten weit tıberfchreitet”, auch wenn der $ 193, die „Wahrung be=

rechtigter Intereſſen“, in vollftem Mafe zugeitanden wird.

Mit grenzenlofer Verachtung ſehen diefe allfeitig beliebten Jünglinge und Jungfrauen auf jeden einzelnen ihrer Kollegen berab, denen fein Vertrag an das allein jeligmahende Burg» theaterinder Tafche fniftert. In Berlin imponiert ihnen überhaupt niemand, aber auch an ihrer geliebten Burg tft fein einziger, der, was man fo jagt, was los hätte. Sonnenthal ſoll fich in die Grube legen („mit ſolchene Tränenfäde fpilt ma doch net mehr Thiater!”), Baumeifter fann feine Nollen nicht, hat ibrigens feine Haare und feine Zähne mebr, Hartmann war überhaupt nie etwas, Kainz wird alt, Lewinsky bat einen Buckel, die Hohen⸗ feld ift eine Ruine, und die talentlofe Lotte Witt ift Überhaupt nur Durch „Kabale und Liebe” an den ranzend- ring gefommen. Das alles fieht die Intendanz auch längft ein, und des— balb trägt jeder von ihnen, den jungen Genied, den Vertrag an die Burg mit fih berum, um endlich einmal die Darftellungsfunft nad dieſem ſchmachvollen Darniederliegenauf eine ungeahnte Höhe zu beben!

An ſich wäre diefe froͤhliche Phan⸗ tafie ja unfchädlich: ein jeder baut fich fein eigenes Kartenhaus und feßt ſich als vier Stock bober Befiter binein. Aber die Wirfung folder Gefuͤhlsduſelei auf die Umgebung tft die der Wanzen. Durd einfaches Ignorieren und Überjehen friegt man dieſe Burgtheater⸗Aſpiranten ja nicht klein. Zurechtweiſungen, Sarkasmen oder die ſchaͤrfern Pfeile hanebuͤchener Grobheit prallen wirkungslos an ihrem Flußpferdfell ab. Im Konverfationd-

55

zimmer, hinter der Szene, wo ed aud) fei, erſchallen unausgeſetzt dieſe hoͤchſt ſchaudervollen Phraſen: „Bei uns in Wien —“, „auf'm Konſavatorium ham mir viel intenſiver geprobt, wie hier“, „Schlenther hat mir g'ſagt, ſo was von Talent hat er no net g'ſehn, als wie ich bin“ mit dem ewigen Refrain: „In zwa Jahr bin ich an der Burg!“

Dieſe lieben Burſchen verſuchen jeden ihrer Kollegen beim Rockknopf zu nehmen, ihn hinter ein Verſatzſtüͤck zu führen und ihm beizubringen, daß das ganze Enjemble,Eraudgenommen, und jeder einzelne ein Schmierenfrige erften Ranges fei, von dein fein Hund ein Stuͤck Leberwurft nähme, obne daß fie fih vor Scham fofort in Blutwurft verwandeln würde! Und faßt ein älterer Mime einmal alles, wad er auf dem Herzen und Ge— wiffen bat, in das geflügelte Wort zufammen: „Menſch, fehn Sie denn nicht, wie efelhaft Sie allen Kollegen find,” dann erhält er ald Entgegnung das nicht minder geflügelte Wort: „Ab, wad! In zwa Jahr bin id) an der Burg; die Kollegen fünnen mich alle gern baben!“

Es ift ja längft durch die Tatfachen feftgeftellt, daß dieſe lieben Acher beiderlei Geſchlechts allerdings in zwei Jahren an der Burg, aber nad) einem weiteren Jahr tatenlojer Herumſteherei wieder draußen jind (ein paar Aus— nahmen beftätigen diefe Regel), worauf fie an ein -itze oder =au-Theater gehn und die Burg ald größte Schmiere verunglimpfen. Aber wie ſchoͤn waͤre es, wenn ſie dieſen nutzloſen und zeitraubenden Umweg nicht machten, ſondern, wie fruͤher, ihre Lehrlingszeit an kleinern Buͤhnen erledigten und ſich da die Hoͤrner abliefen. Der Pfad uͤber die beſcheidenern Theater bleibt ihnen ja doch nicht erfpart, man fucht fie ja dodh im Almanach nad ein paar Jaͤhrchen, wenn fie erit den

56

Burgtbeatervertrag zum Schminfe- einwideln verwandt haben, unter „Wien I” vergebend. Diefe Ante- cipando = Beichlagnahme ihrer Be— gabung it fat immer ein Unglüd, für die davon Betroffenen ſowohl, wie befonders für die armen Kollegen, die nicht das hohe Glücdf haben, wiener Konſervatoriumsſchuͤler und zur Nach⸗ folge von Kainz ſowohl berufen als aus⸗ erwäblt zu fein. Albert Bor&e

Zur Entwirrung der Kunftbegriffe

(Five notgedrungene Streitfchrift‘ ift (bei R. Piper & Eo., Münden) erichienen, die den Titel führt: „Der Deutſche und feine Kunft“, und die Karl Scheffler zum Verfaſſer hat. Es find zwar ausſchließlich Kragen der bil⸗ denden Kunft, von denen der Berfafler ausgeht. Aber da Scheffler einer der einfichtigften und weitblictenditen Gei- fter, der ernfteften und Fraftvollften Schriftfteller if, die wir heute in aestheticis haben, und da ferner nir= gende fo fehr wie im Neich der Kunſt dad brennende Nachbarhaus Ange: legenbeit jedes Anwohners jein follte, jo iſt ed wohl angebracht, auch in diefen, der dramatiſchen Kunſt ge- widmeten Blättern mit Nachdruck auf die böchft vortrefflihe Fleine Schrift binzuweifen. Die Verwirrung der Geifter, auf die Scheffler hinweiſt, it nicht nur im Sand der Malerei zu finden, und die Klärung der Geifter, auf die er binarbeitet, muß in jedem Gebiet geiftigen Lebens Segen wirken. Der Angriff Schefflerd gilt dem falfhen Nationalismus in der Kunft, dem „Idealismus, der deutich zu fein glaubt, wenn er kuͤnſtlich mit den primitiven Mitteln einer vergangenen deutichen Kultur pathetifche Raiſonne⸗ ments uͤber das Leben zum Ausdrud bringt. Scheffler aber fiebt mit tiefem Recht die Gefundbeit von Kultur wie

Kunft einzig darin, daß dad gegen wärtige Leben fidy neue, ihm allein adäquate Ausdrucksformen erzeugt, in denen geftaltet ed in wahrem Ernft nicht in fpintifierendem Hochflug zu reinerer Vollendung auffteigt. Die wefentlihe Harmonie von Zeit- leben und Zeitfunft ift es fletd, die und eine Epoche der Vollendung, der „Klaſſik“ bedeutet. Mit gutem Grund fagt deshalb Scheffler, daß die ala raffiniert und erjentrifch verfchrienen „Smpreffioniften” dem Klaffifch-Nai- ven fehr viel näher find, als die muͤh⸗ fam primitiven „Sdealiften”. In der männlich harten Art, mit der fie das gegenwärtige Sein anpaden, find diefe Framzoſenſchuͤler auch viel deutſcher als jene fentimentalen Weltflichtlinge, die, ftatt unferd gegenwärtigen deut⸗ ſchen Lebens, günftigften Falls ein Leben abfpiegeln, das einmal deutſch war. Diefe Sentimentalenaber, dieim Grunde mit ihrer Safrofanftfprechung vergangener Lebensideale eine tiefe Re⸗ jpeftlofigfeit vor der immer neue Heilig⸗ tumer erzeugenden Natur befunden, fie find gefährlih dem Ziel wahrer Kunft; denn „ed gilt, daß der Menſch wieder mit fich felbft uͤbereinſtimme, daß der Werktag mit dem Feiertag, der Mittag mit dem Feierabend, die Arbeit mit der Erholung verbunden, daß dad Leben wieder, ald ein uns geteilted, nicht theoretiſch begriffen, fondern praftifcd gelebt werde. Das Kunftproblem ift mehr denn je ein Lebensproblem“.

Wenn wir die Bedeutung dieſer prachtvollen Polemik fuͤr das beſondere Gebiet unſrer Schaubuͤhne erwaͤgen, fo müffen wir fagen, daß in praxi der Schaden, den die falihen Teutfch- tiimler bier anrichten, ſehr viel ge- ringer ift. Aus dem Grund, weil die dramatifchen Nationaliften noch fehr viel talentlofer find ald die malenden. Lienbard ift fein Thoma, und die Tra= gifer unferd Schaufpielhaufes Fönnen

denn doc noch fehr viel weniger als Anton von Berner und Guſtav Eber- lein. Ihre fchöpferifche Jmpotenz zeigt fid) nicht erft legten Endes, fondern ſchon jedem Blic an der Oberfläche. Das macht fie fo harmlos... Um fo häufiger und fhädlicher Freuzt in der Theorie die nationale und idea— liſtiſche Phraſe Die Arbeit der Ehr- lichen. „Liebermanns Malerei ift ficher deutfcher ald die Studs, ſchon aus dem einfachen Grunde, weil fie befler it.” Aus gerade dem Grund ift „Fruͤhlings Erwachen” zum Beiſpiel o fehr viel deutfcher ald ‚Wieland der Schmied” und noch fünftaufend evan⸗ geliſch⸗ nationale Dramen zuſammen.

Julius Bab

Weihnachtsſpiele De Kuͤnſtleriſche an den „Weih⸗

nachtsſpielen“, die das duͤſſel⸗ dorfer Schauſpielhaus gegenwaͤrtig unter dem Jubel der Kinder veran- ftaltet, fcheint mir darin zu liegen, daß in ihnen Idee und Handlung auf eine Formel gebradt ift, die obne Ver— dauungsbeſchwerden von der findlichen Phantafie erfaßt werden kann. F. %. Herrmannd Bearbeitung ded Rot— fäppdyen-Stoffes ift von der vorjäb- rigen Aufführung des beidelberger Hebbel-Vereind befannt. Die duͤſſel⸗ dorfer Regie (Emil Geyer) gab diefer fröhlichen Melodie eines Kinderfreun- des tönende Reſonanz. Es erfchien da ein durch drei Baumſtaͤmme vor« geftellter, fehr anſchaulich wirfender Mald. Das heißt, vom Nötigen das Weſentliche geben. Ich glaube, unfre Regiffeure koͤnnten von Wilhelm Buſch noch viel mehrlernen. Danadı brachte, durch eineglückliche Inſzenierung unter⸗ ſtuͤtzt, Richard Kraliks volkstuͤmliche Bearbeitung des „Myſteriums von der Geburt des Heilands“ vieles von der friedfertigen Anmut, die den mittel⸗ alterlichen Krippendarſtellungen eig— net. Man batte Fleine verſchneite

57

Häuschen auf die Drehſcheibe geſetzt, die man, durchaus im Nahmen find- liher Vorſtellungen bleibend, bei off- nem Vorhang nad) Bedarf vor⸗ und riichwärtö bewegte. Dadurch wurde die Legende ineine echtere Wirklichfeit, jenfeitd der tbeatralifhen Illuſion, bingebaut. Die Engelöflüigel waren denen angeheftet, die ſich am artigften damit ausnehmen: Rindern, in langen weißen Hemden. Diefe liebenswuͤr⸗ digen Wefen gucten zu Tuͤr und Fenfter hinein, jagen im Schnee und unter den Tannen. Hinter dem Einfall muß ein Dichter ſtecken! Man möchte die Direftoren der ausſtattungsfroͤh⸗ lihen Provinzbühnen, die nicht immer in der Provinz liegen müffen, in diefes Bethlehem führen, damit fie fehen: Es gebt auch ohne Nefleftor und ohne Wadenparade. Richard Elchinger

Der Applaus

an fommt aus dem Triftan heim.

Zwar ſchilt man nicht (gleich, jener Frau Peter Altenberge) fein Dienftmädchen, ift aber Doch ärgerlich: Warum muß einem der Beifall der Banaufen den leiten Eindrucf zer klatſchen dürfen?

Nun find wir fo weit, haben wieder ein rechtes Enfemble auf der Bühne, Haben auch die rechte Enfemble-Dar- ftellung: Tcheater- Abende von Stil und Stimmung. Und haben doch fein Publifum, das fi) aus der Einheit diefer Abende nicht wieder herans— fpielte, dad Stil und Stimmung nicht wieder banaufifch zerftörte... .

Man fann radifal fein und das Applaudieren ganz verbannen wollen. Dem ſteht zuerft gegenliber, daß es die Ausdrucksform einer berechtigten

Kritik ift, und fehr Flug würde und Doftor Treitel zu begrimden wiſſen, dag Publicus mit feinem Billet auch dad Recht erfauft, an dem daflır Ge- botenen Kritif zu Üben und ihr in den gewohnten Formen Ausdruck zu verleihen: durch Kränze, Klatfchen, Nufen und Ziſchen. Nur bat fein ius civile zu beftimmen, wo aus dem Weſen und Wirfen unfrer Zeit er- wachfene äfthetifche Forderungen laut werden, die da und dort gegen die üblihen Formen des Publiftums- Urteil fprehen. Da und dort: nad) der Tragddie und dem „lyriſchen“ Schauſpiel den Sinn des Adjektivs wird man verftehen), nah Zriftan und Taſſo.

Dafuͤr ſpraͤche vielleicht eine Ve: obahtung, die Phyſiologen wohl zu beftätigen und zu begründen wüßten: dag feelifche Spannungen immer in förperlihen Reaktionen Auslöfung ſuchen. Daß, mit andern Worten, der Applaus im Theater die Notwendig- feit ift, die Merven und Muskeln ins „Gleichgewicht“ zurüuͤckſchnellt.

Das Problem wird auch nicht nur vom Zuſchauerraum aus zu loͤſen fein: Mer vermag und ehrlich genug von den pſycho⸗phyſiſchen Wechſelwirkun⸗ gen zwiſchen Applaus und Darſteller zu beichten? Und wer vermag einen andern Weg zwiſchen Publikum und Dichter zu finden? Publicus zahlt und weigert ſeine Tantieme mit dem Applaus,

Ein Problem, das fich dem Laien fchwer entwirrt. Warten, bis der fröb- lihe Zufall den Knoten loͤſt? Wo es fi darum bandelt, dem Publifum im Enfemble der neuen Bühnen-Abende den rechten Ort und das rechte Wort zu finden? Kurt Weisse

Berantwortlich für die Redaktion: Siegfried Jacobſohn, Berlin SW. 19 Berlaavon Oefterheld & Eo.,BerlinW.15 Druck von Amberg & Leffon, BerlinW.n

rt un: wur. "une: —W uw. —* vv

J

17. Januar 1907 F III. Jahrgang Nummer 3

Ein deutſches Weihnachtöfpiel/

bon Leo Greiner

An einer der leuten Rummern]der „Schaubuͤhne“ wies Bodo Wildberg anf den Tiefftand des heute üblichen Weihnachtöfpield bin, indem er gleichzeitig die beiden Wege angab, auf denen eine Regeneration erreichbar wäre: den hoͤchſt plaufibeln, eben beffere Spiele diefer Art zu fchreiben, was freilid feine Prinzip-, ſondern lediglich ein Talentfrage if, und den andern weitaus auf aͤltere Weihnachtsmyſterien zurückzugehen. Unſre Volks⸗ literatur, beſonders die ſuddeutſch⸗ katholiſche, iſt ja fo reich an geiſtlichen Dramen, die die ſchwer verftändliche, zum Teil völlig chaotiſche Spmbelif der Geburtögefchichte Ehrifti aus der ſachlich dunkeln Darftellung des Evan⸗ geliften herausloͤſen und in kindlich verftändiger Weife zart und doch greifbar neu fchaffen. Ohne daß an den efoterifhen Kern gerhfrt wide, dem der Bolfsdichter ſcheu und ehrfurchtsvoll umgeht, indem er ihn gläubig bin- ninmt, vollzieht fich die Handlung diefer Dramen äußerlich im Tatſaͤchlichen und Nahen, im Unyweidentigen und Alltäglihen. Das Spmbotifche wird ind Naturaliftifche, dad Fremdartige ins Altgewohnte, das orientalifch Fluͤchtige ins Deutfch-Derbe und Handfeſte uͤberſetzt. Vor den Kindern, die wir ums beute wohl in erfter Linie ald Zuſchauer denfen, entrollt ſich da eine Welt, die fie ohne hiſtoriſchen Drill aus reinen Gemittötiefen and unmittelbar begreifen und nacherleben. Denn ebenfo vorausfeßungslos mis das Kind vor den Dinger des Lebens ftebt, mir mit der einen Erwartung, daß fie fih ihm mitteilen mögen, mie fie find, trat der Dichter ar fehren Stoff heran, ein wenig vationalifkfch verwundert umd dennvch Myftifer von Blut, freudig Aber jedes Lichtlein der Vernunft, das ihm angeſichts des Unbegreif- licher leuchtet, und dennoch ergeben im das Geheimnis des Goͤttlichen, ein

Naturaliſt, der ebenſo ruͤhrend iſt, wie er Gott fuͤrchtet, als wie er ihn ſich begreiflich machen moͤchte. So ſchmuggelt er fo viel Vernunftigkeit

59

and Erdnähe in den libernatürlihen Vorgang ein, ald feine Frömmigfeit immer geftatten will. Wurde der Ehrift für alle geboren, fo muß auch Bethlehem überall liegen, wo Menfchen wohnen, Und da eine Abftraftion wie „die Menfchheit” nicht flir ihn exiftiert, fo bezieht er das Wunder auf feinen eigenen und feiner Nachbarn Leib. Bethlehem ift alfo eine Stadt, die zunächft feines Heimatdorfes liegt. Aus diefer realiſtiſch⸗myſtiſchen Vor⸗ ftellung zieht er nun feine naiven Ronfequenzen. So tft ed der hartberzige Wirt zum „Roten Hahnen“, der Zofef und Maria in einer bitterfalten Winternacht Herberge verfagt, weil „hohe und hoͤchſte Standeöperfonen” an⸗ gefommen. So läßt er die Hirten auf dem Feld fi Überm offenen euer die erfrorenen Füße wärmen und ſich baß verwundern, ald plöglich fpbärifche Choͤre durch die Lüfte fchallen. Doc, bald ift einer zur Hand, der berichtet, wie er zabllofe Engel in der Luft habe „umananderfliegen”, ja wie er den Himmel offen gefehen, allwo Gottvater und der heilige Geift fihtbar geweſen, nicht aber Gottes Sohn, der unbegreiflicherweife nicht zu Haufe geweſen. Denn er fei, wie man fagt, zur Erde herabgefommen und Menfc geworden in diefer deutfchen Winternadht. Sp läßt der Dichter dann die Hirten nach Bethlehem ziehen und Opfergaben bringen: einen Laib Brot, ein Hemden, ein Paar Stiefel, einen Topf voll Schmalz; ja einer fingt dem Jefusfind ein richtiged Schnadahlipfl, da er nichts Materiellered befigt. Stäfe in dem Volksdichter nur ein Geringed an Bewußtheit, fo wäre fein Werf blasphemifch geworden. Dod da ihn nichts treibt, ald der dunfle Er- fenntnisdrang des Kindes, gemifcht mit der findlihen Scheu, der göttlichen Autorität zu nabe zu treten, und getragen von einer unendlich gütigen Gläubigfeit, fo nehmen wir Erwachfenen ihn mit geruͤhrtem Lächeln an, unfre Kinder aber mit juft der tiefen Erſchuͤtterung, die den Schreiber felbft bewegte. Denn er bat fein Stuͤcklein fo gemacht, daß jeded von ihnen nicht nur im Symbol, das fie nicht verftehen, fondern perfönlih und leibhaftig in den moftifchen Zirkel mit eingefchloffen wird.

Einen praftifhen Verſuch mit einem derartigen volfätlimlichen Weih- nachtsmyſterium bat jetzt Otto Kaldenberg im alten Rathausſaale zu Münden gemadht, unterftügt von dem Bildhauer Georg Schreydgg und dem Direftor der Akademie der Tonfunft, Bernhard Stavenhagen. Die Auf- führung beanfprucht in doppelter Hinficht Aufmerffamfeit. Sie bewies, daß dad alte Weihnachtsſpiel, wenn ed, wie bier, einer dramaturgifchen Be— arbeitung unterzogen und durch wirffame Gruppierung der in verfchiedenen Stüden verftreuten theatralifch wichtigen Elemente in ein geichloffenes Ganze von ftarfer dramatiſcher Rhythmik zufammengerafft wird, unfehlbar eine tiefe gehende Wirkung bervorzubringen vermag. Über dem Intereſſe, dad der Erfolg eines immerhin gewagten Experiments und abndtigt, ſteht aber noch ein zweite mehr allgemeiner und prinzipieller Art. Denn man verfuchte nicht nur Neues; man verfuchte ed auch im neuer Form: Das Weihnachts⸗ fpiel wurde nad ſtreng ſtiliſtiſchen Prinzipien aufgeführt.

60

Nah der fachlihen Seite ift zu bemerfen, daß die dramaturgifche Ein- richtung des Spield Falckenberg durchaus gelungen ift. Vorbereitung, Steige⸗ rung, Gradlinigfeit, fogar eine primitive Dramatifche Spannung belfen dazu, die poetifh prachtvollen Teile zu einem organifhen Gebild zufammen zu ſchließen, das nur gegen den Schluß hin etwad an Einbeitlichfeit verliert und dann eine beftimmte neroöfe Fahrigfeit und Verlegenheit nicht recht ver- bergen fann. Bühnenpraftiih fand Faldenberg eine vortrefflihe Loͤſung für die Aufführbarfeit des fzenifch zerflüfteten Werfchend: eine dreiteilige Bühne, jeder Teil um eine Stufe erhöht, die Vorderbühne vorhanglos und zu beiden Seiten durch Gobelind abgeſchloſſen. So wurde es möglich, die einzelnen Szenen ohne Paufe, raſch, in drängendem Tempo ſich abfpielen zu laffen und die innere Gefchloffenheit des Spield durch die dußere um fo fräftiger zur Anfhauung zu bringen,

Allein bedeutungdvoller geftaltete fich die Aufführung in formaler Be— ziehung durch das ftiliftifche Prinzip, das in der Regie Falckenbergs und der Tätigfeit feines Fünftlerifhen Beirat? Schreydgg zum Ausdruck fam oder doch da, wo dad zumeift wenig taugliche Menfchenmaterial, auf das man angeriefen war, verfagte, nad deutlihem Ausdrud rang. Tatſaͤchlich ift eine reine Wirfung ftreng ſtiliſtiſcher Inſzenierungskunſt vorläufig nur bei Spielen von fpezififch feſtlichem Charakter, noch nicht bei dem eigentlichen Drama zu erreihen. Denn jenes ift in der Erwartung der Zufchauer durch eine vieljährige Tradition unmittelbar und weſenhaft mit dem Begriff der Stilifierung verbunden, drängt alfo dem Publifum Feinerlei neues und darum verblüffended und ablenfendes Prinzip, auf, auch danır nicht, wenn es feine darftellerifhen Mittel nicht mehr der Überlieferung, fondern fchöpferifch der Kunft der Gegenwart entnimmt. Dad Geheimnis der unmittelbaren theatra- liſchen Wirkungen beruht ja im legten Grunde auf einer Trivialität; der Erfüllung juft jener Erwartungen, die der Zufchaner gemäß der allgemeinen und traditionellen äfthetifchen Forderungen feiner Zeit ind Theater mitbringt. Gibt die Bühne andre Erfüllungen, ald gerade erwartet werden, fo gelten diefe, wenn der erfte Rauſch der Senfationdluft verflogen ift, als ftörend und wefendfremd, ja ald banal und unfünftlerifh. Darum wird die ftiliftifche Inſzenierungskunſt beim eigentlihen Drama nod auf lange Zeit den größten Opfermut derer verlangen, die fie auf dem Theater verwirflihen. Mögen fie fi noch fo fehr jener Einfachheit befleißigen, die von dem Prinzip der Stilifierung unzertrennlich, ja fein wefentlihfter Beftandteil ift: fo lange dieſes Prinzip felbft nicht banal genug geworden ift, um felbftverftändlihe Voraus⸗ fegung jeder theatralifhen Kunftübung zu fein, fo lange wird es immer wieder ald Ausſtattungsſucht und Opernbaftigfeit verfchrien werden, da das Ungewohnte, mag ed ſich noch fo befcheiden geberden, immer mehr Auf- merffamfeit auf fich zieht, ald ihm zufommt, und das natürlich Außergewoͤhn⸗ liche von je mit dem fenfationell Abfichtlihen verwechfelt worden ift. Will man alfo ſchon jett die widerfpruchslofen und geläuterten Wirfungen theatra- liſcher Stilfunft erporben, fo wird died nur an jenen Feſtſpielen moͤglich fein,

61

bei denen aͤſthetiſche Nachfrage und Angebot hoͤchſtens in den Mitteln ver- fchieden, grundfäglich aber gleichartig find, fo daß die Kompromiffe, auf die dad große Theater heute wohl oder übel angemwiefen ift, bier andgefchaltet werden koͤnnen.

Das ift die Bedeutung des Faldenberg-Schreydgsfhen Verſuches: daf ein Publikum durch feine eigenen äfthetifyen Erwartungen gezwungen murde, filifierte Inſzenierung im möglichft reiner und orgamifcher Ausbildung auf ſich wirken zu laffen und als Natur und kuͤnſtleriſche Notwendigkeit dasfelbe zu empfinden, was ihm im Theater immer noch ald Veroperung und kunſt⸗ widrige Berfchiebung des Intereſſeſchwerpunkts erfcheint. Im einzelnen fcheint mir dad Erperiment micht fo unbedingt gelungen wie ald ganzes. Pracht- volle Wirfungen ergab der ſchwarze, mit großen Sternen befäte Vorhang, der die zweite Buͤhne ald deforativer Nachthintergrund abſchloß. Starfe bildfchaffende Phantafie dofumentierte fich im der Verfündigungsfjene, in der Erfcheinung der Maria an der Krippe, in der wie aus Erz gegofferren Geftalt des föniglihen Trabanten, in der in Gold und Purpur getauchten Figur des Herodes, die in einer Atmofphäre blutigen Lichtes fland, in dem bleichen, ſchwarz umhuͤllten Haupt ded Gewiſſens. Dagegen fchienen mir die Szenen, die eine größere Menfchenmenge auf die Buͤhne bringen ımd darum eine fpezififh kompoſitoriſche Durchbildung fordern, nidyt immer deforatio gefehen und zumeilen in willkürlichen Gruppterungen aufgelöft. Der offene Himmel freilih, der von der dritten Bühne, lichtäberfchüttet, berniederglängte, war wieder ein Zeugnis feinster Finftlerifcher Durcherbeitung in Tönungen, Koſtuͤmen md Kompofition gleich bildhaft erfchamt und durch Anlehnung an die beften Mufter in der bildenden Kunft durchaus vollendet. Im allgemeinen wurde erreicht, was fiilifterte Infzenierung einzig und allein beabfichtigen kann: zwar die Illuſionswirkungen, die auf Nachahmung der Wirflichfeit beruhen, pveißzugeben, keineswegs aber alle Zlkufionsmwirfungen, wie etwa die primitive Bühne. An unfre Vernunft, fir die der Naturalismus und Hiſtorizismus in der Buͤhnendekoration berechnet ift, wendet fich die Buͤhnenſtilkunſt nicht. Ihre Illuſionen wenden fih an die tiefer Schichten unfrer Seele, m denen die Wirflichfeit nur noch koͤrperlos in ihren aflgemeinern Werten als Farbe und Linie, ald Bewegung und ſchoͤnes Maß lebendig it.

Ballade/ von Ernit Riffauer

in Sturmwind ſtob durch tiefe Macht. Ein blanfes Feuer war entfacht.

Es bebte auf, es fließ empor, und fand. Es flammte in fein Wehen Schein und Brand,

Er raufchte wuchtig auf in Luſt und Danf. Es fpirte feinen Jubel und verfanf,

Max vobiscum tönt es am Schluß zweier Dramen, börbar bei Ibſen, unhörbar bei Hauptmann, erfhütternd hier wie dort. Arnold Rubef und Zrene fteigen Hand in Hand uͤber ein Schneefeld und verfchwinden in den Wolfen; fie geben a am Leben vorbei in den Tod. Wilhelm Schol; und Ida ſchreiten Hand in Hand, aufrecht und gefaßt, am Tode vorbei ins Leben. Mit Lynceus, dem Tuͤrmer, koͤnnte Ibſen ſagen: Ich blick in die Ferne; koͤnnte Hauptmann ſagen: Ich ſeh in der Naͤh ... Aber es hätte, für dieſen einen Fall, auch umgekehrt Geltung. Henrik Ibſen ſieht das Ende nah und macht einen Punkt. Gerhart Hauptmann ſteht am Anfang, hoffnungsreich, aber zweifelnd, und macht ein Fragezeichen. Eine erhabene Marche funèbre, die ein Lebenswerk zuſammenfaßt, deutet und ausleitet. Eine wilde Pathetique, voller Diffonanzen, voller Anflänge, und die doch ein eigened Weltgefühl in neuen Tönen machtvoll anfündigt. „Wenn wir Toten erwachen” und „Das Friedensfeſt“. Was Ibſen und Hauptmann, vor fieben umd vor fiebzehn Jahren, gedichtet, haben Brahm und Reinhardt jeßt, zum dritten und zum erſten Mal, nachgedichtet.

Brahm war beim erften Mal fehwächer, beim zweiten Mal ftärfer ala bei diefem dritten Mal. 1900 war Ibſens Epilog ein Melodrama ; 1902 war er eine Tragödie; 1907 ift er ein Monolog. Reicher verfaͤlſchte ibn durch Sentimentalität; Baſſermann und die Trieſch fämpften und fiegten unterliegend; Baſſermann, entpartnert, flimmt eine Elegie auf Künftlers Erdenlos an. Ein befonderer Zbfenftil ift niemald gefunden, aber vielleicht geſucht worden. Sonft fünnte fein Zwiefpalt durch gemiffe Teile der Dar- ſtellung geben. Sie ift fih unſchluͤſſig; aͤhnlich wie fih die Deforation unfhlüffig ift, ob fie dad Auge ded Zufchauerd oder feine Phantafie aufs rufen fol. Das flhrt zu der Stillofigfeit, daß beides zugleich gefchieht: daß an ein und derfelben Felswand oberhalb einer lebendig riefelnden Quelle eine gemalte Quelle Norwegens Wafferreihtum andeutet. Bon den Menſchen⸗ paaren, die in diefer Natur bei gefundem Fleifh und Blut bleiben oder den Ibſengeiſt aufgeben, ſteht das animalifche Paar vor feiner Wahl. Es bat lediglich, dazufein, nicht darzuftellen. Es hat um fo mehr, um fo finnlicher dazufein, ald ihr Erzeuger ed hier nur zu Schemen gebracht hat. Da kann einzig perfönlihe Anlage, nicht Kunftfertigfeit noch Künftlerfchaft helfen. Wenn Herr Marr da ift, haben wir eine glatte Maffe Theatergewicht, aber nicht den flruppigen Zaun Ulfheim, den rohen, garfligen, groteöfen Baͤren— töter. Wenn Fräulein Wüft da if, haben wir nicht einmal Theatergewicht, haben wir weniger ald nichts, etwas ganz; Geelenleered, etwas grauenbaft

63

Gewoͤhnliches, Teipzig in Berlin. Aus Brahms Enfemble hat ſich auch Frau Dumont mittlerweile herausgeſpielt. Nicht weil fie eine Stilifierung verfucht, nicht weil fie einen erhöhten, „bedeutenden“ Ibſenton anſchlagen möchte und inner- halb diefed Tond und Stild bemüht ift, die ſchmale Grenze zwifchen dem Patho⸗ logifchen und dem Pſychologiſchen, zwifchen Irrſinn und Tieffinn einzuhalten. Laudanda voluntas. Aber es fommt nichts dabei heraus: feine phantaftifche und feine reale Geftalt, fondern in willfürlicher Abwechslung bald das eine, bald dad andre; ein deflamatorifh=theatralifher Miſchmaſch; ftatuarifch- fomboliftelnder Naturalismus. Man könnte glauben, daß die Figur nicht zu bewältigen fei, wenn nicht feinerzeit rau Trieſch durd ihr blutvolles Gefpenft jeden Zweifel befeitigt hätte. Da diefed Gegenfpiel fehlt, ift Ballermann ganz auf fi felber geftellt. Dad Undrama wird vollends zum Monolog. Die Einfamfeit, die immer um dieſen Schaufpieler ift, wird doppelt dicht. Fu der Diftanz der Wefenheit fommt die Diſtanz der Kunftbegabtheit. Man fieht nur ihn: feinen prachtvollen grauen Kuͤnſtlerkopf mit der dunfel gebliebenen Tolle im Naden; den fenfitiven Adel feiner Geberden; das nerodfe Zucken um diefen entfagungdreihen Mund; den unfteten Blick aus miüdegearbeiteten Augen. Man fplrt nur ihn, die ganze Mannigfaltigfeit diefes ſehr fcharf gefebenen, fehr modernen Menfchen: pbantafietrunfener Asket und zahmgeſchoſſenes Genie, refignierter Egoift und morbider Fanatifer. Durch leife, weiche oder leicht ironifche, durch feierliche oder wehmlitig bittere Färbungen des Tond macht Baffermann die Geftalt nicht allein verftändlic, fondern, was wichtiger umd ſchwieriger ift, auch hoͤchſt lebendig. Das ift Rubek: der willendfranfe Mann, den die grauen Verhältniffe des Fleinen Bades bid zur Unertraͤglichkeit bedruͤcken; aus deffen Scheinrube die flammende Selbftanflage endlich befreiend bervorbridht; der vom Tode erwacht und einfieht, daß er ein fchattenhaftes Leben gelebt, ein Leben, das ihn niemals fortgeriffen und getragen bat, und den am Ende das Heimmeh nach der verlorenen, der nie befeffenen Naivität doc noch Srenen in die Arme treibt. Dad wählt in vollfommener Einheitlichkeit und in organischer Steigerung aus der Wurzel des innerlich erfchauten Charafterd. Wenn von Ibſens Myſterium felbft in einer mittelmäßigen DVorftellung eine reine, fchwere und tiefe Wirfung ausgeht, fo ift ed allein das Verdienſt einer der Perfönlichfeiten, die jegt im Haufe Brahms einzeln oder zu zweien, hoͤchſtens zu vieren fir das auffommen müffen, was chedem einer ganzen Schar gleichgeftimmter Seelen oblag.

Auch darin fcheint der dreißigjährige Reinhardt den fünfzigjährigen Brahm zu beerben, daß er in der Schumannftraße die Enfemblefunft wieder auf baut, die Brahm dort gefchaffen bat, aber flr fein Teil feit dem Umzug and Friedrich-Karl-Ufer mehr notgedrungen als zielbewußt einer Perfönlichfeite-

64

funft hintanſetzt. Reinhardts „Gefpenfter” fommen bereitd der Brahmſchen „Wildente” gleih, und Reinhardts „Friedendfeft” erreicht ald Ganze die „Mütter“ von 1895, den „Fuhrmann Henfchel” von 1898 und die „Hoffnung aufSegen” von 1901, die drei Gipfelpunfte des Brahmſchen Bühnennaturalis- mus. Dad Brahmfche „Friedendfeft‘ felbft, von 1899, läßt der Reinhardt von 1907 weit hinter fich zurlc. Alles, was Reinhardts Enfemble dem Enfemble des frühern Brahm noch immer unterlegen und was es ihm heute ſchon überlegen macht, fommt dem „Friedensfeſt“ zuftatten. Reinhardt hat wenig Perfönlichfeiten, die ftarf und reif zugleich find, und er hat eine be- zwingende junge Weiblichfeit. Bei Brahm war ed (und ift es noch heute) umgefehrt. Aber reife und ftarfe Perfönlichkeiten find flir den Eindrud des „Friedensfeſtes“ ein Hindernis, und eine bezwingende junge Weiblichkeit ift für diefen Eindruck unentbehrlih. Denn was zeigt, was ift dad „Friedens⸗ fett”? Es ift eine Kamilientragddie; wirklich eine Tragödie, deren Tragif nicht aus Geldmangel oder einer Intrige erwaͤchſt, fondern mit der unfeligen Blutmifhung der Familienmitglieder unerbittlich gefeßt ift. Sie zeigt Menfchen eines Blutes, die fo befchaffen find, daß fie fi kuͤſſen möchten und beißen miffen; deren Schambaftigfeit nicht verträgt, bei einer Empfindung betroffen zu werden; die alle Wunden, die fie fchlagen, am eigenen Leib, im eigenen Blut dreimal fo ſchmerzlich fühlen; Menfchen, verwildert und überfeinert zugleich, brutal und zärtlichfeitöbedürftig,; Menfchen einer Übergangszeit und ald ſolche allgemeingüiltig, ald ſolche unreif durch und durch. Die Tragddie diefer Menfhen wird dramatifch vorwärtöbemegt dadurch, daß fie blindwuͤtig gegeneinander toben. Sie wird dramatifch beendet dadurch, daß dad Familien- baupt ftirbt, und daß von dem rettungswuͤrdigſten Familienmitglied ein Engel der Liebe, ein Bote des Friedend Befig ergreift: Ida Buchner, eine andre Eirene. Web dir, daß du ein Enfel bift! und: Emigen Liebens Offenbarung, die zur Seligfeit entfaltet das ift, das zeigt dad „Friedensfeſt“.

Für die Glaubhaftigfeit diefer Familientragödie auf der Bühne ift Be- dingung: daß die Scholzend wirklich eined Blutes fcheinen; daß die Mutter von einer Unbildung des Geifted und des Herzens ift, die das Unglüc der Ehe und die traurige Jugend der Kinder verfchuldet haben kann; daß die drei Rinder fo alt find, wie der Dichter fie haben will und haben muß, nämlich unter dreißig; daß fich, zuguterlegt, die Macht der Liebe binreißend offenbart. Bon alledem war bei Brahm nicht? erfüllt. Was an feiner Vorftellung unvergeßlich ift, find großartige Einzelleiftungen, nicht die Ver- förperung des Sauptmannfhen „Friedensfeſtes“. Won den flnf Scholzens überboten fi vier an fhaufpielerifher Bravour und menfchlicher Tiefe; aber fie hatten wenig miteinander gemein. Die alte Scholjen gab Luife von Pöllnig, deren innere Vornehmheit fich, für die Mutter Wolffen etwa, in

65

Geiſtesgegenwart, Unternehmungsluft, Lebenstüchtigfeit auf einer niedrigern Stufe umfegen, aber niemals ganz ind Nichts auflöfen Fonnte; in ihrem Daufe hätte ſich Feine diefer fürchterlichen Familienſzenen abfpielen dürfen. Bon den Kindern war Robert nicht achtundzwanzig, fondern ein lıberlegener Maun von fünfundvierzig audgiebigen Fahren, den man fich durch die Mach- wehen ferueller Zugendfünden in feinem Weſen und Benehmen beftinımt beim beften Willen nicht vorftellen fonnte. Die Buchnerd waren nur dann Mutter und Tochter, wenn Hedda Gabler irgendwann einmal einen Blumen- thalfchen Backfiſch zur Welt gebracht hat. Ich fehe Nittnerd Wilhelm in jeder Bewegung vor mir; aber Hauptmanne „riedendfeft” habe ich erſt in den Kammerfpielen ded Reinhardtſchen Deutfdyen Theaters gefeben.

Uber dieſe Borftellung ift nichts gefagt, wenn man jede einzelne ſchau⸗ fpielerifche Leiftung vollendet nennt. Wären fie alle weniger vollendet, ed wiirde Die Geſamtwirkung fchwerlich beeinträchtigen. Immerhin iſts er- freulid, daß kaum etwas zu winfchen bleibt. Am ebeften noch bei Reinhardt felbft. Er ift in der Brahmſchen Aufflihprung ficherlid größer gewefen. Aber man müßte wahrſcheinlich ein Gott oder doch ein Kröfus diefer Kunft fein, um eine Gemeinſchaft ihrer Angebörigen mit feinem Herzblut zutränfen und ſich gleichzeitig einvolles, von der Empfindung für eine Geftalt ganz volles Herz zu bewahren. Der Schaden ift gering, denn die Erflärung fir das Schidfal des Hauſes Schol; {ft Die Herrin diefed Haufes, und Frau Wangel erflärt alled. Wie fie ſich ſchmoddrig trägt, ihr Haar nicht pflegt, fich fhuffrig bewegt und winslich quäft, das ift in allen Einzelbeiten nur eine VBefolgung der Negievor- fehriften, ergibt aber im ganzen einen erfchredend lebendigen Menfchen, den ihr an feinen Fruͤchten erfennen follt und koͤnnt. Da ift die Altefte Frucht: Auguſte. Wie haben e8 vor fiebzehn Jahren die Banaufen be- grinft, daß Hauptmann fich die Freiheit nahm, dieſer Geftalt vorzufchreiben : fie muͤſſe gleihfam eine Atmofpbäre von Unzufriedenheit, Mißbehagen und Troftlofigkeit um fi verbreiten. Welhe Schaufpielerin vermöge daß! Fräulein Durieus gelingt e8 muͤhelos durch Tracht, Schopf, Kneifer, Gang und Gelächter. Das ewige Web und Ad) diefer Hufterifchen ift aus einem Punkte zu furieren. Wäre ihr Bruder Nobert ein Weib, er wäre nicht weniger unausſtehlich. Wie er ift, und wie ihn Herr Biendfeld fiber jede Erwartung getreu darftellt, ähnelt er zur Hälfte Auguften, in feinem mo— fanten Ton und feinen perfiden Anmwandlungen, zur andern Hälfte dem jüngern Bruder Wilhelm, in feiner Empfindfanfeit, feiner Sehnſucht nad) einem bißchen Sonne. In diefem Wilhelm gibt Herr Kayßler dns Beſte, was er bisher gegeben bat. Bei andern tragifchen Gelegenheiten ſchadet ihm die menfchlih wundervolle Eigenfchaft, ſich auf der Höhe des Affefts fheu und ſchamhaft in fich felber zu verfriehen, ftatt fich Die Kleider vom

66

Leibe und die Bruſt aufjureißen. Hier macht diefe Eigenfhaft dad Wefen der Geftalt aus. Buchners find von anderm Schlag. Sie itrömen uͤber von Liebe, Güte und Zuverſicht. Ald die Mutter ift Frau Elife Sauer, wie fie fein fol. Ald die Tochter it Fräulein Elfe Heims mehr, ald man fi) je von ihr, aber auch von der Figur hätte träumen laffen. Ein demuts- großer, in feiner Hingegebenheit ftarfer und fieghafter Menfch ift ſtrahlend von innerer Schönheit und ergreifend innig nachgefchaffen worden. Wie diefe da mit bittend, betend gefalteten Händen dem fämpfenden und leidenden Geliebten unentmutigt beiftebt, wie fie ihm an die Bruft fliegt, ihn füßt, ihm die Sorge von der Stirn ſtreicht: über alledem liegt ein Zauber von Reinheit und Urſpruͤnglichkeit, der denn freilich von bannender und erlöfender Kraft fein muß. Uber diefe und über die andern Geftaltungen kann mehr, braucht aber micht mehr gefagt zu werden. Denn nicht fie felbft machen den Hauptwert der DVorftellung aus, fondern die Luft, die um fie und zwifchen ihnen weht, die innere Beziehung, die zwiſchen ihnen . , . micht hergeftellt iſt das fönnte Flingen, ald merfe man die Arbeit nein, die von Haufe aus zwifchen ihnen beftebt, die fie Franf gemacht hat und die fie zu Grunde richtet, wenn nicht Hülfe von außen, von oben fommt. Nichts leichter, als die erfte Bühnenanweifung des Dichters auszuführen: „Soweit möglich, muß in den Madfen eine Familienähnlichfeit zum Ausdruck fommen”; al8 die ver- fchiedenen Kamilienmitglieder fo zu Heiden, daß die Kleider die Leute machen oder verraten; ald diefe Leute in eine oͤde winterliche Niefenballe zu ſetzen, wo ein Ton von einem zum andern allerdings erfrieren fann. Das treffen mehr Regiffeure. Die unerflärlihe Einzigfeit diefer Vorftellung ift, daß wie dur ein Wunder die Scholjend wahr und wahrhaftig eined Blutes find, Die beiden Buchnerfrauen find ed auch; aber das find nur zwei, und die Wefenöähnlichkeit der beiden fanften und herjlihen Schaufpielerinnen, die gleiche Farbe, vielleicht ſelbſt der gleihe Schnitt ihrer Kleider tun ein übriged. Die Scholzend find flnf an der Zahl, find hohe Zwanziger, Bierziger und Sechziger, find verfchiedenen Geſchlechtzs, werden von grund⸗ verfchiedenen Schaufpielernaturen umd Temperamenten dargeftellt und find doch fo verwandt, daß die Tragddie diefer Verwandtſchaft zu ihrer gamen berzbeflemmenden und erfchütternden Wirfung fommt. Wahrſcheinlich ift das „Friedensfeſt“, nahdem alled von ihm abgefallen if, was ihm von Zeittheorien angehaftet hat, überhaupt Hauptmanns folgerichtigfted und un⸗ entrinnbarfted® Drama. ind ift gewiß: in diefer Aufführung uͤberwaͤltigt ed fo wie nie zuvor; wie von je nur wenige Werfe von Hauptmann über⸗ wältigt haben. Es wäre ihm und unferm armen Theater zu wünfchen, daß auch an andern feiner Dramen ähnliche Rettungen verfucht würden.

67

Das Schillertheater in Charlottenburg) Georg Fuchs

ler Neubau, den die Stadt Charlottenburg an der Ede der Bismarck⸗ und Grolmanftraße von der muͤnchner Baufirma Heilmann & Fittmann ald eine neue Heim= ftätte der Schillertheater-Gefellfchaft hat errichten laffen, ſcheint fir die Entwidlung eined modernen Theatertyps

ii I 7 bedeutungsvoll zu werden. Der Entwurf, welcher dem

ne] Gebäude zugrunde liegt, ift mit dem erften Preid aus einer Konkurrenz hervorgegangen, in deren Jury neben Mitgliedern des Magiftratd und der Schillertheater-Gefelihaft aucd zwei der bedeutendften Baumeifter, nämlih Schwechten und Meffel, ihr Votum abgegeben haben. Sein Urheber ift der miünchner Profeffor Mar Fittmann, der fih als Erbauer des Schaufpielhaufed und ded Prinzregententbeaters in Minden denen ſich im Laufe diefed Jahres noch dad neue Hoftheater zu Weimar anfchliegen wird nicht nur in die vorderfte Neihe der TIheaterbaumeifter geftellt, fondern als tatfräftiger Vertreter lange ſchon erwogener Reform» ideen die Augen aller derer auf fi gelenft hat, denen die Zufunft der deutfhen Schaubühne am Herzen liegt.

Wie alle hervorragenden Künftler, welche im Bereich der alten Finft- lerifchen Kultur Münchens herangewachſen find, ftellt fih auch Littmann auf den Boden der Überlieferung. Aber freilih: die Überlieferung ift ihm nicht identifch mit der Konvention. Er ift fi) bewußt, daß die Fonventionelle Form ded Zuſchauerhauſes, nämlich das Logenhaus, nicht auf gefunder, organijcher Tradition berubt, daß fie vielmehr aus dem barocken Theatertyp der italienifhen und franzöfifchen Fürftenhöfe übernommen wurde und alfo feine architeftonifch-organifche Loͤſung darftellt. Jedoch fchon feit den Tagen, da das Theater ſich lodzulöfen begann aus dem Kreife böfiicher Feſtlichkeit, feit ed von dem kuͤnſtleriſchen und gefellfchaftlihen Leben der aus den veralteten ftändifhen Schranfen gelöften „biürgerlihen Gefellihaft” in Anfprucd genommen wurde, hatten führende Geiſter daran gearbeitet, ihm eine Bauform zu fchaffen, die feiner neuen, fo gänzlich geänderten fozialen Stellung entſprach. An diefe Tradition, an deren Anfang die erlaudhten Namen Goethe und Schinfel ftehen, bat ſich Littmann angefchloffen, und in den Denffchriften, welche er über dad Prinzregententheater und das Scillertbeater herausgab, berief er fi) ausdrüdlid auf dad Wirfen jener großen Männer, dad dann fpäter von Nichard Wagner und Semper fort» gefegt wurde und im proviforifhen FFeitpielbaus zu Bayreuth zum = Mal Geftalt gewonnen bat.

Es ift Littmann gelungen, in den Mappen des Schinkelmuſeum⸗ einen Fund zu tun, der vollauf beſtaͤtigt, daß dieſer Meiſter bereits vor einem Jahrhundert das Amphitheater als die einzig gemaͤße architektoniſche Loͤſung

68

für ein modernes, einzig auf die fünftlerifchen Werte bafierted Zuſchauerhaus erfannt hatte. Die Handffizze läßt darüber feinen Zweifel, und Schinkel würde auch das berliner Königlihe Schaufpielhaus 1817 ald Amphitheater angelegt haben, wenn nicht hoͤfiſche Ruͤckſichten und Einfluͤſſe fih dawider gefegt hätten. So blieb denn diefe geniale Idee des Meifterd, wie fo manche andre verfenfted Orchefter, Befeitigung der Ruliffenbühne und des Rampen- lichts, vorgeſchobenes Profenium, fkliftifchsardhiteftonifhe Durchbildung des Szenenbilded® noch unaudgeflihrt. Wie weit Schinfel aber bereitd ging in feinen forderungen nach einer kuͤnſtleriſch gerechtfertigten Raumausbildung auf der Szene, das zeigt eine Stelle, wo er fagt: „Wenn wir unfre Szene mit einer einzigen großen Bildwand verzieren Fünnten, fo gingen wir ſchon unendlic; weiter ald die Alten, indem auf einer foldhen felbft die voll» fommenfte phyſiſche Täufchung einer Ortsverſetzung technifch erzwungen werden fann, beffer und leichter ald auf einer Szene mit Kuliffen und Soffiten, die überall auseinanderfallen und bei der beften Anordnung nie aus einem einzigen Punft einen Zuſammenhang bilden koͤnnen. Der größte Vorteil, der daraus entfteht, würde aber der fein, daß dad Bild der Szene in jeder Hinficht Fnftlerifcher behandelt werden fünnte und dennod der Handlung weniger Abbruch täte, da es ſich micht prahlend vordrängt, ſondern als fombolifcher Hintergrund immer in der für die Phantaſie wohltätigen Ferne hält.”

Die Forderung einer organifhen, raumfünftlerifh und malerifch- per ſpektiviſch richtigen Szenengeftaltung ift num allerdings auch im charlottenburger Schillertheater noch nicht erfüllt worden. Littmann und Direftor Loͤwenfeld baben ſich vielmehr vorläufig dabei befcheiden müffen, die gute, liebe, alte Gudfaftenbühne mit al ihren lächerlihen Unmöglichfeiten und längft mache gewieſenen Geſchmackswidrigkeiten beizubehalten. Nur in der Anordnung des Profzeniumd und durch Vermeidung des allerärgften Ubels, nämlich der jo grotedf verzeichnenden Nampenbeleuhtung, wurde bier Neues und MWeiterflihrended gewagt, entfprechend den feit Goethe und Schinfel nie verftummten Forderungen, wie ich fie aus den VBedlirfniffen eines fich friftallifierenden modernsdramatifhen Stils heraus zulegt in einer Fleinen Programmfhrift „Die Schaubühne der Zukunft” Schufter & Loͤffler) außgefprochen habe.

Mar Fittmann felbft formuliert die Aufgabe, die ihm flr das Zufchauerhaus durch die befondern Tendenzen und Prinzipien der Schillertheater-Gefellfchaft geftellt wurde, mit folgenden Worten: „Das Nangtheater eine italienifch- franzöfifche Erfindung verdanft feine Entftehung den Bedürfniffen der Höfe. Diefe Theater erhielten unter Beruͤckſichtigung der hoͤfiſchen Rang⸗ klaſſen eine Teilung in verfchiedene Nänge und innerhalb diefer wieder eine ftrenge Abfonderung in Logen. Es wurde nicht einmal als ein befonderer Nachteil empfunden, daß falt alle Pläbe der feitlihen Nänge feinen Blid zur Bühne hatten, denn das Spiel mit dem Vis-A-vis und mit dem im Fond des Hauſes Sigenden mar ebenfo wichtig ald dasjenige auf der Bühne

69

felbft. Wenn man beute ein Volkstheater bauen will, daß den fozialen Beftrebungen unfrer Zeit entfpricht, fo muß das neu zu Schaffende völlig neu fein, wie die Anfchauungen, welche die großen fozialpolitiichen Bewegungen des vergangenen Jahrhunderts in® Leben gerufen haben: ein modernes Haus im wahrften Sinne des Worts; modern inbezug auf die Entwidlung des Raums mehr ald auf den dem individuellen Gefchmad feines Schöpfers entiprechenden Raumſchmuck; es muß ein demofratifches Haus fein, ohne Betonung von Nang und Klaffenunterfchieden.”

Bet 1450 Zufchauern, die bier unterzubringen waren (gegen 1100 im minchner Prinzregententheater), beftand die große Gefahr, daß auf den binterften Nängen das gefprochene Wort nicht mehr deutlich verftändlich fein wuͤrde. Diefer Gefahr begegnete Littmann fehr geſchickt dadurch, daß er uͤber den legten Reihen ded untern Ampbitheaterd ein zweites, obered Amphitheater anprdnete, Damit zugleich fonnte er das feit dem Wegfall des einft fo uns entbebrlihen „Kronleuchter“ noch immer nicht gelöfte Problem der Zus fchauerhaus-Beleuhtung auf eine überrafchende und, wie un® ſcheint, recht gluͤckliche Weife anpaden. Er ordnete am Geſims über dem obern Amphi⸗ theater nahe dem Plafond eine mächtige Reihe von Beleuchtungskoͤrpern in böchft gefhmadvoller Faſſung an, fo dag nun das untere Amphitheater fein Ficht von binten-oben empfängt, ein Fichteinfall, der es geftattet, den Theater- zettel oder dad Tertbuch in der Paufe bequem zu lefen, indeffen das Pro— henium in einem gewiffen Dämmer bleibt. Geht der Vorhang dann auf, fo wirft die Szene felbft ald ein Organismus mit ftärferm und eigenem Licht, ein Umftand, der dem Buͤhnenbild eine erhöhte Intenfität einhauchen fann, wenn er verfländig ausgenutzt wird. Das Wefentlichfte aber, das bier errungen wurde, ift, daß dad Amphitheater nicht mehr wie in Bayreuth und auch noch in Münden ald eine fuͤr fi beſtehende Konftruftion in einen gleichfalls für fi) behandelten Saalbau bineingeftellt, fondern daß es mit dieſem zu einem organifhen Ganzen verfhmoljen wurde. Die zur Fuͤllung der Zwickel aus raumäfthetifhen und afuftiihen Ruͤckſichten von den Seitenwaͤnden her gegen die Sitzreihen hin vorgeführten Zwiſchenwaͤnde baben bier nicht nur den Zweck, eine Reere, eine architeftonifhe Paufe zu fafchieren, fondern ihre Säulen tragen, auf ihnen unmittelbar ruht die fapittierte Dede auf. Wer die bayreuther Verbältniffe genauer ftudiert hat, wird zugeben muͤſſen, daß mit dieſer Tatfache ein wefentlicher Fortichritt errungen wurde. Auf allen Plägen im obern wie im untern Ampbitheater ift die Afuftif ziemlich gleich gut, wenn zwar der Eindrud nicht zu ver- winden ift, daß dad Amphitheater eigentlih nur dem großen „Freskoſtil im Drama” mie der alte Devrient einmal fagte ein adäquated Zu⸗ ſchauerhaus entgegenfegt. Schon der Anblick der ftufenweis emporfteigenden, von blißenden Lichtwogen uͤbergoſſenen Menfchenmaflen hat etwas derart Monu⸗ mentaled, daß der Konverfationdton der intimern Schaufpielgattungen nicht recht dazu paffen will. Aber in einem Haufe, das ſich nach Schiller nennt nun, wenn da die Monumentalität nicht am Plage war, dann möchten wir

70

wiffen, wo man fie fonft fuchen fol. Wir geben den Erbauern entfchieden recht darin, zumal da die Volkskreiſe, für welche die Schilertheater-Gefellichaft wirft, gerade dad Monumentale bier fucht, das ihr fonft unzugänglich bleiben würde. Fuͤr die geringere dramatifche Konfektionsware gibt ed ja Schau- ftätten genug, die auch dem „weniger bemittelten Mitbürger” zugänglich find. Die Schmudmittel find nur fparfam verwendet die gefamten Baufoften dürften anderthalb Millionen faum überfleigen aber es if erftaunlich, wie reih, wie harmonisch, wie elegant das Ganze wirft, und wie fi, troß der äußerften Einfachheit in der Baugebarung, ſchon beim Eintritt die Seele in eine feitlich freudige Stimmung erhebt. Schon das Zurhdtreten der mit Fleinen, gedrungenen Säulen betonten Faſſade hinter einen mit bübfchen Bäumen bepflanzten Vorgarten zeigt an, daß bier etwas Befonderes ftebt, etwas, das nicht unmittelbar zur Straße und ihrem all» täglihen Lärm gehört. Gute Verhältniffe in den einzelnen VBaugliedern, ganz befonderd in den Fenſterabmeſſungen, und eine geradezu meifterliche Behandlung der Farbe tun das übrige.

Das Haus foll ſowohl flr die Oper als auch flr das Schaufpiel ver- wendbar fein. Es wurde alfo, mie bereitd erwähnt, eine neue, von Littmann fonfteuierte Profpeniumseinrichtung eingebaut. Das verfenkte Orcheſter ift vorhanden, aber es ift, da vorläufig nur Schaufpiele gegeben werden follen, überdedt mit einer breiten Borbühne, die ftufenweife bis zur erften Sitzreihe abfteigt. Die links und rechts von dem Bühnenrahmen aufftrebenden Schachte, durch welche die Tonmwellen des Orcheſters emporfteigen, find mit hölzernen Mänden verſchloſſen, die ihrerfeits ald Schalltrichter wirfen und mit Pforten verſehen find, durch welche Schaufpieler und Chöre fir Zwifchenfpiele oder um ſich fuͤr den Beifall zu bedanken, aus⸗ und eintreten. Die Szene empfängt das nötige Licht von unten durch eine Scheinwerfervorrichtung, die jeßt provtjorifch in einem faum bemerflihen SKafteneinbau zwiſchen den Pro«- heniumsftufen untergebracht ift, fpäter an die Seitenwände fonzentriert werden fol, wo fie dann ganz aus dem Gefichtöfeld verfehwindet.

Auf die Bühne, auf den räumlichemalerifhen Stil der Sene umd die Stellung des menfchlihen Körpers in ihr, darauf fommt es jetzt noch an! Da wir dad Amphitheater unwiderſprochen haben, fo ift nicht einzufehen, warum nicht auch in der Eünftlerifchen Formung der Szene die Ideen der großen Meifter, der Schinfel und Goethe, verwirklicht werden follen! Die Zeit ift reif, Die Kimftler find da. Um was handelt ed fi denn noch anders, ald darum, daß im Reich der Schaubühne endlich diefelben Kon- fequenzen gezogen werden, welche ein Meffel in der Baufunft, ein Bruno Paul und verwandte Geifter in den gewerblichen Kuͤnſten längft mit Durch» fehlagendem Erfolg gezogen haben? Daß es zu diefem großen Ziel näher beranflhrt, das ift Die fomptomatifche Bedeutung des Schillertheaters in Charlottenburg und ein unantaftbared DVerdienft feiner Erbauer.

11

Der Kritiker Bahr) von Willi Hand!

ben fpielen fie Theater. Unten, zwiſchen den vielen Harm⸗ XM lofen, Gleihgiltigen und Vegeifterten, figen ein paar, die "RU find verpflichtet, e8 beffer zu wiffen. Sie haben die Auf- gabe, nachher zu fagen, wie ed gemacht worden ift und wie es vollfommener wäre. Und augenblidlich, ohne nach⸗ zudenfen, müffen fie das fagen. So einer fieht und hört nicht fuͤr fich felbft, fondern für die andern, zu denen er morgen fprechen wird. So einer ftürjt, wenn der Vorhang noch nicht zum legten Mal die Rampe berlihrt hat, au dem Haus, in fein Bureau, zum Schreib» tifch, an die Feder. Oder er follte ed wenigftend; die Minuten rinnen weg, es ift ihm Feine FFrift gegeben. Keine Frift, den Eindrud zu ordnen, das Gefuͤhl, dad vielleicht aus einem tiefen Grunde allzu perſoͤnlich angeſprochen iſt, ſchaͤrfer auf die Sache einzuftellen, nicht einmal die Nerven zu beruhigen, die etwa vom Schauen, vom Hören, von duferer und innerer Anftrengung, aber auch vom Haften, vom Hunger, von einer übeln Nachricht gereizt fein können. Uber alles das muß er eilends hinweg, zu feinen Worten; und fann er nicht davon los, fo nimmt er es in die Worte mit. Nichts bedenft er jegt, ald feine Worte. Um Worte quält er fich, um Worte verzweifelt er, an Worten freut er fi) und fchreibt. Worte, Worte, Worte. Aus den Worten werden die Säße, aus den Saͤtzen die Zeilen, aus den Zeilen die Kritif. Und raſch, möglihft raſch muß das Wort herbei, mit dem Gedanfen oder neben ihm oder ohne ihn, wie es fommen mag. Es ift ihm feine Friſt gegeben. Der Metteur flucht, der Nachtredakteur ringt die Hände: „So viel? So lang? Wir haben feinen Pla!” Nun, ed ift alles eind; irgendwo muß ein Schlußpunft fein, dann eine Chiffre. Am nähften Morgen ift ed gedruct. Es fieht ganz anders aus, ald er wollte, im Gefühl, im Gedanken, im Wort. Hauptfächlic im Wort; jept findet er viel beffere, leichtere, genauere. Zu fpät. Aber was tuts? Um Mittag weiß nie mand mehr davon, außer hoͤchſtens die Schaufpieler, die geärgert worden find.

Das ift Nachtkritif. Ein unbequemes Handwerk für die Routinierten, eine forgenvolle Bangnis fuͤr die Gemwiffenbaften, eine moralifche Gefahr für die Reichtfinnigen. Jeder weiß, wie die Machtkritif der Kultur des Theaters, wie fie allem auf der Bühne, was zart und geiftig ift und der Schonung bedarf, gefährlih werden fann. Sie dient der Neugierde; aber die Meu«- gierigen erfahren nicht, was ihnen zu wiffen am meiften not täte. Sie dient der ewigen Kunft; aber ihr Amt erlifcht zwifchen heute und morgen. Gie will eingehende, forgfam erwägende Betrachtung fein, aber im Nu. Sie ift der vollfommenfte innere Widerſpruch, hebt ſich fortwährend felbft auf, in jedem einzelnen Fall aufd neue, und bedeutet nichts weiter ald eine ſchlechte Gewohnheit unfrer Zeitungen. E& gibt freilicd auch unter den Zournaliften einige, die der Kunft ded Theaterd mit einer ſolchen Leidenfchaft ergeben find, daf fie einen höhern Beruf zur Kritif in fih zu fpliren meinen. Aber gerade diefe bedrüct ed am meiften, wenn fie fo bei Nacht noch, in Zwang und

' FR

72

Unraft, fagen miıffen, was fie doch lieber nody ein paar Stunden lang nad)» denfend bei ſich getragen und mit ſich durchgefprochen hätten.

Dieſes Metier der Nachtkritif hat Hermann Bahr nun viele fhöne Jahre lang getrieben. Er hat fruͤhmorgens aus der Zeitung zu den Leuten gefprochen, wenn am Abend vorher irgend etwas Neues, Großes, Fremdes, Erftaun« liches oder auch nur Sntereffanted auf irgend einer wiener Bühne gezeigt worden war. Und jegt iſt aud den Kritiken zum vierten Mal ein Buch geworden, aus den Kritifen der legten drei Jahre ein Buch, faſt an die finfhundert Seiten ftarf (Gloſſen. Zum mwiener Theater. ©. Fifher, Berlin). Ein dickes Buch voller Nadıtkritifen: das Fluͤchtige verewigt; das raſch in den Tag Hineilende zur Dauer gezwungen; das haftend, in Minuten, für Minuten, Erzeugte auf Jahre befeftigt; der im fich zerfallende Widerfpruch durch einen noch größern aus feiner Natur gejagt, feitgehalten durch den Widerfpruch des MWiderfpruch®!

Keineswegs! Denn Bahr, den man wohl einen Zournaliften nennen darf, wenn man den Begriff, vom Staub und Schweiß der atemlofen Sefunde gereinigt, in die hoͤchſten Ehren einfegt, die er verdienen fann Bahr hat doc den Argerlihen Selbftbetrug der naͤchtlich befchleunigten Enderfenntniffe faum jemald im Ernft mitgemadht. Wer ihn kennt, wer eine Borftellung von feinem Reben umd feinem Arbeiten hat, der weiß ed; und jedem andern muß ed aus den Seiten diefed Buches gewiß werden. Michtd ift darinnen MNachtkritik, als höchftens immer die paar Zeilen, die, fpielend und ohne Schwere, dad verfliehende Ereignis des Abends felbft abtun. So viel flr den Abonnenten zum Fruͤhſtuͤck. Alles andre aber, in den Kämpfen und Ängften eines Lebens erworben, aus dem wunderbaren Neichtum eine nie befriedigten Geiſtes mit Bedacht heraufgebolt, von den Kräften und Künften einer ganz perfönlihen Sprache zur Dauer geformt, wendet fih vom Zufall des Anlaffes mit troßiger Abficht weg, ind Weite, Bedeutende, Ewige bin. In diefen Kritifen ift wohl von Dichtern und Dramen, von Schaufpielern und Direftoren die Rede; aber fie find nur Urfachen oder Veifpiele oder Beweiſe für das, worüber ein Urteil ergeht. Died aber ift immer unfer eigenes Leben, unfre Zeit, unfer Gewiffen (ald ein Wiffen von und felbft), der Menſch, der jetzt lebt, und die Welt, in der er fich einrichtet. Es fegt ſich da, in feinen Teilen und Abfchnitten mannigfaltig wechfelnd, ein großes und wichtiges Buch zufammen. Und jeder, der bineinfiebt, muß irgendwo einen Zeil feiner felbft darin abgefpiegelt finden, Es ift ein Buch der Sehn⸗ fucht. Diefer rubelofe Geift, der den Kreis unfrer Kultur umfchritten bat, fucht fernere Ziele, ſchoͤnere Hoffnungen, will die Gemwißheit einer Entwicklung zum Neuen. Die Menfhen find der Stoff, den er bilden möchte; dad Theater bilft ihmi dabei nur ald ein Abbild und Vorbild. Kaum dag er da und dort einmal ein Drama analyfiert, einordnnet, gegen gleichartige abmwägt. Das, mad ed ihm zu unfrer ganzen Kultur zu fagen erlaubt, loct ihn immer weit weg. Er gibt alfo feine fachliche, Feine objektive Kritif, nein. Ste haben ihn auch ‚oft genug darum gefcholten und heftig beichimpft; fo dürfe man

73

nicht Pritifieren, das fei gegen Pflicht und Tradition, dad heiße die Leute narren und den Theatern Unrecht tun. Mag fein. Es bat fi wohl auch, ich erinnere mich, zwiſchen den verftorbenen Stadträten und eingefangenen Raubmoͤrdern, oft fonderbar genug ausgenommen. Komiſch faft; denn die Zagebzeitungen haben fonft ein ganz andres Gefiht... Aber jebt, im Buch, wo eines ſich zum andern fügt, der Teil an das Ganze fchließt, Gedanke zu Gedanken fpricht, jetzt leuchtet das alles in befreiter Helle, loͤſt fein Profil flar und flarf vom Hintergrund einer ganzen Welt.

Der heiße, ſchwere Atem unfrer Zeit atmet in diefem Wert. Bon uns bandelt es, uns fucht ed, und will ed, und weift ed, und befchwört ed. Zu und drängt es, ob feine Erfenntniffe nun von den alten Griechen berfommen oder von den klaſſiſchen Deutfchen, von Zeßigen oder Gewefenen, von Realiſten oder Stiliften, von Spielern oder von Denfern. Es drängt hinauf, bimmeg, aus diefem engen und verfälfchten eben, in ein größeres, deſſen Wahrheit fi in und vorbereitet. Diefe gilt ihm vor allen andern. So mag es leicht fein, daß auch im weitern Kreiſe, aud) abfeitd von Theater und Theaterfpiel, ſich gegen das Sachliche mancher Einwand erbebt. Daß etwa die Hypotheſen gar nicht halten, die er millig von andern akzeptiert. Daß er von Dichtern gar nicht fagt, was diefen felbft das Wichtigfte wäre. Daß er ſich da oder dort an Techniken klammert und Inhalte übergeht oder den Lauf der Ge- ſchehniſſe berichtet und die Kraft der Geflible verfchweigt. Das Wichtige ift ibm, womit er fein Bild einer neuen Kultur ausgeftaltet. Wo er foldhes sticht findet, da gebt er raſch vorüͤber. Gleichfam im ungeduldigen (wenn auch manchmal fehr böflihen) Ton des Berichtes fhon anzeigend: Died mag euch unterhalten oder befchäftigen. Aber worin kann es euch fchließlich vor- waͤrts bringen? Es ift unnuͤtz, ſich da betrachtend zu verweilen! Vorwärts bringen! Wo immer man aus den Schriften diefe® Buches einen Willen lieſt, ift ed diefer. Der Menſch, die Kunft, die Welt muß neu werden. Mit unfrer Geele fange es an. Da ift Ibſen, da ift Wedekind, Gtrindberg, Tolftot, da ift der junge Hauptmann, da find heutige Franzofen. Was zeigen fie euch? Einen Übergang! Unfre Seelen find alt und vermittert, mad wir von ihnen zu wiffen glauben, bat längft feinen Beſtand mehr. Seht ber, fie löfen euch auf in euer Nichts, fie zeigen euch, was ihr jebt feid: ein Hauch, ein Juden, ein Schein, die Jdee eined Moments. And dod aus fo unendlich vielem zufammengefeßt, daß ihr ed nicht faffen Fünnt! Sie zeigen euch dad Chaos, und fie zeigen euch den Weg. Dur die Sehnfucht nad dem unendlihen All-Gefuͤhl führt er: das gibt euch Maeterlind, das gibt euch Ibſen, das gibt euch Movelli (von Bahr geſehen). Durch die Befreiung und dad große Anſchauen eurer Leidenfchaft führt er, das gibt euch Goethe (Taffo), das gibt euch Schiller (man lefe die wunderbar kuͤhne Hypotheſe von der Idee des Don Carlos), das gibt euch wieder der alte Ibſen und mein Movelli, das gibt euch Kainz, die Dufe, das geben euch die perifläifchen Griechen und Hofmannsthal, der euch die griedyifche Seele zu erneuern fommt. Er flhrt durch daß erneute Gewiſſen der Menfchbeit,

74

dad dem Charafter, dem in Grenzen befeftigten Jh, abgefchworen hat und nur den Trieben der Guten und Hohen vertraut, deren Gefühl in das All binausreicht; das gibt euch Shafefpeare und wieder Goethe und Shaw und »vieder Ibſen und viele, die nach Ibſen fommen bis zum „Traumulus“ von Holz und Serfchfe. Und zur neuen Kunft hinauf führt ſchließlich diefer Weg, zur neuen Kunft, die nicht mehr ein abgetrenntes Vergnügen für den müßigen Abend ift, vom eben fortgerlidt, „damit es die Gewohnheiten er- fhöpfter Handelsleute nicht ſtoͤre“, fondern ein hohes Feſt diefes ganzen neuen Lebens ſelbſt, ein harmoniſch braufender, ſtuͤrmender, fingender, Flingender Zufammenfluß feiner edelften, vom Irdiſchen befreiten Töne. Von denen aber, die jeßt diefer neuen Kunft Mittel und Möglichfeiten audfinnen, Die Maffe an ihren böhern Ausdrudf zu gewöhnen und ihren endlichen Triumph vorzubereiten fuchen, nennt er am liebften: Mahler, Reinhardt, Olbrich und ſich ſelbſt. Ja, der weitausgreifende Schritt ſeines eigenen Geiſtes toͤnt ihm ſelbſt bedeutend mit bei diefem Übergang von Kultur zu Kultur. Er fuͤhlt fi) ald einer, der Lebendiges zu Lebendigem trägt, der die innern Schäße der Welt vermehrt, ald ein Bringer fünftiger Werte. In der befchaulich erforfchenden Mifroffopie einer fachlichen Kritif mag er die Fülle feiner Kräfte gar nicht verhalten.

So hat er fein Amt in den drei Jahren angefehen, deren kritiſche Arbeit diefed Buch einſchließt. So hat er ed ſchon die Jahre vorher getan, feit er fih, ungeduldig, vom Kampf um neue Worte und neue Techniken der Kunſt zum Kampf um neue Begriffe und eine neue Führung des Lebens bingemendet bat. Es ift num recht fehwer, zu fagen, was diefer Kritifer, dem ja das eigentlichfte Weſen der Kritif fo wenig bedeutet, in all diefer Zeit der Kunft, dem Drama, dem Theater umfrer Stadt zu geben vermodht hat. Hier wäre nun zunaͤchſt zu fragen, ob denn überhaupt Kritif das Leben der Kunft auitfhaffend berühren fann. Die meiften meiner Kollegen glauben das; ich nicht. Ich halte fie fir ein ziemlich fteriled Privatvergnügen gefcheiter umd geſchmackvoller Menſchen, deren innerfte Leidenſchaft das Nachdenfen, deren liebſte Atmofphäre die Kunſt iſt. Aber gerade darum, weil Bahr mit allen Kräften feined Geiſtes aus dieſer Atmofphäre in eine höhere, von jener Leidenſchaft zu einer mächtigern gedrängt und alfo den eigentlihen Boden der Kritif verlaffen bat, gerade darım glaube ich, daß er, wie fein zweiter in Wien, der Kunft, dem Drama, dem Theater Bedeutended gegeben bat. Freilich nicht, indem er die Schaffenden forrigierte, anfpornte, zurechtwies oder die Darftellenden beriet und verwarnte, wie Died mancher Schreibende ald die Wirfung einer Kritif fich vorlügen mag. Sondern, indem er den Genießern, fofern fie nur willig Suchende und ehrlich Vertrauende waren, nene Gefühle ſchuf, oder beffer, neue Klarheit über ihre Gefühle, Daß wir ald ganzes Volk zunächft wieder ein Pathos, dad Pathos unfrer Zeit befommen müffen, wenn es gelingen foll, die Künfte bei und zu jenem Höchften empor- zubringen, das in den Herzen aller Kultivierten reift, die gilt allen Ver⸗ ftändigen ald andgemadt. Und eben dieſes Pathos bat Bahr, wie fein

75

weiter, in unfre Seelen getragen, bat darin Feuer gelegt, warm und bel gemacht und, ob er wollte oder nicht, unter dem Zwang feine® mächtig waltenden Geifted heute ſchon eine Gemeinſchaft geftiftet, die, weit entfernt, auf ale Worte des Meifterd fehlerhaft orthodor zu ſchwoͤren, doch feft entfchloffen ift, feine großen Rufe mitzurufen, leidenfchaftlich, aufrecht, im Ziele unbeirrt, wie er. Das bat er und und in und dem Theater diefer Stadt gegeben: einen Kreid von Menſchen, die Erhabenes ftarf empfinden, die Großes fühlen wollen, die aufzuregen und mitzureißen find, die auf allen Wegen der Kunft nur einer neuen, böhern Form des Lebens freudevoll ergriffen zupilgern. Was dies für die heutige und für die Fünftige Geftaltung des Theater bedeutet, läßt fi) im einzelnen natürlich nicht ausrechnen. Aber wer mit gefhärftem Sinn auf die Nührung, den Zorn, die Luft unfrer Zufchauer achtet und ihre tiefern Urfachen herauszuſpuͤren fucht, der wird es fühlen. Auch die Unbewußten, Undanfbaren und Feindfeligen fönnen feiner Wirkung ſchließlich nicht entgehen. Und wenn er, felbftverftändlih, auch nicht die einzige Stimme iſt, die unfer Gewiffen zum Pathos ded neuen Lebend und der neuen Kunft aufruft, fo ift fein Ruf doch der ftärffte, leidenſchaftlichſte, befeuerndfte.

Diefed Buch ift wieder ein Beweid davon. Wer irgend nur ein tieferes Gefühl von feiner Zeit, fir feine Zeit in der Bruft hegt, der kann ed ohne fruchtbare Aufregung nicht lefen. Und es ftellt doc nur eine Sammlung von Kritifen vor, eined Morgend unter den neuften Nachrichten erfchienen, am Mittag drauf von den allerneuften Nachrichten verdrängt und verfchlungen. Jetzt freilich leben fie weiter und haben nur, wie ein ironifches Zeichen ihrer Abftammung, das Fleine Notischen uͤber das unmittelbare Ereignis des Abends angehängt, gleihfam ein ataviftifch mahnendes Schweifchen. Sonft aber find fie glänzende Beifpiele für Nachtfritifen, wie fie nicht fein follen. Und mie Nachtkritiken nicht fein follen, fo follten fie eben fein.

Momentbilder von fremden Schaubühnen

Hahnenkampf / von Hanns Heinz Emers 77 FFFT ht einmal Patfhouli würde nuͤtzen. Mofhus wohl. Aber 58 F Moſchus Fann ich auf den Tod nicht leiden. Ich nehme Tore alfo Karbol, eine halbe Flafche voll Karbol in mein größtes Tafchentuch. Denn ich febe nicht ein, daß auch

Re Mein Billet foftet zwei Kupferſtuͤcke. Man bat mich av'y vvvo herumgeführt durch die Alteften Gaffen von Malaga, dann durdy ein paar ſchmutzige, ſtickige Höfe. Nun lefe ich das Schild an der Tuͤr: „Circo gallistico“.

Sch Flettere die gemundene Treppe hinauf i im Dunfeln; einer ſchiebt mich von unten. Ein Oberlichtraum, der ampbitheatralifch gebaut ift, freidrund

"76

abfteigend. In der Mitte die fandige Arena, fünf Fuß im Durchmeffer. Pöbel ringsum, zerlumpter, widerliher Pöbel, fhlimmfter Auswurf eines peftfranfen Volks. Ich prefle mein Karboltuch feft ind Geficht, aber mir ift, ald ob diefer ftidige Hauch überall durd) meine Poren dringe, diefer trodene Miſchmaſch von Knoblauch und Schmuß, von Roheit und Krankheit.

Man bringt die Käfige hinein, wiegt fie forgfältig, öffnet fie und nimmt die Vögel heraus. Die fehen wie Hennen aus, den Kamm und den Bart bat man ihnen abgefchnitten, und die langen Schwanzfedern, daß fie gefchickter feien zum Kampf.

Die Männer ftreiten da unten. Sancho will, daß die Tiere gefpornt fampfen follen, und nimmt die Waffen ber, hübſche, Fleine, baarfcharfe Mefferhen, die man den Tieren an die Sporen fchnallt. Aber der Rot- baarige ſchreit: das fei Fein Spiel! in-, zweimal fliegen dann die Vögel aufeinander und ſchon liegt einer da, die lange Todeswunde im Halſe. Mein, nein, das ift fein Spiel! So follen fie fämpfen, fo wie fie find, lange, lange, bi® einer niederbriht. Die Männer heulen und fpeien, und der ſchielende Fettwanft Frigelt die Wetten in fein Bud.

„Eine Pefeta auf den Gelben! Drei Kupferhuͤndchen auf den Weißen von Sancho!“

Auf Sieg feßten die Kerle, oder auch auf die meiften Wunden und die meiften Angriffe.

„Dein Vogel hadt nicht, deshalb willft Du die Meifer!“

„Er badt nicht?” kreiſcht Sancho. „Deinem Küfen reift er die Augen aus und Dir dazu!”

Und fie gaben den Hähnen feine Mefferfporen. Es dauert länger fo und ift viel fchöner und graufamer.

Sie warfen die Vögel in den Sand. Die zögerten feinen Fleinen Augen- blid, fprangen auf einander, wild, wütend, wie ihre Herren. Flogen hoch, fchlugen fi die Sporen um die Köpfe, badten blind mit den fcharfen Schnäbeln. Die Federn ftäuben umher, fie rupfen fi, daß das Blut über den Leib fließt.

„Ho, Sandyo, Dein guter Vogel! Schau, er bat dem Gelben ein Auge ausgehackt!“

Aber der Gelbe wehrt ſich, ſchlaͤgt in jeder Sekunde den Schnabel ein. Keinen Laut geben die Tiere von ſich, in raſender Wut ſchlagen ſie, beißen ſie. Fliegen drei Fuß hoch in die Luft und nieder, ein Hacken und Reißen, immer von neuem.

„Er lahmt, Dein Weißer, Sancho, Dein Weißer lahmt!“

„Die Madonna ſchicke Dir die Peſt auf den Hals, Nachbar!“ kreiſcht Sancho und ſpeit weit auf den gelben Hahn.

Nah zehn Minuten find die Hälfe beider Tiere gerupft; wie rote Gift- ſchlangen wiegen fi) die blutignadten Hälfe auf den Leibern. Auch der Gelbe hat dem andern num ein Auge audgefchlagen, picft ed vom Boden auf und frißt es.

77

„Guten Appetit, mein Hähnchen,” ruft der Nothaarige, „recht guten Appetit! Hol dir das andre Auge auch, mein Tierchen; ift ein Leckerbiſſen!“

Und die Vögel gönnen ſich feinen Augenblid Ruhe. Immer mieder aufeinander mit unerhörter, wahnfinniger Wut. Der Weiße hat beide Augen verloren, hackt blind in die Luft hinein oder fliegt hoch, ohnmaͤchtig ver- fuchend, den unfichtbaren Gegner zu treffen. Aber er läßt immer wieder den fcharfen Schnabel auf des andern blutigen Kopf niederfallen.

„Du verlierfi, Sancho, zehn Duros wirft Du verlieren!”

„Halt dad Maul, Sohn einer Wanze! Noch fteht mein Voͤgelchen, und ed wird feine Zeit aushalten!”

„Schlag ihn, mein Hähnchen!” brüllt der Rothaarige. „Schlag fie tot, Sanchos feige Henne.”

Der Weiße finft zu Boden, einen Augenblick gibt der Gelbe Ruhe. Dann tritt er nahe heran, und langfam, einen Hieb nad; dem andern, pickt er auf den Kopf des Feinde. Den Schätel will er ihm durchhacken, um dad Gehirn zu freffen.

„Ja, ja, friß ihm dad Hirn, mein Junge! Das ift noch viel beffer mie Augen! Schmeckt wie Würftchen in Knoblauchſauce!“

Faft unbeweglich liegt der Weiße, läßt den andern geduldig fein Werf vollenden. Nur zumeilen fchlägt er die Flügel oder macht einen vergeblichen Verſuch, fih aufzurihten. Dann ſchreit Sand:

„Ab, ſeht Ihr? Er lebt noh! Er wird feine Zeit auähalten!”

Und Sancho bat Recht. Der Gelbe ift fo matt, blutet felbft aus hundert Wunden. Immer wieder fchlägt er zu, aber die ſchwachen Hiebe fünnen die Schädeldedfe nicht zerfprengen. Dicht hängt er ber dem andern: zwei rote, blutige Klumpen; faum mehr vermag man die Formen zu erfennen.

„Dreißig Minuten! Unentfchieden!” ruft der Unparteitfche.

„Nein, nicht unentfchieden, Sanchos Hahn ift tot!” Freifcht der Pot: baarige.

„Bas, tot?” fchreit Sancho entruͤſtet und fährt mit feinem Stod in den Sand, ftößt wild auf den fterbenden Hahn. Das Tier bewegt matt den zerriffenen Hals.

„Da feht Ihr, daß er lebt!” heult Sancho triumpbierend.

„Berdammte Beſtie!“ zifcht der Nothaarige. „Da nimm, Du Luder!” Und er läßt auf feinen Hahn zwei⸗, dreimal ſchwer feinen Knuppel niederfaufen.

Man nimmt die Vögel, trägt fie unter die Pumpe und wäfcht fie. Zaͤhlt die Wunden, Und Sancho brüllt vor Freude: der Gelbe hat mehr Siebe mitbefommen, ald fein Weißer!

„Sagt ichs nicht, daß er beffer war wie Deine Krähe?“

„Beller? Eine Laus war es, Fein Hahn!”

„Ab, Du Hund! Du Keger, den die Madonna befpeien mögel Mein Meflerhen wird Did) lehren, was er wert war!”

Sancho Flappt ſchnarrend die lange Navaja auf, Aber man trennt Die beiden. Bringt ein paar neue Käfige in die Arena

78

KRasperlelnerter

Bunbury/ Eine Legende von Matta: Fatta

SindeutierDigter f@riebeinGthet und Friegt es uͤberall zurück,

Sch weiß nicht, ob ed gut geweſen, denn niemand bat es je gelejen. Man lieft, fofern man fein Zdiot ift, den Dichter erft, fobald er tot ift. Dies ftimmt jedoch nicht injedem Falle, die ne verhungern nicht

alle; man laufcht auch, wenn ein Lebender

ſpricht, doch dann iſt es meift fein Dichter nicht, Alfo ein Dichter ſchrieb ein Stüd und hatte damit wenig Glüd. Daß Hoftheater, dem ers gefendet, * hat ihm folgenden Brief geipendet: Wir müffen bedauern. Es ift fatal. Wir fpielen * Werke von Blumen⸗ th a 4 Vom Leffingtheater, von Otto Brahm der Dichter diefed Briefchen bekam: „Ich —* wie Ihnen wohl bekannt iſt, einen der Hanptmann genannt

Drum fend ich dem Herrn fein Stüd retour, Denn taugt ed nichts, ja glauben Sies nur, dann ift ed ein Durchfall, den der Herr t,

und taugt es was, ermordet mid) Gerhart.” Auch Raffael, der Loͤwenfeld, bat ungelefen zurücgeftellt. „Ein neues Stud? Wie heißt? Nifcht zu machen !

Ich kann nur gebrauchen alte Sachen.“ Nun ſah er, daß überall feiner ein „Mein“ barrt, und packte ſein Stuͤck und ging zu

Reinhardt. „Max Reinhardt iſt ein höheres Weſen.

Er wird pe Stud zum mindeften eſen.“

Und hoffnungsfreudig, mutig und froh

trat unfer Dichter ind Bureau.

Der Dramaturg, der Cerberus,

erwidert fühl nur feinen Gruß.

„Den Direftor fprehen? Das gebt

beut nicht.

Mar er muß aufd Amtöge- richt.“

Und ald er am naͤchſten Tag wiederfam,

er wieder diefelben Worte vernahm:

„Den Direftor fprehen? Das fönnen Sie nidt.

Mar Rn. muß aufd Amtöge- ri

„Nun gut, Ad ig ich mein Stüd ihm

De Dramalug: „Verzeihen Sie mir, er fannd ‚nicht efen, er fann es nicht, er muß ja täglich aufs Amtsgericht.“ Dann leſenSie es, Herr Dramaturg”, fe ſpricht er und zittert durch und durch. „Aber Liebfter, Befter, dad gehtjanicht, wir muͤſſen alle aufs Amtögericht, “= er „Aufe Amtsgericht? AufßAmtögericht ? Was wollen Sie dort?” „Das wiffen Sie nicht?” „Durchaus nicht!” „Nun, dann ver- nehmen &i ie: Wir müffen dorthin wegen Bunbury.” Was hoͤr ich? Wie?” „Jawohl, mein Herr, wegen Bunbury! Der ganze Betrieb des Theaters ſtaut

fich, Denn, “Rn Sie, unfer Direftor haut „Um Gotteswillen! Was hoͤr ich? Wie? Warum denn?“ „Wegen Bunbury!

Das iſt ein Streiten und ein Toben, es ſtockt m Spiel, es ftocfen die Pro- en.”

79

„Mein, was Sie fagen! Wie fo denn? Wie? So reden Sie doch!“ „Wegen Buns- bury

„Und halten ei dieſes Stud fuͤr gut?“

‚Mein Herr, Sie bringen mid in Put!

Wie, wie nur fönnen Sie ed wagen, mir fo was ind Geficht zu fagen Sie glauben wohl, wir feien Narren und und gefalle fol ein Schmarren ? D nein! 9 * Barnomäfy ge⸗

moͤchte IN, Died Stüd entreißen, doc werden wir und nicht glücklich

blen, eb wir nicht Bunbury felber fpielen.” So ſprach der Dramaturg zum Dichter, verrenfte die Glieder und ſchnitt Ge-

fichter und lief davon und Freifchte: Hihi! undrauft fich den Bart und ſchrie: Bun⸗ bury! Der deutfche Dichter jedoch, mas tat er? Er lief hinuͤber ins Kleine Theater. Herr Victor Barnowskhy war nicht boͤs, fondern wie immer ein biächen nerußß.

„Ihr Stüd fol ich lefen? Verzeihen Sie! Nie!

Ich bin jeßt befchäftigt mit Bunbury. Die Sache ift zwar ein oͤder Schund, doch ‚Englisch‘ ift heute Mode, und außerdem gibts eine wunderfame und ficher wirfende Reklame. Die Richter entfchieden Flar und ſcharf, dag Bunbury ich nur fpielen darf. Der Reinhardt erduldet Höllenqualen: andertbalbtaufend Em muß er zahlen, fo oft ers fpielt. Das ift fein Quarf! Denfen Sie: flinfjehnbundert Mark!” So fprad) Barnowsky zu dem Dichter, verrenfte die Glieder und ſchnitt Ge- fichter, und hopſte, jauchzte, lachte: Hibi! und lief davon und ſchrie: Bunbury ! Der deutfheDichter, er wußte nicht wie. Er hörte nur Bunbury, Bunbury! Es wurde ihm beiß, ed wurde ihm Falt, und endlic erfaßt ihn des Wahnſinns Gewalt; erſt fchrie er auf, dann feufjt er bobl, dann lief er nach Haus und tranf Cofol. Man bat Pin begraben des Morgens

Am Abend * war Bunbury!

NMſhau

Premierentiger

enn es einem roͤmiſchen Gladia⸗

tor gelungen war, feinen Geg⸗ ner fampfunfähig zu machen, dann pflegte er ihm einen Fuß auf Bruft und Maden zu ſetzen und, dad ge= zuͤckte Schwert in der Fauft, ju den „edeln” Römern und Nömerinnen aufzufchauen, die dad weite Mund der Arena mit ihrem Beifalldjauchzen er- füllten. „Tod oder Leben?” fo fragte fein Blick, und der glückliche Sieger barrte nur des Zeichens, das die hoch⸗

80

notpeinliche Frage raſch zu entſcheiden pflegte: der aufwärtd gehaltene Dau⸗ men bedeutete Gnade, Leben, der ge= fenfte dagegen: feine Schonung, töte ihn vollends! Und es foll nur felten vorgefommen fein, daß die Daumen der vom Blutgeruch beraufchten Roͤ⸗ mer und ihrer „zarten“ Frauen und Töchter nad) aufwärts wiefen. Faft immer forderten taufende von gefenf- ten Daumen die Vollendung des grau⸗ famen Schauſpiels.

Mir diinfen uns heute body er«

baben Über diefe Barbarei und finden nicht genug Worte ded Abfcheus, wenn wir von den Tier- und Menfchenopfern hören, die „zur Schande Europas“ auffpanifhenStiergefechtdarenen noch immer der Schaugier ded Volks dar⸗ gebracht werden. Aber wir fchreien nur wieder einmal Wehe Über den Splitter im Auge ded Nächften und feben nicht den Balfen in unferm eigenen. „Wie?“ höre ich fagen, „wir follten ebenfalla —? Aber wir töten doch feine®ladiatoren mehr und dulden feine Stiergefechte!” Gewiß, das tun wir nicht. Aber wir laffen ed ruhig geiheben, dag auf unfern Schau- bühnen fortwährend die Seelen von Künftlern gemordet werden. Wir be- teiligen und wohl gar ſelbſt an den Radaufjenen, mit denen maninunfern bochfultivierten, glorreihen Tagen einen Dichter niederzupdbeln pflegt, der das Pech hat, den Geſchmack der Menge zu verfeblen oder die unftill- bare Lach=, Spott= und Hohnbegierde des intelleftuellen, „literarifchen” Pre⸗ mierenpublifumd durch irgend eine Ungefchiclichfeit zu reizen. Wodurch unterfcheiden wir und alfo viel von jenen Barbaren, über die wir beute die Nafe ruͤmpfen? Stehen fie nicht beinahe noch uͤber und, da fie doch am Ende nur die Leiber von Tieren und Durchſchnittsmenſchen opferten und opfern, während wir und fort gejegt am Edelften, am menſchlichen Geift, verfündigen?

Erft vor wenigen Wochen waren wir in Berlin und Minden bei den Uraufführungen von Herbert Eulenbergd „Ritter Blaubart” und Eberhard Königs „Meifter Joſef“

eugen folder Autodafes. Im ſtolzen

efuͤhl der gigenen Bortrefflichfeit und kulturellen Überlegenheit uͤbergoß man die im großen Ganzen zwar mißlunge- nen, in vielen Einzelheiten aber doch zum Aufborchen zwingenden Werke jweier unzmweifelhafter, wenn aud) noch

—— Dichter mit der aͤtzenden Saͤure ſchadenfrohen Gelaͤchters und Gejohls. Man uͤberhoͤrte alle feinern Klaͤnge und Untertoͤne und verbiß ſich juſt in jene Stellen, in denen ſich die Autoren eine Bloͤße gaben. Und mancher von jenen, die ſich freiwillig zum Henker des unglüuͤcklichen Dichters gemacht haben, erinnert ſich vielleicht heute noch mit Behagen der pracht⸗ vollen „Heß“.

Es ift bet ähnlichen Anläffen ſchon wiederholt behauptet worden, daß die Hauptfrafehler junge Leute feien, uns reife Elemente, die bier, wie überall, dad Beduͤrfnis empfinden, ihrer un« maßgeblihen Meinung einen möglichft fpeftafulöfen Ausdrud zu geben. Das ift zum Teil richtig. Wer aber das Premierenpublifum nur ein einziges Mal genauer beobachtet hat, wird bemer haben, daß auch eine beträdht- lihe Anzahl alterer Herren, die oft den beiten und geachtetiten Ständen angehören, fich recht vernehmbar, ficht« bar und oftentativ an der „Bezwin⸗ gung” des Autors beteiligen. Micht einmal die Ruͤckſicht auf die nicht ge= rade beneidendwerten Schaufpieler, die Doc) die zunaͤchſt Betroffenen find, bäalt fie davon ab. Und damit der Vergleich mit dem alten Rom in allen Details ftimme, kann man nicht felten auch Damen in eleganteiten Toiletten beobadhten, die ihre Frauenrechte in fehr energifcher Form ausüben. Man erfennt daraus, daß die wahre Ur⸗ ſache folder Szenen nicht eigentlich das Beduͤrfnis Halbreifer nad Lärm und Ulf, fondern ein allgemeiner be» dauerlicher Mangel an echter Geiftes- und Herzendbildung, aljo ein Grund« übel unfrer auf dad Außerlihe ge- richteten, einfeitig äfthetifcheintellef- tuellen Kultur ift. Diedurd Komödien und Schwänfe verdorbenen Gebilde- ten von beute find eben nicht mehr imftande, ein Drama zu verftehen und auf fich wirfen zu laffen, es fei denn,

81

daß fie durch Auferliche oder Außerfte Neizmittel oft recht bedenfliher Art aus ihrer ftumpfen ri an aufgeftadhelt werden. Die Vorgänge eined Dramas, das frei von Sen— fationen ift und ein Mitfühlen und vor allem ein Mitdenfen der Zu— fchauer verlangt, begegnen faft immer abfoluter Teilnahmsloſigkeit. Und für den Entgang an „Amüfement“ fucht ih dann ein Teil des Publikums regelmäßig durch Verhoͤhnung des Autors ſchadlos zu halten. So zeigen fid) die Wirfungen einer Kultur, die dem fchranfenlofen Individualismus alles, auch die primitivften Borftellun- gen von Recht, Berantwortlichfeit und Anftand, zum Opfer gebracht bat. Wodurch dieſen Zuftänden ein Ende gemacht werden fann? Nun, ich glaube, das wird weder entrüfteten Proteften noch etwa gar der oft alarmierten Polizei gelingen, folange nicht die Grundlagen unfrer Kultur folidere, das heißt nicht nur Afthetifche, ſondern vor allem auch fittlihe werden. Es beitebt allerdingd wenig Hoffnung, daß dieſes Ziel in abfehbarer Zeit erreicht wird. Und man wird ed da⸗ ber wohl oder übel hinnehmen müffen, daß auch fernerhin der Premierenmob ſich literarifche und Fünftlerifche Kritif und die Entſcheidung ber Sein oder Nichtfein eined Dichterd anmaßt. Wenn alſo aud der Autor leider, vorläufig wenigftens, nicht gegen die graufamen Launen ded Publifums wirkſam geſchuͤtzt werden fann, jo ver⸗ mag ſich doc) der Fiteraturfreund vor allzu fatalen Eindrücken zu bewahren. Wer nämlic ein wirfliches, fachliches Sntereffe an der modernen Dramas tifhen Produktion hat und feinen Wert darauf legt, ſich bei allen ‘Premieren zu zeigen und Damit feine Zugehoͤrig⸗ feit zur literaturverftändigen Elite zu beweifen, der gewoͤhne es fi ein für allemal ab, Premieren zu befuchen! Will man ſich unbeeinflußt von der

82

Parteien Lieben und Haffen ein Flares Urteil über Wert oder Unmwert einer neuen Buͤhnenſchoͤpfung bilden, fo befuche man eine fpätere Aufflihrung. Man wird dort inmitten eined un- befangenen, man möchte fait fagen: idealen Publifums figen, eined Publi- kums, dad dem Dichter in den meiften

allen gerechter wird al8 die elegante Schar von „Sadverftändigen”, die ihn bei der Premiere zur Befriedigung mehr oder weniger perverfer Gelüfte langfam zu Tode martert. Wer aljo im Theater nicht den Sfandal, fon- dern die Kunſt fucht, der bleibe den modernen ©ladiatorenfpielen und Stiergefedhten, den Erft- und Uraufs führungen in den Schaufpielhäufern fern. Richard Braungart

Dichter und Gefhäftsmann

Hr Dramatifer Ernft Walter (M. X. Spitzer) in Wien be- mübt fich, den alten Grundfag zu widerlegen, daß die Dichterleute in faufmännifchen Gejchäften nicht auf der Höhe feien. Er läßt foeben unter dem Titel „Sieben Theaterftüde” einen Band dramatiſcher Werfe ers fcheinen, der mit folgender, auf einer Buchfchleife gedruckten, Ankuͤndigung verjeben ift: „Jeder Leſer, der lich zur Auffuͤhrung eines dieſer Stuͤcke auf einem Theater beitraͤgt, erhaͤlt den dritten Teil des Honorars und der Tantiemen fuͤr alle auf dieſem Theater ſtattfindenden Auffuͤhrungen. Zuſchriften direkt an den Autor.” In einem Vorwort fügt der Autor erflärend binzu, daß er, bid auf das Burgtheater, wo er ein Stuͤck ein⸗ reichte, aber bald wieder zuruͤckzog, die hifandfen Theaterdireftoren bis⸗ ber mied. Er betont ausdruͤcklich: „Kein lebender Theaterdireftor bat bisher die fieben Stücke gelefen!“ (Diejer merkwürdige Sa läßt un⸗ willkuͤrlich dieBermutung wach werden, dag Walter fid) auf das Grab eines

verftorbenen Theaterdireftord, etwa Laubes, gefeßt, ifm die Stüde vor- gelefen und dann im Traum des Toten Urteil vernommen babe.)

Der den böfen Theaterdireftoren verfagte Genuß fol nun den Leſern werden. Gie follen dabei fogar noch erflelihe Summen gewinnen! Man weiß ja, welche Beträge unfre großen Dramatiker wie Sudermann, Blumen- thal, Kadelburg und Philippi ver- dienen, Davon ift felbft ein Drittel ſehr annehmbar. Die Hauptfache frei- lich fir den gefchäftätihtigen Autor ift, dag möglichft viel Exemplare feines Buches gefauft werden. Stüd für Stüc zwei Kronen. Denn nur die find zu dem dramatifchen Wettbewerb zugelaffen, die nachweifen, daf fie das Buch Fäuflich erworben haben.

Endlid einmal ein neuer Drama⸗ tifer, der eine dee hat. Eine ingeniöfe Idee. Wer weiß, ob fih nun nicht fogar ein Theaterdireftor findet, der fonft nur tantiemenfreie Stüde auf: führt, nun aber dad Buch des Herrn Walter fauft und ein Stüd darftellt, da es ja nur noch zwei Drittel der üblichen Tantiemen foftet, Er dürfte dann fogar von fich fagen, ein Talent gefördert zu haben. Wenn auch nur eine einzige ähnlich aparte Idee in einem der Stuͤcke verwertet ift, fogar ein Genie. Fragt fih nur, ob ein dichteriſches. Erich Köhrer

Tiroler Krippenfpiel

m Schillertheater N. uͤbt jeßt,

ziemlich lange nad Weihnachten, dad zur Verherrlichung des Weihnachts⸗ gedankens beſtimmte „Krippenfpiel von der Geburt unſers Herrn und Heilands“ feine naive Wirkung. Aus alten Paffionsfpielen bat der tiroler Volkshumoriſt Rudolf Grein; diefe einfache Auslegung des legendären Mothus dbernommen und wird mit feiner Darftellung auch die zu Freun- den werben, die vor dem religiös

Moftifchen gern feitab weichen. Zu diefer guͤnſtigen Wirfung wird bei der großen Maſſe fiher nur in geringem Maße das Fulturbiftorifche Intereſſe an diefem Sinnfpiel beitragen; denn die Naiven machen fich wenig daraus, bier die Umriffe der älteften deutfchen Stegreiffpiele ziemlich deutlich nach— gezeichnet zu finden, Weit mehr wird es ihnen bebagen, daß ihnen bier jeder Punft deralten, liebgewordenen Bibel- epifode in einer unendlich finnfälligen, Volfägeift von ihrem Volksgeiſt ges benden Art vors Auge geführt wird. Daß fie ſich bier nicht durch irgend welche überfinnlicheBeftandteile durch- zuadern, fondern einfach nur mit Augen zu feben, mit Händen zu greifen haben. Men verftehen einfache Gemüter beffer, ald den Menfchen, der fi wie fie Fleidet, der ihre Sprache fpriht? Nach diefem Grundfaß ift alfo bier ein tirolerifches Bethlehem erbaut worden, mit Judaͤern in Wadenftrimpfen und Nagelfchuben, die allefamt, bald mit gefunden Volkswitz, bald in befchei- dener Empfindfamfeit echt gebirglerifch daberreden. Nach diefem Grundfag ift dad Mirafel, das Nömer und Ti— roler luftig Seite an Seite ftellt, auch mit den fpaßigften Anachronidmen aus⸗ geftattet worden, die vielleicht das Unbegreifliche etwas verfladhen, es aber eben dadurh im Volksſinn deutlich) machen und fo der Ausdehnung diefes Weihekults fiher dienlicher find, ala die tote, rein rednerifche Neligiond- propaganda, W.T.

‚Hertha Hochzeit F as Neue Schauſpielhaus (deſſen

Inneres in feinem balkaniſch⸗ un⸗ bedenklichen Farbenſtolz die Adriano⸗ poliſierung unſers dekorativen Ge⸗ ſchmacks energiſch einleitet) gibt: „Her⸗ thas Hochzeit“, ein Luſtſpiel des Muͤnch⸗ ners Max Bernſtein. Dieſer Poet, ob er gleich eine konziliante Natur iſt, hat einmal an Tiefen geruͤhrt: in dem Dra⸗

83

ma „D’ Mali”, aufgeflihrt von Brahm im Deutf hen Theater. Darin war eine alte Geſchichte, die Diffonanz von Liebe und fozialer Struftur, mit glitiger, Bor- urteile abftreifender Menfchlichfeit neu gefeben (während es techniſch ein natu⸗ raliftifch » volfstlimlihes Kompromiß- Stüd war). Vieleempfanden damals, dagBernftein Wertvolles fchaffen fönn- te in dDramatifcher Geftaltung der Piy- chologie von Münden nicht der Iſar⸗ Zigeuner, ſondern eingewurzelter oder Wurjel ſchlagender Schichten. Bernſtein dieſe ideale Forderung zu praͤſentieren, darf man nicht muͤde wer⸗ den, darf es hoͤchſtens einer kuͤnſtle⸗ riſchen Entmutigung und Erholungs⸗ bedürftigfeit zurechnen, wenn er jetzt ein geiftedarmes und nur in feiner An- ſpruchsloſigkeit erträgliches Luftfpiel demftampenlicht nicht ferngebalten bat. Aber felbft die Siefta eines Flugen Kop⸗ fes müßte, ſcheint mir,minder bequemen Spielen geneigt fein. Wann wird das neudeutfche Luft-Spiel aufhören im beften Fall ein bedeutungslofes Spiel zu fein? Wann werden wir die Föftli- chen und gefährlichen Reize geiftiger Fuft genießerifch wieder erfennen? Ach, Nietzſche wußte um den Willen der Luft zu tiefer Ewigfeit, wußte um das Ent- zuͤckende der fröhlichen Bosheit, die in fauerftoffreiher Atmofpbäre gedeiht —: foll unfer Luſtſpiel diefen Geift nieemp- fangen und ihm ſtrotzende Fruͤchte ſchen⸗ fen dürfen? Bisjegtgibtönur ein paar berb-furagierte VBorfrüchte: die Luft: fpiele des frühen Wedekind (der aber, nach dengrauenbafteften Uberwindun⸗

en, immer nod) die Ehrfurcht vor dem Safler bat worin fidy vielleicht der Deutfcheinihm verrät)... Indie Rei⸗ be ſolcher Renaiſſance⸗ Hoffnungen ge- hoͤrt die zur buͤrgerlichen Verbeſſerung emanzipierter Weiber erſonnene Bern⸗ ſteinarbeit ſelbſtverſtaͤndlich nicht hin⸗ ein. Sie gibt, vom Bannkreis der Flie- genden Blätter wenig entfernt, nichts

ald gutmütigeSatire. Da ift das frauen- rechtlerifheRommerzienratötöächterlein Hertha, dad ziemlich abfurd mitfreifcht : „208 vom Manne!” und alsbald einen Ingenieur heiratet. Auch die von der Gegenpartei, dieMonomanen derSitt- lichfeit, werden dem Rachen überliefert. Die in Ludwig Thomas „Lofalbahn” der Gejangverein, ſo ruͤckt hier der Sitt⸗ lichfeitöverein an, und fein Vorfigen- der, reckenhaft gleih Felix Dahn, balt eine Anfpradhe, die und amlıfiert

Herrn kichern läßt. Mebr aber nicht; das

Glück lachender Befreiungen waͤchſt in diefer Lauheit nicht. Und zu Tho— ma (der ja keineswegs die fchärfften Reize fpendet) verhält ſich diefer ver- mittelnde, urbane Bernftein wie große Bohnen in Mil zu italientfchen Pfefferſchoten (peperoni). Nur die Figur eined judifhen Hausonkels, deffen Weſen mild-weife Lebenäficher- beit ift, bewahrt Herthas Hochzeit ftellenmweife davor, langmeilig zu fein... Mad Darftellung und Negie anlangt, fo wars die Geburt einer Komoͤdie aus dem Geiſt der Provinz. Allein Harry Walden und Herr E. Arndt Cein freilich manchmal zu forcierter Hausonkel) entgingen dieſein Provinzial» Ernft durch ihre Moutine.

Ferdinand Hardekopf

Deutfche Uraufführungen

5.1. Gebhard Schäßler-Perafint: Die Generalfomtef, Luftfpiel. Min chen, Bolfätheater.

Nudolf®reinz: Das Stadt: Zubildum, Schwanf. Wien, Raimund: Theater.

12.1. Felit Hübel: La Paloma, Schaufpiel. Leipzig, Stadttheater.

Mar Bernſtein: Herthas Hochzeit, Luſtſpiel. Berlin, Neues Schauſpielhaus.

Wilhelm Jacoby und Harry Pohlmann: Der Tanzhuſar, Schwank. Wiesbaden, Reſidenztheater.

Berantwortlich für die Redaktion: Siegfried Sacobfohn, Berlin SW. 19

Berlagvon Defterheld & Eo.,BerlinW.15 Drud von Imberg & Leffon, BerlinW.9

>

5

B .” Er

Ey

24. Tanuar 1907 II. Jahrgang Yiummer 4

Über dad Drama Otto Ludwigs, von Mar Mell

In Dito Ludwig erreicht die deutfche Dorf- und Kleinitadt- geihichte, wie fie in den dreißiger Jahren feines Jahr⸗ hunderts zur Aufnahme in der Dichtung gefommen war, ihren Höhepunft und von da aus ihre Auflöfung ins Drama. Denn jene fpezifizierte Erzäblungsart berubte durchaus nicht, wie etwa die Dichtungen Gottfried Kellers, 3 auf einer Zufammenfaffung des Lebens, fondern ganz und gar auf dem Charafter, und meift auf dem Charafter im engern Sinne, wenigftend flr die Helden: Standhaftigfeit, Willensftärfe, Eigenfinn, fon- jequente Hißigfeit zeichnen die Hauptfiguren, mehr ald andre Eigenfchaften, aus, und fchwächlihe Geſchoͤpfe werden ihnen oft ala lächerliche und nicht ernſt zu nehmende zur Seite geftellt. Mehr ald im mirflihen eben ift in diefen ftilifierenden Schilderungen der Charafter dad Beſtimmende, und von der Plaftif in der Dorfgefchichte zu einer ähnlichen Plaſtik im Drama iſt nur ein Schritt. Dtto Ludwig bat ibn getan.

Seine ſtille Jugend im Feiner, gartenhafter Umgebung, von Ausbrichen des Unfriedend bisweilen geftört, findet in feinem Aufenthalt in Leipzig ein ebenſolches Ende, wie feine mufifalifhe Stimmung, fein lyriſches Zerfloffen- fein fi) zu Darftellung und Geftaltung von Menfchen feitet. Sein Ent- wicklungsgang mag num nicht der gewefen fein, daß er durch Leben unter Menfchen gezwungen wurde, fchöpferifh auf diefe Eindruͤcke zu reagieren, fondern dag feine Phantaſie dur einen Begriff: „Menſchenkenntnis“ auf geregt wurde und fo fi die Differenziertheit der Menſchen zuredhtlegte, ansgeftaltete, die Quellen des Schaffens damit naͤhrte. Es ift auffällig, wie in feinen drei Zugenddramen dem „Hanns Frei“, dem Vater inder „Pfarrofe” und der VBaroneffe in den „Rechten ded Herzens“ Menfchenfenntnis zu— gefprochen wird. Der Dichter aber ging am wirklicher Menfchenfenntnie vorbei und fam zum Cbarafter.

85

Wenn gleich feine erfte Beruͤhrung mit der fremden Wirklichfeit jo aus- fiel, darf man doch Überzeugt fein, daß ihn die um ihn: feine Wohnung, Stube, Schreibtifch, jeder Gegenftand darauf und in feiner Umgebung, wunder⸗ bar bewegt haben; nur verzichtete er darauf, dem andred anzugliedern. Er war fein „Eroberer“, und da er ſich fo gänzlich aus allem Welttreiben zurüd- 309, wurde er, rein wie fein andrer, der Ausdrud der herrfchenden Tendenz feiner Zeit, aber der fünftlerifhe Ausdrud. Denn bei den Vertretern des jungen Deutfhland blieb dad Recht immer nur Tendenz. Dtto Ludwig aber, der damit begann, vom Necht des Herzend und Recht der Liebe zu fprechen, machte unbewußt das Recht zum Agens aller feiner Geftalten. Es ift das jene Dispofition feiner Phantafie, die alle Menfhenfenntnis nur ald Charafter- fenntnis begriff.

Das Lebensgefuͤhl der Menſchen in Otto Ludwigs Schriften ift ein williges Auffichfelbftgeftelltfein. Die Frauen! Die Heiteretei, bei der ed Sorge und langes Sigen nicht gibt, deren Lieblingswort ift: „Und fo iſts, und nu ifts fertig!” Dann die Pfarrofe, und Lea, und die Heldin der bedeutenden Er- zaͤhlung „Maria“, die fo Atherifch und feft zugleich ift, und deren Gehaben, ald man ihr einen Fehltritt [huldgibt, ihren Charafter nicht weniger enthüllt, als den des Dichtenden. Die Maͤnner! Das Unbeugſame und Eigenſinnige an ihnen tritt immer ſtaͤrker hervor: in der „Pfarroſe“ ruht alles, was geſchieht, nur auf ihrer uͤberreiztheit und Rechthaberei, und im „Exbförfter“ treten ſich dann zwei fo geartete Männer gegenüber, beide auf ihr Recht pochend, der Förfter wie Stein; alle „mit einem mehr und mehr fich potenzierenden monomanifchen Streben nad einem innern Ziel”, wie ſich Alfred Freiberr von Berger in einem ausgezeichneten Aufjag uͤber Dtto Ludwig ausdrückt.

Das andre aus folher Phantafie refultierende Starfe in Otto Ludwigs Dramen ift feine Gegenwart auf dem Schauplag. Schon in „Hanns Frei” einem Luftipiel, eigentlihh mehr Oper, in feiner heitern Reimerei fait das deutfche mufifalifche Luftfpiel der Cornelius und Wagner antezipierend iberblict der Dichter die Gegenftände auf der Bühne mit größter Praͤziſion. Oder man lefe in den „Rechten des Herzens“, wie der Dichter den Blick, die Bewegung, fait dad Atmen feiner Geftalten fühlt. Paul: „Mein Bild für fie glüdlicher ald fein Urbild.” Er gibt der Baroneffe ein Medaillon und fpringt aus dem enfter; da die Baroneffe zugleich nach der Tür fiebt, fallt dad Medaillon zu Boden. Die Baroneffe wendet fi danach hin, fie fann, indem der Fürft eintritt, nur noch ihr Tuch darauf fallen laffen. Der Fuͤrſt: indem er nad) dem offenen Fenfter gebt, an welchem nod der Stubl, über welchen Paul flieg. . . Einzig diefe Sicherheit der Zeichnung gibt dem Trauerfpiel einen ftarfen Halt, ebenfo dem andern, der „Pfarrofe”, das zur Handlung ein unmögliched Gewirr von ‚Intrigen, Zwifchenträgereien und UÜbereiltheiten bat, aber Inneres und Äußeres zu einer unlöslichen mufifalifhen Einheit verfchmilzt. Hier tritt oft mit denfelben Worten wie in „Maria” alles Garten» und Waldhafte, alles Pfarrhofbehaglihe und Volkstuͤmliche aus des Dichterd Seele heraus; in einer faſt allzufcharfen

86

Zeichnung, aber in überquellender Kraft. Wie wunderbar ift ed, wie die verſtoßene Pfarrofe nachts auf dem Kirchhof, unter den Fenſtern des Eltern- baufes ftebt und and Fenſter nach Sabine Flopft: „Und bitte, Sabine, dort auf dem Klavier linfd unter dem Epheu -- liegt Papier und Bleiftift und dort unter der Guitarre aus dem Tintenzeug eine Oblate. Es gebt ſchwer auf du mußt an der Seite drüden. So. So.” Den Refler Der Seele auf einen Gegenftand der aͤußern Welt zu geben: fo wird das Unbemwußte gehoben die Arbeit der deutfchen Dichtfunft feit Goethe und damit wirft Otto Ludwig uͤberaus fuggeftiv und lberaus rührend.

Ein Stüd in jener Zeit bat eine aͤhnlich fcharfe Milieuzeihnung: Hebbels „Maria Magdalene”, die denn auch auf Otto Ludwig tiefen Eindruck gemacht bat. Zept erkrankte Ludwig an Hebbel und verfolgte fein Schaffen mit ängft- liſcher Eiferſucht: ohne fich bewußt zu werden, daß Hebbels Kälte, die ibm deflen Dramen verfehlt erfcheinen ließ, eben das war, mas ibm mangelte: die architektonische Veranlagung, die Sicherheit, einen feiten Grund- riß zu entwerfen, der Hebbel erft das Gelingen fo ſchwieriger dDramatifcher Pläne wie der „Agned Bernauer” und der „Nibelungen“ möglich machte. Hebbel gelang ed, alle Luͤcken, aus denen der fchnurgerade Strom der Hand- lung ausfließen fönnte, nicht nur zu verftopfen, fondern diefer Notwendig- feit auch den Wert der fünftlerifchen Freiheit, des Organifchen zu geben; ja, er hatte die Kraft, in dem feitgezogenen Kreid des Dramas ſogar die Welt- biftorie zu zwingen, während es in jedem Drama Otto Ludwigs einen Punkt gibt, wo ſich die Charaftere in eigenmächtigem Handeln aufreden, fo daß ihre Lebendfraft die organifierende Fähigfeit Ludwigs mwegdrängt.

Nach dem wundervollen erften Aft des „Erbförfterd” um diefen etwas näher zu betrachten verläuft das Stud im Sande. Der Buchjäger prügelt Andres, der Förfter ſchickt diefen mit Wilhelm in die Stadt zum Advofaten. Andres muß Wilhelm in der Schenke erwarten; er ſchlaͤft dort ein; ein zufällig vorhandener Wilddieb ftiehlt fein Gewehr und erfchießt den Buchjäger an einer Stelle, wo zufällig Nobert auf Marie wartet. Jetzt beginnt Überreijtheit und Ceicytgläubigfeit: man weiß nicht, wer tot ift, handelt aber jo, ald ob mand wüßte, jeder anders; Stein glaubt Robert tot, der Körfter glaubt Andres tot, will died an Robert rächen und erfchießt iertlumlich feine Tochter. Auf diefem Ummeg kommt die Handlung zum Erbförfter zuruͤck, uͤber trefflich gezeichnete Figuren aber warum fommt der Wilddieb auf ein- mal ind Drama und ftieblt ein Gewehr? Ludwig uͤberlegt einmal felbft. Wil⸗ fend zur Förfterin: „Wenn fie nun zufammenrennen, Ihr Mann und der Buchjäger? Und jeder den andern ald Wilddieb behandeln will? Oder der Buchjäger noch einmal über den Andres gerät? Und der tut, was ihm jein Vater befoblen hat? Oder der Andres und der junge Stein geratenaneinander?” Jeder dieſer weitern Wege hätte die Einheit der Handlung beffer gewahrt, weil ed ohne Wilddieb abging; am beften aber gewiß der erfte: der Buch- jäger wäre einzig berechtigt gemweien, an die Stelle Steind ald Gegenſpieler zu treten. Es ift tragifch, mie blind Otto Ludwig an der Kunſt vorbeiging ...

87

und fo ein Drama gab, in dem, wie jonft in feinem der deutihen Dichtung, hoͤchſte Kraft bewährt ift im Verſchwenden.

Damit rühre ich an eine der wichtigften ragen der dramatiſchen Okonomie: an das Abwaͤgenkoͤnnen, an das zarte Gefuͤhl fur Harmonie, das ſofort einem dramatiſchen Plan gegenüber unfehlbar feſtzuſtellen weiß, wie viel, oder beffer, wie wenig Perfonen dad Drama tragen koͤnnen. Es gibt Stücke, in denen ed zu wenig find, jo daß die Figuren fo viel Typik, ja Allegorie in jich verjammeln müffen, daß ihnen die Lebensluft gebricht, und es gibt Stlide, in denen zu viel Perfonen find, alle itarf und lebendig, jo daß fie das Drama fprengen. Zu diefer Art gehören alle Dramen Otto Ludwigs. Die Figuren geben zufammen feine Öarmonie, und dad Aufftellen der drama— tifchen Gegnerſchaft iſt immer mit Unficherheit gefheben. Im „Fräulein von Scuderi” wirft ſehr peinlich, daß das Fraͤulein nur ald deus ex machina gelten fann und fortwährend da ift, während dad Drama wo anders fpielt: in dem wundervoll zufammengeballten dritten Aft. Und fo find alle diefe Stüde im Maß vergriffen: fie haben fünf Afte, und uͤberlegt man ſich den Stoff (man fann meiſtens den Gang der Handlung nicht nacherzählen, man muß fir einen Lberblict das Motiv von allerlei ftörenden Zutaten fäubern), wird man unfeblbar auf die dreiaftige Einteilung geführt, nicht nur beim „Erbförfter” in der eben angedeuteten Fortentwiclung der Handlung, auch bei den „Makkabaͤern“, wofern man diefe ald dramatiſchen Stoff gelten laſſen will. In der Zeit der Gottbelf, Immermann und Stifter, auch Auerbach, war Dtto Ludwig wie feiner font befähigt, das Flaffifche bürgerliche Drama zu fhaffen: „Maria Magdalene“ aber bat Hebbel geichrieben.

Jene Sarmonie zu treffen (ein ardhiteftonifhes Problem) ift der Punkt, worin fich die Perfönlichfeit des Dramatiferd klar ausfprechen wird: denn die kann nur inftinftio geichaffen werden.

Dtto Ludwig taftete nad) ibr. Das Werf, das ihn durchs Leben begleitete, war die „Agned Bernauer”; bei Goethe war es der „Kauft“, bei Hebbel der „Moloch“, bei Kleift „Robert Guiscard“. .. Die bloße Möglichkeit, dag im Stoff des „Engeld von Augsburg” der Charafter der Agnes ver- fhieden aufgefaßt werden Fonnte, trieb ihn an, jede diefer Möglichfeiten zu ver- ſuchen. So verbrauchte er feine Kraft. Die Hypertrophie feiner Beichäf- tigung mit dem Charakter verhinderte ihn immer an der Aufſtellung des dramatifchen Konflifts: Dito Ludwig fam gar nicht zum Drama, fondern nur zum Charafter. Einen Charakter in Leidenſchaft zu bringen, fchien ihm Drama zu beißen; aber der Charafter ift nur eine Funktion des dramatiſchen Planes.

Diejenige Literatur, welche eigentlich nichts darſtellt als den Triumph der Charakterſchilderung, iſt die engliſche, von Chaucer und Shakeſpeare und dem altengliſchen Drama bis zu den Romanſchriftſtellern des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. Und wie Ludwig an Hebbel erkrankt war, der ihn bemmte, jo erfranfte er dann an Shakeſpeare, der ihn vergiftete. Wider- wärtig ift es, den „Engel von Augsburg“ zu lefen, dad Barock Shafeipeares

88

mit der aufgepfropften Perſoͤnlichkeit Otto Ludwigs zu einem doppelten Baroıf gemacht. Und fo fand er aud feine Ruhe: er begann fein Inneres, die gebeimften Vorgänge des Schaffens zu erforfchen, abzuflopfen, abzuhorchen, in Worten zu faffen und niederzufchreiben: manche fehen darin eine Scham⸗ lofigfeit und Entblößung, gegen die dad Vergeben des Gyges ein läßlihes genannt werden kann, andern aber fheint der Ring an die Hand der Be- faufchten gefprungen zu fein. Denn wenn er fih auch mufifalifcher Stim- mungen und Karbenvifionen bewußt wird, die Geftalten fteigen ihm nicht anders auf ald: ein Charakter in einer Feidenfchaft; und das ſahen wir obne- died aus feinen Dramen. Das, was Goethe mit feinem Feben unzählige Male tat: den Augenblick einfangen, darauf wäre es auch bei der Erzäblung des Schaffensprozeſſes in Ludwig angefommen, und das entzog fich ihm, wie es fi jedem entzieht. Diefer Deutfche war aus dem unendlichen Schweifen in der Mufif zu fefterer Geftaltung gefommen, vom Geift des Rechtes befeelt, und war immer härter und eingegrübelter geworden. Er fchloß ſich ein, feine Kunft bohrte ſich in die andrer Dichter, und als ihm das Letzte zu Worten er- ftarrte, mußte er sterben.

Liebhaber von Beruf/ von Friedrich Kayßler

S— ſteh ich Tag um Tag an deiner Seite

im Hauſe unſrer Kunſt, und habe Stunden, dich anzuſchauen wie ein fernes Bild.

Von deinem Leben aber weiß ich nichts.

Das Werk getan, ein kurzes Lebewohl,

beim gehſt du im ein Leben, das mir fremd, ich wende zögernd mich dem meinen zu

und warte auf den Abend, Tag flr Tag.

Und abends ftebn wir wieder Seit an Seite, im Flackern einer bunten Flitterwelt,

und ftammeln, engumfchlungen, Liebesworte, die fern von und ein fremder Geift erjann.

Bon deinem Reben aber wein ich nichte. Bemalte Masfen, lächeln wir und an, Genoſſen einer weienlofen Welt.

Und doch verbirgt dein blondes Haupt fo viel.

ED

Suzanne Dedpres

las millft Du da tun?” fragte Helmer feine Frau, als fie, im dritten Aft, ind Mebenzimmer gebt. „Den Masfenfram

W heruntertun,“ antwortet Nora. Frau Despréès beabſichtigt und tut das nicht nur in dieſer, ſondern auch in ihren uͤbrigen

2VRollen. Maskenkram iſt ihr alles, was wir ſonſt an Leib und Seele franzoͤſiſcher Schaufpielerinnen geſchaͤtzt haben. Die Kampfmittel ihrer Erotik: ihre Schoͤnheit und ihr Parfum; ihr Haar und ihr Gang; ihre Toiletten und ihre Brillanten. Das Bouquet ihres Weſens: Grazie und Liebenswuͤrdigkeit, Wig und Geift, Pifanterie und Übermut. Auf all das miıffen wir bei Frau Desdpred verzichten. Weil fie fein beruͤckendes Weib jein fonnte, wollte fie gar fein Weib fein. Es ift ihr gelungen. Die Furcht, ungünftig ausjufeben, kennt fie nicht. Was Kofetterie ift, weiß fie nicht (wofern man nicht diefen vollendeten Mangel an Kofetterie eine befondere Art der Kofetterie nennen wil). Sie gibt Jungfrauen, unverbeiratete Frauen und legitime Mütter und ift in feinem Augenblif Weib. Nicht einmal Frau. Sie ift ein Menfh. Ein Menſch, der früh im Abgründe geblictt und darüber das Lachen verlernt bat. Ein Menfch, der nicht aus dem weftlihen Paris ftammt, aus diefem lichten, luftigen, prunfvollen Paris der breiten Avenuen, der heitern Gartenpläge und der gligernden Spring- brunnen. Wenn überhaupt Paris die Entwiclung diefed Menfchen beitimmt bat, fo fann ed nur gefhehen fein durd die unheimliche Enge der noͤrd— lichen Quartiere, wo ein drohendes Gewimmel eingepferdhter Eriftenzen der Menfchheit ganzen Jammer erduldet und erdulden macht. Vom Anblid diefed oder andern Elends mag die Bangigfeit im Geficht der frau Dedpres, ihre befiimmerte Haltung, der gramvolle Klang ihrer Stimme, ihre ganze abwehrende Ungefchlechtlichfeit herriihren. Das ift ein Mund, der Feine freude mehr am Kuͤſſen hat, weil er zu oft in bitterm Web gezucft bat. Das tft ein Auge, das zuviel geweint bat, um noch in Begierde und Genuß aufglänzen zu können. Dasift, nehmt alles abermals in allem, ein ernfter,ftrenger, in derSchule deslebens ſchwer geprüfter Menfch, der ed verfchmähen wird, fich zu verftellen, Komödie zu fpielen, Dinge vorzugeben, die nicht in ihm find. Wenn ein ſolcher Menſch dennoch unter die Schaufpieler gebt, werden feine Fünftlerifchen Ausdrucds- mittel jo einfach fein wie feine paar Weſenszuͤge, und er wird, er muß traten, Rollen zu finden, deren Grundton mit dem Grundton feiner menſch⸗ lihen Natur zufammenflingt oder ihm doch annähernd gleichzuftimmen: it. Der Grundton der Despr&d-Matur ift: laftended Leid. Frau Despres glaubte alfo gewiß ſehr vorfichtig und fehr kuͤnſtleriſch zu bandeln, als fie bei ihrem erften berliner Gaftipiel ihr tränenfeuchtes oder tränentrocdenes

90

Auge, ihren fchmerzenreihen Mund, ihre vorwurfsvolle Geftalt und ihre Flagende Stimme in den Dienft von ſechs Geftalten ftellte, auf denen irgend ein Leid laftet. Die Dirne Elifa leidet unter ihrem Beruf, „Rot- fopf” unter der Lieblofigfeit feiner Umgebung, Denife unter ihrem „Fehl⸗ tritt”, Jacqueline unter dem Lebendwandel ihrer Mutter, Therefe Raquin unter ihrem Verbrechen, Nora unter ihrem bodhherzigen Betrug und feinen Folgen. Aber mit der bewußten Wahl diefer Nollen, die Frau Despres feinen Zwang antun, oder bei deren Darftellung fie wenigftens fich feinen Zwang antut, hat die Kuͤnſtlerin doch nur zum Zeil Klug gehandelt. Dem fcheinbaren Vorteil, die Grenzen ihrer mimifhen Begabung Furzfichtigen Augen jo am beften zu verbergen, ftand die ernftlihe Gefahr gegen- über, fcharfen Augen diefe Grenzen erft recht deutlich, zu machen, empfindliche Nerven durch die Einförmigfeit der Eindrüde abzuftumpfen und einen wäblerifchen Geſchmack durch die Mindermwertigfeit der meiften Stüde zu verlegen.

Mindermertig find von diefen ſechs Stuͤcken fünf. Das Unbehagen, das einen bei ihrer Lektüre überfommt, kann ſich für den Zufchauer in freudig- ften und fhmerzlichften Anteil verwandeln. Unfterbliche heben verlorene Kinder mit feurigen Armen zum Himmel empor. Auch auf dem Theater. Aber Unfterblihe müffen es fein. Was rau Desprès mit ihren Schmarren tut, ift liebenswert und adjtendwürdig und in feinem Augenbli genial. Sie fucht diefe Ausgeburten theatralifcher Geriffenheit menfhenmöglich zu machen. Bor dem fnallenden Effeft gibt fie der feeliihen Wahrheit den Vorzug. Sie ift unendlich fchlicht. Mit fparfamen Geften, verfchleierten Tönen, ge— dämpften, bis zur Graubeit, ja bis zur Farbloſigkeit gedämpften Farben Schafft fie nad ihrem Ebenbild Geftalten, deren Glaubhaftigfeit nicht aur der „dichteriſchen“ Unterlage, fondern auf der Ehrlichfeit und Echtheit der Schauſpielerin beruht. Die Realität von vieren diefer Geftalten, im Buch frag- wirdig, wird durch fie unzweifelhaft. Aber ift dad genug? Mir nicht. Mir ift ed zu wenig, Puppen ald Lebeweſen wiederzufeben, wenn ed micht zu= gleich Lebewefen find, die mich durch ihre Größe oder ihre Tiefe, durch ihren geiftigen Adel oder ihren feelifhen Reichtum hoͤherheben. Was bedeutet es ſchließlich, daß die Denife des jungen Dumas einmal, ftatt wie eine tragifche Liebhaberin, mie ein leidender Menſch redet, wenn ich die Tragif dieſes Menfchen zwar erfennen, aber nicht mitfühlen fann? Eine Frau, die auf der Straße traurig an mir vorbeifchleicht, wird mich nicht eher erfchuttern, ald bis ich entdedfe, daß da ein allgemeinmenfchliches Schicffal von einer ganz befonders be- ſchaffenen Seele getragen wird. Die Seele der Frau Despresift richtiger: ſcheint auf der Bühne, und einzig darauf fommt es bier an) denfbar unzufammengefegt. Sie Außert ſich fo zart, dag man zunaͤchſt gefeffelt ift, aber auch fo primitiv, daß das Intereffe fchnell verfliegt. Primitivität kann gewaltig fein: bier ift

91

fie es nicht. Bon feiner Thereje Raquin und ihrem Laurent bat Zola jelbit gefagt, fie feien »des brutes humaines, rien de plus«. Weil die beiden auch wirklich micht mehr geworden find ald Beſtien in Menfchengeftalt, darum ift dad Drama wertlos. Es könnte auf der Bühne wertvoll werden durch eine Schaufpielerin, die die primitive VBeftialität der Therefe felbit- berrlich in eine veißende, zerfrallende, wilde, wunde und jähe Urleidenfchaft erhöhte. Frau Despr&s macht dad wertlofe Drama finnlos, indem fie Die Haupt- figur verfeinert und dadurch fogar der Handlung jede Wahrfcheinlichfeit nimmt.

Aus andern Gründen ift die einzige Dichtergeftalt, die Frau Despres nachzuſchaffen verfucht bat, leblos geblieben. Ibſens Nora bat man, oder babe ich, auf der Buͤhne biöher entweder glüdlid anfangen oder gluͤcklich enden feben, aber nie hingen Anfang und Ende zufammen. Die Réjane und die Sorma trafen dad verzogene Singvoͤgelchen, die ausgelaffene Mutter. Die Dufe und die Triefh trafen die Frauenrechtlerin, dad befreite Weib. Jede von ihnen ſchien an der Dereinigung der zwei Geelen in Norad Bruft zu verzweifeln und warf ſich darum mit Entfchiedenbeit auf eine von den beiden. Frau Dedpres trifft feine, weil fie mit aller Gewalt nad einer Ber- mittlung firebt. Um zu erflären, daß Mora ihre Kinder verläßt, iſt fie gegen diefe Kinder erfchredend kuͤhl. Sie fpielt mit ihnen aus Er- barmen, nicht aus Liebe. Das wäre zur Mot binzunebmen, wenn dafür der Schluß mit einer nie gefehenen Wucht und uͤberzeugungskraft ein⸗ ſchlige. Aber außer der Hennings bat ihn noch feine Schauſpielerin von Ruf ärger verfehlt. Da war auch nicht eine Spur von unbeugfamer Über- legenheit und flarrer Entfchloffenheit. In diefer Darftellung bätte diefer Schluß unfehlbar lächerlich gewirft, wenn Herr Lugne-Poe feinen Helmer fo feft und beftimmt durchgehalten hätte, wie er ihn angelegt hatte. Denn dann hätte er feine Frau am Handgelenf gepackt, hätte ihr ihre Standrede zuruͤckgegeben, und alles wäre wieder in Ordnung geweien. So aber machte er ſich windelweich und gaͤnzlich weſenlos, um der Gattin den Abgang halbwegs zu retten. Nein, ohne alle Umfchreibung fei es gefagt, daß Frau Despr&s nicht nur flr den Schluß der Nora die geiftige Macht, fondern auch fr den An- fang die Poefie und Wärme, flr die Mitte der märchenhafte Dämmerfchein der Ermartung fehlt. Sie ift ein gar zu zerzaufted Eichfägchen, eine gar zu mübfam frobe Lerche, ald daß fie ihrem Mann acht Jahre lang das Heim zum Himmel bätte machen können. Sie fpricht von dem Wunder⸗ baren, aber ed webt nichts lautlo8 um fie. Frau Despres ift fo uͤberaus vernünftig. Sie fagt fich ſehr richtig, daß Mora feine gelernte Balletteufe it, daß fie darum wohl ihre Angittarantela ganz naturaliftifch Funftlos tanzen wird und bat denn auch mit diefer richtigen Vernünftigfeit unfern Micolaiten über alle Maßen gefallen.

92

Der Ärger über ihre Ubertreibungen wird mid) nicht ungerecht gegen Frau Dedpred machen. Sie ift ein Menfh und ald folder unter allen Umfländen wertvoller ald eine Komoͤdiantin. Unter faft allen Umftänden. Denn wenn man auch nur drei Abende hintereinander den gleichen dumpfen, mütden Ton gehört, diefelbe asketiſch blaffe und fteife Schlichtheit gefehen bat, fo fommen einem Augenblide, mo man den fraffeften Theatereffeft vor- ziehen wuͤrde, mweil ſich in ihm doch irgend eine Kraft, und fei ed die un- edelfte, offenbaren müßte. Solche Augenblide gehen vorlber. Man mird wieder bereit, Frau Despr&s und ihre ftille Art liebzu haben, und wuͤnſcht bloß das eine: dag um ihretwillen nicht die ganze franzöfifche Schaufpielfunft und die deutfche dazu auf den Kopf geftellt werde. Denn es ift ja einfach nicht wahr, dag Frau Despr&s in Parid um ihrer Vorzlige willen unterdrüdt wird, noch daß fie irgend einer unfrer wirflid großen Menfhendarftellerinnen gleihfommt. Es ift nicht wahr, daß die Parifer fie zuruͤckſetzen, weil fie nicht ſchoͤn ift, fein Kleid tragen kann und nit von taufend Teufelden befeffen if. Sie weifen ihr einen zweiten Plab an, weil fie, im Gegen- faß zu den Berlinern, ein ſcharfes Unterſcheidungsvermoͤgen und ein treues Gedaͤcht · nis für ſchauſpieleriſche Leiſtungen haben. Sie wiſſen, daß rau Despros die legte Gewalt ſelbſt dann ſchuldig bleibt, wenn nicht ein Macher fie ungebuͤhrlich, fon- dern wenn ein Dichter fie mit äfthetifcher Berechtigung verlangt. Sie kennen Bartet la divine und die wonnige Jeanne Granier und bemerken, daß ſich neben ihnen Frau Deöpr&s auch Fünftlerifc, dürftig ansmimmt. Ste haben Sarahs Phaͤdra umd Mejaned Douloureuse gefehen und wuͤrden ed fir Blasphemie balten, die elegifhen Anwandlungen der Frau Dedpr&s mit ſolchen tragiſchen Erlebniflen zu vergleihen. Diefe beiden Schöpfungen haben auch die Ber- liner gefehen, aber felbftverftändlic vergeflen. Desprès ift ‚die Loſung. Wenn man ihnen einredet, daß mit ihr, Hallelujah, die Dufe uͤberwunden it, fo glauben fies. Wenn ihnen ein ahnungslofefte® Gemtıt den Namen unfrer Elfe Lehmann hinwirft, fo kann man diefen unfinnigften aller Vergleiche fofort von einem Ehor von zwanzig Fritifbefliffenen Narren nachplappern hören. Der Bergleihöpunft ift das bischen Einfachheit, das bei der Lehmann die ſtillſchweigende Vorausfegung, bei Frau Dedpr&s !beinah der ganze Reich- tum ift. Diefe aͤußerliche Aehnlichkeit (für die hundert andre Namen auch gepaßt hätten) entdedt ein Blinde. Man möchte meinen, daß die Unterſchiede pwiſchen unferm unbegreiflich hoben Wunder und dem Flugen framoͤſiſchen Talent noch viel augenfälliger find. Aber es ſcheint doch nicht. Frau Despr&s follte fritifher fein als ihre Kritifer umd ſich durch ald das finnlofe Lob nicht aus ihren Grenzen aufſcheuchen laſſen. Jbre Beſtimmung ift nicht, als Stern dur dad Weltall zu ſchnuppen, fondern im ande zu bleiben und ſich mit guter Enfemblefunft redlich zu nähren.

9

Der Andere) von Julius Bab

Fünfter Aft*)

Der Garten Palizottid zur Nacht. Im Hintergrund die Billa; vom Bartenfaal führt eine Terraffe von drei fehr breiten Stufen bid in die Mitte der Szene herab. Nechtd und links breite rote Beete. Grenzen des Gartens ſieht man nad) feiner Seite. Doc) leuchtet der nach rechts zum Tor führende Kiedweg weiß dur die dunfel ftrahlende Sommernadt. Zu beiden Seiten ded Hauſes hohe ſchwarze Zypreſſen. Auf der Mittel-Stufe der Terraffe fteht ein Tiſch, an ihm ft CAfar im fchweren Lehnſtuhl. Vor ihm ein großer filberner Becher. Neben ihm, den Krug in der Hand, der alte Manuel.

Caͤſar: Schenf mir den Becher voll. Die Naht fam fchnell. Schenf wieder ein. Noch fchneller fommt der Tag. In diefen Zeiten find der Sonne Fippen zu feſt verbaftet an der Erde Bruft. Das ift nicht Tag und Naht ift nur ein Fließen von weißem Leuchten in ein ſchwarzes Leuchten. Man fol nicht ſchlafen in fo mächtelos durchhellten Zeiten. Schenf mir wieder ein.

*) Babs tragifche Komödie, von der bier die erfte Hälfte des legten Aftes zum Abdruc gelangt, hat in diefen Tagen, am Hoftheater in Stuttgart, ihre Uraufführung erlebt und wird jegt, im Verlag von ©. Fifcher, Berlin, ald Bud) erfcheinen. Vier junge Künftler aus Ferrara wollen ihrem gut= berzigen, aber jehr eiteln und törichten Mäcen, dem reichen Ambrogio Palizotti, einen Streich fpielen. Mit Hlilfe von Elena, der Gattin ded Ambrogio, die zur Zeit die Geliebte des Malerd Andrea ift, fegen fie einen andern ald Ambrogio in das Haus des Patrizierd, der dem fo ——— Maͤcen den Eintritt weigern und ihn ſo an ſeinem Ich irremachen ſoll. Fuͤr die Rolle dieſes andern aber erwaͤhlen ſie ihren Diener und Farbenreiber Caͤſar Vicenti, der einſt ein Freund des Ambrogio, ein Freier der Elena war und, von jener abgewieſen, in trotziges Elend ſank bis zu ſeiner erniedrigenden Stellung bei den Künftlern. In der Nolle des reichen Gatten der Elena fehrt nun dem Cäfar feine alte, ftärfere Natur zuruͤck; von einer biöher nur durch aͤußere Vernachläffigung verborgenen lebhaften Ahnlichfeit mit Ambrogio unterftügt, fpielt er ſich fo täufchend in feine Rolle hinein, daß nicht nur der Ambrogio bis zur völligen Geiftezerrlittung verwirrt wird, fondern auch die Maler und ſchließlich felbft Elena, die Frau, an feiner Jdentität zu zweifeln anfangen. Während feine innere Kraft neu waͤchſt, kuͤhlt Caͤſar durch die Verwirrung jener abſichtsvoll feine Nahe. Halb gewillt, den Ambrogio aus dem Wege zu räumen und feinen Pla dauernd zu bebaupten, hat er zwei Banditen, die Brüder Deroffi, auf die Spur des verſchwundenen Ambrogio gefandt. Bon einem alten Diener ded Ambrogio bedient, erwartet er nachts beim Wein die Meldung der Banditen. Bei diefer Lage der Dinge fegt der flinfte Aft ein.

94

Manuel: Ah, Mefler Caͤſar: Schenk mir ein. In diefem Garten raufht ein Geruch aus all den roten Beeten von Blütenfelchen, die weit offen find, der Wolluft goldne Fäden aufjufangen, wie fie ded Nachtwinds Wehn vorlbertreibt. Es wogt ein Neigen trunfener Begierden, von Sneinanderlangen, Sidy-Ergießen. Man fol nicht nüchtern fein an fo beraufchtem, fo taumelvollem Ort. Schenf wieder ein! Manuel: Ah Meſſer Caͤſar: Gib! (Nimmt ihm den Krug und gieft felbit den Becher voll) Manuel (mweinerlih, monoton): Ad, Meffer Palizottt, Ihr wart doc, ftetd fo mäßig, fo verftändig Verzeiht nur, Mefler ad, man fennt Euch faum fennt Euch faum wieder, Meſſer Palizotti Caͤſar: Still, Alter, fill, (Steht auf, den Becher in der Hand) Es atmet diefe Nacht der Himmel fohneller Sterne aus und ein, der Blüte Sein wirft wilder Wogen auf. Da legt wohl auch ein Menſch das enge Kleid des Maßes ab da ſteht wohl einer da im Zwielicht diefer allzufchnellen Sterne, in diefer allzufchwülen Blumen Duft. (Hebt den Becher) Und bebt den Becher voller an den Mund und wird fo neu, fo unerfättlih neu und reckt fich hoch, fo unermeßlich body, (jet den Becher nieder) daß er der Erde, deren armed Blut die große Trunfenbeit in feinen Adern um nichtd vermebrt, mit Rachen wiedergibt, was fie ihm bot, im Trunfen neu zu fein. Gießt ten Wein zur Erde) Fließ bin, fließ hin O Naht der fchnellen Sterne! (Er ftellt den Becher flirrend auf den Tiſch und feßt fi wieder. Lange Paufe) Manuel (ängttlih): Ah Mefler Caͤſar (mit feltfamem Laden): Hahaha! Nun, Alter! nun! Bin ich dir nicht gefolgt beinah beinah! Biſt du zufrieden? Sieb, ich trinf nicht mehr. Manuel: Ah, Meffer Palizotti ja ad) ja nur ad, verzeibt Ihr fpreht Ihr ſpracht jonft immer fo rubig, fo verftändig ah Caͤſar: Und heut? Manuel: Ahr fprecht fo wunderfame wilde Worte, faft fegerifch, faft beidnifh ad, verzeiht fo ungewohnt, fo furchtbar anzuhören

95

Caͤſar (verfunfen wie im Traum vor fid bin): Sprad ich denn anterd fonft? Manuel: DO, foviel anders! fo guͤtig wars, fo heiter anzuhören Caͤſar (immer wie im Traum): Gütig und heiter —? Manuel: Immer fagtet Ihr: Mafbalten, das fei gut in allen Dingen, und alles gut zu finden, wie es fei, das fei die erfte Kunft Eäfar: Das fagt ih —? Manuel (erleichtert, geſchwaͤtzig): Freilich Wißt Ihr nicht, ald des Herzogs Krieger damald in unfre Speicher in Corfano fielen und alle glei von Kriegsgefchrei und Rache im Ratsſaal überfhäumten? Wie Ihr damals zur Ruhe mahntet und durch höflich Witten Entfhädigung heifchtet und erbieltet?! Alle belobten Eure Sanftmut, Euer Fluges gemeffenes Handeln damals. Caͤſar: Tat ih dad —? Manuel: Ja, immer wart Ihr mäßig und verftändig. (Bier erfheint Elena unbemerft an der Schwelle des Hauſes) Wißt Ihr noch vor zwei Zahren bier im Saal Ich fand mit vielen Krügen dort am Tifh ald Valabraffa fih im Trunk vergaß, und fede Worte, wie fie fi) nicht ſchicken, auf unfre Herrin fagte der Arlezjo, der junge Heißiporn, der in Rom jegt malt, zog gleih vom Leder. Aber Ihr erbobt Euch und trenntet fie und fpradht, das fei beim Beine und nicht mit Ernft gefagt und machtet Frieden. Täfar (in hellem Zorn auffpringend): Das tat ih nichtl! Manuel cerfhredt): Herr Caͤſar: Würgen tat ich ihn, erdroffeln und zerfchmettern unterm Tiſch; den Hund! den Hund! Manuel (fehr ängftlih): Ach, Herr, Ihr ſagtet doch Caͤſar: Du lügft, du Knecht! Erfchlagen! Ihn erfchlagen! Manuel Gitternd): Meffer Ambrogio Caͤſar (ufammenfahrend): So ja fo (mit bittrem Wachen) - - - - - -— - —— —— ja fo = MPauſe. Dann Pochen rechts) Geh geb dort Öffnen. Geb! (Manuel ab nach rechts) Elena (tritt ſchnell heran): Was tuft du, Caͤſark!

v6

Caͤſar (ſieht fie fremd an): Du? Elena: Du verrätft dich! Edfar (brütend): Wen? Elena (mißverftehend): Das ift vorliber! Sch liebe dich, did, Eäfar, feinen andern du bift mir fo gewiß, wie ich nicht mehr. Doch diefer Alte du verrätit dich! Caͤſar (mit durchbrechender Klarheit): Freilich! verrät er fi), der Menſch, der einſtmals war und in der Wärme diefes Kleids erwacht zuruͤck ind Leben wandelt?! (Mit ftarfem Aufſchwung) Nun wilfommen! Mit allen Ehren eined Auferftandnen fei er gegrüßt bei mir! Elena: Was mwillft du tun? Edfar: Micht weniger fheinen ald ich bin! (Der Alte ift mit Theodore Derofft zurltgefommen und gebt ind Haus ab. Elena will reden, Caͤſar macht fie mit einer befehlenden Gefte ſchweigen. Dann zu Deroffi) Tritt näher! Was bringft du mir, Deroſſi? Traft ihr ihn? Theodore: Er ift gefunden, Herr. In einer Hütte, entdeckt ich ihn weit draußen, bei Jacopo, dem alten Bettler. Caͤſar: Bei dem Blinden? Theodore: Ja. Er war fehr ſcheu und fagte gar nicht viel. Mein Bruder blieb und hält ibn ſcharf in Acht. Ich Fam, von Euch das weitre zu erfragen, Soll man denn nun? Geſte des an Edfar: Das ift nicht mehr von Möten Theodore: Hm nicht? Das ift mm freilich Eure. Sache doch wenn ich eine Meinung fagen darf, eilt Eudy ein wenig, Herr! Man ftellt Euch nah, Edfar: Wer? Theodore: Diefe Burſchen, die ich erſt bier traf, belauern und. Sie famen mir mit Fragen fhon einmal in den Weg was Ihr denn heute von und gewollt und fo, Wir pfiffen ihnen was ind Gefiht. Sie gingen. Aber eben fab ich fie wieder viere hinter mir fie paffen auf fie lauern in der Nähe run meinelwegen (an feinen Dolch greifend) meinetbalb auch vier! Edfar: Du fagft mir fehr Willfommnes, Theodore,

47

Geh Du hinaus und fpric in allem Frieden zu dieſen DVieren, daß fie zu mir fommen. Ste fommen recht. (Deroffi zaudert) Gehorche! eil dich! geh! (Deroſſi murrend ab) Elena (mit fliegendem Atem): Was willft Du tun? Caͤſar (langfam, ſtark): Ich will nicht eine Laſt von fremdem Leben gaufelnd weiterfhleppen. Mein Schritt wird weit und leicht, ich will die Ketten von eined andern Schwere niht am Fuß. Ich bin mein Herr, ih will mein Haus erbauen died drückt wie Blei mit feinem armen Prunf, Ich geb hinaus. Elena: Und ih? (Bon redhtd fommen die Maler mit Deroffi) Caͤſar: Sei ftill! (Er fegt ſich die Maler treten näher. Deroffi bleibt rechtd vorn) Elena (wie betäubt): Und ic? CPaufe) Caͤſar: Ich ließ euch rufen Paufe) Nuggiero: Meffer Palizotti (Die andern ſchweigen) Cäfar: Nun, Leonardo? nun, Andrea, du!? nun, Pietro babt ihr euch bedacht: Wer bin ich? Andrea: Wenn Ihr Ambrogio feid (Stodt, die andern ſchweigen.

Paufe) Caͤſar (erhebt fi, fehr ſtark): Ich bin es nicht! Mein, nein, ihr traurigen Romddienmeifter ih bin es nicht! Gottlob! ich bin es nicht! Bin nicht Ambrogio, der zum Frieden redet, nicht der im Nat fit, nicht der Samtbedeckte, der Gold erwirbt und eine Frau und Bilder und Freunde hat wie ihr! und feine Feinde der bin ich nicht! Gottlob! der bin ich nicht! Paufe, dann etwas ruhiger) Caͤſar Vicenti bin ich, den ihr kanntet, der euer Knecht war, der fein Herr geworden, der, wills der Himmel, noch viel hundert Feinde in feinem Leben haben wird, und Frauen, und Gold und Samt und Bilder, Häufer, Felder, fo denf ich, wird er haben Freunde nicht! und Herren auch nicht mehr. Ihr ſeid entlaſſen PR danıt faft mit Humor) Ahr, meine legten Herrn, ich danf euch doch! Zwar fhuft ihr nichts von allen diefen Dingen fo wenig Wanderer Lawinen ſchaffen, wenn unter ihrem Schub der Schnee ſich loͤſt doch danf ich euch! Ach will es euch gedenken,

98

Yar

vielleicht mit Lachen einft! Nun gebt lebt wohl! (Die Maler ſehr beftürzt wollen geben. Pietro bleibt fteben und fagt rubig) Pietro: Meſſer Vicenti, fagt: wo ift der andre? Cäfar (auf Deroffi weifend): Der Mann wird ihn euch zeigen. Holt ihn, gebt! (Die Maler mit Deroffi ab, Ranges Schweigen. Caͤſar fchenft fi) einen Becher Wein ein. Trinft in einem langen Zuge aus. Sept ihn nieder und will die Stufen berabfteigen. Da ftlrzt Elena, die bisher wartend geftanden, auf ihn zu und faßt feinen Arm) Elena: Und ih —?! Caͤſar: Was willſt du, Weib? Elena: Du läßt mid, Cäfar?! Caͤſar: Ich geh von bier, du bleibft was willft du? Elena: Cäfar! Sch liebe dich CAfar: Ja morgen etwa andre Elena (rafend): Ah du!! (ruhiger) nein, nein, das war nur eine Waffe, ein rober Stein mir in den Weg geworfen, war nicht dein Sinn. Du bift ja doch ein Wefen, das flihlend lebt, Fein Tier, das frißt und ftirbt. Du weißt ja doch, das, was jeßt in mir ift und ſchluchzt und lacht und ſich an deine Hände mit Küffen ſchmiegt und dienen will und folgen und mit dir fein und in dir, ſich ergießen in dich in dich daß ift von andrer Art ald heiße Faunen eigenmwill’ger Stunden, als ftolje Spiele einer Herrfchenden ich ward ja anderd in ein Ding verwandelt ein Ding für dih den Herrn ich liebe dich! Caͤſar (ſteinern): Mag fein. Du bift durd Liebe angebunden. Wenn ichs bedenfen wollte, vielleicht fand ich: ich liebte dich doch will ichs nicht bedenfen! Denn id) will gehn, Weib weite, weite Wege. Fort lag mich gehn! Elena: Du liebft mich, Cäfar! Caͤſar: Nein! Mein Leben lieb ich! meine neuen Taten! Und all die Dinge, die ich faflen, greifen, bezwingen, haſſen und verachten werde die lieb ih! geh! geb fort aud meinem Weg. Elena: Ich bin dein Weib! Caͤſar: Man hat fein Weib Ihr werdets und wart ed dann! Ihr feid ed nie! Elena: Ih bins!

99

Caͤſar: Du bift ed nicht. Ich bin der Liebe fatt, ich will ein Werk, ein Leben. Elena: Ich gebar dich, daß du fo wollen fannft und leben id! Caͤſar: Za, du! Ihr feid zum Töten und Gebären. In dir geftorben, ftand ich auf in Dir. Den Leib der Mutter reift dad Kind entzwei. Mur wer jerftört, der wird geboren werden. Der ſchont, erftidt ih gebe! Elena: Cäfar, warte! Ich geh mit dir! Cäfar: Ich will dich nicht. Du lafteft mir wie ein Toted. Fort! mir aud dem Weg! Sieh mich nicht an! blid weg! Du haft die Züge von einer Frau, die mich zehn lange Jahre in eine fhmußig tiefe Grube ftieß. Bleib fort! zehn greuliche Gefpenfter laufen auf deiner Spur und fchreden alles Helle von meinem Weg! Geh fort! Ich will ind Licht! Elena: Du töteft mid! Caͤſar: Dad will ih Elena: Mörder Eäfar: Ya! Es morden viele, viele find ermordet und wiffens nit. Einmal vor vielen Jahren erfhlugft du mich. Ich mußte felber faum, wie tot ich war. Doch mein Gefpenft lief um, beut kams zu dir ed will ein Vampyr werden. Ich trinfe Reben ein aus deinem Blut. Indes dein Leib am Boden zudt, zerbricht, werd ich geboren, wachſe wieder hoch ein Menſch, der lachen, herzlich lachen kann.

Ich trank dich leer! (Cäfar geht. Elena wirft fi) ihm quer in den Weg)

Elena: Erbarmen!

Caͤſar Chart, heil, fait lachend): Mein ich lebe! (Er fehreitet über fie hinweg und geht rechts vorn ab. Elena bleibt regungslos liegen. Die Gartentuͤr fchlägt krachend ind Schloß)

100

Mi von Nichard Treitel

Ill n der Öffentlichkeit hat man ed dem Direftor von Ferdinand Bonnd Berliner Theater uͤbel vermerkt, daß er eine Dame für fünfjig Mark Monatögage engagiert, daß er der Dame Unterricht erteilt und dafuͤr dreihundert Marf Monats honorar beanfprucht und erhalten hat. Machen es a an: A die andern, oder genauer fehr viel andre Direktoren um ——M ein Haar beffer? Sie nehmen den jungen Damen viel- rer nicht in Form des Honorard dad Geld ab, das die Damen von Haufe oder fonft woher mitbringen. Aber wie ift ed mit dem Derlangen nad) großen, teuern Zoiletten, die von der Gage unmöglich zu bezahlen find? Mie find gewiffe Theaterdireftoren leichter für eine Kontraftlöfung zu haben, ald wenn Koftumanfchaffungen von einer Dame verweigert werden, von der man angenommen bat, fie werde ſich von derartig Fleinlihen Erwägungen nicht leiten laffen. Weiß man nicht, wie manche Damen an ein großes Theater gelangen? Wie es gefchiebt, daß fie auch einmal in einer Nachmittagsvor⸗ ftellung zum Auftreten gelangen, fuͤr die fie reichlich Zweidritttel der Billets angefauft haben? Weiß man nicht, wer alled bezablt werden muß, um dies alles zu ermöglihen? Geſchaͤft in Gefhäft. Im Theater genau fo wie anderdwo. Und ohne weiteres hat fein Menfh das Recht, den Theater⸗ direftoren darüber gram zu fein. Es fei denn, daß der Kritifer Ethifer von Fach ift oder glaubt, es fei feines Amts, fozialreformatorifd zu wirken. Don diefem Standpunft muß man zunächft einmal die Volontaͤrfrage anfeben, die in der legten Delegiertenverfammlung aufgeworfen wurde. Fruͤher brauchte der Direktor Statiften, die er mit Geld bezahlen mußte, und wenn es nur eine Mark fr den Mann war. Heute muß man das ja au. Denn manche Stüde haben fo unvernünftig viel Statiften nötig, daß man darum allein doch nicht Bolontäre halten kann. Aber einige find immer ganz gut. Man bat dadurd für die Statiflerie Leute, die in vielen Proben immerhin etwas geſchickter werden ald die, die ſich des Abends am Theater oder vor- ber bei der Statiftenagentur melden, Bor allem: fie find dazu noch foviel billiger. Und wenn ſolche Leute ein Zahr lang gefehen haben, wie man ſich am Theater räufpert und fpuct, fo werden fie auch Schaufpieler. Immer⸗ bin geeignet, am Nachmittag mal mitzufpielen. Fir dad Nachmittagspublifun reihen fie fhon aus. Mad einem halben Zahr oder etwas mehr reichen fie fogar ſchon für die Abendvorftellungen, während die inzwifchen eingetretenen Bolontäre die Statiftenpläge ausfüllen. Selbitverftändlih noch nicht für die Abendvorftellungen, zu denen Preffe erfcheint. Aber man fpielt ja nicht fle die nörgelnde Preffe allein. Die zahlenden Zufchauer merken fo etwas weniger fcharf. Da fann man einen jungen, auftrittswuͤtigen Bolontär ſchon eber einmal einfhieben und ihn mit einer bewährten Kraft alternieren laffen. Dad bat wiederum große Vorzüge, Nicht unbedingt für den Zuſchauer; wohl aber unter Umftänden fuͤr den Direftor, Man fpart Spielgelder, die

101

man dem Schauſpieler in ganz andrer Höhe zahlen muß, ala dem jungen Acer, fo diefer uͤberhaupt etwas für fein Spiel erhält.

Es braucht dem Eingeweihten nicht gefagt zu werden, daß fo etwas aud) in beffern Theatern vorfommt. Es wurde von der Preffe ſchon mandmal feftgeftellt, wie febr fich die gewöhnlichen Theaterabende von den Premieren- abenden unterfcheiden, was die Darftellung anlangt. Manchmal war der Programmdruder fo ruͤckſichtslos, die frühere Befegung rubig ftehen zu laffen, um dem Kundigen vor Augen zu führen, wie fehr er es bedauern müffe, nicht am Premierenabend in die Vorftellung gegangen zu fein.

Vom Gefchäftäftandpunft aus gefeben: So fpart man Geld. inmal werden die Volontäre mit dreißig bis fünfzig Marf entlohnt. Sie erhalten gewöhnlich fein oder ein fehr geringes Spielgeld. Man fpart an Statiften; man fpart an Spielgeldern für gute Schaufpieler. Das madıt ein erfledlic Suͤmmlein, dad man anderdömo wieder fehr gut gebrauchen fann. Daß man dabei dem Publifum etwas Wind vor den Augen macht nun ja; aber wenn ſichs dad Publifum gefallen läßt! Schließlich merft es gar nichts, folange e8 nicht ausdräclic darauf aufmerffam gemadyt wird. Und dann tft ed ja auch ganz intereffant zu ſehen, wie weit fi der Werdende bereitd am Mufter des frühern Darftellers gebildethat... Man könnte unſchwer noch einige derartige Entjchuldigungen finden. Die zu verdedende Hauptfache ift und bleibt: So ift e8 viel billiger. Man macht dem Publifum etwas vor, wo— fir es nicht das ſchoͤne Geld gezahlt hätte, wüßte ed, was man ihm vor⸗ macht. Bier befommt die Sache einen unangenehmen Beigefhmadf flr die Direftoren, die ed angeht. Man müßte ihnen Unehrlichkeit vorwerfen.

Es fommt irgend ein junger Menfdy zum Direftor. Er babe gemerft, dag er Künftlerblut in fi) babe. Der Direftor oder der Regiſſeur oder fonft jemand läßt fi etwas vorſprechen. Gewoͤhnlich hört ſich das Geſprochene irgendwie an. Und wenn dad der Fall ift, wird man ja auch) engagiert. Forderungen ftellt man nicht. Warum fol man alfo nicht engagiert werden? Es wird der erfte Kontraft ausgefüllt. Gage: dreißig bis fünfzig Marf. Das heißt: das ift feine Gage, alfo Feine Gegenleiftung fr erwartete oder zu erwartende Reiftungen. Das ift ein Fleiner Beitrag zur Lebenshaltung, zum Unterricht, den man ja wohl dod noch nötig haben wird, oder fonft wozu. Man mag eben nicht, daß einer fo lange ganz unbefoldet herum⸗ gebt. Zwei Jahre find das mindefte. Erwünfchter noch find drei Jahre. Am erften Jahr werde Statifterie die Hauptbefchäftigung fein, Auch dieſe Tätigkeit ift wichtig. Man lerne auf der Bühne fteben und geben. Man wachſe allmaͤhlich in das Milieu hinein und bilde fi an den großen Muftern. Im zweiten und dritten Jahr werde fi ſchon ab und zu Gelegenheit zu fleiner Befchäftigung finden; das hoffe man ficherlih, da ja Talent unzweifel- baft feftgeftellt fei. Dann fommt die Konventionalftrafe. Diefe müffe hoch bemeffen werden. Im Intereffe des jungen Kuͤnſtlers. Die Stetigfeit der Ausbildung dürfe nicht durch viele® Hin- und Herwandern unterbrochen werden, wozu die jungen Künftler fo leicht neigen. Außerdem muͤſſe der

102

Charakter gefeftigt werden; energifhe Selbftzuht ift von nöten; man darf nicht jedem Gedanfen fo ohne weitered nachgeben. Kontraft ift Kontraft. Der bindet, und an diefen Gedanfen muß ſich der Schaufpieler von Jugend auf gewöhnen, Auch Fleinere Strafen müffen vorgefeben werden. Auf der Bühne muß Ordnung berrfhen. Der Dienft ift ernft, auch wenn fi das Ganze als heitered Spiel dem Jufchauer zeigt... Und fo fann man nod) weiter argumentieren. Der Volontär denft wirklich, das alles fei fo ernft, wie ed gefagt wird, Und dabei tft e8 nur DVerftedipiel. Es fommt auf all das fo gar nicht an; die Hauptfache ift und bleibt die billige Kraft.

Man fragt vielleicht, ob ſich denn Leute finden, die ſolche gefährlichen Kontrafte unterfchreiben. Die Praxis gibt die befte Antwort. Sie finden fi, beinahe in zu großer Anzahl. Wer denft daran, daß aus den kontraktlich ftipulierten Strafgeldern einmal Ernft werden fünne? Und wenn er daran denft was bedeutet died gegen dad Vergnügen und die Ehre und die Reputation, „Schaufpieler” an einem befannten Theater zu fein und mit diefem Titel auf der Vifitenfarte berumzugeben? Was bedeutet ed, daran gemeflen, daß einmal feine Monatögage audgezahlt wird, weil fie Durch ver⸗ bängte Strafgelder aufgebraucht ift? Weiter denft ficherlich feiner. Wenigſtens zunächft nicht. Im zweiten oder dritten Jahr kommen ſolche Gedanken ſchon eber. Da fiebt man, was man damals getan bat, wie man fich gebunden bat. Jetzt möchte man gern auf all die Ehre verzichten; aber jegt balt einen die Konventionalftrafe, die nicht umfonft fo body bemeffen worden ift.

Soldye Gedanfen fommen aber nur denen, die wirflid weiter wollen. Eine Dame, die fi) als Volontärin an ein Theater meldet, deffen Direftor in der Annonce mitteilen zu follen geglaubt hat, dad Theater liege in einer Garnifonftadt, wird daran nie denfen. Für fie ift der Stand einer Volontärin ein treffliches Schild, dad manche Organe des Staates oder der Stadt abhält, tiefer zu forfchen. Sie hat einen Beruf; fie übt ihn gegen Gage aus. Das ift fhon recht viel, und das ſchuͤtzt gegen Belaͤſtigungen. Man fann nie wiſſen, wie einem diefer Stand und diefe Gage einmal von Nutzen fein kann. Diefe Elemente fommen bier nicht in Frage. Denfen aber die Fünft- lerifch ernfthaften Volontäre nicht daran, welchen Schaden fie dem Schaue fpielerftand zufügen, deffen Mitglieter fie werden wollen? Muͤſſen fie ſich nicht fagen, daß fie in jedem Fall einen um fein Brot bringen? Daß irgend ein Kollege aud der Stellung gedrängt wird, die fie einnehmen? Daß ſich dadurch das Schaufpielerproletariat vergrößern muß?

Bon den Direktoren ift eine Anderung der Verhältniffe nicht zu erwarten. Sie fahren gefhäftlich zu gut dabei. Es ift Sache der Schaufpieler, der Schaufpielerorganifationen und Sache der Kachblätter, das Übel zu befämpfen und deffen Umfichgreifen zu verbindern. Ein Volontär müßte von Schau» ſpielern fo behandelt werden, wie er von ihnen behandelt zu werden ver- dient. So fann man ihm vielleicht am beften Far machen, wie ſchwer er fih an feinem Stand verflndigt.

103

Rasperlefhorter

Die heimliche Premiere/ von Trinfulo

gem Berliner Theater

I Da gibtd was zu fchaun: Es freun fi) die Männer, Es jaudyjen die Fraun.

Sie haben die Ehre:

Sie pflüden dad Neid

Der Bonnſchen Premiere, Don der niemand nichtd weiß.

Aber vorher, da fprad) er Mit lautem Organ:

So rähe die Schmach er, Die ihm angetan.

„Doch Did, Du mein Deutfhland,

Did lieb ih mit Fleiß Und mit der heimlichen Liebe, Von der niemand nicht? weiß.

Dein Geift wird nicht ſchwaͤcher (Der Ferdinand riefs),

Zeig ih Dir Verbrecher

Und Privatdeteftins,

So dien ih voll Brunft Dir Mit fauerftem Schweiß,

Und. fchenfe 'ne Kunft Dir, Bon der niemand nicht weiß.

Und ich lady mid halb fchedig, Med ih Dir es ein,

Daß dad Peine ift dreckig

Und dad Dredige rein.

Und wenn der Boffelbitdraufreinfält, So kichre ich ganz lei,

Wobei mir was einfaͤllt,

Don dem niemand nichts weiß.

O Deutiches, o Lefling,

Seht Euer Programm!

Es macht folher Meffing

Die Kaffe fchnell klamm.

Sch hol mir noch manchen fhmwergoldenen Preis:

Denn ed gibt fo viele Schmöfer, Bon denen niemand nichts weiß,“

Auf die Großmacht der Preffe, Da bab ich gefpudt .. . . Jedes Wort meiner Rede

Wird dennoch gedrudt,

Ob mir feind auch die Clique, Das dumme Geſchmeiß:

Ich fuͤhr ſie am Stricke,

Bon dem niemand nichts weiß,“

Tief drang feine Rede

In mein Herje von Holj.

D, balt ihn im Zaume,

Den leudhtenden Stolz!

Denn fonft reift er * fort Dich Zu weit und zu beiß·

Und man bringt an 'nen 1 Ort Dich, Bon dem niemand nichts weiß.

104

Mſchar

Mar Devrient M* Devrient, der jetzt fuͤnfund⸗ zwanzig Jahre am Burgtheater iſt, hat ſeinen Ruf als Schauſpieler begruͤndet, als dieſes Theater noch auf der vollen Hoͤhe ſeines Weltruhms ſtand. Von den großen Kuͤnſtlern, denen er ebenbuͤrtig an die Seite treten durfte, find heute ſchon viele geſtorben, und von den uͤbrigen haben die meiſten den Anſchluß an den veraͤnderten Kunſt⸗ unſrer Zeit nicht finden nnen. Das Burgtheater, wie es beute vor und flebt, ift eine impo⸗ fante Ruine, und was jegt dort an kuͤnſtleriſchen Leiftungen geboten wird, ift der Mehrzahl nad aus erhabener Kunft und antiquiertem Kitſch eine feltfame Mifchung, von der man mit den Worten Nathans fagen fann:

„Groß und abfcheulich!”

Mar Devrient iftnuneiner der weni⸗ en vom guten alten®urgtheater,dieein Ahr ‘die Umwandlung befeffen haben, die ſich inzwifchen auf dem Gebiet der Dramatif volljogen bat. Er bat noch ganz jene unnachahm⸗ liche ‚echte Mobleffe des alten Burg» theaters, die man an den Darftellern andrer Bühnen faft immer vermißt, und er bat dabei die Knappheit und Schärfe, den Mangel an Redfeligfeit und fchönem Gefuͤhl, die halben Worte und Geften, dienurandeutende&baraf- teriftif: kurz allejene Eigenſchaften, die das wohltuende Merfmal der mo»

dernen Schaufpielfunft find.

Man ſieht an jeder Bewegung, die er macht, die außerordentlihe Schu⸗ lung, die er genoffen bat, eine Schu⸗ lung, wie fie nur dad Burgtheater bieten konnte. Er bat jene uner- ſchuͤtterliche Sicherheit, die das Kenn⸗

zeichen des berufenen Schauſpielers iſt. Denn ein richtiger Schauſpieler fuͤhlt ſich nirgends fo frei und un— befangen wie auf der Buͤhne, weil dort und nicht im Leben ſein eigentliches Zuhauſe iſt. Und dazu kommt noch, daß Devrient einer der aͤſthetiſcheſten Schauſpieler iſt, die je auf der Buͤhne geſtanden haben. Sein ſcharfes, herbes Organ, ſeine kurzen Bewegungen, fein vollendet ſchoͤn ge fhnittener Kopf das alles find Kunftwerfe der Matur. Hier bat die Natur, die ihre kuͤnſtleriſche Sorg⸗ falt meift nur auf Tiere und Pflanzen verwendet, fid) auch einmal mit einem Menfchen etwas liebevoll befcyäftigt.

Es ift befannt, daß die Wiener gräglihe Theaternarren find. Sie find aber einigermaßen entfchuldigt, denn diefe an fich recht alberne Un» art wurde an ihnen mit allen Mitteln großgezogen, und zwar durch eine Reihe entzückend liebenswuͤrdiger Schau⸗ ſpieler. An andern großen Buͤhnen iſt das Stuͤck die Hauptſache und der Schauſpieler der bloße Interpret. Am Burgtheater war dad immer umge⸗ fehrt. Die Stücke waren fehr oft ſchlecht, aber auch wenn fie gut waren, waren fie faft nie fo gut wie die Schauſpieler. Mar Devrient ſteht. viel höher ald die meiften Rollen, die er gefpielt hat. Geine größte Force waren immer die papiernen Salon» beiden aus jenen berüchtigten fran⸗ zöfifden Schaufpielen, die in ‘den fiebziger Jahren nach Deutſchland im- portiert wurden und ‘eine Art Rache flır Sedan bildeten. Sie haben be» farmtlih lange Zeit den deutſchen Marft faſt ebenjo ausſchließlich be— herrſcht wie der franzoͤſiſche Cham⸗

106

pagner, bis man endlich doch fand, daß fie nicht genug „sec“ feien,

Aber Mar Devrient bat aus diefen Atrappen Menfhen gemadt. Und dad fam daher, daß er felbit ein aus⸗ gezeichneter Menſch war. vor feine Rollen dad Vorzeichen Mar Devrient, und fofort war die ganze Figur verändert. Le Bargy ift auch ein außerordentlich eleganter und vor= nebmer Scaufpieler. Aber feine Nobleffeiftgewiffermagen nur Koſtuͤm. Sie bat feine tiefere Bedeutung ald fein Frack oder feine Lackſtiefel. Sie hängt nicht mit feinem innern Men- fhen zufammen. Sie ift etwa® rein Phyſiologiſches. Aber bei Devrient geht fie tiefer. Sie ift mehr als Theater.

Und daher wäre es vielleicht das Nichtigfte, bei diefem Devrient- Zus bilaͤums gar nicht vom Künftler Mar Devrient zu reden, fondern ausſchließ⸗ lih vom Menfhen Mar Devrient. Darin liegt eine fcheinbare Degra- dierung, aber in Wahrbeit ift ed das böchfte Lob. Denn jeder Künftler ift genau fo viel Künftler, ald er Menſch iſt. Es fommt nie und nirgends auf etwad andred an. Wenn ed nur mit dem Menichen richtig ftebt, fo ift die Kunft ein Nebenproduft, das fid) ganz von felber herausſtellt.

Egon Friedell

Zenfur in der Provinz

fowronnef und Kadelburg ba=

ben, wie männiglid) befannt, ein „Luftipiel”: „Huſarenfieber“ zufam- mengezimmert. Weiter fein Ereignis, obwohl das Stüd ein berliner Theater Abend für Abend füllt, und obwohl es furz nah Weihnachten ald die von den Verfaffern zu gunften Berlins feitgefeßte Sperrfrift abgelaufen war an Über hundert deutfchen Provinz- und Hofbühnen in Szene gegangen ift. Bon Interefle ift nur: einmal die Ent» ftehung diefer Öufarenpoffe, die ſich an

106

Er feste fl

Ereigniffe aus der Geſchichte der guten alten Seidenftadt Krefeld knuͤpft, und zweitens, das ift die Hauptfache, die Aufnahme, will fagen: Nichtaufnahme ded Opus in feiner eigentlihen Vater⸗ adt,

Kaifer Wilhelm hatte, ed fei bier nur wiederholt, vor einigen Jahren bei einem Befud in Krefeld einer Ehrenjungfrau verfprohen, ein Ka- vallerieregiment nad) Krefeld zu ent- fenden, um der dort berrfchenden Taͤn⸗ zernot erfolgreich zu fteuern. (In Wirk» lichkeit fol die Verlegung des duͤſſel⸗ dorfer Öufarenregimentd nad) Krefeld damals bereits beſchloſſene Sache ges weſen ſein.) Der Kaiſer hielt ſein Wort: am 2. April 1906 fuͤhrte er ſelbſt an der Spitze des Regiments die „ans bufaren“ in die Seidenftadt ein. Die Begeifterung war in jenen Tagen mächtig; fieberhaft wurde gearbeitet, um dem Kaifer und feinen Soldaten einen farbenreichen, glänzenden Em- pfang und einen erinnerungsvollen Aufenthalt zu bereiten. Biel Geld wurde ausgegeben. Am Einzugdtage felbft überall ftrablende Geſichter, Spalier in Heringsdichte, wehende Fahnen, Mufif, Guirlanden, dazu berrliches „Hobenzollernwetter”! Am Abend im fleinen Stadttheater vor Seiner Majeftät Feftvorftellung, neue eleftrifhe Beleuchtung, Kaiferloge, Guſtav von Mofer. Daß diefe Fülle der Gefichte für einen findigen Yuft- fpieldichter Stoff zu einer an Luftig- feit berfprudelnden Komödie abgibt, liegt auf der Hand. Sfowronnef und Kadelburg waren die findigen Dichter, Ihr „Hufarenfieber” hat diefe welt- bewegenden Hiftorien der Vergeflen- beit entriffen und auf die weltbedeu- tenden Bretter geftellt.

Sept fommt die Pointe der ganzen Sache. Es iſt ſchon mit der rein menſch⸗ lichen Neugier erklaͤrlich, daß das brave frefelder PBublifum die „Dramatifie- rung“ der gewaltigften Welle feines

fonft ziemlich friedlich dahinplaͤtſchern⸗ den ftädtifhen Geſchehnisſtromes mit ganz befonderer Aufmerffamfeit aufder Bühne verfolgen würde. Aber das Publikum denkt, die höhere Inftanz lenft. Eine im Gemeinweſen der ein feitigen Induftrieftadt „maßgebende“ Perſoͤnlichkeit fol der Leitung des Theaterd, die übrigend eine Auf: befferung ihrer biöherigen Einnahmen fehr gut gebrauchen koͤnnte, erflärt haben, eine Auffübrung ded Werks würde nicht gern gefeben werden, fie würde geradezu Anftoß erregen, ind Provinz: Zenſorendeutſch Übertragen; die Aufführung bat zu unterbleiben! Dabei hat die Stadt (Stadttheater!) nur infofern etwas mit dieſem lofalen Kunftinftitut zu fchaffen, ald fie flr jedes Spieljahr ganze 20 000 Marf Zufhuß gewährt. Das Theater ift im Beſitz einer Aftien- Gejellihaft, die gegen die Aufführung natürlich nichts einzumenden hätte. Preſſe und Theaterpublikum haben diefer Macht⸗ probe, beffer: literariſchen Bevormun⸗ dung, gegenüber noch wenig zu unters nehmen gewagt, die Leitung ded Thea⸗ ters auffallendermeife am mwenigften. Ob bier ein ftädtifches Pochen auf die 20000 Marf Wunder gewirft bat? So fchafft fi eben jede Stadt auch in theatralibus die Verhättniffe, die fie verdient, Bedauerlich ift es aber jedenfalld und für die auch in größern Provinzftädten leider herr⸗ jchende Angftmeierei und Eiertänzerei ungemein charafteriftifich, daß nicht fünftlerifhe Motive, fondern klein⸗ ftädtifche Cliquenruͤckſichten einer gan⸗ zen Stadt die Befanntfchaft mit einem fie in erfter Finie berübrenden Stüd verfagen. Einen bumeriftifhen An- ſtrich erhält die Krähmwinfelangelegen- heit fchließlich Durch die Tatfache, daß die Schaufpielhäufer in Dürffeldorf und Köln, die „Huſarenfieber“ er- worben baben, durch das frefelder Zenfurverbot mit frefelder Publifum

gefüllt werden; am vorigen Sonntag erft fuhren 240 Perfonen im Sonders zug zur Aufführung ind Refidenz- theater nad Köln...

Während ich die Korrektur diefer Zeilen lefe, fommt die Nachricht, daß dad Stuͤck nunmehr doch freigegeben worden if. Es war durdhgeficert, dag große Zeitfchriften, darunter die „Schaubühne”, ſich mit dem Ab- deritenftreicd) zu befaffen beabfichtigten. Und da Angftlichfeit nad) außen und

Kriechertum nach innen einander zu

ergänzen pflegen, ſchluckte man die bittere Pille und erlaubte die Auf: führung. P.L.

Monfieur & Schönhoff

De Kritiker Schoͤnhoff ſchreibt

im „Tag“ eine durch ihren Umfang eingehend erſcheinende Kritik über den erſten Abend der Madame Suzanne Dedpr&d und gibt darin den inhalt ded Goncourtfhen Dramas »La Fille Elisa« mit den folgenden Sägen an: „.. . Elifa, dad Mädel aus dem Volke, will poetifch tändeln und träumen, ihr Schaß denft anders, der Filou. Entjegen, wilde Wut packt das Mädel, fie ſticht wie eine MWütende befinnunglod auf den Lieb» baber zu, immer wieder und wieder.... Ohne innered Verftändnis für Eliſas Tat ſprechen Richter und Gefchworene ihr dumpfes Schuldig ...“

Aus diefen Worten geben fir den aufmerfjamen Leſer einige Erfennt- niffe bervor. Mit vollfommener Schlagfraft auch die folgenden: Der Kunftrihter Schönhoff bat fein in- nered Verſtaͤndnis aud fein aͤußeres für die franzöfifche Sprade. Ja, nicht eine einzige arme Silbe Franzöfiih verftebt er. Und Herr Schoͤnhoff verbeimlicht dieſe Tatfache feiner Redaktion, die ihn fonft nicht mit der Befprechung einer fran⸗ zoͤſiſchen Aufführung betrauen würde,

107

Ferner: Herr Schönhoff orientiert ſich auch nicht einmal oberflählih uͤber die Handlung eined Dramas, das er befpridht, und deſſen Wortlaut er unfäbig iſt, aufzufaffen. Er erſchnappt auch nicht das geringfte Sinnfetzchen des Dargeſtellten, er verbringt den Theaterabend mit toten Sinnen (oder „taͤndelnd und traͤumend“) und bietet auf Grund des alſo erworbenen „Ver⸗ ſtaͤndniſſes“ Urteile uͤber ein Drama, vergleichende Urteile uͤber fremd⸗ laͤndiſche Schauſpielkunſt, die Charaf- teriſtik einer Kuͤnſtlerin und noch manches andre Wertvolle*).

Damit Herr Schönhoff, im kind⸗ lihen Gemüt, nicht etwa dem Wahn verfällt, er babe in feiner Inhalts⸗ angabe ja nicht? Falſches angegeben:

*) Überdie Aufführungder „Nora“ fhreibt Herr Schönboff: „Hier (mit dem Schluß ded zweiten Aftes) ift die Höhe des Könnend von Frau Desprès erreiht. Die grazile, ent» täufchte Nora verwundert fich nicht mebr in bißiger Härte. Lberlegen wird fie von dannen geben.” Mer mitangefeben bat, daß Frau Dedpres im dritten Aft ganz und gar nicht hberlegen von dannen gegangen ift, koͤnnte auch bier annehmen, daß Herr Schönboff „getändelt und ge⸗ träumt” bat oder nicht einmal Kir die „Nora“ genligend franzöfifch ver⸗ fteht. Damit täte man Herrn Schoͤn⸗ boff unrecht. Er bat ed felbit aus⸗ geſprochen: „Der Kritifer fann beit» zutage nicht vorfichtig genug fein und muß fich wohl verwahren,” und da eine fat dreiſtuͤndige Theatervor⸗ ftellung, in der fein Bier herumgereicht wird, offenbar feiner foftbaren Ge— fundbeit abträglich ift, fo ift er es, der überlegen von bannen geht. Mur nicht, wie die Mora, die er meint, am Schluß des dritten, fondern ſchon nady dem Schluß des zweiten Alts.

8. J.

108

Eliſa wolle ja tatſaͤchlich taͤndeln und traͤumen poetiſch! nur der Schatz wolle andres der Filou! und das „Maͤdel“ ſtoße ja wirf« lich zu immer wieder und wieder und das mit den Richtern und Geſchworenen ſtimme ebenfalls alſo! alſo er, Schoͤnhoff, müuͤſſe wohl doch franzoͤſiſch verſtehen um Monſieur Schoͤnhoff vor ſolchem frommen Wahn zu bewahren, ſeien ihm einige zum „innern Verſtaͤndnis“ der Komödie, die er angefeben und gehört hat, nicht ganz unmefentliche Kleinigfeiten mitgeteilt.

La filla Elisa beißt auf deutſch (in dem von E. de Goncourt ge wollten Einne) nicht dad „Mädel“ Elifa, fondern die Dirne Elifa. Und warum die Dirne Elifa ftiht? Zus ftiht? Immer und immer wieder? Weil fie fie, die Dirne! bie ſich allnächtlih und, wenns not tut, auch »täglih jedem Erftbeflen um ein paar Franken (dad in Frankreich hblihe Zahlungsmittel) bingibt fühllos, gedankenlos (fo wie mandje Männer Kritifen fehreiben) meil eben diefe von der ſchmutzigen Wie⸗ ge an tierifh auferwachſene Dirne Elifa ſich dem erſten Mann, der fie wirklich liebt, Den fie liebt ver- weigert. Aus tief dumpf heraufwirken⸗ dem Geelenanftand inftinftiv verwei⸗ gern muß. Unbewußt muß! Das iſt ja fein ganz neues, vielmehr ein ur⸗ alte® Motiv: die Gefchichte von der Dirne, die einmal nicht will. "Um feinen Preiß will einmal! Lieber fterben oder töten ald wollen. Unfre da, Elifa, die Sie neckiſch auch „die Kleine” nennen, die tötet den Mann, der fie liebt den fie liebt, weil er das von ihr begehrt, ſtuͤrmiſch begehrt, was alle, alle andern be⸗ gebren und erhalten. Weil (menn man Inftinfte in Bewußtbeiten Iıber- feßen will), weil fie den Geliebten, ihr Höchfted, ihr Heiliges, nicht be⸗

fhmugen will. Und auch: weil er mit feinem Wunſch und Ungeftim fich ihr felbft zerftört, ihr das Einzige, die ungeabnt erfchienene Himmeld- gnade, auch zum Schmutz herabwuͤrdigt. Noch ein Augenblick, und es geſchaͤhe. Da ſticht ſie zu, immer und immer wieder.

Und dieſen Vorgang, der zur Not auch ohne hat Herr Schoͤnhoff dahin verſtanden, daß ein „Maͤdel aus dem Volke“ „poetiſch taͤndeln und traͤumen“ will und ihren Schatz, weil er „anders denkt“, umbringt. Die reine Magd alſo, die ſich ihrer . .. Haut wehrt! Die empoͤrte Jungfrau, die eben- falls aus dem Inſtinkt heraus ihr koͤrperliches Heiligtum bis zum Selbſt⸗ mord oder Mord verteidigt. Es iſt nicht anders. Herr Schoͤnhoff hats für die andre Geſchichte gehalten. In feiner ganze vier Spalten meffenden Belprehung fommt dad Wort Dirne oder Proftituierte oder irgend etwas den Begriff auch nur entfernt Strei- fendes überhaupt nicht vor. Im An— fang, in den LÜbergangdfägen von der Desprès zur Elifa, ift von „Penſions⸗ geſchichten der Kleinen” die Nede, die fie „zunächft vorzutragen” babe. Pen- fiondgefchichten! „Opfer des grau- famen Alltags. Sie ftöhnen auf: der Klang bebt nad, ein Wimmern in Wehmut ...“ Dreiftes Verlegen- beitögefafel ohne irgend welchen In⸗ balt, felbft grammatifalifch verworren. „Schar der Mitipieler” wird das übrige Vierteldugend Mädchen um Elifa genannt, vorſichtig, unverbind- ih, weil Gern Schönhoff feine Ahnung davon aufdämmert, was die Damengefellfchaft im Freien denn eigentlich zubedeuten habe, fein Schim⸗ mer, daß ed da ein Vortellperfonal am Audgebtage gibt und febr faf- tige „Penſionsgeſchichten“. Und Elifa und die „Schar der Mitfpieler“, das find nun die „Opfer ded grauen All-

anzoͤſiſch aufzufangen war, P

tags”. Alſo wohl jowas wie ein Reben ohne rechten Inhalt nicht wahr? Langeweile Frauenfrage SProletarierinnen.... Ob man beute wohl Pſchorr oder Spaten ge- nehmigt? DVielleiht mal Pilfener. Vorläufig aber heißt ed noch aus⸗ halten. Zweiter Aft: „Den Bertei- diger vor tauben Ohren fprady Lugné ve...” Schönboffd taube Ohren baben gehört, daß er „ſcharf gegliedert, eindringlich, nur an einigen Stellen in einer fchaufpielerifch-rednerifchen Weiſe“ ſprach, die „von unfrer be- dachtfameren Art abftiht”. Auch, daß der Sonderbeifall, den Lugné erhielt, mebr der gepredigten Sentenz galt. (Welcher denn, Herr Schönboff? Sa- gen Sies doch! Ihre Fefer wißtens wirklich gern.) Nicht gebörtaber haben die Obren des Herrn Schönhoff, daß der Verteidiger in feinem langen Plat- doyer wohl anzwanzig bis dreißig Mal dad Wort prostitude gebrauchte, pro- stitude de bas etage, daßer den Le— benslauf der Proftituierten Elifa vom Anbeginn bei der verbrecherifchen Heb : ammeund Rupplerin durch alle ſchmutz⸗ triefenden Etappen verfolgte, geiftal- tete, zergliederte. Daß die bundert- fältig in allen Stimmregiftern po- faunte prostitution mit unfrer Pro- ftitution identifh ift das ift dem Kritifer im zweiten Aft nicht ins „innere Verftändnid” gedrungen. Mom dritten Aft ift nicht mehr die Nede. Ald ‚Gefängniswirftenei” ward er ſchon vorber abgetan. Kurz und gut. Und im Anfhluß daran wird ge- fagt: „Den Roman Goncourts fenne ih nicht.” Als ob ſichs um einen Schmarren von Willy handelte. Ein echter deuticher Mann fchert fich micht um jeden welſchen Kram. Und allzu- viel Bildung ſchaͤdigt die Unbefangen- beit. La critique est aisde, et l’art est difficile. Kerr ſolls Schoͤnhoff uͤber⸗ fegen. Aber nicht etwa umgefebrt! Der Kollege ift webrlo®. Hans Olden

109

Arthur Pferhofer

ir haben einen guten Mann ve-

graben. Keinen Vollkoͤnner, binter dem eine leuchtende Spur bleibt, aber einen lieben Menfchen, deffen Hauptweſenszuͤge alleandern, diefonft noch in diefem wieneriſch ſchlanken Koͤr⸗ per wohnten, baldgleichgültig erfcheinen liegen. Die innere Spaltung, die man binter dem flott=fidelen Weſen des blon- den Pferhofer fchnell merfte, die auch durch den fpöttelnden Ton feiner felbft- fritifhen Suffifance offenbart wurde, fie war gerade durch die volle Erfennt- nis feines Fünftlerifchen Halbwertes gefchaffen worden. Pferhofer Fannte feine virtuofe Fähigkeit, aud jedem Gedanken, aus jedem noch fo unbe- trächtlihen Beftandteil der Nede, aus einem barmlofen Sätchen, oft ſchon aus einer Vereinigung von drei Worten den zündendften Witz herauszu— ſchlagen. Wenn er feine epigramma- tiſchen und aphoriftifchen Frechheiten, die meift mit einem fatirifchen Glanz gefhmücdt waren, dem großen Zu⸗ börerfreife oder einer Gemeinde guter Freunde zum Beften gab, fo fonnte er fich fichtlic in dem Gefühl, der Er- werfer und der fouveräne Herr un- geheurer Heiterfeiten zu fein. Dann aber fah er die Grenze. Die unaufbör- lidy hervorfprudelnden Einfälle ließen fih nicht in die Einheit einer Korm feffeln. Das alles blieb Brillant- ftaub: die erfehnte Komödie gelang nicht. Und zudem: die Gefellichaft, die „ihrem Turi“, ihrem Miß- jongleur gern immer wieder in die Saphirſche Garfüche folgte, hatte ihn abgeftempelt. Er wollte in großem Fuftfpielftil gerade feine Anhaͤngerſchaft perfiflieren und mußte die „Nummer

tim,

—⸗

Fe

eined Nachtkabarets fein. Er wollte weiter und weiter darum ringen, aus dem bunten Garten des Wißes jur Sonnenhoͤhe des Humors aufzufteigen und mußte feine Gloffen mit Jötchen durchflechten, um feinem Publifum auf die Dauer ſchmackhaft zu bleiben. So zog erim intimen Jwiegefpräd) weniger über die andern als uͤber fich felbft ber. So verblutete er förperlich und ſeeliſch ſchnell, als fich trübe Lebens⸗ prüfungen, gefundbeitlide Schwaͤ⸗ chungen zum geiftigen Sfarusleiden gefellten. Requiescat...! W.T.

Herbarium SPpitpestiicenZerten fhildertderr J. Landau im Berliner Börfen- courier Noras fchwerfte Stunde im Spiel der Frau Desprèoͤs. Nämlich fo: „Und ald dann die Enttäufchung Schleier um Schleier von ihren Augen fortzieht, da zieht auch fie fort.” Diefe ergreifende Darftellung be— lebt in der Phantafie des Leferd eine der ſchweren Stunden aus der Jugend ded Herrn 3. Landau. Etwa fo: „Und ald nun der Klaffenlehrer Seite auf Geite der deutfchen Stillehre durch⸗ ging, da ging auch der Fleine Landau durch.“

Deutfche Uraufführungen

15.1. Dora Dunder: Faliches Ziel, Schaufpiel. Wien, Luftfpiel-

theater, Ludwig Huna: Tandara= dei, Ein Aft. Paul Gutmann: Im Krüppelbaus, EinAft. Wien, Kleines Schaufpielhaus. 17.1. Julius Bab: Der Andere, Tragiſche Komoͤdie. Stuttgart, Hof- theater.

Too. u

Verantwortlich für die Redaktion: Siegfried Jacobfohn, Berlin SW. 19 Berlag von Defterheld & Eo.,BerlinW.15 Drudvon Imberg & Leffon, BerlinW.9

. 3]. Januar 1907 Ill. Jahrgang Nummer 5 7 +2

Die Moralität des franzöfifchen Theaters] bon Oscar A. H. Schmis

N Frankreich dürften Jährlich nicht mehr bedeutende Dramen f| seiörieben werden als in Deutfchland; aber in Frankreich

entfteht jährlid eine Anzahl von Tpenterftiichen, die, obne A befonders tief geflihlt und groß geftaltet zu fein, auch ernft- Ä| Hafte Köpfe einen Abend feffeln und das Merftändnis für I die Zeit fchärfen koͤnnen. In Deutfchland ift diefe Literatur⸗ gattung ſchwer möglih. Die berrfchende Geſellſchaftsmoral ift fo eng, daß in ihrem Rahmen fünftlerifche Probleme faum denkbar find. Die deutfchen Probleme zwingen daher den Autor, in jedem Stuͤck moralifdh mit dem Ei der Leda zu beginnen: faft jedes moderne deutfche Drama enthält, ungewollt vielleicht, feine eigene, oft aus furchtbaren Kämpfen gewonnene Individual etbif. Es ift fat undenkbar, daß es dabei ohne einige Zumutungen an den Hörer abginge. Die beften teutfchen Dramen haben (auch im höhern Sinne) einen unbefriedigenden Schluß, und zwar darum, meil die problematifchen Naturen der Helden ſich in feine moralifhe oder foziale Einheit oder All- gemeinheit irgendwie einordnen laffen, perfönlic, feine Kompromiffe ſchließen fönnen, ohne das Problem hinfällig, das ganze Drama üıberflüffig zu machen, nody weniger aber den Tod verdienen.

Ein circulus vitiosus: Das Fehlen geſellſchaftlicher Drganifation des Landes macht jeden den Durchſchnitt Überragenden „problematifch”. Die Menge der Problematifchen aber hintert wieder die gefellfhaftlicheOrganifation. Mangel einer die Lebendnotwendigfeiten darftellenden Gefellfchaft, die der Hörer in ihren Fehlern und Vorzligen fennt und ald Ganzes hinnimmt, tritt im deutfchen Drama meift irgend ein höheres, abftraftes Prinzip, wenn nit eine verbaßte abfolute Ethif ald Mafchinengott auf. Gerade unfre bedeutendften Dramen, die gewaltfame oder flache Abfchlüffe ſcheuen, find erhabene Ruinen geblieben.

111

Der franzöfiihe Menſch und Autor fommt felten dazu, feine Konflifte- fo ſchmerzlich durchkaͤmpfen zu müffen. Er ſchoͤpft mühelofer aus feiner allgemeinen Menfchenerfahrung und nähert ſich fat ftetd, wenn auch oft ganz unaufdringlic, der Tendenz: dadurd weiß man gleih, woran man tft, In den Spuren ded Sopbofled oder Shafefpeare wird man heute Abend nicht wandeln, aber es kann intereflant und unterhaltend werden. Man nimmt die gefellfchaftlihe Praͤmiſſe zunächft einmal ald gegeben. ft der Autor auch nur ein Flarer Kopf, guter Beobachter und angenehmer Stilift, fo fommt leicht eine refpeftable, wenn auch nicht übertrieben großartige Arbeit heraus. Es werdenfeine ungewöhnlichen Zumutungen geftellt, Kofetterie, foztaler Ehrgeiz, Luxusbeduͤrfnis, ebelihe Untreue ald nicht fehr pathetifche Menfchlichfeiten genommen, außer, wenn eine diefer Eigenfchaften in allen ihren Konfequenzen dargeftellt werden foll. Der Einzelfall wird mit firenger Beahtung der fozialen Möglichkeiten berausgearbeitet, eine Nebenfjene oft im Sntereffe des DVergnügend zurechtgeruͤckt. Seit wann,” fagte fchon Beaumarhaid, „hebt nicht die Yuftigfeit die Unmwahrfcheinlichfeit auf?” Der franzöfifche Dramatiker Fonftruiert felten an der Moral herum. Beine Einzelfjenen find zwar viel gewagter ald die der Deutfchen, aber er fucht ſtets eine moralifd einwandfreie Loͤſung des Konfliftd. Er ftellt den Ehe— bruch unter Umftänden fehr vergnüglicd dar, verhindert auch vielleiht als fittlihe Mebenwirfung daß man Steine auf die Ehebrecherin wirft; aber wo ift das franzöfifche Drama, das den Ehebrudy oder die freie Liebe mit Erfolg verherrlihte? Einen moralifchen „Sfandal” wie in Goethes „Stella“ Cerfte Bearbeitung) und manchem Werf der deutfhen Nomantif gibt ed in der ganzen franzöfifchen Literatur nicht. Alle Menfhlichfeiten werden mit lächelnder Kennerfhaft beleuchtet, aber man hütet fich, fie gefübldmäßig zu pathetifieren. Ein Hauptmotiv der nicht franzöfifchen modernen Literatur bietet das junge Mädchen, das „ed“ nicht mehr aushalten fann. Daß wuͤrde auf der franzöfifhen Bühne unfehlbar humoriftifch wirfen. Wenn man aud) die Sinnlichkeit begreift, ihre Konfequenzen entfchuldigt, fo findet man nichts lächerlicher, ald wenn die »bagatelle« allzu ernft genommen wird. Eine Geftalt, die der Franzofe anerfennen fol, muß für ipn vor allem „Haltung“ baben; das faffungslos einem Mann in die Arme finfende Mädchen ver- ſteht er nicht. Er kennt nicht den primitiven gefellfhaftlihen Zuftand, in dem fo etwas wirklich echte Naivität fein kann.

Die für fo unmoraliſch geltenden Franzofen find ein in feiner Moral ſehr fichered und eigenartiged Volk, ebenfo fern von der natürlichen Leiden- fchaftlichfeit, die im Süden täglidy die fehr viel fnappern Satzungen durdy= bricht, ald von nordländifcher, proteftantifher Enge, die hinter undurchfuͤhrbaren Geſetzen eine alle Lateiner verblüffende Promisfuität verbirgt. Aber was diefes ftarfe Moralifieren der franzöfifchen Schriftfteller erträglich, ja intereffant macht, ift der Mangel jeglicher Fanatif, Es ift nicht langweilig, felbft einem Brieur zuzubdren, der die im Grund verwerfliche Abficht außfpricht, von der Bühne berab fozialmoralifhe Wirfungen auszuuben. Diefed Moralifieren

112

bat die Farbe des Lebens. Es ift, fozufagen, impreffioniftifh. Es greift nie die Grundlagen an, wird nie metaphyſiſch oder ethiſch.

Der in feiner Kultur franzöfierte Abenteurer Caſanova hörte nicht einen Augenblick auf, Moralift zu fein. Wir hingegen haben Geifter von kuͤhnſter Amoralität hervorgebracht, ja wir haben die Amoralität Überhaupt entdedt; aber ihre Vertreter find darum doch im praftifchen Leben tadellofe Bürger geblieben,

Probleme wie die Miepfches und Ibſens, neuerdings Wedekinds und Altenberge, werden allerdings nur aus einem chaotiſch gärenden Moralgefuͤhl geboren, und ihre großartige Ungebeuerlichfeit oder feine Seltfamfeit muß die Franzoſen erftannen und erregen. Auch ihnen beginnt neuerdingd das Parfett unter den leichtbefchuhten Füßen zu ſchwanken. Seine Glätte haben fie nie gefheut. Aber wie? Wenn es aus den Fugen ginge? Auch in Frankreich mehren ſich ſchon lange, freilich noch nicht allgemein beachtet, die fagen wir indiöfreten Literaturwerfe. Von Baubdelaire, Laforgue, Andre Gide und Charled-Fouid-Philippe kann man nicht mehr fagen, daß ihre Seelen „rund wie ein Apfel” find. Sie fcheinen gequält wie Nord- länder und ſpaͤhen durch die Ritzen der Kulturwände in chaotiſche Lebens⸗ haͤufungen. Es ift nicht zu uͤberſehen, daß Gide Proteftant ift, Philippe aus niederm Volfe ftammt. Beide find fo fern wie möglid von Verſailles.

Sie fritifieren nicht gewiſſe Härten der beftehenden Moral darüber ließe ſich in Frankreich immer reden; fondern fie graben ungeahnte Sachen aus und laffen vermuten, daß der foziale Bau einen in Vergeſſenheit geratenen Unterftod bat, deſſen Leben lange Zeit Übertäubt, aber nicht erftictt worden if. Ohne fi irgendwie revolutionär oder zerftörerifch zu zeigen, Öffnen fie leife die Rellertlir, und man fragt: Was wird nad) ſolchen Indiskretionen in der Beletage gefchehen?

Aus einem Bud: —“ Geſellſchaftsprobleme“, das demnaͤchſt im Verlag von Dr. Wede ®.m.b. H., Berlin, erſcheint.

An Tolftoi/ von Chriſtian Morgenſtern

Se waͤrſt du gerne aller weſtlichen Kulturen. Doch wir wandeln andre Spuren, baben unfre eigne Ferne.

Und indes dein blind Verfehmen und verftößt und unfre Ahnen, ift Die Größe des Germanen: dich in fih mit aufjunehmen.

113

Mallenfteind Tod

er aufgefrifchte „Wallenftein” des Schaufptelhaufes ift jegt rund D und ganz zu ſehen. Vom Lager, das ſein Verbrechen erklaͤrt,

bis zum Verbrechen, das ſein Lager begeht. Nah dem glüuͤck⸗ lihen Anfang hofften unverbefferlihe Optimiften, die Aufführung der vollen Trilogie ald eine Angelegenheit der Kunft begrüßen zu koͤnnen. Daß ift fie nur fehr bedingt geworden. Eher fcheint fie eine Angelegenheit der fozialen Fürforge werden zu follen. Bon folhen Beftrebungen war ehedem in diefem Haufe nichts zu merken. In Zufunft wird es bei jeder Vorftellung flır hundert Menfhen etwas lıber eine Mark Foften, die Trilogie in einem Zug von einem anftändigen Sigplag aus aufjunehmen. Das ift fhön. Diefe Preisermäßigung müßte häufiger, wo nicht fiir immer, in Kraft treten. Damit wäre dad Schaufpielhaus, das biöher flr die Kunft halb und für das Wolf ganz verloren war, langfam wenigftens für dad Volk zu retten. So könnte es vielleicht allmaͤhlich gar einen Zufammenhang mit dem Leben unfrer Zeit gewinnen, nachdem feine urfprüngliche Beftimmung: ein Separatinftitut für Den Hof zu fein, ja längft hinfällig geworden iſt. Die Wiedergeburt eines Theaters aus dem Publifum. Ed wird aber wohl immer eine Schwachgeburt werden, wenn nicht auch der Erzeuger in jungen Säften fteht. Diefer Erzeuger kann nie= mand anders fein ald der Direktor. Die Kinder von flnfundfechzigjährigen Vätern pflegen nicht den Fräftigften und dauerhafteften Atem zu haben. Darum wird nicht früher ernfthaft an ‘eine Erneuerung des Schaufptelhaufes zu denfen fein, ald bis Herr Barnay erfegt worden ift, erfegt durch einen Mann, der ein Künftler und nicht die Verförperung der Unfunft ift, der der Gegenwart und nicht dem vorigen Jahrhundert angehört. Bruno Paul leitet unfre ftaatlihe Runftgewerbefchule; Alfred Meffel fol königliche Mufeen bauen; Richard Straußens „Salome“ ift fogar in Berlin hofblhnenfähig was hindert da eigentlich noch dad Schaufpielhaus, mit einem jlngern Geſchlecht fortzufchreiten? Wir find ja befcheiden geworden. Wir verzichten auf ein moderned Repertoire, weil ed und andrerorten zuteil wird. Es erfüllt und nur immer wieder mit Trauer, daß unfre Flaffifche Dichtung nicht von einer Bühne neu belebt wird, die, wie feine zweite, durch ihre Vergangenheit und dur ihr fchaufpielerifches Material für diefe Aufgabe berufen und beanlagt ift. Bier fehlt nichts ald der Kopf zu den Gliedern, als der ftarfe Pille eines echten Buͤhnenbeherrſchers, ald der Geift, der ſich den Körper baut. Es fehlt nichts ald ein Negiffeur. in Megiffeur, der die einzig- artige Stimmung einer Dichtung fühlt und nachſchafft, die verflgbaren Kräfte auf ihren Plab und in das rechte Verhältnis zu einander ftellt und den Protagoniften diefer Schar auf die Höhe feiner Leiftungsfähigfeit führt.

114

Der Gefamteindrud ift wieder ganz ſchablonenhaft. Das kann ein däntfcher „Egmont“ im bayrischen Erbfolgegeplänfel, dad muß weder „Wallenſtein“ noh Böhmen noch dad fiebzehnte Zahrhundert fein. Es wird bier feiner ſtlaviſchen Geſchichtsechtheit nach meiningifhem Mufter dad Wort geredet. Gemeint ift die Stimmungsechtheit, der fpezififhe Dunftfrei® des Schiller⸗ fhen Dramas. Auf einem finftern Zeitgrund male fi nicht nur der ver- mwegene Charakter ded Helden ab (den man Matkowsky ohne meiteres glaubt), fondern auch ein Unternehmen Fühnen Uebermutd. Im Schau- ſpielhaus wird der finftre Feitgrund durch duͤſtre Tapeten, mottige Bor- hänge und altersſchwaches Mobiliar verfinnlicht, wird der dreißigjährige Krieg zum dreißigtägigen Mandver verniedliht. Die Kuͤraſſiere im hoͤchſten Aufruhr find hier ein Fähnlein, dem Wallenfteind Mägde den Eintritt ins Haus zu wehren verfuhen. Aber wie foll man die Knechte loben, fommt doch das Ärgernis von oben! Soweit koͤnnte Herr Barnay nachgerade feine Pappenheimer kennen gelernt haben, um zu wiffen, wer von ihnen auf die lebendige Bühne, und wer ind Theatermufeum gehört. Bei diefen Terzky und Butler dürfte Unfchlüffigfeit nur daruͤber herrſchen, ob fie der präbiftorifchen Abteilung oder der Zeit der Kreuzzuͤge zuzuweiſen find. Andre werden durch ſyſtematiſch falfche Beſchaͤftigung gefchädigt. Herr Staege- mann bat innerlich nichts flr einen liebenden Krieger, Fräulein Wachner nichts für eine „Sentimentale”, Jener ift ein vollendeter Caſſio, diefe eine Fäftliche Edrita. So müffen fie Mar und Thefla alles fchuldig bleiben. Fräulein Lindner bat feinen Geiſt und Feine Schärfe. Darum fpielt fie die Terzfy, ald ob Frau Poppe an einem andern Theater befchäftigt wäre. Gewiß, ed ift im einzelnen erfreulich, daß Herr Patry den Wrangel als einen Menfchen, nicht ald eine danfbare Charge anfiebt; daß Herr Sommer- ftorff aus dem beliebten Deklamationsſtuͤck des ſchwediſchen Hauptmanns den ganz fchlichten Bericht eines ergriffenen Augenzeugen von adligfter Abfunft macht; daß Herr Kraußneck den Octavio von jedem Intrigantentum fern- balt; dag Vollmer den Iſolani felbft in einer einzigen kurzen Szene un« feblbar umreißt und ausflllt. Aber aus alledem wird feine Einheit. Es ift ein Konglomerat fämtlicher Stile, ein Gemiſch der verfchiedenften Techniken. Jeder ftebt flir ſich, und doch darf nur Wallenftein für ſich fteben.

Es wäre ein Irrtum von Matkowsky, daraus zu ſchließen, daß er feinen Negiffeur braucht. Die Diftanz zu den andern ift fir feinen Wallenftein allerdings mit der lberragenden Größe feine® Talents von vornherein ge- geben. Aber diefed ungeheure Talent könnte, ganz fuͤr fi genommen, reiner wirken, Es bat Schönbeitäflede, die ed felbft nicht bemerft, auf die es alfo auf den Proben hingewiefen werden müßte. Auc von Matkowsky würde Caeſar fagen: „Er denkt zu viel; die Leute find gefährlich.” Diefer Schau-

115

fpteler ift ja fein ſtimm⸗ und ftaturbegabter Draufgänger, fondern ein Grübler, der gewiffenbaftefte Arbeiter. Andre fogenannte denkende Schaufpieler machen aus der Not an Mitteln oder an Urfprünglichkeit eine Tugend, wenn fie denfen (freilich haͤufig nur denken, fie feien Schaufpieler). Matkowskh ift einer, der denft und gleichzeitig die Ergebniffe diefed Denkens in Blut und Reben umfegen kann. Das ift fein gewöhnlicher Fall, und damit die Bäume nicht in den Himmel machen, wird der vollfommene Ausgleich nur felten erreicht. Hier hätte ein Regiſſeur einzufegen. Er hätte zu verhindern, daß ein Zuviel an Ausdruck fih um ein Zuviel an Gedanfen bemüht; daß, im befondern Fall, Matkowsky den Wallenftein für tiefer und fchwieriger nimmt, ald er ift. Diefe Überſchaͤtzung der Figur bat die Geftaltung ded Schau- fpielerd gefhädigt. Matkowsky hat den guten Geſchmack, jedes Wort der Rolle, dad Gentenz geworden tft, wie zufällig gefunden binzumerfen. Da er nie naturaliftifh im fhlechten Sinne werden kann, da in feinem Munde auch der nebenfächlich behandelte Vers feinen Rhythmus und fein Feuer behält, brauchte er die meilten andern Verfe nur gerade nicht nebenfächlich zu be» bandeln, um fie ganz zu ihrem Recht zu bringen. Das tut er aber nicht. Er bält viel zu viele flr munder wie gebaltvoll und aufichlußreich, wendet fie bin und ber und ſucht überall eine Bedeutung herauszuheben oder doch bineinzulegen, Daß ift die Ausſchweifung feines Geifted. Davon erholt er ſich ab und zu durch eine Ausſchweifung feiner Mittel, wie um feftzuftellen, ob fie noch da find. Dann ftampft er auf, fchlägt fich an die Stahlbruſt, bligt mit den Augen, donnert mit der Stimme und wirft genau, nie ein Gewitter wirft: befreiend, wenn die höchftgefteigerte Temperatur es notwendig gemacht hat; beängftigend, wenn ed aus beiterm Himmel fommt. Wieder wäre ed Sache des Regiffeurs, die zweite Art Gewitter abzuwenden. Sonſt bat er ja feine Arbeit mit diefem Wallenftein. Er ift ganz unaudgeglichen, aber er ift in den Grund» zuͤgen getroffen. Er ift weder zu patbetifh noch zu gemütlich, weder ein Haus⸗ noch ein Heldenvwater. Er bat das Alter des hiftorifchen Wallen- ftein, der mit einundfünfzig Jahren flarb, ift alfo noch gewaltiger Aus⸗ brüche von Matur aus, von feiner myſtiſch gehobenen Natur aus, fähig. So und Terzky haben ihm zugeredet, vom Kaifer abzufallen. Er zaudert noch. Der Oberft Wrangel bat feine proteftantifc farge Beredfamfeit auf» - geboten. Wallenftein zaudert noch. Die Gräfin findet, nad) heißem Be- mühen, das Zauberwort: „Die Zeichen ftehen fieghaft hber dir, Gluͤck winfen die Planeten dir. herunter.” Da tft der GSternguder gepadt: „Geſchehe denn, was muß.” Er ift nicht im Buch vorgefchrieben, der prachtuolle Wirbel des Gefuͤhls, der Matkowsky an diefer Stelle efftatifch macht und ihn blind auf die Bahn des Verderbens treibt. Eine wahrhaft tragifche Verblendung. Der Fatalift beruft ſich noch einmal auf feine Abhängigkeit

1416

von den Geftirnen, wenn er fi) vor Mar Piccolomini, einfach, würdig uud beftimmt, zu rechtfertigen fucht. „Wir handeln, wie wir muͤſſen.“ Zum dritten Mal hören ed Illo und Terzky in der Erzählung von der luͤtzener Schlacht, daß die Sterne nicht lügen. Die berühmte Erzählung ift bei Matkowsky ganz frei von Manier und Auslegungseifer und vielleicht der Höhepunft feiner Leitung. Eine einzige Schönheit, diefer Traumbericht aus diefem Munde. Sonnenthal, der Nationalift, hat mehr berichtet. Mitter- wurzer, der Pbantaft, hat mehr geträumt. Matkowsky ift in fo engem Raum kaum jemals pfochologifc feiner und reicher geweſen. Er beginnt unaufdringlic; geheimnisvoll und gebt fchnell, ſchon nach drei Verfen, in einen fahlihen Ton über. Er ſchaͤmt fi doch, den beiden, die ihm ergeben und damit zugleih auch untergeben find, fein Herz zu offenbaren. Aber fchließ- lich ift ftärfer ald dieſes Bedenken der Genuß, in die Erinnerung an folh Erlebnis zu verfinfen. Er verfinf. Ein ſtumpfer Bli des Terzky oder Illos geöffneter Mund mag ihn ernüchtern. Er wird wieder fahlih. Und wieder übermannt ed ihn. In diefem Wechjel zwifchen fhambafter Trockenheit und vifiondrer Ergriffenheit gebt ed bis zum Schluß; nicht fo, daß man die Übergänge ſpuͤrt, fondern in einer fließenden Muͤhe⸗ tofigfeit, die bewundernswert ift. Diefer gläubige, nur flr und abergläubige Wallenſtein ift ein glücliher Wallenftein. Die erften Unheilöboten hört er mit hoheitsvoller Ruhe an. Ihm Fanın nichts gefchehen. Nicht früher, ald bis Octavio untreu wird. Da wanft der ftolje Bau zum erften Mal. Butler ift ein ſchwacher Troſt. Der Wallenftein, der wegſtuͤrmt, um für fein Haupt und für fein Leben zu fechten, will fih, in Matkowskys Dar- ftelung, zum Überfluß auch durd den uͤberlauten Ton feines Feldrufs an- ftaheln. Diefer Ton aus einem gebrochenen Herzen flingt hohl. Mit diefem Ton tft nichts mehr auszurichten. Micht bei den Pappenbeimern, vor deren der Ton zur Treuberzigfeit gezwungen werden foll und einen böfen Klang von verzweifeltem Demagogentum befommt. Nicht bei dem jungen Piccolomini, der Wallenftein anders hat loden hören. „Max, bleibe bei mir!” Sonnen- thal hat ed geweint. Mitterwurzer bat ed nervoͤs herausgeſtoßen, weil es ja doch feine Wirfung verfehlt. So fophiftifch ift Matkowsky nicht. Er fpricht ed Flar und feſt, mehr mit Stimm» ald mit Gefuͤhlsaufwand, unmerflich refigniert. Es ift zu Ende. Der Wallenftein des fünften Akts reckt ſich in alter Pracht noch einmal body, um dann den legendarifch langen Schlaf zu tun. Matkowsky wäre einer von denen, die ihn Daraus erwecken fönnten. Er hat die Teile in der rechten und das geiftige Band in der linfen Hand; aber er weiß beided noch nicht zu vereinigen. So ift fen Wallenftein vor- läufig fragmentarifh. Ohne die firengfte Selbftfritif oder eine uͤberlegene Regie wird er ed bleiben. Möchte ſich eins oder dad andre finden!

117

Puccini) von Hand Warbeck

nit der Aufführung von Puccinid „Tosca“ an der Komiſchen Dper in Berlin wird auf fürzere oder längere Feit der Verismo wieder lebendig werden. Man wird mit frommem Augenaufichlag feititellen, daß dieſes böfe Ding längft ab- getan ift. Man wird auch heuchleriſch binzufügen, daß fo 3 einer Erfindung recht gefchab, die um ein Baar dad ganze (höne deutfche Mufifdrama über den Haufen gerannt hätte. Alles das wird gefchehen. Es werden ſich auch, wie bei der „Bohẽme“, Leute finden, die da verfinden, daß Puccini ein „Zungitaliener aus der "Gruppe jener ift, die auf den Verismo ſchwoͤren“, daß er „eben nur dad kann, was die andern Jungitaliener auch koͤnnen“, daß dieſes oder jenes „ebenfo gut von Giordano, Mascagni oder Leoncavallo” fein koͤnnte. Diefen Herrſchaften, die leichtfertig uͤber eine ihnen nicht geläufige Sache ein Urteil abgeben, muß man endlich fagen, daß fie gründlich irren. Puccini kann alles das, was man ihm vormwirft, weder fein noch tun, aus dem fehr ein- fachen Grunde, weil nicht Masdcagni, fondern er fozufagen der Erfinder ded Verismo ift, weil die ganze „Cavalleria Rufticana”, das angebliche Scuibeifpiel des Verismo, dad am 17. Mai 1890 in Rom feine Urauf- führung hatte, in Puccinid Erftlingdwerf „I Villi“ fteht, dad am 31. Mai 1884, alfo genau ſechs Jahre vor der „Cavalleria”, in Mailand auf der Bühne erfchien. Daß der ganze Zufchnitt der beiden Werfe genau überein- ftimmt, mag noch hingehen. Hier wie dort gibt ed zwei Bilder, die durch ein Intermezzo sinfonico (mit einem Chor hinter der Szene) von einander getrennt find. Dieſes Intermezzo ftebt, wie feine berlihmte Nahahmung, in F-dur, bewegt fi) im Dreivierteltaft und bat diefelbe dynamiſche An- ordnung: Anfang und Schluß im vierfahen Piano, in der Mitte der Forte Teil, Weiter find vorhanden ein Vorfpiel, dad dem der „Cavalleria“ wie aus dem Geficht gefchnitten ift, ein Trinkchor, der dad treue Vorbild flr das gleiche Stüd bei Mascagni geliefert hat, eine Szene und Romanze, die man ohne Aufſehen in die „Cavalleria” einfuͤgen fünnte, zwei große Duette, die den beiden dramatifhen Höhepunften Santuzja-Turriddu und Santuzza-Alfio entfpredhen, endlidy eine Preghiera (Gebet), die der großen Kirhenfjene in der „Cavalleria” bis ins Fleinfte ald Vorlage gedient hat. Schlimmer ift fhon, daß all die ftiliftifhen Eigentimlichfeiten, die bef Mascagni fo hei bewundert wurden, fämtlicd von Puccini vorausempfunden find. Micht in der „Cavalleria”, fondern in den „Billi” tauchen zum erften Mal die Abfonderlichfeiten auf, die feitdem ald dad Merkmal jung- italienifher Mufif gelten. Der leidenfchaftlide Schwung der Melodie, die fraffe Harmonif mit ihrem jähen Wechfel von Dur und Moll, das brutale, vor gewaltfamen Erplofionen nicht zurucſchreclende Orchefter, dad donner- gleihe Herabftürzen der Pofaunen im Unifono, die Fortiſſimo⸗Fermate auf dem Mebenfeptimenafford, die reichliche Verwendung des Kirchenſchluſſes,

118

und andres mehr. Puccim iſt alfo nidyt einer unter vielen, fondern der Bahnbrecher einer Kunftrihtung, die unter allen Umftänden mit Reſpekt zu behandeln ift.

Umfo mehr, ald fie in der Entwidlung der italienifhen Muſik ihren feften Plab bat. Mad der „Aida” ift die alte Nummernoper erledigt. Wagners Mufifdrama fteht vor der Tür und begehrt ftürmifh Einlaß. Verdi felbft bat nicht mehr die Schwungfraft und die Friſche der Melodie, um die zweite große Ummandlung feines Stild vorzunehmen. „Dtello“ und „Falſtaff“ find bewunderungdwiürdige Leiftungen eined gefegneten Alters, aber mitleiderregend für den, der einen alten Dann mit Gewalt fi in eine ihm durchaus fremde Form zwängen ſieht. Pondielli, deffen „Gioconda” viel ſchoͤne und ausdrucksvolle Muſik birgt, fllichtet in feiner Angft zurück zu Meyerbeer. Boito, der die beiden Teile des Goethefchen „Fauſt“ zu feinem grinjenden „Mefiſtofele“ verarbeitet, hat nicht viel Eigenart aufzugeben, um ſich dem gläubig angeflaunten und fchleht verftandenen Zauberer von Bayreutb willenlos zu eigen zu geben. In diefe Luͤcke fpringt Puccini mit feinen „Billi”, einem Zwitterding zwiſchen Oper und Ballet (»Opera Ballo«), das noch umficher im Ausdruck ift, im Keim aber bereits die Züge enthält, die ſich feitdem zu einer perfönlichen, fpesifiih Puccinifchen Mote verdichtet baben. Er ftellt einen Ausgleich ber zwilchen dem dramatiſchen Ausdrud des Wagnerſchen Mufifdramad und der finnlihen Melodienfreudigfeit der itafienifhen Oper. Bon Wagner nimmt er die größere Beweglichfeit und Knappheit ded charafterbildenden Themas, die Freiheit und den Reichtum der Harmonie, den Erfag der fimpeln, in Afforden jchreitenden oder monoton dudelnden Begleitung durch das intimscharafterifirende, polyphone Orchefter. Die Heimat gibt ihm die Luft an der fchwelgenden, uͤppig gefhmwungenen Melodie, die Scheu vor der breiten Nedfeligfeit und den dramatifchen Atem, der wie ein glübender Hauch das Werf durddringt. Die Frucht dieſes mufifalifhen Bündniffes ift im hoͤchſten Grade bemerfenswert. Puccini fhmeichelt dem Gefühl mit finnlihen Klängen und befriedigt gleid)- zeitig den Verftand durch die Wahrheit ded Ausdrucks. Sein Orchefter Elingt reih und voll, ohne darüber die Klarheit und Durchſichtigkeit zu verlieren. Seine Harmonik verblüfft, figelt, berauſcht, martert, aber man findet fi) nod in ihr zurecht. Bor allem: er wird fertig, Seine Mufif bat Schwung, Schmiß, verheddert ſich nicht, bat für den fchlagenden Gedanken ftetd dad treffende Wort. Dazu fommen ganz beftimmte Wen- dungen und Ausdrudöformen, die auch der weniger Geübte fofort ald echt Pucciniſch erkennt. In erfter Linie Lyriker, Erotifer, gibt er fein Beftes, Eigentümlichftes in langjamen Sägen, die eine verbaltene Leidenfchaft, eine järtlihe Hingebung, einen ftillen Schmerz oder eine jaͤh auflodernde Glut ausdruͤcken. Seine Töne find ebenfo echt und unmittelbar empfunden in ſchlichten Gefängen zum Beifpiel in der Nomanze ded Des Grieur in „Manon Ledcaut“, dem Liebeöthema im eriten Aft der „Bohéme“ und der berühmte Canzone im dritten Aft der „Todca” wie in leidenschaftlich

119

beraudgefchleuderten Phraſen und in Fleinen Liedern, die fill vor ſich hin— weinen. Hier bat er einen feftitebenden Typus beraudgebildet, der in allen Opern gleichmäßig wiederkehrt. Mag Manon fagen: „Ab, in den Falten Spiten bier herrfcht nur Pracht“, mag Nudolf Flagen: „Wie eiskalt ift dies Händchen, laßt, ih mache ed Euch warm“, oder Todca in Mario dringen: „Merfe, gleich bei der Salve vergiß nicht zu wanken“, immer ift ed die— felbe Mufif, eine gleihmäßig fchwebende Melodie uͤber einer leife pochenden, fonfopierten Begleitung. Fuͤr durchaus beitere und grazidfe Stüde hat der robufte Sohn Toscanas nicht das leichte Blut. Doch find das Madrigal in „Manon Lescaut“, die Künftlerfjenen in der „Boh&me” und die Gavotte in „Zosca” ein paar feine, lieblihe Nummern. Die Enfembles, die in den „Billi” und dem darauf folgenden, halb verfchollenen „Edgar“ noch recht primitiv find, geminnen von „Manon Lescaut” ab an Yeben und Neichtum ded Aufbaus. Die Auslofung der Gefangenen in „Manon Lescaut”, das große Quartett im dritten Aft der „Boheme“ und das Tedeum in „Tosca“ zeigen bei ungefhwächter Erfindungäfraft eine wachſende Sicherheit in der Beherrſchung der Saptechnif.

In feinem jüngften Werf „Todca” ‚Madame Butterfly”, ein japanifches Mofterium, babe ich nicht zu Geficht befommen ift Puccini weit über dad hinaudgegangen, wad im Bereich feiner urfprünglichen Begabung liegt. Waren die Heldinnen feiner fribern Opern meift folhe Schönen, auf deren lächelndes Dafein der Tod nur einen milden, verſoͤhnlichen Schimmer warf Manon Lescaut und Mimi fo ift Tosca ein Gefäß der wildeiten Leidenfchaften, ein Weſen, das durch rauchendes Blut fehreitet, eine dunfel leuchtende Erfheinung, die nacheinander edle Liebe weckt, brennende Eiferfucht fpürt, rafende Glut ſchuͤrt, mordet, tröftet, aufrichtet und zum Schluß ihren blühenden Leib auf den Steinfliefen der Engelsburg jerfchmettert. Der erfte und dritte Aft bewegen fi) ungefähr auf der mittlern Empfin- dungölinie von „Manon Fescaut” und „Boheme”. Nachdem dad Ordefter dad Scarpia- Motiv angefhlagen bat, ift dad Portal geöffnet zu einem Tummelplag bald drolligebehaglicher, bald zart-empfindfamer Themen. Der Meßner trollt mit einem grazidfen Secdachteltaft herbei. Der Maler Cavaradofii führt ſich mit einem kurzen ſchwungvollen Ariofo ein, in das der Meßner fein mißgünftiges: „Es ift abfcheulich, nichts ift ihm heilig” wirft. Das Liebesduett mit Tosca bringt neben kleinern bedeutungsvollen Themen zwei große durchgehende Phrafen, die zarte, bingebende As-dur- Melodie, die im zweiten Aft ald Gebet in Es-dur wiederfehrt, und das fhmeljende E-dur-Thema mit der Parallelmendung zu dem Duett Santuzza⸗ Turriddu aus „Cavalleria Rufticana”. Das Tedeum zum Schluß des erften Akts iſt dann mit dem uͤblichen Mitteln beforgt. Schweres Glockengelaͤut über einem ftampfenden DOrchefter, der Chor halb pfalmodierend in litur— gifhen Intervallen, über ihn hinwegftrahlend Scarpia im Siegesgefuͤhl feines nahen Triumphes. Auch der dritte Aft, obwohl er die ſchaurige Kataftropbe bringt, entfernt fi nicht allzu weit von dem Gefuͤhlszentrum der Pucciniſchen

120

Mufif. Den Aft eröffnet die traurige Weiſe des Hirten, uͤber die dad Orchefter ein paar bligende Quintenfolgen ſchuͤttet. Die zweite Erhebung ift die todes- ahnende Canzone, die in ein Liebesduett von unbefchreiblihem Wohlklang mündet. Die Schlußfjene vollzieht fih in atemraubender Schnelligkeit. Fortiffimo in drei furzen, erfhütternden Schlägen das Scarpia-Motiv. Dann mit Außerfter Vehemenz in der Vergrößerung dad Thema der Canzone. Sclußafford in Es-moll. Ganz anders der zweite Aft, der eine ununter- brodhene Eraltation der Situationen und Gefühle iſt. Verhaftung, Folter, Vergewaltigung, Mord, Leichenfeier: fein Plätchen, wo fid) die gemarterte Seele auch nur einen Augenbli ausruhen darf. Für lyriſche Ergüffe ift in diefer Hochflut der Ereigniffe feine Gelegenheit: nur während des innigen Gebetd bricht für wenige Minuten ein fanfter Lichtftrahl durch die jagenden Wolfen. Auf den atemlofen Bericht ded Polizeifpigeld Spoletta folgt im fchmeichelnden Sechsachteltakt die heuchlerifche Einladung Scarpiad, die fo- fort in dad wuͤtend losfahrende D-moll umfchlägt. Diefe galante Phrafe, in der Scarpia die innere Glut hinter der Maske der glatten Höflichkeit verbirgt, fehrt noch einmal, um einen halben Ton in die Tiefe transponiert, wieder. Hier benachbart von dem furiofen Nachegefang Cavaradofjid und der fehr charakteriftifch in die Sechſte auffteigenden Triolen-Fanfare, die bis zum Schluß in dem Gemühl der Motive die Oberhand behält. Puccini ift in diefem Aft von einer Kraft, die man dem feinnervigen Former ſuͤßer Maͤdchenſchickſale nicht zugetraut hätte. Schlag auf Schlag folgen die Themen. Die Mufif fchmiegt fi) eng der Handlung an, die fich nicht in logifch geordneten Gliedern, fondern in wilden Erplofionen vollzieht. Troß- dem ift -Struftur und Schattierung in dem Ganzen, danf Puccinis heißem Empfinden und der Schwungfraft feines Geiftes, der „ala“, in der kurz⸗ fichtige Kritifer nichts wittern, ald die Schablone, das Cliché.

Die „Tosca”-Aufführung in der Komiſchen Oper ift vollendet. Voll des Föftlichften Neizes find die Blhnenbilder. Das Innere einer Kirche, das über fein veräfteltes, von Kerzen gefröntes Gitterwerf den Blick in ein bimmelblaues Gewölbe geftattet. Das originell geftellte Zimmer im Palazzo Farnefe, das die ſchwelgeriſche, uͤppig⸗verruchte Luft italienischer Paläfte aus» ftrömt. Die Plattform der Engelöburg mit der Fernficht auf den Peters- dom, der zuerft im tiefften Halbdunfel liegt, um dann fpäter leuchtend aus einem vrangefarbenen Himmel hervorzutauchen. Darlıber die funfelnden Sterne, die, unbeirrt um Menfchenfchidfale, ruhig ihre Bahn ziehen. In diefem audgefuchten Rahmen fingt eine junge Stalienerin die Tosca, die bald zu den berühmteften Namen rechnen wird. Maria Labia, eine Künftlerin vol Liebreiz in der Erfcheinung, voll Charme in der uͤppig quellenden, gut tragenden, meifterlic gebildeten Stimme, voll Treffjicherbeit und natürlichem Scharffinn im Spiel. Sie tft der Erfolg der Oper, die mit der Tosca fteht und fallt. Ste mildert die entfeglichen Nobeiten des Stoffes, ver- edelt die wilden Inftinfte, die hier einen wahren Herentanz vollführen, und macht einen Charakter glaubhaft, über den man im Schaufpiel gelacht hat.

121

Der Traum ein Reben] von Egon Friedell

—r einiger Zeit ſah ich am muͤnchner Hoftheater eine Neu⸗ inſzenierung von Grillparzers „Traum ein Leben“. Dieſe Aufführung zeigte, wie ich glaube, dasfelbe, was die des wiener Hofburgtheaterd gezeigt bat, und was wohl alle bis⸗ berigen Auffuͤhrungen diefes Stuͤckes gezeigt haben dürften: naͤmlich wie man diefed Stüd nicht infjenieren darf, wenn man feiner Idee gerecht werden will.

Der „Traum ein Leben“ leitet fih aus zwei Quellen ber: aus der Traum» und Zauberromantif der Calderonbühne, mit der fi Grillparzer eingehend befchäftigt hatte, und aus der Tradition des leopoldftädter Theaters, deren marfantefter Vertreter Ferdinand Raimund war, und auf welche die Worte des Goetheſchen Schaufpieldireftord paflen: „Vor allem aber laßt genug gefhehn! Man kommt zu fchaun, man will am liebften fehn .. . Drum fohonet mir an diefem Tag Proſpekte nit und nicht Mafchinen! Gebraudt das groß und Fleine Himmeldlicht, die Sterne dürfet ihr ver⸗ (wenden; an Wafler, Feuer, Felfenwänden, an Tier und Vögeln fehlt es nicht.” Nun beftebt aber zwifchen Grillparzer und Raimund ein fehr wefentliher Unterſchied, naͤmlich fein andrer ald der, daß Grillparzer nicht blos ein Dichter war, fondern bereitd ein Dichter in unferm modernen Sinne, das heißt: ein Pſycholog. Es war daher gar nicht anderd möglich, ald daß fi) in der Anſchauung Grillparzers diefer zunächft auf ganz aͤußerliche Draperie- effefte und grobe romantifhe Unmahrfcheinlichfeiten geftellte Stoff völlig ver- änderte und zu einem echten Traumſtuͤck geftaltete, dad vom Traum nur die freiere Kaufalität und die größere Farbigkeit behielt, im Übrigen aber die pſychologiſchen und pbyfiologifhen Geſetze des Traumlebens in oft be= wunderungswirdig feinen Detaild wiederfpiegelte: jeder Menfch, der lebhaft träumt, muß von diefer Schärfe und Subtilität der Beobachtung uͤberraſcht und entzüuct fein. Es ift num die Aufgabe der Bühnendarftellung, auf der einen Seite diefe Einzelheiten zur finnfälligen Anfhauung zu bringen und da und dort, wie ed die Technif ded Theaters verlangt, noch ftärfer zu unter» ſtreichen, auf der andern Seite den Gegenfag zwiſchen der Wirflichfeit des erften und legten Teild und dem Traumgefcheben der übrigen Partien in ein möglihft hohes Relief zu bringen.

Vergegenwärtigen wir und furz die Handlung, wie fie fih dem unbe- fangenen Zufchauer darzuftellen bat. Ein junger Menſch, namens Ruſtan, lebt mit feinem Obeim, feiner Baſe und feinem Negerjflaven irgendwo in einer zeitlofen orientalifhen Gegend. Das Landleben genügt ihm nicht; fein Ehrgeiz und feine Tatenluft, durch temperamentvolle Einflüfterungen des Negers angeftahhelt, begehrt andre Aufgaben, und er will fort. Zunaͤchſt ift hier zweierlei wichtig. Erftend: es handelt fid) um einen ganz undifferen- iterten jungen Menfhen und einen ebenfo undifferenzierten Schwarzen. Zweitens: ed handelt fih Überhaupt um Bauern. Maffud ift ein Eluger,

122

alter Bauer, Ruſtan ein unfluger, junger Bauer, Zanga ein ſchwarzer Natur- burſch und Mirza einefandpommeranze. Nun gebt ja gewoͤhnlich die Theater- regie von der Idee aus, daß Koſtuͤmmenſchen unter allen Umftänden hoͤher⸗ organifierte Menfchen fein müffen. Es läßt fi) aber fein vernünftiger Grund daflır angeben, warım Menſchen deshalb, weil fie unmodern ans gezogen find, ſchon edlere Gefhöpfe fein ſollen. Es liegt gar feine ftiliftifche Unndglichfeit darin, Ruſtan und Zanga derb und ungehobelt, Maffud nlıchtern und troden, Mirza fentimental und gewöhnlich handeln und reden zu laffen. Hierin liegt eben das Problem und die Aufgabe der modernen Scaufpiel- funft, und der Grillparzerfhe Trochaͤus, der ein viel realiftifchered Versmaß ift als der Schillerſche Jambus, erleichtert dieſe Aufgabe. uͤberhaupt iſt der Sprache Grillparzers im allgemeinen keine allzu große Wichtigkeit beizulegen. Er war viel zu ſehr Dramatiker, um der ſprachlichen Ausfeilung uͤbertriebene Sorgfalt zu ſchenken. Saͤtze wie: „Waͤhnſt Du, mich zu uͤberzeugen, und kannſt es Dich ſelber nicht?“ koͤnnten von Buſch ſein. Haͤtte er nicht im Bann der damals noch alleinherrſchenden klaſſiſchen Überlieferung geftanden, fo hätte er vielleicht den Mut gefunden, Die Szenen ded „Lebens“ im Gegen- fag zum Traum in Profa zu fchreiben. Gewiffe geſchwaͤtzige Zugeftändniffe an den Zeitgeſchmack follte man allerdingd überhaupt fallen laſſen, was freilich) von der Eitelfeit des Schaufpieler8 ein großes Opfer fordert. (Diefes Opfer brachte in München der fünftlerifche Taft Albert Heines, der lıber die Schlachtenerzählung Zangas völlig binmwegglitt und aus einem rhetorifchen Paradeſtuͤck eine ganz naturaliftifhe Bramarbaſiererei madıte.)

Ruſtan erbittet fich Urlaub vom Oheim und erhält ihn fchließlih. Zur legten Nachtruhe in der beimatlihen Hlitte ftredt er ſich aufs Ruhebett. Harfentöne erflingen, und von draußen hört man einen ſchwermuͤtigen Gefang. In diefem Moment vermifchen ſich Wirklichfeit und Traum. Es tritt der phyſiologiſche Zuftand des fogenannten „Vortraums“ ein, in dem man zwar noch eine Empfindung fir die Vorgänge der Außenwelt bat, aber das fichere KRaufalitätögefühl bereits verliert; denn die inneren Phantafiebilder und die empirifhen Vorftellungen beginnen ſich bereitd zu vermifhen. So vermifcht ſich bei Ruftan der Gefang ded alten Dermifches mit eigenen Gedanfen und Melodien. Hierauf tritt jedoch etwas Furchtbares ein. „Zu des Bettes Häupten und Fuͤßen tauchen zwei Knaben auf. Der eine, bunt gefleidet, mit verlöfchter Fackel; der zweite in braunem Gewande, mit brennender. Über Nuftand Vett hin nähern fie einander die Fadeln. Die ded Bunt- gefleideten entzündet fi, der dunkle verlöfcht die feine gegen die Erde.“ Gleichzeitig oͤffnet fi) die Hinterwand, und man fieht die Deforation des zweiten Aftes.

Diefe beiden furdtbaren „ſymboliſchen“ Marionetten find aus der Me- quifitenfammer des Leopoldftädter Theaterd. Sie follen offenbar darauf aufmerffam machen, daß jegt der Traum beginnt. Daß fie diefen Zweck nicht erreicht haben, erfahren wir von Laube, der vom wiener Publifum erzählt, es fei erft im vierten Aufzug hinter den wahren Sachverhalt ge=

123

fommen, und diefed Publitum trogdem „raſch auffaflend” nennt. Nimmt man nun an, daß dad Publifum anderömo ebenfo raſch auffaßt, jo find die beiden Puppen nicht nur gefhmadlos, fondern auch überflüffig.

Ich glaube, daß fi) die Aufgabe folgendermaßen löfen ließe. Ruſtans Nubebett fteht ganz vorn an der Rampe; die Bühne ift nur dur ein Nachtlicht erhellt. Nach dem Gefang verlifcht diefes Licht, und das Ruhe⸗ bett liegt nun in völligem Dunkel. Der mittlere und hintere Teil der Bühne beginnt aber wieder langfam beller zu werden, und aus Nebelſchleiern (die Grillparzer felbft ſchon vorfchreibt) Löft fi ch allmaͤhlich das Bild des zweiten Aftes: Felsſtucke, mächtige Baͤume, und im Hintergrund der Bergftrom mit der Bruͤcke. Über die Bruͤcke fommen Nuftan und Zanga und verfchwinden nad) rechts. Mach einer Weile betreten fie von linf8 vorn wieder die Blihne, die inzwifchen vollfommen hell geworden if. In diefem Augenblick bricht die Mufif mitten im Takt jaͤh ab, und der zweite Aft fchließt fi) unmittelbar an. Died ganze Verfahren erfcheint mir berechtigt, denn Nuftan träumt nicht blos Zanga, den König, Guͤlnare und alle andre, fondern auch ſich felbft. Zur vollendeten Deutlichfeit Fönnen die Traumfzenen hinter einem fhwarzen Bühnenrahmen gefpielt werden. Nach dem zweiten und dritten Akt fällt ein Schwarzer Vorhang.

Was die Traumfzenen felbit betrifft, fo müßten fie doch wohl im fchärfften Kontraft zu den übrigen Szenen fteben. Hier foll deflamiert werden, auch follen alle Figuren größer erfcheinen ald fonft und möglichft phantaftifche, bunte, fliegende Gewänder tragen. Die Gebarden müßten etwas Stilifiertes, Weitausladendes, Drohended haben. Nicht blos der Mann vom Felſen, der faft allgemein jo gefpielt wird, fondern alle Figuren find Schredfgefpenfter. Daß der König und Maſſud diefelbe Figur find, fcheint mir erwielen; im Grunde deden fih auch Mirza und Gülnare; da aber Mirza auch wieder jene Sklavin ift, die im vierten Aft lautlo8 über die Bühne gebt, jo muß man wohl auf jene erfte Jdentität ald die unwichtigere und auch viel Außer- lihere verzichten. Wird nun der König vom Darfteller des Maffud gefpielt, fo muß er feine dußere Erfcheinung nicht blos im Koſtuͤm verändern. Hat Maffud etwa einen ganz gewöhnlichen weißen Bart, fo müßte der König einen ungeheuer langen, wallenden, erotifchen Bart haben, etwa in der Art ded Mofed von Michelangelo. Und in ähnliher Weife müßte auch Zanga in Spiel und dußerer Erfcheinung wechfeln. Im legten Aft verwandelt er fi) ja in den leibbaftigen Teufel.

Was dad Szenifhe betrifft, fo wären die Kuliffen und Profpefte des Traumes gleichfalls in möglichft foloffalen, grellen und ftilifierten Formen zu halten. Auch würde es, wie ich glaube, nicht im geringften flören, wenn die Bühne während ded ganzen Traums felbft wo Tagbeleuchtung fein foll in ein fahles, unheimliches Dämmerlicht getaucht wäre, etwa in der Art, wie die Mittagöbeleuchtung bei der Sonnenfinfternid im Sommer 1905 in unfern Gegenden war. Es ift Tag und dody nicht Tag. Ferner follte das Auf» und Abtreten der Perfonen mebr den Charafter des Auftauchend

124

und Verſchwindens tragen, was am fchönften und täufchendften dadurch zu erreichen wäre, daß die Bilder der Schaufpieler durch Spiegel auf die Bühne geworfen würden, eine Sache, die freilich ebenfo Foftfpielig wie technifch ſchwierig wäre. Sedenfalld aber darf die Alte im dritten Aft nicht einfach abgeben, fondern muß auf irgend eine abfonderlihe Weife von den Kalten ded Bor- bang verſchlungen werden. Auch die Becherjjene müßte breit audgefponnen werden. Sedermann bat ſchon im Traum die Erfahrung gemacht, daß er irgend einen toten Gegenftand abfolut nicht zu faffen befam, weil diefer ihm immer wieder felbfttätig davonlief. So darf aud der Becher dem Ruſtan nicht einfach entgleiten, fondern muß, binter der Szene gelenft, tatfächlich vor ihm davonrennen.

Bon größter Wichtigfeit ift die Szene, in der die Uhr drei fchlägt, eine Sklavin (Mirza) vorbeigeht, und Ruſtan einen Moment lang weiß, daß er träumt: eben jene Szene, bei der das wiener Publifum „raſch begriff”. Es handelt fi) hier um einen Augenblict des Halbſchlafs und zugleich um eine Erfcheinung, die jeder Träumende fennt, nämlich, daß man mitten im Traum fi) jagt: ed iſt alles nicht wirflih. Wleibt nun das Ruhebett, in Dunfel gehuͤllt, während des ganzen Stüdes, vorn an der Rampe ftehen, fo ließe fid) die Sache vielleicht fo löfen, daß Ruſtan nad vorn fommt, nachdenklich auf dad Nuhebett zuruͤckſinkt und die folgenden Worte (während der Reit der Bühne vorübergehend in duͤſteres Daͤmmerlicht finft) in einer Art von fomnambulem Zuftand vor fi binmurmelt. Gleichzeitig erfcheint Mirza im Koſtuͤm einer Sklavin von rechts mit einer Campe und fchreitet langfam uͤber die ganze Bühne nach links. Jene folgende kurze Zwiſchenſzene da- gegen, in der Mirza dem Maffud über den unruhigen Schlummer Ruſtans ihre Beforgniffe äußert, ift nicht nur entbehrlich, fondern auch ftörend, denn fie zerreißt die Einheit der Traumbhandlung.

Es folgt die legte Traumfzene und das Erwachen Ruſtans. Dies koͤnnte vielleicht folgendermaßen gefpielt werden. Zanga: „Dort hinauf, dort nur ift Rettung, bit umfponnen, fiebft Du? Feinde!” Won der linfen Seite binten tauchen verſchwommene Geftalten mit Fadeln auf, die, bald verbüllt, bald zucdend beleuchtet, ametjenartig durcheinanderwimmeln. Dazu beginnt eine mißtönige Muſik, die bald zu ſchrillen Fanfaren anſchwillt, bald zu einem unbeimlichen Gemurmel herabſinkt. Ruſtan: „Zangal” Er eilt nad links ab. Von der rechten Seite binten erfcheinen ähnliche Geftalten mit irrlichterartigen Fackeln. Gleicyzeitig finft der Vordergrund in immer ftärferes Dunkel. Zange: „Nur die Brüce frei noch!” Ruſtan hat die Brüde betreten. Der Vordergrund der Bühne wird ganz finfter, und auch der Hintergrund huͤllt fi im nebliged Halbdunfel, Nur die Brüde und der Flug werden vom fahlen Mondlicdyt voll befchienen. Zangas Stimme (aus der Tiefe und wie aus weiter Ferne): „Willſt Du fallen von des Henkers Hand, ein Feiger? Nun ftehit Du am rechten Plage! Stürz hinab Did) in die Fluten, ftirb ald Krieger, fall ald Held!” Die Schatten (indem fie immer näher berandrängen, murmelnd): „Gib Dih! Gib Dih!” Ruſtan

125

wirft die Arme in die Luft und ftürzt fi in den Strom. Eine rote Flamme ſchlaͤgt zifchend auf, und das Orcheſter markiert einen Donnerſchlag. Die furze Zimmerdeforation des erften Aftes fällt Fnatternd vor. Der ſchwarze Blhnenrahmen verſchwindet. Die Mufif gebt in eine volfäliederartige Weiſe Motiv des alten Kaleb über. Die Nebel lichten fih, und man blicft in da8 Innere der Hütte. Ruſtan, der von feinem Lager herabgefallen ift, liegt auf dem Boden. Durchs Fenfter fallt die erfte Morgenröte.

Died alles find natürlid nur ganz grobe Umriffe. Eine Snfjenterung aber, die einesteild den Gedanken des Stückes wirklich Förperlic zur Er- fcheinung bringen, anderdteild den Anforderungen der modernen Theater- pbantafie entſprechen will, wird fich wohl in diefer Nichtung bewegen müıffen. Man mag einwenden, daß eine derartige Inſzenierung große Koften und technifche Schwierigfeiten bietet. E8 gibt aber nur diefe beiden Möglich- feiten: entweder man lberläßt dad Drama der Leftüire, die immer nicht nur das Billigfle, fondern auch das Phantafievollfte ift, oder man wird der Illuſion des Zuſchauers gerecht. Wenn Shafefpeare fit unbefchadet der dramatifhen Wirfung mit Tafeln bebelfen fonnte, und wenn noch vor dreißig Jahren ein Theaterzimmer, ohne den Zuſchauer zu ftören, aus drei Fein- wandſtuͤcken befteben durfte, fo find dennoch derartige Möglichkeiten, felbit wenn fie für die lebendigere Pbantafie und den reinern Kunftfinn des damaligen Publifums fprechen, heute völlig undisfutierbar. Unfre Theater- organe find nun einmal auf die moderne Illuſionsbuͤhne eingeftellt, und dies iſt eine phyſiologiſche Tatfache, mit der nicht zu rechten, fondern zu rechnen if. Es ift beute unmöglich, bei der Darftellung von „Traum ein Leben“ auf eine vernußte Zauberpoffenregie zuruͤckzugreifen.

Momentbilder von fremden Schaubühnen Bibelbillil von Hanns Heinz Emers

© AA tundenlang durch die Bowery.

Itreibt der Wind durch dieſes ungeheure Getriebe, durch dieſe BEREIT önende, rafende Welt aus Eifen, Stein und Fleifch.

Ein Träumer in der Rieſenmaſchine Manbattan.

Wenn die Augen müde werden von den flutenden, immer wedfelnden Bildern, wenn die Ohren den bunten Lärm von taufend Geräufchen nicht mehr ertragen mögen, fllichte ich eine Weile. Gebe in ein Kinematographen- theater an jeder Straßenede ift eind. Und die grauen Bilder tun mir wobl; ich träume und ladye uͤber die Föftlihen Szenen, die gallifcher Wit erfand. Die Aufnahmen find aus Parid oder aus den Staaten, und immer

126

find die franzöftichen luftig und erfrifchend, und immer find die amerifanifchen wißlos, roh oder banaufifch-fentimental.

Auf der Strafe fteht eine Mufifbande: ſechs blonde Pfälzer in roten Huſarenroͤcken. Sie blafen unglaublich falfch, aber das ift der Menge, die fie umdrängt, völlig gleichgültig. Migger, Chinefen, Slovaken, Staliener, ruffifche Juden und Armenier ftehen herum und laufchen mit offenem Munde den Klängen. Und ein paar deutfche Matrofen mit der Hapagmuͤtze bruͤllen ſtolz die Worte mit: „Fu je—ee—ner Zeit warft du mein ganzes Leben, ich hätt ge—Flhüft die Spur von deinem Tritt —“

Einer von den pfälzer Hufaren bat feine Trompete auf den Ruͤcken gehängt und verteilt Zettel, rote, gelbe, grüne. Er lieft fie vor, laut fehreiend, in gräulihem Manfeetwang, miſcht auch wohl italienifche und tſchechiſche Broden binein. Den Matrofen bält er eine deutfche Nede:

„Berreinfpagiert! Die größte Äträffchen der Welt. Da vorne herein! Nur zehn Cents Entrend! Die befte Beioffop der Welt. Nummer eins: Überfall des Eifenbahnzuges bei Balvefton. Nummer zwei: Abenteuer des Muffid Fanfardou von Paris! Dann: der Traum der Blumenkoͤnigin. Zehn Nummern in jedem Programm! Eine Vorftellung nad der andern, den ganzen Tag und die ganze Nacht geöffnet! Der Bibelbilli am Schluße jeder Vorſtellung, der berlihmteBibelbilli! Die größte Aträffchen des Jahrhunderts!”

Ich bezahlte zehn Cents und fünf Cents dazu, um rauchen zu dirfen. Sc ſah noch die legte Mummer, eine föftliche parifer Szene, in der zehn Mädchen einen Mann verfolgen. Mit Zylinder und Gehrod, Monofel, Rohrſtock und Knopflohblume entflieht er atemlo8 den fügen Mädchen, die ihn durch Straßen und Wiefen, durch Wald und Feld verfolgen. Durd einen Bad) gebt die Jagd die Mädel find entzuͤckend an diefer Stelle fiber Mauern und Heden und fıber einen riefigen Heufchober. Ein dider Pausback ift dabei, der immer hinterher trottelt. Sie ift ftetd die lepte; fällt bin, fteht wieder auf, zerreißt ihr Kleid an den Dornen, verliert ihren Hut aber fie läuft mit, atemlos, aufgelöft, hinter dem Mann. Ich habe diefe Szenen in allen möglihen Varianten immer wieder gefehen und immer wieder gelaht

Es wird hell gemacht im Saal; auf dem Klavier am Podium fpielt jemand einen Pfalm. Ein glagföpfiger, Menſch, ald Küfter angezogen, drängt ſich durch die Neihen und verteilt Bibeln, die, verfhmußte, ſchwarze Bibeln. Der Kerl ſchnupft unaufhörlich, vielleicht meint er, daß das zu feiner Rolle gehöre; alle Bibeln tragen die Spuren davon.

Ein Mann ftolpert auf? Podium, rafiert, aber mit Stoppeln und Finnen in dem aufgedunfenen Geſicht. Lange, graue Snarfträpnen fallen ihm über die Obren ;erträgt die unkleidſame ſchwarze Tracht eines Noncorformiften-Predigers. Nur die riefige Patinanafe wirft, die ſchmutzigen Fleifhtöne rings weit uͤber⸗ fchattend, ald ein leuchtender Fleck in diefem farblofen Grau und Schwar;.

„Biblebillil Hallo Biblebillil Three cheers for Biblebillil“ rufen ein paar Freunde des Hauſes.

127

Bibelbilli dankt gemeffen, dann hält er eine Fleine Rede. Er erzählt, wo, wann und wie er von gottesfuͤrchtigen Eltern in die Welt gefegt wurde, behauptet, in der Sonntagsſchule immer der frommftefund tüchtigfte geweſen zu fein und niemals eine Gelegenheit, zur Kirche zu geben, verfäumt zu haben. Darum habe ihn aud; der HERRHERN gelobt fei fein Name! begnadet und ihm Kraft, Ausdauer und Geduld verliehen, Sein Heiliged Bud) aus: wendig zu lernen, wovon er gleich Proben abzulegen !bereit fei. Wenn ſeine Gott Vater, dem Sohne und dem Heiligen Geifte hoͤchſt wohlgefällige Kunft der verfammelten Chriftenbeit Gefallen erregen folle, fo bäte er nachher um ein Fleine® Douceur oder Trinfgeld. Er ſchloß feine Rede mit einem in— brünftigen Gebet.

Dann feßte er ficd) bequem in einen knarrenden Lehnftuhl und bat die Zubörer, in ihren Bibeln eine beliebige Stelle aufzufuchen und ihm zu— zurufen.

Einer rief: „4. Mofe, Kapitel 26, Vers 12.

Bibelbilli ſchloß die Augen, lehnte fi zurück und begann nach einer Weile: „Die Kinder Simeons in ihren Geſchlechtern waren: Memuel, daher fommt das Gefchleht der Memueliter; Jamin, daber fommt dad Geſchlecht der Jaminiter, Jachin, daher das Geflecht der Zachiniter Fommt; Sarab, daher das Gefchleht der Sarahiter fommt; Saul, daher das Geſchlecht der Sauliter fommt; das find die Gefchledhter von Simeon, zweiundzwanzig⸗ taufend und zweihundert.

Die Kinder Gads in ihren Gefchlechtern waren: Zepbon, daher dad —“

Bibelbilli rührte fi nicht. Unter der Patinanafe bewegten fi) nur die grauen wülftigen Lippen, indes ein Baͤchlein dürrer Worte berausplätfcherte,

„Safub, daher das Geſchlecht der Jaſubuter fommt, Simron, daher das Geſchlecht der Simroniter fommt.

Das find die Geſchlechter Iſaſchars, an der Zahl vierundfechzigtaufend und —“

Im Saal fagen Männer und Weiber wortlos, faft erdrüdt von diefer Uberfülle fruchtbarer Geſchlechter.

„Die Kinder Manaffes aber waren: Machir, Daher kommt dad Geſchlecht der Machiriter; Machir zeugte Gilead, daher kommt dad Geſchlecht der Gileaditer.

Dies ſind aber die Kinder Gileads: „Jeſer, daher kommt das Geſchlecht der Jeſeriter; Helek, daher kommt —“

Jedermann ſtarrte in ſeine Bibel und folgte, den Finger auf den Zeilen. Aber ed ſtimmte, Wortffür Wort, alle Geſchlechter und alle Zahlen. Kein kleinſter feblte unter den Namen Söraels,

Begierig laufchten fie weiter. Bis einer der Matrofen, der lange eifrig in feiner Bibel geſucht batte, rief:

„2. Samuelis, Kapitel 10, Vers 2,”

Als ob er auf einen eleftrifhen Knopf /gedrüct babe, ließ er den

Bibelbilli Schweigen und fogleich wieder beginnen:

128

„— Und e8 begab fi, dag David um den Abend aufitand von feinem Lager und ging auf dem Dad ded Koͤnigshauſes und fahe vom Dache ein Weib ſich waſchen; und dad Weib war von fehr fhöner Geftalt.“

Aha, dad war die famofe Geihichte vom Weibe ded Uria! Ich war neugierig, ob ein Sohn des prüden Amerifa auch dieſe figlihe Stelle feinen Zuhörern vorjegen würde. Aber es fcheint, daß in dieſem Lande die Unanftändigfeiten der Bibel die einzigen find, an denen man fi) ergögen darf. Grinfend erzählte der Bibelbilli die Gefchichte von Davids Ehebruch, und grinfend und voller Verftändnis laufchten ihm feine Zuhörer.

Nun aber ging ed in immer rafcherem Tempo.

„Jeremia, Kapitel 36, Vers 91”

„Es begab ſich aber im fünften Jahr Jojakims, des Sohnes Zofias, des Königs Judas, im neunten Monat, dag man ein Faſten verfündigte —“

„t. Korinther, Kapitel 12, Vers 15!*

„— So aber der Fuß fprähe: ‚Sch bin feine Hand, darım bin ich des Leibed Glied nicht,‘ follte er um deöwillen —“

Nicht einen Vers lie man den Mann mehr ausſprechen. Jeder rief ihm eine andre Stelle zu, wie ein Granatfeuer ſchwirrten ihm von allen Seiten die Bibelftelen um den Kopf. Und prompt, faft automatisch, fhnappte das feltiame Gehirn diefed Menfhen auf jeden Zuruf ein, ohne irgend welches Beſinnen.

Ploͤtzlich erhob er ſich.

„Schweſtern und Brüder in Chrifto!” fagte er. „Ich werde mir nun erlauben, an Eure milden Herzen zu pochen, ald ein Mann, der eine rau und zwölf chriftlihe Kinder zu ernähren hat! Zwölf, wie die Stämme Israels! Und währenddeflen werde ich Ihnen noch etwas befonderes zeigen. Wählen Sie ein beliebiges Kapitel aus dem Evangelium Matthäi.”

Einer rief: „Das fechite Kapitel!”

„But!“ fagte der Bibelbili. „Ich werde ed von ruͤckwaͤrts auffagen! Und vergeffen Sie nicht, derweil die Hand zu öffnen!”

Er räufperte ſich und begann:

„— babe Plage eigne feine Tag jegliher ein daß, genug ift es, forgen feine dad für wird Tag morgende der denn —“

Unterdefjen ging der Küfter mit dem Klingelbeutel herum. Und alle gaben. Zehn Cents foftete nur das Entree, aber ic) fah Leute, die jegt ganze und halbe Dollarftücde in den Beutel warfen. Und während der Küfter fammelte und der Bibelbilli fein Kapitel ruͤckwaͤrts herſagte, machte ich eine Ralfulation, was diefer Menſch wohl verdienen möge. Die Ein- nahme des Küfterd überftieg zwanzig Dollard, und alle Stunde trat Bibelbilli auf, wenigftend zwölf Mal am Tage. Dazu famen feine erheblichen Ein- nahmen ald Direftor und Eigentimer des Theaters, denen nur fehr geringe Koften gegenüberftanden: einen Reingewinn von zwölfhundert Mark hatte Billi gewiß an jedem Tag! Ich fenne manchen Theaterdireftor, der ihn darum beneiden möchte: freilih fann er auch nicht die Bibel auswendig!

129

Rosperlelheater

Aus den Theaterfanzleien Ein füddeutfches Hoftheater von Doktor Zwick

Erſte Szene: Zu Anfang des Winters

Dad Bureau ded Intendanten. Auf dem Tifc die Partitur von Gounods „Romeo und Julia”. Außerdem Aftenbündel und zwei ungleich große Stöße von Bühnenmanuffripten. Auf dem Fleinern Stoß die zur Aufführung vorgemerften: dad „Stiftungsfeft”, der „Herr Senator”, „Ultimo“, „Los von Manne“. Der andre Stoß ift von immenfer Höbe; das find nattırlich die Einläufe: „Wann wir altern“, der „Familientag“ und na, Sie wiffen fhon; ferner an zehn Militärdramen, zwanzig Studentenfomödien und dreißig Kindertragödien; dann noch ziemlich; tief unten und fehr jungfräulih an— zufchauen in ihrer Unberührtbeit der „Zude von Konftanz“, „Mutter Landftraßge” und der „Liebeskoͤnig“, die fih der Geſellſchaft zu fchämen fcheinen, in die fie da geraten find: fo zuge —knoͤpft fchauen fie aus. Mozart und Beethoven feben auf den Herrn Hoftheaterintendanten bernieder (und vielleicht auch herab); der, ein beweglihed Männchen in den Sechzigern, figt, angetan mit einem Samtrock und einem Künftlerfblips, der ungefähr den ganzen DOberförper bededt, in feinem Drebftupl und lieft ein Bühnen- manuffript, ja wahrbaftig: ein Buͤhnenmanuſkript. Voller Befriedigung, mit dem Ausdruck innigften Behagens, Fappt er, eben beim legten Wort an- gelangt, dad Bud) zu. Er ift fo heiter geftimmt worden, daf er dad Be— duͤrfnis fühlt, auch andern eine Freude zu bereiten. Er drüdt darum auf den eleftrifhen Knopf mit der Auffchrift „Oberregiffeur des Schaufpiels”. Er weiß, daß ed drei Minuten dauert, bi der Pbhlegmatifus erſcheint. Uner- muͤdlich in allen Dingen, geht er alfo in der Zwiſchenzeit and Liförfervice und nimmt ein Schlücddyen oder zwei. Die nod übrige halbe Minute ver- wendet er auf die Kontrolle von Samtrod und Shlips. Dann bört er, wie er ed erwartete, die aͤußere Schalltür aufflappen, es Flopft, und ein Herr tritt ein mit Schmerbaudy und Niefenglage. Man fönnte meinen, er ſei Trifotreifender und babe ſich in der Tuͤr geirrt. Aber der Herr ift den rechten Weg gegangen, denn er ift Oberregiffeur des Schaufpield. Sein Chef zählt ihn fogar zu den „literarifchen”; jedenfalld gehört er zu denen, die lefen den Börfencourier.

Intendant (in gehobener Stimmung, infolge der Anregung von Likoͤr und Lektüre, und, wie es feine Art ift, immer verbindlich) : Sie, lieber Schrupper, den „Weg zur Hölle” führen wir auf. Grad hab ich ihn fertig gelefen. Gleich nächte Woche gehn wer ran. Das is ja ’ne großartige Geſchichte. (Man merft am Tonfall der Stimme, daß er fein Repertoire fir und fertig aus der Reichshauptſtadt zu beziehen pflegt) Und dann id da noch fo 'ne Sade. Hören Se mal, lieber Schrupper, was denfen Se, woll'n wir mal wieder fo'n Klaffifer rausbringen? So een neuern, mein ih. en Laube oder Hebbel oder fo was? Hat der Neinhardt nicht neulich fo was gemacht?

130

DOberregiffeur (der aus Berlin oder Rirdorf ſtammt und ſich deffen durchaus nicht ſchaͤmt): Machen wir ooch.

Intendant: Wad meinen Se zum „Ring“ von Hebbel?

Dberregiffeur (grinft ihn halb fröhlich, halb mitleidig an): Ob aber die Schulze die Rhodope

Intendant (immer verbindlich, fallt ihm ind Wort): Wie was Rho was flr’n Frauenzimmer?

DOberregiffeur (durhaus nicht befcheiden): Und dann hat der Hofrat, Ihr Herr Vorgänger, 's erft jemaht

ntendant (immer verbindlich, aber hocherfreut, diesmal triumphieren zu fönnen): Me, ne, irr'n fi, mein Lieber, der hat's eben nic jemadıt. Ma, gut, einerlei, alfo probieren werd eenmal. Aber id ed nich zu lang? Ich erinner mid fo mad. Können werd nid auf zwei Abende verteilen?

Dherregiffeur: Wie, um Jottes

Intendant (fällt ihm wieder ind Wort, immer verbindlich): Sie wer’n’s fhon recht machen. Laffen Se ſichs vom Müller, dem Bibliothefar, mein ich, ’raudrichten, und legen Se merd dann auf’n Tiſch. (Er wird ploͤtzlich von einer unmotivierten Begeiſterung erfaßt und ſpricht, ſein ganzes berliner Repertoir vergeſſend, im trauten heimatlichen Urſaͤchſiſch) Un deſſ ſtadden mer bombées aus, heer'n Se, un dann machen mer ooch noch en ſcheenes Geſchaͤft. Un der Kritik woll'n wer obendrein eenmal 's Maul ſtopfen. Rechent mer da einer neulich nad Se haben's natürlich gelefen daß ich in einer Woche fünf verfchiedene Blumenthals gebradht babe. Haben Sie dad gemerft? Ich nicht. (Immer noch verbindlih) Na, einerlei, werfen wer dem Hund den Knochen vor.

Zweite Szene: In den AJundstagen

Auf dem Tifch ift nicht viel verändert. Auf dem Novitätenftoß fehlen: „Bann wir altern” und der „Familientag“. Die „vorgemerften” vom Saifonbeginn auf dem andern Stoß find dagegen jebt alle verſchwunden ein Beweis, wie fleißig in den vergangenen neun Monaten gearbeitet worden ift und durch andre erfet: durch „Penſion Schöller”, das „Beige Roͤſſl“, den „Zollen Einfall” und „Mamfelle Tourbillon”. Ganz flır ſich liegt auf dem Tifch ein Regiebuch mit der Auffchrift , Gyges“. Der Oberregiſſeur des Schaufpield ift foeben eingetreten.

Intendant: Aber, lieber Schrupper, was haben Se mer denn da ber- gelegt? Ich hab Ihnen neulich gefagt, holen Se mer den Hebbelfchen „Ring“ raus. Un mad bringen Se mer da? (Er ſetzt feinen Klemmer auf die Nafe und fludiert Buchſtabe nach Buchftabe): „Giih —geehs“.

Dberregiffeur (immer pifiert): Ma alfo, „Jihjess Rink“.

Intendant (immer verbindlich, fchiebt fi auf feinem Drebftuhl ver⸗ traulic näher heran): Was wollen Se denn mit dem (er betrachtet raſch noch einmal den Umfchlagätitel) „Gihgees“? Sie fin nid) wohl, lieber Schrupper. Woll'n Se acht Tage Urlaub haben, woll'n Se ne Dienftreife machen? Auf fo 'ner Dienftreife nad) Berlin, ſag ich Ihnen, da erholt mer ſich ganz großartig. Wiffen Se, das i8 ja auch ne ganz ſchoͤne Sorte da, der (er betrachtet wiederum das Ruͤckenſchildchen) „Gihgeehs“, aber fennen Se denn den Hebbelihen Nibelungenring nic?

131

NMndſchau

Was iſt Buͤhnentalent?

enn einer ſo recht bruͤllen, ſo

recht edel oder energiſch tun kann auf der Buͤhne? Wenn einer einen vorſchriftsmaͤßigen, breiten, ſchlappigen Schauſpielermund bat? Wenn einer eine Seele hat und einen ehrlichen, feiten, fleißigen Menjchen- willen? Wenn einer durchdenft, was er fpielt, und von Moment zu Moment feinen Verſtand bei der Darftellung der darzuftellenden Figur hat? Wenn einer ein ehrenhafter, vielfeitig be- gabter, zartfühlender,alledverftehender Mann ift? Iſt das Talent? Oder was ift denn eigentlich Talent? Kann der Saufhund Talent haben, der Spieler, der MWüftling, der Ged, der Tropf, der Wicht? Kann einer ein großer Künftler fein und daneben ald Menſch verdienen, daß man ihn anfpuckt, zum mindeften, dag man uͤber ihn die Naſe rimpft? Iſt eine Möglichkeit vorhanden, inderrealen Welt Schnaps zu faufen und auf der Bühne einem Percy ftrablende DVerförperung zu geben? Was follen alle diefe Fragen, be? Hat man ed gern oder bat man ed ungern, daß der Schaufpieler be— reitd beginnt, fich in den Gemeinderat wählen zu laffen, daß er Tee trinkt, ftatt Bier oder Korn, daß er bei ge— bildeten Damen bodt, um ſich über dad Meuefte in Kunft und Sozial» wiffenfchaft zu unterhalten, daß er feine Steuern bezahlt und feinen Anzug in Ordnung halt, daß er rechtzeitig wie ein ftrebfamer Kolonialmaren= kommis zu den Proben erfcheint, daß

er zum Pinfel oder zur Feder greift,

um mit diefen Werkzeugen angenehm zu dilettieren? Was? Sollte e8 eine vernünftige Antwort auf diefe Frage

132

geben? Oder macht ed vielleicht Ver⸗ gnügen, Fragen nur jo, wie eine Handvoll Strandſand, in die leere, dünne Luft emporzuwerfen? Kann ed eine Anregung fein, einen Gedanfen unaudgeforfcht auf fi beruben zu laffen, unfertig, frech, gehaͤſſig und Fleinfto? Ja? Was aljo, wenn es endlich beliebt, fann Talent fein? Die Nichtöroiirdigfeit, die innere Würdes [ofigfeit, die Seelenlofi gfeit, die Mann⸗ loſigkeit? Iſt ein Mann ein Talent, oder ſo: iſt es einem Menſchen von Gold, alſo einem lautern, lieben, vehtihaffenen Mann, überhaupt nur moͤglich, ein Talent auf der Bühne zu fein? Was fol da8? Aber warum denn eigentlich nicht fortfahren, wie der Wind daherzufaufen mit ragen? Iſt manchmal nicht der aufrichtige Mann ein Hundsfott im Bereiche der Kunſt? Muß die Kunſt zu gunſten ihrer Kinder bettelarm geworden ſein, wie eine alte, wehleidige Mutter, die von den Soͤhnen und Toͤchtern auf die Straße geſetzt wird? Muͤſſen es die Soͤhne und Toͤchter, die Kinder der Mutter Kunſt, abſolut gut haben? Müuͤſſen fie Gerechtigfeit und Ans erfennung genießen? Müffen fie brave Bürger fein und zu den gebildeten Klaffen zählen? Iſt nicht die Gleich- berechtigung das Grab des Talentd? Hat die Sozialiſierung des Kuͤnſtlers üble Folgen oder gute?

Bin ich ein Efel, daß ich das alles frage? °

Fa, du bift ein Eſel.

Und ich werde ed dir zeigen. Man braucht rechtfchaffene, gütigeMenfchen, nicht Talente; Väter, die dem Staat Kinder erzeugen und Luft an ihrer Erziehung haben, nicht irgend einen

ftrablenden Darfteller des Heinrid) Percy. Du bift ein Luͤmmel, daß du von Saufhunden zu fprehen wagſt. Die Künftler ſollen wiffen, was ſchicklich it und nicht danadı fragen, mas außerordentlich fein fann; fie eilen beutzutage gut zu Mittag und trinfen ihr Gläächen Wein. Sie find mohl- fituiert, und du Schurfe wirft micht ungeftraft den Mut befeffen baben, fie zu einem Quderleben angereizt zu baben. Sie find Bürger, Menfchen und einfache, fchlichte Angehörige des Staats; fie find Soldaten in der Armee und interefjieren fich, fo leb⸗ baft ald ihnen geziemt, fr Kolonial⸗ politif. Mur ein leichtfertiger, ge- fährliher Menſch, wie du einer bift, fann ihnen den Rat geben, Ungeheuer ju werden, um der Kunft zu dienen. Die Kunft ift heute mwefentlich anders ald früber, und fie foll auch anders fein. Sie ift beffer geworden; fie bat ed verftanden, fi den guten Grundfägen des Zeitalters anzu— ſchmiegen. Du biſt ein Affe mit deinem Talent und mit deinem Hunds⸗ fott. Du gehſt mit den Menſchen um, wie mit einem Material, weich und gefuͤgig zum Modellieren, und denkſt gar nicht daran, daß einem jeden Menſchenleben dad Nachbarliche beilig fein fol. Zum Teufel mit deinem Talent. Zum Teufel mit Percy. Wir brauchen beides ebenfomwenig, wie wir dagegen umfomebr eineRunft brauchen, die fich bürgerlich gibt wie ein buͤrger⸗ liches Frübftüd. Wir fehnen und nad) der Individualifierung des Künft- lerd, und du fragft, ob es gut jet, Künftler zu fein und Seele zu baben. Meine Seele hätte Luft, dir Ohr⸗ feigen zu geben, wiewobl du eine förperlihe verdienteft. Wir wollen gar feine andern Helden auf der Bühne mehr fehen, als fein diffe- renzierte, wie fie unfer heutiges Reben ſchafft. Wir wollen die Töne unfres eigenen Jammers heulen bören. Die

Seele des Schaufpielerd fol jubeln, nicht feine Begabung. Dem Mann auf den Brettern wollen wir an- merfen, daß er ein Mann auch im Leben ift. Infofern pfeifen wir uͤber⸗ baupt auf die Kunft, wenn fie flaffende Diftanzen aufweift. Sie foll und an- mwärmen; ed, ift ganz gut, daß wir aus ihr unfre Überzieher gemacht haben. Wenn wir und fir Kunft intereffieren, dann foll das auch die Kunft ibrer- ſeits tum und ebenfo fhlicht, font na, man will nichtd gejagt haben. Iſt unfer Reben trübe und langweilig, fo darf ed die Buͤhnenkunſt rubig eben- falld fein, man winfcht das von ihr; fie fei Spiegel des Jeitalterd. Einen Bühnenftil verbitten wir und ganz energifh. Wir wollen nad) der Vor⸗ ftellung mit dem Dichter und mit dem Schaufpieler ein bonetted Ge- ſpraͤch führen, das ift und die Haupt- fahe. Die Künftler erbeben wir da= durh zu Menſchen, und an den Künftler-Perfönlichfeiten pflegen wir und jededmal, fo gut ed gebt, zu beraufhen. Im Intereſſe einer ge- funden Gemeindeordnung veradhten wir das Talent, es ſei denn, es zoͤge ed vor, fich zu vermenfhlihen. Da

baft dus, Robert Walser Dramaturgie ale Wiſſen— ſchaft

He Verfuh Hugo Dinger, in zwei Bänden die „Dramaturgie ald Wiſſenſchaft“ zu erweiſen, bat lebhaften Widerfpruch hervorgerufen. Herbert Eulenberg bat (im „Ritera- rifhen Echo“, VII, 1374) diefe be- fondere Wiſſenſchaft für „uͤberfluͤſſig und zwecklos“ erflärt. Damit ver- fennt er die fuftematifche Bedeutung, die Dingerd Verſuch zufommt, Den Erwartungen, die fid) an eine ‚Pbilo- fopbie der Schaufpielfunft” knuͤpfen, bat an diefer Stelle (II, 33) Zulius Bab Ausdrud gegeben.

Sept fei auf eine jüngft erfchienene

133

Schrift von Theodor Sternberg*) ver- wiefen, in der das Poftulat der Dra- maturgie ald Wiffenfchaft aufgenom= men wird. Gternberg will das Cha- rafterftudium, dad biöher Sache praftifcher Geſchicklichkeit und zus fälligen Gelingend war, durch eine neue Methode zu wiſſenſchaftlichem Rang erheben. Durch bloße Addie- rung von Charafterziigen fann ein Eharafter nicht befchrieben werden.

wei heuriſtiſche Prinzipien ftellt

ternberg für die ſyſtematiſche Er- faffung des Charafterd auf. Erſtens das Prinzip der Gegenfäge oder Pola- rität: jeder Charafterzug ift polar, das heißt: nicht einfach negativ oder pofitiv, fondern ſtets mit feinem Gegenſatz verbunden und durch ihn begrenzt; der Sabift, zum Beiſpiel, ift zugleich und zeitweife Maſochiſt. Zweitens das Geſetz teleologifcher Verknuͤpfung: die auf Grund des Prinzipd der Polarität gefundenen Gegenfaßpaare find im Verhaͤltnis des Zwecks zu den Mitteln zu ver- fnüpfen. Iſt, zum Beifpiel, jemand ald friegerifche (und zugleich unfriege- rifhe) Natur erfannt, fo find die diefer Eigenfhaft dienenden Quali⸗ täten aufjufinden. Indem die Cha- rafterologie auf diefem Wege tnpifche Berfnüpfungen entdeckt, ermweift fie fi) ald Wiſſenſchaft, die allgemein- giltige Gefeße lehrt.

Die befondere Bedeutung, die diefe neue Methode für die Charaktere der Schaubuͤhne gewinnt, ift in Stern- bergd Schrift mehrmald erwähnt. Außerdem aber wird bei Erörterung der grundfäglihen Zufammenbänge undlibergänge von Kunft und Wiffen- ſchaft die Notwendigfeit dramaturgi⸗

*) Charafterologie ald Wiffenichaft. Bon Dr. Theodor Sternberg, Privat- dozent an der Univerfität Lauſanne. Laufanne, Edwin Frankfurter (Li- brairie Nouvelle) 1907.

134

cher Spezialmiffenfchaft betont. Nicht um perjönlihe Eigenart in die Feffel bandwerfömäßiger Schematigmen zu ſchlagen. „Im Gegenteil: eine kritiſche Dramaturgie wird manche leere Faxen und Maͤtzchen, manchen traditionellen Geſtus, Duftus und Habitus bejeiti- gen... Diefe Wiſſenſchaft wird im weitern Borwärtsfchreiten der Gegen- wart erft die Augen darlıber öffnen, wieviel Wuft an handwerksmaͤßigem —— die Schauſpielkunſt un⸗ ewußt mit hinuͤbergerettet bat in die neue Zeit: dramaturgiſchen Dogma= tismus, der dann erft von der Kritif wird außgetrieben werden.” Die frage nach der Dramaturgie ald Wiffenfchaft

bleibt auf der Tagesordnung. Dr. Ernst Feder

Krüppel

in gewandter Tagesfchriftiteller,

Herr Eduard Goldbed, hat bei Rothbarth in Leipzig ein Schau⸗ ſpiel von vier Aften erſcheinen laſſen. Es heißt: „Kruͤppel“, und man koͤnnte daran vorbeigeben, wäre die Arbeit nicht typiſch für eine fi mehrende Sorte der Theaterproduftion: fuͤr die journaliftifh empfundenen und ge= rechtfertigten Stüde. Diefe Buͤhnen⸗ werfe entjpringen (wie wenig paſſen edle Worte bierher!) feinem Sturm und Drang, feiner innern Notwendig» feit, fondern dem Wunſch nur, mitten in Artifeln und Entrefilet® auch eins mal ein Drama zu fehreiben, dieweil ja der Einteilung des Gefchriebenen in Szenen und Afte gewiffe gleißende Sondermöglichfeiteninnemwohnen. Mit etliher Berufsroutine und viel ſchwar⸗ zem Kaffee fommen diefe nächtlichen Feiftungen zuftande, die, gedruckt, den Leſer ärgern, und vor denen er die Bühne bewahren mödte, Gerade die gewiſſe Glätte, die mittlere Bil— dungshoͤhe, der die Tintenworte raſch und flüffig in alle Kleinigfeiten laufen, find dad Peinlihe diefer Art... .

Dad Drama Goldbedd zeigt Alfred, einen idealiftifhen Sohn, in Gefahr, die ©eliebte feines finnenfreudigen Vaters zu heiraten. Der Sohn ift Student, der Vater ein Zournalift von Geift, die Geliebte, obſchon fie Cäcilie heißt, eine Canaille. Der Pater gefteht dem Sohn: „Sie war meine Geliebte.” Da läßt Alfred von ihr ab, will ſich erfchießen, wird aber weiter eriftieren, weil ibm der be= fannte Sanitätdrat verraten hat, man müffe Kompromiffe ſchließen: „Ge⸗ wöhne dich, im Relativen zu atmen. Wir leben alle ald Krüppel.” Da haben wir die Moral der Geſchichte eine Refignation, die fi) dem Fon⸗ tanefhen: „Ich mardandiere nicht!” entgegenftellt und die, wenn ſich ein fehr feines Hirn (etwa Remaitre) um fie müben wollte, wohl zu zarten, menf&hlihen Geften führen Fönnte, Herrn Goldbeck ift nur ein graues Papierdrama daraus geworden. Das Kruͤppelſtuͤck hat richtige Leitartikel temperatur, paradiert ſtellenweis mit dem Efprit ded gemäßigt-literarifchen Afademiferd und ftrömt einen Duft fehr fäuerliher Buͤrgerlichkeit aus. Iſts nicht fatal, wenn Alfred feinem Mädchen berichtet: „Dann ermwachte ich Feuchend, in Schweiß gebadet!”? Hartleben hätte fic allerdings dar⸗ über gefreut, Leider ift died Zitat nicht die Hier hat ſelbſt die Fachfaͤhigkeit, Laͤcherliches zu mei⸗ den, verſagt ... Und da im übrigen die Technif verftaubt, der Dialog ein Wechſel —— das Ganze nicht geſehen, ſondern beſtenfalls mit der Feder geſchrieben iſt, ſo wird man ſich dahin einigen duͤrfen, daß die „Kruͤppel“ für die deutſche Geiftes- entwidlung entbehrlich gewefen wären.

Ferdinand Hardekopf

Im alten Heim N iefe artige, nur etwas rührfelige und ziemlich flache Komoͤdie

ded Dänen Guſtav Esmann erlebte im Dresdner Königlichen Schaufpiel- baufe ihre, foviel mir befannt ift, erfte deutfche Aufführung. Der Ver⸗ faffer fol in feiner Heimat angefehen fein; er bat eine ganze Weihe von Stücken über die Bretter gehen laffen; vielleicht ift Died eins der ſchwaͤchern. Ich muß Ihnen nämlich mitteilen, daß ich mid) dabei gelangweilt habe: am wenigiten während des hübfchen zweiten Akts, der nicht recht ein- flug, am meiften während des philiſtroͤſen Schlußafts, der natürlich dem Publifum mächtig zuſagte. Kennen SiedieRomanederSchwedin Flygare- Carlen? Unfere Großmütter ſchwaͤrm⸗ ten dafür. In diefen Romanen gabs fo rührend gemütliche uralte Gutd- böfe; eim folcher ift Nabensholm in Esmanns Stüd, Dort fpielt ſich der Kampf zwifchen alt und jung ab. Auch an Iffland mußt ich denfen und an Kogebue, obwohl diefe Schwer⸗ verläfterten viel fefter im Sattel ihrer Technik faßen, ald unfer nordifcher Saft. Ich habe fiher ein ſchlechtes j: ich kann auf der Bühne nichts emuͤtvolles vertragen. Selbft wenns im Staate Dänemarf verabreicht wird. Und ih vermag mit einzufehen, warum, feit Henrif der Große unfer Theater beberrfcht, audy jeder Kleine und Mittlere zu Worte fommen muß, fobald er aus dem Mordland zu ftammen das Glüd und die Ehre bat. Web dir, teutfcher Poet Müller oder Schulze, der du Tragddien und Komddien birgft in deinem Pult dreimal wehe, fag ich, fo du ed dir bätteft einfallen laffen, „Im alten Heim” den Gemwaltigen der Buͤhne vorzulegen. Deutfchland hätte dic) nicht aufgeführt, und Dänemark (das, glaube ich, felbft Schillern noch Urauf- führungen fchuldet), Dänemarf hätte dir ganz was andres gefagt. Denn für das Annehmen ſchwacher Stüde gibt und dad Ausland befanntlich

135

feine Revanche. Werd ein Däne, mein Schulze, ein Schwede, ein Nor⸗ weger dann kannſt du fchreiben, was du willft. Und dem babe ich nur noch binzuzuflgen, daß Hanns Fiſcher dem zu Liebe man bier eine Menge trauriger Stücde einftudiert einen alten, plöglid zu Zohannis- trieben erwachenden Kandidaten praͤch⸗ tig fpielte. Bodo Wildberg

Ein Brief

ebr geehrter Herr Jacobfohn!

Micht um meiner Perfon willen, fondern lediglih im Intereſſe der Sahe und zur Nußanmendung für alle Kollegen von der berliner Theater⸗ feitif erlaube ich mir, Ihnen einen Fall vorzutragen und zur Veröffent- lichung zu empfehlen, der vom Stand» punft der felbftverftändlihen Unab- bängigfeit und Freiheit des Kritifer- berufd nicht fcharf genug gebrand- marft werden fann,

In meiner biöherigen Eigenfhaft als erfter Theaterrezenfent des Deut» ſchen Blattes habe ich mich genötigt gefeben, in einer Befprechung der Erft- aufführung von Bernſteins „Herthas Hochzeit” im Neuen Schaufpielhaus die Darfteller des Kommerzienrats und des Negierungspräfidenten fcharf, aber, wie alle Berufägenoffen mir beftdtigen werden, gerechter Weife zu tadeln. Herr Direftor Halm bat daraus Veranlaffung genommen, an die Direftion des Deutfchen Verlags, der neben den Berliner Neueften Nachrichten auch dad Deutfche Blatt berauggibt, eine Befchwerde zu richten und darin den Abbruch aller Be- ziehungen, alfo die Entziehung von Inſeraten und von Freifarten zu den Premieren, anzudroben. Herr Balz, ald Leiter des Deutfhen Verlags, bat dieſen milde gefagt bedenf- lichen und ungewöhnlichen Eingriff in die Freiheit der Kritif nicht etwa durch eine gebarnifchte Abfage an den

empfindlichen Theaterleiter geahndet, fondern mir in einem Schreiben furzer- band erflärt, daß er mir zu feinem Bedauern die Theaterrezenfion ent⸗ ziehen müffe, da die Schärfe meiner Kritif die Intereffen ded Verlags über Gebühr ſchaͤdige.

Sch babe Herrn Balz mein Er- ftaunen darlıber audgefprochen, dag ein Blatt, das ſich in fetten Lettern felbft für einen „unabhängigen ber= liner Beobachter und Anzeiger” aus⸗ gibt, vor der Anmaßung eines Theater- leiterd mit folcher fflavifchen VBereit- willigfeit Kotau mache; ein Blatt, das doch wahrlich in nichts den Ehr— geiz dokumentiert, als Vertreter eines erleſenen Salontons zu erfcheinen. Ich habe ferner darauf hinweiſen koͤnnen, daß meine Rezenſionen ſich nachweisbar in den Hauptzuͤgen mit dem Urteil unfrer anerfannt beiten Kritifer faft durchweg in Uberein- ftimmung befunden und mit frobem Eifer fih zu loben befliffen haben, wenn der geringfte Anlaß die Aner- fennung redhtfertigte.

Man hat denn audy bis in die legte Zeit binein von feiten der Nedaftion, die ſich jest plöglich nad Ausſage des Herrn Bal; bezliglich feines eigen- artigen Entfchluffes in völliger ͤber⸗ einftimmung mit ihm befinden fol, erbeblihen Wert auf meine Rezen⸗ fionen gelegt und mid, deffen ver- fhiedentlih ausdrüuͤcklichſt verfichert.

fragte und frage nochmals, welchen Zweck die Befpregung der Theateraufflihrungen denn uͤberhaupt noch haben fol, wenn die ungeheuer- liche Prarid einreift, daß jedem un⸗ fähigen oder auf Irrwegen befind- lihen Theaterleiter die Macht zuer- fannt wird, einen ihm mißliebigen, feinem ſchweren Beruf mit Ernft und Eifer ergebenen Nezenfenten in foldher

Weiſe unſchaͤdlich zu machen?

Hochachtungsvoll und ergebenſt

Hans Hauptmann

Verantwortlich für die Redaktion: Siegfried Jacobſohn, Berlin SW. 19 Berlag von Oefterheld & E0.,BerlinW.15 Drud von Imberg & Leffon, BerlinW.9

N

we: ur —** —2 —3** W wur sun

“.......>.%0

er 0.0 Ss. EN

7. Sebruar 1907 Ill. Jahrgang Yrummer 6

Chriſtine Hebbel

Die Frau/ von Aulius Bab

m 9. Februar diefed Jahres vollendet Ehriftine Hebbel ihr neunziaftes Mrs Es ift fir und Jüngere nicht gut möglich, diefe Tatfache

mit der rubigen Korreftheit des Chroniften oder der gelinden Fiebent- wuͤrdigkeit des Feſtredners zu verzeichnen. Uns iſt der Name Hebbel „ein Merkwort und ein Ruf zur Leidenſchaft“. Ein jeder von und bat ihn "ala Überfchrift fiber einem erſchutterungereichen Kapitel ſeines Lebens. Allen ward er ein Beweger, aber vielen ein Fuͤhrer, ein Freund... Ein großer Beginner. So groß im Anfang feines neuen Werfed, daß no) fein größerer Erbe gefolgt if, daß diefer dunfle, vieled verfprehende Eingang daliegt gebeimnigvoll, drobend, lodend fern, wie ein Ziel, eine Erfüllung. Unfer tiefſtes Müffen, unfer heiligſtes Wollen wird wach beim Klang diefed Namens, und fo muß wohl etwas mie Ergriffenbeit und Andadht für und aus dem Gedanfen quellen, daß die Frau noch lebt und unter ung ibr dritted Menfchen- alter vollendet, die Frau, die feine Frau gemwefen ift, und die in ihrer Ceele all die eridfende, rubendgleihe Wärme gebabt hat, durd die fein bartes Leben zu voller Reife und flßer Frucht wuchs. Cbriftine Hebbel ift unter und, und wir lieben fie und danfen ihr heute der frau und Gefährtin Friedrich Hebbels.

Chriſtine Enghaus ſchien doch ein Menſch, der ganz aus ſich ſelbſt etwas fein und bedeuten wollte. Sie war ein Menſchenalter hindurch an Deutfch- lands erfter Bühne Menfchendarftellerin und hatte einen guten Theater— namen durch ganz Deutfchland bin. Aber die wiener Hofburgfchauipielerin ift und längft geftorben. Sebr wenige Lebende haben nod) eigene Anfchauung von ibr, und wo ein tiefergebender Bericht vorliegt, wie in dem ſchoͤnen Kapitel Emil Kuhs, da fcheint es, ald ob auch fir die Mitlebenden ihre Kunft gan; groß umd eigen erft geworden fei in der Darftellung Hebbelſcher Grftalten. In diefen Mann mindete die Künftlerin ein wie dad Weib.

137

Ihre Unfterblicyfeit wird deshalb nicht geboren werden in der Theatergejchichte Deutfchlands, fondern in der Lebensgeſchichte Friedrich Hebbels. Daß fie aber ein Menfch war, der zunächft ganz aus eigenem etwas fein und bedeuten wollte, died war ed wohl, was fie zur rau des eigenmilligften deutſchen Dichterd tauglidy machte.

Denn Ehriftine Enghaus war nicht Hebbels „Geliebte“ und nicht jeine „Freundin“, nicht feine „Leidenschaft“ und nicht fein „Ideal“ fie war feine Ehefrau. Was dieje beiden vereinte, war eine Lebens⸗ und Schidfald- gemeinfchaft von Überwältigender Schwere, von erlöfender Klarheit, war „Liebe” in einem fo großen, feuergebärteten Sinn diefed taufenddeutigen Wortes, war fo reifer Ernft, fo klarer Vollendungswille, daß die füße Beraufchtheit einer Triftan- und -Fjolde-Empfindung daneben wie unreifes Kinderjpiel erfcheint. Am Beginn diefer Ehe ſteht die Wahrheit die Wahrheit zweier ftarfer, in hoͤchſter Not um ihr phyſiſches und pſychiſches Sein ringender Menſchen. Hart, graufam, bitter, faft cyniſch ift dieſe Wahrheit. Aber in ihrer reinen Realität, befreit von allen Schlacken brünftig fentimen- taler Verlogenbeiten, ftellt fie eine viel höhere, fruchtbarere Form der Erotif dar ald jede romantische Leidenschaft. Chriſtine Enghaus war mehr, uns endlich viel mehr als Hebbeld „deal“: fie war feine Wirflichfeit, der mahr- baftige und reine Grund feines Wirfens,

Am 4. Movember 1346 Fommt Hebbel nah Wien. Er fommt aus Italien. Die Zeit, fir die ihm der König von Dänemarf eine Neifeunter- ftüßung bewilligt hatte, ift abgelaufen, Seine literarifchen Einnahmen find minimal. Seine Hoffnung, ald Dramatifer am Burgtheater Durchzudringen, will fich nicht realifieren. Seine Buͤcher haben fein Publifum von materiellen Belang. Er bat Schulden, er ift krank, abgeriffen gefleidvet. Und er bat feine Ausficht auf Beſſerung. Die Unfähigfeit, fein Talent journaliftifh und belletriftifch nugbringend zu verböfern, bleibt fich gleih. Mit fich trägt er den „Moloch“, ein Religionsdrama, tiefer, härter, verfchloffener, publifums- ferner als irgend eine andre feiner Dichtungen. Geift und Seele find ihm in Parid und Nom reif geworden, fhwerreif: ein Chaos von Schaffens— möglichfeiten uͤberfuͤllt ihn. Und vor ihm ftebt in Falter, nackter Realität das Gefpenft des Hungerd wieder, wie faft dad ganze Jahrzehnt vorber. In Hamburg und Heidelberg, in Münden und wieder in Hamburg hatte der weflelburener Maurerfohn fechd Jahre lang bald mehr, bald weniger gehungert, und was fchlimmer war: er hatte den herrenſtolzen Naden beugen muͤſſen vor hochmuͤtig mitleidigen Befchränftheiten, die ſchließlich Doch diefen von wilden Werdend- und Schaffendtrieb durchgluͤhten Geift vor dem Verbungern fhüßten. Eines aber war noch ſchlimmer, tiefer verbängnisvoll, ald die Gaben der hochmuͤtig Dummen: auch die Liebe hatte gegeben, die tiefe, leidenfchaftliche Liebe eines fieben Jahre Altern Mädchend. Und diefe Liebe, von der er in taufendfahem Sinne nahm, nehmen mußte, und die er doch nie in Wahrheit mit Liebe, ftet? nur mit Bewunderung für die Unendlichkeit

138

diefer gebenden Guͤte vergelten fonnte, fie war im Grunde dietieffte Demütigung feines Mannesſtolzes: denn fie wurde mit unentrinnbarer Notwendigkeit feine Schuld. Elife Fenfing hatte Hebbel zwei Kinder geboren und ift doch nie auch nicht im freiften, ſchoͤnſten Sinne des Wortes feine Frau gewefen. Diefed Mädchen, das ganz und gar Hingabe, Güte, Aufopferung war, befaf doch weder den barten feeliichen Stolz, noch die Flare geiftige Kraft, mit der fie Gefährtin Friedrich Hebbels hätte werden fünnen. Es ift feiner unter den vielen Briefen Hebbeld an Elije, der nicht ganz unbewußt den tiefen Abftand verriete, der troß allem guten Willen, aller aufrichtigen Ver⸗ ehrung den Schreiber von der Empfängerin trennt. Ja, in dem inmnerften Gefühl eines Hebbel mußte Elife Lenfing menſchlich verlieren, je mehr fie in völliger Entfelbftung fih an ihn gab und gab. Und doch wurde jede Gabe ein neues Seil, dad ihn unentrinnbar an jene rau zu binden fchien. Sp lag ihm dad Leben mit zentnerjchwerer Faft im Nacken, und die tiefern allgemein menihlihen Tragddien, die feine Bruft durchzogen, fchienen nicht Raum und Luft zu Kunftlerifcher Erlöfung gewinnen zu koͤnnen, weil ein Übermag von befonderftem eigenem Unbeil ihm alle Sinne lähmte.

Zur felben Zeit lebte in Wien die Hofburgfchaufpielerin Ehriftine Enghaus. Sie war 1817 in Braunſchweig geboren. Und ihre Kindheit war wie Hebbels: Hunger und Elend. Mit fieben Jahren mußte fie im Kinderballett Geld verdienen, und mit vierzehn verlor fie diefe Stelle, weil ein ug wie von Hebbelfcher Erfindung nad der Konfirmation ſich ihr erwachendes Weibgefühl dagegen fträubt, im Knabenfoftum zu tanzen. Sie wird dann Scaufpielerin, und ihre Jugend ift wie Hebbeld: Kampf und Schuld. Seit 1840 ift fie in Wien aber wenn audy vor materieller Not eben geborgen, weder fünftleriich noch menfchlich befriedigt. Kuͤnſtleriſch verweigerte ihr der Schematiämud ded Burgtbeaterd mit feinen abgeteilten Rollenfaͤchern jede höhere, ihre Individualität entfaltende Aufgabe. Und menfchlih der Erzähler ihrer Lebensgeſchichte mag das tiefe Naturrecht der Frau auf Ver- ſchwiegenheit achten aber es fcheint mir doch diefer ftolzen, aufrechten Frau unmlrdig, daß die Biographen Hebbels fich fheu an der harten, bedeutungd- vollen Tatſache vorbeifchleihen, dag Ehriftine Enghaus bei Hebbeld Ankunft in Wien gerade wie er ein außerebelihes Kind hatte. Sie hatte unlängft von Hebbel, den fie ald Dichter der „Judith“ fchen fannte und bewunderte, „Maria Magdalene” gelefen: „Mein eigenftes, bärteftes Schickſal ftand mir in Klara vor Augen, ich war, nachdem id) es zu Ende gelefen, jerfchmettert. Ich ſah in Meifter Anton und in Hebbel meine Richter.”

Diefe beiden Menfchen kamen in Wien zueinander. Durch einen „Zufall“ natürlih in der Welt der Erfcheinung gefhehen alle notwendigen Dinge durch Zufall. Sie kamen zueinander und erfannten ineinander Rettung und Lebensmoͤglichkeit, Raum und Luft zu Werden und zu Schaffen. Chriſtine bat und überliefert, daß ihre erfte Empfindung fuͤr Hebbel Mitleid gemefen fei. Es wird jene Art des Mitleids gewefen fein, durch die eine jede Frau

139

in jedem Augenblick zur Mutter eine® jeden Mannes gu werden vermag „das Mitleid aber ift die Mutter der Liebe, vielleicht die Liebe ſelbſt“, fagt ein Dichter. Chriſtine berichtet: „Wenn ich reich wäre, fagte ih mir, fr wuͤrde ich ihm eine forgenlofe Zufunft fchaffen died war mein Gefühl bei feinem erften Scheiden!” Und Hebbel empfand in diefer dunfelihönen großen Frau, die ihm geiftig und ſeeliſch gleihgemachien war, etwas wie die Möglichkeit von Ruhe, Erlöfung, Befreiung zu Lebensgenuß und Lebene- tat. Denn bier fand er ein ebenbürtiged Wefen, das fol; und berb und ſchaffensfroh wie er war aber mit der mweichern, verfühnendern Kraft ihrer Weiblihfeit ned Harmonie zu wecken wußte, wo er Kampflärm ſchuf. Auch bat er fi und andern nie verbehlt, daß ihre materiell guͤnſtigere Lage für ihn eine Lebenäfrage war. „Won allen Arten der Sehnſucht fenne ich nur noch die nad Taten, und nichts kann Pflicht fir mich fein, was dieſe bindert.” Er wagte es, Geld zu nebmen von der rau, die er liebte. Er (nicht jeder!) durfte ed wagen weil er genug zu geben hatte.

In einem düfterprachtvollen Ringen famen diefe beiden Menfchen zu- einander. Viele, fhwere und geweihte Bande mußten zerriffen werden, und fie hatten den Mut, zu tun, was ihnen ihre hoͤchſte Pflicht gebot die Pflicht, zu leben und Frucht zu tragen mit ihrem Leben. Durch diefe Ehe babe zwei Menſchen ihre hoͤchſte Prlicht erfüllt, fie haben die Summe aus allen Wirflihkeiten gezogen mit diefem Schritt und desbalb war es beider Lebenstat und bradıte ihnen Segen, Rettung und Fruchtbarfeit. Wie dieje Ehe, nach manchen von Chriftine mit „beroifher Geduld“ getragenen Stürmen, für Friedrich Hebbel zum Segen wurde, ift vielen befannt. Der bisher friedlofe Mann fonnte im legten Jahrzehnt feined Lebens an jedem Silvefterabend in fein Tagebuch ſchreiben: „Vleibe alles, wie es ift!” und „Herodes und Marianne” erftand und „Gyges“ und die „Nibelungen“. Aber auch Chriftine ward gefegnet. Die Güte ihrer großen Matur ging in der Wärme diefed Ehegluͤcks auf und fchlittete leuchtende Strahlen weit umber. Gelbft Elije Yenfing, die am meilten DVerlegte, mwiderftand der werbenden Kraft diefer Frauenſeele nicht. Es fam ein Tag, da fie der einſt Verläfterten fchrieb: „Du, meine füße Tina, bift wie ein Flarer Stern, der, wenn er trüb und fcheint, felbft doch rein iſt.“ Und Ehriftine Hebbel ward auch als Künftlerin reih und ſchuf ald Judith, Klara und Chriembilde nie vorher Erreihted. Und fie blieb die Ehefrau: der fihere Febendgrund und die tiefe Maturergänzung, die Summe aller Wirflihfeit für Friedrich Hebbel bis zulegt.

Nun lebt fie fhon mehr als vier Jahrzehnte allein und doch ficherlic, nicht obne ibn. Doll feiner Kraft und frob ihres reich gefegneten Werks. Und es ift ſchoͤn, mie fill und ftet fie fein Werk pflegt. Aber dies ift doch nur ein Geringed: nicht fin den Nachlaß für das ganze Werk Hebbeld danfen wir heute der Neunzigjaͤhrigen, Denn fein reifſtes und reichſtes Werden rubte auf dem Grund, den Ebriftine Hebbel ſchuf und erhielt.

140

Chriſtine Hebbel Die Schaufpielerin/ von Emil Kuh*)

briftine Hebbel fpielte ganz und gar aus einer blinden Zuverſicht heraus, (Wr man ebenfogut ein Sichverlaffen auf dad Weg zeigende Herz

nennen kann. Der Quellpunft des darzuftellenden Charafterd ging ihr allzeit Flar auf, und ed war ihr die Gabe verlieben, die Naturfeele in die Plaftif der Gebärde und des Wortd zu bannen. Ihr breiter Strich und ihre einfahe Malerweife brachten die jeweilige Grundfarbe voll zur Anfhauung, und ihr Pathos, zwifhen Webrlofigfeit und Notwehr wunder: fam geteilt, hatte die Monotonie von Ebb und Flut. Während aber die Heftigfeit ihrer leidenfchaftlihen Ausbrüche nicht felten etwas Unartifuliertes annahm, Fleidete ſich ihr Erleiden immer in dem fchönften tragifchen Ausdruck. Minder deutlich traten die begleitenden Motive hervor, welche die Grund» linien des Charafterd bald einfchränfen, bald uͤberwuchern, bald verdecken und ihm dadurch den Schein ded Beſtimmbaren, Veränderliben und Zu— fälligen geben. Die Künftlerin modulierte zu wenig dad Charaftertbema und wurde deshalb zuweilen die Verflnderin einer flarren Motwendigfeit. Wo fich jedoch zu ihrer feelenvollen Macht im Anfchlag des Charaftertbemas der Reichtum der Variation gefellte, und wo fich die ihr eigne Stimmungs« und Koloritftärfe in den Wechfel der Fichter und Schatten auflöfte, da war ihr Gebilde jedesmal ein Schmaus der Sinne und eine Erquickung des Gemuͤts.

) Emil Kubd „Biograpbie Friedrich Hebbeld”, der das folgende Stid entnommen ift, ift unlängft (bei Wilhelm Braumüller, Wien) in neuer uns veränderter Auflage erfchienen. Man muß dem Verlag für diefen Schritt aufrichtigen Danf willen. Kuhs Werk, das im Buchhandel fhon ſehr felten und teuer geworden war, verdient ed, vor einem weiten Lejerfreid wieder aufzuleben. Nihard Maria Werner tlichtig folide Biograpbenarbeit macht Kubs Bud) der Freundſchaft jo wenig entbehrlich, wie fie einem Fünftigen fünftlerifch färfer begabten Darfteller diefes großen Lebens etwas vorweg nimmt. Kuhs Buch ift, wie Werner ganz richtig gefagt bat, „beinah“ eine Selbftbiograpbie Hebbeld. Es it mit Dofumenten und felbiterlebtem Anef- dotenmaterial fo durchſaͤttigt, ſo bis uͤber den Rand angefüllt, daß es ſchon als Quellenwerk nie wird entbehrt werden koͤnnen. Aber von dieſem wiſſen⸗ ſchaftlichen Wert ganz abgeſehen, iſt es ein koͤſtliches Buch. Jedes Blatt iſt durchſtroͤmt von einer Waͤrme und einer ſo innigen Bemuͤhung, Verſtaͤndnis ju wecken, daß ein menſchlich tiefer Eindruck entſtehen müßte, auch wenn dad aufgehäufte Material nicht fo uͤberreich an pſychologiſchen Koftbarfeiten wäre. Ald Ganzes ift ed mit feiner ungefonderten Stoffmaffe (die erite Ausgabe hat 1200 Seiten) natlırlic ein ſchlechtes Buch: die Materie iſt böchftend disponiert, nicht geftaltet. Aber in einzelnen Partien zeigt fich Kuh ald ein Schriftfteller von durchaus nicht alltäglichen Darftellungsvermögen. dir ftarf Erlebted findet er ftarfen und fünftlerifch eignen Ausdrud. Das

uh zu lefen wird eine Arbeit bleiben aber in ihm zu lejen, ift ficher ein Genuß. Bb.

141

Der ſtilvoll geſchnittene, im Detail markierte Kopf ſuͤdlichen Gepraͤges gemahnte an jene altrömifchen Werke des Meißels, welche die archäologifchen Fweifel bei der Beltimmung ihrer Bedeutung befchäftigen.

Ihre ganze Innerlichfeit und ihre ganze plaftifhe Kunft waren in der Darftellung der zwei Geftalten Hebbelö: der Klara und der Judith, auf: gebrochen. Ald die bochgewachfene Frau in der Nolle der Tifchlerdtodhter auf der Bühne fihtbar ward, mit dem erften Worte des Stuͤcks, da durfte man den Kontraft beflirchten zwiſchen der gedruͤckten Buͤrgerlichkeit des un- glücklichen Mädchens und der fait hoffaͤrtig ſchoͤnen Pieblichfeit der tragifchen Scaufpielerin. Aber die Eingangdhjenen waren noch nicht vorliber und ſchon wohnte man fo ftimmungstief in ihrer Darftellung, daß fein Außerliches Bedenken auch nur im geringften einen Störenfried abgeben fonnte. Ich jtebe nicht an, auszufprechen, daß im Gebiete des Geelenhaften und mit deffen Ausdruchdmitteln allein dieſe nachſchaffende Leiftung nicht ihreögleichen in der Gefchichte der Schaufpielfunft aufzumeiien bat. Es war das gemißhandelte und gefangene Herz, das bier ſprach, handelte und litt; das gefangene Herz, dad umfonft nad einem Audgange ſpaͤht, das nicht lauter fpricht, ald der Eingeferferte, der zagbaft prüfend auf eine leife Nachbarftimme Antwort gibt. Jede Einzelrede diefer Klara hatte die Bläffe der entfärbten Lippe, jeder ihrer Blicke, fogar ihr Lächeln war ein Zeuge und ein Hüter ihres Schickſals zugleih. Man fplırte, daß ihre Gedanfen fich ind Wort flüchteten, weil ihr eigner Kopf den Häfcher machte, und man fühlte hinter ihrer Zer⸗ ftreutbeit dad gefammelte Unglüd. Und wie die Naturftille mannigfaltig zu fein fcheint, weil dad Menfchenauge von den Halmen, welche die Injeften durchfummen, übergleitet auf den Laubfchatten, der am Boden zittert, und auf die Sonnenfunfen in den Wipfeln, fo gewann aud die pſychologiſche Stille, welche diefe Klara umwob, allerlei Abftufungen und Gradunterfchiede, je nachdem fie angebaltenen Atemd mit der Mutter oder dem Vater, mit Leonhard oder dem Gefretär fprah. Den Abwegen des ZJerfafernden und weichlih Ruͤhrenden Fam die Kimftlerin auch nicht auf mäßige Entfernung nahe, die Kraft der Buße wuchs in ihrer Darftellung mit der ſich mehrenden Hilflofigfeit, und wie eine Pflichterflillung, nicht wie ein Abſchuͤtteln irdiſcher Qual, traf uns ihr Todedgang an den Brunnen. _

In purpurne Sinnlidfeit getaucht war Chriftine Hebbeld Judith ; aber von einer rätfelbaften Schwermut umfangen, glimmte und glübte fie auf, und das fie begleitende Naturgeheimnis durchſchauerte fie mit einer ſchmerzhaften Wolluſt, die fih in ihrer Mede, wie in ihrem Mienenfpiel außerte. Aus diefem Geheimnis zog fie die fromme, wie die heroiſche Vegeifterung, Die unbeimliche Bejonnenbeit und die ernitumflorte Trunfenheit der Phanta ie. Ihr Spiel war dad Nachtfeſt einer daͤmoniſchen Seele.

Romeo und Julia

lles wiederholt fi nur im Feben. Reinhardts Aufführung von „Romeo D, I Julia” fcheint in vielen Punkten der Aufführung zu ähneln, die

Ludwig Tieck, der größte deutſche Theaterfritifer des neunzehnten Jahrhunderts, im Jahre 1324 auf der dresdner Hofbühne gefeben und in einem langen und inhaltreihen Brief an Raumer befchrieben bat. „Man bat den gewagten Verſuch gemacht, fo viel ald möglich vom Original bei« zubehalten.“ Auch Reinhardt hat diefen Verfuch gewagt. Einmal die Probe vom Gegenteil. Der bäufig zuviel ftreicht, bat diesmal faft gar nichts ge— ftrichen.

Es fragt ſich, ob damit die ungeheure Abgeipanntheit, mit der man diefe Vorftellung verläßt, im Raufalzufammenbang ftebt, oder ob das Liebes⸗ paar nur mehr Größe, mehr Glut und mehr Glanz zu baben brauchte, um alle diefe Szenen und Senden erträglich zu machen. Mir fcheint, das Liebespaar iſt Schuld. Wäre ed, wie es fein müßte, fo wären diefe Szenen und Szenchen geradezu notwendig, um und nad und vor den tragifchen Erlebniffen immer wieder zu und felbit fommen zu laffen. Hier, mo die volle Gewalt menſchlichen Schmerzes ausbleibt, wird der Wert folher Voll⸗ ſtaͤndigkeit zweifelbaft. Darum vermißt auch niemand die einzige befanntere Sjene, die, bei Reinhardt wie bei Tied, weggefallen ift: dad Auftreten Peterd mit den Mufifanten, die, nad) Zuliad Scheinfelbftmord und dem La— mento ihrer Angehörigen, die Gemüter berubigen follen. Bon dieſem Lamento felbft wird Fein Jota gefchenft. Der Phantaſie bleibt nichts übrig. Das ift ja iiberhaupt die Gefahr fir einen Negiffeur, der fo bartnädig und erfolg- reich in eine Dichtung dringt, wie Reinhardt, und fie jo Flar legt, wie er. Tief mag wieder fagen: „Alle mechanifhe Anordnung entwickelte ſich deutlich, alle Figuren bewegten ſich verftändig und abgemeffen durcheinander, feiner verdrängte oder verdunfelte den andern, nichts blieb unbedeutend oder im Schatten.” Damit ift deutlich genug ausgeſprochen, wovor Rein—⸗ bardt ſich zu hüten bat. Denn es fann fein Lob fir eine Aufführung von zwanzig Perſonen fein, wenn feine die andre verdrängt oder verdunfelt. Daß es fo ift, bezeugt vernehmlicher die allgemeine Menfchenliebe eines Negiffeurd ald feine Diftanz zum Kunftwerf, Entweder oder. Hier find achtzehn Menſchen, von denen zmei fich leuchtend abheben. Tun fie das nicht vermöge ihrer eigenen Leuchtkraft, fo follte man nicht noch ausdruͤcklich trachten, die andern achtzehn ins hellſte Licht zu ruͤcken und in diefem Licht auf die Höhe ihrer Leiftungsfähigfeit zu treiben. Das ift die Schiefheit diefer Aufführung: daß im Verona der Montechi und Eapuletti der Zauber der Stadt und das alltägliche wie das feittägliche Yeben der feindlichen Ge-

143

ſchlechter, ihrer Sippſchaft und ihrer Dienerfchaft ftärfer feſſelt als das Gluͤck und das Unglüd Julias und ihres Romeos.

Dad VBeimerf, wichtiged wie unwichtiges, ift großenteild wundervoll, obne an ſich Überladen zu fein. „Mir ift gewiß dad Schaufpiel befannt, wie irgend wem, aber durch die Aufführung felbit hat mein Auge doch noch manches entdecft, meinem Sinn ift manches in frifcherer Kraft aufgegangen, was ich zum Teil fıiberfeben, zum Zeil nicht fo lebendig gefliblt hatte.“ Zwei farbig belebte Straßen des händelreihen Veronas öffnen den Blick in Tiefen und auf Gärten, von denen einer Capulet? Garten if. So ſchoͤn war diefer Garten nie. Hierher mag oft und gern die allzu turbulent bebaufte Zulia ihr junges Seelchen retten. Drinnen gebtd unabläffig trepp⸗ auf und treppab vom Untergefhoß ind Erdgeſchoß und noch eine Anzahl Stufen böber; von rechts nad links; von binten nah vorn. Es entitebt das lebendigfte Bild eines italifchen Adelahaufes von Reichtum und hppigfter Gaſtfreundſchaft. Der Vater weiß ſich was. Herr Schildfraut träfe ihn, in feiner Mifhung von Jaͤhzorn und Gutmütigfeit, noch Iberzeugender, wenn er jeines Dichterd Worte bebielte und feiner Mutter Sprache vergäße, ftatt umgekehrt. Sein Neffe Tybalt hat nur die jahe Wut von ihm geerbt. Herr von Winter⸗ ftein fiebt, mit feiner wilden ſchwarzen Mäbne, zum mindeften verbeißend aus. Er ficht und tötet und fällt felbft in einem Auftritt, in dem bier die ganze erfchredende Roheit der Zeit hochſteigt und uͤberſchaͤumt. Das Haupt« verdienft an der Wucht und der Kulturglaubbaftigfeit diefed Kampfes bat Herrn Wegenerd Mercutio, dem vorher die phantaftifche Ader flir die fee Mab gefehlt hatte, der aber feine Mannestugend, nicht das Maul und nicht den Mut, fhuldig bleibt. E& gehört zu ten Vorzligen der Reinhardtſchen Infzenierung, daß diefe Kataftropbe vom Anfang des dritten Afte® an den Schluß des zweiten gefeßt ift und fo den entfcheidenden Einfchnitt in dem Schickſal der Liebenden ftärfer bervorhebt. Lorenzos propbetifched Gemüt bat die trübe Wendung ja geahnt, als er die beiden trauen foll: So ftürm« che Freude nimmt ein ſtuͤrmiſch Ende. Zunaͤchſt aber ift die Freude ſtuͤrmiſch, und ihr Anblick ift koͤſtlich. Sechsunddreißig fchnelle Zeilen hat diefe Szene. Sie ift aus Lorenzos Zelle in feinen fonnigen Garten verlegt und jagt wie ein Wirbelwind vorliber, ohne daß eine Silbe, ein Blick, eine Regung verloren ginge. Lorenzo fteht warnend und ermahnend mitten inne. „Bruder Lorenzo ift wohl naͤchſt den beiden Sauptfiguren die fchwerfte Aufgabe des Stüdes.” Sie wird diesmal jedenfalld am kuͤnſtleriſchſten geloͤſt. Pagays allzumenſchliches Kraͤutermoͤnchlein ift zum Glüc gar fein Mönd, fondern nichts ald ein Menſch. Sein gerader Gegenpol ift Frau Wangel, der in fomifhen Rollen alles Menfchliche fremd und fremder wird. „Die Amme ift wegen der Reichtigfeit zu loben, daß fie nicht fcharf accentuierte, wodurch

144

diefe Rolle feicht unangenehm und anſtoͤßig werden könnte,” Damit hat ed Tief alfo beffer gebabt ald wir, Frau Wangel bat Feine urfpringliche Komif und ſucht ed darum durch die Maske, im umfaffenden Sinne des Wortes, zu zwingen. Diejed mehr dumm als ſchaͤndlich Fupplerifche Weib ift wirklich die verförperte Gemeinheit. Frau Wangel erläßt und nichts. Sie accentuiert fo ſcharf, daß die Rolle mehr ald unangenehm, daf fie eine Mervenfolter wird. Sie ſteht beberrfchend im Mittelpunkt, die Amme im Mittelpunft von „Romeo und Zulia”,

„Ih ſprach von zu eigenfinnigen Forderungen mancher Jufchauer. Es gibt foldhe, die man lieber ungereimte nennen follte; zum Beiſpiel die, welche jegt durch ganz Deutfchland ertönt, daß eine Schaufpielerin, welche junge Rollen fpielt, audy felbft jung, wenn irgend möglich, nicht älter, als ed dad Stück befagt, fein muͤſe. So möchte man alfo immer die Kinder, fowie fie entwöhnt werden, zu Liebhaberinnen bilden, damit in aller Kraft und notwendiger langer Übung eine vierzehnjährige Zulia und bezauberte.” Fräulein Camilla Eibenfhüs, Wedekinds boldfelig herbe Wendla, ift gewiß die jüngfte Zulia, die wir noch gefehen haben; aber fie hat und nicht be» zaubert. „Ei, Du bleihfüchtig Ding!“ ſchreit Vater Eapulet im Zorn fein Mädchen an. Diefe Julia würde er auch zärtlich fo nennen. ie ift blagblaublond. Das ift fein Hindernis, fo lange fie Kind, fo lange fie Mädchen if. Ihre Liebe erwacht fo echt und innig, dag man der Stalienerin nicht nachfragt. Aber für den zweiten Zeil muß man doc wohl entweder reifer oder füdländifcher fein. Hier fommt Fräulein Eiben- ſchuͤtz nicht mehr mit ihrem Gefühl oder nur noch nicht mit dem Eünftlerifchen Ausdruck ihres Geflhld mit. Da fol und muß die Regie helfen. Ich fehe und böre Reinhardt in jedem Augenblick. Wie Julia entſetzt umfährt und an eine Wand finft, wie fie verfteinert und wie fie verzweifelt ins Leere ftarrt, wie fie fi) aufd Ruhebett ſtreckt und feine Ruhe findet, wie fie hinfällt und wie fie wehſchreit: das alles erfolgt wie auf ein heimliches Kommando und hat dann allerdings nicht die Kraft, zu erfchüttern und binzureißen.

„Romeos Gemüt ift viel finfterer ald das der Zulia.” Herr Meoiffi würde neben jeder Julia finfter wirken; neben Fräulein Eibenfhüß tut er ed doppelt. Er ift viel felbftändiger ald feine Partnerin und intereffiert darıım länger und tiefer. Ein unbändig ungebärdiger, aͤußerlich blutig. junger, inwendig frübgereifter Knabe, der mehr zum Leiden ald zum Fieben geboren ift. Seine Schwermut um Roſalinde gebt vorüber und ſteckt doch beinab an. Seine Liebe zu Zulia dauert uͤbers Grab und zündet dennoch nicht. Es ift menfchlic verftäntlih, daß die Schaufpieler fi jeden Ver⸗ gleich verbitten, der zu ihren Ungunften auffällt. Aber da Kritifen doch mur

145

aubnahmsweiſe gefchrieben werden, um den Theaterleuten Freude oder Schmerz zu bereiten, wird man fi diefes fritifchen Kunftmitteld nicht ent« ſchlagen, wo es Fünftlerifche Wirkungen erflären fann. Warum wehte es fchon nach den erften Szenen des glüdlihen Liebhabers Romeo fühl zu Herrn Moiffi herauf und machte ihm die Arbeit noch faurer? Weil im ganzen Haufe feiner war, der nicht den Namen Kainz auf den Lippen hatte. Als Romeo ein Kind und ein Mann, ein Her; und ein Held, ein Prinz und ein Stück Nenaiffance. Was willſt Du armer Teufel geben! fehlen zu Herrn Moiffi mancher, faft jeder zu fagen, der nicht genauer hinſah. Das ift freilich fein Amorofo der blendenden Gaben, der gligernden Rede und der gefchmeidig anmutreichen Glieder. Diefer Romeo fchleicht mit eingeknickten Beinen umher, hebt zaghaft Die Arme, dreht, wiefchlichtern bittend, in halber Höhe die Hände um und fpricht aus melancholiſch wehem Mund dazu. Wenn lıber diefen Nomen, nach dem Unglüd, das Glück der Fiebe fommt, verändert e8 ihm das Tempo der Gelenke und der Zunge, aber es verändert ihm nicht das Klima der Seele. Er fpringt, er fchleudert fi, er klimmt und Flettert, er jauchzt und ſchwoͤrt und tut nach- Kräften alles, was ſich im derlei Angelegenheiten tum läßt. Innerlich bleibt er Oreſt. Ein unerlöfter Menfh. Wie von Erinnyen ummeht bei der verhängnisvollen Tötung Tybalts. Ganz bingegeben feinem Freund Lorenzo, der ihn vielleicht erretten kann. Lautlos zerfchmettert bei der Kunde von Zuliad Ende. Schlicht gefaßt zu flerben beim Fweifampf mit Graf Paris, In den zwei Schlußbildern ift um dieſen Romeo ein Bauch von Hoheit, der ihm bis dahin ferngeblieben ift.

Die Erinnerung an Moiſſis Nomeo wird fih an diefen Schluß und ein paar andre Szenen beften, in denen Julia nicht wichtig oder gar nicht war. Darin fpiegelt fi denn allerdings die ganze Fragwuͤrdigkeit diefer unendlih muͤhevollen Vorftellung, aus der man ſchließlich auch den Romeo berausbrehen könnte, ohne ihr wefentlihen Schaden zuzufügen. Der Weg war falfih. Wenn man „Nomen und Zulia” geben will, fomponiert man nicht in ein wunderfchönes Bild der Stadt Verona einen Nomen und eine .. AYulia hinein, fondern wartet, bis man einen Schaufpieler und eine Schau fpielerin bat, die, jeder flr fi) und in Beziehung zu einander, fuͤr dieſes Paar wie auderlefen find. Tut man dad nicht, fo wird man nicht den Eindrud eines großen Kunfterlebniffes, fondern nur den Eindrud eines ge⸗ waltigen Stuͤckes Arbeit erzielen, einer Arbeit, der jeder Danf und jede Anerfennung fiher if. Mehr nicht. Die Liebe ift der Liebe Preis, und wer dem Drama der Liebe die hoͤchſte und tieffte Liebe zweier gottgetrauter Menfhen vorenthält, vorenthalten muß, darf fid) nicht wundern, daß ihm nicht heißer gelohnt wird.

146

Schwänke / von Willi Handl

n die uͤberwaͤltigende Heiterfeit der bloßen Tatſache, daß es jebt irgendwo Hufaren gibt, wo es früher feine gegeben bat, fonnte ich von vorn⸗ berein nicht recht glauben. Und ich fand meine Jweifel beftätigt, ale ih nun, von einem böhnifhen Zufall um meinen feften Vorſatz betrogen, diefes Stuͤck aud fiber mich ergeben ließ. Diefed „Hufarenfieber” entzieht ſich durchaus meinem Verftändnid; ed wollte mir nicht gelingen, in den Vorgängen felbft irgend eine Art von Heiterkeit zu entdecken. Im Gegen- teil: zuerft wird gezeigt, wie fi) die Soldaten ohne die Bürger langweilen, dann aber wird gezeigt, wie fid) die Bürger wegen der Soldaten lang-- weilen; dazwifchen wird getanzt. Und man fäme fchon auf die duͤſtere Idee, diefer Schwanf wolle nur die ungeheure Ode unfrer Welt darftellen, wenn ſich nicht weiße Kleidhen und wiener Muſik einer folhen Anfhauung immer wieder fanft und entfchieden widerfegten. Auf alle fälle denft man beim Anblick der vielen, vielen Uniformen mit Seufjen daran, welch ein Meifter- werf doch „Krieg im Frieden” gemwefen if. Ich aber rührte die zwanzig Jahre Burgtheater, die ich bisher als Zufchauer miterlebt habe, in meinem Gedächtnis auf, um alles Ernfted nachzuſuchen, ob in Diefer Zeit etwas gleih. Wertloſes da gefpielt worden fei: ich fand nichts. Denn Schwänfe ja, Schwänfe haben wir immer gehabt. Dumme Iuftige Schwänfe; in denen etwa ein wittender Schneider plöglich uͤber die Mauer geftiegen fommt, oder ein Mann mit einem Koffer in der Hand feine Liebe erklärt, oder einer ind Wafler fällt und dann vor Schnupfen nicht reden kann, oder gar eine Wand plößlich durchfichtig wird und zu den vorhandenen Albernheiten nod einige neue verrät. Dergleihen kindiſche Spiele flrd Publikum fiud hier nicht? Meued und vielleicht nur darum nichts Unwuͤrdiges. Man will eben lahen. Zröftlich genug, daß man es immer noch will; traurig genug, dag man ed mur dann zu fönnen glaubt, ment jede Anforderung an ein tiefered Mitgefuͤhl gänzlich ſchweigt, und wenn vor allem die furdtbare Gefahr einer Nötigung zum Denfen vollflommen : audgefchloffen erfcheint. Dennoch hat es mich gewundert, daß man den Menſchen zumuten darf, über eine Geſchichte zu laden, die aus nichts als Langweilen, Tanzen und Heiraten beftebt. Es fcheint aber, daß man das wohl darf. Und damit wird freilih die Grenze des Möglihen auf dem Theater ganz bedeutend gegen dad Reich ded abſolut Sinnloſen hin vor« geſchoben. | Das ift recht bedauerlih. Denn dort, wo ſchon die Kunft aufhört, hätte doch nod eine ganze Menge Verftand, Logik, Witz und Einfall Platz, und es gibt fein Geſetz, dad den Schmwänfen verbietet, einen Sinn zu haben. Im Gegenteil; im Anfang war aud bei den Schwänfen der Sinn. Diefer ift, aud dem bloßen Verftand heraus Heiterfeit zu erfchaffen, ohne Anſprache ded Gemuͤts. Das Zwerchfell vom Geift aus zu bewegen, in« deffen die Seele völlig ruht umd fi ſchont, das ift ihre Beftimmung. Der

147

Seele mag dann die Luft dreier Stunden von felbft zugute fommen, ohne dag fie fi bemüht und ohne daß fie im Grunde wiffen muß, wie. So wie und ein bellerer Tag, ein frifcherer Wind ganz von felbit gefünder macht; wir haben nicht nötig, erft daflır zu forgen. Das müßten und die Schwänfe geben: etwas Hellered und Friſcheres, dad und nuͤtzt, aber und nicht plagt, ein gefundes Lbungsfpiel für den Geift. Intelligent zu fein, wäre ihre vornehmfte Pflicht. Ihre Sntelligenz muß Falfulieren, fombinieren, jonglieren, muß eöfamotieren, wenn ed nottut. Es ift eine rüdfichtälofe, ungerlihrte Intelligenz, ohne Nefpeft vor den ewig menſchlichen Dingen. Diefe gehen den Autor nicht näber an; ald Nechner mag er fie benützen, fo weit fie zur Hand find, ald Schöpfer fann er fie ganz verachten. Darin fei er dad voll- fommene Widerfpiel des dramatifchen Dichterd: Alles Menfchliche fei ihm fremd. Denn das Gemüt muß abwefend fein, wenn diefe Art von Heiterkeit und fräftig anmwehen fol. Es ift ſehr luftig, aus dein geheisten Zimmer zuzuſchauen, wie die Leute auf der Strafe, blaugefroren, fchlotternd und zappelnd, gegen Schnee und Sturm laufen. Kommt aber dann etwa das eigene Kind daher, halb erftarrt, jammernd und in wehleidigen Tränen, fo befommt man plöglih Gemüt, wird wütend und flucht erboft auf diefe Saufälte. Und ganz ähnlich, wenn irgend einem der Wind den Hut vom Kopfe reißt, wenn einer ftolpert und fällt oder binaudgerworfen oder geprügelt wird, Geht er und nichts an, fo lachen wir; haben wir ihn lieb, fo be— dauern mir ihn gerührt. Die Kamnibalen finden ed gewiß unbändig luftig, wenn ein Gefangener, den fie zu Mittag braten wollen, unter Gebrüll ver- zappelt, Wir find natürlid weit höher entwidelt; mit Tod und Folter zu fcherzen, haben wir längft verlernt. Aber fo ein ganz kleines Menfchen- freſſerchen it doch noch tief im jedem von und verftedt; das lauert und freut fi, wenn irgendwo ein recht komiſches Unglüc gefchieht nämlich ein Unglüd, dad und gar nichts angeht. Wovon und eben kannibaliſch wohl wird,

An den Kannibalen in und wenden ſich die Schwänfe. Denn in der Hauptſache beftehen fie ja aus den Unglüͤcksfaͤllen, die und ergögen, wenn wir fie fehen können, ohne fie zu fpüren. Verlegenheiten, Beſchaͤmungen, böfe Zufälle, Widrigfeiten aller Art find ihr Inhalt. Warum macht ed und Spaß? Weil es ſich niemald um unferdgleichen handelt, niemald um Menjchen, immer nur um Figuren. Darum müffen Schwänfe nie von Dichtern fein, und darım koͤnnen Dichter niemald Schwänfe fchreiben. Denn ed läuft ihnen doch, auch wenn fie ed gar nicht wollten, immer noch zu viel Menſch⸗ liches, Innerliches, Empfundened und Empfindbares in ihre Gedanfen. Und wir wären tief befehämt und beumrubigt, wenn wir erfennen müßten: Das find ja Menſchen, Menſchen nad unſerm Ebenbild, über deren Leiden und ÜÄrgerniffe, über deren Schande und Cächerlichfeit wir und ungeruͤhrt beluftigen ſollen. Ungeruͤhrt, darin liegt ed; denn die Rührung ift das Grundelement ded Humord, und der Humor (haft Ruftfpiele, nicht Schwänfe. Der richtige Schwank aber ift ein geſchicktes und fcheinbar verwegenes Spiel der Intelligenz.

148

Hat man einmal den Menfchen die Seele herausgeriſſen, fo kann man natuͤrlich mit ihnen wie mit Bällen herummerfen, fie nach Belieben fchleudern, ftoßen, durcheinander jagen und wieder zur Ruhe bringen, ohne daß es den Zuſchauer im Ernft aufregen oder beunrubigen wird. Aber diefed eine wenigftens, die ſes geſchickte Ballfpiel, diefed Berechnen und Überſchauen jeder Bewegung, die ſes zweckvolle Durcheinanderführen der Figuren, muß der Schwänfemadher doch ziemlich vollfommen verftehen. Die Franzofen können es; ihre Schwänfe anzufeben, wird man faum muͤde, wenn einen nicht etwa plöglich ein tiefer Verdruß über die troftlofe Unvermeidlichfeit des Ehebrud-Motivs anfaßt. Die Deutfchen haben jeßt den Oscar Blumenthal. Diefem wird von der literarifchen Kritik mit größter Erbitterung vorgeworfen, daß er fein Dichter fei; das dürfte fimmen. Aber niemand wird ihm beftreiten koͤnnen, daß er ein audgezeichneter Nechner ift. Darum gehören feine Schwänfe aud) zu dem Heiterften, was es fuͤr zivilifierte Kannibalen deutfcher Nation nur geben fann. Diefed „Weiße Roͤſſel“ zum VBeifpiel, in dem uͤber die förper- lichen Gebrechen eines Kahlkopfes und einer fäufelnden Jungfrau, uͤber die verfhämte Armut eined Gelehrten, tiber die Verzweiflung obdachlofer Neifender fo ganz gefühllo® gewigelt wird, ift zwar ein fanmibalifcher, aber doch ein gelungener Scherz.”) Da ift alled fäuberlich Falfuliert, gut außgezirfelt, von Anfang an mit Vorfiht und Sachverftändnis feine Wege geflihrt, und eine gewiffe Mannigfaltigfeit und angeregte Bewegung ift fchließlich die Frucht diefed ordnenden und rechnenden Sinned. Sind ed auch nur Puppen, fo fann man doc mit einiger Meugierde dabei fein, wie er feine Puppen ſchiebt und dreht umd leitet. Und bat fi) einmal die Neugierde an dem Vorgang feftgefreffen, fo ſchweigen aud alle Bedenken uͤber das Unmenfchliche der Behandlung; der Fleine Kannibale erwacht und freut fi unbändig.

Das kann Oscar Blumenthal, und einige Deutfche fönnen es fo wie er der ein wenig fchlechter. Vielleicht können ed Kadelburg und Sfowronnef auch; ich babe bisher nicht die Zeit gehabt, ed zu Fontrollieren. Aber ich weiß beftimmt, daß fie es in diefem unglücklich glüdlichen „Hufarenfieber” nicht gefonnt haben. Hier find nur Koftiime, nicht einmal Figuren. Hier find feine Ereigniffe, nım Verlobungen. Hier ift feine Berehnung, fondern nur Gerede. Alles fehlt, was den Schwanf zum Schwank macht. Sein

9) Muß ſchon einmal die weltbewegende Frage aufgeworfen werden, wer tiefer ftebt: ob Blumenthal oder Kadelburg, fo möchte ich flr mein Teil doch nahdrüdlic für Blumenthal ſtimmen. Er wird, in allen feinen Stuͤcken, an irgend einem Punkt ranzig fentimental. Er baft und befämpft, auf fritifhen Anſichtskarten und in Trauerfchwänfen, die moderne Riteratur und Kunſt. Er macht Verfe, diefe Verſe. Er hält und erflärt, er felbit, ſich immer wieder flr einen Dichter. Von alledem ift und tut Kadelburg nichts. Er fennt feine Nührfiften, läßt Wedekind, Klinger und Strauß am Leben umd freut ſich in fchlichter Profa feiner Tantiemen. Wenn ic) die Wahl habe, ob ich einmal das „Glashaus“ oder noch fünfmal „Bufarenfieber” fehen fol, jo wähle ich das (Ängermährende, aber weniger fhmerzbafte Übel und bin dabei meines Handels fo froh, wie ic, im fibrigen, meines Handle frob bin. 8. J.

149

Erfolg beim Publikum ift gewiß nur ein Erfolg der blauen Roͤcke, wenn es nicht der Erfolg außerordentliher Schaufpieler iſt. Eonft aber könnte ich mir. feinen Triumph über Verftand und Gefhmad ebenfomwenig erklären, wie irgend einandrer, ebenfowenig vermutlid), wie Kadelburg und Sfowronneffelbft.

Solche auferordentlihe Schaufpieler hat dad Burgtheater. Trefler, der erft Firzlich in einer tragifchen Feiltung von feinftem und echteftem Gehalt bewundert werden mußte, bat fi) da mit der Wucht einer wahrhaft feligen Leidenſchaftlichkeit in fein geliebted Element turnerifcher Groteskkomik zuruͤck⸗ geworfen und vollführt fo ungeheuerlich luftige Schritte, Sprünge, Drebungen, fo merfwürdige Reiterfunftftücte auf ungefatteltem Seffel, daß man die Ver- mutung nicht (08 wird, er wäre auch ald Zirkuskuͤnſtler eine Nummer erften Ranges geworden. Jedenfalls hat fein Talent der rein förperlihen Bewegung weit mehr auszugeben, ald die Buͤhne des Theaters verlangt und für gewöhnlich; verträgt. Hier, in diefen gleichgiltigen Wurſtelrollen, die an fich nichts find, wird er dieſe Uberſchuͤſſe los, drängt feine ganze Phantafie da binein, bringt artiftifche Uberrafhungen aus allen Gelenfen der Arme und der Beine, erfindet Stellungen, Gangarten und luftgymnaftifche Scherze, deren gefällige Form er wieder vom Zeichner und Plaflifer leiht, den er zu alledem noch in fih bat. Es ift faum abzufeben, wo die Talente diefes Taufendfünftlerd enden. Neben ihm ſteht Thimig als liftiger Pſychologe Hleinftädtifher Spiegbürger, Da nun aber aud in feiner Molle, wie im ganzen Stüd nicht der leifefte Zug einer menſchlichen Seele gefunden werden fonn, zeichnet er ſich die Pſychologie in das fahle, verfniffene, gemütlich giftige Geficht, gebt ihren Linien im Schnitt des Nodes nad und findet fie nod mit einer großen Fünftlerifchen Sicherheit in der Stellung der Beine und im furzatmig feigen Schwung der Arme. Auch er war ja, vor etwa fünfzehn oder zwanzig Jahren, ein vielbeftaunter Artift der förperlichen Groteäf- fomif, ein nie verlegener Erfinder von Pirouetten, komiſchen Sprüngen, Tänzen oder Handfländen. Nun, da diefe fchlanfe, fchnelle Beweglichkeit beleibter und bedädhtiger geworden, da die ganze fünftlerifche Phantafie mehr dem Charafteriftifchen ald dem rein Komifchen zugewendet iſt, erinnert er fid) zuweilen noch feiner Runft, mit einer unerwarteten Bewegung dad große Gelächter aufzumweden, in folhen Schwänfen, die dem Schaufpieler ja alles erlauben, was irgendwie wirft. Er bat da, in einem Moment, da er den Zorn des aufgefheuchten Kleinftädterd ſichtbar machen fol, ein ungeduldig nervoͤſes Spiel mit einer falfch angeftecften Manfchette, das fih aus lauter hilflos haftigen Stoͤßen, Schüben und Drehungen jufammenfegt und über alle Beſchreibung fomifch ift. Auf dem Variete wird fo etwas mandhmal auch gezeigt, und man lacht fehr. Hier aber erfennt man unter Rachen aud) die Intuition einer kuͤnſtleriſchen Schöpfung, die Size eined Menſchenbildes, das ſich aus Lächerlichfeiten zufammenjegt. Und man ift ungemein heiter und freut fih über Thimig und uͤber Treßler.

Erft fpäter fällt einem ein, daß da angeblich auch ein Schwanf gefpielt worden fein fol, angeblich von zwei Schriftftellern . . .

150

Amerifanifches/ von Adolf Winds

enn von irgend einer Stadt behauptet werden fann, fie fei eine Tpeaterftadt, dann läßt fich dad von New Pork fagen. Am Broadway, in der vierzehnten, in der hundertflnfundzwanzigften Straße und in andern liegen die Theater gleid) reihenweis, und fie find Abend flir Abend voll. Und nicht nur des Abends, auch häufig am hellen Nachmittag; denn die meiften Bühnen veranftalten Mittwod und Samstag Matineen, die gleichfalls ihr Publikum finden. Wird in Betracht gezogen, daß der amerifanifche Winter eigentlich erft nad Weihnachten richtig einfeßt und der November, fogar der Dezember nody warme Tage voll ftrahlenden Sonnenſcheins bringen, dann uͤber⸗ rafcht der mittäglihe Zufprud doppelt. Der Amerifaner ift ſchauluſtig. Er fennt feine Kneipe, feinen Stammtifh, er liebt dad Theater, fucht aber dort weniger die Kunft ald dad Vergnügen. Selten hört man im Theater fo von Herzen fommendes Lachen wie in Amerifa, ſolche Salven von Applaus, die meiftend nicht der Darftellung, fondern den Vorgängen des Stückes gelten. Der ernfte, in business aufgehende Amerifaner ift im Theater naiv wie ein Kind, gibt fi ganz dem Spiel hin und ift gar nicht fritifch geftimmt. Freilich fehlt die Weihe, dad pochende Herz, die hochgejogene Augenbraue. Man gebt ind Theater, wie man ind Reſtaurant geht. Trog Frack und großer Toilette der Damen wird felbft in vornehmen Theatern der Überrock ind Parfett mitgenommen und ungeniert ber den Sit gelegt. Ein Wandel- gang, ein Foyer iſt meiſtens nicht vorhanden: man tritt gleich vom Stiegen- ind Logenhaus. Dabei liegen die Theater in der Häuferreibe, ohne fi aus ihrer Umgebung fonderlid abzuheben. Hier ein glänzend beleuchtetes Warenhaus, dort ein von Licht ſtrahlendes Cafe und dazmifchen ein Theater, durch nichts kenntlich ald dur große Plafate mit den bunten Bildniffen der Stars, photographifchen Szenenbildern und dergleichen. Variete geringern Grades haben fogar ihren Ausrufer. Im Innern dagegen find die Theater meift elegant und Überrafchen durch ihre Pracht. Fuͤr Abwechslung ift beftens geforgt. Hier fann man eine Operette feben, ein paar Häufer weiter ein Melodram, gegenüber ein Luſtſpiel und im nähften Blod ein Drama von Shafefpeare. Dabei läßt ſich nicht behaupten, daß das leichte Genre bevorzugt wird; der Amerifaner läßt fid ebenfo gern rühren, wie er lacht. Freilich muß die Koft feinem Gaumen munden; er will die Tugend belohnt und das Lafter beitraft fehen. Die beliebtefte Gattung ift dad Melodram, wie überhaupt Mufif in feinem Stud fehlen darf. Die in deutſchen Schaufpiel- häufern verpoͤnte Zwiſchenaktsmuſik will man hierzulande nicht miffen, in der Wahl der Mufifftücte aber ift man ebenfowenig waͤhleriſch wie weiland bei und. Kürzlid) hörte ih in einem Schaufpiel, dad im alten Indien fpielt, ald Zwifchenaftämufif dad Preißlied aus den Meifterfingern. Was aber die amerifanifhen Theater vor den europälfchen vielfach aus⸗ zeichnet, ift die Sorgfalt der Infzenierung und die unbedingte Sauberfeit der Darftellung. Die biefigen Verhaͤltniſſe bringen ed mit fi, daß ein

151

und dasfelbe Stüd drei bis wierhundert Mal nacheinander gegeben wird und öfter; daß aber, wie es in Deutfchland vorzufommen pflegt, eine oft gefpielte Vorftellung in den Wiederholungen verfchlampt, wird bier nicht geduldet. Das Fleinfte Verfehen, die geringfte Unterlaffung, und der Manager fegt fofort eine Probe an, wie denn überhaupt bei den ohne Mithilfe des Souffleurd fortlaufend gegebenen Zugftüden jeden Montag eine volle Probe ftattfindet. Man befundet durch diefed Vorgehen Achtung vor dem Zufchauer, gleichviel, ob er der Premiere oder der fo und fovielten Wiederholung bei- wohnt, er bat in beiden Fällen fein Eintrittägeld in der gleihen Summe bezahlt. Das verdiente auch jenfeitd ded großen Teiched Beherzigung zu finden.

Merden europäifhen Anfhauungen die Stüde oder Bearbeitungen, die man gibt, in den feltenften Fällen zufagen, auch die Darftellung nur aus« nahmsweiſe, fo fteht die Kunft der Inſzſenierung auf einer hoben Stufe. In einem Zugſtuͤck des Beladco-Theaterd »Girl of the golden Weste, einem böfen Melodram, iftein Problem gelöft, an Dem biöher jede Infjenierungds funft gefcheitert ift: die naturgetreue Darftellung eined Sturmd. Man bört wohl fonft die Windmaſchine faufen, oft an der unredhteften Stelle, aber an den gemalten Bäumen bewegt ſich fein Blatt, die berabhängenden Mäntel der Darfteller flattern nicht, die Segel des Holländerfchiffes hängen fchlapp; böchftend daß in der „Königin von Saba” der Baum in der Wüfte mutter feelenallein hin⸗ und berfchaufelt. Belasco, der außerordentliche Negiffeur er ift auch Verfaffer des Stuͤckes bat die Darftellung des Schneefturms, eine Sauptattraftion, in ein Zimmer oder vielmehr in eine Art Blockhaus verlegt, in weifer Erfenntnid, daß ein folder Vorgang in offener Landſchaft überhaupt nicht darzuftellen if. Wir fehen und bören den Sturm nur, wenn die Türe aufgeht. Er Fündigt fih an, indem die ſchweren Holjtüren ploͤtzlich aufgeriſſen werden und krachend wieder ins Schloß fallen, ebenſo die Fenſter, die klirrend bin» und hergeſchleudert werden; dad im Zimmer anmwefende Girl eilt hinzu und ſchließt mit Anfoanmumg ‚aller Kraft die Flügel. Jedesmal, wenn nun die Türe geöffnet wird, hört man draußen den Sturm, fieht die Floden und nimmt die große Anftrengung wahr, die der Eintretende aufwenden muß, die Türe wieder zu fchließen. Links, der Türe gegenuͤber, ftebt ein mit Vorbängen umgebenes Bett; jedeömal wenn der Sturm bereinbläft, flattern diefe Bettvorbänge hoch auf; ebenfo hängen oben am fichtbaren Bodenraum ded Blockhauſes unter Gerlimpel aller Art einige Rappen; auch die fliegen jedesmal hoch in die Luft. Das Aufreißen der Türen und Fenſter, die flatternden Bettvorhaͤnge und Lappen geben dem Zufchauer den vollen Eindruck eined wahrbaftigen Sturms, daß er unwillfürlih fröftelt und den Rock zufnöpftl. Der Aufwand fr diefe natürliche. Infjenierung befteht in nichtd weiter, ald in maffiven Türe und Fenfterrahmen und in den paar meffingenen Mindfächern (kleinen Schaufel⸗ raͤdern, die elektriſch betrieben werden) hinter den Tuchern. Auch von Wandeldekorationen und Beleuchtungseffeften wird ein vernunftiger Gebrauch gemacht. In jenem Stud von Beladco fpielt der erfte Aft in einer wüften

182

Herberge in dem milden Welten. Der Vorhang hebt fi, und man erblickt zunaͤchſt eine Dämmerung, in der fi das Auge noch nicht zurechtfinden fann. Nach und nach tauchen Berge, wilde Schluchten auf (eine Wandel⸗ dekoration, die von unten nach oben geht): wir meinen, einen Berg zu fteigen. Enptic) ſchimmert ein Licht; die Landicaft wird deutlicher; wir gewahren eine beleuchtete Hlitte, die hoch oben an einem Gelfenfamm klebt; blitzſchnell verwandelt ſich der Schauplatz, und wir ſind mit einem Mal mitten in der beleuchteten Hütte. Das ift fein bloßer Deforationdeffeft, denn nun wiſſen wir, wie einfam die Hütte liegt: das gibt nicht nur dem Schauplag, fondern den ganzen Vorgängen die richtige Stimmung. Sehr gut weiß der amerifanifhe Regiſſeur mit dem Licht umzugehen. Er wird, wie es jeßt fo oft an deutfchen Bühnen gefchieht, feinen Schauplag in Dunfel büllen, wenn der Zufchauer etwas fehen muß; in jener Hütte im wilden Welten war es blendend hell, überall hingen und ftanden Lampen und Laͤmpchen ald fcheinbare Spender des Lichte. Wo aber der Zufchauer nichtd oder nur undeutlich ſehen foll, gebt die Handlung im Dunfeln vor fih; fo ſah ih in dem erwähnten indifhen Schaufpiel eine Schlacht in eine derart natürliche Staubmwolfe gehüllt, daß man vom Gefecht nur wenig wahrnehmen fonnte, aber gerade darum den vollften Eindrud eines erbitterten Kampfes hatte, Die Staubwolfe befteht aus leichtem, feinem Puder, der durch Blafebälge emporgefdleudert und braun beleuchtet wird.

Kunft im eigentlich europäifchen Sinn: dag Werk und Wiedergabe von gleihem Fünftlerifchen Wert find, wird wohl nur in der Metropolitan-Oper geboten, dem glänzendften und größten Opernhaus der Welt; freilich ift unter den drei« bis viertaufend Perſonen, die das Haus faßt, der naiv amerifanifche Zufchauer felten. Dort geben ſich die Milliardäre Rendezvoub. Der Totlettenlugus, den ihre Damen zur Schau tragen, die Diamantenpracht find geradezu blendend. Daß aud die Herren in feftliher Gewandung erfcheinen, ift dort wie in Paris felbfiverfländlih. Das newyorker Deutfche Theater dagegen bat eine gut bürgerliche Phyfiognomie und ein zwar Fleines, aber ungemein anhänglihed Stammpublifum, An Ausftattungund Szenierungs- fünften kann es natürlich nicht mit den englifchen Bühnen wetteifern, die ein Stüd glanzvoll ausftatten, von langer Hand vorbereiten koͤnnen, da fie es Monate hindurch fpielen. Das Deutfche Theater aber pflegt einen wechfelnden Spielplan. Andre fremdfpradhige Buͤhnen find nicht ftändig, auch feine franzöfifche, Dagegen gibt ed einige jüdifhe Theater, die bei bilfigen Preifen großen Zulauf haben. Go wird der Schauluft des Amerifarterd in New⸗VYork die reichſte Nahrung geboten: Theater, Varictes in Huͤlle und Flle und zu jeder Preislage, ein Hippodrom mit einer derart großen Birhne, daß fie über den Geſichtskreis hinausgeht. Ein Dutzend Reiter und Neiterinnen jpringen dort in einen auf der Szene befindlichen See, der fo tief it, daß das Waſſer ber ihren Köpfen zufammenfchlägt, und die Pferde ſchwimmen. Das gebt nicht in einer Pantomime vor, fondern in einem um diefen See

herum gedichteten Stüd. 168

Sonntags find die meiften Theater gefchloffen. Etliche engliſche geben Baudevilles im Frad Koſtuͤm ift verboten und im Deutfchen Theater findet bei offener Bühne Vorhang und Sienenwechſel ift unterfagt ald sacred concert eine Aufführung von Penfion Schöller, Heimat und dergleihen Stlden flatt. Findet eine Wahl flatt, wie Fürzlich die Gouverneurswahl, fo wird überall in den Zueifchenaften die Stimmenzahl befanntgegeben, die die verfchiedenen Kandidaten bid dahin erhalten haben, und ſchließlich dad Reſultat verkündet. Auf der Straße entwidelt ſich hinterher eine echte Rarnevaldftimmung: mitten auf dem Damm ziınden Jungens große Freudenfeuer an, ernfte Männer blafen auf Kindertrompeten, Damen werfen Confetti und ſchwingen große Flederwiſche, und bis in die fpäte Macht hinein fchafft fih die auf- und abgehende Menge felber ein braufendes, lärmendes, luſtiges Schaufpiel.

Erſter Sturm / von Felix Paul Greve

gie Duͤnen fliegen auf mit grünem Schopf, Sie wogen, branden, türmen fih und fippen, Und jede rennt mit jäbem Widterfopf Zerfchellend an des Waldes ſchwarzen Klippen.

Da fprengt ein Herold mit gefenftem Stab

Auf gelbem Roß durdy die geſcheuchte Maffe. Hingellt fein Horn: Vereitet euch zum Grab!

Mir folgt mein Herr. Habt acht vor feinem Haſſe!

Heraus die Banner: gelb und braun und rot,

Und loder hingehängt! WBeftreut den Boden! . . . Verachtet eurer einer fein Gebot,

Den wird mitfamt der Wurzel er entroden.

Seht graugepanzert ihr die Schiffe nahn

Im Welten hoch: fein bauchiges Gefchmader?

Schon landet ihn fein Ferge, der Orfan.

Ich muß binweg: ihr meidet feinen Bader! . . .

Und Orgelſcherzi heulen ſchwer und ſchrill Zum Flattern bunter Fetzen all der Fahnen, Mit denen fi der Herbſt behängen will Auf dem Fanfarenritt zu feinen Ahnen.

Menfchen| von Chriftian

Ein Febendausfhnitt in drei Handlungen ( Dramentyp vom Ende des vorigen Jahrhunderts)

Dandelnde: Eine Kifte Zigarren Eine Schachtel Zigaretten Ein mit zwei Kuvertd gededter Eßtiſch Eine große gededte Geſellſchaftstafel Ein Tablett mit Kaffeegefchirr Ein Dito mit Wein Ein Dito mit Bier Parflimflafhen, Düten mit Konfekt, Föffel, Meffer, Gabeln, Kohlenſchaufeln, Schnapsfervice, große und Feine Srorkörbe, Ausguß, Woflerhähne, Pup- lappen, Nachtgeſchirr, Tortenteller, Korfjieher, Zuderdofe uſw. uſw. nad Bedarf und Belieben Dazugebörige Perfonen

Erſter Aft (Ein huͤbſches Junggefellenzimmer)

Zigarre (läßt Ringe zur Dede ſteigen)

Der dazu gehörige Herr fagt etwa): Wo nur die Fanny heut fo lang bleibe! Ckaͤßt fih vom Zimmer zu fchaffen machen)

Mehrere Teller (flappern)

Gabeln (£lirren)

Eine Düte mit Datteln (wird irgendwo verftecft)

Eine Flaſche Seft (fnallt)

(Der dazu gehörige Diener fagt etwa): Bleibt heut das Fräulein aber lang!

(Mad) einer Weile Flopft ed und die Erwartete fommt)

Eine Zigarette (fängt an zu brennen)

(Der dazu gehörige weiblihe Mund fagt etwa): Du haft wohl heut etwas warten müffen, Fredi.

Die Da Du machſt Dir eben nichts aus m Die Zigarette: Ach geb, wad Du Dir auch “habil Komm, mer.

(Man fegt fih zu Tiſch)

Das gefamte Tifhgerät Entwickelt eine luftige Muſik, durch welche bindurd) man bie und da einige Namen von Speifen und Perfonen fowie allerlei auf diefen und jenen Lebensausſchnitt Bezuͤgliches vernimmt)

(Mad einer Weile fällt der Borbang)

155

Zweiter Aft (Ein Salon)

(Eine Menge Zigarren und Zigaretten mit dazu gehörigen Perfonen beiderlei Geſchlechts fommt aus dem im Hintergrund durch eine breite Siigel- tuͤr fihtbaren Speifefaal, nicht jedoch ohne des Öftern dahin zurückzukehren, ein Glas Wein, ein Stud Torte zu fi) zu nehmen, einen Toaſt auszu⸗ bringen oder dergleichen.)

Erfte Zigarre: Das mit der Huber fol alfo wirflid wahr fein?

Zweite Zigarre: Meine rau bat die zwei mit eigenen Augen

Eine Zigarette: Mit eigenen Augen!

Ein Stüd Torte: Um Gotteöwillen, feid ftill! Dort fommt er!

Mehrere Zigarren und Zigaretten: Pt! pft! pft!

Dritte Zigarre (in Begleitung ded Herrn Alfred Müller tritt auf): Guten Abend, meine Damen und Herren!

Sämtlihe Zigarren und Zigaretten: Guten Abend, Herr Müller.

Zweite Zigarre und dritte Zigarette (zugleih): Witte, meine Herrſchaften, der Kaffee!

Ein Tablett mit Kaffeetaffencbeherrfcht auf längere Zeit die Situation)

(Unter mannigfachen mehr oder minder börbaren und wichtigen Geſpraͤchen der zu den verfdiedenen MNequifiten gehörigen Perſonen vergeht die vor- vorgefchriebene Zeit, bis der Worhang wiederum fallen fann)

Dritter At Krmlihe Giebelftube)

Eine Zigarette (figt mit dem dazu gehörigen Fräulein Fanny vor einem Tiſch)

Löffel, Meffer, Gabeln (laffen fi von ihr pußen und führen eine Weile dad Wort)

Eine Zigarre (in Begleitung ded Herrn Alfred Müller, tritt auf): Gruͤß Did) Gott, Fanny!

Die Zigarette: Jeſſas, Fredi, wo fommft denn Du jegt ber?

Die Zigarre: Es mußte fein. Aber erft fhaff mir was zu trinken, ih bin wie audgedorrt. Die J——— Ich hab aber blos Bier da. Die Zigarre: Schadt nichts. Gib nur her! Fanny zwifhen uns muß ed aus fein. (Schenft Bier ein)

Die day Gitternd): Ich hab mird ja gedacht. .. Die Zigarre (paffend): Alſo machen wird kurz.

Die Zigarette (liegt mit dem Kopf auf dem Tiſch)

Das Bierglad (trommelt)

Die Löffel, Meffer und Gabeln (mahen einen nerodfen Lärm)

(Dazwifchen fpielt fi) eine Art von Szene ab, an deren Schluß das Ende des Stüuͤckes ſteht)

Die Zigarre mit Zubehör (verfchwindet von der Bühne)

Die (erliſcht)

Der Vorhang faͤllt Ende

4156

MRundkpau

Kopenhagen

gibt in ganz Skandinavien faum

ein Theater, das, nach Spielplan, Schaufpielfunft und Bühnentechnif, der hoben Meinung entfpräche, die wir und uͤber die dramatiſche Riteratur der nordifchen Ränder gebildet haben. Kopenhagen bat noch immer eine pr wiffe zentralifierende Kraft und uͤbt oft mit feinem nicht gerade ſtrengen Urteil einen fichtlihen Einfluß auf die Mepertoire von Chriftiania und Stockholm aus. Und doc hat man Mühe, aud dem Wuft deffen, was die dänifche Hauptfladt an Meuem bietet, etwas herauszufinden, was der Rede wert wäre. Das Königliche Theater befherte Holger Drahmann zu feinem fechzigften Geburtätag im Oftober feine dramatifche „Gurre“⸗ Sage. Raſch und geräufchlos ver- ſchwand fie in der Verfenfung, um im Rahmen von großen Gaftereien (mit dem Zubilar) wieder in Stod- bolm aufzutauchen. Das Dagmar- theater fuchte den Autor zu tröften und bradıte feinen »Halfred Van- draaderkjalde«, ein gewaltige Sfal- den- und Wifingerftlict mit Mord und Trunf und Liebe ohne Ende, das nur, troß aller Reckenhaftigkeit, auch beftimmt iſt, an Entfräftung zu fterben. Aber mar täte Holger Drachmann bei all feiner ftetig und leicht fließenden Produftion bitter unrecht, wenn man ihn als fimpeln Dichter aburteilen und nicht den Grandfeigneur in ihm feben wollte, der neben andern Schönen auch zu Zeiten die Mufe —— Inzwifchen wuͤrdigten andre Bühnen den Geſchmack des Publifums an dem theatralifch geläuterten Spiel der rohen Fauft und gaben ihm mit

fiherm Inſtinkt den wirfungsvollern Hintergrund ded modernen Kopen⸗ bagen. Das Volfätheater hatte mit feinem „Berbrecherleben” Glüd. Im Cafino dagegen, wo man zwilchen der „Luftigen Witwe” und „Charleys Tante” die in jeder Beziehung fträf- lichen „Flotten Zungen“ einzufchieben verfuchte, mußte Herman Bang, ald Negiffeur, in eigener Perfon ſich dem ſtürmiſchen Proteft der fonft lamms⸗ geduldigen Jufchauer darbieten. Die neufte Phaſe bilden die moralifch uns fhägbaren Entſchleierungen einzelner Stände. Im Königlichen Theater befamen wir neulich die korrupten Juriſten zu hören; im Dagmartheater wird demnächft die ärztliche Standes⸗ ehre ald heuchlerifch und nichtig zer⸗ pfllit werden. Dazu fommt danın in geeigneten Fwifchenräumen der audgefohte Abhub des Ddeutfchen Bühnenmarfted. Neue Namen find in der dramatifchen Fiteratur Däne- marf3 und Norwegens nicht aufs getauht. In Schweden, dad der gegenwärtigen Sterilität der beiden weftlihen Laͤnder gegenliber ald das produftiofte erfcheint, beginnen num auch jüngere Talente das Gebiet anzubauen, dad bisher einzig und allein von Strindbergd Kraft beftellt wurde. Uber einen folhen Verſuch wird in Kürze nad) der hiefigen Aufs führung von Hjalmar Soͤderbergs „Gertrud“ berichtet werden koͤnnen.

Es ift ſchwer begreiflih, warum die kopenhagener Raſſe (von der daͤniſchen Provinz, dem platten Lande fo verſchieden) dieſen Zuſtand er- duldet und nicht Beſſerung fordert dieſe Raſſe, deren alte, gutbuͤrgerliche Erziehung in ſicherm Geſchmack für

157

alle Dinge des täglichen Lebent, in öfonomifcher Opferwilligfeit für alle fulturellen Einrichtungen, in erftaun« licher VBorurteilslofigfeit und Toleranz allem individuellen Gebahren gegen⸗ uͤber ſich bewährt. Warum fie nicht imftande ift, wenigftend eine einzige Privatbuͤhne, wie dad Dagmartheater, das ſtets mit vollen Häufern rechnen fann und mit feinen erfolgreichen Stücken nicht Naubbau zu treiben braucht, zu einem reinlihen Repertoire zu zwingen. Warum diefe Bühne Dekorationen aufbauen darf, die, rein technifch befeben, feit fünfzehn Jahren nicht mehr möglich find, warum fie Interieurd ſchaffen darf, die jeder Durchſchnittszuſchauer in feinen vier Mänden wie Obrfeigen empfinden wirde. Warum fie die ftimmungs- mordende Fwifchenaftömufif nicht be= feitigen fann. Warum ein Mann vom - literarifhen Wang und der dramaturgifchen Befähigung Herman Bangs an einem halben Operetten- theater einen Schmarren einftudieren muß, den bei und in der Frankfurter Allee nicht der Theaterdiener fuͤr aufführbar bielte. Warum Kritifer, wie Edvard Brandes, Sven Lange, Sophus Michaelis, die alle felbft vom Bau find und vorbildliche fon- tinentale Bühnenverbältniffe kennen mäffen, nicht ihre Stimme erheben und eine reinlihe Scheidung zwiſchen Buͤhnenkunſt und Schmierenhandwerf ftabilierenfönnen. Das große Binder» nis fcheint eben die verbängnisvolle, quietiftifche Toleranz dieſes Faffee- trinfenden, altbourgeoifen, nüchternen (gleihfam ſaͤchſiſchen) Menſchen⸗ fehlage zu fein, der die ftarfen Affefte weder befitt noch liebt, weder Entrüftung, Ekel, Abſcheu, Haß, noch Begeifterung, Enthuſiasmus, Fana⸗ tismus kennt und ſelbſt nicht mehr als fühlen Beifall aufzubringen ver⸗ mag, wenn einer aus ſeiner Mitte, wie Sven Lange, dieſem ſtillen Tem-

158°

perament in die leßte Tiefe dringt und dieſes legte mit allen zarten, fhmweigenden Nuancen wieder an da® Licht des Lebendigen hebt. Vorder⸗ band ift es undenkbar, daß aus dem merfantilifhen, tranquillen Blut diefer Naffe ein Drama von ftarfen Afzenten, von fich überftürzender Bewegung, von raſtlos genährter Willendfraft, wie es dem Bifingerfinn der Norweger natür- lich ift, fi) gebiert. Das wird auch der alte Troubadour Dradmann, deffen fräftige Stimme fo viel vom Mormweger, deflen große Geften fo viel vom Schweden baben, nicht mehr zumege bringen. Der einzige, der dad Feug Dazu bätte, wäre der Nomanzier Johannes V. Zenfen, ein Juͤte aud VBauernftamm. Er, der mit bornierter Begeifterung feinen Landsleuten einen pangermanifchen Amerifanismus in Tat und Schrift ald rettended Evangelium predigt, bat febr oft durch dad Mittel eine® wildftrömenden Dialoge Geftalten von einer brutalen Vitalität geihaffen, gegen die Wedekinds ſchoͤnſte Beſtien wie Homunculi aus einer deutfchen Studierftube anmuten. Guftav Wied, der als jegt erfolg- reichiter fopenbagener <heaterfchrifte fteller gewiß fein Handwerk verftebt, bat diefe Kenntnid weit mebr bei leihten fonventionellen Luftfpielen verwandt, ald bei feinen eigenften Gebilden, den Satyrfpielen; aber er bat doch bei aller Derbbeit, die aus feinem Bauerntum quillt, jene feine Grenze, über die binweg ihm. fein Publikum nicht gefolgt wäre, mit Gluͤck nur in der Satire zu überfchreiten gewagt, indem er den Beſchauer ber ein ſcheinbar ver- jerrted Abbild erhob, Der eigent- lihe kopenhagener Dramatifer neben dem toten Guftav Edmann ift Sven Fange. Das Dagmartheater bat jegt feine neufte Komödie, „Die Stimme derlInmindigen”, aufgeführt.

Sven Ranges Blihnenwerfe werden vor dem firengen Urteil der zuͤnftigen Dramaturgen ald dialogifierte No— vellen nicht befteben. Sie geben feine ungeftiime Vorwaͤrts⸗ und Gegenein- ander-Bewegung, fondern ein vor- ſichtiges Entſchleiern menschlicher Cha⸗ raktere. Darum iſt es gleichguͤltig, was nach dem Fallen der letzten Schleier ge⸗ ſchieht. Nur darfesjegt nicht mit einem Mal eine brutale Tat werden. Sven Lange bildet das Schickſal nicht ab als eherne Notwendigkeit, ſondern als ſchleichenden Zufall, vielleicht als Blitz, der etwas Verborgenes plöß- lich ſchrecklich erhellt, der aber im Nu auch wieder alles ind fruͤhere Dunkel zurückſinken laͤßt. So kann der Dichter den Stoff der aͤußern Handlung nicht leicht und fein genug weben. Diesmal wurde er, in ſolcher Abſicht, eine Komoͤdie, die das Thema der „Stillen Stuben“ auf ihre Weiſe variiert und noch etwas anderes brachte. Das Ehepaar, Schulrektors in der Provinz, Mann wie Frau hier gut anderthalb Jahrzehnte älter als dort und mit einer Tochter von vierzehn bis fünfzehn Jahren ges fegnet. Als Sommergaft in ihrer ländlihen Behauſung ein haupt⸗ ftädtifcher Opernfänger, Vetter der Frau. Die beiden Ffuppelt die etwas verfchmöferte Phantafie der Fleinen Magna zufammen. Die Ref- torin ift troß ihrer Einundvierzig eine ſchoͤne, ftattliche Frau: der Sänger natürlich ein unwiderſtehlicher Herzend- breher, wie dad Magna an ihren

eburtötagfeiernden Freundinnen⸗ chwarm mit vernichtender Deutlich- feit beobadyten fann. Aber trogdem, zwiſchen dem erdichteten Paar, das in aller Freundlichkeit gewiß jedes auf feine Weife miteinander be⸗ fennerifche frage und Antwort taufcht, eſchieht nichts, nichts ald ein Hand⸗ —* Das aber genuͤgt. Denn nun, weiß die Spionin, befommt die Frau,

der ſolches mwiderfabren, ein fleines Kind. (Magna lebt nit in Kopen- bagen.) Zn diefem Stil treibts ihre Phantafie weiter. Magna gibt dem vermeintlihen Werführer in Gegen- wart der Mutter eine droͤhnende Maulfchelle, fhimpft ihn Schurken ind Gefiht hinein und erzählt dem abnungslofen Vater, daß die beiden durchbrennen wollen. Dergute Rektor ſieht wohl nach einigen ſchweren Augen- bliden, daß es fih um ein Hirn» gefpinft des Kindes handelt; aber ein Stachel bleibt zurüd. Der Ge- danfe an die Möglichfeit des Ver⸗ luſtes erfchüttert ihn bis zu knie— fälliger Demut und überftrömender Zärtlichfeit gegen die Frau, und eine Ausfpradhe ift dad Symptom daflır, daß mit den Jahren etwad anders geworden ift in ihrer Ehe. Gewiß, nichtd ift gefcheben, ed wird und fann auch nichtd geſchehen, was fie räumlich trennte, aber ein Zufall bat ihnen durch Kindermund eine Er- fenntnis gebracht, und diefe Erfennt- nid bat ihnen ihr bisheriges Glüd ald eine ftillfhweigende Refignation enthüllt, Siefönnen ihre Forderungen gegen einander aufrechnen, und doch bleibt für jedes ein Minus zurld. Eine dunfle Wolfe war über den blauen Sommerbhimmel gezogen.

Diefe Sommerftimmung bringen - die hellgekleideten Backfiſche: fie laufen durch das ganze Stüd, feiern: mit ihrer Freundin Geburtdtag, fingen mit dem Sänger und umſchwaͤrmen ihn bis zu feiner unverbofft früben Abreife, die Magnad Backenſtreich veranlaßte. Unter diefer hellen Maͤd⸗ henfchar gebt Magna allein wie ein gepanzerter,fchwarzer Rittereinber, . ein Quigote von der unglüdlichen Seele. Aber ihre verfhrobene Ein- bildungsfraft, die fi unproportioniert bält und bewegt wie der Körper im Entwidlungsalter, wurzelt doch in - einem eigenwilligen Jh. Magna

159

haft den. Opernfänger, weil fie ihn —— haßt ihn mit der dumpfen Liebe er Pubertät, die ein Wundermaß rer ärtlichfeit beim andern dadurch zu beſchwoͤren fucht, daß fie felbft nichts gibt, feheinbar nichts von ihm annehmen, ja ihm webtun will. Diefe Backfiſchgeſchichte wird eigentlich) erft im legten Aft von der Ehe⸗ geſchichte abgeloͤſt. So gibt es zwei Handlungen, die, jede fuͤr ſich nicht voll entwickelt, auch nicht reſtlos miteinander verſchmolzen ſind. Die Backfiſchgeſchichte iſt die Komoͤdie; niemand nimmt Magnas Waffengang tragiſch, und bald wird ſie ſich von ihrer Mutter als Belohnung die Nepetieruhr mit den goldenen Zeigern wünfhen. Das Erlebnis der Eltern aber, das einen Augenblick drobend wiſchen ihnen aufgeſtanden war, iſt, wie viel im Leben, in einem ver- fühnenden Dialog begraben.

Die Magna —* Anna Larſſen. Ich ſah ſie zum erſten Mal, aber ich glaube Guſtav Wied jetzt noch mehr als zuerſt, da er ſie den einzigen Schauſpieler Kopenhagens nannte. Sie iſt eine Natur, feine Rollen⸗ ichafferin. Eine Figur, wie die Sorma, aber zierlicher und nordifcher, dabei feine Puppe und ſchaͤrfer profi» liert. Als Magna beweglich, elaftifch, a... wie ihre Halluzinatio-

in Kind, wenn fie unter dem Site durchfriecht oder ihre Kleider- tafche audleert; eine Mutter, tierbaft gefpannt und auf dem Sprunge, wenn fie ihre armen Eltern wie Junge vor der Gefahr ſchuͤtzen will. In ſolchen Momenten, in ſolcher Abwehr, die von. dem "Haß der Pubertätsliebe gleichzeitig den Mutterinſtinkt hervorbrechen laͤßt, war Anna Larſſen die im Innerſten lebendige Geſtalt der Dichtung, vermochte ſie Myſterien aufzudecken. Aber ihr Humor war faͤhig, auch die Genuͤgſamen wieder in Erden⸗ naͤhe zu balten. Alfons Fedor Cohn

160.

Peints par eux-m&ömes asSchickſal iſt wirklich nihtimmer liebenswürdig:: hätte es mir fonft ein Sammelmwerf, wie den von Herrn Georg Gellert leider beraudgegebenen „Buͤhnen⸗Dekameron“ (Verlag von Guſtav FZiemfen, Berlin), auf den —— ch gelegt? Ich gedenke, das Buch ſehr bald in die Zimmerecke zu ſchleudern; und nur die harmloſe Rache ſei mir vorher ſchnell vergoͤnnt: zu ſagen, was der leiden müßte, den der ſpeku⸗ lative Titel und dad wenig angezogene Umfchlagsfräulein etwa zurLektuͤre hin⸗ riffe. Ad, das Fräulein ift noch das Appetitlichfte der ranzigen Publikation ; fchon der Untertitel,au —* erſtenSeite, bringt arge Übelkeit herauf: „Samm⸗ lung ſelbſt erzaͤhlter, heiterer und ernſter Erlebniſſe berühmter und beliebter Kuͤnſtlerinnen und Kuͤnſtler der Buͤh⸗ nen“. 99 Damen und Herren vom Theater haben hier 337 Seiten Anek⸗ dotiſches produziert, und ‚Herr Gellert hats, auf daß niemand ſi

abl⸗ und jeder Enthuſiaſt ſeinen Lie ling raſch aufblaͤttern moͤge, in der Autorenfolge des Alphabets drucken laſſen. Manchmal freilich macht die Sache einen mehr analphabetiſchen Eindruck. . . Die Operettentenoͤre und Schminkſchatullenbewahrer der Pro⸗ vinz brauchen gewiß nicht gebildete Menſchen zu ſein; nur iſts ſchwer er⸗ traͤglich, wenn dieſe Herrſchaften, ge⸗ peitſcht von ſuͤßer Eitelkeit, all in der Unfauberfeit ihrer Sprache und ihrer Gedanken „literarifch” einbergefchrit= ten fommen, gefpreijt, beifalldgierig und ſchmalzig. Derlei darf fein Fiterat fördern; und feiner diirfte ed begim- ftigen, daß Küinftler, wie EmmpDeftinm und Otto Sommerftorff fi bier in enger geiftiger Gemeinſchaft mit Herrn Nobert Steidl oder jenem Herrn Adofl Brackl präfentieren muͤſſen, in deffen Plauderei: „Mein erited Gefangd- Debut auf dem Theater die Silbe pein stante pede immer durch einen koͤſtlich

feanzöfifhen accent aigugejiertift. .. Um die paar Schaufpieler von Ge— ſchmack und Taft, die ſich auf die ſen Jen⸗ tralmarkt bachſtelzenhafter Gefallſucht haben uͤberreden laſſen, iſt es mir leid; fie werden ſelbſt am meiſten uͤber die Nach⸗ barſchaft entſetzt geweſen, hoffentlich durch Schaden klug geworden und nun⸗ mehr entſchloſſen ſein, allen Anekdoten⸗ Gellerts der Zukunft jeden Beitrag zu verweigern. Aber ſelbſt die kunſtver⸗ laſſenen Komoͤdianten, die in dieſem Buch das große Wort fuͤhren, muͤßten, wenn fie nur ein ganz klein bischen flug wären, doch einſehen, wie fehr fie ſich bier demadfieren, entwerten, ald banal» peinlihe P rauen zu erfennen geben. Es ift merfwürdig und erſchreckend, daß fie daflır alle feinen Sinn haben, daß fie alle gleichermaßen denaturiert und der Beruföfranfheit verfallen find: weibifcher Kofetterie. Und da glaubten wir, die gewiſſe Männlichfeit des Nas turalismus müffe diefe Ab» und Unart ded Mimentumd aus den verfchminfte- ften Provinzwinfeln verfheucht haben! Es war ein Frrtum... Immerhin find auch ſchlichte Maturen da. Augufte Preſch⸗Grevenberg gibt eine einfache hiſteriſche Ausgrabung aus ihrer mei- ninger Mädchenzeit, gerät dabei in MWallungen und fließt: „Welche Stimmung!... Bitte, verzeihen Sie, und denfen Sie zu meiner Entfhuls digung, der Gegenftand reißt fo bin.” Bon Herrn Barnay erfahren wir auf fiebzehn Seiten, die feinen bei Fleiſchel & Eo. erfchienenen „Erinnes rungen” entnommen find daf er 1882 zum erften Mal nad) Amerifa fuhr; daß er nicht eigentlich feefranf, aber im Kopf doch recht benommen war ; daß die newyorker Conried⸗Reklame ibn vergiftet fein ließ (Arſenik oder Giftbonbons einer Rachſuͤchtigen); daß die Gallmayer ihm einen Brief ſchrieb: „Mein lieber, großer Barnay!“; daß ein Schauſpieler, der auf der Bowery neben ihm ging, durch eine Revolver⸗

fugel verlegt wurde (galt fie mir oder galt fie dir?) und ſchließlich, daß ein Anti-Barnay Kritiker, Herr Rittig von der, New Yorker Staatszeitung“, durch einen Entruͤſtungs⸗Orkan des Publi⸗ kums aus ſeiner Redaktion weggeblaſen wurde. Dad Motto dieſes Beitrags: „Mur vom Nugen wird die Welt re giert” ; ein Stilbeifpiel : „DiefedFeben und Treiben in der Bowery übertrifft aber alles bis dahin Geſehene!“ ... Im übrigen wird, da weder Bonn noch Ehriftiand beigefteuert haben, Herr Georg Gellert einen zweiten Band edieren müffen, den er ja, Pentameron“ nennen fan. Ferdinand Hardekopf

NRichtigftellung n iden Berichten der berliner Zeitungen über den Prozeß Berg- mann / Jacobſohn heißt ed Freitag, am I, Februar:

„Der Borfigende, Amtörichter Lande, teilte nad) Beendigung des Plaidoyerd mit, daß ſich der Direftor Mar Reinhardt inzwiſchen eingefunden habe. Das Gericht beſchloß die Ver⸗ nehmung. Direktor Reinhardt er⸗ klaͤrt, daß er von den Jacobſohnſchen Artikeln nichts gewußt und ſie auch nicht veranlaßt habe. Er habe auch niemals Herrn Jacobſohn als Drama⸗ turgen anſtellen wollen. Juſtizrat Dr. Sello: Herr Jacobſohn bat aber doc geftern bier gefagt, daß Sie zu wiederholten Malen beabfichtigt hätten, ihn ald Dramaturgen feſt anzuftellen. Zeuge Reinhardt: Ich babe nur flüchtig mit Jacobſohn über die Her⸗ ausgabe eines Programmbeftd ge⸗ ſprochen. Vorfigender: Aber nicht über die Anftellung ald Dramaturg? Zeuge: Das find Bezeichnungen, Mein Theater fteht in dem Rufe, ſehr viele Dramaturgen zu haben, darunter verfteht man alles mögliche.”

In ihrem Schlußberiht Über den Prozeß ichreibt die, National Zeitung“ Sonnabend, am 2, Februar:

161

„zu den Berichten über die Ver- bandlungen am Donnerdtag nad- mittag ift noch etwas nachzutragen. Diefe Berichte ließen, wie und von einem Obrenzeugen mitgeteilt wird, allenthalben die Vernehmung des Direftord Reinhardt lange vor dem wirflihen Schluß aufhören. Nachdem Neinhardt geäußert hatte, er babe Zacobfohn niemald ald Dramaturgen anftellen wollen, fondern nur flüchtig mit ihm über die Herausgabe eines Programmhefts geiprochen, fragte ihn Zacobfohn: Herr Reinhardt, erinnern Sie fi, daß Sie mir den Plan ent- widelthaben, ‚Dramaturgifche Blätter ded Deutihen Theaters‘ herauszu⸗ geben, ald Analogon zu Leffings Damburgifher Dramaturgie, die ja auch im Anſchluß an ein Theater ent- fanden if; daß Sie mich für die Herausgabe diefer Blätter in Aus— ficht genommen batten, und daß wir wiederholt ausfuͤhrlich uͤber dieſe Sache geſprochen haben? Rein— hardt: Jawohl. Jacobſohn: Hätte ich in dieſer Stellung auch eingereichte Stüde leſen ſollen, wie Ihre Drama- turgen, haͤtte ich den Proben und den Pruͤfungen von Schauſpielern beiwohnen ſollen, wie Ihre Drama⸗ turgen, und haben wir von alledem geſprochen? Reinhardt: Jawohl. Jacobſohn: Haben wir ſchließlich die Verhandlungen beendet, weil ich erklärte, ich wolle meine Unabhängig- feit nicht aufgeben? Reinhardt: Jawohl.“

Zu dem ganzen „Prozeß“ werden vielleicht noch ein paar Worte zu jagen fein, wenn das Urteil rechts— fräftig ‚geworden ift.

nacht, Satire,

Deutfche Uraufführungen

A. Freytag v. Loringhoven: Aranka. V. Celm: Lebensfreude. K. von Freymann: Nach dem 9. Ther- midor. Niga, Stadttheater.

22. 1. Franz Woas: Vermißt, Ein Alt. Wiesbaden, Literarifche Gefell- ſchaft.

26. 1. Felix Doͤrmann: Der ſtum⸗ me Sieger, Schauſpiel. Muͤnchen, Reſidenztheater.

27. 1. Hand von Wentzel: Daͤmo⸗ nen, Schauſpiel. Berlin, Neue Freie Volksbuͤhne.

29. 1. Marco Brociner und S. Fritz: Ein politiſch Lied, Schwank. Wien, Raimundtheater.

F. Vollmer-⸗Remlov: Die Prieſterin, Schauſpiel. Berlin, „Spa⸗ niſcher“ Schauſpiel⸗ Zyklus.

1. 2. Mar Bernſtein: Herren— recht, Schaufpiel; Die grüne Schnur, Szene. Wien, Hofburgtbeater.

2, 2. Gerhart Hauptmann: Die Zungfern vom Biſchofsberg, Kuftfpiel. Berlin, Leifingtheater*).

Dtto Filjenfeld: Aus Bolen- freifen, Schaufpiel. Wien, Bürger- tbeater.

Nudolf Hermann: Afrie faner, Fuftfpiel. Wiedbaden, Reſidenz⸗ theater.

4. 2. Arthur Stiebler : Hochzeits⸗ Frig Berger: Sein Ideal, Komödie. Berlin, Figaro« tbeater.

* Die Kritif folgt in der nächiten Nummer.

_ Berantwortlich ‚für bie Redaktion: Siegfried Sacobfohn, Berlin SW. 19

Berlag von Oeſterheld & Eo.,BerlinW.15 Druck von Imberg & Leffon, Berlin W.b

. BEBEIESEIENENEBEREHEBENEBENENENENEHEREHENENEHCNICHEREHERENERENEBERERENE ER run: we vun —2 —32* —W8 ——

]4. Februar 1907 X III. Jahrgang Yıummer 7

Grillparzer von Hermann Bahr

uf die Frage nach feinem Befinden pflegte Grillparzer zu fagen: Es A— mir lauſig. Das war ſein Gefuͤhl des Lebens ſeit dem Fall von

„Weh dem, der luͤgt“, ſeit 1838, noch dreiunddreißig Jahre lang: laufig. Nicht in Zorn, nicht in Schmerz, nicht erbittert oder drobend laufig bat er gelebt. Am liebften einfam im Lehnſtuhl vor feinem Pult, dad Bein auf einen Seffel geftredtt, den rechts geneigten Kopf in den Händen, „Simulierend“. Der Wiener denkt nicht, er läßt nur allerhand an ſich vor⸗ überrinnen, das nennt er fimulieren. Sp wartet Grillparzer. Und laufcht bisweilen, ob es ſich nicht Doch noch einmal regen wird. Aber es regt ſich nichtd mehr. Er ift verödet. Manchmal fucht er noch den täufchenden Troft betäubender Mufif oder die Beſchwichtigung alter Bücher auf. Manchmal tropft ein verfladernder Vers. Manchmal fprigt er feinen feigen Grimm in ein tuͤckiſches Epigramm aus, das er gleich in der Lade verftedt. Wenn er dann hinüber in den Matfchaferhof effen gebt, kommt die alte Haus— hälterin geſchwind, Öffnet die Lade und fchreibt es heimlich ab. Sie betrügt ihn, wie er die Stadt betrügt. In der Stadt fol man nichtd von ihm erfahren. Die Leute follen nicht merfen, wie ibm ift. Ihnen fehrt er eine kuͤnſtliche Luftigfeit zu. Fuͤr fie ift er ein etwas munderlicher, doch ganz vergnügter alter Herr, der einmal etwas gewefen fein foll und dem jeßt balt nichts mehr einfällt. „Er könnte ein Hannibal fein,” bat Klırnberger gefagt, „und ergraut in Capua, vierzig Jahre lang genligt ihm ein Gang in den nußdorfer Bierfeller und ein Küfergefpräch dazı, flnfzig Jahre lang ift fein weiblicher Umgang die nie berührte Braut fo lebt er und fpinnt er von einem Quartal ind andre, von einem Jahr, von einem Jahrhundert ind andre. Menfchen find jung und werden alt, der Fleine Hofrat ift bios alt und wird älter und fheint einzig zu leben, um ſich vergeffen zu laſſen. Bor dem Fünfzigften hört er zu dichten auf, und bis übers Achtzigſte fpricht er zu allem, was da vorgeht, fein Amen, fein berühmtes ‚feiß!‘ Dreißig Sabre lang lebt er von einer Silbe weniger fann auch eine Spbinz nicht tun. In der Tat liegt er neben dem Stephandturm wie die Sphinr

163

neben der Pyramide, und man meint, der Stephandturm ift der jlngere von beiden.”

So fteht dieſes entfegliche Leben da, in der Mitte geborften. Ein Torfo, bat Bauernfeld gefagt. Und beflommen fragt man fih: Warum? Was war ed, dad ihn zerbrochen hat? Die landläufige Meinung ift: Mein Gott, die Zenſur, der Vormaͤrz, diefed ganze alte Ofterreich halt! Bauernfeld hat gemeint: weil er die Fröhlich nicht gehabt und ſich in der finnlichen Ent⸗ behrung aufgerieben und aufgezehrt bat. Und andre fagen nody: daß er die Gemeinheit der Wiener, den Undank, ihren Hohn, feit jenem Sturz von „Web dem, der luͤgt“ nicht mehr verwinden fonnte. So wird es erflärt, daß er vorzog, lieber „freiwillig abzudanfen”, Iſt ed damit wirklich erklärt?

Das mit der Zenfur war immer die wiener Ausrede. Immer follte Metternich fchuld fein, wenn ed einem mit dem Dichten nicht ging. Hebbel wurde nerods, diefe Phrafe fort und fort zu hören. Warum hat die Zenfur Nikolaus Lenau und Anaftafius Grün nicht gehemmt? „Bei diefen,” fagt Kuh, Hebbeld Freund, „haben fi) die politifhen Hemmungen geradezu in ‚Hebel umgefett; beide gewannen aus den ihnen begegnenden Hinderniffen die Stärke ded Widerftandes, der ihre proteftierende Dichtung erfüllt. Bauern- feld wäre unter günftigern ftaatlihen Verhältniffen faum ein Moliere ges worden. Wie feine Grundanlage befchaffen ift, Fonnten fid) feine Befennt- niffe nicht in den ‚Mifanthropen‘, fein ‚Liebesprotofoll‘ und ‚Helene‘ nicht in die ‚Schule der Frauen‘ und in den ‚Tartüffe‘ verwandeln, aud wenn der Märzaufftand um fünfzehn Jahre früher ausgebrochen wäre. Denn feine polemifch=fatirifhe Sittenſchilderung war fhon von den Keltern weg getauft.“ Und derfelbe, gegen die Fabel, ald ob Grillparzer an der ſchlechten Regierung verdorben fei: „Vom Hohenaſperg zog eine ebenfo fcharfe Luft nach Stutt- gart herunter, ald der Spielberg nad Wien hinüberſchickte, und der Herzog Karl war, mit dem faiferlihen Herrn verglichen, unter deffen Augen Grill» parzer lebte, nicht eben ſpaßhaft zu nennen. Schiller hat den Naden nicht gebeugt, Schiller bat fi zur Wehr gefegt und fein von edelftem Zorn erfüllte Gemuͤt in dichterifchen Gewittern entladen. Dabei ift fein Roft« flecken nachtraͤgeriſchen Ubelwollens in feiner Seele zurigeblieben; als er den Tod des Herzogs erfuhr, da betrauerte er aufrichtig und mit Gefühlen der Danfbarfeit den Fürften, welhem David Strauß nie verziehen hat, was er an Schiller verbrah. Grillparzer jedoch ließ feinen gerechten Zorn ob der ihm zugeflgten Unbilden der Gewalthaber nicht ausatmen und nicht ausleben, hingegen ließ er ſich von diefem Zorn begleiten bis an fein eigenes Grab. Er hat uͤberhaupt niemand verziehen, unter dem er Boͤſes erduldete, dies bezeugt feine Selbftbiograpbie und manches andere Dofument in feinem MNachlaffe. Nicht um der Zenfurbosheiten willen, die dann und wann gegen ihn veruͤbt wurden, und nicht aus Efel vor der ihn angrinfenden politifchen Mifere duckte er fih in den Schmollwinfel hinein, wo er Raute des Grolls und Verwinfchungen audftieß: die rohen Verlegungen, die ihn ald Dichter in feiner Vaterftadt trafen, die literarifche Geringfhägung, die der in Wien

164

halb vergeffene Poet an Deutfhland wahrnahm, haben ihn in eine melt- ſcheue Einfamfeit getrieben, und neben ihm fauerte gleihfam eine ergrimmte Nefignation; feine ftille Entfagung bütete die Schwelle.“ Und dann muß man doc auch fragen: was ift denn von der böfen Regierung eigentlich dem Dichter Grillparzer je gefhehen? Wie hat fie den Dichter gehemmt? MWodurh? Sie hat den Beamten nicht befördert. Mur darüber kann er flagen. Er war ein fchlechter Beamter. Aber er wollte, fie follte im Be— amten den Dichter belohnen. Er wollte überhaupt immer gleich belohnt fein. Wie damals alle. Sie fhimpften auf die Negierung, bettelten fie aber an. Er war nie zufrieden, er wollte immer mehr. 1831 wird er Über fein Gefuch Archiv Direftor. Aber ſchon 1834 bewirbt er fi) um die Direftion der Univerfitätd-Bibliothef. Dort würde fein Talent einen neuen Auffhmwung nehmen. Er begreift nicht, daß das flır die Behörde fein Argument fein fann, die ſich nicht um den Aufſchwung der dfterreihifchen Dichtung, fondern um einen guten Direftor zu Flimmern bat. 1844 foll er Euftod an der Hofbibliothef werden. Er fagt in feinem Gefuh: „Ed möchte nicht zum NRuhme der Gegenwart gereihen, wenn fie einen Dann binter den Aften verfauern ließe, der in andern Verhaͤltniſſen Hoͤheres zu leiften imftande wäre.“ Abgerwiefen, macht er ein bitterböfes Gedicht („Bei einer Zurüͤck⸗ feßung im Dienft”):

„Man gab mir die Gewißheit,

Mein Streben fei verfannt,

Und ich ein armer Fremdling

In meinem Baterland.”

Alfo, weil er nicht protegiert wird, gleich „ein armer Fremdling in feinem Daterland”, Der Staat wird aufgefaßt, ald feis fein Zweck, die Dichter zu verforgen; fie wollen fih von ihm aushalten laffen. Er ift dazu da, daß fie bebaglicdy dichten fünnen. Und immer die Klage: es fehlt mir an Aufmunterung. Wie der Schliler bei den Jeſuiten, der flr den „sFleiß- zettel” lernt, um dad „Prämium”, Und endlih: wenn er wirflic gehemmt wurde oder fich, mit Recht oder Unrecht, gehemmt fühlte, warum wehrt er ſich niht? Wenn ihm verfagt wird, was ihm gebührt, warum fordert er ed nicht, warum ſteht er nicht auf? Er kann immer nur flagen. Das Leben fol ihm fchenfen, er nimmt ſich nichts. Er hat feinen Mut. Weshalb er auch Feffing nicht mochte: „Seine Raufluft war mir nicht ſympathiſch, er hatte doc immer feine Freude am Streit!” In Wien ift es Naufluft, wenn einer fein Mecht will,

Wieneriſch auch fein Verhältnis zum Publikum. Schon nad der Hero „droht“ er, zu verftummen, nad „Web dem, der luͤgt“ gebt der Dichter wirfli in Penfion, wie ein Hofrat, mit dem der Miniſter einmal ungnädig ift, Aus Kränfung und um fie zu ſtrafen. Weil fi das Publikum nicht gut benommen bat, hört er zu dichten auf, Es hat fich gegen Schiller und Goethe noch viel fchlehter benommen; fiehe die Kenien. Aber der Wiener will in einem fort zum Leben ermutigt werden. Er verträgt Haß und Hohn

165

nicht, vielleicht, weil er ihnen glaubt, mehr als fich felbft. Darum will er immer gelobt, immer gebätfchelt fein. Blaͤſt ihn einmal das Leben an, er- fchricht er gleih. Nur am Ofen, fern vom Leben, fann der Webleidige leben. Schließlich: fein Verhältnis zur Fröhlich. In diefer Entfagung, meint

Bauernfeld, hat er ſich verzehrt. Aber warum hat er entfagt? Sie hätten ganz gut heiraten fönnen. Und fie hätten ja nicht heiraten müffen. Aber er ift überhaupt mit Frauen feltfam, Offenbar fpürt er fie gar nicht. Wes⸗ balb er aud niemals fühlt, was er einer ift. Etwa der armen Fleinen Piquot, die vor Liebe flr ihn flirbt. Wie Charlotte von Paumgarten, mit der er drei Jahre lang ein „Verhältnis“ hat, ohne doch ihre Leidenſchaft zu abnen, an der fie flirbt. Er bat aud mit Marie von Smolenig, der fpätern Frau Daffinger, ein „Verhaͤltnis“ und weiß von ihr nichtd. Ihm bleibt jede Frau fremd, er nimmt fie, er bat fie nur fleifhlih. Wenn fi) ein Mann mit einer Frau vermifcht, nennt die Bibel ed: er erfennt fie. Grillparzer bat fein Weib erfannt. Sich an eine Frau zu verlieren, um fo ſich in ihr erft felbft zu finden, dieſes Wunder der Liebe hat er niemals erlebt. Er kannte die Liebe doch nur ald sympathie d’epiderme, Sein Primislaus fagt:

„Begreifit Du, dag ein Inneres fhmelzen muß,

Um eind zu fein mit einem andern Innern?” Er begriff ed, doch war er ed nicht fähig:

„Doc unzerftörbar fanden und die Flammen,

Wir glühten, aber ach, wir fhmolzen nicht” beißt ed in den „Erinnerungen im Grünen“, Und einmal madt er das ſehr merfwürdige Geftändnis, er habe ded Mädchens Unſchuld „geſchont“, weniger aus Tugend ald aus vielleicht blos aͤſthetiſchem Wohlgefallen an ded Mädchens Reinheit. Worin alfo, wer wirflidy liebt, die ſchoͤnſte Ver⸗ klaͤrung der Geliebten erlebt, das ift fir ihn Befhmugung. Er ift fein Siegfried: dad „wild wuͤtende Weib” fchredt ihn zuruͤck. Nicht Erlöfung, Entführung aus dem Gemeinen, Verwandlung zur Freude fühlt er in der Umarmung, er fühlt ſich verftört und befledt. Sein Gefühl hält ed mit dem Erzbifhof in Kauft: Matur ift Suͤndel Im ihm ftedt der alte Haß ber chriſtlichen Lehre gegen die Luft, dem die Liebe nur ein „Drangfal des Fleiſches“ if. Im Evangelium Matthät beißt ed: Denn es find etliche verfchnitten, die find aus dem Mutterleibe alfo geboren; und find etliche verfchnitten, die von Menfchen verfchnitten find; und find etliche verjchnitten, die ſich felbft verfchnitten haben, um des Himmelreichs willen; wer es faffen mag, der falle ed. So einer war Grillparzer: er bat ſich felbft verfchnitten, um des Himmelreichs willen. Wer ed fallen mag, der falle es.

Aſthetiſches MWohlgefallen an des Mädchens Reinheit. Das Weib ift

ihm unrein, Liebe befudelt. Das Menſchliche mipfällt ihm. Der Menſch it „unaͤſthetiſch“. Diefe ganze Wirklichfeit ift ded Teufeld Werf, Wirk— lihfeit it Sünde. Darum fürchtet er dad Weib, fürchtet er dad Leben. Darum bat er fi verfchnitten, um des Himmelreichs willen. Er nennt e8

166

die Kunft. Zur Kunſt entflieht er aus dem Leben. Flucht aus dem Leben, Troſt uͤber das Leben, Schug vor dem Reben ift ihm die Kunft, die Goethe der Gipfel, die Wlüte, die Krone des Febend war. Dem Erbgroßherjog Karl Alerander ſchrieb er in ein Bud: „In Weimar war die Kunft ein Leben, Uns ift fie hoͤchſtens no ein Traum.” Hoͤchſtens. Was nur fonfequent ift: da doch uns das Leben felbft nur ein Traum ift, die Kunft eigentlich alfo nur der Traum eined Traumd, eines Schatten Schatten. In fie rettet fih, wer vom Reben um fein Gluͤck be- trogen ift, weil feine feige Hand es nicht zu faſſen wagt: „Sieb, was das Leben dir entzogen, Ob dirs erfegen kann die Kunſt!“ In ihr baut er fich ein ftilled Haus, „entfernt von Menfhen”, aus „Samm⸗ lung” auf, und „der Gedanfe tritt in die dem Chaos abgeftrittene Welt”. Chaos ift dad Leben. Verfriehen wir und in einen Winfel. Pfahlbauern der „Sammlung“, auf Piloten des „Gedankens“. Verkriechen wir uns vor den wilden Tieren der Leidenſchaft in den Verſtand. „Denn was der Menſch erdacht, erfand, Ks Hoͤchſtes wird er finden: Gefund natürlihen Verſtand Und richtiged Empfinden.” Was die brave alte Caroline Pichlerin auch nicht rlihrender hätte fagen koͤnnen. Es ift der Wiener, der in Grillparzer den Menſchen ruiniert, indem er ihn durch den alten Betrug der Barocke foppt, bis er das Fünftliche Leben, dad der Sitte, dad von dem Herrfchern verordnete fuͤr das wirkliche, für ein Gebot der Natur nimmt, die fein Gefühl dann freilich verleugnen muß. Bisweilen, wenn er fo „fimulierend” faß, ift e8 ihm aufgebligt. Er ſchreibt einmal von der Aufgabe der Poefie: „Gegenwärtig ift fie da, um in er babener Einfeitigfeit jene Eigenfchaften herauszuheben und lebendig zu er⸗ halten, die dad menſchliche Beifammenfein, die Unterordnung des einzelnen unter eine Gefamtheit notwendig und nuͤtzlich befchränft und zuruͤckdraͤngt; die aber eben darum föftlihe Befigtiimer der menfchlihen Natur und Erbhaltungsmittel jeder Energie ganz verlöfhen würden, wenn ihren nicht von Zeit zu Zeit ein, wenn auch nur imagindrer Spielraum gegeben wuͤrde.“ Er fab dann alfo, wenn er fo „fimulierend“ in ſich faß, bisweilen ein, daß diefed Leben, in welches wir eingezwängt find, unfer wirkliches verleugnet, daf ed Zwang und wider die Natur, und daß und die Kunſt gegeben ift, durch fie die von kuͤnſtlichen Gefegen verdrängte Natur, ohne welche wir verlöfchen müffen, wieder herzuſtellen. Sah dies ein, fehrieb e8 auf und tat den Zettel in die Lade. Tat fi in die Lade. MNlhrte Fräulein Fröhlich nicht an, blieb ein Hofrat, ging in den Matfchaferhof. „Srillparzer,” bat Kürnberger gefagt, „war ein Zorn⸗ und Feuergeift, ein ungeduldiged, heftiges, leidenfchaftliches Herz, ein Dichterberz, dem ganz gegeben war, zu fühlen und zu fagen, was er flihlte! Nie hat in die Fotter-

167

betten von Capua ein fehärfered Auge bineingefehen, nie eine gute Seele fo ftarf das Schlechte gehaßt, nie ein guter Kopf fo fanglant das Schlechte gerihtet. Sein unbarmberziger Geift war mie ein chirurgiſches Beſteck: der feinfte Schliff, die zierlichfte Nadel hatte eine Beſtimmung für Blut und Eiter. Barmherzig war er nur mit einem: mit fidy felbft. Und wenn in ganz Sodom nur ein Gerechter ift, fo will ich die Stadt um dieſes einen willen verfchonen. Und ed war in ganz Sodom ein Geredter: naͤmlich Franz Grillparzer. Und er verfchonte die Stadt. Er wollte den Frieden für fih, und fo mußte er ihn feierlich der Welt ſchenken. Man denfe ſich einen Heinrich Percy, nad Falitaffd Maxime handelnd: Vorſicht ift der Tapferfeit befferer Teil! Ein fürchterliher Mißklang! Wohlen, es ift Gril- parzerd Sein und Tun! Der Gott mit dem tönenden Köcher, der ſchreck⸗ liche Fernbintreffer gab feinem Auge den treffendften Blick und feiner Junge das treffendfte Wort, und nun war ed bis dahin ein Gefeg der Natur: eine Kraft, die man hat, gebraucht man mit der ganzen Luft feines Lebens. Grillparzer fuspendiert dieſes Gefeß der Natur. Seine ftarfen Leidenſchaften, feine großen Faͤhigkeiten rufen ihm zu: Schicke Plagen über Egypten; tritt bin vor Pharao, ſprich für dein Volk, führe ed aus ind gelobte Land! Dein ift dieſe Aufgabe, du bift der Rächer! Keiner hat ein tiefered Fühlen, feiner ein flärferes Können. Öfterreih wartet auf dich! Aber in einem Winkel feines Herzens fängt nun der Öfterreicher felbft zu feufzen und zu lamentieren an: Herr, fie einen andern! Ich fürdte mich. Ich liebe den Frieden. Sc will meine Ruhe. Was fönnen wir, ein Volk von Hirten, wider Albrechts Heere? An meiner Wiege ftand dad Schaffot der Maria Antoinette, als Süngling fah ich den Erderfhütterer Napoleon Kronen verteilen, und als Mann fab ich den wiener Kongreß fie wieder anders verteilen. Wer bin ich, daß ich mit den Großen der Erde anbinden dürfte? Ein Fleines, niedriges Bürgerfind, abhängig von Freunden und Gönnern, in grauenvollen Familien» verhältniffen, welche der Nachſicht des Staates, vielleiht fogar der Gerichte bedürfen; wie fol ich mich unterftehen, zu rebellieren? Eh ich dem Pharao nur einen Mops töte, bat ed fchon mir und meinen Nächften dad ganze Glüd des Lebens gefoftet. Laß mic lieber Pharaos Hofrat werden! So ſprach der weiche, paffive Ofterreicher und bebielt den Sieg.”

Orillparzer wurde gefragt, warum er Kathi nicht heirate. Er antwortete: J trau mi halt nöt! Es war ein Scherz, der aber doch fein ganzes Wefen verrät. Er traute ſich nicht, zu lieben. Denn er traute ſich nicht, zu leben, Der Wiener traut fich nicht, wirflich zu fein. Er mag nur fheinen. Des— balb entrig er fih dem Leben, fi) und feine Kunft. Daran verdarben fie. Er verfchmachtete, fie verddete.

Es ift entfeglich zuzufehen, wie diefer, dem alles mitgegeben war, ein Menſch und ein Künftler zu fein, an Wien bei lebendigem Leibe zerfault und zerfällt. Schon 1827, ſechsunddreißig Jahre alt, in der Mitte des Lebens, auf der Höhe des Erfolges, ein Jahr nad) dem Dttofar, zwei Jahre vor dem treuen Diener, fünf Jahre vor der Hero, fchreibt er an Eduard

168

von Schenk: „Ald Menſch unverftanden, ald Beamter uͤberſehen, ald Poet böchft geduldet, fchlepp ich ein einförmiges Dafein fort. Ohne Frau, ohne Kind, ohne eigentlihed Lebendintereffe.” Und in feinem gräßlichen Tage⸗ buch find folhe Stellen: „In ähnlicher Unfähigkeit zu orbeiten und zu dichten habe ich mic; zwar fchon öfters befunden, aber das Charafteriftifche meined gegenwärtigen Zuſtandes ift, daß, indem ich fonft die Urſache meiner Untätigfeit in aͤußeren Umftänden fuchte und fand, mir jegt ein inneres entfegliches Gefühl fagt, ed fei mit der Dichtergabe felbft zu Ende. Eine ftufenweife Erfaltung der Phantafie läßt ſich übrigens in meinen biöberigen Hervorbringungen beftimmt nachweiſen. .. Auf der einen Seite alfo Ab⸗ nahme, flufenmweifed Erlöfchen der Herzenswaͤrme, und auf der andern durch⸗ aus fein Junehmen von feiten ded Denfend und ded Wollend. Die Phantafie wird nad und nach zum reife und der DVerftand bleibt ewig Kind, oder Knabe befler zu fagen, denn Kind wäre noch allenfalld zu entfchuldigen. Schon in der Zeit, da ich noch hoffte, in der Poefie etwas Tiichtiges leiften zu fönnen und ein vorfchneller Wahn mic zu glauben antrieb, ich koͤnnte mich dereinft an die erften Dichter der Nation reiben, ſchlug das Gefühl einer innern Infuffizienz, einer Unbedeutendheit ald Menſch jede folche Hoffnung nieder. Hätt ich nur den Mut, mir felbft treu zu fein, den un= nennbaren Schmerz eined verfehlten Dafeins in mir fortwalten zu laffen, bis er entweder dad Dafein felbft verzehrt oder in höchfter Steigerung ein höheres beroorruft. Aber eine törichte Eitelfeit, eine übel angebrachte falfche Scham zwingt mir bei jeder Beruͤhrung mit Menfchen eine gewiffe Luftigfeit auf, die mich nicht froh macht, die mir nicht vom Herzen gebt, aber fir mid) das einzige Mittel ift, mit Menfchen zu fommunizieren.” Und ein andres Mal: „Ich wollte was fhuldig fein, um einen Schmer;, ein Unglüd, eine Ver- zweiflung, die und wärd nur für eine Stunde mein MWefen ganz aufgehen machte in eine Empfindung und mid nur für eine Stunde von diefer dauernden Verftandäfälte frei machte, die wie ein hohn⸗ lachender Narr hinter jedem Vorhange bervorgudt.” Und wieder: „Wenn ich je dazu fommen follte, die Gefchichte der Folge meiner inneren Zuſtaͤnde niederzufchreiben, fo würde man glauben, die Krankheitsgeſchichte eined Wahn finnigen zu lefen. Das Unzufammenbängende, Widerfprehende, Launenhafte, Stoßweife darin Üiberfteigt alle Vorftellung. Heute Eid, morgen Feuer und Flammen. Jetzt geiftig und phyſiſch ohnmaͤchtig, gleich darauf uͤberfließend, unbegrenzt. Und zu dem allen noch nicht imftande, fi von etwas anderm beftimmen zu laffen, ald von der fprungweifen Aufeinanderfolge des eignen, verſtockten Ideenganges.“ Meurafibenie, fagt man vielleicht achſelzuckend. Gewiß. Aber eben die Meurafthente des Wienerd, Eine, die nicht aus der gemeinen Ermattung der Nerven, fondern aus einer tiefern Erfranfung, and einer Verfhuldung des Geiſtes fommt. An jener erften Stelle des Tagebuchs ift ed doc fehr merfwürdig, daß er, dad Nachlaffen feiner Kraft beflagend, unwillfürlic ſogleich von feiner Verftellung vor den Menfchen fpriht. Er fann mit ihnen nicht natürlich „kommunizieren“, Er bat fi

169

vor ihnen immer werdet. Ihm war verfagt, fich ihnen hinzugeben. Er 309 fi) vor ihnen zu, er rollte fi ein. Nun faß er dann mit feiner Kraft im leeren da, denn ihr wurde nichts zugeführt. Er entzog fih dem Leben, biß es ihm das Dichten entzog. Aus Unfäbigfeit zu leben, wurde er un- fähig, zu dichten. Es ift entſetzlich, wenn er einmal befennt: „Fuͤr mic gab ed nie eine andre Wahrheit, als die Dichtfunft. In ihr habe ich mir nicht den Fleinften Betrug, die Fleinfte Abwefenheit vom Stoffe erlaubt. Sie war meine Pbilofophie, meine Phyſik, Geſchichte und Rechtslehre, Liebe und Meigung, Denfen und Flblen. Dagegen hatten die Dinge des wirklichen Lebens, ja feine Wahrheiten und Ideen flr mich ein Fufälliges, ein Un- zuſammenhaͤngendes, Schattenaͤhnliches, dad mir mur unter der Hand der Doefle zu einer Notwendigkeit ward. Bon dem Augenblide an, ald ein Stoff mic; begeifterte, fam Ordnung in meine Zeilvorftellungen, id wußte alles, erfannte alles, ich erinnerte mich auf alles, ich fühlte, ich liebte, ich freute mic, ich war ein Menſch. War diefer Zuftand vorliber, trat wieder dad alte Ehaos ein. Mein ganzer Anteil blieb immer der Poeſie vorbehalten und ic; ſchauderte ber meinen Zuſtand ald Menſch, wenn die immer feltener und fchwächer werdenden Anmahnungen von Poefie endlich aufhören ſollten.“ Das Schaffen muß für ihn alfo eine Art Epilepfie gewefen fein, durch die ja dem Kranken aud) eine wunderbare Helligfeit vorgetäufcht wird. Und fo haben wir diefen grauenbaften Fall: ein fehr heftiger Trieb, zu geftalten, dem aber die natlırlihe VBefriedigung, am unmittelbaren Reben felbft, ver⸗ fagt wird, wodurch er, nad) gewaltfam fehmerzlihen Exrplofionen, allmählich erlahbmen und erftarren muß. Dem Leben entriffen, an der Wurzel ab» geichnitten, verdorrt er. Das ift Wien. So fiebt hier ein Dichter aus.

In der Sammlung „Landichaften und Städte”, die, bei Georg Müıller (Münden), von Leo Greiner herausgegeben werden wird, erfcheint als einer der erften Bände: „Wien“ von Hermann Bahr, ein ebenfo treued mie kuͤhnes Geſchichts⸗ und Kulturbild, von deffen Abſicht und Gehalt vorläufig diefer Abfchnitt zeugen möge.

Das Theater) von Emanuel von Bodman

er Vorhang teilt fi, und die Welt der Wonnen Und Schreden, zur Geftalt geronnen, Taucht vor dir auf aus weitem Spiegelgrund Und fommt und gebt und fpricht mit lautem Mund, Du ſtaunſt und horchſt, und mit geheimem Beben Fuͤblſt du entfegt, begluͤckt dein eigenes Leben.

Die Jungfern vom Bifchoföberg

etwas wie ein verwunſchenes Schloß. Auf einem Berg, zwiſchen Sie, KRaftanien, Nupbäumen, Weinbergen. Bemooſte Mauern wehren der Welt. Nichts klingt herein ald die Glode ded naum- burger Doms. Ihr Echo ift glocenartiged Lachen frifher Mädchenftimmen. Bier Schweitern. Frohnaturen vom Vater und Großvater ber. Bon dem alten Organiften, der Phantafie und Kunft weitervererbt, und dem erfolg- reihen Kaufmann, der das hohe Haus mit dem dichten Parf, das viele Geld und den beitern Sinn binterlaffen hat. Wie fhön ift dad gedacht! Die reine und ftarfe Luft eined glücflichegefunden Bürgertum; der fonder- lihe Duft eines beimlihen Weltwinfelö; der junge und der fpäte Frübling anmutiger, ungebundener, feelenvoller Gefhöpfe. Die Ummelt einer Komödie war gegeben. Diefe Ummelt brauchte nur durchdringend fühlbar zu werden. Die Eharaftere einer Komödie waren gegeben. Die vier Schweſtern Ruſchewey braudten nur, bei aller Verwandtfchaft, vier ganz verfchiedene Wefen von gleich hberzeugender Feibbaftigfeit zu werden. Sabine, überlegen, wählerifcd) und, halb freiwillig, entfchloffen, eine Ruſchewey zu bleiben. Adelheid, ein füdlichered Temperament, auf dem Wege in ein mitteldeutſches Ehebett. Lubdowike, dad Mefthäfchen und Künftlerfind, mit dem Flugen Köpfchen, den leichten Fuͤßchen und der verfchleierten Zufunft. Agathe endlich, der Ernft oder auch die Trlibfal der Familie, von fhwermütigem Reiz und mit einem Schidfal auf den ſchwachen Schultern. Durdy fie allein fonnte das Idyll der Jungfern vom Bifhofsberg zum Drama werden: wenn nämlich ihr Schickſal in den Mittelpunft gerücft wurde. Sollte aber dad Drama eine Komoͤdie fein, fo mußte diefes Schidfal zum Guten gewendet werden. Von innen ber oder von außen ber: je nachdem, ob die Abſicht des Dichters auf eine poetifche oder auf eine poſſenhafte Komödie ging.

Vielleicht ift Hauptmanns urfprünglihe Abfiht auf eine innerliche Ent- wiclung gegangen. Sein Einfall hat nur zur aͤußerlichſten Loͤſung gereicht. Agathe liebt einen andern ald ihren Derlobten, dem fie aus Wut oder Danfbarfeit, oder wer weiß was, ihre Seele verfauft hat, weil der andre im entfheidenden Augenblid nicht zur Stelle war. Ihr Unglüd ift groß, ihr Herz ift ſchwer. Um dieſes Herz mieder leicht und glücklich zu machen, fonnte der Dichter den Geliebten mit dem Verlobten zum Wettftreit um die Herrlihfte von allen antreten laffen; fonnte er den Verlobten durch fich felber lächerlidy werden, den Geliebten durch die Gaben feines Geifted und feiner Gefinnung fiegen laffen. Die bumorbafte Färbung ſolch eines Wett⸗ ftreit8 wäre Sache des Dichterd geweien. Aber fo, fo allein wäre der Stil der Anfangdafte zu wahren gewefen. Sie find auf Feinheit und Jartheit

171

geitellt. Die Atmofphäre ift da, ein, unmillfürlicher Charme um die Dinge, und von den aparten Menſchen wenigftend die aparte Sprahe. Sie haben ihren eigenen Tonfall, der manchmal der Tonfall ihred bejondern Lebens- kreiſes, manchmal nur der Tonfall des Dichterd Hauptmann iſt; aber fie bringen e8 zum kleinſten Teil bis zu einer faßbaren Phyſiognomie. Selbit wo eine menfjchlihe Beziehung kuͤnſtleriſch wertvoll wird, wie die Flaglos= entfagende Bewunderung eined leidenden Polen für die Grazie und die mufifalifche Vefeeltheit der jüngften Schweiter Lur, felbit da wird jie es hoͤchſtens flir eine winzige fcharfjichtige und mitfühlende Minderheit.

Diefe Minderheit läßt nach den eriten drei Aften die Hoffnung feines- wegs finfen. Sie find übertrieben breit geraten und haben doch ihre Süße. Wer das nicht fpürt, hat ed mit ſich auszumachen. Der Gelichte hat den Verlobten unverſehens mit ſchrecklichen Gemeinplägen überfallen, die zu nichtd geführt haben, und bat und doch im einer gan; furzen, ſchmerzlich⸗ fehnfüchtigen Liebesſjene mit Agathe für fih und feine Leidenihaft ein- genommen. Ein läppifcher Bagabund iſt eingeführt worden, mit der Bes ftimmung, den findlihen Streih zu vollenden, durch den der Verlobte zu guniten deö Geliebten unmoͤglich gemacht und verdrängt werden joll und ed ift Doch noch nichts verloren. Denn wenn jetzt Agathe und ihr Geliebter fi beide ald Menfchen ermeilen, die und angehen, deren Jubel unfer Jubel wird, fo mag immerhin ein Schmanfmotiv, wie die Verulfung und Vernichtung des verlobten Dberlehrerd durch eine ausgegrabene Vorwelt⸗ fifte vol Schinken und Würften, buͤhnengeſchickt und ſchlagend wißig ausgenutzt werden. Dann wird am Ende fein neuer „Sommernachtstraum“ entftanden fein, wohl aber ein harmlos⸗nettes Luſtſpiel von anftändigen Mitteln und befcheidenen dichteriichen Eigenfchaften, das bei unfrer Komoͤdien⸗ not gute Dienfte leiten koͤnnte.

Es fommt leider ganz anderd. Das Schwanfmotiv wird unendlih un« bebolfen und rätfelhaft geſchmacklos abgewandelt. Die Verbrauchtheit wäre hin⸗ zunehmen: diefer Grad von Humorverlaſſenheit iſt ohne Beiſpiel. Verſoͤhnend wirft während der Aufführung allenfalld die Empfindung, daß foweit hinter den geringften Theaterfabrifanten nur ein Dichter zurlicbleiben fann, der weder zu ſchwindeln noch zu bandwerfern je gelernt hat. Verſoͤhnend wirft weiter, in der Erinnerung, die Gemwißheit, daß jener Eindruck namenlofer Peinlich“ feit im fünften Alt noch überboten wird. Das Ziel ift erreicht, die Bahn ift frei. Agathe iſt entlobt und findet fi mit dem Mann ihrer Wahl zu—⸗ jammen. Das gejchieht in einer romanbaft geichwollenen Sprache, die zu den fnappen, herzensechten Tönen der erften] Liebesijene geradezu abenteuerlich fontraftiert. „Es ift etwas über mich bingeflogen, ih weiß nicht was”, batte nach diefem jchlichten Wiederfehen der Geliebte ſchlicht geſagt. Wir

172

aber mußten, daß Über und der Hauch eined wahren Dichters bingeflogen war. Jetzt willen wir, daß er damit zugleich verflogen ift. Sept beißt ed: „Ad, ic babe mich fo gefebnt, jo gejehnt nach Dir! Meine Seele ift um died Haus bier geirrt! O, ich war fo franf! O, ih war fo gebrochen! DO, Du baft eine folhe furdtbare Macht ausgeuͤbt. D, batteft Du da nur durchgemacht. D, ich habe Dein Bildchen angebetet.... Das liebe und milde und troßige Herz, dad ic) liebe, liebe, fo wie es jchlägt in feiner göttlichen, bebenden Wohnung: mir zuichlägt... treu! mir Flopft aus der Bruft! an meinem .. mit meinem .. fo füß lebendig .. mir zu! dem meinen, das zu ihm flrebt! O tiefe, fchmerzlihe Bangigfeit! O Angit! O du Angft des hoͤchſten Befiged! Emig! ewig! O Ewigkeit!“ So fpriht in der glüdlichften Stunde feined Febend ein Mann von vierunddreißig Jahren, der vieler Menſchen Städte und Ränder gefehen und und vorher mit feiner Silbe verraten bat, daß er an einer beftimmten Stelle des Stücks vorübergehend, o, toll zu werden gedenfe. Ehe ich mich von diefer Uber- rumpelung erholt hatte, war der Vorhang über der Schlußfjene gefallen, die von wideritanddfähigern Maturen außerordentlid gerühmt wird, ohne daß fie bei der Lektüre einen ungewöhnlihen Zauber übte,

Daß dieſes Stud geſchrieben worden ift, ſcheint mir weniger beängftigend, ald daß es zur Aufführung gefommen ift. Hauptmann ift jung und kann die Scharte auswetzen. Aber weflen haben wir und, weſſen haben fich die Schauſpieler ded Lefling-Theaterd von Brahm zu verfehen, wenn er nicht mehr die Macht oder die Willendfraft oder die Urteildfähigfeit hat, ſolch eine unandgetragene Mißgeburt abzulehnen? Daß er die „Zungfern vom Biſchofsberg“ freudig aufgeführt hat, iſt ihm von vornherein nicht zuzutrauen. Sollte er da nicht auch die Vorfälle ded Premierenabends vorausgeſehen haben, wo alle andern in der Lage waren, den Skandal zu prophezeien? Ih mißtraue im Falle Hauptmann lieber feiner direftorialen Unabhängigkeit als feiner Erfahrung und feinem Intelleft. Erfahrung und Intellekt aber müßten ihn jetzt doch endlich warnen, fo weiterzuarbeiten, wie er es feit Beginn diejed Spieljahrs tut. Die beiden Dichter, die er aufgeführt bat, find hoͤchſt geraͤuſchvoll durchgefallen: Hauptmann zu Recht, Eulenberg nicht ganz ohne eigened Verſchulden. Seine beiden andern Neuheiten, die mehr der Kritif mißfallen haben ald dem Publitum, ftammten von Sudermann und Fulda, jwei Hauptopfern des Kritiferd Brahm. Was er von Jbien ind Repertoire genommen bat, hat er felber und unvergleichlich ſchoͤner fehen loffen. Das Enjemble zerfällt, die Größen fliehen, die paar Hausdramatifer verfagen immer wieder. Aber ed geſchieht nichts, nichtd und abermals nichts. Soll wirklich jo unruͤhmlich enden, was fo berriih begann?

173

Antoines, Julius Cäſar“ von Friedrich Hotho

ndlih kam ich an die Proben des ‚Zulius Cäfar. Die Aufgabe E wurde ald Staatsexamen des neuen Direktors betrachtet und alle

Anftrengungen eines ſolchen Afted brachte fie auch mit fih.” So fchrieb Laube über fein erfted Wirken am Burgtheater. Wenn Herr Antoine Memoiren zu binterlaffen gedenkt, kann er diefen Sag wörtlich übernehmen. Seit Dftober beberrfcht er die zweite Staatsbuͤhne Franfreihd, und die Aufführung von „Zulius Caͤſar“, der Traum feined Lebens, follte die Probe fein, ob der klaſſiſche Infzenierer des Armeleutftüdd auch dad Zeug zum Negiffeur der Klaffifer befigt. Antoine hatte es leichter und ſchwerer ald Laube. Leichter, weil er feine glänzenden Vorbilder zu Überftrahlen brauchte. Seit Generationen war fein „Julius Cäfar” uͤber franzöfifche Bretter gefchritten, alle Jahrzehnte nur einmal Hamlet”, „Rear“, , Macbeth” und „Othello“, wennman in den „bearbeiteten“ Thenterpuppen die Urnaturen uͤberhaupt noch erblicken durfte. „Die Pfoten weg! In Shafefpeare ftänfert man nicht herum!” rief der polternde Barbey d'Aurevilly fhon vor vierzig Jahren den Mode» fchneidern zu, welche den britifchen Niefen in dad Korfett des parifer guten Geſchmacks zwangen wollten. Antoine brauchte aljo blos ungepuderten und ungeichnürten Shafefpeare zu bieten, und er batte beinabe fchon feinen Meifterftreih getan. Die Medaille bat leider eine Kebrfeite. Auf der tabula rasa der mangelnden Bühnentradition mußte aus dem Nichts gefchaffen, oder befler: ed mußte, aud dem roben Marmorblod gehauen werden. Auch für einen intelligenten Theaterdireftor ift es nicht fo einfach, plöglidy in alle tragifhen Tiefen binabzufteigen, wenn er bis dahin nur an der Oberfläche modern=naturaliftiicher Kleinmalerei berumgepinfelt hatte. Ein leichter Schwindel mag ibn befallen, und man darf ihm einen Fehltritt nody nicht verhbeln. Es gibt auch geniale Mißgriffe. Hier war Antoined Aufgabe alfo unendlich ſchwerer ald Yaubed Staatderamen, dem die lange deutfche Blhnentradition und literarifhe Kritif alle falfhen und alle annähernden Löfungen der Shafefpearefhen Rätfel ald Wegweifer und Helfer bot. Von der ungebeuern Vorarbeit der jahrbundertlangen deutſchen Liberlieferung hätte ſchließlich auch der Franzofe profitieren koͤnnen, wäre bier einzuwenden. Gewiß. Ich für meinen Teil möchte felbft diefe Life in den Antoineſchen Vorbereitungen nody entfhuldigen. Man braudyt nur ein modernes fran- zoͤſiſches Stück in Deutfchland fpielen zu feben, um zu begreifen, wie ſchwer ed ift, ausgeprägten nationalen Geift, Auffaffungen, die mit gewiffen fozialen Zuftänden verfnüpft find, über eine ſprachliche und Fulturelle Grenze hin- überzuleiten. Was ohne mweitered aus Deutfhland zu importieren war, hat Antoine offen und freimütig gebolt. Er geftand es öffentlich ein, daß ihm eine Auffübrung der Meininger den „Julius Cäfar” offenbart hatte, und dem muͤnchner Hoftheater entlehnte er rubig die fogenannte Shafefpeare-Bühne. Was er fid leider nicht audborgen und zu Haufe nicht aus dem Boden ftampfen Fonnte, das find die Charafterdarfteller. Frankreich ift dem

174

modernen Schaufpiel verfallen, die Klafjifer bleiben ein Privileg und eine Vertragsklauſel der ſtaatlich fubventionierten Bühnen, und die begnuͤgen fich mit Moliere, Nacine und Corneille, ohne allzuviel Wert auf großartige Geftaltung der Hauptrollen zu legen. Ihre Loſung, heute faft der einzige Ehrentitel der franzöfifhen Schaufpielfunft, ift da8 ausgeglichene Enfemble. Nur eine Säule zeugt auf der Seite der Männer von verlorener Herrlic- feit: Mounet-Sully. Aber auch er ift wundervoll ald König dipus und armſelig als Hamlet oder Othello, denn er empfindet plaſtiſch und hat keinen Sinn fuͤr jenes Helldunkel der Malerei, in dem Shakeſpeare allein gezeigt werden kann. Als Antoine im vorigen Jahr, noch in ſeinem kleinen Haufe am Boulevard Strasbourg, „Lear“ aufführte, da hatte er niemand, als ſich felbft, einen der monotonften, mittellofeften Schaufpieler, die ſich denfen laffen. Und jet, im Odéon, war er für den Marc Anton auf den Rumänen de Mar angerwiefen, der troß perfönliher Eigenart und Sarah Bernhardts Maͤtzchen ſich mehr für feines Helden mögliche Homoferualität die und im Theater gleichgültig fein kann intereffierte, als für antifen Römergeift.

Ich habe Herrn Antoine num im voraus fo triftig entfchuldigt, daß er mit einem total mißlungenen „Zulius Cäfar” beinahe noch unendliche Lob verdiente. Es mar fein Shafefpeare in deutfchem Sinne, den er gab, aber ed war eine redliche Feiftung. Die padenden malerifhen Wirfungen, die er berauszog, find ihm nicht befonderd hoch anzurechnen. Er brauchte für des Brutus Billa im Morgengrünen, fir die mächtige Senatshalle, fürs Forum fi) nur au8 der Operacomique Garres Deforationdmaler Juſſeaume zu holen, wad er auch getan bat. Des Puvid de Chavannes vornehme Einfachheit bat die neuern franzöfifchen Inſzenierungen vielleicht mehr beeinflußt, als Gordon Eraig und Reinhardt abnen, und nicht weil Carre ein Mann von Geſchmack ift, fondern weil die Deforationdmaler im Pantheon und in der Sorbonne jene ftimmungsreinen Fresken ſahen. Antoine Verdienſt um feine entzuͤckenden Szenerien ift alfo nicht größer, ald das des Käufers, der den Preis für gute Ware anlegt. Aber er bat ed auch verftanden, feine Regie malerifch in das malerifche Milieu bineinzufegen. Kein Baleur war falfch im Bilde. Nur ift damit die Nolle des Negiffeurd noch nicht aud- geipielt. Sobald die wandelnden Figuren zu reden anfingen, gab es Mißton uͤber Mifton. Cäfar fehrie fi) heifer, die Verſchwoͤrer bei Brutus deflamierten beinabe, als ob zwifchen Eorneille und Shafefpeare fein Unter- ſchied beftände, Marc Anton nuancierte lifpelnd feine Korumrede mit ohn- mächtiger Fiebesinbrunft, und Brutus redete hausbacken, wie ein Familien⸗ vater, der die Ermordung Cäfard nicht wichtiger behandelt ald etwa die Berbeiratung eines Toͤchterchens. Doch am Ende fann ich hab es oben fon gefagt auch der gefchicktefte Negiffeur Feine Darfteller aus dem Boden ftampfen. Darüber muß man ſich bei Frankreich beſchweren und nicht beim Direftor des Odéon, der immer noch das Beſte zufammengebolt batte, was innerhalb der blau-weiß-roten Pfähle aufzutreiben war. Die

175

großen Volfäfzenen möglichft lebendig zu maden, ift in Paris fein Kunſtſtuck mehr. Aber Antoine hatte doch einen originellen Einfall. Auf dem Forum plazierte er die manifeftierenden Zubörer in einer Vertiefung, fo daß man nur die wiegenden Köpfe und fuchtelnden Arme fab. In den letzten Aften muͤhte er fi) aufrichtig, dem Manuffript treu zu bleiben und die verfchiedenen Selbfimorde und Schlachtepiſoden mit der nötigen finematographifhen Gefhwindigfeit abzumideln. Dielleiht ift ed ein Fehler, bier Shafefpeare gar zu refpeftooll zu behandeln; denn am Ende ift die überzeugende Dar- ftellung diefer Serie altrömifcher Harafirid doch nur ein Ziel, für das ſich Sada Daffo und ihre Partner begeiftern fönnen.

In den Augen der Franzofen hatte Antoine mit diefem Julius Cäfar fein Staatsexamen ald Ddeondireftor glänzend beftanden. Das Publikum ftrömte in Maffen berbei und war zufrieden. In der Kritik ertönte feine feifende Stimme. Man danfte gerührt fr die Offenbarung der madtvollen Tragödie, deren beide große Momente, die Ermordung Cäfard und die Forumrede, von der Negie aud zu ftarfer Wirfung gebracht worden waren. Und wollte man bier noch weiter didfutieren, fo müßte man die uralte Debatte über dad Verhältnis der Franzofen zu Shafefpeare eröffnen und fortfpinnen. Bisher bat dad Genie Britanniend fein Glüd in Franfreid) gehabt, was nicht auch fagen will, es babe fein Verftändnid gefunden. Wo gab ed einen heißern Verehrer Shafefpeared ald den Franzofen Victor Hugo? Voltaired boshaften Wigen hat die Nation jedoch lieber gelaufcht ald Hugos Pathos, und Alfred de Vignys Hoffnung, daß einmal die franzöfiihen Schau- fpieler in Hamlet und Macbeth unfterblihe Rollen fehen würden, hat ſich nicht erfüllt. Das wird wohl auch noch lange fo bleiben. Ein Volk, dad gerade im Theater fo Großes und Perfönliches geleiftet bat, beugt fich nicht leicht unter fremde Dramatif, am menigften, wenn ed dabei auf die fein abge- rundeten formen verzichten fol. Bon Antoined Beginnen einen Umſchwung zu erwarten, wäre Gelbftbetrug. Aber fein „Rear“ und „Julius Caͤſar“, die er bis jeßt gegeben und denen andre Werfe folgen follen, marfieren bod ein Datum: Ed find die erften echten Aufführungen. Keine „Ber arbeitungen“, fondern wortgetreue Überfegungen liegen ibnen zugrunde. Die Ira der Verflißer, die vor anderthalb Jahrhunderten Ducis eröffnete, ift zu Ende, vielleicht auch die Ära der „Brofefforen-Überfeger“, denen Sardou einft die Schuld fuͤr Shafefpeared Mißgeſchick in Frankreich zufchrieb. An der pietätvollen Übertragung des „Julius Cäfar” von Louis de Gramont fönnte Barbey d’Aurevilly feinen beiligen Zorn mebr entzunden und aud« faffen. Und Antoine bat die uralte Diskufjion vielleicht endlih auf den richtigen Punft eingeftellt, ald er fagte, man muͤſſe Shafefpeare auch in Frankreich in feiner wahren Geftalt zeigen und das Publiftum zum Richter machen ftatt der Literaturkoͤche.

176

Die Schaufpielerin/ von Robert Walfer

ie ſchoͤne Schaufpielerin und der bärtige Mann figen zufammen in

einem balbdunfeln Zimmer. Die Fenſter ftehen offen. Die Frau

erhebt ſich aus ihrer halb fitenden, halb liegenden Haltung, tritt auf den ſchmalen, länglihen Balkon heraus und winkt dem Manne, nad zufommen. Wie fhön, wie frei ift die Welt, fagt fie, indem fie lächelt: unfereind muß das fo ftarf fühlen. Wir Schaufpielerinnen hängen nur mit den flüchtigften Blicken an dem fügen, offenen Bilde der Welt, aber diefe Blide find und wie Mufif, wie tiefe, tiefe Gedanfen, wie Wellen, die an und beranfchlagen und und mit herrlich⸗ſchoͤnem, danfbarem Gefuͤhl befprigen, dag wir ganz durchnaͤßt, durchfuͤllt davon werden. Wir find ja fo gefnebelt; Eie zum Beifpiel haben die Aufgabe, in den Strudel und in das harte, prachtvolle Spiel unterzutauchen, Sie jagen ihren Genüffen und Gefchäften in natürliher Kraftanftrengung nad, treiben mit den Zreibenden, ruben mit den Ruhenden und lachen, wo ed irgendwo einen Anlaß gibt, in ein Gelächter auszubrechen. Wir Künftlerinnen fehen unfer ganzes Dafein in der Runft dabinfließen, einen Menſchenſchmerz, eine Menfheniham oder einen Menfchenjubel nachzuahmen und empfinden oft in der Arbeit, die unfer Beruf und foftet, einen beengenden, nicht ſchoͤnen Stillftand; alles Strömende will und dann ftocden, alles Stürzende und Sinfende und fliegende fcheint ſich in und bineingebohrt zu haben, wir tragen alles und werden von nichts, nichtd fortgetragen, und emporgehoben fünnen wir nur werden von der flumpfen, abfchliegenden, treuen Geduld tn dem bebarrlichen Weiterſchaffen. Des bemeglihen Gefhäftämannes Schaffen beruht auf einer naturlich ſchoͤnen Weitherzigkeit und luftigen Weitſchweifigkeit, die ich mir fo gefund für Körper und Seele vorftelle, die ich kaum nod dem Duft und der Ahnung nad Fenne, da wir Schaufpielerinnen die Weitverbreitetheit und alled Umliegende beinahe haffen müffen, um nur ja fo recht daß fefte, ewige Nahe zu ſehen, woran wir angefettet leben. Sie haben wohl kaum einen Begriff, wie die Kunft- fetten, ja wuͤrgen fann, einengen, ad, und einem alle lebendig-warmen Audfichten vor den Augen weg, wie Vögel aus der ftillen Luft hinab, niederfchießt, dag es einem fcheinen möchte, alle Erlebniffe, die fügen und fchledhten, lägen da vor den Füßen, am fledigen Boden, aus vielen trodenen, elenden Wunden langfam und ſchwaͤrzlich biutend. Sie, Sie haben es ſchoͤn. Nein, wir Künftlerinnen haben es nicht ſchoͤn.

Der Dann fagt nichts, und die Schaufpielerin, indem fie den ſchönen, uͤppig geformten Arm läffig audftredt, ſpricht weiter:

Wie da unten in der Straße die unbefannten, lieben Menfchen gehen, ſich umſchauend, einander uͤberholend, Wagen fahrend, Pafete tragend, pringend, atmend und Schultern wiegend! Man fehnt fih nach Menfchen, wenn man zwanzig Jahre lang auf der Bühne Menſchenſchickſale dargeftellt bat. Schon ald zwmölfjähriges Kind babe ich zu fpielen begonnen; durch

177

den fünftlerifhen Erfolg bin ih zum erften Mal in Verbindung mit unbefangenen Menſchen geraten, aber ich fürcte, ed waren nicht die Unbefangenen, die zu mir bintraten, um mir ihre Bewunderung vor die Fuͤße zu legen. Durch den Erfolg lernt eine nur die flupiden Anbeter und die ebenfo dummen Neider fennen, Schwäger in der Regel, die Angſt davor haben, fi einer Empfindung, einem Gefühl oder einer Tat bin- zugeben. Sch babe fie alle raſch durdfchaut, ohne Zorn, nur mit einem gewiflen Kummer, der mir fagte, ed fei etwas irgendwo, das ich nie wiirde dürfen Eennen lernen. Und dann babe ich ja auch immer zu tun gehabt. Ein Künftlerberuf ift eine eiferne Kifte, die einen faum atmen läßt, darin man ſteckt in halb aufrechter Haltung, nicht frei und doch auch nicht fo ganz und gar gefangen, den Kopf an der Luft, aber auf irgend eine Weife fiebt man ſich gefeffelt, man weiß es, und im naͤchſten Augenblid weiß man es wieder nicht mehr.

Das fei fchließlich mit jedem Lebendberuf fo, meint der Mann.

O nein, fagt fie, mit Euch andern ift ed ganz anders, Ihr habt trodene, notwendige Berufe, und das ift dad Schöne. In unfern Leiftungen, wenn fie gute find, badet Ihr Euch wie in erfrifchenden, einfamen Bergquellen ; dad Gefühl, durch den Geſchaͤftstag hindurch unterdrückt, fpringt Euch lachend, weinend, taufendfarbig und taufendtönig auf, wie Wunden, aber nicht wie trockene, eher wie fließende, und fanft und wohlig fehmerzende. Unſereins dagegen hat immer mit Gefliblen und Empfindungen, mit rein Menſchlichem und Sdeellem zu tun, wir miffen ed meffen, zerfchneiden, auseinanderlegen, berechnen und ed auf Wirfungen bin, die ed machen fol, erproben. Wir pröbeln und fchneidern mit Dingen, die in der Bruft andrer Menfchen gefund und gebeimnisvoll und unangetaftet ruhen, heiligen, gefährlihen Quellen gleih, die man nicht ungeftraft beftändig bervorreizt. Dann, wenn man das getan bat, ift man fo Falt und leer, daß man hingehen möchte, um fich einem gelaffenen, unangefocdhtenen, braven und fimpeln Menfhen an die breite, gute Bruft zu werfen. Mie Föftlich erfcheint einem an fold einem Schaufpielabend der Atemzug fold eines Menfhen, man möchte die Kunft baffen und fich felber nicht minder, empfinden zu müffen, dag man fi an fie angeſchloſſen bat. Und doc ift fie ſchoͤn, und doch ift das alles jo ſchoͤn. Geben wir hinein.

Sie treten beide wieder in dad Zimmer hinein.

Trinken Sie einen Schnaps?

Ja, er trinkt einen. Sie fchenft ein, während fie in tiefes, fchönes Nachdenfen verfunfen fcheint. Das Mädchen ftellt eine Lampe auf den Tiſch. Die Frau fagt:

Halb fieben. Zept kann ich nod zwanzig Minuten mit Ihnen dafiten, dann muß ich geben. Sie fommen nicht ind Theater, nein? Ga, Sie reifen nody heute Abend, Ich werde heute Nacht müde nach Haufe fommen, ih ſpuͤre ed fhon jegt. In zwanzig Tagen figen Sie wieder auf Ihren balbwilden Pferden, jagen dur die Steppe, wirtfchaften und fhaffen mit

178

Kopf und Händen und Fäuften. Schreiben Sie mir, ed fchreibt ja heut- jutage niemand mehr Briefe, machen Sie eine Ausnahme, Ihre Briefe werden mir den Duft der Prärie bier in diefed immer tragen, Es iſt fo fchön, abends heimzufommen und einen Brief aus einer fernen, fernen Gegend auf dem Tiſch liegen zu ſehen. Ich werde vielleiht an Sie denfen. Es wird vorfommen, daß mir, wenn ich einmal zornerbebend oder hell auf- ladhend, mie ed gerade dad Spiel verlangt, auf der Bühne ſtehe, ploͤtzlich Ihre Stimme einfällt, Zhre Figur, ein Wort, dad Sie einmal gefagt haben, der Stiefel da an Ihren Füßen, die Haartracht, der Bart, der Blick Ihrer Augen. Sehen Sie, fo lernt man eined Taged auf wunderlihe Art einen Menfhen fennen, man fpridt eine Stunde lang, oder zwei mit ihm, er gebt, er will weiter nichts, man vergißt ihn, weil man feine Urfache hat, ſich zu nötigen, feiner zu gedenfen. Er mag einem eined Tages zwifchen einer baftigen Wagenfahrt und einem aufregenden Wortwechfel wieder ein- fallen; vielleicht fchneit ed, wenn ich an Sie denfe, oder ich habe die Hand gebroden, muß im Zimmer figen, und ich erinnere mich ploͤtzlich Ihres Haͤndedrucks. Leben Sie wohl, jegt muß id mich umfleiden.

Rasperlefhoater

Im Literatur-Café / von Lunovis

Meier: Wie hat Ihnen Der Schleifſtein gefallen? Müller: Danke, fofo. Schimper: Haben Sie gelefen, was Schnauz darlıber gefchrieben bat? Meier: Schnauz? Im Journal? Schimper: Nein. Im Literaturblatt. Pfeifer: Das find ich noch viel zu gut. Über fo einen Schund Miller: Sie haben ganz recht. Aljo bitte, meine Herren, ift die Haupt« figur nidyt ganz dasfelbe wie Meier: Im Verlornen Bräutigam? Schimper: Immerhin Pfeifer (lefend): Wer ift eigentlih Kuno? N Schimper; Unter Kuno ſchreibt Wiedehopf in der Kabuner Zeitung. Pfeifer: Er weiſt riefig fein nach, daß im Taffo das Problem ſchon einmal angeſchnitten worden iſt. Schimper: Wer? Schnauz? Pfeifer: Nein, Kuno! Meier: Wer iſt Kuno? Schimper: Unter Kuno ſchreibt Wiedehopf in der Kabuner Zeitung. Meier: Ubrigend, meine Herren, der Roman von Stallhoſen eine

hoͤchſt mäßige Sache!

179

Müller: Iſt daB der Lyriker Stallhofen?

Pfeifer: Wenn Sie fein Heft Höhlen und Hohen Lyrik nennen wollen, weil die Zeilen untereinander ftatt nebeneinander ftehen

Müller: Das ift nit wahr. Er bat fhon Talent

Pfeifer: Weil er Ihren Todfeind Perleberger mal verriffen bat.

Schimper: Es gibt überhaupt feine Lyriker mehr. Es kann feine mebr geben.

Meier: Warum?

Schimper: Beil fhon alles gefagt ift.

Meier: Nückkehr zur Volksſeele ift das einzige.

Schimper: Da gibt es ein beifpiellofed Buch aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, das follte jeder junge Skribent auswendig lernen.

Müller: Haben Sie nicht im Leipziger Allerlei drüber gefchrieben?

Pfeifer: Die Form der Zufunft iſt das Drama.

Schimper: Unfer fo fehr fortgefchrittened moderned Empfinden bat doch aber mebr den Zug zum Innerlichen.

Meier: Übrigens bab ich fürzlid Ihr Epos angefangen.” Ein paar ‚Sachen baben mir wirklich recht gut gefallen.

Pfeifer: Sie überfegen jetzt Pemski?

Schimper: Wie fiebt Pemski aus?

Müller: Iſt ed wahr, daf er mit der Frau von Jobski im Sudan lebt?

Schimper: Kennen Sie Frau Zobsfi? Cie fol entfeßlih dumm fein.

Pfeifer: Die Koblfurter Volfädichterin Augufte Bahndamm war eine Zeitlang ihre KRammerjungfer.

Schimper: Silberlöffel vom Nachtcourier hat fie ja im Gotthardtunnel interviewt!

Meier: Was ſagte Pemski im Gotthardtunnel?

Miller: Es iſt aber doch ein Skandal mit dieſer Jobski.

Pfeifer: Mit Pemski aber auch.

Schimper: Iſt ſie noch jung?

Pfeifer: Hat ſie Raſſe?

Meier: Sie ſoll kein Korſett tragen.

Pfeifer: Schminkt ſie ſich?

Miller: Sie ſoll ein bildhuͤbſches Weib fein.

Schimper: Ein Sfandal! Man muß fi) ſchaͤmen, Schriftſteller zu fein. Ph nauz (tritt ein): Na, wie hat Ihnen der Schleifſtein gefallen, meine

ren

Pfeifer: Wir haben Ihr Effay im Piteraturblatt gelefen

Schnauz: Finden Sie nicht auch, daß, wie Wiedebopf fagt, das Problem fhon im Taffo angefchnitten ift —?

Meier: Wer ift Wiedehopf?

Schimper: Wiedehopf fhreibt unter Kuno in der Kabuner Zeitung.

Meier: Ah fo.

Miller: Schnauz, haben Sie ſchon die Geſchichte von der Jobski gehört?

Schnauz: Mit Pemski, dem Idioten? Aber natürlih, ſchon zwoͤlf⸗

dugendmal! Aber um auf unfern Schleifſtein zurüdjufommen wie bat Ihnen der Schleifitein gefallen? (n. f. w.)

180

Nundſcharu

Die londoner Oper

Pier in London noch fonft irgend⸗ wo auf britifhem Boden be= fteht eine ftändige Oper ; fein Gebäude im engliſchen Weltreich ift ausfchließ- lich der Mufe der dramatifchen Mufif geweibt. Vier berumziehende Opern» gejellichaften, die heute in Glasgow, morgen in Dublin, übermorgen in Mandefter ihr fpdrliches, faum je wechſelndes Repertoire fingen und fpielen: dad ift alles, was England an Opernfunft aufzumeifen bat. Eine diefer vier Wandertruppen muß als eine Art Bolfäoper bezeichnet werden, die rechte und ſchlechte altenglifche Ware ihrem genuͤgſamen Vorftadt« publifum vorſetzt, wie z. B. den, Waſſer⸗ mann“ oder das „Boͤhmenmaͤdchen“. Die zwei andern ſind die Carl Rosa Opera und die zweiMoody-Manners Opera Companies. Diefe beiden werden ald A und B bezeichnet, was fo viel heißt, daß A die beffere, für die großen Städte beftimmte ift, waͤh⸗ rend B gerade nody gut genug ift für die Fleinen Provinzftädtchen. Direftorder Moody-Manners Com- panyfelbft aber iftein funftbegeifterter Mann, dem ed nicht blos ums Ge- ſchaͤft zu tun ift. Er ift wirklich ehrlich beftrebt, eine mufifalifchdramatifche Kultur bierzulande zu ermöglichen. Er ift es auch allein, der danın und warn ein neued Werf feinem Re— pertoire einfügt oder ein bedeutfames altes neueinftudiert beraudbringt. Ob freilich fein Wollen ftarf genug if, ein wirkliches Reſultat zu erzielen, bleibt recht zweifelhaft. Erwähnt aber fol werden, daß er fih um den für biefige Berbältniffe gewaltigen Plan bemübt, in den großen englifchen

Städten eine Reihe von Aufführungen des Nibelungenrings zuftande zu brin⸗ gen, flır welche jene Städte beftimmte Garantien zu ftellen bätten. Und diefe Bewegung, immerhin ein erſterSchritt, ſcheint in erfreulichem Fortgang be= griffen, wenn man auch nur dann und warn davon zu bören befommt, da die in Deutfchland berrfchende Sitte informierender Kunſt⸗ und Theater» berichte aus den verfchiedenen Landed- teilen bier nicht befteht. Die euglifche Provinz; oder doch menigftend ihr geiftigsfünftlerifches Leben ift für den Londoner ebenfo dunfel wie das Zen⸗ trum Afrifas:

Und nun London. Da eriftiert ja freilih Eovent Barden, dad „Opera- baus”. Doc erft abwarten! Zwar dad gefprohene Drama macht der Oper bier feine Konfurrenz, wobl aber jeden Freitag zur Faſchingszeit und außerhalb diefer fröhlichen Zeit fogenannte »Fancy Crass Balls« mit reifen für die originellften Koftüme! Natürlich find dieſe Frei—

Der tagd-Abende im „erften Opernbaufe

Europas“ feine Feſte Terpfichoreng, fondern einer febr anders gearteten Lady, mit einem Wort: ein Schimpf und eine Schande für den immerhin großen nationalen Namen Covent Gardens! Aber Geld! Geld bringen fie, wobl mehr ald ein Opernabend, fiher fogar, fonft würden die Pächter Eovent Gardens und Covent Garden, Gott ſeis geflagt, ift als »business concern« und nur al® ſolches an ſehr fcharfe Herren ver- pachtet fonft würden, fage ich, Die Pächter nicht ihre Opernvorftellungen freitagd unterbreden und auf ihren Brettern dad Tanzbein ſchwingen

181

laſſen. Wasaberjeder actor-manager bier noch befigt, einen gewiſſen kuͤnſt⸗ lerifhen Anftand, das gebt geldbe- gierigen Pächtern natürlid ab, und fo fommt es, daß heute vielleicht „Fidelio“gegeben wird und tags darauf dad Haus von zweifelhaften Wigen und Gemeinbeiten widerhallt. Könnte man Parfifal geben, man hätte ob folder Nachbarſchaft auch feine Sfru- peln; »non olet«, fo denfen die Pächter. Alfo von Covent Garden, das noch vierzig Jahre lang in ſolchen Händen fein wird (fraft eined Pacht⸗ vertrag mit dem Landeigentümer, einem edeln Herzog, dem Covent Garden Operahouse ebenfo nah ſteht wie Covent Garden market, der große londoner Gemüfemarft, eben weil es fo und fo viel Taufende Bodenrente im Jahr abwirft), kann man für die Kunft nicht? erwarten. Wohl wahr, in Covent Garden wird jährlih im Fruͤhſommer die große OperaSeason, halb deutſch und halb franzöfifch, abgebalten, und unter Hans Nichterd Kommando wird jegt Treff: liches geleiftet, aber nur weil der- artige Veranftaltungen Mode find. Wenn diefe Mode aus irgend einem Grunde wechfelte, wuͤrde man fofort etwa einen Zirkus ftatt der Oper ein- richten. Dann wird im Herbit in Eovent Barden eineitalienifche Opern= faifon abgebalten; von Kunftabfichten ift aber auch bier feine Rede.

Und nun bat foeben zum erften Mal eine deutfche Winterfaifon unter dem tatfräftigen Seren van Dyck be= gonnen. Chbarafteriftifcherweife ließen die vorſichtigen Pächter da andre die Kaftanien fi erft aus dem Feuer bolen, weil fie des Erfolges keineswegs fiher waren. Dody mußten fie den Plan fo anzulegen, daß im Fall eines Erfolgs ihnen der Ertrag zufommen mußte. Da der Erfolg, nad) der erften Aufführung zu fchließen, gefichert er- ſcheint, dürfte diefe Saifon in kommen⸗

182

den Jahren wiederbolt werden. Viel⸗ leicht auf eigene Fauſt der Pächter, was ihren finftlerifchen Ruin bedeu- ten fönnte. Denn dann würde das Spftem der Stard wieder in den Vor⸗ dergrund ruͤcken, während diesmal der Direftor diefer Saifon, der erwähnte van Dyck, hoͤchſt erfreulicher Weife dar- aufgefeben bat, und ſieht, das Enſemble zu einer Einheit zufammenzufchweißen, ebe er es in den verfchiedenen Opern auftreten läßt. Der fünftlerifche An⸗ teil, der den hieſigen Pächtern offenbar zufiel, die aͤußere Ausftattung, zeigt deutlich die völlige Unfähigfeit und abfolute &leichgiltigfeit gegen alle Kunftforderungen. Nie wobl bat Hand Sachs auf einer großen Bühne in ſolch einem Fahlen, ftimmungstötenden Zimmer gejeffen wie bier. Aud) das Mepertoire ift lehrreich: fo lange die Pächter auf eigene Kauft allein ſchal⸗ ten, müffen alles Schlager fein; van Dy wagt endlich etwad und wird den bier zwölf Jahre lang nicht ge= börten „Freiſchuͤtz“ und die „Ver⸗ faufte Braut”, ſowie den ſtraͤflich ver- nachlaͤſſigten „Fidelio“ fpielen laffen.

Die londoner Kritif bofft, diefe Satfon werde fo eine Art Morgen- röte fein, ein Beginn befferer Zeit, ein Wechfel gleihfam auf die Gruͤn⸗ dung einer ftändigen englifchen Oper. Es wäre ſchoͤn und aufs innigfte zu wiünfchen. Aber fo lange man feine Hoffnungen auf Eovent Garden und feine Pächter fett, bat man auf Sand gebaut. Wird man endlich einfeben, daß fol ein Unternehmen nur Sache der ganzen Kommune fein fann, von ihr getragen und geftügt und rubend auf dem entbufiaftifhen Eifer der Gefamtheit? In Eovent Garden wird noch im vorrevolutionären Stil des achtzehnten Jahrhunderts flr Die Grand Seigneurs der Geburt und freilich auch des Geldbeuteld, und nur fir fie und ihre Raunen und Lebensge⸗ wohnheiten gefpielt. Das neue Opern⸗

baus müßte allen Kunftfreunden ge= widmet fein. Aber warn wird erftehen? Frank Freund

Der „Kientopp“

Hi Phrafe: „Heute geben wir in

’n Kientopp”, drückt die Abſicht des berliner Volkstums aus, eines der befannten „Rinematograpbentheater” zu befuchen, mit denen die Straßen- züge der Hauptftadt zur Zeit gefpickt find, wie die Toilette einer weftlichen Banfiere mit Brillanten. Die Leute von der berliner Peripherie fagen fo» gar furzweg nur: „Wir geben ind Kinne.“ Eine „fünftlerifhe” Ins ftitution, die ber zwei populäre Spitz⸗ namen verfügt, batdamitibre Eriftenz- berechtigung bewiefen. Hat bewieſen, daß fie auf das ntereffe der Menge ftarfe Anziehungsfräfte ausübt. Daß fie nicht nur eine Anftalt, fondern direft eine Bedürfnisanftalt ift. „Per dios“, wie Frau Maria Bonn im neueften Deteftivdrama ihres Öattenfagt. Wo⸗ rin, in welchen Punften aber findet das deutfche Volf gerade auf den weißen, fhimmernden Leinewandflädyen der Kientöppe die feiner kuͤnſtleriſchen In⸗ telleftualität verwandteften Punkte? Diefelben Punkte, auf welche Ferd. Bonn mit Erfolg fpefuliert, wenn er den Revolver zum Mittelpunft der modernen berliner Afthetif machen möchte? Sebr einfach. In Sachen der Bildung des niederften Volfes bin ich Peſſimiſt. Man gebe dem Proletarier die „VBuddenbroof3” in die Hand, und er wird fich erft nach einiger Muskel⸗ anftrengung woblfüblen. Man bediene ihn mit Karl May und Sherlodf Hol- med, und er wird den Stadel des Abenteuerlihen, den Kiel ded Phan- taftifhen fpüren, den er ald Wedruf feiner Teilnabme braucht. Der Durch⸗ ſchnittsverſtand plärfchert gern im Tuͤmpel feiner geiftigen Heimat und magt ſich aus Furcht vor der intellef- tuellen Seekrankheit nur widerwillig

auf dad hohe Meer fortichrittlichen Strebend. Im, Kientopp“ aber fühlt er fich zu Haufe. Unter Ausſonderung behindernder Worte ift bier nur das Geſchehnis firiert. Ein dramatifches oder pifantes; ein derb=bizarred oder ein nur draſtiſches Geſchehnis. Nach einer Leierkaſtenmelodie ſchnell ent⸗ ſtehend und vergehend, wie die Flamme eines Füunfminutenbrennerd. Und da die Autoren des „Kientopp“ nicht für= dern, fondern nur fchmeicheln, da fie ihre Kundfchaft nicht auf den goldnen Stubl befferer Neigungen erheben, fondern fie im ſchwarzen Pfuhl ihres äfthetifchen Indifferentismus belaffen wollen, fo verdienen fie Geld, viel Geld. In diefem Sinne gehört auch Ferdinand Bonn ald Dichter in den „Kientopp“.

So lange alfo diefe Autorengalerie nur ald Photograpbin ded Dageweſe⸗ nen, nicht ald Erzieherin auftritt, kann ich die Freude des Publifums begreifen. Denn der Genuß des Wiedererfennend gehört zu den ehrlichſten Genüffen. Ob man auf dem Finnen ded „Rinemato- grapbentheaterd” einer Prügelei zu⸗ fieht, die drei Vierteile der Zuſchauer fchon felbft durchgefochten haben, oder ob man angefihtd der Intima einer Ebeirrung behaglich zuruͤckdenkt: „Ich befaß ed auch einmal...“ Dann aber kommt der „Rinematograph” mit pä= dagogiſcher Nebenabfiht. Er flicht Ruhmeskraͤnze. Er gibt den heroifchen Zubälter, der anirgend einer parifer Barriere fein Mädchen mit dem „Schneidling“ figelt, weil fie auch ein⸗ mal mit einem Kameraden feitwärts ging. (Die Zubälter im Parfett des nördlichen „Rinne“, in dem ich dieſes Bild aufnehme, greifen in aufmallen- dem Zorn in die Hofentafhen.) Er gibt ferner dad Bild von der Juͤdin, die den braven Bauerdömann dem legi- timen Ehebett abwendig macht und zum Entgelt fuͤr diefen moralifhen Frevel von den andern wilden Landleuten zum

183

Zeil verbrannt, zum Teil erfäuft wird. Man nennt die Quinteſſen; diefed Vor⸗ ganged: Erziehung zur Toleranz. Ein dritter Vorgang, betitelt „Ehre über alles”, ſchließt fih an. Ein junger Menſch, der einen Mörder der Polizei überlieferte, wird ob diefer Verräteret von feinem eignen Batergerichtet. Die AZubörer beſchließen in Anlehnung an diefen Anfhauungsunterricht natürlich, in Zufunft verfübrerifche Judinnen tot⸗ zuichlagen und den fommenden Hennig fhlimmitenfalld im eigenen Bette zu verbergen. ...

Einneuer „Kientopp” der Friedridy- ftraße annonciert den Inhalt feines Schlagers mit diefen Worten: „Eine Dame der guten Gefellichaftentichließ fih, Straßenräuberin zu werden. ..“ Das ift nur für und Einfältige eine fühbne Gedanfenfombination. Der Kinne⸗Dichter aber fieht jo die Welt („überall in allen Eden foll der Gas⸗ parone ſtecken“) und will, daß auch dad Publikum fie jo ſehen lernt. Dieſe Be- fehrung fann gelingen, wenn die Jen- fur, die auf dem Theater jeded Bett- lafen ärgerlich abfchnüffelt, dieſe Bor- bereitungsfurfe für dad Verbrecher: album ohne weiteres qutbeißt. Ich uͤberſchaͤtze Ferdinand Bonns ethifche Million wahrbaftig nicht: dios miosl Hier aber bleibt er am Ende doch der moralifhe Sieger. Denn fein Theater iſt doc wenigftend eine Preſſe für Kriminalkommiſſare, nicht ein Öffent- licher Zirfel für fatilinarifche Exiſtenzen und ſolche, die ed werden wollen.

W. T.

XElſaͤſſiſches Theater

gas „Elſaͤſſiſche Theater” ift ein

Dialektenſemble gleih den Sclierjeern. Zwijchen beiden beiteben jedoh Uaterſchiede. Erftend: Die Schlierſeer findeine Reifetruppe die Elfäffer nicht; fie reifen nur fetten ins Altdeutſche und ftreben zur Zeit dar⸗ nad, inÖtraßburg ein eigenes Haus zu

184

befommen. Zweitens: Die Schlierfeer find längft in den beglüdenden Hafen der Berufdfchauipielerei eingelaufen die Elfäffer nicht, troßdem fie be- reitd act Jahre Komödie fpielen. Drittend: Das Repertoire der Schlier« feer umfaßt nur Schwänfe, mehr oder weniger luftige, mehr oder meniger ſchlechte Schwänfe (wer fie einmal Anzengruber bat fpielen feben, wird beftätigen, daß fie ihm nicht, jegt nicht mehr, gewachſen find) dabingegen ift dad Repertoire der Eljäffer fait durchweg literarifch gediegen.

Ihre Autoren beißen: Erdmanns Chatrian („Der polnifhe Jude“, „Freund Frig“ und „Die Rantzau“, in elſaͤſſiſchem Dialekt), Baftian, Stos⸗ fopf, Greber, Dinter. Stoskopf, der gegenwärtige Direktor des elfälltichen Theaters, ift der bedeutendfte: ein temperamentvoller Maler und Dramas tifer, der mit feiner ganzen gefunden Individualität in der elſaͤſſiſchen Hei⸗ mat wurzelt. Sein ausgeſprochenes Bühnentalent, auc feine Geſtaltungs⸗ fraft weiien ber die Grenzen des Volks⸗ ſtuckes hinaus. Wo er, nach berüch⸗ tigten Vorbildern, das „Gemüt“ be⸗ tonen und Tränendrüfen bearbeiten will, verjagt er. Das fpricht nicht gegen ibn. Wo er aber mit feiner im allerbeiten Sinne volkstuͤmlichen Kunft Satire jchreibt, da erzielt er bedeutende Wirkungen. Das Ipricht fehr, fehr für ihn. Die Volkskunſt fol heute nicht mehr „gemütvoll”, fie ſoll fatirıfh fein. Dann ift fie wahrhaft modern, das beißt: den mo⸗ dernen Volföftrömungen und Volfe- flimmungen entiprehend. Mande Sjene von Stoßfopf erinnert an Thoma,vor allem vieled aus feinen koͤſt⸗ lichen: „D’r Herr Maire” und „D’r Herr Hoflieferant“. Allerdings ift Stosfopf bis jegt weder jo originell noch jo original wie Thoma. Und doch bedeutet er in feiner ſchwaͤbiſch⸗ franzöfifchen, herb⸗ heitern Art für das

fatirifche Luftipiel eine Hoffnung. Er darf fih nur nicht ausſchließlich als des elſaͤſſiſchen Theaters

achten.

Das Spiel dieſes elſaͤſſiſchen Thea- ters, das jungſt auf Einladung des Hoftheaterd in Mannheim gaftierte, ift ein trefflihes Enfemblefpiel von teilmeije ungemein begabten Dilet- tanten, die ein Fultivierter Gefhmad leitet. Daber erzielen fie denn auch eine Wirfung, die mehr ift und kuͤnſt⸗ leriſcher und echter ald die der ab- geitempelten Luftipielfomddianten.

Hermann Sinsheimer

Zwei Welten

er Entwidlung ded Kleinen

Theaterd darf man froh fein: ed erinnert fi mehr und mehr der Anſpruͤche einer DVergangenbeit, in der ed Strindbergd und Wedekinds delifated Tempeldhen war, es erwacht ju einem faft eigenfinnigen Ehrgeiz und jcheint wieder auf dem Wege, eine Stätte jener efoterifhen Dra— matif zu werden, an der gute Euro- paͤer, verwöhnte und doch nicht blafierte, ſcheue und doch enthuſiaſtiſche Genießer, ihre feine Luft haben fönnen. Aus folhem Streben heraus muß der Entſchluß geboren fein, ded Ruſſen Leonid Andrejews Drama: „Zu den Sternen” aufzuführen ein Stüd, dem jede Möglichkeit lauter Populari= tät von vornherein verjchloffen war und das nie die Kaffenbeitände, um» fomehr aber das aͤſthetiſche ‘Preftige eined Theaters ftärfen fonnte. Das Schaufpiel Andrejews gehört zu den Werfen, die trogig genug find, allen Erwartungen, allen Anforderungen der Bühnenfonvention weit aus—⸗ jumweihen: ed gibt weder dußere noch eigentlich feelifhe Handlung, ed zeigt feine Effefte und nur franfhafte, irritierende Affefte, und es führt feine Menihen weder zum Gieg nocd zur Niederlage, jondern einen

von ihnen zum Pathos einer gran- diofen innern UÜberwindung nur, die vielen Normalen problematiich erjcheinen wird... Der Schauplag ift zwifchen Himmel und Erde, in einjamer Luft: auf einem aſtrono⸗ mijchen Objervatorium, das, irgendwo in Europa (nit in Rußland), von allen menſchlichen Siedelungen ängft- lich entfernt, auf ſchneebedecktem Berg- gipfelliegt. Dort lebt, feit zwölflangen Jahren, der Aftronom Ternowski mit feiner Familie und drei Aſſiſtenten. Ternowski hat die ruffiihe Heimat wegen irgendweldher Mißbelligfeiten mit den Behörden verlaſſen. Es ift die Zeit einer Revolution, an der ein Sohn ded Aftronomen, Nifolai, beteiligt it einer Revolution, die dem erften Blif die gegenwärtige rufjifche zu fein fcheint und die doch eine andre it. Denn nicht ohne Abficht läßt der Autor die Mutter ded jungen Nifolaj, Inna Aleran- dromna, fagen, ihr Liebling ſchlage fih für fremde Menſchen und für fremdes Land; nicht ohne Abficht wiederholen ſich Außerungen wie diefe: die ganze Stadt flarre von Barrifaden, und dad Proletariat ſei bereitö im Beſitz des Rathauſes. Das deutet auf die pariſer Com— mune des Jahres 1871, und das Obſervatorium des ruſſiſchen Gelehr- ten läge dann etwa (Andreiew ſelbſt hats fragenden Freunden fo ausge» legt) aufeinemBerge der ſchweizeriſch⸗ franzöfifhen Grenzgebiete... Man verftebt leicht die opportuniftifchen Gründe diefer zeitlihen und örtlichen Unbeftimmtbeit. Es gab aber auch fünftlerifche Motive: nicht ein aftuelles Tendenzſtuͤck wollte Andrejew fchreiben, fondern ein von allzubegrenzter Zeit⸗ lichkeit ſorglich gelöftes pfochologifches Erperimentaldrama. So iftödenneine Allerweltö-Revolution, deren düftere Schatten projiziert werden auf dad Obfervatoriumsd- Plateau, auf died mit

185

faft chemiſchem Naffinement praͤpa⸗ rierte Milieu intelleftueller, feit langen Fahren von der Außenwelt abgefchnit- tener Menfchen. Diefe Menfchen find in der gewiffen Sterilität ihrer Ver⸗ einfamung primitiv und doch reizbar geworden. Sie äußern fid in fargen Bewegungen, die Doc dad Wefend- innere entbüllen. Der achtzehnjaͤhrige Petja und der adhtundzwanzigjäbrige Affitent Lunz find Hyſteriker hoben Graded. In der familiären Gefellig- feit zittert ein neroöfer, unbefriedigter, gequälter Grundton. Aber es ift nichts von der fleinbürgerlich-nörgelnden Zerriffenheit darin, mit der die erften, paradigmatifchen Werke des deutſchen Naturaliömusdauftrumpften. Bei Dem Ruſſen ift alles gütiger, verhaltener, flingender, lyriſcher. Es ift die Neu— raftbenie fultivierter Seelen. Sehn⸗ füchtige Töne werden angefchlagen, .. Ein Geſpraͤchſthema taucht auf, verfinft... Jemand will die Zeitung lefen, gibt ed wieder auf... Eine Schwäde, eine Fäffigfeit, eine Wirrnis bannt die Worte, hemmt die Handlungen. Starfen Eindrüden ift man nicht mehr gewachſen. Ald, aus der revolutionierten Stadt, Unglüdsbot- ſchaften eintreffen, revoltieren auch die Nerven der Einfamen. Fragenbaftes wird begangen. Verzerrter Geift, Krampf und irre Eftafen. Bon diefer Welt jpannt ſich eine Brücde zu den verzweifelten und orgiafliihen Bo— beme-Stimmungen in den Dramen und Romanen Stanidlam Przybys⸗ zewöfid ..... Der virtuelle Lyris— mus, mit dem diefe pſychiſchen Re— jultate in gedämpftes Licht treten, madht die innerfte Lockung des Dramas aus. Aber Andrejew ift nicht nur ein mitfüblender Erfenner: er bat aud) den tapferften Willen zur Überwin— dung des Irdifchen. Deshalb läßt er einen da fein, den großen Aftronomen felbft, der, alle Erdenqual erleidend und verftehend, fie in der objeftivie-

186

renden Genialität feiner pantheiftifchen Weltumfaſſung auflöft und diftanziert. Nicht fremd find dem Sternenſeher die Erdendinge; aber er meiftert und zwingt fie mit Geiſtesmacht. Bon dem Bewußtſein der Allgöttlichfeit ift er fo tief erfüllt, daß felbit die tote Materie ibm Ruͤckſicht zu verdienen ſcheint; er ift böflich gegen leblofe Dinge, gegen Stüble... Iſt das nicht ein Schritt hinaus über jene geiftige Guͤte, die den beiligen Fran⸗ ziskus Blumen ftreiheln, Bäume füffen, die ihn die Sonne einen Bru⸗ der und den Mond eine Schweſter nennen ließ? Ternowski, demütig und ftol;, ift ein Triumpbator der Hirn- fraft. Wie er in erbabener Pathetif die Hände zu den Sternen ftredt das ift die legte Gefte, die wir fehen. Und dieſes Schaufpiel ift eine Sym- pbonie des Leidens und ein Evange- lium disziplinierter Geiftigfeit zugleich.

Ein Intereffe an den im Neuen Theater zur Schau geftellten Rokoko⸗ Szenen: „Meißner Porzellan“ braucht die Kunſtkritik nicht erft abjulehnen: weder die Beſorgerin des Fibrettos, Fräulein Helene von Monbart (Hand von Kablenberg), noch der Regiſſeur ArelDelmar, der ſich in leßter Stunde der Mittäterfchaft bezichtigte, noch auch der Nequifitenchef Dr. Schmieden werden ja wohl für ihr Collaborat fünftlerifhe Wertung beaniprucen. Sie wollen auf amerifanifhe Art Geld verdienen meiter nichts. Ohne jede Entrüftung darf deshalb notiert werden, daß dad Schauftüd den alten Frig umd den Grafen Brühl, viel Uniformen und Toiletten, Allonge⸗ peruͤcken, Gobelins, Prunfpofale, Geſang, Ballett und Maskerade auf die Buͤhne bringt. Stoͤrend wirkt nur der begleitende Tert; er iſt hoͤchſt langweilig. Man laſſe ihn bei den Wiederholungen weg.

Ferdinand Hardekopf

Die Preffe

Die Jungfern vom Biſchofsberg Berliner Lofalanzeiger

Der eigentliche Inhalt der Hand⸗ lung ift gewiß ein kleiner und harm⸗ Iofer und nicht eben neuer Bühnen- ſtoff. Weit höher aber als dieſes fleine Liebestheaterſtuͤck ſteht das, mad Hauptmann darum gemwoben bat. Man empfindet bald, dieſe fleine, bübfche Liebesaffaͤre war ihm nur der Vorwand zu der wunder bübfchen Luftfpielidufle, die er fchaffen wollte, zu der feffelnden Charafter- fomddie, die in ganz eigenartiger Ge⸗ ftaltung ihm vorfhmwebte . . Eine

ante Galerie vollendeter Cha-

rafterföpfe hat Hauptmann gefchaffen. Uber dem fein und geiftooll geführten Dialog liegt ein Zug üͤberlegenen Humors. Deutſche Zeitung

Ein Drittel dieſes Luſtſpiels ſteht nicht viel hoͤher als Schoͤnthan und Kadelburg, ein Drittel iſt Studenten⸗ ulk nur zu Anfang und zu Schluß klingt leiſe, viel zu ſchwach und zu ſpaͤt, um ſich noch durchzuſetzen, eine feinere, tiefere Melodie vom fllich⸗ tigen Duft diefed bunten, trügerifchen Lebens herauf. So tief bat fi felten jemand verloren. AU unfre Hoffnung klammert fi an die Mög- lichkeit, daß die Verirrung bald ver- geilen, bald ausgeglichen wird.

Berliner Neueſte Nachrichten

Von einer Stimmungsmalerei, die zunaͤchſt an Gottfried Keller zu ge- mahnen fchien, aus einem im ganzen durchaus liebenswuͤrdigen Dialog, in dem einzelne Stellen fogar in heiterem Glanz aufleuchteten, glitt dieſes Luſt⸗ fpiel gar bald in die Miederungen fhlimmfter Luftfpielgedanfen- Armut.

Vorwärts

Die Szenen waren von peinvoller Langweiligfeit, fein Zug erinnerte an

den ptmann, der einft die luftige Komödie von dem geftoblenen Biber- pelz gefchrieben. Deutſche Tageszeitung

An den alten Hauptmann erinnert dad Stück faft in feinem Punft. Aller Bübhneninftinft, der ja nie die ftarfe Seite diefed Dialoge fchreibenden Epiferd gewefen ift, hat ihn im Stich gelaffen. Mit VBangen muß man nad) dieſer troftlofen Leiſtung dem

Schaffen Hauptmannd ent-

gegenfeben. Berliner Börfencourier

Es verfteht fi ganz von felbft, daß auch in diefem Stüd Gerhart Hauptmannd Hand nicht zu verfennen ift. Auch über dieſes Luftfpiel bat er die Goldförner feiner Phantaſie, die Strahlen feiner Dichtung geftreut. Aber das alles vergaß man über den groben oder naiven Luftfpiel- Effekten. Tag

.. Alles bleibt erft zu fchaffen, zu ahnen. Das Stüd ift nicht an« gefangen . . Das Ganze fieht doch aus wie ein bequemes, naives Hin- einfinfen in uͤberkommene, verftaubte, jerleierte Benediriaden.

Berliner Morgenpoft

Ein aus Langeweile, Geſchwaͤtzigkeit, hbler Sentimentalität und albernem Poffenfpaß erfindungsarm und müb- felig erquältes Stüd, das wohl nie- mals auf die Bretter einer berliner Bühne gefommen wäre, wenn es ein namenlofer Dichterjüngling er- ſchaffen hätte. Nationalzeitung

Viel ſtaͤrker noch als in ſeinen biöherigen Komödien vertraut Haupt mann ſich einem novelliftifhen Stoff und novelliftifhen Ausſchmuͤckungen an, und man mochte vielleicht noch nie fo febr wie diedmal bedauern, daß die Bühne ein Gebilde ver-

187

f&hlingen mußte, dad feiner ganzen Anlage nad beftimmt gemwefen wäre, von einem Gottfried Keller auf ein paar föftlihen Seiten gefchrieben zu werden. Berliner Börfenzeitung

Von dem durchgefallenen Werke ſchweigt man beffer; dad Symptom ift intereffanter, die Tatfache, daß fo etwad an der erften Bühne Berlins gegeben werden darf, daß große Künftler ſich mit diefen Plattituͤden abquälen müffen.

Poſt Eine balt- und ruͤckgratloſe Gleich⸗ gültigfeit, eine Bagatelle, die darum jo auf die Merven gebt, weil fie über fünf lange Afte geſtreckt wird, die uͤberdies darım verftimmt, weil fie von der verheißenen Schlichtheit und Froͤhlichkeit nichts bringt. Berliner Tageblatt

Bon fämtlihen Dramen Haupt- manns ift feines bedeutungslofer für feinen Werdegang ald diefes. Ein Sommernadtätraum follte die Ko— mödie werden ein Polterahend- ſpaß ohne viel Rurzweil, ohne vielliber- mut ift fie geworden. Es wäre ein trüber Ausblick, wenn diefes breit- fpurige Luftfpiel ohne Humor, ohne Schlagfraft, ohne Sprachreiz wirflich dad gegenwärtige Niveau der Haupt⸗ mannſchen Kunft bedeutete. Täglide Rundfhau

Man fplrt ein allgemeines Wollen was indeſſen wirflid) da ift, ent-

Witz oder Beobachtung in ungewoͤhn⸗ lichem Maße flach und fade erſcheint. Voſſiſche Zeitung

Dieſes Luſtſpiel iſt von einem muͤden Mann geſchrieben, dem die Wach heit der Selbſtkritik ſo gruͤndlich verloren ging, daß ſeinem Talent eine Brache von mehreren Jahren aufs innigſte zu wuͤnſchen waͤre. Hauptmann hat ſich mit dieſem harm⸗ loſen Luſtſpiel nicht abſichtlich klein gemacht, um dem Publikum ohne Beſchwerung feiner Seele zu ge— fallen; der moralifche Charafter des Schriftſtellers ift fozufagen intaft ge⸗ blieben, wohl aber ift er felbft klein geworden, wie zu einem Greife zu⸗ fammengefhrumpft, der an falzlos gefhwägigen Scherzen breite Be— bagen findet.

Deutfhe Uraufführungen 4. 2, Alexander Wendenburg: Früchte der Tugend, Schaufpiel. Magdeburg, Stadttheater. Julius Berftl: Derlodende Damon, Dramatifhe Ballade. Biele- feld, Stadttheater.

5. 2, Bodo Wildberg: Drien- talifhe Nacht, Luftipiel. Leipzig, Battenbergtbeater,

6. 2. Annie Neumann Hofer: Die Montrefore, Schaufpiel; Wozu der Lärm? Schwank. Berlin, Sm Corgingtheater. .

Hugo Püttmann: Möfche- fopp, Zofalpoffe. Düffeldorf, Stadt- theater.

9. 2. ArminBrunner: DasFruͤh⸗ lingsfeſt, Luftfpiel. Wien, Raimund

theater. Mar Stürmer: Chriftian Hellmann, Beamtenſtuͤck. Wien, Buͤr⸗

Verantwortlich für die Redaltion: Siegfried Sarobfohn, Berlin SW. 19 Berlag von Defterheld & E0.,BerlinW.15 Drud von Imberg & Lefſon, BerlinW.9

2, PBCEEHECHENEHBSEBNE ICE —————OJ— ee —V———— vun:

u 9 Shauhiihne

2J. Sebruar 1907 „I

Il. Jahrgang ummer 8

Über Herbert @nlenberg] vonEhuardGolbbed

ie Faͤhigkeit, in einem einzigen Gefühl aufzugeben, macht den Dichter.

Und mit diefer Fabigfeit ift Herbert Eulenberg begnadet; fie ward

ihm in einem folhen Grade, daß er eined Tages vor ihr erfchraf. Eined Tages, ald er liebte, bat er ſich bebend geflanden, daß das Geflihl, von dem er felig litt, jede Hemmung aufhob, jede Schranke niederriß. „Das Geſetz tut Einſpruch.“ „Was ift mir dad Gefeß?” „Die Sitte geflattet e# nicht?” „Ich bin die Sitte.” „Die Vernunft mißbilligt es?“ „Auch die Vernunft it Menſchenwerk.“ „Die Natur ſelbſt widerfpricht?” „Auch ich bin Natur, und was Ihr ald Naturgefeg audgebt, ift Eure eigene Satzung.“ So fteigert fi) das elementare Gefühl bis zu einem titanifhen Anfturm gegen jedes Verbot. Diefer Liebe ift nichts heilig.

Bon einem folhen almächtigen Gefühl war diefer junge Dichter einmal damonifch befeffen, und er mußte es darftellen, denn auch wir nlchternen Alltaggmenfchen fönnen wohl begreifen, daß, wer fo fühlt, Verbrechen be- geben oder Dramen dichten muß. Eulenberg durfte den Weg der literarifchen Selbftbefreiung wählen, und er fchrieb das Drama „Anna Walewska“, das Drama, in dem ein Vater feine Tochter mit den Sinnen liebt. Ich möchte den Dichter gegen den Vorwurf verteidigen, der gewiß fchon vielen Lefern auf der Zunge fehwebt: nur die Jugend ded Autors koͤnne die Wahl des Stoffes entfchuldigen. Oder gar: er habe nur um der Senfation willen danach gegriffen. Ich glaube, die Wahl des Stoffes war fehr natlırlih. Der Dichter hat einmal, ald inmitten der Stürme der Leidenfchaft die Wind» ftille der Erfchöpfung eintrat, verwundert auf die Ubermacht der „Liebe“, diefer fonderbarften Form der Selbſtſucht, geitarrt, und die Lockung ift in ihm aufgebligt, fie im Kampf gegen die herrſchenden Mächte darzuftellen. Nun, den Kampf gegen Geſetz, Sitte, Vernunft, den fiht die Liebe täglich) aus. Die Liebe im Kampf gegen die „Natur“ erft kann die verheerende Gewalt diefed Triebed überzeugend, bezwingend zeigen. Und bier bat nun der Verſtand eingefegt an welchem Verhaͤltnis von Menſch zu Menſch laßt fie fi darftellen? Mur an dem, das Vater und Tochter ver-

189

bindet, wenn der Vater ‘die Tochter mehr mit den Sinnen als mit der Seele liebt”. Und als der Dichter, nüchtern nachpruͤfend, den Stoff betrachtete, durfte er fich fagen, daß er der hoͤchſten Anforderung entfpredhe, weil bier ein ungebeurer Wille an dem Geſetz zerbricht, dad mie es fcheint von der Matur ſelbſt in unfre Bruft gefenft ift.

Wie nun der Dichter verfucht hat, den Menfchen, der Eigner und Werf- zeug dieſes Willens ift, zu determinieren, damit wir uns nicht in tiefem Efel von ihm wenden, dad beweift einen reifen Runftverftand. Walewöki ift Graf und war Offijier: er ift gewöhnt zu befehlen und den fremden Willen zu unterjohen; er ift Pole: die Anarchie liegt ihm im Blut; er iſt fruͤh verwitmet, und feine Sinne haben lange gedarbt. Achtzehn Fahre bat er einfam mit der beranwachlenden Tochter Anna gehauſt. Sie war fein Ein und Alles, und num führt er die fehöne Gräfin Dembrowska heim. Hat bier ein innerer MWiderfpruc fi eingeniftet? Vielleicht doch nicht. DVielleiht wirbt der Alternde nur, weil fchon eine Abnung in ihm zittert, und weil er feine Gier betrligen will. Aber noch fönnen wir dies nicht einmal vermuten. Wir feben nur einen ftarfen und ſtolzen Mann, der ſich ein ſchoͤnes Weib gewinnt. Es rührt und tief, wie er ſchmeichelt und bettelt und droht, als die junge Gattin, der Randesfitte gemäß, die Tochter auf ein Jahr einem Klofter zuführen will. Noch gewahren wir nur, mie warm, wie innig feine Liebe ift, indeffen bald zucdt ein Blitz. Mit wenigen fnappen Morten zeigt und der Dichter die perverfe Natur Diefer Liebe. Water und Tochter fprehen von einem Kinderftreic der Fleinen Anna, für den die alte Muhme fie gezlichtigt bat. Wladimir: Ja, ich glaube, fie fhlug Dich auch! Ich meine, ich hörte Dich) noch wimmern. Anna: Pfui, das ift garftig, mich vor der Mutter fo zu bänfeln. Wladimir: Ja, Du fchrieft wie ein Kaͤtzchen, dad man quält, und die Angft machte Deine großen Augen fchöner. Anna (wirft eine Rofe nah ibm): DO, willft Du ſchweigen davon! Sonft ra ich mit Blumen mid. Wladimir: Ha, ba. Es ſah fchnurrig aus, wie Du unter der Rute zappelteft. Anna (wirft mach und nad alle Blüten auf ihn): Ich will Deine Worte mit Blüten erftiden. Wladimir: Mic, kitzelt das Lachen no, wenn ich daran denfe, Wir horchen erftaunt auf. Im Munde eined Vaters Flingt ſolche Sprache empoͤrend. Wir fühlen: In diefer Liebe ift ein gräßliches, fhändendes Element. Und es uͤberkommt und eine Bangigkeit für dad arme Kind. Ad, fie wird auch fpäter alle ihre Blüten auf ihn werfen, aber fie wird die Worte, die fie umzlingeln, nicht erſticken koͤnnen.

Doch die Art ſeines Gefuͤhls muß noch verdeutlicht werden. Und wie das gefchiebt, ift in feiner Einfachheit genial. Anna läßt ihren Vater auf der Jagd ein wenig warten. Das ift nichts, nicht wahr? Ein paar Scelt- worte, und der grimmigfte Grognard wird ſich berubigen. Nun muß man bören, wie Walewski fich in finnlofer Übertreibung ſelbſt zerfleifcht, wie er fih die Krallen des Miftrauend in die Bruft Schlägt. Er fpricht zu einem alten Pächter von dem Undank eines Dritten, den er nicht nennen will, und

190

malt mit den rauhen Tönen der tiefften feelifchen Qual feine Verzweiflung, feine Bereinfamung während ded Wartend. Jeder weiß jegt: das fpricht ein Ciebender. Ein Durdfchnittdautor hätte den Grafen gegen die Tochter toben und mwüten laffen. Eulenberg zeigt und den Adel feiner Natur: fein Vorwurf fällt gegen dad Mädchen. Und die Kindlichfeit feines wilden Herzen: er fucht bei dem fchlihten Bauern Troſt. Wir bemitleiden ihn und find ganz für ihn gewonnen.

Vom dritten Aft ab finft die Kraft und wir hören zuviel Worte, Worte, die alljufehr wie Niegfche- Zitate Flingen. Der Dichter bat ſich zu Kühn vermeffen, aber er bat eine Kraft bemiejen, die wir in der ganzen drama- tifchen Fiteratur unfrer Tage vergeblich fuchen. Ob jeder Pinfelftrich gelungen ift, ift mir gleichgültig; ich betrachte da8 Drama auf Hebbeld Geheiß ala eine Totalität. Das Wort: Das Drama fei eine lockende Arabeöfe um eine Chiffre von Geifterhand es fcheint für „Anna Walewska“ gefprochen worden zu fein,

„Unftreitig ift die Sprache das allerwichtigfte Element, wie der Poe ſie überhaupt, jo ſpeziell auch des Dramas, und die Kritif tut ſchon darum wohl, bei ihr zu beginnen, weil fie, wenn fie bier nicht befriedigt wird, gar nicht weiter zu geben braucht.” In Eulenbergd Sprache erblicke ich einen der Gründe dafür, daß er erft in diefem Winter auf einer großen Bühne zum Worte gefommen ift. Die Anforderungen, die feine Sprache an den Schau fpieler ftellt, find enorm. Bon Drama zu Drama ift fie kondenfierter geworden. Ich behaupte Fühnlich, doch nicht tollfühn, daß feit Shafefpeare noch niemald ein Dichter jo viel Gedanken, fo viel Bilder und fo viel Sentimentd in feine Werke geftopft hat, wie Eulenburg. Leider fann ich das haͤßliche Wort „geftopft” nicht vermeiden; bei aller Bewunderung fuͤr fo viel Kraft und fo viel Schönheit mußte ich mir, ald ich „Leidenſchaft“ dreimal in wenigen Tagen lad, genoß und durchpflügte, doch immer wieder jagen: Welche Foloffale Arbeit ift hier eingepreft! Daß diefe Metier- bewunderung den Eindrud trübt, ift leider fiher. „Die Kunft darf nie nad Schweiß riechen,“ fagt Eulenberg in feinem Drama „Künftler und Ratilinarier.” Er bat recht, auch gegen fich felbft: weniger wäre bisweilen mehr. Hier ragt Gipfel bei Gipfel. Vielleicht ift Eulenberg zu reih dann moͤge er mit feinen Schaͤtzen geizen. „Wirtſchaft, Horatio!“ Und noch ein Einwand laͤßt ſich erheben: alle ſprechen dieſe ſafttriefende Sprache, auch die Diener find tiefgründig und gedanlenſchwer, und fo leidet die Individualifierung. Und weiter: die Überfülle der Diktion laftet auf dem dramatifhen Tempo. Doc betrachten wir Einzelheiten! Sie allein belehren.

Ein Diener fagt: „Der Graf ift gut im Kern und Charafter, wie wir Vollblütigen alle.” Wir wenden ein, daß ein Diener wohl feine Empirie verallgemeinern mag, ſchwerlich aber ſich felbft in den Kreis einer generali— fierenden pſycho⸗phyſiſchen Betrachtung einbezieht. Die Neflerion über fich felbft ift ein läftiges Privileg böbergebildeter Menfhen. „Der Graf ift

191

gut, wie alle Vollbluͤtigen,“ das waͤre nicht fo geiftreih, aber glaubhafter gewejen. Dagegen ein andred. Graf Soleft fagt: „Und unfre Veſper— fchmäufe zu DVieren beim Kerzenlicht, wern am Getäfel die Schatten uns nachaffen. . . .“ Iſt das nicht wundervoll? In zwei Zeilen ein Bild: die öde, viel zu hohe Halle des alten Grafenfchloffes, die Vier am Tiſch, der mitten drin fteht wie vereinfamt, auf den Geſichtern der ungewiſſe Schein der Kerzen und an der Wand des Grafen Walewski Niefenfchatten mit dem groteöfen Spiel feiner heftigen Geberden. Ein gefpenftifher Zauber um- wittert und. Angſtlich wird ein triviales Wort vermieden. „Gut, daß der Aberglaube in und feine Heimat bat.” Warum nicht: Gut, daß wir nicht abergläubifch find? Oder: „Jetzt, wo die Uhr am lärmfüchtigften wird.“ Warum nicht: Jetzt, wo ed zwoͤlf fchlägt? Herausgeriſſen, ſcheints manieriert, und wir möchten den Dichter ob Ddiefer Unnatur tadeln. Im ganzen betradhtet, ergibt ed eine wundervolle Stileinheit, die der Stimmung zu— ftatten fommt. Und welche berrlihen, breit dabinftrömenten Rhythmen! „Wie manchen Abend faß ich bier, ald ich noch Witwer war, bis tief in die Naht am Fenfterrand und ſchaute hinauf zu dem famtjchwarzen fernen Firmament, auf dem ſpruͤhend die Sternfchnuppen goldne Zeilen zogen, und fröftelte vor Ergriffenbeit und Sehnfucht nad) einem Gluͤck, das die hungernden Wuͤnſche ftillt und das wir vielleicht nie erhaſchen koͤnnen, wie die Sterne dort oben.” „Und wenn dann die Schmwernut meine Gedanfen wiegte oder die Gier nad) Liebe und Wolluft mic rüttelte wie ein Fieberfroft, dann griff ich zu den Piftolen an der Wand und ſchoß nad) Fledermäufen in die Nacht, bis Blut und Brunft ſich gefühlt, und freute mich, wenn ein ſchwarzer Schatten pfeifend zur Erde fiel.” Wie ift das erlebt! Bisweilen zweifeln wir zuerft, um und dann doch gefangen zu geben. „Merkteft Du nicht, daß die Gier fi in feine wilden Färtlichfeiten mifchte, wie ein trunfener Schrei im ein Hirtenlied?” Zumächft finden wir das Bild pracht⸗ voll, dann ftört und das Wort „wild“, das ihm widerfpricht. Wenn wird aber recht bedenfen, jo freuen wir und doch, daß nicht eine nachträgliche Verftandedoperation es bejeitigt bat; denn der dDramatiihe Stil, der leben und ringen jol, erfordert eine gewiffe Unvollfonmenbeit, die wir in der refleftierenden Berichterftattung mit Fug tadeln würden.

Welcher Schaufpieler aber fol heute diefe Sprache fprechen, der das Unentbebrlichfte fehlt, die Trivialität? Welches Publikum fol elaftifch genug fein, ihr zu folgen? Hier funfeln und ja nicht Brillanten entgegen, bier hängt, tiefblau oder purpurn in dichtem Grün, Traube bei Traube, Nun möchten wir und an Duft und Farbe erfreuen und die Beeren auf der Zunge ſchmelzen laffen, aber Spalier an Spalier zieht im Fluge vorlber, und wir werden traurig, wie immer, wenn wir unfre Ohnmacht fühlen.

Soll diefe Kritif Herbert Eulenberg ermahnen, fich zu „beffern”? Bei—

leibe nicht. Buffons zu oft zitierte® Wort behält recht: Der Stil ift der Menih. Donnerwetter, welch ein Menfh! Ein Eigener, ein Einziger,

192

Ein Dichter und ein Dramatiker. Und fo erflärt es fich, daß er folange pochen mußte, ehe ihm aufgetan wurde. Alle Theatralifer ftemmten ſich von innen gegen die Pforte. Wer fo fpricht, mit fo berber, tieffurchender Kraft, mit einer Sprache, auf die fi) das Wort anwenden läßt: oculos habet profundissimos der ift ein Revolutionär, gegen den bie Beſitzenden ihre edelſten Güter verteidigen müflen.

Leſſing von Julius Bab

(Zum Todestag)

F ie Bluͤtenbanner weißer Fruͤhlingsbaͤume haben dir nicht gerauſcht.

Es raffte dich

kein Gott mit Feuerarmen zu ſich auf.

Und große Wellen toͤnender Muſik

trieben dir nicht den zielgewiſſen Kahn.

Du ſaßt im ringsgemauerten Gemach,

und in den grauen Steinblock deiner Tage ſchlugſt meſſend du des Geiſtes kalten Stahl mit gleichem Schlag.

Doch waͤhrend du ein Menſchenangeſicht

mit immer reinern, immer tiefern Zuͤgen aus ſtummer Maſſe ſtill entfalteteſt, umfprübten deiner Schläge Funken dic

und fammelten ein Licht zu deinen Haupten. Hellfreifend wob am Ende eine Glut

aus deiner Arbeit ſich wie göttlich Feuer um deine bartgeformte Menfchenftirn.

Da barft der Kerfer deines Arbeitöraumes in feiner Wärme ımd ein Fenſter ward und Gottes Sonne flieg dir ind Gemach.

Zwar war der Frühling längft vorbeigeraufcht, zwar war num Winter, und die weiße Küble ded Schneefeldd atmend fam das laue Gold der Sonne zu dir doch es floß ein Klang ber aud der großen Reinheit feiner Weite,

ein Klang, der doch mit feiner Flaren Kraft dein Arbeitöhaus, dein Werf und dich umbülkte, und doc mit Wellen tönender Muſik

den Kahn dir zielgewiß hinuͤber lenfte

ind Un—gemeffene.

193

Sournaliften im Drama] von Willi Hand!

ute Freunde, die in der Fiteratur etwas find, haben mir öfter gefagt:

„Wir zwei, du und ich, werden dody einmal miteinander dad große

Journaliſtenſtuͤck fchreiben.” Mein, meine Freunde, das werden wir nicht, und aus guten Grinden! Daß ich vermutlich überhaupt Fein rechtes Drama fertig bringe, ift noch der geringfte; denn wen bat das je davon abgehalten, Theaterſtuͤcke zu mahen? Bedenklicher ift ſchon der Einwurf, daß ed nicht gar vornehm fein kann, feinen eigenen Beruf ſatiriſch zu be- geifern, die Wut perfönlicher Enttäufchungen in einer öffentlichen Denunziation zu entladen. Und anders als fatirifch, voll bittern Gelächter kann ich mir ein moderned Journaliſtenſtuͤck denn doch nicht worftellen. Denn es gibt beute weder einen idyllifchen Journalismus, wie ihn Freytag fo gemüͤtlich bingepinfelt bat, noch einen heroiſch⸗tragiſchen, wie er zu Zeiten bürgerlicher Gährung und reaftionärer Gewalt beftanden haben mag. Der Journalismus von beute ift ohne perfönlihen Zug. So viel er auch von menfchlihem Weſen, von Meinungen, Ideen, Künften einzelner in ſich fchlingen mag, fein Eharafter nimmt davon die Prägung nicht an, Er amalgamiert alles das miteinander, vermwalzt gleihmütig und bringt ed ald Ware unter Waren auf den Marft. Sein ganzer Betrieb ift Großinduftrie, feine wichtigfte Arbeit Bureaufchreiberei. Individuelle Formen des Lebens, des feelifchen, geiftigen oder gefellfchaftlichen Lebens, ſchafft er nicht und duldet er nicht. Bemerfendwerte oder nur fennzeichnende Schicffale Fönnen auf diefem Boden nicht mehr gedeihen. Der Journalismus von heute ift abfolut undramatifch. Und daß ift, meine Freunde, mein dritter und ftärffter Grund gegen das moderne Journaliſtenſtuͤck.

Ein Grund alfo, der mid vermuten läßt, daß es uͤberhaupt nicht ge- lingen kann, das abnorme Verhaͤltnis zwiſchen Menfchen und Tatfachen, in dem der heutige Journalismus lebt, in ordentliche dramatiſche Bewegung zu bringen. Dieſes Verhältnis iſt eine dauernde angeſpannte Intereſſe⸗ loſigkeit, eine unaufhoͤrliche Haft ohne Ziel. Dieſer Journalismus leiſtet eine Arbeit, die ihren ſchoͤnſten Erfolg darin ſuchen muß, heute zu jerſtoͤren, was fie geftern gefchaffen bat, morgen ald unwichtig und uͤberholt zu ver- drängen, was fie heute ald wichtig, erftaunlich, großartig vorgezeigt bat, Ein täglich mwechfelndes Variete von Nachrichten, Meinungen Schergen und Anefooten. Das ift die große Zeitung unfrer Tage. Ein ungebeurer Organismus, der eigentlich feinen andern Zweck auf der Welt bat, als ſich felbft; denn er dient wohl der Neugierde großer, wenig gebildeter Maflen, aber um diefe Meugierde immer wieder zu befriedigen, muß er fie immer wieder erft hervorrufen und anreizen. Alfo fchafft er fich erit die Bedingung feines Lebens und fpielt fie dann als ein Recht zu leben aus. Es ift eine bewundernöwert gewaltige Induftrie, die aber zum größten Teil eigentlich nur flr fich felbft und von fich felbft lebt, auf dem Ummeg über Millionen gieriger und doch bedürfnislofer Scheinfonfumenten; geiftigedfonomifche In⸗

194

zucht. Wer feinen Kopf und feine Schreibfinger an diefe Induftrie ver- mietet bat, wer dieſes riefige Näderwerk, das im Innern eintönig furrt und nad außen lärmend fnattert, im ewig gleichen Kreislauf treiben hilft, wer Sournalift geworden if, der muß vor allem lernen, feinen Blick für die Dinge in zwei ftreng gefonderte Strablen zu bredhen. Der eine Strahl ift der perfönlihe; er fommt aus der Seele ded Menfchen; er belichtet den Gegenftand, auf den er fällt, mit der Hefligfeit und dem Farbenton feiner individuellen Herfunft; er ift privatefte Privatfache und geht niemand etwas an. Der andre ift der Strahl des journaliftifhen Blickes; er kommt aus dem Gewiſſen ded Zeitungäfchreiberd; fein Licht leuchtet der öffentlichen Meugierde, ſieht und überfieht, färbt und entfärbt fir fie. Beruf umd Perfönlichfeit geben alfo ganz gefonderte Wege; denn der Beruf verlangt zunaͤchſt und auf das entfchiedenfte, daß einer immer der Menge dienftbar, auf den durchſchnittlichen Geſchmack vieler Taufende eingerichtet, alfo ganz unperfönlic fei. Wenn der Journalift fagt: „Das ift intereffant,” fo denft er nicht: „ER wird mic) ergreifen und vertiefen, belehren oder weiterführen,“ fondern er meint; „Da werden die Leute aufichauen, da werden fie zu reden baben, bis morgen oder uͤbermorgen.“ Immer die Leute, niemals er jelbft. Immer bis morgen oder übermorgen, niemald weiter, niemald zu einem Ziel, dad erwünfcht, erwartet, ald inneres Erlebnis vorgefhaut werden fann, Es ift ein Beruf, der ohne inneres Erlebnis, aber immer aufgeregt, immer mit Lärm, über taufende von Tatſachen nirgendshin wegläuft. Mehr als jeder andre weiſt er perfönlihe Luft und Liebe, perfönlihen Haß und Schmerz; weit aus feinem Getriebe fort. Der Arzt mag mit gebeiligter Hingabe feiner Gattin helfen, der Advofat ergriffen feinem Freund beiftehen, der Kaufmann vergnügt mit feinem Bruder handeln, der Schufter und Schneider mit Feuereifer für oder gegen eine neue Form der Bekleidung aufftehen. Fängt aber der Zeitungsmenſch erft an, eine Perfon oder eine Sade, die fein Innerfted angeht, journaliftifh zu bebandeln, fo bat er fie damit fchon zum Fall unter unzähligen andern Fällen gemacht, für die Meugierde aller hergerichtet, vor Millionen fremde, weitaufgeriffene Augen gefchleppt. Nichts davon bleibt bei ihm, alled geht hinaus ind Planlofe, Nuplofe. Das eigene Erlebnis erlijcht, fowie nur die Feder angefegt wird.

Darum, meine ich, kann diefer Beruf der zmweiteiligen Menſchen, die notgedrungen ganz außerhalb ihrer Arbeit leben, fampfen und ſich entwideln, auf feine Weife zum Drama geformt werden. Was der Journalift erlebt, erleidet, verfchuldet, das trifft nur feine menſchliche, vom Beruf losgetrennte Hälfte, durch die andre aber, die der Zeitung gehört, rinnen Tugend und Gluͤck, Schmerz und Schuld fpurlos hindurch. Es gibt feinen journaliftifchen Sieg; ed gibt Feine journaliftifche Verzweiflung; ed gibt fein journaliftifches Drama. Und darum, weil diefer Arbeit die Kraft fehlt, Menfchen zu prägen, gibt ed auch feinen fpezififch jourmaliftifhen Charakter fo wie ed etwa, in typenhaft weiten Umriffen, einen advofatorifhen, einen kuͤnſtleriſchen, einen profefforalen Charakter gibt, Im Journalismus haben alle Charaftere

195

Platz, bohe und niedrige, ganze und zerſtuͤckelte, belle und duͤſtere; und alle finden fih darin, unverbunden, unbefämpft, unberührt von ihrem Beruf. Selbft die fogenannten leidenfchaftlihen Zournaliften, die ja zum Glück bäufig genug vorfommen, haben nicht den pſychiſchen Umriß eines ein- beitlih beftimmbaren Charafterbildee. Denn ihre Leidenſchaft figt ihnen ausfchließlih im Kopf; Herz und Seele haben nicht? mit ihr zu tun und nehmen nicht? von ihr an. Es ift die Leidenfchaft der geiftigen Aufregung ohne Ergriffenheit; der emfigen Beſchaͤftigung, die nicht gefangen nimmt, der fortgeſetzten, flinfen, gefchieften, vwirtuofen Bewegung in einem gleich- gültigen und nachgiebigen Medium. E83 ift die glänzende QDualififation emanzipierter Juden zum Journalismus. Es ift wiederum eine ganz un—⸗ dramatifche, mit Feinerlei erdenfbarem Schickſal verbundene Leidenschaft. Nur das wildwuchernde Geranf fatirifcher Scherze findet in diefem Boden Saft und Nahrung. Man kann fih darüber luftig mahen; kann den wißigen Kontraft aufzeigen zwifhen dem Mann von Gefühl und feinem gefuͤhlloſen Gefchäft, zwifchen dem großen, weittragenden Ereignid und der Fleinen, furzlebigen Arbeit, es fir den Alltagegenuß von jedermann zu präparieren, zwifchen der Entwiclung, Weite, Feinheit einer Intelligenz und der Stetigfeit und lauten Kleinfrämerei, womit die Hände dad Brot ver- dienen. Ein Kontraft, der nicht aus diefem Beruf allein, aber aus ihm vielleicht am ſchaͤrfſten, am fichtbarften, zweifellos am mannigfaltigften heraus- fpringt. Man hat reihe Auswahl; und ein Fall ifl, wie der andre, ein tuͤchtiges Beifpiel. Und jeder wird, am fich betrachtet, zu Flein; erſt zu hunderten und taufenden machen fie den ungeheuren Gegenſatz zwiſchen gelebterund gedruckter Wirflichfeit begreiflich. Auch daran muß das Sournaliften= ft von heute ſchon fteden bleiben. Es kann, mwenigftens den Kräften, die fich biöher daran gemagt haben, unmsglidy gelingen, einen einzelnen Fall, und fei er noch fo ftarf, zur typiſchen Bezeichnung fuͤr die ganze erfcheinungd- reiche journaliftifhe Atmofphäre mit ihren Gegenfägen, ihrer Heftigkeit, ihrer bigigen Kälte und dem eigentümlihen Tempo ihrer Bewegung audzugeftalten. Sp fommt es, daß die Autoren, die mit Sournaliftenftliten auf das Theater geben, auch in der Satire zu lügenhaften Verftärfungen greifen, weil fie die PVerfpeftive der einfahen Wahrheit nicht finden koͤnnen. Sie machen die Menschen fchleht, was fie abfolut nicht fein müffen und meiſtens auch nicht find, fie erfinden eine rohe, fauftdicle Korruption, die in Wirklichkeit nicht zwei Tage lang befteben Fönnte, ein brutales, heimtuͤckiſches Macht: habertum, das ſchon an feiner eigenen Unmoͤglichkeit zugrunde geben müßte: beimlihe Weltbeberrfcher, die ſich in den Feiniten Unfinn mifchen, in der dimmften Gefchichte ihre weithinreichende Macht fpielen laffen und jede widerjpenftige Fliege mit intriganten Kanonenſchuͤſſen vernichten wollen. Das ift natürlich alles Bombaft und dumme Ubertreibung; ed bat auch berzlich wenig mit der Zeitungsinduftrie, ihrem Weſen und ihren großen Wirkungen zu tun. Denn Macht ift allentbalben, wo zahlloſe Kräfte einem Wink ge- borhen; und wo Macht ift, da it auch Verlocdung zum Mißbrauch. Aber

196

ed hört fih unfäglic albern an, wenn der Mißbrauch allein ale die wahre Seele und Natur einer Macht denunziert wird. Nun zu den Wirfungen. „Berdummung der Maffe” beißt die Parole des erften, erbittertften Stein- wurfs. Ya, es ift wahr, die Maffe ift dumm, und durch diefe Art von Zeitungen wird fie nicht intelligenter. Aber ich fehe nicht ein, warum der Autor, der ja ein Künftler fein will, ſich jegt plöglich wehflagend an die Seite der dummen Maſſe ftellt, ihre Sache auszufechten vorgibt und wuͤtend auf den Sad fchlägt, in dem der zufriedene Eſel feine tägliche geiftige Nahrung nah Haufe fchleppt. Den Eſel müßte er treffen. Die Maffe müßte er böhnen, wenn ihm fein Zorn einmal vorfchreibt, in diefed Ver— hältnis von Publifum und Zeitungsleftire dreinzubauen. Denn die Mafie ift es, die die Zeitung verlangt, verfchlingt und täglich neu erfchafft. Freilich, der größte Kunftgriff der journaliftifchen Induſtrie ift ed, den Appetit der Unzähligen täglich) aufs neue zu reizen. Aber daß fie fich reizen laffen, daß ihnen diefe Reizung zur unentbehrlihen Gewohnheit geworden tft, das iſt eben ihre Schuld. Auf fie fomme die Satire! Aber diefe Satire, die das Publifum anklagt und die gefinnungslofe Zeitung ſachgemaͤß ald Effekt, nicht als Urfache der öffentlichen Dummheit berzeigt, hat Ibſen in feinem „Volks— feind“” mit ein paar Strichen erfchöpfend gegeben. Die brauchen wir alfo nicht mehr.

Die Hilflofigfeit der Autoren, die Journaliſtenſtücke fchreiben, zeigt ſich am ruͤhrendſten darin, daß es faft immer eine zärtlich weiche, unbefangen belle Künftlerfeele ift, die in diefen Dramen von der fehmwarzgemalten Brutalität ded Journalismus zufammengedrudt wird. Die Figur eines Künftlerd pſychologiſch wahr und dramatifch lebendig zu geftalten, ift bekanntlich eines der fchwierigiten Probleme für einen Dichter. Und wenn dann fo ein mißlungener JZammermenfc fortwährend wehleidig fchreit, er fei fo ungeheuer begabt und fo zart von Seele, ed gefchebe ihm fo fchredfliches Unrecht durd die Zeitung, fo kann feinen Schmerz niemand verſtehen und mitfühlen, weil niemand an ihn glauben fann. Das Veifpiel zerfällt in nichts, weil ed zu boch über den allgemeinen Horizont bingeftellt und zu weſenlos für den menfchlihen Blick geformt worden ift. Außerdem: Fuͤr Künftler find die Zeitungen nicht da; und geht ein Kuͤnſtler unbeachtet und gequält zugrunde, fo trifft der Vorwurf die Zeitungen nicht mehr, ald die Negierenden, die Neichen, die Bürger und alles andere Volf. Aus diefem Winkel ift fein Beweis zu holen, der genligend ftarf an Ausdruc wäre. Wohl aber fommt die Erbitterung der Fleinen und der größern Talente da heraus, die fich nicht rafch genug bemerft und nicht großartig genug aus⸗ gerufen fehen. Und daber dann der gleichmäßig wiederfehrende Kinftlerftoff und feine gallig fatirifche Untermalung.

Drei Stücke diefer Art kenne ich aus den legten Jahren. Das eine war „Helden der Feder”, das Fläglich dumme und durchfichtige Rachewerk eined wiener Antifemiten. Das zweite war Otto Ernftd unfachlihe und ungerechte „Gerechtigkeit“. Und das dritte ift „Familienvdter” von Dietrich

197

Edart, die letzte Vorftellung unfrer f[hönen Freien Volksbuͤhne. (Ein viertes, des Kollegen Armin Brunner luftige® „Fruͤhlingéfeſt“, das jebt am NRaimund-Theater Erfolg hatte, gehört nicht hierher; es ift ein Milieuſchwank, der nur komiſches Detail, feine kritiſche Betrachtung gibt.) In Edarts Komddie nun lebt ein gefundes, frifches, blutwarmes Leben überall dort, wo die Menfchen mit ftarfen Strihen auf den Untergrund ihres Metierd bingezeichnet find. Es ift mir flr alles, was ich bisher von der Unmoͤglich⸗ feit des Journaliſtenſtuͤcks gefagt babe, beweifend: So lange diefe Zournaliften in ihrer unrubigen Ruhe erfcheinen, nur gefchildert werden, wie fie in der täglichen Arbeit ihres Berufs fühl erregt berumbandwerfern, bleiben fie wahr und echt, fteben plaftifch greifbar da. Wie fie aber in die Handlung gejogen werden, agieren, leiden, ein perfönliche® Schickſal haben, fallen fie aus dem Milieu, verlieren ihren fpezifiihen Eharafter, wenn fie nicht gar jeden menfchlichen Zug verlieren. Daß Edart troß der fubjeftiven Wut, die ihn fo vieles falſch fehen läßt, eine ftarfe, aufrechte, an Einfällen reiche dramatifche Begabung zugeſprochen werden muß, befräftigt meine Behauptungen nur, und die ftlrmifche Aufnahme, die dem Stüd und feiner bis aufs Fleinfte ausgezeichneten Darftellung bereitet worden iſt, fann natürlich fein Beweis dagegen fein.

Indeſſen: Kritif, fo lautet meine Überzeugung, ift nur die möglichft objeftive Darftellung perfönlicher Irrtlmer. Mag fein, daß ich mid über die fünftlerifhen Ausfichten des Journaliſtenſtuͤckes täufhe. Mag fein, daß einer fommt, ftarf und fachlid genug, daß er das innere und dad aͤußere Leben eines Sournaliften wahr und fennzeichnend und doc echt dramatifch zur Blhnendichtung formt. Mag fein. Sch aber glaube nicht an die Möglichkeit. Und darum, liebe Freunde feid nicht böfe aber wir werden es lieber doch nicht miteinander machen!

Hialmar Bergftröm/ von Georg Brandes

or furzem wurde am Neuen Theater in Berlin ein dänifches Luftfpiel V „Lynggaard & Co.“ geſpielt, anſcheinend mit Erfolg. Denn trotz einer nach dem Urteil eines ſachkundigen Zuſchauers wie Sven Lange gaͤnzlich mißweiſenden Aufführung wurden dem in Paris ſich aufhaltenden Autor von der Theaterdirektion zuerſt die Worte grand succes telegraphiert. Dann folgten die Kritifen der Preffe: mit Ausnahme einer fehr anerfennenden Nezenfion im Lofalanzeiger ein Strom von Schimpf und leidenſchaftlichem Hohn. („Die Schaublihne” hat meines Wiffend die Aufführung gar nicht erwähnt.) Sogleich wurde „Lynggaard & Eo.” von der Affihe genommen, Die Direktion bat augenfcheinlich geglaubt, der Preffe diefe Einräumung machen zu müffen. Der Berfaffer hatte die Direktion fehr eindringlich erfucht, den Proben beiwohnen zu dürfen, um möglicherweife nüglich zu fein. Man follte nicht glauben, daß eine fo natürliche Bitte nicht Gehör fände, Er erhielt

198

jedoch einen fo beftimmten Abfchlag, daß er gar nicht die Reiſe nach Berlin unternahm. Die Folge ift eine fchlechte und mißverftehende Inftruftion geweſen.

Meder der Derfaffer nod das Stüd bat irgend etwas an fich, das Erbitterung und Hohn herausfordern könnte. Er ift fein Faifeur, fein Effeften- jäger und nicht trivial, ein ehrenhafter und ehrlich ftrebender Künftler. Sein Luftipiel, das, leicht und heiter angelegt, dennoch ernft gemeint ift und einige gut und ſcharf beobachtete Geftalten enthält, hat in Dänemark einen ganz ungewöhnlichen Erfolg gehabt; ed ift im dem doch nur mittelgroßen Kopenhagen wohl faft hundert Mal nad einander aufgeführt worden.

Obwohl der Unterfchied des Geſchmacks in Deutfchland und in Skandinavien nicht unbeträchtlich ift, muß es doc hoͤchſt uͤberraſchend vorfommen, daß, was in Kopenhagen ftürmifchen Beifall auf der Bühne erreicht, in Berlin gleichzeitig, wenn richtig gefpielt, fo ganz veraͤchtlich erfcheinen könne.

Ich glaube, daß neuen fremden Namen gegenüber die berliner Kritif zu unmäßiger Strenge geneigt ift.

Am 20. November 1880 war ich im Nefidenztheater bei der Premiere eined nordifhen Schaufpield anwefend. Nicht der Name des Verfaſſers, fondern derjenige der Frau Niemann-dtaabe, der Hauptdarftellerin des Abends, batte das Haus gefüllt. Sie hatte das Stuͤck nach mur drei Proben fpielen wollen; auf die eindringlihe Bitte des Uberſetzers ließ fie fich bewegen, vier abzuhalten. Man begreift, daß das Enfemble zu mwünfchen ließ.

Der Anfang wurde mit ungemifchtem Vergnügen gefehen, bis ein Schau—⸗ fpieler erſchien, der feine Rolle melodramatiſch auffaßte. Bon dem Augen- blick zeigten die Zufchauer fleigende Unruhe, Unzufriedenheit, Mißbilligung. Gegen den Schluß lachte und höhnte man; ed war mehrmals ſchwierig, die Neplifen vor Gelächter und fpdttifchen Zurufen zu hören. Der Vor⸗ bang fiel unter ſchwachem Applaus und heftigem Ziſchen.

Am folgenden Tag äußerte die berliner Kritif ſich ohne jegliche Schonung über das Stüd.

Deffen Name war „Nora” und deffen Autor Henrif Ibſen.

Konnte ed dem reifen Genie in Berlin fo ergeben, wie viel leichter einem jungen Talent, befonders heutzutage, wo man fremden Schaufpielen gegenüber fi) recht abwehrend und unguͤnſtig verhält.

Meiner Anficht nach hat man an Hjalmar Bergſtroͤm eine Art von literariſchem Juſtizmord verübt.

Haͤtte die Kritik ein wenig Wohlwollen erwieſen, und haͤtte die Theater⸗ direktion nicht zuerſt den Verfaſſer ferngehalten und ſich danach von den Rezenſenten erſchrecken laſſen, fo haͤtte das Stuͤck in Deutſchland wie im Norden bei aller Beſcheidenheit ſeiner Natur ſeine Anziehungskraft erwieſen.

Nach der Behandlung, die dem Fremden zuteil wurde, wird keine deutſche Bühne es wagen, das Stuͤck zu ſpielen; ja jegliche dramatiſche Zukunft tm Deutſchland ſcheint dem Autor verſperrt.

Ich will nur zum Schluß bemerken, daß Herr Hjalmar Bergſtroͤm mich nur als Landsmann intereſſiert, mir perſoͤnlich aber ganz unbefannt iſt.

199

Das chinefifche Drama) von William Kohn

eber faum ein Volf werden fo verfchiedene, fo entgegengefeßte Urteile gefällt, wie über das chineſiſche. Die einen halten es fuͤr das erfte

und ältefte Rulturvolf, andre feben es ewig flagnieren; die einen meinen, ed gehe feiner Auflöfung entgegen andre: Europa möge fich büten, wenn der „hinefifhe Loͤwe“ erwache. Alle diefe Urteile enthalten etwas Wahres. Am prägnanteften, Flarften und umfallendften feheint mir Kurt Breyſig die Situation der Chinefen beftimmt zu haben. Die Chinefen hätten „unter allen Altertumdftaaten die hoͤchſte Leiftung vollbracht, nicht nur an äußerer Ausdehnung und Bewahrung ihrer Grenzen, fondern auch im innern Aufbau”. Damit ift gefagt, daß das chinefifche Volk zwar im allgemeinen auf der Stufe feines Altertumd ftehen geblieben ift, daß es ſich aber auf Ddiefer Stufe in einzigartiger Weiſe ausgebildet bat. Diefen Morten fügt Breyſig folgende, gerade im Zeitalter der Entwicklungslehre fo wichtige Säge hinzu: „Wir nennen heute Stillftand ein Übel, ohne doch zu wiffen, ob nicht vieleicht Schon nach einem oder gar fchon einem halben Jahr⸗ taufend die Menfchheit ſich ohne die mindeite Verfalld- oder Krankheitsurſache entfchließt, einen einmal gewonnenen Juftand ald den denfbar wuͤnſchens⸗ mwerteften oder den beften unter den erreichbaren feftzubalten.” Für das Ver- ſtaͤndnis der literarifchen Produktion des hinefifhen Volkes hat dieſes ſchema— tifhe Bild der politifchen Rage flärende Bedeutung. Strenge geiftige Arbeit und feine Abfchagung find notwendig, wenn wir uns in das Denfen einer jo fremd- artigen Naffe einleben wollen. Wir haben es eben mit Altertumdmenfchen zu tun. Man darf ihren Produftionen hoͤchſtens in derfelben Weiſe ent- gegentreten, wie etwa den bomerifchen Gefängen. Das Flingt parador, da wir zu dem bomerifchen Gefängen eine unmittelbare Beziehung zu baben meinen, Allein dort fpricht der Sndogermane, bier der Mongole. Es beißt gewaltige Raffenunterfchiede zu überbrücen; ficherlic eine ſchwerere Arbeit, ald die Brüdfe der Zeiten zu bauen.

Um griechifche Riteratur zu verftehen, brauchen wir über dad Wefen der Schrift nicht unbedingt VBefcheid zu willen. Die griehifhe Sprade, in lateiniſchen Buchſtaben gefchrieben, verliert faum etwas von ihrer Eigenart. Anders die chineſiſche Sprache und Schrift. Die beiden ftehen in einem unlöslichen Verhältnis zu einander, Griechifche Sprache und Schrift haben nur eine Vernunftehe gefchloffen, chinefifche eine Liebedehe. Niemals ift es möglich, etwa nur mit Kenntnis der Laute und ded Sinnes der Laute in die Seele der chinefifchen Literatur einzudringen. Jedes Schriftzeichen muß vifuell erlebt werden.

Die hinefifhe Schrift ift eine Wortfchrift. Jedem MWort entipricht, unabhängig von feiner Lautform, ein befonderes Schriftzeichen. Das Wörter: buch der Periode K'ang⸗hi (1662— 1722) enthält wierzigtaufend Schriftzeichen. Im Gegenfaß zu diefer ungeheuern Menge der Charaktere ſteht eine nur geringe Zahl von Lauten. So fommt es, daß jeder einfilbige Laut es

200

gibt nur einfilbige in der chinefifhen Sprahe oft bis zu zweihundert- fünfzig Schriftzeichen hat. Daraus wieder folgt, daß die chinefiihe Sprache, gefprochen, hoͤchſt eintönig, gefchrieben aber ein differenzierted und kom— pligierteö Gebilde ift. Die Menge der Schriftzeichen allein würde nun diefe uͤberaus enge Verbindung von Schrift und Sprache nicht berftellen. Die chinefifhe Schrift bat auch ihren hieroglyphiſchen Charakter ftarf bewahrt, während die abendländifchen Schriften ihn faft bis zur völligen Unfenntlic- feit verloren haben. Die einzelnen Wortzeichen find teild Bilder, teile Symbole. Die Zeichen flr Waſſer und fir Auge, nebeneinandergeftellt, bedeuten: Tränen; die Zeichen flr Sonne und Mond: Licht; die Zeichen fir Weib und Beſen ftellen dad Wort: Hausfrau dar, während der Charakter: Weib, zweimal gefebt, Zank bedeutet. Der Afiate lieſt in ganz andrer Weile ald der Europäer. Das Lefen ift ihm ein ungleich höherer Genuß, ald dad Hören, da ibm vifuelle Bilder, oft von einer hoben Signififanz, vor Augen fteben, fei es, daß dad Schriftzeichen fiir Haus oder Berg ibm ein wirflihes Haus oder einen Berg zeigt, fei es, daß eine Kombination aus den Zeichen flr Kraft und Reisfeld Mann bedeutet. Grube, in feiner Gefchichte der hinefifchen Literatur, will diefe Eigenart der Schrift in der Wirkung mit der vergleihen, die der Buchſchmuck eritrebt, und nennt fie Afthetifh. Ich glaube aber, ihre MWirfung ift ftärfer umd ähnelt oft der Wirfung der Mufif.

Dad Drama, auf das ed und bier anfommt, nimmt in der volkstuͤmlichen Fiteratur der Chinefen den wichtigften Plab ein. Der Chinefe ift, wie alle Afiaten, ein eifriger Theatergänger. Die Komoͤdie bildet flr ihn das ein- zige Riteraturproduft, mit dem er in engere Beruͤhrung fommt. Denn es ift in einer verftändlichen Sprache gefchrieben, im Gegenfag zu den Werfen der Hiftorie und Philofopbie, die nur verhaͤltnismaͤßig wenigen Auserwaͤhlten zugänglich find. Zwanzigtauſend Schriftzeichen zu beberrfchen, ift feine Fleine Arbeit. Noch heute werden von den Gebildeten nur ſolche ausſchließlich ihrem Kreife zugängliche Werfe für wirklich literarifch gehalten.

Dad Drama der Ehinefen fam erft auf, ald ihre Flaffifche Literatur zu Ende ging und die Flaffifsche Schriftfpradhe ſchon fait einer toten Sprache glich. Es ift die Mongolenzeit im Anfang des dreijehnten Jahrhunderts, die Zeit, wo die Mongolen nad) Süden bis nad) Birma und Java, nad) Often bid an die Küfte Japans, nad Stdweften bi8 an die Geftade des perfifhen und aͤgaͤiſchen Meeres, nad) Welten bid Liegnig und Preßburg zogen. Die Entftehung ded Dramas hängt eng mit Rultgebräuchen zufammen, Aus mimifhen Tänzen bei Opfergebräuchen differenzierte und fonfolidierte ed ſich allmählih. Wir baben es bier mit einem dhnlichen Vorgang zu tum, wie wir ihn bei der Entftehung des griechiſchen Dramas beobachten können. Wann übrigens wird endlich die literarbiftorifche Arbeit gefchrieben werden, die flr die Entitehung des Dramas die indifche, chinefifhe und japanifche Literatur binzuziebt? Die Überlieferung bezeichnet erft den Kaiſer Huan-Tfung aus der Tangdynaftie im achten Jahrhundert ald den Water

201

der Schaufpielfunft. Er gründete die erfte Hochſchule für Schaufpieltumft. Die Mitglieder wurden „Zöglinge ded Birnbaumgartend” genannt, weil die Afademie in einem Birnbaumgarten ftand. Mod, heute heißen die Schau⸗ fpieler fo. Bon diefer Periode ded Dramas wiffen wir nichte. Aus der Zeit der Sungdynaftie, die den Tangfaifern folgte und die einen Höhepunft der Malerei bezeichnet, ift nur ein Drama auf und gefommen: Si-fiangsfi, „Die Gefchichte des weitlihen Seitenflügeld“. Dieſes Werf gilt den Chineſen ald eine Perle ihrer Dichtung. Die ſechzehn Akte der Gefchichte des weftlihen Seitenflügeld haben einen eher opernhaften Charakter, der erft in fpdteren Schaufpielen einem dramatifchen Platz macht. Das Gefang- liche wird immer mehr auf eine Perfon fonzentriert. Diefe fingende Perſon bat man mit der Rolle verglichen, die der Chor im antifen Drama einnimmt. Ich weiß nicht, ob diefer Vergleich zutrifft. Denn die fingende Perfon ift im chinefifhen Drama die Hauptperfon. Mir feheint, ald wenn der Dichter die großen Leiden und Leidenfhaften feiner Helden in einer durch Die Muſik erhöhten Sprache zum Ausdrucd bringen mußte. Das gefprocene Wort genügte ihm nit. Ein ſicherlich kuͤnſtleriſches Wollen. Immerhin gibt es einige ferne Beruͤhrungspunkte mit dem antifen Chor infofern, ald der chineſiſche Sänger im Drama oft fein Unglück und feine Sorgen dem Publifum mitteilt, um deffen Mitleid zu erwecken.

Aus der fpätern Mongolenzeit find hundert der beften Stüde zu einer dramatifchen Bibliothef vereinigt worden. Sie haben nur vier bis fünf Akte, oft einen Prolog. Das befanntefte ift der „Kreidefreis” des Hoei⸗lan⸗ki. An ihm fann man am beften den Inhalt, die Pſychologie, die Kompoſition und den dichterifchen Wert eines typifchen dhinefifhen Dramas fennen lernen.

Der „Rreidefreis” fpielt in bürgerliher Sphäre, im Gegenfaß zu der Unzahl der biftorifhen Komoͤdien. Er gibt und ein Bild der Sitten, das eine ganze Rulturgefchichte erſetzt. Da die chinefiihen Verbältniffe ſich faft gar nicht verändert haben, fo haben wir ein Zeitbild vor und, das noch flır den heutigen Tag gültig if. Mein aͤußerlich wäre der „Kreidefreis” am beften mit modernen ruffifchen Dramen zu vergleihen. Auch bei ihnen ift größerer Wert auf die Charakterifierung der einzelnen Menfchen gelegt, als auf Die großzügige Führung der ganzen Handlung. Diefe Handlung ift nicht gerade arm zu nennen. iferfucht zweier Frauen, böfe Familien» verhältniffe der einen, die früher eine Dirne war und einen Tunichtgut zum Bruder bat. Ermordung des Gatten. Kindedraub zwecks Erberſchleichung. Falſche Verurteilung. Komplizierte Aufklärung. Salomonifhes Urteil, das dem Stüd feinen Namen gibt: Der Richter läßt das flrittige Kind in einen Kreidefreis ftellen, um zu erfennen, wem es gehört. Er befieblt den beiden fonfurrierenden Müttern, es herauszuziehen. Die eine bemüht fich nicht, um ihr Kind nicht zu verlegen. Es ift die wahre Mutter. Intereffant, wie wir biefer uralten Geſchichte aus der Bibel auch in China begegnen. Die Kompliziertheit der Handlung ift durchaus typiſch fuͤr das dhinefifche Drama. Gie zeigt, daß dad Gewicht auf die Fabel, auf die „Mords-

202

geſchichte“ gelegt wird, nicht auf die gefchloffene, marmorne Form. Sie zeigt, daß der Ehinefe ein Drama im Sinne germanifchen Kunftfchaffens nicht kennt. Er läßt jeden Auftretenden fi) dem Publikum genau vor- ftellen, feinen Namen nennen, feinen Charafter bezeichnen und ſogleich er- Hören, wad er in der naͤchſten Szene zu tun gedenft. Für und verlieren viele ernfte Szenen durch folhen Anfang jeglihe Stimmung. Der „Kreides freis” ift ein Mofaif von Szenen, die nur die Identitaͤt der handelnden Perfonen verbindet, nicht der Stil, nicht ein Über die Menſchen dabin- braufendes Schidfal. So gibt ed auch feinen großen Fortjchritt in der Kompofition. Wir haben ed bier mit einer bezeichnenden Eigentlimlichfeit des oͤſtlichen Geiftes zu tun, die wir auch in der Architeftur wiederfinden. Immer wird derfelbe Typus ded Haufes wiederholt. Seine Kunſt beweift der Ehinefe nur in der Funftgewerblihen Ausfhmücdung einzelner Teile. Bom Roman gilt daßfelbe. Die Details find dann fein, treffend und in ihrer Art uͤberzeugend.

Die heroorragendften Szenen des „Kreidefreifes” find parodiftifch. Der zweite Aft gibt eine Gerichtäfzene, wie fie Hauptmann in feinem „Biber- pelz“ oder Kleift in feinem „Zerbrochenen Krug” nicht beffer gelungen ift. Wenn Regierungdbeamte auftreten, muß der Chinefe farifieren. Die Karifatur liegt feinem Charafter ganz befonders gut. Das zeigt auch die Malerei deutlich. Vielleicht ift allerdings die Wirfung der Karifatur auf den Chinefen nicht diefelbe wie auf und. Vielleicht fieht fein Auge an und fuͤr fi) mehr in Übertreibungen. Neben dem Parodiftifhen liebt der Ehinefe das Fyrifche. Hier erregt er oft unfre tiefe Bewunderung durch feine Jartheit, Großmut und Aufopferung. Ruͤhrend wird im „Kreidefreis” dargeftellt, wie die un- fchuldige Heldin durch ein Schneegeftöber und uͤber Glatteis von Soldaten gefhleppt wird. Und ergreifend und Fräftig fiegt zum Schluß die Mutter- liebe. Den Höhepunft Inrifhen Empfindens erreicht die chineſiſche Kunſt in der Landſchaftsmalerei. Hier ift die Wirkung fo überzeugend, daß felbft dad ungelibtefte Auge des Abendländers ſich ihr nicht entziehen kann.

Ob es einen Wert hätte, ein chinefifched Drama, etwa den „Kreidekreis“, bei und aufzuführen? Eine Antwort ift nicht leicht. Schon oft haben gerade in unfern Tagen ftiloolle Aufführungen unfre Anſicht fiber ein Stud geändert. Es fcheint mir nicht ausgeſchloſſen, daß, Flug zufammengeftrihen, gerade diefes Schaufpiel eine originelle Simpliziffimusfomddie abgeben Fönnte. Doppelt intereffant durch die Fremdartigfeit der Zuſtaͤnde. Zu einer bur- leöfen fomifchen Oper eignet der „Kreidefreis“ ſich ficherlic außerordent- lich gut.

Die dramatifche Fiteratur der mun folgenden Zeit der Ming-Dynaftie (1368—1644) hat ein Schaufpiel hervorgebracht, dad „zu den beften Schöpfungen auf dem Gebiet der leichten Literatur” gezählt wird, Vierzehn Borreden preifen „die Geichichte einer Laute”, P'i⸗p'aki. Der Dichter beißt Kao⸗Tung-⸗Kia. Das Stüd wurde im Jahre 1404 zum erften Mal auf- geführt. Wir finden alles wieder, was wir, ald dem chinefifchen Drama

203

eigen, feftftellen konnten. Schöne Igrifhe Szenen wechfeln mit parodiftifchen, in denen Staatdeinrichtungen verfpottet werden. Die Handlung ift fo fompliziert, daß fogar vierundzwanzig Bilder nötig werden. Die große Schätung verdanft diefed Drama feiner Moral. Es werden Ereigniffe geichildert, die Kindesliebe zu vereiteln fuchen. Die Liebe der Kinder zu ihren Eltern bedeutet fiir den Chinefen mehr als flr und. Vaterland und Individualität fpielen neben ihr nur eine untergeordnete Rolle. Lieft doch der Chinefe in jedem Schulbuch und auf jeder Seite feiner philofophifchen Piteratur von Kindesliebe, bauen doch Konfuzius und feine Schliler ihre ganze Ethif auf der findlihen Pietät auf.

Die hinefifche Literatur bat, ebenfo wie die bildende Kunft, noch weite, unbebaute Streden. Zu gewaltig ift die Arbeit, die Geiftesleiftungen eines fo alten, fo ungebeuern und fo begabten Volfes zu durchmwüblen. Zu groß find die Schwierigfeiten diefer Schrift, die zu beherrfchen tem Europäer ein ganzes Leben Foftet und felbft dem chinefiihen Gelehrten Zabrzehnte. Sp fommt ed, daß die neuern Jahrhunderte der Riteratur noch faſt ganz unerforfcht find. Erft die Gegenwart ift befannter. In unfern Tagen ift der Stand des Theaterd der denfbar tieffte. Es berrfcht im allgemeinen eine grotedfe, durchaus nichts verbergende Obfzjönität, von der wir uns gar Feine Vorftellung machen koͤnnen.

Im Außeren hat das chineſiſche Theater ſeine alte Geſtalt Wie in uralten Zeiten, zeigt es auch heute noch ſeinen Zuſammenhang mit dem religioͤſen Kult. Bei den meiſten Tempeln befinden ſich primitive Buͤhnen⸗ haͤuſer. Aber die dort aufgefuͤhrten Stuͤcke haben keinerlei Verbindung mit der Religion. Ständige Theater gibt ed nur in den Haupt» und Hafen ftädten. Die Bühne ift fo angelegt, daß fie von beiden Seiten gefehen werden kann. Ald Kuliffe dient eine Wand mit zwei Türen zum Betreten und DVerlaffen der Bühne. Aus Tifhen und Bänfen werden Gebirge und Mauern bergeftellt. Der Zufchauerraum hat ein Parterre und einen Rang. Bor den langen Bänfen fir das Publifum ftehen fchmale Tifche. An der Spitze eines jeden Theaters fteht ein Direftorium, von mehreren Mitgliedern gebildet. Alle Mitglieder teilen fi in die Einnabmen. Das Direftorium erhält etwa zwanzig, die Truppe achtzig Prozent. Es gibt nur männliche Scaufpieler, aber auch nur männlihes Publifum hoͤchſtens Sonder: vorftellungen für Frauen, die in Tempeln oder Privathäufern flattfinden.

Unfre furze Wanderung durdy das bunte Gebiet des hinefiihen Dramas ift beendet. Der Ertrag ift ficherlih mehr Fulturbiftorifch als kuͤnſtleriſch intereffant. Kein Sopbofles, fein Shafefpeare, fein Moliere erwuchs dem hinefifhen Volk. Wird derabendländifche Einfluß wohl einmaldie Umwaͤlzungen bervorbringen, die aus dem Szenenmofaif der alten Kunft das große Drama fchaffen? Oder wäre ed gar möglich, daß der einft fo reiche und entwicklungs⸗ fäbige chinefifche Geift nur aus ſich felbft einen Fortichritt gebiert und die Welt uͤberraſcht mit ganz eigenartigen, noch nie dagewefenen Neichtlimern?

204

Brahm

ieber Siegfried Jacobſohn!

Meinung gegen Meinung. Ich muß meine gegen Ihre ftellen. Ich

wäre feig, wenn ich Ihnen bier nicht widerfpräche.

Ihnen bat Hauptmannd neued Stücd mißfallen. Ihren Kollegen auch. Dem Publifum auch. Das ift Euer guted Recht. Und Euer guted Recht iſt ed, Died audzufprehen. Ernft oder hoͤhniſch oder fchadenfrob, mit Gründen oder Späßen, jeder nad) feiner Natur.

Aber nun wird auch noch Brahm gefhmäht, weil er ed aufgeführt bat. Ich meine, daß er eben dafür Danf verdient. Denn ed war tapfer, und er hatte recht. Wenn Hauptmann einem Direftor die Ehre erweift, ihm ein Stüd zu ‘geben, fo bat diefer, wie dad Stuͤck auch immer fein, und was der Direftor auch darlıber denfen, und was er etwa auch daflır befürchten mag, einfach die Pflicht, es aufzuführen. Das deutfche Volf kann verlangen, daß ihm ein Werf von Hauptmann, woblgeraten oder ungeraten, nicht vor= enthalten wird. Ein fo ſchoͤner Menſch, ein fo wahrbafter Kinftler foll und ganz gehören, wie er nun einmal durch feine Natur ift, mit allem, was diefe Natur ihm trägt, in feinem ganzen Wachen und Werden, auch wenn wir einmal nicht gleidy verfteben, was er will. Wir fünnen ed ja verurteilen, aber wir wollen felbft urteilen, wir felbft, aus eigenem, nicht nady der Auswahl, die irgend ein Direftor trifft. Oder wollen Sie dad Schickſal der deutfchen Dichtung dem Gutdünfen der paar berliner Direftoren und Dramaturgen unterwerfen? Beftend Hermann Bahr

ih muß ihnen dankbar fein, daß Ste mir Gelegenheit geben, deutlicher

zu werden. Auch fonft bat man nämlich Brabm vor mir in Schuß genommen. Unſer gemeinfamer Salten bat in der mwiener „Zeit“, wo ich diefen Fall Hauptmann nicht anders beurteilt babe ald in der „Schau⸗ bühne“, „ein Wort flr Brahm einlegen” zu follen geglaubt. „Durfte er denn wirklich einem Stud von Gerhart Hauptmann fein Theater verweigern? Das ſchlagende Argument des Premierenffandald, mit dem jeßt alle fo be- quem und jo unwiderſprechlich bantieren, ftand ihm doc; nicht im Angeficht ded Manuffriptd zu Gebote. War denn die Gefahr ausgefchloffen, dag Hauptmann zu Reinhardt ging? Ich glaube, Brahm war gar nicht in der Lage, bier etwas zu verbindern, hätte feinem Hauſe nur diefen fuͤr ibn wichtigften Dichter verloren, was nicht zu risfieren war. Ganz abgefehen davon, dag Hauptmann, geftügt auf feine Erfolge, den Anſpruch bat, mit jedem Stu einfach angenommen und gefpielt zu werden.” So viel Worte, jo viel Irrtiimer. Ber Euch allen beiden, liebe Freunde.

Das deutfhe Volf kann verlangen. Alfo fpricht Hermann Bahr und glaubt, weil ed gerade bequem ift, am Ende wirklich, daß in den Premieren des Leffing- Theaters das deutſche Volk fist. Da will id) ihm doch ein Geheimnis

L* Hermann Bahr,

205-

verraten: Was ſich in unfern Premieren ein Urteil anmaßt, ift weder deutfch, noch Volf. Es, diefed unfaßbare, ebenfo unmännliche wie unweibliche „Es“, ift innerlich und äußerlich fo undeutfch wie möglih und hat mit dem Volf nichts, aber auch weiter gar nichts gemein ald die Roheit. „Es“ hat Fein Spürden Intereffe für die Entwidlung eines Dichterd und denkt nicht im Traum daran, zu verlangen, daß ihm ein Werf von Hauptmann, mohl- geraten oder ungeraten, nicht vorenthalten werde. „Es“ läßt den Dichter, und fei er „ein fo ſchoͤner Menſch, ein fo wahrbafter Künftler” wie Hauptmann, ja nicht einmal ausreden, fobald er, aus irgend weldhen Gründen, nicht ber die volle Lungenkraft verfügt. „Es“ hoͤhnt, johlt, pfeift und ift ftolz darauf. Man muß es erlebt haben, wie dieſe Geſichter „Geſichter, wie ich noch feine ſah“ an folh einem Abend glüdfelig glänzen, man muß dieſe tiefe Genugtuung über die Niederlage eines Dichterd beobachtet haben, um ed wie einen Scherz zu empfinden, daß diefed deutfche Volk irgend etwas fol verlangen dürfen.

Denn Site, lieber Hermann Bahr, darauf erwidern, daß ed doch eine grenzenlofe Willkuͤr von mir fei, Ihr deutſches Volk in ein berliner Premieren- publifum zu überfegen, fo ſcheint mir auch diefer Einwand nicht ftihhaltig. Iſt Ihnen unbefannt, daß Ihr deutfches Wolf von dem Spruch meines Premierenpublifums fflavifh abhängt? Daß Stüde, die am erften Abend fo entſchieden abgelehnt werden mie diefe „Jungfern“, ed niemals zu mehr ald drei, vier jammervoll befuchten Vorftellungen bringen? Sie werden nicht beftreiten, daß daraus immerhin auf die Anzahl der Menfhen zu fließen ift, die dad Bedürfnis haben, „felbit zu urteilen“. Sie wiffen ſchließlich ſo gut wie ich, Daß Ihr deutſches Wolf die Dichter des „Huſaren⸗ fieber8”, des „Sherlod Holmes“ und der „Ruftigen Witwe” zu Millionären macht und die DVerfertiger der „Hermannsſchlacht“, der „Judith“ umd der „Kreuzelſchreiber“ mit Vorliebe hungern läßt. Wollen Sie aber unter dem deutfchen Volk weder die Premierentiger, noch die unliberfehbare ſtumpfe Maffe der folgenden flnfhundert Abende verftanden wiffen, denfen Sie an uns, an ſich und an mic) und an unferögleichen, die freunde der Kunft, und fordern Sie flır und dad Recht, felbft zu urteilen, fo muß ich fuͤr mein Zeil Ihre Fuͤrſorge danfend ablehnen. Ich bin nicht auf die Aufflihrung eines Dramas angewiefen, um dad Wachſen und Werden feined Dichters zu verfolgen. Dazu genligt mir dad Buch. Und wenn ich die ganz genaue, ganz zuverläffige Kenntnis der Buͤhnenwirkſamkeit eines Dramas mur dadurch erfaufen fan, da ih feinen Dichter wehrlod derjenigen Publikumsſchicht preißgegeben febe, der in der Kritif die Sorte Paul Goldmann entfpricht, fo verzichte ich auf die Gewißheit und gebe mich mit der Vermutung zufrieden, daß diefes Drama auf dem Theater dramatifch ja wohl ebenfo hilflos wirfen wird, wie ed im Buche wirft. Damit find wir wieder bei unferm Audgangd- punft, bei der frage, den Fragen: Konnte Brahm das Buͤhnenſchickſal der „Jungfern“ vorausfehben? Und batte er, felbft wenn er es voraudfab, das Necht, diefes Stüd abzulehnen?

206

Auf die erfte Frage nicht mit einem glatten „Ia” zu antworten, heißt meined Erachtens Brahm ärger beleidigen, als felbft ich es in meiner fruͤheſten Jugend fertig gebracht habe. Es beißt ibm alles das abſprechen, was ihn zum einflugreichen Kritifer und zum führenden Bühnenleiter gemacht bat: feinen Inftinft und fein Urteil. Wer dreißig Jahre lang fait nichts getan bat, ald Dramen zu lefen, aufzuführen und zu fehen, kann „im Angeficht des Manuffripts” der „Jungfern“ feinen Augenblick uͤber den Wert dieſes Luftfpield zweifelhaft gewefen fein. Für alle andern war ja die Wertlofigfeit auf der Stelle, jchon im Angeficht ded Manuffripts, unzweifelhaft. Nach ein paar Proben muß Brahm auch den Verlauf ded Premierenabends nicht blos geahnt, er muß ihn gewußt haben. Alle andern haben ihn ja mit der unverblümteften Deutlichfeit vorausgefagt, haben gewarnt und haben gezittert gezittert für Hauptmann, wenn fie feine Freunde, für ihn und für fich felber, wenn fie außerdem feine Schaufpieler waren. Einzig der Fluge, Flare, fühle, kritiſche Brahm bat ala unbefchriebenes Blatt, ald reiner Tor dazwijchengeftanden: O abnungslofer Engel du! Damit ift ed nichts, und es bleibi nur noch übrig, den apodiftiihen Ausſpruch zu prüfen: daß Brahm unter allen Umftänden, ganz unabhängig von feinen eigenen Bedenfen und Befürchtungen, die Pflicht habe, jedes Stüdf von Hauptmann aufzuführen.

Mit Salten ift bier leicht fertig zu werden. Hauptmann hat, der Meinung bin auch ich, den Anſpruch, mit jedem Stüd „einfach angenommen und geipielt” zu werden wenn ed ndmlid ein Stud von Hauptmann iſt. Was aber jagt Salten felbft von den „Jungfern“: „Dieſes Luftfpiel von Hauptmann nimmt fich aus wie ein ſchwacher Abklatſch von Georg Hirſch⸗ feld”. Auch das fol Brahm einfach) annehmen und fpielen müffen? Er muß; fonft ja, fonft gebt Hauptmann zu Neinhardt. Das ift nım von allen Argumenten das haltloſeſte. Reinhardt hätte diefed Stuͤck niemals angenommen, Gewiß, er bat Brahm Schaufpieler wegengagiert: aber fie bießen Nittner und Elfe Lehmann, nicht Nidelt und Jda Wuͤſt. Gewiß, er wäre überglücli, ein neues Stüd von Hauptmann zu befommen: aber ed dürfte nicht zuvor von Brahm abgelehnt worden fein, denn das wäre ja fir die Öffentlichfeit dad Todesurteil des Stückes. Mein, der Gedanke an Reinhardt kann fir Brahm nicht mitgefprochen haben. Die Gefahr Reinhardt wäre in diefem Falle Feine Gefahr, fondern eine DVer- lodung gewefen. Die Niederlage der „Zungfern” bei Reinhardt wäre Brahms größter Triumph geworden. Das Stud hätte ohne Baffermann feinen legten At nicht erlebt, und wie hätten die beiden Direftoren dann dageftanden! Der reine Künftler Brahm, der ſich felbft einem Hauptmann verfchließt, wenn feine dramaturgifchen Forderungen nicht erfüllt find, und der gierige Senfationdhafcher Neinhardt, für den aͤſthetiſche Erwägungen nicht in Trage fommen! Man mag die Sache drehen, wie man will: Brahm bat nicht nur nicht die Pflicht gehabt, die „Zungfern” aufzuflihren er wäre es feinen Schaufpielern, dem Dichter und, nicht zuletzt, ſich felbit fchuldig gemefen, fie rundweg abzulehnen.

207

An die Schaufpieler hat niemand gedacht. Sind fie nicht auch Menfchen? Haben fie nicht Merven wie ihr? Wenn ihr fie ſtecht, bluten fie nicht? Steben fie nicht ſchutzlos auf dem allergefährlichften Poften? Ich febe noch die angftoollen Augen der Lehmann bei den erften Anzeichen des Sfandald, und ich bewundere immer wieder die Selbftbeherrfchung diefer Menfchen, von denen in aller Fochenden Wut fich feiner dazu binreißen läßt, vorzufpringen und dem tobenden Mob feine ganze Verachtung ind Gefiht zu fpeien. Ich glaube, daß diefe Männer und Frauen an fold einem Abend mehr Herzblut hergeben, ald Hauptmann fuͤr fein ganzes Luft- fpiel uͤbrig gehabt hat, und ich bin allerdings der Anſicht, dag ihnen, mit ihrer Fäbigfeit und Bereitwilligfeit zur innigften, felbftlofeften Hingabe, ihr Direftor mehr Ruͤckſicht zu erweifen bätte ald einem noch fo großen Dichter, der die Annahme einer beifpiello® leeren und flüchtigen Arbeit nur auf Grund feiner frübern Leiftungen verlangen und erreihen kann.

Diefe frübern Leiſtungen das ift letzten Endes der Hauptpunkt unfers ganzen freundfchaftlien Streit. Um ibretwillen, behauptet Salten und behaupten Sie, lieber Hermann Bahr, hätte Brabm das Stid geben müıffen. Gerade um ihretwillen, behaupte ich Euch entgegen, hätte er es niemals geben dürfen. Ich will wirklich nicht „da® Schieffal der deutfchen Dichtung dem Gut⸗ dinfen der paar berliner Direftoren und Dramaturgen unterwerfen”, ich am wenigften. Hier handelt es fid) aber nicht um Kahane, Hollaender und Friſch, ja nicht einmal um Barnowsky und Barnay und Bonn und Schmieden. Gier bandelt es fih um Brahm, um Otto Brabm. Muß ich dem Mitrevolutionär von 89 fagen, daß das nicht „irgend ein Direftor” ift? Muß ich Ihnen, Hermann Bahr, fagen, wer das it? Wenn Sie dad nähfte Mal zu mir fommen, wollen wir die „Freie Buͤhne“ berunternehmen. Sie fol Ihrem Gedaͤchtnis nachhelfen. Ste foll Sie erinnern, daß aud) der Kritifer Brahm für Hauptmann nicht „irgend ein” Kritifer geweſen ift, fondern mehr, viel, viel mehr: Freund, Bruder, Vater, Förderer, Berater, Schild und Schwert, Apoftel und Herold. Wie bat dieſer angeblid temperamentlofe Brahm lieben, wie bat diefer fcheinbar vorfichtige Kritifer kaͤmpfen, fich einfegen und ſich ausſetzen koͤnnen! Aus dem Theaterfritifer wurde der Theaterdireftor. Dad änderte wefentlih nichte. Der Gegenftand feiner Liebe und feiner Tapferfeit bebielt den alten Namen. Was davon nicht Ibſen bieß, hieß Hauptmann, Es fam Hauptmannd Sieg. Es famen die Jahre der ruhigen Reife. Es fam die Miüdigfeit, die Unficherheit, die Periode der Selbit- nahahmung, der wanfenden, der entgleitenden Herrichaft, der Adhtungd- erfolge, der leeren Haͤuſer. Schlenther fiel ab, Brabm blieb treu. Un— erfchütterlih treu: als Direftor, ald Freund. Es fam der Verfall, die Ohnmacht, das Luftipiel: Die Jungfern vom Biſchofsberg. Da lag ed num doc nicht jo, dak Hauptmann „einem“ Direftor die Ehre ermies, ihm „ein“ Stüd zu geben. Da war ed foweit, daß Hauptmann demfelben Otto Brahm, der von allen lebenden Menſchen das meifte für ihn getan, der feinen ausfichtd- lofeften Stüden eine Unfumme von ideellen und materiellen Opfern gebracht

208

batte, dag Hauptmann diefem Brahm die Michtachtung und Undankbarkeit bewies, ihm die Aufführung eines... . ., num eben der „Jungfern vom Biſchofsberg“ zuzumuten. Dad war der Augenblid, wo Brabm unerbitt- lich werden mußte. Wo er fi mit audgebreiteten Armen vor feine Schau fpieler, feine ergebenen und mutigen Rampfgenoffen, ftellen mußte. Wo er fih auf feine Vergangenheit, fein Anfehen, ja, wenn feiner unpatbetifchen Natur fo etwas möglich wäre, auf die Nachwelt berufen mußte. Wo er fi) mit feiner leiten Kraft dagegen wehren mußte, felber dem allgemeinen Gelächter und Mitleid einen Dichter auszuliefern, von deifen Schidfal fein Schickſal jegt nicht mehr zu trennen if.

Dielleiht hat Brahm das alled getan. Vielleicht vor anderthalb Jahren. Damald hat Hauptmann fein Quftfpiel zurückgezogen. Dann hat er ed fo gut wie unverändert! abermals eingereiht, und Brabm hats genommen, Brahm hats gegeben, der Name Brahms fei nicht gelobt. Aber auch nicht gefchmäht. „Geſchmaͤht“ nicht. Das ift eine Kleine Entftellung, balten zu Gnaden, lieber Hermann Bahr. Leſen Sied nur mad. Sch babe, mit Vorbedacht, ein ganz beftimmtes Wort gegen Brahm gewählt, dad dem empfindlichften Freundesohr nicht wie ein Schmaͤhwort Fflingen fann. „Beaͤngſtigend“ erfchien ed mir und erfcheint ed mir noch, daß Brahm, nad) langem Widerftreben, ſich ſchließlich doch ſtillſchweigend mit Hauptmann geeinigt hat, auf eine jo fchlechte Karte Va banque zu fpielen: Apres nous le deluge! Siehaben verloren, und ich halte diefe Niederlage für ein Jena Brahms, dem fein Sedan mehr folgen wird. Hier ift jebt nicht nah Schuld und Pech, nicht nad) Verfettungen und Urfachen zu fragen. Bier iſt ein nadter Tatbeftand feftzuftellen. Wem vor der ganzen großen Weltliteratur der Vergangenheit und Begenwart immer und immer wieder nicht8 weiter einfällt ala Hauptmann, auch dann nicht, wenn die Not am böchften, die Fünftlerifche Konfurrenz am fchärfiten und die Verarmung gerade dieſes Hauptmann am offenfundigften ift: der muß ja wohl fertig fein. Brahm ift fertig. Darob haben wir nicht ihn zu ſchmaͤhen, fondern und zu ängfligen. Und zu ängftigen flr und, nicht für ihn, der fein Werk erflllt hat und fatt und geborgen ift. Mir find die Leidtragenden. Er war ein Mann und ein Kopf, ein Talent und ein Charafter. Was er unterlaffen bat, haben auch andre unterlaffen; was er getan bat, hat niemand aufer ihm getan. Sein Nachfolger wird nichts tun und alles unterlaffen. Das ift, fchon jet, unfre Angft und unfre Klage. Es geht ein böfer Geift durch dieſes Haus. Es ift der Geift der Vorgänger. Er kann, will und wird nicht fterben. Er hat Brahm nieder- gerungen, der ihm and Leben wollte, und winft ſehnſuͤchtig dem Zickel, der da fommen fol, der da fommen muß, ihn wieder ftarf und mächtig zu machen. Es ift eine Frage der Zeit. Daß es nichts andred mehr ift, daflır ift die leßte Hauptmannpremiere von entfcheidender Bedeutung gemefen. Ein theater: biftorifcher Abend. Deshalb ift hier nicht blos das aufgeflihrte Stuͤck, ift auch der verantwortliche Direftor betrachtet worden. Geſchmaͤht bat ihn niemand, lieber Freund Bahr. VBeforgtheit und Trauer ift das Gefühl Ihres ©. 3.

209

KRısperlefherter

Meißner Porzellan] von Liber

oͤrt, was eben in Berlin geſchehn ift, Und was auch vollftändig zu ver⸗ ſtehn iſt, Weil es immer uns aufrichtig freut, Wenn mal triumphiert die Sittlichkeit.

In dem Hoftheater, in dem „Neuen“,

SuhtmanBiederfinnundeinzubläuen. Died gefchiebt zur Zeit mit einem Werk, Teils vonDelmar,teild vonKablenberg.

Nun begiebt fi in diefem Stüde, Daß erſchoͤpft durch ſeinerdFeinde Tůge, Preußens Leutenant am Abend ſpaͤt Coram publico zu Bette geht.

Auf Kommando muß man ihm bereiten Alle uͤblichen Bequemlichkeiten;

Bringt die Waſſerflaſche und das Glas: Unterm Bette, da ſteht noch etwas....

Zwar ſind unſre ſtrammen Leutnants⸗

jungen Abgehaͤrtet gegen Anfechtungen. Doch in der Beziehung ftebt es feft, Daß Natur nie mit fi fpaßen (dft.

UndderKämpfer unter Preußens Fahne Kriegts von beſtem meißner Porzellane, Nokokogeſchmack etcetera:

Wenn ers braucht, ſo iſt es eben da.

Da erſcheint im ſelbigen Theater

Zur Premiere jaͤh.. des Landes Vater: Auch die Szene ihm zu ſehen frommt, Wo der Leutenant das Ding bekommt.

Dieſe Ausſicht ſtoͤrt den Seelenfrieden

Des Direktors Oberleutnant Schmie- den....

Kurz entfchloffen ändern jetzt ihr Werf

Die Autoren Delmar, Kablenberg.

210

Stets behagen „Ihm“ drauf kann man wetten Leutenants aufrauben Roßhaarbetten:

Doch die Szene wird total entſtellt, Wenn ſein Auge auf das Dings da faͤllt.

Außerdem in mancherkoge Rahmen Sitzen ſicher heut ſehr feine Damen: Dieſe, wenngleich ſonſt ſehr informiert, Wiſſen nicht, daß „Sowas“ eriftiert.

Wenn ſich morgen andre Damen laben, Die ſtatt ſieben nur ſechs Zacken haben, Wird das PA dad man ald wirffam

f In die alten Ehren eingefeßt.

Alfo ward beendet auc der Jammer.

Einen Abend in verfchloffner Kammer

Weilt dad Requiſit fo wundernett:

Abends _ ftebt8 wieder unterm ett.

Grinfend bringts ein preußfcher Gre— nadiere SeinemfeutnantindasNachtquartiere, Und, damit das Publifum wird warm, Hält ers in die Hoͤh mit fteifem Arm.

Hört ihr die ——

wehen

Seht die Scharen ihr zum Toͤpfchen gehen?

Alſo wird der kleine Chambre-pot

Grund zum Andrang und Geichäft en gros.

Die Moral hiervon will fo ich faffen: Sittlichkeit iftnur flr böhre Klaffen ...: Was der Hof betrachtet mit Gebrumm, Fange gut ifts fir das Publikum !!

MRundkhau

Parifer Oper

ir den in Paris lebenden mufifa-

lifhen Deutſchen ift ed ein un gemein wohltuendes Geflbl, daß es erade ein Opernhaus ift, dad an Eunftlerifehem Ehrgeiz und Takt den meiften parifer Bühnen weit uͤber⸗ legen ift. Auch ift es förmlich nerven» beruhigend, zu beobachten, wie uͤber die »opera comique« des Direftord Carré von den meift fo uneinigen deutfchen Kollegen immer nur das hoͤchſte Lob audgefproden wird. In dem nicht uͤberladen elegan- ten, intimen Hauſe, das fo boulevard» nab und doc) dem „tout⸗ Paris“⸗Ge⸗ ſchmack fo zonenfern gelegen ift, weht ein Hauch von jenem franzöfifchen Geift, wie er und Deutfchen immer vorfchwebt, wenn wir an Parid und Tranfreich denken, wie er aber in der Modemetropole, die einmal die euro⸗ päifhe Kunſthauptſtadt war, fonft beute längft nicht mehr berricht. In der »opera comique«e mird das Gefeß von der Einheit der drei Schwefterfünfte mit franzöfifchem Ge- fhmad und mit franzöfifhem Takt, niemald aber mit pariferifhem Ultra⸗ chic, mit boulevardmäßigem Tailleur⸗ Efprit befolgt. Die Grenzlinie zwi⸗ fhen romanifhem Primadonnen- Schaubühnenftil und modernem, regie= fundigem, jedoch nicht regiepraͤdomi⸗ nierendem Stil, dieſes fchwierigfte Problem flır den Blihnenleiter unfrer nerodfen Tage, bat wohl faum ein europäifcherÖperndireftorfozu treffen, zu löfen gewußt wie der Leiter der »opera comique«, Daß diefer fünft- lerifhe Regiffeur nun doc nicht zum Direftor der „Großen Oper“ ernannt worden ift, dad muß man vom idea⸗

liſtiſchen Standpunkt gewiß beflagen. Auf der andern Geite ift gerade Earres feiner Spürfinn fuͤr malerifche Geſchloſſenheit der Szenenbilder fo fpezififch intim, daß er fi dem Niefenprunffaal der „Großen Oper“ vielleiht gar nicht gewachſen gezeigt bätte. In den bequemen Direftions- fauteuil der Acade&mie nationale de

Herrn musique gehört vor allen Dingen

ein eleganter, fmarter Kavalier, ein repräfentationsfähiger ultrapariferi= fher Weltmann, ein angloamerifa- nifcher Franzoſe, der die Tradition des Logenhabituerepertoires nicht nach modernen Gefichtäpunften reformiert, fondern hoͤchſtens einige unauffällige Konzeffiönhen macht, im übrigen aber der Tradition des altehrwuͤrdi⸗ gen Hauſes fih anzupaffen beftrebt fein muß (auf gut deutfch: der „fort= zumurfteln“ verftehen muß).

Nun aber liegt ed mir ob, mit ftarrer Ehroniftenpünftlichfeit zu be= richten über die an der »opera comique« aufgeführte Oper mit dem geſchmacklos fauderwelfhen Zitel „Madame Butterfly“, den die Idylle von der Geiſha Eio-Cio-Gan bei ihrem Wanderzuge von Stalien uͤber London nad Paris fih von dem fnobiftifhen Gefchäftägeift moderner Autoren hat aufzwängen laffen müffen. Iſt es nicht Fünftlerifch ein Frevel, wie man beut den internationalifti= fhen Amerifanidmus gar ſchon in die DOperntitel einfchmuggelt? Daß den englifchen Autoren 3. Long und D. Belasco flr ihr Drama gleichen Mamend urfprünglih Pierre Lotis Noman „Madame Chryſanthèeͤme“ vorgelegen bat, dies unterdruͤcken die italienifhen ibrettiften Illica und

211

Giacoſa völlig. Da es ſich um eine Oper handelt, iſt natuͤrlich die Muſik die Hauptſache, und der Name des Komponiſten, Giacomo Puccini, prangt am fetteſten gedruckt auf der Titel- feite ded mir vorliegenden Klavier: audzuges, den die faffimilierte Wid- mung an die Königin Elena ſchmuͤckt. Und doch atmet diefe japanische Idylle von der füßen, blutjungen, halm⸗ zarten Geiſha Eio-Cio-Gan, die, von ihrem Geliebten verlaffen, den Dolch ihrer Vaͤter in den faum erblühen- den Leib bohrt, diefe Idylle atmet fo viel echte Kulturmufif, daß ſchon allein ihre Dramatifierung eine Ver⸗ gewaltigung bedeutete. Gar die Her- auffchraubung der Fleinen Geiſhapuppe auf dad Piedeftal einer Opernprima= donna mußte vun vornherein wie eine plumpe Vergroͤberung des aus Blüten- duft und Vogelgezwitſcher gewobenen japanifchen Idylls anmuten. So er- fcheint die „Handlung“ diefer Puccini⸗ ſchen Oper faſt wie ein Symbol unfrer Zeit. Dieſer falt-lebemännifche amerifanifche Seeoffizier Pinferton, der die Geiſha nad) japanifhem Ritus „auf Kündigung” heiratet mit dem feften Vorſatz, fie ebemöglihft in guter Hoffnung auf ein Kind und auf ein Wiederſehen figen zu laffen, diefer Amerifaner, der dann zuleßt die Dreiftigfeit befist, an der Geite einer reichen Miß dad Haus noch— mals zu betreten, das er ſchon vor Jahren durch feine Luͤſte befhmußte, er mutet und wie unfre brutale Ge— genwart felbft an, die derartiger, „auf jopanifhen Ofenſchirmen ja fhließ- lich ganz deforativ wirfender Bluͤten⸗ träume” im Herzen fatt if, Traurig ift nur, daß dieſes „Miß-Verhaͤltnis“ des Terted auch auf Puccinis Muſik abgefaͤrbt hat. Der Komponiſt hatte doch in der „Bohéême“ ſo geſchickt verſtanden, die muſikaliſche Charaf- teriſtik der Handlung diskret mit einem Partiturnetz zu umſpinnen, in das

212

ſich gleichſam wider Willen drama⸗ tiſche Klaͤnge fingen. Sein neues Werk zeigt nur ſtellenweiſe dieſe ein- heitliche Grundwaͤrme des muſikali—⸗ ſchen Anteils. Zumeiſt hoͤren wir nichts als routinierte Opernmuſik, bald japaniſierend im Stil Sullivans, bald italianifierend im Stil des mo- dernen Veridmo und leider nur felten im Pucciniſchen Stil. Zu diefem japa- nifhen Idyll hätte eine durchaus japanifhe Mufif gehört; und weil die Japaner zum Glüd noch feinen modernen Opernftil gefunden haben, hätten fie die Igrifchen Afzente diefes Blütentraumd eben nur mit den europamüden Gongbarmonien ihres Landes ummoben. Und died wäre die einzig ftilgetreue mufifalifche Ergän- jung der ganz wie „echtefted Japan“ wirfenden Aufführung des feltfamen Werkes an der »opera comique« gewefen. Die Geiſha Cio⸗Cio⸗San, wie fie Frau Marguerite Carré ver- förperte, diefe koſtbare, zerbrechliche Nippedfigur, ſchien zuweilen fchier zu zerfchellen unter der Wucht der byfte- riſch⸗ pathetiſchen Klänge ded modernen BVeriften Puccini. Arthur Neisser

Dad Repertoire eines deutfchen Theater

De hamburger TIhalia= Theater annonciert flrr den Beginn der legten Januar⸗Woche: Sonntag Nach⸗ mittag „Charleys Tante“, Sonntag Abend bei feſtlich beleuchtetem Haufe, zum Geburtstage Sr. Majeftät des (Deutfchen) Kaiſers „Der verlorene Vater“ von Bernard Shaw, Montag, Sherlod Holmes”, Dienstag „Ein idealer Gatte“ von Wilde, Mitt: woch „Der verlorene Vater“, Don- nerdtag „Raffles, der Amateurdieb“, vier Afte von Hornung und Presbey, frei nach dem Engliſchen von B.Pogfon, Iſadora Duncan⸗-Schule ...

ie letzten Wochen brachten aͤhnliches, die folgenden werden ungefaͤhr die⸗

felben Stüde in gewiffenhafter Wie- derholung bringen. Für Ausländer und andre Unwiffende fei bemerft, daß das Thalia-Theater das blühendfte Theaterunternehbmen Hamburgs und daß Hamburg fein englifcher Hafen ift. Das Stadttheater annonciert als nächte Premiere „Leah Klefhna” von C.N.S. Me. Lellan, dad Schiller- Theater „Sherlod Holmes“von Green und Doyle, fo daß die hamburgifchen Blhnenrepertoire zufammen eine ziem⸗ lich erfchöpfende Mufterfarte der engli= ſchen Dramatifer ergeben. Bon deut- fchen Zeitgenoffen werden gleichzeitig verſprochen: Schiller, Hannd Bauer (dad Pſeudonym zweier bamburgifcher Nedakteure), Kadelburg und Skow— ronnef, Kadelburg und Sfowronnef, Hannd Bauer, Hannd Bauer und

und fo weiter, Das gibt manderlei zu denfen. —— wird man Shakeſpeare in chutz nehmen muͤſſen, dem kuͤrzlich, im Anſchluß an Tolſtois Vernichtungs⸗ zug, ein geiſtreiches Schriftſtellerfach⸗ blatt nachſagte, er wuͤrde nur des⸗ halb auf deutſchen Buͤhnen gegeben, weil er ſehr tot ſei und keine Tantiemen mehr koſtet. Das iſt, wie man ſieht, nicht wahr. Er wird gegeben, weil er auch Engländer ift, wie Wilde, Sham, Green und Conan Doyle,Hornung und Presby, Mc.Lellan, Brandon Thomas. Dann wird man der Auffaffung entgegentreten muͤſſen, daß die ge- eignete Vorbildung für den Regiſſeur der Zufunft das klaſſiſche Gymnaſium und literarifche Studien feien. Die Sauptfahe wird ed wohl fein, daß er in England praftifche Sprach und Milieuftudien gemacht hat oder zum mindeften in einem Smportgefchäft bis zum Kommis hinauf gearbeitet bat. Balder Olden

Sceerbartfpiel

Ay ded Barbierd, Wahrzeichen ift und bleibt die Bartfchere. Zur

Unterhaltung feines Publiftums en— gagierte er deshalb Herrn Paul Scheer- bart, den Verfaffer einer „Revolu⸗ tionaren Theaterbibliothef”, die in ſechs niedlihen Baͤnden jweiund- zwanzig Buͤhnenſtuͤcke und viele ab» fonderlihe Federzeihnungen enthält. Mar doc Figaro felbit Revolutionaͤr gewejen (feine „Hochzeit“ 1784, fagte Napoleon, war fchon die ganze Re— volution), und hatte doch auch er, in den Intervallen der Schaumfchlägerei, fih ald Dramatifer verfuht. »De retour AMadrid, je voulus essayer de nouveau mes talens litteraires, et le theätre me parut un champ d’honneur« den Bericht hat und Herr Caron de Beaumarhaid auf- bewahrt. Figaro fiel damald durch, gründete fpäter zu Paris ein Journal, dad Erfolg hatte, und, bundertund- dreiundzwanzig Jahre nad) feiner. Hoch⸗ zeit, gemeinjam mit Frau Olga Wohl⸗ bri ein Mintatur-Theater zu Char- lottenburg: „Figaro“. Dort find nun auf einmal fünf Stüde von Paul Sceerbart aufgeführt worden, ein- geleitet durch Torpedoſchuͤſſe und mit einem Bombenerfolg. Man durfte Zigaretten dabei rauchen und Char- treufe grün trinfen. Das war gut und ſchaͤrfte die Empfänglichfeit. Denn diefer Scheerbart, der Kosmiker, iftim- ftande,in ſeinenLuſt · undTrauerfpielen, die in zehn unirdifhen Minuten herun⸗ terbrennen, foviel Funfelgeift hinzu⸗ fprüben, wie er nur immer Luft hat. Es ift fein Erdgeift, der in ihm wohnt ; mit jener hehren Kraft des Sumpfes, der ſich durch die Deſſous einer namenloſen Lu⸗ lu⸗ Eva⸗Mignon⸗ Nellie an den Hoͤhen raͤcht, hat Scheerbart nichts zu ſchaffen. Er iſt des Weltalls großer Weiſer, auf der Erde nur zu Gaſte, weil es da immerhin Kognak gibt, und das Irdiſche ſieht er als abſoluter Outſider (nicht irgend einer „Geſellſchaft“, ſon⸗ dern des Erdballe). Das ift das Un— erbörte des Falles Scheerbart: er ift

wirklich fein Menſch (gefchweige denn ein Europäer), hat nicht, wie wir alle, ein durd Ordnung und Sournalid- mus verddeted Normalhirn, hat feine Merven, fein Telephon und feinen andern Beruf ald den, an einem ab» gefandten Beifpiel die unendlid) zarte Liebenswuͤrdigkeit, die fabelhaft ge- lenfige Denffraft und die munder- voll gerubige Phantafie ded Zupiter- Dichters zu demonftrieren. Mit unfern Erden » Begriffen fommen wir bei Sceerbart nit aus fo wie fein Empfinden immer wieder ein amlı= fierted Staunen über Erdendinge ift. Zumal über die Liebe. Die begreift er gar nicht Kein Anerotifer iſt er, fein Antierotifer natlırlid). Wie fomifch ift doch die Liebe, wie komiſch diefe legitimen Barbareien der Men- ſchen alle!... So, von diefem außer⸗ irdifchen Standpunft, den Archimedes vergebens erfehnte, find Scheerbarts koͤſtliche Dramen entftanden (in den Jahren 1894 bis 1903, und fie hätten längft auf die Bühne gehört). Wir empfinden fie ald ertrem⸗ grotesk, als pantomimifch=erftarrte Traumbilder, ald grauenvoll-böfliche Puppenräufche, als hoͤhniſch · bunte Marzipan⸗ Arrange⸗ ments. Ein neuer Stil auch der Buͤhnen⸗ kunſt ſetzt ſich hier durch ſo etwas wie ein primitivverfchnörfelter Plakatſtil, ein Stil arditeftonifcher Grandezza und leife fihernder Verzerrtheit. Wie der Herzog Jean bei Huysmans, dem Herr Peter Altenberg fofett nadı= empfand, fo will auch Scheerbart in wenige Säße und Genen zwingen, was die breite Geſchwaͤtzigkeit der andern in uferlofe Betteljuppen bin- fchleihen läßt. „Ich glaube, daß nur durch keckſte Stilifierung die wuͤnſchenswerte Kürze und die kon⸗ denfierte Bedeutfamfeit in die Buͤh⸗ nengefchichte fommen kann“ das ift dieſes Revolutionaͤrs dramatur- giſches Glaubendbefenntnid. Regie

und Darftellung haben es ſehr gejcheit getroffen (und doch die fünf romantiſch⸗ rapiden Afte ded „Herrn Kammer- diener Kneetſchke“ nicht ganz fo ficher ftilifiert wie, am 1. Dezember 1905, eine Auffübrung im „Verein fir Kunſt“ des Herrn Herwarth Walden). In erfter Reihe Herr Georg Bafelt und Fräulein Claire Waldoff waren hoͤchſt reizvolle Scheerbartfpieler. So wards und allen ein Abend neuen Sehens und gefleigerter Geiftigfeit... O, blieben doch die heiter=erden- kritiſchen Masfenzüge Paul Scheer- bartd auf der Bühne jegt heimiſch! Alle zweiundzwanzig Stüde foll man geben! Wenn fie verbraudt find, wird Scheerbart neue fchreiben. Er fennt feine Grenzen, feine Erſchoͤpfung. Das Theater laffe fi) revolutionieren ! ©iebe, wir lechzen nadı ftarfen Quellen, und zu neuen Ufern lodt ein neuer Kahn... Ferdinand Hardekopf

Deutſche Uraufführungen 7.2. Lu PVolbehr: Der Hut, Einaftiger Scherz. Dortmund, Stadt- theater, 8. 2, Fr. Bodenſtaͤdter: Die alte grau Guͤnther, Wiener Volksſtüͤck. lagenfurt. Eva Graͤfin von Baudiſſin: Die Entlobten, Luſtſpiel. Leipzig, Neues Theater. Hans von Kahlenberg und Arel Delmar: Meißner Porzellan, Friderizianiſches Luſtſpiel. Berlin, Neues Theater. 10. 2. Gebhard Schaͤtzler-⸗Pera⸗ ſini: Ruffalfa, Versluſtſpiel. Potsdam,

Schaufpielhaus. 12. 2. Ludwig Nenner: Adieu, Thereſe, inaftige Liebedepifode.

Berlin, Luſtſpielhaus (im Schiller⸗ theater N.).

Raoul Auernheimer: Die Motleine, Einaftige Komödie. Wien, Intimes Theater.

Berantwortlich für die Redaktion: Siegfried Sacobfonn, Berlin SW. 19

Berlagvon Oeſterheld & &0.,BerlinW.15 Drud von Imberg & Lefion, BerlinW.y

x „u u N x > vr. 4 „® Due age vPoUN u

2 aha FE ;

HR |

wur: 1)

= , ® —* “rt, a

28. Februar 1907 N II. Jahrgang Nummer 9

Holländifche Dramatik] von Frederif var Eeden

un, da die bolländifche Theaterfunft anfängt, in Deutfchland jeinen N gewiſſen Namen zu erlangen, wuͤrde ich es bedauerlich finden, zwenn

man den Inhalt ihres Magazind ausſchließlich nach dem beurteilen wollte, was in den Schaufenitern ausgeftellt if. Bekanntlich gilt die größte Nachfrage nicht immer dem Velten, und bei und dürfte ed ſogar zweifelhaft fein, ob jeder Kommis ed auch auf der Stelle vorzujeigen wüßte. Aber die Ehre meined Volkes oder, beffer gejagt, meiner nationalen Kunft, die mir eigentlich noch mehr am Herzen liegt, zwingt mid, darauf binzumeifen, daß Jwir auf dem Gebiet der Dramatif beffere Werke befigen, ald die, melde heutigen Tages fomohl in unferm Land wie im Ausland am meiften „ziehen“.

Es liegt nicht in meiner Abficht, die Verdienſte des Herrn Heijermans, dem es ald erftem gelungen ift, die Aufführungen bolländifcher Stuͤcke auf ausländifhen Bühnen zu bewirfen, zu verkleinern. Denn es gehört viel dazu: viel Gefchidlichfeit, viel Ausdauer und zweifellod auch Talent, ed ſoweit zu bringen, daß man ein Publiftum beberrfcht und es zwingt, fi) für einen beftimmten Namen zu intereffieren. Allein ich weiß ed gewiß, daß man mid) in dem Lande eined Goethe, eined Schiller, eines Kleift, eines Hebbel ver- ftehen wird, wenn ich behaupte, daß auch in Holland die Tradition nod) nicht geftorben ift, welche zwifhen Popularität und wahrhafter Größe, zwiſchen einem erfolgreihen Bühnenfchriftfteler und einem echten Dichter, jwifchen dem Theatralifchen und dem Dramatifchen fcharf unterfcheidet. Zwar find es ihrer nicht viele, aber ed gibt in Holland doch noch Menſchen, die der Anficht find, daß Herr Heijermans fogar in feinen beften Stüden wohl dad Theatralifche, niemals dagegen dad wahrhaft Dramatifche erreicht babe. Er fchildert, wie der techniſche Ausdrud lautet, ein „padendes Stud Wirf- lichfeit” ; mir aber vermag weder die Tatfache, daß etwas ſich ald „Wirf- lichfeit” darftellt, noch die, daß es „padt”, zu beweifen, daß man ed mit

215

einem Drama zu tun bat. Der Menſch, namentlich der Menf aus unfrer Zeit, läßt fi) häufig durch recht inferiore Wirklichkeiten „paden”, und wenn dad Kriterium der dramatifhen Kunft darin beruhen fol, dann würden Aeſchylos und Obafefpeare doch wohl einem andern Zweig der Kunft als dem dramatifchen zugeteilt werden müffen. Um an einem Beiſpiel zu ver- anichaulihen, was ich hiermit meine, erinnere ich an dad, was Hebbel über Napoleon ald dramatifche Figur gefagt hat: Kein Dichter, fo fagte er, kann Napoleon als Helden gebrauchen, weil Napoleon fo hoffnungslos nüchtern ft. Das ift ein Audfpruch, dem ich von Herzen beiftimme, und der jeden, der ſchon einmal über eine Dramatifierung der Mapoleonfigur nachgedacht bat, wie eine tiefe Wahrheit getroffen haben muß. Aber mas bleibt denn, im Lichte diefer Wahrheit, von den fogenannten modernen Dramen übrig? Sind fie Napoleon, was Poefie anbetrifft, alle Überlegen? Wenn fie weniger nüchtern find, fo bat das zumeift feinen guten Grund, und ich zweifle nicht daran, daß der Fleine, nuͤchterne Napoleon uͤber die ganze Schar von Dramenhelden und »beldinnen um Haupteslaͤnge heraudragen wuͤrde.

E8 würde mir leid tun, wenn id den Anſchein erweckte, ald wollte ich mit einem einzigen Ausſpruch über all unfre modernen Dramatifer den Stab brechen. Es ift nun einmal der Hang unfrer Zeit, daß man aus defeften Menfchen komplette Runftwerfe zu machen ſucht. Ein platter, proſaiſcher, banaler Menſch ift ein defefter, infompletter, unharmoniſch ent- widelter Menſch, und die „Stuͤcke Wirklichkeit“, die man uns heutzutage als dramatifche Kunftwerfe vorfeßt, erinnern mid nur allzu oft an einen pan= athenätfhen Zug von Bucligen und Mißgeftalteten. Dies läßt ſich ja leicht erflären und entfhuldigen. Das Publifum will das Leben erfennen, und das Leben ift heutigen Tages nicht allzu wohlgeftaltet. Die Künftler find foger, danf dem Überfluß an afademifchen und funftbiftorifchen Gtebelverzierungen und Marmordenfmälern, dem feltfamen Wahn verfallen, daß das Harmoniſche und Wohlgeformte von Seelenlofigfeit und Tod unzertrennlich fei. Das Edle, Erhabene ift zu einem falten Mufeumdbegriff geworden. Das tft fehr traurig, und daher tun und nicht fo ſehr dramatifche Schriftfteller not, die und mit ihren Wirklichkeitsſchilderungen „paden“, fondern Dichter, die in unferm mißformten Leben die Geftalt des Edlen, Erhabenen und Harmoniſchen wieder neu zu beleben wiſſen. Und ich möchte nun das deutfche Publikum darauf hinweiſen, daß Holland Dichter befigt, Die dad mit größerm Erfolg anftreben als Herr Heijermans, mag ihr äußerer Erfolg auch viel geringer fein.

Es liegt in der Natur der Sache, daß die holländifchen Poeten mit Lyrik begannen. Die Jugend lebt in ihrer eigenen Welt und erhebt ſich oft tollfühn in gar zu bobe Sphbären. Die Dramatif entwidelt fi erft dann, wenn der Dichter den feiten Boden wieder erreicht und fein fubjeftives Gefühlsleben mit dem großen Menfchenleben verföhnt und in Einklang gebracht bat. So bat ſich auch in Holland eine Fleine Dichterfehar anfänglich wolkenhoch in den Ather binaufgefhmwungen, um danach, nicht immer fehr graziöd und wohlbehalten, wieder auf die Erde zuruͤckzufallen. Bei manchen

216

war ed ein rechter Taumel, der fie mit einem Ruck berabitürzen ließ, ohne daß fie ſich bisher noch zu erbeben vermocht hätten. Andre, unter welchen ich den fehr viel verfprehenden Herman Gorter nenne, haben fid in der Meinung, wieder in die Welt zurückzukehren, zwifchen die Kuliffen einer Theaterwelt verirrt, in welcher gerade dad Zugftud „Marrismus” gefpielt wurde. Und dort verharrten fie zwifchen Freiheitsbaͤumen aus Pappe und imitiert marmornernen Zufunftstempeln und fangen ihre Propagandalieder.

Einer von den Dichtern, welche diefen Abfturz noch am beften liberftanden baben, ift Albert Verwey, deffen Lyrik auch ind Deutſche libertragen worden ift (Übertragungen aus den Werfen von Albert Berwey, Verlag der Blätter für die Kunſt, Berlin 1904). Bon ihm flammen zwei Dramen, die in der Tat den Anforderungen diefer edeln Gattung beſſer entiprechen, ald das meifte, was auf die Bretter gelangt. Und es fei gerade diefem Umftand zuzufchreiben, behaupten einige, daß niemald eine Direftion auch nur daran gedacht bat, fie zur Aufführung zu bringen. Das flimmt nun nicht ganz. Die beiden Dramen leiden an technifhen Mängeln, welche indeffen wieder eine Folge davon find, daß der Dichter mit der Theatermwelt nie in Beruͤhrung gefommen ift, weil eben die Theatermelt nicht nach Dichtern, fondern nad) erfolgreihen Buͤhnenſchriftſtellern ſucht.

Es ſtuͤnde mir ſchlecht an, uͤber meine eigene dramatiſche Wirkſamkeit an dieſer Stelle zu ſprechen. Aber man moͤge es mir zugute halten, wenn ich einige meiner eigenen Theater⸗Erfahrungen in Parentheſe hier mitteile. Mit ſiebzehn Jahren begann ich bereits fuͤr das Theater zu ſchreiben, und dreißig Jahre lang babe ich erfahren muͤſſen, daß ich um fo weniger Außficht batte, ein Drama aufgefuͤhrt zu feben, je beffer ed war. Mein unbeträcht- lichſtes Stüd gelangte fofort zur Aufführung und bielt fi) ganze zwanzig Jahre auf dem Repertoire, während die Direktionen da, wo es fih um Werke von größerer Bedeutung handelte, zehn und vierzehn Jahre brauchten, um ſich zu einer Aufführung zu entfchließen. Holländer find vorſichtige Leute: am liebften hören fie erſt, was dad Ausland dazu meint. Herr Heijermans, der das auch redht wohl wußte, und der nicht gerade zu den, Unerfahreniten gebört, bezeichnete fein erfted Stud (Ahasverus) ald eine Überfegung aus dem Nuffifhen, worauf es fofort aufgeführt und guͤnſtig beurteilt wurde. Indeſſen fann es wohl niemand einem Dichter verlibeln, wenn er bei diefer Eigenart der Direktionen ed als eine Ehre erachtet, Stüde zu fchreiben, über welche fie noch viel länger nachdenken müffen, bevor fie eine Aufführung wagen; ja er wird fogar glauben, das Höchfte erreicht zu haben, wenn er ein Stuͤck ſchreibt, das fie ficherlich niemald aufführen werden. So ungefähr erging ed mir, und died mag auch für die technifchen Fehler in den Verweyſchen Dramen ald Erflärung dienen. Setzt aber habe ich doch einfeben gelernt, daß ein auffuͤhrbares Drama beffer ift, als ein nicht auffuͤhrbares.

Die zwei Werke, an welche ich bier denfe, find aus dem naͤmlichen vortreff- lihen Beweggrunde entitanden, welcher Goethe dazu trieb, feinen Goͤtz von Berlichingen zu fehreiben: nämlich aus dem Verlangen des Dichters, eine

217

edle, aber wenig oder ungenligend befannte Perfönlichfeit aus der Gefchichte feines Volkes in dad Licht feiner dichterifchen Vifton zu erheben. In unfrer vaterländifchen Geſchichte exiftieren genug beldenbafte und große Menfchen, die wert find, den Kern eines fchönen dDramatifchen Werkes zu bilden. Ich nenne den Grafen Floris den Fuͤnften, Zakoba von Bayern, Wilhelm den Schweiger, Johann van Dldenbarnevelt, Jan de Wit. Ste alle find einem wahrbaft tragifcyeheroifhen Konflift zum Opfer gefallen, der wiederum die Folge ihrer mächtigen und flreithaften Natur bildete, und der Zeit, in welcher fie lebten. Graf Florid der Fünfte ift zweimal dramatifiert worden: einmal von W. Bilderdyf, deffen hundertjaͤhriges Jubiläum kuͤrzlich fehr prunfvoll gefeiert wurde, deffen dDramatifches Produft indeffen nur dadurch befannt geworden ift, daß Multatuli es auf unbarmberzige, aber wohlverdiente Weife herunter⸗ geriffen bat, und dad zweite Mal von einem modernen Dichter, Adriaan van Dordt, welher den wunderbaren Stoff viel wirdiger und mit rein dramatifhem Empfinden behandelt bat. Allein van Oordt empfing und erwartete noch weniger ald Verwey irgend welche Anerfennung von der Theaterwelt, und fein Drama „Floris der Fünfte” bat fogar ein trauriges Schickſal erlebt. Es wurde von ebenfo wohlmeinenden, wie auf den Brettern unerfahrenen Dilettanten zur Aufführung gebracht und fo ſehr verlacht, daß ed zu einem zweiten Verſuch nicht mehr fam. „Seht Ihr ed nun,” fagten die Direftoren, „da® fommt davon, wenn man Flliger fein will ald wir.” Und die wahrhaft dichterifhe Schöpfung „Floris der Fünfte” wurde in die Rumpelfammer gefhafft, wo fie jet Vermweyd „Jakoba von Bayern“ und „Didenbarnevelt” Geſellſchaft leiftet.

Verwey fchrieb feinen „Zobann van Dldenbarnevelt” vor zehn Jahren. Allgemein befannt ift die Gefchichte des größten Staatdmannes aus Holands Blütezeit, ded Mannes, an welchem der gröbfte Juſtizmord unfrer ganzen Geſchichte verlibt wurde. Entbauptungen mädtiger Staatsleute gehörten im Königreich England nicht zu den Seltenheiten; die hollaͤndiſche Republik indeffen weiß nur von einer einzigen zu berichten, die eine fo große Bedeutung und fo weittragende Folgen hatte. Im Ausland dürfte es weniger befannt fein, daß diefe LUngerechtigfeit in den Augen des bolländifchen Volkes ftetö verteidigt und beſchoͤnigt wurde natürlid) auf Koften des guten Namens des Schlachtopfers weil fie von einem der berühmteften Vor— fahren unfer® Fürftenbaufes, und zwar im Mamen des orthodoren Glaubens begangen wurde. Und Verwey, welcher einem falviniftifhen Geſchlecht ent- ftammt, berichtet uns, weld eine Entdeckung es für feinen Vater und ihn felber war, ald er beim Studium der nlidhternen Tatſachen die Überzeugung gewann, daß Johann van Dldenbarnevelt nicht der Apoſtat und Volks— verräter gemwefen, wie ed den Kindern in der Schule gelehrt wird, fondern ein guter und großer Mann, welcher in bobem Alter der Herrſchſucht und Mißgunſt desjenigen Fürftenfindes zum Opfer fiel, das er felbit erzogen und geftüßt hatte: ded Prinzen Mauritd von Dranien.

Den großartigen Stoff bat Verwey Flug und marfig bearbeitet. Meifter-

218

haft ift die Szene, in welcher der alte Mann ald Beflagter vor feinen Richtern erfcheint, um fie, dank feinem impofanten Auftreten, ald Anklaͤger zu verlaffen. Meifterbaft auch ift die Geftalt von Dldenbarnevelts Frau, die, wie ed und die Gefchichte übermittelt, dad Gnadengeſuch, welches Mauritd in nerodfem Schuldbewußtfein von ihr erwartete, und das er aud) fiher bewilligt haben würde, nicht einreicht, weil der, welcher um Gnade bittet, ſich gleichzeitig zu einer Schuld befennt. Dies find große dramatifche Geftalten und Situationen, an denen unfer modernes Theater wahrlich nicht allzu reich ift. Die Mängel des Stüuͤcks liegen in erfter Reihe in der berben, oftmals gefünftelten Diftion. Verwey fehreibt niemals fehr einfchmeichelnd; und da, wo ed ihm darum zu tun ift, feine umfangreihen gejchichtlichen Kenntniffe in kurze Dialoge und reimlofe Verfe zufammenzudrängen, wird der allzu bequeme Lefer oder Zuhörer der heutigen Zeit auf eime barte Probe geitellt. Ferner wird den vielleicht unbegründeten, aber darum doch nicht prinzipiell abzuweiſenden Forderungen eined modernen Theaterpublifums nicht im mindeften Rechnung getragen. Ein raſcher Wechſel von ganz furzen Szenen, in welchen oftmals nur ein paar Worte geſprochen werden, ift nicht dazu angetan, die Aufführung zu erleichtern oder die Zuhörer zu fefleln. Verwey bedenft nit, daß, wie Hebbel jagt, dad Stüd bei jeder neuen Szene für den Zufchauer von neuem beginnt.

Das Drama „Zafoba von Bayern“, das viel fpäter gefchrieben wurde, ift nicht von folch gewichtiger hiftorifcher Bedeutung. Es rückt nicht befannte Figuren in ein unerwartet neues Licht, ed ift weniger marfig und Flug aber es ift anziehender und auch mit größerm technifchen Geſchick gefchrieben. Die Epoche das Mittelalter in den Niederlanden die weiter zurückliegt und in ſchoͤnerm, romantifhem Licht erfcheint, macht einen großen Zeil des Reized aus, die Sprache ift fliegender und melodiöfer, und aus den Situationen fpricht eine heißere Leidenſchaft. Auch bier ift der Stoff wunderreih. Jakoba, die mit ihrem umerbittlihen und gewiffenlofen Onfel Philipp von Burgund um die gräflihe Herrichaft uͤber die Niederlande fämpft, und die dad Haupt einer der beiden Parteifchaften bildet, die unjer Land zerreifen, verliebt fid) nah drei unglüclihen Ehen in ein Haupt der feindlihen Partei, Frank von Borfelen. Und da das Volk diefe heilbringende Verbindung vorber- fiebt und ihr, die dad Ende des unglüdfeligen Buͤrgerkrieges bedeuten würde, entgegenjauchzt, wird van Borfelen von Burgund gefangen genommen, während diefer Zafoba nur zwifhen dem Mann, den fie liebt, oder der Grafſchaft, welche fie befist, und die er begehrt, die Wahl läßt. Und Jakoba sieht die Liebe der Macht vor. Bot die Gefchichte jemald einen fchönern und würdigern Stoff zu einem großen Drama? Schon durch diefe Wahl erweiſt ſich Verwey als der echte Dichter. Und auch in mancher der Sienen. Aber wiederum zeigt es ſich klar, daß er nimmer dem Blick eines Theaterpublikums getrotzt hat, daß er nicht weiß, wodurch es gefeſſelt und angezogen, wodurch es gelangweilt und verſtimmt wird: Beinahe niemals wird in ſeinem Drama der Seelenzuſtand durch den Sprechenden ſo ſcharf

219

ind Licht gerüct, daß der Zuhoͤrer an dem Konflikt feinen innigen Anteil nimmt. Die Bilder jind ausnahmslos zu bündig, zu fragmentarifch, zu flüchtig; dad Ganze verrät den Lyrifer, der zwar zu dem wirflichen Leben zurückgekehrt ift und mit der großen Menfchheit fühlt, der aber durch diefe Menfhheit noch nicht in innigem Kontakt gereift und geftäblt ift, der für ihre oft findlihen Forderungen noch nicht empfänglic geworden ift und fich ihrem mangelnden Verftändnis anzupaffen fügen vermag.

Aus dem Manuskript übertragen von Else Otten

Adam und Eva) von Thriftian Morgenitern

dam und Eva ftehen an dem Baum, aud dem ed ihnen rauſcht wie Zufunftätraum.

Aus dunklem Laube ziſcht der Schlange Witz: Wofern ihr eflet, fährt in euch der Blitz.

Und Eva blidt auf Adam wie gebannt, und Adam blidt auf Eva unverwandt.

Und wie die Augen ineinanderruhn, da müffen fie das Ungeheure tun.

Sie hebt den Arm und biegt den Zweig zu ihm. Bon ferne bligt dad Schwert der Cherubim.

Er wählt den fchönften Apfel totenbleid. Und beide effen von der Frucht zugleich.

Bon ihrer Seele finft der Unfchuld Flor. Es wühlt die Flamme fi) der Scham empor.

Die Hände kreuzend überm Schoß, fo ſtehn fie da, die fih zum erften Male fehn.

Und Zwieſpalt, ob er gehn, ob bleiben fol, verwirrt fie, jeden, jüß und wehevoll.

Da fällt ein großer Schatten über fie —. Und zitternd wendet fich zur Flucht ihr Knie.

Der Fall Brahm

ieber Herr Zacobjohn, L als ich in der „Zeit” den Fall Hauptmann beſprach, habe ich in einer

Zwifchenbemerfung, ganz beilaufig, ein paar Worte fir Brahm gefagt, von dem ich glaube, er werde jeßt weit über Gebühr gefcholten. Sie waren fo freundlih, meine Anſicht vor Ihren Leferfreis zu bringen, und haben ihr eine ebenfo ausführliche als intereffante Entgegnung zuteil werden laffen. Wenn ic trogdem auch jegt noch überzeugt bin, daß an Brahm ein Unrecht geichiebt, fo erlauben Sie mir gewiß, diefe Meinung eben- falld vor Ihrem Leferfreid zu motivieren. Dad bischen Freude, das einem öffentlihe Wirffamfeit bringt, ginge ja fofort zum Teufel, wenn man nicht mehr fagen dürfte, daß man einen Unfchuldigen für unfhuldig hält.

Wir befinden und da in einem merfwürdigen Widerfpruch.

Ich halte „Die Zungfern vom Biſchofsberg“ für ein ganz ſchlechtes Stüd. Sie fanden manches an diefer Arbeit ſchaͤtzenswert, priefen, unter anderm, eine Liebeöfjene, die „ſchoͤner und ſchlichter nicht zu denfen, nicht zu dichten“ fei. Dennod bin ich es, der Brahm verteidigt, während Sie ihn anlagen.

Nach meiner Auffaffung gäbe es für Brahm gar feine Milderungsgruͤnde. Nah Ihrer Kritif müßten dem Direftor des Fefling-Theaterd doch einige mildernde Umftände zuerfannt werden. Man könnte etwa für Brahm an- führen, er fei wie Sie von ber Fiebeöfzene entzüct, fei von der „zarten Stimmungsfunft ded Poeten“, von der „durch und durch perſoͤn⸗ lichen Sprade diefer Menfhen” wie Sie berührt gewefen. Man fönnte entfchuldigend anführen, er habe niemals einen fonderlihen Sinn flır Humor gehabt, weshalb ihm die Wurftgefhichte gar nicht fo erbärmlic vor- fam, wie und. Ein Direktor, der ein Stüd aufführt, dad eine fo feltene, fo hohe Qualität befigt, wie jene Liebesfzene, die „ſchlichter und ſchoͤner nicht zu denfen, nicht zu dichten ift”, Fönnte bei dem furdtbaren Mangel an ſchlichten, ſchoͤnen Liebeöfzenen in unfrer neuern dramatifchen Literatur feibft vor dem ftrengften Nichter noch Anſpruch auf Gnade erheben. Den- noch verurteilen Sie ihn ohne Erbarmen, ohne ihm einen mildernden Um- ftand zuzubilligen. Während ic, der ich das ganze Stüd, Szene für Szene unerträglich finde, Brahm ohne weiteres dem Freifprucd empfehle.

Ich habe inder Zeit” einfach gefagt, das ſchlagende Argument des Premieren- ffandald, mit dem jeht nachträglich alle fo bequem und unwiderſprechlich bantieren, habe Brahm nach der Leftüre des Manuffriptd noch nicht ins Treffen führen können. Deutliher: Er konnte allerdings erflären: „Das Stud wird durchfallen.“ Aber Hauptmann mußte das nicht glauben. Er fonnte allerdings fagen: „Es wird einen Sfandal geben”. Aber dad wäre eben nur eine bemeislofe Empfindung Brahms, wäre nur eine Prophezeiung gewejen. Hauptmann brauchte fie nicht für richtig zu halten, brauchte ſich, wenn ihn fonft feine innere Regung veranlaßte, auf Brahm zu horchen, durch folhe Bedenken nicht überzeugt fühlen.

221

Brahm fonnte dad Stud dann ablehnen. (Sie fagen, er war ver- pflichtet, es abzulehnen.) Schön. Nur ift es nicht möglich, bei folchen Angelegenheiten dad Menfhlihe auszufchalten. Menſchlich genommen, darf man vermuten, daß Hauptmann in diefem all gegen Brahm verftimmt gewefen wäre. Iſt er außerdem von orthodoren Anbetern umgeben, dann wer Brahm, der einmal Lob und Dienft verweigerte, gar leicht verdächtigt, er wolle jegt andern Göttern opfern. Und Hauptmann bätte fi) nur noch rafcher entichloffen, zu Reinhardt zu geben, zu dem es ihm ja feit das „Friedensfeſt“ in den Rammerfpielen war nicht an Beziehung noch an Lockung feblte.

Sie jagen, Neinhardt hätte niemald ein Stüud, da® vorber von Brahm abgelehnt wurde ... . und fo weiter. Abgeſehen davon, daß Rabbi Afıba darauf eine Antwort wüßte, ift doch alled, was Sie daran fnüpfen, nur Hypotheſe. Da darf ih wohl auch meine Vermutung audfprehen. Denn Tatfachen liegen ja nicht vor.

Ic fage: Meinhardt hätte „Die Jungfern vom Biſchofsberg“ genommen. Er mags beute leugnen. Er bätte ed getan und ſich damit den Anfprud) auf dad naͤchſte (hoffentlich beſſere) Stüud von Hauptmann vertragsmaͤßig gefihert. Sonft wäre er ja nicht der Eluge Reinhardt. Er hätte das Stuͤck vielleicht in die Kammerfpiele gebracht, um ed dort, vor einem Fleinen, gewählten Kreis, gegen den ärgiten Sfandal zu ſchuͤtzen. Freilich, einen Durdfall hätte es auch bei Reinhardt gegeben. Davon bin ich ebenfo über- zeugt wie Sie. Aber bei Reinhardt märe nicht jo viel Speftafel, wäre alles fanfter und ftiller geweſen.

Sie fragen: „Wie hätten dann die beiden Direktoren dageftanden?” Und meinen, Brahm hätte dann in der Glorie feiner Hberzeugungäfraft geleuchtet. Ad, du lieber Gott. Für wen? Kür zwei, drei Menfchen, die näber zuſehen. Es hätte nicht an Stimmen gefehlt, die dann laut genug, erflärt hätten: Brahm ſei doch verpflichtet gewefen, flr Hauptmann dad Außerfte zu riöfieren. Man bätte ihm feine Sudermann- und Fulda-Epifoden noch ganz anders zu ſchmecken gegeben; bätte gefagt, Hauptmann babe dad Recht gehabt, auf feinem eigenen Boden, vor feinem angeftammten Publifum zu fallen, wenn er fhon fill. Man hätte fogar behauptet, dem Stüd wäre ed im Lefjingtheater mit Baffermann (ja! mit Baffermann . . .) vielleicht beffer ergangen. Man bätte Brahm befchuldigt, er babe dem „Geſchaͤft“ zuliebe feinen vielverdienten Hausdichter ermittiert, er babe die Sache, die er fo lang vertreten, aus Kaffenangft im Stich gelaffen und fei den Weg

aller Schlenther gegangen.

Draß man ibm ald einem flarfen Charafter Ovationen gebracht hätte, weil er ein Stüdf von Hauptmann abgelehnt bat, erlaube ih mir zu bejweifeln. Sie felbft bätten ja Brahm das Wort geredet. Das nehme id) nah Ihren Audflhrungen ald gewiß an. Etwa nod zwei, drei andre. Aber fonft ... fonft find alle, wenn irgendwo eine charakterfchöne Tat unter Opfern vollbracht wird, ungeheuer nobel, nehmen das flr felbft- verftändlich und reden gar nicht weiter davon.

222

Brahm war in einer fchlimmen Lage. Die Leute hätten gefagt: Jetzt bat ihm der Reinhardt auch noch den Hauptmann meggefhnappt. Sie bätten gefagt: Neinbardt bat dieſes ſchlechte Stuͤck gefpielt, damit er die naͤchſten Stüde Hauptmanns friegt. Sie hätten gefagt: Das hat Neinhardt wieder ſchlau gemacht. Und hätten gefagt: Was wird der Brahm ohne Hauptmann anfangen?

Er war in einer fchlimmen Lage. Diefe Empfindung hatte ich, ald der Premierenffandal nah Wien gemeldet wurde; hatte fie nody mehr, ald ic) dann das trübfelige Luftipiel in der Buchausgabe lad. Dabei mußte ich nicht einmal, dag Brahm „Die Jungfern vom Biſchofsberg“ ſchon einmal abgelehnt, daß er die Mißratenheit des Werfes voll erfannt und ihm andert- balb Jahre die Bühne gemweigert hat. Das erfuhr ich erft aud Ihrem Ar- tifel. Und jest, feit ich dad weiß, fteht ed vollfommen feft fir mich, daß man Brahm Unrecht tut.

Er bat alfo alled aufgeboten, um den Freund, den Dichter, fein Theater und ſich felbit vor einer Blamage zu bewahren. Daraus gebt hervor, daß er fi zur Wehr fegte, daß er dann nicht anders fonnte, weil er zuleßt den Eindrud hatte: wenn ich jegt nicht nacdhgebe, bin ich in der Gefahr, mir felbft den liebften Freund, meinem Theater den widtigften Dichter zu verlieren. Brahm bat alio vor anderthalb Jahren „Mein“ gefagt? Nun wobl: feither kam das „Friedensfeſt“ in die Kammerſpiele. Und er hat ſich gefügt. Sie meinen, er fann bei der Annahme der „QJungfern vom Bifhofsberg” nicht an Reinhardt gedacht haben? Er hat nur an Reinhardt gedacht, am niemand andern. Und batte alle Urſache dazu.

For Entfhluß, dem Doftor Brahm die Augen zuzudrüden, fteht aber offenbar feſt. Ich will Sie daran nicht hindern. Sie fagen, er fei fertig. Vielleiht haben Sie Recht. Aus Ihrem Artifel gebt fir mid hervor, er fei im Sterben, und wir müflfen naͤchſtens um ihn trauern. Auch das ift möglih. Sch babe feine Luft, hier den Totenbefhauer zu machen oder Miederbelebungsverfuche anzuftelen. Tun Sie dody mit Brahm in allen übrigen Dingen, was Sie wollen. Ich bin nicht in der Nähe, kann aus folher Diſtanz über den Gefamtbefund, zu dem Sie gelangen, fein Urteil baben. War aud nie ein freund oder Anbänger Brahms, um jetzt weh⸗ leidig zu zucken, wenn Sie an feine Obduftion fchreiten.

Aber felbft, wenn ich nicht vieled an ibm bodhfchägen müßte, fäme id) in diefem Fall zu dem Nefultat: Hier geſchieht ihm Unrecht. Es leuchtet mir nicht ein, warum man diefed Stück, dad Gerhart Hauptmann gefchrieben bat, jegt hernimmt, ed ald Beil benugt, um Otto Brahm damit den Schädel einzuſchlagen. Es leuchtet mir nicht ein, warum man aus dem andertbalb Jahre lang befundeten Willen Hauptmanns, diefed fchlimme Stüd fpielen zu laffen, einen Strid drebt, an dem Brahm aufgehängt wird. Brabm war in diefer Sache fünftlerifh, menſchlich, war in allen Pofitionen der Schwaͤchere. Und für mein Rechtsgefuͤhl fällt hier die ganze DVerant- wortung auf Hauptmann.

223

Warum wird denn diefer Spieß, den man dem Doftor Brahm jeht fo unbarmberzig in den Leib rennt, nicht einmal auch umgedrebt?

Da ift ein Dichter, der einen Direftor gefunden bat, wie niemald noch in deutfchen Ländern ein Dichter einen Direftor hatte. Treu, anbänglic, ſchmiegſam und immer willig. Ein Direftor, deffen Glaube niemald wanfend wurde, auch nicht vor den ſchwaͤchſten, mißlungenften Werfen, die diefer Dichter ihm bot. Ein Direftor, der oft genug dem widerftrebenden Publifum dad Wollen diefed Dichters aufnötigte, oft genug mit feuchendem Atem, mit Sorge und Schwierigfeiten. Ein Direftor, der fi in guten und böfen Tagen als Freund, ald Verfteber, ald Agitator und old... Helfer bewährte. Und diefer Dichter vergilt all diefe Feiftungen nicht mit felfenfeltem Ver— trauen in das reine Urteil eines folden Mannes? Glaubt der Warnung des Freundes nicht aufs erfte Wort, von defien Ehrlichkeit er tanfendmal überzeugt fein müßte? Wird in feinem Selbftgeflibl nicht ftußig, wenn von folher Seite Kritif und Ablehnung fommt? Sondern „reicht“ einfach das einmal zuruͤckgewieſene Stuͤck „nochmals“ ein? Diefer Dichter zaudert nicht, in einem Augenblid, in dem „die Not am bödften und die Konfurrenz; am ſchaͤrfſten“ ift, ein ſolches Stuͤck durch die Wucht feiner Stellung auf eben diefe Bühne zu heben, deren Direktor er fo viel zu danfen hat?

Wenn wir von kuͤnſtleriſchem Ernft, von der Pflicht, fein Beſtes zu geben, ſprechen, müffen wir, glaub ich, beim Dichter anfangen. Würden es auch in jedem andern Falle tun. Mur bei Hauptmann . . nur bei ihm baben wir Brahm ald eine Art Prügelfnaben angeftellt, wie beim Prinzen den Blirgerjungen, der dann jedesmal gewichft wird, wenn Ge. Hoheit fhleht gelernt hat. Mur für Hauptmann haben wir einen „Werantwort- lihen” angenommen, einen Kurator. Als ob fein teure Haupt von der irdifchen Sorge des „Ausbadenmüffens” bewahrt fein folltee Und melde Macht, welhe Disziplinargewalt hat diefer Kurator uͤber die Entfchliegungen, die er vertreten muß, welche, wenn ihm jahrelange Freundſchaft, innigftes Berftehen und aufopfernde Dienfte nicht den rechten Einfluß fihern fonnten? Gar feine.

Ich finde in Ihrem Artifel, da, wo Sie vom Publifum des Leffing- Theaterd reden, eine Unterfcheidung zwifchen Deutfchen und Deutfhen. Und ich finde, nicht nur bei Ihnen, in der ganzen Behandlung des Falles, daß man zwifchen Deutfchen und Deutfchen unterfcheidet. Ich finde, dag man ed den blonden Deutfchen fehr leicht, febr billig und fehr bequem madht. Waͤhrend man den nicht Blonden die ganze Strenge der bürgerlichen, der militärifhen und jeßt auch der Fünftlerifhen Gefeße zu foften gibt. Ich finde, daß man aus manderlei Inftinften, aus allzu frechen und aus allzu demütigen, aus mancherlei Quellen, die bloßzulegen mic) diesmal zu meit fübren würde, in eine unbaltbare Praxis gerät. Kurz und gut, ich finde es finnlos, wenn Hauptmann etwas verfchuldet bat, in den Ruf auszubrechen: Der Brahm wird verbrannt!

Gerhart Hauptmann darf wohl für ſich felbft verantwortlich gemadht

224

werden. Er ift alt genug, Mann genug, bat vom Ruhm und vom Schimpf diefer Welt genug erfahren, um zu wiffen, wo Rhodus liegt. Weiß ers nicht, dann fehlt feiner Künftlerfchaft dad Wefentlihe. Und feine Füͤrſorge kann ihm helfen. Der Dichter der „Zungfern vom Biſchofsberg“ hat unlängft erft erflärt, er fei „jederzeit bereit, vor fein Werf zu treten”. Er trete vor.

Felix Salten

ch babe diefen Brief mit derfelben Freude gedruckt, mit der ein guter T Staatdanwalt die wirffame Rede eines temperamentvollen Verteidigers

aufnehmen mag. Wenn nämlic) dieſer Staatsanwalt fein Streber ift, der fih durch die Erzielung hoher Strafen unten geflirchtet und oben beliebt machen will, wenn er fid) immer feiner einzigen Pflicht bewußt bleibt, der Pflicht, die reine Wahrheit zu erforfhen: dann wird ihm nicht weniger wichtig und mwillfommen fein, was zur Entlaftung, ald was zur Belaſtung des „Angeklagten“ dienen kann. Laffen wird rubig bei diefem Wort: es verliert, in der mildern Sphäre der Kunft, wo nicht feine Strenge, fo doch feine Anftößigfeit. Aber einigen wir und, bevor wir das Urteil fällen, wenigftens endgültig darlıber, weffen der Theaterdireftor Otto Brahm bier eigentlich angeklagt it. Ed will mir fcheinen, ald ob er gegen Vorwuͤrfe in Schuß genommen wird, die ich ihm nie gemacht babe; ald ob Momenten eine

außerordentlihe Wichtigfeit beigelegt wird, die den Kern der GSahe gar _

nicht berühren; ald ob Motive flr eine Handlung geſucht werden, die an und für fich, durch welche Motive immer hervorgerufen, unweſentlich ift und erft in einem größern Zuſammenhang eine Bedeutung erhält. Diefen Zus fammenhang haben wir verloren: Wir müffen ihn wiederfinden. Wir haben und ind Geftrüpp vager Hypotheſen und pfochologifcher Vermutungen vers iert: Wir müffen ind klare Neich aͤſthetiſcher Tatbeftände zurüd. Ich fäme mir nachtraͤglich recht fomifch vor, wenn ic) vierzehn Seiten meines Blattes an die Loͤſung ded Welträtfeld gewandt hätte: Ob Brahm Hauptmann neues Stüd hätte ablehnen follen, und aus welchen Gründen er ſich ſchließlich für die Annahme entfchieden hat. Die Frage ift, erftend, von erheblicher Neben- ſaͤchlichkeit. Sie fann, zweitens, nur beſchwatzt, nicht beantwortet werden. Sie ift, drittens, von mir niemald aufgeworfen worden. Ich habe es, vor vierzehn Tagen, beängftigend genannt, daß jenes Stud zur Aufführung gelangt if. Ich habe Brahm gewarnt, fo weiterzuarbeiten, wie er es feit Beginn dieſes Spieljahre tut. Ich babe beflagt, daß in feinem Haufe nichts, nichts und abermals nichts gefchieht. Ich habe gefragt, ob wirklich fo unrühmlid enden fol, was fo berrlich begann. Mit einem Wort: Die Aufführung der „Jungfern“ ift flr mic nichts ald der Punft auf dem J, ift für mich nur der Auferlichite Anlag gewefen, Brahms ganze Finftlerifche Situation zur Disfuffion oder, wenn ihr wollt, unter Anflage zu ftellen.

225

Bevor ich aber zu diefem einzig faßbaren Inhalt unferd Prozeſſes zus ruͤckkehre, möchte ich zwei kleine Mißverftändniffe befeitigen, die fich bei unferm abwegigen Gerede eingefhlichen haben. Es gefhieht lediglich im Intereſſe einer winfchendwerten literarifchen Korrektheit und kann fehr ſchnell gefchehen. Zunaͤchſt habe ich nirgends behauptet, daß Brahm Hauptmanns Stück „ſchon einmal abgelehnt und ihm anderthalb Jahre die Bühne geweigert bat“. Ich babe nichts weiter gefagt, ald dag Hauptmann „damals fein Luftfpiel zuruͤck⸗ gezogen” hat. Nicht einmal zwifchen der Tatfache, gefchweige denn der Möglichfeit, daß Brahm dem Dichter feine Anficht über das Stuͤck unum⸗ wunden ausgeſprochen, und der zweiten Tatfache, daß Hauptmann es zurlice gezogen bat, bätte id einen Kaufalzufammenbang berftellen fünnen. Ich babe abſichtlich alles offen gelaflen. Vielleicht hatte Hauptmann „damals“ genügend Selbftfritif. DVielleiht waren ed andre Freunde, die ihn be- ftimmten. VBieleiht . . . Der Reiz, zu fombinieren, fcheint doch mächtig. ©ei ein Mann und gib ihm nicht wieder nah. Komm zur Sache, nach⸗ dem du von jenen zwei Fleinen Mißverftändniffen aud) dad zweite befeitigt baft. Dies ift nicht fowohl eind, wie ed eind werden fünnte. Es Flingt naͤmlich wirflich wie ein Widerfpruch, daß ich an den „Zungfern vom Bifchofß- berg“ mehr Fichtfeiten ald alle übrigen Kritifer entdeckt und troßdem fo ein» dringlich wie fein andrer gegen die Aufführung proteftiert habe. Aber es flingt auch nur fo. Wer weiß, wie Kritiken entftehen, und was ein Drama aufflihrenswert und auffübrbar macht, wird bier feinen Widerſpruch emp⸗ finden. Ich fhäge an einem Stud von hundertflnfundzwanzig Seiten eine Liebeöfzene von drei Seiten und ein paar Eigenfchaften, die auf der Buͤhne verfliegen. Ich würde feine Faͤlſchung begehen, wenn ich diefe Dinge über- haupt nicht erwähnte. Denn dad Ganze enticheidet, und das Ganze ift nicht zu retten. Aber ich erwähne alle jene Einzelheiten und unterftreiche und ruͤhme fie, weil ih, in Wien und in Berlin, nad Kräften ein Gegen- gewicht gegen die ſchadenfrohen Goldmänner diefed und andre Namens bilden moͤchte. Vollkommene Objektivität ift, in der Kunft wie im Leben, ja doch ein unerreichbared Ziel. Alfo ift ed ebenfo erlaubt, zu einem guten Zwed die paar Vorzuͤge eined ganz mißratenen Dramas zu übertreiben, wie es erlaubt ift, foldhe paar Vorzuͤge vollftändig zu vergeflen, fobald ein Mann wie Bahr ed für eine Tapferfeit erflärt, jenes Drama aufzuführen.

Ich bin ja jegt wieder in einer ähnlichen Lage. Ich finde, dag „Mieze und Maria”, Georg Hirſchfelds neue Komödie, viel zu nachſichtig behandelt worden if. Vom Publifum wie von einem Teil der Kritik. Ich kann beide nicht einmal fchelten. Denn ich bin lberzeugt, daß bei ihnen, im der Erinnerung an Hirſchfelds zablreihe und ſchmerzhafte Mißerfolge, ähnliche Empfindungen vorgemwaltet haben, wie im Fall der einen Hauptmannſchen

226

Miederlage bei mir. Nur bin ich wiederum damit jeder Nüdjicht über- hoben. Wenn idy mir ſchon vorbalten muß, daß bier einem Dichter fein Recht nicht geworden ift, fo ift das diedmal doch anderd gemeint. Hirfch- felds Stuͤck gehört nicht ind Feffing-Theater. Es ift nicht wert, von foft- baren Künftlern flır einen Abend halbwegs erträglic; gemacht zu werden. Es ift fpottfchleht und noch fchlechter, weil ed Anfprüche erhebt. Ein un- ebelihes Kind foll im vierzebnten Jahre von feiner armen Muter umd feinen fieben Halbgefchwiftern weg in die Grunemwaldvilla feines fonft finder- ofen Vaters verpflanzt werden. Aus der Wahrſcheinlichkeit, daß es ſich dort totunglücdlih fühlen und fchleunigft nah Panfow zunüdfehren wird, find alle diejenigen derbfomifhen Effekte geholt, die ehedem unferm alten PArronge nabegelegen haben. Auch feine Sentimentalität ift wieder in Kraft und um einen Grad ranziger geworden. Andre fhäßbare Qualitäten baben fih dem Nachfahren vorläufig verfagt. Er bat noch nichts von PArronges zuverläffiger Bretterfeftigfeit. Er verzichtet ganz auf die Kon- traftwirfung, die aus der pankower Werkſtaͤtte eines ſiebenfach gefegneten Tifchlerd zu bolen wäre und muß folhe unangebrahte Vornehmheit damit büßen, daß wir und in dem ewigen Einerlei feines billigen Bühnen- reichtums fchredlich langweilen. Wenns menigftend noch Couplets gäbe! Sie find leider nicht mehr Mode und werden heute durch eine differenzierte Charafteriftif und ähnlihe Komddienelemente erfegt. Der Vater der Mieze und Maria ift nicht ald Poffenfigur, fondern ald ein bumoriftifch geſehenes Menfhenfind gedacht. Diefer Wendelin vernadhläffigt über feinen no” biftifchen Kunftbeftrebungen und feinen Streifzigen hinter die Kuliffen feine finderlofe Frau Sybille. Ald ihm dad Kind jener Zugendliebelei ind Haus fommt, baben felbft fo entfernte Muttergefübhle die Macht, Spbillen für ihn zu verfchönen. Er verliebt fih in fie und wird nod einmal Vater werden. Auch ihn macht ein Abglanz beffer und fehöner. In alledem ſoll er ein komiſcher Kauz bleiben. Diefe Mifhung tft Hirfchfeld durchaus mißlungen. Sein Wendelin ift abwechfelnd und ganz getrennt Trottel und Menfh. Wenn er das eine ift, find ihm weder die Worte noch die Re- gungen des andern zujutrauen, und umgefehrt. Wie er fi) mit einem blutd- und wefensverwandten Grafen und gegen feinen Sefretär benimmt, ift er gar nicht imftande, die Wandlung feiner rau auch nur zu bemerfen, noch viel weniger, ſich von ihr anfteden zu laffen. Der Zwiefpalt ift fo ſtark, daß ih jebt, beim Schreiben doch wieder zweifelhaft werde, ob ih Hirſchfeld nicht zu feinen Gunften Charafterifierungsabfichten, wenn auch erfolglofe, unterfchiebe, wo er nichts tut, ald eine baltlofe Figur dem Bedürfnis jeder Situation anzupaffen. Was fonft in dem Stüd berum- läuft, Fönnte diefen Verdacht beftärfen. Wendelins Tochter, das Titel-

227

find, bat vom Mater die bequeme igenfchaft, entweder unvergleichlich dummer oder unvergleichlich Flüger zu fein, ald ein berliner Mädel von vier- zehn Jahren zu fein pflegt und vermag wie ed der Autor gerade braucht, Dabei find diefe beiden Januskindskoͤpfe lebendig im DVergleih zu ibren mebr oder minder epifodenbaften Angebörigen und Lehrern, und fie find geradezu genießbar, gehalten gegen Herrn Joſeph Lindigfeit. Diefer Privat» fefretär aus der Gegend hinter Pofen trägt nicht nur dad taufendjährige Elend feined Stammes, fondern fagt dad auch und fagt ed fo. Was immer er fpricht, ed ift Gänfefhmalz und macht Antifemitismus. Wenn das Stud fonft lebensfaͤhig wäre er wäre des Stüdes Tod. Es ift nicht wert, von foftbaren Künftlern für einen Abend halbwegs erträglich gemacht zu werden. Es gebört nicht ind Leffing-Theater.

Es ift von den fünf Stüden, die Brahm in diefem Winter aufgeflhrt bat, das fünfte, das er nicht hätte aufführen follen. Dabei ift nicht an das Geſchaͤft gedacht, dad ein paar von diefen Stüden vielleiht gemacht baben. Wenn Brahm damit zufrieden ift, trivial herumzuerxiftieren, feine Pacht zu zahlen und flr die Theaterfunft Berlins langfam belanglod zu werden, fo fällt allerdings alles in fi zufammen, was ich über ihn gejagt habe. Um ihm das zuzutrauen, Dazu ſchaͤtze ic) ihm zu hoch. Weil ich ihn fo fehr hoch fhäße, darum babe ich ihn mit den ftärfiten Worten befhmwören zu follen geglaubt. Ich habe Brahm zwar nicht aufgehängt, ihm vorber nicht den Schädel eingefhlagen und ihm aud nicht die Augen zugedrückt und bätte, wenn mir fchon nach dergleihen der blutige Sinn ſtuͤnde, dazu doch niemals die einzelne Aufführung eines noch fo ſchlechten Hauptmann» fhen Stüded ald Vorwand benugt. Wohl aber habe ich ibn, nad einem beiſpiellos fterilen Spieljahr, neben dem die traurigen Vorgänger beinahe wieder Glanz und Fülle gewinnen, „fertig” genannt, Warum? Schließlich) ſchreibt man ja nicht, um weißed Papier unbrauchbar zu machen, fondern um auf ein paar wertvolle Menfchen zu wirken. Einer meiner wertvollften Leſer ift Brabm. Für ihn vor allen babe ich feine Fünftlerifche Lage ald fo traurig dargeftellt, daß es fi wie ein Mefrolog ausnehmen konnte. Mage immerhin naiv und optimiftifch Flingen: Er follte erfchreden. Sollte zum mindeften flußig werden, wenn ein freund feine® Weſens und feiner Be— ftrebungen, der die großen Worte längft nicht mehr verfchwendet, ſolche Ausdrücde gebrauchte. Sollte ſich befinnen und follte trotzen. Als fein Ibſen auf dem Sterbebette lag und Frau Suſanna in angftvoll heucheln⸗ der Liebe dem Gefährten ihres langen Lebens vorfpiegeln wollte, er werde wieder ganz gejund da fam aus Ibſens Munde nur ein einziged Wort: Tvaertimod! Nun gerade nit! Ich habe Brahm auf ein Sterbebett ge- legt, habe behauptet, daß er nie wieder gefund werden koͤnne, und wäre

228

überglüdlih, von ihm ein fräftiged Tvaertimod! der Tat zu hören. Denn darüber muß er ſich klar fein: So gebt ed nicht weiter. Wenn unfer fcherzbaftsernfted Gerichtöfpiel doch einmal fortgeführt und mit einem Urteil befhloffen werden foll, dann darf diefed Urteil nur diefen Inhalt haben:

Im Namen der Kunft! Der Angeklagte Otto Brahm, Direftor des Leffings- Theaters zu Berlin, wird fhuldig befunden, in dem Theaterjabr 1906/7 feine Perfönlichkeit bis zur Unfenntlichfeit verftellt zu haben; in fieben langen Wintermonaten nichts geleiftet zu haben, mas feined guten alten Geiftes auch nur einen Hauch bätte verfpuren laſſen. Brahm ift überführt: von Sudermann ein fehleimig-juvenalifches Stuͤck, wie aud der Hinterlaffenfchaft Neumann Hoferd, gefpielt dem Dichter Herbert Eulenberg, zu feinem Schaden, ftatt feines buͤhnenſicherſten fein buͤhnengefaͤhrlichſtes Drama auf- geführt durch eine zuckrige Derdfatire Ludwig Fuldad und um einen fhönen Abend unſers Lebens, das Theater ded Herrn Schmieden um dreißig ziemlich, volle Häufer gebraht den Dichter Gerhart Hauptmann mit feinen „Jungfern“ dem allgemeinen Gelädhter und Mitleid audgefegt Georg Hirfch- felds neue Komödie einem fogenannten Bolfätheater entzogen zu haben. Brahm iſt weiter überführt: von Hauptmann nichtd ald den „Fuhrmann Henſchel“, von Ibſen nichts ald „Hedda Gabler” und „Wenn wir Toten erwachen“ neu» aufgenommen und ohne befondere Sorgfalt, ohne gewohnte Siegbaftigfeit ausgeflihrt zu haben. Brahm bat, dad wird ohne Beweis unterftellt, DVer- pflihtungen gegen dad Kunftleben Berlins, die fid) daraus herleiten, daß er ein wichtiges Theatergebäude und eine Anzahl unvergleihliher Schaufpieler jeder andern Beſtimmung fernbält. Er bat gegen feine Schauſpieler Verpflichtungen, die fid) aus dem heißen Spieltrieb und der genialen Spiel» fäbigfeit diefer Männer und Frauen herleiten. Er bat gegen die lebenden Dramatifer Verpflichtungen, die ſich aus feiner literarischen Vergangenheit, aud dem fulturellen Nebenzweck eined großen Theaterd, aus den Ent» wicklungsnoͤten diefer Dramatifer und aus unfern fünftlerifhen Beduͤrf⸗ niffen berleiten. Daß Brahm im abgegangenen Theaterjahr diefe feine Ver⸗ pflihtungen in ungewoͤhnlichem Grade vernadhläffigt hat, ift zwingend bewiefen, Ed wird ihm zur Buße auferlegt, im fommenden Spieljahr mit verdreis fachtem Eifer an die alte und immer wieder neue Arbeit zu geben. Es wird ibm auferlegt, den ungenußten oder doch zu wenig genußten Kräften feiner einzigartigen Menfchendarfteller freien und weiten Spielraum, im woͤrt⸗ lihiten Einne, zu geben. Es wird ihm auferlegt, den verbeißungsvollen Werfen unbefannter Namen tiefere Achtung zu beweifen ald den leeren Jahres⸗ lieferungen müder Modedichter. Es wird ibm auferlegt, über der zufunftd- trächtigen Gegenwart die gegenwartsnahe Vergangenheit nicht zu vergeffen. Das alled wird Dito Brahm auferlegt. Im Namen der Kunft!

220

Nomen und Julia auf dem Dorfe/ von Hand Warbeck

ährend des ganzen Abends wurde ich die Erinmerung an „Fruͤhlings

Erwachen“ nicht los. Hier wie dort ein blutjunges, faum dem

zarteften Kindesalter entwachſenes Fiebeöpaar, dad unter dem Jwang einer füßen Seligfeit dem unentrinnbaren Tod in die Arme treibt. Hier wie dort ftatt des leifeften Verſuches einer dramatifhen Verwicklung eine Neibenfolge von Szenen, die felten länger dauern, als flnfjehn Minuten. Und das alles gefeben durch einen Nabmen, der Menſchen und Dinge aus der lebendigen Wirflichfeit entrüct in eine Spbäre ftarrer Traumbaftigfeit. Dad Mufifdrama des Herrn Frederif Delius, das eine geheimnisvolle Hand über Nacht in ein Idyll verwandelte, hält mit Bewußtſein alle bewegenden Momente von fi fern. Mit Ausnahme des väterlihen Streits, der zu der Kinder Liebednot den Grund legt, und des Anfalld, den der beleidigte Liebhaber auf den Vater der Geliebten unternimmt, ift jeder Fortfchritt der äußern Handlung binter die Szene verlegt. Von dem Anbandeln und Fortipinnen ded Rechtsſtreits erfährt man nur durch Hörenfagen. Daß Vrenchens, von Sali halbtot gefchlagener Vater ind Spital gebradyt wird, fiebt man nicht auf der Bühne, Vrenchen erzählt ed und. Vor der in Ausſicht geftellten Audtreibung aus dem väterlihen Haus fällt der Vorhang ebenfo pünftlich, wie er fih fchonend fenft, ebe die Liebenden ihren länd- lichen Liebedtod Durch Verfenfen des Kahns vollziehen. Damit noch nicht genug, faßt der ſchwarze Geiger zu Anfang des letten Bildes nod einmal zufammen, was wir in den vworbergebenden Bildern umftändlich gefeben haben. Mit diefer faſt ängftlihen Umgehung auch der geringften Aftion läuft eine idpllifche Sorglofigfeit in der Durchführung der Perfonen Hand in Hand. Soweit fie in jedem Bild leibhaftig auftreten, find fie nicht in Beziehungen zu einander gejegt. Meift aber verſchwinden fie ſchon nad) der erften Viertel- flunde. Auch zwifchen dem Fiebedpaar fommt ed zu feinem greifbaren Vor- gang: von links tritt ed Hand in Hand auf, fieht fi einige Minuten lang in die Augen und gebt in derfelben Verfaffung rechts wieder ab. Nur der ſchwarze Geiger wuͤhlt die trägen Waffer reiner Stimmungs- macheret etwa® auf. Er iſt die idee fixe, die bebarrlih durch den bunten Wechſel der Szenen Elingt. Wie er vor Anfang des Stüuͤckes war, fo lebt er nach feinem Abfchluß weiter. Sein fchrilles Lachen, mit dem er fid) iiber feine innere Zerriffenbeit hinweghoͤhnt, behält noch Recht, als die Liebenden im Strudel des ſchimmernden Sees längft verfunfen find. Im ganzen alfo dad genaue Gegenteil eined Dramas. Und doch eine unerflär- liche, zwingende Wirfung, weil unter der fcheinbar regungslofen Oberfläche eine geheimnisvolle Strömung an das aufborchende Ohr des Hoͤrers rauſcht. In „Frühlings Erwachen“ war ed eine fozialetbiiche Frage, auf die immer wieder eine Antwort verlangt und gegeben wurde. In „Nomeo und Julia

230

auf dem Dorfe” ift ed die unter derjZodesbeftimmung, wie unter einer ippigen, aber verderblichen Sonne, doppelt heiß aufblühende, qualooll-felige Liebe zwiſchen zwei Menfchenfindern, die dad Herz unter einem füßen Bann bält. Ein nicht zu unterfhägender Beftandteil der Wedekindſchen Kinder- tragödie feblt allerdings: die ſchwuͤle Erotif. Und doc märe es leicht gewefen, in dem glühenden Mohnfeld das gefhehen zu laffen, was in lockender Sommernacht auf dem Heufchober pafliert. So aber gehen Sali und Vrenchen rein und unbefledt durd; das Stüd. Und nur einmal, am Schluß des vierten Bildes, fcheint unter den jauchzenden Rufen luftooll erregter Männlein und Weiblein fir einen Augenbli die Sinnlichkeit die Scranfen findlicher Zuneigung zu durchbrechen.

Der Mufif, die Frederik Delius zu diefer Stimmungsphantaſie gefchrieben bat, kann man nachruͤhmen, daß fie fi) dem Stil des Ganzen vortrefflid einfügt. Sie bat den füßen, weichen, Flagenden Ton, entwidelt ein paar ſehr fchöne, ausdrucksvolle Themen und Flingt aus einem Orcheſter, das alle Mittel einer modernen Polypbonie verwendet. Auf eine Charafteriftif der Perfonen ift mit Vorbedacht verzichtet. Der eine Vater fingt wie der andre, diefe wieder wie der ſchwarze Geiger und die Schar der lärmenden Vagabunden. Immer ift ed ausſchließlich das Liebespaar, das Sinn und Inhalt der Mufif bildet. Und auch fie find nicht Gegenftand der Ton- dichtung, fondern die Ausmalung der einen, einzigen Situation, in die fie ald Symbole hineingeftellt werden. Liebe, Liebe, und immer wieder Liebe: dad ift dad Thema, dad der Komponift mit fouweräner Verachtung der menjchlihen Stimme auf feinem Orcheſter ſpielt. Daß mit diefer Praris eine gewiſſe Monotonie erzielt wird, ift fiher. Ebenfo ficher ift aber aud, dag der Stimmungsdramatifer dasſelbe Recht bat, gehört zu werden, wie der Aftionddramatifer, Diefer packt mid) durd feine hinreißende Melodie und den Sturm der Vorgänge. Jener zwingt mid nieder durch der Ahnungen fügen Zauber. Gewinn aber trage ich fort aus beiden. Und das ift ſchließlich die Abfiht der Bühne. Die Zeiten, wo der „Taſſo“ ald undramatiſch galt, find zum Glüd längft vorüber. Auch in der Dper follte man Rüͤckſicht nehmen auf diejenigen, die den Genuß fuchen in feinen Senſationen.

Die Negie ded Herrn Gregor ift noch nie fo groß gewefen, wie in diefer Senenfolge, die ein Mindeftmaß der Nuancen verlangt. In der Ruhe die Bewegung zu geben, dad war die eined Meifterd wuͤrdige Aufgabe. Sehr fein bat Gregor den primitivslegendenhaften Charakter ded Werkes betont, indem er binter dem Vorhang noch einen blumenbefticten Rahmen aufbaute, in deffen vier Leiften die Szenen wie lebende Bilder erfcheinen. Damit ift dad Motto: „Kinder, hört die Gefchichte” gegeben, ift der ftiliftifche Dedel gefhaffen, den man bereit? hoch geftimmt zu einer märcdenbaften Erzählung auffchlägt. Won den ſechs fchlehthin vollendeten Bildern mache ic) das vierte nambaft, das von einer feltfam-bizarren Hyſterie ift, und das ſechſte, das mit Künftlerfchaft die verlorene Welt der Bagabunden mit dem Schoͤnheitsreich reiner, aufopfernder Fiebe Fontraftiert.

231

Das Mufikalifche hält fich diedmal auf der Höhe des Szeniſchen, oder ftebt doc wenigftens faum dahinter zurüc: was bei einer Bühne nicht ver- mwunderlich wäre, die im Vollgefühl eines neuen Stil dem alten Geſchmack feine KRonzeffionen maden will. Diefed Faktum fällt umfo ſchwerer ins Gewicht, ald die Deliusfhe Partitur die Ausfuͤhrenden vor Aufgaben fegt, die von dem Enfemble der Komiſchen Oper biöher noch nicht gelöft wurden. Was bis zum heutigen Tage dort erfhien, gebört entweder, wie „Fiqaros Hochzeit“, „Don Pasquale”, Zierpuppen” und „Parifer Leben”, ine Gebiet der Komifhen Oper, oder fällt, wie „Lafme”, „Carmen“ und „Tosca”, unter das lyriſche Drama, oder ift, wie „Hoffmanns Erzählungen”, „Corre- gidor” und „Gaufler”, aus beiden Gattungen gemifcht. In jedem Fall hatte man es ftetd mit der blanfen, ausgeprägten Melodie zu tun, unter der die Begleitung fein im modernen Sinne ausgeflalteted reiches Sonderleben führte. Mit „Romeo und Julia auf dem Dorfe” fteigt die junge Bühne zum erften Mal auf den Markt des Tages, in die Arena zeitgenoͤſſiſcher Kämpfe herab und erteilt einem Mann dad Wort, der ein fomplizierted, raffinierte, manch⸗ mal fogar uͤberladenes Orcheiter fchreibt, der an die mufifalifdre Sicherheit und die Ausdauer der Sänger die größten Anforderungen ftellt, der acht Jahre vor „Salome“ bereitd in unmittelbarer Mäbe von Richard Strauß ftebt. Für ein Rieſenorcheſter von der Qualität unfrer königlichen Kapelle, die an den Werfen der Ultramodernen ihren Wig oft gebt hat, ift die Bewältigung einer folhen Partitur natuͤrlich ein Kinderfpiel. Fir ein Privat- orcheſter von regulär fünfzig Köpfen aber, das ſich eben erft eingefpielt hat, bedeutet fie eine wahre Spfipbud-Arbeit. Wenn fie trogdem gelang, fo foriht das ebenso fir die Initrumentaliften, wie fir ihren Rapellmeifter, Herrn Fritz Eaffirer, der bier zum erſten Mal eine glüdlihe Hand zeigte. Bon den Darftellern findet fih Herr Defider Zador am beften mit den ungewobnten Hinderniffen ab: man merft ihm an, daß er in den „Nibelungen“ zu Haufe ift. Vrenchen und Sali, das tragiſche Liebespaar, baben nur fhön zu fingen und lieblich auszuſehen. Fräulein Lola Artöt de Padilla tut das zweite in einem Maße, daß fchönbeitsdurftigen Seelen das Herz aufgebt. Herr Willi Merfel bemüht fih um dad erfte. Er entwidelt fi zu einem echten, rechten Heldentenor, der nur auf fein Mienenfpiel mehr Obacht geben fönnte. Von den übrigen, die durchaus ihre Pfliht tun, nenne ich den charafteriftifchen Vater des Herrn Arthur Fleifcher, eines jungen Künftlers, der im Auge zu behalten if. So vereinigt fi feinfte Infzenierungsfunft mit achtunggebietenden mufifalifhen Qualitäten zu einem refpeftheifchenden Ganzen, das vollfommen unabhängig davon ift, ob fi) dad Deliusſche Werk im Spielplan bält oder niht. Das Publifum und feine vom lieben Herr- gott beftallten kritiſchen Fuͤhrer fangen denn auch fhon an, die Genialität der Gregorſchen Regie anzuerkennen, obwohl fich feit dem erften Tage des Unternehmend nicht ein Pünktchen verändert bat. Daß es erft jetzt gefchiebt, dad, meine verehrten freunde, ift ein neuer Beweis fir den bodenlofen Tief ftand des neuberlinifhen Kunſtgeſchmacks!

232

Zum Bühnenfauft/ von Georg Altman

Der Prolog im Himmel

er „Prolog im Simmel“ ift, im Gegenfaß zum „Worfpiel auf dem 5 Theater”, dasjenige Vorfpiel zum Fauſt, dad bei feiner Auffübrung

fehlen dürfte. Wie wir ed allerdings gewoͤhnlich zu fehen befommen, ift ed der Gipfel der Unfunft: Der Herr lediglich eine Stimme aus den Soffiten (alfo wörtlihft ein deus ex machina); die himmliſchen Heer- fharen ein Wadhöfigurenfabinett; die drei Erzengel Heroinen im Flügelfleive. Diefer vielen fgenifhen Schwierigfeiten wegen hat man vielfach überhaupt auf den „Prolog“ verzichtet, wie am berliner Hoftheater. Aber fo ganz unldsbar fcheint mir diefed Problem doch nicht zu fein.

In den legten Jahren hat der Regiſſeur den Kunftmaler eher zu viel als zu wenig herangezogen. Man vergaß oft, daß dad Bühnenbild innerhalb einer Szene mit der weiterfchreitenden Handlung nicht immer Schritt zu halten vermag. Nur in den feltenften Faͤllen kann man dies durch wechfelnde Beleuchtung erzielen. Solch jeltener Fall fcheint mir der „Prolog im Himmel” zu fein. Es braucht bier Fein einziger Stellungswechſel ftatt- zufinden, ed braucht feine Bewegung gemacht zu werden, furz: der Schau- fpieler braucht Überhaupt nicht zu fpielen, fondern nur zu fpredhen.

Dicht hinter dem Vorhang hängt ein durchſichtiger Gazefchleier, der nicht ganz weiß fein darf, etwa bellgrau, um den Zuſchauern ſtets im Bewußtſein zu bleiben. Auf der Bühne felbit befindet ſich num ein balbfreisförmiges Gemälde (nah Art des Fortung- Himmels) auf möglihft diinnem Stoff. In der Mitte ded Gemäldes, doch mehr nad oben ald nach unten, mehr nad) links ala nad) rechts, find verfhwommen die überlebendgroßen Konturen der drei Erzengel zu feben; den übrigen Teil des Bildes nehmen, ebenfalls verfhmwommen, Wolfen ein. (Die „bimmlifhen Heerſcharen“ find ftumm, können alfo ald verdeckt gedacht werden, das beißt: fie fallen bei der Auf- führung fort.) Die Beleuchtung ift mattbell. „Der Herr“ wird durd ein Strablenbündel dargeftellt, dad nah links oben projiziert wird. Mepbifto erjcheint rechts unten ald Schattenbild, in Lebensgroͤße, während des Dialogs mit dem „Herrn“ mattfhwarz. Bei der Stelle: „Der Himmel fchließt, die Erzengel verteilen fi” verlöfcht das Strahlenbimdel, die ganze Bühne wird dunkler, damit die Erzengel noch mehr in den Hintergrund treten, während das Scattenbild Mephiſtos etwas größer wird und jegt ganz ſcharf bervortritt. So fpricht er die Schlußworte, und der Vorhang fällt raſch.

Die Scyaufpieler fteben, dem Publifum unfidhtbar, hinter ihren Emblemen. Die drei Erzengel müffen von Männern geſprochen werden und nicht, wie üblich, von Frauen. Ihre vier legten Zeilen fprechen fie auch micht „zu drei”, fondern Gabriel fpricht die erften beiden, Michael die dritte tief und Raphael die legte helljubelnd. Mephiſto fällt hier ganz raſch (ohne Atem- paufe) ein und bricht fo dem Jubel die Spige ab. Der Dialog fpielt fich

233

dann in rafhem Grundtempo ab und darf nicht Durch getragene Sprechweife (die auf den meiften Bühnen dad „Milieu Himmel” fennzeihnen fol) um feine dramatifche Wirkung gebracht werden. „Der Herr“ fprict eben „fo menfchlid mit dem Teufel felbft“, und Ddiefer muß befonderd bier darauf achten, daß er ald „Schalf am mwenigften zur Laft“ ift.

Der Erdgeift

er Erdgeift wird auf unfern Bühnen entweder als fprechende Statue

dargeftellt: ein phantaſtiſch gefleideter, möglihft großer Schaufpieler

(Mesper!) wird nah dem Fallen der Ruͤckwand auf einem Sodel fihhtbar, oder er erfcheint in der Mitte der Bühne aus einer Verfenfung, parallel mit Fauſtens Schreibtifh, dem Zuſchauer im Profil. Dder man verwandelt die Ruͤckwand in ein Trandparentbild ded Zeus von Dtricoli und läßt den Schaufpieler aus der Kuliſſe fprechen. Diefe zweite Inſzenierung ftügt fich auf einen Vorfchlag des fchon fehr alten Dichterd. Im Tert finden wir ald Negiebemerfung nur: „Es zudt eine rötlihe Flamme, der Geiſt erfcheint in der Flamme“; im Urfauft findet ſich nod der Zufaß: „tn wiederliher Geftalt”. Alle dieſe Inſzenierungen erfcheinen mir als Kinderſchreck.

Der Erdgeiſt als ſolcher intereſſiert mich uͤberhaupt nicht, und was mich nicht intereſſiert, brauche ich nicht zu ſehen. Was mich einzig intereſſiert, ift die Wirfung des Erdgeifted auf Kauft, und um diefe zu erfennen, muß ich Fauft voll ind Geficht fehen koͤnnen. Wie ift ed aber auf unfern Bühnen? Der gute Fauft ftarrt, wie ed die Inſzenierung verlangt, den Profpeft an und zeigt dem verehrlihen Publifum feinen Rüden, falld dieſes überhaupt auf ibn achtet und nicht in dad Studium des pbantaftifchen Erdgeiftfoftiims vertieft ift, oder fich fiber dad ewige Wadeln des Trand- parentbild8 ärgert. Wie ift dem abzubelfen?

Fauft fteht rechts vorn vor ſeinem Pult; er „erblidt dad Zeichen ded Erdgeiſtes“ und fpricht ſchließlich dieſes Zeichen geheimnidvoll aus. Es tritt eine ganz kleine ermwartungsvolle Paufe ein; Fauft fiebt fich gefpannt um. In dem Augenblick, wo er in die aͤußerſte rechte Ede des Zufchauerraums fieht, zuckt plöglic eine Sefunde lang eine helle Flamme ganz linfs oben aud dem Profjeniumsmantel bervor, begleitet von einem nicht zu lauten und nicht zu lange anbaltenden Donnerſchlag. Raum ift er verballt, ertönen die erften Worte des Geifted, alfo ungefähr fünf Sekunden nah dem Aufleuchten der Flamme. Gleich bei diefem Aufleuchten bat Fauft feinen Kopf berumgeworfen, ftarrt in die Höhe und gebt zwei Schritte auf die Flamme zu. (Er muß Jalſo nad) vorn geben und ftebt jet Dicht an der Rampe.) Bei dem erften Wort ded Erdgeifted bleibt er fteben, „abgemwendet”, das heißt: er läßt feinen Kopf finfen, fo daß er jegt gerade in den Zufchauerraum fieht. Bei „Meiner Sphäre” verfucht er wieder, die Erſcheinung ind Auge zu faffen, zuckt aber gleich zuruck („Ich

234

ertrag dich micht!”). Da febt der Geift von neuem ein und nun nicht mit monotonem, geifterbaftem Pathos, fondern vorerft mit ganz verbaltenem Grol. „Da bin ih” ift die erfte, „Wo bift du, Kauft?“ die naͤchſte Steigerung. Dann finft die Stimme wieder (denn Fauft ift überwunden) und gebt fchließlih in mepbiftopbeliihe Sronie über. Died ftachelt Fauft zu legtem Widerftand auf. Er nähert ſich fofort dem Geift wenige Schritte, wird fcheinbar beftärft durd) den breit zu fprehenden „Bericht“ (In Lebend- ) fluten .. .) und jubelt dann (nachdem er wieder ftehen geblieben ift): „Wie nab fühl ich mich dir!” Jetzt fegt der Geiſt zum erften Mal ganz ftarf ein. Bei feinem erften Wort weicht Fauft zurüd. Wenn er gerade vor feinem Pult angelangt ift, ertönt dad legte Wort („Nicht mir!“), begleitet von einem furzen Donnerfchlag, und Fauſt bricht mit dem Ruf: „Nicht dir!” zufammen. Paufe. So bat ſich Fauft nie von der Nampe entfernt, und dad Publifum ift durch nichtd abgelenft worden: der Geift bat nicht feine Perfon gezeigt, fondern feine Madıt.

Rusporlefheator

Brieffaften

m. 4. ber nein! Es ift eine dreifte Entftellung, daß bei den kuͤnf⸗ tigen Arbeiten Hauptmannd jeder einzelne Aft fofort nad) Entftehbung im Leffing-Theater aufgeflübrt werden wird. Nach wie vor werden zwiſchen der Vollendung ded ganzen Werfd und der Uraufführung durch Brahms Enfemble mindeftend zehn bis vierzehn Tage liegen.

Aragon. Gewiß, ed gibt heute Dramatifer, die an Shafefpeare „er- innern“, Der bemerfenöwerte Unterfchied zwifchen Natur- und Geiſtesgeſchichte ift aber der, daß in jener die Menſchen vom Affen, in diefer die Affen vom Menfchen abzuftammen fcheinen.

Bonus. Sie ſchreiben: „Schillerd Worte: ‚Bon der Schaubühne nur bören die Großen der Welt, was fie nie oder felten hören Wahrbeit, was fie nie oder felten feben, feben fie bier den Menſchen‘ diefe Worte finden in unfrer Zeit ihre fchönfte Erfüllung. Man denfe, welches Intereſſe jetzt von Hoͤchſter und Allerbödhfter Seite dem Theater zugewendet wird; man denfe an die fürftlihen Zuſchauer in ‚Sherlod Holmes‘, in der ‚Luftigen Witwe‘, im „Öufarenfieber‘ und in ‚Meißner PBorzellan‘!” Wir * Ihre Ausführungen wieder, ohne Ihnen fo ganz ruͤckhaltlos beiſtimmen zu koͤnnen.

235

Beantwortung einer Anfrage

ie fragen mid an, ob ich eine

Idee für Sie babe, eine Art Skine für Sie zu entwerfen, ein Schaufpiel, einen Tanz, eine Panto- mime oder fonft irgend etwas, dad Sie benugen fünnten, woran Sie ſich halten fönnten; meine dee ift un⸗ gefähr folgende: Legen Sie ſich Mas- fen zu, ein balbed Dugend Naſen, Stirnen, Haarbüfchel und Augen- brauen und zwanzig Stimmen. Wo⸗ möglich geben Sie zu einem Maler, der zugleich Schneider ift, und laffen fi eine Reihenfolge von Koftimen anfertigen, und tragen daflır Sorge, daß ein paar gute, folide Deforationen angeſchafft werden, Damit Sie, ineinen ſchwarzen Mantel gebüllt, eine Treppe binabfteigen oder zueinem Fenſter hin⸗ audfchauen können, um ein Gebrüll auszuftoßen, ein furzes, loͤwenhaftes, dies, fhwered Gebr, daß man in der Tat glauben fol, eine Seele brülle, eine Menfhenbruft. Auf diefen Schrei bitte ih Sie acht geben zu wollen, legen Sie Eleganz in den- felben, tönen Sie ihn rein und forreft beraus, und dann duͤrfen Sie meinet⸗ wegen mit der Hand nad) einem von Spuren Haarbüfheln greifen, um ihn doucement an die Erde zu legen. Soldyed wirft, wenn es grazidß ge- macht wird, fchauerlid.. Man wird denfen, Sie feien vor Schmerz dumm geworden. Um eine tragifche Wirfung zu erzielen, muß man zu den fomobl naͤchſten wie äußerft entfernten Mitteln greifen, das fage ich, Damit Sie ver- fteben, daß ed gut fein wird, jetzt Ihren Finger in Ihre Nafe zu ſtecken

236

unokpau

und mit demfelben tüchtig bin und ber zu grübeln. Mancher Zufhauer wird weinen, wenn er Died mitanfiebt, eine ſolche edle, düftere Figur, wie Sie find, fih fo unmanterlih und fläglicy benehmen zu fehen. Es fommt eben nur darauf an, was Gie dazu für ein Geſicht machen und von welder Seite ber Sie beleuchtet werden. Stoßen Sie doch Ihren Herrn Be- leuchter in die Rippen, damit er fid) ordentlih Mühe gibt, und vor allen Dingen, nehmen Sie Ihre Gefichts- zuͤge, Ihre Handbewegungen, Ihre Arme und Beine und Ihren Mund zufammen. Erinnern Sie fid) deffen, was ih Ihnen früher ſchon einmal gefagt babe, nämlich, Sie werden ed hoffentlich noch wiffen, daß es allein fhon einem fo oder fo geöffneten oder geichloffenen Auge moͤglich ift, die Wirfung der Furchtbarfeit, Schön- beit, Trauer oder Fiebe, oder weſſen Sie wollen, auszuuben. Es braudt wenig, um fiebe darzuftellen, aber irgend einmal in Ihrem gottlob wild» zerriffenen Leben müffen Sie ehrlich und fchlicht empfunden haben, was Liebe ıft und wie die Piebe ſich zu benehmen beliebt. So ift ed natürlich auch mit dem Zorn, mit dem Gefühl namenlofer Trauer, furz, mit jeder menſchlichen Empfindung. Beilaͤufig rate ich Ihnen, oͤfters in Ihrem Zim⸗ mer Turnuͤbungen zu machen, in den Wald zu geben, Ihre Lungenfluͤgel zu kraͤftigen, Sport zu treiben, aber aparten und wohlabgemeſſenen, den Zirkus zu beſuchen und ſich die Ma- ieren der dummen Augufte zumerfen, und dann ernſtlich darlıber nachzu⸗ denfen, mit welcher rafchen Bewegung Ihres Körperd Sie ein Juden der

Seele am beiten zu verfinnbildlichen vermögen. Die Bühne ift der offene, finnlihe Nahen der Didtung, an Ihren Beinen, lieber Herr, fünnen ganz beftimmte Seelenzuftände zum erfchütternden Ausdrud fommen, vom Geſicht und feinen taufend mimifchen Aufgaben, die ed bat, ganz zu ſchweigen. Sure Haare müffen Ihnen gehorden, wenn fie, um den Schred zu verfinn- lihen, zu Berg fteigen follen, damit ed den Zufchauern, den Banfierd und Spesereihändlern, grauft vor Ihnen. Nun find Sie alfo fprachlo® geweſen, baben in der Berlorenheit Ihrer Ge- danfen in der Mafe gegrübelt, einem unartigen und unbejonnenen Kind ähn« ih, und fangen num an zu fprechen. Aber jo, wie Sie dad tun wollen, frieht und zuͤngelt Ihnen eine gruͤn⸗ lichfeurige Schlange zum ſchmerz⸗ verzerrten Mund beraus, daß Gie felber vor Entjegen an allen Ihren Bliedern zu zittern ſcheinen. 1 Schlange fällt an den Boden und windet fi) um den friedlichen Haar⸗ büfchel, ein Schrei der Angft gebt wie aus einem einzigen Mund Durch den ganzen Zufchauerraum ; Doc) ſchon bieten Sie etwas Neues, Sie ftechen fi ein langes, krummes Meffer in das eine Auge, daß die Spitze des Meſſers, Blut herausiprigend, unten am Hals, in der Naͤhe der Gurgel, zum Vorſchein kommt; hernach zuͤnden Sie ſich eine Zigarette an und tun fo fonderbar gemütlich, als ſeien Sie über irgend etwas heimlich beluſtigt. Das Blut, dad Ihren Körper be— fudelt, wird zu Sternen, die Sterne tanzen imganzen Bühnenraum lockend, brennend und mild umber, Sie da— gegen fangen fie alle mit dem ge— öffneten Mund auf, um fie der Neibe nad verfchwinden zu madhen. Da= durch dürfte Ihre Schaufpielfunfteinen wejentlihen Grad von Vollendung er⸗ reiht haben. Da fallen die Sdufer der gemalten Deforation um, wie

fürdhterlihe Trunfenbolde, und be⸗ raben Sie. Nur eine Ihrer Hände iebt man unter dem dampfenden Schutt binaufragen. Die Hand be» wegt ſich noch ein bischen, da finft der Vorhang. Robert Walser

Ein Offizier derAcad&mie 18 im Juni 1897 Pollini fein abenteuerlich erfolgreiches Reben

ſchloß, erlebten wir es, daß feinstaffierer

Mar Bachur, allerdingd mit dem

Schriftfteller Bittong zufammen, den

wichtigften Direktionsſtuhl Nord-

deutfchlands einnehmen durfte. Seit dreißig Jahren ftand damald Bachur

im Dienft ded Theaterd. Er hatte ald

fleiner Kafjierer angefangen, batte

fi) dem ftetö eined braven Scild- traͤgers bedürftigen Pollini unentbehr⸗ lich gemadt, war vom Fleinften ge= ſchaͤftlichen Pöftchen zu immer höherer Verantwortung gediehen. Nun zeigte

Die ed fich, welchen Kredit ein pflichttreuer,

zuverläfjig fleißiger Mann auch an nicht Föniglihen KRunftinftituten ge— nieft. Man glaubte ihm, daß er alles Fönne: Bücher führen und Repertoires beftimmen; Billets verfaufen und Nollen verteilen; im Schaufpiel und in der Oper dad enticheidende Wort fprechen ; Empfinden und Wiffen durch Puͤnktlichkeit und Pflichtbewußtfein er- fegen. Bittong war damals ſchon ein Fränfelnder Mann, ſchwach an Ener- gie, bald der Untergebene Bachurs. Und nad feinem Tode, im Herbſt 1904, wurde Mar Bachur Alleinregent. Das bamburger, das altonaer Stadttheater und dad altberuͤhmte Pieblingätbeater- hen der Hamburger, das „Thölio“, fteben feitber unter feinem Szepter.

In diefen Tagen bat Bachur fein „vierzigiaͤhriges Bühnenjubiläum“ ge⸗ eiert, das heißt: den Tag, an dem ed vierzig Jahre ber find, daß er ge= ſchaͤftlicher Angeftellter eines Theaters wurde. Und die franzöfiiche Academie bat ihn zu ihrem Offizier ernannt!

237

Mer den Heinen, ſchmerbaͤuchigen Herrn fiebt, binter deffen aus einem kahlen Schädel bervorfpringender bru⸗ taler Stirn fid) immer große gefchaft- liche Projekte zu wälzen fcheinen, auf deffen breiten Lippen dad Genießen wohnt, und deffen ganzer Phyſiogno⸗ mie die Göttin der Pfiffigfeit ihren Stempel aufgedruͤckt bat, wer die Tätig- feit diefed klugen Menſchen in den legten Jahren beobadhten mußte, wird ſchwer erflären können, welcher Art feine Verdienfte um die Kultur und im befondern um die franzöfifche Kultur waren.

Ich habe ed mir hin und ber über- legt. Obne Ergebnid. Er bat freilich in feinem altonaer Stadttheater, eine lange Reihe von undeutfcheften Über⸗ feßungen aus dem Franzöfifchen fpielen laffen. Der alte Dumas, der alte Sardou mit feinen älteften Komödien gingen häufig über die Bretter, feit Bahur Direftor ift; im „Thalia“ gaftierten die Bernhardt und die Wiebe mit eigenen Geſellſchaften. Ab und zu gab8 wohl auch einen Meoliere, Dad wäre die hoͤchſte Leiftung für franzöfifhe Kultur, die man Herrn Bachur nachſagen dürfte. Im übrigen hat er ſich um das junge Frankreich nicht mehr gefiimmert als um das junge Dentſchland und feinen Ehrgeiz darin gefebn, ein tuͤchtiger Ganierer, ein Dernburg der Pollinifhen Theater zu fein. Die Auszeichnung, die ihm daflır gebührt, mußte nicht von der Academie fommen er bat fie fhon dabin: die Garantien eines ſorg⸗ loſen Lebensabends.

Der officier de lacadémie de France wird auch weiterhin mehr nach diefem praftifchen Lorbeer blicken: die Beflichtung, fein Patent könnte ihn zum ſelbſtloſen Sdealiften machen, ift nach beften Informationen und Er- fahrungen unbegründet.

Balder Olden

238

Die Kralle

eil ed ein Sclüffeldramdhen

ſchien, baben ſich die großen Boulevardd über Henri VBerniteind Schaufpiel: „Die Kralle” recht bold- felig ffandalifiert. Diefe moralifche Stahelung, auf die Seinepräfeftur beichränft, fonnte unter die Finden nicht importiert werden. Im Kleinen Theater fand man daher, daß die „Kralle” fein guted Stüd fei. Die Entdedung erbeifchte wenig Scharfe fint, und was gegen dad Drama zu fogen ift, liegt fo febr auf der Hand, daß man es füglid hätte un- gefagt laffen dürfen. Ganz gewiß gibt ed in diefem Werf feine „Innerlich⸗ keit“, feine differenzivrte Pſychologie und feine neuen Werte; die „Ent« wiclung“ gebt nicht auf der Szene, fondern in den langen Zwiſchenakts⸗ jabren vor fih; und der Autor bat offenbar nicht für die Ewigfeit fchreiben, fondern heutigen Menſchen auf eine etwad fentationelle Weiſe gefallen wollen. Das alles ift unbeflreitbar. Und do: follte ein mittelmäßiged Theaterſtuͤck nicht feine Reize haben koͤnnen? Sollte e8 nicht vielleicht er- laubt fein, dad Naiv-Franzöfifche der fo verädhtlihen Arbeit zu goutieren? Ah, auf diefen vier Akten aus dem Nenaiffance-Theater liegt etwas mie ein Abglanz der Kulturfphären, die die ceinture umfchmiegt; etwas von der grau=feuchten Paftell-Fuft, die abends über die Strombrücden ziebt, it an ihnen baften geblieben; und von dem klaren, unbefangenen Tat» fachenfinn, der die franzdfiihen Men⸗ fchen erfüllt, geben auch diefe Dramen vorgänge liebenswürdiged Zeugnis. Die,‚Kralle”gebört einerjungenDame, die einen Herrn ruiniert. Die Dame beißt Antoinette, ift lugusfüchtig, ſinn⸗ lich, intrigant und heiratet den altern» den Herrn Eortelon, den jebr ehren⸗ baften Herausgebereiner fozialiftifchen Zeitung. Seiner Frau, die ihn dutzend⸗

fach betrügt, zu Liebe begebt Herr EortelonSchurfereien, verleugnet feine Überzeugung, wird Minifterieller, dann Minifter, fteht vor dem politifchen Sfandal, endet, eine Steinwunde des Mobs an der Schläfe, im Irrſinn. Das bat eine Frau vermodht! Es ift fehr intereffant, wie ſich der franzöfifche Autor zu der füßen Teufelin ftellt: Er zeigt weder Strindberg- Haß nod) ebrenwerteBjörnfon-Entrüftung (man denfe an das liebe Stuͤck: „Auf Stor- hove“, diefe Schauftellung eines Luder⸗ hend aus der Spießer-Perfpeftive), auch feine Wedekind⸗ Daͤmonie, fondern einfach die Gegebenes mit eleganter Duldfamfeit binnebmende Devotion ded Weltmanns vor Ihrer Majeftät der Frau. Henri Bernftein gibt nichts als eine von dentaufend Illuſtrations⸗ möglichfeiten des felbitverftändlichen Satzes: Die Frau herrſcht. Liegt nicht etwas Ruͤhrend⸗ Irdiſches in diejer ſich freiwillig befchränfenden Anerfennung der Natur? Esfcheint mir, ald ob wir Deutfchen, die wir manhmalnicht mehr fo recht jehen, „was ift”, ein biächen daraus lernen fönnten, Und aud aus dem guten Stil, den dad Stüd inne- balt. Es ift gar nicht anſpruchsvoll und doc überall kultiviert und präg- nant; ed will nur ein Theaterftücd unter vielen fein und ift doch das Dofument einerreifen, jehr geihmad- vollen, nicht trandfcendentalenKultur.. Die Aufführung war qut, wenn man auch den Boulevard-Stil nicht bieten fonnte. Die lautefte Anerkennung fand Herr Neiher. Mit Recht; er jpielte flug und routiniert.

Ferdinand Hardekopf

Die Prefie Mieze und Maria Berliner Tageblatt Hier und da mißlungene Einzel» beiten Fönnen die Ebrlichfeit und Frifche des Gefamtbildes der Komoͤdie nicht allzuftarf beeinträchtigen.

Deutfhe Tageszeitung

Ein bumorvoller oder auch nur wißiger Komödienfchreiber hätte aus dem Zufammenprallder beiden Welten, des ferniten berliner Nordens und des fernften Weſtens, ein an fröhlichen Uberraſchungen und fatiriichen Streif- lichtern uͤberreiches Werk fchaffen koͤn⸗ nen. Hirſchfelds Phantafie reicht da⸗ für nicht aus. Nach einem geſchwaͤtzig breiten, trogdem leidlidy vergnügten Pofitiondaft erliegt er aldbald der Ruͤhrſeligkeit, die er fi) irgendwo bei Mofenthalangelefen babenmuß. Vom alten L'Arronge fann erd nicht haben; der ift vergleichsweiſe viel Fräftiger und gejchicfter geweſen.

Berliner Lofalanzeiger

Hirfchfeld bat ein Theaterftiid ge- fchaffen, das feffelt und ergreift, wie⸗ wohl ed durchaus feine Liebeshandlung aufweiſt. Eine bumoriftifhe Färbung liegt über dem Ganzen und eine reife Überlegenheit. In der Beberrfchung der Szene zeigt der Dichter hier vollen- deted Können.

Täglihe Rundſchau

Wiederholungen, Breiten, Verzeich⸗ nungen, Ungeſchicklichkeiten fämpften mit gut beobachteten Einzeljügen, treffenden Geſpraͤchswendungen und pſychologiſchen Feinheiten. Je weiter das Spiel vorfhhritt und vollends im vierten und legten Aft ſah man ein, daß es für den Urteilenden gar nicht mehr darauf anfomme, abzumägen, ob die Summe diefer Einzelzuͤge Fünft- lerifh mit Plus oder Minus ans zuzeichnen fei, denn die Erfenntnis, dag der Dichter jedes fichere Gefuͤhl für dad Wefentlihe verloren hatte, uüberwog alle Details.

Berliner Börfencourier

Die ftraff einjegende Handlung wird fpäter ineinem gewiffen Berlegenbeitd- Zickzack fortgeflibrt, obwohl das Ziel Flar vor Augen liegt. Eine techniſche

239

Ungefchidlichfeit ift ed, daß der Ver⸗ fafler zu viele Epifodenfiguren einführt, die nur je eine Szene haben und dann verfchwinden. Der Dialog, fo herzhaft und eifrifchend in den komiſchen Mo- menten der Mieze, verirrt ſich zumeilen ind Unflar-UÜberftiegene, und der Rai- ſonneur des Gtüded, der jldifche Sefretär Findigfeit, entwidelt eine Lebendanfhauung, an der man fein Bebagen haben Fann.

Yationalzeitung

Der Erfolg war „gemiſcht“; das Stüd ift ed auch. Der gute Gefhmad bätte, um ehrlich zu fein, gleichzeitig Zifhen und Klatfchen mürffen. Berliner Börfenzeitung

Kein Kopf von einigen Fäbigfeiten wäre auf den Gedanfen gefommen, diefen durch Jahrhunderte breitge- tretenen Stoff nod einmal vorzu⸗ nehmen. Kein Dramatifer von Shafe- fpeare via Goldoni bis zu den Poffen- fabrifanten der Gegenwart ift dieſem Stoff mit feinen billigen Kontraften aus dem Wege gegangen. Nur haben fie es alle wigiger gemacht. Hirfchfeld gelangen gerade noch zwei Afte; dann wird ed von einer Langeweile und Seichtigkeit, die jeder Beſchreibung fpottet. Voſſiſche Zeitung

Komddie, Melodram, Pole: man fann das Stuͤck nennen, wie man will, weil ed nurausStüden befteht. Wenn ‚aber Hirfchfeld noch fouveräner ald hier über den Stoff verfügen lernt, wenn er den Geiſt, der fich hier gegen die Pe- danterie der wirflihen Wirklichkeits— ſchilderung regt, noch freier und feder werden, wenn er dad banal Gelbit- verftändliche von einer noch ftärfern Laune fortfchleudern läßt, und wenn er letztens und hauptſaͤchlichſt dazu die Entſchloſſenheit der Technik lernt, die im Verfürzen und Verzichten be= ftebt, dann ift er vielleicht auf dem Wege zum Luftipiel.

Berliner Morgenpoſt

Statt den diinnen Stoff nicht breit auszuwalzen und die beften Situa- tionen ed gibt einige ſehr huͤbſche zufammenzurüden, ftopft Hirfchfeld allerlei Novellenfapitel zwifchen fie. Findet er eine gute Szene, fo muß er fie gleich bi8 auf den Grund aus- fchöpfen, und fo wiederholt er fich immerzu und madıt IBorte. Der legte Aft ift voll Albernheiten, und was balbwegd in realiftifder Zeichnung angelegt war, wird mißratene Kari- fatur. Es gibt eine Menge Neben- figuren, aber feine einzige, die nicht ent⸗ behrlic wäre, und jene, die notwendig wäre, um in die zweite Hälfte des Stuͤckes ein neued Motiv zu bringen, fehlt gänzlich.

Deutſche Uraufführungen 13. 2. Paul Moefer: Der Herr

Inſpektor, Schauſpiel. Hamburg,

Ernft-Druder- Theater.

14. 2, Guſtav Klitfcher: Die Koch» ftudenten, Ein luftiged Spiel. Caffel, Hoftheater.

Carl Albrecht Bernoulli: Mirabeau, Schauſpiel. Baſel, In- terimstheater.

15. 2. Paul Scheerbart: Das dumme Luder, Jupiter-Drama; Der Schornſteinfeger, Konſtantinopolita⸗ niſche Offizierstragoͤdie; Der Re- gierungswechſel, Politiſches Drama; Das Gift, Mondſcheinkomoͤdie; Herr Kammerdiener Kneetfchfe, Kammer: dienertragödie. Berlin,

Bertram: Graf Goͤtzen, Vaterlaͤndiſches Schauſpiel. Schweid⸗ nitz, Stadtheater.

16. 2. Kurt von Neurode: Mo- derne Diplomaten, Schaufpiel. Bres⸗ lau, Schaufpielhaus.

Hand Müller: Die Stunde, Dramolet ; Arme, kleine Frau, Schau⸗ fpiel; Die Blumen des Todes, Schau- fpiel; Troubadour, Luftfpiel. Muͤn⸗ hen, Refidenztheater.

Berantwortlich für die Redaktion: Siegfried Sacobfohn, Berlin SW. 19 Berlaa von Defterbeld & Eo.,BerlinW.15 Drud von Imberg & Lefion, BerlinW.o

WM CHEN ——— Sure —— zu. wur: —W vu. —W um, vruv. wubsuun: I N! Br 0" u

7. März 1907 8 III. Jahrgang Nummer 10 **

Der Weg zur Form / von Leo Greiner

ilhelm von Scholz hat in feinen zuerſt in dieſer Zeitſchrift veroͤffent⸗

lichten vier Thefen über „Kunft und Notwendigkeit” eine Periodizität

des Fünftlerifhen Schaffens feitgeflellt, wonach das Streben der Künftler wechfelnd einer zunehmenden Veherrfhung der Mittel und dann wieder der Steigerung der Notwendigfeit zugewandt erfcheint, der die ge- wonnenen Mittel untergeordnet werden. Ob der feit Hegel oftmals erneute DVerfuh, dem Geheimnis der Geſchichte durch ein Schema beizufommen, jemals gelingen fann oder nicht: auf die Geſchichte der deutfchen Fiteratur in den legten hundertfünfzig Jahren angewendet, bewährt fi) das Scholzſche Schaffensgeſetz auf das befte, indem es, unmittelbar aus dem Tatſaͤchlichen gezogen, dieſes ruͤckſtrahlend beleuchtet und erflärt. Die Lebenskraft der fünftlerifhen Mittel ift verhältnismäßig nur geringfügig, Sobald fie ſich verzehrt hat, taucht der dürftende Geift in die umverbraudte Natur zurück, aus deren Schädhten er neue beraufzubolen hofft. Nüdkfehr zur Natur, der Zrugglaube, ſich von den Ketten der Gefchichte befreit zu haben, Verachtung der Regeln und Gefete, Spezialiftentum und das Graffieren von Original- genied all dies find die gemeinfamen Merkmale jener Perioden, die, aus epigonaler Erfchlaffung erwacht, eine neue Ausdrucks⸗ und Darftellungsweife fuchen und, da fie nur in diefer ihre Fünftlerifhe Aufgabe fehen, in leicht begreifliher Verwirrung eine zeitliche und fubjeftive Tendenz mit dem ewigen und objektiven Fwed in der Kunft verwechfeln. Laut verfündet man den Triumph der Mittel lber den Zweck, indem dad Mittel als foldyes nicht nur zum alleinigen Gegenftand der Kunft gemacht, fondern durch ein äfthetifches Dogma auch fir ihren allein berechtigten Gegenftand ausgegeben wird. Daß einer natuͤrlichern oder verfeinertern Ausdrucksweiſe und der Ermeiterung des Fünftlerifchen Stoffgebietd nur eine fefundäre Bedeutung zufommt und der Strom der Kunftentwiclung diefe Elemente nur wie Fleine Wafferadern in ſich aufnimmt, ohne durd fie in feinem rubigen und majeftätifchen Vorwaͤrts⸗ gleiten geftört zu werden die wird nicht geleugnet; doch nur, weil man ed in dem Taumel, der die Geifter liber der Vermehrung und Erneuerung

241

des rein Stofflichen ergreift, uͤberhaupt vergefien hat. Aber jlingere Generationen rüden nad, die dad Meue nicht mehr beraufcht, weil es nicht mehr neu, die die vorhandenen Aufgaben nicht mehr irreleiten, weil fie feine Aufgaben mehr find. Die Jüngeren find nüdhterner, vernünftiger, Harer. In ihnen erwacht dad Gedächtnis der Menfchheit, die ſich ihrer eingeborenen Zwecke befinnt. Das Tempo der Geiſter verlangfamt fi) mit dem abnehmenden Fanatismus flr dad gewollt Originale. Statt zu blenden, will man fehend machen, ftatt Neues zu fagen, num aufs neue fagen, was hundert Gefchlechter, unbeflimmter und dunkler, ſchon gefagt haben. In der Welt der Fünftlerifhen Mittel wird alle paar Jahre der Stein der Weifen gefunden; in der Welt der Fünftlerifhen Zwede ift alles uralt, von Anfang ber beftimmt, weil wefentlih. Der Unterfchied von damald und heute liegt nur in dem Grade der Unbefangenbeit, mit der man fic der Motwendigfeit gegenüberftellt; und mit der wachfenden Unbefangenheit in der immer ſchoͤner fi Elärenden Er- fenntnid der Notwendigkeit; und mit Diefer wieder in ihrer endgültigern Funftlerifhen Begwingung im Werf. Das Schidfal aud einem dumpfen, graufamen Myſterium immer deutlicher in erfannte Wirflichfeit zu wandeln died ift der Weg und das Jiel.

Diefen, wie Scholz aufitellt und die neuere Gefchichte auch erhärtet, topifchen Vorgang: daß die Kunft, nachdem fie fich in peripherifchem Streben raſch erfchöpft, zu ihrem Mittelpunft und Weſen zuruͤckkehrt, bringt das vor furzem erſchienene Buch „Der Weg zur Form” von Paul Ernft (Verlag von Julius Bard, Berlin) für unfre Zeit in nahezu paradigmatifcher Weiſe zur Anfchauung, indem dad Allgemeinere der Runftentwidlung bier in einer einzelnen ftarfen und Klaren Perfönlichfeit Erfcheinung geworden ift, Paul Ernft hat vor feinen juͤngern Zeitgenoffen den großen Vorteil voraus, daß das, was diefe in der Welt ſchon ald vergangen antrafen, fuͤr ihn, als er anfing, noch Gegenwart war, Gültigfeit behauptete und erfannt zu werden verlangte; daß er noch einen unendlichen Stoff vorfand, an dem er bie Kräfte feiner Perfönlihfeit ben und läutern durfte; dag alfo die lichten Erfenntniffe, die er in feinem Buche jegt niedergelegt bat, wurzelbaft in ihm felbft ruhen und nicht gefunden, fondern dur einen aus dem innerften Weſen heraufwachſenden Wandlungd- und Klärungdprozeß errungen, ge- ſchaffen, erlebt find. Die ſchweren geiftigen Erlebniffe, die, zu tief, um außgefprochen zu werden, mit ihrer ernften und ſchweigſamen Gegenwart die Ausführungen des Buches begleiten, geben dem falten und klaren Vor— trag des Verfaſſers faft einen Unterton vornehmer, weil abſichtsloſer Feier- lichfeit, der die Schritte ded Gedankens gemwichtiger macht, ohne fie zu hemmen.

Paul Ernft will fein Buch ald eine Art perfönlichen Befenntniffes aufgefaßt wiffen. In diefem Sinne befennt es jedody blos, daß es von einer Per- fönlichfeit ausgeht, die fi nur wahrhaftig dokumentieren kann, wenn fie ſich verfchweigt und ganz und gar im Sachlichen und Allgemeinen auflöft. Eine bobe Vorftellung von dem, mad man unter Individualität begreift, leuchtet deutlich daraus hervor: Dad „Driginalgente” verfchanzt ſich hinter eine

242

Eigenart, die ihm ald Mauer und Wall gegen dad Objekt dient, der wahre, den Dingen gewachſene Menfc gibt fi willig dem Ganzen und Allgemeinen bin und fucht gerade darin fein Beſonderes und Eigened. So ftellt das Ernftfche Werk eine Entwidlung dar, die, vom einzelnen ausgehend, ind immer Größere dringt, die aus der Sfoliertheit nad) An- und Einreihung, aus der Begrenztbeit nach univerfellem Erfaffen ſtrebt. Man koͤnnte auch fagen: Paul Ernft durchſchaut allmählich die Grimaffe, die der moderne Originalitäts- fult immer nod für das untrüglichfte Zeichen einer Individualität hält, und ſetzt am ihre Stelle das reine, hüllenlos ehrliche Perfönlichfeitsbewußtfein. Denn eined Mummenfchanzes, der Verzerrungen, Myfterien und Masferaden für Urfprünglichfeit ausgibt, bedarf er nicht, um fi von den vielen zu unterfcheiden. Er tut ed kraft der Erkenntnis, daß Individualismus nicht Abtrennung, fondern Hingebung, nicht Nähe zu fich felbit, fondern Nähe zum Großen und Ewigen, mit einem Wort: daß Individualismus gleich- bedeutend mit Sittlichkeit if.

Das Ernſtſche Buch befteht aus einzelnen, zu verfchiedenen Zeiten ent- ftandenen und zumeift ſchon veröffentlichten Eſſais. Es liegt auf der Hand, daß ſich, woflr der Verfaffer glaubt fi entfchuldigen zu müffen, mancherlei Widerfprüche im kleinen darin finden. Trotzdem erzeugt ed den Eindrud einer feit gefchloffenen Einheit: Denn diefe Widerfprücdhe geben lediglich aus der graduellen Verſchiedenheit hervor, mit der fi der immer gleiche Er- fenntniswille betätigt, nicht aus der Richtung dieſes Willens felbft, der mit nachtwandlerifcher Sicherheit geradeaus geht, alles, was ihn auf feinem Wege behindert, mit faft adfetifcher Ehrlichkeit des Intellekts bezwingt, indem er aus dem Verzicht auf ſchon errungen geglaubten Befiß immer wieder neue Kräfte herausholt, ind Unbekannte weiterzufchreiten, und fo fchließlih an ein Ende gelangt, dad von Anfang ber gegeben und nur noch nicht erkannt war. Alfo, follte man meinen, handelt es fih um den Ausdrud einer Ent» widlung, die aus dem Dumpfen ind Helle ftrebt, um dad Werk eined roman- tiſchen Geiſtes, der jenfeitd feiner abnungsvollen und myſtiſchen Welt eine geflärte und felbftfihere Harmonie erblidt. Aber das ift es nicht, und juft, daß ed anders ift, gibt dem Buch feinen befondern Wert und fichert ihm feine Ausnahmeftellung. Die Wandlungsetappen, die Ernft gibt, verhalten ſich zu einander nicht wie Ahnung und größere Gewißbeit, fondern ftets wie tiefer ftebende Gewißbeiten zu hoͤhern und böchften. Dies ift ed: Jede Sehnfucht weiß Ernft im gegebenen Moment in eine, wenn auch nur pro= viforifche Erfüllung umzuwandeln; nie läßt er die Kreife feines Denkens an irgend einem Punkte offen, fondern vermag es, bie ftet# ſtreng gefchloffenen nur vom Mittelpunfte her auszuweiten und fo, in fortwährender Selbftrechen- haft, niemald ohne ein Refultat dazuſtehen. Und diefe Fähigkeiten find es, die ihn gedanflich weit Über alles hinauszuführen vermochten, was feine Generationdgenoffen verfucht haben. Denn während diefe indgefamt roman tiihe Stammler blieben, wirkte Ernftd Ideal, die Klaffif, lange ehe er es erfannt hatte, ſchon ald Prinzip in ihm und zwang ihn, feine Kräfte bewußt

243

zu gebrauchen und fi felbft zu formen. So ift fein Buch das denkbar flärffte Zeugnis jenes klaſſiſchen Perfektionabiliömus, den er gelegentlich ala daß fittlihe deal bezeichnet, auf das der Zragddiendidhter der Gegenwart angemiefen fei.

Ernſts Entwiclung dofumentiert ſich nad) drei Richtungen: politifch gebt fie von der Sozialdemokratie zum Konfervativismus, etbifch vom Relativismus zu. hoͤchſter fittlicher Pofitivität, Afthetifh vom Maturalismus zur Klaffik. Die politifhe Wandlung wird lediglid in der den Eſſais vorangeftellten biograpbifhen Skizze angedeutet, die ethifche fcheint im Zahre 1898, mit dem dad Buch einfegt, nahezu vollzogen, und nur die äfthetifche wird, analog dem Zweck ded Werkes, im einzelnen dargeftellt. Mielleiht war die Be- feftigung von Ernſts fittlihem Idealismus für feine Aſthetik notwendig, indem dieſer erſt die Moͤglichkeit einer kunſttheoretiſchen Evolution bedingte. Denn nicht das geringfte Verdienſt ded Buches befteht in dem Ariom, daß hoͤchſte Kunft nur dem fittlich Höchftftehenden erreichbar fei. Damit if gleichzeitig das dunfelfte Problem der gefamten Äſthetik zwar nicht gelöft, aber flar ald Aufgabe hingeftellt: der Juſammenhang von Tehnif und Sitt- lihfeit. Jedes Werk trägt in fich einen verborgenen Willen, dem der Künftler unter Hingabe aller Sonderintereffen bedingungsloß gehorchen muß. Allein diefer Wille, der ſich ſchwer genug erraten läßt und feinen Sinn nur dem Inbränftigften aufhellt, kann nur von dem Sittlichſten rein begriffen werden. Sittlichfeit erzeugt Form, Form wieder Sittlichfeit. Beides find Korrelate, wefendverbunden, vielleicht durch gemeinfamen Urfprung gefchwifterlid mit- einander verfnüpft.

Es handelt ſich alfo, äfthetifch genommen, um dad Ideal hoͤchſter Formgebung, das Ernft vorwiegend an den beiden Problemen der Tragödie und der Novelle in zumeift an einzelne Werfe gefnüipften Unterfuhungen aufzeigt. Die uner- bittliche, felbft an den äußerften Grenzen des Gedankens immer Flare und fihere Konfequenz, mit der dies gefhhieht; der unbeirrbare Wille, Begonnenes in jedem Fall zu Ende zu denfen, und wäre ed um ben Preis geliebter Guͤter, an denen die andern noch ſchwaͤrmeriſch hängen; die ſcheinbare Kälte, mit der der größte Teil der Finftlerifhen Errungenfhaften der Gegenmart bier rundweg verleugnet oder doch aus dem Bereich firenger Kunftbetradhtung vermwiefen wird; die Weite des ſich eröffnenden Geſichtskreiſes und die Fülle der Erfcheinungen, die darin Raum haben, ohne ſich zu flogen all dies verdient unfre uneingefhränftefte Bewunderung, wenn auch alle Die ein heftiges Widerſtreben empfinden werden, die nicht fo felbftlos find, ſchwer erworbenen Beſitz ruhigen Blutes über Bord zu werfen, nur um ihre fahrt zu be= fchleunigen, und auch ihrer felbft nicht fo fiher, vertrauten Boden zu ver- laffen, um einen unbefannten zu erobern, Beides aber und beides im hoͤchſten Maße, dazu die Fähigfeit zu Flaren und rldfihtslofen Unterfcheidungen ift nötig, um in Ernſts Welt den richtigen Pfad zu finden, Mur zu leicht gefpenftert in dem Lefer, der nicht des Verfaſſers prachtvoll brutale Geredhtig- feit befigt, der Verdacht, ald wolle diefer den verftaubten Negelfram aus

U.

den Archiven der Philologen wieder ind lebendige Licht zerren und unfrer weg« und ziellofen Kunft ftatt des gefuchten Gottes wenigftend einen Goͤtzen dinftellen. Und noch ein zweiter Verdacht taucht auf: ald wolle Ernft das Poetiſche aus dem Tempel jagen, dad nach der berrfchenden Doftrin Duell und Urfprung alles Hftpetifchen ift, und die nüchterne ordnende Vernunft daflır zur Göttin machen. Jener Verdacht ift töricht, diefer nur aus Ber- wirrung entfprungen. Denn Ernſts Afthetifches Prinzip ift im abfoluten Gegenfaß etwa zu dem des Ariftoteles, der, wie Ernft felbft nachweift, aus einer Anzahl ihm befannter Tragddien dad Ubereinftimmende herauszieht und durch einen falfchen, weil willfürlihen Anologiefhlug mit Geſetzeskraft aus- ftattet Ernfts äftbetifches Prinzip ift durchaus wirkungstheoretiſch ent- ftanden, alfo aus dem praftifchen Bedürfnis, feftzuftellen, wie ein Runftwerf außfehen muß, nicht um irgend einem begrifflichen Ideal zu genligen, fondern um die hoͤchſten und reinften Wirfungen auf den Genießenden auszuüben. Alfo gewiffermagen angewandte Aftyetif, die den dramatiſch Schaffenden aus dem Bereich feiner Träume fort feiner wahren Aufgabe, den Wuͤnſchen einer nah Erhebung und Erfchlitterung begehrenden Maffe gegenüberftellt, das unfruchtbare Zwiegeſpraͤch zwifchen dem Geftaltenden und der Geftalt beendet und jenen großen Dritten, den Jufchauer, in den fhöpferifchen Kreis mit einbezieht, den Gegenftand alfo von der entgegengefegten Seite auffaßt wie die alten Theoretifer. Matürli ift in einer auf ſolche Ziele gerichteten Aſthetik auch kein Raum fir das Poetifche, ohne daß diefed darum unter- ihägt oder geleugnet würde. Mur die Unklarheit vermag diefen Vorwurf zu erheben. Das Poetifche bildet eben nichts ald die an ſich felbitverftänd- liche Vorausfeßung, die jedem Kunftwerf zugrunde liegt, und ift der Ausflug einer moftifchen Kraft, Die wir immer zum Gegenftand unfrer Verehrung, nie aber unfrer Äſthetik machen follen. Sie ift die Bedingung jeder kuͤnſt⸗ lerifhen Wirfung, nicht aber, wie diejenigen meinen, die die geheimnisvolle Macht des Wortes preifen, deren Quell und Urſache. Kein Geſchoͤpf kann ohne Nahrung leben. Iſt darum etwa die Mahrung die Urfache feines Lebens? Ebenfo lebt die äfthetifhe Schöpfung nur, wenn fie von den dunfeln Quellen des Poetifchen gefpeift wird; allein die potentielle Kraft zur wirfenden Tat liegt jenſeits deffen in der fünftlerifhen Form. Der verhängnisvollen Verwehflung von Mittel und Fwed, die Ernft fonftatiert, gefellt ſich fo eine zweite von Bedingung und Urfache, Iſt diefe einmal erfannt, wird man nicht zögern, Ernſts Buch ald eine große und befreiende Tat zu betrachten. ee.

Märchenfpruch/ von Friedrich Kayßler

Önig fpricht zum weifen Mann; „Weiler Mann, wo ift das Gluͤck?“ Weiſer ſieht den König an: „Schau zuruͤck! Schau zuräd!”

E

246

König ſchaut zuruͤck und fpridt: „Du, Dein Glüd, das ſeh ich nicht.” Spridt der Weife: „Rebr Di um, einmal um Dich felbft herum, geh die Wege, die Du gingft, fang die Grillen, die du fingft,

if die Grüße, die Du aßeſt,

fiße, wo Du früher faßeft,

denfe, was Du je gedadht,

tue, was Du je gemadt,

wolle, was Du je gewollt,

bis das Mad zurüde rollt:

ſchaue alles noch einmal,

Berg um Berge, Tal um Tal, ſieh nicht um und geb zurüd, Peg und Stege, Stüd um Stück, fonder Trug und fonder Lift,

bi8 Du ganz am Anfang bift. Ganz am Anfang rub Did auf, denn am Anfang ftebt ein Haus. In dem Haus ſteht eine Schüffel, in der Schuͤſſel liegt ein Schlüffel, und der Schlüffel oͤffnet Dir

eine goldne Gartentuͤr.

In dem Garten liegt ein Berg, auf dem Berge fiht ein Zwerg, Zwerglein fitt auf einem Stein, unterm Gteine grab hinein: drunten quillt ein Flarer Born,

in dem Borne ruht ein Korn, nimm das Korn und es aus, waͤchſt ein großer Baum daraus. In ded Baumes hoͤchſtem Aftlein jartgemoben hängt ein Meftlein, in dem Meftlein winzig Flein

find drei goldne Eierlein.

Waͤhle eins und Fehr zurüuͤck,

denn in einem ift das Gluͤck.“ Alfo ſprach der weile Mann. König fah ihn fröhlich an,

wandte ſich zum Scheiden.

Und der Weife nicht mehr fpradh, ftand und ſah dem König nah mußte ibn beneiden.

Fainzend und Matkowskys Taffo

m 16. Februar hat Matkowsky, zur Erinnerung an die Uraufführung A vor hundert Jahren, am 25. Februar hat Kainz, zur Eröffnung feines

berliner Gaftfpield, den Taſſo gefpielt. Wenn ed Schaufpieler gäbe! Es war Wilhelm Schererd bewegte Klage: „. . . Wenn ed Schaufpieler gäbe, welche alle die Macht fanfter Schmerzen zu offenbaren müßten... .” Fünf folder Schaufpieler müßten in einem Raum, der nicht weniger intim fein dürfte, ald dad Kammerfpielyaus, ind Innerfte des Gedichtd geführt und mit der leifeften, der behutfamften Feinheit aufeinander abgeflimmt werden. Das wird einmal gefchehen. Bis dahin ift alles Stuͤkwerk. Heute vergeuden Kainz und Matkowsky ihre Kräfte in einem ausfichtslofen Kampf gegen die Afuftif großer Häufer, gegen die Ahnungsloſigkeit und Dickhaͤutigkeit eines Alphons, einer Sanvitale, aber auch in einem Kampf gegen ſich felber: gegen ihre Bewußtheit oder ihre Unjugenblichfeit, gegen ihre Geflihllofigfeit oder ihre Wuchtigfeit, Reiner von beiden ift heute Taffo. Es mag fpielerifch er- feinen, Über eine fo ſchlankweg negative Tatfache des Langen und Breiten abzubandeln. Sie könnte von dem, der fie behauptet, in aller Küırze bewieſen werden, foweit äfthetifche Eindruͤcke irgend zu bemeifen find. Es ift gleich- wohl intereffant, zu feben, und vielleicht auffchlußreich, zu zeigen, aus wie verfehiedenen Gründen und auf wie verfchiedenen Wegen Kainz und Mat- kowsky dem gleihen Ziel mehr oder minder fern geblieben find.

Goethes Taſſo ift nur jung zu denfen. Wenn er davon träumt, ſich wunderbar befränzt im reinen Spiegel eines Flaren Brunnend zu erblicen, fo träumt er au die Frage: Wer mag der Züngling fein aus der ver- gangenen Zeit? Die Männer nennen ihn gar einen Knaben. Die Frauen bemuttern ihn wie ein Kind. Sein Verhältnis zu ihnen, Antonio Ver⸗ balten gegen ihn, fein Zuftand, fein Unterlaffen und fein Tun: alles wird fragwuͤrdig und unglaubhaft, fobald ein reifer Mann bier handelt und er- leidet. Matkowsky, mit einem charafterlofen hellbraunen Vollbart, wirft wie ein DBierziger. Die Gunft der Leonoren foll diefer Taffo offenbar viel weniger feinem Geift und Genius als feiner Schönheit danken. Um bie zarten Seelchen koͤniglich preußifher Hofſchauſpielerinnen zuverläffiger zu reizen, ift er, mit roten Tupfen auf den vollen Baͤckchen und dunfeln Schatten um bie tiefen Augen, geradezu zum Schoͤnling verfchminft. Er fieht nicht aus, ald ob er Nerven hätte. Jugend und Nervenadel find flr diefen Taffo Geberden, die man fpielen koͤnnte. Was im Gente findlih und weiblich ift, ſucht er durch einen Ton zu treffen, der faft nie fo, wie er müßte, fondern entweder Findifc oder weibiſch Flingt. Es ift Feine Fleine Dual, den großen,

247

flarfen Mann flplich fldten zu hören und verlegen-fhämig die Hände ringen zu ſehen. Matkowsky ift dem Taſſo entwachſen, ohne ihm je gewadhien gewefen zu fein. Auch ald feine Jugend echt war, wäre feine Jerriſſenheit unecht gewefen. Denn das ift ja feine umjeitgemäße Bedeutung, daß er niemals zerriffen gewefen if. Sein Wefen ift ſtrahlende Ungebrochenheit, und es nimmt fic fait komiſch aus, wenn er die umduͤſterte Gebrochenheit der Taſſo⸗ natur lediglich durch die gleichmäßig gefenfte und gedämpfte Stimme und einen unmotivierten Wechfel des Sprechtempos wiedergeben zu koͤnnen glaubt. Matkowsky ift am größten auf der Höhe des Affeftd revolutionärer Helden, und er ift am Hleinften in den krankhaften Stimmungen unheldifcher Äſtheten⸗ jeelen. Was ihn und teuer und einzig macht, ift feine chaotiſche Glut, die jeugendszerftörende Gewalt feiner Leidenfchaft, eine Urkraft, die Feuer fpeit und Meere in den Himmel wirbelt. Das ftille Dichterbild eines folden Schaufpielerd, ob er ſich auch noch jo heiß und nod fo erfolgreid um die verftandesmäßige Bewältigung feiner Aufgabe bemüht, muß ein Zerrbild fein. Matkowsky ift fir Monumentalitäten gefchaffen und hängt fein ganzed Her; an Hamlet und Taſſo ſehnſuchtsvoller Hungerleider nach dem Unerreichlichen.

Er befigt, ich mag wohl fagen, alles, was mir fehlt: das koͤnnte Mat- kowsky auf Kainz, aber au Kainz auf Matkowsky beziehen. Beim Taffo it Matkowsky, alles in allem, ſchmerzlicher auf Kainzſche Elemente angewiefen ; bei andern Rollen ift ed umgefehrt, Aber felbft beim Taſſo ift das, mas Kainz ſchließlich zur Vollendung fehlt, ein ftolzefter Befig Matkowskys: fein Gefühl und feine Naivität. Diefer Mangel macht es, dag felbft Kainz, deffen Fagenhaft gefchmeidige Geftalt, deifen blanfe, ftählerne Stimme und deffen dunfelglübende Augen nicht leicht altern werden, doc ald Taffo nicht jung wirft. Matkowsky ift von zu reifer Männlichkeit; Kainz hat in feiner überlegenen Kühle einen greifenhaften Zug. Er beweift auch bier wieder, daß er zwar, wie wenige, tief in dem Geift einer Dichtung zu dringen, aber feine gradgewachfene Herzendempfindung fchliht und ergreifend zu dußern vermag. Dabei wird ihm feine von den Berftimmungen des erften Abends zu Unrecht angerechnet. Wenn ein Schaufpieler in den fpontanften Gefühld- erguffen fortwährend ſtecken bleibt und dadurch nervoͤs gemadıt, in ein raſendes Tempo der Rede und eine forcierte Lautheit ded Tones gehetzt wird, fo fönnen diefe Gefühldergüffe nicht Überzeugen und hinreißen. Aber wir wiffen lange genug, daß ihnen dad auch an andern, an Kainzens glüd- lihften Abenden nicht gelingt. Kainz bereitet einen Augen», Obren- und Geiſtesſchmaus. Er bejaubert nicht allein die Frauen durch die fehmieg- famen Bewegungen des feinen Kopfes, der Hüften und des Handgelenks durch die flreichelnde Eleganz ded Händefpield, die unerhörte Eindringlich-

248

feit des drohenden oder deutenden Zeigefingerd; durd die Anmut jeder feiner jähen Wendungen und Sprünge; durd den Charme des ſchmalen Mundes mit den leidvoll oder hbermütig zuckenden Lippen. Sehenswert ift fo etwas, wie die weitausholende, dicht über dem Fußboden binftreichende Sandbewegung, mit der diefer Taffo, im vierten Akt, Antonio zum Sigen lädt; ſehenswert der Ruck, mit dem er, nad) Antonios Abgang, zugleich verachtend und befreit den trennenden Vorhang vor fein Dichterzimmer zieht: odi profanum vulgus et arceo. Nicht geringer als dieſe malerifchen Reize der Kainzihen Begabung find feine mufifalifhen Tugenden. Wenn er die Töne an den Gaumen preßt, um fie Flirrend und flirrend wieder entweichen zu laffen, wenn er aus der Filtel unvermittelt in einen fräftigen Bag um» fippt, wenn feine Junge, mit fiherfter Abwägung aller dynamiſchen Effekte, ein rapide pittoreöfed Capriccio berunterfpielt: dann werden Wirkungen er- reicht, wie fie allen andern, auch den ausdrudsvoliften Menfchenitimmen verfagt find. Das Gute ift, daß folhe Übungen des Koͤrpers und des Keblfopfs felten Selbſtzweck, fondern in der Regel die tauglichften Mittel find, um fehwierige Situationen aufzubellen, dad Hin und Her fhwanfender Gemütäftimmungen abzufpiegeln und die ganze Not einer zufammengefeßten Seele bloßzulegen. Wenn Taffo fonft in der Dual des vierten Aftd ver- ftummt, gab Rain; ein Gott, mit anſchaulich malenden Geberden, mit bliß- artig wechſelndem Gefihtdausdrud, mit kaum merflihen Vibrationen der Stimme zu fagen, wie er leide,

Ihm gab ein Gott, zu fagen, mie er leide. Das ift viel. Aber er gab ihm nicht zugleich, und mitleiden zu machen. Das wäre mehr, Matkowsky ift fein Taſſo und wird nie einer werden. Er bat den vierten Aft unzweifelhaft verftanden und kann ihn nur mit feiner gradlinig primitiven Technik nicht bewältigen. Aber am Ende diefed Aftes fteht ein Monolog ded Inhalts, daß fid) ein armed Menfhenfind auch von der lebten Hoffnung feines Herzend betrogen fühlt, und ded Zwecks, und dur den Jammer diefes Menfchenfindes zu erfehlittern. Hier wird die raffiniertefte Technik zufchanden: Gefühl ift alles. Hier ruͤhrt Matkowsky zu Tränen, und Rainz hat feinen fälteften Moment. Hier nuͤtzen ihm alle Kapriolen feiner blendenden Fein- kunſt nichts: fie machen feine Grenzen nur noch fihtbarer. Goethe bat den „Taſſo“ gefchrieben, um fein volles, ganz von einer Empfindung volles Herz zu entladen. Kainz entlädt ſich nicht. Er ſteht nicht in dem Schmerz, fondern über dem Schmerz ded Taſſo. Er demonftriert und analpfiert und fommentiert und die Tragddie, er entfchleiert ihre Geheimniffe und weift mit _ dem Finger auf ihre Schönheiten: aber er lebt fie und nicht vor. Er fühlt fie nicht oder beffer: nicht mehr. Vor fünfundzwanzig Jahren wäre Kainz

249

vermutlich der ideale Taffo gewefen. Heute wüßte ich nicht, welche innern Beziehungen noch zwifchen Kainz und Taſſo beftehen follten. Woher fönnte feiner Klugheit heut noch der naive Glaube an die Gemalt, ja nur an die Nealität von Taſſos Leiden fommen, der Glaube, den er brauchte, um fidy in dieſe Leiden zu verfenfen? Er wird fie nad menfhlihem Ermeffen ironiſch ſehen. Matkowsky ift vertrauensvoller. Nachdem der Schmerz um die Prinzeffin ihn ganz gefaßt bat, läßt er ihn im fünften Aft nicht wieder (08 und erflilt ihn mit einer echten und reinen Melancholie, die, wenigſtens flie ein paar Szenen, mehr von Goethes Taffo gibt, ald alle Küinfte Kainzen geben konnten. Bon Taffo heißt es bei Goethe: Sein Geflhl belebt das Unbelebte. Der Ton liegt auf dem legten Wort. Wenn man den Ton auf dad „Gefuͤhl“ legt -und fich vergebend bemüht hat, Kainzens Gefühl zu bören, weiß man, warum fein Taffo legten Endes leblos geblieben und nichts als eine artiftifche Leiftung geworden ift.

Als ſolche ift fie, wie bei Kainz gewöhnlich, bewunderndwert. Es fei mäßigen und fchaufpielfunftfremden Köpfen unbenommen, fi fiber der Frage zu zerbrechen, ob diefer Taſſo, da er zmeifellos nicht der Goethiſche ift, von Schiller oder von Kleift oder von Ibſen ift. Oder uͤber der ähnlich törichten Frage, ob ein Schaufpieler, und beige er Kainz, fih fo frei von feinem Dichter machen dürfe, wie ed bier gefcheben fei. Es ſcheint nod immer nicht befannt genug zu fein, daß ein wahrer Kuͤnſtler nicht tut, was er darf, fondern was er muß. Daß ein großer Schaufpieler nicht Goetbe noch Schiller noch Kleift noch Ibſen fpielt, fondern bei Gelegenheit diefer Dichter fein befondered Weſen auf feine befondere Weife zum Ausdrud bringt. Ein Keitifer kann und fol fagen, wie fehr fid) das Gebild des Dichterd vom Gebild des Schaufpielerd unterfcheidet. Aber er darf dem Schaufpieler nicht verbieten, fi in feiner Geftaltung nad jeder Richtung bin vom Dichter abzubheben. Kainz fpielt den Taffo, wie er muß. Er fingt die Arien, zu denen ihn fein Organ verführt, und ift darum ein Schilleriſcher Taſſo ge- nannt worden. Er zeigt ein wundes Mervenfoftem in aller Nacktheit, hält fih, da er einen Dichter zu geben bat, an Shafefpeared Wort von des Dichterd Aug, das in holdem Wahnfinn rolle, läßt alfo feinen Taffo nahezu wahnfinnig werden, wie es ihm fein Geift gebietet und feine Technik er- laubt, und ift darum ein Ibſenſcher Taffo genannt worden. Er ift nichts weiter ald ein Kainzifher Taſſo. Um ein Goethiſcher Taffo zu fein, müßte er flnfundzwanzig Jahre weniger zählen und den Matfowsky in ſich haben. Denn Kain; und Matkowsky find wie Taffo und Antonio: Zwei Männer, bie, ich hab ed lang gefühlt, nur darum häufig unzulänglich find, weil die Matur nicht einen Mann aus ihnen beiden formte,

250

Die Frau ded Rajah / von Willi Hand

aul Wertheimer, ein angenehm fultivierted wiener Talent, Lyrifer von P nachgiebig weicher Empfindung, laͤßt jetzt ein Drama erſcheinen: „Die

Frau des Rajah“ (Wiener Verlag). In dem Stüd wird der Verſuch gemacht, aus dem bunten, lieben Spielzeug, womit diefe Lyrik fo geſchickt und geſchmackvoll hantiert, aus hellfarbigen Worten, fchmerzenlofen Melan⸗ cholien, freundlich lächelnder Juͤnglingsweisheit und temperierter Sinnen- freude, aus dem Fleinen Zierrat, mit dem die Gedichte foldher nachdenklich gefühlvoller Spaziergänger über und über behaͤngt find, einmal feftes, nad) großen Geſetzen bewegtes Leben aufzubauen. Der Verfuch konnte unmoͤglich ganz gelingen. Denn fo wenig ein Drama der Iyrifchen Grundſtimmung völlig entbehren darf, der geheimen Melodie, in der eine Dichterfeele mit dem Weltall zufammenflingt, fo wenig läßt fid) gerade jene fonziliante Lyrik, die mit allen Winden über die liebe Erde ftreicht, Überall grüßt, jedem antwortet, alles liebfoft, die feinen Trog gegen die Welt und feinen Schrei aus der Tiefe hat, je zum Dramatifchen verftärfen und zufammenbinden. Sndeffen, fo ganz wertlod und ohne Sinn ift diefer Verſuch doch nicht ge= blieben. Wurde ed fein Drama, dad am eigenen, großgefchauten Geſetz die Gefeße der Welt offenbart, fo zeigt ed doch, wie viel Reben und Lebens⸗ finn aus dem weichmütigen Getändel auferftehen fann, wie im Feuer der dramatifhen Bewegung Wort und Bild und Ton ganz anders erglüben, fih zur Kraft erhärten. Es zeigt ein Wachstum aus dem bloßen Willen zur ftärfern Form; und Wachstum ift Hoffnung.

Diefed Drama lyriſchen Urfprungs ift nur aus dem abgetönten Wider- fpiel zweier Bilder zufammengemifcht. Die indifhe Witwe brennt am Pfahl; der uralt gebeiligte Brauch ded Landes opfert fie in Flammen dem toten Gatten. Da geht der wiener Poet vorbei, ſchaut auf, flugt, wird nach⸗ denflih: Nun muß diefed zarte junge Leben fort, weil ed die Bräuche ver- langen. Sie will vielleiht gar nicht; ift noch voll Sehnſucht, voll Traum von Zufunft und Erfüllung, voll Liebe zu... Ja, zu wem denn? Nun, ju unfereinem natuͤrlich, der nur vorbeigeht und fie mit einem Blick auch fhon verfteht. Es fommt alfo Marco Polo, ein junger mwiener Lyrifer aus dem jmwanzigften Jahrhundert, aber ald Patrizier aus dem Venedig des dreizehnten koſtuͤmiert, und fucht diefe indifch ftarre Welt mit feiner liebend- würdigen Nichtötuer-Weisheit heim, ift Fonziliant und nachdenklich, von temperierter Sinnenfreude, voll fehmerzenlofer Melandolie und anmutig fluger, verfereifer Gedanfen. Er befiegt, ohne zu erobern; erlangt, ohne zu nehmen; befigt, ohne zu behalten; er ift ein Wiener. Ein hübſches Wort, ein geiftreiher Gedanke, ein liebes leuchtendes Bild, und jeder Gegenftand ift für ihn erledigt. Der Sinn feines Lebens ift, daß er nichtd zu tun bat; zweifellos, er ift ein Wiener. An diefem Helden der launenhaft verfpielten Nachdenkerei, der die Tat berbeifehnt und doch den Sinn des Tuns nicht

251

begriffen hat, kann natürlich Feinerlei dramatifche® Gefüge halten. So ift died Stuͤck eigentlid ein empfindfamer Spaziergang durch drei Afte indifcher Bifionen, mit einem Haltepunft am Schluß, vor dem Flammenftoß. Hier bat das Stüd feinen wahrften dramatifchen Auffchrei, bier öffnet fid) endlich die Welt, audeinandergeriffen von zwei unverföhnbar feindfeligen Kräften: Sehnfuht und Gefeß; bier flredt ein junges Weib die weißen Arme nad) dem Leben aud und wendet ihr Geficht dem Tode zu; bier ift ein Drama. Bisher war alles ſchoͤn und liebenswuͤrdig; dies hier ift ftarf, Leider rinnt ed zu bald wieder aus feiner feften Form, ermweicht fi, verftummt, gibt ganz der angenehmen Stimme des geiftreihen Marco Raum, der in einem nachdenklich binfhwingenden Monolog fein Erlebnis reſuͤmiert und beim Todesfchrei der Verbrennenden zu fagen weiß: „Und mas ic mit in meine Heimat bringe ift nichts ald diefer Schrei !”

Nichts ald das! Aus Flammen, die eine Stadt, ein Königtum und ein geliebted Weib zu Staub gemacht haben, die um ihn und für ihn gebrannt baben, nichts als die finnlofe Disharmonie eines legten, binfterbenden Angſt⸗ rufe! Um ein fo Geringed nur ift er innerlich reicher geworden! So unberührt bleibt diefer verzogene NRäfonneur, fo ohne Jufammenbang mit den glübendften und gefahrvollften Ereigniffen feines Febend. Aber wovon ein Drama zunächft fprehen muß, das ift eben, wie eine Perfönlichfeit durch ihr Leben mit ihrer Welt zufammenbängt. Der Unberührte, Nebenbergebende ift notwendig der antidramatifhe Menfh. Auch hier. Kampf und Tat und Ereignid werden und enticheiden fi abfeitd von diefem lyriſchen Sprecher ; und umfo aufreizender ift ed, daß er nachher immer fo ganz genau weiß, was da gefchehen ift. Um ihn leiden, bluten, fallen die Menſchen; er fieht bin, erklärt, warum und wiefo, und fehmedt ſchon im voraus den feinen Genuß der fpätern Erinnerungen. So kann er eben niemals felbft dabei fein. Und fo fann das Drama, in deffen Mitte er ftebt, feinen Weg aufs wärts, feinen Sturz abwärts haben, fondern nur ein plätfcherndes, fingendes oder braufendes Fortgleiten, Welle nach Welle; die legte verrinnt ohne Spur im Sand.

Wenn doch die jungen yrifer nur nicht fo in ſich felbit verliebt wären! Denn Marco Polo ift Paul Wertheimer, wie er gern fein mödte. Das ift vor allem an der verliebten Leidenfhaft zu erfennen, mit der es den Dichter immer wieder treibt, diefe Figur mit allem Reichtum und mit aller Zärtlichkeit feiner Iyrifhen Kunft auszufhmüden. So wurde diefer Marco die hellſte, anziehendfte, lebendigfte vielleicht die einzig lebendige Figur des Stücks. Gewiß, er lebt; wir fennen ihn, fo wie wir ihn aus diefer Dichtung fpüren. Er ift in Wien in unfern Tagen geboren; ein Dußend feiner Art ſehen, bören wir täglic auf dem Graben oder in den umliegenden Eafehäufern. Aber da er alles Leben und Erleben in fein Hirn und in feine Nerven einfchlingt und nichts davon ind Blut, ind Mark, in die Tat

252

binüberleiten kann, fo wird gerade fein uͤberreich entfalteted Reben der Tod ded Dramas. Jeder andre Anfat wird davon uͤberwuchert und erftidt. Der Kampf plebejifher Kraft gegen die Kräfte geformter Kultur; dad Anfchleihen priefterlicher Tuͤcke gegen königliche Weisheit; das Ningen der zottigen Mannd- beftie mit dem zarten Stolz einer jungen Weiblichkeit; und endlich der tragifche Zwieſpalt, in dem zwifchen Sitte und Leidenfchaft die Seele diefer jungen Frau zerriffen wird, bevor die Flamme den Leib frißt: Alles das ift gewollt, gefeben vielleicht, aber nicht geftaltet, nicht dramatiſch in eins gefligt. Balladen- baft bingeftrihen, rollt jeder diefer Konflikte in ſich felbit ab, ohne drama- tifchen Klang, der bis and Ende weiter flingt. In Marco Polo gebt alles unter, und nichts findet fich im ihm wieder, ald der blaßfarbige Geufjer, den er für den Widerhall jened Todesrufs bäft.

Ein Seufzer der finnenden Lyrik, De dad Leben nicht halten und nicht binden kann, ift diefes Stuͤck. Sie tröfte fi; fie bat darin wenigſtens gelernt, ed feuriger und mächtiger zu befchreiben. An Stellen, die nicht Kampf und Lärm, die nur Andrängen der Seelen und Aufblühen der Stimmung bedeuten, da quillt der Saft des Lebens ftarf und reich aus den Worten. Da bat die Schönheit der Nede nicht nur Sinn, fondern auch Blut; Herzen fpringen auf, man fieht ind Innere der Menfhen. So in der Szene jwifhen Vater und Tochter im erften Aft; zwifchen dem Fremden und der Witwe im zweiten; zwifchen der Witwe und dem Mädchen im legten. Da und dort gelingt wohl aud ein Wort ded Troßed und der Wut, ein rauber Schrei, der mie der rafch verwifchte Stempel mannhaften Charafter® ift. Oft aber Überfchlägt fi die Sprache wieder im ungelibten Drang nad Fülle und Macht, preft die Worte ungebührlic zufammen oder läßt fie, lyriſch läffig, zerrinnen. Am ſchlechteſten kommen man erlaube den Aus- druck die mudfuldfen Stellen weg; wo Männer aneinander geraten, da fährt die Sprache jaͤh aus ihrem Geleid, fchnappt verlegen nad fremden Formen und fehnt fi vol fihtlihen Unbehagens nad der juͤnglinghaften PWeidheit ded Marco Polo, nah den fraulich zarten Tönen der lieblichen Heldin zuruck. Mit Männern weiß ed nicht recht Schritt zu halten. Aber wenn ed eine unerbittlih und unnahbar masfuline Kunft gibt, fo ift ed dad Drama.

In allem: dad MWerf eines Pyriferd, der, Iyrifh befangen, noch nicht gelernt bat, feiner Welt ald eigene gleichwertige Kraft gegenliberzuftehen und mit allen Stimmen zu fpredhen, die er in ihr erlaufht. Der Dichter bat, wie fein Held, die vergnügliche Reife in ein exotifch fremdes Gebiet unternommen und vorläufig nicht viel mehr zuruͤckgebracht, ald was er vorber in ſich hatte. Einen Schrei immerhin; einen Schrei der Sehnſucht und des Widerftanded. Eine neue Stimme, Die müßte in ihm mächtig werden, aus ihm ſchickſalübertoͤnend wiederflingen. Ein Mann gegen eine Welt. Dann würde dad Werk feiner finnlih und ſinnvoll blühenden Kunft auch ein wirfliches® Drama,

253

Eine Theatervorftellung/ von Robert Walfer

er Winternahthimmel war ganz mit Sternen gefpidt, ich lief den Schneeberg hinunter, in die Stadt, an die Kaffe ded madretider

| Stadttheaterd, ließ mir eine Fahrkarte verabfolgen und fuhr wie ein geiftig nicht mehr Normaler die fteinerne, uralte Wendeltreppe binauf, die ind Stebparterre führte, Das ganze Theater war dickvoll von Menſchen, eine ſchlechte Luft fchlug mir unter die Nafenflügel, ich erbebte und verftedte mich hinter einen Technikumsſchuͤler. Ich war ganz atemlos und fonnte nun ein wenig verfchnaufen, bis der Vorhang in die Höhe ging, das tat er nach etwa zehn Minuten, er erhob ſich und ließ in ein Loch voll Feuer bliden. Die Geftalten bewegten ſich alfobald, riefige, plaftifche, übernatürlic ſcharf gezeichnete Geftalten, und fpielten Maria Stuart von Schiller. Königin Maria ſaß im Kerker, und ihre gute Kammerfrau fland daneben, und dann zeigte ſich ein finfter audfehender, mit einer Nüftung bedeckter Mann, die Königin brady in Tränen des Zornes und ded Schmerzes aus. Wie wunder- vol fi) das anfah. Meine Augen brannten. Ich hatte vorber ftunden- lang in den hellen, weißjchimmernden Schnee gefeben und dann in das Dunfel der Logen, und jegt mußten fie im eitel feuer, Glut, Pracht und Glanz fhauen. Wie [hun und groß dad war. Wie das von den rötlichen Lippen taftmäßig herabtoͤnte, in Uhrmacher, Technifer- und fonftige Obren binein, fchöne, edel bin und ber und auf und nieder tanzende, ſchwankende, tönende Verſe. Ab, das find die Verfe Schillers, fo dachte wohl mancher. Der junge, fehlanfe Mortimer, mit einem Buſch beller, goldener Loden auf dem Kopf, fprang aus der Szene in die offene Szene hinein und fprad) der Königin, die lächelnd zubörte, verführerifhe Worte vor. Er hatte ein merfwirdig blaß gefärbtes Geficht, ald fei ihm der ahnungsvolle Schreden darin gelegen, und fhwarzumränderte Augen, ald habe er viele vnrangangene Mächte hindurch, von Träumen hin- und bergefchleudert, fein Auge zudruͤcken fönnen. Er fpielte meiner Meinung nad berrlih; nicht fo Maria, die ihre Rolle nicht auswendig wußte, die ſich eber wie eine Aneipenfellnerin niederfter Stufe benahm, ald wie eine fo vornehme Frau, vornehm im ju- gefpigt Fälteften Sinne: Königin und dazu noch Dulderin, wie man fich Maria Stuart denfen mußte. Aber fie rübrte unendlih. Das Nichts- fönnen ruͤhrte in erfter Linie und dann jener Mangel an Hobeit. Der Mangel deffen, was fein follte, erfchütterte und blendete und trieb mir das Waſſer der Empfindung fhamvoll zu den erregten Augen heraus. D du Zauber der theatralifhen Bühne. Ich dachte immer: „Wie ſchlecht fie doch fpielt, diefe Maria,” und ward im felben Moment von dem unmsöglichen Spiel an Leib und Seele bingeriffen. Wenn fie etwas Trauervolles fagte, lächelte fie verfchmigt und ganz unpafjend dazu, ic) forrigierte in Gedanfen an ihren Gefichtäjüugen, Tönen und Bewegungen herum, und indem id) dad tat, hatte ich den lebendigern und ergreifendern Eindrud von ihrem fehler baften Spiel, ald ich ihn vor dem tadellofen hätte haben fünnen. Sie war

254

mir fo nah auf diefe Weife, ed war, ald würde da oben eine Schweſter, Coufine oder Freundin von mir gefpielt haben, um deren Äußerungen ich Urfache gehabt hätte, aͤngſtlich zu zittern. Bisweilen fland fie ganz vergnügt und ratlos, alfo ratlos und doc nicht faſſungslos da, fah in den dunfeln Zufhauerraum hinein, zupfte an ihrem Schleier und lächelte ganz keck, ließ dad Spiel liegen, während diefed von ihr eine beftimmte Haltung und Empfindung verlangte. Und warum war fie troßdem wundervoll?

In den Zwifhenpaufen bog idy meinen Kopf um und blidte in Die Eogen hinein, in deren einer eine vornehme Dame faß, in außgefchnittenem Kleid, daß die Bruft und die Arme aus der dunfeln Umgebung nur fo berausfchimmerten. In der behandſchuhten Hand bielt fie ein Lorgnon mit langem Stiel, das fie von Zeit zu Zeit an die Augen führte. Sie ſchien eine alte, doc noch immer berüdende Zauberin zu fein, fo allein faß fie dort hinten, abgefondert von den uͤbrigen Menfchen. Sie wohnte, weiß der Teufel, vielleiht in einem jener grazid® erbauten Häufer aus der Jeit Ludwigd von Franfreih, die man in Madretſch häufig hinter den hohen Bäumen alter, verträumter Gärten weiß bervorglänzen fieht. In einer andern Loge hockte der Präfident ded madretfcher Gemeinderat? und Mit- glied ded Verwaltungsrats des Stadttheater, fo ein alter Bodf, wie man ſich zuflüfterte, der ed ald ein Vergnügen empfand, den Schaufpielerinnen unter die Roͤcke zu greifen. Das ließ ſich ja fchließlich fol eine herum- mwandernde Maria Stuart noch ganz gerne gefallen. So fab fie nämlich) auch aus auf der Bühne, wie eine Dirne, und nicht einmal wie eine gut=, fondern wie eine minderwertig geartete. Wie fam es, daß fie troßdem fo fhön war?

Der Vorhang ging wieder auf. Ein breiter, weißliher Strom Parflım flog aus dem offenen Loch in die Zufchauerdunfelfommer und beflemmte und befreite die Nafen. Man war frob, wieder diefen holden Duft ein- zuzieben; ich hinter meinem Technikumsſchuͤler war ed mwahrfcheinlic ganz befonderde. Der Buͤhnenrachen fing wieder an zu reden, diesmal war die Sjene ein Zimmer im füniglihen Palaft von England. Elifabeth faß auf einem mit blauen Tuͤchern bebangenen Thron, einen Baldachin uͤber fich, vor ihr die Großen des Hofes, Leiter und jener andre mit der fanften Denfermiene. Im Hintergrund ftanden dicke Weibsbilder ald Pagen, nicht etwa Knaben, nein, vierzigjährige Weiber in Trikots. Das war ſchamlos fhön. Diefe Pagen ftanden mit der baroden Schwere ihrer gedunfenen Leiber in wahnfinnig Fleinen, zierlihen Schuhen auf dem Boden wie un- begreifliche, phantaftifhe Traumfiguren, die ind Publifum bineinlächelten, Es war, ald hätten fie ſich ein wenig geniert, fo auffällig zu fein, aber dann ward wieder nichts mit diefem Genieren. Die Sadje verhielt fidy fo: wer fie anfah, der genierte fih. Ich zum Beifpiel genierte mich bis zur Gtücfeligfeit. Elifabeth flieg dann vom Thron berab, jeder Zoll an ihr lieb und einfach, faft tantlich, mütterlich, fie gab Zeichen von Ungnade, und die Szene verſchwand.

255

Ein wenig fpäter gab ed eine Parffjene mit grünem, verſchwommenem Waldhintergrund, Jagdhoͤrner tönten in der Ferne in wundervoll fern her⸗ flingendem Spiel. Ich glaubte mich augenblicklich in das Didicht eines Waldes verfegt; die Hunde liefen, Pferde ftürzten aus dem Laubwerk hervor, fchöne, foftbar gefleidete Neiterinnen tragend, und überall Iprangen die Knechte und Falfoniere und Pagen, die Jäger in den fnappen, grünen Trachten berum. Alles das fpiegelte ſich ganz natürlid in den paar Fetzen von Dekorationen tönend und leuchtend wieder. Maria, die Königindirne, trat - auf und fang, man fennt ja die Worte, nein, fie fang nicht, aber es hörte fih ganz wie ein wehflagendes, fehnfüchtiged Singen an. Die Frau ſchien eine Niefin geworden zu fein, fo fehr vergrößerte fie ihr Seelenausbruch. Sie fprang wie irrfinnig vor Freude und Herzendqual umber, und jammerte, ald fie zu jubeln meinte. Außerdem war fie ein bisſchen der Rolle wegen, die fie micht ſtudiert hatte, in Verlegenheit, aber ich glaubte fteif und feft, dad fei der Wahnfinn des Nichtemehr-an-fich-halten-Könnens, die Qual der Freiheit, dad Verſagen der rubigern Frauenvernunft. Als fie weinte, da fchrie fie, denn weinen wäre ihr zu wenig geweſen. Fuͤr nichts, mas fie empfand, hatte fie einen entfpredhenden Ausdrud mehr. Dad Empfinden peitjchte feinen Ausdrud. Im UÜbermaß alles deffen, was fie war und ſah und hörte und fühlte, warf fie fi Föpflings an die Erde, da trat Elifabeth auf.

Die Peitſche in der Hand, hinter ihr ber die Trabanten. Die Frau ganz anſchließend, anfchmiegend in dumfelgrünen Samt gefleidet, der Rod binaufgerafft, daß das männerhaft beftiefelte und befpornte Bein grell fichtbar ift. Zorn, Hohn und Furt im Gefiht. Auf dem Jagdhut eine ſchwer berunterfallende Feder, deren Spige bei jeder Bewegung des Hauptes die Schulter berührt. Und dann ſprach fie, ab, fie fpielte meifterhaft. Über⸗ dies war fie mir eine liebe Erfcheinung. Nicht lange ging es, fo prallten fie aneinander und hauchten einander das Feuer des Wehs in die Geſichter; beider Frauen Leiber zitterten wie vom Sturm gepadte Baumftämme. Maria, die ſchlechte Schaufpielerin, fhlug der guten eins ind Gefiht. Darob fchmerzbaftes Frobloden der einen und jähe Flucht der andern. Die liebe Elifabetb muß fliehen, und die dumme Maria muß jegt im Berlegenbeit fein, wie fie es angattern fol, in die Ohnmacht befriedigten Rachegefuͤhls zu finfen. Ste machte es fchlecht, aber in der Art und Weile, wie fie es verpfufchte, lag wiederum dad Grandiofe. Das ganze Frauengeſchlecht, das vergangene und gegenwärtige und zufünftige, fchien hinten über, den Kopf feitwärts gefenft, in herrlich⸗ſuͤßer Beugung und Empfindung umfallen zu wollen. So fhön machte fies. Dem Verftand ward hurenbaft, dem Geflbl titanifch. Ich wußte nichts mehr, ich hatte genug, ich padte dad Bild mit meinen Augen, wie mit zwei wehrſchaften Fäuften, an und trug es uͤber die fteinerne Wendeltreppe binunter, zum Theater hinaus, an die Falte, mwinter- liche madretſcher Luft hinaus, unter den eifig-fhauerlichen Sternenhimmel, in eine Kneipe von zweifelbafter Eriftenzberedhtigung, um ed zu erfäufen.

256

Rosperlelheator

Brieffaiten

Aftrid in Röfen. Sie fragen an, ob an dem neuen ‚Hebbel- Theater auch „Das Schapfäftlein” aufgeführt werden wird. Armer Friedrich Hebbel. Wir willen nicht, ob Ihnen befannt ift, was Hebbel mit denen tat oder zu tum wuͤnſchte, die ihm immer wieder dad an fid ja wundervolle „Schatzkaͤſtlein“ unterfhoben, aber ed war das gleiche, was fein großer Kollege Schopenbauer praftifh oder im Geift bte, wenn man ihn mit zwei p ſprach oder fchrieb.

Junger dramatifcher Verfaffer. Sie Hagen und Ihre Not, in die Sie jedeömal geraten, wenn Sie Ihren Perfonen Namen geben follen. Geben Sie, mie bei fo vielem, auch bier in die Breite ded Volfd. Schreiben Sie ſich eine Woche lang alle bemerkenswerten Namen auf, die Sie in Rofal- berichten, Gerichtöverhandlungen und dergleichen finden, und Sie find auf Lebendzeit verforgt. Ein paar Beifpiele aus dem nächftbeiten Zeitungsblatt: Kückrer, Sauter, Peter Scher (ein mundervoller Name), Hugo Devel, Gröfchelt, Kiem, Hütter, Joſef Spir, Jakob Haarpuder und fo weiter. Die obern Zebntaufend beißen natürlich gemeinhin Schneider, Schufter, Miller, Bäder, Bauer, aber die untern 64999000 heißen doch vielfach noch anders. Für Ausländernamen läftige, wie man fie heute in Preußen fo gern nennt find Kurliften internationaler Badeorte fehr ergiebig.

A. D. Sie haben ganz recht. Oft find Schaufpieler deshalb fo un- erträglich, weil fie dad Leben und die Bühne verwechfeln: im Leben meinen fie auf dem Theater, und auf dem Theater meinen fie im Leben zu fein.

Borrefpondent in Bunzlau. Sie ſchreiben, der fortwährende Direftions- wechfel an den berliner Bühnen made Sie ganz verruͤckt. Der Provinziale empfeble gern beftimmte Theater, aber neuerdings könne fid fein Menſch mebr audfennen. Wo werde num eigentlidy dad „Nachtafyl” gegeben? Bald lefe man ed in Verbindung mit dem Neuen, bald mit dem Kleinen, bald gar mit dem Berliner Theater. Sei died alled Reinhardt? Ob Barnowsky und Halm im Sommer wieder nad Breslau fämen. Wieſo Barnowsky dad Königlihe Schaufpielbaus übernommen babe, und ob Doftor Fidel „Bufarenfieber” von Krafft-Ebing (es ift jedod nicht von Krafft-Ebing, wie Sie fälfhlih für Koppel-Ellfeld fchreiben, fondern von Kadelburg und Sfomwronnef) aud im ſchwarzen Rahmen aufführe wie feinerzeit „Perfeus und Melifande”, wieviel Schillertheater nun eigentlich feien, wer jetzt das Goethetheater habe, und ob das Feffingtheater ſchon mieder aufgebaut fei (Sie irren, ed brannte damald nur ein Schuppen mit Deforationen ab). Der einzige rubende Pol fei neben Fautenburg das Deutfche Theater von Brahms ja, lieber Freund, wir fünnen nicht Ihre ganze Epiftel bierherfegen, gefchweige denn beantworten. Das Tohuwabohu in den berliner Theaterverhältniffen ift des Tobumabohus in Ihrem Kopfe wirdig. Den Troſt mwenigftend wollen wir Ihnen nicht verfagen.

257

Neuer Theateralmanadı

ch geftehe offen, daß mir von den

wohlgezäblten dreißig Kapiteln, in welche fi) der lichtbraune, gold- geſchmuͤckte, 826 Seiten ftarfe Band des von der „Deutſchen Buͤhnenge⸗ noſſenſchaft“ zu Berlin herausgegebe⸗ nen „Neuen Theateralmanachs fuͤr 1907” gliedert, der Informationsteil derliebfte ift! Er macht fo viel menſch⸗ lihe Inftinfte und Gefühle lebendig, löft Erinnerungen aus des Schlum⸗ merd Tiefe, fhafft Momente bolder Rüuͤckkehr zu einft lebendigen Stunden und gibt in primitiofter Form, durch Mitteilung von blogen Namen und Daten Satiren und wehmuͤtig⸗ luſtige Eröffnungen von aͤußerſter Schlagfraft zugleih. Es ift alfo nur geziemend, daß der Mime und der Sinterefient, der Fachmann und der Beobachter angefichtd ded neuen Ban- des zunaͤchſt auf diefen Zeil losgehen. Dad Namenverzeihnid am Schluſſe ded Buches ift Führer auf diefem Wege der Spionage. Ein Griff, ein fchnelles Blättern und man weiß, wer von den Genoſſen der erften Wanderjahre, die dem Blick feither entſchwanden, audgeglitten ift, und wer fich feine Stellung gefchaffen bat. Aus Heinen Frauennamen erwachſen Porträts, die gebietend einft über einem Lebensabſchnitt des Suchenden hingen; jetzt kann er ſich aus ihrem Domizilwechſel den Fortgang ihrer fünftlerifchen und menſchlichen Ent⸗ wicklung konſtruieren. Wahrhaftig: wer ein wenig an dieſem, aus ſtrammer Arbeit, zweckloſem Sichbemuͤhen und kurzen, rauſchenden Triumphen zu⸗ ſammengeſetzten Begriff „Theater“ haͤngt, er wird dieſe Stunde des

268

ſchau

Wiederanknuͤpfens, der Ruͤckkehr zu alten Staͤtten und fluͤchtig entſchwun · denen Menſchen nicht miſſen moͤgen. Er läßt die Schemen gern vorbei» jieben: durcheinander gemengt, die Statiften einer Lebendorgie, eines Totentanzed. Begrabene Hoffnung, erblafter Ehrgeiz, vergebliches Stre⸗ ben wird hell uͤberleuchtet vom Arbeits· erfolg der Talente, vom jähen Sieg der Genied...

Die Satire, die folh ein Band bergibt, kann ſich fireng an feine Auf⸗ zeichnungen halten, braucht nicht erft das Rankenwerk abftraft-befhaulidher Gedanfen. Um ihrem im Almanadı fonzentrierten Stoffe zu genügen, wird einmal ein Humorift in einer ein paar Monate beanfprucdhenden, einen büb- fhen Band fillenden Sonderarbeit forgfältiger vorgehen müffen, ald es mir der Raum geftattet. Ich greife nur flüchtig auf, was mir in die Augen fallt. Matürlid triumphiert dabei Berlin. Man fieht den Inhalt der Ordendfaffette des Königlichen Ge— beimen Hofrat Franz Winter Berwaltungs-Direftor und ausfuͤhren⸗ ded Organ ded „Chefs“ am König- lihen Schaufpielbaufe mit Ddrei« zehn Orden, darunter vier ausländis fchen, ordnungsgemäß aufgezählt und weiß dabei, daß diefer Herr Schau⸗ fpieler, die ihm ihre Antrittövifite machen, nicht einmalzum Sigen nötigt. Man fiebt, daß der offizielle Ebren- titel „Rönigliher Hofſchauſpieler“, mit dem die Leute aus den KRunft- bäufern vom Gendarmenmarkt und vom Opernplatz im privaten Verfehr fo gern fofettieren, von Nechtd wegen nur Matkowsky, Bollmer und Kraus, ferner den durchweg etwas müde ge⸗

wordenen Damen Poppe und Lindner, Herzog und Hiedler zuerkannt ift. Das wiener Hofburgtbeater begnügt ſich im Buch mit finf Seiten weniger, ald das berliner Königlihe Schau⸗ ſpielhaus braucht, um feine Bureau- beftände, feine kaiſerlichen und koͤnig⸗ lihen Ober- und Unter-Ballettänze- rinnen, feine Pantomimiften, Ertra- horfänger, und wie die Helfer des preußifhen Theaterbureaufratißmus alle heißen mögen, einzeln herzuzaͤhlen. Aber die erften beiden Seiten der wiener kaiſerlich koͤniglichen Perſonal⸗ liſte geben ein Stuͤck Theatergeſchichte, waͤhrend man imſtande iſt, ſich aus dem berliner Hofmimenverzeichnis die guten Namen in zwei Sekunden her⸗ auszuſuchen. Das Deutſche Theater kann hier einmal einer weitverbreiteten Legende entgegentreten: denn es hat wirklich nur drei Dramaturgen! Go» wohl Schmieden wie Halm bringen ohne ſichtbaren Erfolg eine gleiche Anzahl auf. Bei der Aufnennung der Perſonalien iſt es uͤbrigens von hohem Intereſſe, daß Herr Chriſtians neben zwei andern Medaillen auch dad „Erinnerungszeichen an die ſil⸗ berne Hochzeit Ihrer Majeftäten” an die Fradbruft beften darf, welches Beſitztum von andern Herrſchaften als nicht hierher gehörig vernünftiger- weiſe diskret verfchwiegen wird. Nicht weniger fällt auf, daß eine unfrer beften Leutnants ſchwerenoͤter, Franz Schön- feld, dementfprehend fünf Auszeich- nungen für friegerifhe Vorzuͤglich⸗ feiten aufzumweifen bat, während Ferdl Bonns ſchlanker Hald noch feine Kette trägt, wenn er nicht gerade feine Defo- rationen ſchamhaft verfchweigt. Das Kleine Theater endlich ftebt in zwei Dingen eine NRafenlänge vor den Nach⸗ barinftituten. Es befigt fünf drama⸗ turgifche Helfer und vier telephonifch erreihbare Damen.

eflelnd ift ed auch, wenn man die Bühnen und Bühnden Revue paflie-

ren laßt, daß fie fidh, bei Fleinen und fleinften Mitteln, infoweit an bie Kaiferftadt Berlin klammern, als fie ihr den Namen entlehnen und nun, in befcheidener Korm, ald „Berliner Truppen”, den Mebenorten der Re— fiden; fowie den funftfinnigen Dörfern und Neſtern der Marf Brandenburg großftädtifches Theaterleben im Mi niaturabFlatfch bringen. Das beforgt in Ludenwalde, Eberöwalde, Friedenau, Groß » Lichterfelde, Fürftenwalde, Steglitz, Werder, Weißenfee, Pankow, Spandau, Bernau, Zehlendorf das auffallend vielgliedrige (ich zähle vierunddreißig Mitwirfende) „Adolf⸗ Beble- Enfemble”, welches fich mit dem Mamen „DBereinigte Berliner Vororttheater“ noch ein nachdruͤck⸗ lihered, pompöfered Relief gibt, Gleichen Kulturzweden entſpricht für Nowawes und Wilmersdorf das „Lorging-Enfemble” ; für einen Hörerfreid, der ſich bis nad Zoſſen und Fürftenwalde ausdehnen darf, „Anna Deſtreichs berliner Schau- und Euftfpiel- Enfemble“ ; für ſechsund⸗ achtzig Städte der Provinz; Branden- burg die von Mar Conrad geleitete „Gaſtſpieltruppe berliner Buͤhnen⸗ Funftler“. Ad „MNovitäten” Ddiefer fliegenden Truppen, diefer Marodeure des großen berliner Theaterapparats, find die „todfihern Sachen” der Saifonparade am beliebteften, find Sherlodf Holmes und Bufarenfieber ganz unvermeidlic).

Es wird mir ſchwer, von diefen Unterbaltfamfeiten auf die literarische Verpflichtung zu Fommen, welche der „Neue Theateralmanady” eigentlich hätte. Da aber die Mebr- zahl der ſachlich intereffierten Leſer diefen Band fuͤr mehr haͤlt, als für ein deutfched Künftleradregbuc mit Einfhluß einer ausfuͤhrlich gearbei- teten Drdendlifte, da die Heraus⸗ geberin, die „Deutſche Buͤhnenge⸗ noflenfchaft”, endlich darangeht, ihre

259

Zeitung und damit hoffentlich auch ihr Jahrbuch zu verbeflern, fo darf man wohl bier nod einmal Feuer Dahinter machen. Die deutfchen Schau⸗ fpieler fennen ficher die Jahresbreviere jener dem Andenken Goethe und Shafefpeared dienenden Fiteratur- bündler, die, manchmal reichlich dozierend, immerhin in jeder neuen Feiftung die Würde der Kunft wahren. Der „Theateralmanach“, die einzige umfangreiche regelmäßigeftundgebung eines Kunftberufs, der feit faft zwei Jahrzehnten von den Fiteraturftürmen durchfchlittelt wird, ift, fobald mehr geliefert werden foll, ald Nechnerifches und Negiftrierendes, unfagbar lang⸗ meilig! Iſt in feinen Berfuchen, einen inhaltlich und formal ernfthaften Lite⸗ raturteil zu geben, fo ungenügend, dag man Fopfichlittelnd davorſteht. Es fehlt nicht an Worten: denn die Herren, die herangezogen werden, be= völfern gewiß die vorfchriftämäßige Seitenzahl mit fauber gedrudten, ges rade ftehenden, fchwarzen Lettern. Aber das Genie idy meine den Geiſt! Ich rede gar nicht davon, daß in dem Kapitel „Allgemeine Bühnen- ruͤckſchau“ Zubilden von DBeteranen aus dem Reich der Theaterfchablone mit einer Feierlichfeit behandelt wer» den, die den geraden Weg zum lächer- lichften Perfonenfult bedeutet, waͤh⸗ rend dem achtzigften Geburtätag des Herzogs von Meiningen ganze acht Zeilen geſchenkt find. Aber inner« balb der Zeichnungen Tichatfcheds, Sonnenthals, Ibſens (von Philipp Stein!) findet ſich lediglih in der zweiten mehr ald dad VBemüben, falendarifches und anekdotiſches Ma- terial zufammenzuftoppeln; find die andern beiden ich will höflich fein nüchtern, kalt, wefenlos. Kennen die Herren am Nuder denn niemand, der, ald Bearbeiter der nämlichen Stoffgebiete oder andrer, wefend- verwandter, deutlicher, lebendiger zu

260

den Feuerherzen gerade diefer leicht entzindlichen Leſer ſprechen koͤnnte? So bleiben neben perſoͤnlich Anregendem und gaͤnzlich Gleich- guͤltigem unter 826 Seiten nur zehn vollwertig (auch flr die Menge) beſtehen. Von dieſen melden zwei von guten Erfolgen des „Deutſchen Buͤhnenſchiedsgerichts“. Weitere zwei verfimden, daß feit dem erſten Sep⸗ tember 1906 dem größern Zeil der weiblihen Bühnenangehörigen das biftorifche Koſtum von ihren Direftoren geftellt werden muß. Die übrigen ſechs Seiten glofjieren unter Namendnennung die Kiındigungen im Probemonat und mahen Beſſe— rungsvorfchläge. Aber ein Tröpfchen Sozialpolitik in einem Meer von Mebenfählihem oder Wertlofem ift dad wird aud der Optimiſt zu⸗

geben etwas wenig. Walter Turszinsky

Die Trojaner

ei dem ungebeuern Berlioz-

Kultus, den in Parid namentlich Edouard Eolonne in feinen Sonntagd- fonzerten betreibt, ift es fehr fonder- bar, daß die „Große Oper” diefe Berliog- Mode nicht mitzumachen be— liebt. Wie ſchoͤn wäre da unter dem Deckmantel der „Förderung heimifcher Tonkunſt“ Geld zu verdienen!

Daß Berliog immenfe Zugkraft auslbt, bewied die audverfaufte Matinee im vorigen Sahr, in der Weingartner „Fauſts Verdammnis“ auffuͤhrte (und in der freilich der elegante, ſchicke, charmante Monſieur „Wingartnère“ die dames dumonde mindeſtens ebenſo ſtark intereſſierte, wie das wild daͤmoniſche Werk ſelbſt). Die wenigen Opern des Meiſters ſind jedoch den Pariſern weder bei ſeinen Lebzeiten, noch nach ſeinem Tode vor⸗ gefuͤhrt worden, einige ſchuͤchterne Verſuche („Die Trojaner inKarthago” im Jahre 1863) abgerechnet. Das

Meyerbeer- Gounod- MNepertoire der „Mationalafademie flr Mufif und Tanz” läßt eben einen Modernen wie Berlio; nicht zu.

Zum Glüd liegt die ſchoͤne belgifche Haupftadt in fo leicht erreichbarer Schnellzugsnaͤhe von Paris, dag man ſich nur allzu gern entſchließt, der brüffler „Monnaie” einen Befud) ab- zuftatten, die ed, vor Paris, unter- nahm, ded Meifters reifited Buͤhnen⸗ werf „Die Trojaner” in der Urgeftalt aufzuführen.

Um ſechs Uhr intonierte das Orcheſter der „Monnaie” das Vor- fpiel zur „Einnahme Troja“, und um Mitternacht durchbohrte ſich Dido, mit der Weidfagung von der Welt» macht Roms An den bleichen Rippen, die Bruft. Eine einftündige Diner⸗ paufe trennte die beiden Fyflen, die

alfo nur fünf Stunden waͤhrten,

nicht länger ald etwa die ungekuͤrzten „Meifterfinger”. Warum alfo diefe lächerlihe Scheu der Theaterdireftoren vor der ungefürzten Aufführung des vollftändigen Werfed? Warum ftatt deffen Experimente, wie die Bühnen- aufführung von „Fauſts Verdamm- nis“?! Gewiß: in der „Eroberung Trojad” ftocft die dDramatifche Aftion zeitweife. Die Geſtalt der unglüd- lichen Seberin Kaſſandra drängt ſich mit ihren Monologen und Arien bie und da zu primadonnenhaft vor, und ihr Liebesduett mit ihrem Verlobten Chorebos gemahnt ftarf an die alte Oper. Aber ſchon in diefem Werf, das vielleicht zu vorfpielmägig an⸗ gelegt ift, um felbftändig wi zu Önnen, ſpruͤhen die Funken Berlioz⸗ ſcher Leidenſchaft, namentlich in den heldiſchen Kriegerchoͤren, und der Dichter Berlioz wußte dem Muſiker Berlio; die Steigerung der ver— baltenen Leidenfchaft meiſterlich vor⸗ zuzeichnen. Weder Oper, noch ſym⸗ phonifche Dichtung, weder inftrumen- tale Schilderung lebender Bilder,

noch auch nur gleihfam gemalte Senenmufif, irägt diefer erfte Zeil ded Zyklus in der Mannigfaltigfeit und bunten Belebheit der Vorgänge den Stempel einer urperſoͤnlichen Kunft, die fi) dann in dem eigent- lihen Hauptwerf, den „Trojanern in Karthago“ aufd prachtvollſte ent- faltet. Es ift ganz fonderbar, wie einen dad Meer der inftrumentalen Klänge umflutet, daß man, umbrauft von dem gewaltigen Strudel des Berliozfhen Orcdefterd, ganz in den Empfindungsüberfhwang diefer ein- jigartigen Kunft untertaucht. Andre Komponiften illuftrieren die Handlung, andre Dichter ftellen und Figuren oder, leider noc häufiger, Opern- puppen bin. Ganz anders Berlioz. Sein Aeneas entladt fih in Mufif, wie, um fein Mannentum ftrablend zu verfünden. Seine Dido ift feine weichliche Operndiva mit Duett⸗ inftinften und den üblichen zärtlidy fhwimmenden Filienarmbewegungen, fondern fie ift eine tragifche Geſtalt. Und über diefen beiden Trägern der ſich langfam abrolfenden Handlung waltet das düftere Troja-Tatum, das, fhon in dem Vorfpiel in der Seherin Kaffandra verkörpert, nunmehr in einer wahrhaft erfchütternden Szene fchier Shafefpearefche Grdge annimmt. Bon heftigfter Leidenfchaft zur Königin Dido entbrannt, zoͤgert Aeneas, der Weiſung der Gottheit folgend, nach Stalien zu fegeln. Da plöglic fhwirren geifterhafte Klänge, wie von ganz dünnen Harfenfaiten aus⸗ gehend, durch die Luft. Die Geifter der Kaffandra, des Chorebos, Heftor und Priamus dringen mit eiferner

tumöftarrbeit auf den zum arm⸗ eligen Sterblichen gewordenen Helden Aenead ein und zifcheln ihm dad Wort „Stalien!!!” ind Ohr. Nun ftürmt die Handlung mit Tieberhaft der Kataftrophe zu... .

Gewiß, auch diefer Hauptteil des

261

Zyklus hat Schwahen. Micht viel mebr ald Dpernfiguren find zum Beiipiel die Schweſter Anna der Königin und der Biedermannd- „Minifter” Narbal, Aber wir werden diefer Opernbaftigfeit nur vorliber- gebend inne, weil und die Haupt⸗ geftalten fo echt der antifen Gage nachempfunden erfcheinen, weil uns die Mufif fo in ihre Kreife zieht, daß wir über dem Kern die Schale vergeffen. Was an diefen „Trojanern“ befonders auffällt, ift die Gemeffen- beit des Stile. Der Dämonifer Berlioz tritt völlig in den Ninter- grund. Auf der andern Seite find diefe „Trojaner“ nichtd weniger ald „Haffif DO:perngeftalten, etwa im Sinne Glucks. Vielmehr bat es Berlioz ganz wundervoll verftanden, einen Schimmer zarter Nomantif um die blutigen Vorgänge ded Troja- unterganged zu weben. In der Dichtung finden fih Bilder von einer Zurtheit der Empfindung, die der landläufige VBerlioz- Kenner“ wohl faum in ihm vermuten möchte. Auch die rein lyriſchen Partien der Mufif, fonft nicht die ftarfe Seite des Meifterd, erfcheinen mir in den „Irojanern” im großen und ganzen echter, empfundener, denn an manchen Stellen der „Verdammnis“ oder an⸗ drer Werke. Freilich ſtehe ich im Banne einer Auffuͤhrung, die zwar hie und da nicht voͤllig uͤber ihrer Aufgabe ſtand, die jedoch von einer temperamentvollen Einheitlichkeit war, wie man ſie an der pariſer „Großen Oper“ nur zu oft ſchmerzlich vermißt.

Arthur Neisser

Berner Theater ern bat, fo Flein es ift, zwei Theater und einen Theaterftreit. Am vergnüglichften ift der Theater⸗ flreit. Nämlich: ein junger Berner bat ein Drama gefchrieben. Es beißt „Heldenende“. Auch hat er ein Vor⸗

262

wort dazu gefchrieben. Darin fteht, daß feit „Wilhelm Tell” Fein natio- nale® Drama mehr entftanden ift. Und an einer andern Stelle ftebt, daß bier num wieder ein nationales Drama vorliege. Und ed wäre eine Schande, daß es in der Schweiz fo viele „FFeitipieldichter” gäbe. Und an Nationalfefttagen, da folle man doch nicht ſolche haͤßlichen Feſtſpiele fpielen, ſondern ein richtiges, ſchoͤnes, natio- nales Drama. Man verſteht. Der junge Berner hat aber Pech. Denn das berner Stadttheater, dem er ſein Drama einreichte, will und will es nicht auffuͤhren. Nicht einmal an Wochentagen. Obgleich doch eine ganze Reihe vorzuͤglicher Roman⸗ dichter das Drama ſo ganz außer⸗ ordentlich gut gefunden haben. Und nun zankt man ſich ſeit faſt zwei Jahren um das „Heldenende“. Denn der junge Berner raͤcht ſich furchtbar, da er zugleich „Redaktor“ wie man bier jagt einer Zeitfchrift if. Da fhimpft er nun alle acht Tage: auf die Stüde, die man aufgeflhrt hat, und auf die, die man nicht aufgeflihrt bat ; aufdie, die man angenommen, und auf die, die man nicht angenommen bat. Und natürlicdy erläßt feinerfeits der Verwaltungsrat des Theaters in den Zeitungen abwechfelnd „Erflärun- gen”, „Richtigftellungen” und ſolche Sachen. Es iſt mir bis jeßt micht gegönnt gewefen, das „Heldenende” zu lefen und mir ein Urteil darlıber zu bilden. Indes fcheint mir beinabe, daß der „Verwaltungsrat“ recht bat. So etwas foll man ja eigentlid, nicht fagen ; wenn man aber die felbft- verfertigten Gedichte ded Herrn Re- daftors lieft

Nun zu den beiden Theatern. Da baben wir zunächft das Apollo-The- ater. Es liegt am Waldrand, bat eine eigene Hausfapelle (aht Mann) und eine Neibe roter Sammetfeffel, genannt Logen. Im Übrigen figt man

anTiſchen, raucht ſchweizer , Stumken“ und trinkt freiburger Bier. Eröff- nungd = Vorftellung dieſer Saifon: „Durchlaucht Nadieschen”. Wer bier Moulin rouge und die berliner Ko⸗ fotten in roſa Flanellkleidern gefeben bat, kann nie wieder ganz ungluͤcklich werden. Man fpielt ferner den „Schlafwagenfontrolleur” und „Flo⸗ rette und Patapon”, aber auch „Lum⸗ pazivagabundus” und fogar „Monna Vanna“ „ald Benefiz fir Herrn Schulze”. Kein Menſch fann feine Rolle. Könnte er fie, fo könnt er fie audy noch nicht. Die Deforationen wadeln beftändig, wahrfcheinlich vor Lachen, denn man fpielt hier auch einen „Ibſenzyklus“. Hedda Gabler, Rosmers holm. Keiner der Mitipielen- den bat auch nur eine einzige Silbe verftanden. Man fann ed auch nicht von ihnen verlangen. Sie tun recht und feheuen niemand.

Bleibt dad Stadttheater. Seit einigen Jahren bat es ein huͤbſches neues Gebaͤude, einfach und geſchmack⸗ voll, an der Kornhausbruͤcke, hoch über der Aare. Man ſpielt ſowohl Oper als Schauſpiel. Um es von vornherein zu ſagen: die Geſamt⸗ leiſtung dieſes Theaters iſt durchaus achtenswert immer unter Beruͤck⸗ fihtigung aller hieſigen Verbältniffe. Daß Bern fein allzugroßes Theater⸗ publifum bat, wird man fi ohne weiteres denfen fönnen. Ebenfo, daß dad Theater nicht die Mittel befigt, große Aufwendungen fuͤr Ausftattung und bervorragended Perfonal zu machen. Bei alledem ift dad Niveau der Opernvorftellungen immer weit ber dem Niveau des Theaterd des Weſtens in Berlin, der Schaufpielvor- ftellungenfaftimmer auf,bin und wieder uber dem Niveau der berliner Schiller- theater. DerSpielplan der Oper iſt nicht groß. Neuheiten ſind hier ſelbſtverſtaͤnd⸗ lich ausgeſchloſſen; man ſpielt die uͤblichen bewaͤhrten Sachen.

Im Drama gibt man, was in Berlin einenSaifonerfolg hat, in der Regel alſo das Schlechteſte. Aber aufrichtigen Dank muß man dem Theater wiſſen für feine reichliche und anſtaͤndige Pflege der Klafliker, und verdienftlich find auch die alle vierzehn Tage ftatt- findenden Vorftellungen diefer Stüde zum Einheitspreis von flnfzig Een» times.

Das Perfonal hat feine Leuchten auf- zumeifen. Wie follte ed auch? Befonders die Damen ſind recht mittelmäßig. Da- fr zählt das Theater erftaunlichermweife gleich zwei Mitglieder, Pötter und Gühne, die ed verftehen, eine Vor⸗ ftellung einigermaßen gefhmadvoll zu arrangieren. Und dann ift noch einer da, Ein junger Mann nämlid, um deffentwillen alleinman bin und wieder ind Theater gebt. Er nennt fih Georg Ottmay und iſt ſeines Feichend „jugend⸗ licher Liebhaber. Er hat ſchlankweg Talent und ſieht ausgezeichnet auß. Er fcheint jehr jung zu fein und hat noch mancherlei Fehler. Aber er bat den Funfen und müßte wieder ein- mal alle die Rollen wirklich verförpern fönnen, die feit Kainzend und Mat- fowäfys Avancement verwaift find. Die berliner Direftoren follten Seren Dttmay aufs Korn nehmen.

Walter Reiss

Unfer Öörfencourier u —— iſt ſo reich, daß er ſich ſelbſt in Mannheim, wo es im Jahr vier Premieren gibt, zwei Theaterkorreſpondenten halten kann. Aber er iſt auch ſo objektiv, daß er die beiden Maͤnner nicht etwa ab⸗ wechſelnd, ſondern gleichzeitig berichten laͤßt. So findet man in der Nummer von Sonntag, dem 3. März, treulich vereint folgende beiden Mitteilungen: Ein Telegramm aud Mannheim meldet und: „Muͤnchhauſen“, Schau- fpiel von Herbert Eulenberg, wurde

263

bier abgelehnt. Der Beifall galt den Darftellern.

Man telegrapbiert und aus Mann⸗ beim: Diellraufführung des, Muͤnch⸗ baufen”, eined Jugendwerkes von Herbert Eulenberg, im Hoftheater fand beifällige Aufnahme. Der Ver⸗ faffer wurde zum Schluß gerufen.

Wenn man von der Drientiertheit eines Kritiferd auf feine Reporter⸗ fähigfeiten fchliefen dürfte, fo wäre demjenigen zu trauen, der „Muͤnch⸗ baufen“ bat dDurchfallen hören. Denn die Uraufführung diefed Dramas bat vor finfZahren inBerlin ftattgefunden.

Da aber foldy ein Schluß voreilig und b

ungerecht wäre, fo fragen wir in bangem Zweifel: Was iſt Wahrheit?

Im Namen des Könige! Sn der Privatflagefadhe as ded Dr. phil. Ernft Bergmann, in Charlottenburg, Privatflägers, gegen den Schriftiteller Siegfried Jacobſohn, geboren am 28. 1. 1881 in Berlin, Angeflagten, wegen Beleidigung bat das Königliche Schäffengericht Berlin-Mitte, Abteilung 148, in Berlin am 1. Februar 1907 für Recht erkannt:

Der Angeflagte ift der Beleidigung ſchuldig und wird deshalb zu einer Geld⸗ ftrafe von einbundertfünfzig Marf, an deren Stelle im Nichtbeitreibungsfalle für 10 zebn Marf ein Tag Gefängnis tritt, und in die Koften ded Verfahrens verurteilt.

Dem Beleidigten wird die Bes fugnid zugefprochen, die Verurteilung auf Koften des Schuldigen binnen Monats friſt nach Zuftellung des rechts⸗ kraͤftigen Urteils an ihn je einmal in der „Schaubuͤhne“, in der „Welt am Montag“, in der „Poſt“ und im „Berliner Boͤrſencourier“ oͤffentlich

ekannt zu machen.

Die Richtigkeit der Abſchrift der Urteilsformel wird beglaubigt und Die Nechtöfraft des Urteild befheinigt.

Berlin NW. 52, Werftſtraße 7,

den 15. Februar 1907. gezeichnet: Brell

Gerichtäfchreiber des Königlichen

Amtsgerichts Berlin-Mitte, Abteilung 148,

Deutfche Uraufführungen 12. 2, Mattbhied: Joſef Manns, Schaufpiel. Stendal, Stadttheater. 14. 2, Alfred von Galle: Fran- cedca von Rimini, Trauerfpiel. Hirſch⸗

erg. 18. 2. Felix Knoll: Nechtöfreunde, Advofatendrama. Wien, Luftfpiel- theater.

19.2. Ernft Klein: Nicolai Oltean, Soldatendrama. Wien, Naimund«-

theater,

Karl Marfeld- Neumann: Die Lumpen, Drama, Leitmerig, Stadttheater.

23. 2, Nobert Meiner: Krieg, Dialoge. Minden, Schaufpielbaus. . Hirfhfeld: Mieze und Maria, Komödie. Berlin, Lejjing- Theater.

24. 2. Johannes Wiegand: Früh- lingöftürme, Schaufpiel. Dortmund, Stadttheater.

1.3. Karl Bötther: Wegen Preßvergeben, Gefängnisbild. Berlin, Figaro.

2. 3. Nudolf Nittner: Marren- tanz, Spielmannddrama. Berlin, Scillertheater.

Rudolf Lotbar und Leopold Lippſchuͤtz: Die große Gemeinde, Luſt⸗ fpiel. Wien, Burgtheater.

He Nachruf auf Joſeph Lewinsky und die Kritifen uͤber Nittnerd „Narrenglanz” und Kainzend Die pbifto koͤnnen erft in der naͤchſten Nummer erfcheinen.

_

Berantwortlich für die Redaktion: Siegfried Sacobfohn, Berlin SW. 19

Berlaa von Deſterheld & Eo.,BerlinW.15 Drud von Imberg & Leflon, BerlinW.2

CEST TEE TEE EEE re vun: zauur A yuuvivuuevnunsunuvsunnn

J$. März J907 III. Jahrgang Yıummer 11 22

Über Strindberg von Wilhelm Michel

ad Schauſpiel „Oſtern“ iſt entſchieden eine Tragoͤdie. Zwar zeigt

es uns kein Unterliegen vor den Widerſpruͤchen des Lebens. Im

Gegenteil: Das erwartete Boͤſe tritt nicht ein, das ſchwebende Damokles⸗ ſchwert ſauſt nicht herab, die drohende Wolke, die alle Szenen des Stückes mit einem fahlen, infernaliſchen Gewitterlicht erfuͤllt, entlaͤdt ſich nicht. Aber gerade dieſes Nichteintreten des erwarteten und ſcheinbar unabwendlichen Unheils wirkt tragiſch. Muͤſſen es immer Menſchen ſein, deren Unterliegen ein Drama zur Tragoͤdie macht? Wie in „Oſtern“ ſich die ſchwarz heran⸗ gebrauſte Wolfe zerteilt, die Stuben ſich lichten und ſtrahlende Himmels- blaͤue hervortritt, da erfaßt uns ein ſtoͤhnendes Weh und ein abgruͤndiges Mitleid: Unſer Herz jammert um das Boͤſe, das ſich nicht manifeſtieren durfte, das fein großes, ſchoͤnes Leben nicht ausleben fonnte. Strindberg macht und Tränen ded Mitleids vergießen, wenn dad Glüd fommt, Tränen ded Mitleid mit dem Teufel.

Strindbergd Schdpfungen haben einen Geſchmack, den man heute nicht oft auf die Zunge befommt: fie ſchmecken nad Welt. Das ift ein Gefhmad von einer unerhörten, herzfräftigen Schärfe und von einer wilden Bitterfeit. Aber ift ihm zugleich eine tiefe Süße beigemifcht. Wer ihn auf der Junge bat, dem fchmeden eine Zeitlang alle andern Quellen fade.

Strindbergd „Befehrung”. Alte und neue Romantiker werden Fatholifch, um den „Frieden“ zu finden. Strindberg befehrt fih, um neuen Streit zu finden. Er perfonifiziert die Beziehungen zum Unendlihen nur deshalb, um ſich neue Gegner (Gott), neue Schladhtfelder, neue Schug- und Truß- waffen zu erfchaffen. „Sch verließ die Sfepfis, weil fie alles intellektuelle Leben zu untergraben drohte.”

Das Mittelalter fpricht mit Wolfram: „Wo zmivel herzen nachgebur daz muoß der Seele werden fur.” Bei Strindberg ift der Zweifel Prinzip de Lebens, er ift die große polarifierende Kraft, er ift der Sauerteig der Welt.

265

„Mad Damaskus” wäre eine prächtige Aufgabe für eine Marionetten- bühne. Wenigftens fieht man beim Lefen unausgefegt die fcharfen, uner- bittlihen Umriffe energifch harafterifierter Puppenföpfe vor fih. Ein Schau- foieler dürfte Faum ſoviel Tod in fih haben, um in diefem Stud nicht ftändig aus der Rolle zu fallen. Es fehlt den Menfchen diefes Stückes dad Hauptmerfmal des Lebens, nämlid dad Unfontrollierbare und die Sprünge des Geblütd. Ihre Gefichter find ſtarr und glänzend ladiert, und jeder hat eine beftimmte Reihe von Geften, Mienen, Worten und Erlebniffen, die fi) ftändig wiederholen. Auch das Schicfal hat in diefem Stud etwas Mafchinenhaftes, Hoͤlzernes, Automatifhes. In den Paufen des Dialogs bört man im Hintergrunde die Mühlen Gottes faufen und mablen.

Strindberg fheint das Leben (den Robftoff des Kiinftlerd) fo zu ver- dichten, zu fublimieren und auf Effenzen zu reduzieren, bis e8 zum Schluffe ſchlechterdings Gift ift.

Strindbergd Gehalt an Metaphyſik ift größer, ald irgend einer feiner Beurteiler fich bis jetzt hat träumen laffen. Aus den Bildern van Goghs und Gaugbind erinnert man fi der breiten fchwarzen Kontur, welche die grellgefärbten Gegenftände, Menfchen und Dinge, umfließt und feffelt. Diefer felben ſchwarzen Kontur begegnet man bei Strindberg: einen Streifen Nacht, einen Streifen Chaos und Weltraumdunfel legt er um feine Geftalten.

Der immermwährende Held feiner Dramen ift der Demiurg, dad Prinzip der Individuation. Heulend und jammernd geht er uͤber die Bühne, von undefinierbaren metapbufiichen Widerfahhern verfolgt. Und zum Schluß fchlägt er die Hände vor dad Geficht, die groben, ſchweißigen Verbrecherbände, mit denen er die Welt gefchaffen hat.

Strindbergd Verleumdungen ded Weibes find weſentlich mehr ald platter, plumper Weiberhaß. Sie find nur eine Äußerungsform jener großen Feind» haft, die er bis an die Schwelle des Alterd berangetragen hat: der Feind» fchaft gegen daß Feben, gegen das Unbewußte, dad Elementare, dad Trieb- bafte. Traut man Strindberg wirflih zu, daß er fuͤr das einzelne Weib nicht jene Entlaftung babe finden können, daß alles Notwendigfeit und mithin Unfhuld ift? Strindberg haßte dad Weib nur ald einen Teil jener Kraft, die ihrem innerften Weſen nach unbewußt, mithin unvernünftig und unfittlich ift. Den „Mächten“ wirft er ja faft genau diefelben Fehler vor wie feinen Weibern. Ya, er fommt ihnen fogar mit der impertinenten frage: „Sind etwa Weiber zur Mitregierung angenommen worden?” Als hoͤchſtes Gut achtet der Mann und Germane Strindberg die geiftige Souveränität, die Bewußtheit. Und Dr. Borg, eine feiner frübeften Selbftipiegelungen, teilt fhon die Menfchen ein in Bewußte, Selbftbetrüger und Unbewußte. Ver— ſchiedene Male fommt in feinen Dramen die Neplif vor: „Ich wollte des Lebens Narr nicht fein!” Damit fpricht er zugleich den Grund feiner Weiber- feindfchaft aus.

266

Don Kainz und andern Dingen

| ogol8 „Revifor” macht immer Freude. In der fünftlerifhen Situation G dieſer berliner Wochen und Monate mußte die Auffuͤhrung des Deutſchen

Theaters dreifache Freude machen. Eine gute alte Komoͤdie unter ſchlechten neuen Tragoͤdien, die vornehmlich dann Tragoͤdien ſind, wenn ſie Komoͤdien heißen. Eine hoͤchſt vortreffliche Enſemblegabe waͤhrend der ſchlimmen Geſamteindrücke des Kainzfchen Gaſtſpiels, das immerhin nicht fo unberechtigt iſt, wie die ſchnelle Wiederkehr der uͤberſchaͤtzten Frau Deöpr&3 ſamt ihrer traurigen Truppe und ihren leeren Stüden. Andre Gaftereien ſtehen nahe bevor. Mit ihren grellen Sonderbedingungen nehmen fie die willfährigen Kosmopoliten der Reichshauptſtadt vollends gefangen. Was bei und an fliller, ernfter Runftarbeit geleiftet wird, tritt dagegen in den Hintergrund. Es muß bervorgezogen, geſtuͤtzt und gepriefen werden, oder es entftehen wieder jene Zuſtaͤnde, die dereinft die Freie Buͤhne not⸗ wendig gemacht haben. Someit fich ihr Neformationdtrieb auf das Theater an fich erftredite, war ihre Lofung das eine Wort: Enfemble. In ihr lite- rarifched Programm fiel, wegen feines fozialfritifhen Gehalts, ein Stüd wie der „Reviſor“. Aber er fonnte nicht zur vollen Wirfung fommen, meil eben das Enfemble erft angeftrebt wurde. Es fehlte auch noch, als fpäter unfre Hofblhne den „Reviſor“ aufnahm. Vollmers fomifche Herrlichfeit ftand, unabfichtlich, breit im Vordergrund und verfchob dad Schwergewicht. Jetzt bat ein neuer Regiſſeur des Deutfchen Theaters, der witzige und gewandte Rudolf Bernauer, endlih einmal Gogold Komödie im richtigen Gleichmaß aller ihrer Teile gezeigt.

Der „Revifor” ift eine Poſſe, eine Satire, ein Zeitbild und ein Stüd Leben. Am unmefentlihften ift das Zeitbild. Spät erklingt, was früh er- Klang: das Gefchrei gefnuteter Tſchinowniks und die Anklage ihrer Dichterifchen Mortführer. Bon 1836 bis 1906 hat fi nur der Ton diefer Anklage verändert. Die Neuen fagen weinend, die Alten lachend diefelbe Wahrheit. Die Alten hoffen noch zu beffern und zu befebren, die Neuen haben es auf- gegeben. Bor fiebzig Jahren wollte Gogol mit Recht beachtet wiffen, „daß hinter feinem Lächeln heiße Tränen verborgen feien”. Im Zeitalter der weichmuͤtigen Mitleidspoeten handelt ein Regiſſeur geſcheit, wenn er Gogols humoriſtiſche uͤberlegenheit ſtaͤrker betont als das Wimmern ſeiner Bruſt. Dieſe Überlegenheit, handfeſt und ſtrupellos, verſchmaͤht fein Poſſenmittel. Das Deutſche Theater iſt nicht paͤpſtlicher als der Papſt. Es wird grotesk, wo es irgend kann: im jagenden Tempo, in der verwegenen großgeblumten und buntkarrierten Koſtuͤmierung, in dem Reichtum an tollen parodiſtiſchen Einfaͤllen. Hier führt Frau Wangel in wirbelnder Laune eine Schar von

267

Komifern, unter denen der Poftmeifter unmöglich ift, die aber fonft alle an ihrem Fled ein lautes Gelächter erwecken. Das Gelächter hört auf, wo die harmlos beitere Poſſe zur bittern Satire wird. Es ift wahrfcheinlich dad Verdienft des Negiffeurd, daß er diefe Satire auf dad rechte Ziel gelenkt hat: micht, wie ed anderdwo geſchieht, auf den Pſeudoreviſor Chleſtakow, fondern auf den Polizeimeifter ald dad Haupt der verruchten Fleinftädtifchen Beamtenfippfchaft, binter der die Verwaltung ded ganzen großen Rußland ftebt. Es ift fücher- lich das Verdienft ded Herrn Wegener, diefen Polizeimeifter in großem Fuge jo erſchreckend echt geitaltet zu haben, daß einem dad Faden verging. Feig und defpotifch, rob, dumm und gefräßig: dieſes Porträt bat uͤber das ein- zelne Modell binaus kulturgeſchichtlich typiſchen Wer. Was ift daneben Chleſtalow Großes? Ein humoriſtiſch geſehenes Menfchenfind unfduldigerer Art. Ein Stüd europätfcher Wirklichfeit aus den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts und vielleicht fogar einer von den Vorläufern Hjalmar Efdals. Er tft beileibe fein Betrliger. Er benebelt fid) fo lange an feinen Phrafen, bi® er fie felber glaubt. Herr Waßmann fpielt dad reizend es gibt bier feinen andern als diefen etwas backfiſchhaften Ausdrud und macht an dem Punkte Halt, wo männlidere Schaufpieler dad Stud an die Tragödie beranführen und fprengen wuͤrden. Sie fünnten naͤmlich dahin fommen, den Platz, den ihnen die Borniertheit und Miedrigfeit der Mitmenjchen eingeräumt bat, ſich ernfthaft anzumaßen und dadurch in Geiftedverwirrung zu ſtirzen. Zu folder Entwidlung ift Herm Waßmanns Weife zu fanft. Auch er ift weiß und rot, wie ed die Mädchen lieben. Er hat eine ent- waffnende Fiebenswiirdigfeit, verlegt die Befcheidenheit der Matur in feinem Augenblick und gewinnt eine fo Freatürliche Lebendigkeit, daß fich die reinfte Komoͤdienfreude an feinen lockern Streihen und der bunten Blafen feiner Phantafte einftellt.

Ich bin ketzeriſch genug, für diefe leichtfüßige, muntere, faubere und runde Vorftellung nicht einen, fondern die erften drei Gaftfpielabende des großen Kainz zufammen binzugeben. Er müßte ja viel, viel größer fein, um mit den Unmöglichfeiten und Lnerträglichfeiten dieſes Gaftfpield aus⸗ zuföhnen. Taffo und „Taſſo“ verzerren fich in der Erinnerung immer ärger. „Fauſt“ mar feine geringere Verfündigung. Damit ift nur zu einem Zeil die Unzulänglichfeit armer Schaufpieler gemeint, denen ohne ausreichende Proben die gemaltigften Aufgaben unfrer dramatifchen Fiteratur zum erften Mate zugemutet wurden. Mod; verlegender ift doc wohl die Praxis des Neuen Schaufpielhaufes, zwifchen Herenkuͤche und Gretchens Kirchgang eine Paufe von fünfunddreifig Minuten einzufchieben und durch Ausrufer eine Soupergelegenheit in den Nebenräumen des Theaters verfündigen zu laffen. Gegen folhe Mächte fämpfte vielleicht felbft ein Mephiſto vergebens, der

268

mit der Hölle im Bunde ftünde. Kainz ift auf fich felbft aingewiefen, und das ift bier zu wenig. Wer einem Dichter dad glaubt, mad er über feine: eigenen Dichtungen fagt, fünnte Kainzens Mephifto rechtfertigen. „Hat micht auch,“ fragte Edermann 1831, ald der ganze ‚Kauft‘ bereitö zu. uͤber⸗ bliden war, „bat nicht audy der Mephiftopheles daͤmoniſche Züge?” „Nein,“ gab Goethe zur Antwort, „der Mephiſtopheles ift ein viel zu negatives Wefen.” Denn dad wahr wäre, gebührte Kainz der Preid vor allen andern Teufeln. Denn fein Mepbifto ift fo gut mie gar nicht vorhanden. Aber der Aus- ſpruch ift felbftverftändlih nur aus dem hoben Alter des betracdhtfamen - Dichters zu erflären, der nicht mehr gegenwärtig hatte, welche Fülle von pofitiven Zügen er im Laufe der jabrzehntelangen Arbeit dem Mephifto gegeben hatte. Kaim macht ed ſich mit diefen Zügen leicht: er läßt fie weg. Er bat überhaupt feine Mephiſto⸗Phyſiognomie. Er ift nicht des Chaos mwunderlicher Sohn, fondern der Fluge und Flare, unabgründige und redebegabte Herr, der er auch in andern Rollen ift. Er ift nicht das Prinzip des Böfen, vor dem einem Gretchen heimlich graut, fondern ein jugendlicher Liebhaber, zu dem es fid eigentlich bingezogen flihlen müßte. Er ift feine Spottgeburt von Dred, aber aud feine von Feuer, weil er fi ja doch bemüht, ein Falter Sfeptifer zu fein. Er wird nicht einmal dad. X jeder Menih bat halt a Sehnſucht. Kainzens Mephifto ift darin ganz Menſch, der er nicht fein dürfte, Daß er fich mit fchledht verhehlter Unzufriedenheit in Fauſts und Gretchens Sphäre fehnt. Er ift daflır weder der Unter menſch, der er ſein ſollte, der Herr der Froͤſche, Floͤhe, Wanzen, Laͤuſe, noch der Übermenſch, zu dem Mephiſto an vielen Stellen ſich erhebt. Er mag immerhin ein Schalk ſein; aber ein Schalk, mit dem Gottvater ſelbſt ſich unterhaͤlt, hat uͤbermenſchliches Format. Was bleibt? Ein Kavalier wie andre Kavaliere.

Wie ſchaͤdlich ſind dieſe Gaſtſpielabende! Wer durch ſie Mephiſto, Fauſt und Taſſo kennen lernt, lernt den Schattenriß oder die Karikatur dieſer Ge⸗ ſtalten kennen. Wer durch fie Kainz kennen lernt, lernt nicht den richtigen Kainz fennen. Er ift diedmal nicht er felber. Als er, vor zwei Jahren, mit dem Burgtheater bei und war, ftand er zwifchen Schaufpielern, die ihm nicht alle gewachfen waren, von denen aber faum einer feiner unwert war. Solche Umgebung braucht er, denn er ift fein Virtuos. Sept ſteht er fo: ziemlich auf fi) allein und wirft darum ald Virtuos. Das demoralifiert das Publikum. Es kommt nicht eines Enfembles, nicht eines Stuͤckes, fondern diefes einen Gaſtes wegen ind Theater und brutalifiert Enfemble und Dichter, wenn der Saft in der erften halben Stunde des Stüdd noch nicht aufgetreten iſt. An Kainzens Einafterabend ift auf diefe Weife Bahrs „Armer Narr” (der am 13, Dezember 1906 bier nad) Verdienft charafterifiert worden ift) weit

289

ſchlechter weggekommen ald Ernft Weliſchs und Mar Bernſteins Reimereien vom „Feſt des Sankt Matern” und vom „Goldenen Schlüffel”.

Kainz gibt da hintereinander einen Zauberer, einen Narren und einen Pierrot. Ich kann diefe drei vielgerühmten Leiftungen fo hoch unmöglich ſchaͤtzen. Bahrs Narr ift leichter und ſchwerer zu fpielen, ald die beiden andern Rollen. Er ſpricht finnvolle® und unfinniges Zeug durcheinander und ift in feiner feiner Äußerungen zu fontrollieren. Der Schaufpieler fann machen, was er will. Die eine Nuance ift fo richtig und fo un- notwendig wie die andre. Es ift Sache einer fertigen Technif, die Nuancen fo nebeneinander zu feßen, daß der Eindrud entſteht: Weld edler Geiſt ward bier zerftört! Diefen Eindrud weckt Kainz. Es wäre Sache eined tiefen Menfchentumd, und mit unendliher Trauer um diefen un— rettbar zerftörten edeln Geift zu erfüllen. Das wirde Sauer tun. Bei Kainz glaubt man immer wieder, jemand, der durch eine Begebenbeit ftarf betroffen worden ift, fie anichaulih vorführen, aber man glaubt nicht, diefe Begebenheit felbft gefcheben zu feben. „Wie vieler Reden wären wir entledigt, verftunden wir der Dinge ſtumme Predigt,” heißt ed in einem der beiden andern Einakter. Mit den richtigen Vorzeichen verſehen, gibt dieſes Wort die treffendfte Eharafteriftif des Kainzfhen Spield. Er braucht die vielen Neden, wenn und der Dinge Predigt nicht ftumm bleiben fol. Er muß reden fönnen. Darum ift er ald Zauberer Ziriax und ald Bern- fteind Maler unübertrefflih. Nur daß gerade an diefen beiden Puppen nicht8 gelegen ift. Hier triumphiert die Genialität feiner Stimmbänder. Er fpriht und fpriht. Er fpricht laut umd leife, flutend und ebbend, ſchleichend und rafend, ſcharf und fpig, dunfel und hell, Falt und warm, jaudygend und flagend mie immer Sinn und Situation es fordern. Er bat für die delifateften Impreffionen, flr die unfagbarften Fineffen, die intimften Abftufungen und die gebrodenften Reflexe noch einen Tonfall, eine Stimmnote und einen Zungenſchlag. Die Genialität feiner Gelenfe bilft nah. In die federnden Bewegungen der prinzlidhen Geftalt legt er die ganze Impetuofität feines fladernden, flüffigen, bizarren, launifchen Temperamentd. Kein Auge und fein Ohr kann folhem Zauber wider- ſtehen. Jedes dichterifche und jedes undichterifche Wort blüht an Kainzens Körper, in Kainzens Munde auf, fpringt auf uns fiber, nötigt zur Hoch⸗ achtung, ja zur Außerften Bewunderung und läßt legten Endes falt. Es fehlt diefer romanifch-romantifchen Geiftes-, Nerven- und Leibesfunft jene verborgene, geheimnisvolle, anonyme Macht, die lebendige Drganiömen zeugt. Es fehlt an elementarer Menfchennatur. Es fehlt die ganz eigene fchöpferifche Kraft des Empfindens, Schauen und Geftaltend, die das Wefen der großen germanifchen Perfönlichfeitöfunft ausmacht.

270

Schillertheater/ von Julius Bab

on Georg Fuchs, der doch der belleniftierenden Umwandlung unfers

Theaterd zum „Feſtſpielhaus“ viel fompathifcher gegenüberfteht ala

ich, fonnte bei feiner Würdigung des neuen, wuchtig ſchoͤnen Schiller theaterd in Charlottenburg bier ein Bedenken nicht unterdrüden: „Schon der Anbli der ſtufenweis emporfteigenden, von bligenden Lichtwogen lıber- goffenen Menfchenmaffen hat etwad derartig Monumentaled, daß der Kon verfationdton der intimern Schaufpielgattungen nicht recht dazu paffen will,“ fhrieb er. Das Amphitheater fei nur flir den „Freskoſtil ded großen Dramas“, Ich teile nun zwar feine Meinung, daß das Bühnenhaus, folange eben für eine Bühne mit wechfelndem Repertoire nur ein einzige® Haus erbaut werden kann, mehr dem Geift Schillerd ald Moferd angepaßt werden follte. Aber obſchon ich überzeugt war, daß man ed wagen müffe, erfchien mir das Wagnis fo monumentalen Rahmens doc noch viel größer ald ihm. Denn nicht nur in der Buntheit ded Repertoires lag die Gefahr, dag Form und Inhalt im neuen Haus fich mwiderfprächen. Es war noch nichts gewonnen, wenn in diefem Amphitheater wirflih Schiller, Shafefpeare und Sophokles geipielt wurden gefpielt in jenem laumarmen Matürlichfeitäftil, in jener engen und etwas ftaubigen Nichternheit, mit der Raphael Loͤwenfelds Enfemble die Klaffifer biöher im Friedrich» Wilhelmftädtifchen Nangtheater agiert hatte, Mehr ald auf alles andre fam ed darauf an, in diefen pathetiſch großzügigen Rahmen eine ebenbürtige Infjenierungd- und Menfchendarftellungsfunft zu ftellen. Sonft bliebd ein Schneider in des Nitterd Ruͤſtung.

Meine Furcht behielt Recht. Man eröffnete dad charlottenburger Schiller⸗ theater mit Schillerd muchtig fchöner, pathetifch großzügiger Jugenddichtung :; man fpielte im mächtigen Amphitheater „Die Räuber“. Aber ed waren Schneider, Schneider in Nitterruftung. Noch nie in den alten, ausdruckslos unförmigen Spielfäften der Chauffee- und Wallnertheaterftrafe bat das Scillertheater-Enfemble fo beflemmend deutlich bewieſen, was es nicht fann; erft diefer monumentale Rahmen fchlug in hellem Kontraft heraus, wie unfähig dies fonventionell philiftröfe, fraftlofe Theaterfpiel zu Elaffifcher, zu monumentaler Wirkung ift. Es find die Nachwehen des naturaliftifhen Dogmas, unter denen fi diefe Schaufpielfunft windet. Died ganze Enfemble fennt nur eine negative Tugend: „nicht unnatuͤrlich fein“. Noch der legte Banditendarfteller glaubt feine Qualifikation flr dad Brahmſche Enfemble erbringen zu müffen und ift natürlich, fo nämlich, wie er wahrfcheinlic im Leben ift: nüchtern, langweilig, konventionell, fentimentalphrafenbaft, unintereffant bimmel- fchreiend unintereffant! Er ahnt nicht, Daß dad gefährlihe Prinzip des „Natuͤrlichſeins“ nur allenfalld erträglich ift, wo große, feltene Naturen find: Rittner und Elfe Lehmann. Und aud die Grenzen diefer großen Künftler liegen darin, daß fie ihr Sein nicht in fefttägliher Umformung, fondern im firogenden, aber immer begrenzten Alltag auf die Szene ftellen. Fuͤr die Geringeren vollends bleibt feine Nettung, ald mit der Kraft der

271

Begeifterung eine raufchhafte Steigerung ihres normalen Ich zu erzwingen: fie werden dann fo natlirlich fein, ald ihre Wegeifterung echt if. Und fei fie uneht! Diefe Schlafburfhen können und wahrhaftig Sehnſucht nach dem hohlrollenden Heldenfchreier beibringen. Die aͤlteſte Schule hatte, wenn nicht die Kraft und die Kunſt, fo doch den Schein davon. Diefe natuͤrlich Obnmächtigen haben nicht den einmal, haben gar nichts. Und die Negiffeure des Schillertbeaterd haben fein Gefuühl daflır, daß zum min« deften diefer Schein erzwungen werden muß. (Daß er erjmungen werden fann, taͤuſchend gut erzwungen werden fann, bemeift Reinhardts Enfemble- funft, die oft gemug mit gleich unbebeutendem Schaufpielermaterial arbeiten muß.) Gewiß kann man dem Regiſſeur diefer troftlofen „Räuber“ nicht alle Schuld zufchieben; aber man kann ihn nicht freifprechen. Auch der ſchwaͤchlichſte Schrei kann gewaltig Flingen, wenn man ihn von zwei eiöfalten Sekunden völliger Stille einrahmen läßt; die Geften eines Frifeurd koͤnnen noch cäfarifch wirfen, wenn man die Umgebung in einer refpeftvollen, gleichſam cäfarifch gebannten Diftanz hält; mit den geringften Worten läßt ſich doc die Proportion ded Echten nahahmen: es kann, wenn nicht Die große, ftarfe Kunft, doch ihre rhythmiſche Außenform erreicht werden. Die Schillertheater- Regie erreicht nichts; fie afgentuiert nicht, fie kennt nicht die Betonungsmacht der Paufe, nicht die Wirkung einer langausgehaltenen Gefte. Alles verwiſcht ſich in einer monoton geraͤuſchvollen Rebendigfeit. So trifft ein Zeil der Schuld den Regiffeur; die größere Hälfte aber wälze er getroft den unglüd« feligen Geftirnen zu, die den Direftor Loͤwenfeld wähnen liegen, er fünne fi an Georg Paeſchke einen Darfteller „heldifcher Männer” erziehen. Die Perfon mag unwichtig fein; nicht ganz unwichtig ift die Stelle, an der fie fteht: In einem großen neuen Vollstheater foll große Kunſt einer großen Maſſe uͤbermittelt werden, vielen gewiß ganz neu, zum erften Mal und Direftor Loͤwenfeld wählt zum Mittler Herrn Paefchfe, den Typus des „begabten Primaners“; einen Dilettanten, der fuͤr allen fchöpferifhen Rauſch des Menfchengeftaltend hoͤchſtens etwa die naive freude am „temperament« vollen” Theaterſpiel hat; der feinen eigenen Laut und feine eigene Geſte befigt; der Wildes fchnell und Trauriges langfam auffagt, mit den gelernten Geberden eines Schülerd und mit der feelifchen Unterfcheidungsfähigfeit eines fröhlichen Handlungsgebilfen. In diefer Interpretation lernen: die Abonnenten des Direftord Löwenfeld Schiller, auch Kleift, auch Goethe, auch Shafefpeare fennen. Gewiß, ed wird ihnen gefallen: Herr Paefchfe und dieſes Enſemble⸗ fpiel ift ja Geift von ihrem Geil. Aber wenn man doc die Philifter im ihrer Luft laffen will, fo tut ed nicht not, Schillertheater zu gründen, ſo foll man fie fih von Blumenthal erbeitern und. von Philippi angrufeln laffen. Will man aber mehr, will man Menfhen aus ihrer Stubenluft binaufführen in freiere Atmofphären, fo geht ed nicht an, daß man „Näuber“ aufs Programm fegt und fie von Schneidern fpielen läßt. Gewiß, Matkowsky ift nicht zu haben und Nittner und Kaypler auch nicht. Aber irgend eim Menſch wird doch noch für das Schillertheater zu finden fein, der Mark im

212

den Knochen, einen Schrei in der Kehle und ein Juden im Herzen hat. Herr Paeſchke bat nichts von alledem; er fpielte den Karl Moor, und die „Räuber“ waren begraben, begraben, trogdem ein fehr viel befferer Franz, ein erträglicher Vater, ein möglicher Spiegelberg zur Stelle waren. Denn diefes Stüd ftebt auf der Geftalt des Karl, und nicht er mit feinen pſychologiſchen Erzentrizitäten, fondern der im pfychologifdhen Detail viel geiftreichere Franz ift der Todedpunft von Schiller erftem und beſtem Stud, Weil nicht ein furchtbar typiſcher Nepräfentant der fozialen Welt, fondern ein durchaus untypiſches, faum erhoͤrtes Scheufal den Karl Moor zum Verbrecher werden läßt: darum ift diefe Tragödie ſtets in Gefahr, doch nur ald eine traurige Näubergefchichte zu wirken. Nichts kann ihre Größe retten, ald ein Dars fteller, der den Karl fo mit tobenden Febenäfräften erfüllt, daß man fpürt: bier muß, auch ohne Schurfen von Bruder, ein Rebell gegen die Gefellfchaft entfteben.

Zum Glüd ſteht diefer Niederlage im neuen Haufe ein Sieg im alten entgegen. Im Schillertheater O. fpielte man Rudolf Rittners „Narrenglanz“; jzweifello8 die verdienftlichfte Uraufführung, die die Direktion Loͤwenfeld in den dreizehn Jahren ihres Seins gebraht bat und dazu, fuͤr meinen Geſchmack, nah „Fruͤhlings Erwachen”, die erfreulihfte diefed Winters, Das Stüd, von dem ich bier fehon einmal ſprach, ift ald Theaterftüd naiv; daß eine lange, fehr intime Fiebesfzene in großem, offenem Saal fpielt und belaufcht wird, ift Drebpunft der äußern Handlung. Es ift ald Drama ſchwach: denn das Verhängnis ded Spielmanns, der in allem Glanz; Männern und Frauen nur Genußobjeft, nicht fittlich gleichgeachtete Perfönlichkeit ift, died Verhängnis ift nicht mit tragifcher Notwendigfeit aus der Spielmannd« natur, der durch und durch unbürgerlichen, eigenen gefellfchaftäfremden Ge» fegen folgenden Natur des Künftlerd entwidelt. Wolfnarrd Schidfal er- fheint nur ald Ausflug der befondern fübllofen Roheit der Hofgefellichaft, in der er lebt, und die etwa das deutfche Publifum repräfentieren fol. Ja, Nittner ftellt fogar im Grafen von Oppeln den vertraten „edeln Mann“ . neben den Kurfürften, und man muß fi fagen: regierte diefer flatt jenes, fo wäre alles gut. So aber liegt ed nicht! Gewiß bat Wolfnarr Recht ; aber das fieht Rittner niht auch die Gefellfchaft hat Recht. Das Necht ihred bürgerlichen Selbfterbaltungstriebed, der den Ungebundenen, den Freien, den Eigengefeglihen nicht achten kann. Es braucht fein Menfchen- freffer wie der Kurfürft zu fein, es braucht nicht Deutfchland zu fein: auch Griehenland und Perfien, England, Franfreih und Norwegen haben ihre großen Künftler nicht beffer behandelt, nicht beſſer behandeln können. Erft in diefer Univerfalität und Notwendigfeit des Künftlerlofes liegt feine Tragif, Nittnerd rein parteilihe Anklage der Gefellfchaft bricht die dramatiſche Kraft. Sein Werk wird im Grunde nicht mehr dialogifch, fondern einftimmig, Iyrifch. Nun aber ift zu fagen, daß diefe Igrifche Kraft, Died rein Dichterifche, diefe Klage und Anklage des leidenden Kuͤnſtlermenſchen unendlic ergreifend durch alle Szenen ftürmt, unerhört blutvoll in jedem Satz erzittert. Im Angeficht diefer dichterifch verflärten blutenden Menfchlichfeit darf nicht nur von den,

273

allerdingd umerfüllten, Forderungen der dramatifchen Kunftform gefprochen werden. Es iſt nicht wahr, daß es lediglich ein Wiffen um Rudolf Ritters Derfönlihfeit it, das und ergriffen fein läßt. Hier ift Wortfunft, die und die ftolge, bittere Schönbeit einer reinen, großen Menfchenfeele enthält. Wortfünftlerifche Offenbarung der Natur in der befondern Brechung eines ftarfen eigenen Temperamentd. Es ift nicht wohlgetan, von rein theatra- liſchem Standpunft hochmuͤtig über ſolche Offenbarung abzufprehen; es ift nicht gut, das „blos Menſchliche“ mit wohlmollendem Nebenbei zu erledigen. Denn die Kunft ift legten Endes eine fehr, ſehr menfchliche Angelegenheit.

Die Aufführung im Schillertheater gab allerdings die dDichterifche Macht des Werkes nicht ungebrochen wieder. Der Negiffeur ließ auf den Höhe» punften wieder organtfatorifhe Energie und bildnerifchen Geift vermiffen, und Die weibliche Geftalt des Dramas fab man in einer Entftellung. Noch vorigen Winter befaß diefe Bühne in Elfe Wafa die hberhaupt denfbar befte Darftellerin für folhe ſtolze, finnliche Edeldame mit unzerftörbarer Haltung. Zegt mußte man ſich Fräulein Wüft leihen. Diefe Saifonmode des Feflingtheaterd mit ihrer fchleimigeglatten Routine machte aus der ftolz- feelenlofen, robuften Sinnlichkeit eines Herrenfindes ein uͤppig⸗girrendes perverfed Suderweibchen tiergärtliher Konfeffion. Sie gewann überhaupt fein Verhaͤltnis zum Wefen der Dichtung, der die übrigen Darfteller wenigftend mit Anftand und Ernft dienten, und deren Mittelpunftögeftalt von Eric Ziegel nachgefchaffen wurde. Im Grunde „liegt” Ziegel diefe Rolle nicht. Sein fchaufpielerifhes Weſen hat nicht den Erdgeruc des Bauernfohne, nicht den ahnungslos feligen Sängerglauben des Wolfnarr. Wenn er troßdem in diefer Rolle mehr ald die fichere Leiftung einer reifen Technik, wenn er etwas menſchlich Eigenes bieten fonnte, fo fam das aus dem dunkeln Unterftrom von Leidenfchaft, der die barten intellektuellen Formen feiner Kunft ftetd zu unterwühlen fcheint, Died Blut, dad man mit dumpfer Drohung ſtets anbraufen zu bören glaubt, diefes Nebellentum der Natur in einem böchft zivtlifierten Menfchen: died gibt der Ziegelfchen Menfchendarftellung zuweilen jene wilde, fchmerzlihe Empoͤrergewalt, durch die auch Rittners Narr in feinen Qualen ergreifend und wahr wirft. Es ift dieſer dumpfe, männlich beberrfchte Sehnſuchtston eines Allzuflugen, durdy den Ziegel in den Kreis der Menfchendarftellung gehört, deffen größter Meifter heute Baſſermann if. Im Technifchen erfcheint er offen- fundig als ein Jünger von Rain; und es macht dem Schliler Ehre, daß er ald Fran; Moor dem umvermwifchbaren Vorbild des Lehrers einen eigenen Ton binzufligen fonnte. Eben jenen dunflern Ton gefaßter, ſchwerer Männlichkeit, durch die fih auch Baſſermanns Kunft anfcheinend von der fnabenhaft fhönen Weltflucht des jüngern, der leidenſchaftlich zerſetzenden MWeltkritif des Altern Kainz abhebt. Erich Fiegeld Talent für Berlin ent- det zu haben, das bleibt, wie die Aufführung des Nittnerfhen Dramas, ein Posten flr die Plud-Seite des fonft nicht allzu glänzend bilanzierten Kunſt⸗Kontos der Direktion Loͤwenfeld.

274

Benignens Erlebnid/ von Alfred Polgar

iefes Eleine, zarte Drama des Grafen Eduard von Keyſerling, das 9 jet im wiener Intimen Theater gefpielt wird, fteht hart an

der Grenze ded GSentimentalen. Eine leife Duftwolfe der Senti» mentalität ſchwebt darüber. Schwebt, laftet nicht; man merft, daß fie micht in der Atmofphäre des Schaufpteld felbft geboren wurde, nicht der Gefuͤhls⸗ dunft ded Dramas ift, fondern von aufen hereingezogen fam. Bon einem naben Garten oder einem Nachbarzimmer, dad voll von ſchwer riechenden Blumen. So, denke ic, fieht dad Drama eined au fond Iyrifhen Menſchen aus. Man fplirt zurlicigehaltene Stimmungsfhwelgerei, ein zur Knappheit gezwungenes Kühlen. Es ift eine Art Efitafe in diefem Drama, aber eine Efftafe, die fich felbft den Finger, Schweigen gebietend, an die geſchloſſenen Lippen legt. Aus der Tiefe des Dialogs fingt ein leiſes Rauſchen unter- drüdter, verfunfener Verfe. Und manchmal bat die Gefprädhäprofa einen fo ungewöhnlihen, faft gebundenen Rhythmus, ald trüge fie noch irgendwo den abgeftreiften Schmud ded Reims bei ſich.

Es waltet eine ungemeine Stille in diefem Drama. Trotz Blut, Tod und Leidenfhaft. Eine faft Maeterlindihe Stile. Man fieht die Be— wegung dieſes Schaufpield mehr, ald man fie hört. Und man erblickt eigent- lich mehr die Konfequenzen einer Bewegung ald die Bewegung felbft. Wie wenn man binter Dicht gefhloffenen Fenftern das Wirken des Sturmes fieht, webende Kleider, tief zu Boden gedruͤckte Bäume, einen Wirbel von leichten Dingen in der Luft und berabfaufende Steine und doc nichtd von der Gewalt merft, die all died anrichte. Es gibt auch laute Momente im Schaufpiel des Grafen Keyſerling. Ein Schrei der Herjensnot, eine jähe Erregung, Zorn und die Dual der Sehnfucht. Aber es find nur kurze Rufe, auffladernde Flämmchen der Paffion, die allfogleich verlöfhen. Etwas wie eine „Steigerung“ gibt ed in dieſem Drama nicht. Kaum einen Konflikt. Kein Gegeneinander, nur ein Aneinanderftreifen zweier Weltanfchauungen. In die Igrifhe Stimmung des Scaufpield fällt die dramatifche Aftion wie Schnee auf warmen Boden: Alles Geſchehen in diefem Drama bat folcherart eine, im Weſen tief undramatifhe, Meigung zum fpurlofen Zer⸗ rinnen. Es gibt ein Erlebnis, aber feinen (dramatifchen) Vorbau diefes Erlebniffes, und feine (dramatifhe) Konfequenz nad ihm. Benigne hatte eine „unordentlihe Sehnſucht“ in ihrem Herzen, erlebte, und bat nun dad mögen wir immerhin denfen ald Konfequenz dieſes Erlebens eine „ſehnſuͤchtige Unordnung” in ihrer Seele. Dieſes Verfchieben des Afzents von der „Sehnſucht“ auf die „Unordnung“ marfiert den Weg, den Fräulein Benignend Pfyche in der Komoͤdie zuruͤckzulegen bat. Und feine Bewältigung ift der dramatifche Inhalt des Spiels.

Es ift dad Nevolutiongjahr 1848, In das ſtille Heim des hochkonſer⸗ vativen alten Ariftofraten der mit Frau und Schwager, mit dem Doftor- Freund, der Tochter und dem treuen, in das ariftofratifche Material diefer

275

Häußlichfeit gleichfam eingefhmolzenen Diener das Leben glatt und behutfam wie ein geordneted Webeſtuͤck abfpinnt in dies ftille Heim dringt der Flammenfchein der aufrührerifhen Gaſſe. Wedt in den Herzen Groll, troßigen oder lächelnden Gleihmut, nur in dem Venignend verwandtes Leuchten. Diefe junge Dame repräfentiert: die Ahnung, den Traum, die Sehnfuht. Den Wunfc nad etwas uͤber dem Leben, das in das Leben einen glänzendern Sinn und einen farbigern Inhalt ftrable. Die andern find nur um die Wurzeln ihres Seins beforgt, fie um die Blüte. Der andern Eifer gilt der Sicherung ibred Gehens, Stebend und Sitzens. Benigne träumt vom fliegen. Benigne ift eine Fleine Dichterin. Und über» died und vor allem quält ihre Seele ein Hunger nad) Helden, nach Siegern, nah Männern, die nicht (wie alle in ihrer Umgebung) von den Gefeßen eines ſtarren Lebens geformt werden, fondern felbft die Geſetze ihres Lebens formen. Benigne träumt hiervon nicht allein mit der Seele. Ihr Blut und ihre Nerven träumen mit. Der „gefunde Menfchenverftand” wide fagen: Sie braudt halt Abwechſlung; ſchickt fie auf Reifen oder laßt fie Holzbrandarbeiten machen oder Klavier fpielen oder einen Sport treiben. Aber Benigne ift unbeilbar. Sie leidet an dem Leiden der Edelften ihres Ge— ſchlechts, an: Romantik der erotifhen Zone.

An ferueller Romantik, für die die Apothefe der Wirklichfeit nur ſchmerz⸗ ftillende Mittel, fein wahrhaftiges Heilfraut bat. Und nun ift e8 dad Schöne, das Zarte und Poetifhe an VBenignend Erlebnis, daß ed zwar mit der ganzen. Wucht eine® realen Gefchebend kommt, aber fo plöglic wird, fo plöglich endet, fo fremd, indefinit, außerordentlich ift, fo reich umfleidet vom Zauber beroifher Dinge und fo tief überdunfelt von Schatten ded Todes, daß ed wie ein Unmateriell-Materielles fcheint. Wie ein Erlebnis, in dem die Schwere einer Wirklichkeit an die Flüchtigfeit eined Traums gebunden ift. Ein junger Nevolutiondr, zu Tode verwundet, flüchtet in den Garten des ariftofratifhen Haufee. Man nimmt ihn auf, man pflegt ihn. Den Todfeind! Contre coeur, aud einem vagen Gefübl der Menfchlichfeit umd im Geborfam gegen die Sitte, welche in dem ungebetenen franfen Juͤngling troß allem den „Gaſtfreund“ refpeftieren beißt. Aber für Benigne ift er mebr. Für fie ift er der Erlöfer zabllofer unausgefprocener, innerfter Empfindungen; der Schöpfer, der aus dem Chaos ihred Wuͤnſchens und Sebnend eine augenbliclihe Fleine Welt formt; der Mann, deſſen Er- fheinung ihren in der Luft ſchwingenden Träumen eine Stuͤtze leibt, um die fie fich mit der flammernden Gier der Nanfe zur momentanen Ruhe fchmiegen fönnen. Was Ahnung eined Gefuͤhls in ihr war, wird nun Gefühl. Ihr ftarfer Trieb, zu bewundern, liebend zu betreuen, „aufzugeben“ in einem idealen Exemplar Mann (von ihr bieber naiv fehr allgemein ald Sehnſucht nad) dem „Leben“ bezeichnet), erbält für den Augenblic Richtung und Ziel. Und ald der Jüngling jaͤhlings ftirbt, bat fie allen Grund, ſich einfamer ald zuvor zu fühlen, weil, was früber rubig in ihrer Seele lag und nad) Be— wegung verlangte, nun aufgeftört, beunruhigt, bewegt ift, nicht weiß, wohin

276.

es fich ergießen fol, nichts bat, um das ſchwebend es fi zur Ruhe fammeln fönnte. Nichts ald die Erinnerung an einen toten Jüngling, der vor wenigen Stunden noch ein Fremder, ja ein Feind war.

Das ift Benignend Erlebnis. Ein fchmerzuolles, aber doch enttaͤuſchungs⸗ loſes Erlebnis. Gleichſam eined, dad MWolluft fpendete, ohne der Jung⸗ fräulichfeit web zu tun: die Wolluft vor allem des Sich-Opferns oder mindeftend die der Bereitſchaft zum Selbſt-Opfer. Aber ich habe Zweifel, ob wirklich das Benignend Abenteuer war. Ob nicht die Wahrheit um eine Schraubenwindung tiefer liegt. Denn: Erlebniffe zu haben, ift ein männ- liche Verlangen. Frauenſehnſucht ſtrebt darnach, Erlebnis zu fein. War ed nicht ein andred, dad Benignen fo heftig ind wonnige Dicficht pathetifchen Fuͤhlens flieg? War nicht ihr eigentlichted Erleben died: daß bier ein Mann vor ihrem Angeficht erfchien, fo edel an Art, jo weit an feelifchem Schwung, fo ftolz und fo befähigt, an Schönheit ſich zu beraufchen, dag wohl ein Weſen wie Benigne flr ihn Erlebnid werden mußte? War es nicht die inſtinktiv, bligfchnell erfannte Fäbigfeit jened Mannes, ihr, Benignens, eigened Bild tauſendfach verflärt wiederzufpiegeln, die fie dann fo beftig Flagen ließ, ald der feltene Spiegel zerbrah? Der Dichter in feiner vor- nehmen, rubigen Art gleitet über diefe Trage leife hinweg. Unſer beites Verftehen und Empfinden aber bejaht fie. So umfaffend kann unfre Nübrung auch Über das tieffte und fchönfte Frauenſchickſal nicht fein, daß nicht noch Plag wäre für die lächelnde Gewißheit: Das Schidfal der Frau fei im Grunde nie was andres ald dad Schickſal, das fie dem Mann bedeute,

Lewinsky / von Willi Handl

ch, fie haben einen guten Mann begraben! A Unter den Rieſen des Laubeſchen Burgtheaters repraͤſentierten andre die Ungemeſſenheiten von Kraft, Geiſt, Seele oder Stolz. Joſef Lewinsky vertrat die rieſige Tuͤchtigkeit. Auch in ihm war ein Daͤmon, der ihn trieb, das Ungeheure zu geſtalten; aber der dunkeln innern Muſik war kein gleichgeſtimmtes Inſtrument nach außen gegeben.

So mußte er immer nach zwei Seiten hin ſchaffen. Das Leben der ‚Rolle, ihren Inhalt und Umriß, nachdenkend ausfinden; dann aber die Mittel zur finnfälligen Vollendung des Kunftwerfs anordnen, abwägen, zubereiten. Doch dazwifhen fehlte der Aufichrei der Natur, die plöglih, vom Gedanfen Ioögeriffen, wie durch ein Wunder felbfttätig ſchafft fich zu höherer Be- deutung neu erſchafft. Da treten, aus der Region, die Seele und Körper miteinander vermäbltund feiner bervußten Arbeit einzugreifen geftattet, gewaltfam jene legten und hoͤchſten Kräfte herzu, die dad Bedeutende, das unvergleichliche Geheimnis des inftinftiv erfüllten Menfchenbildes uͤbermaͤchtig, feinem andern als ihrem eigenen Willen geborchend, an den Tag reißen. Diefe eigenwillige Gewaltſamkeit war den Kräften feiner Natur nicht gegeben. Es riß ihn

277

fort, wohl; aber immer höher, immer fteiler in die Gebiete des ftarfgeiftigen Wollens, des planvollen Erfchaffens, der tröftlih bewußten Arbeit bin. Er hatte den Dämon der unvergleihlihen Züchtigfeit.

Man erklärt dad gern aus dem Mangel an normalen fchaufpielerifchen Mitteln und aus dem Zwang, diefen Mangel doch irgendwie zum Vorzug umzuprägen. Lewinsky war flein, beißt es, feine Stimme ohne Klang, und fo mußte er wohl angeftrengt und unermüdlich Überlegen, wie man doch diefe Negativa vergewaltigen möge, um fie fchließlich ald ein wirklich Ge- gebene8 mehrend und vervielfachend in die Fnftlerifche Rechnung einzuftellen. Aber daB ift, dinft mich, der Weg, eine vortrefflihe Mittelmäßigfeit zu werden und nicht ein ganz befonderer Meifter, dem andre den verwegenen Anftieg abzulernen eifern. Mein; im Anfang war aud bei Lewinsky, mie bei jedem wirklichen Künftler, die Kraft. Mit Unfraft fängt keinerlei Kunft an. Seine Kraft war, mit gefhärften Geift durch alle Erfcheinungen feiner Welt durchzudringen. Und genau fo fah die Kraft aus, die feine ganze Zeit fi) wünfhte. (Zu diefer Zeit wurde Ludwig Büchner der Gott der Halb- gebildeten; denn er gab fcheinbar jedem, der buchſtabieren und nachſchlagen fonnte, die Möglichkeit, alled Irdiſche zu begreifen und alle8 andre weg⸗ zubeweifen.) Lewinskys Dämon war der Dämon feiner Zeit; der Dämon des Beweifend und Begreifend. In ihm hatte das aufgeflärte dfterreichifche Bürgertum der Sechziger⸗ und Siebzigerjahre feinen repräfentativen Schau fpteler. So war der Wille der Fulturgefhichtlihen Entwidlung; und er felbft fonnte im Grunde nichtd daflır und nichts dagegen tun. Mur diefem Willen mit feinem eigenen dienen, nur zu Ende werden, was er von Anfang war, das fonnte er. Der Dämon hatte ihm das Amt verliehen, im Künftlerifchen durchdringend zu begreifen; fo begann er denn bei ſich felbft und entdeckte feinen Dämon und fein Amt. Seine Bemwußtheit war nicht hadernde Zwie⸗ ſprache mit feiner Armut, fondern glücdfelige Wechfelrede mit dem üıber- mächtigen Trieb.

Er felbft war als ein großes Beifpiel gefchaffen, und feine bedeutenden Schöpfungen wurden wieder große Beifpiele: wie fich der Geift mit der Natur auseinanderfegt. Daher hatten feine Charafterzeihnungen dad Typifche, Algemeingültige, Objektive; ed waren Flaffifche Boͤſewichter. Franz Moor, ago, Richard der Dritte: drei ganz verteufelte Kerle, aber von ziemlich gleicher Taille, trocken · verſchmitzt, von haͤmiſcher Demut und flegelhaft grob. Ein wenig polternde Pöbelei blieb immer die ultima ratio diefer ſpitz- findigen Schlauföpfe. Sie mochten auf dem Thron, im Heer, im Schloß, in der Kleriſei oder in der Hölle erfcheinen, immer ftedften fie doch tief in einem mittleren Bürgertum, das flr Bildung fhwärmt, die Gedanfen an- betet und alle andern Leidenſchaften ald rohe Audfchreitung der Natur empfindet. Und wo die Bosheit leidenfchaftliche Herzendfache wird, da hat Lewinsky fie ald Roheit gemalt. Die felbitverftändlihe Großartigfeit der geborenen Derneiner und Vernichter war nicht bei ihm. Da fam der Punkt, wo fein Geift, hingeriffen vom VBegreifen des Ungeheuern, in den

278

Körper bineinrief und feine volltönende Antwort mehr fand. Da war dad große Veifpiel des fanatifh durchdringenden Erflärerd plöglih auf feine negative Seite hin gewendet. Der Fanatismus des begreifenden Künftlers, wie der begriffenen Geftalt ftand nun im Leeren, arbeitete ohne Re— fonanz, ein nadted Paradigma. Auch da war noch die ftarfe Innerlichkeit diefed flammenden Willend zur Größe bewundernd zu fpliren; aber ed war nur noch der Wille felbit, wad man bewundern fonnte, und nicht das, was er fhuf. In den Schlachten des dritten Richard, in der Verzweiflung des Wurm, in den Flüchen und Schwüren ded Jago war wohl Lewinsky uns gebeuer in feiner wilden Energie; aber Michard, Jago und Wurm er- fhienen gerade da niedrig und befchränft. Das Echo vom Körper aus fehlte; und fo blieb alles im bürgerlich fhurfifhen Maß.

So haben felbit feine Mängel vollenden geholfen, was ihm durch feine Gaben verliehen war: den bürgerlichen Geift feiner Zeit als Schaufpieler zu repräfentieren. Wie wenn die Natur ein reinliches, dem allgemeinen Begreifen klares Symbol hätte erfchaffen wollen, fparte fie an ihm alles, was irgendwie vom VBegrifflichen ind finnlih Perfönlihe ablenkt. Seine Erſcheinung war gemacht, um überfehen zu werden; feine Pofe, feine Gefte batte feine eigene, dem Bewußtſein entlegene Bedeutung, wie etwa bei Mitterwurzer, bei Kainz, bei Rittner, bei Sonnenthal, die nur dazuftehen ſich zu regen brauchen und damit allein fchon, ohne ein Wort zu ſprechen, ja ohne es felbft zu mollen, fünftleriih bedeutfam fchaffen. Lewinsky mußte feinen Willen, feine Lberlegung tief in jede feiner Bewegungen bineinfteden, die etwas zur Rolle zu fagen hatten; und dann mußten fie ed vorfpringend deutlich, fonnenklar fagen. Seine Stimme hatte nicht die Naturfarbe einer menfhlihen Seele; fie klang wie ein Sprachrohr, durch das der Geift redet. Sie war nicht die Mufif einer Perfönlichfeit, fondern ihr Inſtrument; aber freilich fo untadelig blanf, fo präzis und gehorfam, daß auch fein gottgegebened Wunder neben den gottgegebenen Wundern der perfönlich befeelten Stimmen in Herrlichfeit beftand. Von da her fam feine größte, feine tieffte, feine unerreichtefte Wirfung. Denn die Sprache ift ja das gute Mittel, durch das der Verftand mit dem Verſtande verfehrt. Und da fein Beruf war, der großartige und impetuofe Verfteher unter den Schaufpielern zu fein, war feine Schaufpielfunft von der Kunft des Sprechens ganz durchwachſen und umfchlofen. Man bat ihn den erften unter den Sprechern des Burgtheaterd genannt. Unverftändige und ungeredhte Herab- feßung: denn die Art von Bühnenmenfhen, die man Sprecher nennt, bat nichts Eigenes auszugeben und ftellt darum ihren Fleinen Ehrgeiz darauf, wenigftend dad Wort des Dichter recht deutlich und mit dem vollen Gewicht aller feiner Laute vorzutragen. Er aber gab den ganzen Reichtum feines Geiftes, feiner Bildung, feines flammenden Willens zur Erfenntnis in feiner Sprade. In ihr und nur in ihr ift feine Kunſt auch endlich reicher, breiter, vielfältiger geworden, fie hat ihm mit wunderbarer Sicherheit auch auf fremdere und fernere Gebiete ded Menſchlichen geleitet. Sie duckte ſich

279

und fprang auf, wurde breit oder fpiß, wie fein verftändiger Wille es befahl, fonnte fich in düftere Falten legen, in geheimnisvolle Höblungen ausrunden und dann wieder ſchwaͤchlich und dinn werden, quatichig oder ftelzbeinig dabinfchreiten. Und war doch niemals feine innerfte Sprache, in der feine Seele aus ihm redete, fondern immer nur ein wunderbares, blanfes, wohl- gehüteted und vielgeliebted® Inftrument.

Sie war fein Wig, fie war fein Humor. Sie hat fchließlic, fein ganzes Geſicht durchgebildet, von dem gewaltig arbeitenden und ausgearbeiteten Munde angefangen bid hinauf zu den bemeglichen, deutlich mitfpredenden Falten der Stirn. Diefe Sprache konnte alled, was der Geift verlangte, und nur dad nicht, was der Körper unerbittlich verweigerte: den Ausdruck der felbfttätigen, inftinftiven, aus den unfontrollierten Reſerven der Per- fönlichfeit gebolten Kraft. Sie war ein Inſtrument des erfennenden Geiftes. Und wie dur ein Wunder tönte dieſes Inftrument noch fort, ald die Flamme des Geiftes ſchon verfladerte, ald der uͤbermaͤchtige Trieb, durch⸗ dringend zu begreifen, den Erfcheinungen der Zeit fremd geworden, ald er mit der verbrauchten Matur des Künftlerd ermattet und erftorben war. Bor etwa acht Jahren fah ich ihn noch ald Richard. Da fpielte er nicht mehr die Rolle, er fpielte ſchon: Lewinsky ald Nichard der Dritte. Statt feiner Matur war nur noch feine Sprache eingefegt. Alle feine Erfennt- niffe des Shafefpearifchen Charakters fanden fich. noch in ihr; aber fie hatten die Flamme nicht mehr.

MWäre er immer nur ein Sprecher gewefen, man hätte diefes Hohl⸗ werden und Zufammenfinfen faum bemerkt. Aber er war geboren, einer vorwiegend geiftig angeipannten Zeit ihr fchaufpielerifhes Ideal zu geben. Er war geboren, Charaktere im Sinne feiner Zeit gedanfenfühn zu durch- ſchauen und zu erflären. Und bei ſich felber fing er an, erfannte und geftaltete feinen eigenen Charafter in Flarer, reinlicher, fchöner Form, edel und durch⸗ geiftigt im Sinne feiner Zeit. Ach, fie haben einen guten Mann begraben! EEE EHESTEN,

SchaufpielersAntwort/ von Friedrich Kayßler

DILL mir die Bühne ift, fragft du mich, Bürger? Sie ift mein Reben, Bürger fragft du noch? Was in mir fchweigt an Fiebe, Haß und Sehnſucht, dort fprech ichs aus. Ich geb durch lichte Säle,

bin König, Bettler, Räuber, Gott und Teufel, verfchenfe alles, was ich hab, bin reich,

ich fämpfe, fiege, falle, lieg im Kerfer,

bin dann in Zimmern, traulich, balb im Dunfel,

darf lachen, weinen, plaudern, töten alles,

was nur ein Menſch vermag darfſt du das, Bürger? Tagsüber leb ich wie ein Fuchs im Bau

und freue mich, daß ich nicht bin wie du.

Verftehft mich, Bürger? Nein. Tut nichts. Leb wohl.

Rısperlefherter

Fonfetti/ von Lunovis

8 gab von jeher Leute, welche Glas aßen, aber heute verdaut man fogar

Meißner Porzellan.

Was witen fie wider den Bonn! Bonn heißt nicht umfonft fo, wie wo man ftudiert hat.

Das deutfche Luſtſpiel läßt vorläufig immer noch auf fi) warten. Aber aufge-Sham-ben ift nicht aufgehoben.

Gefegentwurf. Die Herren Kritifer der Stadt find gehalten, an einem Tage jeded Jahres auf der Buͤhne eined der ihnen zu diefem Zweck ver- flgbar zu machenden Theater vor den hierzu fämtlich einzuladenden Schau- fptelern fowie dramatifchen Schriftftellern befagter Ortögemeinde oder Ge- meindegruppe ein von ihrer einem oder mehreren verfertigted, möglichft allen Beteiligten größere Rollen zumeifended Stück von nicht weniger ald drei, aber auch nicht mehr als fieben Aufzligen perfönlich zur Aufführung zu bringen, wonach von ebenfovielen durchs Los zu mwäblenden, den genannten Kreifen angebörigen, Zufchauern die bezliglihen Rezenfionen abzufaffen, den bezüglichen

eitungen einzureichen und von diefen an gewohnter Stelle zu veröffentlichen ind, eine Mafregel, ald geeignet erachtbar, beiden Seiten zum Vorteil zu dienen und den Forderungen ded einen wie ded andern Teild ſowohl unter» einander, ald vor dem Foro breitefter Sffentlichfeit Spielraum, Ausdrud, Abflug und Genugtuung zu gewähren.

Eine Figlige Gefchichte] von Sebaſtian

auptmann fonnte zu Brahm fagen, fuͤhre die Zungfern vom Bifchofs-

berg auf, oder führe fie nicht auf, oder willft du fie aufführen, ja oder nein, Brahm fonnte zu Hauptmann fagen, ich führe fie auf, oder nicht auf, oder foll ic fie aufführen, ja oder nein, Zacobfohn fonnte von Hauptmann fagen, Hauptmann hätte zu Brahm fagen fönnen, führe fie nicht auf, oder willſt du fie aufflihren, ja oder nein, worauf Brahm, fagt Jacobſohn, hätte fagen können, nein, ich führe fie micht auf, noch will ich fie auffüͤhren, worauf Bahr fagt, Brahm hätte nicht fagen fünnen, ich führe fie nicht auf, wenn Hauptmann gefagt habe, führe fie auf, und Salten fagt, wenn Brahm nicht gefagt hätte, ich führe fie auf, fo hätten alle gefragt, warum fagt Brahm, ich führe fie nicht auf, und Hauptmann fonnte zu Reinhardt fagen, führe fie auf, oder willſt du fie aufführen, ja oder nein, und Reinhardt fonnte fagen, ich führe fie auf, und dann fonnte Brahm fagen, warum habe. ich nicht gefagt, ich führe fie auf, dann hätte Hauptmann nicht zu Neinhardt geſagt, willſt du fie aufführen, ja oder nein, nun aber hat Brabm ja gar nicht gefagt, ich führe fie nicht auf, obwohl er es hätte fagen fünnen, wenn auch dann Bahr und Salten nicht hätten fagen Fönnen, Brahm fonnte nicht anderd fagen als, ich führe fie auf, nachdem Hauptmann einmal gejagt haben fonnte, führe fie auf, oder willft du fie aufführen, ja oder nein ufw.

281

Was braucht ed zu einem Kleift: Darfteller?

ffen gefagt, es braucht viel. Schon

allein die Zunge. Da muß einer mit feinen Lippen tanzen und mit feiner deutfchen Sprache jonglieren gelernt haben. Einem Menfhenmund ſchlechthin ift es unmöglich, Verſe von Kleift wie Verſe von Kleift zu fprechen. Mache zehn Jahre lang taͤglich Atem⸗ übungen, dann wage e8, did) an einen Grafen von Strahl oder an irgend einen andern Burfchen diefer Raſſe beranzumachen. Diefe Raffe ſetzt Zucht voraus, dad bedenfe, Schaufpieler von heutzutage. Hinterher, wenn du did) blamiert haft, lächelt du und fagft, Kleift fei roftiged Eifen, Grabbe, dad fei was, Kleift, der fei undramatifch. Weil du feine Grazie haft, ift Kleift abgeftandened Waffer, nit wahr? N'est-ce pas, id fann nämlich auch ein bischen Franzöfifh. Was Wagner von feinen Sängern verlangt, welchen Grad edler, langer Anftrengung, ift mir nicht befannt; daß Kleift Un- gebeuerliched von einem Schaufpieler verlangt, ift fiher der Grund, wes⸗ balb im der Regel der Schaufpieler über Kleiſtrollen die Achſel zudt. Er bat ja auch recht, ich begreife ihn. Diefe Männer und diefe Frauen find ein uͤbernatuͤrliches Geſchlecht, fie haben Matur, und wieder, näher befeben, baben fie feine, Sie find wild und fanft, beides im Ubermaß. Sie ſprechen eine goͤtterhaft · korrekte Sprache, wo⸗ gegen die Sprache Friedrich Schillers ein gleihmäßig-menfchlihes Feuer, vielleicht nur ein Feuerchen bedeutet. Diefe Figuren firogen von oben bis unten von Empfindung, und ſolches

‚282

Khan

will natürlich zur Darftellung gebracht

ein.

Da ift zum Beifpiel heimlich jetzt

ein Dann,

Wie heißt er? Hermann

Hermann, der Cherußfer, na, fagen wir mal, eine Million demjenigen, der ihn fpielen fann. Eine dunfle, breite Mannedbruft und dazu ein fchmetterndes Geklingel im Mund, wie wenn einer grazioͤs an filberne Glocken ſchlaͤgt. Ein Tänzer. Der Scaufpieler muß Tanzunterricht ges noffen haben, feelifhen oder förper- lichen, da8 gilt gleichviel, er muß zwölf Fleine Bälle mit der Nafe in der Luft fpielen machen fönnen. Ein ehrlicher Mann braucht er nicht zu fein.

Er wird natuͤrlich auch mal ein Auge rollen dürfen, fchließlih kann er dad aud und tuts, daß einem gefunden Menſchen ſchlecht dabeiwird. Mein, wenn ein Hermann dad Auge rollt, tut erd nur einmal während des Abends, er ift Diplomat und befigt die Manieren eines Gotted, Schon wenn man das Stüd lieft, hört man die Stimme dieſes gefchmeidigen Men» ſchen Flingen, diefe Stimme der Luft, Bravheit und Berftellungsfünfte, diefe Stimme fhließlihh auch des unfag- baren patriotifhen Zorns. Und die Art, wie er Unfinn ng = Die Aufgabe, die darin fuͤr einen Sprecher und Mimen liegt, ift ſchrecklich. Und wenn er vom Thron herabfteigt, ſchoͤn in jeder Beziehung, wie gefagt, eine Million demjenigen, Es iftebeneiner, der immer, von Snabenbeinen auf, bat gebieten können, was will man da machen. Und die enorme Herzend- bildung, die der Schurfe befigt. Die Bildung, das, Herr Schaufpieler, ift

auch was zum Darftellen. Laͤchle mal ſchnell fo, wie Gebildete lächeln, wo ftetd noch fo ein Schatten dunfeln, fhönen Ernſtes dabei fein muß.

Und da ift die Dame Penthefilen. Diefed Weiböbild hat ſchon etwas. Ich wage es nicht, mich in der heutigen Welt nad einer Darftellerin für fie smzufeben.

Man ftopfe lieber dem Herrn Kleift endlih den Mund zu. Wozu follen Bühnenautoren noch nad) hundert Jahren 's Maul auf haben.

Es braucht zuviel Atem, um dem Mann das Wort zu laffen. Was wollen Sie mit Ihrem Grabgeftanf, Gefpenft? Sehen Sie nicht, daß man Sie nicht aufführen fan, fo, wie ed ſich gehörte? Dieſes allerdings ent- zuͤckende Gefprudel der Worte. Nein, wir danfen. Wir find Menfchen, die einentandaufenthalteinemjahrelangen unaudgefegten Lernen fuͤglich vor⸗ sieben. Wir fagen immer, wir haben zu wenig Zeit. Gottlob, daß wir den guten Geſchmack befigen, das zufagen. Wir mögen nicht mehr fo recht ran, wenn ed gilt, Verfe zu reden. Merf- würdig, wie wir alles Deflamatorifche baffen und was für Anfichten wir vom Deflamatorifhen haben. Eigent- lich aber iftö nicht merfwürdig, fondern

anz natürlich, dag wir nicht imftande ind, dad Gedicht ald Gedicht zu ſprechen und danebenher noch fo et⸗ was wie ein Spiel zu zeigen. Wie wir doch da ſchwatzen. Iſts nicht dumm, zu fagen, wir können nichts?

Robert Walser

Die Waffen nieder!

ertba von Suttner ſchleuderte

dereinft ihren Roman in Form eines Fategorifchen Imperativs in die Belt. Ein Nachſtreiter ihres Geiftes, Robert Meinert, deffen „Dialoge in drei Abteilungen” vom muͤnchner Schaufpielhaus mit ftarfem Erfolge aufgeführt wurden, nennt fein Wert

einfach „Krieg“, mit einem zu gar nichts verpflichtenden, harmlofen Punkt dahinter. Allein es erwies fich bald, daß diefe Unfhuldsmiene nur Masfe ift, daß auch Robert Reinert ein Ten- denzftüucf oder, orthographiſch ausge⸗ drüct, ein dialogifh auseinander⸗ getriebene® Audrufungdzeihen vor und binftellen wollte. Ein Tendenz- ſtuck, das nicht etwa in menfchlic be» wegenden Vorgängen eine Tendenz wie einen läftigen Fremdkoͤrper mit- fchleppt, fondern dad Jmperativdrama in reinfter, von allen menſchlichen Schladen befreiter Ausbildung, nicht nur um eined Imperativs willen, fondern audy durch einen Imperativ dargeftellt. Die Figuren des Stüds find wie die Soldaten in der Schlacht, die der Verfafler fo tief beflagt: wie diefe nicht wiffen, warum fie fchießen, wiffen jene nicht, warum fie reden. Der Oberfelöherr, der Autor, bat fie eſchickt, und fo tun fie blind nad) armen Willen. Ihre im Kampfe empfangenen Wunden fehmerzen richt fie, fondern den Dichter. Sie ftöhnen nicht, weil es weh tut, fondern weil der Krieg eine abfcheuliche Einrichtung ift. Sie fprechen nicht zu einander, fondern durch einander hindurch ins Parterre. Schriee einer aus dem Publifum da hinauf: Soeben bat die banger Friedenskonferenz den Krieg endgültig abgefchafft! aldiefe Schwer- verlegten mitihrenabgefchoffenen Bei- nen und Bänden, ihrer Verzweiflung und gräßlichen Vereinſamung erböben fih frifh und munter wie auf. ein Kommandomwort und zögen fingend und mohlbehalten davon, ein jeglicher in feine Stadt. Denn Hände und Beine find ihnen ja gar nicht abge» fhoffen, fie wollen ja nur, daß der Krieg abgefhafft werde. Um feinen Imperativ aufd Theater zu bringen, wählte Reinert eine feltfame Technik: der erfte und der dritte Aufzug (von der Direktion des Schaufpielhaufes

288

mit audgezeichneten deforativen Mit« teln zur Anfchauung gebradt), auf dem Schlachtfelde fpielend, bewegt ſich in dialogifhen Formen, die, ohne Maeterlindd Meifterfchaft, an den „Blinden“ erlernt find: die Reden nichtd ald angftvolle Formeln, das Herandrängen der wuͤrgenden Geifter des Schweigens zu bannen, nichts ald Nufe und Zauberfprüche der in die Unendlichfeit ausgefegten Kreatur. Hier bligen bei Neinert Feinheiten auf, aber der große Flügelfchlag wird nicht vernommen. Denn mittendrin in diefer Stille fteht die Tendenz und benimmt fi) wie ein Polizeifergeant in einer Geifterfigung. So ift ed mit den beiden dußern Aften. Der mitt- lere, bei den Zubaufegebliebenen fpie- (end, ftellt aber die eigentliche Uber⸗ rafchung dar: er könnte von Otto Ernft fein, halb Schwanf, halb Gefinnungs- melodram. Was aber follman zu einem Autor fagen, der zwifhen Maeterlind und Otto Ernft hin⸗ und herſchwankt? Wen foll ih ihm nun glauben, den Maeterlinf oder den Otto Ernft? Mir willd nun gar fcheinen, ald habe den Autor nicht fo fehr die Bes geifterung flir die große dee des Friedens zu feinem Drama bemogen, als die Kalkulation, daß ſich ein wirf- ſomes Stüd darüber fchreiben ließe. Es gibt ja auch Dramen über die Dienft- mädchenfrage, warıım nicht eins über den Voͤlkerfrieden? Leo Greiner

Darwin und dad Drama

Ry entfinne mic) nicht, jemals irgend

etwas lıber diefed Thema gebört oder gelefen zu haben, und doch: Wer fann was Dummes, wer mad Kluges denfen, das nicht ein andrer ſchon vor ihm gedacht? Und ed wäre ganz un⸗ begreiflich, wenn nicht ſchon einmal ein Naturforfcher, der die Dichtung liebt, ‚oder ein Dichter, der dieMaturforfchung ſchaͤtzt, die Worte „Darwin und das Drama’ finnend verfnüpft haben follte.

284

Mir wäre es viel lieber, dürfteichliber die Berechtigung diefer Verfnüpfung etwad Gutes lefen, und ich fchreibe eigentlich nur, um mir mittelbar diefen Genuß zu verfchaffen, denn ich denfe, diefer oder jener Mitarbeiter der „Schaublihne” wird vielleicht meiner Anregung nachgehen. Sicherlich beffer, als ich ſelbſt es vermoͤchte, denn ich „verſtehe“ vom Drama nicht viel und von Naturforfchung gar nichts.

Aber ich meine: feit Darwin id) fammle in diefem Namen feine VBor- läufer, Mitfämpfer und Jünger feit Darwin fehen wir den Menfchen an= derd. Vorher war und der Menſch eine durch göttlichen Willendaft gefchaffene Totalität. Wir ftanden vor einem phy⸗ ſiſchen und pfochifchen fait accompli, vor einer Plöglichfeit. Jetzt ift und der Menſch ein Ergebnis, und was fuͤr eins! Nefultat eines unendlichen Werdens, Schauplatz eines ſolchen und erſtes Kapitel eines Romans, von dem es in unabſehbarem Fadenſpinnen immer wieder heißt: Fortſetzung folgt! Wir feben den Menſchen anders ald die Antife, anderd als die franzöfifche Klaffik, anders aud) ald das eliſabetha⸗ nifche Zeitalter, und Goethe erft, dem alled Sein eine einzige ungeheure Me⸗ tamorpbofe war, Goethe, der das Wort ſprach:

„Und ſo lang Du Eins nicht haſt,

dieſes: ſtirb und werde!

Biſt Du nur ein truͤber Gaſt auf der

dunklen Erde!“ er ſtand am Beginn der modernen An⸗ ſchauung vom Menſchen.

Wie wir den Menſchen nicht als Reſultat eines blitzartig aufzuckenden Schöpfungsaftes, ſondern als dad Pro- duft einer Aonen währenden Entwick⸗ (ung begreifen, fo ift und auch feine Seele nur werdend, wachfend und wel⸗ fend gegenwärtig. Und diefen Wandel wollen wir auch im Drama fehen. Wie mir fcheint, würden ſich aus diefer For- derung für den, der fie anerkennt

einige bemerfendwerte Grundfäße ergeben. Ich will fie andeuten.

Erftend muͤſſen die Charaftere fo ge- zeichnet fein, daß der nachſchaffende Zuſchauer feinen Zweifel daran begt, daß jeder diefer Menfchen fo werden fonnte. Wenn alfo ein romantisches Monftrum auf die Buͤhne gebracht wird, fo darfder Dichter nicht vom Zus fhauer fordern, daß er ihm dieſes Monftrum, quia absurdum, glaube, fondern er muß ihm dad Werden ded Ungebeuerd erflären. Ich nehme 5.8. Blaubart (Eulenbergd Drama fenne ich nicht) und meine: wir müffen ibn zum Frauenmoͤrder werden ſehen. Na⸗ tuͤrlich nicht mit dem phyſiſchen Organ, aber der Dichter muß unſrer Phantaſie die Moͤglichkeit einer aufhellenden Ruͤck⸗ ſchau gewähren. Abſolutiſtiſche Will⸗ kuͤr laſſen wir nicht gelten; der alte Reſpekt iſt eben fort.

Zweitens darf der Held nicht un⸗ wandelbar ſtarr ſein. Ich denke an manche Geſtalten Hebbels und Lud⸗ wigs. Das langſame, aber unablaͤſſige, von einer geheimnisvollen Keimkraft gelenfte, gleichſam unerbittliche Werden hat Ibſen der Natur abgelauſcht. Nur wer ſich wandelt, iſt mit mir verwandt. Statuen erwaͤrmen uns nicht. Aber freilich muß die Wandlung der zen⸗ tralen Perſoͤnlichkeit in einer beſtimm⸗ ten Richtung erfolgen, nach dem Ge⸗ feß, nach dem fie angetreten, denn ein Irrer ift Fein tragifher Menſch. Der Wille muß eine immer wachſende In⸗ tenfität, dad Handeln eine immer wachfende Kraft befunden, bi endlich die machtvoll tönende Saite jerfpringt. Das Drama ift und vor allem ein „Werdegang“ ; infofern aber Werden nur durch Leiden möglich ift, erflärt ſich vielleicht die moderne Erfdeinung des leidenden ‚Helden.

Ein Drittes, dad wohl dad Schwerfte ift. Alle Menfchen einer Dichtung müffen eine gewiſſe aufweiſen. Denn, wer einmal den Ge⸗

danken einer luͤckenloſen Kontinuation in ſich aufgenommen hat, den wird das: tat twam asil auf allen ſeinen Wegen begleiten. Waͤren die Elemente etwas anders gemiſcht, ſo waͤre dieſer Verbrecher vielleicht ein Genie, dieſer Menſch, von dem ein unuͤberwindlicher Widerwille Dich ſcheidet, waͤre vielleicht Dein beſter Freund, vielleicht Deinſee⸗ liſches Ebenbild geworden. In einem Menſchen muß die Dichtung gipfeln, aber alle müffen werdefäbig fein. Erft dann wuͤrde ein Drama Stil haben, wie die Schöpfung des göttlichen Dras matiferd Stil hat. Vielleicht ift auch died Dritte gar nicht fo ſchwer zu er= reichen; vielleicht ergibt ſichs ganz von felbft, wenn nur der Poet ein unge- meined Exemplar der Menfchbeit ift.

Viertens muß aud) die Sprache des Dramatiferd eine „werdende“ fein. Hebbel bat es ſchon gefagt: „Rauhig⸗ feit des Versbaues, Verwidlung und Verworrenheit des Periodengefliges, Widerſpruch der Bilder erheben ſich zu wirkſamen und unumgaͤnglichen Dar⸗ ſtellungsmitteln, wenn ſie auch dem oberflaͤchlichen Blick, der nicht erkennt, daß auch das Ringen um Ausdruck Aus⸗ druck iſt, als Ungeſchicklichkeiten und Schwerfälligfeiten erfcheinen mögen.“

Genug. Wer zuviel beweifen will, beweift am Ende gar nichts. Ob ich Necht babe oder nicht, das fünnte nur eine eingebende Vergleichung der Dra- matifer der Vergangenbeit und der Gegenwart dartun. Vielleicht ift die Frage auch noch nicht fpruchreif; viel- leicht wird die naturgefdjichtliche Aufs faffung fich erft in zwanzig biß dreißig Jabrenim Drama mwiderfpiegeln. Viel⸗ leicht waren aber auch die Dramatifer aller Zeiten in ihrem Dichten „Dar⸗ winiſten“. Eduard Goldbeck

Terafoya

m kölner Schaufpielbaud bat man des 1740 verftorbenen japani=

fhen Schaufpieldichterd Taleda JJumo 285

„Terakoya“ dargeftellt, den Haupt- aft des hiſtoriſchen Trauerfpield, wel⸗ ches den feltfamen Titel „Sugamara Denju Tenarai Kagami” führt; zu deutih: Spiegel der vom Kanzler Sugamwara Überlieferten Schoͤn⸗ ſchreibekunſt.

Die Szene ſpielt um 902 zu Seryo. Gen;o, des vertriebenen Fuͤrſten ehe⸗ maliger Hofmeifter, bat bier in länd- liher Stille eine Rnabenfhule er- richtet, um Kwan Shufai, den jungen Koͤnigsſohn, in Verborgenheit zu fhügen. Aber fhon pochen die Häfcher an die Tür, die nach ded rechtmäßigen Herrſchers Erben fahnden. Vergebens flebt Genzo um das Leben des un- fhuldigen Kindes; vergebens fucht Matfuo, des alten Königs einftiger Kanzler, das Unheil abzuwenden. Gemba, der Hauptmann, bleibt uns erbittlih. Schwerter drohen. Genzo wanft mit dem an ihn gegebenen, hochnotpeinlichen Käftchen ind Neben- gemach. Mad) furzer, ſchreckensvoller

fe kehrt er wieder. Bon feiner inge tropft Blut. Der Ohnmacht nabe, feßt er dad ſchwergewor dene Körbchen auf die Erde. Matfuo muß den Dedel öffnen und beftätigt er- fhauernd Gembas frage, ob es des Prinzen Haupt auch wirklich fei.

So ziehen denn die Krieger ab. Matfuo bleibt. Und nun beginnt ſich Furchtbares zu enthuͤllen. Genzo, der, um Kwan Shuſai zu fehonen, einen andern, kurz vorber in fein Haus gebradhten Knaben getötet, erfährt, daß der Kanzler diefen Juͤngling wohl gefannt hat, mehr noch: daß er auch die Mutter fennt, die ihn gebracht.

Und fie fommt, diefe Mutter. Schluchzend ftürzt fie an Matfuos, des Gatten Bruſt. Es war ihr eigen Fleiſch und Blut, das fie ge- opfert für das Koͤnigskind.

Aber noch hat der Dichter das letzte nicht gefagt.

Man bringt die Bahre mit dem

286

verftümmelten Leichnam. Da ver- findet Matfuo: Kotaro, der unfer Sohn gewefen, hat gewußt, daß er in den Tod gebt.

Wahrlich, die menfchlihe Größe, zu welcher der Dichter diefe Aſiaten in genialer Steigerung aufwachſen läßt, erfüllt den Zuſchauer troß allem Blutgeruch der Szene mit jener weihe⸗ vollen Stimmung, die einen nur an⸗ gefichtd bedeutender Runftwerfe uͤber⸗ fommt.

Die jambifche Bearbeitung Wolf: gang von, Gersdorffs, der Karl Flo- renzend Überſetzung zugrunde liegt, fcheint ziemlich glüclih zu fein. Sie ift europätfchen Empfinden anges nähert und nicht ohne Schönheiten der Sprache. Die Darftellung felbft verdient Lob. Wie immer, wenn Marterfteig für die Regie verant- wortlich zeichnet, wehte ein frifcherer Hauch von der Bühne herab. Und echt ſahs da oben aud. Man batte feine freude dran. So echt, daf die Scyaufpieler in der dufern Dar- ftellungslinienatürlic nicht ganz folgen fonnten, Ich meine, der Geſtus unfrer Darfteller muß, etwa verglichen mit der Stilwirfung japanifcher Malereien, von europäifcher Begrenztheit erfchei- nen. Willfagen, ein japanifcher Schau⸗ fpieler wird naturgemäß das Rhyth⸗ mifche dieſer aflatifhen Vorgänge erfchöpfender ausdeuten und in Er⸗ fheinung fegen koͤnnen. Mit unfern Mitteln audgedrüdt, bleibt in dem fanatifchen Heroidmus in „Zerafoya” ein ungeloͤſter Reſt. Man muß japa- nifche Mimen gefehen haben, um ſich deffen ganz bewußt zu werden. Das Fratzenhafte beherrſcht auch dieſen hochentwickelten Zweig ihrer uralten Kunſt. Und ſelbſt ein Kuͤnſtler wie Kikugoro (etwa der japaniſche Kainz) macht vom Grotesken (natlırlid immer von unferm europäifhen Standpunft aus betrachtet, und einen andern haben wir doch nicht durch Mifchung unfers

Blutes) einen fo ungeheuern Ge» brauh, daß ohne dieſes Enfemble von Empfindungen und Geften eine ftilechte Feiftung undenfbar wird. Fuͤr die japanifhe Schaufptelfunft ift e8 charafteriftifch, minder nicht für ihre dramatifche Fiteratur, daß der japanifche Mime feine Laufbahn als Athlet und Songleur beginnen muß. Erft jahrelanger —— Drill verleiht ihm die koͤrperliche Voraus⸗ fegung fuͤr die Auslibung feines ſchwe⸗ ren Beru ch habe ein Stüd ge⸗ ſehen, in dem fidy die beiden erften Darfteller auf einem etwa fünf Meter hoben Felsplateau begegnen. Nach beftigem Fauchen und katzenmaͤßigen Springftudien entwicelt ſich ein Zwei⸗ fampf, in deffen Verlauf der jeweils zu Boden Geſtuͤrzte von dem Stehen⸗ den mit furzem Handgriff am Fuß gepadt und, ald wärd eine Gummi- puppe, hinten über die Schulter ge- worfen wird. Zuletzt fehmeißen fie ſich gene eitig die Felſen hinunter. Der Aft „Terafoya” verlangt freilich folhe Künfte nit. Des Grotesfen aber birgt er genug. Herr Becker ſchien ald Gemba inftinftio diefe Linie zu ftreifen. Eine Leiftung von Tiefe mar dergroßangelegteRanzler Matfuo, den Herr Ddemar gab. Im Finale riß er Fräulein Bajor (Chiyo) mit binab in den Abgrund der Schmerzen. Herr Dofer wäre vielleicht fogar in Japan ein ganz tlichtiger Genzo ge- worden. Richard Elchinger

Oper und Operette

ie fhöne grüne Zeit der erften

Magnerbegeifterung wurde nod) einmal lebendig im Königlichen Opern⸗ baus, wo man Alexander Nitterd ein- aftige Oper „Der faule Hans” auf- führte. Alles, was in jenen Tagen des neudeutfchen Sturmes und Dran- ges die Herzen bewegte, findet fic in diefem Werf. Die ſchwaͤrmeriſche Vor⸗ liebe fuͤr nackte Kniee, Pelzroͤcke, Schwer-

ter, Helme und Schilde, auf denen von Zeit zu Zeit mit den Speeren ein ohrenbetaͤubender Lärm verübt wird, dad Vergnügen an audgelaffenen Mägden, die im „Holländer“ - Stil einen Spottchor fingen, das Kofettie- ren mit ungefhladten Rieſen, die ihre Brüder im „Rheingold“ an —— er der „freislichen e“ noch um

Erflectliches übertreffen. Dazu eine Hauptfigur, der faule Hans, wie ent- fprungen aus dem Katechismus für deutfche Art und Sitte. Eine Art Hand Sachs, Fumuliert mit Sieg- fried und Parfifal, ein Träumer, ein Poet, ein Innerlicher, der dem lieben Herrgott den Tag ftieblt, im großen Augenbli aber unmenfhlihe Taten volbringt und zum Schluß dem auf» borhenden Volk die Loͤſung feines Mätfeld gibt. „Sa, ja,” fo fagt er, „dad ift dad deutfche Voll. Go träumt ed dahin. Doch, wehe, wenn ed loögelaffen,” fo fagt er. Trotz diefer verſteckten captatio bene- volentiae, und obwohl im DBerlauf von einunddreiviertel Stunden die Sonne zweimal fcheint, vor und hinter der Szene gewaltige Schlachten ge⸗ fhlagen werden und eine veritable Königin im Rrönungsornat uͤber die Bühne flattert, wird man nicht recht warm. Weit beffer ift die Mufik, der man eine faubere Faftur, eine noble Erfindung und bier und da vor allem in den Solofjenen des faulen Hans und den Mädchendhören einen feinen Stimmungdreiz nach⸗ rühmen kann. Stiliſtiſch ſteht die Partitur auf einer Mittellinie zwiſchen „Tannhaͤuſer“ und „Triſtan“: ſie hat die reiche Polyphonie und das ſelbſt⸗ ſtaͤndige Orcheſter des ſpaͤten Wagner, ohne daruͤber die praͤgnante Thematik des jungen zu vernachlaͤſſigen.. . Herr Alois Pennarini aus Hamburg, der an Stelle des erkrankten Kraus den faulen Hans fingt, treibt einen Miß⸗

287

brauch mit feinen prachtvollen Stimm⸗ mitteln. Die dunfle Bofalifation und das Ineinanderziehen der Töne find auf die Dauer nicht zu ertragen.

Daß „Figaro“ bat eine allerliebfte Pifanterie auffeinen Spielplan geießt, die ſich, Paris“ betitelt, von den Herren de Flers und Eaillavet gedichtet und van Claude Terraffe fomponiert ift. Die hurtigen Autoren, die [hon mans hen antifen Stoff vor ihren paro— diftifchen Bogen genommen haben, bringen diedmal Herren Parid zur Strede, den füßen Schäfer, der auf dem Berge da mit Ölyceren fofettiert und, in. den Ötreit der drei Göttinnen verwickelt, die Apfelverteilungauffeine eigene, elegante, modern=pariferifche Art vollzieht. Mit Grazie und Witz ftimmt Herr Claude Terraffe in diefen frech⸗kaprizioͤſen Ton ein. Wer von feinen deutfhen Kollegen würde auf die dee fommen, die Zwietracht in einem Stüd voll von Meyerbeerfchem Pathos anzurufen? Dder auf den Apfel ein Enfemble zu komponieren, das des berühmten Säbel-Enfembles in der „Großherzogin von Gerolſtein“ nicht unmert ift? Oder einen Rache⸗ gefang der Glycere durch dreimalige Unterbrehung immer in eine neue Beleuchtung zu ruͤcken? Terraffe wagt es, obwohl gerade hier die Näbe des Meifterd Jacques erdrüdend wirft. Zwifchen dieſen Nummern feinern Zufchnittd fteben Partien, die beim Publifum ibre Schuldigfeit tun, die aber ſtets die elegante Linie und die melodifhe Woblanftändigfeit beob- achten. Einen Reiz für ſich empfängt die Partitur Durch die Inftrumentation: Zwei Geigen, Flöte, Baß, Klavier

und Darmonium. So fing Offen--

bach in den Bouffed- Parifiend an, ald er noch feine Fleinen Singipiele ſchrieb und doch fchon fo groß war.

Hans Warbeck

288

Die Preffe Narrenglanz

Berliner Lofalanzeiger

Als dDramatifcher Dichter von hoher Begabung bat fi) Rittner erwielen. Sein Lied von Spielmanns Luft und Leid ift in feiner Einfachheit und Natürlichfeit fo ergreifend, fo padend, daß man fi) der Hoffnung bingeben fann, daß in Zufunft noch viel Gutes von ihm zu erwarten if. Daß er ald erfabrener Bühnenfahmann mit der Technif vertraut ift, ift felbft- verftändlich; zu bewundern war es, wie er feine Fabel entwidelt, fpinnt und auf die natuͤrlichſte Weife fteigert. Dazu eine wundervolle Sprache, voll Lyrik und Romantik, ohne dabei füß- lich zu fein, und zielbewußt und Flar die Zeichnung der einzelnen Charaftere.

Der Tag

Die Spielmanndtragddie in ihrer falfhen Verklärung ift froftig. Sie bleibt bei all ihrer moblgemeinten Patbetif und bei allem wehmütigen Singfang, der zwifhendurd erflingt, ein lebrbaft allegorifches Beiſpiel: fie wird nirgend® zum ergreifenden, zum lebendigen Gedicht.

Berliner Yreuefte Naͤchrichten

Wie eine der fchäpendwerteften Eigenfchaften des Schaufpielerd Ritt» ner in feinem frifchen, kecken Drauf- gängertum gipfelt, fo bat er ſtrupel⸗ [08 und nicht lange nad) innerer Wahr⸗ fcheinlicfeit fragend feinen Stoff an⸗ gepadt und in vier furzen Aften wirk⸗ fam ausgeſchlachtet. „Ein Kopf voll Glut und Schöne“, wie ed im Spiel» manndlied ded dritten Altes beißt, bat diefes Stuͤck geſchaffen. Die Glut zeigt fih in der kuͤhnen, fladernden Bebandlung der Ereignije, und die Schöne bridt in mand fünftlerifch gejebenem Bilde, in manch edel und flug geführter Rede durch.

Deutſche Zeitung

Das Werk bringt alles andre eher als eine kalt erfonnene und fühl ge⸗ formte Fabel: echte, tiefempfundene Schmerzen und Leiden find ed, von denen es fingt, und diefe nichtd weniger ald webleidigen, vielmehr verbiffe- nen und marfigen Klänge fommen aus einem aufrechten, ungebeugten Mannedherzen.

Hationalzeitung

Der Konflift ift in feiner Mifchung aus maßlofer Bitterfeit und einem reht anfebnlihen Dinfel, einer Mifhung, die der webleidige Wolf- narr verförpert, wirklich nicht ſehr fompatbifh. Nicht einmal, daß ihn Den Herrad ald Ehemann audfchlägt, ann und fo fehr erfchüttern. Damit fällt aber die Tendenz, und damit fallt auch das Stüd, und nur die fraffefte Naivität, die Freude am Bühneneffeft, mag fi) auch weiter- bin lang und innig daran erfreuen.

Berliner Morgenpoft Sch fenne die Gründe nicht, aus denen Brahm Nittnerd zweitem Stüd feine Bühne verfagte, zudem er doch recht ſchwachem und ſchlechtem Tand den nie uͤberanſtrengten Apparat ſeiner Buͤhne ſo oft zu eigenem Schaden eliehen hat. Wie fie auch ſeien, kuͤnſt⸗ Terifcher oder perfönliher Art, fie werden nicht Stich halten. Der Dichter bat feinen finftern Traum mit Kraft und mit Seele geftaltet. Das Geflige und die ganze Spielmannspoefie {ft gewiß romantifierende Schablone, allein Rittner hat von neuerm Geift viel einftrömen laffen in die Hülfen, und feine fefte, fihere Hand bat bei der Geſtaltung nicht immer gejittert. Es find ihm lebhafte und auch leben- dige Bilder gelungen, die dad, was fonventionele Romantif im Stüd

ift, gut aufwiegen.

Sreifinnige Jeitung |

Die Wärme, mit der bier die Tragif eined Kuͤnſtlerſchickſals gefchildert wird, verrät viel Selbſtempfundenes und gibt dem und fern liegenden Einzel- ſchickſal im Gewand der Hiftorie eine allgemein menſchliche, erhöhte Be⸗ deutung. Der Szenenaufbau ift recht geſchickt, die Handlung wirffam fort- ſchreitend und von ftarf dDramatifchem Leben. Im Dialog machen ſich einige Banalitäten ftörend bemerfbar, doc flingt die Sprahe im allgemeinen friſch und kraftvoll.

Berliner Volkszeitung „Narrenglanz“ enthaͤlt jo viel Stei⸗ gerung, ſo viel dramatiſche Effekte, daß ſich das Publikum nur zu leicht über all die Mängel, die dem Stiüd anbaften, beſonders Über die Armut der Handlung, hinwegtaͤuſchen ließ.

Breuszeitung

Die biftorifhe Maske ftört, und vielleicht wäre ed günftiger geweſen, wenn der Dichter feine Spielmannd« tragddie zeitlo® gegeben hätte, wie fie in Wahrheit zeitlos if. Was an Märme, Kraft und Leben in dem Stud ıft, fonzentriert fih auf den Helden, in dem Rittner wirflid eine Geftalt voll Feuer und Kraft gelungen ift. Aufrichtig, trogig, ohne Weich- lichfeit, feffelt fie das Intereſſe bis zum Schluß, felbft wo bier und da die oft rein Außerlicdy gehaltene, mit zu viel billigen Wirfungen verfehene Handlung verftimmt.

Berliner Tageblatt

Menfhen und DBerbältniffe rings um den Spielmann find bequem fon- ftruiert, ohne innere Notwendigfeit, dem Kuliffenfchicfal zuliebe. Wolf: narr, der Spielmann, aber ift eine Geftalt, aus Traum und Sehnſucht eined Ehrlihen geboren. Deshalb feffelt fie den Sinn, allen äußern. Bedenken zum Troß. |

289

Deutfe Tageszeitung

Das Stud bat Erfolg verdient, denn es hatBühnenblut. Eher zu viel als zu wenig, aber feid drum! Haben wir doch an den Premieren diefed Winters gefeben, wie felten bei uns der Freifende Moft geworden ift, feit wir und dad Bitterwaſſer der gall- ſuͤchtigen Nordländer in alle Becher baben ſchuͤtten laffen. Darum gönnen wir dem Berfaffer feinenTriumpb gern.

Norddeutſche Allgemeine 3eitung Es ift ein Schablonenftüd, tönen- der Worte voll und unwahr, aber in einegebildete und gewählte Sprache gefaßt und mit genauer Kenntnis des auf der Bühne Wirkſamen gefchrieben.

Berliner Börfencourier

Penn je ein Tropfen Herzblut des Verfaſſers in fein Werf hinliberrollte, wenn je des Dichter Seele in feinem Liede lebte, ift ed bier der Fall.

Die Poft

Es zeugt fuͤr die ftarfe Dramatifche Geftaltung des ftofflihen Vorwurfs, daß das Publifum ſich von den aͤußer⸗ lihen Vorgängen allein zu ftarfer Anteilnahme binreißen ließ. Rittners dramatifche Kraft ift nicht unbeträcht- lich, jedenfalld weit belangreicher ala fein pſychologiſches Verſtehen. Vorwärts

Die Sprache hat jene aufgebaufchte, fhellenlaute, prätentiöfe Art, die zu den Requifiten des uͤblichen Koſtuͤm⸗ ſtuͤcks gehört. Die Geftalten ſchwanken fchattenhaft, und fchattenhaft bleibt gleihfalld der Zuſammenhang von Handlung und Idee. Hier und da flingt etwas wie perfönlihes Empfin- den an. Berliner Hlorgenzeitung

Nittner bat diefe Narrentragif in ein anfprechended Gewand zu Fleiden verftanden, und danffeiner fihern Be- berrfchung der Bühnentechnifift es ihm gelungen, ein wirkſames Theaterſtuͤck

zu fchaffen, da8 manchen guten Gedan⸗ fen, manches bübfche Wort aufmweift.

Voſſiſche Zeitung

Zu feiner Zeit haben Menfchen fo papieren geredet und gefühlt, fo un⸗ befeelt und fern aller Wirflichfeit ge- lebt. Das GStüd befteht aus lauter beftigen Szenen, ed gibt Obrfeigen und Doldftöße, aber die Situation bat nie etwas im dDramatifhen Sinne Bedingendes, um die willkuͤrlichſten Unmoͤglichkeiten geftatten zu koͤnnen.

Täglihe Rundſchau

Alle Einwände find durchaus neben- fählich gegenuber dem einen, was nottut: der bezwingenden Babrhaftig- feit ded Grundgedankens, der fort- reißenden Gewalt des Kuͤnſtlerwillens, der wie eine Seuerfäule durch das Werk lodert. Wo find die Stimmen unfrer Zeit, die mit fo tiefem, aus dem Hetligften ded Herzens geholtem Groll zu und fprehen? Wer hörte je diefen Ton der Verachtung aus einer wunden Bruft? Ein unbändiger Troß richtet fi) bier auf und fchlägt der wertenden Welt mit der Pranfe ded Hohns ind Antlig.

Deutfhe Uraufführungen

19. 2. Rudolf Berger: Die Scholle, Schaufpiel. Mainz, Stadt- theater.

23.2. Guftav Picert: Vater Mor⸗ gana, Atelierfjene. München, Luft- ſpielhaus.

24. 2. C. Beyer: Ut de Preußentid, Schauſpiel. Berlin, Im Krollſchen Theater.

1. 3. Irma Kroneck: Unſer Herr Pfarrer, Volksſtuͤck. Nürnberg, Volks⸗ theater.

5. 3. Camilla Theimer: Meine Gefährtin, Schaufpiel. Wien, Nai« mundtbeater.

6. 3. Rudolf Schlatter: Mater- nitas, inafter-ZTriologie. Luzern, Stadttheater.

Berantwortlich für die Redaktion: Siegfried Jacobſohn, Berlin SW. 19 Berlagvon Deſterdeld & Co. BerlinW.15 Drud von Imberg & Leffon, BerlinW.9

2J. März 1907

II. Jahrgang Yıummer 12

Robert Bromwning als Dramatifer/ von Lothar Brieger-Maffervogel

[8 es befannt wurde, daß Gerhart Hauptmann ein Stück des Titels A „Und Pippa tanzt“ vorbereite, begannen, wie uͤblich, die Gruͤbeleien

lber die Bedeutung diefed Ziteld. Einer oder der andre erinnerte fi, daß ein feltfamer englifher Dichter einmal ein Stüd „Pippa passes“ gefchrieben hatte, und eine Ahnung wurde laut, ald hätte Hauptmann bier angefnüpft. Bis fchließlic die Lberzeugung allgemein wurde, Hauptmann babe mit dem Zitel feine® Spield einem großen fremden Dichter feine Huldigung darbringen wollen.

Sch weiß nicht, wad an diefer Annahme richtig ift, die den Kenner Bromningd wie eine Sfurrilität anmuten muß. Fwifchen dem Deutfchen und dem Engländer gibt ed fein Band. Hier ſteht Hauptmann, welcher, felbft in feinen Märchenfpielen noch eine durchaus fonfrete Matur, die Er- eigniffe ihre deutlihe Spradhe reden läßt und dahinter tritt, wie um die Gedanken und Geflihle zu beberrfchen, die durd die Ereigniffe im Zuhörer erwedt worden find. Dort fteht Robert Bromning, dem alles Ereignis nur Grund des Gefüuͤhls if, und der die brennende Sehnfucht hat, das Ge- fühl nadt zu fehen. Der Dichter Hauptmann ift da am größten, wo er fheinbar ganz realiftifch vorgeht, im Meifterluftfpiel des „Biberpelzes“ etwa, wenn die alltäglichen Dinge durch unfagbar abgefchloffene Konzentration auf fi) eine michelangeledfe Sprache ewiger Ethif reden. Und Hauptmann verfagt, wird mitunter fogar banal, wenn er in Berfennung feiner fpezififchen Begabung nicht mehr die Dinge ihre eigene Sprade ſprechen läßt, fondern fie in eine fubjeftio fentimentale Lyrik auflöft. Um eine große Leiftung zu vollbringen, muß fein Gefühl an die Dinge berangehen, nicht aber fie in ſich aufzulöfen verfuchen. Diefed Verfahren ift genau dem entgegengefeßt, welches Bromwning beliebt. Und man muß immerhin danfbar fein, daß der Zufall des Namens Pippa auch einmal Gelegenheit gibt, das größere deutſche Publifum auf den englifhen Dichter aufmerffam zu machen, deffen Werke

291

in ihrem raren und foftbaren Englifh nur wenigen gänzlid geniegbar fein werden, während bisher nur wenige Verdeutfchungen (Pippa geht vorüber; Die Tragddie einer Seele; Auf einem Balfon; In einer Gondel; Paraceljus fämtlih im Infel-Verlag zu Leipzig erfchienen) veranftaltet wurden, und Meifterwerfe, wie Sordello, James Lee's Wife, The Statue and the Bust, noch ihred Dolmetfherd barren.

Bromning ift Lyriker im eigentlihften Sinne des Worted. Er ift eine felbftbefchaulihe Natur wie Emerfon, aber nicht von deflen rubevoller Erfenntnisfähigfeit, fondern abenteuerlih und dabei furdtfam, von den Dingen ded dußern Lebens angezogen und dabei voll intenfivfter Angft, dag fie ihm die Kreife feines innern Erlebend ftören fünnten. Browning läßt fih überhaupt nicht einordnen. Wie er ift, ift er auch gleich da als eine unumftößlihe Tatfache, an der weder Zeit noch Milieu etwas ändern können. Er bat feine Kultur, er ift traditiondloß; trotzdem er viel lad und manche Buͤcher leidenſchaftlich liebte, ſcheint ed, ald hätte er Feinen der Dichter ge- fannt, die vor ihm waren. Browning gehört zu denen, deren Stärfe und Schwäche darin befteht, ausſchließlich und eigenfinnig in ſich felbit zu wurzeln. Alles andre hat nur den Zweck, ihn anzuregen. Und auf jede Anregung reagiert er mit unglaublichfter Senfibilität: er fühlt fich verpflichtet, uͤber jedes feiner Gefühle in Überftürzender, uͤberſprudelnder Weiſe Nechenfchaft abzulegen. So von allgemeinem Werte dinfen ihn diefe Geflible, daß er glaubt, nicht deutlich und gewiſſenhaft genug fein zu fünnen und in ewigen Wiederholungen mit zwanzig Zeilen das fagt, was ein andrer mit zwei Zeilen gefagt hätte. Am Ende feiner Konfeffion bleibt dann in Bromning eine tiefe, halb verzweifelte Leere zuruͤck, und feine meiften Dichtungen verlaufen in müder und trüber Sfepfis, in einem durchaus negierenden Peffimismus. Wie viele englifhe Dichter, Byron, Shelley etwa, ift er der eigentliche und einzige Held feiner Dichtung, der vom Leben nur irgend etwas ald Maske vornahm und nun vor Dem Spiegel feiner Verſe probiert, wie fie ihn Fleidet. Man möchte fagen, der Vers fei ihm nur ein zufälliged Mittel des Aus- drucks. Er handhabt ihn nicht ald Künftler, fondern ald Barbar. Diefer überquellende Lyrismus adelt den Vers, nicht umgefehrt. Wie formaliftifch fulturlos find doch diefe Dichtungen! Die Strophen überfprudeln, überftürzen fih. Das Wie wird gleichgültig neben dem Was; mitunter wirft es geradezu ftörend. Um Bromwningd Größe ganz empfinden zu koͤnnen, dazu gehört gerade für den fulturell Feinflbligen ein bobes Maß von Selbftübermwindung, eine errungene Unempfindlichfeit gegen diefe mitunter, ja gar nicht felten zur Banalität ausdartende Roheit. Wer fi) aber zur Erfenntnid der aufer- ordentlichen, all dies in ſich fchließenden Eigenart der Perfönlichfeit des eng⸗ liſchen Dichters durchgefämpft hat, trägt auch einen gewaltigen Eindrud für ſich davon. Über Unzulänglichfeiten, Holprigfeiten, Weitfchweifigfeiten hin⸗ weg ſchließen ſich die Verſe zur mächtigen Dichtung, zum großartigen Ge- famtwerf, deſſen Iprifche Wahrhaftigfeit und Ddeffen tiefes Empfinden die Qualen wie dad Gequälte im einzelnen vergeffen machen.

292

Es iſt intereffant, zu verfolgen, wie ein fo durchaus fubjektiver Lyriker gleih Browning zum Dramatifer wird. Um fo intereflanter, weil eben Browning fein Rulturdichter ift, fondern ein traditionslofer Menſch, dem feine Wege nur aus fich felbft heraus offen fleben. Dad Werden feines Dramas ift darım ein kulturell wichtiged Beifpiel fr das Werden des Dramas uͤberhaupt, fir die Entftehung des Dialogs aus dem Iyrifchen Monolog.

Browning fühlt, im Leben jedes Menfchen fommt ein Augenblid, wo er nicht mehr .mit feiner Gefuͤhlswelt an die Dinge berantritt, fondern wo diefe Über die Gefuͤhlswelt Herr werden und fie nah ihrem Willen um« modeln. Der Abenteurer, der biöber fein Leben lebte, fteht plöglih an der Kreuzung, wo fein und der andern Leben ſich ſchneidet. Dies ift die Kreuzung, wo für dem Eyrifer der Dialog den Monolog erjegen muß. Die ihr Recht fordernde Welt tritt an ihn heran ald eine andre Stimme, die mit ibm ſich zum Zwiegeſang einen will.

Bromning war nit der Mann, auszuweichen, wenn fi ihm die Not⸗ wendigfeit einer foldhen neuen Form ergab. Er, der reiner Lyriker ift, bat eine Anzahl wahrer Meifterdramen gefchaffen. Er zeigt ſich groß darin, daf er genau die Kreuzung gibt, und dad Vorher und Macher blos in den wunderbaren Iyrifhen Erkurſen des Zwiegeſpraͤchs anklingen läßt, wo es fih, wie etwa in „In a Balcony“, zur beraufchendften Schönheit fteigert, Hier find Dramen. Bromning ift ein Meifter des Einafterd, der eigent- ih der dritte Aft iſt. Wenn er verjucht, wie etwa im „Paraceljus”, die neue Form auszubauen und nad; beiden Seiten zu ergänzen, zeigt fich in der abfoluten Bilflofigfeit, dem gänzlichen Verfagen ihren Anforderungen gegenüber feine eben durchaus Iyriihe Grundnatur. Dann wird er lang« weilig, gezwungen, manieriert, formlos jelbft in feinem Sinne. Und ftets findet er dann das nidht, was feiner Fleinen Dramen Größe ausmacht: die Kreuzung. Diefe Fleinen Dramen aber find Föftlihe Perlen der Weltliteratur, überlegen fonzentriert und voll ahnungsreicher Tiefe.

Das „Ereignis“ in einem Menfchenleben, der Punkt, wo diefes ſich mit der Außenwelt fchneidet und unter ihren Einfluß gerät, tritt ohne feierliche Ankündigung und Prunf an: ed fann ein Zufall fein, ein Nichts, ein Staub- förnden, dad den Gang der ganzen Mafchine ändert, In „Pippa passes“ vielleicht dem einzigen Werf Brownings von echtem Optimidmus, ift dieſes Ereignid die Seidenfpinnerin Pippa zu Afola,. welde folgenfhweren Einfluß auf dad Leben, die Entihliefungen ihrer Mitmenfhen gewinnt. Pippa ift eben für Browning nichtd andres, ald die Verkörperung jened Augenblicks, da der Menfch ſich felbit ehrlich fieht, wie er ift, und fein weiteres Leben beftimmt. Sie freut fich des einzigen flr fie freien Tags im Jahr, des Meujahrstags, und wandelt fingend an den Fenſtern all derer voruͤber, die fie für befonders glüdlicd hält, um fo einen ideellen Anteil an ihrem Glüd zu baben. So fommt fie an der Laube vorbei, wo Sebald mit Ottima figt, der Gattin des alten Luca, den beide im der Macht vorher ermordet haben. Pippa gebt vorüber und fingt: „God’s in heaven, All’s right

293

in the world.“ Oder ift ed nur dad Gewiſſen Sebalds, das diefe Worte bört? Er bereut und wird büßen. Pippa gebt weiter. Am Atelier des Jules fommt fie vorbei, der eben Phene vom Altar in fein Heim führt. Das war ein beimtüdifher Streih. Des Jules neidifhe Kameraden hatten eine Dirne, eben Phene, abgerichtet, Jules gegenüber eine vornebme, in ihn verliebte Griechin zu fpielen. Nun, da der Streich geglüct tft und ſich enthüllt, will Zuled die ibm eben erft Angetraute von ſich flogen. Da geht Pippa vorüber. Pippa fingt dad Lied von der Fiebe zwifchen dem Pagen und der Königin Cornaro. Und Jules verändert fih. Er wird Phene, die ihn wirflich liebt, zu fih emporheben. Pippa gebt weiter. Im Turm, an dem fie vorlberfommt, ſpricht der Verſchwoͤrer Luigi, der den Kaiſer Franz ermorden will, feiner Mutter von dem Schwanfen zwifchen dem Ende, das ihm winkt, und der blühenden Erde, an der er noch fo fehr hängt. Denn er ift ja noch fo fehr jung! Da geht Pippa vorüber. Pippa fingt ein Lied von den guten Königen der Vergangenheit. Der Kontraft zwiſchen diefer Vergangenheit und der Gegenwart ergreift Luigi: er drückt feiner Mutter zum Abfchied die Hand und eilt entfchloffen zur Ausführung feines Plans. Pippa geht weiter. Der Monfignore, deflen Bruder geftorben ift, fragt den Intendanten nad) ded Toten Verlaflenfhaft und vor allem nad) deffen beifeite gebrachter Erbin. Der Intendant fagt, fie lebe ald arme, aber ſtets fingfreudige Seidenfpinnerin, Pippa. Ein Engländer wolle fie ald Maitreffe mit nad) Nom nehmen, wo fie dann zugrunde geben würde. Da geht Pippa vorliber. Pippa fingt ein Lied von ihrer Verlaffenheit. Und Monfignore läßt den Intendanten verbaften.

In „A Souls Tragedy“ ift Chiappino ein Menſch, deffen ganzes Gluͤck deffen ganze Bedeutung darin beftebt, fich für unglüdlich, gemieden, miß- achtet, ungeliebt anzufehen. In diefen Anſchauungen ift er ein Dichter, deffen Ekſtaſen und in ihrer dDramatifchen Kraft ergreifen. In dem großen Augen- blick des Ereigniffes, der Kreuzung, zerrinnen feine Träume: das Weib, das er ummarb, wird feine Frau, er felbft wird Buͤrgermeiſter und kann noch Gott weiß mad werden. Es ift ein fehr ſtarkes Stuͤck Shaw in „A Souls Tragedy“. Bromwning, der fo durchaus Dichter ift, hält den großen Augen⸗ bli, die Kreuzung mit dem Leben, für fein Glüd, fondern im Gegenteil für etwas, dad dad Reinſte und Geelifchfte im Menfchen tötet. Das tritt immer und wieder hervor, fo wenn in „Auf einem Balfon” die Königin ihrem Minifter Norbert, von dem fie ſich geliebt glaubt, ihre Liebe gefteht und damit ebenfo ihr eigenes Gluͤck zerftört wie dad Morbertd und der Frau, die er in Wahrheit liebt.

Und doch Bromning weiß dad wer die Kreuzung mit dem Reben, das Ereignis verpaßt, hat ein verfeblted Reben zu beflagen. Herzog Ferdinand und eine junge Frau lieben ſich und koͤnnen nidyt zueinander. Gie ver- träumen die Zeit, fie finden nicht den Mut zum Glüc, werden alt und baben ihr Leben verfpielt, Dies ift Bromwnings Dilemma. Aus dem barten Kampf mit ihm entfpringt dad Große und Schöne feiner Dramen.

294

*

* nn. m an a a

Zwei Ibſen⸗Aufführungen

ie beiden Auffuͤhrungen ſind nicht miteinander zu vergleichen. Daß D die aufgeführten Dramen von Ibſen ſind, iſt kein genuͤgendes tertium

comparationis. Diefe Dramen liegen faſt um ein Vierteljahrhundert auseinander. Was dem Ibſen von 1877 frommt, wäre fir den Ibſen von 1890 vom Ubel, und umgekehrt. Es fehlt alfo ein beftimmter gültiger Ibſenſtil, der zu treffen oder zu verfehlen und ald gemeinfames Mag flr den Wert der beiden Vorftellungen zu benugen wäre. Sie haben diefen Wert, abfeitd von allen Stilfragen, aus ſich und in fich felber, und wenn man gefagt hat, daß ed nur in dem einen Falle ein Wert, im andern Falle aber ein Unwert ift, fo find die Vergleichsmoͤglichleiten zwifchen den „Stüßen der Geſellſchaft“ des Leffing- Theater und der „„Hedda Gabler” der Kammer- fpiele erfchöpft, und die Sonderbetrahhtung kann beginnen.

Bei „Hedda Gabler” wird man um einen andern Vergleich nicht ganz berumfommen. Man wird unwillfürlih an Brahms „Hedda Gabler” denken, die vor fehd Monaten die hoͤchſten Anfprüche unbefriedigt ließ und jet, neben Neinhardts Aufführung, plögli ragend und leuchtend dafteht. Es erſcheint noch immer als ein Fehler, daß bei Brahm die Gefuͤhlsſeite des Dramas fo arg vernadläffigt war. Aber ed erfcheint nicht mehr als ent» ſcheidender und unverzeihlicher Fehler, nachdem man, bei Reinhardt, gefehen bat, daß diefer eine Fehler vermieden werden und troßdem die ganze „Hedda Gabler” ibfenunreif und funftfremd wirken fann, Den drei Egoiften des Stuͤcks ftehen drei Menfchenkinder gegentber, deren Herzendwärme fo groß ift wie ihre geiftige Schlichtheit. Ihrer ift dad Himmelreich. Nur fir Hedda Gabler, nicht für ihren Dichter, find Zörgen, Zulle und Thea fomifch Brahm hat mit Heddas Augen auf die drei geblirft oder fie und wenigftend fo gezeigt, wie Hedda fie fiebt. Darin ift der Megiffeur Bahr weniger unglüclih gewefen. Bei ihm ift Tante Zulle feine fomifche Alte, ift Tesman nicht „der“ Profeflor aus den liegenden Blättern und Thea Elofted feine keck umbertrippelnde Null. Aber ganz gluͤcklich iſt auch Bahr mit feinem SKleeblatt nicht geweſen. Seine drei Leutchen haben ſchon ihr Stud Herz und ihr Stuͤck Ernſt. Fräulein Kurz ald Tante Zulle ift dabei von einer wahrhaft fammerfpielmäßigen SIntimität des Tond und der fchaufpielerifhen Mittel. Herrn von Winterfteind Tesman iſt faft fo etwad wie ein neuer und durchaus nicht unglaubbhafter Typus: der Bücerwurm, den Gtubenluft und figende Lebensweiſe nicht audtrodnen, fondern blutvoll, ungemein potent und gerade dadurch Hedda Gabler fo zu- wider machen. Fraͤulein Höflih fchlieplih tut ald Then zuverläffig und befcheiden ihre Schuldigfeit. Das alles reicht ficherlicy aus, Aber der wahre

295

Runftgenuß beginnt beim uͤberfluß. Diefe drei trefflihen Darfteller haben doch nicht den feelifhen Reichtum und nicht Niveau genug, um dad Gegen- gewicht zu bilden, daß fie bilden follen: dad Gegengewicht unendlicher Mütter- lichfeit zu troftlofer Sterilität, bingebender Opferfähigfeit zu unbeilbarer Eigenſucht, gefammelter Werftreue zu genialifher Sprungbaftigfeit. Wie in diefem Gegenfpiel Armut des Geiſtes mit reinfter Menfchlichfeit zu einem Flaren, vollen, warmen Ton zufammenflingen fann, da® hat vor neun Jahren dad Trifolium Poellnig-Miffen-Fehmann bewiefen. Wem diefer Ton nod im Ohr lebt, der hat es nicht ganz leicht, fid) mit dem ‚Herzen der neuen Aufführung zufrieden zu geben. Er lernt es erft ſchaͤtzen und am Ende Überfchägen, wenn der Geift der Aufführung fi entfaltet bat. Diefer Teil befteht nur aus Irrtuͤmern. Mit der fogenannten Aus- ftattung fängt ed an. Die gute Stube im Tedmanfhen Haufe foll nicht bloß ſich felber, fondern offenbar zugleich auch Hedda Gablerd Dämonie und Schickſal bedeuten. In fchaurig ſchwarze Vorhänge und Sofabezlige find gellend rote Pflanzen geſtickt, während die hbrige Einrichtung von angejahrter Alltäglichfeit if. Man kann nicht fombolifher, aber man kann auch nicht aufdringlicher fein. Diele Einrihtung ftammt von Nat Brad. Bon dem Brad der Neinbardtfchen Aufführung. Sauer wirde Hedda nicht fo einrichten. In den Kammerfpielen, die der Auferften Verfeinerung unfrer Theaterfunft dienen follen, gehört Brad, ohne ſchauſpieleriſch tadelnswert zu fein, einer Schicht an, die nicht die Haltung, nicht die Ironie und nicht dad Plaudertalent der Ibſenſchen Figur hat. Um Eilert Loͤvborg ift es beffer und ſchlechter beftellt. Herr Kayßler ift ein ganz andrer Perſoͤnlichkeitswert ald Herr Steinruͤck. Aber er ift ein geringerer Charafteriftifer. Er ift ein Individualitätsfchaufpieler, fein Proteus, fein Verfteller, fein Masfenmacdher. Seine Wirfung in einer Rolle wird davon abhängen, wieviel die Rolle von feinem Wefen, und wie nachhaltig fie ed in Schwingung feßt. In „Hedda Gabler” ift er wahrfcheinlih dem Tesman am naͤchſten. Da er den Loͤvborg vorzog, mußte er auf ſich beftehen bleiben und warten, mie weit ihm die Figur entgegenfäme. Das tat er nit. Er ging ihr entgegen. Gott bat ibm ein Gefiht gegeben, und er madte ein andres daraus: Flebte ſich einen wilden Bart und grimaffierte fhmerzbewegt mit Mund und Augen. Gott bat ihm eine Stimme gegeben, und er machte eine andre daraus: fhminfte ſich fozufagen einen Baß und ſchlug damit diftergrollende Laute an. Was heraudfam, mar weder Kayßler ald Loͤvborg noch Loͤvborg als Kanfler. Ed war ein dickes und deutliches Tcheatergefpiel, dad nur noch Außerlicher berüihrte, nachdem man eine der auffallendften Nuancen desMoiffifchen Oswald Alving, unmwefentlic verändert, hatte wiederfehren fehen. Die Leitung der Kammerfpiele fcheint mit Gewalt eine Tradition der Ibſendarſtellung

296

ausbilden zu wollen. Aber eine Tradition wird nicht gemacht, ja nicht ein⸗ mal gefördert, fondern fie entſteht. Moiffi umfreift, bevor er ſich der Mutter eröffnet, langfam einen Tifh. Die Wirfung dieſes Einfalls ift außerordentlich, weil er neu ift und ungezwungen aus der Situation ent« fpringt. Diefe Wirfung wird unfreiwillig fomifh, wenn man Kayßler nicht etwa vor einem fchweren Geſtaͤndnis, nein, vor irgend einer Antwort im tiefer Erfhltterung um denfelben Tiſch herummanfen läßt. Es iſt die Wirkung, die von der Hedda Gabler der Enfoldt fait beftändig ausgeht. Bon ihr zu fprechen, ift Verlegenheit: fo umerflärlich ſchlecht fcheint diefe Leiſtung. Man kann manderlei anführen. Hedda ift ein entarteter Arifto- fratenfproß, der zu blutleer ift, um ein eigened Leben aus Kraft und Schönheit aufzubauen, der zu ariftofratifh ift, um es unter Plebejern zu ertragen, und der in diefem tragifchen Fwiefpalt zugrunde gehen muß. Man fann da alfo fagen, daß die Eyfoldt Heddas XAriftofratie zu wenig fühlbar macht, um dem Konflift nicht feine Unerbittlichkeit zu nehmen. Daß man ihr nie die Dame glaubt. Daß fie noch eber unter ald über ihrer Umgebung ſteht. Man fann von ihren Ausdrucdmitteln fprehen und kann da fagen, daß Aug und Ohr gleich ftarf gepeinigt werden. Sie reckt ſich auf den Zebenfpigen body, geiftig und koͤrperlich. Sie dreht und windet und fchlängelt und verrenft ſich ald Hauptvertreter einer, ach du lieber Himmel, „zeihnerifhen” Schaufpielfunft. Sie verbraucht für fih allein die Mimif eined ganzen Trilogie-Enfembled. Sie fingt mehr, als fie fpriht. Sie reicht jedwedes Mäbchen auf dem Präfentierbrett dar. Das ift alles fürchterlich und erflärt dennoch nicht ganz, warum von diefer Hedda ein folder Strom von Antipathie, um es gelinde auszudrücken, auch auf den Zufchauer niedergebt, der dad Weſen der Eyfoldt immer nur als reij« voll empfunden bat.

Reinhardt follte aus dieſem Fiasko lernen, fein Repertoire nicht von den Schaufpielern beftimmen zu laffen. Denn er bat „Hedda Gabler“ felbftverftändlich nicht deshalb gefpielt, weil fie der Brahm fpielt, fondern weil die Eyſoldt feit Fahren feinen fehnliheren Wunfch ald diefe Rolle hat. Brabm hätte in folhem Falle niemald nachgegeben. Er ift darin von nord» deutfcherem Schlag. Den Vortritt hat dad Dichtertum. Die „Stüßen der Geſellſchaft“ werden nicht etwa gefpielt, weil Baffermann ſich eine neue große Rolle wuͤnſcht, fondern weil fie fir den Ibſenzyklus des Leifing- Theaters fällig find. Wäre Baffermann nicht da, gaͤbs einen andern Bernick. Aber ſchwerlich gaͤbs ohne ihn einen Erfolg von folder Wucht. Das Stüd war freilih immer feiner Wirfung fiher. Es ift ihrer beute ganz befonders fiher. Die Leute empfinden ed nachgerade ald unleidlihen Zwang, Ibſens Atersdramen und die geiftig feinen, aber diinnen Erzeugniffe feiner Epi-

297

gonen bewundern zu follen. Sie wollen wieder regelrecht, durch Handlung, nicht durch Seelenanalyfe, gefpannt, gepadt und aufgeregt werden. Ein tröftliher Ausgang macht dad Gluͤck vollfommen. Nur ift es beut nicht mebr ganz gleichgültig, ob diefer Ausgang durch einen Eharafterbrucd oder auf menfchenmögliche Weiſe herbeigeführt wird. Soviel Pfychologie hat man inzwifchen doc) gelernt, um ſich nicht fürder fl und brav mit jeder Wendung durch Gottes Flıgung abzufinden. Das nun ift Baffermanns entfcheidender Anteil am neuen Triumphalerfolg des alten „Stüßen”: er hat die Theater- figur des Konfuld Bernick ald Lebeweſen gefehen und hat fie fo Fräftig und deutlich wieder auf die Buͤhne geftellt, daß aud der Gröbfte fie erfaffen kann.

Zu folder Einheit bringend von den übrigen Darftellern nur wenige. Ein paar find ganz unmdglih. An Frauen hat Brahm nod immer bittere Not. Dina Dorf dürfte nicht fo erſchreckend leer, Tante Martha in ihrer unendlichen Liebe und Ghte nicht fo betrübend blaß wegfommen. Betty Bernick bat fchon mehr Geficht, dad Kaffeefränzchen ift draftifch genug, und die Männer laffen alles, was fie der Dichtung vorenthalten, dem Theaterſtück zugute fommen. Diefer Hilmar Tönnefen ift fein leisumfchatteter Vorläufer des größern Hjalmar, fondern danfbare Charge; Nörlund Fein Fleiner norwegifcher Predigtamtäfandidat, fondern feine bemußte Karifatur. Über beide wird berzlic gelacht, und fo find fie entfchuldigt. Der Ibſen der „Stüßen” war wahrhaftig auc nicht wählerifh. Es if, wenn man nicht beides zugleich fann, gefcheiter und ibfenfcher, diefem Kompromißſtück alle erlaubten Effefte abzugewinnen, ald jeded Tierlein fo intim audzutufchen, wie ed und durch eine Nachfolgerfchaft in der Ibſenſchen Menagerie geworden ift. Johann Toͤnneſen und Profurift Krap baben die Buͤhnenphyſiognomie, die fie baben fünnen und follen, und Schiffsbaumeifter Aune hat noch etwas mehr, weil er Oscar Sauerd großer Menſchlichkeit zugefallen if. Es ift mirflih eine runde, ſchlagende Vorftellung, an deren Lüden und Mängel überhaupt zu denfen Undanfbarfeit wird, fobald die Nede auf die Lehmann fommt. Diefe Lona Heffel ftrablt von innerer Sonne, von Schönheit der Seele und einer unverwelflihen Jugend des Derzens. In diefer Frau ift das Liebesleben nicht getötet, fondern nur in Mütter lichfeit verwandelt worden. Mütterlichfeit liegt in ihren fchnellen, ſchuͤtzenden Bewegungen, in ihren Augen, um ihren Mund, wenn ihrem großen Zungen Unrecht wird. Ihr Humor, ihre Schlagfertigfeit, ihre fehneidende Ironie geben ihrer Gefuͤhlsweichheit ein Nüdgrat. Ihre bloße ermutigende und be- gluͤckende Anwefenbeit verleiht der optimiftifchen FFriedlichfeit des Schluffes eine Gewähr, die ihr fonft gefehlt hat.

Daß diefe Elfe Heffel oder Lona Lehmann ihren Karften Bernick ein” mal geliebt bat und eigentlid noch liebt, erleichtert ed Baflermann, den

298

Konful zu „retten“. Sonft ift Bernick ein recht gewöhnlicher Schuft, dem erft die zwingenden Ereigniffe die Larve vom Geficht reißen. Da ift es denn freilich nicht möglich, an eine Befferung des Boͤſewichts zu glauben. Baffer- mann deutet von vornherein Durch einen Blick, ein Stocken der Rede, ein Ermatten ded Körpers an, daß ihm Gewiſſensbiſſe nicht fremd find. Aber fann er denn zuruͤck? Und für wen lohnt ed denn, die Wahrbeit zu geftehen? Sein eben ift inhaltslos. Er hat ſchwerlich die ganze Schuld. Auch an ihm mag lieblo8 gehandelt worden fein. Er ift nicht ohne Zartheit. Wer es nicht fhon früher bemerft hat, der hört ed an dem Ton, in dem dieſer Bernick vor dem Bekenntnis feine Frau bittet, jegt ihre Faflung zu be— wahren. In der Tat, ed gelingt Baffermann, aus dem gleichgültigen Bernid einen unjelig verſtrickten Mann zu machen. Es braucht nur eine treue, tapfere und flarfe Hand die Feſſeln zu durchhauen: dann ift ein Erlebnis wie die Angft um Dlaf ziemlich überflüffig, dann ift Karften Berni unter allen Umftänden für den Reſt feined Lebens befreit. Wie Baſſermann diefe pſychologiſche Entwicklung anlegt, fteigert und ausflingen läßt, das wäre noch bewunderndwerter, wenn er auf dad volle Verftändnis der dicfelligften Zuſchauer verzichtete. Auch ohne daß fi eine Lippe förmlich viehifch vorfchiebt, daß fi ein ganzer Menfchenmund zur Raubtierſchnauze formt, dag Augen verglafen und fämtlihe Symptome ded Verfolgungdmahnfinnd fihtbar werden, auch ohne diefe Künfte muß ed einem Künftler wie Baffer- mann möglich fein, fein Innerſtes nad außen zu fehren.

... So gut hat Brahm das Spieljahr befchloffen, und fo ungünftig ift eine einzelne Vorftellung des Reinhardtſchen Theaters abgelaufen. Man follte meinen, daß diefer Tatbeftand mit der ruhigen Sachlichkeit feftgeftellt werden fönnte, die allen Dingen der Kunft am geziemendften ift. Die berliner Zeitungen find felten fir Aufrihtigfeit und Unparteilihfeit. Sie find übereingefommen, Brahm eine Mitleidd- und Reinhardt eine Ge- bäffigfeitäfritif zuteil werden zu laffen, und fie bleiben fi treu Von Neinhardt verlangt man unwirſch, daß er von Tat zu Tat jage und ſich mit jeder neuen überbiete. Brahm feiert man überfhmwänglid, wenn er am Ende eined namenlos Häglihen Spieljahrs von den befannten Ibſen⸗ ſtuͤcken das ſchwaͤchſte in einer Darftellung gibt, die ebedem feiner Bühne unerläglih war. Bei Brahm genügt ein Erfolg, um alle Miederlagen, bei Reinhardt ein Durchfall, um alle Siege, „Gefpenfter”, „Frühlings Er- wachen”, „Friedensfeſt“ und was nicht fonft noch, vergeffen zu machen. Brahm ift feit achtzehn Jahren, Neinhardt feit fuͤnf Jahren Theaterdireftor. Aber der eine wird bei und behandelt wie ein fchonungsbedürftiger An- fänger, der andre wie ein Schwerverbrecher, dem mildernde Umſtaͤnde unter feiner Bedingung zugebilligt werden fönnen.

299

Thel / von William Blafe

Weiß der Adler, was in der Höhle ift? Oder willft du zum Maulwurf gehn und fragen? Kannſt du Weisheit tun in einen filbernen Stab, oder Liebe in eine goldene Scale? ie Töchter der Serafim führten ihre fonnigen Herden umber, alle, außer der Züngften: fie fuchte in Bläffe die verfchwiegene Luft, um wie Die Morgenfchönheit zu verwelfen von ihrem fterblichen Tage: unten am Strome Adonad wird ihre fanfte Stimme gehört: und alfo finft ihre zarte Wehflage wie Morgentau.

D, Leben diefed unſeres Quells! Warum melft der Lotus des Waſſers?

Warum welfen diefe Kinder ded Duelld? die nur geboren find, um zu lächeln und zu finfen.

Ah! Thel ift wie ein MWafferbogen! und wie eine ziebende Wolfe!

Wie eine Zurüctrablung in einem Glafe: wie Schatten im Waffer,

wie Träume von Kindern, wie ein Lächeln auf einem Kindergefichte,

wie Sprechen der Tauben, wie der vorübergehende Tag, wie Mufik in der Luft.

Ah! zart kann ich mich binablaffen, und zart mein Haupt binruben und zart die Stimme bören

von ihm, der im Garten gebt in der Abendftunde.

Die Lilie des Tald, die in dem niedrigen Grad atmet,

antwortete dem lieblihen Mädchen und fagte: ich bin ein Wafferfraut,

und ich bin fehr Flein und liebe in niedrigen Tälern zu wohnen:

fo ſchwach, kaum fest fi der geſchmuͤckte Schmetterling auf mein Haupt,

doc ich werde vom Himmel befucht, und er, der auf alle lächelt,

geht im Tal und breitet über mid jeden Morgen feine Hand aus,

indem er fpricht: Freue Dich, du niedriged Grad, du neugeborene Lilienblume,

du zarted Mädchen fchweigender Täler und befcheidener Bäche:

denn du follft in Licht gefleidet und mit Morgen-Manna ernährt werden,

bi8 Sommerhige dich zerfchmilzt neben den Brunnen und den Quellen,

um zu blüben in ewigen Tälern: warum alfo follte Thel Flagen,

warum follte die Herrin der Täler von Har einen Seufjer audfprechen ?

Sie hörte auf und lächelte unter Tränen, ſetzte ſich dann hinab in ihren Silberfchrein.

Thel antwortete: O, du Fleine Jungfrau des friedlihen Tals,

jenen gibft du, die nicht fordern koͤnnen, den Stimmlofen, UÜberſchwachen, dein Atem ernährt dad unfchuldige Lamm, ed riecht deine milchigen Gewande, ed weidet deine Blumen, und du figeft und lächelft in fein Angeficht

und wifcheft von feinem fanften und fhwahen Mund alle Befledungen. Dein Wein reinigt den goldenen Honig. Dein Duft,

den du auf jeden Fleinen Grashalm, der entipringt, verbreiteft,

belebt neu die gemolfene Kuh und befänftigt das feueratmende Roß.

300

Doch Thel ift gleich einer blaffen Wolfe, die fi) an der aufgehenden Sonne entzindet, ich ſchwinde von meinem Perlenthron, und wer fol meinen Platz finden.

Königin der Täler, antwortete die Filie, frage die zärtlihe Wolfe, und fie foll dir erzählen, warum fie im Morgenbimmel fchimmert, und warum fie ihre Glanz;-Schönheit durch die feuchte Luft verbreitet ; fteige herab, o, Fleine Wolfe, und ſchwebe vor den Augen Thels:

Die Wolfe ftieg herab, und die Lilie beugte ihr beſcheidenes Haupt und ging, um auf ihre zahlreihen Pleglinge zwifchen dem grünen Gras zu achten.

O, kleine Wolfe, fagte die Jungfrau, erzähle du mir,

warum du nicht klagſt, wenn du in einer Stunde vergehft.

Dann werden wir dich fuchen, aber nicht finden: ad, Thel ift dir gleich. Ich gehe hinweg, jedoch ich Flage, und nicht Einer hört meine Stimme.

Dann zeigte die Wolfe das goldene Haupt, und feine glänzende Geftalt tauchte hervor, fhmwebend und ſchimmernd auf der Luft vor dem Angefihte Thels.

DO, Jungfrau, weißt du ed nicht unfere Pferde trinfen von den goldenen Quellen,

wo Luvah feine Roſſe erneuert: fiebft du meine Jugend an

und fürchteft du dich, weil ich fchwinde und nicht mehr gefehen werde?

Nichts bleibt uͤbrig: o, Mädchen, ich fage dir, wenn ich binmweggebe,

fo ift dad zu zehnfachem Leben, zur Liebe, zum Frieden und zu heiligen Entzüdungen:

Unfichtbar herabfteigend, wiegen meine lichten Flügel auf balfamifhen Blumen :

und ich fehmeichle den ſchoͤnaͤugigen Tau, daß fie mich in ihr leuchtendes Zelt nehme.

Die weinende Jungfrau, fie kniet zitternd vor der aufgegangenen Sonne.

Bid wir aufftehen, in ein goldened Band gefeifelt und niemals fcheiden :

aber vereinigt gehen und Nahrung zu allen unferen zärtlihen Blumen bringen.

Zuft du, o, Feine Wolfe? Ich fürchte, daß ich Dir nicht gleiche:

Denn ich gehe durch die Täler von Har und rieche die füßeften Blumen, doch ich ernähre nicht die Fleinen Blumen: ich höre die zwitfchernden Vögel, doch ic) ernähre nicht die zwitfchernden Vögel, fie fliegen und fuchen ihr Effen. Doch ich ergoͤtze mich nicht mehr an ihnen, weil ich vermwelfe,

und alle follen fagen, diefes leuchtende Weib lebte ohne einen Nußen, oder lebte fie, um allein im Tode die Nahrung von Wuͤrmern zu fein?

Die Wolfe lehnte fi) auf den luftigen Thron und antwortete alfo:

Dann, wenn du die Nahrung von Würmern bift, o Jungfrau der Himmel, wie groß dein Nuten, wie groß dein Gegen; jeded, was lebt,

304

lebt nicht allein für fich ſelbſt; fürchte dich nicht, und ich werde den ſchwachen Wurm

aus feinem niedrigen Bett rufen, und du follft ihn fprechen bören.

Komm hervor, o * des ſchweigenden Tals, zu deiner gedankenvollen Koͤnigin.

Der hilfloſe Wurm erhob ſich und ſetzte ſich auf das Lilienblatt, und die glaͤnzende Wolke ſegelte fort, um die Gattin im Tal zu finden.

Dann erblickte Thel erſtaunt den Wurm auf ſeinem tauigen Bett.

Biſt du ein Wurm? Bild der Schwaͤche, biſt du nur ein Wurm?

Ich ſehe dich gleich einem Kinde, gewickelt in das Lilienblatt.

Ach, weine nicht, kleine Stimme, du kannſt nicht ſprechen, aber du kannſt weinen.

Iſt das ein Wurm? Ich ſehe dich hilflos und nackt liegen: weinend,

und, Keiner, der dir antwortet, Keiner, der dich pflegt mit Mutterlaͤcheln.

Der Erdflumpen hörte die Stimme ded Wurms und richtete Dad bemitleidende Haupt auf.

Sie beugte fi über das weinende Kind und verhauchte das Leben

in mildiger Färtlichfeit, dann richtete fie auf Thel ihre demütigen Augen.

O Schönheit der Täler von Har, wir leben nicht flır uns felbft,

du fiebft mich, dad gemöhnlichfte Ding, und fo bin ich wirklich,

mein Buſen ift von fich felbft kalt und finfter von fich felbft,

aber er, der die Miedrigen liebt, gießt fein DI auf mein Haupt

und kuͤßt mid und bindet feine ehelichen Bande um meine Bruft

und fpriht: Du Mutter meiner Kinder, ich babe dich geliebt,

und ich habe dir eine Krone gegeben, die feiner fortnehmen fann.

Aber mie das ift, ſuͤßes Mädchen, weiß ich nicht, und ich kann nicht wiffen,

ih denfe darüber, nad, und ich kann nicht nachdenken, dennod lebe ich und liebe.

Die Tochter der Schönheit trodnete ihre bemitleidenden Tränen mit ihrem weißen Schleier

und fagte: Ad! ich mußte ed nicht, und darum meinte ich:

Daß Gott einen Wurm lieben wuͤrde, ich wußte ed, und der böfe Fuß werde geftraft,

der feine bilflofe Geftalt mutwillig zerftört, aber daß er ihn pflegte

mit Mil und Öl, wußte ich niemals, und daher meinte ich,

und ich wehklagte in die milde Luft, weil ich vermwelfe

und mid binablege in dein kaltes Bett und mein leuchtende Los verlaffe.

Königin der Täler, antwortete die Mutter Erde: ich hörte deine Seufjer, _ und alle deine Klagen flogen lıber mein Dad, aber ih habe fie binab- gerufen.

302

Willſt du, o Königin, eintreten in mein Haus? Es ift dir gegeben, ein- jutreten und zuruͤckzukehren: firchte nichts. Tritt ein mit deinen jungfräulichen Füßen.

Der ewigen Tore furchtbarer Pförtner erhob den nördlichen Niegel: Thel trat ein und ſah die Geheimniffe des unbefannten Landes: fie ſah die Lager der Toten und wohin die faferigen Wurzeln jedes Herjend auf Erden tief ihre raftlofen Windungen befeftigten.

Ein Rand der Sorgen und der Tränen, wo niemals Lächeln gefehen wurde. Sie wanderte im Lande der Wolfen, durch finftere Täler und laufchte den Schmerzen und Wehklagen: oft neben einem tauigen Grabe wartend, ftand fie ſchweigend und laufchte den Stimmen ded Grundes,

bis fie an ihren eigenen Grabort fam, und da feßte fie ſich bin

und börte diefe Stimme der Sorge, geatmet aus der hohlen Grube.

Warum kann nicht dad Ohr gegen feine eigene Zerſtoͤrung gefchloffen werden oder daß glänzende Auge gegen dad Gift eines Laͤchelns?

Barum find die Auglider mit Pfeilen, bereitd angezogen, gerliftet,

wo ein Taufend Kämpfer im Hinterhalt liegen ?

Oder ein Auge der Gaben und Gnaden, regnend Fruͤchte und geprägtes Gold? Warum eine Zunge, durchdrungen von Honig aus jedem Wind?

Warum ein Obr, ein wilder Wirbelpol, um Schöpfungen einzuziehen? Warum eine Nüfter, weit Entjegen, Zittern und Bangen einfchlürfend? Warum ein zärtliher Zügel auf dem jugendlic brennenden Knaben? Warum ein Fleiner Vorhang von Fleifh am Bette unfered Verlangens.

Die Jungfrau fuhr auf von ihrem Sit und floh mit einem Schrei ungehindert zuruͤck, bis fie in die Täler von Har fam.

Eine Probe aus: „William Blafe, Audgewählte Dichtungen”, deren erfter Band in einer Ubertragung von Adolf Knoblaudy diefer Tage bei Defterheld & Co. erſcheint. Werk und Leben des Dichterd dürften gleich wenig befannt fein. Bon dem Werk erhält man durch die Knoblauchſche Ausgabe einen Begriff. Uber das Leben feien aud der Einleitung ein paar Daten wiedergegeben. William Blafe wird 1757 in London ges boren. Er wählt ohne Unterricht auf, Mit dreizehn Jahren wird er Lehrling bei einem Kupferfteher. Etwa fünfundswangigjäbrig, begründet er mit feinem Bruder einen Kupferſtich-Verlag. Nah flinfjährigem Zu⸗ fammenleben ftirbt der Bruder, und William wird einfam, mittellos. Er dichtet und zeichnet ununterbrochen. Er drudt feine Bücher felbft, gibt ihnen ihre Jlluftrationen und vervielfältigt diefe durd Kupferaͤtzung. Er veranftaltet eine Fleine Ausftellung feiner Bilder, und man greift ihn mit heftigen Rritifen an. Er bleibt arm und ohne Freunde. Sein Lebend- werk befchließt er, indem er eine Serie von Zeichnungen zum Buch Hiob entwirft und dann das Inferno der göttlihen Komödie zu illuftrieren bes ginnt. 1827 flirbt William Blafe, im gleihen Jahre wie Beethoven.

303

Dialog vom Sherlock Holmed/ von Egon Friedell

ls Herr Fiſcher, ter Direftor des wiener „Intimen Theaters“, mir A den Vorſchlag machte, mich gegen eine kleine, aber unſichere Gage an

der Leitung ſeiner Buͤhne zu beteiligen, ſagte er ungefaͤhr folgendes: „Sie find dazu berufen, eine große Luͤcke auszufüllen. Wir haben ganz nette Schaufpieler und Schaufpielerinnen, einen fehr gewalttätigen Regiſſeur und einen ungemein langmütigen Deforationdlieferanten. Nur eines fehlt und noch: ein Literat. Jedes Imoderne Theater bat jebt einen oder mehrere Menfhen von diefer Sorte. Denn bloß mit Schaufpielfräften fann man heutzutage feine Bühne mehr führen. Die Schaufpteler verftehen immer nur etwas von ihren Nollen, aber von dem ganzen Stüd verftehen fie nichtd. Sie wiffen nicht, in welchem Jahr es gefchrieben wurde, welche Er- lebniffe der Dichter vorher gehabt hat, und nach welchen äfthetifchen Geſetzen es gearbeitet ift. Und überhaupt: fie find fo äußerlich, fo effekthaſcheriſch. Und nun, lieber Doftor, entwiceln Sie mir bitte Ihr Programm,”

„Mein Programm ift fehr einfach”, erwiderte ih. „Es lautet: Für dad ‚Intime Theater‘ ift dad Beſte gerade gut genug. Dabei bürfen wir aber nicht engberzig fein. Wir werden nicht nur in die graue Bergangen- beit zuruͤckgreifen und verfchüttete Schäge der Weltliteratur wieder and Tageslicht beben, fondern wir werden aud den verfannten zeitgensffifchen Talenten, den Afchenbrödeln der modernen Dramatif zum Wort verhelfen. Das ift unfre literarifche Ehrenpfliht. Ich babe mir eine Fifte folder Perlen der Altern und neuern Literatur bereitd angelegt, und diefe Fifte laffen wir durd die Blätter geben. Das Publifum wird ſich freuen, wenn ed dad lieft, und wird fi fagen: ‚Ma, mwenigftend ein Theater in Wien, dad etwas für die Kunft tut.‘ Anfehen würde es ſich diefe Stüde natür= li nicht. Aber wir werden fie ja auch gar nicht fpielen. Sondern eine Detektivkomoͤdie.“

„Eine Detektivkomoͤdie?“ fragte der Direktor. „Nun ja, aber doch auch Strindberg —“

„Steindberg ift einer der hervorragendften Pſychologen unfrer Zeit. Der gehört nicht auf die Bühne.”

„Aber Maeterlinfd —“

„Maeterlind ift einer der fubtilften modernen Impreffioniften. Außer- dem bat er eine ganz neuartige und originelle Note. Wir dürfen ihn nicht fpielen.”

„Aber doch wenigftend Ibſen —“

„Ibſen fommt im Rang gleich) nad Shafefpeare. Aber er hat eine entfeglihe Schwäche: er ift ein tiefer Philoſoph. Seine Dramen find voll von profunden Gedanfen. Wir koͤnnen ihn nicht aufführen. Aber ich habe Ihnen bier ein Buch mitgebracht. Es beißt der ‚Hund von Basferville‘.

304

Sehen Sie ed fih einmal an. Sie werden verfchiedenerlei daran bemerken. Erftens: ed ift voll von groben Unmahrfceinlichfeiten, oder, deutlicher gefagt, es ift von A bis 3 erlogen. Das ift wichtig. Denn die Wirklichfeit, das natürliche Leben, das pſychologiſch Mögliche hat das Publifum ja zu Haufe. Dafür braucht ed nicht fein guted Geld auszugeben und mehrere Stunden auf einem unbequemen Sig zu verbringen. Sondern ed bringt diefe Opfer, weil ed etwas fehen will, was ed nod nie geſehen bat, womöglich etwad, was ed gar nicht gibt. Zweitens: es treten in diefem Stück faſt lauter bochelegant gefleidvete Menfhen auf, und einer von ihnen bat fogar acht Millionen. Das ift auch wichtig. Denn die abgetretenen Stiefel und den leeren Geldfchranf hat das Publifum wiederum zu Haufe, und wenn ed ind Theater gebt, fo will ed, daß Geld auf der Bühne feine Rolle fpielt. Ferner: alle Menſchen fchweben in beftändiger Lebensgefahr, und das ift fehr angenehm anzufeben, wenn man ſich dazu fagen fann: ‚Ich fige bier ganz gefhüst, und zu Haufe ift vom Mittag Lungenbraten fuͤr mid) gemwärmt.‘ Und endlid und das fcheint mir dad Allerwichtigfte ed fommt in diefem Stuͤck fein einziges Gefhöpf vor, das ein lebende menfchliches Weſen genannt werden fann. Sondern es find lauter Figuren aus Pappen- deckel, mit dem Papiermefler fauber audgefchnitten, nur auf der Borderjeite bemalt und an einem Holzkloͤtzchen befeftigt, damit fie nicht umfallen können. Das ift fehr gut. Denn Menfchen gebören nicht auf die Bühne. Gie wirferr dort direkt gefchmadlos. Denn fie widerfprehen dem Bühnenftil, und jede GStilmidrigfeit ift eine Geſchmackloſigkeit.“

Der Direktor, ein Mann von hohem Gedanfenflug, fehüttelte den Kopf und fagte: „Iſt das denn wirklich Ihr Ernft, was Sie da fagen?“

„Ganz gewiß. Und ich glaube, aus guten Gründen. Jede Inftitution bat doc) ſchließlich, wie jeder Menfc und jedes Volk, einen beftimmten Ent- wicklungsweg und eine begrenzte Lebensdauer. Im Altertum war das Theater ein fünftlerifcher und religidfer Andachtsort. Im Mittelalter uͤberwog das Neligidfe tiber das Kimftlerifche, aber ein Andachtsort war die Mofterien- bühne immer noch. In der Neuzeit hat fi) das vollftändig geändert. Das Theater ift flir und nicht Heilige mehr, aud im profansfünftlerifchen Sinne nicht mehr. Wir erfanden die Theaterform, die unfrer Zeit gemäß ift. Wir erfanden eine eigene Theaterpfychologie, die aber gar feine Piychologie war, fondern eine Zufammenfaflung der oberflächlichen und unzutreffenden Beob- achtungen, die der Normalmenſch für gewoͤhnlich an den Menfchen und Er- eigniffen macht. Wir erfanden eine eigene Thenterethif, die aber gar feine wiſſenſchaftliche oder pbilofopbifche Ethik war, fondern ein Auszug aus dem Katechismus und der bürgerlichen Moral, Wir erfanden die Theatergedanfen, die noch gerade foviel von der Form ded Gedanfend hatten, daß man fie für Gedanken halten fonnte, und doch flach und fonventionell genug waren, daß jeder Zuhörer fie mit Stolz fi zu eigen maden fonnte. Sa, wir - erfanden fogar eine eigene Theaterlogik, gewiß eine der erftaunlichften Leiſtungen.

305

Das Merkwirdigfte aber ift, daß im Theater alle Zuſchauer ganz gleich funktionieren. Ich glaube an fein ‚Theater der Auserwählten‘. Im Theater wird jeder Menſch zum ‚Publifum‘, auch der tiefite und feinfte. In dem Augenblid, wo er den Parfettfig niedergeflappt bat, ift er ein andred Wefen. Wenn Sie daher ftatt Theater fubtile Stimmungen, bedeutende Gedanken, tiefe Pſychologie, mit einem Wort: Kunft bieten, fo it das Direkter Betrug. Es ift eine unanftändige Geſchaͤftsgebahrung, die ſich damit beftraft, dag die Runden auäbleiben. Der Theaterfchriftfteller unterfcheidet fih von den übrigen Schriftftellern dadurch, daß er ein nuͤtzliches Mitglied der Gefell- ſchaft ift. Er fchafft etwas Praftifches, während die andern im beften Fall foftbare Spielereien berftellen. Ein richtiged Theaterſtuͤck ift ein bandlicher Gebrauchdgegenftand, eine Sache, die den Menfchen dazu dient, fi) drei Stunden lang auf eine ganz beftimmte Weiſe zu erholen. Lyrik oder Bhilofopbie find flir die wenigften Menfhen unentrinnbare Lebensbedürfniffe, aber dad Theater ift flr den modernen Großftädter eine Notwendigkeit, genau fo wie fhmarzer Kaffee und Zigarren. Die Kunft ift ein Lurusartifel, Dad Theater ift eine Utilität. Ein Theater ift ein Automat, in den man oben Geld bineinwirft, damit unten falſche Ruͤhrung (Theaterrübrung), falfche Luftigfeit (Theaterluftigfeit) und falfcher Schauder (Theaterfchauder) beraudfommen. Ein honetter Theaterunternehmer wird daher feinem Publifum nicht Kunft bieten.

Aber auch der Künftler muß winfchen, daß die Kunft dem Theater fern- bleibe. Denn wenn man einen modernen Künftler zwingt, in theatralifcher Form zu dichten, fo zwingt man ihn, feine eigene Höhe zu verlaffen, feine Gedanken abzuplatten, feine pſychologiſchen Beobachtungen zu unterdrüden und feine originellen Einfälle in eine altertümliche fonventionelle Korm zu preflen. Er bat es fich zur Aufgabe gemacht, dad Leben in feinen zarteften, faft unfichtbaren Regungen zu verfolgen, und nun verlangt man von ibm ein haſtiges, rohes Hin und Her und die Schilderung von leidenfchaftlichen, aufregenden, gemwaltfamen Vorgängen, die ed im leben ded modernen Menſchen gar nicht mehr gibt. Je künftlerifcher einer denkt, je beffer er ed mit der zufünftigen Kunft und Kultur meint, defto mehr muß er alfo wuͤnſchen, daß Kunft und Theater zwei fcharf getrennte Wirfungdgebiete werden. Spielen Sie daher den ‚Bund von Basferville‘,”

„Aber wenn dad Stuͤck durchfaͤllt?“

„Ja, darlıber habe ich auch ſchon meine Bedenken gehabt. Es iſt naͤmlich vielleicht immer noch zu kuͤnſtleriſch und zu modern. Der Verfaſſer hat leider hie und da ganz merkwuͤrdige Anfaͤlle von Schamgefuͤhl. Ich habe es alſo ein wenig überarbeitet. Aber es iſt moͤglich, daß auch das nichts genügt. Ich babe daher für alle Fälle telegraphiih den ‚Schinderhannes‘

beitellt.” *.V

306

Sn der Provinz) von Robert Walfer

a, in der Provinz, da fann ed der Schaufpieler etwa noch ſchoͤn haben.

Dort, in den kleinen Landftädtchen, die noch von alten NRingmauern

trogig umfchloffen find, gibt es feine Premieren und feine fünfe bundertfte Aufführung ein und desfelben Salates. Die Stüde wechſeln mit den Tagen oder Wochen wie die blendenden Toiletten einer geborenen Fürſtin, die zornig würde, wenn einer ihr zumuten wollte, jahrelang immer dasfelbe Kleid zu tragen. Auch Feine ſolche fchnauzige Kritif gibt es in der Provinz, wie dergleihen der Schaufpieler in den Weltftädten zu ertragen bat, wo es nichtd mehr Ungewoͤhnliches ift, mitanzufeben, wie der Künftler von oben bid unten von grimmigen Wien wie von wütenden Hunden. jer- riffen wird. Mein, in der guten, ehrlichen Provinz wohnt erftend der Mann mit der Madfe vor dem Gefiht im Hötel de Paris, allmo ed toll und urgemuͤtlich zugeht, und zweitend lädt man ihn etwa noch zu Abendgefellig- feiten ein, in feine, alte Häufer, wo es ein ebenfo wohlfchmedendes Effen wie eine belifate Unterhaltung mit den erften Perfonen der Kleinitadt gibt. Zum Beifpiel meine Tante in Madretſch, die gab ed nie und nimmermehr zu, daß von den Komddianten in unziemlihem, wegwerfendem Ton geredet wurde, im Gegenteil, nichts war ihr angenehmer und erſchien ihr paflender, ald zum Abendeflen, deffen Zubereitung fie felber beauffichtigte, jede Woche einmal mindeftens, fo lange fie in der Stadt fpielten, diefe umberziebenden Leute recht luftig und fidel bei fi zu fehen. Meine Tante, die jegt geftorben if, war eine geradezu fehöne Frau, aud noch zu einer Zeit, wo andre Frauen beginnen, ältlid und runzelig zu werden. Mit ihren fünfzig Jahren ſchien fie noch eine der allerjüngften zu fein, und während in ihrer Um— gebung die Frauen plumpe, mißförmige Figuren zur Schau trugen, zeichnete fie ſich durch eine fefte, uͤppig⸗ſchlanke Körperform zu ihrem eigenen, fehr großen Vorteil aus, daß fie jedermann, der fie anfab, für ſchoͤn erflären mußte. Nie vergeffe ich ihr helles, zarted Gelächter und nie den Mund, aus deffen reizender Öffnung das Lachen heraustönte. Sie wohnte in einem feltfamen, alten Haus; wenn man die ſchwere Tür auftat und eintrat, in den ſtets dunfeln Korridor, lifpelte einem das Plätfchern eines unaufhörlich fallenden Brunnens entgegen, der funftreicd in die Mauer eingefligt worden war. Die Treppen und deren Geländer ftrogten und dufteten förmlich von Sauberfeit, und erft die Zimmer. Ich habe nie nachher wieder folhe Zimmer gefeben, ſolche beitere, polierte, zimmerliche Zimmer. Ich glaube, wenn ic) mic) nicht irre, man fagt Gemach, wenn man von einem Jimmer redet, das traulich und zugleich Außerft vornehbm und etwas altertuͤmlich audgeftattet if. In einem folhen Haufe, bitte ich zu beachten, dürfen alfo in der Provinz Bühnenfünftler aus⸗ und eingehen, dürfen foldhe Treppen mit ihren wahrſcheinlich mandmal ungepußten Stiefeln berühren, ſolche Klinfen, meflingne und rafend peinlid glänzende, mit ihren Händen anfaffen, um in folhe Gemaͤcher bineinzutreten, und dann einer folhen Frau, wie meiner

307

Tante, ungezwungen Gutenabend zu fagen. Was tut der Schaufpieler in der Grofftadt? Er fchuftet, läuft mie wahnfinnig in die Proben und reibt fid) auf, um es ja der fäuerlichen Kritif recht zu mahen. So etwas gibt ed in der Umgegend von Madretfc; nicht, meine Damen und Herren. Bon Krankfein und Aufreiben wird da faum die Rede fein dürfen, vielmehr bummelt fo ein Kerl, den Zylinder, den er weiß der Himmel woher bat, auf dem Kopf, die Hände in womoͤglich hellgelben Handſchuhen, den Stod in der Rechten, in einem tragifhen Mantel, deffen Schöße im Winde flattern, fo gegen elf Uhr vormittags oder halb zwölf, um nicht gelogen zu haben, feelenheiter und von allen Paflanten auf der Straße für einen illegitimen Fürftenfohn gehalten, angeblinzelt von Mädchenaugen, die ſchoͤne Promenade entlang, um vielleiht zum See binaudjugehen und dort eine balbe Stunde lang, bis es Zeit zum Eſſen ift, in- die Ferne zu ſchauen. Das, meine Herren, verfchafft Appetit, ift gefund und wohl etwa noch zu ertragen. Wo gibt ed in der Großftadt einen See, einen Felöftur;, deffen Gipfel von einem im griehifchen Stil erbauten, niedlihen Pavillon gefrönt wird, wo man in der bellen Vormittagsſonne mit einer Frau, die man eben hat fennen lernen und die, fagen wir mal, dreißig Jahre alt ıft, ein feelenvolled Gefpräh führen kann? Wo gibt ed ein Schulhaus in Welt- ftädten, in dad der Herr jugendlicher Fiebhaber, Herr von Bed, fo gegen drei Uhr, weil er gerade Luft zu einem folhen Unternehmen hat, eintreten und den fleinen neuns bid zwölfjährigen Schulmädchen einen Schulbefud) abftatten fann? Es ift gerade Neligiondftunde, die Mädchen langweilen ſich ein biöchen, da tritt Beck ein und frägt an, ob ihm wohl geftattet wäre, dem ihn im hoͤchſten Grad intereffierenden Unterricht bejumohnen. Der Pfarrer, ein durchaus weltmaͤnniſch gebildeter, fompatbifcher Herr, errötet über die Keckheit und weiß nicht recht, was er fagen fol, im erften Augen- blick nämlich, wo ihm die Heldenmanieren eines von Bed den Verſtand rauben. Aber jchon bat er ſich gefaßt und fchiebt den Darfteller des Ferdinand in Rabale und Liebe fanft zur Tür hinaus, wohin er ja fchließlich, wenn man die Umftände bedenkt, auch gehört. Aber, Hand aufs Herz, ift das etwa nicht reizend, und gibtd in Millionenftädten etwas derartiges? Wie bübfch diefer Herr Pfarrer gehandelt hat, Herrn Bed zu verbieten, in der edlen Religiondftunde mit den Schülerinnen Allotria zu treiben. Aber wie entzuufend wiederum diefer Beck ift, der den Pfarrer zu dem liebendwürdigen Benehmen veranlaft bat; denn wenn ed feine Becks gäbe, die die Unver⸗ ſchaͤmtheit befigen, den Schulauffihtärat zu ſpielen, am hellen Tag, wo die Sonne überall fcheint und ed in ganz Madretfch nach Käfefuchen duftet, fo gäbe es auch fein pfarrerlih-fchönes Vetragen, wie denn Spitzbuben nicht fehlen dürfen, wo man noch hoffen will, Tugenden anzutreffen. Solche Dinge ergeben ſich in einer Kleinftadt von felber; das reizende Erlebnis nimmt dort noch gern plaftifche Geftalt an, und wer eignet fich in der Provinz beffer zu Erlebniffen aller Art ald die Cumpenfomddianten, denen der Ruf ded Gefährlihen, Schoͤnen, Geheimnisvollen und Abenteuerlichen

308

immer vorangeht? Da fieht fie der Bewohner von Boͤzingen oder Mett oder Madretfch in Gruppen vor dem Natbhaufe fteben, geftifulierend und in fremdartigen, eleganten Akzenten ſprechend, die Rollen, die fie abends fpielen, in den blaffen durchgeiftigten Händen, fo wildfremd, fo fehr fcheinbar aus Königsfhlöffern und Maitreffenboudoird herfommend, mit fo fchönen, hohen Stirnen und mit wenn immer denfbar goldenen Haarlocken! Kann der hauptitädtifche oder gar reichöhauptftädtifche oder gar noch literarifche Schaufpieler diefe Genugtuung auch genießen, eine wildfremde Figur auf Straßen, Plägen und Promenaden zu fein? Kann er Überhaupt aud nur noch tiefer und inniger interefjieren, ald was auf flnf Spalten im Lokal— anzeiger gedruct paßt? Und wenn er gar berühmt ift und viel genannt wird, mad ift da8? Ich muß geradezu lächeln, daran zu denfen, wie ober» flächlich das Intereſſe im Laufe der Jahre wird, dad man Beruͤhmtheiten zolt. Mein und noch einmal nein. Wer gern mag, daß ihm eine rote, warme, faftuolle, gequetichte, fprigende, fprühende und duftende Empfindung dargebracht wird, der werde fo raſch wie möglih Schmierenfchaufpieler. Das bischen finanzielle und Sfonomifche Elend, dad mit diefem Berufszweig ja allerdingd immer verbunden fein wird, ift zu ertragen. Ich mache gern nod auf ein paar Einzelheiten aufmerffam: Schaufpieler Bed wird eines Nachts von einem unfultivierten Burſchen einfach mir nichts dir nichts Hundsfott genannt. Das ift allerdings ftarfer Schnupftabaf. Bed ftürzt vor, und beide, der lümmelbafte Sohn des Lihrenfabrifanten und das zier- lihe Söhnen der dramatifhen Kunft paden einander am beiderfeitigen Stebfragen, an den Haaren, beim Genid, am Scopf, bei den Nafen, an den Lippen und Obren, unterm Rnie, rund um die Leiber, um den Kampf jweier erzürnter Gottheiten aufzuführen. Auch nicht denkbar in Neiche- metropolen, wo die Menfhen anfangen, jo windig gefittet zu werden und ihren Zorn immer in die Tafchen ſtecken, wenn zu befürchten ift, daß er losbrennen will. "Im Hötel de Paris find immerhin noch ganz; andre Sachen möglih. Dort fügt man beifpieläweife den Kellnerinnen die Hände, fo fein find fie, und plaudert englifch mit der Leiterin des Geſchaͤfts am Buffet, fo lange, bis einer fommt und einem von binten ber quer eins binlber- baut, bid man genug bat. Und dann die Natur in Kleinftädten. Das ift nun geradezu die Wunderquelle, in der ſich Karl Moor bid zum Stroßen gefund baden fann, denn Überall lodts ihn, in Schludhten zu geben, in denen Waſſerfaͤlle ſchaͤumend und zifhend und kuͤhlend niederbraufen; über ebene, weite Felder bis an den Rand mächtigehoher und grüner Eichemmälder; über Baldhügel hinüber, allwo er Blumen fuchen und fie in feine Botanifier- büchfe ftedten fann, um fie zu Haufe in ein Glas Waffer zu tun; auf breite, taufend Meter hohe Berge, entweder zu Fuß oder zu Roß, wenn er eins auftreiben kann, oder per Drabtfeilbahn, zu der entzuͤckend gelegenen Weide mit ihrer Blumen- und Gräferpradht, bid er am Abend, erfchöpft und erfüllt von fhönen, miden Empfindungen, unter einer hundertjährigen Tanne in die Matte finft, um den herrlichen Sonnenuntergang zu betrachten. In

309

Krähen und Schluchten liegt nody der winterlihe Schnee, obgleich es fchon toller, Ippiger Frühling ift. Oder es lodt ihn, in eine leichte, ſchwankende Gondel zu fteigen, die zu haben ift bei Frau Hügli, Schiffövermieterin, dicht am Ufer des Sees, und aufs fhöne, fpiegelglatte Waffer binauszufahren, zwifchen Enirfchenden Schilfgewaͤchſen hindurch, bis er in der Mitte ded Sees angelangt ift und, die Ruder fahren laffend, fiebt, wie koͤſtlich die Rebberge und Landhaͤuſer und Kleinen Zägerfchlöffer fi) im tiefen Waffer naturgetreu widerfpiegeln. Und fo nod vieles, und zu allen Jahreszeiten, im Winter, Herbft, Sommer und Frühling. Die Natur ift befanntlich in allen ihren Verkleidungen erfrifhend und bezaubernd und immer ded ganz und gar innigen Anſehens und Genuffes wert. Geht in die Provinz, in Kleinftädte; dort habt ihr noch Hoffnung, daß man euch an euerm VBenefizabend einen Corbeerfranz vor die Füße und Nafe wirft, den ihr danfend aufheben und freudig nad) Haufe tragen fünnt. Den fhaufpielenden Damen nicht minder ald den Herren find diefe Städte zu empfeblen, aud fie werden fehr bald finden, daß ich nicht Unrecht gehabt habe, ihnen anzuraten, ed einmal wieder mit der Provinz zu verfuchen. Zu guter Legt: Ed wird gut gefodht an foldhen Orten, und ed muß ratfam erfcheinen, bald einmal hinzugeben und diefe vortreffliche Koft zu probieren. Schmadhaftes Effen ift nicht zu verachten.

KRosperlefherter

Brieffaften

Rentier in öſterreich. Daß Sie ſich Durch unfre Anregung in Nummer 10 angeregt gefühlt haben, in Zhrer Kurlifte auf Mamenjagd zu geben, it ja recht lobenöwert; aber wir gaben den Hinmweid doch immerhin nur im In—⸗ tereffe notleidender Dichter. Im Übrigen find Ihnen in folgender Auswahl aus Ihrer umfangreichen Auslefe: Ah, Flamm, Flor, Gleih, Glüdjelig, Goldftoff, Ita, Honigbaum, Kurzweil, Lachnit, Ochſenkuͤhn, Rebentroft, Spinat, Steinreih, Sternhell, Tannenblatt, Zitterbart wirflidh Namen aufe geftogen, wie fie Jean Paul, €. T. X. Hoffmann und Wilhelm Raabe, ein bischen nach DOften gerüͤckt, auch nicht luftiger hätten vorfinden fünnen.

Bomft, Ballon d’essai. Wie man bört, ſchweben Unterbandlungen, den Hund von Baöferville mit dem Perfonal des Neuen Theaterd in der Comedie Frangaife zu Gunften der allgemeinen Verbrüderung der Regierungen in einer eigend zu diefem Zwecke verfertigten Überfegung des Hofmarſchall- amts zur Aufführung zu bringen. Ein Prolog, von den Herren Bonn und Schmieden, Hand in Hand, ald Schiller und Goethe gefleidet, zu fprechen, wird zudem von maßgebender Stelle vorbereitet.

E. 9. Ihre Verwirrung ift begreiflih. Dr. Georg Engel ift der Theaterreferent und Nedafteur am Berliner Tageblatt, Fritz Engel der

310

Berfaffer von Hann Klüth, der Philofoph für die Welt (ein Stiefbruder

it Sfowronnefs, des Dichterd von „Von der Waterfant”, beided Söhne ein- aher Fifher in Hulum), Profeffor Georg Engeld der Verfaſſer der Literaturgeſchichte und Eduard Engeld der befannte Charafterdarfteller und Schwanferzäbler. Anderfeitd find Richard von Strauß, Edmund Strauf und Dr. Oskar Strauß die drei im legten Jahrzehnt fo oft miteinander verwechfelten deutſchen Kapellmeifter. Verſuchen Sie die Herren immerhin auf mnemotehnifhem Wege audeinanderzubalten oder fammeln Sie fie in effigie wie Briefmarfen. Sonſt aber warten Gied einfach ab und eined Tages weiß mand dann, man weiß nicht wie.

€. M. Obermais. Sehr richtig. Paul Schulge-Naumburg bat eine Reihe von Büchern herausgegeben, in denen er verfucht, Durch Konfrontierung je einer Wertlofigfeit mit je einer Kunftäußerung auf den Geſchmack ver- edelnd einzumwirfen. Er ftellt, zum Beifpiel, das fogenannte Gebiß von Berlin Sie wiſſen, wad man fo bezeichnet: Die Denfmaldgruppen vor dem Brandenburger Tor irgend einer ähnliches beabſichtigenden Fünftlerifchen Anlage entgegen, oder den Feſtputz der Finden beim Einzug eines fremden

en der pittoreöfen via triumphalis eined Negerftammes, der einen enachbarten Häuptling im Heimatdorfe bewillfommt. Daß jedoch Wilhelm II. eine verwandte Publifation auf dem Gebiete des Theaterd plane, will uns ſchon in Anbetracht der nicht unbeträchtlichen Koften einer derartigen konſe⸗ quent durchgeführten Bibliothek nicht glaubbaft erfcheinen. Was Sie ald Band 1—5 bereitd beftimmt angeben zu fünnen meinen: Hund von Basferville/Salome; Hufarenfieber/Biberpel;; Charleys Tante Jugend; Burggraf / Kronpraͤtendenten; Meißner Porjellan / Florian Geyer, wuͤrde ja allerdings dem Geiſt des Unternehmens vollauf entſprechen. Gleichwohl duͤrften die uͤberſchwaͤnglichen Hoffnungen Ihres Sortimenters zum mindeſten noch als verfruͤht zu gelten haben.

Wißbegieriger Abonnent. Der franzöfifhe „Offizier“ verpflichtet zu nicht, ald für moderne franzöfifhe Dramatik zu fämpfen. Natürlich nicht mit dem Säbel, fondern indem man beijpielöweife in einem Kleiderfchranf fteht oder in Unterbofen herumläuft, kurzum, denken Sie einfach) an Nichard Alerander. Die Devije eines folhen Dffizierd ift denn auch nicht „In tyrannos“ oder fo ähnlich, fondern einfach „Durch Lachen tötet man” oder „Ta bourse, mon ours!“ („Deine Börfe, mein Bärlin!“) oder „Suum cuique!“ („Jedem die Seine!”)

Hildegard, Hof. Die Sache verhält ſich fo. Tief find beide Stüde, fozufagen. Aber tiefer ift Doch der Hund. Sherlock Holmes ift nicht fo tief, was ja ſchließlich begreiflid ift, da der Hund die fpätere Dichtung ift und ed doch das Weſen ded Schaffenden ift, von Jahr zu Jahr tiefer und reifer zu werden. Michtödeftomeniger ift auch Sherlod Holmes ſchon ein tiefed Stüd, fozufagen, wenn auch, wie gefagt, und wie ja auch dem Ver- faffer bedeutet, der Hund da tiefere und zugleich dad mutigere Werf von beiden ift, und, wie die Verbältniffe nun einmal liegen, auch fein muß.

Koln 24. Zamohl. Die im Hund von Badferville Fundgegebenen und durch allerhöchften Beifall ausgezeichneten Gedanken werden demnaͤchſt, aͤhn⸗ li wie die Ausfuͤhrungen des Shawſchen John Tanner, ald Sonderausgabe im Buchhandel erfheinen. Wie man fagt, fol dad Werf dem Fürften Blow gewidmet werden.

311

Nuoſchau

Von Eulenberg und ſeinem Muͤnchhauſen

ber den Dichter Herbert Eulen⸗ berg iſt in dieſer Zeitſchrift von dem Herausgeber, von Bab und zu- legt von Goldbed ſchon ſoviel gejagt worden, dag mir zu fagen faft nichts mebr übrig bleibt. Indes ift die Erft- aufführung feine® Dramas „Muͤnch⸗ haufen” am mannheimer Hoftheater Anlaß genug, indbefondere dem Dra- matifer Eulenberg ein paar Säge zu widmen; diefem Dramatifer, welcher der dramatifchen Kunftform und allen Konfequenzen, die fih aus ihr für die Auswahl der Fabel und ihre dichterifhe Behandlung ergeben, mit der Hilfd- und Ahnungsloſi igfeit des naivſten Dilettanten gegenuͤberſteht. Es beſteht die Gefahr, daß ſich das Schickſal Otto Ludwigs, dieſes Genies des aͤußern und innern Mißerfolgs, in dem jungen Eulenberg wiederholt. Hier wie dort findet ſich das Ver— ſchwenden hervorragender Faͤhigkeiten an Stoffe, die das Gelingen eines Dramas von vornherein ausſchließen; bier wie dort findet ſich das fanatiſch⸗ einfeitige Herausarbeiten eines Cha- rafterd unter blinder Bernachläffigung der Erforderniffe der dem Cbarafter übergeordneten Kunfteinheit des Dra- mad. ‚Hier wie dort findet ſich fchließ- ih aud die Nachahmung Shafe- fpeares. Für diefen fi —* aus der

a Eulenberg läßt anfheitderjcheinung

Müuͤnchhauſen“ die erfchöpfende Diagnofe ſtellen. Der Dramatifer mußte an feinem Helden fcheitern, wofern ed ibm nicht gelang, diefem die Redfeligfeit zu nehmen und einen

312

Willen zur Tat zu geben. Der Weg

zu einem deutfchen Euftfpiel lag I Der Allerweltsfhelm Mündbaufen fonnte in einigen tollen Streichen und mit ein paar tollen Rügen auf die Bretter geftellt werden. Lienhard bat in einer Komödie diefen Verſuch gemacht, ift aber an der Armut feiner Einfühlungs- und Geftaltungäfraft geicheitert. Immer hin hatte er ein Einfeben und verfürzte bei feinem Muͤnchhauſen die langen Tiraden des Naspe-Bürgerfcen den. Eulen- berg dagegen läßt den Freiherrn im Nbetorifhen aufs und untergeben. Es entitebt denn auch gar fein Drama. Es entftehen Monologe des Freiherrn Mar von Mündhaufen, es entſtehen ein paar mit dieſen Monologen wenig zuſammenhaͤngende Shakeſpeariſche Szenen voll Leben und Humor, aber von einem Drama, von einer Tragoͤdie keine Spur!

Man höre: Muͤnchhauſen fommt aufs Schloß feines alten Freundes Eberftein, verliebt fich (wirklich und ernftbaft!) in deffen Gemahlin Lilli und fie fih in ibn erfchießt (außerordentlich uͤberraſchend fuͤr uns und ihn ſelbſt) deren Beleidiger Bredenbeck, will, um dem Freunde die Treue zu wahren, fliehen, wird

von der Geliebten zuruͤckgerufen und macht ſchließlich unter Reden ſeinem Leben ein Ende. armer Mar! In Lügen lebteſt * in Wahrheit ſtarbſt Du.“ Wo Eulen- berg die Geftalt ind Tragifche wenden will, gerät er unrettbar ind Gen- timentale und oft fogar ind Ranzig- Sentimentale. Daran ift felten der Dichter Eulenberg, meift Münd- baufen felbft und der Dramatifer

Eulenberg fhuld, der diefen Muͤnch⸗ baufen den Irrweg ded Dramas führte.

Gewiß, ed ſtecken auch in diefem ald Ganzes ſchmaͤchtig zu feheltenden Werk große Vorzuͤge, ed werden Worte laut, die „unfre Seele betauen“. Aber das Ganze ift leider zu fchmächtig, zu nichtig, ald daß man dieſer Einzel- beiten befonders froh werden fönnte. Der Erfolgam mannheimer Boftheater war denn auch recht matt. Die Dar⸗ ftellung leiftete dem Dichter troß einzelnen fehr guten Feiftungen wenig Hilfe. Hermann Sinsheimer

Rezitation und Soloſzene

ch babe in diefen Blättern mehr-

fach, zuerft im Anſchluß an Ri- hard Debmeld bedeutfame Ausfüh- rungen, betont, daß wir eine eigene Rezitationdfunft für lyriſche Dichtung nody nicht haben, daß ſich die Vor- tragstradition erft bilden foll, die das Geſetz enthält,nacd dem Iyrifche Werke zu lebensvollem Auddrud zu bringen find. Diefe Rezitationdfunft müßte ſich von der pfychologifierenden und detaillierenden Anfhauung des Schaus fpielerd befreien, müßte allein den lyriſchen Grundrhythmus aufzufinden und feſtzuhalten trachten. Nichts darf den lyriſchen Rezitator locken, als die Wortmelodie zu reproduzieren, in der das Gedicht einſt dem Dichter lebendig wurde, und in der es allein dem Hoͤrer wieder lebendig werden kann. Es iſt von Übel, wenn das langſame Sichbilden dieſer Tradition von Schau⸗ ſpielern durchkreuzt wird, die ihr in⸗ dividualiſierungsfrohes Temperament zerſetzenden Daͤmpfen gleich auf die melodiſche Einheit einer lyriſchen Dich⸗ tung ausſtroͤmen laſſen.

Etwas ganz andres aber iſt es, wenn, ohne die Illuſion lyriſcher Re⸗ produktion wecken zu wollen, ein Schau⸗ ſpieler ſich groͤßere, moͤglichſt ſchon an dramatiſchen Elementen reiche Ge— dichte auswaͤhlt, um aus ihnen einen

dramatiſchen Monolog, deutlicher eine Solofzene zu geſtalten. Dann entſteht eine in ſich mögliche und berechtigte Kunft, und es hängt lediglich vom Wert der fchaufpielerifchen Perfönlichfeit ab, ob ibre Produftion ein reiner und ftarfer Eindrud für und fein wird. Soldyen Eindrucd mit folhen Mit- teln ſchuf und unlängft ein Vortrags⸗ abend des Fräulein Lia Roſen. Bon dem eigentlich Inrifhen Wefen der vorgetragenen Dichtungen ließ ſie zwar nichts beftehen. Selbſt ein fo ganz auf Rhythmus und Klang gebautes Gedicht wie „Die Blinde” von Rainer Maria Nilfe, der unter unfern Dich— tern wohl der ftärffte Mufifer ift, (öfte Lia Roſen fo ganz ind Pſycho— logifche auf, daß weder Verszeilen noch Neime zu erfennen blieben. Aber bier, wic in allen andern Gedichten, und in der aus Hofmannsthals „Elektra geftalteten Solofjene, in die konſe— quenter Weife der Abend außlief, bot died Fleine Fräulein fchaufpielerifche Leiftungen von eigenem und ftarfem Wert. Zuerſt war ed nur der Fluge Gebrauch der fehr fultiviertenStimme, die bejcheidene Klarheit der Geften, die achtunggebietend auffiel. Dann aber begann mit den fteigenden Affeften eine neroöfe Kraft des Ausdrucks ſich zu offenbaren, die packte und fortriß. Aus diefem Fleinen Körper tobte eine Leidenschaft, die nie dilettantifch ins Leere ftürmte, die ſich jeden Augen« blic in plaftifcy gefehener Geſte Fünft- lerifh formte, die in einem Schrei audftrömte, der nichts von theatrali= ſchem Laͤrm hatte, der durch und durch mit zitterndem Lebensblut getränft war. Mit einem: ed dofumentierte fih in allen Zeichen ein reine® und reiches fchaufpielerifchesTalent. Deffen einftweilen faft gefährliche Lebenzflille durch mannigfache Aufgaben zu reifer Kunſt zu erziehen, follte eine lockende Pflicht für unfre Theaterdireftoren fein. Julius Bab

313

Kleines Theater

ie berliner Kritif bat das drei=

aftige Spiel „Allerfeelen” von Hermann Heijermand einmütig ab» geſchlachtet, fo einmütig, ald hätte fie fi einem Dilettanten oder einem Charlatan gegenübergefehen. Befon- derd dieſe zweite Bezeichnung träfe auf den holländifhen Dramatifer zu, bätte er auch dieſes Mal, wie in feinen legten Bühnenbrutalitäten, irgend eine aufdringlihe Tendenz nur als Vorwand zum Abblafen einer widerlich gellenden Theaterfanfare genommen. Aber Heijermans ift dieſes Mal weder überlaut nody roh. Seine Welt- anſchauung, die einen rechten und einen ſchlechten Pfarrer gegenüber- ftellt, und mit hoͤhniſchem Achſelzucken fhäbige, von ftumpfem Bauernrad geförderte Aöfetenmoral uͤber kirch⸗ lichen Liberalismus triumpbieren läßt, ift angenehm zu hören für alle die- jenigen, welche die Befchäftigung mit der Fiteratur für die Ereigniffe der aftuellen Politif nicht taub gemacht bat. Und fein Thema ein bollän- diicher Dorfpfarrer muß auf Betreiben ſeines Biſchofs und ſeiner Gemeinde vom Platze weichen, weil er aus Mitleid eine Hochſchwangere in ſeinem Hauſe beherbergt dieſes Thema umſchließt einen lebensechten Konflikt, wie alle diejenigen beſchwoͤren wollen, welche die dunkelſten, Jentren Suͤd⸗ deutſchlands und Oſterreichs aus eigenem Erleben kennen. Aber es bleibt in dieſem Dreiakter noch ein andres, kuͤnſtleriſches Plus. Seien wir und doc; einmal Flar darlıber, daß es beute wieder etwas bedeuten muß, wenn ein Dramatifer eine folide Theater⸗ ardhitefturleiftenfann. Wenn er frifche oder im ©enrebildftil bezeichnende Epifoden zimmert, angefihtd deren man nicht vor Langeweile einfchlafen muß, und die auch von den Geſchmacks⸗ nerven ertragen werden. Diefer Sinn

für die Donamif der Sjene, fir ihre Steigerung von der Andeutung ded Motivs bid zu feiner wuchtigen Betonung ift bier ein fehr adhtbares Eigengut des Holländerd. Und wenn nach den neuen Dogmen der Theater- äftpetif der Inhalt nichts, die Form alles bedeuten foll, fo fehe ich gar nicht ein, warum gerade diefer Mann, der dod fein Künftler, aber ein tlichtiger Praktikus der Form ift, nun plößlich in die Ede gefchoben wird, melde man für die vollfommenen Stuͤmper nicht immer offen halt. In der Zeit der verwahrloften Technif des Bühnen- ſtuͤcks haben wir wahrhaftig nicht Grund noch Urfache, einem, der das veroͤdete Feld leidlich ficher zu befchreiten weiß, eins auf den Pelz zu brennen. Selbft wenn er feine Themen tıberlang er- poniertund fiemit einem fentimentalen Anhängfel abfchließt. Selbft wenn er, bei der Geftaltung einiger Figuren, mit Anzengruber und Ibſen bedenf- lich Eofettiert. Denn es bleibt trotz allem genug Subſtanz. Die fol! man pflegen und nicht vor die Hunde wer- fen.... Aud die Darftellung des „Kleinen Theaterd“, die einen roman⸗ tifhen Stil noch nicht tragen kann, paßt fih dem Naturalismus gefchickt und fiher an. Die Anfängerin Paula Somary wird zwar erft lernen müffen, die Ausdruckskraft ihrer Sprache und ihrer Geften fo lebendig werden zu laffen, wie es ihr feurig fprechender Blick ſchon beute ift. Aber Herr Lettinger bat für gltige Rhetoriker Würde und fompatbifhes Wefen. Herr Abel ftellt einen trocknen Schlei—⸗ cher mit fpigem Kinn, tuͤckiſch blaffen, feigen Augen und widrigem Medern der Kaftratenftimme wirffam in die Neihe feiner Charafterfiguren. Und für die zweite und dritte Garnitur wird immer noch beffer geforgt, als um die Ede, Schiff bauerdamm 4 und 5.

Walter Turszinsky

Berantwortlich für die Redaktion: Siegfried Jacobfohn, Berlin SW. 19 Berlag von Deſter held & Co. Berlin W.15 Drud von Imberg & Leffon, BerlinW.9

“n

28. März 1907

Il. Jahrgang Yıummer J3

Die Schaufpielfunft ded Kindes / von Felix Braun

ewiß wird durch eine Beobachtung der findlihen Schaufpielfunft

wenn id fie fo bezeichnen darf meder der Urfprung nody das

Weſen diefer Kunft Flarer erfannt werden, ebenſowenig wie durch dad biogenetifhe Grundgefeg Ernft Hädeld der Sinn und dad Ziel der Erde gedeutet worden find. Aber ed werden fid) dennoch einer liebevollen ontogenetifchen Betrachtung einige bedeutjame Erfenntniffe abgewinnen laffen, die ein paar bisher dunkle Zufammenbänge ind Licht rlıden. Man bat fich in diefen letten Jahren fehr viel mit der Seele des Kindes beichäftigt, und ih will nur an dad Buch Über Kinderzeihnungen erinnern, das ſelbſt in den exflufioften Fachfreifen großes Aufſehen erregt bat. Wenn ich im folgenden den Verſuch mache, die frühe Sehnſucht nad) dem Theater direkt aus dem Spiel des einfamen Kindes abzuleiten, fo geſchieht died nur fehr ſtinenhaft und ohne die Abficht, einen feitftehenden Schluß zu gewinnen. Denn die Ergebniffe, uͤber die ich lange nachgedacht habe, und die vielen Beobachtungen ihr Dafein verdanken, fcheinen mir dennoch induftiv nicht genügend erprobt zu fein, um zur Morm werden zu fünnen. Immerhin will ich diefe Gedanfen zur Disfuffion ftellen, aus der ich allenfalld Neues und Beſſeres erfahren fann.

Ich unterfcheide drei Hauptphafen, ald deren erfte mir daß bloße ein- fame Spiel erfcheint: dad bewußte Heraudtreten aus dem eigenen Ich, das zum erften Mal einen fremden Namen annimmt und fremde Worte fpricht; deffen Geften anders find, und deflen Taten, einem andern Willen unter-

: worfen, von plöglichen phantaftifchen Träumen beberrfcht werden. Dazu tritt eine vollfommene, unerſchuͤtterliche uͤberzeugung von der Realitaͤt deſſen, wozu ſich der Spielende aus eigener Macht ſelbſt verzaubert hat, allerdings mit dem Bewußtſein, dad Zauberwort, dad ihn erlöfen muß, nie verlieren zu können. Dieſes Verfponnenfein in eine befonderd merkwürdige Geftalt, die aus dem Leben oder einem Märchen genommen werden kann, kann

315

einfam fein oder tote Dinge in feinen Kreis einfchließen, denen eine un- begreiflich fchaffende Phantafie Atem verleiht; oder was Flnftlerifch ſchon viel höher ſteht nachgebildete Geftalten miteinbeziehen, deren Menfchen- tum als felbftverftändlich angefehen wird. „Sch bin allerdings Kaiſer,“ fagt die Seele, und fie ift überzeugt davon „aber ich brauche auch foldhe, die mich anerfennen; ich brauche Soldaten aus Zinn oder Papier.” Und ed ift auch etwas bewußt Schaffendes dabei; denn das fpielende Kind weiß wohl, daß es ſich der leblofen Bilder und Dinge nur darum bedient, weil ed bei ihnen der Zuſtimmung ficher ift und nicht fürchten muß, aus der Illuſion geriffen zu werden, die um fo tiefer und ergreifender wird, je länger dad Spiel währt. Und dann gefchieht dad Wunderbare: dad Kind fpielt fi felbft ganz allein ein Stuͤck, das ed dichtet, ja noch mehr: das es improvifiert. Darum fehreden die meiften auch fo auf, wenn plöglid ein Ermwachfener ind Zimmer tritt und mit jenem typifchen überlegenen Lächeln ftehen bleibt, um zujufehen. Alle Kunft ift Feufch in ihrer Fruͤhzeit und mit den zarteften Regungen der Seele verwahfen. Mit dem Fufchauer tritt ein neued und gefährliches Problem vor das fheue und ungelibte Denken, daB fich damit erft vertraut machen muß, darauf ed nicht vorbereitet war, meil ed nichtd andres weiß, ald daß eine Kluft befteht, und dag feine Bruͤcke ift von ihm zu dem andern. Aus diefer Verwirrung flihrt nicht? andres, ala ein Lächeln liber dad eigene Spiel, oder man fhämt fich, als hätte man etwas fehr Dummes begangen, das einem Großen niemals paffieren könnte. Denn fhon weiß auch dad verfpieltefte Kind, dag alled nicht wahr geweſen ift, und ſchon ift ihm das Bewußtſein gegeben: Ich habe gefptelt, fo fehr ed aud während des Spiels feiner felbft vergeffen haben mag.

Der zweite Schritt ift die Bekanntſchaft mit dem Theater, Ein Kind, dad zum erften Mal den Eindrud der Bühne empfängt, wird viele Tage mit der Erinnerung an die fo fchnell entglittenen Stunden verbringen, da ed das Spiel, dad ernfte Spiel von Erwachfenen gefchaut hat, von denen die andern mit Ehrfurcht und voll Bewunderung zu fpredhen pflegen. Bald erwacht ein dunkles, unaudfprechlic; feliged Begehren in ihm, felbft Theater zu fpielen, und wenn es vielleicht Damit beginnt, gewiſſe Neden oder einzelne Verſe auswendig zu lernen und laut vor ſich binzufagen oder Melodien zu fingen, fo regt fih Über fur; und lang das Verlangen, mit Freunden oder fremden Alterögenoffen dasfelbe Stif nachzuſpielen; auch bier noch, ohne an den Jufchauer zu denfen, einzig und allein, um die Sehnſucht zu flillen: den wunderbaren Feſtglanz zu erneuern, der auf dem einen flüchtigen Abend lag. Es wird ein Taſten und Verſuchen fein, und eine Scheu wird ploͤtzlich aufftehen, die ſich fo oft Durch ein Lachen erlöft, das einen feltfam verwunderten Klang bat. Die Hauptfahe mag wohl juerft das Koſtuͤm fein, das es fo malerifch ald möglich zu geftalten fuchen wird; auch einzelne große Geften und Betonungen, vor allem aber die fremden, feierlichen Worte wird ed fich rafch zu eigen machen. Auch bier wird das Dazwiſchen⸗ treten eines Unberufenen Lähmung, DVerlegenheit und Scham hervorrufen,

316

aber es mag vielleicht einer befonders herzlichen Bitte eines gern gefebenen, freundlihen Menfhen gelingen, die Erlaubnis des Zuhoͤrens zu erwirken. Aus der Nachahmung entteht nicht felten eine Anderung, bie und da eine erflärende oder ausſchmuͤckende Hinzudichtung, und endlich erfindet einer eine eigene Handlung, die den andern meift außerordentlich wirkungsvoll zu fein fcheint: das eigentlihe Theaterfpiel hat begonnen.

Das dritte und legte Glied diefer Entwidlung ift dad Spielen mit dem Theater; if, daß aud dem Scaufpieler oder dem Dichter der Regiſſeur wird, der Direftor, der über Puppen berrfcht, der Sprecher, der die Marionetten bewegt und den Tert hinter der Szene aus einem Buche lieft. Das gefchieht nicht mehr zu eigenem Nuß und Frommen, auch nicht mehr für Freunde und DVertraute, fondern fir geladene Gäfte, auch für fremde, die was der größte Spaß ift wirkliche Preife für ihre Pläge zablen. Es beginnt die eigentliche Aufführung, die Produftion, mit dem ausdruͤck⸗ lihen Berlangen, von andern anerfannt zu werden, andre zu zerftreuen, und ed regt fi) der Stolz der eigenen Tuͤchtigkeit. Loͤſt ein andrer den gegenwärtigen Direktor ab, fo gibt fi der num zum Zuhörer gewordene Künftler nicht mehr willenlod dem Eindrudf bin, fondern er ift gefpannt darauf, wie ed der andre machen wird, und die erfte Kritif fegt ein. Mit den kleinen Spieltheatern ift alled naive, unbewußte, notwendig für fidh felbft gedachte Schaffen und Spielen abgetan, an dad man jeßt faft mit Beratung zuruͤckdenkt und dad man jet fo anderd und um wieviel beffer fann! Denn jetzt beginnt ed doch einen Sinn zu haben, und man wundert fi, wie kindiſch man noch voriged Jahr gewefen war...

So gehen die Dinge leife, unmerklich faft, in einander Über und löfen fi) ab, immer mehr vom Leben zuruͤckweichend, immer mehr fi fremden Welten nähernd, die man aus ſich felber heben kann und fr andre hinftellt, die dad Kunft nennen. Und je näher man diefem Ziel fommt, um fo mehr erfennt man, wieviel Fremdes man hinzugeben muß, damit man ja nicht zu viel von fich felber mit feiner hinſtroͤmenden Begeifterung entfließen laffe.. Schon aber erwacht jene noch nie gedeutete Sehnſucht nach der wirf- lihen Bühne, wo wirkliche Menfhen in von andern erträumten Geftalten vor die vielen atemlos Laufchenden treten, wo in der unermeßlichen Stille die einzelnen Worte durd; den erleuchteten Raum Flingen, an deren Schall man ſich beraufhen fann, und an dem ſich die andern noch viel tiefer und freudiger beraufchen, bis das Klatfhen unzähliger Hände die Bewunderung der Menge dem Einen, Großen braufend binliberträgt . . Früh mag ſich fo aus manchen Seelen jener Wunſch löfen, jener wunderbare Traum nad der Bühne, den die meiften von und in den hellen Tagen des unbegrenzten Begehrend heimlich im ſich getragen haben, und während faft alle die Sehnſucht verlodt, bald vor den Taufenden die großen Worte zu fprechen, träumt einer wohl in endlos langen Nächten von der Stunde, da feine Verfe, von der Sprache der großen Künftler getragen, in die feftliche, borhende Menge tönen...

317

Schwangefang/ von Friedrich Kayßler

eift Du noch, W wie wir an ſchwuͤlen Abenden

unter die haͤngenden Zweige tauchten,

die über ſchlafende Waſſer hingen?

Leiſe ſtrich Dein Gefieder die Zweige,

und Tropfen nachtfriſchen Taues

rannen Dir uͤber das weiße Gefieder,

und ich breitete weit die Schwingen

und fühlte meinen Hals an dem Deinen —- Weißt Du ed no?

Weist Du nod,

wie wir zum erſten Mal

uber Meere flogen,

Schwinge an Schwinge,

feliger Sehnſucht voll

nad wärmeren Ländern?

Weist Du noch Deinen danfbaren Blick, wenn ich über Dich flog, ein Schild

gegen die glühenden Strablen der Sonne?

Regſt Du die Schwingen, mein Weggenof? Liegſt Dur begraben im endlofen Meer? Haft Du fterbend gefungen wie ih? —: ferne lieg id)

unter den berbitfalten Zweigen,

finge Dir meine einzigen

heiligen Laute nah

fage mir: lebit Du?

fag mir ich fterbe —:

wart Du mein Weggenoß . . . .? fannt ih Did je?

318

Der Gott der Rache

enn in dem Drama diefed Titeld der Vordellbefiger Jankel Schep- Woe ſich in ſeiner ganzen Dreiſtigkeit zu dem Toraſchreiber

Neb Aron an den Tiſch fett und ihm ausmalt, wie er „mit alldem“ ein Ende machen und in Zukunft am Sabbath mit feinem Schwiegerfohn die heilige Tora fludieren wird: da erhebt fid) der fromme Mann mit einer jäben Geberde des Efeld und wendet ſich zum Geben. Diefe Geberde fteht nicht im Buch. Sei fie deffenungeachtet von dem Autor Schalom Aſch, oder fei fie von dem Megiffeur Efraim Frifh oder von dem wundervollen Schaufpieler Hand Pagay: fie ift zugleich unfre Geberde gegen das Stück Si parva licet componere magnis: im „Parfifal” empört die Verwendung des heiligen Abendmahls ald Zierrat, ald Fullfel, ald Effekt neben andern Effeften gläubige Seelen wie eine Bladphemie. Uns andre nimmt das Theatergenie Richard Wagnerd gefangen. Aber auch ein unorthodores Gemüt muß fih voll Efel von einem Drama abwenden, dad Himmel und Hölle, Unzucht und Gottesdienft, Bethaus und Freudenbaus, Kult und Kuppelei mit ffrupellofer Brutalität und legten Endes ohne Kraft zuſammenſchweißt. Diefes dichterifche Unvermögen ift es, das nie verſpuͤrte religiöfe Inftinfte rege machen kann. Es ift nicht einmal ausgefchloffen, daß Herr Aſch im Stande der Unfchuld und der löblichiten Abfichten lebt: der unfähige und äfthetifch erfolglofe Dramatifer ift ed, der und zu einem mindeftend verdaͤchtigen Dramatifer wird. Dad wäre in vielen Fällen fchiefe Piychologie. Hier fommen falte Naffiniertheiten der Technif hinzu, und mißtrauifch zu machen.

Aber Reinheit bin, Reinheit ber. Ihre erwiefene Anmwefenbeit oder Abweſenheit könnte nur den Ton der Ablehnung beftimmen. Denn was ic) an diefem „Gott der Rache“ anerfennen follte, wüßte ich wirklich nicht. Auch wenn ich mein Judentum vollftändig audfchalte, bleibt diefed Drama unmahr, miderwärtig und troßdem langweilig, Der Verfaſſer verlangt unfer Mitgefühl flr einen Mann, der durch den Handel mit Wädchenfleifch Geld gefchafft, dabei feine einzige Tochter fauber gehalten hat, ihr zur rechten Zeit für fein Geld einen anftändigen Mann faufen will und es erleben muß, daß ihm fein Kind durch fein eigenes Bordell entriffen wird. Halb zog es fie, balb fanf fie bin, und der Vater, in feiner Verzweiflung, ftößt fie vollends und . für immer binab. Das mag in feinem Verlauf durchaus wahrfcheinlic fein. Es ift keinerlei Begründung nötig, um felbft einen Gegner der Vererbungs- theorie glauben zu machen, daß der Sproß einer verburten Mutter und eines Fupplerifchen Vaters ſolch Schidjal haben fann. Wäre es gleichmuͤtig abgemalt, fo mwirde man, wie ber eine Selbftverftändlichfeit, gleichmätig

. 319

darüber hinweggehen. Die Unwahrheit und Widerwärtigfeit beginnt erft damit, daß und diefer Fall ald tragifch aufgefhwagt werden foll, ohne daß auch nur mit einem Zuge verfucht wird, die Seele ded gottgefhlagenen Mannes als eine befonders tiefe, befonders leidensfähige oder fonft irgendwie befondere Seele zu zeigen. Junger Zubälter, alter Betbruder. Das ift der Lauf der Welt. Darum wollen wir denn doc nicht Mofes und die Propheten und den lieben Gott dazu in Bewegung gefeßt fehen. Wir empfinden das als Überflüffig, wenn wir Atheiften, wir empfinden es als läfterlih, wenn wir gute Juden find. Aber felbft wenn wir die beften Juden wären, wären wir sielleiht daneben Afthetifer genug, und durch artiftifche Tugenden in etwa verföhnen zu laffen. Wo find fie? Das Stld ift ſchlechtweg lange weilig. Es wandelt da8 eine Motiv von dem gnädigen, barmherzigen Juden⸗ gott, der aber auch ein Gott ded Forned und der Rache ift, bis zum Uberdruß ab. Da das Ende bereits am Anfang angeflindigt wird, fehlt jede grobe, da Feine einzige Figur mich angeht, jede feinere Spannung. Das Bordell ift am fchlimmften mißraten, weil bier ein an fich gleich- gültiges Lafter durch die ranzigfte Sentimentalität, man weiß nicht, ob verherrlicht oder nur gerettet oder einfach lebensähnlicy gemacht werden fol. Und wenn! Benn fo das Leben ift? Dann baben wir im Drama des Herrn Aſch den Lebensabklatſch ohne Rebensüberwindung, der die Mode von vorvorgeftern if. Daflır werden hoͤchſtens die Schaufpieler danf- bar fein. Ihnen baben folhe Stüde von jeher Rollen gebracht, in denen fie ohne fonderlihe Mühe den Eindrud der Lebensechtheit und damit bei vielen Zuſchauern auch den Eindrud der Künftlerfchaft erwecken fonnten. Mehr ald ein fiherer Maturalift war aber in der unaudgeglichenen Vor- ftellung des Deutfchen Theaterd doch wohl nur Frau Mangel, die fich feit einiger Zeit zu ihrem eigenen Vorteil aller Übertreibungen enthält. Wie fie ald Bordellwirtin in einer Szene ihre dirnenhafte Vergangenheit und zugleich die Herzensangſt um ihr Kind mit den echteften Blicken und Tönen malte und dabei mit den leifeften, den unfcheinbarften Mitteln zeigte, daß felbft die Mutterfchaft fie nicht unbedingt vor einer dirnenhaften Zukunft bewahren würde dad war Kunfl.

... Ich befchränfe mich ungern und felten darauf, ein aufgeführtes Drama für ſich allein zu betrachten. Die Aufführung ift ja immer auch das Glied einer größern Kette, die Tatſache der Aufführung immer irgend- wie harafteriftifch für den kuͤnſtleriſchen Geift und das literarifhe Niveau eined einzelnen wie des gefamten berliner Theaterd. „Der Gott der Rache” ift das legte von den vier zeitgendffifchen Dramen, die Reinhardt im Laufe eines langen Winterd an zwei großen Bühnen zur Darftellung gebracht hat. Welch ein Ergebnis! Das Deutfche Theater und die Rammerfpiele beftreiten ihre

30

Jahredverpflihtung gegen die Dramatif der Gegenwart der „SFrliblings Erwachen” nicht gut zuzurechnen ift mit einer uͤberwundenen Jugend⸗ lichfeit von Leo Greiner, einem Epigramm von Bernard Shaw, einem Feuilleton von Hermann Bahr und einer Efelhaftigfeit von Schalom Aſch. Brahms Läffigfeit, die doch fonft wahrhaftig nicht Reinhardts Vorbild iſt auf dem Gebiet des modernen Dramas fcheint fie es zu fein, Trotzdem: wenn Brahm in dem gleichen Spieljahr auch nur einen buͤhnenſchwachen Eulenberg, einen toten Hauptmann, einen vorftadtwürdigen Hirfchfeld, einen unfäglihen Sudermann und einen zuderfüßen Fulda herausgefunden bat, fo bat er damit noch immer mehr Phyfiognomie und Gefhmad, ja felbft mehr Mut bewiefen ald der Dramaturg Reinhardt in diefem Winter, Brahm ift feinen beiden Gattungen, dem Naturalismus und dem Theaterhandwerf, treu geblieben und bat auf feine alten Tage fogar einen Ritt ind neu- romantifche Land gewagt. Der Erfolg war Eläglih. Der Naturalismus batte fi vergebend um Humor bemüht, dad Handwerk hatte feinen oder einen zu dinnen goldenen Boden, und die einzunehmende Gegend des neu- romantifchen Landes war unglüdlic gewählt. Immerhin hatte Brahm nad) feinem Schema gearbeitet, von dem ihn heute niemand mehr abbringen wird. Solche planmäßige literarifche Arbeit ift bei Reinhardt ehedem ſchoͤn, frifch und ertragreich gewefen. Im Anfang batte fein Repertoire ein beftimmtes und ein intereffantes Geficht, dad zugleih dad Gefiht von 1900 war. Was er von Neuheiten fpielte, entfprady genau der Art, wie er auch dad Drama der Vergangenheit fpielte. Aber heute? Wie kommt, um alles andre auf fich beruhen zu laffen, das grelle, öde, zeitlofe und undeutfche Machwerk des Herren Aſch ind Deutfche Theater? Reinhardt koͤnnte dar auf erwidern, daß feine Bauptintereffen und feine Hauptverdienfte mehr theatralifcher ald dramatifher Natur feier. Dagegen wäre nicht ein- jumenden, und Reinhardts Verdienfte um unfre Theaterfunft find ja wirf- lich nicht zu uͤberſchaͤtzen. Aber fo fprechen, fo denfen und, vor allem, fo handeln, hieße freiwillig auf die führende Stellung verzichten. Die Führung wird immer die Blihne der literarifhen Znitiative haben. Dem fchlafenden Hülfen nahm L'Arronge, dem eingenidten L'Arronge nahm der Brahm der Freien Bühne, und dem ermatteten Brahm nahm der Neinhardt des Kleinen Theaterd die Zügel aus der Hand. Iſt es ſchon fo weit, daß auch Reinhardt ablöfungsbedürftig iſt? Die flinf Jahre, die Laube für die Blüteperiode jedes Thenterdireftord angeſetzt bat, find allerdings um. Aber Reinhardt, der mit fo vielen Überlieferungen gebrochen hat, der fo erfreulich jung und fo gefchickt ift, ſich Helfer zu finden, wird hoffentlich auch bier eine Ausnahme bilden und und bereit# im naͤchſten Spieljabr die Zeiten wiedergeben, da er noch felbft im Werden mar.

321

TſchakowskyundBerlioz / von HansWarbeck

er Zufall, dieſer plumpe, aber ſchließlich unentbehrliche Helfer der D Kritik, fügt in dieſem berliner Fruͤhling zwei Männer zuſammen,

die über die rein aͤußerliche und flüchtige Gemeinfamfeit des Ortes und der Zeit hinaus eine Reihe von innern Berlihrungspunften baben. Tſchaikowsky und Berlioz geben ihr Beſtes und Eigentuͤmlichſtes in ihren ſymphoniſchen/ Werfen. Verliog in der „Symphonie fantastique‘, der „Romeo und Zulia”-Sympbonie, dem „Harold in Italien“ und der „Dam- nation de Faust“, Tſchaikowsky in dem mafliven Bloc feiner ſechs Spmpbonien, dem „Manfred“, der fomphonifhen Dichtung „Romeo und Julia“, der Ouverture solennelle „1812, der dritten Orchefterfuite G-dur, Opus 55, und dem Klavierfonzert B-moll, Opus 23. Trotzdem treibt beide ein unerflärlicher, unwiderſtehlicher, verbängnisvoller Zwang immer wieder zu ‚neuen dramatiſchen Taten. Berlioz zu den „Trojanern”, zu „Benvenuto Sellini” und zu „Beatrice und Benedikt”. Tſchaikowsky zum „Opritfchnif”, dem „Wafula“, dem „Mazeppa”, dem „Eugen Onegin” und der „Pique- dame“. Aber auch bier fchlägt Überall der Symphoniker durch. Die „Romeo und Julia“-Symphonie glänzt nicht durch die Solo- und Chor- partien, fondern durch die reinen Inftrumentalftuce, dad „Feſt bei Capulet“ und die „Fee Mab”. „Faufts Verdammung“ wird bei ihrem erften Er- fheinen in Paris und Berlin faft abgelehnt. Mur der „Rakoczy-Marſch“, das „Spiphenballett” und der „Srrlihtertang” bringen es fofort zu einer Berlihmtbeit. Aus dem Zufammenbrud ded „VBenvenuto Cellini” endlich rettet. fi) dad Orcheftervorjpiel zum dritten Aft und führt unter dem Titel „Carneval Romain‘ auf den Konzertprogrammen ein Sonderdafein. Tfchai- kowsky wiederum verbrennt die Partitur feiner erften Oper „Der Wojwode“: den Entreaft aber und den Tanz der Mägde läßt er befteben. Längft, ehe einer feiner Opern den Weg über die Grenze ded engern Vaterlandes findet, fennt man die prachtvolle Schilderung des Schneefturmd im „Wakula“, das Vorfpiel und dad Tongemälde der Schladht von Poltama aus „Mazeppa” und die zahlreihen Zwiſchenſpiele, die die loder verbundenen Sjenen des „Eugen Onegin“ zuſammenhalten. Merkwürdig iſt weiter Die uͤberein⸗ ſtimmung in den Lebensſchickſalen der beiden Meiſter. Das unrubige, jaͤhe, durch eine myſterioͤſe Ehe getrübte Daſein, der Kampf um das tägliche Brot, die Gleichgiltigfeit und Gebäffigfeit ded Publitums, der frühe abrupte Tod. Und dann plöglic die Auferftehung, der Uunfchlag der Stimmung, die Glorifizierung, die Kanoniſierung. Nur in einem Punft unterfcheidet fi) der Franzoſe von dem Ruſſen: in der Dynamik ded Temperaments. Berlioz der phantaftifche, barocke, gluͤhende, ſich verzehrende Geift, der Goni, Callot, Hoffmann der Muſik. Tſchaikowsky dagegen die weiche, Iprifche, empfindfame Seele, die ſich fortwährend aus dem Getriebe der Großftadt an die Bruft der Matur flüchtet und nur manchmal von den brutalen Stößen des flavifhen Blutes erfchüittert wird,

322

Mebr, ald die nicht immer originelle und mühelos quellende Erfindung und. die vielen Gewaltfamfeiten im Ausdrud, waren ed vor allem die an« geblihe Verſundigung an der Goetheſchen Dichtung und die Vergewaltigung des deutfchen Geifte®, die der „Damnation de Faust“ fofort bei ihrem Auftauhen in Deutſchland vorgeworfen wurden. Ludwig Wellftab, der Kritifer der Voflifchen Zeitung, der im übrigen eine fehr anerfennende, intelligente und für die Zeit merkwuͤrdig aufgeflärte Beſprechung fchrieb, nannte dad Werf eine „Verzerrung“ des Goetheſchen Gedichts. Verlioz felbft hat in feinen Memoiren die prompte Antwort auf diefe Angriffe durch die Erklärung gegeben, daß ed ihm nicht eingefallen ift, in „Fauſts Ver- dammung” den Goetheſchen „Fauſt“ zu fomponieren: „Il y a encore d’autres Faust que celui de Goethe“. Er bat nur die „acht Genen aus Fauft”, die er als ſechsundzwamigjaͤhriger Juͤngling unter dem nieder⸗ ſchmetternden Eindruck der Fauſt-Lektüre in einem Zug herunterſchrieb, in der Überfegung Gerard de Mervald verwertet. Alles uͤbrige if, mit Aus» nahme von zwei oder drei Gandonnièreſchen Terten, fein dichteriiches Eigen- tum. So mußte ed ihm auch unbenommen fein, im eigenen Haufe nad Belieben zu wirtfchaften, Fauſt nad Ungarn oder fonit wohin zu verfegen und ihn überhaupt tun zu laffen, mas ihm bebagte. Was er in „Fauſts Ver- dammung’ mit Goethe gemein hat, ift nicht Die Kauft-Dichtung an fich, fondern der riefige, ewig giltige, in der metapbufiichen Sehnſucht des Helden dem Mufifer befonderd entgegenfommende Stoff und die „rage de genie“, die er außer an Goethe auh am Shafefpeare entdedt bat. Naturgemaͤß find die Partien, die diefed Merfmal Goethe-Shafefpearefhen Geifted am deutlihften an der Stirn tragen, die ſchoͤnſten und binreigendften des Werks. Der fabelhaft fiher aus dem Inneren ded ungarischen Nationals gefuͤhls geftaltete Raloczy-⸗Marſch mit der Piano-Einführung des Haupt- themas und feiner glanzuollen Steigerung zum braufenden Fortiffimo. Das zierliche, duftige, wie aus dem Sommernadhtötraum entiprungene Sylphen⸗ ballett im Dreiadhteltaft, dad achtzig Jahre vor Richard Strauß zum erften Mal die Eelefta verwendet und Mendelsfohn ald Vorlage zu feinem Feliblingslied gedient hat. Der gefpenftifhe Tanz der Irrlichter, in dem die Danse macabre des Saint-Saend vorgeahnt ift. Die Invocation, in der die Szene „Wald und Hölle” lediglich in ihrem muſikaliſchen Gebalt nachwirkt. Das Pandaemonium, dad zu den Höllenlauten ded Myſtikers Swedenborgeine wahrhaft fhwefelftinfende Spracheredet. Endlich Margarethes Verklärung, die in der Stimmung mit Goethed Schlußſzene zufammenfällt. Nicht weniger glüdlich ift der grotesk-ironiſche Berlioz in Stuͤcken verwandten Charakters, in dem, durch ded Satan Lieblingsinſtrument (die Piccolofloͤte) gemalten Auftritt Mephiſtos, dem mit vier Fagotten begleiteten Lied von der Ratte, dem hüwfend⸗ſtichelnden Flohlied und der hoͤhniſch⸗verzerrten Amen⸗ Fuge (einer grimmigen Parodie auf den Kontrapunft ald Selbſtzwech. Am ſchwaͤchſten ſind die lyriſchen Szenen ausgefallen, wenngleich uͤberall geiſtreiche inſtrumentale Zuͤge (das engliſche Horn in Margarethes Romanze

3,

„Meine Ruhe ift hin‘) hervorleuchten. Faufts Arie „Hab Danf, daͤmmernder Abend“, die fpäter von Gounod fopiert wurde, bringt es zu feinem rechten Fluß. Das Liebesduett zwiſchen Fauft und Margarethe hebt recht ſtimmungsvoll an, gerät aber dann in Meyerbeerfche und Spontinifhe Phrafen. Des Berlio; Geiftesrihtung war eben, wie Heine mit dem Hellgeſicht des Dichters er- fannte, dad Phantaftifche, nicht verbunden mit Gemuͤt, fondern mit Senti- mentalität.

Wer feinen Tſchaikowsky kennt und liebt, wird ihn auch in der Partitur zur „Piquedame“ wiederfinden. Verbüllt und verzerrt allerdings durch ein unſaͤglich fchales, konfuſes und langmweiliged, von allen guten Geiftern des Geſchmacks und des Verftandes verlaffenes, jenfeitd aller Buͤhnenmoͤglich⸗ feiten ftehendes Tertbuch. Aber da ift die wundervoll weiche, woblige, dunfel- aufleuchtende Klangfarbe des Orchefterd, die durch eine Mifchung der tiefen Streiher mit den dunfeln Holz» und VBlehbläfern entfteht. Da find die knappen, prägnanten, durch immer wechfelnde kuͤhne Harmoniſierung inter- effanten und ſtets neu beleuchteten Themen. Da ift die pifante Rhythmik, die aus dem fpezififch ruffifchen Fünfvierteltaft die abfonderlihften Wirkungen sieht. Da find, die geiftreihen Inftrumentaleffefte, die in der Gefchichte der modernen Orcheſtration neben Nichard Strauß ein Kapitel flr ſich bilden: die praffelnden Pizzifatofchauer, die wie Hagelbden auf die unifono gehenden Pofaunen herabftürzen, die heimlich auf und abfchleihenden Figuren der tiefen Streicher, Über denen einfam eine melandholifche Oboe irrt, die breiten Uniſonos der Streicher, zu denen die Poſaunen in der Gegenmelodie geflihrt werden. Dazwiſchen finden fi danın Züge von unverfennbar weſteuro⸗ päifhem Schnitt. Die breite, finnlihe, nicht immer fehr noble Gefange- melodie, mit der der fonnengierige Ruſſe dem lachenden Stalien feinen Danf abftattet. Die muntern, gefälligen, pifant rhythmifierten Säge, die in der nach dem Lorbeer der Delibed und Bizet langenden Nußknacker⸗Suite ihre Kriftallifation gefunden haben. Endlich die netten, grazidfen, altvaͤteriſchen, etwas verftaubten Stldchen, auf deren Duelle Tſchaikowsky in der Mozartiana-Suite verfhämt hingewiefen hat. Diefed Schwanfen in den Stilarten, diefed Fehlen eines feiten, ficher erftrebten Field ift durchaus in der Natur des Komponiften begründet. Wie er ald Kritifer gleichzeitig für Mozart und Roſſini, flr Wagner und Verdi ſchwaͤrmte, mie er zuerft Chopin „uwider“, Gounod „manieriert” und Brahms „mittelmäßig“ findet, um fie nachher alle der Neihe nah anzuſchwaͤrmen, fo weiß er in feinen Ton» Dichtungen nie, wem er eigentlich folgen fol. Hat er fi in feinen Sym⸗ pbonien, Suiten und Ouvertüren zur abfoluten Mufif bekannt, fo Fofettiert er fofort in feinen fomphonifhen Dichtungen „Francesca da Rimini‘

„Manfred“ und „Romeo und Zulia” wieder mit der Programmmufif. Hat * im „Walkula“ und im „Mazeppa“ ſich Wagners Stilprinzip genaͤhert, ſo gleitet er in der „Jungfrau von Orleans“ wieder in die alte Nummern⸗ oper hinein. Die „Piquedame“ bringt zur Erkenntnis dieſes merkwuͤrdigen Charakters fein neues Material bei. Stellen von echt Tſchaikowskyſchem

324

Gepräge wechſeln mit oberflächliher Alltagemufif ab. Padende Genen ftehen unmittelbar neben raufchendem, leerem Getöfe. Nur ein Gutes hat fie: fie lehrt uns, daß der Komponiſt der fo heiß und mit Recht bemun- derten Symphonien nicht ald Meifter vom Himmel fiel, daß er vielmehr in den zwifchen den fymphonifchen Höhepunften liegenden, bier zu Lande wenig befannten dramatifchen Stüden eine vorbereitende Arbeit geleiftet bat. Die Mehrzahl der Themen aus der flnften (E-moll) und fechften CH-moll) Symphonie fteht zum Beiſpiel in der „Piquedame”, Damit fällt auch die törichte Theorie, daß Tſchaikowsky in der fechiten Symphonie („Pathetique‘) fi ein Schmwanenlied gefungen bat.

Die Darftellung diefer beiden Werfe „Fauſts Verdammung“ und „Piquedame” ift fomit weder nach dem Sinn ihrer Schöpfer, noch in ihrem innern Wert begründet. Wenn fie jeßt troßdem verſucht worden ift, fo geſchah es aus dem offenfundigen Mangel an guten Neuheiten und ob der trefflihen Erfahrungen, die man mit der Wiederbelebung älterer, bereit8 verloren geglaubter Opern gemacht bat. Die Aufführungen felbft charafterifieren ſich durdy ihren Schauplag. Die „Piquedame” im Föniglichen Schauſpielhaus ift herzlich ſchlecht. „Faufts Verdammung“ in der Komifchen Oper bis auf Fleine Flecke audgezeihnet und reih an Fünftlerifchen Anregungen. Herr Raoul Guͤnsbourg, der und demnähft im Königlichen Dpernhaus daB „Jeu de Monte Carlo“ vorführen wird, hat auf das be- fannte, jlngft gefprochene Wort des Kaiferd eremplifiziert und aus dem Herzen feiner Fünftigen Wirfungdftätte heraus erklärt, dag nad feiner Meinung die Ermedung des „fchönen Scheind” die Aufgabe der Bühne fei. Bon diefem Guͤnsbourgſchen fhönen Schein der edle Monagaffe hat fiherlih einen Taufendfranffchein gemeint war bei der „Piquedame” nichtd zu fpliren. Die Deforationen hatten jenen niedertraͤchtigen, grauen, verwafchenen Teint, der felbit frifcher Leinewand dad Ausſehen von alten Lumpen gibt. Die Negie hatte fi im erften Bild einen veritabeln Kinder- fpielplag mit Sandhaufen und Kuchenformen geleiftet und dem Anfang der Wache ein paar mißverftandene Nuancen nad) Gregor verliehen. Später, im dritten Bild, geriet man wieder in den alten Schlendrian. Wie die Säfte ſich rüͤckſichtsvoll umdrebten, nur damit das Liebespaar feine heimliche Ausfprahe halten Fonnte, war einfach koͤſtlich. Die Infjenierung von „Fauſts Verdammung“ in der Komifhen Oper ſchließt fi wuͤrdig den Regieleiftungen an, die und die fleifige Bühne, die einzige Opernbühne, an der wirflich gearbeitet wird, im Lauf des Winterd geboten hat. Von den bezaubernden Bühnenbildern werden die traumhafte, von tanzenden Sylphen belebte Landfchaft an der Elbe, die Erfcheinung des rot beleuchteten Mepbifto- Hauptes auf der fhwarzen Gardine und die Himmeldfjenerie dauernd und fortwirfend in der Erinnerung bleiben. Die Befeßung der Hauptrollen mit dem Dreigeftirn Merfels Buerd-Padilla ift erften Ranges. Sie übertrifft die Darftellung des Liebeöpaares in „Piquedame” durch Herrn Grüning und die Deftinn. Die Königliche Kapelle ift natuͤrlich nicht zu fchlagen.

335.

Variete und Theater/ von Willi Hand!

Urzlich hat fi) die große Yoette Guilbert bier (in Wien) ald Schau-

fpielerin gezeigt. Ed war ein recht intereffantes Fiasko. Das Stüd,

das fie fich für die Gelegenheit hatte machen laffen, fommt dabei weiter nicht in Frage; es hätte vielleicht noch fchlechter fein koͤnnen, und um ein befferes wäre es jedenfalld fchade gewefen. Denn die große Dvette, der wir fo viele und.fo mannigfaltige dramatifche Erfchlitterungen verdanken, ift feine dramatiſche Künftlerin.

Diefer anfheinend paradore Widerfprucd haftet mit feiner zwiefpältigen Wurzel in dem Doppelmefen aller Schaufpielerei. Walten im Werf und über dem Werk, Erlebnis und Gebild, eigene Wirflichfeit und fremde Wahrheit, Enthuͤllung und Verftellung, Subjekt und Objekt: das ift, immer gleichzeitig und in unldslicher Verbindung miteinander, die Schöpfung des Klinftlerd auf der Bühne. Religion ift ihr legter, dunfelfter Hintergrund; aus dem Schrei nad der Erfenntnid großer menfchliher Geheimniffe wurde fie- geboren, gebiert fie ſich immer wieder. Sie fragt den Schaffenden nicht nur: Was fannft du?, fondern fie bricht auch fein Innerfted auf und ruft ihn an: Wer bift du, und was ift in deiner Seele? Allen Kulturen, allen Naffen, allen Schichten haben diefe Fragen geflungen; darum ift die Schau- fpielerei die erfte und die allgemeinfte unter den Künften. Es ift die Kunft, in der die Menfchheit dringender, heißer, gerader, als in allen andern, nad) ſich felber fucht. Gerader, und darum vielleicht primitiver. Durch taufend Täufhungen geht bier, wie Überall, der Weg zum Wahren. Aber nirgends ift die Wolluft des Getäufchten größer, nirgends der Genuß des Betrogen⸗ feind fo erwuͤnſcht. Ein Ziel if, wo der Weg aufzuhdren fcheint. Und man macht ihn freudig noch einmal, um wieder an daßfelbe Fiel, an denfelben Anfang, auf denfelben Weg zurüchzufommen. Die Schaufpielerei ift die unerwige Kunſt, immer in ibrer eigenen Zeit gefangen, fo fehr fie allen Zeiten gemeinfam ift. Und eine Zeit ohne große Perfpeftiven, obne ftarfes Vertrauen zu fi felbit kann fie wohl gar zur Kunft der Stunde, der Minute herabdrüden. Der gedanfenlofe Kleinmut, die verdroffene Haft einer ſolchen Zeit übertrumpft den Schaufpieler durch den Artiften, das Theater durch das Variete. Variete ift denaturierted, irreligiöfes Theater, Theater A la minute, Man wende hier nicht ein, dag auch die Dramatifche Schaubühne vieles, allzuvieled bietet, wad mit dem religidfen Zweck der Kunft, die Bedeutung ded Menfchen in feiner Welt zu fuchen, nicht? gemein bat. Das gilt immer nur fr denjenigen, der Fritifch erfennend darüber ſteht. Wer mit der rechten naiven Freude, unliterarifch, ohne die Hemmungen verftändiger Vergleiche, ganz bei der Sache ift, dem wird auch dad roheſte Schauerſtuͤck, das ihn beftig angreift, der leichtefte Schwanf, der ihn zu beftigem Gelächter treibt, von der menfchlihen Natur etwas VBefonderes ahnen laffen, dad er im Leben nit aufjufinden vermag. Denn auf dem Theater gefällt ihm nur, was er glaubt; und im diefem Glauben an das

Ungemwöhnliche, verwegen Luſtige, Wunderbare, Abfonderlihe oder Gefuͤhls⸗ ftarfe liegt allein der Keim zu dem unbeweisbaren Willen um die hoͤhern menfchlihen Dinge. Das Variete aber ift dad Theater der Ungläubigen. Die Frage: Wer bift du, und was ift in deiner Seele? erlifht bie auf die legte Spur; es gilt nur mehr, was einer Beſonderes kann. Das Wunder- bare it vom Verwunderlihen fortgedrängt, dad Schaufpiel ift zur Schau- ftellung geworden. Niemand will dabei etwas glauben oder ahnen. Sie wollen nur feben, bören und vergeflen; fie wollen eine Kunſt für die Minute haben.

Was Fannft du? fchreit dad Variete feinen Kuͤnſtler an, und meint damit: Worin bift du, worin ift deine Leiftung abnorm? Denn fomweit du ein Menfch bift, wie andre, bift du fir mich unbrauchbar. Und der Artift jeigt feinen Körperbau, das Spiel feiner Gliedmaßen, den Klang feiner Stimme, felten einmal feinen Witz. Aber faſt alle feine Künfte waren irgend einmal Religion, Beſtandteil irgend eines Kulted. Der Zauberer war in uralten Zeiten Priefter, und mit feiner Magie wollte er dem Hoͤchſten nabe fommen; die Afrobaten, die Springer und Ringer waren Gymnaſten, die Götter hatten ihnen befohlen, fchön zu fein, und fie turnten, ſprangen und rangen um des Heils ihrer Seele willen; die Tänzerin war Dienerin Gottes, oder fie vermochte doch mit den Rhythmen ihres Feibed den Rhythmus der Seele ihred Volfed herrlicher ausjudeuten. In den meiften Schau— ftellungen des Variétés ift fo das denaturierte Schaufpiel noch zu erfennen; die Jufammenhänge bleiben. Sie müffen nur immer vertufht und ver- wiſcht - werden in einer Zeit, die fich für fich felbft micht fehr interefliert, die nicht den Trieb bat, fich felbit zu enträtfeln, fich mit einer großen Wahrheit an die Ewigkeit anzufnüpfen. Die Großinduflrie, aus dem feften Boden, aus den mationalen Grenzen, von allem individuell Menfhlichen (o8geriffen, hat die Blüte diefer unperfönlihen, gefuͤhlsleeren Kunſt berauf- gebracht. Die Mafchine ift das rätfellofefte Wunder, das Variete ift die glaubenslofefte Kunft. Darum mußte dad Variete die hoͤchſte, die einzig biühende Kunft ded Mafchinenzeitalterd werden.

Die Zufammenbänge bleiben; im den Klinften, wie im Leben. Die Mafchine bat den Menfhen nie ganz entwurzeln, der Zeitvertreib -die gläubige Sehnfucht nie ganz totfchlagen koͤnnen. Und auf der Schaublihne des nlichternften Erſtaunens, der phantafieberaufchteften Wirflihfeit, auf den Brettern ded Darieted hat fich immer wieder, von irgend einer Seite ber, in irgend einer Infarnation, die Idee des göttlich Erhabenen im Menfchen Zutritt und Raum gefchafft und hat dort ihre Zeitlang geherrfcht, ſouveraͤn und gewaltig, wie eben Ideen iiber Sinnliches berrihen. Da trat, zwiſchen die Ringer und Springer, die Rugelmerfer, Gemwichteftemmer, Feuerfchluder und die andern Zauberer und Zeitvertreiber plößlic ein andres Wefen und fagte: Gebt ber! Was ich fann, ift recht wenig: ich drehe mich im Kreije, biege die Hhften, neige mich, läcjle, rege das Bein. Aber was ich bin, das ift die Seele meines Volfes, das ift die ruffifche oder die fpanifche,

327

die englifche, die franzöfifche, die kreoliſche oder die Nigger⸗Seele. Es ift meined Volkes Seele, oder der Schrei feiner Luft, oder die Linie feines Stolzed, oder die Eleganz feiner Kultur, oder die Melodie feiner Trauer; ed ift etwad Allgemeines, Großes, ewig Menfchliches, was man nicht können fann. Aud ich kann es nicht; ich bin ed. Ich bin und ich ftelle bar. Diefe Schauftellung fei Euch mun wieder ein Schaufpiel. So famen die englifhen Barrifon-Mädchen, fo fam die große Spanierin Tortajada, fam dad Temperament der franzöfifchen Pleb8 in der Fougere und in der Buffet, famen (damit man nicht meine, ed müßten nur frauenleiber fein) die un- vergeßlihen rufjifhen Tänzer, die Merifaner, die wild⸗komiſchen Nigger.

Und noch eine fam, die fagte: Was ich kann, ift viel; aber was ich bin, ift noch mehr: Ich bin der redende Geift der modernen Menſchheit. Dad war die große Yvette Guilbert. Sie war der hoͤchſte fchaufpielerifche Krampf des Varietes; fie war die Fühnfte, die monumentalfte Zufammen- drängung von Eroigem in Sefunden. Ein Zeitvertreib flr die Sflaven der Minute; und eine göttliche Offenbarung flr die Nätfelluft der Sehnfüchtigen. In ihr ſchri⸗ die Menſchheit aus allen Tiefen auf. Ihre Worte, ihre Verſe waren nur Oberfläche, mehr oder weniger unwichtig. Ihre Zuhaͤlter, ihre Verbrecher, ihre Delinquenten waren nur fo beiläufig in Paris, auf Montmartre, unter der Quillotine, Ste aber preßte die Wut und den Schredf des Menfchen- tierd, die Luft und die Wirrnid der Sünde, den verzweifelten Schrei der ganzen Welt hervor. Ihre Schweine und Schweindhen, ihre alten Herren, wachsgelben Jungfern und lädierten Badfifche ewig giltige Geſichte von beimlicher Luͤſternheit, von allem verpulverten und vergifteten Heidentum, das in unferm Blute fchleiht. Ihre Betrunkenen und Provinzialen, ihre Bürger und Bauern und ihr hieratiſch großer heiliger Nicolaus Bilder, Bilder aus dem Innerſten unfrer Zeit, aus der Heiligfeit und Dumm- feligfeit und VBetrunfenheit und VBefchränftheit unfrer Zeit. Der redende Geiſt unfrer Zeit war fie. Und zufällig eine Dame. So fonnte ihre Stimme beller erglänzen, eindringliher erzittern; fo fonnte ihre Figur, ihre Miene, ihre Tracht mannigfaltiger wirfen. Aber mit diefen weiblichen Dritteln gab fie nichts Weiblihes. Auf der Bühne war fie nie Dame, wie fonft die großen Sängerinnen oder Tänzerinnen, die nur ſich felbft darftellen und damit ſchon alles Allgemeine und Erbhabene, was ihr Volk, ihre Zeit, ihre Menfchlichfeit in ihnen, während fie fi) Fünftlerifch regen, erfchafft. Die große Dvette war auf der Bühne nur redender Geift; ein ftarfer, empfindungslos wiffender, ungeſchlechtlich neutraler Geift.

Sie war der böchfte fchaufpielerifche Krampf des Variétés; fie war die erfte Glode zur Ruͤckkehr von der phantafieberaufchten Spezialitäten-Bühne. Der Geift, der unerbittlih ind Emige jeigende Geift der Menfchheit war ploͤtzlich mit feiner Macht ber den mafchinenmäßigen Zeitvertreib der Raͤtſel⸗ Iofen gefommen. Seine ohnmaͤchtigen (und manchmal ehrenbaften) Werfuche, fid) des Minuten-Theaterd dauernd zu bemädhtigen, heißen mit ihrem fultur« _ biftorifchen Namen Kabarett. Wenn Modolphe Salis, wie man fagt, der

328

,n —— —— ——

Pate des modernen Rabaretts ift, fo ift Mvette Guilbert feine große wie oft mißverftandene! Lehrmeifterin. Nun, wir brauchen und um dieſes feänfliche, kunſtleriſch blutleere Kind nicht weiter zu befümmern. Der Geift, der es zeugte, fann ed nicht erhalten und wird ihm nichts vererben; denn fein Vermögen gehört größern, weiterbauenden Künften, ed darf nicht für Minuten verſchwendet werden. Immerhin ift aber das Kabarett mit feiner betonten Geiſtigkeit ald ein endlihes Sichbeſinnen ded Varietes auf das Künftlerifhe, ald ein Verſuch der Ruͤckkehr vom völlig entgeiftigten Schau⸗ ftellungs-Theater wohl zu beachten. Der große Kabarettfturm, den Wolzogen über ganz Deutfchland bin anzufachen ſchien, ift zwar ziemlich Fläglich ver- fäufelt. Aber was er alles umgebogen, entblättert, gefnickt, vielleicht gar entwurzelt bat, zeigt fi dem Aufmerffamen doc deutlich genug. Ich fenne die Variétés in Deutfchland nit und habe Feine Nachricht, ob ſich dort etwa ähnliche LUmgeftaltungen wahrnehmen laffen, wie bei und. Hier in Wien aber ift ed, ald begänne dad Variété ſich feiner felbft und feiner leeren Schauftellungen ein wenig, ein ganz Flein wenig zu fhämen. Die Euftfpringer, die Feuerfreffer, die Ballenwerfer, die Zauberer und andern Zeitvertreiber werden rarer und feltener. Es fonnte ſchließlich einer den andern nicht mehr überfpringen, uͤberſchleudern, Überzaubern. Denn was Menfhen können, ift endlich und findet feine unverrüdbaren Grenzen. Unendlih an Wechſel und Bedeutfamfeit ift aber, was Menfchen find. Und daB gilt jegt mehr und mehr aud auf dem Variete, feitdem einmal der Geiſt über den Zeitvertreib gefommen ift. Eine Sängerin von Perfon eine Tänzerin von Raſſe, ein Vortragender oder Wibbold, der aus dem Volk und zum Volk fpricht, hat über alle Afrobaten und Hundeprofefforen den Triumph. Und von allen Seiten kommt plöglic das Theater, das zu Boden geworfene, vertriebene, von der Minute übermannte Theater auf dieſe, Bühnen. Es ift ein elendes, jaͤmmerlich verwachfenes, Enechtifch gemeines, bundsordinäres Theater, ein Theater fuͤr Anfänger im Geift und im Geſchmack des Schauend. Aber ed führt die grobe Phantafie der willig Getäufchten doc wieder uͤber das troſtlos Greifbare hinaus, ed hat feinen (armfeligen) Sinn hinter der unmittelbaren Wirklichkeit und macht den (tölpifhen) Verſuch, Menfhen und menfhliches Leben vorzuftellen. Es lallt; aber auch in dem Ballen daͤmmert die Frage nady der Art und dem Leben von unferögleichen. Kein Zweifel, daß jedem, der kuͤnſtleriſch empfindet, diefe Gattung Theater veraͤchtlich und uͤberfluͤſſig erfcheinen muß. Aber daf fie da ift und fi das Variete erobert, ift ein untrliglicher Beweis, daß auch in den geiftig Armſten der Trieb befteht, nicht nur mit Augen und Ohren zu feben und zu hören, fondern auch mit der Kraft der Einbildung, mit dem Geift und man überfpringe den Abgrund zwifchen ihnen und und mit dem Gemuͤt. Hier oder dort: die Zufammenhänge bleiben.

Die große Doette Guilbert, deren ftarfer, die Zeit nachfchaffender Geift das Variete ſchon im Variete hberwunden hatte, ift nun von ihrem Ehrgeiz ber die Grenzen einer andern Kunſt gelocdt worden, die auch erfchaffen

muß, aber nicht aus dem flarfen Geift allein: in das Gebiet der Schau- fpielerei. Bon dort fam fie vor Sahrzehnten ber, verdroffen und ohne Erfolg. Man begreift ed jetzt. Denn was fie kann und was fie ift, drückt fih von ihrem neutralen Geifl und nicht von ihrer femininen Menfchlichfeit heraus. Sie bringt die Dame, fie bringt das Weib nicht auf die Bühne. Da ift der Geiſt über ihr und bat alled Gefchlechtlihe unterdrüdt. Auf der Buͤhne aber find Menſchen; Menfhen von zweierlei Gefchleht. Und wenn- diefer großen Verkuͤnderin des Geiſtes da aufgetragen wird, Dame, Weib, Mutter zu fein, fo bleibt ihre Künftlerfeele ratlos. Wohl weiß fie alles; kann alles fagen, alles zeichnen, alles eindringlich erflären und bildhaft vorzeigen. Mur fein kann fie ed nicht. Sie kann ald Künftlerin nichts fein, als der ftarfe, vielfältige, uͤbermaͤchtig eindrucksvolle Geift unfrer Zeit. Ihrer Seele, die jede Verfündigung diefed Geiftes, ald Stimmung, Schickſal oder Menfchentypus, auf das intenfivfte miterlebt, ift es nicht gegeben, ſich felbft in der Stimmung und dem Scidjal einer einheitlich dargeftellten Menfchenform auszuleben. Kühl und rein technifch gefprochen: Was fie in diefem Drama fpielt, ift alles ſehr Flug, fehr gefchidt und an vielen Stellen zeichnerifh genial erfunden. Aber, fo tief ed aud in ihrem Herzen erfühlt fein mag, es iſt nirgends von den überzeugend weichen Linien einer Weiblichfeit, die fir fich felbft bewegend fpricht, Fünftlerifch ein- gehuͤllt. Der Zufchauer ſaß mit einem falten geiftigen Intereſſe an diefen Künften, die er ehedem, als fie ihrer wahren Natur gemäß walteten, fo un⸗ mittelbar und binreißend heiß empfunden hatte. Das Schaufpiel des ftarfen redenden Geifted unfrer Zeit war nun, auf der dDramatifchen Buͤhne durch eine fchlimme Laune denaturiert, erft recht zur muͤßigen Schauftellung ver- dorben. Und fo wurde diefes Auftreten der großen Mvette Guilbert ein recht intereffanted Fiasko. Der Seltfamfeit und der größern Beweiskraft halber fei hier noch erwähnt, daß kuͤrzlich auch Lene Land, ein recht gefchidte Dame vom Variete in zwei unbegreiflich idiotifhen Stuͤcken an einem Theater aufgetreten iſt Idhr Fach war die nedifch blinzelnde Parodie; was fie kann, ift: zu zeigen, was andre koͤnnen oder koͤnnen wollen. Was fie kuͤnſtleriſch felbit ift, hat man nie erfahren. Auch auf der Bühne zeigte ſich feine Spur davon. Mur weil ihre ganze Laune, ihr anfchmiegfam nachahmendes Verſtaͤndnis, ihr Fleinlich ſchlaues Spiel mit Nuancen fo durchaus weiblih ift, gelang es ihr auch, auf der Buͤhne wenigftend Dame zu fein. Sie trug ihre Mäntel und Unterröce mit großer Wahrfcheinlichfeit, und in ihrem Laͤcheln, Zwinfern und Kofettfein lag etwas, dad Leben war. Ed war feine Kunft darin, fein Geift und feine beftimmte Perfönlichfeit; aber doc irgend ein Weib, das fich felbft im einer andern zu fpielen hatte, fich darin flhlte umd in diefen rudimentären Erfcheinungsformen darftellen fonnte. Und hinter der oͤden Schauftellung der zur Tragsdin denaturierten Parodiftin bligte, ſchwaͤchlich zwar und für furze Momente, doc; dad Schaufpiel‘ hervor, das die zwiefpältige Gabe bat, gleichzeitig zu fein und zu bedeuten.

330

KRasperkefhorter

Bei Jacques Merf/ von Lunovis

Ein Interview

(Hotelzimmer. Die Bühne ift leer. Es klopft mehrere Male. Endlich kommt —* beruͤhmte Komponiſt Jacques Merk mit Lumpi, ſeinem Frauchen, und ruft:)

Jacques Merk: Herein!

Betty Ohneſcham (tritt ein): Guten Tag!

Jacques Merf: Womit fann id Ihnen dienen?

Betty: Jh möchte Sie um eine Unterredung bitten.

Merf: Eine Unterredung?

Betty: Jawohl, ich bin "Mitarbeiterin der Spreezeitung.

Merk (weift auf einen Sammetſeſſel. Lumpi ſetzt fi auf Merks Knie): Sie find Mitarbeiterin der Spreezeitung?

Betty: Jawohl, und Sie, verehrter Meifter

Merf: Kennft Du die Spregzeitung, Lumpi? (Lumpi ſteckt Merf eine Zigarette in den Mund)

Lumpi: Die Spregzeitung?

Betty (einen Vleiftift hervorziehend): Wann find Sie demnad) geboren?

Merf (verbindlich lächelnd; nachdem er fi) die Zigarette angezuͤndet): Alfo von der Spreezeitung find Sie, mein Fräulein?

Betty: Ich bin übrigens Frau aber

Merk: Seit warn, wenn ich fragen darf?

Betty: Schon feit fieben Jahren

Merf: Und warın find Sie geboren?

Betty: 1870

Merk: Haben Sie Kinder?

Betty: Eind. Aber

Merf: Und wie heißen Ihre Kinder?

Betty: Lenchen. Aber im uͤbrigen

Merk: Was haben Sie daber gedacht, ald Sie es zur Welt brachten?

Betty: Aber ic bitte Sie

Merf: Womit haben Sie av verbracht?

Betty: Aber verehrter M

Merk: Haben Sie ſich als gläcliher gefühlt, als Sie fich jetzt ala grau füblen?

Betty: D gewiß aber

Merk: Steben Sie mit Ihrem Manne nicht gut?

Betty: O doc, aber verehrter Meifter

Merf: Was ift Ihr Mann?

Betty: Rechtsanwalt; aber

Merf: Wo wohnen Sie?

Betty: Meue Strafe

331

Merk: Wohnen Sie fhon lange da? Betty: Wir wohnen feit dritthalb Jahren da aber, verehrter Meifter Merk: Gedenken Sie nody lange dort wohnen zu bleiben?

* Betty: Das kann ich Ihnen nicht ſo ſagen; denn aber ich bitte 3

Merk: Haben Sie Zentralheizung?

Betty: Mein

Merk: Pflegen Sie jeden Tag auszugeben?

Betty: Aber um Gotteöwillen

Merk: Wie heißt die Schneiderin, bei der Sie arbeiten laffen?

Betty: Aber

Merf: Sind Sie Berlinerin?

Betty: Ja natürlich, aber

Merf: Und was tun Sie, wenn Sie ed nicht mehr find?

Betty: Ich verftehe Sie nicht

Merk: Ich meine, glauben Ste an Gott?

Betty: Wie fol ich Ihnen darauf fo fehnell antworten? Aber

Merk: Wieviel Künftler haben Sie fhon interviewt?

Betty: Sehr viele, aber

Merk: Und wie find Sie fi immer dabei vorgefommen?

Betty: Sehr geehrt; aber

Merf: Sie find wohl durch und durd Anhängerin des modernen Sournaliömus?

Betty: Ja. Aber, Meifter, ih

Merk: Welhen Sournaliften lieben Sie am meiften?

Betty: Ich möchte feinen Namen nennen

Merk: Haben Sie zu feinem ein nähere Verhältnis?

Betty (reißt den Mund halb auf)

Merk: Darf ih mir Ihr Gebiß auf einen Augenblick ausbitten?

Betty (erhebt ſich halb): Oh, verehrter Herr Meifter Ihr Intereffe für mich iſt zu ſchmeichelhaft

Lumpi (fpringt von Merks Knie herunter): Um Himmeldwillen, Schadi! Du folft ja um elf auf der Probe fein!

Merf (nimmt die Uhr heraus): Donner und Doria! Ja, nicht wahr, da entfchuldigen Sie ſchon, liebe Frau aber ich weiß ja Ihren werten Namen no gar niht —?

Betty: Betty Obnefcham.

Merk: Alfo, gefhägte Frau Betty Obnefham nicht wahr, Gie entſchuldigen?

Betty: Oh, Jacques Merk bat nicht noͤtig, ſich irgendwie zu ent⸗ ſchuldigen! Auf Wiederſehen, verehrter Meiſter! Empfehle mich, gnaͤdige Frau!

Das Ehepaar: Adieu. Adieu.

(Betty und Merk nach entgegengeſetzten Seiten raſch ab)

WVorhang)

382

„Berliner Theater“

Dr Bändchen ift flr Hand Oft- walds „Großftadtdofumente”

von Walter Turdzindfy verfaßt. Der Verfaſſer ift weder ein Künftler noch ein Kritifer, weder ein poetifcher noch ein pbilofopbifher Kopf: er ift ein Sournalift. Willi Handl hat hier neulich dargelegt, was ein „Sournalift” als folder eigentlich für ein Weſen fei, und ift etwa zu dem Mefultat ge= fommen: der unperfönliche Diener der Öffentlichen Neugier. Es fei mir ver- gönnt, died gute Nefultat auf einem andern *7* zu erreichen: vom, ſo⸗ zufagen, „Afthetifchen” aus. Denn der Journalismus ift Doch auch ein Form⸗ problem; er bedient fich desjelben Materiald wie Dichtung und Fritifche Wiſſenſchaft: dermenfchlihenSprade. Es muß alfo möglid und aufſchluß⸗ reich fein, das befondere Formprinzip des Journaliſten abzugrenzen. ,‚‚zorm“- Prinzip ift freilich ſchon zuviel gefagt, denn fo liegt der Sachverhalt: Kritiker und Dichter formen, geftalten die Sprache; Sournaliften nehmen, be= nußen fie. Jene eigentlih Produf- tiven dienen im legten irgend einer tiefen Reidenfchaft, die fie nad) Macht über die Seelen zu trachten heißt. Deshalb geftalten fie die Sprache zu einem Guggeftiondmittel um. Der ‚Dichter ſetzt die beftehenden Worte in einen Rhythmus und in Kombi» ‚nationen, daß ganz neue, ſinnlich be= jaubernde Wirkungen entfteben; der Kritiker loͤſt das vorgefundene Begriffs⸗ zeichen analytiſch auf und ſucht durch neue Raufalverfettung der Sprad- elemente logifhen Zwang zu üben. Beide find Gewaltherrſcher über Die prache, weil fie über Menfchen Herr-

Nudſhau

ſchermacht begehren. Der Journaliſt aber iſt Diener Diener des Publi- kums, dad ungendtigt weder erfennen no fühlen, fondern nur hören will, und deshalb auch Diener der Sprade. Denn da nichts, als fchnellverftanden zu werden, fein Ziel ift, formt er die Sprache nicht zu irgendwie neuem Gebilde; er nimmt fie mit all ihren Konventionen, ihren fertiggeprägten, langumlaufendenBerfehräzeichen. (Die ſcherzhaft befannten ftereotypen Zei- tungsphraſen find die leicht erfennt- lihe Driginalitätsfhminfe auf den Wangen diefer Trivialität.) Der Jour⸗ nalift fann, da Meued im ftrengen Sinne janur,ganz ausfchließlich, durch neue Worte gefagt werden kann, alfo auch nie etwa wirflic; Neues, etwas dem Weſen nad) „Produftives” fagen. Er fann nur auf dem Niveau der beftehenden Weltanfchauungsfonven- tion, die im Kern für ihn fafrofanft ift, neue Inhalte ausſprechen. Er be- richtet Tatfachen: der „Reporter“ ift die Grundform des Sournaliften. Er dient, fprachfritifch betrachtet, weder dem Trieb finnliher Lebensſteigerung nod) dem Trieb der Erkenntnismehrung durch Worte, fondern dem, was Frig Mauthner dad Schwaßbedürfnid der Menfchheit nennt.

AU died mag nun vielleiht fehr abſchaͤtzig Flingen, ift aber rein fachlich als eine, auch im Intereffe der ſprachlich Produzierenden nötige, Abgrenzung von Wirfungdweifen gemeint. Im übrigen fchiene ed mir fehr töricht, aus dem Wort Journaliſt“ mit lite rarifhem Hochmut ein Scheltwort machen zu wollen. Die Neugier oder dad Schwaßbedürfnid des Menſchen ift ein fo gewaltiger Faftor unfers

Lebens, daß fie ihre Diener unmöglich miffen kann. Der Sournalift erfüllt eine notwendige und damit berechtigte foziale Funftion und ift in feinem Be⸗ ruf fo unverwerflich wie der Bankier, der Ingenieur oder der Arzt. Und wie in jedem Beruf, gibt ed auch innerhalb des Journalismus gute und ſchlechte Funftionäre. Denguten Jour- naliften unterfcheidet vom ſchlechten zunächft der Flare menfchlihe Anftand ; daß er nämlich mwirflid mie von ihm erwartet der Neugier, dem Stoffintereffe ded Publikums und feinem Privatintereffe dient, daß er dad feiner Meinnung nad) allgemein Sintereffante, nicht das ihm oder andern Privaten Nügliche zum Gegenftand feinerMitteilung macht. Sodann, daß er an dem feiner Berichterftattung zu= gewiefenen Kreis felber einiges Inter- effe bat. Died Intereſſe, Died Gern- verweilen im VBeftebenden, ift etwas völlig andres als die leidenschaftlich» revolutionäre Anteilnahme eines Scaffenden, die nie den beftebenden Dingen, fondern deren Wefendfern und deſſen Entfaltungsmoͤglichkeiten gilt. Dieſe Leidenſchaft bleibt dem richtigen Journaliſten ſtets eine be— laͤchelnswerte Jugendlichkeit oder ein weltunkundiger Fanatismus. Aber ein gewiſſes Sachintereſſe des guten Journaliſten iſt doch Vorausſetzung für ein einigermaßen umſichtiges Sam⸗ meln und lebhaftes Mitteilen der Fak⸗ ten. Scließlih wird der gute Jour⸗ nalift, im Unterfcdjied zu dem nur allzubäufigen ſchlechten, nicht unter, fondern auf dem Niveau der beftebenden Bildungskonvention ſich bewegen und wird deshalb ſprachlich ein unſchoͤpferi⸗ fches, aber foweiter fic) in den Schran- fen eines Mitteilenden bält, „gutes“ Deutſch fchreiben.

In al diefen Beziehungen tft die vorliegende Schrift das typiſche Buch eines guten Journaliften. Eines Jour⸗ naliften : hberall, wo der Verfaſſer fich

334

auf das Gebiet Fünftlerifcher Nachbil⸗ dung oder Fritifcher Wertung wagt, verfagt er völlig. Was er im erften Kapitel uͤber das Verhältnis deö ber» liner Sheaterbetrieb8 zur Volkswirt⸗ ſchaft fagt, ift ebenfo oberflächlich, wie das, was in den folgenden Kapiteln iiber das Verhältnis diefed Betriebs zur Runftgefagt wird. Einepbyfiogno- mie= und begruͤndungsloſe Reproduf- tion der anftändigern Durchſchnitts⸗ meinung. Dem Unterbemußtfein des Verfaſſers ift bei diefer Arbeit auch erfichtlich nicht wohl fein Stil wird im funftlofeften Sinne des Wortes „nervoͤſs“, das heißt: er verftricht ſich in langen, ftolpernden Sägen, in muͤh⸗ famen, unfchaubaren Bildern. „Ein Sprahrobr und ein Portrait des Inhalts diefer Tage geben‘ oder: „ſich dabei begeben, feſtzuſtellen“ und: „Anna Schramms ihrem Alter weit vorauß eilende (!) Beweglichfeit‘ (dad Gegenteil ift gemeint). AU dies und fehr vielmehr paffiert dem guten Fournaliften, der fi aus feinem Ge- biet wagt; der ohne Kraft zur Abftraf- tion Prinzipielled fagen fol. Faft im- mer bleibt er amBeifpiel haften: ftattder wirtfchaftlihen Analyfe des Theater be⸗ triebs gibt er Anekdoten von den letzten Kraͤchen, ſtatt einer allgemeinguͤltigen Beleuchtung der Buͤhnengenoſſenſchaft einen mit allen Details gefüllten Be- richt ihrer leßten®eneralverfammlung. Wie ein Epigramm auf diefen ganz am Gegenwärtigen, am Bericht von geftern baftenden Journalismus wirft derangebängte ‚Wegweifer Durch Ber- lind Theater‘, der natürlich ſchon bei Erfcheinen des Buches (dad eben fein Zeitungeblatt ift!) völlig veraltet war.

Aber kaum betritt der Verfaffer fein Gebiet, kaum erzählt er ohne Am- bitionen von allerlei erlaufchten und gefebenen Dingen, fo ändert fid) das Bild. In einem flotten, einwande- freien, unterhaltfamen Deutſch berich- tet er von Blihnenbällen und Schau

fpielerfneipen, von „guten und ſchlech⸗ ten Gagen“ und „judiſchen Theatern‘. Er plaudert allerlei Wiſſenswertes oder doch Amuͤſantes uͤber den Bühnenklub, die Theaterjchule, den Agenturbetrieb, dad Mimen-Kaffeehaud. Man freut fih an dem warmen Intereſſe des Verfaſſers für diefefleine Sonderwelt; man billigt manche feinergefheuten®e- merfungen (wie den Proteft gegen die bafardiftifcheEntwidlung des Buͤhnen⸗ klubs) von Herzen; man genießt ohne Widerſpruch dieſe offenbar wohl orien⸗ tierten und huͤbſch geſchriebenen Berich⸗ te. Da dieſe gutjournaliftifchenKapitel die entfchiedene Mehrzahl im Buch bil» den, fo entfteht eine Schrift, die im Sinne einer intereffanten Material» fammlung wohl ald Großſtadtdoku⸗ ment in theatralicis gelten fann. Julius Bab

J. J. Davids Gefammelte Werte m 20. November ded abgelaufenen Jahres ift der wiener Dichter J. J. David entfchlafen. Reich an Leiden, ift fein Leben aud) reih an Ertrag gemwefen. , David war fein Kind des Über—⸗ fluffes, leichtes und gefälliged Spiel war ihm verfagt. Sein Pflug griff tief.” Seine Hand warf langfam- feimenden Samen. Er mußte ſich nicht in den Wanfelmut der Menge einzufhmeihheln. Die aber einmal feined Weſens Kraft und berbe Ehr⸗ lichfeit erfahren, müffen ihm flır immer treu bleiben; feinem Werf, dem feine launifhe Mode etwas gab, kann feine Laune der Zeit etwad nehmen. Modern im beiten Sinne des Worte, ward David von der res aliftifchen Bewegung des ausgehenden neunzebnten Jahrhunderts getragen. Aber dad äußerlich ſcharf Erfchaute ward in feinemreichen®emüt verinner- licht. Vermochte er, wie faum ein andrer neben ihm, im zeitgenöffifchen

Noman das Bild feiner lieben Stadt Wien mit ihren Typen und ihren Sonderlingen zu zeichnen, fo führte der Erzähler David auch in die heimat- liche mäbrifche Ebene, die Juſammen⸗ gehörigfeit des Menfchen mit dem angeftammten Boden, die Abhängig- feit von den Stimmungen der Rand- ſchaft ſehend und deutend. Auch treten die biftorifchen Geſtalten, die er in feiner Frühzeit rief, ald Zeugen des⸗ felben feiten und mannhaften Sinnes neben feine modernen Menfchen.

Der Wortfarge erſchloß fih in feinen Gedichten, von denen bid- ber nur ein Fleiner Teil veröffentlicht wurde. Innig oder berb drang der Ton aus Davids Eigenart. Es er- wies fi), daß fein Ohr, an welches das Geraͤuſch des Tages nur gedämpft ju dringen vermochte, melodifchen Klängen zugaͤnglich war, daß der hart um die Geltung ded Worted Ringende die Sprache meifterte.

Es war der lebte Wunſch des Dichters, feine Werfe, wie fie inner- lich zufammengehödren, auch aͤußerlich vereint und gefammelt vorzulegen. Er follte ed nicht mehr erleben. Uns aber, denen er felbft feine literarifche Hinterlaffenfhaft anvertraut bat, ift ed nicht nur lieb, diefem Wunſch Rechnung tragen zu fönnen, es dimft und aud ein Gebot innerer Not— wendigfeit, einem der hervorragendften und ernfteften Vertreter modernen deutfchen Schrifttums in der Gefamt- beit feiner wefentlihen Schdpfungen das bleibende Gedächtnismalzu fihern.

Die Ausgabe der gefammelten Schriften 3. 3. Davids, zu deren Subffription wir biermit einladen, ift gleichzeitig durch dad Entgegen- fommen des Verlegers beftimmt, den Hinterbliebenen den Arbeitdertrag des Verftorbenen zu fihern. Die Ber- ehrer des Dichter und alle, die für moderne Fiteratur Her; und Ver— ſtaͤndnis haben, bitten wir, durch ihre

335.

Teilnahme an der Subffription das dieſer Ausgabe zu dern

Berlin und Wien, im Februar 1907 Oscar Bie, Emil Frankl, Ernſt Heilborn, H. Gluͤcksmann, Erich Schmidt, Aler von Weilen

Die Subſtription verpflichtet zur Abnahme des ganzen Werfes. Einzel- baͤnde fönnen nicht abgegeben werden. Der Preid ded vornehm —— Bandes betraͤgt ſechs Mark oder ſieben Kronen, zwanzig Heller. Der erſte Band ſoll im Juni 1907 erſcheinen, die ganze Ausgabe in ſechs Baͤnden ſpaͤteſtens im Juni 1908 fertig vor⸗ liegen.

Die Bände werden den Subſkri— benten jeweild nach Erfcheinen unter Nachnahme ded Betrags direft zu-

geſtellt. Die Subſkriptionserklaͤrung iſt zu adreſſieren an Herrn Dr. Ernſt Heilborn, Berlin W., Kurfuͤrſtenſtraße 88.

Die Preſſe Der Gott der Rache

Berliner Lofalanzeiger Ich glaube nicht, daß in Herrn Aſch ein Dramatifer erwachfen wird, der der Buͤhne Schöpfungen von feftem Geflige, von padender dichterifcher Gewalt geben wird. Aber das Klein- Genre und die Rlein-Charafteriftif des Milieus, das ihm vertraut iſt, wird ihm ficher gelingen. Dem Gegenfaß der ehrbaren Prüderie, die in der amilie des Beſitzers eines unfaubern aufed zur Erfcheinung fommt, hat 30la in „La Terre“ den einzig denf- baren Ausdruck gegeben, den der Ko— mif. Bei Schalom Aſch wirft die wider- wärtige Szenerie des öffentlichen Haufes geradezu abftoßend, fo daßder tragifche Ernft feine tiefe Wirfung hat.

Täglihe Aundſchau =

Ein fo widerwärtiged Milieu im hellen Licht der Buͤhne zu behandeln, ohne in die Sadgaffe trübfter Elends⸗ malerei zu geraten, oder, verlockt zu umftändliher Wirklichfeitötreue, im Zufhauer Widerwillen zu erregen, ift ein beachtenswertes Zeichen: Fünft- lerifhen Bermögens. Die Klarheit der Linienfuͤhrung, der fchlichte dramatiſche Aufbau, die fihere Hervorkehrung des Wefentlihen find weitere Borzlige des Werkes, dad von dem Verfaſſer noch Beſſeres erwarten läßt, wenn fich fein Anfhauungsfreis erft erweitert bat. Ein Großer ift er nicht, Fünftlerifche Dffenbarungen haben wir faum von ihm zu erwarten. Eine vielfach grob- förnige Mechanif, die Durdfichtigfeit des ganzen Planes, ermuͤdende Wieder- bolungen Fleiner Züge und eine allzu deutliche Anlehnung an die Shylod- Jeſſica⸗Vorlage beeinträchtigen ftarf die Afthetifche Wirkung. Und flreift man die bunte Hülle von dem Drama : dad eigenartig-fremde und darum inter- eſſante Milieu, fo bleibt ein immerhin noch fehendwerteß,aber keinesfalls her⸗ vorragendes Theaterftüd uͤbrig.

Berliner Börfencourier

Schalom Aſch ift der Mann derderb zupackenden Fauſt. Sein Stüd ift dem Inhalt nad) ebenfo brutal, wie der Durhführung nad ein Theater- ftüd mit Theatereffekten, grobſchlaͤchtige Mache. Und dann wieder unter der Spreu ein echtes Weizenkorn: Irgend⸗ eine Szene, die auf Koͤnnen deutet, die jart abgetönt, mit ſorglichen Ueber» gängen angelegt ift. Die Poft Es ift ausdrücklich feftzuftellen, dag das jldifchedirnenbafte, uͤbrigens mit einer verdächtig raffinierten Technik ges arbeitete Borftadtdrama im Deutfchen Theater unter der glorreihen Diref- tion Reinhardt gefpielt wurde, und daf am Schluffe byfterifche Zünglinge und

Zungfrauen durch Fohlen undKlatfchen einen großen Erfolg marfieren wollten undin naiver Verzuͤckung Herrn Scha- (om Aſch poetifhe Blumenfträußchen zumarfen. So fand die juͤdiſch⸗ dirnen⸗ bafte Sache das rechte Publikum.

Berliner Tageblatt

Mid; dinft, daß bier eine drama⸗ tiſche Naturfraft ftedft, die, von Haufe aus gefund, das Ungefunde glaubt nahabmen zu müffen mißbildet vielleicht durch fchlechte Lektüre; man weiß ja, wie diefe Ghetto⸗Bewohner mit ihrer ungeheuerlich ftrebenden Energie, wenn fie ſich erfteuropäifieren, wahllos alles Gedrudte verſchlingen. Aber die Quelle des Empfindend und Geſtaltens in diefem Züngling ift wohl echt und ftarf, und nur wir Gelbf, wir body und immer höher Kultivierten, find fo zimperlicy geworden, daß wir jede Wucht auf der Bühne als eine Laft, jedes ftarfe Geſchehen ala ftören- den Choc ſpuͤren. Schalom Aſch hat nur eines zu tun: diefe unverbrauchte Kraft, die viele von und bemängeln, weil fie fie felbft nicht befigen, hat er

zu wahren, aber auch zu veredeln.

Rreuszeitung

Ein paar grelle Streiflichter fallen in die feelifche Nacht der Auswuͤrflinge, in denen Recht und Unrecht fich ver- wirrt, ein paar Worte aus armen ver⸗ tierten Herzen finden den Weg zu den unfrigen. Daneben aberüberwiegt der Widerwille und oft auch die Lange- weile. Dem Verfaſſer war das juͤdiſche Milieu geläufig ; darum wählte er es. Dramen, wie diefes, fpielen fid) genau ebenfo an den Grenzen Hollands wie über dem Ozean ab. Mit der Pfycho- logie des Zudenvolfes haben fie nichts zu tun. Aber mit dem polniſch⸗ juͤdiſchen Milieu ift mehr Senfation zu erzielen.

Berliner Morgenpoft Ein eindeutiged und fentimental« weinerlihes, unter dem Patronat der

Birch⸗ Pfeiffer und der franzöfift Comedie larmoyante aͤußerſt buͤh⸗ nengeſchickt gemachtes Stüd, das einen genrebildhaft feingetoͤnten erſten Aft, einen langweiligen, wie es heißt, von der Zenſur verſtuͤmmelten zweiten und einen ſchlechten dritten Aft hat.

Norddeutſche Allgemeine Zeitung

Ohne Zweifel befigt Herr Aſch, namentlich feinem weftlihen Konkur⸗ renten Heijermand gegenüber, guten Blhnenfinn und Blic flrdas Weſent⸗ liche bei Einzelheiten. Aber die Kunft der innern Berleitung ift ihm nod) verſchloſſen.

Nationalzeitung

Schalom Aſch hat noch keine meſſia⸗ niſchen Zeiten gebracht; er hat manche Innigkeit und Geſchicklichkeit verraten, die ihm gedanft ſeien. Im ganzen aber hat er gruͤndlich enttaͤuſcht und die deutſche Kunſt nicht mit ſeinem juͤdiſch⸗ deutſchen Werk bereichert.

Voſſiſche Zeitung

Der ganze Mann mit ſeinem Vor⸗ ſatz, ſpaͤter einmal, wenn er Geld genug hat, mit Pferden anſtatt mit Maͤdchen zu handeln, mit feiner rheto⸗ riſch breiten Glaubensſophiſtik, die ſich in zahlloſen Wiederholungen gefaͤllt, mit der mechaniſchen Zweiteilung in ſeinem Weſen, iſt eine grell gepinſelte Theaterfigur, an der man kein tieferes Intereſſe nimmt. Auch ſonſt ſpringt aus dem angehaͤuften Schmutz, der die Sinne belaͤſtigt, kein ſeeliſcher Alzent hervor; nur ein paar Striche der Dirnendharafteriftif, die bei Gon- court, Zola und andern ranzofen in die Schule gegangen ift, bezeugen eine Art von Talent, die aber noch gan; in der Roheit ſteckt. Der Autor hätte viel nötiger, ſich felbft zu entdeden, ald entdecft zu werden, und um dad zu können, müßte er vor allem viel verlernen. Bor der Hand ift er nicht der Mann, und uͤber dad Thema:

387

Gott und die Bajadere etwas Wefent- liched zu fagen, und durch das „tiefe Merderben”, das er bid zum Eindruck des Efeld audmalt, ſieht man nicht dad „menschliche Herz“.

Der Tag

Der Griff ift hoͤchſt unanfechtbar doch Schalom Aſch „bat“ ed nidht. Hier nit. Er ift im beften Fall... beinah feffelnd. Es bleibt da8 Gefühl: ein Literat. Man wird darum noch zum Dichter nicht, weil es in Kaliſch Bor- delle gibt. Man wird darum noch zum Dichter nicht, weil der uralte Juden geift und Thora-Glaube gewaltig, in⸗ fommenfurabel, ſchauerlich⸗groß if. Ah enthüllt fi) eben darum als ein Fleiner Poet, weil er von ſolchem Geift feine tiefern Erſchuͤtterungen gewinnt.

Deutſche Zeitung

Das, was fid) da abfpielt, ift allen- falls ein beflagenswerter Unfall, ein Mißgeſchick, ein Verhängnis, aber bei- leibe fein Drama! Um Sfernemwije und und Piotskow mag dad wunder mie poetifch fein, und würgt dabei nur der Efelim Halfe. Ich haͤtte nicht das uͤber⸗ legen ironiſcheLaͤcheln ſehen mögen, mit

dem die Reinhardtſchen Dramaturgen das beifeite gefchoben hätten, wenn der Bringer folder Gaben fi Karl Müller aus Halberftadt und nicht Schalom Aſch aus Myslowitz oder Ezeftohoma genannt hätte.

Deutfche Uraufführungen

7.3. Hand Werdmeifter: Das Beifterauto, Einaktiger Schwank. Berlin, Figaro.

KurtFriedberger: Das Gluͤck der Vernuͤnftigen, Wiener Buͤrger⸗ komoͤdie. Wien, Raimundtheater.

Felix Philippi: Pariſer Schattenſpiele, Fuͤnf Einafter. Wien, Kleines Schauſpielhaus.

8.3. Freiherr von Weftenhol;: Prüfung, Schaufpiel. Eßlingen, Stadt-

theater,

Eblerd » Alftertbal: Ums Lepte, Einaftiged Schaufpiel. Ham⸗ burg, Scillertheater.

9.3. get Kublbrodt: Tolle Streihe, Luftige Komddie. Guben, Stadttheater.

12.3. Anna Haverland: Adam Afper, Einaftiges Luftfpiel. Dresden, Königlihes Schaufpielhaus.

Aus dem Inhalt der nächften Nummer: Hauptmann jenfeitd vom Naturalidömus/ von Franz Servaes

Eyrif] von Chriſtian Möorgenftern

Komddien und Komdden/ von ©. 9.

Frau Dufe/ von Alfred Polgar

Moderne Sflaven/ von einem Clown Sechs Kapitel Schaufpielerelend I

Einleitung [II Der Vertrag Theateragenten

V Abhilfe

Intendanten und Direktoren Deutfhe Blhnen-Genoffenfhaft Künftlerifhe und wirtfchaftlihe Konkurrenz der Bühnenfünftler

Beifall und Hervorruf Kritif NRegie-Autofratie] Die Talentprobe/ von Robert Walſer

Kasperletheater (Theatartarennachrichten vom 1. April 1907)

Rundſchau

Berantwortlich für die Redaktion: Siegfried Jacobſohn, Berlin SW. 19 Berlag von Defterheld & Co. BerlinW.15 Drud von Imberg & Leffon, BerlinW.9

4. April 1907

III. Jahrgang Tiummer ]4

Hauptmann jenfeitd vom Naturalidmus/ von Franz Servaes

it wir die ſchoͤne Geſamtausgabe der Werke Gerhart Hauptmanns Sie fie ift im Verlag von S. Fifcher erfchienen baben

wir zum Schaffen dieſes Dichterd eine neue Diftan; gewonnen. ir überfchauen eine große, in ſich abgefchloffene Wegftrede, und wir er- balten einen gewiffen Eindrud von Totalität. Vorher, in der Hige und Eraltation ded Kampfes um jedes einzelne Werf, bewegten wir und not» gedrungen in Extremen. Wir baben jeßt die Möglichkeit einer innern Sammlung und einer gerecdhtern Überfchau. Und mit größerer Deutlichkeit ald vorher dürfen wir und fragen, wad Hauptmann und bedeutet. Worin er und über den Alltag binausführt. Und worin fein Anſpruch begründet liegt, ein dauerndes nationales Beſitztum zu fein.

Wir erfennen ald das Tieffte im Dichter Gerhart Hauptmann die Univerfalität feiner Empfindung und Darftellung menſchlichen Leidens. Alles Leid aber will Erlöfung. Und wir werden und fragen dürfen, welcherlei Elemente der Erlöfung vom Leid und in der Dichtung Hauptmanns ent- gegenleuchten. Was ftebt bei ihm als „Höcftes“ jenem „Ziefften“ gegenüber?

Leid it VBedrängtheit der Materie. Die Überwindung des Leids wird alfo nur durch eine Überwindung der Materie zu erlangen fein. Bei einem Dichter, der dad Materielle, Irdiſche unſers Dafeins in feine feinften Elemente zu zerlegen vermag und mit einer gefteigerten Kraft und Reinheit mwider- fpiegelt, erhebt ſich demnach die Frage, welcherlei Macht er befigt, um über die natlrlihen Schranken folder Kunftübung und Weltbetradhtung binaus- zuwachſen. Mag er die Bedrängtheit und Enge fchildern, mit der innigften Berjenktheit und Durchdrungenheit in ihm felber wollen wir jene Delle und Weite fpüren, die Drud und Gram durch lebendige Seelenfräfte wieder aufbebt. Wenn der Dichter mebr ift als ein aufs feinfte arbeitender Regiftrier- apparat, fo wird er alle Kunft der finnlihen Wiedergabe nur ald ein Mittel zur Deutlichmachung hberfinnliher Einblide und Erfenntniffe zu werten wiſſen.

339

Wir wollen bejcheiden zu Werfe geben. Was iſt wohl der einfachſte Gegenfag zur menfchlihen Leidempfindung? Was ift die primitiofte unſrer Gaben, um dad Drudgefühl in und loszuwerden und und zu freierm Aud- blick auf eine böhere Warte zu geleiten? So einfach und primitiv dieje Babe erfcheinen mag, fo ſchwer und felten wird fie doc erlangt. Es ift die Heiterfeit ded Gemuͤts, es ift dad Laden, der Humor.

In jedem Humor liegt eine Überwindung der Materie, eine Abwendung von ihr. Darum ift der Maturalift firengfter Obfervanz, Zola etwa, geradezu grundfäglich ohne Humor. Er mauert fich ein in das dunkle Gelaß ſachlich⸗ objeftiver Weltbetrachtung, die Dinge follen in feiner Wiedergabe fämtlich fo erfcheinen, „wie fie find”. Bon ber theoretifhen Verblendung diefer For⸗ derung fei bier ganz abgefeben, wie auch von der baren Unmoͤglichkeit ihrer Erfüllung. Aber felbit ald „Ideal“ genommen, erfcheint fie unbaltbar. Ihre Grundvorausſetzung wäre eine totale Ausfhaltung der Perfönlichkeit. Und ihr letztes praktiſches Ziel Fönnte nichts andres fein ald eine mechaniſche Reproduktion. Hier fchlägt der Humor aufs wirfjamfte eine Brefhe. Er ift nicht geradezu antimateriell, aber er ift gleihfam unmateriell. Er ftebt ganz außerhalb der Frage nach Forrefter, realiftifher Beſpiegelung. Er ift eine Form der fubjeftiven Beleuchtung, die ſich ebenfo leicht auf gaͤnz⸗ lich Phantaftifches, wie auf die Erfcheinungen der von uns fo genannten „Rebens- wirflichfeit” erſtreckt. Ja, er nähert diefe beiden Kreife einander; er laͤßt das Phantaftifhe wahr, das Wahre phantaftifch erfcheinen; und beides mit voller Abficht. Hiermit ift Die naturaliftifhe Doftrin durchlöächert, die Feſſel der Materie gefprengt.

In Hauptmannd poetifhe Schöpfungen ift der Humor nur allmählich eingedrungen, bat ſich fporadifch entwidelt, manchmal mit fhönem Erfolg, ift jedoch nie zu jener beglüdenden Sonnenhoͤhe gedieben, wo er das Leben gleihfam lachend unter fich beugt. Hauptmann ift zu bedenfenreich, zu innerlich forgenvoll, nicht leicht und wicht frei genug, um jener organifchen Lebendheiterfeit fähig zu fein, die den Humor (mie etwa bei Shafefpeare) voll triumpbieren läßt. Immerhin ift er ein wertvolled Gut feiner Perfönlich- feit. Stlnde diefe Fichtgeftalt nicht neben ihm, des Lebend Abgründe befäßen über ihn allzuviel Macht. Dann wuͤrde jener „ftarre Zug refultat- lofen bobrenden Grübelns“, den er in den Gefichtern der fchlefifchen Weber fharfäugig las, feinem eigenen Antlig eingefchrieben fein und darin dominieren. Dann würde er von fich fagen müͤſſen, wie fein geiftiger Bruder, der Florian Geyer: ‚Der nagende Hund liegt mir unterm Herzen, dieweil ih zu leben hab.” Ohnehin fcheinen diefe Worte auf Hauptmann vielfad) zu paffen. Aber durh den Humor bat er deren fatale Wucht gebrochen.

Kunftmäßig verwendet, ob auch fparfam eingeftreut, begegnet und der Humor bei Hauptmann zunächft in den „Webern“. Wenn der alte Baumert fih feines Gluͤckes ruͤhmt, weil „ein Edelmanndfreffen in feinem Vaud) ſteckt“ oder wenn der Jäger-Morig mit feinem „feinen Sprechen” prablt, das er ſich „aſo angewehnt“ bat, daß ers „gar nimeb loo’n kann“; und

340

felbft Zauch wenn frau Dreißiger bei der Stürmung des Haufes in paniſchem Schred dem Kutfcher mit „liebfter, befter Johann!” um den Hals fällt und fidy von ihm abfchleifen läßt: dann zwingt und der ruͤhrend⸗komiſche Kontraſt ded unfähigen Verhaltens der Menfchen zur Schickſalsſchwere der Situation ein befreiendes mitleidiged® Lächeln auf die Lippen. Es ift nur ein huſchendes Aufbligen von NHeiterfeit, dad und durdhfliegt, aber es jer- teilt doc die dicke, ſtickige Atmofphäre und wirft dadurch erleihternd. Daß die angeführten Momente gleichzeitig einen hohen Grad von Lebensechtheit haben, fällt hier nicht ind Gewicht. Micht hierin fo fehr liegt ihr kuͤnſt⸗ ferifcher Wert, ald vielmehr in der bewußten Abdämpfung und Durch⸗ kreuzung einer Stimmung, die ohne fie etwas Erwuͤrgendes haben würde.

In deutlicherer Frontitellung zu den Theorien ded Maturalidmus ftebt der Humor in „College Crampton“. Miemand, der die wahre Matur der Potatorenfranfheit fennt, wird an die Heilung Cramptons glauben. Jedoch der Humor, der diefe Geftalt durchftrömt, überredet und dazu, das flr moͤglich zu halten, wa® in Wahrheit unmoͤglich if. Im Innerften find wir bier wohl keineswegs gläubig, aber wir find fo pridelnd angefuͤllt mit den heitern Zügen einer firogenden Vitalität, daß wir zu jeder optimiftifchen Auffeffung uns leichtfertig bereit erklären. So befiegt auch das beftechende Humorgewebe um Mutter Wolffen jeglichen nathrlihen Widerwillen, den wir gegenüber diefer Lügnerin, Heuchlerin, Diebin und Betrügerin im realen: Leben und bei „objeftiver” Betrachtung empfinden würden. Bir ſchauen diefe Geftalt „durch die Brille“ ded Humors, und fie erfcheint und geredht- fertigt, ja liebendwert.

Die Grenze im Humor Gerhart Hauptmannd zeigt fi) (von den miß- glüdten „Jungfern vom Bifchoföberg” ſehe ich ab) befonderd in den Märhendramen. Hier war dem Dichter fachlich feine Schranfe gefest; aber er fand die Schranfe in der Begrenjtheit feiner Natur. Am. deut- lihften in „Schluck und Jau“. RNichts fand äußerlih im Wege, daß diefed Stüd eine Dichtung der allbefiegenden Lebensheiterkeit hätte werden fönnen. Es ift das nicht geworden. Die innere Kraft des Gelaͤchters ift dazu bei Hauptmann nicht ftarf, nicht urfprünglih genug. Er kann ſich der umdüfternden Schatten, die über feine Seele fliegen, nicht völlig er⸗ wehren.

Ich nenne eine zweite Leidbefchwörerin: die Liebe.

Die möge und bier lediglich nad ihren feelifhen Eigenfchaften befchäf- tigen, ald die vom Menfchen erichaffene Sublimierung dumpfer tierifcher Triebfräfte, ald das Meiſterſtuͤck feiner Dichterkraft, durch das er die chantifche Natur zähmt und veredelt. Hierdurch wird die Liebe flır fein feelifches Dafein zu einer holden Zaubrerin und Glückſpenderin, die ihm unermüdlich neue Welten heraufbeſchwoͤrt und mit den beftridendften Trugfarben an- malt. Und fie wird ihm zur Erzeugerin Flhner neuer und fchöpferifcher Impulfe, die ihn zu hohen Leiftungen und ftoljen Gefinnungen empor-

341

reißen, indem fie den legten Neft von Kraft in ihm entbinden. Man möge etwa am Debhmeld „Zwei Menſchen“ denfen, un der Fülle fleigernder Gemütöbefruchtungen, die bier liegen, inne zu werden.

Was zeigt bei Hauptmann die Liebe von der Seite diefer in ihr fhlummernden Kraft? Im ganzen recht wenig. Im ganzen birgt fie, wie bei den meiften Modernen, mehr einen Fluch in fi und ein Verhängnis ald eine Erlöfung. Betrachten wir „Elga”, das hierfür typifchfte Drama. Die Liebe ift hier ganz an die Materie gebunden, und die Materie wirft jerftörerifh. „Sie tanzte, tanzte, tanzte auf eine qualoolle Weife vor mir”, erzählt Starſchenski von feiner Traumpvifion eines nadten Weibes und damit ift alled gefagt. Der Tanz wirft beruͤckend, und diefe Berudung wird zur Qual wie alles, was VBefeffenheit bedeutet. „Ce qu'on aime avec violence, finit toujours par vous tuer“, hat Maupaffant einmal gefagt. Und menn in diefem Falle auch Starfhendfi felber der Tötende ift, ſeeliſch iſt demnach er ed, der ermordet wird. Er gab feine innere Freiheit an diefed Weib dahin, und fo geſchah ed mit Motwendigfeit, daß er mißbraudht wurde. Dad Weib trifft daher feine Schuld. Es tat, mas feine Natur ihm gebot. Wie ed im Liede heißt: „Ich bin ein wilder Vogel, und fahre daher.” Keine abgefeimte Vetrügerin ift Elga. Sie liebt Starſchenski und Oginski zugleih. Sie liebt den, in deffen Armen fie gerade liegt. Und fie bedarf der Abwechſelung. Beide Männer vernichtet fie. Sie fann nicht anders.

Eine peffimiftifche Metaphyſik der Fiebe, und nichts von Erloͤſung. So liegt auch üͤber Nautendeleind Liebe der Schatten eined Verhaͤngniſſes. Sie möchte befeeligen und muß vernichten. Sie ift ein „elbifches Weſen“. Dies ift ihr Fluch.

Dann aber Dttegebe. Die ift ganz und gar ald „Erlöferin” gedadht. Sie gibt ihr Wefen dahin flr dad Heil eined andern. Sie wagt den Tod für ded andern Leben. Ihre Liebe ift durch und durch altruiftifch, efftatifch, trandzendental. Aber Dttegebe ift eine Hyfteriferin und fein gefundes Sinnenweib mehr. Sie mag mit diefer Liebe einen mittelalterlihen, mifel- füchtigen armen Heinrich erldfen, aber fie erlöft nicht und. Sie bat auf die Fragen, die und beunrubigen, feine Antwort. Die Macht diefer Liebe befteht in ihrer Ohnmacht. Das ift nicht, was wir begebren. Es liegen feine Fruchtfeime darin. Hier ift fein Typus, der troftvoll in die Zukunft weift.

Weit früher fhon war Hauptmann dem von und Vegehrten nabe- gefommen, in der Figur der Ida Buchner aud dem „Friedensfeſt“. Gier fiegt die frifche Unverdorbenheit einer Natur, kraft ihrer Liebe, über ver- bängnisvolle Verſtrickung. Hier ift wirklich ein Weg, der nady oben gebt. Hauptmann bat ihn befchritten, er ſieht ihn fehnend vor fi, aber dann überläßt er ed unfrer Einbildung, und auszumalen, wie dieſes Empor- geflihrtwerden wohl fein möge. Er felber ift unvermögend, es nad) der Fuͤlle feiner Intenfität zu fchildern. Er flammelt nur. Freilich liegt in diefem Geftammel eine von Hauptmannd tiefften dichterifhen Ahnungen.

312

-

Sehr Hübfhes dann in Epifoden. Die Marei im „Florian Geyer”, deren Haar ihrem Liebſten lieber ift ald dad Haar der feligen Jungfrau. Und Herrliches verſprach die Rahel im „Hirtenlied”. Dod da verfagte leider der Schöpferwille.. Der Strom begann zu ftoden, und das Ganze blieb Bruhftüd. Endlich Pippa. Auch fie dem Irdiſchen faft ganz ent- rt. Aber das entzüdendfte Phantafiegaufelfpiel von Weibesſuͤße, das je geträumt ward. Ein Feines ſchillerndes Tanzflınflein, auf das alle Männer- augen bejeligt ftarren vom Herzen aus befeligt. Aber dann zerfniftert es, verfliegt. Unmoͤglich, in Wahrheit die Befeligung zu erlangen. Unmoͤglich außer in der Phantaſie.

Auch hierin liegt eine Weisheit und eine Erlöfung. Und fie führt und ganz heraus außderirdifchen, finnlihen Welt. Wer ihrer teilhaftig werden will, der muß wie Michel Hellriegel blind feines Weges tappen. Saͤhe er, er würde fi allüberall an den irdifhen Dingen ftoßen und vor lauter Scherben und Steinen inmitten ded Weged ermattet zufammenfinfen. Gluͤcklich ift nur der blinde Tor, der nichtfehende Träumer: Diefed verkündet und Michel Hellriegel. Chnliches kuͤndete und bereitd Hannele Mattern.) Und damit find wir foweit jenfeitd alles deſſen, was der Naturaliömus erftrebt, dag wir und faft in Maeterlindd frühefte Epoche zurlctverfept wähnen.

Doc freilich, ed gibt einen Gegentyp. Noch ein Zweiter ift glücklich, ein Sebender, der alte Wann, und diefer meiftert (abermald denfen wir an Maeterlind) la sagesse et la destindee. Doch er ift nur um den Preis ſehend und glüdlih, daß er flr fich felber auf alles verzichtet hat. Er ift weiß und meife, uralt, feine Hirnzellen find lebendig, doch dad Blut in feinen Adern ift vertrod'net. Und abermals find wir der irdifchen Welt und ihren Verführungen weit entrüdt.

Überwindung der Materie indem man fie vernichtet oder ſich felbit beträgt! Durch buddbiftifche Nefignation oder durch poetiſch tändelnde Träumerei! Beide Löfungen find Zahrtaufende alt, an beiden haben ſich viele Generationen von Menfhengefhlehtern in Europa und Alien bereits berubigt. Man nennt dad „ewige Gültigfeit“. Aber genügt und diefe Art von Bültigfeit und von Ewigkeit? Wir find heute ein unrubhiged und un- jufriedened Gefchleht. Und wir befennen es frei: diefe Löfungen flößen und Refpeft ein, doc fie genügen und nit. Wir wollen nicht an der Welt vorbeis, noch über fie hinleben. Wir wollen in der Welt leben freilich nicht gefnebelt von der Materie, fondern ihrer Herr. Wir wollen die Natur Flar ind Auge fallen und uns ihrer bedienen. Wir wollen ihre Kräfte einfangen und auf Mafchinen leiten. Und fie fol unfre Menjchen- fraft nicht lähmen und zerreiben, fondern fol fie erhöhen und vervielfältigen. Died allein dünft und eine der Reife unfrer Zeit und der Höhe unfrer Herrſchaft wuͤrdige Loͤſung. Und das ift der Dichter und Seher, deffen wir barren, der unfrer Seele diefe Löfung findet und fie und durch Geftaltung unverlierbar fchenft.

313

Wie verhält fi nun Hauptmann bierzu? Zu diefer neu ermachfenen

Forderung? Führt er und ihrer Verwirklihung irgendwie näher? Vielleicht mehr, ald er felber ahnt. Sedenfall® mehr, ald er bißber auszufprechen vermochte.

Dichter find Feine Philoſophen, und fie dürfen nicht nach ihren in Worten formulierten Ausfpriichen gewertet werden. Ihr wahrer „Geift” liegt fo tief in ihnen verborgen wie in der Natur. Er muß aus ihren Werfen erit herausgeſchurft werden. Was für jedermann haſchbar nach außen hin bligt und leuchtet, ift angeſtecktes Gefchmeide. Und oft bligen die Similifteine am meiſten. | | = j |

Es gehört mit zum Ruhm Gerhart Hauptmannd, daß er in diefem Sinne „Geift” zu haben verfhmäht Gum Schmerz mander Feuilletoniften). Aber ich finde ed unendlich „geiftvoll”, wie er die Natur belaufcht, wie er fie einfängt, wie er fie für feine Fünftlerifhen Zwecke diszipliniert. In feiner Geftaltenreihe fehlt und der Typ eines wahren geiftigen Herrſchers über den Stoff; eines, der zwifchen den Glut- und Brutöfen ſteht und die Materie zwingt, ihm dienftbar zu fein; eines, der die breiten Lebenswellen, mögen fie auch Blut und Schlamm mit ſich führen, an ſich beranrollen läßt, der ihren Dunft begierig trinft und ihren Anprall mit eherner Bruft gelaffen auffängt und verrinnen läßt. Sold eine fombolifhe Geftalt eines wahren Lebendherrfherd bat Hauptmann und nicht gejeihnet. Doch er felbft hat ald Künftler in der Art, wie er die ihn umbrandende Stofffülle meiftert, etwas, dad an jenen Typus gemahnen mag. Welch eine ungeheure Arbeit in diefer Richtung etwa in den „Webern” und im „Florian Geyer“ geleiftet ift, vermag freilich wohl nur der Ningende ganz zu würdigen gleihmwie nur der Mafchinenbauer ganz verfteht, welch eminente geiftige Könnerfchaft fich in der Konftruftion eines neuen Walzwerks fundtut. Man bat Hauptmann vorgeworfen, daf er in leßter Zeit läffıger arbeite, daß er feine Werfe in balbfertigem Zuftand entlaffe. Im mehreren Fällen trifft diefer Vorwurf zu. In andern Fällen, wo er erhoben wurde, erfcheint er mir ald haltlos. Weifpielöweife bei „Pippa”. Was bier fehlt, ift nichts ald die leßte gedanfliche Klarheit, das abfolut Zwingende der Abftraftion, furz, ein Stüdchen Philoſophie. Man mag es vermiffen, doc fein Fehlen ift Kinftlerifch verzeiblih. Hingegen ift die wahre Kunftarbeit an diefer Dichtung nahezu tadellos und oft im böchften Grad bewunderndwert; ganz befonder8 aber in der Fülle und Farbigkeit, die durch ihre Sparfamfeit bricht. Mur bei vollendeter Stoffbeherrfchung ift dergleichen möglih. Und wenn dazu noch das Ganze voller Anmut und Ahnungsfülle ift, fo gefchab wahrlich genug und mehr, ald die meiften begreifen.

Zu den „fertigen“ Stücken gehört ferner „Der rote Hahn“. Sein Febler ift, daß es vielleicht von allen Hauptmannfhen Stüden am wenigften „Drama“ if, Dod das ift gleichfam ein Geburtöfehler; dieſes Stück fonnte fein Drama werden, Es enthält abfolut epiſches Geſchehen. Es bringt in feiner Schlußwendung ein Ereignis, das ftetd als Zufälligfeit

344

wirfen wird und niemald ald notwendige Folgeerfcheinung des Voraus⸗ gegangenen‘ motiviert werden kann. Aber ein Grundgebrechen in der An- lage dur Reichtum und Sauberfeit der Arbeit derart wettzumachen, wie bier gefchab, kann nur einem Meifter, einem fouveränen Herrſcher gelingen. Dazu fommt ein zweited. Was Hauptmann an einem Einzelnen nie gezeigt bat, das bat er bier inftinftio an einer Raſſe offenbart: die Tapferfeit und Ungebrochenheit gegenuber dem Geſchick. Wie der Dichter hier das maͤrkiſche Volk gefchildert hat, fo trägt etwas Unbefiegbares in fi, Jeder Ein- jelne ein Prachtferl, der ſich nicht ducken laͤßt mag er aud ſonſt recht unſympathiſch erfcheinen. Verfluchte Mader, alle miteinander aber nicht fleinzufriegen! Wenn, was bier am niedern Material gezeigt wurde, einmal an einer großen Erjcheinung, und zur Ehrfurcht zwingend, dichteriſch auflebte, dann waͤre der erſehnte Ausblick in die Zukunft frei. Dann haͤtten wir „den Menfchen, der dem Schidfal gemahlen it“ und ed braucht nicht einmal ein „Übermenfch” zu fein.

Diefe Forderung fehen wir jet ſich erheben. Irgend m warın muß fie erfüllt werden. Hauptmann führt und bis zur Schwelle und verläßt und alddann. Wird er die Schwelle je überfchreiten?

Ecce Germania| yon Chriftian Morgenftern

I“ redet ihr fo viel von Einfamfeit, von Gelbitentblößung, Tragif mimifher Kunft! . . Sieh da, mein Volk, die Frucht viel tieferer Not! Dein Künftler fühlt fich nicht mit Dir verwandt, er glaubt entwiürdigt ſich, wenn er dir dient; du haft ihn nicht ald folhen Mann gezeugt, der, ob in vielem auch von ihr entfernt, doch Lieberes nichts ald feine Mutter fennt. Was jener Ruſſen jeder in ſich trug, die ihre Dichter vor und fpielten: Dies, mein armes Bolf, in allem Neihtum arm, in aller Ordnung arm und allem Fleiß, _ died biächen unantaftbar heilige Liebe, das fie mit ihrem ‚Miütterchen‘ verband, Du weckſt es, fcheint ed, heut zu dir ‚nicht mehr. Was in dir wertvoll, dünft fi beimatlos, genügt der ‚Pflicht‘, verbirgt fi in fich felbft; und jened unter all dem bunten Tag nr: fi) eins und einig Fühlen, ed it die Seele ſeines Tuns nicht mehr, Du wardft ein Reich, mein Volk, und ftolz geeint doch: ‚Mütterhen Deutfchland!‘ fremd Flingta, feiner ſagts.

345

Komödien und Komöden

Ä rei Theater haben in der legten Zeit dad Angenehme mit dem Nuͤtz⸗ lichen verbunden. Sie haben und lachen gemacht und zugleich, zu⸗ fällig und unabhängig von einander, fo etwas wie einen biftorifchen

Anfhauungsunterricht gegeben. Drei oder vier Komödien aus drei Ländern

und drei Zabrzehnten find auf ihre LTebendfähigfeit geprüft worden. Das

England des fiebjehnten, das Frankreich des achtzehnten und dad Norwegen

des neunzehnten Jahrhunderts haben ſich vor dem Deutfchland des zwanzig-

ften Jahrhunderts audweifen müffen. (In einem Theaterblatt ift e8 erlaubt, fo große Worte fir die Feine Tatſache dreier Theateraufführungen zu ge- brauden.) Dad Ergebnid wäre nur dann zuverläffig, wenn die Voraus⸗ fegungen gleichartig wären: wenn annähernd gleichwertige Schaufpieler unter der Zwingfraft eines phantafievollen Regiſſeurs und je ein Drama der Ver- gangenheit fo dicht an Herz, Geift und Geele brädten, als wäre ed heute entitanden. Das ift ein Ideal, mit dem bei den notgedrungen ungleichen

Vorftellungen verfchiedener Enfembled von vornherein nicht zu rechnen fein

wird. Man ift darauf angemiefen, die Eindrüde der Bühne durch die

Eindrüde des Buches zu kontrollieren. Täte man es nicht, fo ergäbe ſich,

daß Beaumarchais größer und lebendiger ift ald Shafefpeare. Tut man es,

lieft man hintereinander die Komödien von Shafefpeare, Beaumarchais und

Ibſen, um die ſich hintereinander dad Königlihe Schaufpielhaus, das Neue

Scaufpielhaus und die Kammerfpiele bemüht haben, fo ftellt ſich heraus,

dag „Was ihr wollt” in feiner Anmut unvergänglich ift, daß der „Barbier

von Sevilla“ und „Figaros Hochzeit” in ihrer geiftigen Schnellfraft er- ſtaunlich wenig erlahmt find, und dag die „Komödie der Liebe” über ibr biographiſches Intereffe hinaus nur noch dur einen ganz leifen, ver- webenden Hauch irdifcher Unzulänglichfeit zu feifeln vermag. Jene Anmut wurde durch die wuͤrdevolle Talentloſigkeit koͤniglich preußiſcher Hofichau- fpieler getötet. Diefen Hauch hat Reinhardts intimes Theater faum einen Augenblick verfpiren laffen. So war es einzig der Atem der franzöfifchen VBorrevolution, der und manchmal anglühte, aus Kainzend Munde anglübte.

Hier ift das Feld des Kain; von beute, der entre deux äges ftebt. Er ift fein Liebhaber mehr, weil fein reifer und ffeptifcher Geift längit aufgehört hat, an ein jugendliches Liebhabertum zu glauben, Er ift noch fein Tragdde, meil ihm die unverwelften Mittel des Piebhaberd immer wieder den Aufbau eines Charaftergebildes ftören, und er wird wahrſcheinlich niemals ein ganzer Tragdde werden, weil ihm fir die hoͤchſte Tragif die finnlihe Farbe, der hoͤlliſche Beigeſchmack und abermald der naive Glaube

346

an die Eriften; einer Tragif, an die Unentrinnbarfeit eines tragifchen Schicjald fehlen. Der Kainz von heute und nad menſchlichem Ermeſſen der Rainz aller Zufunft ift der Komdde in Reinkultur. Der Tragdde leidet, macht leiden, unterliegt felbft und erhebt den Zufchauer diefed Unter- gange. Der Komöde hat überwunden, lacht, macht lachen und gewährt den befreienden Anblick eines Siegertumd. Des einen Element ift unter allen Umftänden dad Pathos. Des andern Element ift die Ironie oder der Humor. Kainz ift feinem Wefen nady Sronifer und in feiner Kunft ein Spieltalent erfter Ordnung. Spmit wäre zu einem Figaro viel gegeben. Nicht alles. Figaro ift überlegen, ed, ja dreift, quedfilbern, bosbaft, nicht aus der Faſſung zu bringen, mit allen Hunden gebeßt. Soweit trifft ihn Kainz. „Reden fann er, beißt ed einmal von Figaro. Reden fann, weiß Gott, aud Kainz. Noch mehr. Figaro fteht nicht nur über den andern, er fteht auch über ſich ſelbſt. Er hat nicht nur Sronie, er bat auch Selbitironie. Was Kainz in anderen Fällen hinderlich ift, ift ibm bier alfo förderlich: feine Zerſetzungskraft, die fi) gegen Schöpfer, Schöpfung und Gefhöpf, gegen Autor, Rolle und die Darftellung der Nolle felber kehren kann. Aber Figaro ift nicht bloß die Kritif und Megation der beftebenden, der herrſchenden Gefellfchaft: er ift zugleich die pofitive Zukunft, der Anmarſch des vierten Standes, der lıber Reichen gebt, dem jeded Mittel recht ift, wenn ed nur zum Ziele führt. Da ift Kainzend Grenze. Diefed Produft einer gefättigten Geifteöfultur iſt Ariftofratie, nicht Proletariat. Das drohende Gewitter ift in feiner Stimme, nicht in feinem Wejen. Figaro will von unten nad oben. Kainz muß, um Figaro zu fcheinen, von oben nad unten. Figaro be= fhmugt fid) unbedenflih, wo ed nötig if. Kainz ift allenfalls ein Wind- bund, aber von edler, reiner und veinlichfeitöbedürftiger Raſſe. So fehlt Schließlich auch diefer Kainzichen Geftalt die legte Lebensechtheit. Sie anzufehen, ift gleihwohl ein geiftiged Vergnügen erlefener Art. Wer fein großer Mlaftifer iſt, kann noch immer ein großer Tänzer fein, an dem Tempo, Rhythmus, Schwung und Biegfamfeit bezaubern. Kainz ift ein ſolcher Tänzer, und feine Fertigkeit ift fo außerordentlich, daß er jelbft im Wirbel unbenommen genug bleibt, den andern den Taft anzugeben. Diefer große Tänzer ift zugleich ein großer Tanzmeifter. Man denfe ſich Matkowsky ald Negifleur. Es iſt undenfbar. Kainz ald Negiffeur beflügelt ein ſchwerfaͤlliges Enfemble bid zur Unfenntlichfeit. Bei „Figaros Hochzeit” gelang ed ihm nicht fo, wie ed ihm, vor bald zwei Jahren, an dem Ferienenfemble des Burgtheaters gelungen war. Aber der harmlofere und zu weit größerm Teil veraltete „Barbier von Sevilla” wurde im Neuen Schaufpielhaufe eine Vorftellung von einem Einflang, einem Brio und einer Blanfheit, daß Kainzend Regie

347

mindeftend ein ebenfo ftarfed Verdienſt zuzumeffen ift, wie der komiſchen Schlagfraft des Herrn Ernft Arndt. Gegen diefen Bartolo trat Kainzens Figaro nicht nur an Außerlihem Umfang der Rolle zuruͤck. Hier war eine dichterifche Figur fo reſtlos ausgefüllt, wie ed Kainzend zunehmender Un- gläubigfeit immer feltener gelingt. Ein wadelnder Kopf, ein kahler Schädel, ein fifchiged Auge, ein fahler Blid, eine hottentottenhafte Miene, eine dicke Taille, ein fchlaffer Leib, eine hohe Schulter, eine runzlige Haut, eine frumme Wade, ein dünner Schenfel, ein fhlürfender Gang und eine feifende Stimme vereinten ſich zu einem Bilde, an dem fein Zug lbertrieben und jeder Zug zum Schreien drollig war. Da auch fonft niemand flörte, ent⸗ ftand von einer verfchollenen Komoͤdie eine Aufführung, die fogar Rofjinis Mufif entbehrlih machte.

Mufif! Wenn die Mufif der Fiebe Nahrung ift, gebt volles Map! Es ift derjenige Wunſch ded empfindfamen Herjogd Orſino, den die Regie hauptſaͤchlich befriedigen muß, um „Was ihr wollt” in feiner ganzen Schwer- mut und Sinnenfreudigfeit, in aller feiner Heiterfeit und Zartheit hervor⸗ zuzaubern. Mufif ded Worted und der Stimmung, wohlverftanden. Freilich, dad Auge der Megie darf auch nicht unempfindlid fein. Die Natur fpielt in die Ruͤpelei wie in die Phantaſei hinein. Ehe gröbite, närrifche, durch⸗ fchnittlihe und feelenvollfte Menfchen ſich gegeneinander abheben, ift die Umwelt, ift der Hintergrund zu Schaffen, von dem fie ſich in ihrer Gefamtheit abheben. Ein fonnenbeller und ein nädtlider Garten und dad Fimmer eined Herzogs, der ein Afthet ift. Im diefem Zimmer treibt das Hoftheater die Barbarei auf die Spige. Der Garten ift nur lieblos behandelt. Dort aber muß man vor den haͤßlich verfchliffenen Vorbängen und der Maffen- baftigfeit verftaubter Topfpflanzen und Gummipalmen den Blick menden. Die Menfchen, die fich in diefer Umgebung bewegen, find ihrer würdig. Was nuͤtzt e8, daß die Dariteller einiger winziger Roͤllchen die Haltung, die Stimme und dad Wefen von Menichen haben, wenn an den Hauptgeftalten jo beillos gefündigt wird? Wenn der Hof ded Herzogs, das Haus der Gräfin, Viola und ihre Leute, fowie dad Schelmenterzett ohne alle feinern Unterfchiede bingehauen werden, was nuͤtzt ed dann, daß Malvolio ein kuͤnſtleriſch Föft« liches Lebeweſen it? Es ſchadet eher, wie wenn im „Kaufmann von Venedig” Shylod den Mittelpunft bildet. Es ift nicht angenehm, ald ein Schwarz» weißfritifer zu erfcheinen, der von den Schaufpielern die intimfte Charafteriftif verlangt und felber mit grellen Gegenfägen arbeitet. Aber auf jede Gefahr bin muß ed gefagt werden, daß von dem Luſtſpielenſemble des Hoftheaters zu Arthur Vollmer feine Bruͤcke führt. Seine Kunft ift Klaffe und Welt für fih. Trogdem fann man es erleben, daß man mit erfchlttertem Zwerch⸗

348

fel und lachtränenden Auges bejahrten Herrfchaften in den Weg läuft, denen ftandzuhalten die Höflichkeit gebietet, und die einen darlıber belehren, dag man fich feiner glüdlichen Heiterfeit eigentlich zu fehämen babe, weil ja, weil ihr feliger Döring ein fo unbefchreiblid befferer Malvolio gewejen fei ald unfer Vollmer. Solche laudatores temporis acti find felten zuverläffig. Im verflärenden Schimmer einer ſchoͤnen Jugenderinnerung er⸗ fcheint ihnen unerreihbar, was felbft fie von unfrer Gegenwart flr übertroffen erflären würden, wenn fie die Vergleichdobjefte nebeneinander fehen koͤnnten. Es ift ein Unfug, und man fol ihn im Sntereffe der Großen von heute befämpfen, wo man es wirffam tun kann. Es trifft fi für unfern Fall günftig, daß Theodor Fontanes Urteil ber feinen Vornamensretter Döring als Malvplio erhalten ift. „Der Malvolio“, fagt Fontane, „war mit unter den Geftalten, in denen der fonft fo Meifterhafte nicht erzellierte. Döring gab ihm fozufagen ald fomifche Figur aus erfter Hand. Dies ift aber grundfalfd. Malvolios Komik ift erft Komif aus zweiter Hand. Zunaͤchſt ift er blos wichtigtuerifch, aufgefteift, würdig und feierlich, und weil er von dem allen ein Erbebliches zuviel hat, wird aus dem unendlich ernften Menfchen ein unendlich komiſcher Menfh. Aber das, was wir unmittelbar und als erftes baben, ift Ernft, nur Ernft. Die Komik treibt ihr Spiel nicht ſchon oben auf der Bühne, fondern beginnt erft mit der Wirfung des dargeftellten Üiberernftes auf und, Darin verfab ed Döring völlig.” Mit einem Wort: Döring bat den Malvolio nicht charafterifiert, fondern ald Aushängefchild für feine Lazzi gemacht. Vollmer ift immer fehlichtefter Menfchendarfteller, nie bloßer Spaßmacher. Sold ein Malvolio ift für ihn im Grunde viel zu Flein. Vollmer ift der Komdde ald Humorift. Man weiß fchon: der mit der lachenden Träne im Wappen, oder fo ähnlih. Ein überreiches Gefühl, das nicht fentimental und unfrei, fondern durch Lächeln oder Lachen groß und frei wird. Bei Malvolio fällt dad Gefühl weg. Der Humorift wird zum Komifer. Wie follte Malvolio und jemald teuer werden? Vollmer tut trogdem alles, und diefen Haushofmeifter menſchlich ein biächen näher zu bringen. Auch Fontane würde eine ganze Weile brauchen, um feinen Bollmer wiederzuerfennen: fo fahlih und feined Amtes voll fteht Diefer Diener neben feiner Herrin. So ift ed recht. Kein Maͤtzchen fällt läftig: Wirklich komiſch wird der Kauz nicht eher, als bis die Fopperei beginnt, Er lieft Mariad Brief. Dabei fol, nah Fontane, Döring durch fchlaues Augenzwinfern,überlegenes Stirnrunzeln, fuperior pfiffige Lächeln angedeutet baben, daß er den Schwindel durchſchaue. Vor folhem Unverftand find wir bei Vollmer fiher. ine unfagbar beluftigende Veränderung gebt unmerflih mit diefem Maloolio vor fih. Der Domeftif wird zum Männden, Der pflichtgetreue Beamte, der die Übrige Dienerfchaft bis dahin nur durch

349

feine Superflugheit und Salbungsvoͤllerei gereist haben fann, wird jegt, erft jegt eitel und albern, ein Kindergefpdtt, ein phantaftifhes Rindvieh. Es ift der gerade Weg zum Wahnfinn, zur unverfchuldeten Tragif ded aus⸗ gewechfelten Jh, oder zur Karifatur. Es ift bewundernswuͤrdig, mit welch untruͤglichem Inſtinkt Vollmer dem einen wie dem andern Extrem fernbleibt. Er fhöpft mit feinen unfehlbaren Mitteln die ganze Komif der Situationen aus, ohne den Charakter zu verzerren, und hat dennoch, bei der Entdeckung des Betrugs, einen Schrei der gequälten Kreatur, einen Trog und Efel der Geberde und der jähben Wendung, daß wir auf einen Augenblid ergriffen find.

Solch eine Meifterleiftung weckt die Sehnſucht, einmal das ganze Luft» fpiel meifterhaft gefpielt zu feben. Es wäre Reinhardts Sache. Er bat die Freude an Ton und Farbe, an Licht und Duft, er bat, in junger Schönheit, die drei Frauen und irrt, wofern er Engeld ald Malvolio für unerfeglich hält. Fontane mag wieder helfen. „In England wird: diefe Rolle von einem Heldenfpieler gefpielt. Als Malvolio überheldet dann, wie ſich von felbft verfteht, der Heldenfpieler feinen Helden dermaßen, daß der komiſche Effekt geboren wird.” Reinhardt verfuhe ed alfo getroft mit Kayßler. Er bat gefährlidere Experimente gewagt. Das ärgfte war das legte. Da- von zu ſprechen, ift Verlegenbeit. Denn was fol man dazu fagen, daß in den Kammerfpielen die durch ihre Eintrittäpreife und ihre noch fo furze Vergangenheit den hoͤchſten Anfpruc an Repertoire wie Darftellung redyt- fertigen daß in den feſtlichen Rammerfpielen Ibſens theatraliſch unrett= bare „Komödie der Liebe” vollends in Grund und Boden gejpielt wird? Es ift ein Troft, daß die beiden Vorgänger, eine von den Freien Volks— bübnen und die Zidelfhe Sezeffionsbühne, das Stud noch ſchlimmer ver- bunzt haben. Aber wo geraten wir bin, wenn wir an Reinhardt jolche Mapftäbe anlegen! Es ift flr Bahr erfreulich, daß feine Regie weit weniger auffiel, ald bei „Hedda Gabler”, aljo einen Kortfchritt bezeugte. Nur daß die Rammerfpiele doc wohl nicht eingerichtet find, um Begiffeure anzu⸗ lernen. Es wird flr die Laufbahn ded Herrn Steinruͤck vermutlih von Bedeutung fein, daß er mit feiner gefhmadvollen, einprägfamen, vor⸗ nehmen und fompatbifchen Verförperung des Kaufmanns Goldftad uns alle gefangen genommen bat. Aber was, um Himmeldwillen, find das für Erwägungen, wo es ſich um die gefliffentlic) berausforderndfte Theater- unternehmung Berlind handelt! Wie ift ed moͤglich, daß auf Diefer Bühne Herr von Winterftein den jungen Sbfen in eigener Perfon ver- nlchtert und verplattet! Tedman und Falf: wie reimt ſich das zufammen? Wie ift ed möglich, daß auf diefer flillen Bühne ein Fräulein Grete

350

Berger genau fo unerträglih aufdringlid fpielen darf, wie man am Moabiter Stadttheater fpielt! Wie ift Fräulein Traute Kempner möglich? Eine faum flligge Theaterfchllerin, die vielleiht in ein paar Jahren Rollen anderer Art bewältigen fann und heute ald Ibſens reife, Flar bewußte Schwan- bild der tödlihen Blamage ausgeſetzt wird. Was foll das alles? Falk und Schmwanbild, die gemeint waren und geprobt hatten, wurden nicht zur rechten Zeit gefund. Was zwang Reinhardt, ein Stüd, das wuͤrdig nicht zu geben war, um jeden, felbit um diefen Preis herauszuftellen? Fragen über Fragen. Die Antwort fehlt. Weiß Neinbardt noch nicht, mit weldyem Heer von bö8- willigen, verftändnislofen, rätfelhaft gebäffigen Feinden er zu fämpfen bat? Dem Rivalen werden zehn Niederlagen um einen Sieg vergeffen. Ihm werden nad) einer Miederlage zehn Siege glatt ausgeftrihen. Das ift nur wenig übertrieben. Wer denft heute noch an „Gefpenfter”, „Frühlings Er- wachen” und „Friedensfeſt“? „Hedda Gabler” und die „Komoͤdie der Liebe” werden zum willfommenen Anlaß genommen, den Kammerfpielen ihr Eri« ſtenzrecht feelenrubig abzufprehen. So blinde Wut gebt an fich felbft zu Grunde. Reinhardt follte troßdem daraus lernen. Er bat ſich offenſichtlich übernommen. Alle andern Bühnen bringen ed, wenn der erfehnte Jahres- ſchlager ausbleibt, zu knapp acht Vorftellungen in einem Winter, Er bat mit einem Enfemble, das faum für eine Bühne ausreicht, feine beiden Häufer mit fechzehn Vorftellungen verforgen wollen. Das war zu viel. Es hat ſich gezeigt, daß ſolche Arbeit dann nur möglich ift, wenn an jede zweite Vor⸗ ftellung die halbe Kraft und Liebe gewendet wird. Aber acht ganze Vor⸗ ftellungen wiegen ſchwerer ald acht ganze und acht halbe miteinander: das fei die Lehre diefed Winters. Die Kammerfpiele werden und erhalten bleiben. Sollen fie zu unfrer Freude bleiben, fo muß dad Abonnement fallen, das allem Anfchein nad zu diefer finnlofen Nefordarbeit der Anſtoß ift. Iſt es befeitigt, dann wird die Wahl der Stüde und der Darfteller ftrenger, die Dauer der Proben länger, die Qualität der Aufführungen die gute alte und eine fo lieblofe Komödie wie diefe „Komödie der Liebe” ein Ding der Un- möglichfeit fein.

351

Frau Dufe/ von Alfred Polgar

ich produzieren” das ift Komddianten-Beruf. Was geben und S alle Theorien, alle klugen und feierlichen Phraſen von der Kunſt

des Reproduzierens an? „Der Schauſpieler macht die Figur lebendig.” Möglih. Fr uns, die Zufchauer, fommt ed nur darauf an, ob und wie die Figur den Schaufpieler lebendig machte. Unfre kritiſche Phraſeologie drebt die wahren Jufammenbhänge um, tut fo, ald ob dad Drama die Materie und die Schaufpieler deren Former und Beleber wären. Dad gerade Gegen- teil ift richtig. Gleichſam: die Rolle fpielt den Darfteller. Beweis: eine ſchlechte Rolle und ein guter Schaufpieler geben noch immer einen edeln Klang; eine gute Rolle und ein ſchlechter Schaufpieler immer einen Mifton. Was wir, die Zubörer, empfangen, ift nicht Klang, Farbe, Reiz eines Dichters, vermittelt durch den Scaufpieler fondern Klang, Farbe, Reiz eines Schaufpielerd, in Bewegung gefeßt, tönen, leuchten, fchwingen gemacht duch einen Dichter. Aud ein Paper, der and Organ ded Herrn Kainz ſchlaͤgt, riefe Glodentöne wach. Und wenn der leibhaftige Goethe den Herrn Gregori aufziebt, Flingt ed dennoch beifer.

Aber Frau Dufe ift wie eine Windharfe. Es ift gleichgültig, ob ein Füftchen darlıber zärtelt oder ein Sturm darlıber tobt wenn fie nur uͤber⸗ haupt zum Tönen gebradht wird, tönt fie ſchoͤn. Kann gar nicht andere. Es ift gleichgültig, ob fie einen Dichter oder einen Stuͤckeſchreiber fpielt: ihr bewegtes Ich vermittelt Entzuͤckungen, die unabhängig vom Beweger find. Der Stolz und die Anmut ihres Leibes, der Schimmer ihres Ant- lißed, die Harmonie ihres Organs, ihres Schreitend, ihrer Hände das iſt der Duell unfrer Duſe⸗Freude, nicht die „darftellerifhen Dualitäten”. Es ift gleichgültig, welde Rolle ihr den Anlaß gibt, zu funftionieren und fo alle Schönheit ihred Seins audzufalten. Wozu dann die Bühne? möchte, man fragen. Im Leben ift fie ja auch die, die fie ift? Stimmt gewiß und ich möchte nur bemerfen, daß vielen, nicht den wenigft fein und intenfio Empfindenden, ftärfer ald alle tbeatralifchen Augenblide der Dufe die Augenblide ihres Sih-Bedanfend ind Gedaͤchtnis geprägt find. (Alſo gerade Augenblicke, in denen die Dufe nur Dufe, nicht mehr Adrienne, Marguerite, Mebeffa oder Hedda war.) Qualitativ bilft die Bühne der Dufe auch ficher gar nichts. Sie liefert nur die Affeft-Higegrade, die Treibbauswärme, in der fih alle Blüte dieſes ſchoͤnen, duft- und farbenreihen Organidmus: Dufe öffnen fann. Sie fchenft die „boben Momente”, die das Leben fpärlich gibt, die aber allein imftande find, einem reihen Menfchen fein Köftlichfted zu erpreffen. Sie fchließt den Strom, in dem eingefchaltet eine leuchtfähige Seele zu ihrer größten Helligkeit aufflammt. Sie gibt der Dufe Anlaß, Superlative, fühne Variationen, Feiertagsklaͤnge ihres Ich aus⸗ zufpielen. Und fie ftellt gleihfam einen Kreis unfichtbarer Spiegel um die bewegte Erſcheinung Dufe.

352

Iſt dad nicht vielleicht dad Geheimnis jenes „Zauberd der Buͤhne“, der die jungen Leute fo beftig zum Metier lodt: Diefes Gefuͤhl vom Kreis der unfichtbaren Spiegel, in deffen Mitte der Mime ſich dreht? Diefed Gefühl: „Bier wird mein Jh taufendmal multipliziert“? Wobei nur leider die ganze rechnerifhe Manipulation dem „Ich“ nichts nuͤtzt, wenn ed gleich Null ift.

Die Realität der Dufe fchlägt alle Srrealität der Szene. Ihr wahr- baftiged Sein wirft fräftiger ald alle dichterifche Fiktion, und der Gang unferd Blicks Über ihre Erfcheinung lohnt mehr ald aller Flug, zu dem det dramatifche Dichter unfre Phantafie lädt.

Darum: je allgemeiner, belanglofer, gleihgültiger dad Dufe-Drama ift, um fo beffer! Es rüdt doc ohnehin in den Hintergrund, ift Hintergrund für dad Phänomen Dufe. Und je flacher es tft, um fo leichter, um fo glatter wird es fich zum Hintergrund fpannen laffen; je draftifcher (theatralifcher) feine Farbe, um fo beffer wird ein zarted, blaffed, an Schattierungen reiched Kolorit (wie ed der Kunft der Frau Dufe zu eigen) ſich von ihm abheben. Ich fagte: „Se allgemeiner das Drama ift... .” Das beißt: je typifcher die Gefühle, die es darftellt, die Feidenfchaften, die es in Freiheit feßt, die Ideen, die ed zu einer „Handlung“ materialifiert deſto freier, ungehemmter, intenfiver wird der Dufe-Fauber wirfen. Denn dad Wefen ihrer Kunft ift; die geniale Abftraftion. Weil ihre fublime Art, ihre Schdn- beit und Grazie allen dargeftellten Affeft fo verflärt, reinigt, au8 dem Irdiſch⸗ Perfönlichen berausfchält, daß fein Prinzipielled frei wird, fein ewiged Gefeg, feine (platonifche) „Idee“. Die größten Finftlerifhen Feiftungen der Dufe find immer foldhe Afte der Sublimierung: Befreiung der fchwerlofen, reinen, weißen Idee aus den Zufalls-Formen und «Karben, in denen fie gefangen fhien. In diefem Sinne bat die Begeifterung recht, wenn fie die Kunft der Frau Dufe mit dem Wort „erlöfend” ſchmuͤckt.

Fe typifcher eine Figur und ihre dramatifhen Erregungen find, defto beffer wird Frau Dufe fie darftellen. Ein aparted, ganz befonders geführtes Einzelfchicfal muß ihr weniger gut gelingen. Weil von ihr die Lobphraſe für den Schaufpieler: „er verförperte wunderbar die Figur fo und fo” mie gilt. Weil fie nie eine Verförperin ift, fondern ſtets das gerade Gegenteil: eine Entförperin. Deshalb kann ich mir auch kaum denfen, daß fie als Mebeffa Weit oder Hedda Gabler ich habe fie in beiden Rollen nicht geſehen fo außerordentlich fein fünnte. Bin in tiefiter Seele über- jeugt, daß fie ed nicht war. Und daß nur der Zauber ihrer Erfcheinung, ihres Wefens, ihrer Stimme und Geberde berüdt bat. Nicht: die Nebeffa Welt der Dufe; fondern: die Dufe gelegentlih, mit dem Vorwand, aus Anlaß der Nebeffa Welt. Charakteriſtiſch ſcheint ed mir da, daß faſt alle fritifhen Lobpreiſer in der Beſprechung der Dufefchen Hedda den einen Moment rühmen, da fie Loͤvbergs Manuffript zerreift. Das koͤnnte fie mit den fingenden Geberden ihres Eland und der bebenden Intenfität ihres Schmerz; Empfindend eben ganz gewiß zu gleiher Wirfung ald Solo-

858

Siene fpielen, von deren Zufammenbängen, ruͤckwaͤrts und vorne, mit einem dramatifchen Schickſal niemand das Geringfte zu wiſſen braudte.

Keine zweite Künftlerin der Bühne bat der europäifchen Theaterfritif eine gleihe Flle feierliher, raufchender Vokabeln abgelodt. Diefe Higigfeit der rettungelos, ewig Kalten, diefe Begeifterung der rettungslos, ewig Ruhigen, diefer Schwarm der nie Schwärmenden für Frau Dufes Adel, Schönheit, Würde, Anmut das ift pſychologiſch nicht unintereffant. Es ift mehr als ein fnobiftifches Mitgehen. Es ift ein Brachial-Triumpb der Verfönlichfeit Eleonora Dufe. Die Mufif ihres Körpers, das Leuchten ihred Antliged find ftarf genug, um auch ein ftumpfes Obr und Auge gleich- fam: phyſiſch zu alterieren. Mit anderen Worten: Die äfthetifhe Macht der Dufe ift fo groß, daß fie auch von denen, die feine befonderen Organe zur Aufnahme und Weiterleitung aͤſthetiſcher Eindruͤcke befigen, ald Nerven- reiz empfunden wird. Es ift eine ähnliche Wirfung wie die der Wagnerfchen Mufif auf die Unmufifalifhen: ein Griff an die Merven, ein Choc, ein Materielled, das eigentlich gar nicht mehr ald kuͤnſtleriſche Impreſſion an⸗ geiprochen werden fann. Weil Wagner den Unmufifalifhen zu einer Art Empfindung der Mufif verbilft, darum lieben fie ihn. (Sollten wir doch im Innerſten mufifalifch fein? fragen fie.) Weil die Dufe den Unäfthetifchen zu einer Art Empfindung des Äfthetifchen verhilft, darum ſchwaͤrmen fie fuͤr fie. (Sollten wir dod im Innerften Rünftlernaturen fein? lautet ihre frage.) Es ift nicht fo fehr die Freude und Befriedigung liber die Dufe, mas die Leute in Schwung feßt; es ift die Freude und Befriedigung über ſich felbft. Ein phyſiſches Mitgeriffen-Werden deutet fid der Zuhörer zu einem geiftigen Mitgeben-Rönnen um. Und ift felig. Was Übrigens, prinzipieller betrachtet, feine ſchlechte Baſis für eine unfentimentale Kunſtphiloſophie abgäbe.

Mit manchem perfönlichen Reiz der Dufe verblaßt allmählich auch mandyer ihrer darftellerifchen Meize ein wenig. In diefer äfthetifchen Vollkommenbeit, in diefer nie unterbrodenen Harmonie der Erfcheinung macht ſich bereits ein leifer füßliher VBeigefhmad bemerfbar. Man befommt Bunger nad) emer Diffonanz, Durft nad) einem Tropfen Robeit; man „ſchmachtet nad) Bitterniffen”. Ungerftört blieb das Unzerftörbare. Der fpirituelle Glanz ihrer Erfcheinung, die Leidensgloriole Über ihrem Haupt, der ſehnende Blick über alle Grenzen hinweg in ihren Augen. Man fplırt immer eine zitternde Lichthülle um diefe Frau, ein wenig entmaterialifierte Dufe um die reale Dufe, ald wenn die Seele über die Ufer der Körperlichfeit getreten und der Atmofphäre nab um dieſe einen ganz befondern fubtilen Schimmer ge- geben bätte. Unzerftörbar blieb der ganze Zauber, der aus der Melodie ihred Redens und aus der flummen Mufif ihrer Bewegung firdmt. Uns jerftörbar blieb das Afthetifche Mirafel des Menfchen Dufe und damit andy das befte Teil von deffen Künftlerfchaft. Denn das Äußere der Dufe ift das edelfte Symbol ihrer Innerlichfeit, der Leib der Dufe der fhönfte Aus⸗ druck ihrer Seele, das Sterblihe an ihr fozufagen ihr Unfterblichftes.

354

Moderne Sflaven/ von einem Clown Sechs Kapitel Schaufpielerelend I Einleitung U Der Bertrag II Sintendanten und Direftoren Deutihe Bühnen-Genoffenfhaft Theateragenten IV Künftlerifche und mirtfhaftlihe Konkurrenz der Bühnen-Rünftler V Abhilfe VI Beifall und Hervorruf Kritik Regieautofratie

I Einleitung

nfer Jahrhundert des raftlofen ftürmifchen Fortſchritts, das Jahrhundert der Wiſſenſchoft, der Technif, der Aufflärung und der fozialen Fuͤr⸗

ſorge, das alle Werte umgewertet, unſre Anſchauungen in ſo vielen Punkten von Grund aus veraͤndert hat, iſt doch an einer Klaſſe von Menſchen ſpurlos voruͤbergegangen. Ein Stand iſt es noch, der die Romantik in unfrer realiſtiſchen Zeit verkoͤrpert, der von allen Reformen unſers geſell⸗ ſchaftlichen Lebens unberuͤhrt geblieben iſt, fuͤr den es keine Befreiungskriege gegeben hat und keine Revolution und keine ſoziale Bewegung. Eine Klaſſe von Menſchen lebt unter uns, die im Mittelpunkt des Intereſſes ſtehen, über deren Taͤtigkeit unendlich viel geſchrieben wird, um deren foziale Lage ſich aber fein Menſch beflimmert: fie find eben die unveränderlih Roman tiſchen. Romantik und foziale Lage! Wie follten die beiden Begriffe sufammenflimmen. Was gebt die Romantik und ihre Träger Sonntagsruhe und Acht⸗Stunden ⸗Tag an. Und wer wollte frevelhaft genug fein, in diefer an Idealen fo armen Zeit von dem lebten uͤberreſt einer fhönern Ver⸗ gangenbeit die Schale der Romantif abzulöfen, um und arme Menfchen in ihren Fehlern und Schwähen, in ibrer Not und Bedrängnis zu zeigen? Wer wollte e8 wagen, und das ftolze Ritterfchloß, darin fie haufen, als armfelige und traurige Plebejerwohnung zu enthuͤllen? Niemand am wenigſten vielleicht fie ſelbſt; denn diefe Illuſion, diefe Nomantif ift ja ihr einziger Befig, Taͤuſchung ihr Beruf und ihr Gluͤck. Andre aber fünnen es nicht; denn diefe andern feben nur das Ritterſchloß und ahnen nichts von der armfeligen Hütte, fie fehen nur die Infel der Seligen und ahnen nicht den giftigen Sumpf, der im Innern diefer feligen Gefilde liegt. Es ift dad umgekehrte Märchen vom „unfichtbaren Rönigreih”. Wo der gluͤckliche Traumjörg ein herrliches Königreich und eine ſchoͤne Prinzeffin fah, da fonnten andre Menfhen nur ein elendes Fand und eine häflihe Bäuerin fehen; und was die Menfchen bier fr ein Paradied und ein Feenreich halten, ift in MWirflihfeit ein Fand voll Elend und Sklaverei. Und noch welche find da, die dad Land der Nomantif kennen und feben, wie es ift, und dies

355

auch enthullen könnten, die ed aber nicht tun, weil fie flingenden Nutzen jieben aus dem Nimbus der NRomantif, der ihre Opfer umgibt.

„Lache Bajazzo, fehneide die tollften Grimaffen” denn fo ift man dich feit undenflihen Zeiten zu fehen gewohnt. Vom „luftigen Bühnen- voͤlkchen“ gebt feit undenklihen Zeiten die romantifhe Mär. Und wen bin und wieder die Kunde von dem „glänzenden Elend” des Komödianten aus einem Roman oder einer Ballade ereilte, der wob eine Strablenfrone von Edelmut, Unglüd, Größe und Mitleid, Dulden, Darben und feliger Ju= friedenheit um ded VBeneidendwerten Haupt. Gab er den fo vielfach Ver⸗ götterten, von Frauenliebe und Lorbeerkraͤnzen Erdrüdten auf der Straße, fo wandte er den Kopf nad ihm, und hatte er etwa gar dad Glüd, auf einem Ball oder einem Bazar einige Worte von ibm zu erhafchen oder feine Unterfchrift auf einem Bild zu erhalten, dann war ded Stolzes fein Ende. Und diefe Leute, denen das Geld und die Liebe und die Begeifterung nach⸗ rennt, die follten unglüdlic fein? Menfhen, denen das Leben fo „fpielend“ verläuft, follten eine foziale Frage fennen? Höchftend, daß einer oder der. andre fi zu der Bemerkung verftieg, ob denn das viele Auswendiglernen nicht fehr unangenehm fei. Das erfchien ald das Druͤckendſte dieſes beneidens⸗ werten Dafeind; aber aud darüber fonnte man fi durch die Erinnerung an den Souffleur binmwegbelfen.

Wem ift es fchon eingefallen, ſich mit den Eriftenzbedingungen und den Arbeitöverhältniffen diefer Klaffe zu befaffen? Wer hat ſchon daran gedacht, daß diefe Leute einen Kontraft mit dem Unternehmer haben, einen Arbeitövertrag, der fie im fhlimmften Sinne ded Wortes zu Sklaven macht, zu wirtfchaftlichen und geiftigen Sklaven? Wen mochte e8 intereffieren, daß der oder jener,liber den man ſich amlıfierte, durch Jahre hindurch volle fuͤnf Prozent feines Einfommens allein ald Vermittlungsgebübr an den Agenten bezahlen muß? Wer bat ſich jemals überlegt, welche unendliche Schwierigfeit die Erlangung eines Engage- ments macht, und wer weiß es, daß jeder Komoͤdiant in jedem Augenblid auf bundertfache Weife von feinem Unternehmer abgefhlittelt und auf die Straße gefegt werden fann? Und wer endlich follte fi gar die Mühe nehmen, die Wirkungen diefer Verbältniffe auf den Charafter der Komddianten zu ftudieren? Wen follte e8 reizen, die Veränderungen, melde in einem Menſchen ein zehn⸗ und zwanzigiähriged Bühnenleben hervorbringen kann, feftzuftellen, die Zerflörungen zu ermeffen, die eine folhe jabrelange Beſchaͤftigung mit der erhebenden und veredelnden Kunft anrichtet?

Dieſe und eine ganze Reihe von aͤhnlichen Fragen und Problemen fahren auf den Vorwitzigen los, der es wagen wollte, auch nur einen Zipfel vom Vorhang der Romantik zu heben und das Bild von Said ohne Schleier zu fehen. Aber wozu den Schleier mutwillig zu beben, wozu den Zauber zerftdren, den legten Reſt von Romantik aus unferm Leben durch folhe Profa verſcheuchen, da die Betroffenen felbft ganz zufrieden, gluͤcklich und rubig feinen? „Quieta non movere,“ fagte das gut alte Sprid- wort. Wären fie nicht mit ihrem Lofe zufrieden, oder liege es ſich aͤndern,

356

lägen diefe Zuftände nicht in den „eigentlimlihen Verhältniffen der Buͤhne“ begründet, wie die landläufige Phrafe lautet, mit der man ſich forglos über alles binmwegfegt, fo wuͤrde man doch längft von einer Schaufpielerfrage gehört haben, wie man von einer Vergarbeiterfrage und einer Agrarfrage und einer Frage andrer Motleidenden hört. Allein nirgends ift die Spur einer Revolution im Reich der Nomantif und des Vergnügend zu bemerken. Wo fein Kläger ift, da ift auch fein Richter. Ich aber fage: Diefe armen Gequälten, diefe Wehrlofeften der Webrlofen find fo zuſammengeſchnuͤrt und gefnebelt, daß fie ſich nicht rühren koͤnnen. Ich behaupte, daß ihnen durch die heutigen „natlirlihen Verhaͤltniſſe der Bühne” ſolche unzerbrechlichen Sflavenfetten angelegt find, daf fie ſich gar nicht wehren, daß fie gar nicht anflagen fönnen. Der bloße Anblick diefer raffiniert erdachten Feſſeln, wie ih fie in den folgenden Kapiteln befchreiben will, wird jedermann die Lber- zeugung beibringen, daß jeder Verſuch, fie zu fprengen, ausſichtslos und wirklich lebensgefährlich wäre.

Es handelt fih nun darum, diefe heutigen Juftände zu beleuchten und dann zu unterfuchen, ob es wirflih Zuftände find, die in der Natur und dem Wefen des Theaterd begründet, und ob fie wirklich unabanderlih find. Iſt died nicht der Fall und diefen Beweis zu erbringen, ift mein Ziel dann hat die Gefellfchaft die Pflicht, dem Stande, dem fie fo viel Vergnügen verdanft, der ihr Erholung nad) ihrer Arbeit bietet, gegen feine Unterdrüdfer zu ſchuͤtzen, oder ihm mwenigftend die Mittel an die Hand zu geben, fich felbft zu ſchuͤtzen und den troftlofeften Arveitöfflaven zu einem freien, felbft« bewußten Menfchen, zu einem gleichberechtigten ®liede der modernen Ge- fellfchaft zu machen.

Die Talentprobe/ von Robert Walfer

Zimmer der Fönigliben Hofſchauſpielerin Benzinger

Frau Benzinger: Alfo Sie wollen Schaufpieler werden. Treten Sie näber zu mir heran. Genieren Ste fih nit. Fallen Sie niht um vor Schred, wenn id Sie nun etwas näher ind Auge faſſe. Wenn mein Atem Sie flreift, ift dad noch feine Urſache, rot uͤber den ganzen Kopf zu werden. Haben Sie noch nie mit einiger Gelaffenheit dad Bein einer rau gefeben? Die Spigen meined Unterrods, die Sie fehen, find nur das gelinde und gewöhnliche Vorſpiel deffen, was einem Blhnenfünftler täglich und ftındlic begegnet, und worüber er hinwegſehen muß. Wir Künftler find ein freies, jwanglofed und, wie wir und gern einbilden, ehrliches Voll. Sie dagegen find ein ZJüngling aus dem dickſten, geflittertften bürgerlichen Milieu, und Sie wollen zur Bühne? Ma, tragen Sie mal etwas vor.

Der junge, ſchuͤchterne Mann bat etwas vorgetragen. 5

Frau Benzinger: Das ift michtd. Danken Sie Gott, daß Sie einem Menfhen in die Hände gefallen find, der es fo gut mit Ihnen meint, daß

357

er offen zu Ihnen ſpricht. Unmwahrbeiten find in foldhen Fällen Morde. Sie find fhücdhtern, Sie find erfchroden, wie Sie ſahen, daß ich das eine meiner natürlichen Beine über dad andre gelegt habe; aber Sie dürften meinetwegen noch hundert Mal ſchuͤchterner und ſchreckfuͤßiger fein, das hätte nichts zu fagen, denn das liegt nur in ihrer großen Jugend und tiefen Un» erfabrenheit. Aber Sie befigen auch nicht die leifefte Spur eines ſchau⸗ fpielerifchen Talents. Alles ift verborgen, verbüllt, vertieft, trocken, holzig an Shnen. Sie mögen der glübendfte Menſch innerlid fein, zerwüblt meinetwegen von berzlidhen Leidenfchaften, doc ed kommt nicht? an Ihnen zur Erfcheinung, nidhtd zum Ausdrud. Sie fpredhen eine ganz ordentliche Sprache, daß man fühlen muß, wie ridhtig Sie urteilen, wie anftändig Sie über Sachen nachdenken, das aber, mein Knabe, ift das Aller-Allerwenigfte von dem, was an Erforderniffen für einen angehenden Künftler in Betracht fommt. Ich bin eine ältere Frau und erprobte Schaufpielerin und muß deshalb wohl willen, was ſich Ihnen gegenüber für eine Sprache ziemt. Mein Knabe, fhütten Sie den allzu feurigen Wein Ihrer Träume von Bühnenlaufbahn und dergleihen raſch aus der Schale Ihres jungen Kopfes und fahren Sie fort, den Beruf, den Sie erlernt haben, audzjuliben. Was wirden Ihre Eltern fagen, wenn ich Sie unglüdlid machen wollte? Das Geld, dad Sie mir fir Ihre Stunden audbezahlten, würde in meinen Händen widerwärtig brennen, und ic würde das Geficht Ihrer Frau Mutter feben, deffen kummervoller Ausdruck mich für den Frevel, Ihnen die Wabhr- beit vorenthalten zu haben, gräßlich ftrafen müßte. Mein, ich tue das nicht, Aber bleiben Sie noch einen Augenblid, Nehmen Sie bier dicht neben mir Pat. So. Sie find zu gut und zu ſchlecht für den Schaufpielerberuf. Sie würden immer nur fhaufpielern, nicht fpielen; Unmenſch, Bär, Wind» beutel, ungeziemende, laͤcherliche Frage, nicht Menſch auf der Bühne fein. Die heilige, inbrunftoolle Flamme feblt Ihnen, dad Auge, das Fippenpaar, die dDrobende, beweglihe Wange. Bewegung feblt Ihnen. Manier, feben Sie, das haben Sie, aber das bedeutet nichts, das ift menſchlich. Sie haben nicht? Kuͤnſtleriſches. Ich bin davon uͤberzeugt (geben Sie mir die Hand), daß Sie innere Gaben befigen, die Sie, wenn Sie heranreifen, zum guten, brauchbaren Mann ftempeln werden. Ich glaube, daß Sie ein ſchoͤner Menſch werden; auf der Blhne, im goldenen Licht der Rampe, wären Sie haͤhlich, glauben Sie es mir. Sie müffen mir das glauben, kindlich, denn verfteben koͤnnen Sie ed nod nicht, weil Sie zu jung und zu unberührt von fhredlihen Erfahrungen find. Drüden Sie einen Kuß auf meine Hand.

Der junge Menſch kuͤßt der Schaufpielerin beide Hände.

Frau Benzinger: Sie fommen viel ind Theater, nicht wahr. Ja, das ift fo gefährlich fiir junge Köpfe. Ins Theater follten nur reife Menfchen fommen, das bätte das Gute, daf ed auch einen veredelnden, verfchärfenden Schein und Einfluß auf die Bühne und deren Kunftleiftungen wuͤrfe. Ich bin fo frob, lieber junger Mann, Sie haben warnen und abfchreden zu dürfen. Ein andrer wiirde Sie aufgenommen haben, würde vielleicht noch

358

feinen Spaß daran gehabt haben, Ihnen Gift in Ihr ganzes, Ihnen jelber noch unbefanntes Leben zu fireuen. Gehen Sie jegt. Leben Sie wohl. Mein, nein, befuhen Sie mid; nie mehr. Laffen Sie die ganze Theaterei ftramm bei Seite, baden Sie Ihre Empfindungen in natürlihern Quellen, werfen Sie fih in gute, männlihe Pflihten, und wenn Sie dreißig Jahre alt geworden jind, fönnen Sie zu mir fommen und mir erzählen, was Sie errungen, erlitten und erlebt haben. Ich freue mid) darauf, Sie jo lange aus dem Geficht zu verlieren; das verfpricht mir die Freude, Sie als feiten Menſchen wiederzufehen. Hier. Behalten Sie dad. Es ift mein Bild. Vergeflen Sie nie, wad ich Ihnen gefagt habe.

Spinnftubenlied vom Himmel

it breiten Fafladen M Ausleuchtend, audladend Hoch ftehet ein Haus. Aus blauen Gefteinen, Mit Schimmern, mit Scheinen Iſt e8 erbaut.

Die Sterne, die Winde Sind Dienftgefinde

In dem Palaft.

Die leuchten, die tragen, Die zuͤnden, die jagen, Sie haben fein’ Raſt.

Was fol ich berichten Biel lange Geſchichten? Schon fallet der Mond. In wenigen Jahren Werd't mehr ihr erfahren, Wenn droben ihr wohnt.

Diefed bisher unbefannte Volfslied, deffen Entftehung, auf Grund der baroden Einfhläge, in das fiebzehnte Jahrhundert zu ſetzen iſt, wurde und von einem Freunde unferd Blattes, Herrn Dr. Mad Verffen junior, freund» lichſt mitgeteilt.

359

Theaternachrichten

uftav Kadelburg ift in Agnetendorf eingetroffen, um mit Gerhart Hauptmann einen neuen Schwanf zu fchreiben, der den Titel „Florian Mever” führen fol. Antendant von Hülfen ift gleichfall® nad) Agnetendorf gereift und gedenft in der Hauptmannfhen Villa neben dem Arbeitszimmer der Dioskuren Wohnung zu nehmen. Er hält das für nötig, weil er auf diefe Weife das fertige Manuffript fofort erwerben zu koͤnnen hofft, bevor

Direftor Zickel ed überhaupt zu Geſicht befommt. J. Landau ift von einem Schaufpieler wegen Beleidigung verflagt worden.

Im Berliner Theater wird eine ungewöhnlich intereffante Vorftellung vorbereitet. Es handelt ſich um ein Mufifdrama: „Agird Gang“, dad nad) dem befannten Fiede Kaifer Wilhelms bearbeitet und eine Wendung in der nahmagnerifhen Produftion herbeizuführen beftimmt fein fol. Die Gefangd- partie des Helden ift Ton fuͤr Ton dem Part ded erften Geigerd angepaßt. Aller Vorausſicht nach wird Direftor Bonn felbft diefe Rolle freieren; und jwar in der Weile, daß er gleichzeitig auf der Bühne fingt, im Orcheſter die Funktion des erften Geigerd verfieht umd das übrige Orchefter mit feinem eigenen linfen Fuß dirigiert. Alle Deforationen find von Herrn Direftor Bonn eigenhandig gemalt. Uber den Autor ded Mufifdramas verlautet nichts Beſtimmtes. Man munfelt von einem unbefannten bruft- franfen Lehrer in der Schweiz.

Noch eine andre Nachricht dringt aus dem Berliner Theater. Ferdinand Bonn ift einigen im nächften Jahr neu zu eröffnenden Theatern zuvor« gefommen und bat fehon jet in feinem Haufe eine Neibe prächtig aus- geftatteter Preſſezimmer errichtet, die den Vertretern der Zeitungen wahrhaft märchenbafte Bequemlichkeiten bieten.

Die nähfte Brofchlire ded pp. Bergmann führt den Titel: „Der Fall Bonn oder der Finftlerifhe Aufihmwung ded Berliner Theaters“. er Verfaſſer bofft zuverfichtlich, damit abermals den Zorn Siegfried Jacobſohns ju erregen und fo auf neue acht Tage eine befannte Perjon zu werden.

Traute Kempner ift an Stelle der feit zehn Jahren unerfeßten Charlotte Wolter an dad wiener Burgtheater engagiert worden.

Bei dem von Otto Brabm und Paul Lindau zu Ehren des fcheidenden Direftord Siegmund Fautenburg veranftalteten Feſtbankett hielt der Gefeierte eine bochbedeutfame Rede, in der er andeutete, daß Ibſen, der von ibm entdeckt worden ift, eigentlich gar micht eriftiert babe. Bon wem die un- fterblihen Werfe berrübhren, das zu verraten, verbiete ihm die Befcheidenbeit. Die Mitteilung machte auf alle Anwefenden einen tiefen Eindrud. Der Literaturforfcher Karl Bleibtreu erſchoß fich, weil er nicht längft auf diefen Gedanken gefommen war.

Eine wiffenfchaftlihe Erpedition zur Durchquerung unbefannter Erdteile wird augenblicklich ausgerüftet. Die Koften werden von dem Direftor Viftor Barnowsky getragen. Zweck der Expedition ift die Erforfchung der Literaturen folder außereuropäifhen Volfäftämme, deren Werfe im Kleinen Theater noch nicht aufgeführt worden find.

Direktor Schmieden beabfichtigt, fih in Noftod, wo er befanntlic den

360

Doktortitel erworben hat, ald Privatdozent zu habilitieren. Er will zu den Vor⸗ lefungen immer nad Noftod fahren, da er dad Meue Theater nebenbei mweiterzuführen beabfichtigt. Seine Habilitationdfchrift beißt: „Die Titel und Orden der deutfchen Buͤhnenleiter feit Schröder”, feine Antrittövorlefung: „Die Leiftung des Schaufpielerd Efhof ald ‚langer Kerl‘ Friedrich Wilhelms des Erſten“.

Bei Wertheim, zu oberft, dort, wo man Kaffee trinft, ift gegenwärtig etwas Köftliches zu feben, nämlich der dramatifche Dichter Seltmann. Er bodt auf einem Fleinen Rohrſtuhl auf erhöhtem Geftell, allen Blicken eine leichte Zielfcheibe, haͤmmert und nagelt und Flopft in einem fort und fchuftert, wie ed denen vorfommt, die ihn betrachten, Blankverſe. Das Fleine, vier- edige Geftell ift mit dunfelgrünen Tannenzweigen gefhmadvoll befränzt. Der Dichter ift anftändig angezogen worden, rad, Lackſchuh und weiße Binde, dad alles ift da, und feiner wird fich zu genieren haben, dem Mann feine Aufmerffamfeit zu fchenfen. Dad Wunderbare aber ift der roftgelbe, berrlihe Haarftur;, der fih von Seltmannd Kopf, Über die Schulter meg, mächtig bi8 an den Fußboden niederwälbt. Er gleicht der Mähne eines Löwen. Wer ift Seltmann? Wird er und von der Schmad befreien, unfer Theater etlihen Salpeterfabrifanten ausgeliefert zu wiffen? Wird er das nationale Schaufpiel fchreiben? Wird er und eined Tages ald der Kerl erfcheinen, nad dem wir und jegt alle wieder mal fo blutwiürftig ſehnen? Sedenfalld aber muß man der Leitung ded Warenhaufes Wertheim für die Ausftellung Seltmannd Danf wiffen.

| Schalom Aſch ift in feine Heimat zurüichgefehrt. Vor der Abreife beflagte er fi über die berliner Preffe, die fo gar feine Reklame für ihn gemacht babe. Er verachte infolgedeflen die Berliner dermaßen, daß er fein an- ftändiged Stuͤck mehr für fie fehreiben werde.

Der Kaifer hat die Anregung Hermann Bahrs befolgt und Mar Mein» bardt zum Direktor ded Königlihen Schaufpielhaufes ernannt. Reinhardt wird zunächft Oscar Blumenthald neues kleines feines DVersluftfpiel „Abu Saids Schwur der Treue oder Wann wir im Glashaus der Fee Caprice altern” mit allen feinen bewährten Negiefünften zu infjenieren haben.

Wie dem Theater allmaͤhlich die beften und gediegenften Kräfte dabin- ſchwinden, gebt zu unferm großen Leidwefen aus einer Zufchrift hervor, die Frau Gertrud Eyſoldt an uns adreffiert bat. Sie teilt und mit, daß fie an der Kantſtraße, Ede Joachimsthalerſtraße, naͤchſtens einen Korfettladen er- öffnen werde, um ſich allda gänzlich als Gefchäftsfrau zu etablieren. Welch fonderbarer Entfhluß, und mie ſchade! Auch Scaufpieler Kayßler will wegmachen umd zwar, wie wir hören, aus der Empfindung heraus, daf ed ſich in die Zeitläufe beffer ſchicke, hinter einem Schanftifc zu fteben, als —— auf den Brettern zu ſpielen. Er ſoll zum erſten Mai eine kleine

neipe im Oſten übernommen haben, und er freut ſich ſchon darauf, fagen einige, Bier einzufchenfen, Gläfer zu pugen, Butterbrote zu ftreihen, Buͤcklinge zu fervieren und nachts die Befoffenen zur Bude berauszuftiefelwichfen. Ein Jammer! Wir aber müffen aufs tieffte bedauern, zwei fo fehr bewunderte und wertgefhätte Künftler ibrer Kunft untreu werden zu feben, und wir wollen boffen, daß folches nicht Mode werde,

361

Das Deutſche Theater wird ald legte Movität unter der Direktion Reinhardt die „Hermannsſchlacht“ herausbringen. Hermann den Cherusker wird felbfiverftändlih Herr Schildfraut, Marbod den Suebenfürften Herr Großmann und Thusnelda die Heroine der Bühne, Frau Eyfoldt, als Abſchiedsrolle vor der Eröffnung ihres Korfettgefhäftd darftellen. Dagegen bewahrbeitet es ſich nicht, daß Duintidius Varus von Herrn Arnold geiptelt wird. Vielmehr wird diefe Rolle dad Debut eined neuengagierten Mitglieds fein, deflen Name nod geheim gebalten wird, in dem aber Eingeweibte den Direftor Donat Herrnfeld vermuten.

In den Rammerfpielen it noch fur; vor Toresſchluß eine kleine Änderung getroffen worden. Die Direftion hat den Dramaturgen kleidſame, bellblaue * uͤbergeworfen, mit großen, ſilbernen Knoͤpfen dran. Wir halten das

r hüͤbſch, denn wir haltens für richtig. Die Theaterdiener find abgeſchafft worden, und die Dramaturgen nehmen nun an den Spielabenden, alſo zu einer Zeit, wo fie ja ſowieſo nichts zu tun baben, den Damen die Mäntel ab und weijen den theaterbefuchenden Herrſchaften die Pläge an. Auch öffnen fie Türen und geben allerhand Fleine, aber notwendige Ausfünfte. An den Beinen tragen fie jegt lange, die, ledergelbe, kniehohe Getern, auch fünnen fie einem ſchon ganz ausgezeichnet, unter einer eleganten Verbeugung, Pro» gramme darreihen und Gudgläfer anbieten. In der Provinz; würden fie außerdem noch Zettel vertragen; Died ift aber bier in Berlin nicht nötig. Kurz und gut, fein Kritifer wird nunmehr nod fragen dürfen, was ein Dramaturg jei, und was er für Obliegenheiten zu erfüllen babe. Sie tun jegt ihr AÄuferftes, und man wird fie in Zufunft in Ruhe laffen müffen.

Um endlich einmal dem ewigen Gejammer und den beftändigen VBor« würfen, er gebe nur Auöftattungen, feine Stüde, energifh auszuweichen, ift Direftor Reinhardt auf die Idee gefommen, zukünftig feine Stüde einfach vor weißer Wäfche fpielen zu laffen. Seine Dramaturgen haben natlırlid) dad Geheimnis bereitd ausplaudern müffen, und er wird erftaunt, wenn nicht entrüftet fein, uns fhon heut mit der Meuigfeit auftrompeten zu ſehen. Weiße Wäfche! Muß es denn gerade fchneeweiße fein? Kann fie nicht von irgend einer unbefannten Riefendame aus dem Panoptikum, fagen wir, etwa anderthalb Tage lang getragen worden fein? Alddann würden die Deforationd- ſtücke einen ficherlid bezaubernden Schenfelduft ausftrömen, was den Herren Kritifern nur gut tun könnte, die dann vergäßen, wo fie fäßen und betäubt würden in ihren fchärfern Sinnen. Obne Spaß. Reinhardts Idee fcheint und entwidlungsfäbig, alfo glänzend. Auf den weißen Tuͤchern werden ſich die Gefihter und Spufgeftalten der Afteure und Aftricen außerordentlid farbig abheben. Ob Reinhardt das aber auch am Hoftheater Durchfegen wird?

Wir teilten Flrzli mit, daß eine G. m. b. H. das große Grundfhud an der Ede der Koch- und Muladftrage erworben babe, und fnüpften daran einige Bemerfungen über die Art des dort zu erwartenden Theaterunter- nehmens. Jetzt gebt und von dem Gefchäftäfübrer jener Gefellfchaft ein Schreiben zu, des Inhalts, daß es ſich bei dem Grundftücdderwerb um eine GSeifenfabrif und nicht um eine Theatergründung handle. Wir glauben wohl» beraten zu fein, wenn wir und nicht bluffen laffen und ein derartig abjurdes Dementi ald Aprilfcher; betrachten.

362

|

Kritifers Taftif in der Verdammnig

ues Theater: „Vorbeftraft”, vier

Akte von Albert Bernitein-Sa- weröfy. Wer den Willen zur Luft, wer genießerifhe Dafeind-Strategie bat, der ift auch ſolchen Situationen gewahfen. Ich fam (jur zweiten Vorftellung des Stuͤcks) in der be= haglichen, grenzenlos inforreften Ver⸗ mummung, in der ich mir auf dem Boul’ Mich’ gefiel, alle Taſchen voll Büchern, Zournalen, Zigaretten; nahm, den Blühnendingen möglicft entfernt zu fein, einen Platz im zweiten Rang; rollte mid igelhaft in mid) zufammen; wurde ſtachlig, unver- wundbar gegen noch fo große DVer- fitfchtheit; dachte der olympifchen Seligfeitt auf londoner Theater- galerien, von welder der liebwerte Dpiumeffer de Quincey ſchwaͤrmt; furz: gewann eine gut arrangierte Hirn= Heiterkeit, einen eigenwilligen, unberlinifchen Boh&me-Stil, eine ge⸗ ſchuͤtzte egoiftifche, hoͤhniſche Iſolation. (Empfindliche Nerven bedürfen folder Einbettungen und Ummallungen.) Nun fonnte mir nig mebr g'ſchehn .. Wußten Sie ſchon, daß, wer einmal gerichtlich beftraft ift, fpäter, ald Zeuge vernommen, feine „DBorftrafe” an- geben muß? Ich mußte ed nicht; ed ift mir auch unendlih egal. Hier jedoch wird ed und eingebläut. Es fann nämlich Unheil daraus entftehen, weöhalb der Autor diefe Beftimmung aus der Strafprogefordnung eliminiert feben möchte. Da gibt ed einen mit Gefängnis „vorbeftraften” Kommer- jienrat, der durch eine freimillige Zeugenaudfage einen Freund retten

ſchau

koͤnnte, es aber aus Angſt vor der Frage nach der Vorſtrafe nicht tut. Der Freund, unſchuldig, wird ver- urteilt, erhängt fich in der Gefängnis- jele... Drei Afte fpielen im fe ded Kommerzienratd, einer natürlich im Gerichtöfaal. Man fennt das von Herrn Brieur (zu dem ſich unfer Bernftein verhält wie ein graues Mäuslein zu einer dicken Hyaͤne.) Mit Kunft bat das Dinge nichtd zu fhaffen, und die Kunftfritif nichts mit ibm . .. Ich, binter meinen Feltungswällen, begann zu meditieren: Wie muß ed in der Seele eines Direftord ausſehen, der ein foldhes Stück aufführt? Wahrfcheinlicd hat er gar feine Geele. Und weiter: muß man ein foldes Stid bi zu Ende anhören, bitte!? Ddcar Wilde, in den ‚Sntentiond‘, fagt: nein. „Man nimmt eine Probe und ift fertig, follte ic meinen; mehr als fertig.“ So zog ih aus meiner Tafche einen Band Gerard de Merval, ein zerlefened Buch, dad mir ein lieber, zermürbter Kaffeehaußliterat, koͤnig⸗ li vermwittert wie eine Ruine, einft gefhenft: „Ah, c'est beau, ga!“ Und feine Augen leuchteten auf in der Erinnerung an die eigene Jugend und dad alte Parid. Ed war im Cafe de la lune rousse, und juft zu der Zeit, da dad Café de la nouvelle Ath&nes auögebeffert wer- den mußte und deshalb geichloffen war und niemand recht wußte, mo er hingehen und feine Heimat haben follte (in der Tat: unfre game Ge: fellfhaft war mie ein Hühnervolf, das, aus feinem Hof vertrieben, fehr traurig umberirrte und »picfte). Gerard de Merval bat fi umgebrungen.

363

Manche Dichter tun ed. Ad), lieber in Paris tot fein, ald in Berlin foldye Stüde... Pit! ein Aft ift aus. Die Claqueurs, in hoͤchſter Inbrunft, zer⸗ fleiſchen ſich Haͤnde und Schenkel, bruͤllen: „Bravo!“ Sie figen gan; in meiner Naͤhe, und ich füble mic) dadurch peinlicy degoutiert. Wie haͤß⸗ lich ift das alles!.. Nafch fchlüpfte ih in das Verſteck meined Inneren zurück. Ach, da fühl ich die Furze, ihwarzbraune Pfeife, die ich damals zu London, Tottenham Court Road, fir six pence erftand! Es war ein wunderfchöner Fruͤhlingstag. Nuffell Square ftand in Lindheit und Grün. Es blübten die Kirfhbäume. Kleine Mädchen tanzten zu einer Dreborgel.

Ferdinand Hardekopf

Komödie und Zeitfritif

D, br Hirſchfelds Luftipiel „Mieze

und Maria” erfcheint mir, für Autor, Stud und Allgemeinheit, eine Eigenfhaft bedenflih, die, meines Wiſſens, in den Befprehungen nicht erwähnt ward, obwohl fie prinzipiell bedeutungsvoll ift: der Mangel an Unterfcheidungsvermögen in Kultur⸗ fragen. Hirfchfeld verfpottet die aͤſthe⸗ tiziftifhen Emigranten, die ſich aus der zivilifatorifchen großen Revolution der Gegenwart in allerlei anciens regimes der Rultur flüchten. Aber er verfpottet aud) etwas Junges, einen Anfang. Er ſieht Kranfpeitderfchei- nungen. Aber er fann nicht unter- fcheiden, daß jene Alter und Ver— weſung, diefe allzuftarfes Wachstum und Überfülle ded Blutes anzeigen. Ein Beifpie. Der Snob fagt: „Diefe Stühle find mit Abficht ihön.” Es ift Dumm, Daß er ed zu Mieze Hempel aud Pankow jagt. Doch ed foll außerdem eine Phrafe fein, und es ift eine wenn auch gefchraubt formulierte Wahr⸗ beit. Die Spießer bejubeln nicht die manirierte Korm, fondern den wert-

#

vollen Inhalt. Sie fühlen ſich be= ftätigt im Beſitz ihrer Möbel, bei deren Herftellung feinerlei Abficht irgendweldhe Schönheit ſchuf. Sie fühlen ſich der Notwendigfeit ent- boben, ſich mit diefem Kunftgewerbe zu befaffen, da ein befannter Drama- tifer e8 auf großen Buͤhnen ver- böhnt. Oder: ed wird ein Kinder- zimmer gezeigt mit weichlich uͤber⸗ bellen Tapeten, gefucht ftilifierten Bil- dern, libertrieben einfachen Möbeln ; der Snob jagt, es fei ganz nach der „Kunft im Leben des Kindes” ein- gerichtet ; und die Spießer freuen ſich der Kunftlofigfeit ihrer Erziehungd- methode und ihrer Kinderzimmer. Diefe Ideen find „bypermodern“, dad ift „Zugendftil” und „fezeflie- niſtiſch“, und wir Wilden find doch beffere Menfchen. .. Alle diefe An= fänge einer neuen fünftlerifchen Kultur find voller Schwaͤchen und Auswuͤchſe. Aber ed find Anfänge, und es ift in diefer Hinfiht eine Fülle des Reifen bereitö entftanden. Indem dieſes miferable, abertrogdem oder, richtiger, gerade deshalb erfolgreihe Stück toted Ende und jungen Anfang, Snobidmus und Fünftlerifche Kultur vermengt, beftärft ed die große Menge der Widermwilligen in ihrer Trägbeit. So junges Leben muß gepflegt, nicht jertreten werden. Bon einem Schrift- fteller, der in Komödien die Ideen feiner Epoche fritifieren will, muß man verlangen, daß er ein nabes Verhältnis zu den Dingen bat, über die er urteilt; nabe genug, um Brad; und Fruchtbar unterfcheiden zufönnen.

Ernst Lissauer

Deutfhe Uraufführungen 28.2. Anton Freytag: Der Stadt- fhreiber, Ein Stuͤck aus der guten alten Zeit. Linz, Landestheater. 1.3. Hermann Nitter: Leſſing in Kamenz, Lebensbild. Würzburg, Stadttheater.

Berantwortli für die Redaktion: Siegfried Jacobiohn, Berlin SW. 10

Verlag von Deſter held & &0.,BerlinW.15 Drud von Imberg & Leffon, BerlinW.n

JJ. April 1907

III. Jahrgang Ylummer 15 *

Vom neuen Pathos / von Emil Geyer

lange arm und unzulänglic fein, bis es ſich feines dionyſiſch⸗ orgiaftifhen Urfprungs wieder befinnt und den Willen zum Pathos mutig befennt. Zu einem neuen Pathos, das, genährt aus den tiefften Brunnen unferd Empfindend, dennod frei und ſchwerlos, farbig und leuchtend emporfpränge. Noch immer ift eine nichtern = nivellierende Natürlichkeit das legte Wort ded Theaterd fie genligt ja aud fuͤr feinen Alltag und der pathetifhe Ausdrud ift im beften Fall geduldet und ſteht ſchuͤchtern in der Ede, aus der er allerdings oft bervorgeholt werden muß, aber nur verfleidet und ungenannt: Man tut ed verfhämt und mit unfreiem Gewiffen und will nicht eingefteben, daß man ihn dod braucht. Eined Taged aber wird Afchenbrödel Prinzeffin fein. Vorlaͤufig jedoch ift aller Begriff ded Pathos noch ein Gegenftand des Mißtrauend geblieben, von jenen unfernen Tagen ber, da man ed feierlich in Acht und Bann getan bat. Bon jener immerbin fehr heilfamen Zeit her, da unnachſichtlich, wie in den andern Kiünften, fo aud in der Kunft ded Theaters und ded Schau- fpielerd, die engfte Wirklichkeitsnaͤhe, ja Wirklichfeitöfleben gefordert und jeglicher Aufſchwung als eitler Ikarusflug lächelnd abgelehnt wurde. Damals fonnte man einen Schaufpieler nicht empfindlicher richten, ald mit dem Spruch „patbetifh”. Es war fein Todesurteil. Eine firenge Auslefe des fchaufpielerifhen Gutes fand unter dem Geſichtspunkt der Natürlichkeit ftatt, und die einfeitige und audfchließlihe Anwendung diefed Rriteriums bat ficher verfchuldet, daß manche Mittelmäßigfeit aufgenommen und viel Wertvolles anderdartiger Begabung verworfen wurde. Und erft nad) wieder- holten Ubergriffen dieſes Geiſtes auch in dad Drama böhern Stild wurde ed allmählich Flar, dag diefer MWirklichfeitöfanatismus feine Grenzen babe, die zu liberfchreiten Anmaßung oder Verwirrung fei. Aber das „Pathos“ ward dadurd allein noch nicht weniger unerträglich.

I N: Theater der Gegenwart wird vor feinen hoͤchſten Aufgaben fo

365

Denn ed gab nur das Alte, Falſchgewordene, zur Falten, feelenlofen Kon vention Erftarrte. u

Pie werden Dramen höhern Stil in unfern Tagen gegeben? Diele gar nicht: man weiß einfach nicht, wie man fie fpielen fol. Da verfagt dad Theater, verfagen die Schaufpieler. Man fann Goethes „Iphigenie“ oder den „Taſſo“ oder gar die „Matürlihe Tochter” nur in einem vers alteten Epigonenftil oder gar nicht fpielen. Ebenfowenig den „Wallenftein” oder „Die Braut von Meffina”. Bon Hebbel und Kleift ganz zu ſchweigen: Der Stil fir Hebbel und Kleift war überhaupt noch nie gefunden. Alfo vor den artiftifch höchften Hervorbringungen unfrer größten Dichter verſagt dad Theater. Micht minder vor dem Stildrama der Gegenwart.

Bei Shafefpeare kann man fich zur Mot mit einem efleftifchen Gemifch helfen, das bald realiftifh, bald mehr oder minder, meift fehr pſycho—⸗ logifierend, bald verfhämt-pathetifch iſt. Wobei freilich, zu Gunften eines Überwuchern® mimifchsdarftellerifchen und fjenifchen Kleinwerfs, dad MWort faft immer verloren geht: Shafefpeare fann eben diefen Verluft aushalten; ed bleibt immer no genug. Schlimmer ift, daß ein Piychologifieren um jeden Preid alles allzu fubjektiviftifch-flein, ja oft zur groteöfen Karikatur macht, daß das Streben nad dem Groftypifchen, nad der zwingenden Abftraftion, die weſentliche Lebenszuͤge machtvoll emportreibt und zum ebernen Ning zufammenfchließt, ganz verflimmert. Auch das ift zu fagen: Pfycho- logifieren läuft fchlieglih in Willkur und in Konftruftion aus, die wir flır Natur» und Gelbftbeobahtung ausgeben. Fir mic) ftedt felbit im genialen pſychologiſchen Roman eines Doſtojewsky natürlich um fo mehr bei den geringern, wie etwa bei Bourget und d'Annunzio oft viel von ganz foltem Nechenerempel: Mit fühllogifdher Überlegung, aus dem Verftand, nicht aus der Viſion heraus, fcheint mir zuweilen eine pfochifche Gegeben- beit in ihren Konfequenzen audgefponnen, Seltfamfeiten werden rein logiſch verbunden und uͤberboten, durch alle Kombinationen und Variationen geführt, ganz willfürlich oft, denn auf dem Gebiet des Pfychopathifchen ift es ſchwer, vielfach unmöglich, zu fontrollieren.

Und mad den Eindrud eines Fiebertraums, der Unbewußtheit und Unterbewußtbeit bervorbringen foll, ift mit dem Verſtand errechnete, kuͤnſtlich hberbeizte Phantaftif und Eraltiertheit. Auch die Schaufpielfunft gerät bereits in unfruchtbared pſychologiſches Konftruieren und in einen Subjeftiviamus, der wohl verblüffen, aber nicht mehr überzeugen fan. Ich glaube, es wird bald die Zeit fommen Borgefchrittene empfinden jegt fhon fo da man der Michtd-ald-Pfychologie gründlich fatt fein und fie ald etwas Halb» fünftlerifches, ald zu wiffenfchaftlich werten wird. Es müßte denn zu dem Zergliedern und Zerlegen noch etwas, das Wefentliche, die Form hinzu⸗ fommen, die Negenbogenbrüde, die aus Dunft und Gewoͤlk nah Walhall führt. Denn Kunft ift Kunft, nicht „Natur“, iſt Form, nicht Stoff, ift Diftanzierung, nicht Stoffgebundenbeit.

366

I

Ein aͤngſtliches, nlchternes, Fritifches Gewerbe ift fie geworden, die aus Rauſch und Efftafe geborene Schaufpielfunft. Cie ift fehr Flug geworden, febr profan, die einft gott-voll war. Sollte fie nicht wieder etwas von jener fultifchen Höhe erreihen koͤnnen, auf der ihre Anfänge fanden, zu der fie in ihren großen Zeiten ſich aufgegipfelt Hat? Müßte ed nicht wieder ein feſtliches Theater und eine ſakrale Theaterfunft geben, von der auch die profane einen Abglanz erbielte?

Der Wille und die Sehnfucht vieler zielt dahin, aber es fehlt noch Bewußtfein und Erfenntnid, es fehlt der Mut zu den richtigen Mitteln. Denn diefe bedeuten den Bruch mit dem, was zurzeit noch ald Norm gilt. Es gibt fo manchen Suchenten unter den Künftlern der Bühne, aber was fie finden, ift oft fehr wahrhaftig, fehr innerlich, fehr expreffiv und aufs gewählt, und doc meift ohne Größe, weil ohne Formung: Sie geben Krampf ftatt gebändigten Fluffes der Empfindung, Schweiß und dumpfes Keuhen an Stelle von göttlihem Spiel, ed ift ein ewiged Pedalnehmen, Erpreffivität um jeden Preis, hyſteriſche Zuckungen und Naturlaute ohne Bliederung und Freiheit. Sie find mit allzu vieler Erdenfchwere belaftet, fie find verfauft an den dampfenden Robftoff des Geflihld, das fie noch in fi) überheigen und im ſchwelender, unreiner Glut von fi geben. Sie fuhen mit naturaliftifher Bingegebenheit zu flilifieren und das ift ein Widerſpruch. Stil ift unterworfenes, gebändigted Leben. Cie haben feine Melodie, fie haben feinen Rhythmus, fie haben feine Freiheit. Und wirfen deöwegen nur peinlich wirklich, wo fie in Schönheit uͤberwirklich, ja unmirf- lich fein follten.

IV

Geberde und Nede find die Ausdrucdmittel der Schaufpielfunft; nur von dieſer fei hier unmittelbar gehandelt: die Anwendung auf jene kann jeder leicht felber vollziehen. Die Aufgabe wäre, die Nede zu diftanzieren vom Nur-MNatürlihen. Durch Abftraftion, durch Auswahl, durch Steigerung. Anders gewendet; neue Melodien, Grundmelodien der gehobenen Rede wären zu finden.

Der Maler fann mit einer Linie die Geberde der Zeit geben, eine un« mittelbare Anfchauung, eine tiefe Erregung, ein zwingendes Gefühl, Oder durch eine eigene Farbenbindung: Farbe und kinie find feine mufifchen, rein formalen, Über dem Stofflihen ftebenden Mitte. Der Dichter fann es mit irgenderlefenen Worten oder mit ganz gewöhnlichen, indem er fie zu neuen Klängen vermählt oder fonft ihre matt gewordenen Bedeutungen geheimnisvoll neu erglänzen läßt, fo daß ſelbſt von den ganz alltäglichen eine große und unentrinnbare Magie ausgeht. Linien, Farbenbindungen, Wort- Flänge, fchwerlofe, entmaterialifierte Dinge, Zeichen nur, ftrömen fo Er» regended aus, das begleitet ift von dem ſchwellenden Luftgefühl der Freiheit und des Sieged. Und fo gälte ed, aus der Unendlichfeit der Tonfälle und

367

Melodien der natlırlihen Rede zu wählen, zu verbinden, zu fleigern, vielleicht fogar unmirflihe zu finden, die dad wirken, durch den bloßen Klang wirken, was die Linien und Farben des Malerd und das kunſtvoll gewählte Wort des Dichterd wirken: die Geberde der Zeit, eine unmittelbare Anfhauung, ein zwingendes Gefühl, geheimnisvolle Erregung, verbunden mit dem Luft- gefühl der Freiheit und des Sieges.

Die Schaufpielfunft kann uͤbrigens gar nicht anders ald Melodien derütede, Sprachmelodien fhaffen. Rudolf Blümner hat meines Wiffend juerft mit aller Energie darauf bingewiefen: Der geniale Schaufpieler ift nad) ihm der Finder neuer Tonfälle, der Befiger eigener Melodien. (Was freilich wohl nicht alles ift: auch die Geberde gehört dazu.) So hat auch der Naturalismus neue Tonfaͤlle gebracht, zumeift bislang unbenugte der natürlichen Rede. Und überdies haben feine bedeutenden Vertreter, ein Rittner, eine Lehmann, noch ihre perfönlihe Melodie. Aber das naturaliftifche Sprechen verhält ſich zum ftilifierten wie dad naive, fchlichte, innige und doch fehr begrenjte Volkslied zur bewußten, dad Subtilfte und Erhabenfte umfpannenden Kunft- Iprif: der Bogen feiner Melodien muß fühner und weiter gezogen, die Linie der Rede muß höher gefhwungen und mannigfaltiger gewellt, feine Rhythmen reicher, gegliederter und beftimmter fein.

Es ift auffallend, dag jede Zeit und jeded Volf für feine erbabenften Dinge Sprechweiſen befit, die triebhaft oder mit Abficht unwirklich find, weil fie Überwirkliches verkünden follen, die an Beſprechungen und Be ſchwoͤrungen anflingen, die zwingen, bannen, bypnotifieren follen. Das Wort bat Macht, man fann die Geifter und Dämonen „beiprehen”: aus dem Urglauben an die Gewalt geheimnisvollen Wortes zieht noch immer, in geiftigerer Form, die Dichtung Kraft und Wirfung; der Dichter glaubt noch an die „Magie” ded Worted und bezaubert damit. Aber es ift nicht das Wort allein, das den Zauber wirft, fondern faft mehr noch, wie es gefprochen wird. Man denfe nur an dad Suggeftive und Gebeimnisreih-Erregende der Klänge, Klangfolgen und Rhythmen liturgifcher Formeln, Und in der Kunft, in der profanften felbft, ift noch etwas vom Kultus, ein nod fo verblaßted Erbe, und ed wäre wohl ihr Ende, wenn diefed ganz verfchwände. Und die Bühne follte nicht dad Recht haben, an die erhabenften Kunft- werfe zu rühren, fo lange fie nicht deren ſakrale Weihe und Hoheit in ihre Spradye übertragen fan?

V

Es iſt nicht noͤtig, das neue Pathos jetzt ſchon charakteriſieren zu wollen. Ein ſolcher Verſuch koͤnnte eher hemmend als befreiend wirken. Es genuͤgt, wenn denen, die die Gabe erhalten, der Mut geſtaͤrkt wird, die gebundene Mufif der Nede zu loͤſen. Unſre Mufif, in der Puldfchlag und Seele unferd Lebens verfelbftändigte Form geworden if. Daß Ziel, dad Er- gebnis ift ungewiß; es läßt ſich nicht fagen, wo der neue Stil, der Rede zwiſchen bloßem Heraustreiben der Wirklichkeit und gänzlihem Überfliegen diefer fein Haus errichten wird. Das hängt davon ab, welche von den

368

feelifhen Strömungen der Zeit, die fi teild befämpfen, teild verbinden, ſich als die ftärffte und tieffte eriweift, hängt von der Macht der Schule machenden Finftlerifchen Individualitäten ab, Beobachtung ift bier freilich nicht Hauptfache, fondern orgiaftifch geſchwelltes Empfinden mit der apollinifchen Gabe der Formung. Wozu freilih die Mittel wefentlih find: vielleicht exiftiert ſchon der geniale Keblfopf, der die erlöfenden Klänge und Tonfälle ald wunderbare Gabe in ſich trägt. Elemente eined neuen Pathos finden ſich fhon etwa bei der Dufe oder bei Kainz, der nicht blos die intereffantefte Individualität der deutſchen Bühne, fondern eine ganze Richtung ift. Freilich ift ihr nur mit größter Vorficht zu folgen. Denn vieled in feiner Technik, manches vielleicht auch in feiner Seele gehört doch fhon der vergangenen: Generation an, und oft fplrt man, daß ein fehr modernes Empfinden fidy einer allerdings bewunderungdmürdigen, aber doch ſchon leer gewordenen Form ald untauglihen Mitteld bedient. Aber felbit von diefer Form läßt fi vieles lernen. Außerhalb der Bühne, auf literarifhem Gebiet, find George und feine Mitftrebenden um neue Werte ded gehobenen Vortrags bemüht, mit allerdings ein wenig eintöniger bieratifcher Geberde. Und ein vorfichtiged mählerifches Anfnüpfen an die Tradition ift fehr zu befürworten. Wir gewahren ein Ähnliches in allen Kuͤnſten, die aus der Enge der Wirf- lichfeitämalerei zu einer freiern Kormenfpradhe gelangen wollen. Was wir in Deutfchland an Stil der Rede befaßen, gebt, fo modifiziert e8 auch werden mochte, lebten Endes auf Goethes vielverläfterte Beftrebungen zuruͤck, der ja vielleiht in reformatorifhem Eifer den Bogen überfpannt bat. Diefer Stil ift freilich fir und hohl und zum falfchen Pathos geworden, aber nur weil ihm die lebendige Seele entflogen ift deswegen flingen und feine Melodien, feine Linien banal und leer. Denn die feheinbar feften formen des Stild bedürfen doc jedeömal neuer Wiedergeburt aus unmittelbarer Empfindung: fonft find fie gleich erftarrt. Dennoch bedeutet diefer Schule und Konvention gewordene Stil, rein formal, rein technifh, erarbeitetes Gut, dad immer Wert bat, das nicht einfach verworfen werden follte. So von Grund aus fann fid die Rede in einem Menfchenalter nicht ändern, fo weite Grenzen find ihr gar nicht geſteckt innerhalb der Gegebenheit unfrer Sprachwerkzeuge. Ed handelt ſich Doc, zumeift um Nuancierungsunterfchiede: es ift im Grunde oft nur eine leife Veränderung der Melodien, die Linie ein wenig fteiler oder flacher gefrimmt, die Intervalle der Melodie um ein faum Meßbares, um Viertele oder Achteltöne weiter oder enger, ganz geringe Verfchiebungen mögen es vielfach, fein, die doch alles wie völlig neu wirfen laffen. Mit größer ift vielleicht formal der Unterfchied zwiſchen neuem feelenbaften und dem alten falfch mirfenden Pathos. Aber in dem alten, ſehr entwicdelten Stil waren doch die technifhen Möglichkeiten aus⸗ gearbeitet und infofern ift von ihm zu lernen. Es ift ungefährlich, wenn nur ein richtiged Empfinden die Führung nie verläßt.

Matürlic fei bier nicht nivellierender Schablone, uniformem Singfang, auch nicht einem wefentlih rhetorifchen Stil der Bühne das Wort geführt:

369

der Tauſch wäre fchredlih. Im Gegenteil, was bier von der Rede gefagt ift, gilt analog von der Geberde, die in der Schaufpielfunft dad Primäre ift und bleibt. Auch fie bedarf der Vereinfahung und des Rhythmus, auch fie fol Mufif werden. Ich denfe nur an Grundmelodien, an die Gemwin- nung einer Faſſung, die allen individuellen Reichtum, alle Befonderbeit erft recht erglänzgen ließe. An eine Erhöhung der Baſis, die dad Individuelle erft. fleigerte und vor der Gefahr des Allzufubjeftiven bewahrte; an eine Atmofpbäre, die alles umfpielte, an Bindung und Abrundung der fonft aus- einanderflatternden Detaild. Und an einen Halt, an den Segen der Schule und Norm für alle diejenigen, die feine eigene Beſonderheit haben und deren der vielgliedrige Organismus des Iheaterd doch nicht entraten kann. Mas alles individuellfte Behandlung der Rede, wie fie jede Dichtung neu fordert, nicht ausfchließen darf.

Die Innerlicfeit und die Sehnſucht unferd Geſchlechts müßten, aus tiefunterften Quellen ded Naufches und der Efitafe emporgetrieben, repräfen- tativen, ſinnlich⸗ſymboliſchen Ausdruck ſich fchmieden auch in der Kunſt der Rede. Müpten Form, Muſik, Rhythmus werden, ſchwerloſe Blüte ab- gründigfter Gemwalten, Orpbeustanz der bezwungenen wilden Tiere der menfhlihen Welt. Und auf der Bühne foll man nidyt mehr feben, wie der brutale Rohſtoff ded Geflihls ſich peinlich entblößt, fondern wie felbft das Furchtbarſte und Erfchütterndfte, alle tiefite Aufgewübltheit doch zu- gleich göttliche Spiel ift, und felbft dad Nafen goͤttliches Bu: denn folhes fann die Form wirfen. EEE SEEN EEE

Einblick] von Friedrich Kayßler

Ay du, daß auf Leihen du gewandelt achtlos biß auf diefen Tag?

Daß du oft dir Gluͤcksgut

an der Stelle, wo ein Toter lag?

Waͤre died dein Ehrenplatz geworden, wenn nicht jener deinen Platz verließ? So geſchieht ein unbewußtes Morden

Um des Glüͤckes goldnes Vließ.

Dreimal felig, wer es fühlt’ und mußte und doch aufrecht land und weiter fehritt, tief begreifend, 9 geſchehen mußte,

was geſchah: ſo toͤnt des Lebens Tritt.

Aus: ‚Der Pan im Salon‘, drei Buͤcher (Szenen, Proſaſtude, Be in einem, das jeßt bei Deſterbeid & Co., Berlin W. 15, erſcheint

370

Moderne Sflaven/ von einem Clown Sechs Kapitel Schaufpielerelend

II Der Vertrag

ie Anftelung des Bühnenfünftlerd erfolgt durch Vertrag. Jeder x, Vertrag ift die rechtlich bindende Megelung des Verhältniffes zweier

Perſonen oder Körperfchaften und fann entweder durch freie Ver⸗ einbarung zwifchen Gleichgeftellten oder durch Drud und Zwang ded Stärferen, dem ſich der Schwädhere unterwerfen muß, zuftande fommen. Diefer Drud wird meiftend durch Schußgefege zugunften des Schwaͤcheren gemildert, zum Beifpiel durch das Bergarbeiter-Gefeg, durch die Dienftboten-Gefege, durch Polizei-Berordnungen und dergleichen, während die Stärferen, die Unternehmer, ſich durch Kartelle felbft gegen die große Maffe der Arbeitenden fhügen. Es drängt fih nun zu allererft die Frage auf: Entfteht der Ans ftellungd-Vertrag des Bühnenfünftlerd durch freie Vereinbarung oder durch) einen wirtfhaftlihen Zwang?

Auch beim Theater findet ſich eine Kartellierung der Unternehmer zum Schuß ihrer Intereffen gegen die große Maffe der Arbeitenden (dad heißt bier: der Künftler) in dem „Deutfchen Buͤhnen⸗Verein“, der alle bedeutenden Bihnen Deutfchlands und Oſterreichs umfaßt. Die dieſem Kartell gegen⸗ uͤberſtehende Maſſe iſt aber gleichfalls uͤber ganz Deutſchland und ſterreich zerſtreut und bildet daher keine Maſſe, wie etwa der Verein Kaufmaͤnniſcher Angeſtellter in Berlin oder die Maſſe der Bergleute im Saar⸗ oder Ruhr⸗ revier, ſondern ſtets nur eine winzige Gruppe von Einzelnen. Eine ſtrenge Vereinigung dieſer Gruppen von Einzelnen zu einer großen Intereſſen⸗ Vertretung, entfprehend der Vereinigung der Unternehmer, eriftiert nicht. Daß die beftebende „Benoffenfchaft Deutfher Bühnen- Angehöriger” Feines- wege eine ſolche Vereinigung ift, wird fpäterbin zu erweifen fein. Diefes Unternehmer-Rartell, der Deutfche Bühnen Verein, befigt nun ein für alle feine Mitglieder obligatorifched und unveränderlihed Vertrags⸗Formular, den Deutfchen-Bühnen-Bereind- Vertrag. Er beftebt aus fünfunddreißig Paragraphen auf vier engbedrucdten Seiten, ungeredynet die an jedem Theater geltenden Hausgeſetze, welche durch den Vertrag ald unbedingt bindend erflärt find, ohne daß fie beim Abfchluß des Vertrags dem Mitglied lıber- haupt befanntgegeben werden. Die Punktationen dieſes Vertrags find wie ja felbftverftändlihd ausſchließlich im Intereffe der Unternehmer abgefaßt und durch Feinerlei befondere Schußgefete des Staates beein» flußt, unterliegen der richterlihen Beurteilung auf Grund des bürgerlichen Geſetzbuches und werden vom Nichter auch ald auf freier Vereinbarung berubend angefehen. Wenn man nun bedenkt, daß jeded Jahr mehrere bundert Künftler ohne Engagement bleiben, und daß in den vier Sommer- monaten nur balb fo viele Theater befteben wie in den acht Monaten dei

371

PPinterfpielzeit, das heißt: daß dad Angebot ein bedeutend größeres ift als der Bedarf; wenn man ferner bedenkt, daß dem Unternehmer-Kartell Feine Sntereffen-Bertretung der Maffen gegenüber ftebt: fo ift von vorberein Flar, daß dieſer zwifchen dem fartellierten Unternehmer und feinen Angeftellten gefhloffene Vertrag unmöglich auf einer freien Vereinbarung von Gleich⸗ geftellten beruhen, fondern nur dem Schwäceren in allen feinen Punkten und Beftimmungen aufgezwungen fein kann. Der freien Vereinbarung über- laffen bleibt einzig die Höhe der Gage, und aud) in diefem Punft wird es fich fofort zeigen, daß die freie Vereinbarung eine außerordentlich befchränfte iſt.

Darin aber liegt fchon der erfte und grundlegende Lbelftand, daß ein durch die Macht und den Drud des Fartellierten Linternehmertumd dem einzelnen Künftler aufgeswungener Vertrag von der Rechtſprechung fo an- gefehen wird, ald ob er aus dem freien Willen des KRünftlerd hervorgegangen fei. Sollte fih ein zünftiger Zurift mit diefer meiner Verfiherung nicht begnügen, fo möge ihn ein Bli auf die folgenden Beftimmungen ded Ver⸗ tragd überzeugen.

Bon den erwähnten fünfunddreißig Paragraphen handeln dreiunddreißig von den Pflichten der Mitglieder und nur zwei von ihren Rechten. Diefe befteben: eritend aus dem Recht auf die Gage; zweitend in der Be— rechtigung des Kuͤnſtlers, feine Dienfte „vorbebaltlic aller bereitd erworbenen Anfprühe an Gage und Penfion” der Direktion zu verfagen, und zwar fowohl wenn die Buͤhnen⸗Leitung troß gefhehener Aufforderung ihrer im Vertrag feftgefegten Zahlungd-Verbindlichfeit binnen dreimal vierundzwanzig Stunden nad) dem Fälligfeitd-Termin nicht nachgefommen ift, ald auch wenn das Mitglied nachweift, daß ed ohne Gefährdung feines Lebens oder feiner Gefundheit überhaupt nicht mehr imftande ift, feine Dienfte und Leiftungen fortzufegen.

Der Künftler hat demnach dad Recht (!), wenn er feine Gage mehr erhält welche übrigens laut Vertrag monatlich) oder halbmonatlich poftnumerando gezahlt wird wenn er alfo einen ganzen oder halben Monat Dienfte geleiftet bat, diefe feine Dienfte einzuftellen und die Direktion, welche ihm vielleicht no vor einem Monat die Loͤſung feines mehrjährigen Vertrags verweigert und ibm fo die Möglichfeit benommen bat, ein andres günftiges Engagement abzufhliegen der Künftler hat das Recht, unter ſolchen Um⸗ ftänden feine Direftion auf eine Monatögage zu verklagen! Wohlgemerft: auf nicht mehr, auf feine Konventionalftvafe, feine volle Jahresgage, nichts; nur auf die „bisher erworbenen Anfprüche auf Gage und Honorar”. Das« felbe Recht, feine Dienfte zu verweigern, bat dad Mitglied, wenn die Direftion ihm zumutet, fein Reben oder feine Gejundbeit aufs Spiel zu fegen. Man denfe, was dem armen brotlojen Familienvater mit diefem Recht gedient ift, wenn er fich bei einer: Überfiedlung des Theaterd von E nad DM im Sanuar weigert, auf ungebeüjter Bühne zu fpielen, und den Direftor, der felber nichts bat, weder zwingen kann, die Bühne heizen zu laffen, noch ihm den Winter über feine Gage zu bezahlen. |

372

Dos find die Nechte der Mitglieder die einzigen! :

Dagegen balte man nun die Rechte und Befugniffe der Unternehmer. Natuͤrlich ift es nicht angängig, hier die fämtlihen dreiunddreigig Paragraphen des Vertragd und die etlihen hundert der verfchiedenften Hausordnungen, die von diefen Rechten handeln, zu befprehen. Ich begnüge mid, die wichtigften und drüdendften aufzuzäblen, die zum Beweis meiner Behauptungen audreihen. Zunaͤchſt verfällt laut $ 9 A der Klinftler in die Jablung einer Konventionalftrafe in der Höhe feines jährlihen Gefamteinfommend, wenn er den Vertrag bricht, das beißt: feiner Verpflichtung nicht nachfommt gegen die Zahlung einer halben Monatsgage, wenn die Direftion ihre Ver⸗ pflihtungen nicht erfüllt. Außerdem ftebt der Direktion das Recht zu, das Mitglied, wenn ed die Konventionalftrafe bezahlt, nur auf die Dauer des gebrochenen Vertrags, Dagegen, wenn ed fie nidht bezahlt, bis flnf Jahre nad) Ablauf ded Vertrags vertragsbrüchig zu erflären; kurzum: der Künftler darf während der Vertragsdauer oder bis fünf Jahre nad Ablauf des Ver⸗ tragd von feiner im Kartell befindlihen Bühne engagiert werden und das find fämtlihe für einen ernften Künftler in Betracht fommenden feiten Theater mit Ausnahme der amerifanifchen und einer Anzahl Fleiner Theater*). Das heißt alfo, den Künftler zu einer bedeutenden Geldbuße verdonnern und ihm trogdem auf Jahre hinaus jede Erwerbömdglichfeit benehmen. Man nenne mir einen analogen all, wo Unternehmer und Angeftellte fo ungleich behandelt würden! Mir ift eine ähnliche Ungerechtigfeit nur bei der Beurteilung von Soldaten-Mifhandlungen durch Vorgeſetzte und bei der Beurteilung von Infubordinationd- Vergehen Untergebener befannt ge- worden. Aber im gefchäftlichen Leben bat diefe Beftimmung fiherlic nicht ihreögleihen. Und ift es denkbar, daß irgend jemand und bäufig find «8 ja fogar juriftifh oder faufmännifch gebildete Mitglieder, die in Betracht fommen auf ſolche Bedingungen freiwillig eingeben wide? Man denfe etwa an die Pachtung eined Grundftldd oder Gebäuded. Was würde der Kaufmann fagen, der eine ſolche ungleihe Beſtimmung in dem ihm vor« gelegten Vertrag fände? Aber der Künftler ift ja großjährig, bat den Ver- trag gelefen und unterzeichnet folglich ift er mit feinen Beſtimmungen einverftanden! | J

Dem Unternehmer ſteht bei mehrjaͤhrigen Vertraͤgen zu verſchiedenen Zeitpunkten dad Recht der Kündigung zu dem Angeſtellten niemals. Das heißt: der Direktor fann einem Kuͤnſtler, der mit feiner ſchlechten Bes

*) Die meiften berliner Privattheater gehören gleichfalls dem Kartell nicht an. Auch fonft läßt fich auf fie nicht alles anwenden, was bier gefagt worden if, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil in Berlin die Konfurren; der einzelnen Theater unter einander eine fo große ift, daß eine genuͤgende Sntereffen-Gemeinfamfeit zur Bildung eined Kartelld nicht mehr befteht. Da aber Berlin der Zentralmarft für Mitglieder ift und infolgedeffen dort dad Angebot am größten, fo find die Bühnen auch ohne Kartell die be- deutend ftärfern.

373

ſchaͤftigung unzufrieden ift, die Loͤſung feines Vertrags aus Laune oder Bosheit verweigern, wenn diefem Klinftler anderweitige Anträge vorliegen aber adht Monate fpäter darf er ihm mit größter Seelenrube flndigen.

Bill fi) ein weibliches Mitglied verheiraten, fo bat ed die Erlaubnis ter Direftion oder Intendanz einzuholen. Erhält ed diefe Genehmigung nicht und heiratet troßdem, fo fann ed vom Tag der Hodjjeit an entlaffen werden ohne alle weitere Entfhädigung. Iſt dad nicht Reibeigenfchaft im vollften Sinne?! Und der Grund zu diefer Beflimmung liegt in der Befuͤrchtung, daß eine verheiratete Kiinftlerin, befonderd eine verheiratete Naive oder Soubrette, auf die junge zablungäfräftige Lebewelt, welche Das Parkett und den erften Rang bevölfert, nicht mehr diejelbe Anziehungsfraft ausüben dürfte, wie vor ihrer Verheiratung.

In noch einer ganzen Anzahl von Fällen ift die Direftion berechtigt, den Vertrag zu Iöfen, unter anderm aber auch, wenn dad Mitglied durch Handlungen gegen die Pflichten des Anftands oder der Sittlichfeit offen— fundig Anftoß erregt. Wie ftimmt dad nun zu dem vorhergehenden Punkt, dur welchen die Mitglieder geradezu gezwungen werden, Handlungen gegen die Pflichten der Sittlichfeit zu begeben, die in vielen Kreifen Anftog er— regen mögen! Dad Gewicht liegt aber vielleiht nur auf dem Woͤrtchen „offenkundig“. Bid vor wenigen Jahren war der Direftor auch berechtigt, dad Theater zu ſchließen und den Vertrag zu Iöfen, ohne daß feine Mit- glieder irgend welche Anfprüche an ihn ftellen fonnten „wenn die Eine nahmen nachweislich die Ausgaben nicht decken“. Im geſchaͤftlichen Verkehr muß ein Kaufmann in felhem Fall Konkurs anmelden und einen Ausgleich mit feinen Gläubigern fchließen, oder er bleibt diefen für ſpaͤterhin haftbar. Der Direftor keineswegs. Er ift durch den „frei vereinbarten Vertrag” berechtigt, diefen eigenmächtig zu löfen, wenn das Gefchäft feinen Erwartungen nicht entfpricht, ohne daß er fpäter, wenn er vielleicht an einem andern Theater reich geworden ift, noch irgend welche Verpflichtungen gegen feine Mitglieder zu fühlen oder ihre Forderungen zu erfüllen brauchte. Diefe Beltimmung findet ſich aud heute noch in vielen Verträgen von Privat- Direftoren.

Dur feine Beſtimmung ift die Bühnen-Feitung in der Anfegung der Proben und Vorftellungen befchränft. „Das Mitglied hat in fämtlichen von der Direftion angeordneten Proben mitzuwirken und hat allen Ans ordnungen der Direktion unbedingt Folge zu leiften.” Andernfalld wird es entlaffen. Zatfächlih werden Proben ohne Ruͤckſicht auf Sonn⸗ und Feier- tage, auf Tag- und Nachtzeit abgehalten. Während der Staat fonft ängftlich darauf bedacht ift, daß an Sonn- und Feiertagen während der Kirchenzeit die Auslagen verhängt werden und feine Sffentlihe Muſik ftattfindet, wird im Theater luftig probiert, ob Bußtag oder Ofterfonntag. Während in jedem faufmännifchen Betrieb der Gefhäftsfchlug und die Arbeitäzeit genau beftimmt ift, ebenfo mie die Mittagäpaufe, die nicht etwa willfürlic verlegt werden fann, werden im Theater Proben von mittag® zwoͤlf bi® nachmittags flnf

374

Uhr oder nach der Borftellung von elf Uhr nachts bie drei Uhr morgend obne jede Entfchädigung verlangt. Wehe dem, der ſich weigert!

Ich komme zu einem der wefentlihften und intereffanteften Punfte diejes eigentlimlihen Vertrags, dem $ AB. Diefer befagt: „Der Bühnenleitung fteht zu, ganz nad) ihrem Ermeffen über die Eünftlerifche Tätigkeit jedes Mitglieds bei dem von ihr geleiteten Theater zu verfügen, jedoch nur inner= balb der Kunſtgattung“ (das heißt: Schaufpieler oder Sänger oder Chor- fänger), „für welche das Mitglied ſich verpflichtet hat.” Hinterher folgt freilich, noch der Zufag: „Gegen eine böswillige Handhabung diefed Rechts feitend der Bühnenleitung ift die Klage beim Schiedögericht zuläflig; jedoch bleibt das Mitglied verpflichtet, die ftrittige Nolle zu übernehmen und zu fpielen, bis der rechtöfräftige Spruch vorliegt.”

Betrachten wir nun einmal die Wirkung diefes Paragraphen, zunäcjit . tes erften Abfages, im Zuſammenhang mit den Verhaͤltniſſen. Hierzu ift eine fleine Abfchweifung nötig. Jedes einzelne Theatermitglied, und fei feine Stellung heute noch fo unbedeutend, bat einmal die Liebe zur Kunit und nicht der Gelterwerb zum Theater getrieben. Manche mögen diefen Schritt bereuen oder als falfch erfennen; viele, denen ſich noch ein Rückweg bietet, ergreifen, wenn die Ideale gefhwunden find, einen einträglihern bürgerlihen Beruf; die zuruͤckbleibenden aber hängen alle an ihrer Kunft, und wenn fie nod fo viel fchimpfen und welcher Schaufpteler ſchimpft nicht! Selbft die Alteften und gleichgültigften werden aufgerüttelt, wenn ihnen der Zufall einmal eine gute, ob auch fleine Rolle in den Schoß wirft, und die „erften Fächer“ erft recht! Aller Rollenneid, Meid auf Erfolg, Mißgunft fie flammen im Grunde dod nur aus diefer beißen Liebe zur Kunft! Man verfuche ed einmal, dem „erften Fach“ eines fleinern oder größern Theaterd ein Engagement an ein erfted Theater mit dreihundert Marf mehr Monatdgage anzubieten, aber mit der Sicherheit, dort nichts, gar nichts zu fpielen, oder nur in den ausſichtsloſeſten, elendeften Rollen Abend für Abend draußen zu ftehen! Nicht einer wird annehmen. Vielleicht einige alte Routiniers. Die Übrigen werden das lodende Angebot troß den ewigen Geldforgen unter diefer Bedingung zuruͤckweiſen. Der Schaufpieler will alfo Beſchaͤftigung und braucht fie und fchließt nur unter diefer ftilljichweigenden, aber felbit- verftändlihen conditio sine qua non ab. Früher fand diefe Bedingung in der Fachbezeichnung des Vertrags ihren deutlihen Ausdrud. Da dies aber zu dem unbaltbaren Zuftand geführt bat, daß einzelne Mitglieder ein Recht zu befigen glaubten, der Direftion auf Grund diefer genauen Fadı- bezeihnung ald erite Naive oder als erfter jugendlicher Liebhaber eine Leiftung, die ihrer fünftlerifchen Individualität fern lag, zu verweigern, wurde diefe Beftimmung (natürlich aus „Gründen höherer fünftlerifher Erwägung”) aus den Berträgen entfernt.

Und nun feben wir und die tatfächlichen Verbältniffe an, ob fie diefer grund⸗ legenden Bedingung, befhäftigt zu werden, entfprechen. Jedem Schaufpieler ift in feiner Tätigfeit, fei e8 am eigenen Leibe, fei es an feinen Kollegen,

375

bundertmal dad fogenannte „KRaltftellen” begegnet. Ein Direktor engagiert nach erfolgreihem Gaftfpiel ein Mitglied. Es trifft im Engagement ein und fiebt fi, trogdem ed bei Publikum und Kritik, im diefem, ſowie in frübern Engagements gefallen bat, plößlich „Faltgeftellt“. Entweder weil ber Gemaltige eine Laune bat oder Winfen von „oben“ oder andermeitigen Einflüffen gehorcht, wogegen das Mitglied wehrlos ift. Das bedeutet natür- lich für den Schaufpieler eine ſchwere Schädigung Fünftlerifcher und daher auch wirtfchaftliher Natur. Wenn ed fih um den Abſchluß eined neuen Engagements handelt, erſieht der neue Direftor aus den Spielverzeichniffen der von der Deutichen Buͤhnen⸗Genoſſenſchaft herausgegebenen Fachzeitung, daß dad Mitglied in feinem gegenwärtigen Engagement gar nichts fpielt. Iſt er objeftio genug, Died nicht ald Maßſtab für die Fünftlerifchen Faͤhig⸗ feiten des Mitglieds zu nehmen, weil er von feinem eigenen Theater ber weiß, wie oft er felbft diefe Gewalttat an guten Kräften verübt bat, fo iſt er doc nicht imflande, den Schaufpieler vor feinem Gaftipiel zu ſehen und ſich ein Urteil über ihn zu bilden und wird meiften® auf dad Engagement verzichten muͤſſen.

Eine noch fchlimmere Form der Anwendung des S 1 ift das berüchtigte „Hinausekeln“. Man mil ein gutes Mitglied, dad man in der Mot flır hohe Gage engagiert hat, oder das fich durch allzu fleifen Nacken oder fonft- wie unbeliebt gemacht bat, wieder los fein. Mit Hilfe des S 1 ift nichts leichter ald dies. Man flttert den armen Teufel mit Fleinen und aller« fleinften Röllhen und mit Opernftatifterie. Diefe Beihäftigung hat dem Mann, der doch Beſſeres leiften kann, ficherlich nicht vorgeſchwebt, ald er dad Engagement abſchloß. Beſchwert er fich bei der Direftion, fo begegnet er zunaͤchſt Falter, höflicher Abweifung: Zufall, Repertoire-Schwierigfeiten und natürlih die „höheren Fünftlerifhen Erwägungen” werden vorgeſchuͤtzt. Weigert er fi, die Rollen zu fpielen, fo wird er auf Grund des $ 1 ver- warnt und im MWiederholungsfalle nad S 12b entlaffen oder in eine un« verhältnismäßig bobe Geldftrafe genommen. Hier fommen wir nun auf den oben zitierten zweiten Abfab des S 1 zu fprechen.

Das Mitglied kann freilich dagegen beim Schiedögericht Klage erheben, aber erft muß es die ftrittige Nolle fpielen und ſich Fünftlerifch an den Pranger ftellen laffen. Nach Wochen erfolgt dann endlich der Schiedsſpruch zu feinen Bunften wie wir einftmeilen annehmen wollen, Aber inzwifchen hat ed diefe Folter noch viele Male durchgemaht auf Grund diefes Diftatur- Paragraphen ſchlimmſter Sorte. Zudem ift der Erfolg der Klage beim Schiedsgericht ja auch zweifelhaft, da der Fall felten fo klar liegen wird, wie er bier in diefem Beiſpiel gefchildert ift, und der Direftor ſich huͤten wird, den Aft der Boͤswilligkeit, der doch erforderlich ift, ſich nachweifen zu laffen. Dazu genügt ſchon, daß er den Schaufpieler gelegentlich in einer fhlehten Fachrolle binausftellt. Auf diefen Punkt des Vertrags kann das Mitglied fomit nicht rechnen, und es ift gezwungen: entweder feine Ent⸗ laffung freiwillig zu nehmen und feine wirtfchaftlihe Eriftenz; großen

376

Schwankungen audjufegen oder unerhörte Demütigungen, dielihn künftlerifch berunterbringen, ſchweigend weiter zu erdulden.

Diefe beiden gefchilderten Falle find die ertremften. Aber auch in mil- derer Form, wenn der Direftor zunächft wirklich feine böfe Abſicht mit der Vernachlaͤſſigung eines Mitglieded verbindet, wenn ed blos eine vorliber- gehende Laune ift, wird dad Mitglied ſchwer genug getroffen, in feinem Ehrgefühl gefränft und daher verbittert. Wagt ed dann gar, wider den Stachel zu loͤcken, ſo wird der Allgewaltige erft recht böfe und reitet nun auf Grund ded Paragraphen, der ibm abfolute Gewalt Über feine Unter» tanen gibt, auf dem wehrlofen Künftler herum, der doch nichts andres fordert als fein gutes heiliged Lebensrecht: dad Recht auf Befchäftigung.”) Um ganz deutlich zu ſehen, daß eine ſolche Beſtimmung, wie fie $ 1 enthält, abfurd if, mag man fi einmal vorftellen, daß einem nach abgelegten Prüfungen angeftellten Gerichtöaffeffor eined Tages ohne jede Erflärung und ohne jeded Verfchulden alle Aften und Funktionen abgenommen würden, oder daß eined Tages einem Bataillondfommandeur zugemutet würde, vom folgenden Tage ab die Einzelausbildung der Nefruten vorzunehmen.

Sch will von den hundert andern Ungerechtigfeiten, Qudlereien und Ab» furditäten, die in jedem einzelnen Paragraphen des Kontrafts zu finden find, gar nicht mehr fprechen, ebenfo wenig von den zahllofen Kleinen und großen Geldftrafen, mit denen die ungezäblten Paragraphen der Hausordnung jeden Schritt ded Künftlerd bedrohen. Die angeflihrten Proben find meines Er- achtens nad) fo ungeheuerlih, fo unmwiderleglic und fchlagend, jedem Rechts⸗ gefühl und jeder Menfchenmwirde ind Geſicht fchlagend, daß fie fuͤr ſich allein

*) Wie eine Zluftration dazu Flingen die Fürzlih in den Zeitungen veröffentlichten Worte, mit welchen ein befannter wiener Sofichaufpieler, eine in der Kunftwelt allgemein gefhäßte und geachtete Perſoͤnlichkeit, fein Entlafungsgefuch begründet: „Nachdem Herr Dr. Schlenther, der Direftor des Burgtheaterd, den verſchiedenſten Verfuchen meinerfeitd, die zwifchen und entftandenen perfönlihen Differenzen auszugleichen, ſtets denſelben Widerftand entgegengefegt bat, nachdem ich daher gezwungen war, mir dad Necht auf mein Neuengagement zu erfämpfen, nachdem ed demfelben Direftor

rn Dr. Schlenther in feiner amtlichen Stellung geftattet war, feine per» ſoͤnliche Verſtimmung gegen mid) durch materielle Schädigung und dienftlihe Mafregelungen zu vergelten, und zwar entgegen feiner beffern Fünftlerifchen Überzeugung, die er notorifch oft genug felbft betont hat, nachdem derfelbe Herr Direftor in Befolgung folder Motive mid) durch beinahe anderthalb Jahre aus einer erften und vielbefchäftigten Stellung im Repertoire faft ganz binausdrängen durfte, Fann mir naturgemäß nichtd mehr an einem Engagement gelegen fein, das mir folhe Erfahrungen eingetragen. Ich verzichte deöhalb unter diefen Umftänden auf dad Engagement nad) Maf- gabe meines obigen Gefuches, um deffen tunlicht ſchleunige Erledigung ich ergebenft anfuche.” Wenn befannten Künftlern an folhen Theatern ſolche Behandlung zu teil wird, mie mag ed erft der großen Zahl der Namen⸗ Iofen ergeben!

377

ftärfer reden, ald all meine Worte der Empörung ed vermoͤchten. So gänzlich unromantifch, fo nüchtern und ſchmaͤhlich ſind die Dofumente, welche diefe armen Opfer der Romantif unfrer Zeit zur Ausübung ihrer Kunft zwingen, ohne Ruͤckſicht auf ihre Fünftleriiche Kraft, auf ihre Stimmung, ihre Fähig- feit oder Fünftlerifche Meinung, nur mit Ruͤckſicht auf die Kaffe des Unter⸗ nehmers wobei ed natüuͤrlich nicht gleichgültig ift, ob der Unternehmer ein privater oder eine Stadt-Berwaltung oder der Hofift. Die Stadt⸗Verwaltung oder der Hof, der feine Künftler unter ſolche Beſtimmungen ftellt, macht fi) der moralifhen Erniedrigung ded Standes, die, wie ich fpäter zeigen werde, die notwendige Folge diefer Beftimmungen ift, mitfchuldig und fom- promittiert dadurch unfre Zeit und unfee Gefellfchaft. Denn die Schaͤtzung, welcher ſich der Künftler erfreut, ift bezeichnend fir die Schäßung der Kunft in diefer Zeit.

Die münchner Hoftheateraffäre/ von Richard Braungart

ffären müffen fein. Sie find eine notwendige Inftitution; denn Seine Majeftät das Publifum kann nicht ohne fie leben. Eine Welt ohne Affären waͤre ihm ein Butterbrot ohne Salz, eine Landpartie ohne Megen, ein Monat ohne eine Broſchuͤre über den Kaiſer oder den Zufunftds frieg. Und gäbe es feine Affären, fo müßten fie fchleunigft erfunden werden.

Am beliebteften find, neben den Hofaffären, die Theateraffären. Das Ideal einer Affäre aber ift, da fie ja die beiden bevorzugteften Arten meiit in mebr oder weniger vollfommener Weife zu verbinden pflegt, die Hofe theateraffäre. Wollte man alfo den Grad der Begluͤcktheit einer Stadt nah den Affären bemeffen, die in ihr zur Diskuſſion fteben, fo hätte München gegenwärtig unbedingt Anſpruch auf das Präpdifat der gluͤcklichſten Stadt Deutfchlande. Die Hoftheateraffäre, mit der ſich feit einigen Wochen famtlihe Stammtifhe Muͤnchens die Zeit bis zum Beginn des allabend- lichen Tarock vertreiben, ift in der Tat eine „erftklaflige”. Und die Haupt- fahe, der clou: die Gerichtöverhandlung mit den in reichſter Fuͤlle ver- beißenen pifanten Entbüllungen, ift erft noch zu erwarten. Iſt ed unter ſolchen Umftänden nicht eine Luft, zu leben?

Leider ift aber die ganze Geſchichte im Grunde gar nicht fo humoriſtiſch, wie fie im erſten Augenblid und befonderd dem Fernerſtehenden erfcheinen mag. Es fteben recht ernfthafte und wertvolle Dinge auf dem Spiel. Und wie der Verlauf diefer Affäre auch fein mag: Feidtragender wird immer dad diöfreditierte, in den Straßenkot gezogene Hoftheater * Und das iſt die wenig Mſan⸗ Kehrſeite der Medaille.

378

Die Affäre, die und jetzt befchäftigt, ift natuͤrlich nicht über Nacht vom Himmel gefallen. Sie bedeutet nichts weiter, ald die Entladung von Gewittern, die fhon lange über dem Haufe am Mar-Zofef-Plab drobend gebangen haben. Ald vor zwei Jahren Poffart feinen Abfchied genommen batte und der homo novissimus Freiherr von Speidel die Intendanten- Würde und ⸗Buͤrde übernahm, da glaubten wohl mandye Optimiften, der durch Poffart in den Defizitfumpf gefahrene und auch fonft vielfach wacklig gewordene Hoftheaterfarren werde mın in Bälde fauber geflickt auf trockenem Boden huͤbſch gemächlich weiter rollen. Es wurde aud etwas troden, aber nicht der Boden, fondern nur der Ton, der von nun an im Haufe berrfchte. Bureaufratifchemilitärifch pflegt man ihn fonft wohl zu nennen. Man fönnte nicht fagen, daß die Beruföfreudigfeit der Kuͤnſtler unter folhen Umftänden vermehrt worden wäre. Dad war es aber nicht allein, was verflimmte, Man hatte unter anderm auch gehofft, daß die einen normalen Betrieb unmoͤglich machenden Urlaubövergünftigungen der erften Kräfte (befonders der Sänger) befeitigt oder wenigftend eingefchränft würden. Es gefchab In diefer Beziehung nur wenig oder nichts, fo daß zum Beifpiel Meuein- fludierungen manchmal erft nach Wochen eine Wiederholung erlebten. Dafür befamen die armen Abonnenten ununterbrodhen Gaftfpiele von Sängern und Sängerinnen vorgefebt, die nicht einmal für eine Provinzblhne legten Ranges gut genug gewefen wären. Ein Gaft gab dem andern die Türflinfe in die Hand. Und felbft der tenffaulfte Abonnent wird fi) in der legten Zeit gefagt haben, daß diefe zweckloſe Baftfpielerei, derentmegen die Oper bereits anfing, zum Gefpött zu werden, nicht mit rechten Dingen zugeben fünne. Man bedauerte die Dirigenten und befonderd Mottl. Kaum einer aber abnte, daß Mottl felbft vielleicht mit diefer Sache in irgend einem Zufammen« bang fteben Fönnte.

Das Hoffhaufpiel ift cbenfalld beftig beunruhigt worden. Die Haupt» urfache der Verdroſſenheit ift bier der neue erfte Charafterdarfteller und Oberregiſſeur Albert Heine, der das „Fach“ Poſſarts kbernommen bat, und zwar, offenbar geftügt auf einen fehr weitgehenden Kontrakt, fo gründlich, daß eine ganze Reihe vortreffliher und verdienter Künftler, wie Luͤtzen⸗ firhen, Monnard, Bafıl und andre, fi) mehr oder weniger an die Wand gedrhict flihlen. Herr Heine, ein fehr tüchtiger, aber auch fehr manirierter Kiınftler, fpielt alles, was nur halbwegs in fein Fach ſchlaͤgt, und bie übrigen Künftler dürfen fpazieren geben oder zweite Nollen fpielen. Hier mlifte die Intendanz befchwichtigend und vor allem disponierend eingreifen. Aber auch unter den Künftlerinnen gärt ed. Fräulein Swoboda zum Beifpiel will geben. Urfahe: man hat die Käthe (in „Alt«Heidelberg”), eine Glan⸗ role der Künftlerin, plöglih einer Anfängerin uͤbertragen, der man ver trauliche Beziehungen zum Intendanten nachſagt. Boͤſe Mäuler nennen das Stüd feitdem „Alt-Speidelberg” . . . .

Alle diefe und noch viele andre Unftimmigfeiten haben fid) nun ganz plöglich zu einem heftigen Donnermwetter verdichtet, das ſich in der zweiten

379

Hälfte" des März im „Bayrifchen Kurier“, dem Hauptblatt des bayrifchen Zentrums, über das Hoftheater entlud. Mit einer Deutlichkeit, die nichts zu winfchen uͤbrig (dt, wurden bier alle die oben bereitd angebeuteter Gravamina an leitender Stelle in zwei Artifeln, die von intimen Details flrogten, der Offentlichfeit preiögegeben, und zwar in der ausgeſprochenen Abficht, die Haupt-, Schuldigen”, Generalmufifdireftor Mottl, Baron Speidel und Oberregiffeur Heine, zur gerichtlihen Klageerhebung zu zwingen. Nach dem Erfcheinen des erften Artifeld hatten Speidel und Mottl bei der vor- gefeßten Hoſbehoͤrde die Einleitung der Disziplinarunterfuhung gegen fich beantragt. Die muͤnchner Preffe war einftimmig der Anſicht, daß diefes „geheime“ Verfahren ganz und gar nicht geeignet fei, Klarheit und Beruhigung zu ſchaffen. Die Angegriffenen ſchienen jedoch wenig Luft zu verfpüren, zum Kadi zu geben. Da wiederholte der „Kurier“ feine Anfchuldigungen in ver⸗ fhärfter Form, und nunmehr ift die Klage anbhängig gemacht worden. Der Safe läuft fomit; wohin, weiß natuͤrlich vorläufig niemand.

Die Artifel des „Kurier“ enthalten neben allerlei pifanten Detaild über die von Baron Speidel angeblich bevorzugte Dame und uͤber die fogenannte „Schredensherrfchaft” des Herrn Heine vor allem Anfchuldigungen der fhwerften Art gegen Mottl. Unter anderm fol er dem Theateragenten Frankfurter finanziell verpflichtet fein und ald „Oegenleiftung” die zahlreichen Gaſtſpiele bewilligt haben. Außerdem foll er an Schülerinnen der Afademie der Tonfunft, deren Direftor er ift, Privatftunden gegen hohes Honorar erteilt und minderwertige oder flimmfranfe Künftlerinnen um materieller oder gewiffer andrer Vorteile willen engagiert haben, Wie grundlos oder wenigften® übertrieben übrigens diefe VBefchuldigungen zum größten Teil zu fein fcheinen, gebt ſchon daraus hervor, daß der „Rurier” gerade die gravierendften bereit flr Schreib- und Druckfehler (!) ausgeben und Öffentlich widerrufen mußte!

Es ift alfo unter diefen Umftänden nicht ausgeſchloſſen, daß der in der Form durchaus verwerfliche, den Diimmften und rüdeften Klatſch ald wuchtige Waffe verwertende Angriff des frommen Zentrumsblattes mit einer offenen oder verhuͤllten Niederlage enden wird. Aber mie dem auch fei: die ſchmutzige Wäfhe muß nun, zum Gaudium des Publifums, leider öffentlich ——— werden. Und das Reſultat? Wie immer in ſolchen Faͤllen:

ndern wird ſich, auch wenn ein Perſonenwechſel ftattfinden ſollte, im Spftem faum etwad. Macht geht vor Recht, und Theaterffandale werden immer ſein. Und fo wird die ganze fompromittierende Affäre sumfonft gewefen fein. Sollte aber Mottl wirklich gezwungen werden, die Kon— fequenzen zu ziehen und München den Rüden zu kehren, fo werden wir erft recht eine Hoftheateraffäre haben: denn wir werden 'an feine Stelle” viel- leicht einen Dann befommen, deffen Privatleben weniger: Angriffämdglichfeiten bietet; einen beflern Dirigenten werden wir gewiß nicht wieder befommen. Das follte zu denken geben,

380

Rosperlelheator

Brieffaften

5. m. Benn die Direktion des Luftfpielhaufes ed ihnen fchreibt, wird ed wohl wahr fein, daß Billets zur bundertften Aufführung des dritt« naͤchſten Kadelburgſchen Driginalluftfpield, das die Saifon 1909/1910 erfüllen und ‚Das Familienfieber‘ heißen wird, nicht mehr verfprochen werden fönnen, da fchon eine Überzahl von Beftellungen vorliegt.

w. x. 7. Ein Schriftfteller Hermann Zulius Bahrb, der ein Schau- fpiel ‚Das Andere‘ gefchrieben bat, ift und nicht befannt.

Lefer in Radautz. Sie verwechfeln ‚Miege und Maria‘ mit ‚Dorf und Stadt‘ und nennen den Verfafler Georg Birchfeld. „Was fein Verftand der Verftändigen ſieht ... .“

©berlehrer. Sie fchlagen für dad Neue Theater folgende Infhrift vor;

„Bon der Stirne beif Ninnen muß der Schweiß, Soll das Werf den Meifter loben, Doch der Segen fommt von oben.” Und für dad Berliner Theater ein andre® Wort von Schiller, aber jeit-

gemäß verändert: „Ein auguftifh Alter bluͤhte, Eined Medicderd Guͤte Fächelte der deutfchen Kunft.” Ihr Vorſchlag fei den Direktionen bierdurdy mitgeteilt.

Germanift. Nein, wir können uns ſchwer vorftellen, daß der Verd aus Arno Holzens ‚Buch der Zeit‘: „Der eine nennt die Gottheit Brahma”, eine Anfpielung auf einen beruͤhmten Dramatifer und einen ihm befreundeten Bühnenleiter enthalten foll.

Rorrefpondent in Bunzlau. Sie fragen, von wem die Komddie Geſchloſſen‘ fei, die Cie in unferm Theaterfpielplan gefunden haben. Vom Direftor natürlich.

Dies illa, Kielholen ift Kritifernsgegenliber nicht gebraͤuchlich. In welchem Jahrhundert leben Sie eigentlich?

Borgia. Vielen Dank für die Mitteilung der merkwürdigen Annonce, die Sie in Ihrem Lofalblatt gefunden haben: „Ald Bravo flr Direftoren, gut und ſicher arbeitend, empfiehlt fih N. £.”

Wißbegieriger aus Berlin NW. Was man eigentlid unter einem Dramaturgen verftehe, wünfhen Sie furz zu erfahren. Einer, ders wiſſen fann, bat neulihd fogar unter dem Eid audgefagt, unter einem Dramaturgen verftehe man heutzutage vielerlei. In frübern Zeiten war der Dramaturg eined Theaterd ein Bearbeiter von Dramen. Auch bheut- zen bearbeitet er noch: Preffe, Publikum, Schaufpielerinnen, Autoren,

nkiers.

381

Für Bonn

E hilft nichts. Wenn die Fritz

Engel gegen ihn auftreten, muß man fuͤr ihn eintreten. Fuͤr Ferdinand Bonn. Das haͤtte ja kein Menſch mehr für moͤglich gehalten, daß heute noch ſpaltenlange Artikel zur Vernichtung dieſes Mannes geſchrieben werden koͤnnten. Aber vor Gott und im Berliner Tageblatt ſcheint nach wie vor kein Ding unmoͤglich zu ſein. Dieſes Blatt, das abwechſelnd mit aͤſthetiſcher und mit ſittlicher Ent⸗ ruͤſtung und mit ebenfoviel Tem- perament wie Wiß jahrelang den Kampf gegen Wagner und Ibſen zu fiihren mußte, bat in der Morgen nummer von Montag, dem 25. März, endlich aud) den ‚Prozeß gegen Bonn‘ eröffnet und zunaͤchſt den Redakteur des ‚Ulf‘ gegen den Todfeind der deutfchen Kunft vorgeſchickt.

Mer ed nämlich noch nicht wußte, erfährt ed von Herrn Engel: ‚Herr Bonn bat „ſich gröblic und fortgefegt

egen den Geiſt feined Berufs ver Andi t, die Intereffen der Kunft ver- nachlaͤſſigt und fie zu einem ffrupellos betriebenen Gefhäft mißbraucht”. Das wäre, läßt. Herr Engel durchſchimmern, der Übel größtes nicht. Aber zur ab- fheulihftenKunftbarbarei ift die ſcham⸗ Iofefte Heuchelei getreten. Den An« klaͤger übermannt es förmlich vor ſo⸗ viel Tuͤcke. Ergebt in [hmerzbebendem Ton zur direfteften Nede über und fragt den, Angeklagten Bonn‘: „Haben Sie, ald Sie ſich zur Übernahme der Direftionim Berliner Theaterrüfteten, baben Sie mir nicht in meinem Haufe, damals ein gern begruͤßter Beſucher, ein Programm entwidelt, dad von frobem Idealismus erfüllt war und

382

ſchau

von ſelbſtloſer Liebe zur Kunſt uͤber⸗ zuſtroͤmen ſchien? Schwaͤrmten Sie nicht wie im Rauſch von Dichtern, die Sie finden, von Kuͤnſtlern, die Sie entdecken, von ſchoͤnheitsvollen Harmonien, die Sie auf der Buͤhne erklingen laſſen wollten? Das war wie ein Eid. Sie haben dieſes Ge— loͤbnis gebrehen. Sie haben Ihr Theater jhon mit einer Unwahrheit eröffnet und, nebenbei bemerft, mit einem miferabeln Stüd. Keine Wimper zuckte in Ihrem Geficht, ald Sie mir und andern erjählten, daß Sie in dem Autor ded ‚Andalofia‘ einen eben⸗ fo bruftfranfen wie genialen ſchweizer Bolfafhullehrer für die Kunft erobert bätten. Gleich nad Goethe, fagten Sie mir, fäme diefer Mann. Diefer Mann aber waren Sie felbft, und mit einem unwuͤrdigen amerifanifchen Neklameftüc fuchten Sie ſich in eigener Perſon den Titel eined Genies zu ver- leihen und nahmen, Sie armer Bruft« franfer, auch gleicdy noch einen Schuß Mitleid in Anfprudy.”

Sch habe den foftbaren Raum meines Blatted einem fo ausgedehnten Fitat geopfert, damit Herr Engel in Zu=

ft gerechter beurteilt werde. Wer von ihm mur die Komif fennt, die er allwoͤchentlich im ‚Ulf niederlegt, unterfhägt ihn. Der Spaßmader ift auf dem beften Wege, ein Humoriſt zu werden, und foldye Hoͤherentwick⸗ lung fol man durch Anerkennung fördern. Humor entfteht, wenn eine naive, treuberzige, gutgläubige, groß« Augige Kinderfeele eined Tages von der rauhen Wirklichkeit hoͤchſt unfanft aufgerlittelt wird und die ummwälzende Enttäufhung durch Laden uͤber⸗ windet. Herr Engel bat immerhin

bereitd dad erfte Stadium diefed Pro- zeſſes erreicht. Er verfteht plöglic die Welt nicht mehr. Wie zu zwanzig andern angebliden Kritifern ift vor zwei Jahren der Direftorandus Bonn auch zu Herrn Engel gefommen und bat ibm die Hude vollgelogen. Als der Lebendfenner, der Florian Fer- dinand Endli fhon damald war, bat er fi) gefagt, daß in der Regel einer am andern dad am meilten fchäßt, wovon ibm felbft am menigften ge- worden ift, und bat ſich deshalb, um Herrn Engeld Schägung zu erringen, für den wahrften und ehrlichſten Kunſt⸗ freund ausgegeben. Dabei hat feine Wimper in feinem Geſicht gezuckt. Herr Engel, der ed noch mit der Argloſig⸗ feit hatte, bielt ed in diefem Zuftand nit nur für das Wefen, fondern geradezu fir die heilige Pflicht des Loͤwenſpielers, nad) oder gar während der Komödie die Maske abzunehmen und zu verraten, daß er im Grunde gar fein Löwe, fondern nur Schnod der Schreiner fei. Der Lömwenfpieler Bonn aber, der vom Handwerf der Komoͤdienmacherei immerhin nicht ganz fo wenig verftand, wie der zuͤnftige Theaterkritiker, den er befuchte, beging für fein Teil feinerlei Dilettantismen und griff dem Ariftoteled ded Tage- blatts muͤhelos and weiche Herz. Das muß er jegt ſchroͤcklich büßen. In furzen zwölf Tagen bat Herr Engel nicht öfter ald viermal feine Wut an Herrn Bonn audgelaffen. „Er war ohne Zweifel ein hochgemuter Menſch und Künftler. Er ſchien aus dem Holz gemacht zu fein, aus dem die Natur wertvolle Perfönlichfeiten ſchnitzt. Es umwitterte ihn der Hauch eines ſtark und nicht unedel gearteten Weſens.“ Daß das alles ‚Falle‘ war, wie der Berliner fagt, und daß Herr Engel rettungslos in dieſe Falle geplumpſt iſt: das kann und wird er nie ver- zeiben. Er ift ohne Zweifel ein nach⸗ tragender Menih und Kritifer. Er

fcheint aus dem Holz gemadht zu fein, aus dem die Natur Feine Pſychologen fhnigt. Ed ummittert ihn der Hauch eined Weſens, das mancherlei löbliche Eigenſchaften für die anſtaͤndigſten und auskoͤmmlichſten Berufszweige geeignet machen wuͤrden, und das nur dad Unglüdf bat, an einen falfchen Platz geftellt zu fein.

Denn dieß ift ſchließlich der Grund, warum der Spaßmacher Engel bier einmal beinahe ernfthaft betrachtet wird: ed ift im Mebenamt eine Auf- gabe auf feine Schultern gelegt, der er je länger, je weniger gewadhfen ift. Damit fol nit etwa gefagt fein, daß er feine Hauptämter ausflllt. Der ‚Ulf, der unter Siegmund Haber ein Witzblatt war, wie ed wenige gab, ift unter Herrn Engeld Leitung ein Wiß- blatt geworden, wie ed zum Glüd nicht viele gibt. Aus der guten alten ‚Deutfchen Lefehalle‘ hat ihr neuer Redakteur einen graͤßlich neumodiſchen ‚Weltfpiegel‘ gemadht. Was er am Montag ‚Zeitgeift‘ beißt, ift viel zu bäufig Geift von feinem Geift. Für daß ‚Feuilleton des Tageblatts, das er verantwortlic; zeichnet, hat er dem ordinaͤrſten Blatt Europas, dem, Neuen Wiener Journal‘, die Nubrif ‚Hinter den Kuliffen‘ abgefeben, in der durch umfangreiche Artifel mitgeteilt wird, daß der Autor der ‚Condottieri‘ die Hauptdarfteller feines Stuͤcks mit fehdundzwanzig Flafchen Wein be- trunken gemadyt, oder Daß der Bureau⸗ chef des Luftipielhaufes an Stelle Des Kaiferd die Darfteller des „Hufaren- fieber&‘ mit Krawattennadeln befchenft babe, und was fonft Wichtigfted auf Gottes weiter Welt paffiert. Der bedürftige Moffe wird willen, warum er vier Tätigfeiten, die ein wohl⸗ babenderer Verleger an vier Mittel- mäßigfeiten verteilen würde, in einer Hand vereinigt. Daß er freilich die zugehörige andre Hand auch noch fos genannte Theaterfritifen ſchreiben läßt,

3833

beißt die Sparfamfeit doch ein bischen weit treiben. Immerhin: wenn diefe Theaterfritifen ſich damit begnüigten, ein zuverläffiged Bild von dem äußern Erfolg einer Premiere zu geben, fo müßte und könnte man fie in Ruhe laffen. Sie begnügen ſich nit. Sie baben Ambitionen. Sie führen un- ausgeſetzt dad Wort, Kunft‘ im Munde, Sie lieben die Kunft fo tief, daß fie die Angriffe nicht ertragen, die Herr Bonn auf die Kunft veruͤbt. Wahr⸗ baftig: ich höre immer und immer Kunft. Einer von den Borläufern ded Herrn Engel, Gotthold Ephraim Leſſing, hat ed gewußt und verraten:

wie man die Eigenfchaften am hoͤchſten ein

ſchaͤtzt, die man nicht bat, fo fpricht man am häufigften von der Tugend, die einem fehlt. Herr Engel fpricht fortwährend von der Kunft. Da muß es endlich erlaubt fein, mit allem Nach⸗ druckt zu fagen, daß Herr Ferdinand Bonn nicht nur ein weit ftärferer Perſoͤnlichkeitswert, fondern auch ein viel geringerer Kunftfhädling ift ala Fritz Engel.

Dad Erempel ift fo einfach mie möglih. Das bat hundert⸗ zwanzigtauſend Abonnenten. Es iſt fraglich, ob ein einziger von ihnen das Blatt um Herrn Fritz Engels willen lieſt. Aber es iſt keine Frage, daß nur die wenigſten von ihnen Herrn Engel entrinnen koͤnnen, weil ſie ſchwerlich in der Lage ſein werden, noch ein zweites beſſeres Blatt zu halten. Faſt jeder von dieſer ganzen großen Geſamtheit, der fuͤr das Theater Intereſſe hat, iſt in irgend einer Weiſe auf Herrn Engel angewieſen. Er wird etwa von dieſem feinem Kritiker be= lehrt werden, daß ‚E# lebe das Leben‘ beileibe fein Schmarren, fondern ein ziemlich wertvolles Dramaift. Er wird ed daraufhin anfeben, wird fi) vor Langerweile Frümmen und wird trotz⸗ dem eber ſich als feinem Kritifer mißtrauen, der doch bezahlt wird, um

384

ed beffer zu wiſſen. J Der Lefer wird alfo nur in den feltenften Fällen durdy Schaden flug werten. Unmerf« lid) wird von Herrn Engel, der ja gewöhnlic im falfhen Kahn ift, ein Afthetifched Aufnahmematerial nad dem andern ruiniert werden.

Bonn dagegen brauchte von Haufe aus gar fein Unheil zu ftiften. Die» felben bundertzwanzigtaufend Men ſchen, die an dad Tageblatt gebunden find, weil die Tehnifhe Rundſchau oder der Sportbericht oder der Ges ſellſchaftsklatſch ihnen mehr gibt als die gleichen Rubriken in andern Zei— tungen, dieſe ſelben Menſchen haben e Fülle von Theatern zur Aus— wahl. Fuͤr diefe felben Menſchen eriftiert dad Berliner Theater nicht, fobald Herr Engel nidt will. Der Mann ift bier ald pars pro toto, ald fleiner Name für die Großmacht der Preſſe geſetzt. Mit einem Wort: Die Preffe bat den Mifftand erft ge- fchaffen, den fie befämpft, und ſchafft ihn jeden Tag von neuem, Wäre es ihr je ernft damit geweſen, Herrn Bonn aus unſerm kuͤnſtleriſchen Leben zu beſeitigen, ſie haͤtte ein Mittel von außerordentlicher Durchſchlagskraft zur Hand gehabt: fie haͤtte ihn nur ſo grund⸗ lich totzuſchweigen brauchen, wie es einzig und allein die Voſſiſche Zeitung getan hat. Wenn die Preſſe es nicht mitteilt, erfaͤhrt der Buͤrger nicht, daß der Kaiſer im Berliner Theater geweſen iſt, und geht vielleicht zu Brahm oder zu Reinhardt. Aber was nuͤtzt es, ſich deſpektierlich uͤber den Geſchmack des Kaiſers zu ereifern und doch zugleich devoteſt jedes Lobewort aufzuheben, das er hat fallen laſſen! Regis sententia suprema lex. Und die Wiedergabe dieſes kaiſerlichen Urteils iſt keineswegs die einzige wirk⸗ ſame Hilfe, die unſre Preſſe Herrn Bonn hintenherum leiſtet, waͤhrend ſie ihn vornherum befehdet und verhoͤhnt. Das laͤcherliche Doppelſpiel hat viele

Formen. Das Ergebnis ift fich immer gleich: Herr Bonn wird intereffant und amiıfant gemadt. Man fommentiert fein Hausgeſetz, man wiederholt den Huftenufas, man drucdt, noch heute, wie im Anfang, jeden Gab, den man von ihm erbafchen kann. Darin uͤber⸗ bietet ein Blatt das andre, und es foll zugunften des Tageblatted nicht ver- ſchwiegen werden, daß bis jetzt den Höhepunkt die Tägliche Rundſchau er reicht bat. Herr Engel bat alfo eine gerichtliche Klage ded Herren Bonn mit feiner feuilletonifhen Anklage im Tageblatt beantwortet. Herr Bonn müßte fein Reklamegenie fein, wenn er aus dieſer patbetifhen Torheit ſeines Prozeßgegners nicht jeden denk⸗ baren Vorteil zu ziehen verftinde, Die anhaltende und einträglihe Re— Flame der Prozeßberichte kann nod) lange auf fi) warten laffen. Zunaͤchſt iftö felbftverftändlich, daß dergefränfte Bonn dem Tageblatt eine Berichti- gung aufjwingt, die diefed aufrichtige Drgan nicht veröffentlichen zu müffen behauptet, und die es troßdem unge⸗ niert benußt, um gleich zwei Abend⸗ nummern farbiger zu machen. Aber dabei läßt ein Geift wie Bonn es nicht bewenden. Genug ift nie genug. Er verfaßt zum UÜberfluß eine regel» rechte Erwiderung in feiner pfeudo- paralytifchen Manier und fchickt fie der Täglihen Rundſchau. Sie fliegt in den Papierforb. Darauf hätte ich wenigftens, ich will es nur beſchaͤmt gefteben, eine hohe Summe gewettet. Die Täglihe Rundfchau hat mit dem ganzen Handel nicht das mindefte zu tun, bat Herrn Bonn verwalft, wo ed nötig und nur moͤglich war, und und nimmt feine ellenlange Er- Flärung dankbar und wortwörtlich auf. Sie befräftigt zwar, daß fie gegen die dichterifche und Ddireftorale Tätigkeit ded Herrn Bonn bisher eine ſachlich⸗ gegnerifche Haltung babe bewahren müffen, fie verzichtet darauf, auf den

Inhalt der Erflärung in irgend einer Weiſe einzugeben, fie hat nicht ein« mal ein konfeſſionelles Sntereffe an diefer eber philofemitifchen Erklärung aber fie drudtfieab. Ein Königreich auch für die Fleinfte Senfation. Iſts etwa feine? Das Tageblatt uͤbernimmt aus der Täglihen Rundſchau, Bonnb Brief an die deutfche Nation‘ im Aus» zug, die Deutfche Tageszeitung fällt über das Tageblatt ber, das Tage» blatt antwortet der Deutfchen Taged- zeitung, die Tageszeitung wiederum dem Tageblatt umd niemand weiß, was weiter werden mag. Zuguterleßt ** meine Winzigkeit den Kreis und uͤbermittelt die ganze Angelegen⸗ heit der Nachwelt. Aber es geſchieht in lachender Bewunderung fuͤr Herrn Bonn. Man muß wirklich Fritz Engel heißen, um hier voller Bekuͤmmernis zu fragen: „Wie ſieht es im innerſten Herzenswinkel dieſes Mannes aus?” Um zu fragen, „ob er nicht Stunden hat, die ihn in tieffter Empdrung gegen ſich felbit finden; Stunden, in denen er die Fauft gegen fi ballt und ſich mit aller Kraft binausfehnt aus den ſchweren Taͤuſchungen feines jeßigen Daſeins“.

O ahnungsvoller Engel du! Wie ich Herrn Bonn beurteile, wuͤnſcht er nichts ſehnlicher, als den ſchweren Taͤuſchungen ſeines jetzigen Daſeins die laͤngſte Dauer zu verleihen. Diefe ſchweren Täufchungen bedeuten, in Zahlen umgefeßt, einen Jahres⸗ verdienft von einer Viertelmillion. Wenn Herr Bonn die Fäufte ballt, fo ballt er die eine um Taufendmarf- fcheine und gebraucht die andre, um fih bineinzulahen. Er batd er- reicht. Als ich ihn vor fuͤnf Jahren, wo die berliner Kritik ihn teild noch fachlich würdigte, teild in den hoͤchſten Tönen pries, einen dramatischen Hoch⸗ ftapler‘ nannte, war dad paradog und verroht und ging ald Zeichen von der Zeiten Schande in eine Brofchlire des

335

Deren Eudermann über. Aber jegt betätigt mich die Zeit. Nur daß aus dem erfolglofen Hochftapler, der fidy mit all feinen gellenden Mittelchen an feinem Theater einen Pla er- ebern fonnte, inzwifchen der erfolg- reihfte Hochſtapler der gefamten Theatergefhichte geworden ift. Iſt dad garnicht? Muß man nicht in feiner Art ein ganzer, ftarfer Kerl fein, um ohne ein Stüd und obne einen Schaufpieler, mit einem Tage®- etat von vierbundert Marf und mit Maria Bonn ald Primadonna den deutichen Kaifer an fih zu feſſeln und die berliner Preſſe ſich zur er- gebenen Dienerin zu mahen? Denn darlıber follten die Herrfchaften auf- bören, fich im unklaren zu fein: Bonn pfeift, und fie tanzen. Es ift blindefte Vorniertheit oder bewußte Ver— logenheit, wenn fie dad nicht Wort baben wollen. Herr Bonn, jede Tat und jeder Sab bezeugt es, fennt das menfchlihe Leben und die in Berlin die Spiegelung dieſes menſchlichen Lebens hberflüffigerweife nod einmal zu fpiegeln trachten. Er weiß, daß ihm die Schmöde in die Suppe fpuden werden, wenn er fie jur Premiere des ‚Hundes von Basferville‘ lädt oder auch nur zuläßt. Aber er braucht die Bande, um zu verbreiten, daß, SherlockHolmes nunmehr durch der Tragoͤdie zweiten Teil verdrängt worden ift. Was tun? Er bricht eines ſchoͤnen Abends den erften Teil furz nach dem Anfang ab, tritt vor, fündigt dem Publifum die Premiere des ‚Bundes‘ an, die auf der Stelle ftattfinden werde, und verfchicht zur felbigen Stund an fämtliche Zei— tungen eineMotiz,die dieſes Humoriſten⸗ ftücflein in vollfter Objektivität zum beiten gibt. Die Gimpel geben faft alle auf den Leim, und Herr Bonn genießt amnächften Morgenimausgedehnteften Mafe alle Wonnen der Premieren- berihte ohne die berfämmlichen Schmerzen der gefchäftäfchädlichen

386

Premierenfritif. Wenn das fein!ge= nialer Einfall ift, will ich verurteilt fein, in Zufunft nichts ald Engelfche Kritifen, Wige und Gedichte zu lefen. Soll folhe trifte Dußendfeder uns unfre Freude an einer echten Originali⸗ tät, aneinem Unerſchoͤpflichen und Im⸗ merulfigen, aneinem Einzigen und Un⸗ vergleichlichen vergällen dürfen? Auch ich war einft fein Feind. Es ift vorbei. Meine Seele fingt freudig und gläubig mit, wenn feine Seele fingt: „Sch babe geſprochen, deutfches Volk. Nun richte du! Dir iſt mein Lied, mein Leid, mein Kampf und Sieg ewig gewid— met. Aus Liebe und Dankbarkeit fuͤr dich habe ich mit allem, was Gott mir gab, oft aus vielen innern Wunden blutend, verſucht, das heilige Feuer zu erhalten, das Bubenhaͤnde ver- loͤſchen wollen. Das heilige Feuer der Ehre, der Treue, der Reinheit und der ſchoͤnen edeln Wahrheit. Laß fie lügen und truͤgen, deutſches, großes, herrliches Volk, nie wird in deiner Seele etwas Platz finden, das du nicht mit dem Gemüt ergriffen haſt. Und der Wahlſpruch meined Haufes beißt: Den Guten zu Nuß! Den Schlechten zum Trug! Ich ſteh in Gotted Schuß!” Wer fünnte foldhen Tönen widerſtehen! Es bilft nichts. Wenn die Fritz Engel gegen ihn auf- treten, muß man fir ihn eintreten. Fr Ferdinand Bonn. 5.7:

Hans Müller

F ad Weſen dieſes jungen Dichter, der jeßt mit zwei Einaftern ind Burgtheater gefommen ift, ftebt vor⸗ läufig noch wie ein zierlich verſchnoͤr⸗ keltes Fragezeichen in der fiteratur des heutigen Ofterreih. Ein Talent chne deutlich erfennbare Grenzlinien, eine ille von Ausdrud, die allen fon« iftenten Inhalt uüberſchwemmt und verfließen läßt. Manchmal fcheint es, ald ob er alles koͤnnte; aber niemals offenbart ſich, was etwa nur er fann.

Eriftnod ganz Erbe; den vorbereiteten Cegen einer adlig und reich gewordenen Wortkunſt hat er lächelnd bei ſich ges borgen. Immer noch fieht man ihn wollüftig in diefen Schägen wuͤhlen, als endete fein Erftaunen nicht, daß fie fo ſchoͤn, fo groß, founerfchöpflic find. Wohin er auch greift, immer gligert und funfelt und prangt ed ihm zwiſchen den fFingerfpigen; ohne Schwächung und ohne Hemmung fließen ihm Worte, Bilder, Rhythmen, Verfe zu, die aus der legten Kultur unfrer Sprade er- wachfen find. ließen ihm zu, wie Ficht und Luft; ald berrenlofe Wellen einer allgemeinen fprachfünftlerifhen Be⸗ mwegung,. die jet durch unfre Atmo⸗ fphäre gebt. Cie treffen uͤberall auf; aber faum irgendwo haben fie foftarfe und verftändige Nefonanz, wie bei

nd Miller, Freilich, die ganz per⸗ fönliche Brechung diefer Wellen, die Auslefe und Seftaltung des Materials nad dem Profil des Einzelnen, des Kuͤnſtlers, gelingt feinen Kräften noch nicht. Es zeigt fich fein Weltbild, es ringt fich fein Grundton lo8, die nur mit feinem Namen zu benennen wären. Um ed mit einem ftärfern Wort zu fagen: Noch liegt feine Individualität unter den taufend rafchen und leichten Künften verfchüttet, aus denen feine eigene Kunſt erft emporwachſen muß. So ift feine ſchoͤne und reiche Lyrik bisher nicht dad Toͤnendwerden tiefer Gefuͤhle geweſen, fondern die Befchrei- bung feltfamer Empfindungen und Empfindlichfeiten, die der junge Mann erfreut,erftaunt,beftenfalld ergriffen in feiner heutigen Welt angetroffen bat. Am kräftigften und deutlichften faßt er fich in feiner biblifchen Dichtung „Der Barten des Lebens“ zufammen. Da wird die Ahnung einer eigenen Welt lebendig, und aus verborgenern Tiefen, als bisher, fpricht eine Perfönlichfeit, die werden will, Wie unficher doch fein Gefühl fiir die Grenzen und die feften Beftände feiner Fünftlerifchen Schdp-

fung noch ift, zeigt fich wieder in feinen dramatifchen Verſuchen. Da ift Ge- fühl und Einfall, glänzendes Wort und fauler Witz, Blüte und Abfall unfrer Sprache ohne Wahl und Zweck durch⸗ einandergeworfen. Es fiebt aus, ald ob den Dichter, der ſich doch noch in manchem fchmiegfamen Vers lebhaft genug dofumentiert, auf diefem Gebiet andrer, äußerer Realitäten ſtellenweiſe ſelbſt fein fiherer Geſchmack verlaffen bätte. Ein ſicheres Zeichen daflır, daß er den Punft in feinem Inneren noch nicht efunden bat, von dem alle Geſetze eines Schaffend ausgehen müſſen; daß er die Intelligenz auf die Suche ſchickt, ftatt ſich vom Inſtinkt geleiten zu laſſen. Die Intelligenz kann wohl auf fremden und entlegenen Gebieten in Sachen des Geſchmacks ratlos bleiben; der Inſtinkt nicht er iſt maͤchtig genug, im aͤrgſten Fall noch einen neuen Geſchmack zu ſuggerieren, wenn er ſich mit keinem vorhandenen zufrieden geben mag. Der unvorſichtig ſpielenden Intelligenz aber koͤnnen Dinge paſſieren, wie dieſer ganz witz⸗ blattmäßige „Troubadeur“ von Hand Müller, ein richtiged bumoriftifches uilleton, deffen durchaus literari= cher Übermut in belanglofen Peinten verfprigt wird. Aus einer noch füblern, perfönlih noch weniger beteiligten Sphäre der Intelligenz ſcheint die „Arme Fleine Frau“ zu fommen, die faft fhon zum fentimentalen Feuilleton berabfinft, bedenkliche Tafchenfpielerei mit unechten Gefühlen treibt und nichts mehr für fi) hat, ald die gut gepflegte Sprache. Diefe beiden Stuͤcke wurden aufgeführt. Sie find freilich die ſchlech⸗ teften, die Hand Miller gefchrieben bat. Die andern foftlimiert, phan⸗ taftifch, ja eines fogarmiteinem ftarfen Trieb zum Öpfterifchen haben einen wertvollern Willen und einen edlern Bau. Den Dichter reizt ed, zu ſehen und feben zu laffen, wie das Leben die Menfchen uͤbertoͤlpelt und überrennt.

387

Mit altklugem Pathos vergleicht er ed einem Schachſpiel unbefannter Ges walten gegerteinander und glaubt nun: Dramen erfinden, daß heiße, ein tuͤch⸗ tiger Schadhfpieler mit menſchlichen Figuren fein. Und manche Züge macht er wirklich ganz fein und wißig, keck und uͤberraſchend. Als ob die —— liche Herrſchſucht feiner Intelligen; keine Ahnung davon haͤtte, daß ſpielen nicht leben iſt, daß der dramatiſche Dichter nicht Figuren fuͤhren, ſondern Menſchen erſchaffen, und daß die Welt auch in Theaterſtuͤcken nochgan; anderd gemuftert und gewuͤrfelt fein muß, ald die Schadhbretter. Seine Phantafie hat noch zu viel Fläche und zu wenig Tiefe. So fommt es, daß fie ſich gar leicht und mannigfaltig zur Draperie aufwerfen läßt, aber kaum irgendwo haltbare Plaftif gewinnt. Seine Movellen („Buch der Aben- teuer”) find ganz wunderbare Mufter von buntfädigen Fabelgefpinften; fie gleiten bligfchnell und blighell durch den Geift des Leſers und laflen nur ein Phosphoreszieren bemwegter Intelli⸗ genz, nit ein Leuchten bemegter Menfchlichfeit darin zuruͤck. Solche Erzählungen findim Grunde auch feine fleinen Dramen; nur drmer und ſchwaͤcher, weil die dramatifche Form die fi) ohne tiefed Geflihl auch der kuͤhnſten Intelligenz; nicht reſtlos er- gibt darin fo unficher und beiläufig bebanbdeltift. Es gibt, wiegefagt, unter diefen flinf Dramen drei intereffantere und zmweiverfeblte. Warum aber gerade diefe verfeblten beiuns gefpielt worden find, daß tft freilich ein Raͤtſel deſſen Auflöfung vielleicht zu unerquicklich wäre, ald daß man ſich damit ernftlich abmüben follte. Willi Handl

Mandragola enn man die haneblichenere der beiden Komödien aufflihrt, bei deren Schöpfung fi der Politifer Macchiavell ein literarifches Ausruhe⸗

388

ſtuͤndchen ſchaffte, fo muß man fie einem Fleinen Kreis Geladerier vorführen wie ed Reinhardt in den „Rainmer- fpielen“ vielleicht nocy einmal tun wird und fi nicht durch die Form einer „Öffentlihen Aufflhrung” in die Zwangslage verſetzen, den Kaft- rierungsverfuchen der Zenfur gehor- famen zu muͤſſen. Fehlen aber die grob» ſchlaͤchtigſten Requifiten, die direfteften Anfpielungen, die unverfchämteften Serualien, fdylägt der ahnungslofe Un- verftand einer ſchnell zufammengemlr- felten Schaufpielertruppe auch das fa= tiriſche Studer KomddieinTrüummer: fo hat man nur nod ein Fragment, dad auch das „dramatiiche Inſtitut“ des Herrn Otto Ploecker-⸗Eckardt am beften im Kaſten gelaffen haͤtte, und deffen Überrefte hoͤchſtens noch zu etnem guten Operettenlibretto hinreihen. Aus der urfprünglichen Faffung des Werks, dad man die bedeutendfte dDramatifche Arbeit feiner Entftehungsepoche nennt und fogar der ‚Orazia‘ ded Aretino weit voranftellt, ift natuͤrlich weit mehr zu holen. Man fieht da einen fuperioren Geiſt, der in der Politik die kuͤhnſten, ruͤckſichtsloſeſten Thefen im Sinne einer freiwaltenden Herrenmadht verficht, in der leichtern Arbeit nun auc) die Men- fhen aufjeihnen, die läppifh umd ſchlecht genug find, foldye politifche Bevormundung zu verdienen. Mait fieht in dad Innere jener Zeit, in der die Blüte der Kunft aus dem Moraft der Sittenverderbnid emporfeimt: und fieht ald Porträtiften diefer Tage feinen mißvergnügten Literaten, fondern einen hochmoͤgenden Staatömann, der die Offenberzigfeit befigt, der fauligen Ge⸗ fellichaft, dem verlumpten Klerus, der verfeuchten Familie lächelnd zu fagen: „Ihr feid einer ded andern wert!” Ich glaube, unfre Politifer würden in den Stoffen,die fieihrer literarifchen eben, arbeit unterlegen, zartfliblender fein. Und fie wirden andre Sujets finden als diefes, welches uͤbrigens von der

nachgeborenen, franzöfifchen Hahnrei⸗ poſſe zahlloſe Male kopiert iſt: die Decameroneanekdote vom jungen Herr⸗ chen, dem die verheiratete Dulcinea am Ende einer geſchickten Intrigue von der Bloͤdheit des Gatten, der kupp⸗ leriſchen Duldſamkeit der Mutter, der feilen Geldgier des Beichtvaters effek⸗ tiv ins Bett gelegt wird, und der nun der Vater des Knaben werden ſoll, den ſich der legitime Gatte ſo ſehnlichſt wuͤnſcht. Walter Turszinsky

Der Dieb

err Henri Bernſtein, der feiner

Sachen fichere Parifer, deſſen ‚Kralle‘ neulich Unter den Linden nad) und griff, hat ſich jet, auf dem Umweg über Wien, auch ded Neuen Theaters bemächtigt, mit einem Senſationsſtuͤck, dad eigentlich feines ift, oder doc nur dann, wenn die berzoglichen For⸗ men, die Spitzentoiletten und die äußerft föftlichen Deffous einer Schaufpielerin größten Boulevard-Stild die Titel- rolle adeln. Das Stüd heißt: ‚Der Dieb‘ und ift von Herrn Rudolph Lothar mutig ind Wienerifche uͤber⸗ feßt worden, alſo, daß ed von leb⸗ frifhen Bindobonidmen nur fo wim- melt. Und da der felbe Herr Lothar dem Doftor Schmieden die Regie ab- genommen und für die Titeldiebin eine woblgebildete und fehr feſch gefleidete Wienerin mitgebracht hatte, jo wurde (auf eine erträgliche und dralle Art) offenbar, wie fih an der Donau pariferifcher Chic afflimatifiert. (‚Paris in Wien‘; Frankreich fchien das ver- Iorene Lothringen ald ein unbedenf- lihed Lotharingien bier wiederzuge- winnen.) Die drei Afte fpielen auf einem Schloffe bei Paris, in fafbio- nabler Geſellſchaft. Große Gelddieb⸗ ftäble find im Boudoir der Schloß- berrin verlibt worden. Wer ift der Dieb? Ein febr eleganter Deteftiv wird berufen, betreibt geheimnisvolle Unterfuchungen, entlarvt am Ende

des erften Altes den eigenen Schloß- Sohn (neunzehn Fahre) ald den Schul- digen. Der gefteht. Herr Bernftein will, daß aud) wir, im Parfett, es ihm glauben follen. Leider find wir nicht fo naiv, und ed uͤberraſcht und keineswegs in der vom Autor gewünfchten Weiſe, dag am Ende ded zweiten Afted die auf Beſuch ammefende junge rau Marie Louife, entfchieden die elegan- tefte Figur ded Dramas, ald Diebin da= ſteht (in Korfett und Spitzenhoͤschen.) Diefer zweite Aft geht vorfich in einem Schlafzimmer, indem zweifehr gut em⸗ pfundene Betten fich breit und weiß nebeneinander erftredfen. Hätten nun unfre Nerven nicht Anfprud darauf, daß am Ende ded dritten Akts wieders um eine andere Perfon, etwa die Be- ftoblene felbft, die endgültige Diebin fei? Leider bleibtö dabei: die wunder- voll finnlihe Marie Louife bat, um ihrem raubtierhaft geliebten Gatten in möglichft herrlichen Toiletten ge- fallen zu können, die Fleinen Trand- aftionen vorgenommen, jener Juͤngling batte ſich aus Liebe zu ihr unfchuldig geopfert, und der dritte Aft dient nur noch der gefellichaftlichen, morali= fhen und fozialen Ordnung der An⸗ gelegenbeit. „Alles im Leben endet mit einem Arrangement,” jagt Herr Maurice Donnay. Aber das Publifum, die Nerven einmal auf friminelle Reize eingeftellt, war mit diefem ordnenden legten Aft nicht ganz fo zufrieden wie mit den Spannungen der beiden erften. Außer dem Deteftivifchen bietet dieſes Drama foignierte Sinnlichfeit, wild ſich anfchmiegende Brünfte einer Mani- und Pedifurierten, deren letztes Weh und Ad doch ewig aus einem andern Punft nur zu furieren ift, Diefe Regungen duftenden Fleiſches vollziehen ſich ſehr ale, jwifchen Eheleuten. Es fallen buͤbſche, gefeilte Worte dabei. Wenn Madame Rejane die Titeldame gäbe, dies pralle, viel- fah ſich rlıttelnde, räfelnde, hin⸗

389

werfende, binfnieende, dann wieder mondän flirrende, flimmernde,flirtende Weltweibchen, dann wär ed wohl ein bebägliches Feit. Wien bätte früher die Odilon aufgeboten, die gleißende Dresdnerin. Immerhin zeigte auch Fräulein Claire Wallentin Wertvolles. Und fo ift gegen dies hoͤchſt moralifche Calle franzöfifchen Stuͤcke find mora- liſch) Deteftiv-, Strumpf- und Bufen- ſtuͤck nicht das Geringfte einzuwenden.

Ferdinand Hardekopf

Deutfche Uraufführungen

8.3, A. Bördel: Der neue Agent. Mainz, Stadttheater.

12.3. Berta Friedländer: Sünde, Einaftiged® Drama. Adolf Glas: Vae victoribus, Epifode. Wien, Birgertheater.

A. Roffelli: Seele, Drama. Mainz, Stadttheater.

14.3, Freiberr von Weftenhol;: Mutter Eoeleftine, Drei Afte aus der Nevolutiongzeit. Eßlingen, Stadt- tbeater,

15.3. Ernft Klein: Lolotte, Ein- aftiged Luftfpiel. Wien, Luftfpiel- theater.

16.3. Nobert Mifh und Noda- oda: Komddianten, Vier Afte. Wies⸗ baden, Nefidenztbeater.

Marie Madeleine: Katzen, Drei Einafter. Nürnberg, Intimes Theater.

Ludwig Hand Mofegger: Chryſantheme, inaftiged® Drama. Wien, Buͤrgertheater.

18.3. H. A. Nevel: Laetitia Bo— naparte, Hiſtoriſcher Einafter. Braun⸗ ſchweig, Hoftheater.

21.3. Henriette Clara von Foͤr⸗ fter: Die Herrin von Tamfel, Hifto- rifcher Einafter. Braunfchweig, Hofe theater.

21.3. Wilhelm Mannftädt: Lie- besdiplomatie, Luftfpiel. Altona, Stadttheater.

23.3. Richard Kueas: Goͤtzen, Kolonialdrama. Goͤrlitz, Stadttheater.

Rudolf Hawel: Das Heim⸗ hen im Haufe, Volksſtuͤck. Wien, Naimundtbeater.

Alfred Schirokauer: Mit reinen Händen, Schaufpiel. Nürnberg, Intimes Theater.

26.3. Albert Bernflein-Samwerd- fy: Vorbeftraft, Schaufpiel. Berlin, Neues Theater.

27.3. Leo Feld: Der Arzt, Ein- aftiged Drama. Paul Buffon: er dys Kompagnon, Komödie. Karl Hans Strobl: Die unfehlbare Wiffen- haft, Einaftige Komödie. Wien, Kleines Schaufpielhaus.

28.3. Hermine Brod: Hal ower, Einaftiged Drama, Berlin, Luft- ſpielhaus.

31.3. Heinz Gordon: Fräulein Vorwärts, Schwanf. Hamburg, Tha- liatheater.

Karl Schuͤler: Staatsan⸗ walt Alerander, Schauſpiel. Poſen, Stadttheater.

Jacques Burg und Walter Turszinsky: Gelbſtern, Komoͤdie. Stettin, Bellevue-Theater.

2.4. Karl Andres: Alfeftis, An« tifed dramatifhes Märchen. Hamburg, Deutſches Schaufpielhaus.

5.4. S. D. Gallvitz: In eigenen Geffen, Einaftiged Drama. Bremen,

tadttbeater.

6.4. Bruno Wagener: Und hätte der Liebe nicht, Drama. Hannover, Deutſches Theater.

Johann Heinrich Reitz: Der Staatsminifter, Drama. Nürnberg, Intimes Theater.

Berantwortlih für die Redaktion: Siegfried Zacobſohn, Berlin SW. 19 Berlag von Deſterheld & &0.,BerlinW.15 Drud von Imberg & Leffon, BerlinW.9

A EEE EEE EEE TEE TEE TEICHE TEEN VEREIN mM uw: wie. —2* X —W —B uuyriuuu!

18. April 1907

III. Jahrgang Ylıummer I6

Grotesken / von Willi Hand!

ad Wort fteht ald gemeinfamer Titel uͤber drei Einaftern von Hermann

Bahr, die jet in einem Buch (bei Konegen in Wien) erfchienen find.

Um eine Legitimation diefed Titels koͤnnte man vielleicht in Ver⸗ legenheit fommen. Denn groteöf ift die natürliche Angliederung von Unmwirf- lihem an Wirkliches; die phantaſtiſche Folgerung des Megellofen aus dem Regelrechten. Die Grotesfe gibt eine Entftellung nad außen bin als will- fürlihen und verblüffenden Beweis einer feften innern Logik. Sie hebt fcheinbar alles Reale auf, erflärt e8 für belanglos; aber nur darum, weil ihr die böhern und böchften Tatfahen blos auf den irrealften Megen erreihbar erfcheinen. Das ift wohl aud der Grund, warum fie fo haͤufig nach der Satire fchielt, die ja ebenfalls leidenschaftlich negiert mit einer brennenden Sehnſucht nad) Bejahung.

Bon folder Groteske nun, die beim dußerlihen Zug anfegt und ihn durch alle Außergemöhnlichfeiten der eigenwillig angereisten Einbildungäfraft bindurdygwingt, bis er feine erfte Form faum mehr zu erfennen gibt, von folder Groteske, die fih in der Phantafie der Konturen auslebt, ift in dem Buche wenig zu fpüren. Im erften Stüd allenfalls; da in das Geſchehnis noch genuͤgend bunt, und die Figuren ſind von jener unheimlich ungreifbaren Echtheit, die nicht eine Abfehrift, fondern ein willklirlicher Auszug menfchlicher Naturen fein will, ohne Gerechtigkeit und ohne Tendenz, mit feiner andern Abficht ald: in aller Knappheit fehr ftarf zu wirfen. Hier treibt: die Kraft der Phantafie noch in den aͤußern Linien; bier werden Menfhen, die nicht wirflid find, aber unzweifelhaft von wirklichen her⸗ ſtammen, in Ereigniffen, die außerordentlid erfcheinen, weil fie von einer andern Ordnung find ald der unfrigen, mit einer ziemlich wilden Luftigfeit berumgeftoßen. Die Groteöfe zeigt fi) nad außen bin an, teilt ſich mit, wie ed ihre Natur verlangt. In den beiden andern Stüden aber ift gerade die Welt der Wirflihfeiten fo ziemlich unangetaftet geblieben. Menfchen fommen und geben, und ed fönnten unfre Brüder, unfre Frauen, unfre Freunde und Freundinnen fein. Die Ereigniffe greifen freilich da und dort

391

aus der ebenen Möglichkeit heraus; aber nur foviel, ald ein auf ſchwere Gebanten geitellter Einafter * Le FR noch allen Seiten bin deherrſchen zu ‚Hier müßte die Groteske, wenn man fehon auf dem Schein Titels 8 beftebt, 3 von ber Linie der Menſchenformen und der Folge der Altionen gefunden werben ; im innern Erlebnis etwa und feiner Wertung, die ja tatfächlid zu een, faum *5* ——— ſtrebt. In dieſen beiden Stüden gi wie fonft i in Oroteöfen, daß Unwahrſcheinliche ſelbſtverſtaͤndlich, es wird voraudgefeßt, daf alles ebenjo wahrſcheinlich, wie unwah und. daß alle Wahrheit im Menfchen ‚drüben‘ iſt, das beißt dort, wir feinem Menſchen, wohin und fein Menſch nachfolgen kann. Die Wahrheit ift drüben. Diefes feltfame Wort aus dem rs dad und in einen dunfeln Wirrwar ‚unficherer Beziehungen ſcheint und und doch zugleich den einzigen Halt in diefer une JE SCHE Flucht uns —— er will, enträtfelt ſchließlich auch die geheime Logik der er erfteu, die ja noch aͤußerlich mit grellen Figuren * Ber Sri fpielt, verſteckt ih die ‚Wahrheit vom Anhben‘ nicht 6 Oberfläche. Diefer ‚Klub der Exlöfer‘ hat, als Groteske ern Sinne, noch »iel Satiriſches in fih. Genau genommen gebt 1 großer Zeil des dramatiſchen Eiferd von ‚Hermann Bahr in den egten Jahren gegen deu Irrtum von Erlöfern. Die feeliihen Erlöfer meint er jumeift; und bier einmal Die fozialen, Wenigſtens nimmt er das Material zur Satire, den menſchlichen Rohſtoff, der fih in feiner Phantafie Örpteßfe verarbeitet, ganz aus der Geſellſchaft, die er lennt. Es ent- t ein wilder Anfturm von Figuren, die mir täglich im Leben, in efprächen oder in der Zeitung um ung haben, die wir auf allen eg —2 taͤglichen Denkens wiederfinden, die wir aber fo, wie fie bier Umgeftaiet erſcheinen, ei, gebogen, widerjinnig fberhöht, lächerlich her- ausgepußt oder Pig wieder mit einem langverwifchten Flecen alten Schmußes deutlich bezeichnet, doch zum erſten Mal zu fehen vermeinen, fo ummeifelhaft wir fie auch erfennen und anerfennen muͤſſen. Aber mitten a biefem per gehaͤſſig Verzerzter, mitten im vieldeutigen und dialelt ſergeſchrei we ed plöglic ganz ſtill und feierlich: ein Fremder tritt herein; ein Kuͤnſtler vielleicht, gewiß ein Menſch. Auch feine Züge find verzerrt; aber vom eigenen Bohn, nicht vom Hohn des Dichters, der ihn geſchaffen hat. Diefer eine, der leben, nichts ald leben will, mo die andern erlöfen wollen oder hinter den Exlöfern ber find, dieſer eine wirkliche Menſch unter all den Fragen fennt die Mehrheit ſchon: daß wir einander nichts fein und nichts geben fünnen, daß wir einander nicht fuchen und nicht verfolgen, fondern erdulden müflen, daß eben alle Wahrheit ‚drüben‘ ift, wo unfre Werke niemals hinlommen. Er iſt ein Verwandter des King aus dem , Ringelſpiel und des vergnügten Einſiedlers aus der ‚Anderen‘; nur einer, der ald Kuͤnſtler noch etwas Kraft und Haß und einen Erdenreft von perfönlic bitteim Schmerz in die Verwandtfchaft mitbringt, während

392

andern lieben Onkels durchaus vom einer heiter, unaggrefliven, erd⸗ —— Grobheit find. Ihre Wahrhaftigkeit it eben ſchon aus der böflihen Form unfrer Geſellſchaft herauägefallen ; gber fie wollen niemandem Boͤſes. Bon Menſchen, für Menfhen wollen fie überhaupt nichts. Gie trauen ben Worten nicht mehr und leben ganz ‚drüben‘, Was feine Worte hat, daß allein erfüllt fie, baut fie auf, bringt fie weiter. Wind, Wieſe, Welle find ihnen Freund und Beifpiel. Die fprehen nicht, Die wollen nichts, die find und wochfen und haben ihren Zweck in fih. Bon ihnen lerne der Menſch, fein eigener Zweck und Inhalt zu fein und feinen Trieben recht zu geben: Be find die einzige rechte Wahrheit, deren er teilbaft werden kann. ©» fagem die abgeklärten Onkel und mit ihnen matlırlic auch der Onfel ‚Faun‘, nad) dem die zweite diefer Groteßfen heißt. Gie führt ihre Menſchen au Fäden durcheinander, bie man ſonſt in bie Gefpinfte leichter Schwaͤnke eingefchlagen findet. Gefliſſentlich ift die Borausfegung des ‚ganzen Stüuͤckes, aus der ein andrer eine außgiebige Poſſe gemacht hätte, im Dialog felbft als ein alter Novelliſteneinfall Mit der Geftaltung die ſes gewiß nicht übeln Scherzed daß zwei Inner einander börnen wollen, die frauen aber, indem fie ſcheinbar nachgeben und dann heimlich die Betten taufchen, den Ehebruch geſchehen laffen und gerade damit ung en machen gibt fih Bahr gar nicht ab. Um fo wenig ift e8 ihm nicht zu tun; fondern darum, zu jeigen, wie und alles, was wir von und und von andern denfen, wad von und und was zu und gefagt wird, zum Narren hält. Wie wir und auf nichts, was irgend in Worte gefaßt werden fann, verlaffen fönnen und dad Wahre immer gan; ploͤtzlich, über Worte und Gedanten weg, aus und berausbricht. Daun fleben wir freilich exſchredt und meinen, dad Leben hat nun allen Sinn perloren. Aber wir muͤſſen ihn eben in uns felbft und nicht bei den andern ſuchen.

Diefe Verfündigung der Natur in un, der einzigen verläßlihen Schön- beit, die wir und erringen fönnen, wenn woir unferh Trieb widerſpruchs los bejahen, fommt bier im Faun“ wieder, wie im , Ringelſpiel“ und in der ‚Anderen‘. In dem mübevollen Ningen um die kuͤnſtieriſche Form diefes Gedankens es it mehr ald Gedanfe, ift tiefes Geflihl vom Zufammen- bang des Menſchen mit der ſtummen Welt bedeutet der Faun eigent⸗ lich nur eine kleine laͤchelnde Probe, waͤhrend die großen Kaͤmpfe ruhen. Auch dieſe Probe zeigt ganz deutlich, mie eben auch die gewaltiger zufaſſenden Angriffe auf den tüdifchen Stoff, wo die Kraft den Weg zum Innerſten des Erfhauten und Erfüblten noch nicht gefunden bat. Oft bleibt das Wort nody neben den Menfchen ftehen, und dad Erlebnis hat nicht genug vertiefte Feftigfeit, um ſich felbft und feinen Sinn in leuchtend Flarer Har⸗ monie zu tragen. Das ſcheint auch Bahr zu ſpuͤren, und feine Luft, aus den dunklern und erfchredenden Wahrheiten feine® Gedankens mehr umd mebr an ihre fpafige Dberflähe zu tauchen, ſcheint mir dem tiefen Ber- druß über diefen Zwieipalt von Form und Gefühl zu entſtammen, der ihm fein Runftwerf in der legten Zeit immer wieder irgendwie befhädigt. Die

393

dritte der Groteöfen, ‚Die tiefe Natur‘, ift ein lofes leichtes Spielen an diefer Oberfläche: der große Gedanfe nimmt nur noch von fern laͤchelnd daran teil.

Aber, wenn Bahr bier den Forderungen der Form nicht nachkommt, fo gefchieht ed, weil dad, was er fagen will, ungebeuer und neu ifl. Bon den einzelnen Menfchen, von ihren Gruppen will er nichts mehr; das Pſychologiſche, das Soziale bleibt hinter ihm zuruͤck. Er will die Natur im Menſchen. Und der Schritt zu diefem Allgemeinften, Ungreifbarften in und ift von dieſer aufs Einzelne, Enge, Woblbegrenjte geftellten Zeit wohl am allerfchmerften in Schönheit und Sicyerbeit zu machen. Er führt direft ind Unendliche der Jufunft hinaus. Und es ift ein tragifcher Kampf, wenn ein Klinftler es ſich abringen will, die innere Zukunft der Menſchheit künſt⸗ leriſch reſtlos zu bewältigen.

Trauerfpiel/ von Robert Walfer

er Vorbang gebt binauf zur ernften Höhe: Es zeigt das Spiel ſich, und das Stüd beginnt.

Die Männer machen ftolje Kämpfermienen,

verzerren den Mund zu einem böfen Lächeln,

das Ted verfpricht, ſchon eh die Wunde fpringt

und Blut die blaffen Stirnen rofig färbt.

Ein Todentfhloffner fhligt den Bauch fih auf.

Sein Sohn fhreit draußen ver der Tür, die Tuͤr

bricht ein, und, wie zu Stein erftarrt, fieht er

dad graufige Schaufpiel an kam zu fpät. . Die Szene wechſelt, und das e fiebt

in eined Gartend Traum binein: Der Mann

ſtuͤrzt riefenhaft vergrößert und entfeglich

verändert aus den dunfeln Büfchen vor,

langfam und fchmeidig; und geſpenſtiſch flattert

ein ſchwarzer Mantel um die Glieder ihm,

die weit ausbolend tragifhe Schritte meffen

auf dem Parfett der Bühne. Dann ein Kampf,

ein Ringen, daß die zornigen Knochen krachen.

Der eine ftürzt, wie 'n Wögeldhen noch biıpfend,

bis er fich ſchrecklich uberfchlägt. Der andre

muß fliehn, doc bringt man ihm gefangen ber

und Fündet ihm des Urteild Willen an.

An allem ift ein kleines Mädchen ſchuld,

Das faum gelernt vernünftig bat zu lächeln.

So füß wie flndbaft, ſchuldlos wie gelehrt

in Künften fhon der Schuld, tritt fie voran

ald helles Ficht, Liebreiz und Schreden werfend

in dad Gemüt der bangen Hörerfchaft.

or trauernd nach liſcht eine Tadel aus.

Die NRabenfteinerin

on Wildenbruch. Es ift alfo nicht weiter verwunderlich, daß die

Nabenfleinerin die Tochter eined Hilpold Jeronimus, Ritter von

Rabenftein, ift, der auf der Burg Waldftein zwifchen Augsburg und Nürnberg figt und die vorüberztehenden Kaufleute ausplündert. Ein Kontraft, dad A und D aller dramatifhen Wirkung, ift Damit ſchon gegeben: finfender Adel und fteigended Bürgertum. Der zweite Kontraſt wird, nach modernerm Rezept, in die Seelen von Bater und Tochter gelegt. Ihn treibt die, wuͤtige Wut‘, zu rauben und zu morden, aber er weint, wenn man ihn Schnapp- bahn nennt. Sie ift auf ihre Weife mild und wild zugleich. Heißt Berfabe, reitet und zecht mit den Mannen ded Vaters, aber ſchaͤmt ſich zu Tode, wenn einer von ihnen fie ungefämmt fieht. Diefe ganze Kumpanei ſitzt am Anfang des eriten Alts zubauf, führt Hochgefpräde und martet der- neuen Beute. Einzig Dietburg, Witfrau von Agawang, Schwefter des räuberifch« reifigen Nitters von Rabenſtein, ahnet und prophezeit nichts Gutes. Go und nicht anders fommt ed auch. Bei Bartolome Welfer dem Zungen aus Augsburg ift Hilpold Jeronimus doch einmal an den Falſchen geraten. Nitter und Kaufmannsfohn flechen ſich wechſelſeitig mund, aber der Raͤuber ftirbt, und fein Befieger fängt jept erft an zu leben. Denn er fieht Berfabe und fie fieht ihn! Im Fieber hält er fie für feine Braut, die er von Angeficht nicht Fennt, für Urſula Melber, die eiferne Jungfrau von Nürnberg, und ed nimmt gleichfam den Verlauf oder zum mindeften den Schluß des ganzen Stuͤcks vorweg, daß diefe widerwärtig arrogante Dame Urfula am Kranfen« lager bed Verlobten zu dem fchlicht-befcheidenen und doc fo ftolz-energifchen Waldfalken der Raubburg in den lärmendften Kontraft treten fann, obne daß fi) der Schläfer auch nur rührt. Bei Berfabe allein war er erwacht! Ss ift der dritte Kontraft dieſes einen Afts, in dem fich, ohne Ortswechſel und innerhalb einer fnappen Stunde, heigatmig, ſchwungvoll umd berj- beflemmend die Handlung eined ausgewachſenen Dramas abrollt.

Wir kennen jegt ded Dichterd Ziel, noch aber kennen wir nicht feinen Weg. Wie wird Bartolome zu Berfabe gelangen? Sein reicher Vater fann es nicht begrüßen, daß eined Schnapphahns Tochter die nuͤrnberger Patrizierin verdrängt, Wer von den beiden Männern wird der ftärfere fein? Zum vierten Male plagen Gegenfäge aufeinander. Es ftimmt uns für dad Schidfal der Liebenden fehr froh, wie derb dem Bater bier der Sohn die Wahrheit fagt. Iſts Feine Schande, daß der große Unternehmer mit feinen kolonialen Arbeitöfräften den Gewinn nit teilt, fondern fo wadern Leuten nur nad) Tag und Stunde Lohn bezahlt? Der Zufunfts- ſtaat wirds beifern. Zuvoͤrderſt freilid harrt der junge Sozialift des fech-

zehnten Jahrhunderts mit feinen Eltern feiner Braut entgegen. Urſula Melber kommt. Das iſt fie nicht, die er im Sieber fah und ſeitdem liebt. Ble aber ſoll er ſich begreiflich machen? Berſabe müßte kommen. Ste kommt im Augenblick, wo man fie braucht. Det dritie Gegenſatz dei eiften Akts wird wieder flammend wirkſani: Käthen und Kunigunde fhidhen einander um die Wette. Es findet ſich eim fünfter Gegenſatz hinzu. Det Vater Welſer neigt nach wie vor zu Urfiila, die Mütter Welſerin ju Betſabe. Wenn jebt der junge Gojialift fo handelte, wie fein Chatakter von Haud aus angelegt iſt, und wie er ſpaͤterhin fich andy entfaliet, dann wäre das Schauſpiel ſchon zu Ende. Dann nähme er ſchon an dieſer Stelle Berſaben und ginge mit iht nach Ametika. EB iſt zu früh am Abend. Der Mater alſo ruft: „Noch heute eine Mannſchaſt ruͤſt ich die,“ und rechnet jetzt darauf, Berſabens Burg von feinem Sohn aldbald ir Stlicke gelegt zu ſehen. Prophetifch fpricht der Sohn dazu: „Kann ſein, noch etwas Andres geht dabei in Stücke.“

Wir wiſſen, was er damit meint. Er meint nichts anbreß ald die Ver⸗ lobung mit der Melberin und ſpannt und auf die Folter, auf welche Art et ſich von ihr befreien witd. Was wäre einfacher ? Ein ffeptifches Gemlitimag ed zunaͤchſi beiiweifelit, daß Bartölome beider Belagerung Walbfteind die brofatene Schlange, die er verabſcheut, an feiner Seite dulden wird. Ein Dichteraug ſieht weitet. Auf Waldſtein figt ja Berfabe. Es Farin in dieſem Aft nicht ihre einzige Aufgabe fein, den verworfenen Mamien ihres heimgegangenen Vaters ſchoͤn zu tum, der Raͤuberbande zu verheißen, daß Bott im Himmel fie anderb nennen witd, ‚ald die Augebırgifden ed tun‘, oder mit holdſeliget Shftgfeit zu fragen: ‚Du Man, als du noch ein Kind warſt, bein: Mutter muß dich lieb gehabt haben?‘ Derlei iſt auch, weiß Gott im Himmel, bier nicht ihre Hauptaufgabe. Sie muß, von ihrem Fenſter Auß, bie Nebenbuhlerin erblicken und, piff, paff, puff, mit einer Armbruft hiederfihleßen. Das Scheuſal iſi ſo ſchlankweg und ſo überaus gelegen tot, daß umd die Folgen dieſer Tat nicht ernſtlich ängftigen koͤnnen. Wer den iebenden bis hierher jedwedes Hindernis aus ihrem Weg geräumt, wird fie auch fürder nicht im Stiche laſſen.

Diver follte doch? Im vierten Akt ſehen wir Berſaben im Gefaͤngnis Auf Mord fteht Tod. Die Stunde kommt, die Stunde naht. Berſabe wird bereit® nad ihrem fetten Wunſch gefragt. Sie wünfht, den Mannen möge fein oder möglihft wenig Leids gefchehen. Darf ſoviel Edelmut zugrunde geben? Wo ift Bartolonie, zu belfen und zu retten? Da tritt er ſchon auß dem Verſteck berfür. Man herzt und kuͤßt umd weint fich ſatt, und unfre geſunkene Zuverficht wird nen lebendig. Des Armenflnderglödleind dimner Ton, des roten Henferd blankes Schwert wo ift ihr Schreden, wo ihr Sieg? Wenn wiederum die Not am bödften, wird wiederum Bartolome

396

erfcheinen und hoffentlich dem Spuk einmal fie allemal ein Ende machen. So und nicht anders kommt es auch. Vom Block herab begehrt der tapfre Jungling Berſabe zur Frau. Nach augsburgiſchem Recht wird fie da

befreit. Aber vergaß dad Paͤrchen denn ben fünften Gegenſatz des weiten Alta? Der Vater Welfer gibt fo leicht nicht nah. Die Schande dünft ihn gar zu groß. Zum mindeften will er erft eine Frage an dad Mädchen flellen, um ihre Sinnesart zu prüfen. Er fragt, wohin fie nad) dem Tode zu fommen glaube, ob in ben Himmel oder in die Hölle. Berſabe antwortet ſchlicht und lieb und denkbar unbeflimmf, fle hoffe dahin zu fommen, wo die Mannen find. Das rührt den Alten tief, und er enthält dem Paar nicht laͤnger feinen Segen vor. In den Armen liegen ſich beide, weinen vor Schmerz und vor Freude und verſprechen und body und teuer, gleich nach Amerika zu geben.

. Wer hoffen koͤnnte, mit ſechzig Jahren noch fo jung zu fein wie diefer. —— Dichtersmann! Wer ſich erinnern koͤnnte, zu irgend einer Zeit fo jugendlich geſehen und gefuͤhlt zu haben! Won des Gedankens Blaͤſſe wird Wildenbruch wohl nicht mehr angekraͤnkelt werden. Pſychologie und Logik ſind nicht und werden niemals ſeine Sache ſein. Aber es mußte einmal ein fo ergebnisloſer Dramenwinter wie der vergangene fommen, um und felbft das vergnligte NRaubritterfhaufptel von der ‚Rabenfteitterin‘ in einer gam beſtimmten Hinſicht ſchaͤtzenswert erſcheinen zu laſſen. Wildenbruch iſt in einer Epoche der Undramatiker wenigſtens ein halber Dramatiker und ſicherlich der einzige Techniker. Er bat den unge: telibten Blick fr große fjenifhe Wirfungen und heute, wie vor fünfund- zwanzig Jahren, die Fähigkeit, Effekte auf Effekte zu erfinnen. Er erfindet feine Handlung und geftaltet feinen Menfchen, die fic irgendwo und irgendwann begeben haben könnten. Was Berſabe und ihr Bartolome erleiden, reden, tun, ift maͤrchenhaft und doch in feinem Augenblick poetifh. Aber ließen ſich in diefem Schaufpiel Fabel, Perfonen und Motive mit menſchenmoͤg⸗ lichen Gebilden vertaufchen, es käme eins der größten Dramen unfrer Lites ratur zuftande. Das Gerlft zu einem Drama tft einmal in vollendeter Ge⸗ ftalt geraten. Wieviel dad wert ift und erfegen kann, bewied der Jubel unſers nach allem Anſchein unbefangenen und ehrlich Kingeriffenen Hoftheater- publifums. Die bloße Tatfahe einer fubjeftiv unfraglich echten Poeten- begeifterung genügte den Leuten und ließ ihnen gar nicht zum VBewußtfein fommen, daß Gegenftand wie Ausdruck diefer Begeifterung ihren Seelen weltenfremd blieb. Le geste etait si beau. Wenn je ein Publifumserfolg fir Dramen» und Kritifenfchreiber lehrreid; war und fein follte, fo ift es bier der Fall

397

Carlo in Berlin / von Hans Warbeck

ir haben eins der merkwuͤrdigſten Ereigniſſe der Theatergeſchichte

hinter uns. Eine Operntruppe im Süden ſteigt auf die Bahn und

fährt mit Sad und Pad gen Norden. Um den verehrten Deutfchen einmal zu zeigen, was eine Harfe ift, fagen die einen. Um für die Armen ein artiged Suͤmmchen heraudjufchlagen, fagen die andern. Um das politifche Band zwifchen Frankreich und Deutſchland fefter zu knuͤpfen, fagen die dritten. Das führende Blatt der deutfchen Nation beordert die Blüte feiner Mit- arbeiter ald Spezialberichterftatter nad dem Süden. Nachdem diefe Bluͤte an der Opernfpbäre „lang gefogen” und in munderfchönen, farbenreichen Artikeln gefhildert, wie man dort fich „mächtig ausgezogen“, begleitet er den Train von der Cöte d’azur durch Franfreih und Deutfchland nad Berlin. Ald Kurier des Kaiferd. Er fchildert gewaltig den Abmarſch der Armee, dad trübe, ftürmifche Wetter, die geniale Bettftrategie des Genera« liſſimus, die ſiegesgewiſſe Stimmung auf der einen, die Todedahnung auf der andern Seite. Welthiftorifhe Schauer laufen uns Iber das Herz. Man denft: 1870 Moltfe Bismarck Kaifer Wilhelm. Das Eiferne Kreuz ſchwebt in der Luft. Unterwegs zählt er die Brötchen, die die Soliften ver- jehren, die Blumenfträußchen, die man fi) von dem Herren zu den Damen zuſchickt, den zarten Flirt, den der blinde Paffagier aus Zeitvertreib zwifchen Männlein und Weiblein anfpinnt. Flirt natlrlih nur. Nicht etwa Liebelei. Der gar Verbältnid. J wo. Go etwas kennen ja die biedern Leutchen gar nicht. Uberhaupt find es lauter Zungfern. Denn der Generaliffimus zahlt gut. Unter zweihundert Francs erhält felbit nicht die Fleinfte Ballettratte. Man bat alfo „fo etwas” nicht nötig. Am lieblihen, warmen Oftermontag teifft Die Vorhut in Berlin ein und wird von einem neuen Generaliffimus fofort in ihre Quartiere verladen. Die erften beiden Vorftellungen find „faſt“ ausver—fauft. Es fehlen zwar nod ein paar hundert Pläge daran. Aber e8 ift außver—fauft. Der Feind ift alfo bereits halb gefchlagen, Hurra. Die Kampfesftimmung waͤchſt. An den beiden folgenden Tagen Fortfeßung des Rekognoszierungsgefechts in dem führenden Blatt der deutfchen Nation. Die leitenden Perfönlichfeiten des Fnftlerifchen Feldyugs von tinfs. Die mar- fanteften Köpfe aus dem Gros von rechts. Die aufgeführten Komponiften. Die Darfteller des erften Abends. Die Darfteller des zweiten. Endlich ift der große Moment gefommen. Das Königlihe Opernhaus ift wirflic aus» ver—fauft. Man fiebt überall Leute, deren Kauffraft über allen Zweifel er- baben ift. Die dich auf Piftolen fordern, wenn du bebaupteft, daß fie jemals gefauft haben oder kaufen werden. Die Vorftellung beginnt. Und je mehr fie vorſchreitet, deſto laͤnger werden die Geſichter. Aber der Kaiſer klatſcht. Und klatſcht immer weiter. Und klatſcht immer mehr. Und klatſcht ganz allein. Und am nähften Morgen ift in den Bulletins zu lefen: Bollfommene Miederlage. Komplettes Fiadfo. Die Suͤdarmee ift auf Haupt gefhlagen. Die Kunft rauft fich die. Haare. Die Armen ziehen den Hungerſtrick fefter.. Der deutſche

398

Botfchafter in Paris verlangt feine Paͤſſe. Sedan Jena Kunersdorf Lügen Lechfeld EHälond Cannae Pharfalud Aegospotamoi.

Man erzählt fi, daß die franzöfifhen Herrfchaften am naͤchſten Morgen geraft haben. Bei diefen Kritifen! Wenn id) ſolche Kritifen hätte, würde ich auch rafen. Mehr no. Mir die Haare ausreißen. Mid) aufhängen. Mid ind Waffer ftürzen. Ich glaube aber, es wäre beffer gewefen, wenn man in fi gegangen wäre und ſich ind Gewiſſen geredet hätte. Monte-Carlo-Oper „bier ftod ih ſchon“. Ich verftehe unter Monte-Carlo-Oper ein En- jemble, das in Monte Carlo beheimatet und feſt eingefpielt it. Aber nicht ein Haus, dad mehr oder weniger berühmten Gäften aus aller Herren Ländern ald Abfteigequartier dient. Die Herren Chaliapine und Sobinoff aus Moskau, die Damen Lindfay und Brozia von der Großen Oper in Parid. Herr Renaud aud Paris. Herr Rouffeliere aus New-Dorf. Wo bleibt da Monte Carlo? Immerhin wäre die Bezeichnung afzeptabel, wenn das Haus in Monte Carlo einen beftimmten perſoͤnlichen Stil hätte, in den die Gäfte binein- treten, um ſich mit ihm zu vermäbhlen. Auch Bayreuth fpielt nur zwei Mo» nate im Jahr, und felbft das nicht einmal. Aber man fpridt von einem bapreuther Stil. Und dad mit Net. Monte Carlo hat einen Stil. Aber dad ift der Stil der Anarchie, der Mittelmäßigfeit, der Unfunft. Herr Raoul Gunsbourg, der Direktor der Monte-Carlo-Dper, Bertrauter des Fürften von Monaco, Anwärter auf den erblichen Adel, Schloßbefiger in der Bourgogne, Kriegsheld, Self made man und guter Franzoſe, wird feit larigen Jahren in verzuͤckten Reiſeartikeln als ein wahrhaft moderner, genialer, fhöpferifher Negiffeur gepriefen, der Monate vor Beginn der Stagione mit den Mit- gliedern auf feinem Schloß Proben macht, ihnen Vorleſungen über den bifto- rifhen Hintergrund neuer Opern bält und fie, wie ein Vater feine unmlın« digen Kinder, in den Geift der Dichtung einführt. Was fahen wir von diefer Negie? Eine ganz grobe, bandwerfämäßige Behandlung der Sjene, ohne die Spur einer geiftigen Durchdringung und feinern Sndividualifierung. Der Chor eine fompafte Maffe, die gefchloffen an die Rampe tritt und in immer gleiher Tonftärfe feinen Bart herunterfingt. Das Ballett ein Rudel von etwa einem Dutzend nicht einmal bübfcher Mädchen, die im Üblihen Tanzfchritt und mit dem ftereotypen füßlich«erftarrten Lächeln auf dem Antlig über die Bühne trippeln. Die Soliften in Stellungen, die dem Regieſchüler eine ſchlechte Note in feinem Führungsbud eintragen würden. Man bat den- felben Herrn Raoul Gundbourg auch ald großen Deforateur bingeftellt, und die faubern Hinweiſe auf jedem Theaterzettel decors de M. Vis- conti, decors lumineux de M. Soundso, ballet adrien de M. X., mas ſchinelle Einrichtung von Herrn Kranich mußten den unbefangenen Zu⸗ ſchauer in feinem Glauben beftärfen, daß bier deforativ etwas Außerordent- liches geboten würde. Das Entjegen und die Entrüftung über die Defo- “rationen der Monte-Carlo-Dper ift einftimmig gewefen. Mit Ausnahme der De- forationen zu, Theodora‘, die wenigftendfauber waren, und der zu, Don Carlos‘, die dad Königlihe Opernhaus aus feinen Vorräten beifteuerte, waren ed

399

graue, verftaubte Fetzen, auf die die unmöglichften Dinge von Malermeifter- hand geworfen waren, und die man mit unglaublicher Nadläffigfeit jo bangen ließ, wie fie gerade einmal hingen. Verbleibt dad Soloperfonal, an dem im allgemeinen die befannten franzöfifhen Unarten die hellen, unedeln, nafalen Stimmen, das heftige und dauernde Tremolieren und die rohe Schminferei zu tadeln waren, aud dem fich aber im Verlauf ein paar tüchtige Künftler MNouffeliere, Nenaud und die Storhio und ein Elementargenie der Ruſſe Chaliapine beraushoben.

Don den Werfen, die die Monte-Garlo-Oper während ihres zehntaͤgigen Gaſtſpiels brachte, war abgefehben von dem legten Abend, der je einen At aus ‚Samfon und Dalıla‘, „Herodiade‘ und ‚VBarbier von Sevilla‘ vereinigte, nur die ‚Theodora‘ von Zavier Lerour abjolut neu. ‚Mefiftofele‘ von Boito und ‚Don Carlos‘ von Verdi find bereitd mehrfah in Deutichland aufgeführt worden, erfchienen aber in Berlin zum erften Mal. ‚Kaufts Ver⸗ dammung‘ von Berlioz endlich ift vor wenigen Wochen von der Komifchen Dper aufgefrifcht und bei diefer Gelegenheit ausgiebig beſprochen worden. Die dramatifche Legende von Berlioz wurde von den Monegaflen in einer Vrearbeitung von Raoul Gundbourg geſpielt. Diefe Faſſung erſtreckt fich auf vier Punfte. Die drei Tageszeiten im erften At Morgen, Tag, Abend find in einen Zeitraum zufammengelegt, fo dag im Verlauf einer halben Stunde bei Herrn Raoul Gundbourg die Sonne aufgebt, im Zenith ftebt und ſich fchlafen legt. Während in der Komifhen Oper Fauft vor drei Bildern ſteht der graubraumen ungarifchen Ebene, dem prangenden Baum mit den tanzenden Bauern und dem glübenden Abendbimmel, von deſſen drohenden Farben ſich die Geftalten des in die Schlacht ziebenden Heeres gefpenftifch abheben beobachtet er bier durch ein breites gotifches Fenſter den Wechfel der Figuren in bderfelben Land- fchaft! Ihren vorzuͤglichſten Scharffinn aber wendet die Gunsbourgſche In- fjenierung an die beiden reinen Inſtrumentalſtuͤcke des Werkes: dad Syiphenballett und den Serlichtertang. Die Sylphen werden man traut feinen Augen " nicht durch das Euftballett unterftügt. In den Irrlichtertanz fompontert fie eine große Beſchwoͤrungs⸗ und Hypnotiſierungsſzene hinein, in der die Gewiffensqualen Margareted durch dad abwechſelnde Auftauchen eines Kreuzes und des girrenden, ſchoͤn ausgeputzten Fauft in der Kirchentlir harafterifiert werden. In diefem Aft fteht auch der vierte Einfall, Margaretes Schlafjimmer auf offener Straße, offenbar zu dem Zweck, um die Frequenz zu erleichtern. über den Wert der beiden italienifhen Opern war ſich das unbefangene Publitum fofort einig, indem ed dem ‚Mefiftofele‘ von Boito unzmeideutig den Vorzug vor dem Berdifhen ‚Don Carlos‘ gab. Nur die Kritif drehte den Spieß um, erklärte Boito für einen muſikaliſchen Raubmörder und fand, daß Verdis ‚Don Carlos‘ zu dem Velten geböre, wad dieſer produftive Meifter gefchrieben bat. Wahrſcheinlich, weil er fo vortrefflich ift, blieb diefer von dem italienifchen Maeftro arg mif- bandelte Jufant auch fo lange in den Archiven des Stabilimento Ricordi

400

fiegen. Die Schuld an diefem blamabeln Urteil meſſe ich weniger dem Unverſtand oder der Voreingenommenheit beim ‚Fault‘ entdecken alle Nezenfenten ploͤtzlich ihr deutſches Her; unfter Fadı- fritif bei, ald der Manier, wie fich jüngere Leute die Kenntnis von fängft erfchienenen Werfen anzueignen pflegen. Wie anders, ald aus Schmöfern? Man weiß, wie fo eine Meinung zuftande fommt. ‚Faufts Berdammung‘ ift in Paris, Berlin und anderswo gefpielt worden, ‚Mefiftofele‘ und ‚Don Carlos‘ in Wien. Uber jene berichtet eine Borrede zu den ge— fammelten Briefen von Berlioz, Über dieſe ausführlich Hanslick in feinen Opernfludien. Diefe Quellen werden von der heutigen Jugend, die damals nod in der Zeiten Schofe rubte, gierig verfchlungen auf dad Werk felbit zurhdjugreifen, daran denft man nicht. Und fehon ift im ‚Tag‘ mit faft mörtliher Anlehnung an die Vorrede Über ‚Kaufts Verdammung‘ zu lefen: „Wie follen deun auch der begrenzte Bühnenraum und dad bischen Licht, Karbe und Leinwand gegen die Phantafie auffommen, die mir, wenn ic) Fauſts Berdammung‘ im Konzertfaal höre, die zauberhafteften Landfchaften, die wildeften Schlüfte und alle Schredniffe und Grauenbaftigfeiten der Höllenfahrt mit Leichtigkeit vorfpiegelt?” Und über ‚Mefiitofele‘ mit finn- getreuer Benußung der Hanslickſchen Kritif: daß Boitos Mufif „ein felt- ſames Gemiſch von Talent und Dilettantiämus, von unerfchrodener Naivität und Naffinement, von unleugbarem Geſchick und hoͤchſtem Ungeſchick“ ift. Daß Hanslick diefe Worte mit getrübtem Blick er witterte überall Wagner gefhrieben hat und von ihnen fpäter zurücdigefommen ift, wie er von manchem zuruͤckkam, ſoweit geht die Uberlegung nicht. Ich will bier nicht den Anwalt Boitos machen und feine zahlreichen Vergehen namentlid) gegen den Geift des Goetheſchen Gedichts vertufchen. Sch will nur fagen, was am ‚Mefiftofele‘ ſchoͤn und ergreifend ift, und worin er turmhoch über dem langweiligen, troß feinem berühmten Duett zwifchen dem König und dem Grofinguifitor herzlich armfeligen ‚Don Carlos‘ fteht. Die klaſſiſche Walpurgisnacht in ihrer bodenlofen Banalität und den erften Aft gebe ich ohne weitered preid, obwohl der ‚Zube‘-Ehor mit feinem audgelaffenen Bagantenton und Mephiſtos diabelifhes Lied ‚Son lo Spirito‘ ein paar harafteriftifche Nummern find. Schönen Schwung bat die fpäter oft wieder- febrende E-dur-Melodie im Prolog, in die plappernde Knabenftimmen pfalmodierend bineinplärren. Bon zartem, wenn auch füßlihem Duft it die Gartenfzene erfüllt, die in einen Allegrofap von padender Melodif und pridelnder Rhythmik mündet. Walpurgisnacht und Kerkerfjene find ald Ganzes vollendet. Jene durch die Kuͤhnheit der Tonmalerei, diefe durch die ſchmerz⸗ liche Macht ihrer Empfindung. Ein genialer Fund ift die Des-dur-Gtelle ‚Lontano-Fontand‘: Iwei murmelnde Stimmen über dem tiefen Des zweier Harfen. In der Inftrumentation, die ftetd auf neue Effefte aus ift, und in der Art der Melodieführung die ftufenmweife herabfleigenden Afforde! ift Boito ohne Frage ein Neuerer, an den der Verismo unmittelbar anfnüıpft. Mascagni und Puccini haben aus ihm mit vollen Zügen genoffen ..... Uber

401

die ‚Theodora‘ von Lerour fafle ich mich kurz, da fie. weder ein Merkſtein, noch im Strom der modernen Opernproduftion ein ragender Fels ift. Micht gebricht es ihr am einem aͤußerſt farbenprächtigen Orchefter. Wohl aber an dem gewiffen Etwas, ohne das die [hönften Inftrumentalräufche leere Gebilde find, an der Erfindung. Sie fand verdientermaßen eine fehr fühle Aufnahme.

Die Maffe der Darfteller ſetzte fich aus drei Elementen, dem framoͤſiſchen, ruffifhen und italienifchen, zufammen, von denen das franzöfiihe ſtark in den Hintergrund trat. Allmaͤhlich aber wurde es freier und ruͤckte in Rouffeliere und Renaud zwei Männer in die erfte Linie, die durd ihr charaftervolles Spiel und ihre fernigen Stimmen das Herz ded Publifums mehr und mehr gefangen nahmen. Bon den. franzöfiihen Sängerinnen machte allein Fräulein Lindfay einen fompathifhen Eindrud. Bei den Damen Brojia, Grandjean (Salome) und Heglon (Theodora, Dalila) hatte man die bange Wahl, welcher man den erften Preis im Schreien und Tremolieren erteilen ſollte. Die Ruffen, Sobinoff und EChaliapine, hatten vor allem die beffern Stimmen. Sobinoff einen fehr Fleinen, aber weichen und gut gebildeten Tenor. Chaliapine einen fehönen, runden, namentlid in der Höbe fehr ausgiebigen, ausdrudsvollen Baß. Bei diefem berrlihen Künftler und wundervollen Menfchen, der, ohne nur den Mund aufzutun, fofort durch feine Perfönlichfeit wirft, kam noch ein großartiges darftellerifches Talent binzu, das ihn befäbigte, gleichzeitig ein binreißender Mefiftofele und ein ibermwältigender Baſilio (die Verleumdungsarie!) zu fein. Die Staliener traten gefchloffen nur im zweiten Aft des ‚Barbiere di Siviglia‘ auf, wo fie durch technifch einwandfreien Gefang und ſtilechtes Spiel an die ſchoͤnſten Zeiten der opera Bufia erinnerten. Es gibt alfo noch diefed Genre, deffen duftigfte Blüten man nur aus italienischen Händen genießen follte. Fräulein Storchio machte mit der fchlanfen Biegfamfeit ihres muͤhelos anfprechenden, elaftifchen Soprans ald Margarethe (in ‚Mefiftofele) und Roſina (im ‚Barbiere‘) einen fehr günftigen Eindrud. Ein paar prachtvolle Buffo- fünftler find Zitta-Ruffo (Figaro) und Pini-Corfi (Bartolo), die ſich mit Ehaliapine im ‚Barbiere‘ zu einem Trifolium von entzuͤckender Vollendung vereinigten. In die Direktion teilten fi) die Herren Jehin und Pome, jenereine vorfichtigebebäbige Utilität, diefer ein temperamentvoller Rapellmeifter von echt wälfhen Zufchnitt. Herr Raoul Gunsbourg ift über das mäßige fünft- lerifche Reſultat, das feine Truppe in der Reichs hauotſtadt erzielte, ſehr erſtaunt geweſen und hat dieſem Befremden in einer uͤberaus dreiſten und ungezogenen Weiſe Ausdruck gegeben. Die Hoͤflichkeit, die er von den Berlinern verlangte, glaubte er außer Acht laffen zu koͤnnen. Wenn er aus dem berliner Fiadfo die Konfequenzen zieht und darin einen Anfporn zu finftlerifcher Arbeit findet, wenn er vor allem weniger auf den mit einem verblüffenden Minus von Wiffen und Gefhmad belafteten Herrn Holzbock bört, ald auf die von feinerlei Vorurteil irritierte uͤbrige Preffe, fo wird die Fruͤblingefabet der RENNER doch ein fleine® Er⸗ gebnis ‚haben. |

402

Moderne Sflaven/ von einem Clown

Sechs Kapitel Schaufpielerelend | TI Intendanten und Direktoren Deutfhe Bühnen: Genoſſenſchaft Theateragenten n dieſer Stelle wird ed angebradt fein, die Männer, die in folder Weiſe Über die Tätigfeit ihrer Kuͤnſtler verfügen, näher anzufeben. Die Theater, welche bier in Betracht fommen, find von dreierlei Art: . vornehmſten find die Hoftheater, dann folgen die Stadttheater, welche die überwiegende Mehrheit darftellen, und hierauf die Privat-Theater.

Über die erfte Art unfrer Theater und ihrer Leiter find nicht viele Worte zu verlieren. Sie find faſt ausnahmslos von Männern geleitet, welche, jwar perſoͤnlich meift von untadeliger Gefinnung und vollflommen einwandfrei, von Kunft und Theater feine blaffe Ahnung haben, die heute vielleicht noch ein Regiment oder eine Brigade fommandieren und morgen den Kommando» ftab über Künftler fchwingen und den Ruͤckgang ihrer Gewalt liber drei⸗ taufend oder fechötaufend Menfchen auf hoͤchſtens dreihundert ald flarfe Einbuße empfinden mögen. Wenn die Leiter diefer Inſtitute noch feinfinnige Dilettanten find, fo mag man von Glüd fagen, und es ift nicht ausgefchloffen, dag auch gute Früchte gejeitigt werden, trogdem Dilettantismus in der Kunft ftetö eine fchlimme Sache ift. Auf alle Fälle find fie, da ihnen ja die Höhe ihrer Stellung einen Verkehr von Angeſicht zu Angefiht mit den Künftlern faum geftattet, und da fie ſich uͤber die Gefchäfte und den Betrieb in völliger Unfenntnis befinden, auf die Vermittlung von Fachleuten angewiefen, deren Wert oder Unmert fie aber natürlich ebenfowenig ermeffen fünnen, wie den Wert oder Unmert der Künftler ſelbſt. Es ift daher ded Zu⸗ und Hinter tragend und der Gebeimen- und Hintertreppen fein Ende, und was aud dem Eharafter des Künftlerd wird und werden muß, deflen Fünftlerifche und materielle Exiften; foldyen Händen anvertraut ift, und deffen Fünftlerifches Anfehen nicht von feiner Jungenfertigfeit auf der Buͤhne, fondern von der Zungenfertigfeit in verfchwiegenen Kabinetten, von der Kruͤmmung feines Nücdend und der Verbindlichkeit feines Lächelns abhängt, liegt zu Flar auf der Hand, ald daß ed weiter erörtert werden müßte.

Die zweite Art teilt fi im zwei Unterabteilungen. Entweder werden die ‚Stadttheater‘ von den Städten in eigener Verwaltung mit einem an- geftellten Direftor geführt, der ein Komitee von einem Dutzend Dilettanten binter oder über fi) hat. Diefe haben bei Befegung der Direftorftelle felbft, ſowie bei Befeßung der einzelnen Fächer das ausfchlaggebende Wort. Da bier alfo ein Dugend Dilettanten ftatt eined einzelnen figen, ein Dußend Krämer ftatt eined Edelmanns, und da bier außerdem noch die Majorität () über den Wert, das Können und die Entwiclungsfähigkeit der Kuͤnſtler enticheidet, jo ergibt fi der Schluß nach dem, was liber die Hoftheater

403

gefagt worden ift, von ſelbſt: zmölffacher Dilettantiömus! Dder aber, und das ift der häufigere Fall: das Theater wird einfach einem Unternehmer, einem Geſchaͤftsmann verpacdhtet. Diefer ift der Stadt für eine gewiſſe Höhe der Reiftungen in Bezug auf Zahl und Qualität der Vorftellungen und durch eine Kaution für den pinftlihen Erlag der Pachtſumme haftbar. Im übrigen nimmt die Stadt wenig Ingerenz und gar feine Haftung für die Solvenz des Unternehmers, und der Pächter mag fehen, mie er zu feinem Geld und feinem Nuten fommt. Was der Theatervertrag in folden Händen den Mitgliedern gegenuber ift, mag fich jedermann ausmalen.

Bleibt noch die große Zahl der größern und Fleinern Privatunternebmen, die ohne Ausnahme auf Die Ausnutzung ded Unterbaltungsbedlrfniffes des Publifumd angewiefen find und das Verhältnis von Angebot und Nachfrage bei der Behandlung und Bezahlung ihrer faufmännifchen Angefteilten, will fagen: ihres ‚Runftperfonald‘ mit gutem Recht ald das einzig maßgebende betrachten. Niemand wird ihnen die Ausnütung ihrer Lage und ihres Vor—⸗ teil® zum Vorwurf machen können. Wohl aber denjenigen Staditbeatern, die felbft in den größten Städten Männer an die Spige ftellen, die man nicht anderd denn als Naubritter bezeichnen fann. Und diefe Gefellihaft von Tyrannen und Ausbeutern bat ſich mit der Knebelung und Feſſelung ihrer Mitglieder durch den Kontraft allein noch nicht fuͤr gefichert genug erachtet, fondern ein gut organifierte® geheimes Auskunftsſyſtem eingeführt, dad jedem Mitglied die Luft zum Öffentlichen XAuftreten fir feine Standes- intereffen von vornherein grimdlich vertreibt und auch jedes Aufmucen gegen die gebeiligten Gebote einer Direftion oder dad Beſtehen auf einem Recht illuſoriſch macht. Denn jedes Mitglied weiß beute, daß ed mit der Wahr- fcheinlichfeit von hundert zu eind darauf rechnen fann: wenn fein Vertrag abgelaufen ift, fein anftändiges, gefchweige denn ein beffered Engagement zu erhalten, fofern es nicht durch audgiebigfted Kriehen und unentwegte Liebe⸗ dienerei die ftändige Gunſt feines Direftord erhalten fonnte. Dennjeder Direktor sieht Ausflnfte ein, auch die nicht dem Buͤhnen-Verein angehörigen, und wie mögen diefe Über ein derartig baldftarriged Individuum lauten! Da die Auskünfte meift perfönlic oder telephoniſch, fahriftlic aber nur unter größter Vorfiht und Disfretion erteilt werden, find fie leider niemald troß der großen wirtfchaftlihen Schädigung der Betroffenen gerichtlich zu belangen.

Was ift es nun, was die Künftler diefem Kartell an Organifation ent- gegenzuftellen baben? Seit ungefähr finfunddreißig Jahren befteht eine Genoſſenſchaft Deutfcher Bühnenangeböriger‘, die von den Menfchenfreun« den, welche fie ind Leben riefen (es zählten aucd einige Direftoren zu ihren Gründern), zu dem Zweck gefchaffen wurde, die materielle Lage der Künftler durch Schaffung einer Penfions-Anftalt diefer Genoſſenſchaft zu fonfolidieren. Alfo das, was fonft in allen Gemwerben und Betrieben vom Staat geichieht, das iſt bier Privatangelegenbeit; und der Teil der Laſten an der Alteräverforgung, der in allen diefen Betrieben vom Staat

404

dem Unternehmer überwiefen wird ich glaube, ed find zwei Drittel wird bier durch die Genoflenfhaft von den Direftionen und Intendanzen erbettelt und in der Form von Benefiz-Vorftellungen und befondern DBer- anftaltungen häufig gewährt. Dadurch aber gerät diefe Genoſſenſchaft natüır- lih in die größte Abhängigfeit von den Theaterleitungen, fo daß fie als Kampforganifation für die Intereffen der Mitglieder untauglich ift, und daf ihre Nolle mehr die einer fanften, langfamen und verföhnlichen Vermittlerin ift, ald die einer ftarfen Vertreterin ihrer Angebörigen. Die von der Ge- noffenfchaft herausgegebene wöchentlich erfcheinende Zeitung ift in demſelben Sinne redigiert, und ed muß ängftlich vermieden werden, dem allmächtigen Bühnen-BVerein durd einen zu fcharfen Ton allzu unbequem zu werden, da feine Mitglieder fonft durch Entziehung jeder Zuwendung an die Penfiond- Kaffe antworten würden. Die Zahlung möglihft hoher Penfionen an ihre Mitglieder ift jedoch dad erfte und wichtigfte Fiel der Genoſſenſchaft.

Aber wenn die Genoſſenſchaft die wirtfchaftlihen Intereflen des Standes auch energiich vertreten wollte, fo wären die Nefultate diefer Tätigfeit noch febr problematifch, da der Beitritt nicht obligaterifh if, und da ed jedem einzelnen frei fteht, wenn ihm fein perſoͤnliches augenblickliches Intereffe dazu rät, and der Genoffeufchaft aus⸗ oder gar nicht erft in fie einzutreten. Ich bitte diefe beiden Punfte, die eine erfolgreiche Tätigfeit der Genoſſenſchaft auf wirt⸗ fchaftlihem Gebiet gänzlicy ausfchliefen, im Auge zu behalten, da ic) bei der Beſprechung der Verbefferungd-Vorfchläge hierauf werde zuruͤckgreifen müffen.

Wenn ed alfo den Bemühungen der Genoffenfhaft nad jahrelangem Drängen endlidy gelungen ift, den Buͤhnen⸗Verein zu einem Entgegenfomnien in irgend einer Angelegenheit zu bewegen, fo macht diefer Durch irgend eine Finte dad eben Gewährte einfad) wieder zunichte, während die Genoffen- ſchaft ftol; und befriedigt ihren Angehörigen den großen Triumph ibrer fanften Diplomatie fuggeriert.

Des zum Beweis ſeien zwei Feine Beifpiele angeführt. Bis vor wenigen Jahren wurde der Erfab der Mitglieder an den verfchiedenen Bühnen mit Ausnahme weniger ganz großer Theater dadurch bewerfftelligt, daß fich der Direftor für jedes bedürftige Fach eine Mufterfolleftion von drei bis vier Vertretern durch Vertrag engagierte. In diefen Verträgen war jedod der Paragraph enthalten, daß ed dem Direftor frei ftehe, dad Mitglied an jedem Tage des erften Engagementsmonats vierzehntägig zu fündigen, ohne daß das Mitglied mehr, ald die eben verdiente Gage, zu beanfpruchen hätte. Nachdem die Genoffenfchaft jahrelang gefleht hatte, wurde diefer Kuͤndigungs⸗ paragraph endlih vom Bühnen-Berein nahezu gänzlich aufgegeben und flatt deſſen feinen Mitgliedern dad Probegaftipiel nicht vorgefchrieben, nur empfohlen. In der Theorie hatte die Genoffenfhaft einen großen Erfolg erzielt, aber fiehe da: in der Prarid fpielt fich jeßt der gleihe Vorgang ab wie früher zur Zeit der Kündigung, blos einige Monate vorher.

Tritt gegenwärtig an einem Theater eine Bafanz ein, fo engagiert Die Direktion oder Intendanz; felbft an großen Hoftheatern ift dies uͤblich

405

. jwei.oder drei, unter Umfländen auch mehr Afpiranten auf Diefen Poften; died geſchieht oft ein bis anderthalb Zahre, bevor die Stelle frei wird. Laͤßt nun die Theaterleitung wirklich ein Jahr vor Beginn ded Vertrags oder noch früher gaflieren und perfeftuiert dann einen Vertrag, fo wäre gegen diefen Vorgang vom moralifchen Standpunkt aus nicht allzuviel ein» juwenden. Anders ift es vom. Fünftlerifchen Standpunft. Die Berufung an ein großes Theater gilt natlırlich ftet® ald großer fünftlerifcher Erfolg, die Ablehnung ebenfo felbftwerftändlic als Mißerfolg. Trotzdem von drei Bewerbern nur einer engagiert werden fännte, felbft wenn alle drei gleich gut wären, fo baftet doch den beiden Zurlidigemwiefenen, fie mögen die beften Rritifen aufzumweifen haben, ſtets das Odium der Ablehnung an einer großen Bühne an.

- In den feltenften Fällen aber läßt die Theaterleitung fo früh Mir iſt ein Fall an einem guten Hoftheater bekannt, wo die Intendanz flır das erledigte Fach eined erften Helden anderthalb Jahre vorber drei Erſatz⸗ männer verpflichtete, den alten Vertreter ded Faches aber dreiviertel Jahre fpäter meiterengagierte, ohne den Bewerbern für diefen Platz von der ver⸗ änderten Situation Mitteilung zu machen. Der eine erfuhr ein volles Jahr nach Abfchluß feines Vertrags Zufall von dem Weiterengagement des Heldenſpielers. Er hatte indeſſen ein Jahr Zeit verloren, einige vorteilhafte Antraͤge ablehnen muͤſſen und ſah ſich nun gezwungen, auf ſeinen Vertrag zu verzichten, um nicht jenes Odium der Ablehnung nach dem Gaſtſpiel, dem die Hoftheater-Intendanz ihn ausgeſetzt haͤtte, auf ſich zu laden. Er mußte verzichten, ohne bei vorgerhdter Saiſon geeigneten Erfat zu baben, da ber $ 10a des VBlhnenvereind-Vertragd dad Mitglied verhindert, der gleichen Prarid zu huldigen wie die Blihnenleiter und auch ein zweites oder drittes Engagement. zu feiner eigenen Sicherheit abzufchließen.

Noch härter werden aber die gaftierenden Mitglieder an mittlern PBrovinz- buͤhnen betroffen, die oftmals erft im April oder gar im Mai zum Probe- gaftfpiel gelangen und dann vielleiht die Freude erleben, den frübern oder den naͤchſten Bewerber fogar noch perfünlich fennen zu lernen. Man ver» gegenwärtige fih nur die Stimmung, in welcher fold ein Gaftfpiel abfolviert wird. Laut Vertrag muß der Arme, der vielleicht eine Familie zu verforgen bat, noch zehn Tage untätig warten, bi ihm endlich gnädigft der ablehnende Beicheid zufommt und woher ſoll dann der im edeln Wettkampf Unter- legene noch ein ‚geeigneted Engagement bernehmen! Mitunter engagiert eine Theaterleitung auch ein Mitglied mit der. beftimmten Abſicht, dadurch den Vertreter dieſes Faches, der bei ber VBertragderneuerung eine zu hohe Korderung geftellt haben mag, zu einem neuen Abſchluß unter billigern Bedingungen zu veranlaffen, Iſt diefer Zweck erreicht, dann wird dem andern die Loͤſung ded vor Monaten oder Wochen abgefchloffenen. Vertrags unter Hinweis auf die Ausſichtsloſigkeit eines Gaſtſpiels nahegelegt.

„Spielt man ſo mit Vertraͤgen?!“ waͤre man verſucht, hier außjurufen. Und dieſes Spiel mit Verträgen und Eriftenzen geſchieht an Hofthentern.

406

u Tu u EEE ——

und großen ftädtifchen- Unternehmen! ‚Sind dad nicht Urzuftände, die und die Scham- und Zornröte ind Gefiht treiben müßten, Zuſtaͤnde, die jedem Begriff von gefchäftliher Wohlanftändigfeit Hohn fprechen und nad; Reform freien? Ein Kaufmann, welcher ein derartig weites Gewiſſen in Hinſicht auf feine Verträge befundete, wäre vor der ganzen Stadt gebrandmarft.

Da bei beiden Arten der Perfonalergänzung die Löfung der lıberzähligen Verträge zeitlich bei den meiften Theatern ziemlich übereinftimmt, fo ift mit dem Gaftieren allein ſelbſtverſtaͤndlich gar nichts erreicht. Der fchlauefte Raubritter, Direktor der vereinigten Theater einer großen Stadt Deutſch⸗ lands, mußte auch mit feiner Zeit geben und afzeptierte dad Probegaft- fpiel im Prinzip; aber er verlegte deffen Zeitpunkt in den erften Monat der Spielzeit. Früher engagierte er drei Vertreter eined Faches, fündigte zwei und reduzierte dem, den er bebielt, die zugeficherte Gage mit Hinweis auf die beiden andern, die er zur Hand hatte; jeßt ließ er genau zur felben Zeit drei Vertreter gaftieren und machte ungeftraft das gleihe Mandver.

Ein zweites Beifpiel: Endlich) war es der Genoffenfhaft gelungen, beim Bühnen- Verein die Beftimmung zu erbetteln, daß den weiblichen Mitgliedern mit einer Jahresgage, ich glaube: unter zweitaufendfünfhundert Marf, die biftorifchen Roftiime ebenfo von den Direktionen zu liefern wären, wie biöher nur den Männern. Da fam ein findiger Schlaufopf von Direktor auf die gluͤckliche und überaus einfache dee, eine Enquäte über diefe Angelegen- beit bei den betroffenen Damen durch ihre Direftoren anftellen zu laffen, und bereitwilligft erflärte mehr ald die Hälfte der Befragten diefe Neform für zwecklos, unglinftig und ſchaͤdlich. Dabei muß ich zur Slluftrierung den ' Fall anflhren, der an einem großen ftädtifchen Theater in Old» Deutfchland fptelt, daß eine Dame mit faum dreitaufend Mark Zahreseinfommen im legten Monat ihred dreijährigen Engagements, nachdem ihre Nachfolgerin in: einem hiſtoriſchen Stuͤck gaftiert hatte, von der Direktion gezwungen wurde, fich flır eine einzige Wiederholung diefes Stückes ſaͤmtliche Koftime im Werte von vier- bis fünfhundert Marf neu anzufchaffen! Aber trogdem batte fie vielleicht ein Jahr vorher unter dem Drud der oben geſchilderten Verbaͤltniſſe gegen die Reform geſimitt

Bevor ich zur Unterſuchung der Wirkungen dieſer Zuſtaͤnde auf den Eharafter des Einzelnen und der Maſſe uͤbergehe, habe ich nur noch einige furze Betrachtungen über die Tätigkeit und die Rolle der Vermittler, der Theateragenten, zu machen, um dad ganze Material, aud dem ich meine Schluͤſſe zu ziehen gedenfe, vorgelegt zu haben.

Es ift zweifellos, daß fowohl Bühnenleiter mie Buhnenklmſtler bei den großen raͤumlichen Entfernungen, die in Frage kommen, und bei der großen Zahl der Theater eines gut informierten, fachkundigen Vermittlers dringend bedürfen; eines Vermittlers, der ſowohl Direktoren wie Mitgliedern viele unnuͤtze Keiſen Vorſtelungen und Verhandlungen, ſowie den damit ver⸗ bundenen Aufwand an Zeit und Geld erſpart. Ebenſo ſelbſtverſtaͤndlich

407

wäre nun aber auch, da der reelle Vermittler beiden Teilen dient, daß er, fo wie bei allen andern Dermittlungen, auch von beiden Teilen honoriert wird. Dies ift aber beim Theater nicht der Fall. Der Vermittler mälgt vielmehr alle Vermittlungsgebühren einzig und allein auf die Schultern der ftellungfuchenden Mitglieder ab und zwar in einem Audmaf, dad mohl ein Unikum im Gefchäftöverfehr fein dürfte, fowie ja alle biöher erwähnten Gebräuche den traurigen Ruhm der Unifa flr fi in Anſpruch nehmen diırfen. Der Vermittler erhält laut Verfchreibung ded Mitglieds fünf Prozent feines Gefamteinfommend während der ganzen Vertragddauer (die gewoͤhn⸗ lich drei bis fünf Jahre umfaßt) und bei einer Vertragderneuerung, wenn fie auch gänzlich ohne Zutun des Agenten zuftande fommt, neuerlidy drei Prozent während der ganzen Vertragsdauer. Wenn aber dad Mitglied Das Engagement vor Ablauf feined Vertrags verläßt, fo muß es obgleich ed gar fein Einfommen daraus bezieht troßdem die Prozente weiter bezablen!

Der Blhnenleiter, der zumindeft den gleichen Nuten von der Bermitt- lungstätigfeit ded Agenten bat, bezahlt feinen Heller! Wie fi aber fofort erweifen wird, bat der Direftor nicht den gleichen, fondern einen über wiegenden Nußanteil an der Vermittlung. Die Agenten befinden ſich nämlich den Direktoren gegenüber auch in der Rage ded Schmwäderen, da fie ohne Drganifation find und fich unter einander flarfe Konfurrenz machen. Auf jede eintretende Bafanz an einem Theater ftürzen fich zwanzig Agenten und betteln um den Auftrag zur Vefegung, indem jeder flnf bis ſechs und noch mebr feiner Klienten für dieſes Fach der Direftion in Vorfchlag bringt, die auf diefe Weite für jede Vafanz fofort unter fünfzig Bewerbern zu mäblen bat. Es liegt in der Matur der Konkurrenz, daf bei diefem großen und ftändig noch wachfenden Angebot der Direktor zunächft einmal für die Ver⸗ mittlung nichts bezahlt. Er bat aber noch den weitern Vorteil, dag die Agenten, welche fich in der Herabfegung der Vermittlungsgebühr nicht mehr unterbieten fönnen, fi) in den Gageforderungen ihrer Kandidaten zu unter- bieten fuchen. Jeder will den beften und billigften Kandidaten anbieten, um dad Gefchäft zu erfchnappen, das beißt: die Konfurren; der Agenten drückt die Gagen noch ftärfer ald die Konkurrenz der Künftler.*) Die Agenten vertreten alfo tatfächlih nur das Intereſſe der Direftoren, wofuͤr die Ge- fhädigten die Fehe bezahlen. Nun find aber bei den gedrüdten Gagen natürlich; auch die Prozente gefhmälert worden, wofuͤr fi) der Agent wieder durch Annahme von ‚Ebrengaben‘ der Mitglieder, die die Höhe der Prozente gewoͤhnlich bei weitem überfteigen, ſchadlos halt. Mitunter machen fi gar

*) Beſonders Berlin ſteht in diefer Beziehung an der Spige. Während für einzelne beim Publikum und der Kritik affreditierte Kräfte ſchwindelnde Gagen bezablt werden, erhalten diefelben Kuͤnſtler oder andre, die oft von fehr guten Theatern in der Provinz fommen, bevor fie affreditiert find, Monatdgagen von bundertfünfzig bis zweihundert Mark, und zwar an erften Bühnen der Refidenz!

408

noch zwei diefer Herren an ein Mitglied, dad jeder von beiden zuerft empfoblen baben will, heran und drohen mit Klagen und Prozeffen oder Schädigung des fernern Fortkommens, bid der arme Geängftigte nochmals in die Taſche greift, um auch diefed hungrige Maul zu ftopfen; ein Vorgang, der befonders bei den wenig gefhäftsfundigen Künftlerinnen ſtets die größte Ausficht auf Erfolg bat. Iſt aber einem Agenten ein befonderd guter Fang für ein Hoftheater gelungen, fo wird ihm ald Belohnung für feine Heldentat oder ift ed ald Aufmunterung zur fernern Wirkfamfeit? ein Bändchen oder ein ebrender Titel gewährt.

KRasperlefherter

Der Sintendant/ von Fellow

Blauweiße Womentaufnahmen

Intendant: Ganz gut, Herr Negiffeur, wir haben S' ja engagiert, weil ©’ zu den dedoͤrn, oaber ich g'hoͤr naͤmlich zu der alten Richtung, und da müͤſſens mer und allweil vertragen. Schauens an, fuͤnf⸗ undzwanzig Proben für ein Stuͤck von dem Kleift .

Regiffeur: Erzellenz, Verzeibung, in Berlin macht man das nicht unter vierzig Proben.

Intendant: Berlin ſchauens an, fo preißifch fan mer doch nicht. Ma, fagen wir... acht Proben. Die Schaufpieler fan doch auch Menden!

Der königliche Garderobendef (teitt binzu): —— die Koſtuͤme, die der erſte Held tragen ſoll, koͤnnen wir unmoͤglich geben. Der Herr Hofſchauſpieler Obertimpfler moͤchte ſie auf ſein Gaſtſpiel mitnehmen. Die Hoftheaterkaſſe wuͤrde ſechsunddreißig Mark Leihgebuͤhr verlieren, wenn er ſie nicht mitnimmt, und andre paſſen ihm nicht. Aber für unfern eriten Helden ham mer ja nod genug Gewandl.

Der koͤniglich angeſtellte Kunſtmaler: Erzellenz, der Herr Regiſſeur macht mir ſo viele Vorſchriften. Ich kann aber unmoͤglich anders malen, wie ich immer gemalt habe! Und der Herr Maſchinenmeiſter iſt auch meiner Anſicht die neuen Dekorationen fuͤr das Kleiſtſche Stuͤck wuͤrden hundert Mark mehr koſten ..

Intendant: Das in viel. (Freundlich) Nicht wahr, Herr Negiffeur, Sie verftändigen ſich mit den Herren...

Auf der Generalprobe will der Regiffeur reden.

Intendant: Ad, Herr Regiffeur, fchauend doch zu, daß wir zum Mittageffen fertig werden! Redens doc) nicht ſoviel dazwifchen, da bleibt alled beffer bei Hamur.

Regiffeur (ringt wortlos die Hände)

=

Der Intendant gebt an dem Eafe vorüber, dad gegenuber dem Hof« theater gelegen ift. Ein fiebzigiähriger Herr, mit eißgrauem Schnurrbart, abgefhabtem braunen Mantel, in der Tafche ungefähr zwölf Zuͤndboͤlzer⸗ ſchachteln, tritt aus dem Cafe. Er erimmert an eine in Gedanken liegen- gebliebene Zbienfigur. Wie er des Intendanten anfihtig wird, grüßt er.

Intendant: Grüß Gott, mein lieber Oberftleutnant! Schauens, id) bin recht frob, Ihnen zu begegnen. Fu Ihnen babe ich Vertrauen, meil Sie doc auch beim Miülitär waren! Da iſt dad neue Stud der neue Negiffeur ift dafür, aber mir behagts nit. Ma, und Gie, Herr Oberſt⸗ leutnant, find doch ſchon zwanzig Jahre beim Theater was ift Ihre Meinung?

Oberftleutnant: Zu Befehl, ich hatte meine Inhaltsangabe dem

Negiffeur gegeben, der bat aber gefagt, ich verftebe davon nichts. Dabei habe ich doch fhon 7543 Stücke gelefen und eingetragen und zurüd-

chickt. Intendant: Na, da müſſens doch Sachkenntnis ham!

Der Dichter dieſes Stüds gebt im Wartezimmer des Intendanten auf und ab. Seine Karte bat er binei Zwei Logenſchließer kommen, nach ibnen eine Dame. Die Tür öffnet ſich.

Intendant: Bitt ſchoͤn, Baronin!

Baronin: Guten Tag, Exrjellenz! Ad, können Sie mir nicht zum Rienzi eine Loge verjchaffen.... .

Sie tritt ein, die Tür ſchließt fi) auf eine halbe Stunde. Ein Schau⸗ fpieler tritt auf. Die Tür öffnet fih, die Dame tritt heraus. Der Schau» fpieler will bineingeben.

Intendant: Bitt ſchoͤn, immer nah der Anziennität!

Die beiden Logenſchließer fommen beran.

Der erfte: Entſchuldigens, Erzellen;, wir fommen nur wegen der Gehaltserhoͤhung . .

Die Tür ſchließt fih auf eine Biertelftunde. Die Tür öffnet ſich, der Scaufpieler tritt ein. Nach einer halben Stunde fommt der Schaufpieler heraus, ihm nad der Intendant in Mantel und Hut.

Der Dichter (will hinein): Mein Name it...

Intendant: Ad, der fan’d! Ihr Stüd liegt in meinem Pult. Iſt ganz bübfh. Aber es ift ſoviel Fiebe drin. (Er drängt den Dichter gänzlich binaus) Willens, zuviel Liebe für ein Hoftheater! Schauend, der beite von nn Beratern ift auch meiner Meinung. Biel zu viel Liebe! Biel zu viel Liebe... .

Der Verleger: Ich bin bereit, von dem Vertrag über die Leonarda von Björnfon zurüczutreten, wenn Erzellen; daflr Paul Lange und Tora Parsberg in den Spielplan aufnehmen.

Intendant: Aber warum zwei Stüd” ftatt einem?

Der junge Regiffeur begegnet dem alten.

Der junge (kann vor Erregung fein Wort fprechen)

Der alte: Aber, aber, Herr Kollege, warum alterieren Sie fich fo? Wir find doc föniglihe Beamte. Kommend mit zu unferm Fruͤhſchoppen. Die Weißwürſt find gut, und der Bock ift geraten. Was wollens mebr!

410

MRundkhau

Franz Pocei m März beging man in München allenthalben feierlich den hundert⸗ ften Geburtdtag eined wunderfamen Dichters, mit deffen Leichnam zugleich ein gutes Stüd des lieben alten Münden zu Grabe getragen wurde. Man braudt nur aufmerkſam hinein⸗ zulaufchen in die Werke der um diefe Zeit, nach 1800, fo feltenen Künftler, um daraus die fräftigen Töne unge» brochener Natürlichfeit und Friſche zu vernehmen. Kein Wunder, daß gerade damals, da man am liebften fo redete, wie eben der Schnabel gewachſen war, ein ebrfamer Bereindaftuar, der heute wohlbefannte „Papa Schmid” auf den Gedanken fam, ein Theater flr Puppenfpiele zu errichten; denn dort follte ja der alte Kafperl wieder aufs leben, der früher, ehe ibn noch der verfnöcherte Riteraturprofeffor Gott» fched aus Feipzig mit feiner Gelehr⸗ famfeitöpeitjche vertrieben hatte, lange it hindurch die Geißelhiebe feiner übermütigen, verleßenden Wabhrbeiten ins Publifum gefchleudert hatte. Kein Wunder auh, daß fih ein Dichter von dem echten, urwuͤchſigen Schlag diefer Jahre, wie Franz Graf Pocci, erne bereit finden ließ, durch feine nftlerifche Beibilfe das neue Unter- nehmen and Licht zu führen. So gab ed bier auf einmal wieder, ganz hinter Blumenanlagen verftedt, ein ſchmuckes Häuschen, das den lange verftummten Handwurften freundliches Gaſtrecht bot; dort durfte Kafperl wieder frei von der Reber weg reden und fpaßen, nicht mebr, wie nun fo lange bindurd), auf Jahrmarktsfeſten für Kinder zu⸗ rechtfrifiert und verſtuͤmmelt. AU die Zeit ber, da man fo ſehr nach dem

natürlichen Ausdrud feines innerften: Weſens rang, mochte man ſich tuͤchtig nad) ihm gefehnt haben. Jetzt fonnte man wieder, fern von der großen Bühne, den totgeglaubten Allerwelts⸗ fafperl feine derben Späße treiben fehen und die Peitjchenhiebe feiner Grobheiten austeilen hören; da fang und tanzte, lachte und meinte nun wieder der liebe Kerl mit feiner langen, ſcharfen, nad) allen Seiten bin beweg⸗ lihen Naſe und hatte in den Fahren feiner Verbannung nidytd von feiner: gr und Originalität ein« büßen fönnen.

Eine Tat war alfo damals durch die Gründung diefes Unternehmens unferm Schmid gelungen, eine Tat, die einer jahrelang verbaltenen Sehn⸗ fucht entgegenfam. Die Haltbarkeit der Idee ded Puppenfpielerd: wurde auch glänzend durch den dauernden Erfolg erwiefen. Freilich war diefer Erfolg nicht zulegt dem. Dichter Franz Pocci zu verdanken, den fi) Schmid von feinem Sommerfig in Ammer- land am Starnbergerfee herbeigeholt hatte. Eine tiefe Melancholie ſchwebt um den Dichter der zahlreihen für Papa Schmids Bühne gefchriebenen und im „luftigen. Komoͤdienbuͤchlein“ gefammelten Puppenſpiele. In all diefen Stückchen offenbart‘: fid) die innere Zerriffenheit ihres von innern Gegenfäglichfeiten angefuͤllten Dich⸗ ters, wie wir fie nic;t bald aus den Werken eines zweiten tuͤnſtlers heraus⸗ fühlen koͤnnen. Diefe innere Zerriffen- beit und®egenfäglichfeit feines Weſens mag auch der Grund daflır fein, daß

occi niemald den Weg zur großen

ft betrat; keineswegs ein Dilettan- tismus, aus dem er fich nicht empor⸗

414

zuarbeiten vermochte, wie man gerne fagt. Hier in der entlegenen, ftillen Stube des Puppenfpielerd war für ihn vielleicht die befte Gelegenheit, feine Qualen abzureagieren, in denen fi) diefer von Tränen zu bimmels ſtürmendem Jubel ſtuͤrzende Menſch winden mußte. Daher auch viel⸗ leicht dieſes unaufhoͤrliche Schwanken zwiſchen dem fteiffalten Pathos frieren⸗ der Schauerkomoͤdien und den ſenti⸗ mentalen Toͤnen der Raimundſchen Zauberpoſſe, zwiſchen der traͤumenden Stimmung einer zarten Märchen- fomödie und den derb⸗grotesken Späßen des Kaſperls Larifari. Diefer ſelbſt wieder zeigt etwas von dieſer Doppelnatur, wenn er das eine Mal lachend und jauchzend uͤber die Buͤhne bopſt, das andre Mal traurig und weinend dabinfchlürft.e. So mag es denn aud) nicht befremden, daß Pocci mit feiner feinen Kunft Kafperl zu feinem Helden erwählte, dem Eſſen, Trinfen und Schlafen die Welt be- deutet. Pocci fuchte eben Erfüllung des Lebens in feiner Kunft; deshalb mochte ed ihn gewaltſam abziehen vom eben, das ihn immer nur zwiſchen Schmerzen und Freuden unaufhoͤrlich bin und berpendeln ließ; deshalb modte er wohl bier ein weltfernes Lied von Menfchenweh und -luft an⸗ ftimmen. Hier fonnte er feinen ganzen Sammer abtun, feine jauchzende Luft ausfingen, in buntem Gemifh. Das macht auch heute noch die unerbört ftarfe, eindringlihe Wirkung feiner Komddien aus, daß man immer das Gefühl einer Schöpfung aus innerfter Maturnotwendigfeit hat. Und das unterfcheidet ihn auch fo fehr von Tieck und hebt ihn zugleich fo himmel» weit über diefen hinauf, daß bei ihm die Wirfung niemals auf eine ähnliche bewußte Gegenüberftellung und Ver⸗ mifhung von Märhenwunder und Alltagswirklichkeit gegründet erfcheint.

Ueber diefer Zerriffenheit Poccis

412

aber leuchtet immer ftrablend eine Sonne: die Sonne feiner innigen Liebe zu den Kindern. Und es ift felt- fam, wie bier die Wirfungen manches Stlickchens gleichermweife in die Herzen der Kleinen wie der Großen treffen. Nührend ift ed, wenn man in dem Bericht uͤber ded Dichters Lebensende lieft, wie Schlag elf Uhr, nach Schul= ſchluß, das Raͤnzchen am Rüden, die Scultafel unter dem Arm, Scharen von Schulfindern zum Trauergottes- dienfte gezogen famen. Die hatten alle draußen in der Blumenftrafe felige, glübende Stunden erlebt, und mandhem mag Kafperl Farifari der befte Freund geworden fein.

Die jebigen Aufführungen in Schmids Marionettentheater, das in diefen Tagen feftlihed Gewand au- gelegt hatte, bewielen wieder die nod) beute vollgiltige Wirfungsfraft diefer Komödien und liefen nur eine bange Frage laut werden, was ſchließlich mit jener alten Stätte einer weltfernen Kunft werden würde, wenn der wackre Papa Schmid... .? Dod an diefes Ende wollen wir heute nicht denfen, denn noch wird dad Theaterchen von dem einftigen Gründer trefflic ges feitet und duͤrfte wobl nad) deffen Heimgang indie tuͤchtigen Hände feiner Tochter übergeben.

Noch lebt Kasperl, oder vielmehr: er lebt wieder, und wir wollen ihn und nicht fo bald wieder totfchlagen

laffen. Roman Albert Mell Witkowskis ‚Fauft‘ in Leipzig

U: ald der legte Ton den hehren Tragödie verflungen war, da war nirgends ſtummes Ergriffenfein zu be= merfen, kuͤhles Klatſchen ſetzte ei, eilfertig hob ſich der Vorhang, und dankend griente die mater gloriosa. Wo, zum Himmel, ſteckte der Zenſor!

Schuld an dieſer Blasphemie trägt diesmal ausnahmsweiſe nicht der Re—⸗

giffeur, fondern der auf ganz andrer geiftiger Stufe ftehende Bearbeiter Georg Witkowski. Er bätte foviel fünftlerifches Gefuͤhl baben müuͤſſen, feine Arbeit nicht in Leipzig einzu= reihen. Als leipziger Univerfitätd- profeffor fonnte er wiffen, was fuͤr qualvolle Stunden und ein tem- peramentlo8 deflamierender Fauft ur⸗ ältefter Schule und ein marftfchrei= eriicher Borftadt- Mepbifto bereiten wirden, und daß ed wahrhaftig nicht genügt, wenn Gretchen, Balentin, Helena nicht unangenehm auffallen und mur der einzige Wagner einen menfhenmwirdigen Stil bat. (Mad Witkowskis verftändiger Vorſchrift ſtellte der Schauſpieler Prina nicht den uͤblichen komiſchen Pedell, ſondern einen ernſten jungen Gelehrten dar.) Bor allem aber hätte er wiffen müffen, wie ſehr fein Text der lıberarbeitenden und ausfuͤhrenden Hand eines kuͤnſt⸗ leriichen Regiſſeurs bedarf, und mas für ein plumper Routinier der Mann ift, aufden erin Reipzig angemwiefen war.

Es ift barbarifch, im Himmel Wol⸗ fenbögen, in der Ofterfgene eine un- möglihe Wandeldeforation aufzubän- gen; die Erde ald blauen Pappdedel auszuführen; auf dem Theaterzettel von Koftiimen nad) Fra Angelico und Botticelli zu reden und diefe dick— wanftigen Engeln mit fleifhigen Mi- mengefichtern anzuziehen; Kauft und Mephifto zur Fahrt ind Helena-Fand auf eine Kinderfchaufel zu jegen, die mitten auf der Bühne ſtecken bleibt; die ‚zarten Jungen‘ und die Heren- füche zu Skioptifonbildern zu machen ; in der Erdgeiftfjene die Seh⸗ und Hörfraft der Zufchauer zu unterbinden durh ununterbrochenes Hell⸗ und Dunkelmachen des ganzen Proſpekts (nad) Art der Scheinwerfer⸗Reklame) und durd allzulaut anusftrömenden Dampf. Statt weniger Seren war eine Klaffe ungezogener Schulmädel auf der Buͤhne, zu denen ſich noch

Laterna-magica Heren gefellten, und an die Stelle des, Roſenwunders (das felbft dem berliner Schillertbeater feinerzeit gelungen war) trat eine Turn ftunde der Engel.

Mit Recht aufgehoben batte der Negiffeur Witkowskis Strich durd) Faufts ‚Zaubermantel‘ und feine im Sinne Wedekinds gehaltene Regie- bemerfung ter Oretchentragddie: „Fauſt zieht fie in das Gartenhauschen. Die Bühne bleibt einige Augenblicke leer.” Daflır zeigte er aber wiederbolt, daß ihm felbft grundlegende Elemente einer Regieführung feblen. Der ‚Pro- log‘ war fo fomponiert, daß Michael dad Zentrum bildete und nicht der Punft, von dem aus die Stimme ded Herrn erfchallt. Die Perfonen des Spaziergangs treten auf, geben an die Rampe, reden ihre Rolle und machen dann kehrt, ſtatt ihre Worte geſchickt zu verteilen und ſprechend abzugeben. „Ihr guten Herrn ...“ war nichteinet Bettlers Lied, fondern eine mufifalifche Einlage. Der Baccalaureus ſpricht und bemerft Mepbifto dann, ftatt dies fchon bei feinen legten Worten zu tun. Man könnte noch lange fortfahren.

Am ſchaͤdlichſten aber war es, daf der Regiffeur es nirgends verftanden batte, dad Dramatifche herauszuarbei⸗ ten. Die notwendigften Steigerungen fehlten, und, wenn irgend möglich, wurde in einfchläferndftem Tempo ge- fprochen und gefpielt. Befonders auf- fällig zeigten ſich diefe Mängel in der Helena-Phorfyad-S;ene am Anfang des dritten Afted. Die wundervolle Kompofition diefer Szene bat der Be- arbeiter zwar unangetaftet gelaffen, aber nicht genug betont. Der Regiffeur müßte daher die drei Steigerungen Erfcheinen ded Mepbifto-Pborfyas ; Todverkuͤndung; Gruß an Menelas voneinander abheben und vor- bereiten. Demnach wäre fofort der lange epifche Bericht Helenas lıber die Geftalt ded Mephifto zu flreichen, der

413

überflüffig ift, weil gleich darauf Me- phiſto felbft in diefer Geftalt erfcheint. Das Fehlen diefed längern Striches fann die ganze Szene auf der Blihne unwirffam machen und tat dies in Leipzig auch, befonders weil die Dar- ftellerin der Panthalis dann gleich mit den Worten: „Weldye von Phorkyas Töchtern nur bift du” einfeßte, ohne von demtechnifchen Wert und der dyna- mifchen Wucht diefer beiden Berszeilen eine Ahnung zu haben. Dann hätten die beiden überleitenden Zeilen Me- phiſtos wiederbergeftellt und andre epifche Stellen Helenas geftridyen wer- den müffen. Der Regiſſeur mag dies ge⸗ fühlt haben und ftrih leider aber gerade die legte außfchlaggebende Stei- gerung felbft, und damit ift er fuͤr und igt

erledigt.

Aber auch an der Bearbeitung waͤre noch vieles zur bemängeln. „Wald und Höhle“ darf troß den von Witkowski vorgebradhten Argumenten nicht fehlen, am wenigſten dann, wenn dad Fer- ſchellen des Homunculus und das Aufs treten ded Philoſophen Thales bei« bebalten wird. (Wie viele Zufchauer mögen wohl gewußt haben, was flr Thaled dad Waſſer bedeutete?) Die Heranziehung des Nachlaſſes für den Anfang der Gretchenfjenen ift uͤber⸗ flüffig, bringt in die Balentinfzene ſo⸗ gar ein ftörendes refleftierendes Mo- ment. Die ‚Belehnung Faufts‘ da⸗ gegen beißen wir willfommen. Falſch erſchien wiederum die ‚Elaffifche Wal- purgisnacht‘, denn bier find nur die Borwärtötreibenden:Spbinre,Chiron, Manto beraudgefhält, während die den ‚romantifchen‘ Seren entſprechen⸗ den ‚Elaffifhen‘ Sirenen und Nym⸗ pben ald unumgänglicye retardierende Momente nicht erfannt wurden.

So ließe ſich an der Aufführung im einzelnen weiter abwechfelnd loben und tadeln. Es ift aber doch wohl wichtiger, dem Theoretiker Witkowskiim großen zu danken. Denn die Grundlagen hat ſein

414

Buch feſtgehalten, die Grundlagen: daß die Tragddie vollftändig aufge- führt wird, daß eigene Zufäße unbe- dingt vermieden werden, und daß nur innerhalb der Szenen geftrihen wird. Die Gefamtfompofition darf nicht durch Weglaflung ganzer Szenen, wie der Balpurgisnadht, des Maskenzugs angetaftet werden. Witfowäfis Vor⸗ gänger Wilbrandt und L'Arronge haben diefe Borfchrift nicht refpeftiert, wohl aber Raphael Loͤwenfeld, deffen Spielzeit mit der Dauer der leipziger Aufführung ungefähr uͤbereinſtimmte, nur daß er den ganzen ‚‚zauft‘ leider auf vier Abende verteilt hatte. Zu Unrecht pflegt man beute mit einem Lächeln uͤber einen Bearbeiter. bin- wegzugeben: uͤber Dtto Demient. Es bat fi beraudgeftellt, daß feine Mofterienbühne nie eriftiert hat, und darlıber hat man vergeffen, wie richtig fein Grundprinzip war: der ganze ‚Zauf‘ gehört auf die Bühne, nicht aber auf unfre moderne Illuſions⸗ bühne, Hier hat man einzufeßen, will man den ‚Fauft‘ für. unfre-Bühne retten: auf eine ftilifierte Feſtbuͤhne gehört er, für die Fuchſens, Schaubuͤhne der Zufunft‘, Rollerd wiener ‚Don Giovanni‘ und Reinhardts erfte Win- termärchenfjenen Anregungen (nicht Vorbilder) geben mögen. Der Mann aber, dem eine ſolche Eroberung des —— Fauſt gelingen wird, wird fein iterarbiftorifer fein und fein band» werfelnder Regiſſeur, fondern ein theoretifc und praftifch gleich geſchul⸗ ter Kimſtler. Georg Altman

Der große Baal

ge „Große Baal‘ von Guftav

Herrmann, der im „Meuen Theater” von Leipzig zur Aufführung fam, ift wieder einmal ein Künftler- drama. Ein Verſuch, die Tragif ded Dichters, ded Denferd zu geltalten; der fi) im Heimmeb nach demeigenen

Sch verzehrt. Der alles zertreten, jernichten muß, was ſich feinem Selbft entgegenftellt: Seimat und Kind und Weib und Geliebte. Diefed durch Qualen und Wunden der legten Ein- famfeit Entgegenreifen, dieſes leid- solle Werden der Fünftlerifhen Per- ſoͤnlichleit kann der nicht geftalten, der noch felbft im Werden ift. Guſtav Her⸗ mann fonnte ed auch aus anderm Grunde nicht, obſchon feinem, Großen Baal‘ vieles eignet, wad ein Drama macht: die flare und kluge Struftur, die Prägnanz und Kraft ded Ausdrucks und ein großer und reiner Künftler- wille. Aber es ift ein Wille, der alles erft durchs Bewußtſein ſchickt. Wie tief das Leben auch Herrmanns Men⸗ ſchen die Wunden ſchlaͤgt: nie ent⸗ ſtroͤmt ihnen Blut. Nie Blut, nur Worte fluge Worte zwar, aber Worte in endlod langem Fluß. Bis —* *. lee mit ger pſychologi heit wieder au kurze Zeit verſohnt

Die Aufflihrung? Er tut einem leid: der Autor. Gie tut einem leid: die Stadt Leipzig. Es tut einem md: daß man fie nicht einmal ſchildern ann...

.r Kurt Weisse

Marquife

a8 Ende ift Elatrig. Aber ſicherlich

bat gerade diefed Ende vor zwei Jahrzehnten den Eindrud des Sardou⸗ ſchen Luſtſpiels verftärft. Damals war man es gar nicht anders gewoͤhnt, als De ein tragifcher Konflift gütlich bei- gelegt, einer fozialen Satire die Spiße abgebrochen, ein dDramatifcher Ernft in Spielerei aufgelöftwurde. Alle Maſſen⸗ erfolge jener Zeit waren mit Konzeſ⸗ fionen und Kompromiffen erfauft. Für Konfequenz wäre noch fein großes Pu⸗ blifum zu haben gewefen. Hauptmann griff zum erften Mal gründlich durch, ald er zum erften Mal nicht ein dro- bendes Verhängnis zum Austrag, ſon⸗ dern ein drohendes Verloͤbnis zum Ab⸗

ſchluß brachte. Johannes Vockeradt wurde gemieden, College Crampton wurde geſtuͤrmt. Bei alledem bat ſolch ein Crampton einen Geelenumfang und eine Lebensfuͤlle, daß Sardous Campanello mit ihm nicht ohne wei⸗ teres zu vergleichen iſt. Das iſt ja wohl ein Hauptunterſchied zwiſchen dem galliſchen Theatraliker und demjenigen deutſchen Dichter, der das Franzoſen⸗ tum von unſern Buͤhnen verdraͤngen ſollte: Hauptmann geht vom Menſchen aus, und eine echte Menſchlichkeit kann dadurch nicht gefaͤhrdet werden, daß fie in eine fragwuͤrdige Begebenheit gerät; Sardou gebt vom Einfall aus, und der oder die Träger dieſes Ein- falld werden und in dem Maße glaub- baft und wirflichfeitögetreu ericheinen, wie der Einfall felber pragmatiſch un» bejweifelbar gewendet und geführt wird. Sardou, in der ‚Marquife‘, verzettelt feinen fruchtbaren Einfall. Eine Sängerin, die ſich viel zuruͤckgelegt bat, wird, weil die Adelddamen des Departements fie nicht flirvollnebmen, eined Tages titelflihtig. Diefe Lydia fauft fi einen Marquid, mit dem Beding, daß er am Morgen nad) der Hochzeit zu verfchwinden babe. Ihr ift ed felbftverftändlich, daß dieſe Hochzeit nur bei Tifch gefeiert wird, ihm aber nicht. Es wirft num föftlich, wie fich mit dem Ebering am finger die halb» öffentliche Huldin fo hbers Ziel hinaus in eine anftändige Frau verwandelt, daß fie die legitime Werbung ded an- getrauten Gatten ald Beleidigung empfindet: tout excepte cela. Bid zu diefer Schlußfituation ded zweiten Akts ift die Komödie in ihrem Charme, in ihrem Brio und in der Präzifion ihrer Technik jeder Schägung wert, ja beinah mufterhaft. Beinah, nicht ganz. Denn ſchon im zweiten Aft ift eine Fleine Schuhmacherin an langen blonden Haaren berbeigezogen worden, um allerhand Verwirrung anzuftiften. Sie muß fhlieglic bei ihrem alten

415

Campanello erwifht werden und der friſchgebackenen Marquiſe noch dm Hochſeitsabend den erwuͤnſchten Scheidungsgrund Be Es ift die bequeme Außerliche Loͤſung einer Ver⸗ wicklung, die der ſatiriſchen wie der tragifomifhen Vertiefung fähig ge- wefen wäre. Der Marquid mußte auf irgend eine Weiſe bei feiner Fydia bleiben. Das Hätte die Möglichkeit geboten, mit ftrafendem Gelädjter gegen jene Welt des Scheind vor- zugeben, die dad bischen Titel auf der Stelle geneigt macht, einer ge- werböntäßigen Liebeshändlerin alle Ehrenrechte juzibilligen.. Es bätte aber auch die noch ergiebigere Mög- lichfeit geboten, die Ebe zwifchen der bochgefommenen Proletarierin und dem berabgefommenen Ariftofraten ir ihren Folgen und in ihrer Wirfung auf die beider Gatten mit der Beteiligung des Öumoriften andzumalen. dad bat Sardoi fi) erlaffen. Verwechs⸗ (ungsjagden morden den legten Aft, dad Charafterbild des alten Campa- nello und damit unfer pfochologifches Intereffe. Wahrſcheinlich aber haben erade fie vor zwei Jahrzehnten das reite Publikum viel zuverläffiger ge⸗ fangen, ald dichterifche Reinlichkeit es je vermocht hätte. Ob e8 ihnen auch beute noch gelingen würde, war im Leffingtheater nicht zu entfcheiden. Dort wuͤtete Emanuel Reicher gegen fidy felbft. Er batte fuͤr acht Tage ein Gefamtgaftfpiel von unwahrſcheinlich unbegabten und nicht ganz mit Un- recht unengagierten Herren und Damen improvifiert und fette feinen Ehrgeiz daran, ſich von folher Umgebung vor⸗ teilbaft abzubeben. Er machte durch diefed Gaftfpiel erft darauf aufmerf- fam, daß dad Brabmfche Enfemble fremden Bölferfchaften vier oder fünf

Ange ſeines Repertoired vorführen ann, ohne dad Mitglied Reicher auf die Neife mitzunehmen, nnd er b gleichzeitig den Nuhm, der fetner Dar- ftellung des Campanello vordufgegans gen oder voraufgefchicht worden war. Was unſre Väter ale —— Schaufpielkunſt verbläffte, mutet uns heute ſchon wieder wie jene Chargierumg an, die abzufchaffen der Schaufpieler Neicher einſtens für feine Miſſion hielt. Wir beten längft zu andern Miffios naren. 8.J.

Deutfche Uraufführungen 2. 4. Karl Wilhelm Noettiger:

Studententiebe, Luſtſpiel. Hamburg,

Thaliatheater.

7.4. Paul Vogel: Ellyen, Das Zigeunerfind, —— ——— berg.

9. 4. Carl Hedinger: Im Sturm der Zeit, dramatiſches Gedicht. Muͤl⸗ bauen i. E., Stadttheater.

10.4. Carl Schmalz: Eine bril⸗ lante dee, Schwanf. Muͤlhauſen i. E. Stadttheater.

11.4. Wilhelm Arminius: Sein Recht, Schanfjpiel. Weimar, Inte⸗ rimötbeater.

Guſtav Hermann: Der große Baal, Drama. Leipzig, Need Theater.

13, 4, Ernft von Wildenbruch: Die Rabenfteinerin, Schaufpiel, Ber- lin, Koͤnigliches Schauſpielhaub.

Julius Mehler und Ernſt Bertram: Der Turmbau zu Babel, Schwank. Hannover, Reſidenztheater.

ie Preßſtimmen uͤber Wilden⸗ / brudy8 ‚Rabenfteinerin‘ erſchei⸗ nen in der naͤchſten Nummer.

Berantnsortlich für die Medattion: Siegfried Zacodfohn, Berlin sw.

Verlag von Deſterheld & Co. Berlin W. 13 Druck von Imberg & Lefſon. BerlinW.9

416

4 [2 j

rt Tue? tvuuwtuuurluun! J in u u" En N de .n0% - * %* r ®

25. April 1907

II. Jahrgang Yıummer J7 "

Girardi und Niefe/ von Willi Hand!

ien füße Heimat, Troſt und Schmerz; meiner Tage, Schönheit

von ebedem, ladhender Verfall, Sumpf voll Gemütlichfeit! Wien,

charmante alte Rügnerin, kaiſerliche Stadt, 'pöbelhafte Stadt Stadt der jeelenlofen Mobleffe und der ungiftigen Miedertracht, der Herj- lichfeit ohne Treue und der Menfchlichfeit ohne Mut, Stadt |der feſt⸗ gewurzelten muͤheloſen Kultur, du Gnadenreihe in unzähligen Prächten, von lenzlich heitern Lichtern gefoft, in duftige Dämmerungen verfchleiert Wien, Stadt der Weiber und der Eafehäufer, Stadt der feligen Nichtötuer, wo das Kapital feine Arbeit und die Arbeit fein Kapital findet, Stadt der ein- gefeflenen Gäfte, wo niemand angeftammt ift und feiner fremd fein will Wien, liebe, Iuftige, lumpige, nette, falfche, tüͤckiſche, rätfelbafte, unfaß- bare und unbefchreiblihe Stadt wo, unter allen Menfchen, liegt deine legte Echtheit verftedt?

In deiner impotenten Grofftädterei, die, ‘von allen mechanifhen und eleftrifhen Kräften getrieben, zwifchen Sein und Nichtfein dahinkeucht, ver wifcht fi), was du warft, verwirrt fich, wad du werden follft. Der un- vergleihlihe Schwung deines Lebens ift von der Wut bungriger Plebejer verfchlungen. Die füßefte Harmonie deiner Töne gebt langfam unter im nüchtern |lärmenden Rauſch emporgefommener Lebemänner, im erlogenen Gendfel zu ſpaͤt Getaufter; fie verftummt unter dem Keifen bösartiger Krüppel im Geift. Alfo verwirrt und bedrängt von allen Seiten, fucht fich deine Echtheit noch dadurd Frampfhaft zu bewahren, daß fie fortwährend ſich felbft kopiert, Natürlidy wird fie dabei nur mehr und mehr verfälfcht und vernichtet. Blos die Unfhuldigen und Unbewußten haben 'fie noch, die von fi) und ihrem Wienertum nicht viel wiffen. Zwei blonde Mädchen geben fchnatternd vorlber; die Mufik ihrer Sprache ein Echo von Hörnern und Flöten ift wahre wiener Muſik. Ein paar nette junge Leute ftehen irgendwo in der Vorftadt vor einem Wirtshaus, noch unfchlüffig, wo [und wie fie jeßt die Zeit totfchlagen werden; die läffige Linie ihrer Haltung, die freie Anmut ihrer Geberden hat den Zug und die Führung

417

des richtigen wiener Lebens. Feſttaͤglich vergnägte Arbeiter kommen die

der Ton ihrer Rede ift fonderlich warm, ihr Marſch hat einen Rhythmus, wie anderswo; der Inuliche wiener Atem tönt aus ihnen, den Taft ihrer Schritte regelt der Pulsichlag von Wien. Sie find echt. Im Wefen und Gehaben diefer Ahnungsloſen flattert fo, auf Momente, dad Unbezweifelbare ded wiener Typus am den ergögten Sinnen vorüber, wie ein verftohlener Wink der enteilenden Seele von Wien. Aber zu faffen, zu halten ift fie nicht mehr, im dauernden Erfcheinungen bat fie nur felten Beftand; ed gibt kaum etliche foziale, menfchlihe oder klinſtleriſche Formen, in denen fie fi ganz und unvermiſcht offenbart. Sie ift aͤngſtlich geworden und fcheut ed, erfannt und beobachtet zu fein.

Nur im Theater erfcheint fie noch völlig frei; da traut fie fih. Da ift derfelbe befreite Wille zum Wienertum ringsum; da ſtroͤmt ihr Fluidum aus taufend verfchiedenen Launen in eine ftarfe Stimmung zufammen. Die Wiener find am liebften in Maffen wienerifh. Und haben endlich hier die dauernde Erfcheinung, die menfchlich-fünftlerifhe Form, in der fi, un⸗ bejweifelbar, feifellos lebendig und mit natürlicher Gewalt, die legte wiener Echtheit offenbart, Haben bier, auf ihren Theatern, zwei große Künftler, die Wien atmen, Wien reden, Wien fpielen, Wien find. Go lange Alerander Girardi und Hanft Niefe unfern Bühnen gehören, fo lange muß. wohl die enteilende- Seele unfrer Stadt, ob fie will oder nicht, noch halten. Die beiden bannen fie, bilden fie, geben ihr Körper und Blut. Da enthüllt ſich der Kern ihres Lebens, und ihre verſchuͤttete Schönheit wird wieder allen hell.

Raſſe, dad warme Blut jeder großen Fünftlerifhen Schöpfung, lockt und leuchtet in allem, was diefe beiden geftalten. Wiener Raſſe, ein leichtes, helles, rubelofed Blut. Temperamente voll Sinnlichkeit, die nur im Sinn lihen bilden, allem Erdenfen und Erwägen feind. Der Einfall gibt alles, die. Erreaung im Spiel ſchafft alled, Und Naffe und Takt forgen für die mumftößliche Guͤltigkeit. Darum find diefe beiden Plaftifer, nicht Zeichner der Blihnenfunft. Ste bilden und prägen ihre Menfchen von allen Seiten ber, mit zahlloſen unfontrollierbaren Bewegungen des ganzen Körpers, mit Schlaglichtern, die in den Modulationen- der Stimme fiten, mit allerlei beftimmenden umd überzeugenden Abwechflungen um Tempo der Rede. Das ift ihre ganze Pſychologie, eine andre haben fie nicht. Sie müffen ihre Geftalten immer gleich fertig auf die Buͤhne bringen, nicht Strih um Strich langfam anfegen, mie die nachdenflichen Seelenfpieler. Sie fpielen au8 dem Blut; und das überliefert ihrer genialen Anfchauung gleih won vornherein und in einem den: Schritt, die Tongebung, die Miene, die Geberden frz, die ganze, unteilbare Plaftif der Figur. Ihr Spiel ift in jedem em Games, nicht ein Teil, der auf feine Weiterführung und das nächfte wartet. Darım kann auch fein einziger Moment diefe® Spieles son feinem einzigen- ihrer Machahmer jemals auch nur annähernd erreicht werden; fo wie dad Blut eines: Menfchen nicht in einen andern hinliber- ‚gegoffen werden kann. Diefes unvergleichlich muͤheloſe Schaffen in einer

448

Plaſtik, die von allen Impulfen des fünftlerifch gehnrfamen Körpers ſchon vorgeprägt ift, erhöht natürlich dem leichten Mut, die gragdfe, hellaͤugige Freiheit, in der diefe beiden wiener Temperamente immer auf der Bühne ſtehen. So find fie außerordentliche Darfteller der großen findlichen, lachenden Lebensluſt von Wien. Daher fommt es wohl, da man fie, um nur irgend ein Fach für fie zu haben, unter die Komifer einreiht. Was man fonft Komiker nennt, hat die Gabe, auf der Bühne lächerlich im beften falle ruͤhrend lächerlid zu fein. Es gibt beigend wißige darunter, die alle menſchliche Schlechtigkeit grinfend zu entlarven verftehen, und ganz harm⸗ lofe, die nur auf die menfhlihe Dummheit abzielen; aber immer müffen fie lächerlic, fein. Girardi und Niefe aber find in ihren hoͤchſten Momenten ganz einfach tragifche Künftler. Dann, wenn diefe große Lebensfreude irgend» wie ernftlich bedroht erfcheint, wenn die gütige Kindlichkeit hart enttäufcht worden ift, wenn irgend etwas zerftörend an die Gelbitoerftändlichfeit dieſes harmonisch in fi) ruhenden, von innen ber beftimmten Daſeins flreift, dann ſchuͤrft die bildnerifche Aufregung diefer großen Künftler den Ton des Spiels aus Tiefen herauf, wo dad ewige menſchliche Leid figt und von der Kläg- lichfeit der Welt erwedt zu werden wartet. So umgreift die Kunft diefer beiden im Techniſchen hoͤchſt einfachen Darfteller die verfchiedenften Sfalen von leichtefter, nur mit Worten ſpaßender Komik, von ausdrucksreicher, menf&enbildender Plaſtik und von tiefer tragifcher Erfchlitterung. Sie: haben ed im Blut, in der Raſſe, die ſich in ihnen vervielfältigt und erhöht. Sie zeigen, daß Wiener ſchließlich auch tragifhe Größe haben könnten, wenn . nun, vielleicht wenn etwas da wäre, das ſich der Mühe verlohnte! Und es ift fein geringes Füuftlerifches Verdienſt diefer beiden, die große Tragik aus einer Sprache heraufgebolt zu haben, die feinerlei Pathos erträgt, die nur für luftige Couplets und ſcharfes Straßengezänt erfunden zu fein fcheint, die aus edeln beutfhen Dialeften ringsum nur die leichteften, fliegendften, fließendften Fautfärbungen aufnimmt, die für ihren: Wohlklang- empfindlich ift, wie die Sprade von Gebirgsleuten, und doch faul, ver» ſchliffen und ſchlampig, wie die Sprade der flachen Ebenen und der dyarafter- Iofen Städte. Man muß die wiener Sprache fo von Grund auf, fo an der Seele heraus, fo ald einziges, eigenfted Eigentum beherrſchen, wie es Girardi und Miefe tun, um auch ihre. tragifchen Möglichkeiten zu verſpuͤren und zu verfünden. Man muß, wie fie, an diefe Spraihe als an einen wichtigen, unablöslihen Zeil ihrer Kımft innig glauben, mit dem der Raſſe. Denn fie find fanatifhe Wiener, befonderd im Dialekt. Sie baden förmlich darin, lüftern und erquidt, tauchen unter, fprigen berum, werfen feinen leichten Schaum body) auf, fpielen munter mit feinem wunder» lihen Gefräufel und treiben fonft allerhand wigige und überrafdhende Kuͤnſte Domit. Wenn ed ganz toll bergehen foll, oder wenn fie merken, daß dus geſchriebene Wort ihrer geliebten Sprache kaum wuͤrdig ift, damır porobieden fie wohl auch mit gubmütigeliftiger Bosheit ihren Dialekt, verſchieben in fouveräner Willfir das Gewicht. der Silben, zerdehnen, zerfauen, jerwalfeir

419

die Vokale, fchaffen etwa gar ganz neue, noch nicht erhörte Worte und bleiben mit alledem vom Inftinft der Raſſe wunderbar geleitet doch ganz im Geift dieſes Dialeftö, den fie fo neden, weil fie ibn fo lieben; Überhaupt gefchieht ihr Parodieren, dad fih auf Spraden, Mationen, Menfchen und Getier 'erftredt, nicht aus bämifcher Luft an der Entwuͤr⸗ digung, fondern, da fie heitere Nahfchöpfer, nicht giftige Verfpotter find, aus reiner fpielerifcher Liebe zum Sachlichen, zur Darftellung des Beobachteten, zur Verwandlung und Verftellung. Daber die große Wärme aud in ihrem Spott, daher die kuͤſſenswerte Anmut auch ihrer entlegenften Figuren. Ihr menfchliher Verftand Fritifiert. die parodiftifch belauerte Erfcheinung und ſetzt fie herunter; aber der fchöpferifche Inftinkt bejaht das Lebendige am ihr, erhöht ed und umgibt es mit den Spenden feiner fchöpferifchen Liebe. Megativ zu fein, den Lebenswert einer Figur mit grimmigem Hohn zu ver=- leugnen wie died andre Komifer fönnen, wie ed vor allem unfer Maran fann ift ihnen nicht gegeben. Sie find fo feft und einheitlich mit ihren Boden verwachſen, daß aud in allem, was fie fcheinen, noch ein Scheim ihrer abfoluten Notwendigkeit zuruͤckbleibt.

In die eifig falte Zone, wo der Fritifche Geift das Leben zerfrißt, kommt ihre Phantafie und ihre Bildnerfraft niemald. Daflır um fo öfter in die Ippige heiße Zone, wo ed von Geftalten wimmelt, von Lichtern blitzt, vor Karben glüht. So wenig fie jemald negativ werden, fo wenig Ehrfurcht baben fie doch auch vor der nüchternen Wirflichfeit der Dinge. Diefe beider Spieler voll Einfachheit und Natur find in feinem Abfchnitt ihrer Entwidlung Maturaliften gewefen. Der Naturalismus ift die Kunſt des Ausſparens, eine klug asketiſche, ftol; proletarifche Kunft. Ste aber find Fünftlerifche Potrizier, gut bürgerlich zwar, aber die fräftigen Erben großer, hiſtoriſch berühmter Neichtiimer an warmer Stimmung, feliger Laune, lächelndfter Innigkeit Reichtlimer, die reichlih und frei audgegeben fein wollen. Da genügt wohl die Enge eines von vielen Möglichkeiten (oder Unmöglichfeiteny bedingten Momentd, einer ſcharf ausgezirkelten, am Wirflichen ängftlicy abgemeſſenen Menfchlichkeit, eined aufgefchriebenen und ausgeprägten Wort& nicht immer. Da genügt oft die ganze Sprache, wie fie gefprochen wird, nicht mehr; fie muß neu gefchaffen, aus Eigenem bereichert und verftärft werden. Die Phantafie will frifches, unbetretenes Land und dringt verwegen über die alten Grenzen. !

Hauptſaͤchlich Girardis Phantafie; fie ift die bei weitem flärfere. Einem großen Teil deffen, was heute bei und und im Ausland, in Theatern, im Variétés und in Salons von Schaufpielern, Brettlfängern und privater Wurfteln ald wiener Komif verabreicht wird, bat uͤberhaupt er, er ganz allein geſchaffen. Bon ihm ift das luſtige Gegurgel halbverfchludter Töne, das verlegene Kauen unausgefprochener Worte; von ihm dad komiſche Walken und Quetſchen der Silben, das. vom Gaumen dur die Nafe gebt, von ihm das übermütige Spiel mit willkuͤrlich verftärften oder verheimlichten oder verſchliffenen oder genial im Sinne des Dialekts affimilierten Lauten;

420

von ihm das Schwanfen und Kippen der hochgezogenen Stimme zwiſchen Trotz und Trauer. Bon ihm find die eindringlichften Geberden diefer Komik, das vogelartige Vorſtoßen mit dem Kopf, das zappelige Schlenfern mit den Beinen, dad gemütliche Ausdeuten mit den Bänden. Das find fo feine Häufigften Poffenfcherze, der äußere Schaum, die bäufigften Negifter feiner naturgewachſenen Technik. Das find die ftarfen Deutlichfeiten, die der eine und der andre, genauer oder beiläufiger, nachahmen fann. Unnachahmlich ift aber die belebende Wärme des Bluts, die alles dies, mas doch neben der Wirflichfeit erfunden worden ift, ald gewachfen und geworden erfcheinen laͤßt; unnachahmlich das leidenfchaftliche Spielen aus dem übermaͤchtigen Trieb, aus der daͤmoniſchen Schaufpieler-Befeffenheit, die diefen Menfchen zwingt, mit allem, was in feiner Welt ift, mit allem, was in feiner Sprache iſt, mit allem, was in feiner Rolle ift, und zuleßt noch mit allem, was in ihm felber ift, zu fpielen, zu fpielen, zu fpielen. Er gehört zu den ganz Genialen, die vom Drang und von der Macht ihrer Kunft fo uͤbervoll, fo bingeriffen, fo aus aller Wirflichfeit gehoben fein koͤnnen, daß fie in ihren hoͤchſten Momenten und Blrgerlihen fehr unbeimlid werden fönnen, In frübhern Jahren, bevor ihn die böfe Stumpfheit einer machtwahnfinnigen Kritif zum zweiten Mal und endgliltig in das Flachland der Poffen und Operetten verftoßen hatte, gab ed viele folhe Momente in feinem Spiel, die unvergeflih bleiben werden und von keines Mitterwurzerd Kunft zu überftrahlen. So im ‚Lieben Ich‘ von Karlmeis, in manchen Szenen von Raimund, an einer Stelle des ‚Eingebildeten Kranfen‘ und einmal fogar in einer Poſſe von Biffon, wo!er dad Entſetzen eines, der an feinen gefunden Sinnen zweifelt, fo grufelig ftarf ausprägte, daß von feinem Fran; Moor oder Nichard tiefere Schauer erwartet werden fünnen. Ja, irgendwo in

ihm iſt zweifellos ein bedeutender Tragdde verſteckt. (Als Bahr dies ſeiner⸗

zeit fchrieb, ſchimpften fie ihn wieder einmal närrifch; ed wird mir eine Ehre fein, mit Hermann Bahr für närrifch gehalten zu werden.) Verſteckt ift diefer Tragdde, aber nicht verloren. Er bat ſich einfach auf die andre Seite geſchlagen, den Komdden zu erhöhen, fein erfinderifcher Helfer und Ratgeber zu fein. Das Pathos in Girardid uͤberreicher Natur muß nicht verwelken; ed wird foftbared Material fir die Erfindungen des daͤmoniſchen Spieltriebs, der ed zu feltfamen, ganz unnahahmlihen Formen umprägt. Diefe Formen, in denen der urſpruͤnglich pathetifche Gehalt noch irgendwie aufbewahrt ift, bedeuten darum auch viel mehr ald bloße Parodie und Sronte; fie enthalten das Lächerlihe und dad ZTraurige, die Heiterfeit und den Ernft der Stimmungen oder Situationen, denen fie angepaßt fein follen. Ich erinnere mid an ein: „Ha, Verworfene!‘ aus einer gleichguͤltigen, wahrſcheinlich fehr ſchlechten Poſſe. Girardi ſprach ed, um die ganze Komif in einen ironifchen Kontraft zu legen, völlig unbetont, mit abſichtlich Fraftlofer Stimme, Er fonnte ſich aber, der Spötter mit dem verhohlenen tragifdyen Inſtinkt, doc) nicht verfagen, vielleicht gegen den Willen feiner boshaften Laune, einen großen Blick aufzutun, eine ftarfe Geberde zu zeichnen, die jedem guten

424

Dthello gepaßt hätten. Es ift Flar, daß eine menfchlid fo vertiefte Komik nur um fo berjlicher, um fo wahrer und freier wirfen muß. Das Zragifche daran fommt wohl den mwenigften zu Bemußtfein; aber ed padt und zwingt alle. Sonft wäre es doc wohl nicht zu erflären, daß ein Spafmadher, ein Wurftel, ein luſtiger Taufendkünftler mit folder fanatifhen Hingebung verehrt, fo als ein unerſetzliches Geſchenk der wiener Luft verehrt, fo als unentbebhrliche Notwendigfeit empfunden wird. Aber fie fühlen eben, wenn fie es auch kaum wiffen, daß er ihnen weit mehr vom Leben gibt, als das bischen Zeitvertreib und leichte Gelächter.

Jetzt fpielt er mit Hanfi Nieſe zufammen, in einer Poſſe, die freilich fein Stuͤck mehr, die nur eim Geftotter vergriffener Anekdoten ift. Da zeigt fi wieder, wie diefe beiden die gute wiener Art fouverän beberrfchen, und wie Alesander Girardi zudem nod) über ſich felbft und alle feine Mittel herrſcht. Die Miefe, robufter, weniger gefehmeidig und weniger phantaſtiſch, ſteht mehr im Zwang ihrer Mittel als er. Sie iſt ſchon eher ein wenig auf die naturaliſtiſche Seite hin gewendet und ſpielt am allerliebſten ſich ſelbſt, ſo wie fie ſich verſteht. (Waͤhrend Girardi ſich am liebſten variiert und multipliziert.) Ihre Natur iſt einfacher, ihre Linie gerader. Alles iſt Fülle und Saft an ihr; fie Überquilit von Echtheit. Aber fie weiß es auch; und wenn ihr die Armfeligfeit ihrer literarifchen Lieferanten feine neuen Formen für ihr Spiel zubringt, fo ftellt fie fi) jetzt ſchon, blos um zu wirfen, auf Echtheit ein, will Echtheit bervorbringen. Daher dann die für den mwäblerifchen Gefchmad oft ftörende Abfichtlichfeit im Wiederholen tech⸗ nifcher Feinheiten, die ſchließlich aber zu technifchen Kniffen werden: wie der uͤberrumpelnd plößliche Gebrauch der hoͤchſten Höhen oder der tiefften Tiefen ihrer Stimme; oder dad gewaltfam aufgeregte Anfchreien des Gegnerd; oder die Parodie auf ihre eigene Fülle, die fie zum Tänzeln und Hüpfen zwingt. Hätte fie den Mut, wie Girardi die Nolle und die Poſſe als einen nebenfächlihen Anlaß beifeite zu ftellen, in ihren eigenen Reichtum hinabzutauchen und von dorther immer neue Formen zu fhöpfen, die nur ihr gehören, und die nur fie gebrauchen fann, wer weiß, fie fände vielleicht, wie er, uͤber die Einfachheit und gefättigte Kraft ihrer Natur binaus zu feiner großen, tragifomifhen Phantaftif, die Aber allem Leben fteht und feine Dichtung braucht, um zu fchaffen und zu wirfen. Denn der bedeutende tragifche Zug fehlt diefer genialen Komoͤdin feines» wegs. Sa, weil fie doch dem Naturalismus näher fteht ald er, und weil doc der Dinleft, an den fie fchließlich beide gebunden find, im Tragifchen den naturaliftifchen Stil einigermaßen bedingt, fo hat ihr Pathos, die aufs richtige Gewalt ihrer Leidenfchaft, im ernften Schaufpiel die Möglichfeit größerer und geradlinigerer Betätigung. Die mächtige Wirfung ihrer tragifchen Kunft ſteht über allem Zweifel; und jeder, der bier ind Theater gebt, bat fie fhon auf das tieffte verfpurt: in ‚Nofe Bernd‘, bei Anzengruber oder in ganz einfachen und unliterarifhen Volksſtuͤcken.

So bat dad Tragifche in ihr fein natürliches, bübnengerechtes Ventil,

422

lebt fi theatermäßig auf dem Theater aus; ed kommt nicht, geheimnisvoll verftärfend und vertiefend, in ihre Komif. Eins feheidet fih rein und glatt vom andern. Girardi, bei dem fich das alles fo vielfältig Fompliziert umd wunderbar erhöht, ift eine großartige Ausnabmenatur, ein Einziger, Unver- gleichlicher, im wiener Boden mwurzelnd und von allen feinen Säften erfiilt, aber hoch darüber hinaußragend, fouverän auch feiner eigenen raffigen Natur gegenüber. Frau Miefe ift unter taufenden Wienerinnen künſtleriſch die erfte Wienerin, ift ganz Typus, ganz in ihrem Heimatboden verankert, ſchwer von feiner Schwere, lebendig von feiner Lebenskraft. Sie fteht, ein Mufter und ein prächtig reines Beiſpiel, unter und allen und fpiegelt ab, was friſch und luftig, flug und froh und echt und herzlich und gut ift an den wiener Leuten. Und ein Eleined bischen Falfchheit ift natürlich mandmal auch dabei; bei dem Weſen der Leute und bei der Kunſt ihrer Repräfentantin. Girardi aber präfentiert nichts als fich felbft und feinen genialen Spieltrieb, der nur alles auf eine durchaus wienerifche Art nimmt, berumdreht und entwidelt. Und was er fo geitaltend ausprägt, ift fhon durch die Autorität feine Genies allein mit allen Marken der Echtheit verfeben.

Sie ift die große Natur, er tft das freie Genie. Sie bringt, in Kraft und Treue, dar, was fie ift; er fchafft, in Luft und Laune, ſich felbft noch um, macht beftändig einen neuen und völlig andern aus fi). In beider Kunft ft Wien. Wiener Erde, wiener Luft, wiener Lachen, wiener Wit. Girardi ift freilich and Graz, und die Miefe, die in Wien geboren wurde, ſtammt gar, fo fagt man, von einer berliner Familie ab. Was tuts? Das gehört ja mit zu den großen Unwahrfcheinlichfeiten diefer Stadt, daß die afjimilierten Wiener meift die intenfioften und unzweifelhafteften der ganzen Raſſe find! a ——

Im Turm der Winde / von Chr. Morgenſtern

gem Turm der Winde ſitzen fie zuſammen,

ded Hauſes Herrn, und blafen in die Flammen. Die Furie fährt empor und uͤberloht vier fürchterliche Häupter blutigrot. Sie ſchuͤtteln ſich umd ſchaun fih, Mann um Matın, aus weißen Abgrundsaugen lauernd an. Des einen Blid, ded andern Blick erftarrt. Die Flamme finft, die Miienen werden hart. Bier Schatten malt der Sceite irrer Brand gefpenftifh auf ded Turms gefrlimmte Wand.

Der Morgen nabt. Die Glut hat ausgeloht. Rings um den Turm ift Stille wie der Tod.

&

Don Beerbohm Tree

icht Sntereffelofigfeit, fondern Krankheit war fchuld, dag ich von den

ſechs Vorftellungen der englifchen Gäfte nur zwei und noch dazu

zwei Tragddien, nicht wenigftend eine Tragödie und eine Komoͤdie gefeben babe. Wenn ich freilich von jeder diefer beiden Vorſtellungen nur die Hälfte ertragen habe, fo hat dad nicht die Krankheit, fondern ein unbezwingliher Widerwille gegen die Art der londoner Darbietungen ver- fhuldet. Die Entſchiedenheit meiner Eindrüde ſteht alfo im umgefehrten Verhältnis zu ihrer Zahl, ihrer Vollftändigfeit und ihrer Mannigfaltigfeit. Da märe ed doch wohl, troß diefer Entfchledenbeit, vermeffen, wollte ich den ganzen Tree zu zeichnen verfuchen. Aber aud) die fchmerzhaftefte Bett⸗ lägerigfeit fol mic nicht abhalten, einen Ausfchnitt zu geben. Nur möge man den Ausfchnitt eben als Ausfchnitt nehmen. Analogiefhlüffe und Ver⸗ allgemeinerungen find in der Kunft, wie im Leben, meiftend vom Ubel. Beim Theater zumal kommts immer anderd. Ein britiſcher Kritifer, der nad) der ‚Komödie der Liebe‘ uͤber die Kammerfpiele und nad der Hedda Gabler über die Eyſoldt abfchliegend urteilte, würde zum Gefpdtte werden durch eine Aufführung wie ‚Aglavaine und Selyfette‘ (deren Herrlichkeit noch zu befchreiben fein wird). Mielleicht liegt es bier aͤhnlich. Der lächerliche Tragoͤde und barbarifche Tragödienregiffeur Tree ift von dem größten Tei der berliner Kritif ald Komoͤde und Komddienregiffeur geruͤhmt worden. Das fließt nicht unbedingt aus, daß er auf komiſchem Gebiet wirklich ein Künftler if. Wer ihn aber vorwiegend ald Arrangeur von ‚Richard dem- Zweiten‘ und ald Darfteller ded Hamlet fennen gelernt hat, der fann nicht gut zu einem andern Sprucd ald einem glatten Todesurteil fommen. Wie immer man die beiden Fälle oder Unfälle auch wende.

Man bat fie fo wenden oder ſchon mehr verdreben wollen, daß dieſe Vorftellungen unferm Mafftab nicht etwa zu hoch, wohl aber unerreihbar fein. Man bat Fategorifch erflärt: das ift die Art, in London Theater zu fpielen, und ihr Berliner babt euch damit abzufinden. Man bat Trees Unvermögen auf die Beſonderheit der Raſſe, Kultur und Tradition zurlid- geführt. Man hat mit alledem ein fchlechtes Gedächtnis und einen ſchlechten Kunftverftand bewiefen. Keine Welt, fein Ozean und feine Sprade kann wahre Kiünftlerfchaft in ihrer großen Wirkung hemmen. Warum follte das sabe England ausgeſchloſſen fein? Es ift nicht audgefchloflen. Wenn eng- liſche Schauſpieler und Falt laffen oder im die Flucht jagen, fo liegt es nicht daran, daß fie Engländer, jondern daran, daß fie feine Schaufpieler find. Ich denfe in Dankbarkeit an Forbed Robertfon und fein berliner Gaftfptel. Die Erinnerung an ihn mag Englands fünftlerifhe Ehre retten. Weder

424

ald Mime noch ald Dramaturg bat er den Shafeipeare maffafriert. Wäre es nicht ‚felbftverfländlih, dag gute Kunft in jedem Lande felten ift, fo müßte ausdrüdlic erklärt werden, daß Nobertfon in England ein weißer Nabe ift. Auch Brahm und Reinhardt haben in Deutſchland ihresgleichen nicht. Mad ihnen aber bewerten wir und wollen wir den Stand unferd Theaters bewertet wiflen, micht nad) dem Durchſchnitt. Tree iſt ſo ſehr der Durchſchnitt, daß Tieck ihn ſchon vor neunzig Jahren ſchildern konnte.

Tiecks Sehnſucht, in London ein Stuͤck des großen Nationaldichters geſpielt zu ſehen, wird im Mai 1817 endlich erfüllt. Aber befriedigt wird jie nicht. „Die Bearbeitung dieſes Schaufpield, feine Abfürzungen und Veränderungen find nad) der leichtfinnigen Weiſe, wie die Engländer diefes Gefhäft abzumachen pflegen, denn feit fie nicht mehr Umarbeitungen ihres Dichters darftellen, find fie mit willfirlihen Abkürzungen zufrieten, unter welchen oft die Verftändlichfeit ded Werks, immer aber der Sinn ded Dichters leiden muß. Dan fett gewiffermaßen die allgemeine Bekanntſchaft des Gegenftandes voraus, läßt die berühmteften Stellen fteben, nimmt auf die vorzüiglichften Schaufpieler Ruͤckſicht, oft mehr als ſich verantworten läßt, nimmt den unbedeutenden Reden und Szenen und gibt fie den beliebteren, läßt diefen Auftritt zur Ermüdung lange fpielen und ermeitert ihn durch Zufäge oder ftummes Spiel und Fürzt andre Szenen ab eder läßt fie ganz aus, die zum Verſtaͤndnis böchft notwendig find. Muß aber Shafefpeare einmal verkürzt oder auseinandergefchnitten werden, fo denfe der fogenannte Bearbeiter wenigftend wie Brutus von Caefar: Laßt Opferer ung fein, nicht Schlädter.... Zerlegen laßt uns ihn, ein Mabl fir Götter, nicht ihn zerhauen.“

Tree iſt ein Schlaͤchter. Richard der Zweite hat bei ihm drei Alte. Unbedenklich ift jede Szene geſtrichen, die mit feinem Aufzug, feinem Ballett, feinem lebenden Bild, feinem Gefangftücd zu beginnen oder zu beenden oder zu durchfegen ift. Diefem Beſtreben nad) opernhaftem Prunf fallen natuͤrlich auch Menſchenopfer unerhört. Das anſpruchsloſe Individuum, das hoͤchſtens dem pſychologiſchen Zuſammenhang von Nutzen ſein kann, wird durch ein Heer farbiger Statiſten verdraͤngt, die das Auge bekoͤſtigen. Da iſt denn der Schauplatz der einzelnen Szenen erſt recht nicht heilig. Shakeſpeare wird gewußt haben, warum er die Hiſtorie in einem Zimmer des Palaſtes mit einer trockenen Beratung anfängt; warum er Richards uͤppig leichtfertigen Verkehr gaͤnzlich im Hintergrunde laͤßt. Das Geſetz dramatiſcher Entwicklung und Steigerung will es ſo. Tree glaubt zwei Fliegen mit einer Klappe zu ſchlagen, wenn er dieſe Szene in den Garten legt und den weichlichen Koͤnig bebaglich in eine verweichlichende Umgebung ſtellt: nach feiner Meinung gibt er damit Milten und Einfluß des Milieus zugleich. Es ift aber die Verwandlung

125

ded Dramas in die unendlich oͤde Form des Panoramad. Das zweite Bild beißt: Das Turnier, und wird mit allen Präcten eined Zirkusumzugs umd taufend biftorifch echten Einzelheiten audgeführt. Gauntd Tod tft dann die dritte Nummer, Bevor der Alte ftirbt, wird mit der Langjamfeit, die folder feierlihen Handlung ziemt, für feine arme Seele eine Meffe zelebriert ; wenn er geftorben ift, 'geloben die Mannen um einen uberrafhend fchnell improvifierten Katafalf mit Schwerterfchlag und Kriegsgeſchrei dem Haufe Lancafter die ewige Treue. So geht ed Bild um Bild, Maͤtzchen um Mäschen weiter, bei Orgelton und Glodenflang und einer Orcheſtermuſik, die nicht blos die geftrihenen Szenen erfegt, fondern auch die fteben- gebliebenen melodramatifch, fleinerweihend und Menfchen rafen machend begleitet.

Es ift gar Fein Zweifel, daß felbft !für ein fo gebäufte® Ungemach fchaufpieleriihe Kunft entihädigen koͤnnte. Aber auch bierin hat fich der engliihe Durchſchnitt von 1817 in neunzig Jahren nicht verändert. „Daf ich, wegen der Länge des Stuͤcks und der Unfähigkeit der Schaufpieler, die weder alle Rollen und noch weniger alle gut befegen koͤnnen, nicht alles ſehen und vieles mittelmäßig dargeitellt fehen würde, darauf war ich gefaßt. Daß aber auch gar fein Zufammenbang ſich zeigen wiirde, daß viele, und mitunter die fhönften Szenen auch der ſchwaͤchſten Täufhung ermangelten, ja daß man felbft gar nicht darauf einzugeben fchien, dieſe auch nur zu bejweden: darauf, ich geitehe ed, war ich nicht gefaßt. Das Ganze war mepr wie ein Deflamationdfonzert eingerichtet, in welchem vieles, ſehr vieles völlig ſtuͤm⸗ perbaft gefprochen wurde.” Es ift feine Übertreibung, wenn ich beftreite, je auf einer berliner Bühne, in deutfcher oder fremder Sprache, einer jo allgemeinen, umfaffenden, abgründigen Talentlofigfeit begegnet zu fein. In diefen fchönen, großen, ftarfen, ftolgen, fehnigen und fihern Körpern ift Eeine Seele zu entdeden oder zu erweden. Das pofiert und deflamiert fait automatisch, recht nach der Unfunft einer überlebten Zeit. Wer an der Reihe ift, tritt an die Nampe und wird bengalifch übergoffen. Tree, felber der Tragdde, ift nicht beffer und nicht ſchlimmer ald die andern. Richard ift Hamlet, und Hamlet ift Nichard, und alle beide find ein blechernes Organ, ein leered Auge, ein vorgeftellted Bein, ein fozufagen ſchoͤn geſchwungener Arm, ein pathoshaltiger Singeton, eine Fülle zwed- und finnlofer Nuancen und ein immer wieder beftaunendwerter Mangel an jegliher Gefamtauffaflung.

Aber auch damit wäre noch nicht alle verloren. Die Leiftung biefer Truppe gleicht in ihrem geiftigen Zuichnitt der Leiſtung unferd guten alten Dlympiatheaterd, dad dem Zirkus Schumann den Platz bat raumen müffen. Wenn fie ihr auch in ihrem Außerlihen Glanz; glihe, jo Fönnte man die ganze Art ablehnen und müßte dennoch anerkennen, daß eine beftimmte Art

426

bier ihren Gipfelpunft erreicht hat. Micht einmal diefen Ruhm kann Tree für fih in Anfpruh nehmen. Someit mir feine Ausftattungsfünfte zu Geficht gefommen find, übertreffen fie die langbewährten Arrangements des föniglihen Schaufpielhaufes nad Feiner Richtung bin. Laute Buntheit ift bier wie dort eritrebendmwerter ald Einheit des Geſchmacks, der Stimmung und des Stild. Solche Einheitlichkeit hat Tree dagegen dort erreicht, wo er mit löblicher Entichloffenbeit ſich aller Ausftattung entfhlug. Er bat den ‚Hamlet‘ ohne Deforationen gefpielt, und wenn der Ärmfte nur imftande wäre, den Hamlet felbft zu fpielen, fo bätte er mit diefer Vorftellung ein Ziel gewiefen und ein Vorbild aufgeftellt. Was Tree beabfidhtigt, ift ums aus Reinhardts erften Wintermärchenfjenen ja vertraut. infarbige VBor- bänge im Hintergrund und an den beiden Seiten nehmen die Stelle von Profpeften und Ruliffen ein. Der Raum wird wunderbar neutralifiert. „Sebt ihr die Wolfe dort, beinah in Geftalt eines Kamels?“ „Beim Himmel, fie fieht auch wirflih aus wie ein Kamel.” „Mid dinft, fie fieht aus wie ein Wieſel.“ „Sie bat einen Rüden wie ein Wieſel.“ „Oder wie ein Walfiſch.“ „Ganz wie ein Walfiſch.“ Genau fo willig fehen wir den unver- ändert gleihen oder durd ein paar Verſatzſtuͤcke doch nur unmwefentlich ver- änderten Raum, je nad Befehl des Dichters, flır den Thronfaal oder flır ein Zimmer der Königin oder des Königs oder Opbeliad oder Hamlets oder für die Terraffe von Helfingdr an. Darin ift naͤmlich Tree noch einen Schritt weiter gegangen ald Reinhardt. Der Landſchaft glaubte Reinhardt doch ihren fpezifiichen Charafter wahren zu müffen: Böhmen bleibt bei ihm, in welcher fünftlerifchen Stilifierung immer, Böhmen. Tree appelliert auch da an unfern innern Sinn. Der ®eilt von Hamlet? Vater tritt naͤchtens durch diefelbe offene Vorhangstuͤr auf die Terraffe, durch die bei Zage Poloniud eind von den Zimmern des Schloſſes oder feines Haufes verläßt. Es gebt. Wir glauben alles. Freilich wäre ed Trees und feiner Barden Schaufpielfunft allein in feinem Augenblide möglich, unfre Phantaſie in Schwingung zu verfegen. Aber bier ftellt ſich die einzige fünftleriihe Wirfung ein, die ich an meinen beiden Tree-Abenden verfpürt habe. Während die Beleuchtung in ‚Richard dem Fweiten‘ roh und lächerlich den Hauptakteur der Szene kenntlich machte, ftebt fie in ‚Hamlet‘ befcheiden in des Dichterd Dienſt. Sie gleitet fabl-gefpenftig um den Geift, taucht ihn in rätfelhafted Dämmerlicht und hebt ihn, wo es nötig ift, heraus. Das ift ein andrer Eindrud, ald wenn ein umfangreicher Hoffchaufpieler mit Hilfe eined Druckknopfs eine blaue oder rote Flamme an irgend einem Körperteil entzindet. |

Diefe beiden Punkte Gefpenfterliht und Deforationslofigfeit wären für und von Tree zu übernebmen. Parturiunt montes ..

427

Entwurfzu einem Vorſpiel / vonRobert Walſer

Eine Büuͤhne

er Vorhang geht auf, man ſieht in einen offenen Mund hinein, in eine roͤtlich beleuchtete Kehle hinunter, daraus hervor eine große, | breite Zunge ledt. Die Zähne, die den Buͤhnenmund umrahmen, find fpig und blendend weiß, das Ganze fieht dem Machen eines Ungetuͤms ähnlich, Die Lippen find wie ungebeure menſchliche Lippen, die Zunge bewegt ſich mach vorn, uͤber die Rampe binaus, und berührt mit ihrer feurigen Spite beinahe die Köpfe der Zufchauer, dann geht fie wieder zurüd, und ein andredMal tritt fie wieder vor, ein fchlafendes, ſchoͤnangekleidetes Mädchen auf ihrer breiten, weichen Flaͤche dabertragend. Die golden-bellen Haare des Mädchens fließen wie eine Flüffigfeit von ihrem Kopt um ihr Kleid berum, in der Hand hält fie einen gligernden Stern, ähnlid einem großen, weichen, fonnigen Schneefloden. Auf dem Haar eingedrüdt ſitzt eine zier⸗ lihe grüne Krone, ihr Mund lächelt im Schlaf, während fie fo liegt, auf ibren Ellbogen geftüßt, auf der Zunge wie in Bettfiffen rubend. Auf ein» mal öffnet fie ihre Augen, und das find Augen, wie man fie mandymal in Träumen fiebt, wenn fie fih, von irgend einem übernatürlihen Licht um— floffen, zu den unfern berabneigen. Dieſe Augen baben einen wunderbar erfrifchenden Glanz, und fie [hauen jet fo nad allen Seiten herum, wie ed Kinderaugen tun, die fragend und fuchend und fchuldlos in die Welt bliden. Aus der feurig-f[hmwärzlihen Keble Flettert jegt ein Mann bervor, angezogen mit fliegenden, fcheinbar von einem balbtollen Schneider ent» worfenen Tüihern, die wie Regen feine mafliven Glieder umgeben, fchreitet auf der unter feinen Tritten zufammenzudenden Zunge nad) vorn, zu dem Mädchen bin, beugt ſich über fie und füpt fie. Im felben Augenblif fpriben aud dem Schlund Feuerflammen und Funken hervor, die Über die beiden, ohne fie im mindeften ängftlicd zu machen, berabregnen. Der ſchlanke Mann bebt die junge Dame in feinen Arm und trägt fie nach ruͤckwaͤrts, die große Zunge wirft ſich, indem fie fih hoch aufbäumt, uͤber das Paar, um ed im Rachen frahend und binabpolternd zu verfchlingen. Der weiße Stern des Mädchens bligt vorn bei den Zähnen, da fchiegen mit einem Mal blaue, grüne, gelbe, bochrote, dunfelbläulihe und ſchimmernd meiße Sterne in einem feurigsfarbigen Sturzregenbogen aus der dumfeln Kehle bervor, Muſik fpielt dazu, und die Sterne zjerfpringen immer in der Luft ind Nichts, endlich bewegen ſich die Lippen des großen Mauled und fprechen das ftille, aber deutlich und warm börbare Wort:

Das Stuͤck beginnt.

Vorhang

Moderne Sflaven/ von einem Clown Sechs Kapitel Schaufpielerelend IV

Künftlerifche und irtfchaftliche Konkurrenz der Bühnenkünſtler

ie abgeftandene Phrafe von den ‚befondern und wunabänderlichen 9 Berhältniffen und Bedürfniffen ded Theaters‘ follte immer mit Miß⸗ trauen aufgenommen werden. Ich glaube nicht, daß ein einziger

von all den Mißbraͤuchen, eine einzige von den Vergewaltigungen, die ich auf geführt habe, auf befondere Bedürfniffe ded Theaters zurückgeführt werden koͤnnte. Es find diefelben Fuftände, die früher vor der großen Schuß- geießgebung für die Arbeitenden aller Art, wie fie unferm Jahrhundert zum Ruhm und zur Ehre gereicht, ähnlich in hundert andern Zweigen, und nicht nur bei den Sandarbeitern, beftanden haben; man denfe an die Gefege zum Schuß des geiftigen Eigentums, an die Patentgefeke, den Autorenfchug, die Geſetze gegen Nachdruck, die Beftimmungen über öffentliche Aufführung von Dicht» und Mufifwerfen, die unerlaubte Verbreitung von Kopien nad) Gemälden und dergleichen mehr. Es ift alfo durchaus feine Herabwuͤrdigung, wenn id bei dem Stande der Nomantifchen von Arbeitern rede geiftigen Arbeitern natürlih. In ihrem Verhältnis zum Unternehmer find die Schau- fpieler jedenfalls Arbeiter. Ich halte diefe an umd für fi ganz felbit- verftändliche Bemerfung fuͤr nötig, da man fich vielfach ſowohl im Kreife der Kuͤnſtler, ald auch im Kreife der ‚Feinfinnigen‘ fehr dagegen wehrt, die legten Romantifhen ald Arbeiter betrachtet und behandelt zu feben. Beweis defien das Ärgernis, dad feinerzeit die Verfiigung des berliner Polijei⸗ praͤſidiums hervorrief, daß die Schauſpieler unter das Hausgeſinde zu zaͤhlen und unter die Beſtimmungen der Gewerbeordnung zu ſtellen ſeien; eine Verfuͤgung, die unter einer Flut von Hohn und Spott begraben wurde, obgleich fie jedenfalls die Abſicht einer beginnenden Schutzgeſetzgebung flır die Theatermitglieder darftellte, wenn auch die Wahl des Namens nicht gerade glüdlih war. Nach folhen Erfahrungen aber waren die Behörden natürlich nicht fehr begierig, freiwillig ein zweited Mal in diefes Wefpenneft zu ftechen. Alfo nichts mehr von diefer albernen Phrafe von den Bedürfniffen und Berbältniffen des Theaters. Diefe Zuftände rühren zunächft, wie fih von felbft ergibt, aus dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage und dem hberall gleihen Verhältnis des wirtfchaftlih Stärferen zum ungefhüßten und nicht organifierten Schwächeren ber. Bier drängt ſich nun mit aller Macht die Frage auf: Warum organifieren fi die Bühnenfünftler nicht zum Kampf gegen die Ausbeuter, warum wehren fie ſich nicht? Bei der Beant- wortung dieſer frage werden fich zum erften Mal die wirklichen Eigenheiten ded Theaterd zeigen, diejenigen Eigenheiten, welche das Theater von jedem andern Gewerbebetrieb, welche die Rage der angeftellten Künftler von der

429

Lage der Arbeiter im gewöhnlihen Sinne unterfcheiden. Aber ih will es nur glei) vorweg nehmen: die beftehenden Verhaͤltniſſe werden ſich trotzdem nicht ald unabaͤnderlich darftellen.

Im Kampf der Handarbeiter mit den Unternehmern fommt einzig und allein das wirtfchaftlihe Moment, welches bei allen Arbeitern das gleiche ift, in frage. Da die Sorge des einzelnen die Sorge aller übrigen ift, da jeder nach dem Gleichen ftrebt, und feiner für fi allein einen befondern Vorteil wuͤnſcht, fo ift ein Jufammenfhluß aller gegen den Unternehmer zur Verfolgung ihrer gemeinfchaftlichen Intereſſen ein notwendiger und ganz felbftverftändliher Vorgang. Bei ten Bühnenfünftlern hingegen tritt zu den wirtfehaftlihen Fragen, die für alle die gleihen find, noch die kuͤnſt⸗ lerifche Frage hinzu, welche für jeden einzelnen eine befondere und andre und anfcheinend um fo viel ftärfer ald die wirtfchaftliche Frage ift, daß fie aus den natürlichen Bundedgenoffen im Kampf die erbittertfien und unver» föhnlichften Feinde macht und einen Kampf bis aufd Meffer und mit allen Mitteln verurfacht, bei dem der Unternehmer den tertius gaudens fpielt; weshalb er denn auch diefer Finftlerifchen Frage natürlich ſtets die größte Wichtigkeit beilegt. Nicht etwa, weil ibm die Kunft and Herz gewachſen ift*), fondern weil er durch Beglinftigung und Förderung diefer kuͤnſtleriſchen Zwietraht und Streitigfeiten unter den Mitgliedern ihre wirtfchaftliche Einigung verhindern kann. Es erinnert died lebhaft an die primitive und doch fo fchlaue Jagdmethode wilder Völfer, welche die gefährlihen Tiere dadurch erlegen, daß fie fie veranlaffen, fih um irgend eines Beuteſtuͤckes willen fo lange zu befampfen, bis der eine oder gar beide Kämpfer an den DVerlegungen verenden. Was und in diefem Fall ein ftolzes Lächeln der Überlegenheit abnötigt, ereignet ſich beim Theater täglich, ohne Daß es ſonderlich auffiele und in feiner grenzenlofen Torbeit den Beteiligten zum Bewußtſein füme. Wenn ed mir durch Diefe Zeilen gelänge, dieſes Bewußtſein zu erweden, fo wäre mir das fchon ein Lohn fir meine Mühe.

Dieſes fünftlerifche Moment, welches eine fo zerfegende Wirkung im wirtfhaftlihen Kampf der Bühnenfünftler hat, aͤußert ſich in einem gewaltigen Streben nach Fünftlerifchem Hervortreten, nach Einfluß und nach größter Geltendmahung der eigenen Perfönlichfeit. Die Befriedigung diefer und ähnliher Wünfhe der Eitelfeit und Gefallfucht auf Koften der andern ift eine natürlihe und der Bühne eigentimliche Erfcheinung. Freilich ift fie nicht allen der Bühne eigentimlih. Sie findet fi in hundert andern Berufen auch, wird aber nirgends von den Verbältniffen in ſolchem Grad begimftigt wie bei der Bühne, wo die Perfon eben die Trägerin der Kunſt,

*) Kaum ein Direftor würde hundert Marf mehr für einen guten Künftler aufwenden, fo lange ihm der fchlechte billige noch Dienfte leiftet. Daher der Umftand, daß die berliner Direftoren flr die Premiere und den erften Monat, welche das Kaſſenſchickſal eines Stuͤcks entfcheiden, die teuerften und beften Kräfte berausftellen und nad) Ablauf des erflen oder zweiten Monats die billigften und mäßigften Kräfte an Stelle der teuern einſchmuggeln.

430

und mo die richtige und gefchichte Infzenefegung und Beleuchtung der Perfon das Wefentlihe if. Wenn nun der unvermeidlihe Konfurrenzfampf auf fünftlerifhem Gebiet fo fchranfenlofe Formen annimmt, daß er jedes Zufammengeben auf dem wirtfchaftlihen unmoͤglich macht, fo liegt das wieder in der Zuſammenſetzung des Standes jelbft begründet. In feinem andern finden fi) nah Herkunft und Entwidlung fo unendlich verſchiedenartige Elemente in gleihem Streben und in gleichen wirtfchaftlihen Verhältniffen und unter gleihem Drucd vereint. Alle Arbeiter, welches Faches immer, haben flet8 ten gleiken Entwidlungegang durchgemacht und flammen aus terfelben Klaffe von Menfchen; ihre Eltern waren Arbeiter, feiner uͤberragt feine Genoffen allzu wefentlih, außer etwa an Fleiß und ein wenig Gefdid- lichkeit. Ahnlich ift es bei ten Faufmännifchen Gebilfen, den Lehrern, ten Ärzten und Juriſten; wobei noch zu betenfen ift, daß bei ten legten beiten Berufen, wenn ſich Angehörige der nietern Klaſſen darunter mifchen, dieſe fhon durch einen langen, langfamen und gleihmäßigen Bildungsgang affimiliert werten und außerdem dad Veftreben haben, fich ter neuen Klaffe, in; welche fie aufgeftiegen find, meglihft würdig zu ermeifen; doch ift Die Zahl diefer Falle im Verhältnis zur Gefamtbeit verfehwintend gering, umd auferdem wachen auch die Ärzte» und Anwaltfammern uͤber das Verhalten und Gebahren ter Angehörigen ihres Standes. Nichts ähnliches gibts beim Theater. Keute ift einer Schloſſer oder Fuhrknecht oder Kaminfeger, un morgen fteht er in tenfelten PVerbältniffen und Sintereffen wie ein Doftor ter Philoſophie oder ein feiner Ariftofrat und ein nervoͤſer, verfeinerter Aſthet. Keine Bildung macht ihn ten andern an Wiffen, Empfindungs- und Denfweife glei; feine Schule oder Erzietung miltert die Gegenfäge im Denfen und Sandeln. Es genligt, daß einer eine ſchoͤne Stimme bei fi) entdeckt und dann ein Zahr bei irgend einem Schauſpieler oder Eänger oder an einem Konfervatorium lernt: fofort ift er Berufögenoffe, ‚Kollege‘ und zieht am gleihen Strang. Und diefe Schicht ftellt fogar natürlich in allen Schattierungen und Abftufungen die große, tonangebende Mafle.

Infolgedeſſen werten die geſchilderten Zuftände auf fo verſchiedenartige Elemente ganz verfchieten wirken, fo daß die Kampfesformen unendlich ver- fchietene fein werten, genau wie die Wirfungen des Kampfes ſelbſt. Der feine, wirklich vornehme Menſch und Künftler, der mit einem ‚Rötermenfden‘ an Diefelbe Karre gefrannt ift, faßt einen tiefen Witerwillen gegen jeinen Machbarn, und ter ‚Rötermenfch‘ fr fein Teil fühlt feiner Art entipredend dad Beduͤrfnis, dem andern, gegen ten er weder geiftig noch moralifch anfemmen fann, hinterruͤcks an die Warten zu fahren; er naͤhrt einen inftinfs tiren und tiefen Haß gegen ibn, der beiten jede Meglichfeit eines Zufammen- gebend in irgenteiner Frage ſchlechterdings unmoͤglich und undenfbar macht. Jeder, der ed nur einmal verfucht hat, die Mitglieder eines einzigen Theaters zu gemeinfamem Vorgehen fei ed auch nur in der harmlofeften Sache unter einen Hut zu bringen, wird diefen ein zweites Mal, als gaͤnzlich ausſichtslos, gewiß nicht unternehmen. ‚Es ift ja doch feine Einig-

431

feit zu erzielen!‘ lautet der befannte, refignierte Ausſpruch an jedem Theater. Die foll nun gar eine Einigkeit erzielt werden, wo eb fih um die Inter⸗ effen des ganzen Standes handelt?

Dabei ift nicht zu unterfchägen, daß diefe Kötermenfhen, felbit an den größten und beften Theatern, immer die ‚fompafte Majorität‘ bilden und oftmald fogar noch den Einfluß der Fünftlerifchen Autorität für ſich haben, da Mangel an Bildung und Feinheit natürlich noch lange feinen Mangel an Buͤhnentalent zur Folge zu haben braucht und ein hervorragender Komiker gleichwohl ein gaͤnzlich ungebildeter, verrohter Menſch mit den niedrigſten Inſtinkten ſein kann, ebenſo wie der beruͤhmteſte Tenor die ſprichwoͤrtlichen tenoralen Geiſteskraͤfte in ſo hohem Maß beſitzen kann, daß ſie ihm noch nicht ermoͤglichen, ſich in den einfachſten Fragen ein ſelb⸗ ſtaͤndiges Urteil zu bilden. Trotzdem gilt das Urteil jedes ſolchen berühmten Plebejerd mehr ald das von zehn andern feinen Künftlern, da man feine Autorität von der Buͤhne ohne weitered auch aufs Leben zu übertragen geneigt if. Wenn aber fold ein Koͤtermenſch eine Stellung erlangt bat, welche ihm Autorität verfchafft, dann bat er im Fürzefter Zeit in echteftem Parvenuftol; dad jämmerlihe Gewimmel unter ſich vergeffen oder ſchaͤmt fi, feine Kenntnis der Verbältniffe einzugeftehen, um feine Herkunft aus jenen Tiefen nicht zu verraten, Was gebt ihn, den wohlbeftallten Hof- fhaufpieler oder Kammerfänger, das foziale Elend andrer Taufende an! ‚Sehe jeder, wo er bleibe, fehe jeder, wie ers treibe, und mer ftebt, daß er nicht fallel‘

Dies zeitigt alfo die traurige Tatſache, daß die feinften Köpfe, die nobelften Künftler, die natürlich am fchwerften unter den unwuͤrdigen Ver bältniffen leiden, die anderfeitd infolge ihrer Kenntniffe und ihres weiten Blickes am eheften in der Lage find, die Kührerrofle im fozialen Kampf zu übernehmen, bei jedem Schritt Feinde im eigenen Lager finden, und daf fie mandhmal ihre ganze Exiſten; aufs Spiel fegen, ohne audy nur den geringften praftifchen Mupen für die gute Sahe erwarten zu fünnen. Ya, die beulende Maffe der Köter, die kompakte Majorität, ftimmt fogar ein Freudengeheul an, wenn fle einen folhen Vordringlichen, deffen ufurpierte Führung fie mit Neid und Mifgunft bemerkt, fcheitern ſieht. Dies ift der Grund, weshalb die Öffentlichfeit niemals Klagen von den Beteiligten felbft vernimmt.

Die Mehrzahl von ihnen begnügt fih, am Biertifh den wilden Mann zu fpielen und die Fauft im der Tafche zu ballen oder irgend einen armen Idealiſten, der flr Gerechtigfeit und Fortfchritt ſchwaͤrmen mag, zum Auf treten gegen den Direktor zu ſtacheln, während fie felbft, teild aus ſtlaven⸗ bafter Furcht, teild aus eigenflichtigen Gründen, ſich teilnahmlos verhalten, oder aus dem fihern Fiasko des Suͤndenbocks ihr Schnitthen zu machen fuchen. Aber wer möchte diefe armen Heloten wegen ihrer Furcht und Scheu tadeln, wer ihnen ihren Eleinlihen,befchränften Egoismus, den Meid, die Mißgunft, die Eiferfucht und all die andern Erbärmlichfeiten, diefe durch

432

Sflaverei erworbenen Laiter, zum Vorwurf mahen? Selbft an den Velten geht ſolche jahrelange Sklaverei nicht ſpurlos vorliber, und aller Kampf und alle Selbfterziehung kann die Schäden nicht beilen, welche beute eine viel- jährige Beſchaͤftigung mit der veredelnden Kımft der Menfchenbdarftellung dem Charafter ded Menſchen, ‚ded freien Künftlers‘, zufligt. Und wie erft jene andern, die Maffe, leiden, dad kann nur derjenige ermeffen, der die entwürdigten und erniedrigten Menfchen jahrelang teilnehmend beobachtet bat, der tiefften Schmerz fühlt beim Anblid diefer Sklaven mit den Alluͤren und im Gewand der Edlen, diejer geiftig Geknechteten und Gedemütigten, die und zur Freude und Erhebung verhelfen follen. Miemand kann das ermeflen, der nicht aus langer Erfahrung und genauer Beobachtung weiß, von welchen Zufällen, Proteftionen, Beſtechungen und ſchlimmern Dingen die Erlangung eined Engagements abhängt, von wieviel bittern Demütigungen und flumm binabgewürgten Gemeinheiten, Wortbrüchen und Qudlereien oftmals das Verbleiben im Engagement; niemand, der nicht weiß, wie Tag für Tag Dußende von Eriftenzen aus Bosheit oder Gewinnſucht, Laune oder brutaler Einfalt vernichtet oder ſchwer geichädigt werden!

Darum alfo ift bier fein Ankläger! Aber darum bat die Geſellſchaft die Pflicht, bier zu richten und fich der gepeinigten Spaßmacher, der lachenden Sklaven anzunehmen. Dem Hofrat Mar Burfpard, dem ehemaligen Direktor des Hofburgtheaters in Wien, gebührt das Verdienft, zuerft öffentlich auf einen Mißftand: den Anftellungsvertrag, bingewiefen und eine ia gebung in Öfterreich angebahnt zu haben. Aber die Gefeßgebung in Dfter- reich bat Wichtigered zu tun umd arbeitet langfam. Für Deutichland ift dies der erfte Verfuch, der gemadt wird ummittelbar aus dem Kreife der Betroffenen heraus die ſchmaͤhlichen Verhaͤltniſſe des deutſchen Theaters im zwanzigften Jahrhundert an den längft verdienten Pranger zu ftellen*). Möge er gelingen! Und wenn er nur erzielt, daß der folgende oder Über- nächte Schlag nicht mehr unter dem ſchuͤtzenden Mantel des Pſeudonyms, fondern mit der vollen Autorität des ehrlichen Namens geflihrt werden fann, fo ift ein großer Schritt getan zur freien Entwidlung des Standes, zur Hebung feines Selbftgeflibld und zur Erfenntnis feiner Würde bei den Künitlern. Gortſetzung folgt)

*, Waͤhrend der Arbeit lefe ich die Berichte von der legten Delegierten- Berfammlung der Deutfhen Buͤhnengenoſſenſchaft. Was nügen all diefe Neden! Sie legen den Finger nicht an die Wunde, fie wollen nur Symptome, aber nicht die Urfachen heilen.

433

KRosperlefherter

In der Antichambre/ von Liber

Hofmarfhall und Flügeladjutant begegnen einander.

Hofmarfhall: Liebfter Freund, gut, daß ich Sie treffe. Ich bin un⸗ glüdlih, fonfterniert. Sie find meine legte Zuflucht.

Flügeladjutant: Ja, befter Freund, was ift denn? Wenn ic Ihnen belfen, wenn ich für Sie fterben fann...... ?

Hofmarfhall: Ad nee, Baron. Mit Ihrem Tode ift mir gar nicht gedient. Sch brauche Ihre Kenntniffe, Ihre Kenntniffe in der Kunft....

Klügeladjutant (verfärbt fich)

Hofmarfhall: Sehen Eie, nu werden Sie ſchon blaf. Ja, die Zeiten andern fi. rüber genügte die Belefenheit im ‚Gotha‘ und in der Rang- und Quartierlifte. Jetzt, wo's bei und zugebt, wie im DBorzimmer ’ner Theateragentur, reicht dad nicht mehr. Ich babe ſchon drei Jahrgänge vom ‚Lofal-Anzeiger‘ durchftöbert, aber ed gibt Leute, über die felbit Holzbod noch nicht gefchrieben hat. Wei und im Lande, da hält man fi) die Kunft ja vom Leibe. Kuckt man fe nic) mit 'm GStiefelabfag an. Aber mit dem Ausland ſteht die Sache doch anders. Mu fiß ich heute beim Dejeuner zwifhen Nobertfon aus Fondon und Madame Gloria aus Parid. Ja, wer id Nobertjon? Wer id Madame Gloria? Im Konverfationslerifon find id fe nid. Im Buͤhnenalmanach ftehen je nid. Dichtet er? Singt fie? Und wenn er dichter, was dichtet er? Und wenn fie fingt, was fingt fie? Ich will nid) wieder jo reinfallen, wie neulih, wo ich beim Souper einem alten Herrn fage: ‚Ah monsieur, vous chantez excellement.‘ Und nachher ift ed der Komponift von ‚Ballentin‘ (frei nach Goethe). Sie wiffen ja, der Mann, in ‚deilen Mufif fi die Ideen Richard MWagnerd am beften wiederfinden‘. So bieß ed doch in der Anfprade.......

Flügeladjutant (jegt dad Monocle ein): Ja, man findet ſich nich mehr raus; man findet ſich nich mehr raus.

Mit dem Kammerdiener fommen zwei fehr elegante Damen. Pariſer Chic mit viel Parflım und Gezwitfcher der Jupons. Sie rafcheln vorbei. Dann fommt der Kammerdiener zurück.

Hofmarfhall: Sa'n Se mal, Kneetſchke: wer id 'n das?

Kammerdiener: Det find die Damend aus Frankreich, die Sängerinnen, die um elf joldene Ubren friejen. Denn fommt ’n Stüudöfen Marinevortrag. Denn fommt um jwelf der englifhe Echaufpieler. Det wird 'n Bild mit eijen- bendige Unterfchrift und ’'n Orden. Wenn der raus is, foljt ne militärifche Konferenz. Zum Schluß bring idy ten jriechiſchen Impreſſario. Ma, det wird woll ood 'n Drten werden. Biel je tun, Exjellen;, viel ze tun! (Er gebt feufjend ab)

Der Rabinettöfefretär erfcheint, blaß, nachdenklich. Er naht ſich langfamen Schrittes und bleibt vor den Herren ſtehen.

Hofmarſchall: Gerechter Gott, mas fehlt Ihnen, Teuerfter?

434

Kabinettsjefretär: Was mir fehlt? Die Attribute fehlen mir.

Hofmarſchall und Flügeladjutant find ſprachlos.

Kabinettsfefretär: Ja, Sie begreifen das nich. Jeden Tag werden jegt ein paar Dutzend Stüde und fünftlerifche Leiftungen eingefchägt, immer im en gros. Das hab ich nu alled vorzubereiten. Und da foll ic immer originell fein, mich nie wiederholen. Neulich hab ic mal an einem Tage eine Oper und einen Bafliften ‚feelenvoll‘ genannt, Den Nüffel hätten Sie bören follen. Und fchließlih, bei dem Maffenfonfum, bat mein Lerifon

ein Ende. Ich fehmuggle jett fogar ſchon Fre

mdmwörter mit unter.

lügeladjutant: Hatten Sie ſchon ab gleticherbaft? abinettsfefretär (frablend): Nee. Menſch an mein Herz! Für den norwegifhen Klaviervirtuofen paßt dad ausgezeichnet. Es klingelt. Alle drei ftehen ftramm. Der Kammerdiener ftürjt berein,

fommt zuruͤck)

Hofmarfhall: Na, Kneetihfe .

Kammerdiener: Jawolll

... was Meued? Et ereijnete fi) eine Aenderung.

Der

Marinevortrag muß verfhoben werden. Et bat fi) een ruffifcher Tenor-

buffo anjemeldet ......

Mundkhpau

Gefälligfeitsafzepte Eientis fönnte ich mir die Be- Dſorechung der beiden Fälle, um die ed fich handelt, für eine fpätere Liber- fhau über das hamburger Theater- wefen aufiparen, ald Belege zum Ka- pitel: Gefälligfeitäafzepte. Als bei der Aufführung des antifen Märchend ‚Als feftiß‘ jemand in meiner Nähe eine bitterernft gemeinte Ringfampfizene zwiſchen Herfules und dem Tod aus⸗ lachte, proteftierte aus der Dunfelbeit beraus eine empörte Stimme: „Neb- men Sie doch Rüdficht auf Die armen Schauſpieler!“ Da batte die Stimme aus dem Dunfeln den Tenor aller hamburger Theaterei gefunden: Meb- men Sie doch Rüudficht... Das Theater diefer deutschen Handelsmetropole ift Gefellfchaftserfheinung, nicht Kunſt⸗ inftitut, und nimmt damit fuͤr ſich auch jene taufend kleinen Rüdfichten und ſtillſchweigenden Vereinbarungen in

Anſpruch, die der gefellfchaftlihe Be—⸗ trieb vorausfegt. Publifum und Preſſe barmonieren in diefen Rüdfichten: auf die Abonnenten, dieihrepränumerando bezahlte Quantität Kunſt ungeftört ge⸗ niegen wollen, auf die Naiven, die ſich unterſchiedslos begeiftern, auf die In⸗ baber der Anteilfcheine an dem Theater, auf den Direftor und die Schaufpieler, ſoweit fie in die Gefellfchaft eingeführt find, und nicht zulegt auf den Autor und feine reputable familie. Denn wo man nicht kaſſen ſichere Ware aus zweiter Hand Übernimmt alfo etwa ‚Und Pippa tanzt‘ und „Bufarenfieber‘ ſondern eine Urauffuͤhrung wagt, hat man es faſt ausnahmslos mit Stuͤcken ortsangeſeſſener Leute zu tun, die uͤber irgendwelchen Einfluß auf das Theater verfügen. In erſter Linie alſo um Re- dafteure der einbeimifchen Tagesblät- ter, in zweiter um Mitglieder der res gierenden Gefelfhaft. Die Joucna-

4135

liſten ſchreiben Schmwänfe, die Dilettan- ten aus der Gefellfchaft wollen natuͤrlich böber binaus und blamieren, wie Karl Andres, der Sohn des hamburger Bürgermeifterd Moͤnckeberg, ihr Pu- blifum mit einem ‚antifen Märchen‘, oder, wie der Gymnafialprofeffor Karl Wilhelm Noettiger, mit einem ‚Luft- fpiel‘. Nur auf die fünftlerifche Auf⸗ gabe des Theaters wird feine Ruͤckſicht genommen, und wenn die gefellfchaft« lihen Beziehungen fehlen was bei toten Klaffifern, wie Moliere und Goethe, oder beilebendigen, aber ortö- fremden Autoren,wie Herrn Beyerlein, der Kall ift kann e8 paflieren, daß ein Stuͤck niedergezifcht wird. Beleg daflır find aus den legten Jahren die drei Namen, die ich eben nannte. Auch der einzige fünftlerifch inter- effierte Theaterdireftor, den Hamburg bat, Baron Berger, kann fidy diefer Atmofpbäre nicht entziehen, und wenn gar ein Fultivierter Dileftant wie Karl Andres ehrgeizig genug ift, die Antife in modernem Geiſt beleben zu wollen, fo glaubt er, ibm fein Deutfches Schaus fpielhaus nicht verfagen zu dürfen. Karl Andres hat nämlich vergeffen, zu erwähnen, daß er für fein antifes Märchen, Alfeftis‘ von Euripides nicht nur Titel und Stoff, fondern fo ziem⸗ lic) da8 ganze Drama ftellenweife faft wortgetreu uͤbernommen bat. Dem fünftlerifchen Sinne nad) tat er freilich recht daran, den Namen Euri- pides mit feiner Arbeit nicht in Zu—⸗ jammenbang zu nennen. Inbaltlic) ift die, Alfeftis‘ und allen geläufig: König Admet muß fterben, und nur der frei= willige Opfertod eines gleichwertigen Menfhenfannibnretten. Sein greifer Vater weigert fich deffen, aber fein Weib Alfeftis ftirbt für ihn. Das bei« fpiellofe Opfer findet beifpiellofen Lohn: der Gaftfreund Herafles ent- reißt dem Toddie Tote. Was uns heute an diefem Drama ftußig macht, ift feine Vorausſetzung, daß deredleundtapfre

436

Admet einen ihm teueren Menfchen für fi} fterben läßt, ftatt fein Geſchick mit Faffung auf fi zu nehmen, Flır Die Antife lag darin fen Widerſpruch. Zhr wog ein KRönigsleben unvergleichlich mehr als ein gewoͤhnliches Menfchen- fein oder gar ein Weib. Der König war Göttern und Haldgöttern Gaft- freund und oftmals felbit aus gött- lichem Geſchlecht. Er vertrat fein Bolf vor dem Rat der Bdtter: ohne ihn war das Neid) ein Körper ohne Haupt, ein Schiff ohne Steuer. Sein feben mußte erhalten werden um jeden Preis, fo- lange nicht ein erwachfener Sohn für ihn einfpringen fonnte. Die Wertung der Perfönlichfeit it vonjenem Geftern auf unfer Heute gründlich umgefchla- gen. Uns gilt ein Leben wie das andre. Demzufolge glaubte Karl Andres, feinem ‚Alfeftis“«Drama eine neue Motivierung unterfcyieben zu müffen. Er hatte denunglüdlichen Einfall, Ad⸗ metd Duldung aus feiner felbitfüch- tigen Feigheit zu erflären umd er bemerft nicht, daß er der Dichtung da⸗ mit ihre fittliche Baſis entzieht. Der Opfertod für einen Unwuͤrdigen iſt ſchlechthin ein Verbrechen Admets und eine Dummheit der Alkeſtis. Unter dieſen Umſtaͤnden iſt es Admets Vater nicht zu verdenken, daß er ſeines Sohnes unverfrorener Aufforderung zum Selbſtmord nit nachkommt wo— für er ſich uͤbrigens die unflätigften Beſchimpfungen gefallen laffen muß: „Schön, fo gönne ich dir die faubere Ehre, daß du mich gezeugt . . ſetz dich wieder auf deinen alten, felbftzufrie- denen Steiß...” undald ®ipfelder Un- verſchaͤmtheit: „Wär ich in der Tat dein Sobn, du ſchwacher Graufopf wäreft nicht erbärmlich weggelaufen vor dem Tod!” Um der feigen Scurferei vollends zum Siege zu verhelfen, gibt der Halbgott Herafles ihr Opfer Al- keſtis dem Reben zurück; die ſittliche Weltordnung fteht Kopf.

Karl Andres mit ihr. Ihm fcheint

die Welt feines Dramas in fchönfter Ordnung, und er hält feinen Admet unentwegt für einen anftandigen Kerl, der geläutert aus der Prüfung bervor- geht: „Du fiebft mich anders, ald du mich verließeft.” Sein Atmet benimmt ſich nämlich nur auf der Bühne fo ge- mein in den Zwifchenpaufen, von denen wir leider nichts willen, macht er tiefe pfochologifhe Wandlungen durch. Diefe,Alfeftis‘ iftalfo fozufagen ein Drama, das gar nicht gefchrieben wurde. Auf der Szene aber geben lauter Dinge vor fi, die entweder überflüffig find oder uͤberhaupt nicht in das Stuͤck gehören. Nach dem Ein- gangdauftritt, in dem König Admet fi) zur Erbärtung feiner unentbehr- lihen Megierungdtalente mit einem falomonifchen Urteildfpruch produziert, beichtet Alfeitis einen Aft lang ibre Todesängfte und flirbt dann, hinter der Szene. Im zweiten Aft fagen die Amme und Admets Vater dem König an der Bahre feiner Frau eine Un- maffe fataler Wahrheiten, worauf Ad» met, binter der Szene, fein Gewand and feinen Charafter wechſelt. Das Stüd jet mit antifem Chor ein, im Schlußaft hat es ſich dann ſchon ſo— weit modernifiert, daß der Halbgott Herakles wie ein befchmwipfter Luſtgreis Offenbachs auf allen Vieren umber- fraucht und einedganzen Eimers Waſſer bedarf, um ſich dem Ernit der Situa- tion gegenüber in eine einigermaßen wiürdige Verfaſſung zu bringen: „Da ift Waſſer ...“ „Danf. Das ſchmeckt. Der Wein merft feinen alten Wider: facher und ruͤlpſt rebellifch auf.” Als⸗ dann hebt der Ringkampf zwiſchen Herafled und Thanatos an, den felbft Bergers Regiefunft, Nhils grandiofe Maske und das Mitleid mit den,armen Schaufpielern‘ nicht ganz vordem Ge⸗ lächter zu ſchuͤtzen vermochten. Euripi= des verlegtden Kampf hinter die Szene, fein deutfcher Nachfahre hält ihn nach Dilettantenart flır hochdramatiſch, und

dad Publifum würde dem gewiß bei- geftimmt haben, wenn Baron Berger ftatt Otto und Mhil zwei Berufdathleten aus der Abs⸗Schule engagiert hätte. Thanatos fnurrt: „Laß die fade Spie- lerei,“ aber Herakles läßt nicht. Tha⸗ uatoß Act: „Web, Died tolle Vieh uetfcht mir die Rippen mürb.... Anger halt ich dies nicht aus!” Er liefert Alkeſtis feinem musfulöfen Gegner aus, der ihm zuguterlegt den Mat gibt: „Troll dich, und laß bier dein blaues Arfchgefiht nicht länger feben,” denn fonft werde er ihn wieder „braun und bunt prügeln”. Damit wären wir alfo glücklich von der an⸗ tifen Tragödie ber Offenbach beim Kafverletheater angelangt.

Die Tatfache, daß in diefer Saijon ‚Alfeftis‘ die einzige Uraufführung des Deutſchen Schaujpielhaufes war, ver⸗ pflichtete, ded nähern darauf einzu⸗ gehen. Im übrigen ift diefed antife Märchen bemerkenswert ald ein ver- bluͤffendes Erempel, wie durch ſchein⸗ bar geringfügige Verfhiebungen aus einem Meifterwerf eine Parodie feiner felbit werden fann. Weniger fompli- ziert liegt die Sache bei dem zweiten bier in frage ftebenden Fall: dem im Thaliatheater geipielten vieraftigen Fuftfpiel ‚Studentenliebe‘ von Karl Wilbelm Roettiger. Nach hamburger Prefleurteilen wäre dad Stuck berufen, Freytags ‚Zournaliften‘ auf ihrer ein- jamen und fehon ein wenig wadligen Luſtſpielwarte abzuldjen. In Wirflich- feit handelt es ſich um eine harmlofe Morlittiade, eine Kombination aus ‚Alt-Beidelberg‘ und nen als Erzieher‘, deren gut bürgerlich tem⸗ perierte Heiterfeit durch eine abge- fchmadte Theaterlöfung wettgemadht wird. Ein Profeffortöchterlein liebt einen braven Studenten und foll einen fhurfifhen Privatdozenten beiraten, der aber zu der Liebenden Glüd in zwoͤlfter Stunde ald Fälfcher und Mitgiftjäger entlarvt wird. Moettiger

437

ift viel weniger prätentidd und viel geſchickter ald Andres; ſchauſpieleriſch war feine Komödie genau fo unfrucht= bar wie jenes traurige Märchen. Leonhard Adelt

DOperngaftfpielreifen

fe Opernfatfon bat ihr Ende er-

reicht; eine gewaltige Menge fünftlerifher Arbeit ift im laufenden Nepertoire, befonderd aber in Neu⸗ einftudierungen bewältigt worden. Und doch wird allerorten eine Klage laut: Es fommen zu wenig neue Werfe zur Aufführung, zu wenig für das Publikum, das mufifalifhe Neuer- ſcheinungen mit Intereſſe verfolgt, zu wenig flr unſere Komponiften, denen ed immer ſchwerer wird, ihre Werke auf die Bühne zu bringen. Den Theaterleitungen fann ein Vor- wurf faum gemadt werden. Wer ſich ein klares Bild von den Schwierig- feiten entwirft, die die Einftudierung einer modernen Oper mit ſich führt, wird es verzeiblidy finden, wenn eine Opernbuͤhne inihrem feften Repertoire fortipielt, fo lange fie mit diefem ausfommen fann, und fid) viel leichter zur Neueinftudierung einer bemähr- ten älteren Oper als zu dem immer zweifelhaften Verſuch einer Erftauf- führung entfchließt. Die frühere Zeit batte e# in diefer Hinfiht unbedingt befier: Die Opern der Flaffifchen De die franzöfifhe Spieloper und elbft die ‚große‘ Oper waren fir den Sänger verhältnismäßig leicht zu erlernen im Vergleich zur mo- dernen der Wagnerſchen Richtung, über die ja fhon Hand Sachs in den ‚Meifterfingern‘ Flagt: „Nur ift’8 fo leicht nicht zu behalten . . .“ Mit der Schwierigkeit wählt aber auch die Beſorgnis, die Frucht monate- langen Studieren® und zabllofer an- firengender Proben nach wenigen ——— verloren zu ſehen, wenn ein Werk ſich nicht als Zugſtuͤck erweiſt.

438

Der Gedanke an Enjemblegaft- fpielreifen eine® ganzen Opernperfo- nals zur Wiedergabe einer mufifdra- matifhen Meubeit an verfchiedenen Drten liegt nahe. Die erften Anfänge find ja bereitd gemadht worden. Mir erinnern an das Gaſtſpiel der ſchwe⸗ riner Hofoper mit Scillingd ‚Ing= welde‘ in Berlin und an die große, gersiffermaßen unfreimwillige Kunſt⸗ reife des ftuttgarter Enfembled nad) dem Tbeaterbrand. Auch die Wonte- Earlo-Oper bat und einige Werfe vorgefübrt, die fonft in Berlin ſchwer⸗ lich auf die Bühne gefommen wären. Was aber bier eine gelegentliche und vorübergehende Erſcheinung ift, follte zum Beſten der Kunft eine ftändige Einrihtung werden. Es ſchwebt mir bierbei etwa folgender Plan vor: Eine Gruppe gleichwertiger Opernbübnen, fagen wir: Berlin, Dresden, Münden und Hamburg, treffen zu Beginn jeder Spielzeit genaue Vereinbarungen über neu aufjunehmende Werke. Jede Birhne ftudiert andre Opern ein, die fie zunähfl an ihrem Ort zur Auf- führung bringt, dann aber im Gaft- fpiel auch an den andern Orten ihres Ringes, die num gleichzeitig die von ihnen ftudierten neuen Werke aufer- balb aufführen. Auf diefe Weife fönnte eine bedeutend größere Anzahl neuer Werfe zur Aufflibrung gelangen ald bisher, zu deren Beurteilung ein weit größeres Publifum ald früber berufen wird, und wenn dann auch vielleicht häufiger Spreu mit hindurch⸗ fhlüpft: fo manches Werf, dad aus der Partitur dem Kapellmeifter wenig verfprochen hatte, bat fich im Lampen⸗ licht als lebensfähig erwieſen. Wie mancher Künftler könnte fih dann Gehör verfchaffen, der auch beute ‚eine Partitur nad) der andern in feinen Kaſten zu legen gezwungen tft‘.

Franz Ziller

Die Paͤchterin von Litchfield Dr berliner Kritif ſpricht von wiener Gafehäufern wie von tibetanifhen Dſchungeln. Mit der leihen Unbefangenheit. Bon dort ol Mar Mell ftammen. Aber das ift nicht wahr. Er flammt aus der perfönlichiten Lyrik, die fih an den Anfang feines Lebensweges geftellt bat. Was aber hat das mit den Lebens⸗ wegen der andern Menjchen zu tun? Was mit dem Drama? Jebt, da der Wanderer noch fo viel mit fich felbft zu Schaffen hat? Um einen Ausblick zu gewinnen, rüdt er den Stoff meit weg von fich, zeitlich und räumlich, ind Jahr 1820 nach Schottland. Um von diefer Entfernung noch zu feben, läßt er feine Spieler überlebendgroße Worte und Geften machen. Aber die große Entfernung der arbeitenden Hand zum Stoff läßt ihn verfpefti- viihe Verfürzungen und Verlaͤnge⸗ rungen unter die richtig Diftanzierten Augen ded Zufchauers bringen. Die olge ift ein Gewirr von verrenften liedmaßen.

Der erite Anfang eined Dramas, Alles Gelefene, hier wirdd Ereignis. Hedda Gabler, Salome, Dumas; deutihe Biederkoͤchinnen, in der Gartenlaube gepflüdte Fleine Kinder. Außerdem Hofmannsthal und, nicht zu vergeflen, Shafefpeare.

Und nicht zuvergeffen: Mel. Wäre die Handlung nicht, die ‚Pächterin von Litchfield‘ wäre ein tiefes, ſchweres Stud Seele, aud dem redlidhen, fruchtnährenden Aderboden emporge= wachen, menſchgewordene Erde.

Died aber ift die Handlung. Die Gräfin Dlivia bat fo einen Grafen zum Mann, daß des Mannes Sefre- tär der Gatte wird. (Oder ift viel- leicht gar nicht der Graf, fondern nur die Gräfin daran ſchuld?) Entdeckung, legte Liebesnacht. Der Sefretär foll der Geliebten den Gefallen tun, die

Liebe in Schönheit fterben zu laffen, das heifit: er foll ſich erſchießen, ohne weitern Grund. Das tut er nicht, fondern er heiratet ein Stuͤck Erden- feele in einem Landmaͤdchen und wird Pächter von Lichtfield. Seßhaftigkeit nennt das die Gräfin, die aber feine Sehnſucht nach der Scholle hat. Mar Mell bat fie um fo ftärfer, und auch ih befam fie zu fühlen. Nach ſechs Jahren fommt die Gräfin dem Se- fretär auf den Schwindel. Nun foll er fid) dennody erfchießen. Aber es wird nur eine vergnügte Liebesnacht daraus. Die Pächterin verzeibt, der Pächter William Ellid bat das Leben wieder, nachdem er die Gräfin, oder beffer, fie ihn nicht mehr bat. Die Paͤchterin befommt noch ein Kind zu ihrem erften, dad das ganze Stuͤck mit feinen dummen Wißen verdarb. Es gibt noch Inhalt in dem Stüd, tatfächlihen und pfochologifchen. Alles ſchlecht gut. . . . Gefpielt wurde, im Kleinen Theater, daß ſich die Feder weigert, daruͤber Tinte zu verlieren. Anna Feldhammer als Graͤfin gab eine hyſteriſche Koͤchin, Frau Fehdmer war ernſt und hilflos. Nach Herrn Lettinger, der den Paͤchter gab, muͤßte das Stuͤck, Der Schuſter von Fitchfield‘ heißen. Victor Tausk

Die Preſſe

1. Wildenbruch: Die Rabenfteinerin 2. Mell: Die Pächterin von Fitchfield Voſſiſche Zeitung

1. Wenn die Kritif daß verwidelte Gewebe diejer ‚Rabenfteinerin‘ auf- dröfelt, fo gerät fie vielleicht an dieſen oderjenen Faden, der derrechten Faͤhig⸗ feit enträt; aber über ſolche Zweifel bilft der ftarfe Blut- und Gefuͤhls— firom binmweg, der in diefem feden Ritterſtuͤck von Menſch zu Menſch flutet und das teilnehmende Gemüt mit fich fortreißt.

2. Alles wäre ganz ſchoͤn und natür- ih, wenn die Leute ſich nicht mit fo

439

ſchwuͤlſtigem Gefchnad, dad mehr ald einmal vom Erhabenen ins Laͤcherliche gleitet, um die einfadhften Lebens dinge berumredeten. Das Stüd erhält ſich gegen den gemeinften Verftand, gegen die gebietendften feelifhen Wahrheiten durch Worte, Worte, Worte.

Berliner Lofalanzeiger

1. Dem Lejer mag das alles recht abenteuerlic klingen, Wildenbruch aber bat e8 mit der ihm eigenen Kraft ver- ftanden, die Gefhebniffe wirffam und überzeugend audzugeftalten und durch die feite, lebendvolle Zeichnung der Charaftere zu begründen. Nicht alles ift ihm gleichwertig gelungen, durch das Ganze aber gebt eingroßer drama- tifcher Zug, und bis zur Fleinften Epifode berab trägt jede einzelne Geftalt eine eindringlich charafteriftifche Färbung. Die oft bewährte Kunft Wildenbruchs, die Zuhörer uͤber alle Hinderniffe hin⸗ weg fortzureißen, ift ihm auch in Diefem Werk treu geblieben.

2. Im erften Aft zeigen ſich einige Anſaͤtze zur Charakteriſtik, die Erpofition iſt ganz gewandt, vom zweiten Akt an bleibt aber alles in ungelenfem An= fängertum fteden. DieNebenperionen find von einer felbft bei Anfängern feltenen Dürftigfeit ; unangenebm ift, wie zu Beginn ded zweiten Aftd ein paar Unanftändigfeiten gewaltfam in den Dialog eingezwängt werden, viel- leicht um Zeit und Ort zu charafteri- fieren. Mit Ausnahme des flinfjährigen Bob fpricht in dem ganzen Stuͤck fein Menfc einen natürlihen Satz; der Dialog gebt meift auf Steljen.

Nationalzeitung

1. Das Stuͤck dichtet in die poetiſch fo dankbare Zeit der Raubritter-, Buͤrger⸗ und Bauern-Ummälzung, in das fozial erſchuͤtterte Deutfchland des Luther⸗Jahrhunderts, eine dramatiſch und auch theatraliſch ſehr wirkſame romantiſche Maͤre hinein. Mit allen Effekten, die in dem Stoff nur ent⸗

440

halten fein können, hat Wildenbruch re. ſich theatralifh emporranfen laſſen.

2. Die erotiſche Kümmernis Mag Mells hat ein Pubertätömerf erzeugt, dad balb Empire, halb Biedermeier fetn ſoll, das gleich allen Stüden folder Art eine uͤberhitzte, nicht deutlich wer⸗ dendeSprade aufwendet. Eine ſeeliſche Unmoͤglichkeit ſtuͤtzt drei Akte nicht, im denen die Menſchen gefliſſentlich an- einander vorbeireden, in denen manches fhöne Bild zu hören ift, in denen aber meift lieblihe Unbildlichfeit, pſycho⸗ logifche Sprungbaftigfeit das Gebte- tende find.

Berliner Tageblatt

1. Er ift auch dDiedmal wieder der ‚alte‘ Wildenbruch. Aber ic muß bin- zufligen, daß der poetifche Gebalt des neuen Werkes mir ärmer als fonft oft zu fein ſcheint. Nur felten blüht aus dem Mund der Geftalten ein Wort, von dem man fagt: Dad Wort ift von einem Dichter geſprochen. Auch der foziale und gedanklihe Inhalt des Merfed muß ſchwach genannt werden.

2. Das Stüd ift nichts ald eine große Seifenblafe, eine Menge bier und da recht bunt fchillernder Redens⸗ arten um ein Nichts. Ein Konflikt, der feiner ift, fo febr der in Ibſen, Sudermann, Wilde und einigenandern gut belefene Autor ihn auch erflügelt bat, wird durch Worte, viele Worte und gro je Worte zu einem fröhlichen Ende geführt, an das niemand glaubt, dad ganz plößlich hereinbricht, weil die Zeit des Theaterabends um ift. Deutſche Tageszeitung

1. Wildenbruch gleicht nun einmal einem feurigen Meiter, der die Schwierigfeiten der Nennbabn nicht ganz fennt und gelegentlich bligfchnell eine niedrige Hürde genommen hat, wo wir eine fleinerne Mauer faben. Aber mit gleihem Temperament ftürmt er fort, um und Dann unerwartet Durch

die fpielende Schönheit und Höhe des Sprunges über ein ftarfed Hindernis zu überrafchen. Diefe Frifche, Zugend» fraft und Naivetät ift ed, die an ihm immer wieder ſympathiſch berührt und an ihn feffelt.

2. Herr Mell fommt einem wirklich vor, wie ein Siüngling, den das Mofterium des Lebens und Liebens, das Nätfel Weib mit zu tiefen Sphing- augen angefeben bat, und der glaubte, dad der Welt nicht vorenthalten zu follen. Aber wir wollen nicht einfach verurteilen; wer mit fo großen Kinder⸗ augen dad Leben anfchaut und fo rübhrend einfah von feinen Rätfeln ftammelt, bei dem ift doch beides mög- lih: Entweder er hat einmal im Irr⸗ garten der Mufen geflndigt; und läßt ed. Dder aber, er bat doch noch eine Entwidlung und Zufunft vor fid.

Berliner Börfencourier

1. Der heiße Atem echterfeidenfchaft, ein kraftvolles Reben verrät fid) in dem Werk, das echte ſtuͤrmiſche Wildenbruch⸗ Temperament. Die Sprache, die an den Ton der Raubritterzeiten des ſechzehn⸗ ten Jahrhunderts anklingt, mutet oͤfter wie Richard Wagnerſcher Tert an.

2. Mells Stüuͤck iſt eine Anweiſung auf die * Wo dieſe freilich liegen wird, ob auf dem Boden der Drama⸗ tif, ob auf dem der Lyrik, das ent⸗ fcheiden zu wollen, ift nach diefer einen Probe ſchwer. Hilflofe Anfängerfchaft reicht feinem Empfinden die Hand, Erbabenes paart ſich mit Laͤcherlichem ein Tappen ift da und ein Taften, ein Suchen und Greifenwollen. Und erhaſchen die ungelenfen, ungelibten Finger ein Zipfelhen vom Rechten, fo wiffen fie ed nicht zu bilden und zu formen. Nicht fo zu bilden und zu formen, daß es mit der Kraft des reifen Kunftwerfö zu und fpricht.

Die Poſt 1. In der ‚Rabenfteinerin‘ ſtrebt Wildenbruch wieder ganz nad) ftarfen

äußern Wirfungen, die feine Gegner gern mit dem verädtlihen Wort ‚theatralifch‘ bezeichnen. Und in der Tat gebt er darin auch jeßt noch zu= weilen über alle Schranken hinaus, fteigert die Worte ind Schwülſtige, bringt diefeidenfchaften bi8 zum Siede⸗ punft und häuft die Effefte manch⸗ mal derart, daß gerade jeder Effekt aus bleibt.

2. Eine Frau wollte Mell zeichnen, die alles verſteht, alles verzeiht, alles entſuͤhnt, alles laͤutert, alles zum Frieden bringt, dem Tode das Recht und die Macht nimmt, dem Leben zu Recht und Macht verhilft. Und das iſt ihm mit der Paͤchterin von Litch⸗ field, der ſchlichten Frau, in uͤber⸗ rafchender Weiſe gelungen. Freilich ift der Dichter ganz in diefer einen Geftalt aufgegangen und bat die übrigen reichlich falopp und oberfläch- lich behandelt.

Berlinee Morgenpoft

1. Auch dieſes Stüd feheint mir mißlungen. Scheint nicht den Nerv in ſich zu tragen, der ed über furze Wochen hinaus lebensfaͤhig macht. Die Rabenſteinerin‘ wirft nur wie eine vaterländifhe Erzählung für die deutſche Jugend.

2. Herr Mel liebt die Wortfpiele. Seine Perfonen reden alle nur in Apboridmen. Kein natlırliher Satz firömt aus ihrem Mund. Als einziges bervorzuhebenifteinGefühl für drama⸗ tifche Momente, flır eine Spannung, die (im erftenAft) etwas erwarten ließ. Sie ift mit folder Wunderfinder- geſchicklichkeit hineingefeht, daß man bei vielem Fleiß und guter Fortbildung auf diefem Gebiet von dem Autor noch etwas erwarten Fönnte.

Taͤgliche Rundfhau

1. Hier ift die ewigsjunge Glut des Dichterd geläutert, wie felten in einem Werk von feiner Hand, ja fie gerade erhebt die Dichtung und und.

444

Bon großer Innigkeit find die Liebes⸗ fjenen, mit echtem ftillem Humor ift die Geftalt des alten Welfer gezeich- net, mit feiner Wirklichfeitätreue der alte invalide Knecht Nunnenmacher. Der Gegenfat zwifchen den Leuten der Mitterburg und der reichen Han⸗ delsſtadt ift ebenfo geſchickt heraus⸗ gearbeitet, wie der zwiſchen dem Emp⸗ finden der Maͤnner und Frauen. 2. Es verlohnt vorerſt nicht, ſich den Namen des neuen Buͤhnenſchrift⸗ ftellerd einzuprägen. Ebenfo ſchnell wie er auf einen duͤnnen Beifall hin nah dem zweiten und dritten Alt zwifchen den Kuliffen zur lächelnden Verbeugung bervortaudte, ebenfo ſchnell möge er einftweilen wieder ſich zurlchjieben, aber nicht in das wiener Riteratencafe, ſondern in Gottes freie Natur, etwa mit einem Band Goethe oder Shakeſpeare in der Hand. Vielleicht kann er dann in einigen Jahren beweiſen, daß er doch imſtande iſt, aus dem unklaren Nebel der Phraſe, der ihn heute noch um⸗ büllt, herauszutreten in die klare und gefunde Wirflichfeit der Dinge.

Breuszzeitung

1. Der leichte Anflug der mittel alterlihen Sprade und die gefchidte Beimifhung von fozialen und folo- nialen Ideen, wie fie auch unfre Zeit bewegen, gibt dem Stuͤck einen be= fondern Reiz. Aber dad Lebendige und Ruͤhrende des rein Menſchlichen, dad über alle Zeiten erhaben iſt, bildet doch die ftarfe Unterftrömung ded Schaufpield, deflen binreißend lebendiger Zug die FJubörer un⸗ widerfteblich mit fich fortriß.

2. Es find weder verftändliche Menſchen noch verftändlihe Schick⸗ ſale, die uns gezeigt werden, und ſelbſt die Heldin des Stücks, die in einzelnen Zügen menſchlich warm ge⸗ faßt ift, bleibt eine unmögliche Figur.

Der Tap

1, Bon Wildenbruchs Dramen ift die ‚Rabenfteinerin‘ die allerlegte Dich- tung, gewißlich die allererfte, die jungfte an Geſinnung und Gemüt, und wenn man ihn fonft gern den Poeten des Studentenberzend nannte, diedmal hat er feine Magierfreife noch weiter ge⸗ zogen und alles, mad Tertianermwelt und Sefundanerluft ift, in Bild und Wort gegoffen. Mit roten Baden und glübenden Augen fpielt er Räuber und Gendarm mit unfern Buntbemüßten.

2. Weder Fülle noch Würze hat diefe Poefie auf leiſes Literatenkom⸗ mando in fi. Hier ein Hauch von befonderm Aroma, da ein parflimier- ted Gerlchlein; bier ein grufeliges Thema, aber nur wie im Traum an- gefchlagen, dort ein bischen Liebes- ſchwuͤle und krauſe Sexualität: aber faum irgendwo gelingt es, bei viel» verteilter Begabung im einzelnen, die raſchen Einfalle wie die glüdlihern Ideen mit zäher Kraft zu einem ein- beitlihen Gebilde zufammenzufaffen und in Wahrheit energifch zu ver- dichten.

Vorwärts

1. Wenn man dad Ganze ſich vom Schluß ber noch einmal vergegen- wärtigt, nimmt fich die Gefchichte wie eine jener fattfam befannten, mit mög« lichſt kraſſen Abenteuern und Edelmut bis oben vollgefpicten ‚Erzählungen fiir die reifere Jugend‘ aus.

2. Was die Bezeihnung des Stuͤcks als Komoͤdie fol, ift völlig unver- ftändlih. Dem Autor müßten denn feine Figuren felber komiſch vorge». fommen fein. Für die Geſtalt der damonifchen Gräfin hat Hedda Gabler, für die prätentidfe Bilderfprache des Dialogs wohl Hofmannsthal Modell geftanden, jedenfall find der Norweger und der Öfterreichifche Dichter bier mit. der gleichen Unparteilichfeit parodiert.

———— ———— ———— Verantwortlich für die Redaktion: Siegfried Jacobſohn, Berlin SW. 19 Berlagvon Deſterheld & &o.,BerlinW.15 Drud von Imberg & Leffon, BerlinW.9

* * —RR null. —RWR ut um: 2 vun L 3 vuv. wur?

2. Mai 1907 N II. Jahrgang Yıummer Js *

Vom Kulturwert ded Theaters/ von J. Bab

enn einer, um die Bedeutung der Biologie befragt, nur zu erwidern

wüßte: fie liefert dem Sozialphilofophen fo prächtige Vergleiche!

oder wenn einer die gefellfchaftlihe Matur des Bauernftandes definieren wollte: er ftellt die brauchbarften Soldaten! fo würden wir von der logifchen Kraft des Urhebers folder Antworten eine herzlich geringe Meinung befommen. Nicht weil er an ſich Falfıhed gefagt hätte, fondern weil er eine relativ zufällige Beziehung zum Ariterium eines Begriffs erhoben bat, eine Beziehung, die nicht das Wefentlihe des erörterten Begriffs berührt, nicht dad Weſen, zu deffen Fixierung der Begriff gefchaffen wurde. Man verlangt, daß jeded Ding und jeder Begriff erfaßt, erklärt, gewertet werde nach den Kriterien feiner eigenen Kategorie; dag man nicht eine wirtfchaftlihe Inſtitution um ihrer militärifchen Leiftungsfähigfeit, eine Arznei um ihres Nährwertd, ein aftronomifches Inſtrument um feiner Schönheit willen lobe oder tadle, daß vielmehr wirtfchaftliche Produftivität, Heilkraft, wiſſenſchaftliche Zweckmaͤßigkeit die Dinge feien, durd die jenes Weſen erkannt und bewertet werde. Geltfamermweife ift diefer logifche Nein- lichfeitsinftinft ftarf in der Entwidlung zurlcigeblieben allein auf dem Gebiet der Kuͤnſte. In bedenfliher Huldigung hat man dem liberverftändigen Weſen der Kunſt ſoviel moftifhe Verehrung und fo wenig ehrliches Nachdenken gewidmet, daß der Intellekt unfrer Gebildeten bei Kunſtbetrachtungen noch beute vielfach den einfachen fachlichen Reſpekt, die ſchlichteſte logifche Kon- fequenz außer Acht laffen fan. So glaubt man auch etwas Rechtes und Nichtiged zu fagen, wenn man den Kulturwert ded Theaters immer wieder mit den religiöfen, politifchen, moralifhen Wirfungen erflärt, die von der Schaublhne ausgehen fönnen. Und doch: follte eine Kunftinftitution nicht Anfpruch haben, nad ihren Fünftlerifhen Wirfungen bemeffen zu werden? Wirkungen, die denn doch nad Urſache, Art und Ziel entfchieden anders find ald Predigt, Belehrung und Sittenlehre, und an deren Dafein und Daſeins berechtigung man eben a priori glauben muß, wenn man vom Kufturwert einer Kunftart überhaupt fprechen will. Das gefährlihe Wort

443

vor der; Schaubuͤhne als moraliſcher Anſtalt· bat freilich Schiller geſchaffen Aber Schiller war chen hierin völlig Sohn der Aufflärungdeit, dag ihm dad Moralifhe der Generalnenner war, auf den jeder infommenfurable Bruch der Lebenskraͤfte gebracht werden mußte, wenn man mit ihm über- baupt follte vechnen koͤnnen. Uns find inzwifchen die andern großen Offen» barungsformen des Menfchengeiftes felbftändige Kategorien geworden. Wir wollen und Kunft fo wenig wie Religion mehr ind Moralifche uͤberſetzen, wir wollen fie in ihrer ganz unvergleichlihen Eigenart verftehen. Und fo bat es für unfern Denf- und Sprachgebrauch auch feine Berechtigung mehr, die Rulturleiftung des Theaterd im Moralifchen zu ſuchen. Bat die Schaus bühne wirklich Fulturelle Kräfte, Kräfte, die unfer Leben reicher, tiefer, barmonifcher machen, fo müffen fie äfthetifcher Natur fein, das heißt: fie müffen aus den Kunftformen der Bühnenfunft, aus den feelifdhefinnlichen Wirkungen des Schaufpielend erſchloſſen werden fünnen. | Mehmen wir doch einmal an, dad Theater wäre mwirflid ein fo. unver gleichlich guted Sprachrohr des politifchen Moraliften. Nehmen wir am; der Wert ded Theaters erfchöpfte fich wirklich in der Möglichkeit, für gute foziale Ideen die denfbar ftärkfte Propaganda zu machen. (Was ich uͤbrigens bezweifle: Hat dad Theaterftüd vor dem Zeitungsblatt vielleicht. die. höhere Intenſitaͤt, fo ficher die Zeitung vor der Szene die höhere Neinheit und Klarheit des Gedanfenausdrufdd voraus. Denn, fobald die moralifche Wirkung ald eigentliher Sinn der Bühnendarbietung proflamiert ift, muß fehr vieles Afthetifch unbedingt Erforderte als läftigesd, ablenfendes Beimerf erfcheinen.) Aber felbft wenn ed wahr wäre, daß ein Theaterabend für politifche Aufklärung etwa mächtiger wirft ald eine entfprechende Anzahl an die Zuſchauer verteilter, gut verfaßter Flugblätter beilfamfter Tendenz: wäre damit ein Kulturwert des Theaters erwiefen? Keineswegs! Nichts wäre damit bewiefen ald der Kulturwert politifcher Aufflärung, und das Theater wäre dabei ein Inſtrument, ein Verbreitungswerkjeug, das völlig auf einer Stufe mit der Schnelldrudpreffe, die die Flugblätter berftellte, rangiert. Eine Schnelldrudpreffe aber ift wirtfchaftlich hoͤchſt ſchaͤtzbar und fulturell durchaus indifferent, weil fie Schädliches und Heilfames gleich gut druct. Wäre dad Theater nichts ald ein Schallrohr, durch dad Geifteäwerte politifcher oder ethifcher Art in die Welt tönen fünnen, fo wäre es nur ein Stüd der Technik, fo wäre das Theater an ſich Fulturell indifferent. Schon Hebbel hat gefagt, daß man die Flöte, fofern man überhaupt Mufif für erfprießlich halt, nicht nach ihrem Wert ald Brennmaterial abfhägen kann. Es handelt fi um die Eigenſchaften, die fie von jedem andern Hol; unter« ſcheiden, um die Formen dieſes befondern Holzes, Formen, die Luftſchwingungen erweden fönnen, welche unfre Sinne, unfre Seele erregen, weldhe und Mufikfunft heißen. Man fann dad Theater nicht ald Publifationsmittel andrer Inhalte werten, es nicht durch den Vergleich mit Kanzel, Nednertribine, Zeitung loben oder tadeln; man muß die einzigartige geiftige Kraft erfennen, die jenen fomplizierten Formen entftrömt, welde und Theaterfunft beißen,

444

Um die pſychiſche Wirkung. ded: Theaters zu bewerten, muß man. von der Form der Darbietung, : nicht: vom dargebotenen Inhalt ausgehen: Auch da iſt noch eim Itrtum, daß das Theater: ald Nefonanz: Dramatifcher Poe ſie feine fulturelle Bedeutung. habe: Allerdings: ein Irrtum feinern Grades: Den wenn dad: Theater: der Morallehre mm im: Widerftreit mit feinen äfthetifihen: Lebendbedingungen: und: in. recht: fragwuͤrdiger Weiſe dienen kann, fo iſt e& dem Drama das: natürliche und: ftärffte Publikationsmittel. Die dramatifhe Poeſie iſt der Inhalt, mit dem: und an dem dad Theater erwuchs: e& kann alſo ohne: Schaden film: feinen: Organismus ihr dienen. Aber fo wenig. mie dad Theater: heute nod das einzige Publikationsmittel des: Dramas ift; for: wenig. wirft: das. Theater: mur oder wefentlih als Schallrohr der dramatiſchen Boefie:. Gerade: der feinfte,; phantafievolifte' Genießer wird an der: Lektüre eines hervorragenden Dramas oft: mehr Genuß baben ald an dev: (fo. felten feine Vorſtellung erreichenden) Theateraufführung;. und jeder ehrliche Thenterbefucher wird fichgeftehen muͤſſen, daß manche der ftärkften, tiefſten Künfterlebniffe; die er. aus: einem Bichnenhaus forttrug, ganz: ohne Beihilfe: Deamatifcher Poeſie geboren wurden, daß der Tert des Theater- ftädlemacherd mehr dad zu nehmende Hindernis als den Inhalt des Kunſt genuffes bildete Der heute allzu häufige: Verfuch, die Werte ded Theaters und der dramatiſchen Literatur einfach zu identifizieren; tft alſo durchaus; verfehlt. Gewiß, dad Zuſammenwirken beider Kimfte mag ein Ziel aufs innigſte zu wimfchen fein. Der: gute.Gefchmad wird die Theaterkunſt ſich lieber an Shafefpeare: ald an Sudermann entfalten: ‚fehen,. wie man eine koͤſtliche Spenge lieber: auf einen ſchoͤnen als auf einer gemeinen Stirn fieht.. Aber die. dem: Goldſchmuck durch feine Form eingeprägte Schönheit: bleibt letzten Endes: von: der: Perſon ded Trägers doch ganz: unabhängig und kaun dat ſich recht‘ fongentrierende. Auge uͤberall erfreuen: und erheben. So bat bie: Thenterfunft: eine eigenlebendige Schoͤnheitsmacht, die: von ihrem dramatiſchen Subftrat im: Tiefſten doch ganz unabhängig iſt. Wenn alſo das Wirkfam- machen dramatifcher Poeſie eine Kulturleiftung der Sheaterfunft ift, fo doch num eine fefundäre, feine: eigentliche, eine, die dem Weſen des Theaters wohl: entfpricht; es aber nicht erfhöpft. Die Flöte. wird hier nicht: mehr. ald Brennholz, aber doch nur: als Begleitiuftrument: flır ‚einen Gingenden: gewertet, während fie. doch ihre seigentlihe Schoͤnheit in den Liedern ent faltet, die: ihrem Holy ſelbſt zu: entloden: find;

Eine 'gam; eigene: Melodie, eine: nur. ihren einzigartigen formen ent- ſtroͤmende Wirkfamfeit lebt auch in den Theaterfunft, diefer organifhen Ver⸗ bindung ‚mehrerer Künfte, in. deren Mittelpunft: dad Werk ded Schauſpielers ftebt,: um: das: ſich aber die Arbeit des Blihnenarchiteften, ded Buͤhnen⸗ malers, des Regiſſeurs und: andrer mehr verfammelt. Zum Verſtaͤndnis der beſondern Fulturellen: Leiftung ‚diefer Kunſt glaube: ich jetzt, nach Aus⸗ der uͤblichſten Irrtuͤmer, den: Weg frei. gemacht: zu haben:

Die- Schaufpielfunft, die ja dem: Lebendnerw:ded ‚Theater‘ benannten: Kunſtkompleres ausmacht; iſt die. Urkunſt. Sie hat dad Kunſtwerk noch nicht:

445

vom Künftler in ein objeftivierendes Material projiziert, fie haftet noch am Körper des Schaffenden. Nicht aus einer Abftraftion der

aus den blos optifchen Zeichen ded Malerd, den nur afuftifchen des Mufikers, den fprachlichen des Dichters ift das Werk des Schauſpielers gebaut: hinter ihm ſteht noch ein volllebendiger, atmender Menſchenleib, dad Material des Schauſpielers ift ein im ganz andern Sinn natürliches ald das vergleiche- weiſe abftrafte Material des Malerd oder des Dichter. Es braucht nicht durch die Phantafie des Beſchauers ergänzt zu werden, ed drangt fich ihm in feiner runden Lebendigfeit ald etwas unbedingt Wirfliched auf. Und obfchon der Leib des Schaufpielerd in der Rolle ja fo wenig ald Lebens⸗ realität wirft, wie die Farbenmaſſe auf der Leinwand, obſchon der dargeftellte Mero ja auch nur durch Fluge Zeichenfegung erzwungenes Phantafieproduft ift: weil die Zeichen bier in einem lebendigen Leib gebildet werden, erzwingen fie einen ganz einzigen Grad von Mitgeriffenheit, von Illuſion. Das Theater ift die illuſionsſtaͤrkſte Kunft und ift deshalb diejenige Kunft, die den Menſchen am frübeften ergreift: den Knaben, dem ein Bild noch leer, ein Gedicht nad)

tot iſt, ergreift und erfchlittert ſchon dad Theaterſtuͤck. Und eine Wolfsfchicht,

deren Geift den ſchwerer faßlihen Künften noch nicht gewachfen if, fann durch dieſe primitiven, ftarfen Suggeftiondmittel ſchon gepadt und aus der -mübfeligen Welt der Wirklichfeit in das feelenerlöfende Freiland der Kunſt

geführt werden. Deshalb ift das Theater die Kunft der Maffe, und damit

gewinnen wir ſchon Ausblick auf einen Punft, von dem aus dad Theater wirflich etwas fulturell ganz Befonderes, nur ihm Mögliches leiften fann.

Indeſſen, Fünftlerifhe Wirfung beruht nicht nur auf Illuſion. Sonft wäre die fo oft fatale ‚optifhe Täufhung‘ der Betrachtung eines Bildes, eine böchft unangenehm aufregende falfche Nachricht einer; genußreich zu lefenden Erzählung gleih. Kunft ift genoffene Illuſion. Diefer Genuß wird aber nur gerwährleiftet durch einen im Unterbewußtfein fortwirfenden Empfindungs- fteom, der mir die Nicht-Wirflichfeit ded Dargeftellten garantiert. Der Moment, wo ich den Dolchſtoß auf der Buͤhne für einen wirflichen bielte, würde meine genießende Teilnahme in Panik verwandeln: das auf bloße Illuſionsweckung ausgehende Panoptifum mit feiner Schredendfammer ift die Nichtfunft zar’ä&oyiv. So fehr die Kunft, um lebendig und wirkſam zu bleiben, ſich hüten muß, in ihren Motiven und Inhalten je den Zufammenbang mit der Wirklichkeit zu verlieren, fo fehr muß fie, um Kunft, feſtlich erhöhtes Leben, zu bleiben, ſich hüten, in ihren Formen je völlig wirklich zu fcheinen. Eine Sicherung, die jened Genuß garantierende ungedachte Wiffen um die Illuſion wach erhält, muß im jeder Kunftform liegen. Und merkwuͤrdiger Weiſe ift bei der illuſionsſtaͤrkſten Kunft, beim Theater, auch diefe illufiondhemmende Sicherung am brutalften, unuͤberſehbarſten ausgebildet. Der ganze fo zweck⸗ voll erbaute Bühnenraum, die (trog allen naturaliftifhen Irrwegen) nie ganz täufchende Deforation, vor allem aber dad Zuſammenſein mit ſoviel andern, zu einem vorber angefagten Spiel verfammelten Menfhen das gleichfalld den primitiven Urfprung diefer vom Volföfeft gefchaffenen Kunft

446

a

der Maflenefftafe bezeugt all das find Hemmungen, die und unausgeſetzt den Spiel-Charafter des Vorgangs nicht bewußt, aber doch gefühlt erhalten, und. die felbft den ungehbten Genießer nur fehr felten dem Irrtum ver- fallen laſſen, durch den der Ungebildete ein Gemälde als bloße ‚Abbildung‘, ein Gedicht ald blogen ‚Bericht‘ eines Wirklihen aufnimmt. (Ein Irrtum, der jeden rechten Kunftgenuß unterbindet.)

Wenn Kunft alfo ein Ruhen im Gleichgewichtspunkt von Illuſionszwang und Illuſionsloſigkeit ‚Notwendigkeit und Freiheit‘ fagten die Metaphyſiker) ift, fo wird diejenige Kunft am meitgehendften, am populärften fein können, bei der die beiden polaren Kräfte am robufteften, am derbften befchaffen find. So aber ift die Kunft ded Theaters befchaffen. Ihre Erſcheinungs⸗ form ergibt, daß fie wirffam und genießbar fuͤr Kreife werden kann, in die die andern Künfte noch nicht einzudringen vermögen. Sie gibt die erfte, fruͤheſte Möglichkeit, Menfchen der Kunft zuzuführen: dies fcheint mir der Kulturwert des Theaters.

Mer deshalb wuͤnſcht, daß recht bald recht viele Menfchen den erd- ablöfenden, alltaglıberwindenden, adelnden Zauber der Kunft empfinden lernen, der muß ein freund der Bühne, vor allem der Volksbuͤhne fein. Nicht weil das Theater Lehren verbreitet, nicht weil ed dramatifche Gedichte vor« führt, fondern weil es felbft eine Kunft, und zwar die leichtfaßlichfte aller Künfte ift, deshalb ift das Theater ein Kulturfaktor.

Sapphifche Dde/ von Felir Braun

er weiß den Tag, da feiner Kindheit freundliche Stadt mit allen Häufern und Gärten eingefunfen ift in dad grundlos tiefe Meer feiner Seele.

Dod wie Fiſcher einmal an dunfelm Abend

der Stadt DE verfunfene Gloden hören,

fo erlaufcht zu erlefener Stunde ein Träumer feltfames Laͤuten.

- Und das Wunder geſchieht: ed fteigen langfam - Meime auß feiner Bruft und locken neue; halten ſich wie fpielende Kinder, lächelnd, leiht an den Händen.

Bilder tauchen funfelnd empor und loͤſen

der verworrenen Klänge ernftes Mätfel,

wie der Mond das Dunfel fchweigfamer Mächte | aufhellt und deutet.

447

Aglavaine und Selyfette ie zwei Menfhen, die: Maeterlincks Dichtung den ſchoͤnen Mamen D gegeben haben, find Frauen, aber nicht Muͤtter. Das iſt kein Zu⸗ Fall, Ein Rind würde bet der, die es gebar, und bei dem, der es jeugte, einen Körper vorausfegen. Maeterlintks Geftälten find entkoͤrpert. Sie haben eine Großmutter. und eine Schweiter, aber weder find fie, noch baben fie Eltern. Sie fommen aus dem Märchen .ber. Sie erleben in einem. Märchenfchloß, in einem Märchenparf, an einem Märchenweiber, auf einem Märchenturm ein einfaches Maͤrchenſchickſal der großen, verwandelnden, entfagenden, ‚verflärenden und verklärt opfernden Liebe. Daß dad Märchen einen Konflikt, eine Entwicklung ıdiefed: Konflikts und eine Kataftrophe bat, ‚macht ed, aller Handlungsarmut zum Trotz, dramatifch. Das Seelchen Selyfette, die arme Heine Selyfette, die ihren Meleander auf ihre kindlich abnungslofe Art geliebt bat, muß ihn zu Aglavaine hinuͤbergleiten ſehen. Aglavaine ift fchöner, fpricht weife und ſcheint groß. Es iſt nicht ihr Wille, Meleander ausfchließend zu befiten. Ihr Kuß gilt, wenn nicht -der ganzen Welt, fo doc -der ganzen Gemeinfchaft diefed Schloſſes. Der. Mann tft ihrem deal nicht reif.. Er wird Schuld, daß Selyfette leidet. Leiden macht tief und. ftark und frei, felbft fol ein Kleines Ding wie Selyſette. Das Seelen wird fi in feiner Mot des rechten Wegs bemußter, ald alle programmatifch Eluge und zufunftäftolge Lebensfuͤhrung ſich je werden könnte. Es tut, wovon die andern nur fhönreden. Aglavaine ſieht, daß ſie fein Glüͤck gebracht hat, und fpielt mit dem Gedanfen, den Ruͤckzug anzutreten. Selyfette führt den Gebanfen aus. Sie räumt ſich aus dem Weg und legts mit Umſicht darauf an, den Todesſprung ald Unglirdsfall-erfcheinen zu laffen. Daß alles ift nicht weiter neu. Manch altes Märkhen endigt fo. Maeter- lin wollte ja aber auch gar nichts andres fagen, ald daß fi) dad Leben der Geele in ein paar einfachen und unverändert immer :wiederfehren- den Grundempfindungen, wie Sehnſucht, Liebe und: Treue, erfchöpft. Am reichften if, wer fie am innigften durchfuͤhlt. Am reichſten ift die arme Fleine Selyſette. Bor ihrer vopferfreudigen Selbftlofigfeit ſteht alle hochgemute Geiftigfeit leer und befihämt, Meleander felbft befennt zum Schluß: „Meinft Du, daß wir etwas »verftehen, was Du nicht ver- ftebft? Ach, meine arme Selyſette, der Unterfchied tft fo klein, wenn wir den Dingen auf den Grund gehen.” Maeterlinck ift ihnen auf den Grund gegangen und hat das Ergebnis in ſpinnwebduͤnnen Vorgängen und zarten, herzlichen und ſchlichten Worten and Licht gebracht. Wer ſich zuerſt im Buche überzeugte, wie winzig die Begebenheiten von. fünf großen Akten und wie über alle Maßen breit und. zahlreich die Geſpraͤche find, mußte für eine

448

Darftellung ‚viel flirten. Wer nach der Aufflihrung der Rammerfpiele abermals zum Buche greift, ſteht noch erflaunter vor einem Wunder hoͤchſter ‚Megie« und Schaufpielfunft.

Die Aufgabe war ſchwer und mannigfah. Unwirklichen Borgängen war ſoviel Faßbarfeit zu geben, daß unfer Anteil erregt wurde, und doc nicht :fowiel, daß der Maßſtab der Realität im Kraft -tretem konnte. Langen Sägen. von ziemlich gleichfoͤrmigem Inhalt mußte ſoviel von ‚ihrer Ein- tönigfeit genommen werden, daß unfer Intereſſe wachblieb, und doch nicht foviel, daß etwa Maeterlindd befondre Melodie verloren ging. Es galt, „mit dem Bild der Bühne den Ton der Schaufpieler zufammenzuftimmen, umd das Bild fonnte bei aller Einfachheit nicht fhön genug, der Ton bei aller Laut⸗ loſigkeit nicht wohlflingend genug fein. So weit diefe Aufgabe von Neinhardt ‚allein zu löfen war, ift fie luͤckenlos und wahrhaft vorbildlich geläft worden. Dichte, ſchwere, hohe Plüfchvorhänge in dunfelm Rot fchnitten von links nad) vechtd ein ſchmales Stud Bühne ald ein Gemach ab, ließen durch einen reihtedfigen Mittelausfchnitt im Hintergrunde einen zweiten teil- und ſchließ⸗ baren Vorhang feben und riefen durch dieſe und andre Öffnungen, die auf Gänge, in. Säle und ind Freie führen modten, den Eindrud eines un- beimlihen, weitverzweigten alten Schloffes hervor. Was für dad Schloß die dunkelroten Plüfchvorhänge, taten bellgrüne Laubflore für den Park, in dem man fich mit ähnlicher Wirkung aud in allen Richtungen Wege denfen fonnte. ‘Die echtefte Maͤrchenſtimmung wurde lebendig, wo in ſolch einem Stuͤck Park hinter einer Marmormaner ein Weiher fühlbar ‘war. Sonne, Mond und Sterne in allen ihren Nacht und Tagesſtadien uͤber⸗ goffen oder: uͤberhauchten die Landfchaft mit matten oder bunten Farben⸗ übergängen. Dad Auge trank fi fatt. Auf flnf Akte glüdlichfter Stili- ‚fierung kamen nur drei Szenen regelrechter Deforation. Der Turm war beidemal ein Zurm und Selyſettes Schlafjimmer ein Schlafjimmer. Aber auch darauf lag volle Poeſie. Die Mufit ded Worts war fehmieriger zu treffen. - Maeterlind ift felber an Mufif des Worts fo reich, daß ein Komponift wie Claude Debuffy durch melodramenartige Vertonung ein Merk wie ‚Pellens und Melifande‘ hoͤchſtens drmer machen fann. Die Mufif der menfchlihen Spredftimmen wird hier mehr erreichen ald Orchefter und Gefang zufammen, wenn die Stimmen nur einzeln fo gefehult find und ſymphoniſch fo herrlich tneinandergreifen, wie es in den Kammerfpielen der Fall war. Selyſettes Sopran, Dffalined Mezzoſopran, Meligranes tiefer Alt und Meleanderd Bariton übten für fi und im Verein eine Wirkung, die auch ohne dad Verftändnid des gefprochenen Worts Fünftlerifh ſchoͤn und rein gewefen märe. Aglavaine ift da nicht ohne Abficht weggelaffen worden: Fräulein Heims mar die einzige in der Aufflihrung, die mit allem rühm-

449

lihen Bemühen den Ton nicht traf, nicht den mufifalifhen und nicht den geiftigen Ton ihrer Rolle. Sie ſchien nicht immer verflanden zu "haben, was fie fagen follte, weil fie es fonft micht bätte fo laut fagen fönnen, und wenn einmal die Stärfe des Tons etwas micht ſchlecht machte, machte die unverfennbar berlinifche Klangfarbe es ganz gewiß fchlecht. Das war eigentlich empfindlicher ald das Weſensmanko. Wir ftehen ja diefer Aglavaine von vorn- herein mit größerer Sfepfis gegenüber ald ihr Dichter, und da ihre wort- ‚verliebte. Weisheit vor Selyfettes ftiller Herzendeinfalt doch zu ſchanden werden fol, kommts auf ein bischen früher oder fpäter nicht mehr an. Man war denn fchließlic auch zufrieden ‚daß Fräulein Heims ſich wenigſtens ‚in das malerifche Element der Vorftellung durch Schönheit der Geftalt und der Gemwänder einordnete. Man durfte zufrieden fein, denn für die Seele der Vorftellung war durch die Eyfoldt Über jeglihe Erwartung wunderbar geforgt. Man begreift nad) ihrer Selyſette noch weniger ald vorher, warum diefe Frau in ausfichtölofen Experimenten ſich gefährdet und gefährden läßt. Hier war einmal die Außerfte und innerfte Vollendung felbft Ereignis. Aus diefer Kehle kam ein Komert von Tönen, dem nicht anzumerfen wer, daß es das feinfte Frauenhirn in feiner Wirfung Flug und fcharf ‚berechnet hatte. Unmittelbarflem feelifhen Erleben fchien jedes Wort entfprungen. Einzelnen Eyfoldt-Sägen war aud früher mit Bewunderung beizufommen. Hier aber fagt fie einmal: „Du gehſt morgen fort.” Sie fagtd zu Aglavaine und legt unmerfli in zwei Wörter Freude, in zwei andre Wörter Schmerz über Aglavained Scheiden, verwifcht nicht nur diefe Kunflfertigfeit, fondern auch noch die Runftfertigfeit des Verwiſchens und treibt mir Tränen in die Augen. Denn bier ift nicht nur die deutfche Sprache von ihrem Gewicht befreit und zu allen mufifalifhen Künften des Zwitſcherns, des Ängftens, des Fieberphantaſierens tauglich gemacht worden: bier wimmert ein Heined Menſchenherz, das ein großes Menfchenher; werden will, wie in Geburtöwehen. Die Eyjoldt trifft auch die todbereite Größe Selyſettes. Aus ihrem Kinderförper leuchtet die Ahnung eines beldenhaften Opfers, dad fie auch in ihren Wunden flarf und ftandhaft macht. Wenn die Bühne folhen Wirkungen verfchloffen bleiben muß, weil Maeterlind an fpannender und abwechslungsreicher Handlung zu wünfchen uͤbrig läßt, oder weil er jelbit im feinern Sinne fein Dramatiker ift, fo ftimme ich für das umgefehrte Verfahren: unfre Begriffe von den dramatifchen Wirkungen zu erweitern und dem ganzen. frübern Maeterlind die Bühne oder doch Die Kammerfpiele einzuräumen. Diefes eine Haus zum mindeften foll man nicht gebaut haben, um den Haufen nach bergebrachter Weiſe zu entzücken, fondern um für die Fleinfte und intimfte Minderheit „neue und fühne Melodien zu erfinden“,

450

Moderne Sflaven/ von einem Clown Sechs Kapitel Schaufpielerelend

v Abhilfe

an achdem ich meine Unterſuchungen fo weit geführt und gezeigt habe, N daß die Urſachen der heutigen beiſpielloſen fozialen Rage des Schau⸗ fptelerftandes 1. die ungeheure Überproduftion 2. der völlige Mangel einer Organifation 3. die Unmöglichkeit, bei der eigentümlihen Zufammenfeßung des Standes ohne Zwang zu einer geeigneten Rampforganifation zu gelangen 4. der Mangel jeglicher Schußgefeßgebung von feiten ded Staats

find, bleibt nur noch die Frage zu erörtern, ob diefem Übel gefteuert werden fann, und welches die Wege bierzu find. Daß alle Mipftände des Vertrags, der Perfonalergänzung, der Agententätigfeit, der Gagenverhältniffe, wie fie in den vorhergehenden Abfchnitten gefchildert wurden, abjuändern find, ohne daß deswegen auch nur ein Theater eingehen müßte, liegt auf der Hand und bedarf feiner weitern Unterfuhung. Viel ſchwieriger ift Die Frage, wie die Wirkungen der Überproduftion an Schaufpielern und die Einflliffe der Zufammenfegung ded Standes paralyfiert werden fünnen; wie das fünftlerifche Moment, welches mie ich gezeigt babe fo ftarf ift, dag ed das wirtfchaftlihe Moment erdrüct, von dieſem lodgelöft werden könnte, ohne daß diefed Moment gefchädigt würde, und wie vor allem eine freie Diskuſſion all diefer ragen ermöglicht werden fann.

Die fehr einfahe Antwort, die grundlegende Loͤſung ift folgende:

Da aus dem Vorbergefagten zur Evidenz hervorgeht, daß zur Wahrung der Intereffen aller wirtfchaftlih Schwachen eine Organifation unentbehrlich, ift; da aber gleichzeitig erwieſen ift, daß dieſe Organifation in diefem Falle ohne Nötigung nicht gefchaffen werden wird fo zwinge man durch Gefet alle Bühnenmitglieder, ohne Ausnahme, eine Genoffenfhaft zu bilden, und gebe diefer Genoſſenſchaft das Recht, bindende Verfligungen für alle ihre Mitglieder zu erlaffen.

verftehe dies folgendermaßen. In Öfterreich find, zum Beifpiel,

alle Arzte, alle Nechtdanwälte, vom Tage ihrer Diplomierung an, ohne jegliche rmalität, laut Staatögefeg, Angehörige der in ihrem Kreife beftehenden rizte⸗ oder Anwalts⸗Kammern. Diefe Kammern haben lıber alle Standes- fragen zu entfcheiden, können Steuern erheben und felbft den Verluft des Diplom audfprehen. Sie werden vom Staat beiallen ihren Stand betreffenden

451

Fragen gehört und vertreten in jeder Weife die Intereffen dieſes Standes. Die Vorftände diefer Kammern werden von den Mitgliedern gewählt umd von der Negierung beftätigt. Dasfelbe ſchwebt mir für unfern Kal vor. Jeder Bühnenkünftler wäre von dem Tage, da er dad erfte Mal ein Engagement annimmt, laut Reichsgeſetz Mitglied einer Schaufpielerfammer, deren eine oder mehrere, etwa drei, zu errichten wären, und zwar für Süd-Deutfhland, Weft- und Nord-Deutfchland. Die Vorftände wären alljährlih wählbar, und außerdem hätte jährlich ein Delegiertentag ftattzufinden, an welchem die Vorftände gewählt und Maßnahmen beraten würden, wie dies heute ſchon von der beftehenden Genoſſenſchaft geſchieht. Wodurch fid) die neuen Kammern jedoh von der Genoffenfhaft unterfchieden, wäre zunaͤchſt der Umftand, dag ihnen alle Bühnenmitglieder ohne Ausnahme anzugehören hätten, und die Beltimmung, daß ihre Verfligungen auch unbedingte und bindende Geltung für alle Mitglieder hätten. Dadurdy würde eine geeignete Organifation zum Schut der Kuͤnſtler vom Geſetz gefhaffen, und es läge troßdem durch genaue Abwägung der Rechte diefer Kammern in der Hand der Gefeßgebung, ihnen fein einfeitiged Übergewicht im Kampf mit dem Bühnen: Verein zu geben. Diefe Kammern hätten zunächft ftatiftifched Material zu fammeln zur genauen Feftftellung der Lage ihrer Mitglieder. Sie fünnten als unperfönliche Ver- tretung der Gefamtheit eine wirkungsvolle Agitation zur gefeglichen Feſt⸗ legung eines Theatervertragd entfalten und auch darüber wachen, daß die Vertragsbeftimmungen nirgendd umgangen würden. Sie könnten ihrer Mit- gliedfhaft verbieten, durch andre ald die von ihnen autorifierten Vermittler oder zu böhern ald den von ihnen beftimmten Vermittlungsgebühren ab- zufchliegen. Hierdurd und durch Feftfegung von Minimalgagen je nad) der Größe des Theaters wuͤrde dem fehamlofen Treiben der Vermittler ein Ziel gefegt und aud die Wirfung der wirtfchaftlihen Konfurrenz und der Über⸗ produftion beträchtlich gemildert*). Ihr Gutachten wäre bei jeder Vergebung von Hof- und Stadt-Theatern ſowie bei Ronzeflionderteilungen an Privat» direftoren zu bören, damit ſich Fälle nicht wiederholen, daß Männer, die unter einem Sturm von Entrüftung ein ganzes Perfonal von Hunderten von

*) Wie bereitd erwähnt, befteben in der Sommerfpieljeit (Mitte Mai bis Mitte September) faum halb fo viel Theater wie im Winter. Es fönnen daher auch nur die Hälfte der vorhandenen Schaufpieler im Sommer Beſchaͤftigung finden. Aber infolge diefed den Bedarf doppelt überfteigenden Angebotd werden die Gagen fo weit herabgedruͤckt, daß oftmals eine Eriftenz- möglichfeit Faum mehr vorhanden ift, troßdem die geleiftete Arbeit im Sommer meit größer und weit anftrengender ift ald im Winter. Es werden mitunter an Damen Gagen von 60 bis 120 Marf monatlid) in großen Badeorten gezahlt, und dafür miüffen noch die eleganteften Toiletten angefchafft werden. Die Konfurrenz der Scaufpieler untereinander und die Mitwirfung der Agentenfonfurrenz hat diefe traurigen Folgen, die eben nur durch Feſtſetzung von Minimalgagen dur die Kammern je nady der Größe der Theater zu befeitigen wären.

452

Menfchen uͤber Nacht brotlo8 gemacht hatten, nad) zwei Jahren die Intendanz eines Hoftheaters erlangen, oder daß Direftoren, die faum die nötige Kaution für den Eigentlimer des Theaters zur Sicherftellung der Miete aufbringen fönnen, ohne weitere® ein ganzed Perfonal engagieren, um es bei ſchlechtem Geſchaͤftsgang (laut Vertrag: ſowie die Einnahmen die Ausgaben nicht dedfen) auf die Straße zu feßen und troßdem wenige Monate fpäter in einer andern Stadt von neuem beginnen. Die Anwendung und Auslegung des einmal vereinbarten Vertrags bliebe nicht mehr der demütigenden Gnade und Willklr eined Direftord überlaffen, da jeder Direktor, der die Beſtimmungen des Vertrags zu wiederholten Malen umginge oder willkuͤrlich auslegte, gewärtigen müßte, nach Erörterung des Falld vor einem Schiedögericht zwifchen Buͤhnen⸗ Verein und Schaufpieler-Rammer, von diefer mit dem Boykott belegt zu werden ald Gegengewicht gegen den Boyfott der Direktoren, der freilich nicht fo Öffentlich geſchieht. Die Kammer hätte dad Recht, von ihren Mit- gliedern eine jährliche Steuer zu erheben, zur Dedung ihrer Ausgaben und zur Haltung einer Zeitung, wodurd die freie Diskuſſion gemährleiftet würde, ohne daß die Direktoren ed wagen koͤnnten, einen Künftler wegen feiner Meinung zu boyfottieren. Durch die Erteilung ded Rechts, dag Mitglieder, welche ihren Anordnungen zuwider handeln oder fid) gegen die fünftlerifche Standedehre vergehen, mit den ftrengften Geldftrafen belegt und in der Zeitung Öffentlich gebrandmarft werden dürfen, wuͤrde auch der künftlerifche Konfurrenzfampf auf ein fauberered und der Würde ded Standes angemeffeneres Niveau gehoben werden,

Der gefeglihen Megelung bliebe dann noch die Schaffung eines allgemein gültigen Vertragsformulars Überlaffen, falls zwifchen Kammer und Bühnen- Verein binnen einer gewiffen Zeit feine Einigung erzielt würde; ferner die Beftimmungen über die Alteröverforgung der Künftler und die Verteilung ihrer Laften zwifchen Unternehmer und Künftler, wodurch die beftehenden lofalen Penfiondkaffen*), die heute auch nur Daumfchrauben in der Hand

rer“r“eĩ” rß⸗

* Es iſt ſeltſam: ſogar die Wohltat wird heute in den Händen der Direktoren zum Verhaͤngnis. Die oͤrtlichen Penſionskaſſen, wie ſie an den meiſten Hof⸗ und groͤßern Stadt-Theatern feit einer Reihe von Jahren beſtehen, ſind zweifellos als große Wohltat fuͤr die Kuͤnſtler gedacht, denen ſie es ermoͤglichen ſollen, ſich fuͤr ihr Alter neben und unabhaͤngig von ihrer Genoſſenſchafts⸗Penſion noch eine oder zwei andre Penſionen zu erwerben. Man erhält die Penfiondberechtigung an den verfchiedenen Theatern nad) ſechs⸗ bis zehnjähriger ununterbrodener Zugehörigkeit zum Inſtitut. Die Beiträge ſchwanken zwifchen zwei und vier Prozent des Gefamteinfommens und find von jedem Angehörigen des Theaterd unweigerlich laut Vertrag zu bezahlen. In der Prasis der Direktoren wird aber diefe Wohlfahrts⸗ einrichtung zum Spefulationdobjeft. Jeder Kuͤnſtler verpflichtet ſich begreif- liherweife lieber an ein Theater, an dem er fi) eine Penfion erwerben fann, ald an ein andres ohne diefen Vorteil; dad gibt von vorneweg fchon einen Köder ab, um die Mitglieder billiger zu erhalten. Doc wäre dies noch

458

der Direftoren find, in Wegfall kämen; unbefchadet jedod der gegenwaͤrtig beftehenden Penſionskaſſe der Bühnen-Genoffenfchaft, welcher beizutreten nad) wie vor jedem Bühnenmitglied freiftinde. Was diefer Penfiondfaffe min an gnädigft gefchenften Benefizen und Beranftaltungen entginge, wäre reichlich durch die gefeglichen Beiträge der Direftionen zur allgemeinen Alteröverforgung aufgewogen. Auch die Feftfegung der Arbeitszeit flr Proben und Vorftellungen muͤßte glei) jedem andern Gewerbebetrieb der gefeßlichen Regelung vorbehalten bleiben.

Alle die Leute, die heute in ſchmaͤhlicher, erniedrigender Weife fi) Gnaden von der Gunft einzelner Tyrannen erbetteln müffen, würden durch die Schaffung von Künftlerfammern und der genannten geſetzlichen Beftimmungen zu freien Menfchen, würden im Bewußtſein ihrer Stärke und ihres gewährleifteten Rechts mit „erbobenem Haupt durchs Leben geben und die veredelnden Wirkungen einer edeln Kunft felbft erfahren und verbreiten. Ein Ziel, aufs innigfte zu wünfchen! Gewiß werden ſich gegen diefe Vorfchläge mannigfache Einwendungen erheben laflen,“.dody mahen fie auch feinen Anfprud auf Vollſtaͤndigkeit. Es follte nur bewiefen werden, daß alle die aufgeworfenen Probleme zu loͤſen find, fobald;man ihnen mit dem feften Willen dazu u. und es foll in allgemeinen Umriffen der Weg gezeichnet werden,

der zur Loͤſung führt.

eine verhältnismäige ——— ömweife, wenn Die in Ausficht geftellte Penfion nicht ein Trugbild wäre. FRlırden alle abgefchloffenen Verträge zur Penſi ung”und zur Penſions zahlung führen, fo wäre die Kaffe bald banferott. Man bilft fi, indem man dort, wo die Statuten ſechsjaͤhrige Zugehörigkeit zum Inſtitut fordern, lauter fünfjährige Verträge außftellt, welche dann in den allerfeltenften Fällen verlängert werden. Dort wo fiebenjährige Zugehörigkeit zur Penfions tigung erforderlich iſt wird zuerft ein dreijähriger Vertrag auögeftellt, der auf drei Jahre verlängert

wird, oder auch ein fünfjähriger, der nur auf ein Jahr verlängert wird, und fo weiter. In diefen Fällen bat dad Mitglied dann, Fe von der getäufchten Hoffnung und den flr die Alteröverforgung verlorenen langen Jahren einen materiellen Verluſt von jährlih 150 bi8 200 Mark, wenn wir nur eine Sahreögage von 5000 Mark annehmen. Bei Sängern mit geoßen Gagen ift der Verluſt natürlich ein weitaus bedeutenderer e. beläuft

ich oft auf Taufende, da von den eingezahlten Beiträgen fein Knopf zurlidferftattet wird. Das ift eine Praris, die foftematifh und fonfeguent fogar an Hoftheatern allererften Ranges gelibt wird. Nun fenne ich noch einen Fall und wer weiß, wie viele ich nicht fenne wo der Direktor die Penfiondfaffe fpftematifc dazu benutzt, denjenigen Mitgliedern, welche ſechs Jahre bei ihm tätig waren, im fiebenten Jahr, mit dem die Penfi ond- beredhtigung eintritt, einen Verlängerungsvertrag mit Fleinerer Gage als im erften Jahre anzubieten, i in der fihern Voraudfegung, daß niemand. deöwegen feine Anfprühe auf Penfion aufgeben wird. Unter ſolchen Umftänden -muß ein Buͤhnenkuͤnſtler feine Alteröverforgung erwerben wenn ihm died über« baupt gelingt!

454

Einafter von Strindberg| von A. Polgar

indberg hat feine Zeile gefchrieben, in die ſich nicht ein leiſes Echo vom Lärm des eigenen Lebens verfangen hätte. Seine Kunft ift ‚nicht reduziertes, fondern potenzierted Leben. Eine trockene, Fühle, glatt artiftifhe Spiegelung der Menfhen und Dinge gibt feines feiner Bücher. Und dies ift auch Grund der Iodernden Subjeftivität, der wilden Ungeredtigfeit feiner Werke: daß nie in ihnen fein Ich die fpiegelnde Fläche flır eine bewegte Welt bietet, fondern fletd die Welt den Spiegel flır fein bewegte Jh. Er, der fi) von der Mot feined Herzens, feined Hirns, feiner Nerven, felbit feined Verdauungstraktes in heftigen Geftändniffen befreit, er, der fortwährend beichtet, befennt, fi) von der Seele ſpricht, ſichs leicht madt, von der Scham des Medend gefchlittelt, doch von der Wolluſt des Nicht: mehr-fhweigen-müffend begluͤckt er wird nie frei, nie leicht, nie erlöft, nie ruhig. Mit dem ‚Abreagieren‘ durdy die Kunft ift es nichts bei ibm. Weil ibm das Erlebnis mit all feinem Leid und feiner Wonne, feiner Hoffnung und feiner Kataftrophe eigentlich nichts gilt und alled der Jwang, der zum Erlebnis führte, der triebhafte Urgrund, der Muß im Blute; deffen Wirfen man fennt, ohne fein Wefen zu fennen; deſſen Gefe fi im Erlebnis nur wie in einem ſchoͤnen oder bäßlichen, glänzenden oder fhmußigen Kriftall ausformt. Alle Feffeln find Spielerei nur jene unfichtbaren nicht, die aus den eigenen Nerven geflochten. Immer ift nur von diefen bei Strindberg die Rede. Und am häufigiten von jenen, die den Dann dem Weibe verfetten.

Das Weib ift flr Strindberg die Summe aller bindenden, einengenden, in jeder Beziehung: nad) dem Mittelpunft zerrenden Kräfte. Der Mann das zentrifugale Prinzip: alles Ermeiternde, Ausbreitende, ind Große, Ferne Strebende ift in ihm. Eine Harmonie diefer Iwei⸗Kraͤfte⸗Prinzipien gibt ed nur, wenn fie ſich das Gleichgewicht halten, das heißt: in der Gleichgliltigfeit. Ihre Disharmonie bedingt den ‚Rampf der Gefhlechter‘. Und ‚Liebe‘ nennt die erotifche Terminologie Strindberg® ein Uberiwiegen der bindenden, ‚Haß‘ ein Uberwiegen der nach außen ftrablenden Kräfte. Das Widerfpiel diefer beiden, ihr Gegen» und Miteinander, ihre Spannung und ihr Kampf: das ift das unendlich dehnbare, dad nie zerreißbare Meb, darin Mann und Weib mehr minder heroiſch zappeln. Bei Strindberg wird es zur Einfachheit ſchlechtweg: ‚die Ehe‘ genannt. Und im falfhen Zirkel dreht ſich die erotifche Logik: Nur wer dad Weib liebt, hat Grund, dad Weib zu baffen. („Die Liebe ift der Rod” heißt ed einmal im Band „und der Haf dad Futter darin.) Den ‚Weiberbaffer‘ wobei man glei) an einen Sadländerfchen Feldwebel denkt, mit riefigem Schnauzbart, mit unendlider Vorliebe fir Pulverdampf, Tabaf und Schnaps den Weiberbaffer nennt eine alberne Vokabel der Meporterpfochologie Strindberg. Aber er ift ein fanatiſch das Weib Liebender. Ein Mann, dem Ströme der Zärtlichkeit durdy die Seele fliegen um ftetd wieder nur die Mühlen des Haſſes

4556

und der Wut zu treiben. Diefem Verhängnis grübelt er nad. Darliber redet er unabläffig; davor flüchtet er zur MWiffenfchaft, in die Welt der Pflanzen und Steine, wo die Tatfachen feine moralifchen oder Afthetifchen Schatten werfen; in die Natur, wo daB Wechfelfpiel von Freſſen umd Gefreſſenwerden fo ſchoͤnen Rhythmus und fo farbige Melodien hat, daf im mufifalifhen Nervenrauſch der Intellekt fir Augenblide zuflappt; in dad majeftätifhe Schweigen der Hiftorie, wo die großen Brüden uͤber die brodelnden Suͤmpfe menfchlihen Wollen und Duldens, menſchlicher Triebe und Leidenfchaften gefpannt find. Die Dichtung aber ift ibm ein Fünft- lerifched Experimentieren mit und nad den Formeln feines Leidens. Da nun verläßt ihn oft die Ruhe des Geftalterd und Forſchers. Die Han, die dad Thema formen follte, ballt fi zur Faufl, die dad Thema einfach verprügelt. Wer genauer zufiebt, dem fcheint es allerdings oft, als fchließe der Dichter nur die Fauft, um gemwaltfam die unmännliche, fentimentale Gebärde des Händeringend zu unterdruͤcken. La charge, c'est une fuite en avant.

Die drei Strindberg-Einafter, die dad wiener Theater in der Zofefftadt jegt fpielt, find Beiträge zur ‚Pathologie der Beziehung zwifchen Mann und Weib‘. Zwifhen dem Typus Mann und dem Typus Weib, nicht zroifchen befonderd gearteten Individuen. Alle drei Afte haben Größe, weite Per⸗ fpeftive, zeugen von der Meifterfchaft des Dichterd, mit einem Minimum an Handlung ein Marimum an Wirfung zu erzwingen. Das ‚Band‘ vor allem ift ein chef d’oeuvre, ein Mufter dramatifcher Kleinplaftif, voll Leben und Spannung; Melandholie und Nefignation laften nächtig über der Szene, und, wie um dad Dunfel dunkler zu machen, bliten bie umd da die zweifelhaften Laternchen menfchlihen Intellekts auf, um fofort wieder haltlos au verfladern. Es werden gleihfam alle Lichter aufgeftedt, die einen Menfchen durchs Wirrfal geleiten koͤnnten: die Überlegung, die Angft, das Gewiffen, die gemeinfchaftlihen Intereſſen, die unempfindfam-praftifche Vernunft aber im Sturm erlöfchen alle. Die Unmöglichkeit, zu richten zwifhen Mann und Weib, hat Strindberg bier in einem wahrbaftigen ‚Nichter zwiſchen Mann und Weib‘ perfonifiiert, einem jungen Mann, der, noch nicht abgenligt vom Automatidmus ded Rechtſprechens, noch nicht in der Nichterfunft gelibt, ‚Menfchenleben zu zerfchmettern wie Eier‘, vergeblih nah einem Halt taftet, der feinem Urteil Stuͤtze gäbe. Praͤchtig ift die dDreimalige Steigerung in diefem Aft, das dreimalige Sih-Duden der Haß-Beltie, die im Namen aller menfehlichen Heiligfeiten zur Ruhe befchworen wird, im Namen der Überlegung, ded Geſchmacks, der Würde, der Notwendigfeit, ded Kindes umd doch immer wieder allen Zanberfprüchen trotzt. Klarer, prägifer als in diefem ‚Band‘ hat Strindberg nie uber das Elend der feelifchen Abhängig- feit vom Weibe gefprochen, in der der phyſiſch, geiftig und materiell uͤber⸗ legene Mann die beften Teile feines Lebens verknirſcht. Und heftiger nie die Liebe verfluht. Manchmal, wenn von dem finftern Zwang die Rede ift, der Mann und Weib aneinander fehmiedet, deffen Magie jeden Verſuch

456

|

der Röfung nur zu neuer Verftridung nuͤtzt, manchmal hat diefed Drama in feiner Anklage gegen die ‚Natur‘ eine faft biblifhe Strenge, ein Pathos von folhem Ernft und folder Würde, daß e8 hoch Über allem Brand wie von dunfeln Gloden dröhnt, die Ahnungslofe aus dem Schlaf wecken follen. Hier zeigt der Dichter auch flarfen Willen zur Gerechtigkeit, und manche Wendung ded Dialogs zwingt den anklägerifhen Mann in die Nolle des Beichuldigten. Aber die Gerechtigkeit hält nicht lange vor. Das feftere Pathos, die beffer geölte Dialeftif find immer beim Manne; alles Erfennen des Ubels ift bei ihm, alle Güte, alle Ruhe, alle Fähigfeit zur Diftanz. Seine Wut noch bat eine Art Mufif und feine Gemeinbeit einen Schimmer von Größe. Um die fhönfte Wahrheit des Strindberg-Weibed aber ſchwebt noch ein Hauch von Lüge, und auch, wo ed am fchärfften fieht und erfennt, mifcht der ftocblinde Inftinft feine Ummweidheit darein... Man mag bie Magnetnadel fo weit drehen und fo heftig fchwingen laffen ald man nur will fie fehrt doc, ſtets zu ihrer firen dee: Morden zurüd, ‚Mutterliebe‘, ein Aft, in dem nur Frauen agieren. Und doch ift der Mann Held des Spield. Sein Anteil Fämpft in der Seele des Kindes gegen den Anteil der Mutter. Gegen feine Logik, feine Würde und fein Höberftreben tritt die fordernde Mutterliebe mit der ganzen tlıidifchen Phrafeo- logie der Weibliebe auf: mit dem Verlangen nad) Dank, Schonung, Rüdficht und Verzicht und mit dem, alled beffere Willen wegägenden Argument der Tränen. Dad Gefpräd zwifhen Mutter und Tochter mutet manchmal an wie eine fanftere, entgiftete Form des Gefpräch der Eheleute in ‚Kameraden‘. ‚Die Stärfere‘; eine merfwirdige Szene, ein Dialog, bei dem die eine Perſon ftumm bleibt, gleichfam ein Prinzip, eine Abftraftion, eine Idee dar- ftelft. Die Idee ded höher gearteten, perfönlihern Menſchen mit aus- geprägtem Willen und eigenem Gefhmad. Und dad Drama ift: daß der Mann nicht den menſchlichen Qualitäten einer Frau unterliegt, fondern ihren Qualitäten ald Weibchen. Bon der flärfern, mwertvollern Frau wendet er fi) ab und beugt das Knie vor dem findlihen, dem animalifhen, dem weib- lihern Weibchen. Jene ift die ‚Stärfere‘, aber diefe ift die Siegerin. Es ift auc) ein ewiged Strindberg-Problem, diefed Gewurztwerden des ftärfern, ergiebigern Menfchen, diefes Hinüberfchleppen geiftiger und feelifcher Werte eined Individuums auf ein andred (wie hier der Gefhmad und die Paffionen der Madame E. auf Madame D.), das mit beftigern erotifchen Reigen zu Ioden weiß. Nur ift es fonft bei Strindberg immer der Mann, der, nach⸗ dem er feine Ideen und feine Art an eine geliebte Frau verfchenft bat, diefe Zeichen feiner ureigeniten Perfönlichfeit fpäter bei einem andern tiefer- ftehenden Dann wieder finden muß, den jene Frau mit der feelifhen Beute aus ihrer erften Beziehung (Ehe) gleihfam ausftaffiert hat... Der lange Monolog, aus dem diefe Szene befteht, bat einen prachtvoll ftarfen Ton, vibriert wie eine flraff gefpannte Saite. Und es ift bewundernswert, in wie knappen, faft zu oͤkonomiſch abgewogenen Saͤtzen dad Weſen dreier Menfchen und ihrer Beziehungen bier ind Breite und Tiefe audgefaltet wird.

457

Diieſe prachtvolle Knappheit, diefe harte, Fonzentrierte, nirgends lyriſch aufgequollene Form ift der hoͤchſte Afthetifche Reiz der Strindberg- Dramen. Mirgends wird ihr ftrenged Ornament bluͤmelig unterbrochen. Und doch ift feine Spur von Steitheit oder Kälte in diefen Dramen von manchmal gan; adfetifcher Technik. Wie eine Stichflamme fchlägt oft dad Temperament des Dichterd aus dem Dialog, verrät die Gewalt und Hitze feined Empfindens. Sp ift auch feine piychologifhe Methode: feine Menfchen reden wohl von fich felbft, ‚wenden‘ ihre Seele, denunzieren fi), aber nicht in langwierigen Kommentaren ihres Ich, fondern indem ihre Art triebhaft, elementar, jäh- lings vorbligt. Seine Menfchen find, fo typiſch fie find, doch immer hoͤchſt bedingte Menfchen; fie Fleben feit an dem natürlihen und fozialen Boden, dem fie entwuchfen, tragen gleihfam, wie Nodinfhe Bildwerfe ein Stüd Felſen, noch einen Teil ded Nohmateriald an fi, aud dem fie geformt wurden. Herrlich ift die Strindbergfhe Sprahe. Ein erjened Gefäß, tanglih für ein Empfinden von folder Vehemenz, dag unter feinem Druck jede andre, weichere Form ins laͤcherlich Breite außgebogen werden müßte. ‚Kraft‘ heißt das eine, ‚Flle‘ dad andre Genie-Feihen, das jedem, auch) dem mißlungenften Strindberg-Werf aufgeprägt if. Der Dichter ift ein Peſſimiſt; denn Erkenntnis bedeutet flr ihm nicht Erlöfung vom Leide, fondern Erfchmwerung des Feidend. Das Erkennen madt feine Menfchen nicht feſt, entfchloffen, groß; fondern knickt fie, macht fie baltlos, fchlaff, verzweifelnd. So bringt. auch das befte Ende ihrer Kämpfe doch immer nur die Miederlage. Aus feinem Afthetifchen Intereſſe an allen dieſen Kämpfen ward Strindberg der Beruf zum Dramatifer. Fir Hieb, Stich, Wunde und den Lärm des Krieges hat er einen fat gierigen, genialen Blick und ein fcharfed Ohr. Kampf fieht er liberal, Und dag überall gefämpft werde, fcheint ihm mit Motwendigfeit durch der Dinge innerfted Geſetz geboten zu fein: die Chemie der Dinge ift ihm die tieffte Tragsdie der Dinge.

Judenſtücke von Willi Handl

a8 berliner Kleine Theater hat fein bisher recht ruͤhmliches Gaftfpiel

mit dem ‚Ghetto‘ von Heijermans eröffnet. Ich glaube nicht, da

ed noch notwendig ift, bier etwas Fritifch Entfcheidendes uͤber dad Stud zu fagen. Wir find und wohl fiber die beftimmenden Qualitäten einig und können wohl, über die differenzierten Einzelheiten weg, auf die allgemeine Formel zuruͤckgehen: Naturaliftifche Schablone mit betont fubjef- tiver Wahl des Stoffes. Heijermans, ein Jude und Milieufchilderer, fchildert ein Milten von Juden. Weil ed fi) gerade trifft und auch, weil ihm befonder# daran liegt. Es ift empfundened Milieu, von innen fo gut ftudiert, wie von außen. Wer felbft darinnen wurzelt oder ihm mit ererbten Er- immerungen nahe genug fommt, dem ift die immanente Tragif dieſes Milieus fo felbftverftändlich, daß ihn das bloße Aufzeichnen und Herzeigen zu feinem

458

perfönlihen Runftwerf führen fann. Da fehlt dad Pathos der Diftanz, und das Geſchaffene wird flach, wie diefed ‚Ghetto‘.

Es genügt nicht, irgend ein Jude und irgend. ein Schriftfteller dazu zu fein, um dad Drama ded modernen Juden, dad Drama des modernen Ghettos mei Seiten einer tragifhen Sahe zu erfhaffen. Dazu müßte einer nicht nur feinen Geift, fondern geradezu die Raſſe in fi fo ſtark und fo gläubig kultiviert Haben, daß ihm in großen, feierlichen Ahnungen ihr inneres Gefeg offenbar würde, Untergang, Sieg und Entwidlung unter höhere Motwendigfeiten geftellt. Das hieße aljo, Tatfachen, in die wir felber tief verftrict find, die und halten und und bedrängen, in denen wir mwurzeln und in denen wir erſticken, die und flärfen und und vergiften, die und ver- feinern und jerreiben, die und empfindlich und die und hyſteriſch machen, die und quälen und mit denen wir und quälen in einem großen, geſchichtlich ausgleihenden Blick überfchauen. Ich wüßte faum einen, der genug Ruhe und Fülle hätte, um fo auf feine, auf unfre, auf die jlingft vergangene und die eben fommende Welt zu fchauen. Die andern aber, die jetzt Zuden- ftüde fchreiben, begnügen fid) doch immer damit, zu zeigen, daß die einen recht haben, aber die andern auch, daß ed Gute und Schlechte, Kluge und Dumme, Ernfte und Lächerlihe unter den Juden gibt, wie Überall. Und da man doch ald Schriftfteller mehr fuͤrs Moderne ift und der Aufklärung was fhuldig zu fein meint, fo haben fie meift ihr Tendenjchen gegen die Aſſimilation bin und verlegen den Kampf geiftig ganz an dad Tor des Ghetto, dad die einen meit aufreißen, die andern aber Angftlih zubalten wollen. Ein Kampf, den die Mafchinen und die moderne Geldwirtſchaft über jeden menfchlihen Willen hinweg längft entfchieden haben, und deflen legte Scharmüel, die noch da und dort in minderfultivierten Winfeln der Erde geflihrt werden, vielleicht hart und blutig, aber nicht groß und nicht beifpielfräftig, fozufagen nicht europäifch genug find, um uns zur Einftlerifch geformten Hiftorie der Gegenwart, alfo zum Drama von zeiterbellender Bedeutung, zu werden. Darum bedeuten auch Tfchirifowd ‚Juden‘ nicht mehr ald ein fchreiendes Gemälde, das uns in der Nähe gewilfer Ereigniffe wohl aufregen, aber und nie über die Konflikte, die ed bewegen, zu einem böbern, verföhnenden und vernichtenden Geſetz hinaufheben kann. Es ift dad Mitleids-Drama eines Chriften; und Mitleid darf nur Frucht, nie Wurzel dramatifcher Lebendäußerung fein.

Viele haben aud begriffen, daß das alte Ghetto, dad Ghetto in den Städten, in den Wohnungen, in den Wirtfchaften bis auf wenige hiftorifche Überrefte aufgehoben und ausgelüftet fei; daß aber irgendwo im menfch- lichen Denfen, im menfchlihen Fühlen die Mauer zwifhen Zude und Nichte jude, ftarf und hoch wie mir je, fortbeftehe. Und daß außerhalb ein jeder Jude allen Gefahren der Verfennung, der Beratung, der Vernichtung aus⸗ geſetzt ſei. Diefe Mauer nannten fie: Vorurteil. Und meinen damit wieder einen Irrtum des Geiftes, unbegründet, nicht zu entwurzeln, feiner Aufs klaͤrung zugänglich, aber immer nur im Geift, in den verftodten Köpfen,

: 459

die fich dem Wegriff der Gleichheit verfperren und das Ghetto der Geifter feindfelig aufrichten aus purem Unverfland, Diefes ‚Neue Ghetto‘ der Gedanfenfaulheit, der moralifhen Yndolenz, des Vorurteils hat Theodor Herzl gezeigt. Auch hierin fonnte nicht das große, das repräfentative Drama ded modernen Judentums gegeben fein, fo fehr ed immerhin ein Flar erfanntes und ftarf geformtes Stüc feiner Leidendgefchichte war. Aber Leiden an fich find noch nichts Tragifched; erſt der gefeßmäßige Beweis ihrer Notwendig- feit macht fie dazu. Und gerade darin bat ed Herzl in der Exaltation feines uͤbervollen Herzens arg verfeben. In diefem neuen Ghetto, wie er es fiebt, find die Leiden der heutigen Juden gerade das Unnötigfte, das Überflüffigfte, was es gibt, Produft eines willfürlichen Srrtums. Die Tenden; fommt bier von der andern Seite; aber fie fommt nicht weniger verderblich über dad Drama.

Mein. Micht zwifchen ihm und den freunden, fondern in feiner eigenen Seele fpielt das große, das repräfentative Drama ded modernen Juden. Es erwaͤchſt aus dem Kampf der Raſſe, die ihm eingeboren ift, mit einer Kultur, die diefe Raſſe nicht gefhaffen hat. Die Kräfte und Werte diefer Kultur, die fein Verftand begreift und fein Urteil abfhägt, num aud zu den Kräften feines Blutes zu machen, mit denen er fi in feiner heutigen Welt ſeeliſch ganz einwurzeln kann, da ift feine tragifhe Sehnfucht. Tragiſch darum, weil ihm bei alledem fein Inſtinkt gebietet, dad Gefühl feiner Raſſe nicht aufzugeben, bei ſich felbft zu bleiben, wo er doch ſtuͤckweis im andern aufgehen muß. Denn es rede und denfe nur einer in der Sprache eined beftimmten Volkes und behaupte dann noch, er koͤnne diefem Volk und dem Atem feiner Kultur völlig fremd, ein Eigener von gänzlich verfchiedener Naffe bleiben. Kein Zude und fein Chriſt wird ed ihm glauben. Aber die Begeifterten der Affimilation, die frohlocken, weil fie ſchon zu befigen glauben, was fie nur begriffen und, angftooll bewundernd, erftrebt haben, find getäufcht, wie jene. Dieſes Entwurzeln und Einwurzeln vollzieht ſich nicht fo raſch und fo reftloß ber zwei oder drei ghettobefreite Gefchlechter weg; und der leidenfhaftlichfte Verftand wird immer nur verftehen, der ehrlihfte Wille immer nur wollen Fönnen. Bon da zum Sein ift ein ſchwerer und ungewiſſer Weg. Der Weg einer Tragödie.

Sieg und Untergang fteben an feinem Ende. Zurückeroberung des großen, tragenden, fulturfchaffenden Raffegeflihld oder innerer Erwerb, blut- außgleichende Einverleibung der fremden Kultur darum handelt es fi). Eined davon muß dad Schidfal der Juden unfrer Zeit, eined davon das Ende der wirklichen juͤdiſchen Tragddie fein, die jeder von ums täglich und ſtundlich, fchaffend und ſchauend, handelnd und leidend miterlebt. Ste zum Kunftwerf zu formen, von allen geiftigen und feelifhen Mächten ded aus fih felbft ftarfen und an fich felbit franfen Judentums bewegt und vom Duft und Saft einer befondern Perfönlichfeit erfüllt, das koͤnnte nur einem gelingen, der dad unlberwindbare Leid feiner Naffe irgendwie in fich felbft überwunden, zum Schweigen gebracht, in ein ftol; erwartungsvolles Gefühl

460

von Hoffnung und Zufunft verwandelt hätte. Wunderbare Kräfte der Seele würden bierzu nötig fein, die Kräfte, die alle erworbene fremde Kultur bisher dody dem Juden noch ald Eigentum audzuliefern verfagt hat: ruhiger, ſchweigſamer Stolz, audgeglihene, niemals buͤrdende Flle und ein Bemußt- fein von Würde, dad über die eigene Perfon hinaus zu den Nächften, zum Volke, zur ganzen Menfchheit und zur ganzen Welt gebt, alle umbüllend und in fi einfchlingend. So daß, innerhalb feiner Perfönlichfeit, bei allem Kampf und allem Wedel, nichts Feindſeliges und nicht? Megatived mehr beſteht; ein Menſch und ihm gegenüber die ganze Welt und ihr ganzes Schidfal.

Bon allen Juden, die mir heute ald Dichter befannt find, weiß ich nur einen einzigen, der Willen zu diejer Höhe hat. Von ihm, wenn irgend» woher, ift das große, das repräfentative Drama ded modernen Judentums zu erwarten. Ich erwarte es und fege inzwifchen den Namen ded Mannes hierher. Er heißt Richard Beer- Hofmann. Hat der dramatifche Geift der deutfchen Sprache nur Überhaupt den Willen, feine Auserwählten auch umter den Juden zu fuchen, dann muß es diefer fein, der flr dad Drama der jüdifhen Raſſe deutfcher Kultur auserwaͤhlt ift.

Katzentheater von Robert Walſer

Ein Schlafzimmer

8 ift Mitternacht vorüber. In einem Bett fhläft Mufchi, ein fohl- & rabenſchwarzes Kätchen, in fehneeweißen, fpißenbehangenen Kiffen.

Wie das fleine Kinder zu tun pflegen, fchläft Muſchi mit offenem Mündchen. Eine ihrer Pfoten hat fie unter den Kopf gelegt, während die andre Über den Bettrand herunterhaͤngt. Es find niedliche Eleine Pfoten. Im Zimmer ift ed zauberhaft fill, und es entftrömt ihm ein eigener Duft, ähnlich dem Duft einer Kinderküche, in der gerade etwas ganz Köftlich- Süßes gebaden und gebraten wird. Auch etwas Prinzefhaftes duftet daraus bervor in den Zufchauerraum. Auf einem Nachttiſchchen brennt ein mwinziges Nachtlicht, einer zuͤngelnden Kirfehblüte aͤhnlich, und verbreitet einen milden, rötlihen Schein gegen das Bett zu. Muſchi träumt, man merft dad, denn fie zuckt manchmal mit der Pfote und blinzelt ein wenig mit den Augen- deckeln. Die Fenfter des Zimmers find von entzuͤckend faubern Gardinen und Umbängen dicht, wie von Schnee, umrahmt. Auch dad bat etwas entfchieden Kleinfinderhafte® und Bluͤtenartiges. Tiſch, Kommode, Seſſel und Kleiderfchranf find angenehm und abfolut ungezwungen im Raum ver- teilt. Muſchis Kleider liegen neben der Schlafenden auf einem Stubl. Auf einmal geht eine der Gardinen auseinander, und ein Näuber, das beißt, ein großer Kater ald Raͤuberhauptmann verkleidet, fteigt geränfchlos und ſich vorſichtig nach allen Seiten ummendend, zum Fenfter hinein. Er ſteckt in Stulpenftiefeln, hat einen hoben, fpigen Hut auf dem Kopf und Waffen im Girtel, Sein Bart und feine wilden Augen find ſchrecklich, und feine

461

Bewegungen find die eines in der Tat ausftudierten Spießgefellen. Er tritt an dad Bett heran, ergreift die Fleine, abnungslofe Muſchi beim Schopf, zieht fie zu den Kiffen heraus, fchlägt fie in ein Tuch und tut dann das jappelnde Ding, das fchreien will und nicht kann, in einen daflır bereif- gehaltenen großen Sad hinein. Zufriedenes Grinfen und Schnurren. Das Orcheſter fpielt eine bald wehklagende, bald leife und fpigbubenhaft- triumpbierende Melodie. Drinnen im andern Fimmer ruft eine Stimme: Muſchi, Muſchi. Das Flingt gefungen und fehr gedehnt. Der Räuber dreht ſich fchurfengewandt auf den Schuhabfägen um und macht fi zum Fenfter hinaus. Im nächften Augenblick gebt eine Tür auf, und berein tritt im weiten Nachtfleid die Amme der Muſchi. Eine Art Frau Wangel ind Katzliche hinüber trandponiert. Sie bleibt erftarrt ftehen und will miauen. Es ift aber ſchließlich ſchon eine ältere Kate, und der Schreck lähmt ihr ſowohl die Glieder als die Stimme. Sie ſinkt unter klaͤglichen Gebaͤrden in Ohnmacht. Dann beſinnt ſie ſich und laͤuft laut miauend, eigentlich bei⸗ nahe Non mehr menſchlich fchreiend, zum Zimmer hinaus. Flußgegend mit Turm

m Turm, ganz body oben, brennt ein Licht. Es ift Nacht, und der

Sturmwind brauft. Die Amme tritt auf, den Negenfchirm unter dem

Arm. Nach ein paar Schritten gegen dad Publikum zu bleibt fie ftehen, ermlidet von langen Wanderungen, wie es fcheint, zieht daß rot getüpfelte Schnupftuh aus der Rocktaſche und hebt ein minutenlarıges, rübrendes Schluchzen an. Unter anderm pußt fie fi die platteingedruͤckte Katennafe, wie es alte Frauen, die weinen, zu tum pflegen. Sie bat fi von Haufe aufgemacht, um die geraubte Mufchi zu fuchen, und fie fucht nun fhon an die zehn Jahre lang. Sie ſpricht ſchon zehn verfchledene Sprachen, weil fie fhon durch zehn fremde Länder gegangen if. Zu Haufe figt die vornehme Mama von Mufcht und ift beinahe nichts und trinkt nichts, denn fie will und kann fi nicht an den Schmerz; gewöhnen, der ihr fagt, fie babe ihr einziges Kind verloren. Die Amme bat denn auch fogleich, ohne eine Miene zu verziehen oder ein überflüffig Wort zu reden, die groben Wanderſchuhe angezogen und ift mit ihren alten Beinen bis zu diefem ſchauervollen Turm gelaufen. Überall hat fie gerufen: Mufchichen, Mufhihen. Manchmal fogar bat fie in ihrer Geelenangft gefchrien: Müuͤſchibuͤſchi, Muͤſchimuͤſchichen, und ſolches zärtliches, unfinniges, dummes Zeug mehr, und nie iſt ihr geantwortet worden. Der Amme find ju ver⸗ fehiedenen Malen von müßigen Witwern Heiratdanträge gemacht worden, auf der Meife, in der Herberge, aber fie hätte eher eine Obrfeige annehmen mögen, als foldy einen fchmugigen Heiratsantrag, der zu nicht? gut war, als fie abzulenfen von der großen, füßtraurigen Aufgabe ihre® Lebens, ndmlih, das Müfhifhlihen fuchen zu geben. Diefe ihre Trauer fommt, wie fie fo dafteht, beredt zum Ausdruck; jegt aber wendet fie ſich gegen den Turm und bemerft das Fleine Licht in der Höhe. Alſogleich fieht fie fi) zu einem kräftigen Miauen veranlaft, das ſich fo anhört, als frage fie

462

bad Licht etwas. Das Licht blinzelt nur ein ganz Elein wenig, wie das ſchließlich von ſolch einem Licht auch gar nicht anders zu erwarten gemwefen iſt. Iſt Muſchi da oben? fragt die Amme, Keine Antwort. Sage mir doch, liebes Licht, weißt du, wo meine Mufchi ift? Keine Antwort. Kedheit das, nicht einmal einer Amme aus vornehbmem Haus zu antworten. Alfo denn nit? Keine Antwort. Die Amme tritt vom Turm weg. Der Sturm bläft das freche, lieblofe Licht aus. Wolfen ziehen uͤber die Bühne. Es darf dies ald ein Bild entlegenfter Einfamfeit gelten. Die Amme weint und macht fich bereit, weiter zu geben. Sie zieht an einem Zipfel den Rod hoch und wiſcht fi) die Augen damit. .. Bine Singfpielballe

fo fo weit hat ed nun die Muſchi gebracht; an die Varietetheater- A agenten ift fie verhandelt worden. Laß mal fehen. Wirflih, da ſteht

fie auf der Bühne, in einem erbärmlichen Flitterroͤckchen, in hoben Schuhen mit gefhweiften Abfäben, in fnalleoten Strümpfen, die bis über die Knie hinaus fihtbar find, und muß für den Zaglohn tanzen. Hüͤbſch ift fie indeffen geworden, das kann man auf den erften Blick fehen, fie ift denn auch die befte Nummer auf dem ganzen Programm. Sie hat was Vornehmes an ſich, was Stoljed, dad nur von der Abftammung berrühren fann. Die Zuſchauerkater find ganz plebejiſch ausfehende Kerle mit breiten Mäulern und ziemlich dredigen Manieren. Mit den Vorderpfoten klappen fie die Bierglasdedel zu und freuen fi) über die ganze ftumpffinnige Be— beutungslofigkeit ihred Tuns. Ein ſchlechter Dunft weht im Lokal, Kellne⸗ rinnen bedienen und wollen immer etwas zum beften befommen haben, Muſchi tanzt, und fowie fie den Tanz beendet bat, feßt fie fich zu andern Tänzerinnen auf eine famtlberzogene Bank, um ſich gelaffen angaffen und anwigeln zu laffen. Ihr Köpfchen hält fie gefenkt, und mit ihren Pfoten fpielt fie wie in lange, wehmütige Gedanfen verloren mit den fnifternden Spitzen ihres Tanzroͤckchens. Ihre Augen, wenn fie fie auffchlägt, find fo groß, traurig und ſchoͤn. Es find gelbe Augen. Man wird nie vergeffen dürfen, daß ed eben nun einmal, fo wie die Dinge liegen, Katzenaugen find, aber ed find Kabenaugen von der feinften und edelften Sorte. Ein un» auslöfchliher Kummer, mit einer unauslöfchlihen Erinnerung verbunden, fheint darin zu brennen. Da will fie ein Kerl von unten ber an das in der Tat fefche Bein faffen, pfui, mit den Saupfoten. Sie verfeßt ihm einen heftigen Stoß mit dem fcharffantigen Stiefelabfag ind breite Schnauzen- geſicht hinein, daß er laut miauend davonläuft, um dem Herrn Wirt An- zeige zu erftatten. Leider ift e8 num gerade ein guter Duzfreund des Wirtes, Diefer ftürzt vor umd ohrfeigt die Mufchi, die nun in Tränen ausbricht. Die Kellnerinnen, die dem Gaft flattieren wollen, fagen, das fei recht, fo gehöre es fi, nur munter in die Freffe gehauen, das fei gefund fir fol eine Stolztruthänin. Mufcht weint und muß weinend tanzen, fie tanzt aber fo fchmerzlih fchön, daß es den müfteften Schmierfinfen nicht mehr erlaubt ift, auß irgend einer innern Ahnung heraus, fie noch ferner zu

beläftigen. Der feuchte Glanz in Mufchid großen Augen hat fie energiſch eingefhlichtert. Die Kater brüllen Bravo und klatſchen in die Pfoten und lecken das ausgefchüittete Bier von den Tifchen ab. Der Wirt, ein urgelungenes, dickes Tier, macht eine unendlid Fomifche wichtige Miene.

Vornebme Straße mit Gartengitter

ehn Zabre find wieder verfloffen. Die Ammenfage tritt auf, auf einen 3 Knotenſtock herabgebeugt, halb blind von dem vielen Suchen: Zehn

Jahre, zwanzig Jahre, und damald, als fie im Bettchen lag, war fie vier Jahre alt, eind dazu, dad macht fuͤnfundzwanzig, denft fie und verfucht, mit der alten Schnauze zu lächeln. O, mas flır ein uralte®, verwittertes Lächeln das if. Das brödelt vom Mund wie Steine von einem alten, jerriffenen Gemaͤuer. Es ift helles Sonntagvormittagdwetter. Auf den Sträuchern im Garten blendet die Sonne. Es hat, wenn man durchaus zeigen will, daß man gebildet ift, etwas von dem neufranzöfifhen Im— preiftonismus. Die Alte hat fi) auf einen der beiden Steine, wie fie etwa vor Gartentoren fteben, gefegt und huͤſtelt ein bischen. Das ift fo, wenn man alt ift, man huſtet fogar im heißeften Sommer. Wie fchmerzlos fie dafitt. Das Suchen ift ihr zu einer fozufagen lieben, unentbebrlihen Ge⸗ wohnheit geworden. Sie fucht ſchon längft nicht mehr, um zu finden, fondern aus einer ihr felber nicht bewußten Luft am Suchen. Es genügt ihr, das legte bischen Pflicht zu erfüllen. Sie bofft nicht mehr. Hoffnung ift ihr bereitö feit längerer Zeit Entweihung geworden. Auch fuchen tut fie nicht mehr fo recht, nur noch fo geben und ein bischen fehen, das tut fie. Alt, alt ift fie geworden und fo fchön muͤde, fo ſchoͤn ſchwach, fo abgelaufen, fo abverdient, fo das ganze Leben um einer Pflicht willen abgerieben. Da figt fie, und Ragenleute geben an ihr achtlos, in der Meinung, es fei eine faule Vettlerin, voruͤber. Niemand fchenft ihr mehr ald etwa fo einen halb» pagigen Blick, Kindermädchen mägeln mit Kinderwagen vorliber. Arbeiter und Herren im Zylinder, alled Kater natürlih. Aber Katerlihed und Menfchlihes vermiſcht fih. Die Herren drehen ſich langweilig die Schnurr- bärte, die bid hinten an die Obren reichen. Selbftverftändlich gehen fie alle mehr oder weniger flramm aufreht. Die Eleftrifche fauft vorüber. Ganz junge Kapenfinder fpringen fpielend umber, und die Sonne lat fo freundlich. Hinter den Büfchen des berrfchaftlichen Gartens ſchimmert das graubläulihe Schieferdad eines Haufes, und jegt, aber alte Amme, was fol das? Nicht, nicht doch. Nicht fchlafen. Siehſt du niht? Eine himm liſch Schöne, in weiße Schleier gebüllte, junge Frauengeftalt ift aus dem Sartentor beraudgetreten. Die Alte maht ba waͤ und finft um und ift tot vor Freude. Die ſchoͤne Erfheinung it Muſchi. Sie ift eine ſchoͤne, vornehme Kate geworden, Frau eined Minifterd, Wie fie num die alte Frau bat umfallen fehen, fteigt ihr eine Ahnung auf. Sie eilt zu ihr bin, erfennt fie, fniet neben ihr und ift ganz ftarr, fein Wunder, da die Kind» heitwelt fie jeßt überwältigt.

464

Rısperlehertor

Ein intereffantes Gaſtſpiel von Momud

ie wir foeben erfahren, wird in der nädhften Theaterfaifon vom

1. April 1908 ab das Hofichaufpiel ded Negus Menelif von Abefiynien ein längeres Gaftfpiel im berliner föniglihen Schaufpielhaus geben. Wir find bereit jeßt in der glüdlichen Lage, unfern Lefern ein getreued Bild vom Verlauf diefed Gaftipield zu geben, wie es ſich in den Privattelegrammen ded Dr. Paul Blehmann an die von ihm bediente: ‚Unfreie Preſſe‘ bietet.

29. März. Soeben ift Scheich Hum-Bug al Haffan, der Direftor des abeffynifchen Hoftheaters, mit den Mitgliedern auf Bahnhof Friedrichſtraße eingetroffen. Generalintendant Hülfen, der inmitten fämtlicher berliner Bühnenleiter und einer Abordnung der berliner Kritif, den Herren Landau, Holzbock, Engel und mir, erſchienen war, begrüßte die Angefommenen im Namen ded Kaiferd und der Kunft. Mach Abfchreiten der Ehrenfompagnie, die aus den Solofräften und dem Ballettkorps der königlihen Theater gebildet war, wurden die Gäfte zum Schloß geleitet, wo der Kaifer felbit ihr Wirt fein wird. Die Straßen find feſtlich geflaggt, und eine dichte Menfchen- menge jubelte den Anfömmlingen zu.

30. März. Der Verein ‚Berliner Preffe‘ veranftaltete heute Abend gemeinfam mit dem ‚Bühnenflub‘ ein Feitbanfett zu Ebren der Abeffynier. Hülfen feierte in einer ſchwunghaften Anſprache Die Gäfte, die nicht nur als Träger einer hoben und feltenen Kunft, fondern aud) ald Pioniere des inter- nationalen Bölferfriedend gefommen feien. Ihre Darbietungen würden ficherlich den Bühnen Berlins ald Beifpiele und Anregungen dienen, wenn aud zu boffen fei, daß mwenigftend die von ibm, Hilfen, befebligten Runftftätten den Gaͤſten die eine oder andre Fünftlerifhe Offenbarung bringen würden. In diefem Sinne: Seine Majeftät der Negus und Seine Majeftät der Kaiſer hoch! Weiter fpradh noch Alfred Holzbod, der fi in geiftvoller und formvollendeter Rede iıber die Beziehungen der Bühnen von Galizien und Abefignien zu denen Deutfchlands und über den Wert ſchoͤner Unterröde und die Bedeutung der Fürften fr die Kunft, ſowie die Kriegdtänze der Papuas in harmonifcher Gedanfenverbindung aͤußerte. Scheih Hum-Bug al Haffan hielt dann in glänzendem Abeflynifh eine Nede, in der er den Dank für den freundlihen Empfang ausſprach, den er mit feinen Kuͤnſtlern dadurd lohnen werde, daß er den Berlinern unerbörte Leiftungen zeigen werde. Denn das abefiynifche Theater fei die Stätte wahrfter Kunft, und er hoffe, dag man in Berlin viel davon lernen werde. Schließlich legte noch Direftor Dr. phil. Schmieden den Gäften den Ausdrud der Verehrung zu Füßen und wied darauf bin, dag wieder einmal der Kaifer ſich ald Förderer deutfcher Kunſt ermiefen babe, indem er durch Anbahnung diefed Gaſtſpiels ihr ein ſolches Vorbild vor Augen gebracht habe.

465

1. April. Die Abeffynier eröffneten heute ihr Gaftipiel vor ausverkauften Haufe mit einer Aufführung von Goethes ‚Fauft‘, die die abeſſyniſche Auf- faffung von dem Werke zeigen follte. Dad Kaiferpaar mit den älteften Prinzen und großem Gefolge wohnte der Vorftellung bei und gab nad jedem Aftfhluß dad Feihen zum Beifall. Publifum und Preffe ftanden der Vorftellung zunächft mit einigem Befremden gegenüber. Abgefehen von der Sprade, wird man ſich an die abeſſyniſche Auffaffung erft gewöhnen müffen. Wir find zu fehr in der Schablone erftarrt, um Fleine Neuerungen, wie die folgenden, gleich vollauf würdigen zu fönnen. Die Abeffynier naͤmlich ſchufen zwiſchen den einzelnen Szenen einen Übergang, indem fie während des Deforationswechfeld Kriegstänzge und Kriegsgeſaͤnge ausführten. Es uͤberraſchte auch, daß bei dem Spaziergang vor dem Tore einzelne Bürger junge Loͤwen an Ketten mit fih führten! Beſonders eigenartig war dann, da Öretchen, während fie das Lied vom König in Thule fang, einen Bauchtanz erefutierte. Und dag zum Schluß die Worte ‚ft gerettet‘ von einem in den Wolfen erfcheinenden Darfteller in der Maske des Kaiſers bei bengalifcher Beleuchtung gefprohen wurden, war zwar eine zarte Aufmerffamfeit, aber wich doch fehr von der Gewohnheit ab. Zedenfalld fiebt man den weitern Darbietungen mit Intereffe entgegen. Der Kaifer empfing am Schluffe den Scheid und ſprach ihm feine Befriedigung über die gebotenen Genüffe aus.

2. April. Die Abeffgnier feßten heute ihr Gaftfpiel in ‚Charleys Tante‘ fort. Die Vorftellung, die fi in gewohnten Gleifen bewegte, fand bei dem gut befuchten Haufe großen Beifall. Auch beim Kaiſer, der erflärte, obwohl er dad wertvolle Süd ſchon vierzehn Mal gefeben babe, fei ihm jet erft der tiefe Gedanfenreihtum des Inhalts ganz Flar geworden.

3. April. Das dritte Gaftipiel der Abefiynier fand leider faum ein halb» volles Haus, Um auch in modernen Aufgaben ſich zu zeigen, gaben fie Ibſens ‚Nosmerdholm‘., Mit Befremden fah man einen norwegiſchen Paftor mit brauner Haut und im wehenden Burnud. Dad Fimmer war mit Loͤwen⸗ fellen und Waffen gefhmückt, die ein ethnographiſch intereffantes Bild gaben, aber nicht recht zu der Vorftellung paßten, die wir von Rosmersholm haben. Und ald Frau Helfet von den weißen Pferden ſprach, rollte der Hintergrund in die Höhe, und man ſah eine glanzvolle Fantaſia auf tadellos weißen Schimmeln. Das Publifum Fonnte ſich allerdingd mit diefer Auffaffung nicht befreunden. Da der Kaifer, aus wohl befannten Gründen, zu diefer Vorftellung nicht erfchienen war, berrfchte nach den erften drei Aften eiſiges Schweigen. Als fpäter einige Eifrige klatſchien, fam es zu Zifhen und Pfeifen und turbulenten Szenen.

8. April. Das Gaftipiel der Abeffyniertruppe im Schaufpielhaus wurde beute beendet. Der Kaifer bat an den Negus folgendes Telegramm gerichtet: „Soeben bat das Hofihaufpiel Em. Majeftät bierfelbft ein acht- tägiged Gaftfpiel beendet, dad fir Mic und Meine Hauptftadt ein Fünft« leriiches Ereignis bedeutete. Em. Majeftät haben durch Genehmigung diefes Gaſtſpiels der Kunft und der Völferverbrüderung unermeßliche Dienfte geleiftet. Sch verleibe Ew. Majeftät den hoben Orden vom Schwarzen Adler und en un der Truppe den Wilhelmdorden für Kunft und

iffen * ae

486

Rundschau

Wiener Bürgertheater

er Herr Victor Barnowsky fi) in Wien recht ftarfe Erfolge bolt, ift in fein berliner Domizil die befcheidene Truppe des ‚Wiener Buͤr⸗ gertheaterd‘ eingeruͤckt und heimft hier jenen Beifall ein, der andern, viel pompöfern Baftfpielern des Auslandes troß faiferliher Begüunftigung in Berlin verweigert wordenift. Es ift fein Wun- der. Die Kunft diefer Leute liegt im Grunde darin, daß fie fih vollauf damit begnügen, das zu zeigen, was ihnen von ihrer urwiener Natur an einfachen Gaben fuͤr die Bühnen- darftellung mitgeteilt worden ift, Sie find auf das wiener Jdiom eingefchult, das fie dank ihrer Abftammung ein- wandsfrei beberrfchen: alfo vermeiden fie es, bochdeutfdy zu reden. Sie werden zartere Geelenftimmungen weniger gut enthuͤllen können, als fräftige Kontrafte zwifchen Gut und Boͤſe: alfo klammern fie fi feſt an das wiener Volksſtuͤck, deſſen Tra⸗ dition ſich im Gegenſatz zu dem ber⸗ liner Volksſtuͤck bis heute in leidlich anſtaͤndigen Formen aufrecht erhalten hat. Dieſe primitiven Arbeiten leben noch immer von jenen Beſtandteilen, denen ſie einſtmals ihr Daſein ver⸗ dankten. Sie wiſſen geſchickt vom anſpruchsloſen Humor zur volfätiim- lichen Derbheit eine Brüde zu fchlagen, laffen die unvermeidlihe Träne zur rechten Zeit fich einftellen und moder- nifieren ihre Themen neuerdings Durch ein wenig Brutalität und ein wenig Sinnlichkeit, fo daß auch den Feinden der unbedingten Harmlofigfeit Genuͤge getan wird. In dem ‚Rududdei‘ des Herrn Oskar Fronz werden wir durch jwei Stunden darüber belehrt, daß

die Arbeit noch immer nicht fchändet, vielmehr noch immer der befte Talls⸗ man gegen die Berlodungen des wohl⸗ gefüllten Portemonnatesift. Wir fehen die Fupplerifche ‚Frau Tant‘ ein braves Mädchen aus dem Haufe des ehrlichen Pflegevaterd entführen und von der Bruft des biedern Bräutigam los— reißen. Wir fehen, wie der gleiß- nerifche Verführer, der „Herr Diref- tor‘, lüftern ihre Spur umfchleicht, und wie beinahe —. Um die Span—⸗ nung nicht auf den Hoͤhepunkt zu treiben, fage ich gleich, daß das gute ‚Möddchen‘ natuͤrlich im letzten Aft dem alten Papa und dem trefflichen Bräutigam moralifch unverfehrt wieder zugeftellt wird, fo daß die Kuckucksuhr, die ſeit Fannys Abfchied (hoͤchſt ſym⸗ boliſch) das Mund gehalten. hat, jeßt vor Freude wieder ihre Stimme ertönen laffenfann. Die Schaufpieler, die fih um die Vermenſchlichung fol- her Konflifte bemühen, zeichnen zum Teil etwas deutlich, wie Frau Ruſſeck; oder es fißt ihnen, wie dem Herrn Willmanns, die Träne gar zu lofe. Andre aber, etwa die Herren Stoll- berg und Höller, baben die dezenteften Darftellermanieren. Und Fraͤulein von Brenneis, der die ungeftimme Friſche des echten Volkstons ebenfo zur Ver⸗ fügung fteht, wie die berbe Kraft einer leidenfhaftlihen Aufwallung, fcheint mir ein ungewöhnlich ftarfes Buͤhnentalent. Artur Kronau

eiterhin haben dieſe Wiener ein Volksſtuͤck von Rudolf Hawel geſpielt: Heimkehr“. Darin ſieht man, in einer niederoͤſterreichiſchen Land⸗ ſtadt, die Proletariſierung einer Schmiedefamilie durch den Herrn

467

Sohn, der Offizier ift. Diefer Ober- leutnant Max ifts, der heimfehrt zum Bater, mit dem Geftändnis hoher Schulden. Der Alte fann ihm nicht mebr helfen, gehäuftes Unglüd fommt, ein Irrer ſteckt das Haus in-Brand, Mar erfhießt fih am Grabe der Mutter. („Der liebfte Platz, den ic) auf Erden hab, das ift Die Raſenbank am Elterngrab” fingen, immer in der Paufe zwifchen zweiderben Tanzen, bei Grog und Mädels, die Matrofen auf den Ballabenden in der ‚Meered- woge‘ zu Helgoland.)... Das Werf Hawels, in Wien längft abgeſchaͤtzt und.zu berlinifchem Stirnrunzeln gar nicht angetan, ift von einfacher, guter Struftur. DVerftändlihe Kleinbürger leben in durchſichtigen Verbältnifien, haben vorfchriftämäßige, in allen Kul⸗ turſtaaten approbierte Empfindungen. Was wäre, zum Erempel, ein junger Schmied, der nicht. manchmal den ſeh⸗ nigen Biceps bedrohlich hoͤbe und ſpannte (beiläufig: Die einzige Span⸗ ‚nung diefer Arbeit)? Was ein alter Vater, der nicht von zärtliher Schwaͤche für den uniformierten Sohn erfüllt wäre? Was gar ein Oberleutnant, der feine Schulden hätte, der fi nicht erfchöffe?.. Na alſo. Mur die liebe Liebe zwifchen Juͤngling und Jungfrau fehlt in dem braven Drama. Dafür bin ih dem Autor wirklich ebenfo dankbar, wie Herr Paul Scheerbart ed fein würde. Denn erftend ift die Liebe wirklich die kitſchigſte aller menfchenmöglihen Erregungen, und jweitend: fol der Theaterbefucher in fteter erotifcher Gereistheit dafigen, bitte!? „Heimfehr‘ bewahrt und davor, bietet .. einen Fliederftraudh, der vorm offenen Fenſter herrlich blubt, fowie durch den herzigen wiener Dias left. Zu ruͤhmen ift weiter, Daß Herr Hamel gar nicht roh und daß fein Mittelftandafti immer noch durch⸗ auß nicht fo langweilig ift wie die

Mittelftandspolitif. Und daes fürder- weiter ım Kleinen Theater, für den Zwiſchenakt, ein Likoͤrſtuͤbchen gibt, wo man ſich mit einer Morrid auf dem Lederſeſſel ergoͤtzen darf —, und da, im Parkett, viele Frauen immer- hin Klientinnen der delikatern pariſer Parfumeure find —, ſagt an: warum ſollte man nicht, trotz des mit einem Kronenpreis preisgekroͤnten Schmiede⸗ ſtuͤcks eines Stuͤckeſchmieds, ohne Mur⸗ ren zwei Abendſtunden lang dem wiener Kleinbuͤrgertheater zuhören? Ferdinand ‚Hardekopf

Deutfche Uraufführungen

10.4. Eugen Berger: , Blinde Liebe, Drama, Nixdorf,

Julius Hirſch: Waleda, Dramatiſche Dichtung. Teplitz, Stadt- theater.

15.4. Mar Mell: Die Paͤchterin von Litchfield, Komoͤdie. Berlin, Kleines Theater.

‚Eduard Studen: Die. Ge- ſellſchaft des Abbe Chäteauneuf, Ein- aftiged Schaufpiel. Duͤſſeldorf, Schau- ſpielhaus.

46.4. Gottfried von Boͤhm: Der Märtyrer, Schaufpiel. Münden, Ber- ſuchs buͤhne.

H. Oberſtaͤdter: Schloß

brüden

‚Hochflein, Drama, Zwei

18.4. - Victor. Hahn: Mofeb, Tra- gödie. Nürnberg, Stadttheater.

Adolf Franke: Die Zixfus-

nonne, Komödie. Hamburg, Thalia-

theater.

Nudolf Herzog: Heimat- land, Bergifched Volfäftid. Barmen, Stadttheater.

19.4. Franz Duelberg: Korallen- fettlin, Drama. Münden,. Meuer

Verein.

Jacob Fürth: Gegen den Strom,Einakterzyflus. Brünn, Stadt theater.

Berantwortlich für die Redaktion: Siegfried Jacobfohn, Berlin SW. 19 Berlagvon Deſterheld & E0.,BerlinW .15 Drud von Imberg & Leffon, BerlinW.9

rg ep Vu vu Svuyvlupeivuuetuuurlvun! # | 9 m A AA "E

Du |

ShaubihneN

9. Mai 1907 III. Jahrgang

Das Tragifche/ von Ralph Waldo Emerfon

er nie im Haus der Sorge war, der fennt die Welt nur halb.

Der Kummer maht dem Glück im Menfchenleben den Raum

ftreitig, wie die falzige See mehr ald zwei Drittel der Erdober- fläche einnimmt. Die Unterhaltung der Menſchen ift eine Mifhung von Neue und Angft. Wer Muße bat, die Dinge rubig zu betrachten, dem wird bei allen gleicherweiſe eine fehr weſentliche Eigenfchaft auffallen: ihre Schwer⸗ mut. Sn den düftern Stunden unferd Lebens ſcheint unfre Eriftenz ganz und gar eine Gegenwehr, ein Sichaufbäumen gegen dad Zuftrömen des Ald, dad und in feinen Abgrund zu verfchlingen droht, ungeduldig, unfre Zeit abzufürzen. Wie wenig bleibt und nod übrig, wie eitel ift all unfre Anftrengung! Der Geift zieht fi ſchon innerhalb engerer Mauern zurüd, gibt einen Zeil feines Gedächtniffed auf und läßt im Stich, was er felbft bebaut bat, das Feld wird audgebrannt und bleibt öde. Unfre Gedanfen und Worte haben einen feltfamen Klang. Gedächtnis und Hoffnung laffen gleihermaßen nah. Entwürfe, die und fonft frob machten und eifrig, fie auszuführen, finden uns jet fchläfrig und zu nichts vorbereitet. Wir würden und am liebften in den Schnee niederlegen. Für ſolche trüben Stunden haben wir, wie es fiheint, gar feinen Mut uͤbrig behalten. Wir koͤnnens beim beften Willen nicht einmal zu dem geringften Erfolg bringen. Was unfer Körper und Geift ſich beute an Kraft aufiparen koͤnnen, ift flr Die fpätern Anforderungen an Uberlegenbeit, die ſchon morgen an und heran treten fönnen. Man nimmt an, daf die Nationen fi durch den Grad ihrer Schwermut voneinander unterfcheiden, und man pflegte zu fagen, daß ed in der Geſchichte fein zweites Wolf gibt, das fo ſchnell verzagt, wie wir in unferm Empfinden und Handeln. Schwermut ift dem englifhen Gemüt püben und drüben fo zu eigen geworden wie den Klängen der Äolsharfe. Männer und Frauen, wenn fie dreißig Jahre alt geworden, und ſchon früber, baben alle Lebhaftigfeit, alle Spannfraft verloren. Wenn ihr erfted Unter- nebmen febliclägt, geben fie da® ganze Nennen auf. Sp mögen wir und die und verwandten Raſſen mehr oder weniger leicht verwundbar fein. Aber

469

feine Lebenstheorie könnte mit Recht behaupten, daß Lafter, Sorge, Unglück, Armut, Unficherheit, Uneinigfeit, Furcht und Tod flr den Menſchen ent- behrliche Dinge find.

Meldyes find nun aber die Anzeihen des ZTragifhen im Scidfal des Menfhen? Das fchlimmfte unter den tragifhen Erlebniffen, wenn wir es einmal gleid in feinem geiftigen Urfprung bezeichnen dürfen, ift der Glaube an das Fatum oder Schidfal; der Glaube, daß die Ordnung in der Natur und die Gefchehniffe im Menfchenleben durch ein Geſetz beftimmt find, das nicht für den Menfchen gemacht ift, fondern daß der Menſch einfach unter dem Geſetz ſteht. Es zwingt zuleßt immer wieder unter feine Strenge, dient ihm, wenn er feine Wuͤnſche dahin abändern fann, daß fie nicht mit ibm in Konflift fommen, zermalmt ihn aber, wenn er fi) dagegen aufbäumt, und ift nie in Sorge um ihn, ob ed ihm müßt oder ihn vernichtet. Diefe graufame Anfhauung ftebt hinter der griechifchen Tragödie, macht Odipuß, Antigone und Oreſtes zum Gegenftand unfers tiefften Mitleids. Sie müffen zugrunde geben, und es gibt feine gute Tat, die diefer abfcheulichen Gewalt Einhalt tun oder fie mildern fünnte. Sie werden von ihr zerquetfcht oder erfhlagen oder von ihrem Syſtem beruntergefhludt. Derfelbe Gedanke beberrfcht die indifche Mythologie und gibt ihren Phantafiebildern oft genug jene den Menfchen im Erfchauern lähmenden Einflüffe. Hierher gehört auch der Gedanfe der Prädeftination bei den Türfen. Und bei ungebildeten, gedanfenlofen Menfchen, in denen das religidfe Empfinden felbft zu ſchwach ift, finden wir den gleichen Aberglauben: „Wenn du dad Waſſer fhauft, wirft du im nächfter Zeit ertrinfen.“ „Wenn du zebn Sterne zählt, wirſt du tot niederfallen.” Solhe Strafen wird und die Natur felbft niemals aufbürden, dad bringt nur der Ehrgeiz des Menſchen zuflande. Bor dem Nachdenken bält diefer unnatuͤrliche, unbeftimmte und unbeftimmbare Wille und fein Schredigefpenft nicht ftand. Die Zivilifation vertreibt es, wir er⸗ innern und feiner wie unfrer Furcht vor Geiftern in der Kindheit. Diefer Aberglaube ift von dem, mad daran philoſophiſch ald Lehre von der Not- wendigfeit zu bezeichnen ift, zu unterfcheiden. Diefe Lehre ift die des Opti— miſsmus. Denn wer jo die Motwendigfeit erleidet, findet fein Wohl im Wohl des Ganzen befhloffen. Beim Schickſal ift e8 aber nicht das Wohl ded Ganzen oder ein befter Wille, was handelt, fondern eine ganz befondere Willensmacht. Schickſal ift eigentlih überhaupt fein Wille, fondern eine tuͤckiſche Laune; das ift die Urfache aller Angft und Verzweiflung im ver- nunftbegabten Wefen, das die Urfache fir die Wirkung ded Tragifchen im Drama und in der Piteratur. Und weil die antife Tragödie ganz auf diefer Anfhauung aufgebaut ift, kann fie nicht erneuert werden.

Das Tragifche wird heute etwas umfchrieben, fett Vernunft und Glaube eine beſſere öffentlihe und private Lehre verbreitet haben. Zwar bleibt und immer die Genugtuung verfagt, die wir perfönlih von den Geſetzen der Welt fordern möchten. Das Geſetz kuͤmmert fi zwar um die Matur und um die Menfchenraffe und muß deshalb notwendig den Willen einzelner,

470

unmiffender Individuen Durchfreugen und tut es uͤberall, wo es ſich um perfönliche Unzufriedenheit, perfönliche Bedürfniffe, Unficherheit und Uneinigfeit handelt. Das Wefen ded Zragifchen liegt aber für mic in feinem dieſer per- fönlihen Ubel. Wir mögen Hungerdnot, Fieber, Untauglichfeit, Berftimmelung, Kolter, Wahnfinn, Verluft von Freunden aufzählen das eigentlidy Tragiſche iſt noch nicht unter ihnen: jene große Angft, die fic nicht um endliche Ubel f&hert, fondern um umendliche, jener böfe Geift, der und abends und des Machts heimſucht, im Müßiggang und in der Einfamfeit.

Ein bagerer, haͤßlicher Geift ſteht binter uns, eine Ahnung noch uns beitimmter Unglüdsfälle ein trübed Vorgefühl, eine Einbildung, die die Macht hat, die Dinge aus ihrem Geleife zu bringen, ihnen ihre Munterfeit zu nehmen und fie in fehredlicher Verkleidung zu zeigen. Horch! wie der Wind des Nachts heult, ftürmen Mörder durch dad friedliche Haus: klingt es nicht, ald ftampften fie durch dad Haus, wie beimliher Aufruhr! Ein Flüftern, nur halb gehört, ein Lichtſchein, Die Bermutung einer Arglift, un⸗ begründete Angft, Argmohn, halbes Verftehen und Irrtuͤmer verdunfeln den Blick ded Menfhen und machen fein Herz erftarren. Die Vorftellungen nehmen feine flare Formen an, aud haben die Empfindungen feinerlei Be- ftändigfeit, alles ift unbeftimmt, und es fcheint denen, die am meiften darunter leiden, etwas verborgen zu bleiben, was andre fehen. In folhen Menfchen, die unfer tieffted Mitleid erregen, fcheint dad Tragifhe dem Temperament eingeboren, nicht den Dingen anzuhaften. Einige haben fogar einen fürm- lichen Hunger nad) Traurigkeit, der Frobfinn ift ihnen nicht ſtark genug, fie ſehnen fi nad) Sorgen, fie haben den - Magen eined Mithridated, der nad) ver- gifteten Speifen verlangte, ihre Natur fcheint verdammt, daß fein Glüd ihre wilde und troftlofe Verbitterung zu lindern vermag. Sie hören = entftellt, fehen alles entftellt, find angefüllt mit Argwohn und Furcht. Garten feben fie nur die Neffeln und den Efeu, auf der Wiefe treten . jeden Augenblid auf eine Schnecke.

Wir müffen ed freimltig eingeftehen, daß alle Art Truͤbſinn nur in den Miederungen ded Geifted Beſtand hat. Er ift nnr oberflädlich oder phan- taftifch oder in den Erſcheinungen, nicht in den Dingen, begründet. Nicht in dem, der fie leitet, ift die Tragödie, fondern ein Erlebnis des Zuſchauers. Ihm fcheint die Laſt unerträglich zu fein, ja die Erde unter ihr laut zu ſtoͤhnen. Doch überlege: nicht ich, nicht du, nein, immer ift es ein andrer Menſch, der gequält wird. Wenn jemand fagt: ob, wie leide ih dann ift ed ganz offenbar, daß er nicht leidet, denn die Sorge ift dumpf. Was einem als ein zu barter Vorwurf oder ein Raub erfcheint, nimmt weder dem fchuldigen Dann oder Weib, nod dem. Opfer Hunger und Schlaf. Einige aber ftehen über jedem Kummer, andre unter ibm. „Wenige nur können Liebe üben.” Bei Phlegmatifern richtet ein Mißgeſchick gar nichts aus, in einer ſchwachen Natur ruft ed ein lautes Echo hervor. Das Tragifche aber muß etwas fein, dad ich achten muß. in Duerulantengefchrei {ft feine Tragödie. Eine Panik, wie fie bei den alten Völkern oder den Wilden

471

eine Truppe oder ein gamzed Heer in die Flucht flug, ohne daß ein Feind da ift, eine Furcht vor Geiftern, eine Angft vor dem Tode, die den Menfchen in eined Winters Mitternaht auf dem Moor überfchleicht; ein Grauen bei unbeflimmten Geräufdhen, denen eine ganze Kamilie auf den Stufen binter der Kellertür laufcht Schauer, unter denen unfre Knie zittern und umfre Zähne Elappern: dad alles iſt noch feine Tragödie, ift micht mehr als Die Seekrankheit, die auch an unferm Leben zehrt. Nichts ald Taͤuſchung. Die Matur forgt aber auch für Gegenwehr, wo diefe Krankheit auftritt. Die dem Lebenskampf am meiften ausgeſetzten Klaffen, wie Soldaten, Geeleute, armed Volk find keineswegs ohne tierifchen Inftinft. Und diefer Tier verftand, zuerft fich felbft treu, er lernt ed, ebenfogut in der Mot wie im Gluͤck zu leben; wie die zerbrechlichſte Glasglocke taufend Pfund Waſſer tragen fann, wenn du fie auf den Grund eimed Fluſſes oder ded Meeres fenfft und fie zugleich mit Waſſer anfllift.

Der Menſch ſollte feine Sicherheit aber nit den Dingen ausliefern, fondern follte den Zügel in feiner Hand halten, er follte ſich weder dem Kummer noch der freude ganz preidgeben, ibr mit Maßen Raum in fich geben. Die früheften Werfe der bildenden Kunſt haben den Ausdrud er= babener Sicherheit. Die äguptifchen Shinze, die bente im Sand liegen wie damals, ald die Griechen famen, die die Griechen abtreten faben, ald die Römer famen, und wieder fahen, wie die Roͤmer geben mußten, die noch fo im Sand liegen werden, wenn die Türfen, die Franzoſen, die Engländer von beute dahin find „die mit ihren fleinernen Augen unverwandt nady Often fhauen und auf die Waffer des Nil“ fie find der reinfte Ausdrud von Bebaglichfeit und Ruhe, von Gefundheit; diefer Ausdruck macht und ihr hohes Alter erklärlih und beftätigt den alten Spruch auf ihr Volk: „Ihre Kraft ift in ihrem Stillefteben.“ Diefer arditektonifhen Widerftandöfraft menfchlicher Formen gab der griechiſche Heros eine ideale Schönheit, ohne jenes ſtrenge Antlitz zu zerſtoͤren. Sie duldeten fein uͤbermaß an Fröhliche feit, Schmerz oder Duldſamkeit. Das entſpricht der menſchlichen Natur. Das Leben ift fparfam im Handeln, mit Meinungen und mit Bitten, Liebe, Haß und jeglihem Auftrag an die Seele. Den größten Teil des Tags fordert von und dad Leben nichts ald ein Gleichgewicht, eine Vereitfchaft, offene Augen und Obren, freie Hände. Und ebenfo die Gefellfchaft, fie fordert Aufrichtigfeit, Liebe und ein Zafagen zum Leben. In einigen brennt jwar ein Feuer, dad möchte fich in wilden Handlungen Luft machen. Die betrügen dann ihre Unduldfamfeit gegen die Ruhe durch ein ungeregeltes Fatilinarifche® Hin und Her. Ihre Rede ift unwirſch, abgebrochen und uns geordnet, bei jeder Gelegenheit geraten fie außer ſich. Über Kleinigfeiten beingen fie ſich in eine tragifche Stimmung. Dad empfinden wir ald un« fhön. Sie follten erft einen Steinwall fünf oder zehn Dard lang errichten, ihren Überfhuß an Neizbarkeit zu verarbeiten! Wenn fid) zwei Fremde auf der Landftraße treffen, feben fie fih am und prüfen, ob die Füge des andern jene geiftige Bereitfchaft ankündigen, die jedem guten und fchlechten Zwifchen-

472

fall gewachſen ift, Leben oder Tod zu geben in gleiher Weile, wenn es der Lauf der Dinge im naͤchſten Augenblid erfordern wuͤrde. Wir follen wie Fremdlinge dur die Matur wandern ohne Leidenſchaft, mit Flarem Verftand und ohne perfönliches Intereffe. Der Menſch fol die Zeit prüfen, fein Geſicht den Ausdrud eines gerechten Richters haben, der nichts fürchtet und nichts erhofft, fondern Natur und Schickſal nad, ihrem Berdienft ein- ſchaͤtzt. Er foll den Fall bis zu Ende mit anhören und dann entfcheiden. Melancholie und Leidenfhaft gehören einem dußerlichen Leben an. Wer nicht im eigenen göttlihen Boden wurzelt, hängt ſich mit feinen Funeigungen an den Stamm der Gefellihaft mag fein an dad Feſte umd Größte in ihr. In rubigen Zeiten wird niemand merfen, daß er ein Treibhol; ift und nicht vor Anker liegt. Jetzt fommt aber ein Umſturz, eine Revolution der geiellfhaftlihen Sitten, Geſetze, Meinungen: da ift feine ganze Stand» haftigfeit erfhüttert. Die Derwirrung im Kopf feiner Nachbarn wird ihm eine Verwirrung des Univerſums, und für ibn ift wieder das Chaos da. In Wirklichkeit war er ſchon vorher ein treibended Wrad, bevor noch der Wind fid) aufmahte. Der Sturm macht feine haltlofe Stellung offenbar. Wer aber den Mittelpunkt in ſich felbit hat, dem find die Ereigniffe draußen mie ein ſchoͤnes Phantafiebild, eine Spiegelung deffen, was er ſchon längft zuvor wußte. Wo in der Gefellichaft irgend eine Perverfität oder Vers werflichfeit fid) breit madht, verbindet er ſich mit den Gefunden, dad Uns glüd abzuwenden, doc ohne Rachbegierde und ohne Furcht, denn er kennt ihre ummegfamen Folgen. Und er ſieht auch in dem Auffchäumen der Sünde ihre nahe Heilung.

Ale menſchlichen Sorgen haben fo ihre Abhilfe bereit; denn die Welt will dad Gleichgewicht, nicht die Übertreibung.

Die Zeit ift der große Tröfter, fie trägt auf ihrem Ruͤcken noch alle Ummälzungen beim, fie trodnet die bitterfien Tränen, indem fie und neue Erfheinungen aufjwingt, und neue Sitten, neue Wege zeigt und neue Stimmen an umfer Ohr bringt. Wie der Meihwind die Äbren des Weigen» feldes wieder aufrichtet, die der Sturm niedergebeugt und umgelegt bat, und die ermatteten und zerflitterten Gradbüfchel auskaͤmmt, Locken, die die Nacht verwirrt hat, fo geben wir und der Zeit bin ald dem Winde im Saatfeld der Gedanken, der die armen, durdhnäßten, niedergebeugten Halme trodnet und aufrichtet. Die Feit gibt ihnen ihren alten Eifer und ihre Spannfraft wieder. Wie ſchnell vergeflen wir den Schlag, der und beinahe zum Krüppel gemacht bat. Die Natur ift immer geſchaͤftig, fie befchäftigt alle ihre Kähigfeiten, neue Hoffnungen fprießen, neue Meigungen fpinnen fih an, und das Alte bat ſich darlıber zu etwad Ganzem vollendet, was wir abbredhen, ift eine Vollkommenheit.

Die Zeit tröftet, aber dad Temperament widerftrebt ſchon dem Einftrömen der Trauer. Die Matur fammelt ihre Derteidigungsmadht zum Angriff. Unſer Menfchenleben ift wunderſam vielfeitig: wenn es die eine VBefrie- digung nicht erringen fann, legt es ſich felbit eine Buße auf, eilt davon

473

und erfirebt etwas andre. Es ift wie ein Strom: wenn man ihn darch einen Wall aufhält, läuft er über einen andern, uͤberflutet, wie ed ibm gefällt, den Sand, Schlamm oder Marmor. Alles Leiden ift nur Schein, auch wo es am böchften fteigt. Wir reden und ein, es fei eine Dual. Wer aber leidet, der findet Erfag dort. Eine Fleine Amerifanerin zweifelt an der göttlichen Vorfehung, weil fie gerade die Schauergefhichten „the midde passage‘“ lief. Da find die geringften Schreden noch ſchlimm genug gefchildert. Und doc bringen diefe Kreuzungen ed nicht fo weit wie fie felbft. Schließlich werden fie flumpf und barbarifdy für den, den fie nicht mehr erfchlittern, und nicht viel fhlimmer als die alten Leiden. Sie fträuben ſich mit aller Macht, ſchließlich findet ſich doch eine Ausflucht. Sie befchenfen ihre Zuhoͤrer mit Graufamfeiten, die dad erzogene Mädchen nicht kennt. Der Handelömann macht der Dame feinen Vorwurf, wenn fie ihre Rechnung noch nicht bezahlt bat, aber jene derbe Srländerin muß allmonatlid) damit fommen. Die bat fich daflır noch niemald um den Handelövertrag Sorgen gemaht. So paßt fi die Not allenthalben den Verhältniffen an. „Es ift meine Pflicht,” fagt Sir Eharled Bel, „die Wächter im Hofpital zu befuchen, denn zu ihnen fommen fonft nur die Kranfen, die die Einbildung mit unerträglichen Vorftellungen von Mot und Todedgewißbeit erfüllen. Und fie entbehren obendrein jenes Gefühl der Gemuͤtsruhe und des Frohmuts, den ihre Franfen Hausgenoſſen zumeift mitbringen. Denn was felbft leidet,

bat immer ein Gegengewicht feined Schmerzes in fi, das uns, Die wir

Zuſchauer, gar nicht ald Wilderung ihres Zuſtands erfcheint.” Auch die

wilden Ausfchweifungen im förperlihen und geiftigen eben halten ibre

Gegenmittel im Charafter des einzelnen in Bereitſchaft. Napoleon fagte

in St. Helena zu einem feiner Freunde: „Die Natur hat, wie es feheint,

daflır geforgt, daß ich einen ftarfen Schuß gegen mein Leiden in mir habe.

Sie bat mir ein Temperament gegeben, dad hart wie ein Marmorbiod ift.

Selbft der Blit kann es nicht zerfpalten, er gleitet daran ab. Die großen

Erlebniffe find alle über mich dahingegangen, ohne meine moralifhe und

phyſiſche Natur auch nur zu berühren.”

Der Verftand ift der andre Tröfter, er freut fih, den Menfchen und fein Schickſal trennen zu fönnen, er macht aus dem Leidenden einen Ju- fhauer, feinen Schmerz; zur Poefie. Er genießt die Freude, fidy unter- balten zu Eönnen, Briefe zu fchreiben und Wiffenfchaft zu treiben. So werden die Qualen des Lebens zu einer ſchoͤn dahinrauſchenden Tragoͤdie, au einer heiligen, fanften Dichtung mit Mufif, mit reichen, dunfeln Gemälden. Über der tatfräftigen Kunft ſteht der Verftand in feiner Reinheit und der moralifhe Sinn in feiner Reinheit, die fi) beide durch nichts unterfcheiden. Sie entführen und in Negionen, in denen diefe wilden und düftern Wolfen gebilde feine Macht mehr baben:

Aus dem fehlten Band der Geſamtausgabe von Emerfond Schriften, die in der Überfeßung von Wilhelm Mießner bei Eugen Diederihd, Jena, erſcheint.

474

Ghyges und fein Ring/ von Julius Bab

er wundervolle holzgefleidete Saal der ‚Rammerfpiele‘, der und eine

Hauptmannfche Stubentragödie, eine Maeterlindfhe Märchenelegie

fo unvergleichlich ſchoͤn faßte, ſchuͤtzte, zuſammenhielt, diefer vornehme Maum war dem Hebbelihen Drama zu eng Über der Bruft. Die ftarfen Atemzlige diefed Dramas brachen fi raumbeifchend heftig an den fehmalen Saalmänden, feine großen Geſten ſchienen mit ihrer mehr ald menschlichen Gewalt die Fleine allzu nahe Bühne fprengen zu wollen, Der Ring des Gyges ift Fein Kammerfpiel. Wohl find feelifhe Regungen feinfter, ver- flochtenfter Art der Stoff, Wortflgungen von geläutertfter, mufikhaltigfter Schönheit die Form, in der fi des Dichterd Wille bier entwirfte; aber es ift fein pfochologifches Schaufpiel und fein Stimmungsgedicht, was ſich vor und enthüllt. Weiter greift der Wille diefed Dichter, ald zart ver- dammernde Gefühle tragen, und feine Ergriffenheit gilt einem unendlich größern Schickſal ald dem Leid einzelner Menfchenfeelen. Der Notwendigfeit alles Geſchehens bat er ind Auge geblidt, ein Weltgedicht gefchaffen, aus den zarteften Fäden ein Bild des harten, ewigen Lebens gewirkt. Dies Gedicht will und muß in all feinen Maßen weit über Menſchliches hinaus führen. Der Strom religiöfer Gewalt, der durch dieſes Gedicht brandet, braucht ein andres Bett, ald diefer Raum ed gewähren fann, der die Groß- taten pfochologifierender Kleinkunft fo koͤſtlich hegt. ‚Gyges und fein Ring‘ ift ein Feftfpiel.

Diefe Tragddie der Keufchheit ift unendlid viel mehr ald ein erotifches Problemſtuͤck. Unſre Ohren find entwöhnt, die große allgemeine Lebend- bedeutung aus folhen Worten herauszuhoͤren: ‚Keufchheit‘ gehört ihnen faft fhon audfchlieglic zur feruellen Terminologie. Aber wäre gut, nicht nur zum DVerftändnis diefer Dichtung gut, wenn wir und erinnern wollten, daß dad Geſchlechtliche nur ein einzelner Fall ift für die Abwicklung allguͤltiger Lebensgeſetze, und daf der mittelalterlihe Dichter wohl fehr viel mehr ala ein erotiſches Belek im Sinne hatte, wenn er den Parcival ‚die Scham‘ ala hoͤchſtes Gebot nennen lief. „Was taugt fchamlofer Leib noch mehr?!” Die Scham, die bier nicht weniger abfolut ald Rhodopes Keufchheit zur Grundbedingung jeded würdigen Lebens erhoben wird, fie bedeutet nichts andres ald die Summe deffen, was an Stolz, an Selbftahtung, an Machtgeflihl das Individuum zufammenbält, undfie fpieltnur deshalb auch im Erotifchen eine Rolle, weil bier die größte Gefahr flir Selbftaufgabe, Entweihung, Auflöfung ded Individuums ift, Scham ift nichts andres ald Ausdruck deffen, was jedem Erdenkinde hoͤchſtes, unverleglichfted Gut ift: Perfönlichfeit, ein gebeiligter Kreis eigenen unberübrbaren Febend. Und auch Rhodopes Scham bedeutet nichts andres. Ihre Keufchheit ift in diefem Drama nur der betontefte Ausdrud ded individuellen Lebens, das der revolutionäre Geiſt eined Gewalttätigen in allen Kreifen erſchuͤttert. Der ‚Schleier‘, der ein ‚Zeil von ihrem Selbft‘ ift, fteht der Art nad) den Kronen und roftigen Schwertern völlig gleich,

475

die diefer uͤbermuͤtig vernünftige Aufklärer verachtet. Randauled weiß nicht, daf die Formen beilig find, weil fie den Kreis individuellen Lebens begrenzen, wie der Körper die Seele, und daß man tötet, wenn man mit der Willfür des Einzelgeiftes Formen wandeln will: denn dies ift allein dad Gefchäft der langfam von Form zu Form wachſenden Natur. Diefe Dichtung vom Schlaf der Welt ift das hohe Fied des Konfervativismus. Wie die felbft- füchtige Liebe des Herodes, fo hat die frevelbafte Vernunft ded Kandaules bie Heiligfeit des individuellen Lebens verlegt, den Grund, der alled Seiende trägt und diefer knirſcht nun rächend ihn binab.

Wie der mit göttliher Zauberfraft begabte, den Menfchen verbängnis- volle Ring nichts andres bedeutet ald die gefährliche, weil zum Mißbrauch reizende Kraft des Geiſtes, Schleier zu heben, Formen zu ftören und fo ind Amt der göttlihen Natur einzugreifen, fo ift in diefer kosmiſchen Tra- gödie die ind Übertoirfliche gefpannte Keufchheit Nhodopes, die für den Frevel zweier Augen zwei Menfchenleben zur Suͤhne fordert, nur wirf- famfted Sinnbild des Lebens, das nur durch Formen fih aus dem Chaos erhebt und den Veraͤchter der Form mitleidlos in das Chaos zurüͤckwirft. Aus Rhodopes Worten fpricht mehr ald eine pathologiſch empfindliche Frau, und deshalb fcheint mir der Haupteinwand, den man feit einem halben Jahr⸗ bundert gegen died wundervolle Werf erhebt, nichtig und nur vom Stand- punft eined befchränft pfychologifierenden Naturalismus möglich. Wir fennen, fo beißt es in allen möglichen Variationen immer wieder, feine Frau von folder Art; dad Schickſal, das ihrer Art entipringt, fann uns deshalb nicht ergreifen. Das alles ift falfch: freilich eine Frau mie Rhodope fennen wir nicht aber von ihrer Art find wir alle, die wir eim Ich zu bewahren und rein zu balten haben. Rhodope tft wahr und wirffam als die mythiſche Verdichtung jener großen Lebensmacht, die ald Scham, ald Selbfterbaltung in jedem lebt, der eben wahrhaft lebt.

Deshalb wird zweierlei bei der ſchauſpieleriſchen Formung diefer Jentral⸗ geftalt des Dramas mirffam werden müffen: ein naturftarfer Ausdruck diefer finnlich-feelifhen Unnahbarfeit und eine Fünftlerifche Stilfraft, die diefen Ausdruck dıber jeden fchiefen naturaliftifchen Vergleich erhebt. Frau Tilla Durieux hatte nur Dad Zweite einzufegen; von eigener Kunſt⸗Klugheit und treffliher Negie beraten, bielt fie die bieratifch-fteifen, uͤbernatuͤrlich⸗ boben Linien der Geftalt beffer inne, als irgend eine Rhodope, die ich bisher ſah. Wo aber der Aufichrei verlegter Reinheit aud dem Kern der Natur bätte quellen follen, da hatte die von oͤſtlicher Sinnlichkeit gefpannte Natur der Schaufpielerin alle Mühe, das zornige Keuchen bißiger Salome- Töne zu vermeiden. Daß diefe Mübe ſtets noch eben erfolgreich war, bleibt ruͤhmenswert; daß man fie häufig genug deutlich fplirte, ift dad uns erjeglihe Minus ihrer Leiftung. Auch Herrn Wegenerd Kandaules traf mehr durch Einficht ald durch Matur zum Ziel. Diefer vortrefflihe Schau⸗ fpieler wirfte vornehm und reich, nur nicht koͤniglich, nicht Iiberftrömend. Und diefed Herrfcherd Fall wächft nur aus dem Uebermaß aller föniglichen Kräfte,

476

Aber auch Herrn Wegener kam es zu flatten, daß für Verlin zum erften Mal in diefem Stid ein Negiffeur waltete, der den Sinn Hebbels er- griffen hatte. Emil Milan ſchuf dem Dialog fo bedeutungsnolle Paufen und Schwellungen, fo ftarfe, klare, aufihlußreihe Betonungen, daß auch diefer Kandauted in mancher Beziehung mehr bieten konnte als feine ſinnlich reichern Vorgänger, Kainz und Matkowsky. Freilich weder die fihere Stili- fierungsfunft des Negiffeurd, noch die ſchoͤne, kraftvoll⸗ſchlichte und nur eben durch die zu Fleinen Maße ded Naumd unvollfommene dekorative Aus- ftattung bätte der Aufführung zum Siege verhelfen fönnen, wenn nicht für die dritte Hauptrolle ded Dramas eine große und lıber alle Kunft hinaus ihrer Aufgabe blutsverwandte Natur zur Stelle gemefen wäre. Friedrich Kayßler fpielte den Gyges und fpielte ihn meined Bedlinfend endgültig, fo voll- fommen zu Ende, daß eine Neuaudprägung der Geftalt weder wuͤnſchenswert noch moͤglich fcheint. Hebbel wird am feltenften fo gefpielt; es liegt in feiner Matur etwas eben jene verſchloſſen trogige Scham mas dem Weſen des Schauſpielers faft widerftrebt. Es gilt, den bis zur Härte feufchen, den bis zur Wildheit herben Menfchen, den Menſchen ohne jede Selbftdarftellungsgabe darzuftellen. Wie felten findet ein Schaufpieler diefen Stoff in fh wieviel feltener gelingt ihm feine großzügige Bewältigung. Hier ift fie ein» mal ganz gelungen. Das ſcheue Knabenläheln diefed ſtarken Mannes ſchuf im erften Aft wo Gyges den Sklavinnen nahfhaut und der König ihn net eine ganz neue umd doch die einzig rechte Baſis für dieſe Geftalt. Denn ald nun diefe große Kinderfeele von der fpieleriihen Vernunft des Königs in Liebesnot und Schuld und furdtbared Verhängnis geftürzt wird, da fühlte man plöglih, daß nicht nur an der rau, daß auch am ihm ge- frevelt wurde. Der beldifch beberrfchte Wehſchrei diefer reinen Natur bob die Wechfelreden jened einzig fchönen vierten Aftd zu unerhörter Wirfung. Mehr ald fein Opfer litt diefer Gyges felbft an feiner Tat und fuchte Sühne nicht weniger ſich felbft ald ihr. Und weiter begriff man, weshalb diefer ftahl- reine Held, den der Zauberring nicht verlodt, obſchon er ihn findet, der Überlebende bleibt, der König, der die Welt auf feinem Rüden weiterfchleppt: ihm ward zu der Königäfraft ded Erneuererd die ftolge Scham der Frau, die den Schleier fefthält. Er ift der Herr des Lebens. Auch wer feit vielen Jahren died Stuͤck mehr als faft alle andern fennt und liebt, erfuhr bier zum erften Mal, daß mit innerm Grund ed Gyges war, der diefem Drama den Namen gab. Er erfuhr ed, weil zum erften Mal diefer Grieche aus der Seele feined Dichters heraudgefpielt wurde: mit der Geele eined Kindes und der Kraft eined Kriegerd. Friedrich Kayßler gab diefer Aufführung die Seele ein Eluger Regiffeur gab ihr einen wohlgeſchaffenen Leib. Und fo geſchah es, daß, troß aller Schwächen, diefe Aufführung von den vieren des Werfes, die ich in Verlin fah, die weitaus würdigfte und für die ‚Rammerfpiele‘ ein falfcher, aber fehr ehrenvoller Abſchluß der erften Spieljeit wurde.

477

.—.

Sorallenfettlin/ von Leo Greiner

rethen! Gretchen! Lagft du nicht in fündigen Schauer in ben Armen ded Mannes? Ging deine Mutter nicht durch deine Schuld aus dem Leben? Erfchlug nicht der Geliebte dir den Bruder um deinetwillen? Gebarſt du nicht, mordeteft du nicht dein Kind? Und dennod bift du, die fi nun auf feuchten Lager mäljt, in Henkersnaͤhe, Jungfrau bift du, Gretchen, und alle Verftridung hat nichts über deiner Seelen Seele vermocht. Uber did) wurde Fein Gericht beftellt, die Schuld hat Fein Zeil an dir, die und alle bemältigt, unbefledt haft du empfangen, geboren und getötet, Zungfrau-Dirne, Jungfrau Mutter, Zungfrau-Mörderin! So oder ähnlich Flang die Melodie, die dem Dichter Franz Duelberg im Ohr lag, während er fein Drama „Rorallenkettlin“ (aufgeführt vom Meuen Verein in München) fchrieb. Aber nur der unbefledte, ſelbſt un- verſtrickte Geift Goethes vermochte ded Weibes praftifhe Verfhuldung in folhe engelftarfe metaphyſiſche Reinheit aufzulöfen. Duelbergs Kaͤthchen vom Schließenberg hat manchen dußern Zug von Gretchen behalten: in dem Arm des erften Mannes wird fie unfchuldig-f[huldig, ihr Water erhängt fih, ihre Mutter ftirbt um ihretwillen. Ja, im fpätern Verlauf de Dramas fällt, man weiß nicht, auß welchem Himmel, eine weitere Erinnerung an die Faufttragddie in das Stück: die Urmette des Vorfpield im Himmel, die ja unaudgefprohen auch um Gretchen geht und in jenem ‚Gerichtet! Serettet!‘ entfchieden wird. Fehlt leider das geiftige Band; fehlt auch die Klarheit einer an ſich groß gedachten Problemftellung. Die Gegenfäge haben die Eigenfhaft, fi anzuziehen. Verworrene Geifter find nicht imftande, fie denfrein auseinanderzubalten. So fommt es, daß ihnen, die zumeift für die Schattierungen und leifen Übergänge der Dinge ein fein audgebildetes Unterfheidungsvermögen befißen, gerade das, was ſich polar ausſchließt, rettungslos zufammenrinnt. Als Duelberg die Tragddie der Jungfrau-Dirne fhreiben wollte, widerfuhr ed ihm, daß er die Macht ded Emig-Weiblihen, die metapbufifche Keufchheit des Weibes juft an einem Gefchöpf zu erweifen verfuchte, das uͤberhaupt nie eine Jungfrau war, das die Zeichen der Defloration fhon an ſich trug, al® ed geboren wurde. Uber die Jungfrau fommt das Gefhleht wie ein unbekanntes Schickſal, dem fie in brennender Scham erliegt. Ihr Widerfpiel ift ed, jene Lilith, die Urunreine, der das Geſchlecht vom erften Augenblick gebeimnislo® und vertraut ift, der Fein glühendes Leid und unnennbare Schauer aus den jagenden Trieben erwachſen, fondern Wolluſt und Begier, Augen» und Zähnebligen. Aber der Umftand, daß auch Lilith unfhuldig tft, bewirfte, daß ſich in Duelberg die feindlichen Vor⸗ ftellungen mifchten: göttliche und demiurgifche Unfchuld floffen ineinander und wurden in feinem Hirn ein verworrened, unverftändliched Unfchulds- raufhen. Die Dunkelheit der Konzeption rächte fich natlırlich fofort, wie ed an die Audflihrung ging, die, mag man wollen oder nicht, das undeutlic Vermengte wieder audeinanderlegt. Nun beginnen ſich die beiden feind-

478

lihen Schweftern, Gretchen und Lilitb, um den Vorrang zu raufen, oder eine fucht die andre gewaltfam zu retten. Es funfelt von Widerfprüchen, eind will dad andre ftüßen und vor und beglaubigen und forgt nur daflır, daß alles ſich gegenfeitig aufhebt.. Man brauchte Duelberg daraus feinen allzn fchweren Vorwurf zu machen, hätte er nicht den Ehrgeiz gehabt, die Urtragödie der Zungfräulichfeit zu fehreiben. Allein an feinem Willen ge- meſſen, ift diefed Käthchen vom Schließenberg eine grobe Faͤlſchung, zwar nicht aus Unehrlichfeit, aber aud Verworrenheit entftanden. Weil ihr der Vater droht, fie ind Klofter zu fperren, läuft fie ſtracks aus dem Klein- birgerbaus, in dem fie aufgewachſen, in die Bordellgaffe, bietet fih an, will fid) verfaufen, brennend vor Wolluſt. Hier ift dad Weib, das das Außerſte tut, um an den Mann zu fommen. Sie ift, wie wir fpäter er⸗ fahren, ſich ihres Rechts auf „Leben“ wohl bewußt, fie hadert mit Gott, der ihr ftraffe Brüfte gefchenft und ihr gleichzeitig verboten bat, fie zu nügen: ganz Sinnenweib, aber aus der Meflerion heraus, bewußt, and Perverfe ftreifend, weil gar zu beißluftig auf den einen Trieb geftellt, Dirne aus Anlage, in alle Kafern binein. Aber dad will ja Duelberg gar nicht, er will ja die Jungfrau, Gretchen, dad Hinanziehende, Erlöfende, urtuͤmlich Freie. Der Gegenfag klafft. Er läßt alfo Lilith im Gretchenfleide fommen. Das glübende Vollweib trippelt, trägt ein Haͤubchen, fpricht in Diminutiven. Faft will es ſchon ſcheinen, als fei fie num wirklich Gretchen, fo voll Scham ift fie, fo treuberzig, fo lieb, fo ſchneeweiß. Ob uͤber die Luͤgnerin! Erflärt fie ſich felbft, ihr Handeln, ihr Recht nicht mit einer Sachkenntnis, die diefed ahnungslos plaudernde Geſchoͤpfchen nur in tiefem Grübeln über fih und feine Stellung in der Welt gefunden haben fann? Nur eins kann in diefem Kaͤthchen wahr fein, dad Pflanzenhafte oder das Nefleftierende. Da nun aber ein feiner felbit bewußter Menfc wohl Naivität erlügen kann, jedoch Fein naiver Menſch Bewußtheit, fo erfcheint die Seite in Kaͤthchens Weſen unwahr und erfünftelt, deren Sinn gerade füßefte Wahrbaftigfeit fein follte: das traumhaft Elementare, dad maͤdchenhaft Selig-Unfelige. Soviel echten und dichterifchen Geflihld Duelberg juft auf die Geftaltung diefed Wefentlichften verwandt haben mag, aus der Dichtung halt andres zurück, ald er hineinrief. Er warf ein lebendiges Herz in den Zauberbrunnen und zog ein Zuckerherz heraus. Das ſchmeckt zu füß.

Aus einem Bau, der auf morfher Grundlage ruht, fann fein Haus werden, in dem ſichs wohnen läßt. Allein einmal die Feftigfeit ded Fundamente zugegeben, wie verfährt der Dichter weiter? Kaͤthchen ift in die Dirnengaffe gelaufen, wird von einer Bordellwirtin aufgenommen, fällt ald dem Erften einem abgelebten Wollüftling in die Arme, den fie, da fie feine Forderungen zu erfüllen efelt, in der Notwehr mit feinem eigenen Dolce erftiht. Sie bat nicht gewußt, daß dies, was der perverfe Luftgreid von ihr verlangte, jene Liebe fein follte, die fie fo flammend begehrt. Aber ift denn das die Liebe? Welchen Anſpruch auf menfchliche Gültigfeit kann die Unzucht eines impotenten Schweineferlö erheben? Sollte Kaͤthchen in den großen Konflikt

479

zwiſchen dußerm Dirnentum und innerer Reinheit hineingeftellt werden, fo mußte fie die Liebe ald eine natürliche und wunderbare Kraft an fi er- fahren und dennoch mit dem Dolce zuftoßen, ald der Mann fi ihrer bemächtigen will, aus jungfräulichem Urinftinft, der vor der Wirklichkeit jaͤh aus fchlummernder Tiefe emporfchießt. Aber daß fie die Schidfaldtat, den Mord, begeht, nicht weil dad Weib in ihr gegen ihren bewußten Willen feine Urnatur verteidigt (wäre ein junger Burſch gefommen, fo wäre fein Mord gefchehen), fondern weil ein Luͤſtling Schmußiged von ihr begebrt, das rückt Die ganze Angelegenheit aus dem Tppifchen ind Zufällige. Iſt Käthchen alfo aus dem primären Grundirrtum des Verfafferd feine Jung⸗ frau, fo ift fie durch diefen Mißgriff auch Feine Dirne mehr. Sie ift nur ein Mädchen, das Pech bat.

Tehnifch genommen, ift hier ein Stud zu Ende: dad Drama von dem Meib, das, gejagt von feinen Begierden, die Neinheit feiner Vorftellung von der Gefchlechtöliebe an ihrem Beſchmutzer mit dem Tode rächt. Kaͤthchen fönnte fterben. ‚Aber died war nur ein Vorſpiel. Der Fuͤrſt ded Landes, zurückkehrend aus einem fiegreichen Kriege in Frankreich, zieht in die Stadt, ſieht Kaͤthchens Bild, das ein verftändnisvoller Maler im Kerfer von der zum Tode Verurteilten verfertigt bat, verliebt fi und macht die Suͤnderin zu feiner rau. Kaͤthchen ift zwar weder Jungfrau noch Dirne, aber immer« bin, biöher war beided gewollt in diefem zweiten Afte dagegen fcheint ed, ald drängte fich eine neue, befremdliche Vorftellung in die Richtlinie, die Duelbergd Wille bis dahin einbielt. Das fommt fo. Der Nat der Stadt ift empört, daß der Fuͤrſt die Dirne und Mörderin zu feiner Gattin machen will. Da hält der Fürft eine Rede, nicht zur Verteidigung Kaͤthchens, auch nicht zur Verteidigung der Dirnen, fondern ald Anwalt der Prostituierten, Er redet nit vom Weibtypus Dirne, der fi) ja nur in dem feltenften Fallen als Proftituierte masfiert, er redet von einem Gewerbe, das fozial vielleicht tiefer eingefchägt wird, ald ihm zukommt. Mag fein! Was aber geht Das in diefem Zuſammenhange mid) an, der glaubte, dag ed fih um die Tragoͤdie einer Seele, nicht um einen Tendenzfhmarren zu⸗ gunften einer Berufsklaffe handelte? Glüdlichermweife ift es nur eine moralifche Anwandlung, pſychologiſch gefaßt wieder eine Vermiſchung aus innerfter Unflarheit: Dirne und Proftituierte fließen einen Augenblid ineinander. Man wende nicht ein: Aber Kätbchen wollte ja ind Bordell! Mein, fie wollte nicht ind Bordell. Sie wollte zum Mann und wählt (die Jungfrau, die metaphyſiſch Reine!) den feltfamen, unbegreifliden Ummeg uͤber die Dirnengaffe. Wie weſensfalſch ift died alles!

Bon bier ab kann ich mich kurz faffen. Denn nad) feiner Abfhmwenfung ind Tendenzisfe findet Duelberg nicht mehr guriid. Dad Grundmotiv: Jungfrau und Dirne, nimmt in feiner Seele an Stärke und Deutlichfeit ab, verwifcht ſich allmählich, nimmt ein Neues, anfangs entfernt Werwandtes, dann immer felbftändiger Werdendes, an Weſensſchwere Gewinnendes in fi auf, wird langfam von diefem zerdruͤckt und ſchließlich ganz vergeifen,

480

ein Vorgang, deffen pſychologiſch feinfte Einzelheiten fih an der Hand des Buches nachweifen laffen. Das urſpruͤngliche Motiv klingt nur noch einmal wie ein Traum berauf: eben in jener Wette, die ein asketiſcher Priefler und der Fürft um Kaͤthchens Jungfrau Dirnenfeele eingehen. Im übrigen herrſcht dad neue Motiv: Dirne und Königin. Das Urproblem rüdt in den grellften Vordergrund der Dinge; wird Haupt» und Staatdaftion. Duelberg fühlt, wie er verflacht, und reift num, in dem Wettenmotiv, ein Stüd Tiefenwelt gewaltfam in die Oberflähenbandlung hinein, deren folgerichtigen Ablauf, Konflikt zwifchen dem fürftlihen Gatten der Dirne und dem Bolf bis zur Hinrichtung Kaͤthchens, er dadurch zerftört und verwirrt. In die fo erzeugte Berdunflung fällt bald wieder ein der Sache fremdes Element: Kaͤthchen, die mit Einverſtaͤndnis ihres Gemahls auf die dringenden Forderungen bed Matd geföpft werden foll, wird im letzten Augenblid von dem Volk, das fie in an fi prachtvollen, aber dramatifch völlig mwefenlofen Worten an⸗ fpricht, vom Tode befreit und zur Königin erhoben. Dos Chaos iſt da, sur noch ein leifed Licht leuchtet. Auch Died muß verlöfcht werden: Der Fürft wollte die Hinrichtung gar nicht, nur Kaͤthchens Todesmut wollte er prüfen. Das Mariamne-Moramotiv ſchreit durch die allgemein ſich ver- Dichtende Nacht einmal undeutlih auf: Kaͤthchen erftiht fih. Wie dieſe einzelnen Motive, die fi) noch um manche vermehren ließen, ſich werfnüpfen, zufammenlaufen, fid) wieder löfen, wieder finden, died ganze Gedränge und Geſchiebe verfchiedenartigfter Vorftellungen und Willendrichtungen, die ſich faft immer an ganz deutlich wahrnehmbaren Punkten gegenfeitig ablöfen, dies detailliert zu durchleuchten, wäre wohl ein pfychologifch ungemein reipvolles Unternehmen. Doch muß ich ed mir verfagen: nur die erfte Hälfte bed GStüdes ift troß aller Verfehlung äftbetifh wertvoll genug, um eine breit angelegte Behandlung zu rechtfertigen.

Sieht man aber von dem dramatiſchen Grundwillen, ein Ganzes zuerft zielrichtig zu erfaflen und dann Fraftuoll zu erhalten, ab und läßt bie Zeile wie gefchloffene Kleingebilde flr fih wirken, fo fteht man einer Überfälle Hildhafter Phantafie, einer Sprachfraft von fehr eigenwillig originaler Prägung und dem audgeprägteften Sinn für fcharfe Umreifung des Szenifchen gegen- über. Dazu fommt die Fäbigfeit, in harten, wenn aud) zuweilen noch allzu- grellen Rontraften zu feben, umd die manchmal bezwingende Art, wie ein Stud ded im ganzen fehr reihen Epiſodenwerks breit, wie ein hingefledifter leuchtender Farbeufled, in die Umgebung bineingeftellt if. Die Spradye, nicht ganz frei von Manier, erreicht ihre Eindringlichkeit und Glutkraft weſentlich auch mit malerifchen Mitteln: gefättigte, glutvofle Farben, über- gangslos nebeneinander gefeßt. Über dem Ganzen etwas Pegendäres, Traumwirkliches, grefl und fatt vor Die Augen gerlidt, aber doc, irgendwie in einem fremdartigen, unwirklichen Dunkel verhaftet. In Diefem bunt Traumhaften, flüchtig Brennenden liegt viel eigenfte Berfönlichkeitäftimmung. Mit einem Wort: eine durchaus felbftwillige, fcharf umriſſene ſieniſche Begabung, die unter Umſtaͤnden eine dramatiſche werden kann.

481

Moderne Sflaven/ von einem Clown Sechs Kapitel Schaufpielerelend

vI Beifall und Hervorruf Kritik Regieautofratie

[8 ich einem Direftor einmal Vorwürfe uͤber eine verunglüdte Rollen- A beſetzung machte, antwortete mir der Gute witzig und treffend: „Aber Liebſter, den Erfolg eines Stüds entſcheidet bei mir der VBorbang- zieher!“ Und dieſer untergeordnete, von feinem Direftor aber fo hoch⸗ geſchaͤtzte Funltionaͤr verſtand fein Amt und deſſen Bedeutung und recht- fertigte das in ihn gefeßte Vertrauen; aus den fehlichternften Andeutungen eined Beifalld machte er durch die affenartige Behendigfeit, mit welcher er den Vorhang hinauf und hinunter dirigierte, einen ſtolzen dreimaligen Her vorruf; und welch unbefchreiblihe Ehrungen der Dann aus einem wirklicher, normalen Beifall zu machen verftand, das grenzte and Fabelhafte. Was jener weile Direktor ausſprach und in diefe rhetorifche Ubertreibung Fleidete, ift beim Theater allgemeine Anficht umd Überzeugung, wenn es auch felten mit folder Schärfe und folhem Wit eingeftanden wird. Der laute Beifall des Publikums ift auch eine Eigentümlichfeit ded Theaters, eine Tradition, die den Künftler zum Sklaven macht. „Aber um Gotted- willen, Sie Nevolutiondr, fol man denn den Beifall auch abfchaffen, das einzige, was der arme Schaufpieler noch bat?” höre ich elegiſch ausrufen, und fofort folgt das zum Gemeinplag gewordene und gefchändete Dichter- wort: „Dem Mimen flicht die Nachwelt feine Kränze.” Mein, den Beifall möchte ich nicht abfchaffen, wenigftend den aus ehrlicher VBegeifterung und Erregung entfpringenden fpontanen Beifalldfturm nicht; wohl aber möchte ih das durch bezahlte Begeifterung oder durch Konvention hervorgerufene und durch den Vorhangzieher großgesogene Geräufh, welches man aud Beifall nennt, verhindern, forwie dad dadurch erzwungene Hervortreten und „Bedanfen” des Kuͤnſtlers. Namentlich diefer Danf müßte allgemein ab⸗ gefchafft werden, wie dies ja auch bereitd an einigen großen Inftituten zum Borteil der fünftlerifchen Wirfung gefchehen ift: am wiener Hof-Burgtheater ſchon feit Schreyvogeld Zeiten und am berliner Leffing-Theater, Oder aber ed müßte, wo der Brauch noch nicht abgefchafft ift, dem Künftler wenigſtens ſelbſt überlaffen bleiben, ob er nad) Fallen des Vorhangs nochmals vor treten und feinen Buͤckling machen will oder nicht, während er heute laut Paragraph fo und fo viel der Hausordnung und Paragraph fo und fo viel ded Vertrags ohne Rüͤckſicht auf feine künftlerifche Anfhauung und Über» jeugung dazu gezwungen iſt. Zwang und Sklaverei, wohin man auch blidt; und in diefem Fall noch dazu ein Zwang zu einer Sache, die jedem feinen Empfinden, ja felbit jeder Vernunft zuwider laufen muß. Ein eruptiver, erplofiondartiger, ein tofender Beifall entfteht nur aus hoͤchſter Spannung,

482

aus dem inftinftiven Bedürfnis, fi Luft zu machen, das heißt: aus der erzeugten Stimmung und Begeifterung heraus, und ift flr den Künftler ein Manometer, um die Stärke der hervorgebradhten Spannung zu beurteilen, Wenn nun aber auf diefen Beifall hin der Künftler, der ſich noch eben mit Aufgebot all feiner Kunft und Kraft bemüht hat, die dichterifche Stimmung zur Geltung zu bringen, mit geheuchelter oder wirklicher Erſchoͤpfung vor dem Publifum erfcheint, glücklich lächelnd nach allen Richtungen ſich verneigt, einen feligen Blick nad) ‚oben‘ richtet: fo hört er mit diefem Moment auf, Künftler zu fein und wird wieder der Gaufler, der Hanswurſt, der feine Perſon und feine Eitelfeit vor dad Kunſtwerk drängt, hinter welchem er befheiden zu verſchwinden hätte. Er handelt ald Marr, der den von ihm ausgehenden Zauber in feiner böchften und reinften Wirfung zerftdrt, indem er ſich beeilt, dem Publifum die Slufion, welche durch Koſtum, Dekoration, Maske und Beleuchtung hervorgebracht wird, leichtfertig zu rauben und ihm zu verfichern, daß alles nur Theater fei, und daß gar fein Grund zu folder Erregung vorliege.

Um nur ein Beifpiel zu geben: Wem würde ed nicht jede Illuſion rauben, wenn nad dem zweiten Aft von „Zriften und Sfolde”, während dad Publifum vor Begeifterung tobt, Zriftan und Zfolde vor der Rampe erfcheinen, wo ihnen ein riefiger Lorbeerkranz mwinft”), den aber feiner der beiden erblidt, bis endlich beim dritten Erfcheinen Zriftan, der Held, glücklich, wie ein Schuljunge, der eine Eins erhalten hat, auf das Ungetuͤm los⸗ ftürzt, um fi) noch ein halbes Dubend Mal zu neigen und zu beugen, Oder wo bleibt die Slufion, wenn man an einem Königlich Preußifchen Hoftheater nach dem zweiten Aft von ‚Tannhäufer‘ den Landgrafen, Tann⸗ bäufer, Wolfram und Elifabeth vor dem Vorhang erfcheinen, ſich halb rechts nad) der Hofloge wenden, die Haden zufammennehmen und fi verneigen fieht, während Elifabeth eine Cour-Verbeugung macht; noch eine Verneigung gegen dad Publikum, und die Zeremonie ift erledigt. Died mag ja im Konzertfaal gerade noch angeben, aber auf der Bühne ift ed albern und barbarifh. Was nuͤtzt ed da, nach Wagnerſchen Intentionen ſtrichloſe Auf- führungen zu veranftalten, die größte Sorgfalt auf Masken, die den Darr fteller unfenntli machen follen, und die peinlichfte Wichtigfeit auf winzigfte Kleinigkeiten, welche die Täufhung vervollftändigen follen, zu verwenden wenn man diefen Riefenzopf ungeftört baumeln läßt. Im Scaufpiel, wo die Täufhung eine weitaus ftärfere ift ald in der Dper, wirft dies natürlich noch weitaus brutaler. Und daß die Künftler felbft diefen Beifall als ftörend erachten, gebt daraus hervor, daß ed in der modernen Schaus fpielfunft fo ſehr verpoͤnt ift, auf den Beifall hinzuarbeiten und ihm durd) theatralifhe Mägchen zu provozieren, wie died früher allgemein geſchah.

Ein Wort nody Über dad Verkehrte ded Ausdrudd vom „Bedanken“

*) Die Unfitte ded Kraͤnzereichens beſteht noch an mb allen großen Provinztheatern, fei ed Hof⸗ oder Stadttheater,

483

der Schaufpieler; eined Ausdrudd, der ebenfo wie die ganze Einrichtung aub der fchlimmften Zeit ded Komddiantentumd ftammt. Heute, wo wir die Schaufpieler ald Künftler und als gleichwertige Mitglieder der buͤrger⸗ lichen Geſellſchaft betrachten, müffen wir un® fragen: "Ber ift e8 denn eigent- kih, der fich zu bedanken bat, der Künftler oder dad Publifum? Iſt es sticht dieſes, welches dem Könftler durd feinen Beifall Dank zollt, für die Begeifterung und den Genuß, der ibm verfchafft worden ift, und gemügt es nicht auch vollfommen, wenn der Künftler diefen Dank ſchweigend bin- nimmt, obne mit einem Büdling. zu quittieren? Aber was ſcheren ſich Die Direftoren um Kunſt oder um fo töridhte Sachen wie Selbftgefühl bei Schau- fptelern! Das Klatſchen erhöht die fuggeftive Wirkung, und das Vorhang» aufjiehben und das Verbeugen der Schaufpieler oder Sänger macht dem Publikum, wenigftend auf den obern Mängen, unleugbar fehr viel Spaß und Vergnügen. Wie oft habe ich nicht auf irgend einer Galerie die Worte gehört: „Hannes, oder Jakob, oder Epriftel, Flopp doch tlichtig, fie muͤſſen noch'n paar Mal ’raus!”

Am angenfälligften ftellt fi die Dummheit und Noheit diefed Syſtems in Parts, bei den Pächtern des guten Gefchmads, dar, wo die bezahlte Claque in den Theatern eine große und wichtige Rolle fpielt. Nach jedem gelungerten hoben Ton, nach jeder Phrafe, unbefimmert um Ördheiter nachſpiel oder Situation oder Stimmung, nad) jedem guten Scherzwort und nad, jeder langatmigen Tirade, fegt unbarmberzig die Elaque mit ihrem geſchaͤftsmaͤßigen Jubel und Applaus ein, und nicht etwa nur auf der Galerie, nein, mitten im Parfett, in allen Rängen. Wie efelbaft ift diefe Tartüfferie der Künftler, die fich folde Anerkennung erfaufen und den Beifall bezahlen und dann demütig daflır ‚danfen‘; wie beleidigend ift diefer Brauch fir das Publikum, dem man eine fo durchſichtige Komödie vorzufpielen wagt, dem man Leithammel beigibt und zumutet, fein Urteil und feine Begeiſterung durch diefe Stimmungsmacher beeinfluffen zu laffen! Wie erniedrigend für den Dichter und Mufifer, deffen feinfte Worte im Geraͤuſch des VBeifalls untergehen oder deſſen ſchoͤnſte Muſik, deſſen klangvollſte Harmonien ſolch wütesd Geklopfe und Gelaͤrme hervorrufen.

Alle Beteiligten: Publikum, ſchaffende und ausubende Kimftler haben daher das größte Intereffe daran, daß diefer Brauch des Vorhangaufziehens und des Vortretens und Vorbeugend möglichft raſch und allgemein abgefchafft werde. AU die ftörenden, lächerlihen und beſchaͤmenden Auswichfe wuͤrden verfchtwinden, und mir der aus wirklicher Begeiſterung entftandene Beifall würde bleiben, der Beifall, der mirflich der Kunſt und nicht der Eitelfeit gilt.

Und num Fomme ich zu dem beifelften Punfte meiner Außflihrungen, zur Frage der Kritik. Es ſoll bier nicht von eimelnen Aubwuͤchſen der Kritik die Rede fein, fondern gam affgemetn von der Wirkung der öffent lichen Kritik: auf die Rage der Buͤhnenkuͤnſtler. Und da muß ich feftitellen, daß diefe Wirkung eine durchaus verderbliche und ſchaͤdliche if. Wei jedem

484

andern Künftler, Maler, Bildhauer, Mufifer, Dichter fteht der Kritif ftets Das Kunftwerf gegenüber ald etwas Bleibendes, über dad andre Zeitgenoſſen anders urteilen mögen als der Kritifer, dem aber jedenfalld die Zukunft, oftmals fogar fhon die nächte Zufunft, Gerechtigkeit im guten oder ſchlechten Sime, durch Erhebung oder Erniedrigung, zuteil werden laffen kann. Bor allem aber ift fein Hritifer imflande, irgend einen der erwähnten Künftler am fernern Schaffen zu verhindern. Es werden fich ftetd einzelne Mäcene finden, die den Künftler unterftügen und ihm die Mittel zum Schaffen bieten, oder er wird vielleicht in bitterfter Armut umvergängliche Kunftwerfe ſchaffen, vor denen die Nachwelt bewundernd fteht und Über die Kurzfichtigfeit der Vorfahren ftaunt; oftmals bat fie fogar Gelegenheit, den Lebenden in fpäten Jahren zu ehren und zu wirdigen. Was bat Michard Wagner das Urteil von Hanslick anbaben koͤnnen, was Boͤcklin oder Monet daB Urteil von Kritifern und Ausftellungsricdhtern!

Der Schaufpieler dagegen? Er muß feinen Zeitgenofien gefallen, er lann feine Kunſtwerke nicht für fpätere Zeitgenoffen und fpätere Generationen ſchaffen; er bat amderfeitd auch nur Gelegenheit, einen ganz Fleinen Kreis son Zuhörern um fi zu fammeln. Eine Ausftellung wird von 20000 oder 100000 Menſchen befucht, eine Vorftellung, in weldher Herr £ oder D aus Leipzig oder Halle gaftiert, von 1000 bis 1500 Menſchen. AU die andern koͤnnen fi) gar fein eigenes Urteil mehr bilden und find lediglich auf das Urteil eines Einzelnen, des Kritiferd, angewiefen. Und wie oft ſich dieſes Urteil täufcht, das zeigt ja am beften die Laufbahn und Entwidlung zahle reicher Künſtler. Die andern alfo, die diefe Vorftellung nicht mehr befuchen fonnten, muͤſſen das Urteil des Kritikers oder der zufälligen Majorität, welche an jenem Abend im Theater anmwefend war, annehmen, und ber Künftler ift durchgefallen und verfchwindet in der Verfentung. Waͤre feine Kritif erfchienen, fo hätte fi der Direftor dad Urteil über ihn, unbeeinflußt, allein gebildet, oder dad Publikum der folgenden Vorftellungen hätte das frühere Urteil Faffiert; auf Grumd der ſchlechten Kritif ſieht aber der Direktor troß feiner beſſern fachmaͤnniſchen Überzeugung von einem Engagement des Kuͤnſtlers ab, da er den großen Einfluß der Zeitungd-Kritif auf das Urteil feines Publifums und auf den Stand feiner Kaffe fennt.

In dem auf Grund der Kritif abgelehnten Engagement des Klınftlers liegt aber für diefen noch die weitere Gefahr, daß er nun überhaupt nicht tiunftlerifch fchaffen kann. Denn der Scaufpieler ift fein unabhängiger Rünftler wie der Maler oder Dichter und andre; um zu fchaffen, braudyt er den ganzen Apparat ded Theaterd. Die ſchlechte Kritif hat ihm nun aber überhaupt ——— genommen, fernerhin zu ſchaffen, da ſie es ihm unmöglich macht, fi die Pforten eines andern großen Theaters zu er- fließen. rg A ge durcdhgefallen, fo bleibt es dem Direktor in Wien: oder Münden unbenommen, dad Buch zu lefen und ſich fein eigened Urteil darkber zu bilden. Iſt ein Bild oder eine Statue von der zuͤnftigen Kritif in Wien hart mitgenommen worden, fo wandert es auf

485

eine Ausftellung nad Münden oder Dresden oder Berlin und das dortige Publikum erhält Gelegenbeit, dad Urteil von Wien richtigzuftellen. Aber die berliner Kritif des Schaufpielerd ift dem Direktor in Wien, München und Dresden maßgebend, wenn er nicht zufällig felbft in jener Vorſtellung war; der Direktor ift auf eime Kritif blind angemwiefen, weil er fid) von ihrer Nichtigkeit erft durch ein Auftreten des Künftlerd an feinem eigenen Theater überzeugen koͤmte. Mit diefem Auftreten ift das Riſiko eines Durchfalls verbunden. Bor folder Probe werden nun wohl die meiften Direftoren aus gefchäftlihen Gründen zuruͤckſchrecken. Sollte ed aber dem Kuͤnſtlet doc gelingen, fih den Zutritt zu einem Theater anftändigen Ranges zu bahnen, und er auch dort aus irgend welchem Grunde und deren fpielen bekanntlich bei der Kritik, befonderd bei der Provinzfritif, fo viele mit neuerlich fchlecht in der Zeitung rezenfiert werden, dann ift er ein fir alle» mal geliefert mag er auch der tiefgründigfte Künftler fein, deflen Be» deutung oder Entwicklungsfaͤhigkeit richtig zu erfennen, einzig dem Kritifer verfagt geblieben ift. Alfo nicht nur Geld und Stellung und Anfehen nein, jede Ausficht auf Zufunft und Nachruhm wird dem Bühnenfünftler oft durch eine ſchlechte Kritif eine Mannes verdorben, der ſich ganz einfach geirrt bat.

Wie begreiflich alfo die furdtbare Angft der Bühnenfünftler vor der Kritik, ihre Aufregung beim Debut, das ftetd ein Ringen um Leben oder Sterben ift, und ihre Verfuche, fi auf irgend welche Weife eine gute oder wenigſtens ſchonende Kritif zu verfchaffen! - Wie begreiflidh die Angit der Direftoren in der Großftadt, namentlid in Berlin, einen Künftler vor der Kritik auftreten zu laffen! Die Wirkungen der Kritif find verderblih für den Schaufpieler, weit fchredlicher, ald der Kritifer felbit ahnen mag! Und was entfteht alles durch die Kritif! Welch haͤßliche Mandver, welche Eitelfeit, meld) verzehrender Meid, welch niedrige Eiferfucht und boshafte Klatfchfucht, welches Buhlen um die Gunft des Kritifers!

Befreiung vom Albdrucf der Kritif wäre flr den Schaufpieler eine der größten Wohltaten, die fi denfen ließen.

Bleibt no eine Eigentlimlichfeit und VBefonderheit der Bühne zu be= fprehen, die mit dem Weſen der Schaufpielfunft fo eng verwachſen und von ihr fo untrennbar ift, daß eine Anderung nur fehr ſchwer, vielleicht gar nicht herbeizuführen fein wird, wenn nicht die großen Ummäljungen, melde ich vorgeſchlagen habe, von jelbft auch hierin einen langfamen Wandel bervorrufen follten. Ich meine die heute berrfchende Regie-Autofratie.

Der Regiffeur oder Spielleiter ift eine dem Theater und der Schaufpiels kunſt ausfchlieglich eigentlimliche Erfcheinung. Abgefehen nämlich von feiner Tätigfeit für die deforative Geftaltung der Blihne und die Verwendung der Komparferie, ift der Megiffeur für den Schaufpieler unentbehrlich und ein weſentliches Moment feiner Kunft. Der Maler und Bildhauer, der Dichter und Komponift, ja felbft der ausübende Mufifer, können im Schaffen zu

486

ihrem Kunftwerf die Diſtanz des Elnftigen Hörerd oder Betrachterd nehmen und von deffen Standpunft aus ihr Werf und deflen Wirkung beurteilen. Nicht fo der Schaufpieler. Da fein eigener Körper der Träger feines Kunſt⸗ werfs ift, fann er felbft niemald aus eigener Anſchauung über ſich und ſein Werk zuverläffig urteilen und iſt hoͤchſtens auf frühere Erfahrungen und allgemeine Geſetze, ſowie auf Beobachtungen an andern angewiefen. Der Negiffeur foll ibm diefen Mangel erfeßen, er fol ihn mit Künftleraugen von der ferne fehen umd foll ihm helfen, die Wirkungen abzufhägen. Wie ſich auf den erften Blick ergibt, eine ſchwierige und außerordentliche fomplizierte ZTätigfeit, die unendliches Feingeflhl und viel Geduld erfordert, ſowie großes Anpaffungdvermögen an die Individualität der einzelnen Künftler. Der richtige Regiffeur muß daher auf die Auffaffung jedes einzelnen Künftlerd eingeben, muß jeden nad) feinen individuellen Intentionen beurteilen, muß gleichzeitig die Intereffen und Abfihten des Dichterd wahren und muß die oftmals ſich widerftreitenden Anfihten der Darfteller untereinander und mit dem Dichter ausgleichen und in Übereinftimmung bringen. Aber bdiefer natürlihe Freund und Gebilfe des Künftlerd ift im Laufe der Zeit fein un⸗ bedingter Vorgefehter, der Vertreter des Direftors, häufig fogar diefer felbft, und damit fein Feind und Gegner geworden. Ein Vorgefegter, der auf Grund des Vertrags eine unbedingte Autofratie und geiftige Tyrannei aus⸗ übt, deſſen Anſchauung und Entfcheidung unumftößli if. Laut Vertrag ft das Mitglied verpflichtet, allen Anordnungen der Direftion oder ihrer Stellvertreter bei Strafe der Entlaffung unbedingt Folge zu leiften. Die Haudgefege geben noch genauere Beftimmungen und Strafen für den: Weigerungsfall an.

Iſt der Regiffeur nun ein Künftler und ſelbſt eine ſtarke Im dividualität, fo fommt er meiftend ſchon mit einem fertigen Bild des Stuͤcks auf die prob⸗ und iſt dann gewoͤhnlich ſehr nervoͤs und unangenehm berührt, wenn der Kuͤnſtler aus feiner Anfchauung heraus eine gänzlich abweichende Auffaffung feines Charafterd bringt. Der Negiffeur läßt dann dem Künftler gar nicht erft die Zeit, die Sfizje von der erften Probe auszuführen, fondern befteht auf feiner Auffaffung, zwingt dem Künftler entweder mit Liebe oder mit Gewalt etwas ihm Fremdes auf, fpielt feine Autorität ald Vorgeſetzter aus und übt dadurch Drud und geiſtige Knechtung aus, Weigert ſich der Künftler, fo wird ihm entweder die Rolle abgenommen und andermeitig befegt, oder er wird mitteld Strafen Flein gemacht; in beiden Fällen aber fommt er gar nicht dazu, fein Kunſtwerk fertigzuftellen und wird gezwungen, vor Publifum und Kritif mit feinem Namen eine Auffaffung und ein Kunftwerf zu deden, welche gar nicht feine eigenen find und feiner Anfhauung vollfommen wider» fprehen. In dem ehrlihen Beſtreben, dad ibm anvertraute Werk des- Dichters aufs befte entſtehen zu laffen, fällt der Regiffeur in den Fehler des Mivellierend; mir erfcheint jedocd im Intereſſe der Kunft ein originelles- Vergreifen einer Rolle durch einen Schaufpieler, wenn es nicht geradezu im: ärgften Widerſpruch mit den Abfichten des Dichters fteht, bei weitem wert-

487

voller ald eine erzwungene, leibliche, ohne Begeiſterung und rende und obne Einftlerifhe Inſpiration gefchaffene Durcfchnittsleiftung. Diefe AU- macht und unbedingte Gewalt über die geiftige Tätigkeit andrer Kuͤnſtler erfcheint mir ald etwas Ungebeuerlihes; felbit wenn der Megiffeur wie voraudgefept ein gefhmadvoller, feiner, wirklich urteiläfräftiger Menſch iſt. Ein folcher müßte fchon durch die Nollenbefegung einen hauptfächlichen Zeil feiner Tätigkeit fuͤr erledigt halten und nach getroffener Auswahl das Weitere rubig dem kuͤnſtleriſchen Inſtinkt und der Individualität feiner Mit- arbeiter nicht feiner Untergebenen überlaflen und feine Zätigfeit auf den Proben ald Berater, ald alter ego jeded einzelnen und ald Mittler ver Gefamtheit auffaffen. Aber die Regiffeure find in den allerfeitenften Fallen ſolche Ideal ⸗Geſchoͤpfe. Es find leider zumeift alte Routinierd und verkrachte Schaufpieler, die ihre Tätigfeit ald Amt betrachten; da Died Amt ihnen aber nicht Gott gegeben bat, gibt er ihnen auch nicht dad Mötige dazu. Die Negietätigfeit ift mit vielen Fächern faft untrennbar verbunden. In der Provinz ift fat jeder Charafterfomifer, Heldennater oder Charakter fpieler zur Übernahme der Regie verpflichtet, da diefe Fächer zumeift durch ältere erfahrene Schaufpieler vertreten find, ungeachtet feiner Eignung in fünftterifcher und intelleftueller Beziehung für diefe wichtige Stellung. Solche Herren betrachten jeden Fünftlerifchen Widerfpruh des Schaufpielers als perfönlihe Veleidigung und ald Widerſtand gegen die Amtögewalt und wirden eber fterben, ald einen Irrtum oder Fehler einzugeftehen, Der natürliche Freund, dad unbedingte Bedlirfnis des Schaufpielerd wird zu einem Knuͤppel zwifchen feinen Beinen, der ihn in der freien Bewegung hemmt und fein fünftlerifhes Schaffen hindert und lähmt, anftatt es zu erleichtern and zu fördern.

Hoffentlih wird die wirtſchaftliche und moralifhe Selbftbefreiung des Schaufpielerftandes eine Folge der in meinen fechd Kapiteln angeregten Ummälzungen, auch diefe geiftigen SHavenfetten abzufchlitteln, imſtande fein.

Die Braut/ von Emanuel von Bodman

NER * die Sonne gangen, chreite ohne Bangen Querfeldein

Wie fill die Weiden fteben! Kaum daß die Blumen wehen. Nun will id ganz allein

Mit meinem Ringe fein,

Den du mir, Mann, Wie ſchimmert er fo

Im grauen Dimmerfdhein Und fließt ein un. Leben Mit feinen Schauern ein!

Rasperlefhorter

Lautenburgs Abfchied/ von Balthafar

Berlin fpricht: DL du, * doch dich von

mir wenden?

Soll ich wirklich dic) nach Wien ent— ſenden?

Soll das Buͤndnis nun zu Ende ſein?

Daß du eruſthaft dich machſt auf die Struͤmpfe,

Freund, es iſt und bleibt mir eine

ymphe, Und trotz Gruͤbeln geht es mir nicht ein.

Aber feſt ſtehts in mir ohne Schwanken: Viel hat das Theater dir zu danken. Waͤrs auch nur, daß einſt den Tag man ſah, Der zum erſten Male den glorioſen Alexander ung in Unterhofen

Brachte auf der Bühne menfchlich nah.

Doch du Mann der hödrft vergnügten Taten

Wardſt auch oft zum Freundder Literaten,

So am Sonntag Mittag, zwölf bie drei.

Lockteſt an die Schar der Geiftesriefen

Abends ward fie wieder ausgewieſen,

Und es tönte laut der Brünfte Schrei.

Ein Erfotg ließ ſich wohl and) erzielen, Drängte es dich, einmal felbft zu fpielen, Selbſt die bunten Kleider anzuziehn,

Als Bonjour, zuweilen auch als Nathan... Fängft in Wien du mit fo böfer Tat an, Sieht man bald dich wieder in Berlin.

Zwar man jauchzte in Begeifterungs- fchwipfen,

Wenn im Kampfe gegen Henrik Ibſen

TratftalsHjalmar indieSchrantendu?...

Scyadenfreudig janchzte die Gemeinde

Henrit Ibſens eingefchworener Feinde,

Fest ift Ibſen tot. Goͤnn ihm die Ruh.

Ungezählte Wise, Anekdoten,

Wie fie noch Bein Bühnenmann geboten,

Bingen Über dich im Wolf herum.

Du jedoch mit Hilfe gall'ſcher Boten

Krümmteft dich, befchwert von braunen Moten,

Aber Scherze nahmft du niemals krumm.

„Siegmund geht!” ſo toͤnt es in derRunde.

„Was fuͤr eine Rieſentrauerkunde

Iſt es, die an unſer Ohr jetzt dringt?

Wer wird kuͤnftig zwingen uns zum Lachen,

Sich blamieren, ſich zum Schaute machen,

Wenn der finſtre Raimund dich ver— ſchlingt?“

Und als gaͤlt es, ſich an dir zu raͤchen,

Setzten ſie ſich hin, mit dir zu zechen,

Waͤhlten des Bankettes ſchoͤne Form.

Scheinbar wardſt du an dem Tag gefeiert,

Doch in Wahrheit wardſt du lad» gemeiert,

Und fuͤrwahr: der Ulk, er war enorm.

Alſo hat, eh man ſichs abgewoͤhnet,

Man dich noch zum letzten Mal verhoͤhnet, Dich, den Helden Ibſens und Froufrous. Und du haſt dich noch bedanken muͤſſen, Armer Siegmund, ohne es zu wiſſen Oder aber vielleicht wußteſt du's ??!

489

RundkHpazı

Schultheater

ie Prüfungsaufführungen unfrer

Theaterſchulen find für die Pſy⸗ chologie der Kritif ein intereffantes Phänomen. Intereffant durch dievöllig verfchiedene Grundftimmung, mit der man zu ihnen und zu einer rechten Theateraufführung fommt. Der Kri- tifer nämlich, der nicht jeden gefunden Boden unter den Fuͤßen verlieren will, darf nicht, wie fo viele meinen, ind Theater gehen, ‚um zu fritifieren‘, um dad Gute und Schledhte der einzelnen Leiftungen audzufinden. Ald Genießer muß er fommen, einer, der ergriffen und erbeitert fein will, wie andre, und der nur vielleiht feine Sinne fo ge= ſchult bat, daß gröbere, unreinere, plumpere Mittel fie nicht mehr uͤber⸗ rumpeln. Erft wenn der erwartete Genuß ſich einftellteoder außblieb, tut der Kritifer einen Schritt, der jen⸗ feitd der —— jedes Zu⸗ ſchauers liegt: er ſpuͤrt den Urſachen des eben erlebten Effektes nach; jetzt erſt beginnt er zu pruͤfen und zu werten. Der erlebte Genuß bildet die Baſis fuͤr alle Keitif.

Bei Schulervorftellungen aber ift ed leider und notwendigerweife (und dies iſt ihr tiefſtes, untilgbares Manko !) umgekehrt. Kein Menſch tritt hier ein, um „Fauſt“, um Schiller zu genießen; jeder will die einzelnen Afteure ſehen, prüfen, bewerten. Die normalnaive Genießerftimmung des Publitums fommt nicht auf: es ift ein Parkett von Kritifern im fonft falfhen, abfoluten Sinne des Wortes. So fehlt der ganzen Vorftellung die rechte typifche Atmo⸗ fphäre der aufnabmemwilligen Maffen- fpannung, fo arbeitet jeder der jungen Akteure unter anormalen, erfchweren-

490

den Bedingungen. So ift auch bei ein- fihtigfter Yeitung eine wirflich mas gebliche, das heißt, allen fundamen- talen Bedingungen ded Ernitfalles entfprechende Aufführung des Schul: theaters unmöglich. Was im Ernftfall Bafid der Kritik ift, wird bier Ziel, Spiße: erft wenn die Kritif nirgend⸗ ftarfe Neibungsflächen findet, weil Die Mitwirkenden mit leidlich reifer Fertig⸗ feit ineinandergreifen, dann Fommt vielleicht dem wachſamen Kritifer um- merklich Doch eine Stimmung des Ge⸗ nuffed auf, in dem man mit gefunden Augen ftatt durch die prlfende Lupe auf die Buͤhne blickt. Hier alfo kommt nur im günftigften Fall, als böchfter

Lohn eine Dispofition des Zuſchauers

zuftande, die jeder andre Mime ald ur⸗

fprüngliched Gut, da® nur nicht ver⸗

fherzt zu werden braucht, befißt.

In einer Reinhardtſchen Schulauf- führung der vorigen Woche wurde diefer beftmögliche Zuftand zuweilen erreicht. Die unter Leitung Siegwart Friedmanns agierenden jungen Leute erreichten ed namentlich in Ifflands ‚Hageftolzen‘, einen Eindrud der Dich» tung zu geben. Es war der Eindrud, daß es nahezu frivol ift, diefen Dichter durch Vergleiche mit unfern Dreyer, Sudermann, Philippi zu beleidigen. In diefem geiftig befchränften, gemüt- lih fentimentalen Kreis waltet ein Darfteller von abfoluter Ehrlichkeit, Empfindungsreinheitundhöchltrefpef- tabler Geftaltungsfraft auf feinem Fleinen Felde ganz gewiß ein wirklicher Dichter. Die am fidh echte, und aber leicht ald verlogen beruͤhrende At» mofpbäre,in der ſich diefe empfindungs« felige Kunſt bewegt, erträglih zu machen, dazu find freilich gerade folde

jungen Leute, deren Talent die lehte Kunft alled wahrmachender Einfach⸗ beit natürlich) noch nicht beberrfcht, außerftande., Mit Baffermann und Elfe Lehmann wäre bier ein lohnender Schatz fauberer, herzlicher Menſch⸗ lichkeit zu heben. Daß die Spieler von ſich ſelbſt zu ſolch allgemeinerer Be- trachtung ablenken konnten, darin liegt ihr deſtes ob. Die Befchränfung liegt darin, daß ſich über Diefen vorteil- baften Gefamteindrud nun wieder fein befondered Talent erhoben, daß keins bier oder nachher inden,Fauft‘-Szenen ein Sonderintereffe erzwungen bat. Es war eine ganze Menge mwohl- erzogenes Können zu fehen, da® nor= mal Empfundenem den uͤblichen Buͤh⸗ nenausdrud gab, aber es fehlte an Spuren einer unalltäglihen Veran⸗ lagung, an Zeichen einer Naturfraft, die einmal die Schulzucht uͤberwinden und eigened Leben fchaffen wird. Jeder Elementarlaut fehlte, am auffälligften dem Gretchen, dad Fräulein Traute Kemprner (Svanbildfhen Ange» denfens) fo gefchickt fpielte. Eher als auf diefe Fühle Klugheit möchte ich auf den jungen Mann Hoffnung feßen, der ald Mepbifto feine ausgezeichneten Mittel noch inallerhand Konventionen, aber mit Energie und Wig braudte.

Julius Bab

Komddie

Mr fann drei Jahrgänge der

liegenden Blätter durchftöbern und ſich daraus eine Poffe zufammen- ftellen. Portierfrauen und Baͤcker⸗ meifter werden laden, und der Stuͤcke⸗ fchreiber hat feine Schuldigfeit getan. Man fann eine Gefchichte mit heiterm Ausgang erfinden, fie dialogifieren, wirffame Aftfchlüffe berftellen, die Szenen mit beluftigenden Werten und Situationen aufpußen, und man hat die Lacher auf feiner Seite. Man fann weſentliche Züge von —— Staͤn⸗ den, Voͤlkern, Raſſen uͤbertreiben, man

kann ſproͤde Jungfern mannstoll, Atheiſten bigott, neunmal Weiſe neun⸗ undneunzig Mal dumm machen: das alles ſind Wege zu Komoͤdien verſchie⸗ denen Ranges. Doch immer muß es mit Witz, Satire, Ironie oder Humor geſchehen.

Das Luſtſpiel jeder Art muß den Zuhoͤrer lachen machen, und ſei es unter Traͤnen. Und doch gibt es in Deutſchland, wo der Humor ein rarer Artikel iſt, immer wieder Leute, die ein Theaterſtuͤck mit ‚befriedigendem‘ Ab⸗ ſchluß ſchlankweg Komoͤdie uͤberſchrei⸗ ben, unbefümmert um feinen Mangel an Witz oder an fonftigen lächernden Eigenfchaften.

Kurt Martens, ein refpeftabler Novellift, hat einen ehten Novellen- ftoff zu einer fogenannten ‚Komödie‘ verarbeitet, die typiſch fuͤr dieſe Gat⸗ tung deutſcher Theaterſchriftſtellerei iſt. Dad Stüd heißt: ‚Der Freuden⸗ meifter‘ (Berlin, Egon Fleifhel&Eie.). In einem deutfchen Kleinftaat führt gegen Ende des fechzehnten Jahr⸗ bundertd der Herzog ein ſtramm⸗ evangelifches Regiment. Seine lebens- Iuftige Gemahlin verweigert fi ihm feit der unfröhlichen Hochzeitsnacht und leidet an feelifher Verftimmung. Da fommt ein fpanifcher Abenteurer und Adept an den Hof und verfpricht, die Herzogin zu heilen. Der Herzog gibt feine Zuftimmung zur Kur und ftellt dem neuen Freudenmeiſter einen Frei⸗ brieffür den Benusdienft aus. (‚Wie fo ein Menfch ſich nur verändern fann!“) Daflır fol der Magier aber hundert⸗ taufend Goldgulden dem Herzog aus Blei bervorzaubern. Am Hof beginnt ein uͤppiges Leben. Der Spanier furiert die Herzogin, das heißt: er verführt und verfuppelt fie. Der Herzog aber merft nichtd, er ahnt nur und finnt auf Entdedung. Die im legten Aft ‚par malheur‘ fommt, nachdem ed mit dem Goldmachen auch Schwindel war. Alle Sünder werden begnadigt, nur

491

der Adept und fein Diener müffen baumeln. Und die Moral von der Ge⸗ ſchicht: Auf den Rauſch folgt der Katzenjammer.

ie kurze Analyſe gibt natuͤrlich keinen Begriff von der Langweiligkeit, die eine ſolche Komoͤdie ausſtroͤmt. Mit dem beſten Willen koͤnnte kein Schauſpioler eine Rolle des Stuͤckes zu einer intereffanten Figur geftalten, viel weniger noch zu einer luftigen. Man kann ed dem Publifum nicht ver» ibeln, wenn e8 mehr Gefallen findet

an franzsfifchen pifanten Schwänfen fd

oder an derben Poflen, ald an folchen literarifchen ‚Romödien‘. Willi Speth

Der Florettwechſel im ‚Hamlet‘

n der Morgennummer der Bofli« fchen Zeitung vom 17. April gibt Profeffor A. Döring in aus« brliher Darlegung eine auf tief gründigen, teilweiſe in Buchform vor« liegenden Hamlet-Studien berubende Regieanweifung über den Wechfel der Waffen im leiten Aft des Dramas, Seine Ausführungen find ein typifcher Beweid dafür, wie unfruchtbar die Theorie ohne Kenntnid der Praxis ift. Denn für die Bühne ift Doͤrings Nefultat belanglos, da er von vorn⸗ berein fein Problem falfch erfaßt. Es ift nämlich gar nicht die Aufgabe des Regiſſeurs, die Florettizene lebend- getreu zu geftalten. Er bat über» baupt die Möglichfeiten der Fecht⸗ funft erft in zweiter Linie zu beruͤck⸗ fihtigen, in erfter Linie aber den im Theater ftetd ausfchlaggebenden Fak— tor: dad Publifum. Diefem muß zur Steigerung der Spannung und jur Vermeidung einer fpätern Über— rafhung fofort beigebradht werden, dag ein Wechfel der Florette ftatt- gefunden bat, und ed genügt voll« ftändig, wenn diefer Vorgang nicht

unwahrſcheinlich ericheint. allen nun nad) Doͤrings Vorſchlag durch den Stoß des Laerted beide Waffen zu Boden und nod dazu beide auf die Seite Hamlets, fo ift ja gewif die Tatfache der Verwechslung febr möglih. Wer bürgt aber daflır, daf dad Publifum der Bühne Köniz, Laerted) und des Jufchauerraums died auch merft? Es ift daher nötig, diefen wichtigen Vorgang zu unter» ftreihen, und die fann und muß durch dad ftumme Spiel des Laertes ge-

eben. Er fchlägt feinem Gegner die Waffe aus der Hand, hebt fie (wie Döring richtig bemerft, gemäß dem Fecht⸗ fomment) fofort mit feiner linfen Hand auf, legt fie neben feine eigene Waffe in die rechte Hand und wendet dann beide Florette, um feinem Geg- ner dad Heft anzubieten. Er ver» gewiflert fich mit einem furzen, aber deutlihen Blick (langſames Gen- fen, rudartiged Heben ded Kopfes), welhe Spitze vergiftet if, und uͤber⸗ läßt dann mit dem Auddrud der böchften Spannung dem Prinzen die Wahl. Hierdurch werden die Zu— fhauer auf die Bedeutung Ddiefes Moments aufmerffam. Erböht wird ihre Spannung noch durch das Furze Zögern Hamlets, der den Blick des aerted mit einem unwillkuͤrlichen, erftaunten Zuruͤckwerfen ded Ober: förperd beantwortet und erft dann zugreift. Sofort erfahren die Zu— fhauer nun den Ausfall der Wabl durch Das Entjegen des Laerted, der faum nod fähig ift, fi) zu wehren: die Spannung bat ihren Höhepunkt erreicht.

Damit folhe Nuancierung nicht aufdringlic wirft, ift nur notwendig, daß fie bligartig vor ſich gebt: hoͤch⸗ ftend zehn Sekunden darf Hamlet ohne Waffe fein. Georg Altman

Berantwortlich für die Redaktion: Siegfried Jacobfohn, Berlin SW. 19

=

Berlag von Defterbeld & Co. BerlinW.15 Drud von Imbera & Leflon, Berlin W.O

16. Mai 1907

IIL Jahrgang Yıummer 29

Wedekinds ‚Hidalla‘/ von Alfred Polgar

Zur wiener Aufführung

8 gibt feine falfchen und feine richtigen Standpunfte. Es gibt nur

falfche oder richtige Vertretungen eined Standpunfted. Und im legten

Grund ift jeder Triumph einer ‚Erfenntnis‘, einer ‚Wahrheit‘ ein Sieg der Dialeftif. Es gibt feine Behauptung, die recht ‚hat‘, ed gibt nur eine, die recht ‚behält‘. Die Welt wird nie uͤberzeugt, ftetd nur uͤberredet. Für beides hatten die Flarften Realmenſchen, die Römer, nur ein Wort. Manchmal, wenn die Menſchheit gar zu barthörig, wenn das, was fie bören fol, gar zu ſchwer, zu ungefchmeidig ift, um glatt in die Gehirne zu rutfchen, bedarf ed gewaltiger dialeftifher Mittel,um ed hineinzuzwingen. Es bedarf des draftifchen Beifpield, der Wunder, derFeiden, der Selbfihingabe. Des Opfers in jeder Form. Die Menſchheit (ald Kundſchaft des Genied, bei dem fie ihren Ideenbedarf deckt) vermutet mit Necht auch in diefem Metier ein gefundes Gefhäftäprinzip wirffam, welches lautet: Wert für Wert. Es muß eine große dee fein, der einer fein Können, feine Feidenfhaft und Energie, eine größere, der er fein Geld, eine größte, der er fein Reben opfert. Und gerne nimmt die Menſchheit fo Flug lancierte Ware.

Karl Hetman, der Held des Wedefindfhen Schaufpield, hat wenig Glüͤck mit feiner dialeftifhen Methode. Sie verfagt. Der neue Ton feined Ge- dankens ift zu fremd, dringt aus zu weiter Ferne ber. Leidenfchaft, Hin- gabe, Selbftaufopferung all diefe ungeheuern Scalltrichter können ihn nicht fo mächtig anfchwellen laffen, dag vor feinem Klang Widerfprud und Bosheit der Welt ſchwiege. Er wird nur immer mehr ind Schrille, Bur- leöfe, Gigantifch-Abfurde binübergedreht. Diefer Hetman träumt von einer Welt der Schönheit, in der eine neue Moral berrfchen follte, feine Moral, die den Urquell der Triebe verfchlittet und verfandet, indem fie ihn nad) faufmännifchen Zwedprinzipien ‚reguliert‘, fondern eine, die ihm feine freiheit, feine fprudelnde Kraft, feine Himmel und Sonne fpiegelnde Klarheit fihern will, ‚Micht der Trieb ift gemein; gemein ift feine Unterdrüdung und VBer-

493

wendung zu fchäbigen Handels wecken. Karl Hetman will ihn anders nüßen : zur Megeneration des Geſchlechts. An die Reichen wendet er ſich. An die, melde die Sicherheit der Exiftenz haben, deren Dafein alfo nicht mehr im Bemühen des Wurzelfaffens fich zu erfchöpfen braudht, fondern um da® Bluͤhen und Früchtetragen beforgt fein darf. Um Schönheit. So gründet er den ‚Berein zur Züchtung von Raffemenfchen‘.

Und augenblid3 beginnt fein Martyrium. Das Schöpfer-Martyrium. Die Qual, welche jeden Verſuch zur Geftaltung einer dee mit Schmerzen obnegleihen wuͤrzt. Der Dramatifer Wedekind wird ſolche Qual oft genug, nicht am wenigften, ald er diefed ‚„Hidalla‘-Drama fehrieb, verfpürt haben. Muͤht fi fein Hetman nicht mit ähnlihen Mitteln ums reale Erfcheinen einer nur gedachten Welt, wie der Dramatifer Wedelind? Mit der praffelnden Gewalt agitatorifcher Rede, mit ruͤckſichtsloſer Preisgabe des eigenen Ich, mit dem Aufftellen gewaltiger Kuliffen, mit Blut und Wunden, mit dem Zauber der flarren Konſequenz in Durchſetzung eines Charafterd, eines Ge⸗ dankens, eines Inſtinkts. Der erfte Griff fhon, mit dem Hetman erfchaffen will, was er biöher nur dachte, formt eine Karikatur ftatt eines Abbildes: den Derein zur Züchtung der Naffemenfchen mit Großmeifter Morofini an ber Spite. Doc duldet erd, in dem Gedanken, dad fei nur eine Art vor⸗ läufigen Entwurfs, ein unreined Konzept ded erträumten Schoͤnheitsbundes. Aber die Erfhaffung dieſes Großmeifterd Morofini ald ‚Zdol, ohne das ſich Menfchenfeelen nit dauernd fefleln laffen‘ ift ein demagogifcher Zug des Hetman, der ſich fpäter an ihm rächen fol. Das Geſchoͤpf währt über den Schöpfer, dad Idol verſchlingt die Jdee. Man denft an Niepfche und bie jammervolle Mot mißverftändliher Anbetung und Ablehnung, die fein Übermenfch in der intellektuellen Welt beraufbefyworen bat.

Immer mehr entgleitet die Hetman⸗Idee der Abſicht ihres Schöpfers und zerfließt in allerlei tragifchegrotedfem Spuf. Alle geniale Kraft kann fie nit halten, Fein Opfer nährt fie. Es kommt der Augenblid, da Hetman ‚der Tod Lebendbedingung‘ fcheint. Der Tod der Perfönlichkeit Lebendbedingung für die Idee, die in jener Perfönlichfeit ihre Verkörperung hatte. Aber auch diefed lebte, ftärffte Ddialeftifhe Argument, das die Hetmanſche Wahrheit mit unfterblihem Glanz umfliegen und die Menfhen vor ihr in die Knie zwingen fol, wird ihm aus der Hand gefchlagen. Ein Entwaffneter, ein völlig Wehrlofer weicht er vorm Leben zurüd. Der ‚ab- grundtiefe unhberbrüdbare Gegenfaß‘, in dem er ſich feit frübefter Kindheit zur normalen Welt befindet, Flafft weiter als je zwifchen ihm und den andern. Ein Evangelium-Verfünder, den der giftige Atem der Welt ind Myſterium feiner wiffenden Einfamfeit zurücfauchte. Einer, dem feine Heilsbotſchaft in die Pfüge fiel. Ein Heiland, der Pech gehabt hat. Wie ftellt er ſich den andern dar? Wie jeder invertierte tragifche Held als Komiker, als dummer Auguft. Der Zirfusdireftor Eotrelly, die Weltbrutalität in Perfon (und noch ein andres, wie man fehen wird), weift dem Hetman diefe Rolle in der Lebendfomddie zu, worauf der nicht mehr länger mitfpielen will.

494

Aber nod hat fi die Ironie des Schidfald an ihm nicht fatt gehöhnt. Selbft den toten Hetman noch dupiert dad beutegierige Leben. Der Ver- leger Launhart raubt Hetmans Werk ‚Hidalla, oder die Moral der Schönheit‘. Der Leib verfault und die Seele holt der Teufel.

Dies ift die ‚Tragödie des Jpealiflen‘ in der Komddie. Daneben zieht die ‚Zragddie der Zdee‘. Die befte und ſtaͤrkſte Wirkungsfomponente des Schaufpiels ‚Hidalla‘. Staunendwert vielfältig und mit einer echt dramatiſchen Kraft der Konzentration hat Wedefind dargeftellt, wie die dee, faum daß fie ihrem Erdenker von den Lippen fiel, von Guten und Schlimmen ver- waljt, befhmußt, mißbraucht, zerbrochen wird. Da ift der Verleger Launbart, ein Prachtkerl in feiner beiſpiellos unfentimentalen Gier, ein Genie in feiner Art, der fozufagen jede Henne, die ihm ind Netz läuft, zwingt, goldene Eier zu legen. Da ift Morofini, dad Idol, die lächerlihe Perfonififation der ‚Schönheit‘, das reine Animal (und deshalb Liebling aller vom Inſtinkt überwältigten Damen), das durch die ‚dee‘ zu einer Art fhändlichen Be- wußtſeins feiner felbft fommt. Dann Walter von Brühl, der Schriftiteller, der die Idee bebrütet, eine fahle Wiffenfchaft aus ihr macht; der im Dienft der Schönheitdidee direkt haͤßlich an ihr wird und ein haͤßliches Weib zur Gattin nimmt. Weiter: Gellinghaufen, die forrefte Unintelligen;, die ganz und gar fterile Anftändigfeit in Perfon, die von der geiftigen Potenz; des Spealiften gleihfam gehalten wird, damit ihr der Praftifer die Tafchen leeren kann. Ferner Fürftin von Sonnenburg und Miß Grant, die für ‚dad Mittel zum Fwed der Raſſemenſchenzuͤchtung fanatifch begeiftert find. Ein Phä- nomen, dad im Webelindfchen Zirkus ganz befonderd gern gezeigt wird: Der Unterleib ohne Dame.

Diefed Schidfal einer großen dee, die den normalen Menfchlichfeiten zum Fraß vorgeworfen wird, ift in „Bidalla‘ meiſterlich dargeftellt. Mit einer wilden Luft an ‚äußerften Ronfequenzen‘, mit einem Humor auf Tod und Leben fozufagen. Die Satire Wedekinds wirft immer diefe ganz fehrägen Strablen, die burledfsriefenhafte Schatten erzwingen. Seine Menſchen haben dann etwas Fratzenhaftes in ihrer Vifage, etwas Gefpenftifh-Erfchredendes. Eine Mifhung von Phantaftifchen und Niedrigem ift in ihnen, von Dämonie und Platt-Gemeinem man möchte fagen: fo träumte fie ein fatirifcher Kopf. Die Grenzen ded Wahrfcheinlihen weihen. Wenn die Feſſel der geſellſchaftlichen Form gefprengt ift, aus der fteinernen Ruhe der bewußten Korreftheit Triebe und Begierden mit fchamlofen Grimaffen vorbrechen wie die gotifhen Tiere aus der Kirhenfaffade dann hat man falt den Ein- druck: moderne Walpurgisnadht. Hier, in ‚Hidalla‘, iſts auch einmal fo: im vierten Aft, in der Gene zwiſchen Moroſini und den beiden Damen. Das Idol ftellt einen Seffel auf den Tiſch, ſetzt fi darauf und wirft paſchamaͤßig fein Tafchentuc zur Erde. Die beiden Anbeterinnen bedrängen ihn werbend, Flettern auf die Stühle, ihm nad, zifheln ihm ihre Brunft ind Ohr. Es ift eine Szene von unmäßiger parodiftifcher Wildheit. Gleich« fam: wie der Mann die Frau zu ſich emporbebt! Dder die Szene mit dem

495

Zirkusdireftor Eotrelly. Ganz jenfeitd aller Möglichfeit. Eine groteßte Viſion. Ein unmwirfliher Zirfusdireftor, der nicht von der Gafle zu fommen, fondern geradezu aus Hetmans Seele hervorzufpazieren [heint. Der Satan, der Verſucher. Es heißt auch in der faenifchen Anmerkung: „Sn feinem Gefihtsausdrud liegt etwas Altfränfifh-Mephiftephelifches.” Und der erfte Satz, den er fpricht, lautet kurios folgendermaßen: „Ich möchte fie gern in einer wichtigen Angelegenheit um ein Selbitgefpräd erfuchen.”

Zur ‚Tragödie der Idee‘ im Drama gehört auch Hetmans eigene Ber riehung zur Idee. Er fcheitert am ihr, wie fie an ihm. Er kann Die Idee nur denfen, nicht leben. Und darin gebt er unter, nachdem er vergeblih erftrebte, an der Exiften; andrer, die jene Ideen leben koͤnnten, feine umber- irrende Hoffnung zu veranfern. Dies ift die dritte Tragödie in „Didalla‘, die Tragddie ‚Sein und Haben‘, die Beziehung zu Fanny Kettler, die Tragddie der eigenen Unzulänglichfeit. Hetman ift mißgeftaltet, ein Kruͤppel. Er haßt fih die Häßlichfeit wie er Fanny Kettler die Schönheit liebt. Aber lieben heißt: begehren, beißt: beligen, eind werden wollen. Es ift die tragifhe Spaltung in Hetman: daß die Sehnſucht feiner Seele eine andre ift, ald die Sehnſucht feined Bluts. Er ftellt jene Sehnſucht viel höher, kaͤmpft heroiſch gegen die eigenen Triebe, die feine boͤchſte pfpchifche und geiftige freiheit gefährden. Triebe, von denen Fanny fagt, daß fie „Feſſeln feien, in die wir Menfchenfinder gefchmiedet find, und die fih nicht zerreißen laffen, ohne daß wir und der entjeglidhiten Hilflofigfeit preißgeben”, Hier gerät man in eine pſychologiſche Untiefe im Charafter ded Hetman. Er nennt es feine ‚eigene Verdammung‘, wenn er die fchöne Frau in den Armen bielte. Warum? Nur das Gefchäft der Fortpflanzung, von einem Hetman geübt, wäre ein Verbrechen gegen die beiligfte Hetmanfche Idee. Aber Liebe ift doch micht ſchon Zeugung. Oder ift fein Kult der Schönheit fo priefterlich vertieft, daß ſchon die haͤßliche Nähe, die Be— rührung, der Genuß ded Schönen dur ein Haͤßliches Befleckung und Fäfterung bedeutet? Wäre ed fo, wo liegt die Grenze? Trinft Hetman nicht mit gierigen Augen fo viel Schönheit, als fein Bli nur faffen kann? Iſt dad ſchon Profanierung? Wo beginnt die ‚Verfuppelung der Schönheit an die ſcheußliche, grauenerregende Mißgeftaltung‘? Es ift überbanpt anzumerfen, daß die feruelle und die afthetifche Sphäre in diefem Drama fortwährend ineinander verfließen, während fie doc ganz gefonderte, wenn auch durch taufend gröbfte und feinfte Zufammenhänge fommunizierte Trieb» und Be- wußtfeind-Welten find.

Frei und ſchoͤn ift die Figur der Fanny Kettler erdacht. Sie liebt Hetman, dad ‚Sein‘ ded Hetman. Und ihre Liebe bat eine ibealifierende, verflärende Kraft, der die ‚Mißgeftalt‘ des Helden ald ein Lügnerifches, Schönheit bergendes Zufalldfoftim erfcheint. Sie liebt nicht den Inbalt, fondern die Größe feiner Idee. Sie liebt feine beldifche Art, den Strahl feiner Intelligenz (gleichgültig, was fie ftrahle), das hochgefpannte Verlangen feined Herzend. Sie fliegt ihm zu, nicht weil er die Schönheit verfündet.

496

Sondern weil er fie fo heroiſch, fo romantifch-felbitios, fo ritterlich⸗ unbeirrt verfiindet. Sie ſchwaͤrmt weniger für die Verkündigung der Schönheit, als vielmehr für die Schönheit der Verkündigung. Sie liebt das fanatifierte, dialeftifche Pathos feiner Perfönlichkeit, nicht was dieſes Pathos predigt. Sie liebt die ftolge Diktion, nicht den Text feined Wollens und Wünfchens. Sie liebt das Außerordentlihe an ihm, den efftatifchen Klang ſeines Ich, den Wolfenflug feiner Träume. Sie liebt ihn vom erſten Moment feines Erſcheinens an. Sie wird Mitglied des furiofen ‚Raffemenfhen-Bundes‘, nicht weil Ziele und Zwecke ded Bundes ihr gefielen, fondern weil er für den Bund wirbt. Seinethalben drängt fie ſich herzu, das geforderte Opfer, die pflicht- mäßige Gunftgewährung an die Herren des Bundes, zu bringen; und feinet- balben, dem allein fie doch angehört, ſtraͤubt fich jede Faſer in ihr gegen dad Opfer. Fanny Kettler repräfentiert die edelfte, die befte Art des erotifchen Inſtinkts. Und es zeigt fi, daß er durchaus nicht parallel läuft mit dem beften äfthetifchen Beduͤrfnis. Was fie ihm doc fo wertvoll macht, ihre Liebe, macht fie ihm wertlos. Er ift der fuperlativifhe Mann: der Fanatismus der dee, ftärfer ald alle Triebe. Sie ift die fuperlativifche Frau: der Fanatismus des Triebes, ftärfer ald alle Ideen.

Diefed Drama „Hidalla‘ ift fein großes Kunftwerf. Es bat genialifhe Konturen, aber blaffe Karben. Und es ift eine fo dünne Atmofphäre in diefem Scaufpiel, daß feine Geftalten manchmal im luftleeren Raum zu agieren fcheinen, dag man ihren gefpenftifchen Schrei mehr fieht als hört. Dramatiſch völlig bewältigt feheint mir, wie gefagt, dad Thema: ‚Schidfal der Idee.‘ Da ift alled Erfcheinung, Aftion, fomptomatifches Leben und Erleben geworden. Das „Schickſal des Jdealiften‘ aber wird rhetoriſch aus⸗ gewicelt, und dad Drama ‚Sein und Haben‘ verläuft zum Zeil unter der Erde, verſchwindet den Blicken, ſchießt plöglich mit elementarer Wucht hervor, ohne daß ein Werden diefer Gewalt, ein Verfammeln diefer Kräfte dem Zufchauer offenbar geworden wäre. Um den Inhalt der Hetmanfchen Lehre, dad agens movens der Komödie, liefen fih Orgien des Widerſpruchs und der ZJuftimmung feiern. Fürd Drama wichtiger ald der Inhalt der Hetmanfchen Idee aber ift ihre Wucht, ihre Schleuderfraft, ihr faufender Elan. Diefed Drama raucht mehr, ald ed flammt. Aber ed bat Flamme, und man fpürt ihren beißen Atem. Ich glaube nicht, daß „Didalla‘ zu den literarifchen Unvergänglichfeiten zählt, zu jenen, die ein Fünftiges Jahrhundert in feine geiftige Schaßfammer binlberretten wird. Aber ich glaube an einen hohen Kuriofitätäwert der Komoͤdie. Und daran, daß ein fommender Franz Blei eined fommenden Saͤkulums fie in einem fommenden Infelverlag als literarifche Köftlichfeit aus dem Staub des zwanzigften Jahrhunderts heraus- fingern wird. Ald das dramatifche Werk, in dem zum überhaupt erften Mal die Schönheit nicht ald ein egoiftifhes, fondern als ein altruiftifches, ald ein Univerfalproblem der Menfchheit behandelt wurde. Als das Werf, dad zum erften Mal die Figur und den Paffiondweg eines aͤſthetiſchen Er- löferd darzuftellen verfuchte,

497

In der Reihe der Wedekind» Dramen felbft ftelle ich diefe® Schauſpie

weit ruͤckwaͤrts. Es ift ſtets intereffant, hat aber nur felten die faßzinterente, padende Gewalt feiner fruͤhern Schöpfungen und gar nichtd von Der merf- wirdig molfigen Poefie, die font fo ſchoͤn und licht im ‚Frühlings erwachen‘! auch um die fchroffiten und finfterften Faden feiner dramatiſchen Berglandfchaft zieht. Es ift immer bei Wedekind: ein Schlahtfeld und eine Sonne, die drüber ſcheint. In „Hidalla‘ nur Schlachtfeld. Hetman das ift ein echter Wedefind-Menfh. Der Dichter hat eine zärtliche Liebt für ſolche vulkaniſche Menfchen, fo unmäßig-Verlangende, fo von Anfanz an durch die Größe und Heftigfeit ihred Wollend Verlorene. Und Wedekindſche Helden müffen immer den Weg ihres Schickſals bis zu Ende gehen. Mick gehen, nein: ftürgen! Es ift immer, man fannd mit feinem ſchwaͤchern Wort fagen: Titanenſchickſal. Aus Flaffendem Gegenfag zwifchen der Unbegrenztbeit ded Wollend und der Begrenztheit des Koͤnnens, aus dem Widerfprud jwifhen dem jaͤh aufwärts treibenden Intellekt und der jaͤh abmärts ftoßenden Triebgewalt in einem Menſchen quillt die Ironie der Wedefint- Dramen. Und immer ftellt er Menſchen dar, deren hoͤchſte Geiftigfeit zwar in MWiderfprud mit den ftärfften Inftinften ihres Blutes ſteht, aber doch von ihnen bedingt wird! Es zieht ein gebeimnidwoller Strang von den dunfelften Urtrieben der Wedefindfhen Menfhen zu ihrem beilften Erfennen und Wollen. Mietzſche fagt: das Boͤſe ift des Menfchen befte Kraft!) Die immer beftigere Spannung diefed Stranges, fein endliched Reigen dad ift dad Drama Man fann diefe feltfame Verknüpfung, die gerade aus den trübften Wurzelfäften eined Organismus deffen reinfte geiftige Blüte aufſchießen läßt, diefe merfmürdige organifche Einheit von Engel und Dämon, wie fie Wedefind in einer Menfchenfeele zu zeigen liebt, zwiefach beurteilen. Je nahdem man annimmt, daß fie der Wunſch zeitigte: Gemeines zu adeln. oder die ſatiriſche Abſicht: das Edelſte im Gemeinſten bedingt zu jeigen, Noch manderlei über das Typiſch-⸗Wedekindſche in diefem ‚Bidalla-Drama wäre zu fagen. Über den gellenden, fat monotonen anfarenton der Charaftere, über den feltfamen Krah und Zufammenfrady der Tatfachen, diefe Hauseinftürze der Handlung, die der Dichter fo liebt, fiber den erotifch- penetranten Zirfuston und Zirfusgerudy feiner Dramen, Über die clowneske Spaßigfeit, mit der feine Menſchen ausgleiten und uüͤber die bezeichnende Flagge, die auf dem Firft faft aller feiner Gedanfen- und Gefuͤhlsbauten ſteht: die Peitfche!

Die Wedefindfhe Dialektik Iberzeugt nicht, aber fie uͤberrumpelt. Ihr ſturmhaft Hinreißendes weht den Hörer fort, auch wo er nicht mitgehen will oder kann. Der Rei, dad Tempo diefer ftarfen, abfonderlihen Intelligenz wirft, auch mo ihre Abſicht falſch oder dunkel ſcheint. Man unterliegt ihr ein wenig fo, wie Fanny Kettler ihrem Hetman. Liber des Schuͤtzen Ziel liegt Nebel, aber die Kraft feines Bogens ift bewundernäwert und der Klang feiner fchwirrenden Pfeile eine finnliche Freude.

498

Rittner

8 war einmal. Es war einmal werden wir in alle Zukunft fagen

& ein da Nittner nach dem eriten Juni feine Bühne mehr betreten wird ed war einmal ein Schaufpieler, der gar fein Schaufpieler

war. Bon diefer Gattung fol, der Theatergefchichte zufolge, in gewiffen langen, Zahrzehnte langen Zwifchenräumen faft jedes europäifche Land einen oder zwei Vertreter hervorgebracht haben, Nittner wäre alfo nur der vor⸗ läufig letzte Zweig eined alten Stammes geweſen. Ich glaube das nicht. Die Theatergefchichte ift, dank ihrem vergänglihen Material, die trügerifchite Wiſſenſchaft. Wenn man die Mimen, denen fie Nittner beiordnet, beute fehen könnte, fo wuͤrde ſich wahrfcheinlich weiter nichts ald eine oberflaͤch⸗ liche Verwandtſchaft der biftorifchen Miffton ergeben. Ste haben alle einmal, mie er, durch Abfichtälofigfeit und Selbftentäußerung gegen Überlebtheit und Effefthafcherei revoltiert. Das ift die ganze Übereinftimmung. Der Unter- ſchied ift denn doch betraͤchtlicher. Es ift der Unterfchied zwiſchen einer programmatifchen und einer felbftverftändlichen Naturwabrbeit, zwiſchen einem epbhemeren und einem lebenslänglihen Naturaliömus, der feine Richtung ift, fondern der notwendige Ausdrud einer reinen Menfchlichfeit. Jener andre Naturalismus kann und wird immer wieder zur Konvention erftarren, gegen die eine folgende Generation von neuem anfämpfen muß. Was unfre Väter ald modernfte Schaufpielfunft verblüffte, mutet und ſchon feit geraumer Zeit wie lebendfremdefte Chargierung an. Nittnerd Kunft war von unvergleichlich dauerhafterm Schlag. Ihre Echtheit war feinem Einfluß zugänglih und feinem Wandel unterworfen. Selbft die große Natur Bernhard Baumeifterd ift irgendwie von der Tradition ded Burgtheaterd gemodelt worden und hat ald Gegengabe diefe Tradition gefärbt und aufgefrifcht, wird aljo weiter feben. In dem jlngern, fulturärmern, traditiondlofen Berlin fonnte Rudolf Nittner vom 31. Dftober 1891 bis zum 4. Mai 1907 ein Eigener und ein Einziger bleiben. Er bat feine Erben, wie er feine Ahnen hatte. Als er anfing, brauchte er nichts zu verlernen, und ald er abtrat, batte er nichts zugelernt. Darum, weil diefer Schaufpieler gar fein Schaufpieler war, kann man

in der abftraften Terminologie der Fachkritik eigentlich nur fagen, was er nicht war, was er nicht fonnte und was er abſichtlich unterließ. Er war feiner von den Zaufendfünftlern, die paffioniert und muͤhelos in bie fremdeften Häute fhllipfen. Er verfchmähte die Witze und Bravouren, die Nänfe und Kniffe des Metierd. Sein Organismus hatte nicht die federnde Elaftizität, um durch liftige Steigerungen und vorbereitete Wirkungen zu uͤber⸗ rumpeln. Sein Geift war mißtrauifch gegen die Wahrheit einer Empfindung, die Wert darauf legte, fi prunkvoll zu Außern. Diefed Mißtrauen, das

499

nicht minder richtig ald Schamhaftigkeit der Seele zu bezeihnen iſt, richtete fi aber auch gegen das begründetite Pathos und fuchte es zu dämpfen. Fuͤr Schiller taugte dad ſchlecht, und felbft ein Schnigleriher Vers,

der nicht annähernd in dem Maße auf Wurf und Wucht und Slan; der

Sprache geftellt ift, Fam in diefem Munde zu kurz, weil auch in der ruhigen Mede zwar nicht Aufbau und Gliederung, wohl aber Rhythmus und Melodie vernachläffigt wurde. Den Eindrud der Gezwungenpeit verftärfte in foldhen Fallen das Koftim, dad kaum jemald wie dad natürliche Gewand, fondern meiftend wie eine Verkleidung ausſah. Wittner durfte fich nicht verkleiden, nicht verftellen müffen. Er ftieß unwillfürlic alles ab, was ihm gegen Die eigene Natur ging. Wo er, um eine Rolle, eine Situation zu treffen, nichts weiter nötig gehabt hätte als eine Übertreibung der eigenen Natur, eine Verfünftelung des eigenen Tond, da lieg er Situation und Rolle fallen und blieb er felbft. Er bat immer nur fi felbft gefpielt. Bei ihm war ed, wie bei feinem zweiten Schaufpieler, ein ganz gleichartiger und gleich⸗ wertiger Genuß, ob man ihn auf der Bühne oder außerhalb der Bühne ſah.

Denn er wirkte nicht durch dad, was er tat, fondern durdy dad, was er war. Und er war foviel, daß er und durch fein bloßes Da-Sein ſechzehn Jahre feſſeln und bezaubern fonnte und wahrhaftig nicht zu befürchten gehabt hätte, und in den naͤchſten fechzehn jahren zu verlieren. Gein Wefen war fo gluͤcklich gemiſcht, daß ed und Sehnfucht und Erfüllung zugleich bedeutete. Für diefed Doppelmefen war die Stimme, die einen hoben Tenor und einen tiefen Bariton, wie Trompete und Orgel, wie Klarinette und Eello vereinigte, der entiprechendfte Ausdrud. Sie war fatt und voll und feft umd doc nie ohne feinfte Vibration. Sie war der ganze Rittner: zwifchen Muskel⸗ männern und Mervenbimndeln ein Mann mit Nerven. Ciner, der nicht blos dad Heimweh der Verzärtelung und Zerfeinerung nad der verloren gegangenen Kraft und Schwere verförperte, fondern bereit die fraftoolle Feinheit felbit. Oder doch wohl richtiger: die verfeimerte Kraft. Zuerſt nämlich war der Bauer Nittner dagewefen, Rudolfs Großvater oder noch fein Vater. Breitfohlig auf feinem Boden, urwuͤchſig, unbeleckt, geftrafft und ftrogend von eingebornem Mark und Saft. Das märe fir und ein Anblick geweien, wie ein Acer, ein Baum, eine Landſchaft, koͤſtlich wie ein Naturbild, ein Maturereignid, und endlich wie fie. Um und ein dauerndes, ein unerfhöpf- liched Beſitztum zu werden, mußte ein Rittner von des Gedankens Blälfe angefränfelt umd doc gefund erhalten, zerriffen und doch ganz; erhalten werden. Es entftand diefer reihe Menſch, feltfam, fugendicht und einmalig zufammengefeßt aus Maivität und Sntelleftualität, aus Mervofität und Derbpeit, aus Germanentum und Slawentum, aud Dichter und Bauer, aus Mufifer und Gaufler, von deffen Gauflertum wir nicht eher erfuhren, als

500

bis er es völlig unerträglic fand und furz entſchloſſen von fi) warf. Bid dahin war und vor feiner Kunft nie ein Gedanfe an Komoͤdianterei gefommen. Da ftand ein Mann, aufrecht, troßig, lauter und flar, der beileibe nicht gaufelte, der nicht nach Beifall fchielte, nicht Maͤtzchen und Mäsfchen erjann und feilbet. Es war fein Theaterfpiel, ed war eine gelaffene, noch bei Temperamentdentladungen gelaffene Entfaltung von männlicher Kraft, die nicht grob, von männlicher Schönheit, die nicht dumm geblieben mar. Penn fih in tiefiter Not aud Vruft und Kehle diefed Mannes Töne würgten, die wie urtümlich, wie vorzeitlic langen, fo war doch ein Neben- ton aus unjrer eigenen Zeit dabei, der und am fchmerzlichften ergriff. Und wenn ed fchien, ald ob diefe erdverhaftete Kunft doch gar zu fehr der Phantaſie entbehre, jo war vielleicht der Betrachter noch phantafieärmer, der Phantaftif im FFlitterglanz; und in Himmelshoͤhen ſuchte und fie in Nübezahld Bezirk, bei Waldfchrat, Jau und Huhn, bätte finden koͤnnen.

Jetzt ift der meifterlihe Schöpfer diefer realspbantaftifhen Figuren, die wie zabllofe andre aus dem Grunde der eigenen Natur geholt waren, von und gegangen. Mit achtunddreifig Jahren. Es ift ein Unifum in der Theatergefchichte, wie der ganze Nittner ein Unifum war. Vorwurfs⸗ voll und traurig umſchweben ibn mie Peer Gynt feine ungetanen Taten die Schatten der Dichtergeftalten, die auf fein Fleiſch und fein Blut, feinen Nerv und feinen Kopf gewartet hatten, um wieder einmal lebendig zu werden. Jetzt können fie lange warten. Fu unfrer Generation werden in unfrer Sprahe Goͤtz und der Erbförfter und der Richter von Zalamea faum noch fprehen. Man ift verfucht, die Schuldfrage aufzuwerfen, zu fragen, wer und um diefe und welche Erlebniffe nicht noch gebracht bat, Es ift zu vermuten, daß mancdherlei zufammengewirft bat. Der Niedergang der Sache, mit der Rittner hochgekommen war, fann nicht ſpurlos an ihm vorübergegangen fein. Jede von den Konzefjionen, die erft ſchweren, dann immer leichtern Herzens und immer häufiger gemadt wurden, mußte einen Mann perfönlid treffen, der im treuen Dienft für jene Sache nicht gewankt und nicht gemwichen war, Wenn Mittner dad Brahmſche Repertoire und Enfemble von 1906 mit 1896 verglich, fo mochte er allerdingd an Gegen- wart und Jufunft gleihermaßen verzweifeln und ſich in Dem Getriebe eines Tages überflüffig finden. Diefen Tag hätte Brahm mit einiger Energie und Einfiht noch lange, vielleiht noch ein paar Jahre lang, zu unferm und zu feinem eigenen Nuten, binauszögern fönnen. Ganz abzuwenden war er nicht. Denn mit derfelben zwingenden Notwendigfeit, mit der es diefen Bauernfprößling ald Juͤngling zur Bühne getrieben hatte, mufte es ihn ald Mann fchließlih von der Bühne treiben „der Mutter Erde ausgeſetztes Kind, dad heimverlangt”.

501

Nichard Vallentin/ von Willi Hand

ach zwei Jahren öffentlicher Arbeit und heimlicher Ärgerniffe gebt nun N Richard Vallentin, unbefriedigt und kaum gewuͤrdigt, aus dem Deutſchen

Volkstheater und aus Wien weg. Es war ihm gerade nur gegoͤnnt, den paar Leuten herzlich lieb zu werden, die ſich nach einer intenfivern und bewußtern Geiftigfeit in den theatralifhen Künften Wiens febnen. Bon feiner pofitiven wiener Arbeit wird, wenn er und einmal verlaffen bat, kaum viel übrig geblieben fein. Man hat ihn zu fehr ald Spezialität verwendet, ald den Zier-Berliner fozufagen, ald den auserwählten ‚modernen‘ Regiffeur. Er befam fein fireng abgefchnittened Ende Fiteratur zugeteilt; die Stücke vermutlich, zu denen weder die Direktion, noch die andern, wieneriſch ein- gefahrenen Negiffeure rechted Jutrauen hatten. Denn alled dad, wovon man glaubt, ed müffe feiner höhern Qualitäten halber beim Publifum uns bedingt durchfallen, wird ja bei und Fiteratur genannt. Valentin war alfo der Megiffeur für die Literatur, und die andern waren Negiffeure für den Erfolg. Natürlich hat das Publifum, das ſich ja nie recht auskennt, die beiden fo deutlich unterfchiedenen Kategorieen oftmald miteinander verwechſelt, die vorbeftimmten Erfolge unvorfichtig durchfallen laffen oder die efligen Fiteratur- Sachen mit unvermuteter freude afzeptiert. Umfo fchlimmer, möchte ich faft fagen, für Nallentin. Denn auf diefe Art kam er in dad Repertoire, ohne ed zu beberrfchen, und wurde naturgemäß von ihm verfchlungen. Wildes ‚Zriviale Komödie‘ und Shaws, Menſch und Übermenfch‘, die lauteften und nachbaltigften Erfolge Vallentins, fteben jeßt ald etwas gefcheitere und nettere Salonftüde unter den vielen dummen und gewöhnlihen Salonftüden diefes Theaters. Wobl fann auch der Kunftfremdefte nicht uͤberſehen, daß bier ein fubtilerer Wille, ein gepflegterer Geift, geſchicktere Hände am fjenifchen Gang und Bild gearbeitet haben, ald anderdwo. Aber die gute Menge ahnt doch nicht, daß mit diefen frifchern und feinern Außerlichkeiten auch glei ein ganz andres Weſen in diefed Theater fommen fönnte, ein fräftiger und verftändlicher Ausdrud unſrer Zeit, überwacht und ausgeprägt von einem, der ſich febr wohl auf ihren Fünftlerifchen Willen verfteht. Dazu, der Menge diefed Gefühl nur einigermaßen zu geben, wären doch mehr Erfolge von- nöten gemwefen, die tiefer greifen und wohl auch ernfter hätten paden muͤſſen. Aber wie gefagt man fhob den Mann mißtrauifch in den literarifchen Winkel, ließ ihn dort verdroffen fein einfames Handwerk treiben und forgte daflır, daß dad Theater im übrigen jeine alten ausgefahrenen Wege ginge. Ein richtiges Zufammenmwirfen, ein fünftlerifher Ausgleich zwiſchen diefem gelegentlihen Dallentin-Theater und dem fonftigen Deutſchen Volkstheater bat niemals flattgefunden. Er jelbft beflagt ſich wohl auch über allerlei Intriguen, heimlihe Machenſchaften und verſteckte Widerftände, die ihn aller- orten gebemmt hätten: Theatergeſchichten. Es mag ja wohl fo fein, und ed ift febr zu bedauern. Denn bier, wo ſich das Finftlerifche Leben fein Sträblhen moderner Helligfeit mit taufend Anftrengungen und Selbft-

502

täufhungen von der wirtfchaftlihen Verdroſſenheit und der äfthetifchen In⸗ dolen; erfämpfen muß, ift jede Zufuhr geiftiger Energie auf das freudigfte zu begrüßen. Richard Vallentin wird ja wohl aud nicht das ftarfe Genie gewefen fein, das, bei einiger Freiheit der Aftion, den Stand unfrer Bühnen auf feine alte glanzvoll vorbildliche Höhe hätte reißen können. Er hat Fehler gemacht; hat in ‚Nosmerdholm‘ fein ganz unzulängliched Material auf eine Höhe des Stild binauftreiben wollen, daß diefe armen, ſchwachen Kräfte ſchon auf halbem Wege den Atem verloren; bat in Gides ‚Rönig Kandaules‘ den Sinn verfehlt und den Ton vergriffen. Aber er bat fih nie auf Schlamperei und falte Routine eingelaffen, bat nie auf bloßen Lärm und bohle Mache gearbeitet, hat immer was gefucht, immer mad gewollt, was noch über den Kuliffen und außerhalb der Rampe war. Er ift ein ftarfer Pille und ein Flarer Geiſt. So klar und ftarf, daß man ihm vielleicht mand)- mal ein Fleines Plus an Phantafterei, an Raufch, an Weichheit und Nachgiebig⸗ feit wuͤnſchen möchte. In feiner legten Arbeit, der furzfichtig Elugen, ſchein⸗ pbilofopbifchen Heiratöfomädie von Shaw, fam dad wieder an den Tag. Der ganze Shaw, mit feinem jagenden Witz, der ſich felbft uͤberholt, mit feinem Gymnaftifer-Temperament, mit feiner aufreizenden Erzentric-Örimaffe, war in dieſer SInfjenierung; und nur fein Stüdchen Geheimnis nicht, das arme Fleine Philofopbiechen, auf das ſich diefer ſpaßige Gedanfenverbeflerer fo unrechtmaͤßig viel einbildet, Mir ift nicht fehr leid darum; aber es hätte, meine ich, doc drin fein müffen, um dem Stüd feine befondere Zeit gemäßbeit, feine eigene Klaffe zu geben. So wurde ed denn, obne daß, eine ſehr gefcheite und zur Verwunderung aller literarifchen Lefer recht kurzweilige Komödie, mit der denn auch fo ziemlich alle Zuſchauer ein⸗ verftanden waren. Die Unfchuldigen ſagten: Da friegen fie ſich wieder auf eine ganz befondere Weife, und die Snobs fagten: Es ift Doc Bernard Shaw! Aber im Grunde war ed nur Nihard Ballentin und fein ftarfes Negietalent.

Sein Wirfen in Wien ift nicht voll gewertet, wenn man feiner Ver- dienfte um die Anfänge unfrer ‚freien Volksbühne‘ nicht gedenft. Der ftarfe, felbftlofe Eifer, mit dem er das Unternehmen Über die erften Werde- forgen wegtragen balf, brachte gleich Kräfte ded Gedeibend ber und gab andern ein Beifpiel. Der Macht dieſes Beiſpiels ift zum großen Zeil auch die audgeglihene Schönheit und ganz durchgeiftigte innere Energie jener eröffnenden Vorftellung (‚Zu den Sternen‘) zu danfen, von der ich fhon damals rühmend geſprochen habe. Später tauchten dann die gewiſſen ‚Bedenfen‘ auf, die die Direftion des Deutfchen Volkstheaters bewogen, ihrem Regiffeur Vallentin die weitere Mitwirfung an diefen Vorftellungen zu unterfagen. Man wollte ibn lieber in der gut abgemauerten Fiteratur- Abteilung des Volkstheaters einfam ind Leere arbeiten, als auf freierm Terrain ind Freie und Weite wirken laffen. Wenn bei und einer, fein ſchoͤnes Eigentum nicht zu gebrauchen weiß, dann läßt er es lieber ungenutt ftehen, ehe er duldet, Daß ed andre berühren und fich daran freuen. Wien!

503

Los / von William Blafe

no, alte Mutter, die den Wagen Leuthas

feit dem Tage der Donner in alter Zeit leitet, unter der ewigen Eiche fißend, zitterte und erſchuͤtterte die feftitehende Erde, und ihre Rede brach alfo bervor:

DO, ferne Zeiten!

ald Piebe und Freude Anbetung waren, ald niemand für unrein gebalten wurde, weder blinde Fürfternbeit,

weder duͤnnlippiger Meid,

weder borftiger Zorn,

weder gelodter Mutwille.

Aber der Luͤſternheit wurde voll eingefchlttet, Meid ernährte das Fett der Laͤmmer,

Zorn dad Blut der Löwen,

Mutwille wurde in Schlaf gewiegt

von der Faute der Jungfrau

oder gefättigt mit ihrer Fiebe.

Bis Luͤſternheit ihre Schlöffer und Riegel brach

und fchlief mit offenen Türen,

Meid bei ded Reichen Felt fang,

dem Zorn ein kleines Mutterlamm aufwärtd und abwärts folgte, und Mutwille auf feiner eigenen treuen Liebe

eine Raſſe von Rieſen zeugte.

MWutrafend liefen die Flammen der Begierde durd Himmel und Erde, lebende Flammen,

Flug, geordnet, bewaffnet

mit Zerftdrung und Seuchen. Inmitten

der ewige Prophet in eine Kette gebunden, gezwungen, Urizend Schatten zu bewachen. Nafend von Flüchen und Funfen ver Wut

rollen rund die Flammen, ald Los feine Ketten wirft, aus feiner Wut verdichtet aufiteigend,

rund und rund rollend und auf die Hoͤhe fteigend in leeren Raum, in Nicht-Sein,

wo nichts war! Weit beifeite gefchlagen,

ftampfen feine Füße die ewigen mwilderafenden Ströme weiter Flamme, fie rollen rund und rund

504

und Öffnen auf allen Seiten ihren Weg in Finfternid und ſchattige Dunfelheit.

Weit beifeite ftanden die Feuer, in der Leere

blieb Los zurück zwifchen Feuer und Feuer,

fie erblidten ihn unter Zittern und Entfegen,

fie ftanden weit beifeite, getrieben von feinen Händen und feinen Füßen, die den niederen Abgrund

in Wut und heißem Umwillen ftampften.

Doch aus den feuern Fein Licht. Alles war

um Los Finfternis, Hige wurde nicht abgegrenzt

zu feurigen Kugeln aus feiner But,

die gigantifhen Flammen zitterten und verbargen fich.

Kälte, Finfternid, Hemmung, ein Körper

ohne Schwanfen, bart wie Diamant,

ſchwarz wie unbezwingliher Marmor von Ägypten, band den rajenden Unſterblichen ein,

und die getrennten euer froren ein,

ein gewaltiger Körper ohne Schwanfen

band ein feine audbreitenden Flaren Sinne.

Der Unfterblihe ftand erftarrt in der Mitte

bed gewaltigen Felſens der Ewigfeit Zeiten auf Zeiten, eine Nacht, ungeheuer dauernd,

ungeduldig, erftickt, fteif, gebärtet.

Bid Ungeduld die harte Knechtſchaft nicht länger ertrug, zerriß, jerriß den gewaltigen Körper mit einem Krad) vom Unermeßlichen ind Unermeßliche.

Mittendurd in zahllofe Stüde geborften,

fhleudert der propbetifhe Zorn, um Ausbrud kaͤmpfend, fie beifeite, wütend ftampfend zu Staub,

und bebt, brödelnd mit berftendem Schluchzen,

den ſchwarzen Marmor auf die Höhe in Stüden.

Neun Zeiten vollendeten ihre Kreife, ald Los die glübende Maffe bite und fie in die Tiefen binabwarf: die Tiefen entflohen in zuruͤckſtroͤmenden Rauch: die Sonne ftand felbft-audgeglihen, und Los lächelte vor Freude.

Er ergriff das gewaltige Ruͤckgrat Urizens

und band ed binab zu der glühenden Taͤuſchung.

Aber Licht war nicht, denn die Tiefe floh überall fort

und ließ eine ungeftaltete finftere Leere. Hier liegt Urizen

unter finfteren Martern auf feinem glühenden Bett,

bis fein Gehirn in einem Feld und fein Herz in einer fleifhigen Haut vier Ströme bildeten, die den unermeßlihen Feuerfreid verdunfelten und die Naht hinabfloffen: bis eine Geftalt vollendet war,

eine menſchliche Täufhung in Finſternis und tiefe Wolfen eingehillt.

Aus dem zweiten Band von William Blafes ‚Ausgewählten Dichtungen‘, der, in der Übertragung von Adolf Knoblauch, in diefer Woche bei Defter- beid & Eo., Berlin, erfcheint.

Dresdner Hoftheater| von Bodo Wildberg

m dresdner Hoftheater ift ‚Libuffa‘ gegeben worden. Grillparzers A wundervolles, ruhiges, reined Alterswerk. igentlid ein Lebenswerk.

Denn früh ſchon, ald er fein Zauberdrama ‚Drahomira‘ dichtete, fpäter im Jufammenbang mit den Stimmungen, aus denen Gappbo und Medea bervorgingen, bat er ſich mit Fibuffa, der mweifen Tochter Herzogs Krofus, innig befhäftigt und bat dann in den Zeiten der Nevolution wieder nad dem Stoffe gegriffen. Nach einigen wäre das Drama fhon 1848 vollendet gewefen, und nur Fleinere Zufäge ſtammten aus des Meifters greifen Tagen. Einerlei: die Grundftimmung der Tragödie ift von größter Einbeitlichfeit, und fie rührt gar feltfam an Phantafie und Herz und Sinne, Es ift eine weltanfängliche, morgenfühle, fabelhafte Stimmung. Wie der dampfende Acer der Kultur liegen die Zuſtaͤnde da; es ift noch das Märchen- alter; die Gefchichte eined Landes beginnt.

Böhmen: dieſes Erzfabelland; dieſe uralte, riefige Gneisſcholle, die eine Inſel war, ald ringsumber über dem Deutfchland, Öfterreich, Polen der Zukunft dad Meer flutete; Böhmen, dad ältefte Land Mitteleuropas, im dem noch beute ſchreckhafte dunkle Sagen afiatifher Herkunft leben: von dem tollen Mädchenkrieg, von der Amazone Wlafta, von Fibuffa, der Grün- derin Prags, die halb ald fegenbringende Mutter ded Volks, halb ald männer- mordende Semiramis erfcheint ..... .

Libuffa: eine vom Schimmer göttliher Abfunft umfloffene Fürftin, eine Tee, eine Bringerin des Lichte. Daß fie herabfteigt zu einem aus dem Volk, feid auch ein Edler und DVortreffliher, das ift an fi ſchon Tragif. Nicht länger ſchwebt eine heilige Lichtwolfe fiber der ehrfuͤrchtigen Menge. Das Märchen ift aus, die Wirflichfeit mit ihren harten Nöten bat angefangen.

In Grillparzerd Schaffen leben zwei Grüundempfindungen intenfiofter Art, und in ‚Fibuffa‘ ſprechen fie noch einmal vernehmbar zu und. Sie beißen etwa: Das Gefchlehtliche ftört die Harmonie der Seele und: Die Kultur (fagen wir lieber, die Zivilifation) birgt tiefes Unglüd, tieffte

506

Schatten, denen gegenüber dad Naturparadied Rouffeaus in lodenden: Licht wie ein feliger Traum erfcheint. Sappho und Medea erfahren ed mie Libuffa, daß die Beruͤhrung mit dem andern Geſchlecht den großen Frieden, die innere Einheit einer außerordentlihen Frauenſeele ftört und vernichtet. Und der Trug, die Wertlofigfeit ded lauten äußern und ‚politifchen‘ Lebens und Strebens, wie eindrüdlic hat fie der Dichter und in feinem Traum drama gewiefen; wie dringlich predigen fein Bifchof, fein Kaifer Rudolf der weite, fein Priefter (im Gefpräd mit Hero) diefe Lehren. Denft man fchließlid an des alten Dichterd eigenes aͤngſtlich verfponnenes Dafein, an die frauenhaften Züge feines Wefens, an fein Verhältnis zur Froͤhlich: dann wird ſich ‚Libuffa‘ entfchleiern ald das grillparzerifchfte aller feiner Werke, ergreifend groß und ruͤhrend wie dad Geheimnid des Dichter- lebens jelbft.

Schaut man zurüd auf die dresdner Aufführung, fo fommen einem fürd erfte lauter Worte artigen Lobes in den Mund: Wader, brav, tüchtig, anerfennendwert. Wir entfinnen und einiger wirklich fehr fhöner Bühnen- bilder, darunter des ‚tiefen Theaters mit dem Schloß der Schweftern‘, das eine echte böhmifche Waldvefte zeigte, mit einem holden Miederblid in Zannengründe uͤber den langen, fchattigen Wehrgang. Wir fahen farbige, feingeftimmte Koſtuͤme, die ein Künftler von nerodfer Fuͤhlſamkeit, der Maler Fanto, liebevoll entworfen hatte. Drei Lieblinge der Dresdner, die Salbach als Libuſſa, die Ulrich ald Kaſcha, Wiecke ald Primidlaus, erwedten die VBegeifterung der Zufchauer. Und doch nur: anerfennendwert, tuͤchtig, brav und wacker? Michtd mehr ald das?

Der dresdner Hofbühne fehlt, wenigſtens für die Flaffiihen Dramen, ein dichterifch nachſchaffender Negiefünftler. Ein Negiffeur, der die unaud- ſprechliche Innigfeit der Grillparzerfhen Mufe nachzuempfinden, der den mpftifchen Gehalt der Dichtung fapbar nach außen zu projizieren verſtuͤnde. Wo war jene morgenkühle, fabelgrau dammernde Stimmung geblieben? Man wird mic belehren: Dergleichen ftirbt in der heißen Theaterluft. Mag fein. Aber eind mußte die Regie erkennen: daß in ‚Libuffa‘ zwei Stile miteinander wechfeln, der Stil des fymbolifhen Maͤrchendramas und des leihten Märcenluftfpield; und daß died eine Schwäche des Stücks if. Auch dem größten Dichter nachzuhelfen, ift feine Vermeſſenheit, vielmehr eine Pflicht der Regie, da die Theateratmofphäre anderfeitd ſoviel Zartes und eines vernichten muß. Man hätte den Stilunterfchied nicht merfen dürfen. Die Regie Ernft Lewingers arbeitete ihn heraus. Die luftfpiel- artigen Szenen gerieten ihr grotedf. Die Edlen ded Landes waren urfomifche Gefellen. Davon hab ich beim Lefen gar nichts gemerft. Primislaud gab ſich ald fchlauen tichechifhen Bauern. Er ift ein armer Edelmann und der leuchtende Ahnherr von Königen und Kaifern. Wenn er, an feinem Tiſch von Eifen tafelnd, die Abgefandten empfängt, da muß man fühlen: das ift der fommende Herrſcher. AU dies ließ und Wiede dieſer manchmal wundervolle Künftler bitterlich entbehren. Ald er

507

dann gegen den Schluß bin, in Liebed- und Fürftenijenen, ftärfer wirfte, war ed zu fpät. Frau Salbach, die Darftellerin der Libuffa, war in den mittlern Szenen vortrefflid, die geborene Fürftin. Sonft aber fpielte ſie eben Theater, wie fied kann, naͤmlich: brav, wader, tüchtig, anerfennendwert. Ob die Kuͤnſtlerin den Kern der Libuffa-Tragddie wahrgenommen bat? Ob der Regiffeur ihr gefagt bat, daß Libufa am Manne ftirbt? Don Ddiefer Erfenntnid aus hätte fie ihre Krofustochter geftalten müffen. Die Worte der MWlafta hätten ihr ein Wink fein follen:

„Du baft vermengt dich mit dem *

Biſt ausgetreten aus dem Kreis der deinen... .“

Die Erſcheinung dieſer Libuſſa ließ ed und übrigens kaum glaublich duͤnken, daß fie dem gewaltſamen Aufruf ihrer Prophetengabe erliegen müffe. Libuſſa ift doch ein junged Mädchen und fpäter eine junge Frau. Aber unfer Publifum ift von den Elfad und Brünnhilden der Oper ber an matronenbaft gewaltige Mädchen gewöhnt und läßt fi) durch ihren Anblick nidyt mehr im Genuſſe ftören.

Schmerzlich habe ich Das weiße Pferd vermißt. Es ift nicht uͤbertrieben: dad weiße Pferd Prifchenf, Libuffad Zelter, trägt die Märchenftimmung gewiffer Szenen mit fih, und wenn es feblt, fo ſchwindet auch jene. Mit einem Winfen in die Kuliffe ftellt man dieſen Mangel nicht wieder ber. In der bunten, bübfch belebten Volksfeſtſzene ftörte ein ſchreckliches Theater⸗ find, dad blumenbefränzt feine affeftirten Sprünge machte und eine Feit- lang der Mittelpunkt des Bühnenbildes war. Erlaubt fi) der Ballett- meifter folhe Scerje, fo müßte ibm der Regiſſeur ein ‚Band weg!‘ judonnern dürfen.

Die Aufführung der Fibuffa zeigte wieder deutlich, uͤber wie vorzligliche Mittel das dresdner Hoftheater verfügt, und mie viel ed erreichen fünnte, wäre eine ordnende Meifterfeele da, die alle diefe Kräfte zu barmonifchem Wirken vereinte. ‚etrennt marfchieren und vereint fchlagen‘, dad denft man ſich wohl hier ald Motto; aber meift wird ein ‚Getrennt marfdieren und vereint verlieren‘ daraus. Gewiß find bier bureaufratifhe Verbältniffe im Spiel: jeder macht feine Sache und kuͤmmert ſich nicht um die andern, darf es vielleicht nicht einmal. So werden vortrefflihe Kräfte vergeudet: Schaufpieler vom Range eined Wiecke, Spredfünftler von der Vorbildlichfeit einer Ulrich, reizvolle Dekorationen, huͤbſche Koſtuͤme: alles wirft neben- einander, nicht miteinander. Und fo ift dad Ergebnis günftigenfalls: wacker, brav, tuͤchtig niemald aber: beglüdend, befreiend, ein Eindrud fürd Leben.

Außer diefem Hauptmangel ftehen nod zwei fatale Hinderniffe der würdigen Wiedergabe der Klaflifer im Wege. Der Negie ift es in Jahren nicht gelungen, den Darftellern einen einbeitlihen Stil beizubringen. Da baben wir Ultranaturaliften wie den reichbegabten Frobdfe, Vertreter des deflamierenden Pathos wie die Ulrich und Salbah, Efleftifer wie Wiecke, daneben Routinierd die fchwere Menge. Doch immerhin ein prächtige®

508

Material für die formende Künftlerhand eines echten Negiffeurd. Der müßte fih aber auch getrauen, ed den ‚Örößen‘ offen zu fagen, wenn fie den Dichter nicht verfteben, oder wenn fie nur ihre Rolle fennen und nicht das Stück. Es wäre freilich unbillig, dem beengten Spielleiter eined Hoftheaters zuzumuten, was nur ein Direftor mit eiferner Hand und unbegrenzter Madıt- fülle durchzuführen imftande wäre.

Für den Unterfchied zwifchen dem Stil eined Schiller und eines Goethe, eined ©rillparzer und eined Hebbel für den Unterfchied der einzelnen Dichtungen diefer Meifter, etwa die Kluft zwifchen ‚Egmont‘ und ‚Taffo‘, oder zwifchen ‚Libuffa‘ und ‚Web dem, der lügt‘ fcheint der gewiſſenhaften, fleißigen Regie ded Dresdner klaſſiſchen Schaufpield ebenfalls jegliches Ver- ftändnis zu fehlen. Man jpielt Goethe wie Schiller und Egmont wie Taſſo. Und diefer zweite große Mangel ift um fo lebhafter zu beklagen, ald einzelne Feiftungen wirklich die böchfte Bewunderung verdienen. Aber was bilft das alles, ſolange das geiftige Band flır all die Teile fehlt! Das dreddner Schaufpielbaus koͤnnte eine Mufterbühne für das klaſſiſche Drama werden, wenn ein genialer, dichterifcher Spielleiter bier freie, freiefte Hand befäme. Aber wann wird dad gefchehen?! Man wird fi) wohl immer begnügen wollen, brav, wader, tüchtig, anerfennenswert zu fpielen, anftatt mit kuͤnſtleriſchem Schöpferwillen die Vifionen der Dichter in Feben umzujegen,

KRoasperlefhertor

Kennen Sie Meier? eier mit ei geichrieben? Nicht? Nun, in diefem Falle möchte ich mir erlauben, Sie aufdiefen Mann ergebenft aufmerfjam zu machen. Er tritt gegenwärtig im Cafe Bümplitz auf, dad, ich weiß nicht mebr genau, in welcher Straße liegt. Dort, in- mitten fchlehten und unpaflenden Tabakqualms, rober Worte und zu— Flappender Bierglasdedel, fpielt er Abend flr Abend, bis ihn eined Tages vielleicht eine Fluge Direftion abholen will, woran ich eigentlich feinen Augen⸗ blick zweifle, daß es naͤchſtens geſchehen wird. Dieſer Mann, dieſer Meier, dieſer Kerl iſt ein Genie. Nicht nur, daß er einen lachen machen kann, wie zwanzige in ihrem zuſammenaddierten

Leben nicht lachen koͤnnen, zum Zer- platzen, was ſage ich, zum Zuſammen⸗ kugeln, was da, zum Sterben, o Toͤlpel, keinen beſſern Vergleich aus deinem Schriftſtellerkopf herausſtein⸗ klopfen zu koͤnnen, nicht nur, daß, ſondern daß, bin ich konfus, ja, ganz recht, ſondern daß ihm auch die ganz nattırliche Aufreizung des tragischen Schauders nichts Unmögliches, fon- dern eine nur allzu leichte Sache iſt. Bin ich eigentlich mit meinem Satz fertig oder nicht? Wenn nicht, ſo iſts gerade eine ſchoͤne Sache zum Fortfahren.

Meier traͤgt auch Couplets vor mit einer fabelhaften Wurſtigkeit, und die Sprache, die er dazu ſpricht, iſt wohl die unanfechtbarſte, die es gibt,

509

da er fiegleihfam, Brocdenaufßroden, fallen läßt, daß einer, der zubordht, auf den Gedanken kommen fönnte, binzugeben, zu ded Mannes Füßen, um die Dinger da aufjulejen. Der Ton diefer Stimme, ich babe ibn nur zu genau ftudiert, gibt ungefähr Flanglih den Eindrud wieder, den der Gang einer Schnee aufd Auge macht, fo prachtvoll langfam, fo faul, fo braun, fofehr gefrochen, fo ſchleimig, fo breiig und fo ſehr Kommichheute⸗ nichtkommichmorgen bört es fih an. Ein Genuß, ganz einfach. Ic) kanns mit beftem Gewiſſen empfeblen.

Diefer Meier, muß man wiffen, wenn man ed noch nicht weiß, fpielt einen Theaterdiener, feine Glanzrolle, eine Figur mit entfeglihen Hoſen, hohem Hut,angepappter Naſe, Schach⸗ tel unter dem Arm, Loͤchern am Ell⸗ bogen, Zigarre im Mund, Maul ftatt nur freher Schnauze und einem Bündel ſchlechter Wige auf der Tol- patfchenzunge. Diefe Figur ift zum Entzüden. Ich fuͤr mich habe fie jegt bald, warten Sie mal, ich glaube, zum flnfzigften Mal gefehen und bin noch lange nicht müde davon. Man wird eben nie müde, DVortreffliches anzufchauen.

Eine fleine Bühne, grell beleuchtet, ein Tifch darauf, ein Stuhl daneben, das foll dad Bureau einer Direftorin vorftelen. Sie felber, die fchlanfe, jugendlihe Frau, gibt befannt, daß fie jetzt alles habe, was nötig fei, einen Zyklus von Vorftellungen zu eröffnen, nur eben gerade noch fo ein Theaterdiener, das fehle ihr, aber fie babe bereits Annoncen in die Zeitun⸗ gen einruͤcken laffen und fei nun be= gierig, wer ſich melden molle.

Tritt wer auf, gleich einem der Unterwelt entflogenen Geifte ? Meier. Ei, der Teufel, natürlich, das bat man erwartet, aber feben Sie, das Wunderbare ift, man ſieht ſich dennoch im böchften Grade von der Neuheit

510

lberrafcht, mit der ed Meier mit ei verfteht, die Treppe emporzubofen- beinen, daß man in der Tat glauben muß, er müffe etwas gemacht haben, was in guter Gefellichaft nicht ſchicklich ift, ausjufprechen.

Er meldet ſich der erſchrockenen Dame, die gewiß ſchon Oskar Wilde gelefen hat, mit einer fih nur allein fir ihn geziemenden Umftändlichfeit an, fragt und macht Dummpeiten und fragt wieder, will wieder abziehen, tritt wieder auf, gebt nochmals, um gleich wieder von neuem zu erfcheinen, immer unverfchämter, immer unans ftändiger in Wellen, Wort, Manier, Geberde, Ton und Haltung. Doc bei allem dem ift erftaunliches Talent, zur rechten Zeit eine Schweinerei zu fagen, und fie wie zu fagen? Wie, das muß eben einer gehört haben. Allabendlich hoͤrens zwanzige, dreißige, ſonnabends und ſonntags achtzige, hunderte, hundertfuͤnfzehne oder einer mehr an.

Ich habe ſchon geſagt, Meier koͤnne auch tragiſch wirken. Um dies zu be⸗ werkſtelligen, veraͤndert er einfach ſeine Stimme und wirft ſeine Haͤnde hoch, ein Mittel, das noch jedesmal ge— holfen hat. Alsdann iſt er ein Wahn⸗ ſinniger, ein Koͤnig Leer; nicht Lear, ſondern Leer, weil waͤhrend dieſer Produktion ſaͤmtliche Leute das machen, was in dem Vers enthalten iſt: Und ſie gingen flugs nach Hauſe! Ich allein pflege dann dazuſitzen. Ich er⸗ fahre dann, was es heißt, Schreck zu empfinden, wenn ploͤtzlich die Stimme eines Menſchen ein turmhohes Haus wird, wie Meier ſeine, zu deſſen offenen Fenſtern und Tuͤren irgend ein unbekanntes Ungeheuer heraus⸗ bruͤllt. Wie mich die Angſt geſchuͤttelt hat, jedesmal, und wie froh ich war, als aus dem Meier mit dem fuͤrchter⸗ lihen obo oder bu oder ud wieder ein Meier mit ei wurde.

Kutsch

MRundkhpau

Parifer Oper

... „Wenn bier ein Ort wäre, wo die Leute Ohren hätten, Herz zum Empfinden und nur ein wenig etwas von der Mufif verftünden und Gufto hätten, fo würde ich von Herzen zu allen diefen Sachen ladyen, aber fo bin ih unter lauter Vieher und Beſtien (mad die Mufif anbelangt). Immer wieder und wieder fommen mir diefe Worte in den Sinn, die der zweiund⸗ zwanzigjährigeMozart am 1.Mai 1778 von Paris aus in einem Klagebrief an den DBater fchrieb. Gewiß trifft der Ausdruck, Vieher und Beltien‘ heute infofern nicht mehr ganz zu, ald das gebildete parifer Publifum feit einigen Jahrzehnten wenigftend begonnen bat, mit dem Sntelleft nachzuhelfen, wo das Geflihl, wo dad Mufifgemüt ver» fagt. Aber noch immer fehlt diefem neroöfen, revolutionären Wolf das ‚Herz zum Empfinden‘ und vor allem das, was der Öfterreicher unüberfeß- bar zart und fofend mit dem lieben, jo beimatlich mwienerwaldlerifhen Worte ‚Gufto‘ zu bezeichnen pflegt. Das fran- zoͤſiſche Volk hat wohl Mufifmacher, auch wohl Mufifanten hervorgebradht, eigentlihe Schöpfernaturen indeffen den einzigen überragenden ‚Hector Berlio; ausgenommen nicht. Leiſtet einer einmal etwas, im eigentlichen Sinne ded Wortes, Mufifalifches‘, wie etwa Maffenet, dann haftet feine Seele an derromantifhenBolfsliedfehnfucht, an der ſchwaͤrmeriſchen Ehanfonnier- pathetif, die ja der Franzoſe von alters» ber, wobl eber des amoureuſen Stoffes ald der Mufif wegen, fo liebevoll hegt und pflegt. So erflären fich die Erfolge der franzöfifhen Chanfonnieropern, etwa der ‚Miarfa‘ des Alerandre

Georges, die nichtd ald eine Samm⸗ lung von provengalifhen Zigeuner⸗ liedern darftellt. So erklärt fich auch der Erfolg der ‚Legende du Point d’Argentan‘ von Felix Fourdrain, die jüngft das Premierpublifum deropera- comique zu Tränen rübrte. Es ift die romantifhe Blaublumenfehnfudht des franzöfifchen Volkes nach Jdealität, nach Reinheit und Abgeflärtbeit, die in diefen ſchoͤnheits durſtigen Menfchen immer lebt. Weiß ein Dichter und ein Komponift diefe Seelenafzente des franzöfifchen Empfindend zu betonen, dann leuchtet in diefen unmufifalifchen Menſchen, in denen ja ftetd ein um fo beißerer Drang nad mufifalifcher Er» füllung rubt, plößlid, ein Funke auf: die romantifhe Schwärmerei erflillt fich mufifalifch, aber in dem faft mittel- alterlid dekorativen Sinne farbig er⸗ ſchauter myſtiſcher Zonbilder, nicht überquellend mufif-dramatifch. Es ift ungemein charafteriftiich, Daß es gerade die Maſſenetſchule ift, der die Zufunft der mufifalifchen Popularität in Frank⸗ reich zu gehören fcheint. Felix Four- drain, der junge Komponiſt diefer Legende von der wunderfamen argen- taniſchen Spiße, die, aus den Silber» fäden ded Madonnengewanded an weißgewandeten Engeln geiponnen, einer armen Mutter Genefung für ihr franfes Rindlein verheißt —— iſt gleichſam ein Maffenet-Präraffaelit, im Sinne der deutſchen Mazarener, Er will nit Maffenets füge, weiche Kantilenen modern mweiterentwideln, fondern eher greifteraufden katholiſch⸗ femininen Grundzug, auf dad Myſte⸗ rienbafte in den Elementen der Maffe- netſchen Mufif zuruͤck, verbrämt dann diefe holden Klänge mit Volkslied⸗

511

elementen, indem erein Driginalvolfs- lied ald Wiegenlied einflicht, weiß aud) die Dramatifchen Höbepunfte des aus dem maleriihen Marienlegenden- rahmen nur vorlbergebend heraus— fchreitenden Textbuches (dad von echten Librettodichtern, Cain und VBernede, berrübrt) mehr nur deforativ bervor- zubeben, ald breit audzumalen und gelangt auf diefe Weije zu einem ganz eigenartigen Bühnenlegendenftil. Wir umjfchreiten dad Bild diefer Legende und bleiben dann zulegt wie gebannt ftehen vor der [hönenSchlußapotbeofe, in der die Mutter Gotted um Genefung für das franfe Kind der armen argen- tanifhen Spigenflöpplerin flebt, die aus dem Erlös der von den Engeln geiponnenen Wunderfpige ihrem Lieb» ling ärztliche Behandlung wird zu teil werden laffen und ihn zu einem ſchoͤnen Erdenfindlein wird heranwachſen feben fönnen ... Aber der Kern diefer Legende ift im Grunde nicht fo fehr der Mufif ald der Malerei oder aber der Kindermärenepif zugänglich: es ift mebr melodramatifhe Illuſtrations⸗ mufif, ald Legendenoper. Alfo im Orundeeine echt franzöfifch-,amufifche‘ Legende. Und ganz aͤhnlich verbält es ſich mit der Dreiaftigen antifen Komoͤdie ‚Eirce‘ von Edouard Haraucourt. Auch bier haben wir eine dichterifche Verarbeitung der odyfleiihen Eirce- Epifode vor und, die das Inrifche, firenenbafte Element völlig in den Hintergrund ftellt und das geiftig- pbilofopbifhe Symbol in nüdhtern- lebrbaftem, faft predigtmäßigem Tone breit rhapſodiſch vorträgt, ganz unbe⸗ fiimmert um die Verfrüppelung, die auf diefe Weiſe dem antifen Stoffe widerfährt und wie nennt ed doch der Mufifgott Mozart? ‚viebilch- beftienbaft‘ gleichgültig gegenüber den Anforderungen des Komponiſten. Man möchte fait glauben, die Brüder Paul und Lucien Hillemacher bätten ſich die Kompofition diefer Dichtung foͤrmlich

512

angemaßt, man mödte faft vermuten, in Haraucourts Dichtung eben nichts ald eine rein literariich zu faſſende ‚antife Komödie‘ erbliden zu müſſen. So wenig zugebörig, fo unmu ſikaliſch außenftebend wirft die Partitur zu diefer ‚Circk‘, Und es ift ungemein charafteriftifch für den geringen Wert, den man in Parid auf die Muftf zu legen pflegt, daß ſich Die Kritik, ſelbſt diejenige des offiziellen Konferve- toriumsdireftord Faurd im ‚Figaro‘, zu fieben Achteln mit der pedantifchen Sezierung ded Tertbuched und zu einem Achtel mit der Muſik der Brüder Hille macher beichäftigt. So iſt in Frankreich die Muſik bereits voͤllig zur Magd degradiert ... Der Dichter vertieft die Circe-Epifode ſymboliſch: Die ‚Schmeine‘, in die die Zauberin die Gefährten des Odyſſeus verwandelt, bedeuten ihm dietierifhenTriebe,denen auch Odyſſeus felbft eine geraume Zeit verfällt, bid ihn dann das Gemiflen, in Geſtalt ded greifen Gefährten Eurylochus, an fein Mannentum, an feine Gattenpflichten mahnt, und er dad Zauberland verläßt. Um drama- tifche Rontrafte iſt es Herrn Haraucourt durchaus nicht zu tun. Im Gegenteil, er verftärft den faft liturgiſchen Cha⸗ rafter feiner Dichtung noch durch die Hinzufügung des idealen Liebespaares Glycera und Elpenor, in dem er den Triumph der idealen Träume über brutale Erfüllung überaus lebhrbaft aufzeigt. E3 wirft von vornberein Fein guͤnſtiges Ficht auf die Gebrüder Hille- mader, daß fie fi zur Kompofition eines derartig literarijch felbftändigen Buches entſchloſſen. Ein Opern: fomponift mit literarifchen Ambitionen darf ſich denn doch nicht zum Sklaven ded Tertdichterd Degradieren. Dies aber baben die beiden freundlichen Brlder getan. Sie erfterben in Ehr- furcht vor der tiefgrüundigen Symbolik ihres verehrten ‚Meifterd‘ Haraucourt und begnügen ſich damit, zu den Wor⸗

ten und Szenen eine derartig unauf- fällige Muſik zu fchreiben, Daß man dem Kapellmeifter am liebften zurufen möchte: „Taktſtock nieder! Abklopfen! Der Dichter hats Wort!” Abgejehen von den Snftrumentalvorfpielen zum erften und zweiten Aft, it diefe Partitur von einer beifpiellofen Überflüſſigkeit! Wenn aud) der Tertdichter den Kom- poniften nur ſehr wenig entgegenfam, fo hätten die beiden Brüder gemeinfam doh wohl ein einziges plaftifches Thema, eine einzige finnfällige Charak⸗ teriftif finden fönnen. Die Mufif bätte dad Symbol der Eirceepifode verflären müffen, ftatt fie zu entnüchtern. Der Erfolg ded Abends? Die Pailletten- robe Redfernd, die die gefchmeidigen Circeglieder des Fräulein Bir um- floß! ... Arthur Neisser

Strindbergd ‚Traumfpiel‘

uguft Strindberg bat mit vielen Göttern gerungen und auf viele Programmegeſchworen; einer Allmacht der Phantaſie iſt er doch ſtets treu geblieben, weil er nicht anders konnte, weil niemand von ſich ſelber los fann. Er iſt das dichteriſche Genie, dad feine andre Welt anerfennt, ald die, welche es geſchaffen bat. In diefem Kosmos, der Auguft Strindberg beißt, findet ein unerbörter und niemals rubender Verbrennungsprozeß ftatt; fein Hirn ift ein Schmelzofen, deflen euerung niemals erlifcht, der Erz und chlacke von fich gibt, ohne fcheinbar nach dem einen mebr ald dem andern zu fragen. Das SchmeljeniftdieBaupt- ſache.

Aber man wird nicht Kuͤnſtler, ohne Herr uͤber ſeine Welt zu ſein. Das Kunſtwerk bat feine Geſetze: Kom- pofition und Motivierung. Die Logif der aͤußern MWirflichfeit wird immer eine Schranfe für die Einbildung, und gibt nur eine Art fiber die Schranfe zu fpringen: man bebt die äußere Pirflichfeit fiir die innere auf; mit

andern Worten: verfindet die unbe- fhränfte Herrſchaft der Pbantafie. Das tut der Traum: der lebt fein eigened Leben mit jeinen eigenen Ge⸗ ſetzen. Er bebt Zeit und Raum auf, fhüttelt dad im wachen Zuftand Er- lebte Durcheinander, wie man zwei ver- fchiedene Flüffigfeiten durcheinander f&hüttelt und eine neue befommt. Für den Träumer ift der Traum, mas das Einerlei des Alltags für den Wachen ift: etwas Selbftverftändliches, das durchaus fein Erftaunen erregt, das einzig Natlırlihe. Die Erinnerung an den Traum beim Erwachen, die erit weckt das Erftaunen dann erft über- fommt einen das Geflibl von der My⸗ ftif und Unerflärlichfeit des Daſeins. Diefen Seelenprozef, der träumen beißt, außerhalb des Träumers felber zu bringen, ibn frei, das beißt: zum Gedicht zu machen, hat Strindberg mit dem jeltiamen und ſchoͤnen Werf ver- fucht, dad wir jegt auf der Bühne feben. Wie der Mittelpunft des Trau⸗ mes der Träumer ift, fo ift im, Traum« fpiel‘ der Dichter der Mittelpunft, Was in diefer Zaubermelt gefchiebt, geichiebt fraft einer Macht, gegen die man nicht appellieren fan: man muß ed binnebmen. Aber Elingt die Stimme des Dichters liberal durch das gleiche müffen wir mit dem Da⸗ fein tun; wir fönnen nichts andres tun, als es binzunebmen, wie edift. Da das Grundgewebe des Dafeind das Leiden ift, haben wir alle eine Wolfe über ung. Bon flüchtigen Sonnenftrablen werden wir verlodt; die Liebe it einer; aber der Genuß bat Schmerz nicht nur zur Folge, fondern zur Bedingung; und alle Freude wird mit zebnfältigem Leiden erfauft. „Es iſt nicht leicht, Menic zu fein”, ift das Leitmotiv. Mit feiner braufenden und ſpruͤhen⸗ den Phantaftif hat dad ‚Traumfpiel‘ eine eigentimlich abgejchloffene Bau⸗ art. Es fteigt auf wie ein großes Or- chefterwerf, eine Symphonie, deren

513

Stimmen tofen und rajen, einander jerreißen, ſich wieder vereinigen und fich zu einem einzigen Klagefchrei über die Ungewißbeit, den Jammer und die Enttäufhungen des menſchlichen Lebens erheben. In groͤßerer Verdich⸗ tung hat Strindberg niemals ſich ſelber gegeben, ſein Gruͤbeln, ſeine Anklagen, ſeinen Haß und ſeine Wehmut; alle ſeine Fragen, die zum Frager zuruͤck⸗ kommen. Er predigt und hoͤhnt und ſpielt. Er peitſcht feine Menfchen- puppen fiber die Buͤhne, läßt fie feine Melodie anftimmen und ftedt fie wieder in die Klappe; bolt fie wieder hervor und beginnt den Tanz aufs neue. Er bat die Alleinherrfchaft des Traumes, und niemand fann fie fo benugen mie er. Alle Erklärungen vermeidet er bier. Und doc fteigt aus allem dad Be— fenntnid empor, dad dad Fazit des Lebens wird: man weiß nichtd weiter, ald daß man leidet, und daß ed ver- mutlih immer fo weitergehen wird. Die Tochter des Gottes Indra ver- fpriht, die Klage ded Menfchen- geſchlechts zum Thron binaufzutragen ; eine Beſſerung aber fann fie auch nicht verfprechen. Und binter der Tür, welche der Fordfanzler vor allen vier Fafultäten öffnet, um die Loͤſung des Weltraͤtſels zu finden, liegt nicht. Die Frage ift nun: fol ein Werf von der tiefen und empfindlichen Schönheit des ‚Traumfpield‘ auf die Bühne? Ein Erperiment wird es immer, und diefed Experiment fällt für den Zufchauer verfchieden aus, je nach⸗ dem man dad Gedicht gelefen hat oder nicht. Dat man es gelefen, fo kann e8 in wejentlihen Punkten nur verlieren, wenn man ed fiebt. Hat man ed nicht gelefen, fo muß die ſzeniſche Wieder- gabe einem große und unvergängliche Eindrüde von Schönheit fehenfen. Das vom Dichter für die Aufführung verfaßte Vorfpiel erhält dann feine Berechtigung ; nach einer Reftüre ift es überflüffig, ſchwaͤcht fogar ab.

514

Wie dad ‚Traumfpiel‘ auf dem Schwedifhen Theater zu Stockholm dargeftellt wird, liegt der Hauptfebler in dem Mangel an einer einheitlichen Stimmung. Der Traumton in Rede und Aftion wurde oft verfehlt; man trat aus dem Rahmen beraus ; und die Beleuchtungseffekte, die bier eine fe bedeutende Rolle fpielen, waren nicht immer feinfüblig genug abgemogen. Aber die Schwierigkeiten Der Regie koͤnnen ja faum bei irgend einem Drama größer fein, und dad Reſultat, Das er: reicht wurde in einer Neibe Szenen, wie zum Beijpiel in der Fingaldgrotte, ift allen Ruhmes wert.

Unter den Spielern traf am beiten Frau Harriet Boſſe den Geiſt des Dramad. Ihre reine Diktion glänzte wie immer bei ihr, und der meiche, leicht fywebende Gang hatte das Ver: geiftigte an fi), dad die Göttertochter verlangt. Im Übrigen war dad Spiel, wenn auch ungleich, doch zum Teil recht verdienſtvoll. Bo Bergmas

Das neue Thaliatheater in Elberfeld.

N Danfee-Motto ‚Zeit ift Geld‘ fteht beute bei und mehr oder weniger über jedem Kapitel der Bau- gefchichte eines Hauſes in feiner Funft- bedrohenden Bedeutung. Die um- geheure Steigerung der Bodenmerte in den Zentren unfrer Städte macht die Haft der Bauherren erflärlich, die fo ſchnell wie möglich wieder in den Genug der Einfünfte aus ibren Grundflüden gelangen wollen. Einige Baufirmen haben fi) die Aufgabe geftellt, im rafenden Tempo der Bau- ausführung hoͤchſte Virtuofität zu er⸗ langen. Im Zeichen foldher liber- baftung ſteht auch Die Errichtung des neuen Thaliatheaters in Elberfeld durch die Firma Boswau & Knauer. Daß die Feuchtigkeit des frifchen Putzes die in Eile aufgetragenen Farben zerftört, dag fih an allen

Eden Spuren der Unvollendung jei« gen, ift ſchließlich nicht das Schlimmſte; in der ruhigen Saifon koͤnnen ſolche Tebler befeitigt werden. Bedenklich ift, Daß man allenthalben erfennt, wie dem ausfuͤhrenden Architekten die in nervoͤſer Haft angefertigten Zeihnungen gleihfam wie warme Semmeln unter den Händen fort- genommen wurden. Die Einrichtung und Architektur des Gebäudes bes weit ein fleißiged® Studium der neuften Tcheaterbauten. An der Linienführung der Ränge, an der pavillonartigen Geftaltung der Trep- penaufgänge zum Foyer findet man leichte Anfäge eines beffern Koͤnnens. Dad Foyer felbit mit feiner un möglihen Dedenlöjung und den uns fhönen Glastüren, ſowie die meiften Detaild ded Zufchauerraumd tragen den Stempel der Lbereilung.

Das Tpaliatheater ift beftimmt, zwei verfchiedenen Zwecken zu dienen: im Winter der Spesialitätenvorftellung, im Sommer der Operette. Die Er- bauer baben indes das Theater ald Opernhaus eingerichtet, ed der Va⸗ rietefunft uͤberlaſſend, fi, fo gut es gebt, darin zurechtzufinden. Die ur⸗ fpriinglihe Saalform der Varietes ift völlig abgeftreift. Die Bühne, obne jede Vorbuͤhne, ift mit allen Einrihtungen für die moderne Oper außgeftattet. Dad Foyer befindet fih an der Frontſeite im erften Ober- geihoß obne jede direfte Verbindung mit dem Jufchauerraum. Die Korri- dore liegen zu beiden Geiten des

uſchauerraums und find durch ge= hloffene, Wände von ibm abge- trennt. Liber dem Parfett ziehen ſich drei Nänge iıbereinander bis zur Bübne bin, ein leichtes Zuruͤckbiegen der Balfonbrüftungen marfiert die Profjeniumslogen, die architektoniſch nicht hervorgehoben find. Die Unter- fihten der Rangbalfone find in leichte Kaffetten geteilt; im ihrer Mitte

hängen Glühlampen, die ſich zu einem Richterfran; vereinen. Auch die Dedenbeleuchtung beftebt aus Gluͤh⸗ lampen, die, auf einem Metallring befeftigt, von Beleuchtungsförpern in Saternenform unterbrochen jind. Der Zufhauerraum faßt 2300 Per- fonen, ift gut ventiliert und macht im allgemeinen den Eindrud eines größern Provinzialtheaterd. An der Dftfeite des Haufes ift ein Tages- reftaurant mit darüber liegendem Feſtſaal angebaut, der zugleih als MWeinreftaurant dient. Diefer Saal von etwa 15,0 m Breite und 30,0 m Fänge ift, vom Korridor des erften MNanged und außerdem im getrennten Aufgang von der Straße aus zu— gänglih. Seine allzu kleinlich ge- teilte Raffettendede, die enge Achſen⸗ ftellung der Marmorpilafter verraten auc bier die Eile und unzureichende Durdarbeitung.

Da es in neuerer Zeit vielfach uͤblich geworden ift, Spezialitätenvorftellung und Operette in ein und demfelben Haufe unterzubringen, ift ed zu be= dauern, daß beim Thaliatheater der Verſuch völlig unterblieben ift, eine Loͤſung zu finden, welche auf beide Zwecbeftimmungen Nüdficht nimmt. Wenn auch die Anforderungen, die beide Gattungen an Bühne und Zu⸗ fhauerraum ftellen, grundverfchieden find, fo laffen ſich doch immerhin genügend Beruͤhrungspunkte finden, die einen ſolchen Verſuch rechtfertigen. Stellen wir zunaͤchſt die Gegenſaͤtze feft, fo decken jich die Anforderungen der Operette mit denjenigen der Oper und ded Schaufpield. Das Variete bingegen hat eine Reihe von Künften, wie Afrobaten-, Geiltänzers und Turnfunft, von der Zirfusarena ent« lehnt, Künfte, die dort für ihre Ent- faltung Die beften Vorbedingungen fanden. Auf afuftifhe Vorzlige des Raumes rechnet fat ausſchließlich der Rupletfänger, der ſich indes durch

515

eine deutliche, manirierte Ausſprache zu belfen weiß. Die ampbitheatra- liſche Anordnung der Sißpläße mit hoͤchſtens einem Nangbalfon fönnte ald die günftigfte Geſtaltung des Zuſchauerraums für dad Variété be⸗ zeichnet werden.

Eine ſolche Form dürfte aber auch der Operette durchaus genügen, felbit wenn durch eine, etwa mit Ruͤckſicht auf die Zahl der Sitzplaͤtze erforder- liche, allzu große Ausdehnung des Raumes die Afuftif etwas beein- trächtigt würde. Denn ſchließlich ver- langt die Durchſchnittsoperette faum, wie ein Kunftwerf böberer Gattung, in allen Fällen deutlich verftanden zu werden. Sie will vielmebr das Publifum beluftigen und amürfieren, und Died ift zugleich ihr wefentlichiter Beruͤhrungspunkt mit der Speziali— tätenfunft. Weshalb alfo find die Lm- gänge im Parfett mit den anfchließen- den Reftaurationdräumen fortgelaffen, die dem bdüffeldorfer Apollotbeater noch einen Reſt des Varietecharafterd wahren? Weshalb find fie in den Nängen ängftlih vermieden? Cie geben doch durch das bunte Gewoge in den Paufen, durch das Treiben der reichgepußten Halbwelt dem Variete jenen fröblichen, fadzinieren- den Charafter, dem bier im Thalia» tbeater jede elegenbeit zur Ent⸗ faltung genommen ift. Der Operette wirde das feinen Abbruch tun. Iſt ed vielleiht eine Ruͤckſichtnahme auf den braven Philifter des Wuppertals, der nun forglos feine Gattin in dad einft verpönte Variete führen kann? Es fcheint fait fo, denn, umgefehrt, bat man ed nicht gewagt, ihm die un gern entbebrten Biertifche zu nehmen und ibm dad Rauchen zu verbieten. In diefen beiden einzigen Punften bat man die Gepflogenbeiten der Variétés beibehalten. Ebenſo ift ed unverftändlich, weshalb die Vor- buͤhne fortgelaflen wurde, die die

516

Operette nicht beeinträchtigt, für das Variete aber als befcheidener Erfag für die Arena unerlaͤßlich notwen- dig ift.

Ein weiterer Grund dafür, das man nicht wenigſtens Die oben er- wähnten Zugeftändniffe an die Er- forderniffe der Wartetebiihne bei der Geftaltung ded Theaters gemadht bat, fann wohl nur Darin zu fuchen fein, daß die Spezialitätendireftoren das Beftreben haben, das Variété mit dem Theater auf eine Rangſtufe ju ftellen. Bier wurde offenbar gern der Vorwand der Doppelten Jwed- beftimmung benußt, um dem Spesiali« tätentbeater dad Gewand des Opern⸗ hauſes anzuziehen, weil dieſes vor- nehmer erfcheint, etiwa mie der wobl⸗ babend gewordene MWorftädter Die Allüren der beffern Geſellſchaft an- junehmen flrebt. Die Folge wird fein, daß bierdurdy den Darftellungen von Ballett, Pantomime und Gefang Vorſchub geleiftet wird, während Die Künfte der Afrobaten und Turner zurüctgedrängt werden. Diefe find indes für das Variete von großer Bedeutung, da fie ald Leiftungen eriten Ranges ihrer Art fich betätigen, während die vorgenannten Künite, von der Operette und Oper entlebnt, meift minderwertige Darfteller finden, da die beften Kräfte fi den vor— nebmern Sinftituten zuwenden.

Ihre Eigenart werden ſich die DVarieted beffer bewahren, wenn fie fi) in der Richtung des neuen franf- furter Schumanntbeaterd meiterent- wiceln. Heinrich Frese

Soloſzene und Szenenfolo Seh ſprach bier neulich von der Vor-

tragsfunft der Soloſzene, der ſchauſpieleriſchen Darftellung mono» logifcher Gebilde, die neben der uns ſchauſpieleriſchen Rezitation Iyrifcher oder epiſcher Dichtung ihr Exiſtenzrecht behaupten darf. Etwas ganz andres

zus

als folhe Solofjene ift der fattfam befannte Vortrag ganzer vielftimmiger dramatifcher Partien durch einen ein⸗ zelnen Akteur. Ich möchte dies Unter- nehmen zum Unterfchied ald ‚Szenen-

folo‘ bezeichnen. Denn beim Vortrag der Solofjene liegt im Weſen des zu verförpernden Kunftwerfd die Not⸗ wendigfeit, daß ein einziger vorträgt;

die gewöhnliche drametithe Gjeneaben fennt diefe Notwendigkeit nicht, der Anlaß zur Häufung der Darftellungs- aufgabe auf einen einzelnen liegt nur in der Willfür des Bortragenden:

deshalb Szenenfolo.

Schon das Gefagte macht den Ber- dacht rege, daß dad Szenenfolo eigent- lich feine Kunftleiftung fei. Wenn ſich einer vornimmt, mir gleichzeitig, das beißt: unmittelbar nacheinander, Bru- tus, die römifhen Bürger und Mark Anton zu verförpern, ift dad vom Standpunft des Dichters, der eine gleichzeitig fichtbare Mehrzahl von

Örpern gewollt bat, finnlos, vom Standpunft der Schaufpielfunft aber ift es eine rein quantitative Leiſtung. Denn die fhaufpielerifche Kunft offen- bart ſich in der Vollendung der ein- zelnen Geftalt, nidyt in der Menge noch im fchnellen Wechſel der Lei- ftungen. Die ſchauſpieleriſche Größe wählt nicht durch Addition, das Szenen⸗ ſolo ergibt alſo kein fünftlerifches Plus; es iſt beftenfalld das Virtuofenftlichen eined Schaufpielfünftlerd. Ein Bei⸗ werk meift aber weniger.

Penn der Schauſpieler ſich in eine Geſtalt verwandelt, fo wird dad Ju- rücverwandeln in feine alte und vollends dad Wiederverwandelnineine neue Geftalt um fo ſchwerer fein, je tiefer, das heißt: kuͤnſtleriſch bedeuten- der jede Metamorpbofe ift. Der Als teur ded Szenenfolo8,der in der Minute dreimal wechfelnd Othello und Jago ift, wird diefe Schnelle der Wandlung kaum anders erreichen Fönnen, ald da= durch, daß er mur in geringe Tiefen

der fremden Perfönlichkeit eintaucht: Tiefen, aus denen die Rüdfehr leicht iſt, in denen aber auch nur leichtwiegende Menſchlichkeiten zu erfaſſen ſind. Wie man jede elektriſche Maſchine durch unaufhoͤrliches Aus· und Einſchalten des Stromes ruinieren kann, ſo muß, ſcheint mir, ſelbſt ein echter Schau⸗ ſpielkuͤnſtler bei dieſem beſtaͤndigen Ab- und Einſpannen der Selbſtſug⸗ zu einer nervoͤſen Oberflaͤch⸗ ichkeit Mit dieſer Ober⸗ flaͤchlichkeit, die die Perſonen nur nach äußern ectmaien differenziert, naͤhert ſich aber das Szenenſolo bedenktichft dem Werk des Berwandlungsfünftlere. Der Schaufpieler kann und erfchüttern, weil er im innerften der Dargeftellte ift der Berwandlungsfünftier will alldas nur feinen, nur eine täufchende Außenfeite geben, und amuͤſiert uns. Der Akteur ded Szenenfolo®, der mit dem Geſchick des Trapejkünftlerd zehn⸗ mal in der Minute eine andre Illuſion zu geben bemuͤht iſt, ſcheint mir doch dem Fregoli naͤher als dem Baſſer⸗ mann. Er iſt trotz Alluͤren ein Baſtard der Literatur und des Variétés, des Varietes, wo man Kunſtſtuͤcke mecht, nicht der Bühne, wo man Kunftwerfe machen follte. Mit all dem ift nicht im mindeften gefagt, daß eime kuͤnſtleriſch fchöne Borlefung dramatifcher Gedichte un⸗

| möglich oder unlohnend wäre. Nur

müßte folhe Vorlefung etwas ganz andres fein ald das hblihe Szenen ſolo unfrer Rezitationsvirtuoſen, in dem ſich ein Schaufpieler muͤht, zehn Rollen zumal zu markieren. Der Borlefer müßte Körper und Mienenfpiel faft ganz ruhen laffen und aud feine Stimme nicht ald Schaufpieler ger brauchen. Er müßte mit ihr nicht in aͤußerſter Plaftif Shylod, Porzia, An- tonio or den Dogen zu geben fuchen er müßte den Ton ded Dichters fuchen, der all dieſe gefchaffen bat. Er müßte die Worte des Dichters lefen,

517

iiber die in vibrierenden Richtern wohl die Seelen all diefer Geftalten zieben, auf deren Grunde doch aber feſt, Flar, Iberlegen der dritte, der große fchaffende Zufchauer die Dichter- feele ruht. Alle finnliche, individuas lifierende Fülle, die den Geftalten des Dichter erft der Schaufpieler geben fol, muß ſich diefer Vorleſer verfagen dann wirderald Rezitator Dramatitcher zu etwas im ſich Harmonifches, Schönes bieten, ganz wie der rechte Vorleſer (prifcher und epifher Pro⸗ dufte. Für diefe beiden Gebiete gibt ed (in Richard une Emil Milan etwa) doc fhon Typen. Fuͤr das Dramatifche Gebiet * —* ſich begreiflicherweiſe noch immer der Schauſpieler alleinberechtigter Vor⸗ tragender. Sie regen auf dem Po- dium alle Gelenfe, Mienen, Töne zu⸗ gleich, fpielen in die linfe Ede König Philipp, in die rechte Pofa, machen Eboli mit Tenor- und Carlos mit Baritontönen, und erreichen mit alle dem, daß man fie für faft fo geſchickt im Menfchlichen, wie einen Tierftim- menimitator auf feinem Gebiet balt. Statt dad Wefen eined guten Sprecher zu geben, agieren fie den Schatten einer mäßigen Schaufpieler- truppe

ich Herr William Royaards, der neulih im Beethovenſaal perfonen- reihe Szenen Leſſings, Goethes, Shakeſpeares hoͤchſt folo agierte, bat von der fünftlerifchen Hoffnungslofig- feit feine® Bemühens feine Ahnung. So weit ed einem einzelnen Mann im Frack moͤglich iſt, beſtrebte er ſich, Porzia, Shylock, Graiano Antonio, Doge zu ſcheinen ftatt (im ſcharfen Sinne ded Wortes) Shafefpeare zu lefen. Daß Herr Royaards gar fein guter Verwandlungsfünftler ift und die zahlreichen personae dramatis nicht fonderlid klar auseinanderbielt,

2. ich nicht fehr, weil mir per⸗ ſoͤnlich der Sinn flr Varieteleiftungen fehlt. Lieber erfenne ih an, daß NRoyaards einige wenige der Geftalten, die ihm lagen, nicht fehr elementar, aber gefhmadvoll und diskret zu be= leben wußte. Wobei zu fagen ift, daß ihm Nathan und Shylod denn doc) ſehr viel näher liegen muͤſſen als Brutus und Antoniud. Julius Bab

Deutfche Uraufführungen

20.4. Heinrich Lee: Am grünen Weg, Ein Stück beitered Berlin. Berlin, Luſtſpielhaus im Schiller- theater N.

Wolf von Metzſch⸗Schil⸗ bad: Eine Verlorene, Lebensbild. Sannover, Uniontheater.

21.4. Frido Grelle: Bühne und „Schauſpiel. Leipzig, Schaufpiel-

24.4. Auer⸗Waldborn: Profeſſor Graden, Schauſpiel. Nuͤrnberg, In- times Theater.

Walter Bloem: Der neue Wille, Drama. Berlin, Im Luftfpiel- baus.

26.4. Paftor _—n Sefus, Theodie. Plauen, Stadttheater.

29.4. Carl Retfiem: Braut» gloden, Einafter. Altona, Stadt»

theater. ©. Sborowitz: Freie Liebe, Lebensbild. Berlin, entheater. 0.4. Franz Schamann: Abſchied, Einaktiges Schauſpiel. Otto Rona: Ich bin der Vater, Einaktiger Schwank. Wien, Kleines Schauſpielhaus. 1.5. Eduard Stucken: Gawän, Mopfterium. Münden, Refidenz-

theater. Wagh: Das pariferModell, Luftfpiel. Prag, Landestheater. 2.5. Karl und Wilhelm Hagen : Lieber bayrifch fterben, Drama. Erlangen, Stadttheater.

Berantwortlich für die Mebaktion: Siegfried Jacobfohn, Berlin SW. 19 Berlagvon Deſter held & &o.,BerlinW.15 Drud von Imberg & Leffon, BerlinW.9

23. Mai 1907

Ill. Jahrgang Yıummer 21

Die Rettung des Konfuld Bernick von Willi Handl

un ift er zweimal vor unfern Augen gerettet worden. Bei und ift N der Mann genügend entſchuldigt. Nun wird fein Theaterkundiger

in Wien mehr glauben, der Konful Bernick fei ein ganz verftodter Böfewicht, der nur zulegt feinen Charafter mwechfelt wie fein Hemd; mir wiffen, er it im Grund eine leidlid gute Seele, aber im Zwang verfluchter Luͤgen fo verftrictt, daß er fich felbft nicht finden fann. Erlebniffe reißen fein Inneres auf, man hilft ihm, er befreit fi, fommt zu Bemwußtfein und zu einem guten Entfhluß. (Etwas plößlich zwar; aber wir verzeihen es dem damals noch halb franzöfifchen Ibſen.)

Das wiffen wir nun. Wir mögen ed wohl auch ſchon früher gewußt haben, fonft wären wir faum je für dad Werk fo begeiftert gewefen, wie ed unfre ftürmifche Jugend vor fünfundzwanzig und auch noch vor zwanzig Fahren war. Aber das vergißt fich fpäter ein wenig. Andre Werke bringen andre, wichtigere Erfenntniffe. Und fommt man dann in Dezennien auf dieſes jugendlichere, im Geift fo viel weniger fubtile Drama des gewaltigen Meifterd eingehender zurüd, weil irgend eine Gelegenheit unfre erneute Aufmerkfamfeit daflır verlangt, fo wundert man ſich ehrfuͤrchtig, jet auf einmal fo viele von den fpätern Feinheiten, ſeeliſchen Übergängen, genialen Durdleuhtungen auch bier fhon in den ımverfennbaren Anfägen voraus- deuten zu fönnen. Aber fie waren nicht nur immer da, fondern waren und auch immer mehr oder weniger bewußt; und waren immer ganz weſentliche Erforderniffe der Darftellung.

Gerade wir in Wien fönnen uns faum beflagen, daß diefe Erforderniffe der menſchlich erflärenden, zweifeitig beleuchtenden Darftellung uns nur allmaͤhlich und fpät erfüllt worden feien. Der erfte Konful VBernid, den wir bier fahen, war wohl auch der befte, den es je gegeben bat: Friedrich Mitterwurzer. Er gab einen Menfchen und feine Klaffe; eine Schuld und ihre Spiegelung; eine Tat und ihre Notwendigkeit; ein Schidfal und feine

519

allfeitige Erklärung. In der flrahlenden Härte feined Bernick war fo vie unbezwingliche Lebenäfraft, daß zulebt der Sieg des Mannes über fich ſelbſtl und feine Kreife ald die fhönfte Konſequenz aller frübern Siege diefer gran- diofen Kraft wohl begreiflih wurde. in Gefellihaftsmenih, der danf feiner geſundern Natur uͤber die Gefellfchaft binauswächlt, die ibn zwingen und erfliden will. Er ging, ohne je zu wanfen, geradeaus, wie er mußte; und fam an fein innered Ziel obne Verluft an Energie. Nichts wurde zerbrochen und fortgeworfen; die außerordentlihen Potenzen diejed Bernick blieben alle erhalten; fie wurden nur anders gerichtet: gegen fetne Klaſſe. Und das ift ja dad Drama von bien: daß ein bürgerlicher Mann von befondern Gaben fchlieplidh gegen diefe bürgerlihe Klaffe muß, weil feine Gaben im Kreid und im Sinne diefer Klaffe nur Schlechtes und Verderb— liches wirfen fünnen.

Sp gegenmwartfiher und zufunftdeutend, fo voll Sinn und voll Leben, voll Kraft und voll Entwidlung war in Ddiefer Nolle Friedrich Mitter- wurzer. Er ift nun zehn Jahre tot. Und der märe ein arger Marr, der darum, weil das ja doch nicht wiederfommt, alled Heutige verfleinern und blind entwerten wollte. Mein, Gott fei Danf! Wir Späteren find ſchon auch noch wert, daß wir leben; und die Schaufpieler, die jeßt unfer Leben fpiegeln, haben immerhin den unfhägbaren Vorzug, daß fie da find umd fi) jederzeit unirer Sinne beweisfräftig bemächtigen fünnen. Nur, wenn man biftorifh werten, ein beftimmtes KRunftwerf in die Entwidlung der ganzen Kunft einfegen, eine einzelne Leiftung am Reichtum und Fortgang der ganzen Zeit meſſen mil, dann wird ed doch wohl gut fein, feinem bishen Gedaͤchtnis nicht allzu eilfertig davonzulaufen, dann wird man es vielleicht nötig haben, ſich zu befinnen und fi zu fragen: Haben wir wirflich in den Jahren, feit Mitterwurger. tot ift, die Kunft ded modernen Schau—⸗ fpielerd anders fehen und verfteben gelernt? Iſt ed möglich, daß gerade diefe Nolle beute nicht etwa intenfiver an Lebendigfeit und reicher an feelifcher Wahrheit aber doc gegenwärtiger, mit andern, unferm Geift wichtigern Erfenntniffen gefpielt wird, ald es jener Unübertrefflihe fonnte? Last ſich heute etwa die fchaufpielerifche Nettung ded Konfuld Bernick mit modernern Mitteln, Die aud einem neuen Wiffen und Erfennen menſchlicher Dinge (in dramatifchem Fichte) geholt wären, eindringlicher durchführen?

Nun, ed läßt fih nicht leugnen: wir haben feitdem ziemlich viel gelernt. Haben gelernt, die Menfhen im Drama nicht mehr nach Charakteren, fontern nah Herkunft und Beruf, nah Wallungen ded Bluts und be- ftimmenden Motwendigfeiten ded Augenblidd erkannt und gedeutet zu feben. Haben gelernt, und ein Ich fchaufpielerifch in feine Schichtungen und Unter- teile zerlegen zu laflen, bö8 und gut, erbaben und lächerlich wie die zwingende Macht der Stunde eben die einzelnen Elemente zur Oberfläche drängt. In der Erfenntnis der vielfältigen Brechungen und Wandlungen feelifchen Lichts im Medium der fchaufpielerifhen Kuͤnſte find wir fort= geſchritten. Wir haben viel gelernt in diefer Zeit; das meifte gewiß von

520

diefen Berlinern, die ſich nun Jahr um Jahr unfern noch lange nicht aus— gefüblten Dank dafuͤr holen. Und um ed nur ganz rob und ober- Hählih zu unterfcheiden die großen irdifchen Lichter in diefem neuen Farbenfpiel, die ſozial Geftaltenden und elementar Gemwaltigen find Rittner und die Lehmann; und das große feelifche Ficht, das voll und in ungeteiltem Strom aud dem Tiefiten leuchtet, bringt Sauer; aber gerade den fom- plizierten, neuzeitig verfeinerten Apparat, der jeden Strahl innern Lichts zerlegen, auf manderlei Art widerfpiegeln, in ſcharf aufbellende Beziehung zu feinem Duell und Urfprung. bringen fann, bat Albert Baffermann in - feiner Tehnif. Unter den großen Seelenfennern und Seelenmalern des modernen Theaterd ift er der wißigfte, der bemeglichite, der bemußtelte ; er ift der raftlo8 auslıbende Pfychologe. So mußte ihm, wenn irgend einem beute, die modernere, die feelifh ganz durdhleuchtete, die von innen ber bis ins Fleinfte begründete fchaufpielerifhe Rettung des Bernick gelingen. Dad wurde denn auch von gewichtigen Stimmen unfrer Kritif begeiftert ausgerufen und in Flugen Betrachtungen belegt. Ich aber mie unerreid- bar find doch gültige Erfenmtniffe in Dingen der Kunft! ich faß verwirrt und beftürzt bei diefer Vorftellung der Brahmſchen Leute. Ich getraute mich nicht, mir felbit zu glauben, und revidierte noch einmal meine Begriffe von modern und unzeitgemäß. Denn ich hatte plöglicd das Gefuͤhl, diefer Konful Bernick ſei ein grandiofes Beiſpiel ganz ummoderner und ftilfeind- liher Schaufpielerei, wie ich es nicht mebr gefeben babe, feitdem ich von Zacconid Oswald fo graufam erfchrerft und geängftigt worden bin. Mir erfchien dieſes Spiel als die grundiofe Gemalttat eines madtvollen Kuͤnſtlers alſo unmodern; ald die Auflöfung alles Pſychiſchen in Technik, Technik, Technik alfo zweimal unmodern; ald die Ferftörung eines bedeutenden Dramas durch einen bedeutenden Darſteller aljo zehnmal unmodern. Ich meine, modern fein beißt: im tiefen Gefühl unendlicher Jufammen- haͤnge leben; heißt: zuerft und im allem die MNelativität alle Seind und Gefchehend anerfennen; beißt: die Grenzen zwifchen Welt und Seele über- winden. (So modern in diefem Sinne Shafeipeare und Goethe find, fo unmodern wenn auch groß ift Tolſtoi, der die Dinge fcheidet, fie abfolut will, auf ihr befonderes Poſtament fegt, zwifhen Gut und Boͤſe, Erlaubt und Unerlaubt fcharfe Linien zieht.) Dad moderne Drama ift das Drama der Relativitäten, der bedingten Menſchlichkeiten. Das moderne Theater gibt die erfüllende Darftellung aller bedingenden Momente, die dem Dichter in feiner Schöpfung wichtig waren. Es gibt Atmofphäre: ein un- greifbar weſenhaftes Medium, dad den Zuſammenhang der Menſchen in diefem Stuͤcke, untereinander und mit der ganzen übrigen Welt für unfer Gefühl berftelt. Stimmung wie man ed gerne nennt ift nur der feelifche Nefler diefer Atmofpbäre. Nun alfo, ‚Die Stüßen der Gefellfchaft‘ if, in der Anlage mwenigftend, ein modernes Drama. Es zeigt die gejell- fchaftliche Bedingtheit feiner Menfchen, gibt ihre moralifhen und wirtfchaft= lihen Zufammenhänge und führt diefe noch perſpeltiviſch abwärts Krapp,

521

Aune) bi in die unterften fozialen Gründe. Diefes Stuͤck modern fpielen, beißt: es in feiner Atmofphäre fpielen, in der Atmofphäre ded kultiviert⸗ forrupten Buͤrgertums. Die Kontraftfarben: Lona und Johann haben den Eindrucd dieſes Grundtond nur zu verflärfen. Um das Schidfal einer ganzen Klaffe von Menfchen handelt ed fih. Und jede Perfon im Stück mit Ausnahme der beiden Amerifaner bat irgendwie feine Klaffe zu repräfentieren, ift mit der Abficht bingeftellt, irgendwie von den Schmerzen und Schwächen, Lügen und Leiden, Idealen und Verkommenheiten diefer Klaffe zu zeugen. Aus der fomplizierten Gefamtheit diefer von einander abhängigen und mit einander verbundenen fozialen und moralifhen Kräfte ergibt fih eben dann die große Nelativität, dad atmofphärifh Bedingte, dad Moderne des Stuͤcks. Aber der Nepräfentant aller diefer Nepräfen- tanten, in dem ſich die Kraft und die Schwäche, dad Gute und das Boͤſe feiner Klaffe gleihermaßen und in den hoͤchſten Potenzen vereinigt, ift eben Konful Bernid. Er ift der Inbegriff des Fultiviert-forrupten Buͤrgertums; die Eſſen; derjenigen Menfchlichfeit, die ihn täglich und ftundlih umgibt. Nur im engften Zuſammenhang mit diefer fann er von und verftanden, nur ald ein Bürger unter Bürgern fann er und modern dargeftellt werden. Seine einzig mögliche Rettung auf der Bühne ift heute der fchaufpielerifche Nachweis feiner fozialen Gebundenheit; er muß, in jedem Moment des Spiels, mit feiner ganzen fulturellen Atmofpbäre gefpielt werden.

Baffermann aber gibt ein ganz vorausfegungslofes, uͤbermenſchlich großes Individuum; einen Barbaren mit ungebeuern innern Kräften, der von nirgends berfommt und zu niemandem gehört; ein geängfteted® Naubtier. Er bat fozufagen alle Luft um ſich ber aufgefogen; nichts Gleichartiges fann neben ihm gedeihen. Dad ganze Licht, mit dem die Verftricdtungen und DVerhängniffe in diefem Drama beleuchtet werden, braucht er fir fich allein, zieht ed mit der unerbörten Gewaltfamfeit ſeines Spield ganz auf fih. Er ſteht plöglidy einfam da in diefem Stud, fpielt gleihfam nur in ſich hinein, fpielt nichts andres ald: gequälte® Gewiffen. Und fpielt ed mit erfchütternden Mervenanfällen, mit Schluchzen und Schluden, mit den blen- dendften Eingebungen einer außerordentlihen Phantafie, mit der Vollendung einer ganz perfönlichen Technif. Spielt ed ald unerreichter Virtuofe feiner fünftlerifhen Art, auf das feinfte durchgebildet und doch ohne Kultur; weil die wichtigen Zuſammenhaͤnge fehlen, dad Atmofphärifche, Die menfch- liſche Relativität das im modernen Sinne Dramatifche an der Rolle. So, ohne Luft und ohne Erde, nur ald ein Stud abgefonderter mühevoller Arbeit, die feinen Zwed bat, ald ſich felbft, fpielte Zacconi den Oswald. Großartig aber ganz unmodern.

Wer den Bernie! modern fpielen will, muß zunächft den Bourgeoid, den Patrizier fpielen. Da fann fi) unfer Burgtheater, dad vor den erdig- proletarifhen Künften ded Naturalismus verdroffen ftehen blieb, wieder munter regen und unter feinen Beften Umfchau halten. Patrizier Galon- menfhen Burgtbheatermenfchen! Da ift einer, vornebm und mit

522

einem Hang zur Ziererei, nobel und mit einer Neigung zur Hoffart, von größter innerer Wärme aber nie ohne Haltung. Das ift Ernft Harte, mann. Sein Bernid faßte in fcheinbar abfichtälofer Selbſtverſtaͤndlich⸗ feit ten Sinn des ganzen Stüͤchs zuſammen. Da war zunaͤchſt die rubige, unaufdringlihe Diflinftion des geborenen Patrizierd; da war die kleine, nicht unſchoͤne Kofetterie des reihen Provinzlerd, der in Paris erjogen worten ift; da mar ter ſcharfe, gesmungene Ton des guten Buͤrgers mit dem ſchlechten Gewiſſen; da war die wohlanftändige Füge; da war das fahle Merbrehen, das feine Haltung zu wahren weiß; da war die legte große Verzweiflung, der bebente Echmerz um ſich felbft, der aus den unverfiegten Duellen eined lebendigen Herzens reich und bei beraufquol, Da war eine Menſchlichkeit, von allen Eeiten bedingt und beftimmt, von ihrem fozialen Boten genäbrt, in ihrer Fulturellen Atmofpbäre erwachſen. Da war ein Drama und ein dramatifch entwicelted Schickſal. Da war ein Fünftlerifches Geſtalten nad) ten Abfihten und Zweden tes Ganzen; vielleicht nicht immer im vollen Befig ter erforderlihen Kraft, gewiß nicht mit allen Neichtlimern pſychologiſcher Kleinfunft gefegnet, aber id kann mir nicht helfen Durchaud modern im Sinne dieſes modernen Stüds.

Und das verfteht fi) ja von felbft, daß dieſer Bernid feine ebenbürtige Umgebung, fozufagen feine foziale Erklärung, immer um ſich hatte (Lona Heflel, die ja nicht eigentlich dazu gebört, nehme ich aus). Sie brauchten ja nur die Salonmenfchen, die fie jahrzehntelang ernfthaft und in gutem Glauben gefpielt hatten, jet ein wenig fritifch umzufaffen! Bei Brahm aber fett fi) auch diefe Umgebung (wieder ift Lona Heflel auszunehmen, aber diedmal im lobpreifenten Sinne) aus gleihgültigen, fozial ganz farb⸗ (ofen Chargen zufammen; um fo einfamer, unverbuntener, virtuofenhafter erfcheint dann diefer fonderbare Bernick.

Mitterwurzer fpielte: ‚Die Stügen der Gefellfchaft‘, dad Drama eines Starfen, ter durd fein Schickſal ftärfer wird als feine ganze Klaffe. Bei Brahm fpielt man: ‚Die Stüßen der Gefelfchaft‘, pfochologifches Gemälde der Gewiffendqualen eined neurafthenifhen Großhändler. Im Burgtheater fpielt man: ‚Die Stüßen der Gefellfchaft‘, dad Drama der forrupten Bürger- fultur. Die Rettung ded Konſuls gefhah bei Mitterwurzer durch Die uͤber⸗ zeugende Macht feiner eigenen Perfönlichfeit, gefchieht bei Baffermann durch die Gewalt ter einzelnen Nuance und geſchieht bei Hartmann durch die ein- dringlihe Spiegelung einer Gefelfhafte-Atmofphäre. Ich finde nun: Won diefen Bernicks war Mittermurzer weitaus ter mädhtigfte, ift Baſſermann fiher der intereffantefte, ift Hartmann aber unfer Hartmann, der fchon unter Laube zu fpielen begann! der moternfte, weil fein Stil allein das Fünftlerifhe Leben von der Atmofphäre des ganzen Dramas zu empfangen fcheint.

Andre freilid, teren Meinung ich zu achten gewohnt bin, feben diefe Sache gerade umgefebrt. Verlaſſe ſich einer auf Eindrücfe und Urteile; ich fenne mich gar nicht mehr aus. Der Teufel bole die ganze Kritif!

523

Sawän/ von Leo Greiner

& ift micht viel, um deffentwillen ich dieſes Stüd liebe: Gamän von Fa Stufen. Einmal fpridt eine Frauenftimme ein Lied: von

den Weihnachtskerzen. Ein andermal fragt ein Gatte, der einen reinen Toren tagslıber allein bei feinem ſchoͤnen Weibe ließ, um ihn in böjer Ab— fiht zu verloden, den Juͤngling nad) allem, was er an diefem Tage von dem Weibe genof: und der Juͤngling kuͤßt ihn auf die Stirn. Sonft nichts. In jenem Fiede blüht lang Vergeſſenes auf: Kindereinfalt, religidß and ftrömend, myſtiſche Innigfeit, wie fie aus den Liedern des fiebzehnten Zabr- hunderts zuweilen zu und berübertönt, Schmerzlich-Verſehntes, Pieblic- Deutendes, Blumenbaft- Zarted. Diefer Kuß aber bat eine feltiam [öfende Schlichtheit. Die ftille Klage der Kinder, wenn ein fremdes Gefühl ibre bilflofen Seelchen im Angeficht diefer ungebeuern Welt ergreift, von dem fie felbft nichts wiffen, und das fie nicht ausfprechen Finnen, da® wir zu— weilen auch aus den Augen von Tieren ſtumm und machtlos beraufflagen feben ſolch ftille Klage ergreift und einen Augenblid, wenn Gawän den böfen Ritter auf die Stirn kuͤßt. Es ift, als fei für die Dauer einer Sefunde der Vorbang weggejogen, der und das Leid der Menfchen verbüllt, und eine gütige Dichterband zeigt und Landfchaften und Traumbilder, die wir feit unfern Sindbeitätagen vergeffen baben.

Um diefer zwei Momente willen, die mit einer auf der heutigen Bühne faum wieder erreichten, tief im tiefflen Unbewußten wurzelnden menſchlichen und dichterifchen Gewalt auf mich einftrömten, ift mir ‚Gamän‘ berznab geblieben, obwohl ſich die übrigen Eindrüde, die id davon empfing, raſch verfllchtigt haben und nichts Dauerndes in mir zuruͤckließen. Das Stüd, ein Mofterium aus dem Artusfreife, dad mit den primitivften Begriffen von Simde, Schuld und Erlöfung im mittelalterlih-riftlihen Sinne operiert und troß eines Verfuches am Schluffe, die Schuld in die Neihe der leben- fhaffenden Mächte bineinzuzieben, feltfam weltfremd, abfagend und von jener finnlihehberfinnlihen Schwuͤle ift, die einft in der Gefchichte der Entdeckung der Verfönlichfeit voraufging, dies Stud ftammt aus einer Quelle, aus der noch nie Dramen entitanden find: aus einem zarten, webleidigen Gefühl, dad gar nicht verfucht, den Intellekt zu Hilfe zu rufen, wenn feine findliche Bangigfeit fi zu Angft und Grauen fleigern will, das fich hinter den Nod- fhößen der Mutter Gottes verftedt, wenn der Boͤſe ein Getdfe macht. Studend Symbolik ift von einer Kindlichfeit, daß fie für Menfchen, die nicht mehr am Anfang fteben und ſchon einige Male derb gefchlittelt worden find, feinerlei Bildfraft mehr befist. Ei ja, dad war damals! Als wir achtzehn Jahre zählten und glaubten, fein Weib anfeben zu fönnen, obne daß es in den Wolfen eine rollende Schlaht um das Heil unfrer Seele gäbe. Jetzt wiffen wir, daß die Mächte dem Welttreiben weit betradhtender gegenüberftehen und noch lange feinen Grund zum tätigen Eingreifen fühlen, fo oft eine fhöne Valadinne ihre Brüfte entblößt. Die miderwillige

524

Sprödigfeit, mit der die Zuſchauer den Suggeftionen der Buͤhne zu widerftreben pflegen, und die nur bei jenen zwei Stellen vom Dichter über» wunden wurde, verftärfte fi) vor dem Ganzen von Aft zu Aft: ein Schatten- fpiel aus alter Zeit, für andre Menfchen gefchrieben, mit längft verwun- denen Schauern und Idealen angefüllt, zog blaß und feelenlo® an uns vorüber.

Was wir in München ald ein Erlebnis begrüßen: Infjenierung und Dar⸗ ftellung des Nefidenztbeaterd, fordert Erwähnung. Runges Regie ſchuf Bilder. Was fonft faum einmal vorfommt: der Regiſſeur batte fih vom Zettel auf die Bühne verirrt und macht fich Fräftig bemerfbar, im Szenifchen und im Darftellerifhen. Etwas wie eine Hand war da, die unfichtbar fhob, berausbolte, zuſammenſchloß. Und dann fand Albert Heine auf der Bühne, Er fpielte den Tod, der menfchliche Geftalt annimmt. Allein diefer Tod materialifierte fich nicht in Fleifh und Bein. Er hat übernatürliche Kräfte und alfo die Wahl: fo wählte er Stahl und Eifen. Funfen fprübten aus dem Metall. Die Schmiede des Hepbäftos mar aufgetan: Haͤmmer und fchießende Flammen. Jedes Wort, jede Geberde herriſch-menſchlich, ebern-wirfli und dennocd mehr: voll von dem Dunkel chaotiſcher Schludhten, von der Magie einer Macht, die hinter ihrer Menſchenmaske verbirgt, daß fie gewohnt ift, mit Nonnen und Engeln unter dem gleihen Dache zu haufen.

Wiesbaden/ von Arthur Kronau

aft in jedem Mai gibt der Deutfche Kaifer dad Hoftheater zu Wiesbaden, fein Cieblingätheater, dem er ald oberften Lenker der Dinge Georg von Hülfen vorgeſetzt bat, mit dem er felbft aber ſich während diefer Mai- tage praftifch, fozufagen ald Ober-Dberregiffeur befchäftigt, für eine Reihe von Feftipielen ber. Die Preife find die Preife der berliner Kammer- fpiele. Das Publikum fommt von allen Enden der Welt, Wie in Bayreuth rufen abends, wenn die Schatten zwifchen den dunfelgrünen Riefenfaftanien des Kurgartens tiefer fallen, Fanfaren in das proßig rotgolden audftaffierte Theaterhaus. Man fommt im rad; die Damen geben ihren Pub zum Bellen. Wenn der Kaifer in die Loge einzieht, tuten oben im Rang dide Mufifer in friderizianifhen Galardden. Ein Enthufiaft fchreit „Hody‘; die andern müffen ed dreimal fchreien. In der Paufe quetfcht man fich im Foyer herum, um Wilhelm den Zweiten oben in der Wandelgalerie, zwifchen dem blaffen Herren von Mutzenbecher, dem nominellen Intendanten des wieöbadener Hoftbeaterd, und dem forpulenten Herrn von Hülfen, mit feinen jäben, ftoßartigen Bewegungen feine Eindrüde wiedergeben zu feben. Das maht man fünf Abende lang, hängt dann den Frack wieder in den Schranf und gebt zu andern Dingen über. Sch vermute, daß nad) diefem Sag die guten Haffer fi auf meine Mitwirkung gefaßt machen werden. Auf einen geharnifhten Ausfall gegen

525

alles, was Hoffunft im allgemeinen, was wiedbadener Hoffunft im be» fondern heißt. Diefe Verſchworenen werden nicht auf ihre Rechnung kommen. Denn es gibt im großen und ganzen nichts Harmlofered, ald diefe Kunſt⸗ fchauftellung, gegen deren Saupttätigfeit: neben einer Pfufcherei vier wert⸗ volle Stuͤcke der ernften Dramen» und Opernliteratur in forgfältig gewaͤhlter Form aufzuführen, nur ein Tor mit Kanonen fchießen wird. Zudem: ber Deutfche Kaifer fteht bier auf eigenem Grund und Boden. Er unterbindet nicht die Kritik, fondern läßt ihr freied Wort, von welchem Vorrecht fie radifal genug Gebrauch macht. In allem: man bat weder Beranlaffung, Hymnen zu fingen, noch zu verfluhen. Man bleibe in der Mitte.

Der wiesbadener Stil, denn ed bat fi) da ein ganz beflimmter, in feinen Weſenszuͤgen leicht erfenntliher Stil berausgebildet, hat feine Vor⸗ züge und feine Schwädhen. Er rechnet zunächft mit der Sprachkultur des Schaufpieler®, die die moderne Bühne, nicht zum wenigften in Berlin, in die naturaliftifhe Barbarei hineingehegt bat. Es wird bier nicht paffieren fönnen, dag man ſich am Abſchluß einer ftilifierten Dichtung ihren Inhalt noch einmal durch die Lektuͤre vergegenwaͤrtigen muß. Zum fFebler wird nur, daß diefe rbetorifhe Schule die einzige ift, der die Begabung des Künftlerd bier unterworfen wird. Die Arbeit am Wort rodet die Arbeit am Geift aus. Man weiß bier nichts davon, daß heute auch die Fleinfte Geftalt einer Dichtung ihre befondere, fcharf umriffene Phyſiognomie haben muß. Um ind einzelne zu geben: im Hebbels „Heroded und Mariamne‘ wird der Herodes, wenn er zufällig der intelligenten Bildnerfraft ded Herrn Leffler anvertraut ift, zu einer vielfältig nuanzierten und doc einheitlichen Geftalt. Auch Mariamne fönntees werden, wenn dad darftellerifche Pygmäentum der Frau Willig das zuließe. Joab aber, der treue Diener feined Herrn, und Joſeph, der haͤmiſch Tuͤckiſche, Soemus, der Nabverwandte des Gyges, und Artaxerres, dieſes gewaltige Ergebnis der ein Menfhenfhidfal in fünfzig Berszeilen einſchließenden Geftaltungäfraft Hebbeld: fie alle find hier nichts ald ‚Männer mit VBärten‘,

Das Hauptfennzeichen des wiesbadener Darftellungäftild, der ja meift das Feierlihe, Plaftifche, Ceremonidfe, Gebundene zu feinen Aufgaben wählt, ift die ‚Wide‘ der Geberden. Wiederum ift bier der Gefchmad des faiferlihen Hauswirtd entfcheidend. Wiederum bringt diefe Schablonifierung eine Er» ſcheinung bervor, die der Würdelofigfeit, der Zerſtoͤrung alle Edelmaßes der Gefte, wie fie die naturaliftifhe Manier heutzutage auch in die Klaffık bineinträgt, fchroff gegenlberftebt. Natürlich fiihrt auch diefe Einfeitigfeit ihnell zur Manier. Bei Hebbel zum Veijpiel entfernt man, um fonfequent dem Bögen diefed Dogmas zu dienen, jeden orientalifchebeweglichen, jeden füdländifchelebendigen Einfchlag aus den Hofzimmern des Herodes, und Die Judaͤer geben, fteben und leben mit der Ladeſtockhaltung und dem Stoizismus von potddamer Grenadieren. Auch dem Chor, ja fogar dem Balletapparat ift von dieſer Erziehung zur Starrbeit, von diefer Pagodifierung mitgeteilt, Ob num in Lauffs ‚Sotberga‘ Priefter und Jungfrauen, Barden und Helten

526

in feierlihem Zug um die Donardeihe des Taunusforfted ziehen, ob Armidend Zaubertempel der Schauplag myſtiſchen Gepränged wird: ſtets ſetzt jeder Einzelne bebutfam, gemeffen den Schritt, hebt und fenft die Arme mit formoollem Geftus. Die Weihrauchfäffer beim ‚Einzug der heiligen drei Könige‘ in ded Herodes Säulenhalle werden nad) dem Taktmaß geſchwungen; und Gruppen, die fid) fpontan, wild, impulfiv bilden müffen beim An- fturm der Nömer am Schluß der ‚Gotberga‘, bei der Verfammlung der Philiſter im erften Aft von ‚Samfon und Dalila‘ laffen die ftundenlangen Vorbereitungen diefer Impulfivität ahnen. Man ift ordentlich erftaunt, wenn diefe ſtets unter der unfihtbaren Zuchtrute eines äfthetifhen Exerziermeifters ftebenden Maffen einmal in den Fluß einer fühnen, felbftändigen, temperament- vollen Bewegung fommen, fei ed auch nur bei Gelegenheit eines für Wies— baden überrafhend cynifhen Bauchtanzes, eben in jenem Samfonaft. Aber Wiedbaden hat eines, das zu erreichen ihm durch feine materiellen Mittel und die Faiferlihe Schatulle freilid leicht genug gemacht wird, das man aber mit großem Reſpekt anerfennen fol, weil ſich die Uppigfeit bier nie vor den Gefhmad, der Begleitumftand nie vor die Sache drängt. Ich fpredhe bier von der Ausſtattung. Man nimmt aus Wiesbaden auch diefes Mal ftarfe Eindruͤcke mit fort, ein Album mwunderfchöner, Foloriftifcher Im⸗ preffionen. Die Opferfjene der ‚Gotberga‘, eingerabmt von den glühend- roten Tinten ded Abendhimmeld, deflen lohenden Feuerbrand dann das lichte Grün der deutfhen Waldnacht abloͤſt. Der Impetus der römifchen Legionäre, der den Götterwald in einem Nu mit einem Farbenfturm von Bold und Purpur erfüllt. Der Zaubergarten Armidens, ganz das fruͤhlings⸗ frohe leichte Gelb und Roſa einer idealifierten Mailandfchaft zeigend, die plöglih vor den Augen des Betrachters aus dem beflemmenden Schwarz- grau einer Felſenſchlucht hervortaucht. Der Schluß der ‚Armida‘, wenn ihr Glück und ihr Palaft in Truͤmmer finfen, wenn Herr von Hilfen Franz Stucks Unterftügung annimmt und gegen einen grünblau fchillernden Ge— witterbimmel den Genius des Haſſes mit triumpbierender Geberde die duͤrre Kauft recken läßt, während aus dem fehwarzhaarigen Eumenidenfopf die Augen wie zwei fladernde Lichter hervorbrennen. Endlich das tableau vivant, dad den erſten Samfon-Aft fließt und bejonderd in der An— ordnung feiner farbigen Gegenüberftellungen jedes Molerauge beraufchen wird: ald Hintergrund der Koloffaltempel mit feinem plump-großartigen Terraffenbau, feinen Pylonen und Obelisfen, feinen Torbogen und bieratifchen Meliefs ; im Vordergrund die in Erfcheinung und Koftlum gleich ſchlicht und un« vordringlic; gehaltene Gruppe der Hebräer, die ihren Samfon umringen; gegenuber mit lockenden Geberden, duftende Kränze jchwingend, felber ganz Duft, Uppigfeit, Füfternheit, die Priefterinnen der Aftarte, die wie eine lihte Guirlande Dalila, der Teufelinnen Oberfte, umſchließen. Man muß wirklich geflibllo8 oder voreingenommen fein, um bier kalt zu bleiben, Wenn man nun auf die Neuarbeit zu fprechen fommt, die diesmal die wied- badener Feſtſpielwoche geleiftet bat, fo muß man zugleih an ihre größte

527

Sinde rühren. Die Tatfache, daß die Stadtgemeinde Wiesbaden gerade in diefen Tagen ihr neued Kurhaus weihte, wurde dazu benutzt, Herrn Sofef Fauff, der erfreulichermeife durch geraume Zeit diefen Spielen gefehlt batte, wieder mit einer ‚Weibedichtung‘, einer einaftigen Neimerei ‚Gotberga‘ zu betrauen. „Herr Fauff, der ald Epifer Temperament, ald NRomancier ein offened Auge, ein warmes Herz bat und gute Worte findet, verliert jegliche Faffung, fobald er fih auf der Dramenbübhne und namentlih einem vaterländifchen Stoffe gegenüber fieht. Die gebundene Marfchroute, Der er diefed Mal im Hinblick auf die zu befingende Heilquelle Wiedbadens um? ihre biftorifche Vergangenheit folgen mußte, brauchte ihn dabei gar nicht einzufchlichtern.. Denn obne Mübe fonnte das Auge eines wirflihen Poeten jwifchen den ſchwarzblauen Taunusbügeln die gleihen Maͤrchengeſtalten feben, mit denen Gerhart Hauptmanns Phantafie die duͤſtern MWaldgründe des Niefengebirges gefüllt hat. Oder Heinrid von Kleift fonnte dem wahren Dichter Lenfer fein: er fonnte ihn daran erinnern, daß gerade an Diefer Stelle des Deutfhen Reiches die geballte Kauft der Germanen der gierig audgeftredten, woblgepflegten Hand des römischen Kaiferreihes oft mit

beftigem Abwehrhiebe begegnet ift. Alfo Sage oder Kulturbild: eine andre

Trage gabs bier nicht. Herr Fauff aber bat beides zufammengefchuftert,

bat diefe Mifhung mit fitfchigen, an ihren beften Punkten fchillerifierenden,

in ihrer ſchwaͤchern Hälfte nach Friderife Kempner ftilijierten Verschen zu

Stande gebraht (jo daß einige bübfchere Bilder in dem Wuſt von Ober-

flächlichfeit erfaufen) und bat die Figur eines frei erfundenen, römifchen

Caͤſars von gottähnlihen Eigenfhaften benußt, um wieder einmal feine

tiefe Verbeugung vor dem Haufe Hobenzollern zu madhen, Dafür hat er

den Kronenorden, und der Keftipielcyklus bat feine faule Stelle.

Ald zweiter Tragoͤdienautor ftand neben Joſef Lauff auf die ureigenfte Initiative des Kaiferd Friedrich Hebbel. Noch nicht mit feinen ‚Nibelungen‘, deren Wiedergabe einmal die größte Tat der dem Rhein nabegelegenen und Worms benachbarten wiesbadener Bühne fein wird und muß. Diefed Mal zeigte erft „Derodes und Mariamne‘jenen übermenfchlihen Seelenfonflift, der in die unmittelbare Nahbarfchaft einer blutbefledten Zeit und des gewaltigen Ereigniffed der Menfhwerdung Jeſu von Nazareth gefegt ift. Ich deutete fhon an, in welden Punkten es die wiesbadener Interpretation der erniten Problemdihtung verfeben bat. Sie ſprach, aber fie geftaltete nicht. Sie war in den Kürzungen ungefchiet: fie merzte einzelne Stüde der mebr biftorifhen Darlegungen, zu denen diefe Bühne beffer dieponiert if, aus, um jede Szene der diffizilen Seelenbegegnungen und Reibungen, zu denen fie weder die darftellerifhen noch die geiftigen Mittel hat, exakt zu bringen. Sie ftellte dem intelligenten Herrn Leffler die verzogene, Fofette Frau Willig gegenüber und batte auch in ihrem meitern Schaufpielerworrat faum mehr ald zwei wertvolle Kräfte. So ift alfo nur der Verfuch zu loben, nod nicht von einem Gelingen zu jprechen.

Den Neft ded Programmd füllen bewährte ‚Nummern‘ aus frübern

528

Feſtſpielzyklen. Zu diefen gehört nicht die Aufführung der Oper ‚Sam- fon und Dalila‘, deren Komponift Camille Saint-Saend neulich in Berlin ſehr boffähig wurde, und deffen Meyerbeerpartitur in ihren Hauptrollen der fchmwerfälligen, Fursftimmigen rau Brodmann und dem flarf ver- blühenden Paul Kalifh anvertraut find. Aber zu ibmen gehört der un— gemein foftbar infzenierte ‚Oberon‘; und Glucks wuchtig-gravitätifche ‚Armida‘, an der Georg von Hülfen und Profeffor Joſef Schlar ein wenig herum— gepfufcht haben, die aber mit der gebundenen Plaftif ihrer mufifalifchen Finien, mit all dem gebäuften, metapbufifhen und tranfcendentalen Spuf ihres Stoffes in die mwiedbadener Theaterwelt luͤckenlos bineinpaßt, um fo mehr, da fie zeigt, daß dad Sängermaterial an diefem Plage qualitativ dem Schaus fpielerbefig des Inſtituts weit Überlegen if. Den wiegt allein Frau Leffler- - Burfhard auf: in der Ausnuͤtzung ihrer großen Stimme eine ganze Künftlerin, in der Unterordnung dieſes Beſitzes unter eine elementare, vergeiftigte Aus— drucksform die auffallendfte Perfönlichkeit, die das Hoftheater Wiesbaden vorzuftellen bat.

Ein Spealtheater/ von Richard Braungart

ad Wort ‚Sdealtheater‘ weckt verjchiedene Vorſtellungen. Man denft D wohl dabei zunaͤchſt an eine Buͤhne, auf der unſre dramatiſchen und

ethiſchen Ideale verwirklicht werden, oder an eine ſolche, die das ſchier Unmoͤgliche an Zuſammenſpiel, Regie und Ausſtattung leiſtet. Einige meinen damit vielleicht auch die erſehnte Phantaſiebuͤhne, die, Schaubuͤhne der Zufunft‘, wie man fie genannt bat. Aber nichts von all dem ſoll bier erörtert werden. Im Gegenteil: es ift eine im Grunde recht nilichterne Sache, von der ich reden will. Das Idealtheater, das ich meine, ift nämlich dad feuer» und paniffihere Theater. PWräzifer audgedrüdt: ein ganz be— ftimmted Modell eines foldhen Theaters, dad mir die Bezeichnung ‚ideal‘ immerbin zu verdienen fcheint. Hören wir alfo, was zu diefem Thema zu fagen iſt.

Das Problem des feuer- und paniffihern Theaters will ſchon feit vielen Jahren nicht mehr aufhören, dad Publifum und die Architeften zu bes fchäftigen. Und das ift recht wohl verftändlih; denn immer wieder, bei- nabe in regelmäßigen Zeitabfländen, werden wir durch die Kunde von einem neuen fürdhterlihen Unglüd aufgefchredt, dur dad hunderte von Theater- befuchern ihr Leben verlieren mußten, Und wir erinnern und dann wieder der peinlihen Tatfache, daß diefed wichtige Problem nod immer fo gut wie ungelöft ift, oder es mwenigitend noch bis vor kurzem war. Man hat zwar unter dem unmittelbaren Eindrucd ganz beſonders entſetzlicher Kataftrophen der legten Jahre zahlreihe Vorfchriften zu dem Zweck erlaffen, die Feuer— ſicherheit des Buͤhnenraums des eigentlihen Herdes der Feuersgefahr zu erhöhen und eine rafchere Entleerung des Zufchauerraumd zu ermöglichen.

529

Beſonders mit diefem legten Problem bat man fid eingehend beichäftigt, da man längft erfannt bat, daß nur ganz felten das Feuer und feine un— mittelbaren Wirfungen, wie Rauch, Gafe und fo weiter, die direften Urfachen der Menfchenverlufte find, fondern faſt immer die meiſt fofort ausbrechende Panik, wobei die Unzulänglichkeit der Treppen und Ausgänge felbft in den modernften Theatern zum Verhängnid zu werden pflegt. Man bat eben und dad ift dad Entſcheidende bis jeßt nur halbe Arbeit getan, in- fofern, ald man fr die Entleerung der Theater ausſchließlich Innentreppen vorſah. Verſuchte man ed aber gelegentlic doch mit der Anlage von Treppen an der Außenfeite der Theater, fo war die Löfung erft recht mißgluͤckt; denn diefe in Eifenfonftruftion bergeftellten Mottreppen zeritören meift grundlichit den Rhythmus der Architektur, und außerdem ift der Wert folcher Ausgänge extra statum ein recht problematifcher, da ja das Publikum in normalen Zeiten fie nicht benußen darf und ſich daher auch nicht an fie gewöhnen kann. Sie find alfo fo gut wie nicht vorhanden.

Einem jungen, in München lebenden deutfcheamerifanifchen Architeften, Henry Helbig, der ſich feit etwa zehn Jahren mit diefem Problem bejchaftigt, fcheint ed nun tatfählih gelungen zu fein, das feuer- und paniffichere Spealtheater zu Fonftruieren. Er bat die Pläne feines Proieftd während einiger Wochen in Münden oͤffentlich audgeftellt, und man bat fich in ganz außerordentliher Weife dafür intereffiert, um fo mehr, ald der Architeft auf zahlreichen Planffizzen unter anderm auch dargeftellt bat, wie bei Anwendung feines Syſtems das im bödften Grade gefährlihe mündner Hoftheater unter pietätvollfter Nefpeftierung feiner Grundformen und ſeines Bauſtils und mit relativ geringen Koften etwa eine Million Marf wäre er forderlih in ein Theater vom modernften ‚Typ‘ umgewandelt werden fönne. Gerade diefe leichte Möglichfeit, dad Helbigfhe Syſtem auch bei bereitö beftehenden Theatern ohne weiteres in Anwendung zu bringen, ift aber ein Vorzug, der nicht gering zu achten ift; denn fie garantiert auch den ältern Theatern, denen dad Todesurteil vielleiht ſchon gefprochen ift oder wenigftend über furz oder lang droht, ein neues Leben auf Jahrzehnte binaus. Dem Budget fo manches Fleinern Hof⸗ oder Stadttheater und fo manches Privat-Unternebmend dürften die auf folhe Weife erfparten Millionen ſehr zuftatten kommen.

Die Grundzüge ded Helbigfhen Syſtems find in Kürze die folgenden. Anzuftreben ift vor allem eine größtmögliche Dezentralifierung der Zufchauer- maffen. Man weiß, daß eine angefebene Architeftengruppe, deren Häupter ebenfalld in Münden zu fuchen find, gerade dad Gegenteil will: Zentrali- fierung, das beißt, Vereinigung der Zuſchauer in einem amphitheatralifchen Raum, wie wir ihn im bayreuther Feftipielhaus, im muͤnchner Prinzregenten- theater und im dharlottenburger Schillertheater bereit befigen. Helbig fagt fi} aber ganz richtig, daß die Möglichfeit einer rafchen Entleerung des Hauſes durch diefed Zufammendrängen der Zuſchauer auf einen einzigen Raum weit eher verringert ald vermehrt wird, da bei der großen Länge der

530

Sitzreihen die Zahl der gleichzeitig den wenigen Türen zjudrängenden Per- fonen eine viel zu große ift. Er teilt daher die Zuſchauermaſſen in möglichft viele, völlig voneinander getrennte Gruppen, und died erreicht er dadurch, daß er den Raum nad oben vorteilhaft audnugt. Mit andern Worten: er fommt bier, aus praftifchen Erwägungen, wieder auf das alte, von vielen fhon gänzlicy verworfene Nangtheater, allerdings in fehr modifizierter Form, zurüd. Und er fann und darf dad, aus Gründen, die ſogleich Flar gemacht werden follen.

Der Zufchauerraum erhält, in Anlehnung an das antife, Freißförmige Amphitheater, die einbeitlihe Form einer durchbrochenen Kuppel. (Selbig verſpricht ſich von diefer Konftruftion auch viel Guted in Bezug auf die Afuftif; ob und in welhem Umfang dies zutrifft, müßte allerdings erft die Praxis lehren; man weiß ja längft, daf eine gute Afuftif mehr oder weniger dad Produft des Zufalls ift.) Die Sikeinteilung erfolgt in der Form von ftufenförmigen Neibenanlagen, wovon zwei im Parkett (eigentliches und er- hoͤhtes Parfett) umd zwei oder drei im obern Teile des Haufes fich befinden. Die Galerie baut fi) auf dem Schlußring der Kuppel ringförmig (ampbi- theatralifh) auf und reiht bis zur Ruͤckwand ded Zuſchauerraums. Gie kann aber bei Feinern Theatern auch meggelaffen werden. In diefem Fall wird die Kuppel geſchloſſen.

Wir fommen nun zu dem wicdhtigften (gemiffermaßen dem idealften) Konftruftiondteil des Helbigfhen Theaters. Von allen Rängen führen nämlich nicht nur die für jeden Rang gefondert Fonftruterten Innentreppen, fondern auch an der Außenfeite ded Baues angebrachte, geradlinige, mit nur einmaliger Nichtungsänderung fämtliche Ränge verbindende, terraffenförmige, nah unten ſich verbreiternde Freitreppen zur Erde. Diefe dad Bogen oder Rangtheater neuerdings mieder möglich machenden Außentreppen aber find und das ift dad Weſentliche und Neue nicht etwa nur in bäßlicher Eifenfonftruftion unorganiſch an den Bau angeflebt, fondern fie find monu- mental, das beißt: fie bilden einen integrierenden Beftandteil der Architektur des Theaterd. Sie machen nicht den fatalen Eindrud von Mottreppen, fondern wirfen durchaus deforativ, und da fie nah dem Projeft von den Theaterbeſuchern ftändig zum Verlaſſen des Theaterd benußt werden follen, fo werden fie auch im Fall einer Panik ihre Schuldigfeir tun. Das Publifum braucht fie nicht erft zu fuchen, da es ja vollfommen mit ihnen vertraut ift, kann ſich alfo auf diefem Wege rafch in Sicherbeit bringen. Stauungen find dabei fo gut wie ausgeſchloſſen, und ganz befonderd beruhigend wirft jedenfalld der Umstand, daß der Theaterbefucher raſch den freien Himmel über fi bat und in frifcher Luft atmet. Sobald aber dies der Fall if, fühlt er fi) erfahrungdgemäg auch ſchon in Sicherheit und wird daher gar nicht mehr daran denfen, unvernünftig zu drangen und zu eilen.

Ich habe bereits darauf hingewieſen, daß Helbig die vielfeitige praftifche Verwendbarkeit feines Syſtems an einem bierflr beſonders geeigneten Objekt, dem miüncdhner Hoftheater, in überzeugendfter Weife eremplifiziert bat.

531

Einige Neubauaufträge fteben ibm, wie man hört, nunmehr in naher Ausfiht ; und fo wird man alfo in nicht allzu ferner Zeit Gelegenbeit haben, zu prüfen, ob das fertige Werf auch alles das erfüllt, was das Projeft verſpricht. Man bat Urfache, in diefer Hinfiht fehr optimiftifh zu fein. Und dag die Ideen Helbigs in Architektenkreiſen febr beifällige, aber auch mancherlei mifgünftige Beurteilung gefunden baben, ift nur ein Beweis dafür, daß wir ed bier mit einer Sache zu tun baben, die ed verdient, beachtet und nicht vergeffen zu werden. Der richtige Weg ift nun einmal beſchritten. Möge er bald zum guten Ziel führen!

Luſtſpielabend von Robert Walfer

ch faß auf der Galerie des Luitipielbaufes zu 3... ., das balbaus-

getrunfene Bierglas neben mir, den Zigarrenftengel zwiſchen den

Zähnen, neben Studentinnen, Arbeitern und dicken Weiböbildern. Die Luft war fhon faft zum Erftiden. Die gipfenen Engel am Plafond des Theaterd fchienen zu ſchmachten und zu ſchwitzen. Ab umd zu beugte ich mich über die Bruͤſtung berunter, um zu feben, was unten los fei. Dort unten faßen an Tifchen, did ineinandergedrängt, junge beflere Leute, Korre= fpondenten aus Banfhäufern, Studenten mit noblen Schmiffen in den Steh— fragengefichtern, ältere, feine Herren, die das Reben lieben, und Damen aus anfcheinend guter Familie. Auf dem Balfonrang in rotfamtnen Seſſeln faß die ganz gute Welt, ich glaubte einige mehr oder weniger ehrmürdige Literaten unterfcheiden zu koͤnnen, unter andern einen Redakteur, einen Kerl, der fonft immer mit ‚belletriftifchen Spaziergängen‘ aufrüdte. Ich kannte ihn ein biöhen. Er fab einem guten braven Schweinemegger aͤhnlich, mochte aber troßdem zu den Feineren zählen. Prachtvolle Damenbüte gab ed da, und edle, lange, an den Arm angeprefte Handſchuhe bis über die üppigen, biegfamen Ellbogen binaud. In der Mitte der Saaldecke bing ein Kronleuchter herunter und warf ftrablendes Licht auf die Menſchen. Da donnerte einer mit furzen, harten Schlägen auf das Klavier, daß ed wie eine mächtig=Flanguolle Orgel erbraufte. Der Klavierfpieler hatte lange, ſchwarze, wellige Locken auf dem Kopf und ein ſchoͤnes Profil am Geficht. Es koſtete nichts, es duͤrfen betrachtet zu haben. Das berrlihe Klavierfpiel war der unfichtbare, großbeflügelte, ernfte Engel, der mit feinem Gefieder leife an die Sinne der Zufchauer und Zuhörer anfchlug. Und dann ging der Vorhang in die Höhe, und das Luſtſpiel wurde abgebafpelt, ald ob es ein Strang Baummolle gewejen wäre, zwifchen zwei Hände geftredt, dag man ed abwinde. Es wurde milliönifch flott geipielt. Der Direktor felber fpielte die Hauptrolle. Während der Paufen verfanf ich jedesmal in tönende Träumereien. Es war mir, ald wären die nadten, kuͤhnen, fteinernen Figuren zu beiden Seiten der Bühne auf ihren Poftamenten lebendig geworden. Eigentlich müßte dad alles überflüffig gewefen fein. Das Klavier forigte

532

mid) immer mit Tönen an, hold der Teufel, ich fah die fchlanfen Hände des Schlägerd und Spielerd auf den weißen Taften auf» und niedertanzen, ich hätte mit dem größten Vergnügen eine halbftüundige Paufe gehabt. Unter mir, auf dem Balfon, pubte fi) eine ältere Dame mit ihrem raſend befpigten Taſchentuch die Nafe. Ich fand alles ſchoͤn und unendlich zauberhaft. Die Kellner fragten, ob Bier gefällig fei. Diefe fchnurrige Frage fam mir fo fonderbar vor. Was waren dad für Menfchen, die derart an die Leute ber- antreten und fragen fonnten, vb man wuͤnſche, etwas zu trinfen? Einer der Kellner hatte ein reines, borftiged Schnurrbartgefiht, man ſah nur den großen, gewichften Schnurrbart und dazwiſchen ein Paar große, dunfel- glübende Augen, Sie fohimmerten wie Lichter aud einem Waldesdunfel beraud, Ein andrer war bartlod und franfhaft blaß und elend mager im Geſicht, dag ihm die Badenfnohen wie Klippen eined elfenuferd vor- fprangen. Diefem nabm id ein Glas Bier ab, bezahlte fofort und ſteckte mir einen neuen Zigarrenftumpen in den Mund. Da warf mir dad Klavier eine neue, machtvolle Welle ind Geſicht, an die Bruft, in die Rockaͤrmel hinein, daß ich glaubte, mid nad) einem Handtuch umfchauen zu mülffen, um mich abtrodnen zu können. Aber die Strahlen des gelblih-fhimmernden Kronleuchterd hatten das ſchon beforgt, ich brauchte feine Angſt zu haben, Da gab ed wieder Momente in der Paufe, wo ich meinte, meine beiden Augen feien lange, dinne Stangen geworden und bätten die Hand einer der unter mir fißenden Damen berühren fönnen. Aber fie fchien nichts zu merfen, fie ließ mich machen, und was ich tat, war Doc) jo unverfchämt. Dicht neben mir faß ein berrfchaftliches Dienftmädchen, ein lieb audfehendes, fleines, zierlihed Ding, ich fragte fie, wie fie heiße, fie fagte es leife. Eigentlich fagte fie ed mir mehr mit den Augen und mit ihren beiden, hoch⸗ rotglübenden Wangen, ald mit dem Mund. Sie hieß Anna. Ich beftellte ihr ein Glas Bier und blies ihr Naud ind Gefiht, um fie lachen zu machen. Wie ihre Augen ſchwarz und feucht glänzten, ed war, ald fchimmerten zwei fleine Rügeldyen aus ſchwarzem Silber. Unten auf dem Balfon faß die Baronin Anna von Wertenſchlag, au eine Anna, aber eine ganz, ganz, andre. Von dem Hut der Baronin fielen lange, gefchweifte Federn rlid- wärtd wie fterbende Vögel. Sie zitterten, ald ob fie ein leifed, unfagbares, menſchliches Web empfunden hätten. Die frau faß in einem tiefſchwarzen Kleid, dad gegen unten mächtig gebogen und gebaufcht war, Plat für Dreie oder Viere einnehmend, zwifchen zwei jungen, aber, wie ed den Anfchein batte, wenig gefährlihen Kavalieren. Sie fchien in Gedanfen verfunfen. Da ging der Vorhang wieder auf, und dad luftige, Fammerzöflihe Stüd lifpelte weiter. Auf der Bühne geſchah ed, daf eine reich gemordene Bürgeröfrau einer armen Adligen die vornehm ausgeſtreckte, läffig dar- gehaltene Hand füffen mußte, weil ed die althergebrachte, ſchoͤne Sitte erforderte, Macher aber, wie die Dame von Stand verſchwunden war, fpottete die Buͤrgerliche, und gewiß nicht ohne Berechtigung, und ſpuckte verächtlih auf den Teppich des gräflihen Empfangzimmerd aus. Dieſes

533

Benehmen erweckte von der Galerie herab ein ftürmifches, Sympathie Ffund- gebendes Gelächter, Einer fhrie fogar Bravo, dad mochte ein adels feind⸗ licher Nepublifaner gemwefen fein. Von den untern Regionen kehrte ſich manches Geficht erflaunt und ein wenig aͤrgerlich nach oben, zu ſehen, wer der Poͤbelianer ſei, deſſen Beifall ein ſo wenig paſſender und ſo hberlauter war, Aber die Untenfigenden follten ihren Ärger denn doch lieber ein wenig zuruͤckgehalten haben, denn ſchon der nächte Augenblid bewies, daf ed aud unter ihnen Pöbelhelden gab. Der Direftor ala Ehegatte trat auf, da ſchmeißt einer der fabelhaft gut angezogenen Studenten, der mit feiner Nafe beinahe an die Rampe anftößt, irgend einen Wig auf die Bühne. Es wird gelacht, und es wird freundlichft angenommen, den Künftler werde ed zu einem böflihen Mitlächeln zwingen. Davon aber war feine Spur, der Direftor, mit der Zornesroͤte im Geſicht und mit dem Zittern des beftigften Unwillens in der Stimme, wandte fi) mit folgender, von verachtungsvollen Geberden begleiteter Anfprahe an dad Publifum;

Meine Damen und Herren (mad will er, mad bat er, was ift bier unten? dachten wir erhöhten Galeriemenfhen). Sie baben foeben gehört, wie man mid; beleidigt bat. Wäre es einedteild nicht eine Bande von unreifen Buben (die ganze Galerie ſtreckte die Hälfe vor), und wären es antderdteild nicht refpeftgebietende Menſchen, die ich da, Kopf an Kopf, vor mir febe, beim Erdenhimmel, idy wollte nicht daran denfen, daß ih ein Tiger fei, nein, ich wollte ald Menſch in die Rotte bineinfpringen, um fie, der ganzen elendiglihen Reihe nad), in die unterfte Hölle hinunterzuohrfeigen. Ich babe vieles gejehen und viele in meinem Künftlerberuf erduldet, wenn mid) aber, der ih nun, ein alternder Mann, bald an da8 Ende meiner Laufbahn angelangt bin, ein junger Affe anfpudt Verzeihung ...

Und er fpielte weiter. Nie wieder in meinem fpätern Leben babe ich noch einmal ſolch eine pradhtvoll-feelenvolle Zuruͤckdraͤngung der perfönlihen Wut gefehen. Im ganzen Theater war ed pipd-mäuschenftill geworden. Ich hätte darauf ſchwoͤren mögen, die Herzen der Zuſchauer pochen gehört

zu haben. Mad) und nad) vergaßen alle den unfeinen Auftritt. Der fraglidhe Student ſchien fid) erhoben und geräufchlos aus dem Staube gemadht zu baben, wozu er gewiß alle nur denfbare Veranlaffung hatte. Annas Bruft batte fih auf umd nieder gehoben vor Erregung, jetzt lächelte fie. Das Stuͤck war fo friedlih, fo wiänerifch, gutes, altes, folided Fabrikat. Es ſpickte wie aus Spidröhrhen eine Anzahl junger Mädchen aufs Tapet, die alle einen Mann baben wollten und fhließlich, das ahnte man ſchon, auch einen friegen würden. Schneidige Bureauliften ſpeichelten in Sommer- büten, mit Spazierftöcden bewaffnet, umber und batten fo zuckerſüße Manieren und fo gemählte Worte. Ein Hufar in angefpannten Hofen und berrliden Stiefeln machte viel Wefend von fih. Bald war ed ein Garten, bald ein ärmliched Zimmer, bald eine Landftrage, bald ein bodhherrfchaftliches Kabinett, worin gefpielt wurde. Um ihm Achtung zu bezeigen, uͤberwarf man den Direftor mit Beifall, dad war natürlich dumm und ein wenig rob, und doch

534

dürfte ed dem Mimen gefchmeichelt haben. Diefe Leute wiffen ja ſchließlich zu unterfcheiden und haben dabei ihre eigenen Gedanken. Dann gab ed wieder eine Paufe, und wieder befam ich eins uͤber den Schädel von der Mufif, daß ich ganz wie von felber den Mund auftat, um binzubordhen, Anna, das Dienſtmaͤdchen, plauderte von den Gewohnheiten ihrer Herrichaft, mobei fie natürlich die Lächerlichfeiten bevorzugte, ich hörte ganz der Muſik zu und dazwiſchen noch halb und halb dem Geplauder. Die Hige fam wieder, um fih an den Stirnen und unter den Achſeln beflemmend anzumelden. Die Kellner fammelten die Biergläfer ein, ziemlich unwirfh, und unten um die breitrödige Anna von Wertenfchlag herum fäufelten und ſcharwenzelten und tanzichrittelten fie, die Hallunfen, die wohl mußten, wos etwa Trinfgelder geben modte. Die ganze Galerie fhwigte, fochte, dampfte und dunftete. Die dien Weibsbilder Flebten bereits mit ihren Roͤcken und Unterröden an den braunladierten Klappftüblen an, fie fagten es ſich und ſchrien vor Schreck und Genugtuung. Diele wiſchten fih den Schweiß von der Stirn ab. Anna von Wertenfchlag bob den Kopf in die von Gefichtern gefprenfelte Höhe. Welche wundervollen Augen! Dann fam der legte Aft, und dann ging ed nad Haufe. Während ded Hinaustretend fpielte noch einmal der Klaviermann. Die Treppen erbebten unter den binabpolternden Schritten, Pelle auf Welle flog ed mir nad), fo ſchoͤn, fo groß und fo melodids gute Macht und auf baldiged Wiederfehen fagend. Draußen regnete ed. Die Baronin flieg in den Wagen, und die Kutſche rollte davon.

Graue Stunde/ von Hand Karoffa

ind wübhlt im Staub... Inſeln aus Laub treiben und kreiſen verfärbt auf dem Bach .. Du lehnſt mir im Stuhl gegenüber... Der Abend wird immer trüber . Du fiebft durchs Fenſter den treibenden Blättern nad) .

Don jeder Wand

blickt etwas nad) deiner Hand...

Die rubt ganz mid, ganz Flein auf deinem Schoß. Du ſchweigſt wie von Ey

macht dir dein Kind viel Schmer;?

Du fagft, du liebſt es jetzt ſchon namenlos ...

Weißt du den Tag?

Unter Schneewolken lag

der tauende Garten, als du von mir gingſt ... Nun bedrängt dich mein Leben,

und deine Lippen beben

fo bang wie damals, ald du ed empfingſt ...

Mundkpazz

Durch Irren zum Glüd

F urch Irren zum Glüd‘ wenn

man unter Rulturmenfchen eine Umfrage täte: was für ein Buch wohl unter diefem Titel ‚foeben erjchienen‘ ift, ich wette, daß die Antwort nabezu aller lauten wird: Der legte ‚Dabeim‘- Roman, der fich durch befondere Ruͤhr⸗ fraft dad Necht zu einem Sonderabdrud erworben bat. Sie würden zum Un- glüd alle irren. Die Autobiographie eined großen deutihen Dichters ift ed, die ein Deraudgeber aud Tages buchblättern zufammengeftellt und fo betitelt hat. Nun meinen Sie alle, es handle fih, wenn nicht um Julius Wolf oder Wilhelmine von Hillern, fo etwa um den feligen, füßen Herrn von Nedwig oder allerbeitenfalld um Friedrich Bodenftedt. Aber nein Friedrich Hebbeliftder Mann! Hebbel. Und der Behrſche Verlag, der mit fei- ner Geſamtausgabe gute Verdienfte um unfer Erleben dieſes großen Man- nes bat, fchändet fein eigenes Werf und erlaubt der Gefhmad- und Ge- danfenlofigfeit eined Herausgebers, die trefflihe Idee einer Hebbelauto- biograpbie durch diefen auf Pöbel- wirfung berechneten Kolportagetitel zu forrumpieren. Diefer nichtswuͤrdig verwafchene, fentimentale,moraliftifche Zitel, unter dem man jegt die Be— fenntniffe des eigenften, bärteften, felbitbewußteften Lebenskaͤmpfers des neunzehnten Jahrhunderts auf den Marft bringt, ift nicht nur tief geſchmacklos, fondern auch im hoͤchſt⸗ moͤglichen Grade falſch und ſinn⸗ entſtellend. Denn das iſt das tiefſte Kriterium dieſer, wie vielleicht jeder genialen Natur, daß ſie wohl durch Zweifel und Verzweiflungen, nie aber

536

durch Irrtuͤmer gegangen iſt, daß ſchon der erſte Schritt mit daͤmoni— ſcher Sicherheit zum fruͤh geabnten, ſpaͤt geſehenen Ziel der Perſoͤnlich⸗ keit gerichtet war, und daß der Wan⸗ derer auf ſeinem Weg wohl bluten und felbft niederbrechen, nie aber ab⸗ irren fonnte. Die ſittliche Größe diefer Perfönlichfeit ift, daß fie in feinem Moment von ihrer leßten, hoͤchſten Pflicht: Selbtentfaltung, Reifwerden, Fruchttragen abirrte, daß fie diefer ‚neuen Pflicht‘ ein unver⸗ gängliches Beifpielfhuf, dreißig Jahre, ebe Friedrih Niegfche in feiner glän- zenden und hberfpannenden Rhetorik die beriihmte Agitation für dieſe Selbftpflit aufnahm.

Hebbel bat nicht ‚geirrt‘ und bat auch nicht ‚zum Glüc‘ geftrebt. Der Kolportagetitel diefed Herausgebers fpiegelt die Seele eined Pbilifterd, der an einem großen Lebenslauf nichts bemerft ald den Wandel äußerer Mi- fere in ‚geordnete‘ Verbältniffe. So gegenwartötypifch Hebbels Leben aber auch gerade durch die verhängnisvolle Einwirfung des Materiellen ift, fo zeitlos groß ift ed doch, weil das Weſentliche feined Kampfes trogdem in jedem Moment böbhern Werten ald dem ‚erbärmlihen Bebagen‘ galt. „Trachte ich denn nach der Seligfeit? ich trachte nach meinem Berfe!” Hebbel bat diefed Nietzſchewort vorweg ge- nommen, als er 1846 fchrieb: „Bon allen Arten der Sehnſucht kenne ich nur noch die nah Taten.” Und er bat diefem Worte jederzeit nachgelebt.

Wenn dem Lebensbuch diefed Man- nes, das mir in der Tat als ein Lehr⸗ buch kommender Ethik von hoͤchſter, heiligſter Bedeutung ſcheint, ein Motto

von fremder Hand vorangeftellt werden

dürfte, fo wiirde ich die herrlich harten

Derfe einer Dichterin vorfchlagen: „Bon meinem Tun geb ich dir Rechenfchaft: Sch prüfte nicht, ich hatte feine Wabl. Nach Lohn nicht trachtend, ficher meiner Kraft, Folgt ich dem Rufe, den mein Her; befahl. Uneingedent der Dornen und der Hährden, Gewilit, ein ſtrenges Schickſal ſtark zu tragen, Wollt ich fein andres Gluͤck noch Ziel auf Erden, Als meinem tiefſten Wahne nachzujagen .. Oft ſtockt mein Fuß. Und die Gewitter ftarren Mir in den Weg, daß ich ihn fchon verlor. Doch immer wieder reißt es mich empor, Ein trogger Wille treibt mich, zu beharren, Und eine flare Sicherheit entwirrt Dann meinen Sinn: Ich habe nicht geirrt!”

Diefe Verfe, die in prachtvoller Klar» beit dad Leben einer genialen Natur fpiegeln, bat Hedwig Lachmann „ger dichtet. Diefe Zeilen etwa wären wert, über dem großen Lebensbuche zu fteben, von dem jegt ein gemeine Titelblatt gerade die Beften abfchredfen wird, Julius Bab

Das Kritiferzgimmer

n einem neuen Theater, dad in

Berlin errichtet werden fol, be— abjichtigt man, ein Kritikerzimmer ein- zurichten. Das heißt, man will einen Naum fchaffen, in weldhen ſich die Theaterberichterftatter nad) der Vor⸗ ftellung zuruͤckzie hen fönnen, um dort die Berichte uͤber die eben empfan- genen Eindrüde zu Papier zu bringen. Ob auch Nobrpoftanlagen nach den verfchiedenen Redaktionsbureaus ge⸗ ſchaffen werden ſollen, ſteht noch nicht feſt. Sicherlich aber wird auch ein Wartezimmer für die Redaktions— boten vorhanden ſein, die ſofort die noch feuchten Blaͤtter in die Druckerei befoͤrdern. Vielleicht ſtellt der Theater⸗ direktor auch ein paar Dutzend Tip- perinnen an, denen die Berichterſtatter die Referate gleich in die Maſchine diktieren. Das waͤre fuͤr diejenigen Referenten von beſonderm Vorteil, welche noch einige Referate nach cußer⸗ halb zu befoͤrdern haben. Waͤhrend ſie den einen Bericht der Tipperin dif- tieren, fünnen fie den andern gleich

felbft zu Papier bringen, Man ftebt, der neue Gedanfe ded neuen Theater- leiter ift noch mancher Erweiterung fäbig.

Ein neuer Gedanfe? Eigentlich nicht ganz neu! In großen Ver- gnügungsetabliffemente, bei Aus⸗ ftellungen, auf Ballen gibt es feit langem fogenannte Preffegimmer. Die Meubeit iſt alfo doch nur eine be= ſchraͤnkte und befteht darin, dag auf ein Theaterunternehbmen, dad doch eigentlih ein KRunftinftitut fein foll, die Einrichtung eined Vergnügungs- unternebmensd übertragen wird. Aber nicht alles, was ſich für dieſes eignet, iſt fuͤr jenes angebracht. Und mir ſcheint ſolch ein Kritikerzimmer hoͤchſt fragwuͤr diger Natur.

Kür die Kritik wird es nicht ſehr foͤrderlich ſein, daß die Zeit, die zwiſchen dem empfangenen Kunft- eindrud und dem Bericht liegt, noch mebr verringert wird. Unſre Alt⸗ vorderen hatten Zeit, wenn fie nad Tagen, oftmald nad Wochen den Bericht Über eine Theatervorftellung zu lefen befamen. Ernfte Rritifer find auch heute nicht allzufchnell mit dem Fritiihen Wort bei der Band; fie fpeifen die, die da durchaus und durhum beim Morgenfaffee willen wollen, wie fie fich geftern unterhalten, oder wie fie ſich über die empfangenen Kımftausdrüce zu äußern haben, mit einem Vorbericht, mit einer furzen, die Aufnahme des Werkes durch das Publifum fchildernden Notiz ab und bebalten fich fir die ausführliche, ernftbafte, dad eigentlihe Kunfturteil entbaltende Beſprechung eine ruhigere Stunde vor, die ihnen eine gerechtere Abwaͤgung vergönnt. Drön ngt nun fhon in unfrer Zeit die Menge der Theaterbeſucher und Zei— tungslefer nad dem Morgenbericht, fo ſcheint es mir immerbin bedenflich, wenn man die dem Kritiker bis jegt zur Sammlung gewährte furze Spanne

537

Zeit noch mehr abfürzt, wenn man ver⸗ langt, daß er fich zur Niederfchrift fei- ned Berichts hinſetzt, folange ihm nod) Beifall und Zifhen ind Ohr tönen, wenn man die Diftanz jwifchen dem empfangenen Eindrud und dem Be⸗ richt darlıber völlig verſchwinden läßt.

Dabei habe ich, wenn idy von der Diftanz rede, ſowohl die zeitliche Ent» fernung, wie die räumliche im Sinn. So lange ich noch im Theaterraum bin, ſtehe ich auch noch im Bann des Theaters. Iſt erſt das wogende Leben an mich herangetreten, ſo verſchieben ſich die Empfindungen, die ich gegen⸗ über dem empfangenenTheatereindrud babe, die Objektivität wird mit jedem Schritt ind hinein größer. Be⸗ geifterung und Arger fühlen fich ab.

Meben diefer im Wefen der Kritif felbft begründeten günftigen Beein⸗ flufung, welche das ‚Kritiferzimmer‘ verbindern fann, wie ich fürchte, kom⸗ men nun freilich noch andre, aͤußerliche Einflüffe, die je nach der Geſtaltung diefer geplanten Einrichtung, je nad) ten Perfönlichfeiten, die fi) da zus fammenfinden, mehr oder weniger ftarf fein fönnen. Auch der harafteroolifte, objeftiofte Kritifer wird leicht, ohne daß ers will und weiß, vom urfprünglichen Wege feiner Anficht abgelenkt werden, wenn diefer Weg durch andrer Reden gefreuzt wird. Wie leicht ift ed ferner, im ritiferzgimmer eine Bitte um Nachſicht anzubringen, weil Herr £. heute indiöponiert war, Fräulein M. die Rolle zu fpät übernommen batte, oder Herr 3. durch einen Auto— mobilunfall bei der Fahrt ind Theater einen Nervenchoc erlitt. So fönnen, nachdem wir, wenigftens für Berlin, die Schaufpieler-Befuhe auf den Nedaftionen fo ziemlih überwunden baben, die VBorftellungen der Buͤhnen⸗ mitglieder vor den ‚Herren Kritifern in eine neue, läftigere und gefaͤhr— lichere Form gebracht werden. DViel- leicht it fchließlich auch das Kritifer-

zimmer der f&hüchterne Anfang eines freundlihen Verkehrs zwifhen Bühne und Preffe. Mit dem Papier, Der Tinte und Sißgelegenheit für Den Kritifer wird aber ſehr bald gelangt man vielleicht zu der Einſicht, daß zur Niederſchrift einer Kritik zumal einer guͤnſtigen noch mehr gehoͤrt. Der Kritiker muß doch in angenehmer Stimmung bei der Arbeit ſein, das heißt, er muß feinen Geift auffrifchen, er darf doch nicht bungernd und dhrftend dba im oͤden Kritiferzimmer belaffen werden.

Sch will bier nicht noch weitere Ausfihten audmalen, melde Die ges plante Neueinrichtung eröffnet. Ich überlaffe das getroft der Phantafie des Feferd, der da weiß, daf ed von vielen ald eine der beften Eigen fchaften eines Theaterleiterd angejeben wird, wenn er ed verftebt, ſich fo beißt ja wohl der für dieſe Eigen- fchaft geprägte Ausdruck „mit der Preſſe zu ftellen“.

Sch meine, daß es feine andre Stellung des Theaterleiterd zur Preffe gibt, ald die, ihr eine Fünftlerifche eiftung vorzuführen und fie um ihr Urteil zu befragen. Alles, was da= rüber binausgebt, erfheint mir ums angebradht und von llbel. Das Kris tiferzimmer gebt fehr weit darüber binaus, Eugen lsolani

Deutfche Uraufführungen

6.5. Ernft Witte: Mahnerd Müble, Schaufpiel. Braunfchweig, Hoftheater.

8.5. Heinrich von Poſchinger: Feſſeln, Schauſpiel. Köln, Stadt⸗ theater.

11.5. Thomas Mann: Fiorenza, Drei Alte. Frankfurt a. M. Schau- ſpielhaus.

Fritz Bernthal: Maria Stein, Schauſpiel. Wiesbaden, Re— ſidenztheater.

Berantwortlich für die Redaltion: Siegfried Jacobſohn, Berlin SW. 19 Berlag von Oeſter held & Eo.,BerlinW.15 Drudvon Imberg & Leflon,BerlinW.9

——

30. Mai 1907 III. Jahrgang Nummer 22

Doktor Eifenbart/ von Otto Falckenberg Komoͤdie in vier Aufzügen *)

Zweiter Aufzug Schloßplatz Im Hintergrunde das Schloß mit reichem Portal. Links und rechts Bäume. Rechter Hand ift der Brunnen, jegt von vorn, fidhtbar. Der vordere Zeil der Bühne wird in ganzer Breite durd Eifenbartd Jahrmarktszelt ein- genommen. Es ift mit der Rückwand gegen den Zuſchauerraum ftehend gedacht und Öffnet fid gegen den Schloßplag. In balber Höhe der offenen Seite ift an einer Querflange ein zweiteiliger Vorhang angebracht, durch den der Raum nad) dem Platz bin abgefchloffen werden kann. Geſchieht das, fo fiebt man über den Vorhang hinweg auf den obern Teil der Bäume und des Schloſſes. Bor dem Zelt, jenſeits des Vorhangs, die Poffenbühne, darauf ein Tifchchen mit der Kaffette, Medizinflafchen, Inſtrumenten. Auch eine große Trommel, ein Waffereimer und die Rliftierfprige befinden fich dort.

Eiſenbart. Hanswurſt. Der Wirt. Im Hintergrund: Offiziere und Soldaten. Wirt (von redhtd): Herr Doktor! He! Ihr werdet doch nicht reifen, Eh Ihr das Fräulein mir gefund gemacht? Handwurft (nad) redhtd deutend): Ei feht, wer fommt denn da? Eifenbart: Bin ich verbert? Das ift doch Nein —! Ja —! Kaͤthchen! Kaͤthchen Cift inzwiſchen rechts erfchienen. Indem fie fi) ihm in die Arme wirft): Dal Da bin ih! (Sie halten fih umfchlungen) Wirt: Zefus! ) Doftor Eifenbart, ein abenteuernder Heilfnftler der Barodeit, er- ſchwindelt fich Weltruf durch zwei Spegialitäten: Heilung finderlofer Frauen dazu bedient er fich des allernatürlichften Mitteld und Verkauf angeblicher Wunderringe, deren Stein ebeliche Untreue verrät, indem er jerfpringt. Eine enttäufchte Zünglingsleidenfchaft zu der naivsverderbten Tochter des Fürften,

539

Eifenbart: Nun ift es gut. Wirt: Herr, ich verfteh Mid) doc ein wenig auch auf Eure Kunft, Doch das verfteh ich nit. (Er zupft Eifenbart am Rod) Herr, Herr, das Fräulein Eifenbart: Zum Henker geht mit Euerm Fräulein. Sagt ihr, Erft mög fie ihren Liebſten fuhen | Wirt: Wen? | Eifenbart: Ich ſchickt ihn fort Wirt: So fagt ihr dad doch felbft! Eifenbart: Ich bab nicht Zeit. Wirt (in Gelächter ausbrehend): Ein Spaß, o Gott ein Sof! | Ihr habt nicht Zeit, mit diefem Fraͤulein da Zu fprehen? Habt nicht Zeit? Handwurft, haft du Gehört? Er bat nicht Zeit haha mit diefem Fräulein —! Hahahaha! (Biegt ſich vor Lachen) Eifenbart: Er ift betrunfen! (Zum Handwurft): Schaff Ihn fort. Handwurft (vadt den Wirt) Wirt: Betrunfen? Jh? Die Kränfung, Herr, Verdien ich nicht um Euch, ich nicht, beim Heiland! Kann ich vielleicht daflır, daß dieſes Fräulein Hierbergereift fam, um von Euch Furiert

an deffen Hof er ald Famulus des Leibarzted diente, bat ihn einft zum Weib-⸗ und Weltverächter gemacht; aber zum Manne gereift, hat er ein Mädchen lieb gewonnen und zur Frau genommen. Injwiſchen bat feine Qugendgeliebte einem nicht mehr jugendlichen Herzog die Hand gereicht. Die Ereignislofigfeit diefer Ehe läßt ihr Zeit, fi Eifenbartd zu erinnern, umd da das Alter ihres Gemahls dem Lande einen Thronerben verfagt, fo fchenft er ihrem Wunfche, den Doftor feine berühmte Kur an ihr verfuchen zu laffen, Gehör. Zu eben der Zeit geichieht ed, daß der Stein, den Kätbchen, Eifenbartd Frau, am Finger trägt, während der Abmwefenbeit ihred Gatten durch einen barmlofen Anlaß zerfpringt. Spät nachts trifft Eifenbart in dem Wirtshaus der berjoglihen Reſidenz ein, wohin ihm Kaͤthchen uner- fannt entgegengereift ift. Won dem Elatfchfüchtigen und Fupplerifchen Wirt, ber fie für ein fremdes, der ärztlichen Hilfe bedlrftiged Fräulein hält, er- fährt er, daß ein junger Graf Dürrbahn, ohne Zweifel ihr Geliebter, ibr hierher nachgeritten fei. Er babe ihm ein Zimmer neben dem ibren an-= gewiefen. Andern Tags bietet Graf Dürrbabn, deffen platonifches Liebes- werben Kaͤthchen mit Sronie zuruͤckgewieſen bat, ſich Eifenbart ala Famulus an. Eifenbart trägt ibm auf, im Stadtgraben einen Froſch zu fangen, den er zu einer feiner Schwindelfuren gebraucht. Die Aufforderung des Herzogs, ihm ind Schloß zu folgen, weift Eifenbart troß der Gegenvorftellungen feines praftifcher gefinnten, getreuen Hanswurſt zuruͤck, weil er Kätbchen liebt. Um ibn zu zwingen, läßt der Herzog eine Abteilung Scharfihügen aufzieben,

5410

Eifenbart (zum Handwurft, hroff): Die Hand von ihm. (Gum Wirt) Wer ift dad fremde Fräulein?

Wirt: Wer fonft ald die. (Er deutet auf Kaͤthchen)

Eifenbart: Bon der Ihr geftern fpracht?

Wirt: Ganz recht!

Eifenbart: Bon der Ihr mir gewiffe Dinge —?

Wirt (hinter Käthchend Rüden, nickt blinzelnd, indem er den Finger auf den Mumd legt, und macht Eifenbart ein Zeichen, er möge ihn nicht verraten):

Doc ftrengftend im Vertrauen, Herr Doftor!

Eiſenbart: Schweig! (Hält an fih. Mac einer Paufe)

Seh! Fort!! (Zum Handwurft) Du auch! (Hanswurſt und Wirt ab) Eifenbartchat Kaͤthchen am Handgelenkgefaßt und fiehtihr ſtarr ind Geficht) Kaͤthchen: Was ſtarrſt du mir ins Aug

So jaͤh verſtoͤrt und fremd und ganz verwandelt?

Kam ich zu ungelegener Zeit? Sags frei!

Ich will nicht ſtoͤren. Mein Geſchaͤft iſt kurz. (Mit gezwungener Sachlichkeit)

Dir iſt wohl nicht bekannt, daß unſer Haus

Eifenbart: Wo ſchliefſt du Über Nacht?

Kaͤthchen: Was fol die Frage?

Eifenbart: Bo fohliefft du? Wiſſen will ichs!

Kaͤthchen: Dort im Wirtöhaus. (Sie hebt die von Eifenbart ergriffene Hand. Eifenbart erblictt den Ring und läßt ihre Hand mit einem unter- druͤckten Laut des Erfchredend fahren. Er weicht einen Schritt zuruͤck)

mit dem Befehl, bei einem luchtverfuh auf Eifenbart zu hießen. Zn diejer Situation tritt Kaͤthchen ibrem Gatten zum erften Mal feit langer Trennung entgegen, den Wing mit dem gefprungenen Stein am Finger. Die bier folgenden Auftritte der Faldenbergihen Komoͤdie die im Herbit ihre Uraufführung in Berlin erleben wird, aber ſchon diefer Tage ald Buch bei Georg Müller in Münden erfcheint zeigen, wie Eifenbart an der Unwahrheit feined Betrugs zu zweifeln beginnt und fi fo in der eigenen Schlinge fängt. Im mweitern Verlauf der Handlung Flärt fi das Miß— verſtaͤndnis des zerfprungenen Steins juft in dem Moment auf, wo Eifen- bart die Kur an der Herzogin beginnen fol und fein Leben für deren Gelingen verpfändet hat. Durch eine überlegene Ausbeutung der Situation zwingt er den fanatifchen Platonifer Dürrhahn, flr ihn bei der Herzogin einzufpringen. Der mißtrauifh gewordene Herzog aber fegt Eifenbart ge- fangen, bis fi) der Erfolg der Kur ermiefen habe. Da die Galgenfrift fruchtlos verftreiht, fol Eifenbart gebenft werden. Dem Hanswurſt, der fih ald Henfer anmerben ließ, gelingt dad Meiſtergaunerſtuͤckchen, eine Scheinhinrihtung zu vollziehen, und da inzwifchen der erwünfchte Thronerbe angefommen ift, wird Eifenbart ald Märtyrer betrauert. Die Trauer des Volks aber wird zum Entfeßen, ald der Gehenfte wohlgemut von den Toten auferfteht. Er ernennt feinen von allen platoniihen Idealen gebeilten

amulus zum Machfolger, da er feine Heilfunft fortan nur noch in den

ienft der eigenen Gattin ftellen wird.

541

Kaͤthchen (befangen): Was haft du? Eifenbart (nah einer Beinen Paufe): Nichts. Du ſprachſt von unferm Haus. Es ward gepfändet, bör ich. Kaͤthchen: Weißt dus ſchon? Eifenbart: Wer fagt ed doch? Wer ja ganz recht (Er greift fih an die Stirn) Kaͤt hchen: Das ſchoͤne, Ehrwuͤrdige Haus, in dem ich groß geworden, Darin Erinnerungen wie lebende Geſtalten auf- und niedergehn, als waͤrens Eiſenbart (bat wieder heftig ihre Hand ergriffen und haͤlt fie ihr vors Geliht): Da da —! Kaͤthchen nimmt ſich zufammen): Ah jal Ih weiß. Er fprang entzwei. Eifenbart: Ei was! Du weißt? Und fagft das fo, ald wärs Vom lieben Gott gefügt ein Nichts, ein Zufall Kaͤthchen: Was fünnt ed anders fein! Es fcheint, ala läg Dir wunder viel an diefem Stückchen Glas. Eifenbart (verblüfft, befinnt fi): Jaſo. Du haft wohl recht. Gib ber den Ring. (Er zieht ihn ibr ab und ſteckt ihn ſich an den Finger. Gemaltfam gleichgiltig) Das Haus gepfändet, fagft du. Und was weiter? Kätbhen: Nun mein ich, da ich doch Fein Obdach habe, Sp werd ich dich von beute an begleiten, Eifenbart: Begleiten? Du mih? Du? (Mit einem Blic auf den Wing) Und diefer hier? (Plöglih außbredhend) Erft fhaff den Wing, den Ring mir aus der Welt! Kaͤthchen Cmit Haltung): Ich bitte Dich im Ernft: laß nun die Späße. Eifenbart (mit legter Kraft gegen fi anfämpfend): Sa, ja ein Spuf! Ein Teufeldfpuf! Was fonft? Ein Traum, der fi zur Nacht bier feitgeniftet, Und nun, im grellen Tage aufgefcheudht, Mich fchreden will wer fennt nicht foldye Träume! Der Stein zerfprang nicht, Fonnte nicht zerjpringen! Denn wär ed anderd dann laß feben! Dann wäre Dad Wunder diefed Ringes nicht erlogen, Und, wie denn? Ih? Was wär dann ih? Obo! Ich wäre nein, das ift ja unausdenfbar! Ich wäre fein Betrüger nein, nein, nein, Das alles wäre ja von Anbeginn Verfehrt und dumm und abgefhmadt, und id) Allein wär der Betrogene von mir,

542

Bon denen da, von aller Welt betrogen, Und aud von dir, von dir. Drum fanns nicht fein! Was ftehft du denn und ſchweigſt? Sprich dod ein Wort! Sei ungeduldig, aufgebracht, empört, Sprid wahr, fpridy eine Lüge aber fprid! Kaͤthchen: Gib mir den Ring zurüd, Eifenbart: Das alfo ift Dein ganzes ABEL Und wenn ichd täte? (Halt ihn ihr hin) Kaͤthchen Chaftig zugreifend): Gib! Eifenbart; Halt! Dein jäher Eifer lehrt mich den Beſitz des Ringes ſchaͤtzen, und ich fühl ihn Nun plöglih hundertfach in meiner Hand Beſchwert. Laß los! Hanswurſt Cerfcheint hinten): Herr! Herr! der Netter naht! Der Retter mit dem Froſch! Eifenbart: Er foll mir mehr Ald hunderttaufend Schritt vom Leibe bleiben! Denn wenn ich ihn auch nicht erwürgen wollte, So bin ich doch nicht meiner Wuͤnſche Herr. Ein Herenmeifter wider eigenen Willen Iſt gar gefährlih, deun er weiß nicht, ob Seine Gedanken, faum erft halb gedacht, Sich nit auch fhon erfüllen, er darf nicht wuͤnſchen, Denn feine Wünfche find ein gutes Gift, Das wohl auf viele Meilen ficher tötet. Handwurft: Verftund ich nur ein Wort von alledem! Eifenbart Gum Hanswurſt, ihm den Ring vor die Augen baltend): Sieb, diefer Riß, fein, wie ein Frauenhaar, Iſt ftärfer, ald des Archimedes Hebel, Der alles aus den Angeln bob, nur nicht Die Welt! Nur nicht die Welt. Handmwurft: Was ging bier vor? Eifenbart: Zi diefe® Wunder wahr warum nicht jedes? Weißt du mit Sicherheit, ob die Trompete Nicht auf ſich felbft ein Liedlein blafen koͤnnte? Ob diefer Baum nicht tanzt, und diefer Stuhl Micht wie ein Enterih fliegen fann? Drobt nicht In jedem Wind, in jedem welken Blatt, Das niedertaumelnd deine Schläfe ftreift, Ein feindlihes Geſchick vielleiht der Tod? Was lahft du nicht? Iſt dir dein Witz erfroren? Wie, oder brach er fih den Hals? Wir Narren! Hinausgeſchleudert aus der fihern Bahn Uremwiger Notwendigkeiten kreiſen

5413

Wir hoch im Wirbelfturm der Zufallämächte. Und donnernd ſtuͤrzt dad Weltgefeh zufammen: Der Tag verfinftert fih und naͤchſtens fliert Das Sonnenauge grell und unbemweglid) Aus dem Fenith, die Zeit verfehrt den Lauf, Der Greife jlnglingbaft erhitztes Blut Gaͤrt lüftern auf und junge Mütter weinen, Weil fie den Tod aus ihrem Schoß gebären. Die Weisheit ftüulpt die Schellenfappe auf, Die Liebe mordet, und der Haß verföhnt, Die Dirnen aber gehn im Hodyzeitöfleid, Und nur die einzige reine ‘rau, die mir Shndlofen Blicks einft in die Augen fab, Die flare Stirn mir offen zugekehrt, Boll Heiterkeit und Stol; und fiherer Anmut, Pie juft erwacht im frifhen Morgentau Des erſten Schöpfungstage ift eine Dirne. Kaͤthchen: Was tat ich dir? Eifenbart: Nichts. Nichts. Feb mohl. Hanswurſt: Wohin? Dürrbahn Catemlos, triefend von Schlamm und Waſſer. Er madıt eine hoͤchſt jämmerlihe Figur): Komm ich zu ſpaͤt? Ich tat, was ich vermochte, Allein nicht Einer bat fich fangen laffen. Eiſenbart: Ob Ihr zu fpat famt? Je nun, wie mand nimmt. Ihr feid ein unvorſichtig Buͤrſchchen, wagt Euch tollfihn in Gefahr und fallt dabei Juſt in den tiefften Dreck. Drum werd ih Euch In Zukunft vor Gefahr zu fhügen wiſſen. Ihr bleibt bei mir. —Duͤrrhahn: Mit taufend Freuden, Herr! Eifenbart (um Handwurft): Leb wohl, mein Alter! Hanswurſt: Herr?! Eifenbart: Du follft mit mir Zufrieden fein. Wir fehen und wieder. (Er wendet ſich zurich) Hauptmann ! Der Offizier (tritt vor und falutiert): Befehl! Eifenbart (laut): Ich folge Euch ins Schloß! Kaͤthchen: Ind Schloß?! Handwurft: Dann ift er dennoch bei Verftand geblieben! Eifenbart (bat Dirrhahn an der Hand genommen und geht mit ihm aufs Schloß zu. Die Soldaten bilden Spalier und präfentieren)

Borbang

544

Ein Falliffement

nfer Hoftheater hat es in der Gewohnheit, die literarifhe Entwidlung IT; einem Abitand von dreißig Jahren mitzumahen. Es iſt jegt beim ‚Talliffement‘ angelangt, und wenn und der Himmel den Fortſchritts⸗ mann Georg von Hilfen lange genug erhält, fo ift Hoffnung, daß wir anno 1914 Vollmer ald Hjalmar Ekdal und um 1922 herum Matkowsky ald Baumeifter Solneß fehen dürfen. Aber auch noch viel, viel fpäter werden, felbftverftändlich, diefe Werke nicht fo veraltet wirken, wie Bjoͤrnſons Schau- fpiel heute nicht etwa blos auf uns, fondern felbft auf das berliner Hof- theaterpublifum wirft. Es zeigte fih, und nicht zum erften Mal, daß diefes Publifum zu Unrecht immer und ewig mit Albernheiten abgefpeift wird, und dag man nur Vertrauen zu feiner Fernfähigfeit zu haben brauchte, um uͤber⸗ rafchende Ergebniffe zu erleben. Die Aufnahme des ‚Falliffements‘ war ſolch eine Überrafchung, und ed wäre fchade, wenn man ed auch diesmal verſchmaͤhte, die Konfequenzen daraus zu ziehen. Es kann ja den mafgebenden Faktoren nicht entgangen fein, daß ihr Publifum da lachte, wo man ihm Tränen erpreffen wollte, und daß diefed Lachen einen vorwurfsvollen Neben- ton hatte. Warum, ſchien ed zu fragen, verweigert ihr und die Kunft, die dem Körper unfrer Zeit den Abdruck feiner Geftalt zeigt? Warum mutet ihr und, Kindern von heute, ein Intereſſe für die Dramen zu, die der Spiegel und die abgefürzte Chronik der Väterzeit waren und fonft michtd find? Das ‚Falliffement‘ ift, dad hat diefe Neuaufführung endgültig bemiefen, wirklich fonft nichts. Vor dreißig und ein paar Jahren hatte es feine fulturelle und feine Einftlerifche Bedeutung. Es war die Zeit der Gründer, und ed war bereitd die Zeit, wo fie zu verfrachen anfingen und damit reif wurden, Dichterifch dargeftellt, auf der Bühne dem Mitleid oder dem Ge- lächter ausgeliefert zu werden. Unfer Theater brauchte nicht lange zu warten. Im Oktober 1875 war Stroudberg verhaftet worden. Einen fnappen Monat fpäter wirkte Björnfond Schaufpiel auf die Beſucher des berliner Mativnaltheaterd wie ein Stud eigenen Erlebniffes. Der Erfolg war un⸗ geheuer. Ein großer Teil der Kaufmannfchaft demonitrierte gegen das Drama, das ihr fchlechted Gewiffen wie einen perfönlichen Angriff empfand. Man hoffte den gewaltigen Eindrud zu ſchmaͤlern, wenn man die Glaub- wuͤrdigkeit der tatfächlichen Vorgänge in Frage zog. Es waren diefelben Waffen, die man ein Zahrdugend fpäter gegen die ‚Gefpenter‘ fehrte. Wie man dort die Elinifche Berechtigung von Oswald Alvingd Krankheit beftritt und damit die ganze Tragödie entwerten zu koͤnnen glaubte, fo erklärte man es bier für ein Ding der Unmöglichfeit, daß ein Atvofat zu einem ihm umbefannten Kaufmann bingeht und von ihm Mitteilungen über

545

feine Vermögendlage, ja, die Aushändigung einer fhriftlihen Bilanz ver- langt. Es half alles nichts. Die unbeteiligten Zufhauer waren gepadt. Bier hatten fie auf einmal ftatt der üblichen feriöjen oder drolligen Theaterfituationen, die fih nie und nirgends begeben haben fonnten, einen feſten Griff ind volle Menfchenleben des Tages, in die bürgerlichen Kämpfe, Intereffen und Beſtrebungen ihrer Gegenwart. Hier hatten ſie ftatt der Marionetten ihrer Modedichter glaubhafte Lebeweſen, ftatt eine: halben Dutzends ebenfo plöglicher wie willfürliher Verlobungen eine Herzen: gefchichte, an der ed neu und reizvoll war, daß der Liebhaber ald Inſignien idealer Männerfchönheit ein Paar rote Hände hatte, und daß die Fiebhaberin der werbende und fprechende Teil war. Hier berrfchte Fünftlerifhes Nein- lichfeitögefühl. Hier war ein Dichter in Sprache, Handlung und Charaf- teriftif auf pſychologiſche Wahrheit bedacht geweſen. Aber diefe Wabrbeit wollte ein voribjenfches Publifum, wenn es fi ihrer fchon nicht erwehrte, doch nur fomweit getrieben wiffen, ald die Geredhtigfeit des Weltlaufs nicht angezweifelt wurde. Auch darin verfagte das ‚Kalliffement‘ nit. Es endete verſoͤhnlich; es wandte ſich mit den populärften Afzenten direft an die Ruͤhr⸗ barfeit der Menge. Mahdem drei Akte lang in der fnappften Form eine fonjequente Entwidlung gewaltet hatte, war der Schlußaft durch die Schablone jener alten Komödie gezeichnet, in der jemand, durch Schaden Flug geworden, eine Schwäche ablegt und vom Autor und feinen gläubigen Jubörern alä geheilt entlaffen wird. Die Seelenwandlung des Großhändlerd Tjälde mußte man nach einem Zwiſchenakt von drittbalb Jahren Dauer widerfpruchslos ald vollzogen annehmen. Diefer vierte Aft frönte dad Drama für dad Publikum und föpfte ed für den Pſychologen.

Tempora mutantur. In der vorigen Woche hat diefer vierte Aft das Stüͤck auch für das Publifum geföpft und nicht für dad Publifum Brahms und Neinhardts, fondern Hüljend und Barnayd ohne daß bie dahin eine fonderlihe Erregung zu verfpliren gewefen wäre. Es ift ja Fein Wunder. Der Stoff ift tot, und die Kunftform ift überholt. Schon die ‚Stiügen der Gefellfhaft‘ hatten mit ihrem entichiedenern Ton, mit ihrer topifchern Bedeutung, mit ihrem umfaffendern fozialfritifhen Jug und mit der unvergleichlich ſchaͤrfern fatirifchpolemifchen Beleuchtung einer ganzen Geſellſchaftsſchicht das ‚Falliffement‘ im literarifchen Anwert beträchtlich finfen laffen. Heute berührt ed vollends wie eine einzige Harmloſigkeit. Der Charafteriftifer Bjoͤrnſon erfcheint bier wie jener berliner Theaterbericht⸗ erftatter, defien Wefen die Boͤſen Buben erfhöpft haben, indem fie ihn zu einem Autor den einen Sat fprechen liegen: ‚Ihr Stud ift fchledht; aber es ift doch gut.‘ Bjoͤrnſons ſchlechte Menſchen find zugleich wahrhaft gute Menfchen oder werden ed wenigftend. Er hat nicht das Herz, fie ernithaft unan⸗

546

genehme Dinge begehen oder erleiden zu laffen. Keiner von diefen Menfchen bat mit ſich zu fämpfen. Ein Drama kann auf ſolche Weife nicht entftehen. Der uͤberaus gleihgültige Großfaufmann Zjälde wird gezwungen, fi) banferott zu erflären und die alte Wahrheit, daß ehrlich doc am längften währt, am eigenen Leibe zu erbärten. Das ift alled. Ad, mie liegt fo weit, ad}, mie liegt fo weit die Zeit, wo das ein modernes Drama war. Heute ift ed zur Not ein bandfeftes Theaterſtuͤck fir geiftig Minderbemittelte,

Als foldhes wird ed auch am Schaufpielhaus gefpielt. Feinheiten fchenft man fih. Wo wäre denn Plab dafür? Die Figuren find dankbar im Bühnenfinn, aber unergiebig ald Menfchlichkeiten. ‚Rettungen‘ find nicht vonndten und wären nicht einmal möglih. Es genügt, die ziemlich zahl⸗ reihen Rollen fo deutlid und farbig zu unterfcheiden, daß feine Theater» wirfung umfommt, und fie einander doch fo anzuähneln, daß das Bild eines engen, nivellierenden Gemeinweſens entitehbt. Das gelingt im Schaufpiel- haus durchaus. Die Frauen find dabei fhmächere Helferinnen. Selbft Frau Bube findet ſich erſt, wo fie fi auf ihren Humor befinnen darf. Diefer bedauerlihe Mangel an ftarfen weiblichen Perfönlichfeiten wuͤrde erft recht fihlbar werden, wenn man fich wirflid einmal entfchließen follte, von Bjoͤrnſon zu Ibſen aufjufteigen. Mit den Männern wäre diefer Auf- flieg zu wagen, und er wäre einigen von ihnen fogar aufs angelegentlichfte zu wuͤnſchen. Fuͤr Matkowsky und Vollmer bieten Ibſenſche Menfchen ja wirflich noch heute ungeahnte Entwicklungsmoͤglichleiten, und es ift auf der andern Seite ebenfo unzweifelhaft, daß foldye zwei Naturen unfre Ibſenauffaſſung wefent- li erweitern und bereichern würden. Aber auch unter den Fleinern Reuten ift mancher größern Anfprüchen gewachfen. Wie fenntlih und amlıfant zugleidh wurden in der Dinerfjene die meiften Gaſte gefpielt! Es war nicht ihre Schuld, daß diefe Szene langmweilte, und ed war auch nicht die Schuld der Herren Pohl und Kraußneck, daß die berühmten Szenen zwiſchen Berent und Zjälde, an ihrer Beruͤhmtheit gemeflen, verpufften. Die Herren Kraußneck und Pohl find flr ihr Teil fomplizierterer Charafter- zeichnungen fähig, ald in diefen beiden primitiven Fällen von ihnen ver- langt wurden, und verdienten gleichfalls, durch Aufgaben des Ibſenrepertoires geftärft zu mwerden. Man gebe fie ihnen. Will Herr von Hülfen die Fehler feines Vaters vermeiden, der vor dreißig Jahren das ‚Falliffement‘ al® zu peinlih modern von der Schwelle feines Hoftheaters mies, fo ift ed der falfchefte Weg, heute das ‚Falliffement‘ auszugraben. Bjoͤrnſon ift tot, es lebe Ibſen! Es liegt etwas wie audgleichende Gerechtigfeit darin, daß das, Falliſſement“, das einftmald die fpäter entftandenen und fpäter aufgeflihrten ‚Stügen der Gefellfchaft‘ um den nachhaltigen Erfolg gebracht hat, jetzt nad) dem fturmifchen Erfolg der Brahmfchen ‚Stügen‘ fo klanglos durchgefallen ift.

547

Der zweite Teil des ‚Fauft‘ am Burgtheater / von Willi Handl

br naht euch wieder, ſchwankende Geſtalten . .

J Die verſchiedenen Reifezeiten des Genies: Unermeßlicher Andrang greifbarer Formen im erſten Teil des Dramas, unergruͤndliches Schweben verflärter Gedanken im zweiten. Dort Blut und Herzſchlag einer ganzen Menſchheit, hier Sinnbild ded Unnennbaren, goͤttliches Gleichnis. Dort Himmel, Welt und Hölle in erfchauter Wirflihfeit, hier das uͤberſinnlich finnoolle Reich der Idee, ohne Schwere, ohne Grenzen, ohne Zeiten. Dort das lebendige Reben felbft; bier die erhabene Mufif des Lebend. Das braucht natürlich verfchiedenen Stil. So einfach ald Fortfegung des erften Teils, in derfelben Tonart, derfelben Grundfarbe, demfelben Rhythmus ift Der zweite gewiß nicht zu geben. Er will nicht fo fehr quellenden Reichtum mannigfaltiger Erfcheinung, wie jener, ald vielmehr mächtige Harmonien, erhabenen Einklang bedeutungdvoller Momente. Er will feine große Muſik. Diefe Mufif wäre freilih von felbft gegeben, wenn alle die heiligen Worte Goethes, in ibrer Vollkommenheit und nad) der Fülle ihres Klanges, gefprodhen werden könnten. Aber wir haben fein Publifum, dem man das zehn⸗ oder zwölfftundige Aufhorchen zumuten dürfte, das der ungefürzte Ablauf der Tragödie verlangte. Und wir haben nur ganz wenige Schau- fpieler, die mit dem Geift ded Wortd auch feinen finnlihen Wert lebendig machen, die über dad Begreifen und Begriffenfein hinaus in die Sphären der freigeborenen, der unerdachten, nur aus fich felbft beftehenden Schoͤn⸗ beit dringen. Früher hatten wir ihrer mehr; das Leben der dramatifchen Geftalten war noch nicht fo mühfelig zu tragen und zu geben, es blieb noch Kraft und Schwung und Freude genug für den Hall und Kall der Worte. Den Ohren wurde ihr Teil an börbarer Schönheit. Dann bat das ernfte Gewiffen einer forgenvollern Kunft diefe farbigen und gefärbten, echten und falfchen Blüten der Rhetorik arg zerzauft und zerrupft. Da es galt, dad Wort von der Tyrannei ded Klanges zu erlöfen, wurde es unter die Tyrannei des Geifted gepreft. Wahrheit im Geift: dad mar die große, die einzige fchaufpielerifche Meifterfchaft der legten Jahrzehnte, Nun dürftet und wieder nadı Schönheit im Klang, im Bild, in der Bewegung. Und fhon bebt fie fi, aus dem formlofen Neihtum der juͤngſten Natuͤrlichkeiten, langfam und wunderbar empor. Welle fommt und Welle gebt. Zwiſchen den beiden großen Forderungen an alle Künfte: Realität des Stoffes und Spealität der Form Parallelen, die fi irgendwie im Unendlichen unfrer Entwidlung treffen müffen wird auch dad Theater von Generationen zu Generationen bin- und hergeworfen. Und wird dabei, Durch Irriges und Gültiges, raftlo8 zur unbefannten Vollendung fortgetrieben: der Strom allein befteht! Wir fühlen und num wieder mitten in der Bewegung des Stroms, im Ubergang treibend. War bei der Neufhaffung des erften Teils (ich ſchrieb

548

im Herbſt des vorigen Jahres darüber) die befcheidene Natürlichkeit, die und die legte Welle theatraliiher Entwicklung auferlegt hatte, befonders drüdend zu fpüren, fo zeigt ſich jetzt doc ſchon der Wille zum Aufſchwung, die Sehnſucht nad Klärung und Helle, nad Farben, Licht und vielerlei @eftaltung, nad) der Uppigfeit aller Neichtlimer, die unfre Bühne vor den begierigen Sinnen entfalten fann. freilich hätte der Zauber diefes neuen Lebens auch dad Ohr erfüllen müffen; die zeitlofe, alle irdifche Form uͤber⸗ Autende Seele des unvergleichlihen Werkes hätte vor allem tönend werden müffen. Man bedenfe: Unvorftellbares ift vorzuftellen! So viel vermag doch nur die Mufif ber unfre Phantafie. Darin befteht vielleicht jet das befte Wachsſtum der Theaterfunft, daß fie beginnt, fi) mit Mufik zu füllen. Ich bezweifle nicht, daß die herangehoffte neue Klaffizität unfrer Schaubühne vom Mufifer fo viel aufnehmen wird, wie die Epochen früherer Reife und Uberreife vom Plaftifer, Zeichner und Maler. Und ihr Triumph wird es vielleicht fein, die nie erfchauten Wunder der zweiten Kauft- Hälfte dem ver- ftehenden Geift und der fühlenden Seele zugleich durch den Sinn des Gehoͤrs nabe zu bringen: im barmonifhen Wechſel und Zufammenflang heller und dunfler Stimmen, in der rhythmiſchen Gewalt neugetönter Worte, im flingenden, fingenden, braufenden Dabinftrömen der Rede, dad neue, un- gemeflene Werte an Schönheit heraufbringt.

Das fommt vielleiht einmal. Inzwiſchen ift man bemüht, aus der tiefen mufifalifhen Verarmung, die von den legten Revolutionen des Stils über die redenden Kuͤnſte gebracht worden ift, an Flle der Harmonien zu retten, was dem fchwierig gewordenen Material etwa noch abgerungen werden kann. Aber da zeigte fi) eben, an diefer ſchwierigſten und umfafjenditen Aufgabe, die der afuftifhen Vollendung eined Theaterabendd nur geftellt werden mag, wie wenig die ganze Schaufpielerei von heute an bedeutungs⸗ voll durchfeeltem Wohlflang aufzubringen imftande iſt. Gewiß, ein aufer- ordentlicher mufifalifcher Mei war der Vorftellung gegeben; eine Stimme von funfelndem Glanz, von ftahlfefter Konfiften;, von empfindlicher Schmieg- famteit ſchwang fih im vollen Triumph ihrer Schönheit von Szene zu Szene, ballend, dräuend, ſchneidend, ftachelnd, lüftern nad dem hoͤchſten finnlihen Wert jeder Silbe, fortreißend fortgeriffen im bedeutungsvoll geordneten Dahinftrömen der Nede. Das war die Stimme von Jofef Kainz. Sie gab den rechten Eindrud von den Offenbarungen, die eine mufifalifch empfindende Redelunſt, von den hoben Wundern diejed Fauft-Gedichts in Schwingung gefegt, den Zuhörern bringen fönnte. Sie gab einen Eindrud, einen Vorgefhmad; aber die Erfüllung, die Vollendung blieb aus. Mur die Gegenftimme war da; die Stimme felbft fehlte. Die ganze Verhoͤhnung und DVerneinung der Welt war dem Hörer in eindringend hellen Klängen ſinnlich gegenwärtig. Die Sehnſucht der Welt und ihr Wille zu wirfen batten feinerlei fuggeftiven Ton. Die Stimme und die Rede diefed Fauft {ft ohne jede fauftifche Muſik. Hier zeigte ſich deutlich, wie der Geift diefer Worte nicht offenbart werden kann, wenn ibm nicht der Reiz eined Vor⸗

549

trages von felbftändiger und finnliher Schönheit ald fünftlerifches Inftrument dient. Mit der Auferften, adhtendwerteften Energie bat fih Herr Gregori alles, was geiftig erreihbar, was fleißig durchzuführen war, an der Rolle abgerungen. Wäre ed nur eine Rolle! Wo ein Charafter zu zeichnen, eine Menfhlichfeit zu entwickeln ift, zieht ein verftändiger Schaufpieler feinem Geift die Konturen und feßt feine Kräfte an, um den Linien nachzuwachſen, dad Bild zu erfüllen. Verfagt er vor feiner eigenen Abficht, fo ift der Phantaſie des Zuſchauers doc eine Richtung gegeben, und wer den Willen zum Genießen bat, fchafft in fich felber nach, fo viel er fann. So war es im erften Teil ded ‚Kauft. Man fah die Anlage eined Menjchenbildes, das, unzulänglih in den Maßen und allzu grau in der Farbe, doch nad Belieben ergänzt und audgefhmücdt werden Fonnte, da ed nun einmal auf eine vorgedachte Geftalt hinwies. Hier aber, im zweiten Teil, ift feine Role. Hier ift nicht viel mehr ald eine Stimme; eine Stimme der Sehnfucht, die fo grenzenlo8 weit geworden ift, daß nichtd andred menſchlich Beſtimmendes um fie ber halten will. Bis dann, zur Stunde der Erfüllung, die Stimme der Sehnſucht in die Afforde des ſtolzen Genuͤgens, der weltüberfchmwebenden Weis heit beruhigt eingebt. Stimmen, Afforde, Mufif bat diefer Kauft des jweiten ZTeild zu geben. Aber dad Organ Gregoris ift mufifalifch öde, widerfpenftig; feine Rede aͤchzt unter den pbyfifchen und geiftigen Mühen, die ihm die Bewältigung der allzu großen Laft auferlegte.

An dem Mißklang Ddiefer in der Anftrengung doppelt unfruchtbaren Stimme mußte die afuftifche Harmonie des Werfes von vornherein rettunge- [08 zerfcheitern. Was fonnte dagegen der Wohlklang befeelter Laute helfen, die noch da und dort gleichwertig zur muſikaliſch⸗rhetoriſchen Volltommen- beit des Mepbifto ftimmten, Fleinere, nit unwuͤrdigere Diener einer einzig großen Sache! So die himmliſch belle Innigfeit der Medelsky, die beflügelte Wärme Hartmannd, der fchmärmerifche Tenor des jungen Gerafch (in der letten Szene) und andre Kleinere, Schwaͤchere. Aber in der Mitte von alledem, an der Seite der mepbiftopbelifhen Nedeprächte von Kainz fehlte der große, belebte Ton, um den und mit dem erft alled andre ‚bätte barmonifch fchwingen müffen. Man fage, wad man will: Ich bin der liber- zeugung, daß diefe Aftbetifche Leere im innerften Mittelpunft der ſchwerſte, der einzige unaudgleichbare Mangel der Vorſtellung ift.

Man fhaffe für den Fauft einen Künftler ber, dem Fülle und Glanz der Mittel gegeben find, Kräfte des Denkens, den Geift der Rede zu bemäl« tigen, und Gefhmad, ihren vollen finnlihen Reij berzuzaubern und diefe felbe Vorftellung wird fih, davon bin ich feſt überzeugt, fo ſehr verändert baben, daß man fie ald ein völlig neues, zu größerer Vollkommenheit um» geſchaffenes Ganze empfinden wird,

Trog den Feblern und Unzulänglichfeiten, die fie noch hat haben muß. Jede Bearbeitung ded Werfs, die auf feine Aufflihrbarfeit zielt, wird eine Verftiimmelung fein, und jeder wird bis zu einem gewiffen Grade von der erhabenen Seele des Gedicht, Die fih eben in fo ungeheuerlihen Maßen

550

verfünden muß, geopfert werden. Hier geht ed am allerwenigften an, irgend einen Kern, den man für dad Weſen der Seele hält, beizubehalten und Überflüffiged oder Rankwerk wegzutun. Hier gilt es nur, Wichtigfted für Wichtigſtes einzutaufchen, ſich für die eine oder die andre Art der Zerſpaltung zu entfcheiden, wenn man die Möglichkeiten der heutigen Bühne an der Koloffalität diefer Dichtung meſſen will. Man fann fie nach Stimmungen, man kann fie nach Elementen der Handlung zufchneiden. Die Bearbeitung Schlenthers fcheint ein Kompromiß zwifhen beidem zu fein: fie will, über notdürftig befeftigte Stuͤtzpunkte der Aftion möglihft unbehindert wegſchrei⸗ tend, mit umfo größerm Nachdruck auf den grandiofen Stimmungen des dritten und des legten Akts, im klaſſiſch⸗ romantiſchen Märchen und bei den Erlöfungen und Verflärungen ded Endes, verweilen. Man kann natlırlid bei diefer wie bei jeder andern Bearbeitung um Herrlichkeiten rechten, die man am allerfchmwerften vermißt; kann Verfe von prunfender Schönheit, von glorreicher Tiefe aufzählen, deren Beſeitigung man als fündhaften Mord an Moefie empfindet. Man vergift, daß man dabei im Grunde immer nur mit der Enge und Kleinlichfeit der heutigen Theater rechte. Wir können, wie die Dinge jegt fleben, nur ungefähr ein Drittel des ganzen Gedichts an einem Abend auf der Bühne haben. Diefed Drittel wird ſich freilich jeder nach feinem befondern Gefhmad begrenzen wollen. Auch ich hätte gern dad Ende ded Homunfulus zu fehen gewuͤnſcht, hätte gern die ganze Pracht ded erften Monologs, die hoͤchſt ergöglihen Reden bei der Geld- verteilung, ein paar oft zitierte Derfe des Mephifto gehört, deren Streichung einfach unbegreiflid ift. Aber wer weiß, auf welche andre Schönheiten wir um diefen Preid hätten verzichten müffen! Die Opfer waren nicht zu ver« meiden, Und da wir ihnen fchließlich eine verftändlihe Jufammenfaffung deffen, was bier als aͤußeres Gefchehen zu gelten hat, und die Entfaltung einiger ausderlefener Stimmungen in der Dichtung zu danfen haben, fo mag man es beim fehmerzlihen Bedauern über alles, was man dennoch ſchwer vermiffen mußte, bewenden laffen und der Bearbeitung zubilligen, daß fie fi) zwifchen der Unfaßbarfeit diefer Poefie und der Unzulänglichfeit des Theaters mit leidlihem Geſchmack und viel praftifhem Verſtand zurecht- gefunden hat.

Die große mufifalifhe Harmonie, in der ſich einzig und allein die ganze hberirdifhe Schönheit diefed Werks offenbaren könnte, war da natürlich nicht zu erreichen. Die Mufif des Verſes mußte vor den Kümmerlichfeiten des heutigen Theaterhandwerks fchweigen, die Muſik der menfchlichen Rede ift zur Größe folder Probleme noch nicht gereift. Die Praxis der Auf: führung bielt fih am Optifchen ſchadlos. Scaupläge von nie gefehener Pracht, von übermwältigender Kraft der Stimmung, von erlefener Farbigfeit wurden bergeftellt. Einzelne fo völlig deforativer Ausdruck ihrer Szene, dag ihnen allein ſchon ein tiefered Empfinden märdenbafter, uͤberirdiſcher, Außerft fublimer Vorgänge entwachſen fonnte. So die uͤber alles ruͤhmens⸗ werte , Finſtere Galerie‘, fo die Gefilde am Peneios, einzelne Szenerien

551

am Hofe des Kaiferd und mandyed im letzten At. In diefe überreihe auch in manchem Schwäderen noch erflaunlihe Herrlichfeit von Bildern brachte ein fein abgeftimmter Wechfel von ftärferm und blafferm Licht, von neblig grauem und fchwerlaftendem Dunfel oft ein Anfchwellen und Ab⸗ flingen von Gefühlöwerten, das mufifalifcher Wirkung wohl verwandt ifl. Sp batten ſchließlich anfer Kainz und den wenigen Erlefenen um ihn der Maler und die Beleuchter dad bischen innere Muſik gemadyt, Das die verlangende Phantafie in den Unzulänglichfeiten der Aufführung zu genießen befam. Der Maler Heinrich Lefler, dem wir Die deforativen Herrlichkeiten diefes ‚Kauft‘ verdanken, bat ſchon vor mandem Jahr mit feiner vollendeten, dem Geift der deutfchen Sage in aller Kraft und aller Zartheit angepaßten Aus- ftattung des ‚Armen Heinrich‘ bemwiefen, mie fehr feine malerifhe Empfin⸗ dung dem Zug und dem Willen dramatifcher Stimmungen zu geborchen verfteht. Die Szenerien zum ‚Fauft‘ waren dad Letzte, was er, der num einem Jüngeren Plag macht, flr das Burgtheater gefchaffen hat. Micht in jedem Sinne vollendet welches Kimftlerwerf käme nicht zu Schaden, mißt man ed an der Meifterfchöpfung aller Dichtfunft? aber, nach dem Erreichbaren beurteilt, außerordentlich und des lauteften Ruhmes wert.

Sp nur etwas fhlichterner im Ton läßt fi) von der ganzen Aufführung reden. Sie ift feine Vollendung, faum noch ein Weg dazu, aber doch ein tüchtiger Verfuch, diefen Weg zu finden. Er führt Über die möglichft praftifche Bewältigung der Gefchehniffe zur möglichft reihen Ente faltung von Stimmungen. Ihr Licht, ihre Farben, ihre Linien hätten wir beinahe; ihre Mufif muß noch erwedt werden. Dazu aber find nidyt nur Direftoren, Negiffeure und andre Helfer, dazu ift eine ganze neue Generation von Schaufpielern nötig.

Nahe Verbundene] von Hand Bethge

DLR ift Died: Freund, Mutter und Geliebte Sind fo mit und verwoben mie die Wurzeln Der Bäume mit dem unterirdifchen

Geſtein, das fie umfrallen, unlösbar.

Dod die Geliebte wechſelt wohl ihr Bild

Im Fruͤhling und im Herbſt und auf dem Meere Und in den Waͤldern, immer iſt ſie anders,

Mit neuem Laͤcheln und mit neuen Tränen,

Wenn auch die gleiche immer: Die Geliebte,

Der Glanz der Dinge, bolder Flügelfchlag Befeelten Dafeind und der Duft des Abende.

In wundervoller Ruhe aber, groß, Sich immer gleich, zwei Säulen, ftebn die Bilder Bon Freund und Mutter da, aud Gold geflgt.

KRısperlefderter

Wiesbaden/ von Riber

Dad Bureau ded Oberintendanten. Gemaltige Bibliotbef von Koſtuͤm⸗ funden, Koſtuͤmgeſchichten und dergleihen. An der Wand Trachtenbilder. Auf Poftamenten plaftifhe Modelle, die allerhand Masten, Frifurenarrange- ments und ähnliches darftellen. In einer Ede der Blicherei, neben ein paar Reclambändchen, Schillerd und Shafefpeared Werfe, Volksausgabe. Die Intendanten ſitzen mit der Vorbereitung des lebten Hamletaktes befchäftigt, da ‚„Damlet‘ den Elou der fommenden Feitipiele darftellen fol.

Oberintendant: Alfo, Lieber... fowie der Hof die hintere Galerie betritt, hebt der Jeremontenmeifter die Hand, und die Fanfarenbläfer legen los.

Unterintendant: Pardon, Herr Kollege . . .

DOberintendant: Ab mie?

Unterintendant: Verzeihung . . . ich meine . . . hats denn damals in Dänememarf fhon Fanfaren gegeben?

DOberintendant: Ob, bitte, die Kultur war fchon damals fehr ent» widelt. Außerdem fünnen Sie ſich ’nen Hof ohne Kanfaren denfen? Ich nih... Mebenbei hat Kapellmeifter Ziefchfe vom 327. heſſiſchen Infanterie⸗ Regiment bier ’ne jeradezu jlänzende Mufif fomponiert. Das muß aud« jenugt werden... .

Unterintendant: Ma... . und wenn Zieſchkes Hamletfanfare aus-

geblafen ift?

Dberintendant: Dann fomme id mit dem Stab ...ah fo... ſehr juter Scherz . . . dann fommt Polonius mit dem Stab und Flop dreimal und dann...

Unterintendant: Verzeihung ... Polonius ift ja längft tot...

DOberintendant: Saprifti... ja... der olle Knabe id ja dot... Tja, wad machen wer denn da? Ma, floppt eben ’n andrer! Und nu ent« widelt ſich ’n jlänzendes Schaufpiel. Selbftverftändlicd, ift die Bühne wegen Ophelias Ableben ganz in Schwarz gehalten und deforiert, mit Myrten und Lorbeerhainen. Aber nee, nee, das jeht ja nid... .

Unterintendant: Wiefo denn nicht? Ich denfe mir das fehr hübſch . . .

DOberintendant: Nee, man würde doch wohl Anftoß nehmen. Das läßt fi nich machen. Opbelia ift zwar die Tochter des Oberhofmarſchalls, aber nicht mit der Föniglihen Familie direft verwandt. Da ift alfo nur ’ne Nuance der Trauer möglich. Der Hof geht zum Begräbnis, bon, das macht man; aber im übrigen ift man ’n bischen referviert. Sonſt bliebe ja feine Steijerung übrig, wenn mal ’n Sohn oder ’ne Tochter ftirbt. Alfo, wir bringen Rofetten in den dänifchen Farben an und arrangieren dazwiſchen fo ’n paar Trauerflöre. Das ift dann fehr charafteriftifh. Was meinen Sie, wenn wir auch nod an die Wand ’n Bild von Opbelia hingen wir koͤnnen ja die Willig fchnell malen laffen und darüber die Infchrift „Requiescat in pace“? Sehr flimmungsdvoll, was?

553

Unterintendant: Aber... . ich daͤchte do .. .

DOberintendant: Natürlich, natlırlih. Einwendungen. Is woll nic modern jenug? Alſo da bitte ich Sie, denn doch daran zu denfen, Daf wer bier nid Herren... .. Herrn Ibſen infjenieren, fondern Shafefpeare ....... den alten Shafefpeare. Das is natürlich nich mit fezeffioniftifhen Nuancen a la Erler zu machen, fondern nur im ‚Stil‘. Wenn id wieder weg bin, dann fönnen Sie wieder... . Herrn Ibſen infjenieren. (Läuft erregt auf und ab) Ma, und nun wollen wir fortfahren. Ich habs eilig. Vormittag is noch Probe von der Kichhoföfzene. (Sept fi) wieder)

Unterintendant: Spredprobe?

Oberintendant: Ach Unfinn..... Grabeprobe.... Der Totengräber vom wiedbadener Kirchhof fommt und zeigt den Leuten, wie fie zu graben haben... Sa, nu müffen wir aber wirklich weiter... . Alfo, den Einzug ded Hofes, dad habe ich Ihnen heute Nacht jenau ausjearbeitet. Wird etwa zwanzig Minuten dauern. Wenn der König ſitzt, ſchreit Osrick Hoch, und die andern flimmen ein. Dann fommen die Fechter, natürlih Pamlet voran, von Pagen geleitet. Sie machen ihre Reverenz; vor dem Thron. Das Königepaar reicht Hamlet die Hand, gebt dann auf Laërtes zu und erkundigt ſich nach feiner Stimmung. Der bricht in Tränen aus, berubigt fih aber wieder dad wird natürlich alles durch Geften angedeutet und zieht fi den Waffenrod glatt, womit er zeigt, daß er num bereit jei. Dazwiſchen wird natürlich auch dad Notwendige geſprochen.

Unterintendant: Strichlos?

DOberintendant: Hoffentlich, Lieber .... boffentlih. Ya, dad fagen Sie fo. Da muß man mächtig aufpaffen. Wie leicht wird dad Publikum überlaftet. Wenn die Leute im Parfett foviel zu feben haben, da muß man dad Gehör etwas weniger in Anfpruch nehmen. Außerdem ift da doch fo manches Verletzende .... Shafefpeare hätte das felber heute eliminiert, da koͤnnen Sie fid) drauf verlaſſen. Na, dad mache ich fehon, dad made ih fhon.... Alfo, nu friegen die Fechter ihre Handſchuhe .... felbft- redend echte daͤniſche Handſchuhe. Osrick und Horatio find Sefundanten.....

Unterintendant: Ja, wiefo denn?

Dberintendant: Aber glauben Sie denn, daß ’n paar gebildete Menfhen ohne Sefundanten auf Säbel losgehen? Hamlet bat doch in Wittenberg ftudiert. Der Mann fennt doc) feinen Komment. Und Sie ald alter heidelberger Vandale folten ’n doc auch Fennen. Dann fchlägt Hamlet an .... Prim, Doppelterz; nah.... 9a, übrigens, ehe ichs vergeffe: Sie haben doch hoffentlich daflır geforgt, daß Hamlet von einem guten Fechter gefpielt wird?

Unterintendant: Ja, wer jpielt denn den Hamlet?

Dberintendant: Das wollen Sie von mir wiffen? Von mirt.... Mein, wirflih, ich bin empört. Wenn Sie mid) gar nicht entlaften..... wenn ich nicht nur dad MWichtigfte beforgen muß... . wenn ich mid fogar um die kleinſten Kleinigfeiten Fümmern fol... . um jeden Quarf.... um die Befeßung ter Rollen .... da bört doch wirklich Verſchiedenes auf!

v as Wen W

554

Mundkhau

Zur Ehriftustragdbdie

Day und Blihne‘— diefe Schrift, deren Titel eine weitergefpannte Erörterung verheißt, ift ausſchließlich der Diöfuffion ded Problems der ‚Ehriftustragddie‘ gewidmet. Der Autor, Karl Felner in Weimar, fuͤllt den größten Teil feined Raumes mit tbeofophifchen Deflamationen uͤber die Bedeutung der Ehriftusgeftalt De- Flamationen, die in unertraͤglich mono⸗ toner Höhenlage gehalten und im fort» fchrittölofen Kreislauf ihrer Phrafen paftoral im uͤbelſten Sinne des Wortes find. Trotz hoͤchſt unkirchlich auf geklaͤrter Meinung. Aber das Salboͤl philoſophiſchen Predigertons iſt um keinen Gran verdaulicher als das kirch⸗ lichbeamteter Dogmatiker. Die geiſtige Armſeligkeit und Unklarheit, die ſich in ſolcher zwiſchengliedloſen Aneinander⸗ reihung ſuperlativiſcher Behauptungen in traktaͤtleinhaftem Sperrdruck offen⸗ bart, iſt in beiden Faͤllen die gleiche, und das Mißbehagen eines reinlicher gewoͤhnten Gehirns iſt in beiden Faͤllen gleich groß. Felner verſchuͤttet mit ſeinem hochpathetiſchen Wortſchwall das ganze Problem. Fuͤr ſeinen Zweck haͤtte ein ſchlichter Satz genuͤgt, der die uͤberhaupt nicht zu bezweifelnde Be⸗ deutung der Chriſtustradition in unſerm Geiſtesleben, die tiefe, jeden andern Stoff weit übertreffende Wurzelkraft dieſes Mythos konſtatiert und auf ſeine unerſchoͤpfliche innere Fruchtbarkeit hingewieſen haͤtte. Dies vorangeſetzt, fonnte und ſollte die ſachliche Dies fuffion beginnen über die Frage, ob diefer größte und lebendigfte Beſitz unfrer Volksphantaſie in dDramatifche Form gegoffen werden fönne, ob er die vielgefuchte mythiſche Refonanz für

einetiefoolfätlimliche Tragddie größten Stild werden, ob fi der große Mythos gar in jener Kunſtform zu einem neuen fruchtbaren Reben erheben könne. In den wenigen fachlihen Außerungen, die fich aus dem efftatifchen Phraſen⸗ geſtammel Felners herausbören laffen, werden all diefe Fragen aufs leiden- ſchaftlichſte bejaht. Aber feine Erxfla- mationen find flr eine Fritifche Er- Örterung einfach nicht faßbar gegen Blaubendartifel kann man nicht pole= mifieren, und einer fo fonfusvorgetras genen Meinung beizuftimmen, geniert man fid) faft.

Zum Glüc hat diefer felbe Felner vor Zeiten fi an dem großen Stoffe fünftlerifch in ſzeniſchen Skizzen ver- ſucht, und er fcheint als Poet eine wefent- lich erfreulichere Erſcheinung denn als Eſſayiſt zu ſein. Hat er doch damals einen Schriftſteller wie Leo Greiner in dieſem Blatte (II, 18) zu ſehr ach⸗ tungsvollen Worten uͤber ſein Schaffen und vor allem zu ſehr feſſelnden und ſehr tiefgehenden Betrachtungen lıber dic tatſaͤchlich ſehr große und bedeutende Frage der Chriſtus⸗Tragoͤdie angeregt.

Greiner lehnte damals auch die alte Schulmeinung ab, daß Chriſtus als ein blos, leidender‘ Held nicht drama⸗ tiſch ſei. Aktivität eignet feinem Dinge an fit) es ift eine Form, die unfre Anfchauung den Geſtalten nehmen wie leihen fann.

Ehrifti Leiden kann ald Tat, die Paffion ald Kampf gefühlt und ge- ftaltet werden. Dem Einwand, den reiner den gewichtigern nannte: daß die von Anbeginn vollendete gött- lihe Harmonie in Ehriftus die Aus⸗ geftaltung feines Lebens im Dialogi« ſchen, Widerfpruchövollen und fo Dra=

555

matifchen hindere diefem Einwand bielt Greiner felbft die neue Moͤglich⸗ feitentgegen, den biftorifchen Chriftuß, den Menfchen, der fich ſeine gottgleiche Harmonie erft erfämpfen muß, darzu⸗ ftellen. Diefe legte Moͤglichkeit aber haͤlt er fir gefperrt durch die Über⸗ macht der theologiſchen Auffaffung, die den Sinn des Volkes jo ganz be= berriche, daß es fichjeder neuen pſycho⸗ (ogifierenden Darftellung des großen Stoffes verfchliegen würde. Dies letzte Bedenken teile ich in feiner Abfolut- beit nicht und halte deshalb (wie Felner) die Chriſtustragoͤdie für ideell moͤglich. Allerdings wird der Atem der maͤch⸗ tigen zweitauſendjaͤhrigen Tradition jeden hinwegwehen, der rationaliſtiſch ein beliebiges ‚piychologifched Drama“ aus diefer Welttrogödie herausſchnei⸗ den will. Wenn aber der Dichter größe ter Art fäme, der mit zauberfräftigen Worten aus dem Drama des ringen- den Menfchen Jeſus dad ganze welten- erfchlitternde Gefchehen der Religiond- mythe das Gott-WWerden ded Ins dividuums zu geftalten vermag, wenn fo auf neuer menſchlich⸗kuͤnſt⸗ lerifcher Baſis die religidfen Gefühle der Hörer wieder gepadt und zu jeder möglichen Entladung geflihrt werden, dann ift nicht einzufehen, warum das dramatifch neugeftaltete Jeſusmyſte⸗ rium die Menfchen weniger ergreifen follte ald all die heimlichern, aber nicht weniger einfchneidendenllmformungen der Legende, die die großen Prediger und Weiſen ded Mittelalters vielmald in ihrem Sinne vollzogen haben. Nur daß diefe ganze Möglichkeit mit einem dichterifchen Genie rechnet, vor deflen Wuchs die Beten von heute ald Pyg⸗ mäen erfcheinen. Der Geift, deſſen Eigenart dad zweitaufend Jahr ge- formte Motiv in feiner ganzen Größe neu bemeiftert, der müßte von den allergrößten der Gefchichte fein. So ift die praftifche Audficht auf eine lebendftarfe Chriſtustragoͤdie frei⸗

556

lich nicht eben groß. Trotzdem ift es vielleicht nicht unverdienſtlich, auf dieſes hoͤchſte Werk hinzuweiſen, das einem Genie durch Geſtaltung unſers groͤßten Mythos gelingen kann wenn es auf einer dramatiſchen Tradition wird bau⸗ enfönnen. BennjenegroßeMöglichfeit nur unfern Eifer lot, an diefer noͤti⸗ en Borbedingung zu arbeiten, jo wirft damit ſchon Guted. Mit der Eri- ften; und der Tendenz der Felnerſchen Schrift bin ich alfo ebenfo unbedingt einverftanden, wie ich ihre (man ver⸗ zeihe das harte Wort) äfthetifche Heils⸗

armeetonart unbedingt ablehne. Julius Bab

Ibſen fürs Volt

in Jahr nad) dem Tode des vor- laͤufig legten Dramatiferd von europäifhem Wang veranftaltet ©, Fifcherd Verlag eine Vollsausgabe von Ibſens ‚Sämtlihen Werfen‘ in fünf Bänden. Bei folhen Publifationen, die nicht dem alten Leferfreife neuen Beſitz, fondern altem Gut ein neue® Publifum erobern wollen, fcheint es mir nötig, dad Technifche, die buch⸗ bändlerifche Außenfeite in erfter Linie zu würdigen. Denn wo der innere Wert nicht mehr disfuffionsbedirftig

ift, wird Gelingen oder Mipli der agitatorifchen Abficht, die pe winnung weiterer Volkskreiſe für den großen Öegenftand, wefentlich von der

Form der Darbietung abhängen. Es fei alfo zuerft gefagt, daß die fünf fräftigen Bände mit ihrem feſten Papier, ihrer großen, Flaren lateini« fhen Drudfchrift in jedem erforder lihen Maße handlich und leferlich find, und daß der im fühlen englifchen Stil gehaltene gruͤne Leineneinband ge= ſchmackvoll und zugleid einer Volks⸗ ausgabe entiprechend fchlicht ift. Das für das Gelingen einer Volfdaud« gabe wohl mwichtigfte Moment bleibt der Preis. Er ift mit drei Mark für den Band mwahrfcheinlic fo niedrig

wie möglich bemeffen. Aber es bleibt zu beflagen, daß er noch viel zu hoch iſt, um die jegt einzig volkstuͤmliche und nicht einmal halb fo teure Ibſen⸗ Ausgabe der Neclamfhen Univerfal« bibliothef endgültig und Überall ab» loͤſen zu können. Das bleibt zu be= Flagen, den die Fifcherfche Ausgabe bat enticheidende Borzüge vor derrecht planlos zufammengera Neclam⸗ ſchen. Sie bietet zunaͤchſt quantitativ mehr ; nicht nur, was mir unmefentlic) fheint, von den rein biograpbifch intereffierenden QJugenddramen der ‚Satilina‘, fondern, was fehr wefent- lich ift, die drei großen Alterddramen, die deutfch befanntlich überhaupt nur in der Ueberſetzung des Fifcherfchen Verlags eriftieren. Sodann feht die Fiſcherſche Ausgabe der völlig finn- ofen Anordnung Reclams die ein» fache biftorifche Folge entgegen, und ſchließlich und vor allem bietet fie einen an Korreftbeit und Kunft fehr überlegenen deutfchen Text. Hiermit, und mit den erwähnten Qualitäten der dußern Ausftattung etwa, ſcheinen mir allerdings die Vor⸗ zuͤge diefer Volfdaudgabe erfchöpft. Denn die lange Einleitung, die für die Agitationdfraft der Audgabe ein ſehr wichtiged Moment bätte bilden koͤnnen, ift tatfächlich ein Uebel, ein befchwerlicher Ballaftgeworden. Statt einen Schriftfteller von Geift umd Temperament aufzufordern, daß er einen Effay fchreibe, geeignet das ‚Bol‘, die Menge der literarifch nicht vorbereiteten, literarbiftorifch nicht in» tereffierten Menfchen, zu den Lebens⸗ werten des Ibſenſchen Schaffens hin⸗ zuführen, zum Genuß der Ibſenſchen Kunſtformen anzuleiten ftatt folch einen knappen, feflelnden Auffag zu fchreiben oder ſchreiben zu laffen, haben die Herausgeber uͤberhaupt nicht die Feder, jondern Schere und Kleifter- topf in Bewegung gefeßt und aus den Einleitungen der großen Ibſen⸗

ausgabe und einigen andern Druck⸗ ſachen eine unförmige Maffe von faft zweibundert bedrudten Seiten zus fammengeflebt. Dies ift natürlich fo wenig ein durchgeftaltetes, literariſch genießbared Ganze, wie es für den befondern Zweck und Sinn einer Volksausgabe eingeftimmt ift. Schon jene Einzeleinleitungen der großen Ausgabe find nicht fehr erfreulich; fie find mit der hochmütigen Ranges weile ded Germaniften von Fach ge» fchaffen, fie find weniger in ihrer Art ſchlecht, ald von einer meined Er» achtens uͤberaus fchlechten Art. Unfre literarhiſtoriſchen Einleiter Scherer» fcher Abfunft geben in der Regel zweierlei: eine völlig und eine faft überflüffige Sache. Erftend naͤmlich eine ‚Inhaltdangabe‘, die die Phantafie des Leſers lähmt und nichts daflır leiftet, und zweitens biograpbifche Klitteruns gen über die Entftehung ded Werfes. Auch diefe Bemühung der Stolz aller unfrer Philologen feheint mir nur ein ganz fefundäres, fachwiſſen⸗ ſchaftliches, faſt ſportliches Intereſſe zu haben, alldieweil fuͤr die Menſchheit von den Erlebniſſen eines Kuͤnſtlers ja eigentlich nur Wert hat, was un⸗ mittelbar in ſeinem Schaffen wirk⸗ fame Form geworden iſt. Dies lebt alles andre bleibt tote, biftorifche Anefdote, die vielleicht dem Afthetifer einige pſychologiſche Auffchlüffe geben, dem Lebenswort ded Werkes aber fein Zitelhen zuflgen fann, und die deshalb gerade für eine Volksausgabe ganz entbehrlich if. Dagegen bieten und die Einleiter dieſes Schlages wenig oder nicht? von einer hoͤchſt und einer fehr wichtigen Sache. Erftens gilt ed, den Zuſammenhang nicht nur zu zeigen, fondern auch füblbar zu machen, den des Dichterd Werf mit und, mit der Lefenden Leben und Zufunft (nicht mit der Vergangenheit des toten Dichterd!) hat. Und hernach wäre es wichtig, die Fünftlerifchen

557

Mittel aufzuzeigen, durch die dies Wort ſolche Macht über unfre Seelen erringt. Denn fo wird der Lefer angeleitet, fein Erlebnis an der Dich- tung in den Kreis feiner allgemein fulturellen Erfahrungen überhaupt und in die Gefamtheit feiner Fünftleri- fhen Erlebniffe indbefondere ein- jureiben und fo an dem Werf, deffen urfprüngliches Begreifen ihm freilich niemand abnehmen fann und foll - am menigften eine piychologifierende Inhaltsangabe neue Schönheiten und Werte zu entdeden. Bon foldhen ind aftive Reben gewandten Kultur⸗ zufammenbängen wiſſen unfre ger- maniftifhen Doktores wenig, von wirklich Afthetifchen, ſprachkuͤnſtleri⸗ ſchen Kriterien gar nichts zu ſagen. So ſcheinen mir ſchon die Elemente von geringem Wert, aus denen die Einleitung dieſer Ibſenausgabe ſtillos zuſammengeleimt wurde. Daß die ſpornende Kraft einer gehaltvollen Einfuͤhrung fehlt, bleibt ein ſchmerz⸗ licher Mangel der Volksausgabe. In⸗ des kein entſcheidender. Dieſe Werke werden ſich ſelbſt einzuführen und zu erflären wiffen, wohin fie dringen. Und weil fie eine neue Möglichkeit für died Vordringen ſchafft, bleibt diefe Volksausgabe eine verdienftoolle Tat.

Fero

Florenza

F rei Akte nennt Thomas Mann

fein Renaiffanceftud ‚Fiorenza‘, und er bat wohl daran getan. Ein Drama ift diefed Werf ficherlich nicht, und aud die herrlichſte Darftellung, die geſchickteſte Regie und der ftilvollfte Aufpuß würden es dazu nicht machen. Und wenn das Unmoͤgliche möglich ge= macht wäre, wo will der Dichter ein Publifum bernebmen, das mit ihm geben fönnte und feiner Symbolif ge⸗ nuͤgend Verftändnis entgegenbrächte? Zwei Afte lang find die Frankfurter willig mit dem Dichter gegangen. Sie

558

ließen ſich im erſten Aft den Prior von San Marco, Girolamo Savonarola, von dem jugendlichen Giovanni und dem Humaniften Pifo von Mirandola als einen Übergroßen Niefen vor die Augen zaubern und empfanden de an dem Treiben der medicäifchen Künftlergenoffenfchaft, das lebendig und mwogend ein Bild ded defadenten kuͤnſtlerifchen Floren der zweiten.Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts bietet. Im dritten Aft aber verfagte das Pu⸗ blifum die Gefolgſchaft, einesteils, weil die Koloraturen und Fiorituren, die fh Mann leiftet, um den alterd- ſchwachen Lorenzo Magnifico mit allen feinen Schwaͤchen und Vorzuͤgen zu umgeben, doch etwas zu lang geraten find, um eine gewaltige Spannung vorzubereiten; andersteils aber, weil die Repräfentanten der beiden mitein« ander ftreitenden Weltanfchauungen fo winzig geraten find, daß fie unmöglich für eine faft dreiftündige Erpofition entfhädigen fünnen. Es wäre wohl möglich, eine beffere Darftellung und eine prunfoollere Szenerie zu bieten, als die, weldye unfer Schaufpielhaus mit feinem baftigen Getriebe zu ftellen imftande war. Aber auch das fann die Dichtung nicht für die Bühne retten. An der Berneinung dedpfochologifchen Geſetzes von Urfahe und Wirkung fcheitert das dialogifierte Epos, und felbft der Kenner wird freudigen Her⸗ jend immer wieder zum Buche greifen, wenn er die herrliche Sprache und den Gedanfenreichtum, den Mann aufge« ftapelt bat, genießen will. Der Dich» tung felbit braucht an diefer Stelle nicht viel Raum gewidmet zu werden, weil dad fchon einmal gefcheben ift. Es genügt alfo, noch einmal darauf binzumeifen, daß in ihr, wie in Oscar Wildes ‚Salome‘, eine abfterbende, dem unbedingten Genuß buldigende Epodye mit einer aufftrebenden, fitt« li) reinen Welt um die Herrſchaft ftreitet. Lorenzo von Medici ift der

Vertreter der erften, Savonarola der Vertreter der zweiten Welt, und jwifchen beiden ſchwebt als lockende Sirene Fiore, das Symbol des ſinnen⸗ durſtigen, ſchoͤnheitstrunkenen Florenz. Daß keiner in dieſem Widerſtreit Sieger bleibt, iſt ſicher auch Fein Vorteil für das Buͤhnenwerk, das gleich Dem Prior von San Marco in das Feuer fchreitet, um feinem Schicffal entgegenzugehen. Man braucht fein Prophet zu fein, um diefed Schidjal vorauszufagen. Aber ed ift um fo mehr zu bedauern, als die moderne Literatur wenige Werfe auf- weift, die diefem an Neinheit und Sprahfchönheit den Rang ftreitig machen fonnten. ‚Fiorenza‘ wird aud) fürderhin im Buche lebendig bleiben.

Julius Wertheimer

Mannheimer Jubilaͤums— feftfpiele Ye nur dad Individuum, aud) dad Ereignis ift Ergebnis des Milieus und verlangt daher eine and Milieu gebundene Beurteilung. Das gilt von fünftlerifchen Ereigniffen eben» fogut wie von andern, gilt alfo auch von den Teftipielen, die das mann- beimer Hof- und Nationaltheater zur Dreihundertjahrfeier der Stadt ver« anftaltet hat. Sie hatten ald Hinter- grund eine kuͤnſtleriſch reiche Ver—⸗ gangenbeit und eine fünftlerifch arme Gegenwart der Zubiläumsftadt: die Zeit Dalbergs und Ifflands auf der einen, die Zeit Praſchs und Hoff- mann® auf der andern Seite! Ge- rechtermweife darf man die Befprechung der Feſtſpiele nicht auf da8 anſpruchs⸗ volle biftorifche, fondern auf das bes ſcheidene zeitgendffifche Theatermilieu Mannheims einftellen.

Aus diefem beſcheidenen Milieu leuchtet dann gleich die Feſtauffuͤhrung der ‚Meifterfinger‘ hervor, wie ein Sommerbrand aus dürrer Heide. Wir erlebten, danf des Intendanten fünft- lerifcher Einficht und dank der Feinfuͤh⸗

ligfeit des Kapellmeiſters Kutzſchbach, wirklich das Muſikdrama. Es war eine helle Freude, zu ſehen, wie die Regieprinzipien Reinhardts und Gre⸗ gors ohne alle ſezeſſioniſtiſchen Ab⸗ wegigkeiten in dieſer Auffuͤhrung ver⸗ wertet waren. Das Bild der nuͤrn⸗ berger Straße zumal, das Hagemann ganz an die Rampe gebaut, ſozu—⸗ fagen in den Zufchauerraum binein- fomponiert hatte, war von tiefem Reiz. Und wäre noch wirfungsreiner gemwefen, wenn nicht in der Priigel- fjene einriefiger Schwarm von Tumuls» tanten von der größtfalibrigen Regie⸗ fanone auf die Buͤhne geſchoſſen worden wäre. Ganz Nürnberg lud im Nu feine Nubeftörer in der ftillen Gaffe ab. Ders felbe Fehler, unter dem auch die Balen- tin-Sjene im ‚Fauft‘ meift leidet! Im übrigen war es eim ungetrübtes Feſt, 2... ald Hand Sache, Knote ald

tolzing und Geis ald Beckmeſſer zu bören und zu feben.

Für die Aufführung der ‚Räuber‘ war ed von Nutzen, daß ihr der Ur⸗ tert zugrunde lag und nicht die vom Dichter felbft erzwungene ‚Mann beimer Blihnenbearbeitung‘, die dem Driginal in fo vielem nachfteht. So in der dramatifchen Anlage fie wirft viel grobfchlächtiger und vor allem in der Urfprünglichfeit der tra» gifhen Erplofionen des lebten Alts. Um wieviel wirffamer kuͤnſtleriſch und theatralifch ift der Selbftmord

anzend als feine Ermordung, die

berdied durch die redfelige Senti- mentalität Karlens ihres tragifchen Stachels beraubt wird. Freilich, die Driginalfaffung ift ſzeniſch fehr fpröde. Durch diefe Sprödigfeit hindurch eine ganz reine Wirfung zu erfämpfen, ge⸗ lang in Mannheim nicht. Der Negie nicht, fo erfolgreich fie im Heraus⸗ arbeiten des Bildhaften war, der Darftellung nicht, fo wenig fie guter Einzelleiftungen entbehrte. Beiden fehlte die Großzligigfeit, die ind Un⸗

559

‚gemeffene ſich rediende Wucht. Der Geift des Hippofratifhen Spruches von der Heilfraft ded Eifend und Feuers, den Schiller dem Drama vorangeftellt hat, ward nicht lebendig. Daran trug die meifte Schuld Herr Reimers aud Wien, ein Mann von fhöner Geftalt und Stimme, ftets treffliher Wohlrafiertheit: minder treffliher Ausfpradhe; er fpielte den Rarlmiteinerkinftlerifchen Mäfigung, die mit ihrem gut bürgerlichen Namen kuͤnſtleriſche Maͤßigkeit heißt. Albert Heine aus Muͤnchen fpielte den Franz, fpielte, lebte, geftaltete ihn... kurz⸗ ein um: ed gefchab, daf das Drama der Mäuber recht eigentlih zu einem Monolog ded wirklichen Mäuberd Franz; wurde. Ich müßte lügen, —_ ich are wollte, das dem

edeutenden Abbruch ge» F Mit nichten! Aus dieſem Franz loderte eine riefige Menſchlichkeit. Und dad Unmoralifhe verftand ſich von felbft!

Das allererfreulichfte Ereignis der Feftfpiele war die Aufflhrung von ‚Heroded und Mariamne‘ und der damit verbundene Erfolg —— Die Tragoͤdie vom Myſterium der

Gefchledhter war in herrlich großer "Linie der Darftellung entwidelt und in wundervollen, wenn auch meift gar zu fehr dem ‚Malerifchen‘ ſich näbhernden Formen der Szene aus» geprägt. Die Wirfung der Dichtung wer ganz unvergleichlic,. Paul Wiecke aus Dresden geftaltete die Tragädie ded heiß liebenden und begebrenden Tprannen und feiner ganzen unbes —— —— und —— den, ——— uͤber die welt⸗ fheue Sprache und Geſte, die der Mariamne vonnoͤten ſind. Trotzdem Franziska Ellmenreich aus Hamburg als Alexandra und lein Blan⸗ kenfeld von Mannheim als Salome nur ebenſo hinreichten wie handfeſte

5660

Krüge, aus denen man einmal edeln Kein trinkt, da die Friftallenen Römer feblen, gab ed doc einen darftelle- rifchen Einklang. Das fol dem In» tendanten unvergeflen bleiben, daß er diefe grandiofe zen zu einem folhen Sieg geflihrt. Die Aufführung des Weberfchen ‚Oberon‘ ift einer Beſprechung kaum würdig. Sie war, mit allen ſchoͤnen Dekorationen und feinen Orcheſter⸗ wirfungen, minderwertig. Trotzdem und alledem bedeuten diefe mann- —— flr Suͤddeutſchland Ereignis, für dad mannheimer Hof⸗ und Nationaltheater eine Tat und für die mannheimer Kunft eine Zufunftöverheißung.

Hermann Sinsheimer

Der mündner Hoftheater— prozeß

eine Premiere, Fein Gaftipiel iſt

jemald in Münden mit foldyer Spannung erwartet worden, wie die Verhandlung des Progeffes, den der Intendant ded muͤnchner Hof⸗ theater®, Freiherr von Speidel, der Generalmufifdireftor Felix Mottl und der Regiſſeur Albert Heine gegen den Bayriſchen Kurier‘ angeftrengt haben und über deffen Vorgefchichte ich am 11. April bier ausführlich berichtet habe. Zwei Tage hat die Verhandlung gedauert, über fünfzig Zeugen waren geladen, eine Unmenge Kuliffenftaub it aufgewirbelt worden und das Nefultat? Wie vorauszufehen war: ein rg der aber einer gruͤnd⸗ af ht der Beklagten ver»

der Chefredafteur des ‚Baprifchen an, mußte „in Anbetracht der zurlethaltenden Der ponierungen der.Hoftheatermitglieder” (derfelben, die vor dem Prozeß gra- vierended Material in zu befigen behauptet hatten!) befennen, daß die angeblichen intimen Beziehungen des

Sntendanten von Speidel zu der Schau⸗ ſpielerin Wimmer niemals eriſtiert haben; und er gab daraufhin die Er⸗ klaͤrung ab, daß Herr von Speidel als Kavalier, Beamter und Ehemann (!) makellos daftehe. Auch dem Regiffeur Deine (deffen etwas ffrupellofe Art, fich auszudrüden, nicht beitritten wer- den konnte) ſprach Siebertz fein Be- Dauern auß, daß er von ihm behauptet babe, er hätte Fräulein Wimmer nur, um dem Intendanten gefällig zu für ein Talent erklärt. Selbftverftänd- = trägt Siebert die Koften des Pro- zeſſes.

Inſpirator des, Bayriſchen Kuriers in Sachen Mottl war, woran in Muͤnchen von Anfang an niemand ge= zweifelt hatte, der fattfam befannte frübere Mufiffritifer und jeßige Theateragent Karl Scheld. Er mußte zugeben, daß er den ihm von allen Seiten und von den unzuverläffigften Leuten zugetragenen, völlig unfon« trollierbaren Klatſch ohne weiteres ge⸗

laubt und auf dieſer ſoliden Unter⸗ age ſeine Anklagen aufgebaut habe. Er habe ſich aber auf Grund der Ver⸗ handlung nunmehr uͤberzeugt, daß ſaͤmtliche in den Artikeln des, Bayriſchen Kurierd‘ über Mottl aufgeſtellten nach⸗ teiligen Behauptungen ungerechtfertigt und unbegründet ſeien. Er zweifie nicht mehr an der vollfommenen In⸗ tegrität Mottls, der (hier ift das tra⸗ giihe Moment diefed traurigen Pro- zefled zu fuchen), felbft überaus be= ſcheiden und bedürfnislos, dad Opfer feiner Frau, einer anfcheinend un⸗ verbefferlihen Gewohnheitsſchulden⸗ macherin und VBerfchwenderin, gewor⸗ den ſei. Ein Abhängigfeitöverbältnis Miottld von dem Theateragenten Frank⸗ konnte nicht bewieſen werden, ebenſowenig, daß Mottl bei dem En⸗ des Faß bender

e Hand im Spiele gehabt habe.

Was der Prozeß ſonſt noch an Klatſch und unvor ſichtigen Außerungen

verſchiedener Hoftheatermitglieder zu Tage gefördert bat, wird man nicht allzu tragifh nehmen. Dasjenige Theater (deutſch oder nicht deutſch, Hofe, Stadt» oder Privattheater), das fi) vollfommen rein und ohne Fehl fühlt, werfe den erften Stein auf das muͤnchner Hoftheater! Im Übrigen ift über diefe Affäre nun gerade genug getratfcht und gefchrieben worden, fo daß es wohl an der Zeit ift, über fie endlich zur Tagesordnung liberzugeben. Micht die Interna eines Theaters find für feine Beurteilung maßgebend fo follte man menigftend meinen fondern das, was es leiftet. Und die tatfählichen Reiftungen der münchner Hofbühne ſtehen, was auch von mifepe» teigen Nörgelfrigen fortwährend da- rüber gefafelt werden mag, doch noch immer auf einer recht beträchtlichen Höhe. An gewiffen unleugbaren Qua⸗ kitätöminderungen einzelner Auffuͤh⸗ rungen aber ift, was im Verlauf diefes Prozeſſes uͤberzeugend nachgewiefen worden iſt, hauptſaͤchlich der viel zu geringe Zuſchuß der Hofbuͤhnen ſchuld, der nur 400 000(nach andern 600 000) Mark beträgt und die Leitung recht fehr gegen ihren Willen zu einem fatalen, einer Hofblihne unwuͤrdigen Spar- foftem mit allen feinenunvermeidlichen Härten und Nüdfichtslofigfeiten zwingt. Rechtsanwalt von Pannwitz, der dieſes heifle Thema zur Sprache brachte, hatte Daher wohl nicht Unrecht, wenn er fagte: die letzte Inſtanz dieſes Prozeffed werde, gleichviel, wie die Verhandlung ende, der Landtag fein, der fuͤr das Hoftheater eine bis andert- halb Millionen bewilligen muͤſſe, wenn wir den Anſpruch erheben wollen, in einem Kunſtland zu leben.

Richard Braungart

Gotthilf Weisftein eimar. In kurzen Zwifchen«

räumen werfen Regenſchauer die fpigen Pfeile ihrer Schloſſen

561

ſchraͤg durch die trübe Luft gegen die grünen Baumbeden, die den alten Goetbeparf eingrenzen. Die Stadt, ein einziger froh⸗freundlicher Will» fommendgruß, wenn es der Lenz oder der Sommer oder ein milder Herbft gut mit ihr meint, ift beute nichts ald ein einfames, verftörtes, unwirt⸗ liches Meft dritter, vierter Ordnung. Und nur id, deffen Aufenthaltszeit fnapp bemeffen ift, bin auch durch Näffe und froftfalten Wind nicht zu befiegen, fuhe Stimmungen und Er« innerungen und freue mich eigentlich, daf fein fremder Schritt den Frieden diefer wie Kettenglieder ineinander- laufenden, fhmalen Wege ftört. Aber balt, da ift ja noch einer. Zuerſt feb ih einen Bauch, dann einen maffigen, fettfhweren Körper, der um die Ede biegt. Ein breiter, un- modifcher Zylinderhut läßt unter feiner Krempe graue Loden hervor. Die Augen liegen tief zwiſchen gewölbten, vollen Wangen: mit etwad matten, unflarem Ausdruf, den nur der Kneifer ein wenig hebt. Zwei dicke, borftige, eißgraue Bartftreifen hängen an der Oberlippe entlang dem Kinn entgegen; und das fchnaufende, keu⸗ chende Atemgeraͤuſch des Aſthmatikers dringt immer näber zu mir, ald der Mann, dad Bäuchlein unter dem lan⸗ gen, vorn geöffneten Winterrod vor⸗ geftredt, mit furzen, ſcharrenden Schrit⸗ ten beranfommt. Jetzt erfenne ich ihn ald Gotthilf Weidftein, den berliner Schriftfteler und eifrigen Durchfor- ſcher der berliner Theatergeſchichte. Mir plaudern um Atem zu ſchoͤpfen, bleibt er oft eine Fleine Weile fteben und ich freue mid; an dem reihen Schatz von Erfahrungen, Kenntniffen, Erleb- niffen, die diefed altgediente Mitglied der berliner Kunftwelt aufzutifchen weiß...

„Ja, wenn wir erzäblenwollten...“ fagt oft der gutmütige, alte berliner Verlagsbuchhaͤndler, wenn ic) ihn an-

562

gebe, die Fülle feines berliner No— tijenmateriald unter die Hut eines Buches zufammenzubringen und die Ehronif der Neihdhauptftadt um ein paar feffelnde Kapitel zu bereichern. So, von naben Beziehungen zu den ftärfften Perfönlichfeiten der berliner Theaterzeit, wie fie die fiebziger und achtziger Jahre faben, mwohlinftruiert, feinem umfangreihen Wiffendfonds ftet8 noch dur Studien aufbelfend, wo feine perfönlichen Wahrnehmungen nicht zureichten, war auch Gottbilf Weisſtein, der am 21. Mai geftorben ift. Er fonnte plaudern, wie e8 eben nur diefe Veteranen können, die einer mehr impulfiven, als refleftierenden Zeit entwachſen find: einer Zeit, die beitere Unterhaltung und fröbliches Lachen liebte, ohne viel nad dem äftbetifhen Wert des Motive, das dem Amüfement zugrunde lag, zu fragen. Und er fand an der behag⸗ lichen, oft derb zugeſchnittenen Plau- derei um fo mebr feine freude, als dad Schickſal ihm die Beweglichkeit feiner Zunge eben durch einen Fehler diefer Zunge erfchwert hatte. Weis⸗ ftein ftotterte. Aber dieſes Sprach⸗ manfo machte ihn nicht etwa

findlid. Er benußte es ſchließlich förmlich ald Requifit, um feine ftache- ligen, fpig geſchaͤrften Wiße in Szene zu feßen und ihnen jenen Erfolg vorzubereiten, den ibre Qualität faft ſtets verdiente. Nichts Föftlicher, als wenn fih fo ein Scherz in Be wegung ſetzte. Wenn die grauen Augen das Ziel des Witzes zundchft fpöttifch zu firieren, beinahe zu fißeln begannen. Wenn dann die ſchweren Kinnladen zum erften Wort anfeß- ten, zu dem fi) die Junge, wie prüfend, mit furzen, diden Lauten bereitö feit ein paar Gefunden ge⸗ rüftet hatte. Wenn endlich die Lip- pen dieſes Wort Übernahmen und ed polternd, mit kurzem, plumpem Geraͤuſch dem Gegenüber ind Geficht

warfen. Weisſtein gebrauchte übrigens diefe Hemmung feiner freude an der Konverfation auch ald Waffe der Perfi- flage gegen ſich felbft. Ich habe einmal gebört, wie er in der primitiven Re— daftiondftube der ‚Nationaleitung‘, in der er viele Fahre lang Karl Frenzeld treuer Kollege war, einem Ausfunft Heifchenden in feinem lifpelnden Ber- lineriſch ſagte: „D.. . die Auskunft w...mwilihShnenjernejeben, w... wenn ©e Zeit haben, au... auf meine 3:..3... Zunge zu warten.” Und auch die Antwort auf den Wunſch eines Beleidigten: „Sofort nehmen Sie dad Wort zurüd!!” ... „N...nee... ic binfrob, dagedr...r... raus is“ wird mit Beftimmtbeit Gotthilf Weiß⸗ ftein zugefchrieben. Dieſe ungelenfe und doch fo ſpitze Zunge fchnellte un« ermuͤdlich Pointen, am liebften gegen den linfen Fluͤgel der Literatur. Und fein Alter er ſah älter aus, ald er war, und man bielt ihn auch allgemein fuͤr älter ließ die jungen Leute bei der Vergeltung feiner Angriffe immer etwas zuruͤckhaltend fein, aud wenn diefe Offenfivefehr banebüchen wurde. Die legte feiner Schriften nad) den ‚Beiträgen zu Maler Müllers Reben und Schriften‘, nad der ‚Ge- fhichte ded Theaterzetteld‘ und den ‚Berliner Euriofa‘ (‚Don Carlos, der Snfanterift von Spanien‘ und ‚Des vergnügten Weinbändlerd Louis Druder humoriſtiſcher Nachlaß) war fein Buͤchlein, Meininger Erinne- rungen‘, das dem meininger Theater- berzog zum achtzigſten Geburtätag einen Neminidzenzenfranz flocht. Auch bier wird mit der unvermeidlichen Vor⸗ eingenommenbeit des, Alten‘ gegen die ‚Zungen‘ gutes biftorifche® Material aus derEntftehungszeit des Meininger- tumd zufammengetragen. Und man lernt manchen befannten Menfhen, Henrif Ibſen, Richard Voß und andre im Hausrock fo fennen, wie man fie fonft faum fennen lernen fonnte.

In Paul Findaus Haufe ift Gott- bilf Weisſtein vom Schlag getroffen worden. Und neben Lindau ſah ich ihn auch zum legten Male beieinemBanfet: des ‚Deutfhen Bühnenflubs‘, fo, wie ich ihn jet noch vor mir fehe, das Glas ſchwenkend, einen Wiß auf den feud)- ten Lippen. Gluͤcklich, wen fo die Lebendfreude bis zum legten Tage ge- leitet, wer fo, faft lächelnd, unvor- bereitet des Todes Hand driüden darf.

Arthur Kronau

Herr Willtam Wauer

m 22, Mai ftandd fogar im

Eofalanzeiger, daß ein gewiſſer Verein ‚Theaterreform‘ am 23, Mai im Saal der Seeflion eine Ber: fammlung und einen Vortrag babe. Und daß dazu Freunde, geldfräftige —— beißt das, ſolcher Reform- eſtrebung geladen ſeien. Der Zweck ſei: den beſondern Plaͤnen eines William Wauer zur Verwirklichung zu verhelfen, eine nicht mehr gan; unbefannte Wauerfche Theaterreform- fhaufpielfchule, davon das Schüler- material aus ‚Damen und Herren der Gefellichaft‘ beftebe, zu unter- ftügen. Ja, und es babe ſich audı fhon eine Vereinigung gebildet, die fir denfelbigen Herrn William Wauer ein Theater bauen wolle, na, und fo weiter... So ſtands zu lefen, teils im Rofalanzeiger, teild in der ge- drucdten Einladung, die glei mit Anbängfeln (‚bier abzutrennen‘) be- baftet war, darauf man (‚möglichit deutliche Handſchrift) feine Luft an einer derartigen Neformanftrebung in Zahlen (‚Beitrag vierzig Mark9 be- urfunden follte,

... Das weiß mandher, denn dad bat mancher gelefen. Die wenigften aber dürften wiffen, daß diefer ganze Abend nichts ald einegemiffenbafte, fait peinliche Wiederholung eined Abende aus den Tagen des leßten Herbſtes war. Einfach ein neuer Aufguß.

563

Und nun wird mid der beforgte Leſer fragen: Ob denn das damals im Herbſt nicht eingeſchlagen habe? Und auch, was denn waͤhrend der langen Zwiſchenzeit war?

Und da muß ich ſagen: Waͤhrend der langen Zwiſchenzeit war teils Schule, Theaterſchule, Wauerſche, darin die zitierten Damen und Herren aus der Geſellſchaft in Schauſpiel⸗ dingen unterrichtet wurden; teild auch vermochte die ebenfalld zitierte Ver⸗ einigung, die da Herrn Wauer ein Theater erbauen wollte, weder Grund⸗ ſtuck, nody Kapital aufzubringen * es ging alled wieder in die Brüche, Grundſtuͤck fowohl wie Kapital.

Bedauerlich! fagt ihr?

Und nun erfundigt ihr euch auch nod) teilnebmend, ob denn wenigftend in der Schule, in der Wauerfchen, während der Zeit fortgear⸗ beitet wurde, und ob die Herren und Damen aus der Geſellſchaft ſchon viele, viele troͤſtende Fortſchritte ge— macht hätten?

Hört mid: Der größte Teil der Schule beftebt gar nicht fo fehr aus Damen und Herren der Gefellichaft, fondern die Mitglieder find, wie Herr Mauer ſelbſt fie einmal bezeichnete, ‚exiftenzlo8 von vorn herein‘ und ‚von der Straße aufgelefen‘. Und, wie ich binzuzufügen wage, nur immer wieder mit Hoffnungen auf was weiß ich, wie viele Millionen von Marf ver- tröftet und dem Hunger ausgeliefert worden. Ein paar davon waren gar nicht fo exiſtenzlos, wie Herr Mauer meinte, fondern haben ihre Eriftenzen einfach aufgegeben, und das auf Anre⸗ gung von Herrn Wauer, der ihnen jeden Erfaß verfprac und die Koften ihrer Unterhaltung tragen wollte. Nur ein Beifpiel. Iſt da ein Ehepaar unter den Schülern, dem Herr Wauer vom 1. März diefed Jahres monatlich 200 Mark verfprah, und das bie

zum 12, Mai alleö in allem 65 Marf befommen hatte. Dabei gena® bie Frau vor etwa fünf Woher eines Kindes, in derartig elenden, erbärm- lichen Berbältniffen.

Zulegt verließen zwei Lehrer = ein Dramaturg und aud ein Schüler ‚das finfende Schiff‘, ne fie fagten ; die Lehrer und der Dramaturs, weil fie feine Gehälter befamen, dir Schüler, weil fie von den Immer- wieder Berfprechungen nicht fatt wur- den. Daß Lehrperfonal beſteht beute nur noch aus zwei Brüdern Wauer und einem Schriftfteller...... .

Daß ift, meine ich, alle zufamımen, ein etwas einzig daſtehendes Beiſpiel von Theatergründung. Viele, Eriften;» lofe‘, denen Herr Wauer eine Eriften; verfprohen bat, leben buchſtaͤblich von diefen Verfprehungen und be» jablen ihre Miete mit Garantie- Zetteln, außgeftellt von Herrn Wauer. Bas mag das unter folhen Umftänden flr ein ‚Einftlerifches‘ Theater werden?

Und in der vorigen Woche ift wieder ein Vortrag geftiegen, wie einft_im Herbſt. Ich war mit feinerlei Ein- ladung audgeftattet, hab mich auch um feine befümmert und will nur dad Mefultat jened erften Abends bier mitteilen.

Wie ſich damald nad) der großen Mede und nad) der an jeden au börer gerichteten Aufforderung, bei» tragleiftended Mitglied zu werden, feiner und feiner umd immer noch feiner melden wollte, da brach ein Herr ded Vereinsausſchuſſes in die denfwürdigen trüben und bangen, faft verzweifelten, jedenfalld aus der tiefe ften Tieffte feines ehrlichen Gemütd gebolten Worte aus: „Aber zwei Mitglieder müffen wir allerwenig« ftend befommen! Der Saal bier foftet uns ja allein fhon fünfzig Mark!!“

Heinrich Lautensack

Berantwortli für die Redaktion: Siegfried Jacobfohn, Berlin SW. 19 Berlag von ODeſterheld & E0.,BerlinW.15 Drud von Imberg & Leffon, BerlinW.9

rs ee due vu ut luyuvtuuus J * er) * ee

-_ -

* u « a F

—F

6. Juni 1907 N IL Jahrgang Yıummer 23

Friedrich Kayßler von Julius Bab

„Nein wie das feinfte Gold, fteif wie ein Felſenſtein, ganz lauter wie Kriftall fol dein Gemüte fein!“

Im Grunde lieben wir ja jeded Kunftwerf nur um des Künftlers willen: nur weil und ein Menfch offenbar wird, ein Spiegelglad, das zu befonderm Bilde die farbigen Dinge der Belt aufnimmt, ein Brennglas, dad mit befonderer Kraft die taufend Strahlen ded Lebens fammelt und fie in unfrer Bruft ein Feuer zuͤnden läßt. Im Grunde lieben wir in jedem Künftler nur einen befondern Menfchen. Aber ed gibt Kunftwerfe und Künftler, bei denen und dies ganz allgemeine Weſen des Kunftgenuffes befonders klar wird, bei denen das aͤſthetiſche Verhältnis unmittelbar zu einem menfchlichen zu werden fcheint, weil nichts Techniſches mehr unfer Auge felelt, weil alles Formaläftpetifche gleihfam aufgebrannt ift in der Glut des menfchlichen Willens. Wir fühlen dann, dag Kunft doc viel mehr ald ein Können, daß Kunft ein Sein ift. Die Künftler, die fo wirfen, find nicht immer die farben» reichften und weitgreifendften aber dann find es die lauterften und wahrften. „Nein wie das feinfte Gold, fteif wie ein Felfenftein.“ Unter den Schau- fpielfünftlern von Rang, die wir heute befigen, uͤbt diefe uͤber alles Künft- lerifhe hinaus menfchlihe Wirkung feiner fo fehr mie Friedrich Kayßler.

Der individuelle Neiz diefed Künftlerd fcheint mir zu einem guten Zeil aud feiner Raſſe zu begreifen oder vielmehr aus dem ganz feltenen Zu— fammentreffen der Inſtinkte diefer Raſſe mit den Antrieben der Menfchen- darftellungsfunft in einer Bruft. Der Schaufpieler Friedrich Kayßler ift ein Deutfher und nicht nur der Spradhe und dufern Bildung nah. Das aber ift etwas viel Merfwürdigeres, ald oberflächlihe Betrachtung annimmt. Man ftreihe aus der Zahl unfrer belangvollen Menfchendarfteller einmal alle, in denen unverfennbar jüdifches, romanifches oder ſlaviſches Blut wirffam ift, und man wird überrafcht fein, wie ganz wenige uͤbrig bleiben. Und das ift fein Zufall. Was man von den Angelſachſen noch unlängft gefagt bat,

565

dad trifft auf die Germanen überhaupt zu: in ihrer tiefften Natur wehrt fi) etwas gegen dad Theaterſpiel. Es ift dad Wefen des Deutichen, mit barter, ftolger Scheu fein Ich zu bewahren und zu bergen. Jeder Geflihls- ausdruck ift ihm eine Kataftrophe, ein Dammbruch bei hoͤchſtem Stromgang, ein Ferreißen der natürlihen foröden Hülle. Das Wefen der Schaufpiel- funft aber ift, fein Ich leichtbin uͤberſtroͤmen zu laffen in immer neue Formen, Schamfreie Offenheit des Gefuͤhlsausdrucks ift ihr Lebenselement. Die Seele gleich einem Flüffigen auszugießen, umzugießen, ift ihre Selbftverftändlichfeit. Es kann nicht ‚leicht gefchehen und geſchieht felten genug, daß ſich ſoviel Scheu mit foviel Wageluft, ſoviel Keufhheit mit ſoviel Spielerleichtfinn, ſoviel Stolz mit ſoviel Sorglofigfeit in eined Menſchen Seele begegnet. Im Zufammenbraufen diefer feindlichen Elemente aber entftebt ein Klang, wie ihn und nur die charafteriftifchiten Werke germanifher Kunft mwieder- tönen: ein Duͤrerſches Blatt ein Beethovenfches Scherzo eine Hebbelfche Liebesſſene. Denn jede Kunſt ift ja ſolch ſchamloſes Sprengen der feelifchen Hülle und ift deshalb dem deutfchen Menfchen nur bei einer Tiefe und Stärfe der Feidenfchaft möglich, deren unvergleichliche Echtheit und Reinheit wir mit der Größe ded uͤberwundenen Widerftands an innerer Scham zu- glei, fühlen müffen. In diefer nachzitternden Gegenfäglidfeit von Menfchen- tum und Kunftgebot liegt die herbe Schönheit deutfcher Kunſt. Schaufpiel- funft aber ift bier, wie überall, der Fraffefte, brutalfte, weil primitivſte Fall der Kunſt. Deshalb find deutfhe Schaufpieler noch viel feltener als echt deutfhe echte Künftler überhaupt. Dies feiertäglih Seltene aber ift Er« fheinung geworden in der Kunft Friedrih Kayßlers.

. Die Schranfen diefer Kunft anzudenten, iſt nicht ſchwer. Die ſproͤde, fcheue Natur ded Deutfchen bat in diefem Schaufpieler nicht bedingungslos fapituliert: fie geftattet ihm gleihfam, nur ihr zur Ehre zur fpielen aber fie verwehrt, die fraftvolle Kunft dieſes Körpers zur Darftellung jeder fremden, vielleicht maßlofen Natur zu brauchen. Kayßler verfennt dad Unvergleich- lihe und Schöne feine® Talent? ganz, wenn er, wie Schaufpieler von elementarer, fulturlofer Art, nad) allen Seiten greifen zu koͤnnen, jede menſch⸗ lich ftarfe Geftalt mit feinem Blut erfüllen zu koͤnnen glaubt. Die uͤppig ftrömende Blutüberfille des Halbflawen Matkowsky, vielleicht auch die wild um fich greifende Spielerfreude des Stalienerd Moifft mag faſt unterſchiedslos nach jeder Geftalt langen. Ihnen ift eine jede gleich fern und gleih nah. In ihnen lebt der alte wilde Hiftrionengeift. Ihre Lebenskraft hat Feine Schranfen und deshalb feinen Charakter. Sie ift die rudes indigestaque moles, die zifchend und braufend in jedes vom Dichter gegrabene Bette ein» fhießt. Wenn Schaufpieler folhen Schlags Shylock beffer ald Romeo, Goͤtz beffer ald Oswald Alving fpielen, fo ift das faſt nur Zufall, mehr phyſiſch ala pſychiſch bedingt, denn ihr phantaftifcher Lebenswille ift jeder Form gleicy bereit. Dies ift der Schaufpieler alten Schlags, der alles fpielen fonnte, weil er nur ‚ein ungebeured Chaos von Menfchlichfeiten‘, weil er ald fuzial-fulturelle Perfönlichfeit nicht und de&halb alles war. Aber ich

566

glaube, dieſer Schaufpieler will audfterben oder zum mindeften tritt ihm ein ganz andrer Schlag immer häufiger entgegen: Kulturmenſchen, reife, ſcharfumriſſene Perſoͤnlichkeiten, die nicht mehr einen uͤberfluß an Lebens⸗ kraft in irgendwelcher Form aͤußern wollen, die ihrem Weltgefühl, ihrer einmaligen Lebensart bewußt oder unbewußt mit diefer Kunft einen Ausdruck fuchen. Für fie ift das Theater nicht das einzige Formwerden ihrer Kräfte für fie ift ed etwas mie eine barmonifierende Erlöfung von der ſchon zu hart und ſcharf drängenden Form ihres perfönlichen Lebens. Für jene grenzenlos Freien ift das Menfchenfpielen willfommene Begrenzung für diefe herb Eharafterifierten eine wohltätige Befreiung. Aber fie ent- laufen in feine unbedingte Freiheit: ihr Menihentum gebt mit auf Die Bretter, hält ihren geftaltungsfroben Leib in Bann und löft diefen Bann nur, wenn Dichtergeftalten verwandten Bluts berantreten, Dann aber gibt Die ganz perfänliche Liebe, die zwifchen Darfteller und Geftalt ſchwebt, dem Kunftwerf einen Ton von unvergleihliher berbfüger Innigkeit.

Bon diefer zweiten Art ift Friedrich Kayßler ganz und gar, Er fann ſich deshalb durchaus nicht in jede ihm phyſiſch moͤgliche Geſtalt verwandeln. Es gibt Dinge, die wir ihm durchaus nicht glauben. Überall, wo Leiden⸗ fchaften balt- und maßlos in Menfchenfeelen dabinftürmen follen, ift es, als ob fi in Kayßlers Kunft nur die Oberfläche bewegte, ald ob mit un« gläubigem Staunen ganz fern wo im Hintergrund feine eigentliche Seele ftlınde und Fopffchüttelnd den wilden Spuf von ſich wiefe. Dft, wenn ein letzter Schrei, ein jeden Stolz vergeffendes Überftrömen der Seele gefordert ift, fcheint es, ald ob eine jähe Scham plöglic diefen Schaufpieler lähme: fein Ausdruck verfiegt plöglih; fein Körper ſchweigt; er weigert fich, die legten Gebeimniffe des Leidens und der Luft zu beſchwatzen. Es ift, als ob in folhen Augenbliden (ih babe fie bei Shafefpeare, aber auch bei Hofmannsthal erlebt) der deutfche Menſch in Kayßler fiegt. Aber der all- öffentliche Genius der Schaufpielfunft wendet ſich beleidigt von diefer Scheu des Einzelmenfhen ab. Und es kann fogar gefchehen, wenn diefer Schau- fpieler mit feinem Verſtand und feinem technifhen Können eine ibm ganz wefendfremde Individualität meiftern zu koͤnnen meint (wie die patbologifch baltlofe Genialität Ejlert Loevborgs), daß dann diefer innerliche und echte Bühnenfünftler theatralifh, hohl und äußerlich erfcheint. Was er doch in Wahrheit niemals ift. Aber feine Natur wagt fi) mit dem Ausdrud ihrer Wahrheit nur hervor, wenn ihr ded Dichters Wort jenen Reſt von ftolzer Scham, won bändigender Selbftzucht läßt, der für fie Lebensluſt bedeutet. Dann erft entiteht feine einzig ſchoͤne Kunſt.

Es ift leicht zu fagen, wo Kayßlers Kraft fih entfalten kann: überall, wo Dichter germanifhe Menfchen, ſtolz und bart aufgeredte Zünglings- männer geftaltet haben fleif wie ein Felfenftein Männer mit einer Kinderfeele ganz lauter wie Kriftall Menfhen, aus deren Scham jeder verratende Ausdruck hervorbricht mit jener erfchütternden Echtheit, der das Stigma einer blutigen Notwendigfeit aufgedrüct ift rein wie das feinfte

567

Gold. Bon Shafefpeare bis Ibſen haben alle großen Dichter zumeilen folche Menschen gefchaffen. Einige deutfche Dichter aber haben uͤberhaupt nie andre Geftalten gefchaffen, weil fie, unferm Schaufpieler bier völlig gleich, unbewußt jede Geftalt mit ihrer innerften Sprache nährten. Einer Sprache, die mehr verbirgt, ald verrät, faft mehr zuruͤckhaͤlt, ald gibt, und nur im furdtbarften Krampf ded Lebens, ſich gleichſam noch zwifchen den Zähnen wehrend, das Innerfte verrät. Mir fcheint: das, wad man vor allem an Hebbel bizarr, gewaltfam und hart gefunden bat, hängt unmittelbar zufammen mit diefer hoͤchſtgeſpannten Selbftbewahrung ded Germanen, die nur in Zuckungen ein Gefühl von fi läßt. Und gerade Hebbel findet deshalb beim Schaufpieler, diefem begierigen Sichausſprecher, faft nie die gleichfühlende Bruft. Bei Kayßler findet er fie. Sein Karl in ‚Maria Magdalena‘ und fein Gyges (denn andre Hebbelrollen wurden ihm leider noch nie geboten) find, wenn ih von ein paar berrlihen Epifotengeftalten Albert Heines abfehe, die ein⸗ jigen wirklich Hebbelfhen Menfchen, die mir je auf der Bühne erfchienen Diefer Schaufpieler müßte auch die Bauern aus dem ſchweren Blut Anzen- gruberd wundervoll faffen, wie er flr Immermann, Otto Ludwig und Grabbe der allerbefte Schaufpieler wäre. Und es verfteht ſich von felbft, daß er den in bitterer Menſchenſcheu verwilderten Arnold Kramer und Wilhelm Schol;, den Sproß einer pathologifch fcheuen, bis zur Wut verfchloffenen Familie, ebenfo unvergeßlich und vollendet fpielte, wie den vor Angft faft blöden Schiffer» jungen in Heijermans ‚Hoffnung‘. Es ift leicht zu zeigen, was Kayßlers Kunft geftalten kann. Wie fie es tut, dad zu fehildern iſt das Schwere.

Der hohe Körper diefes Schaufpielers ift fehnig und hart. Seine Stimme, obfhon nicht ohne melodifhe Schallfraft, ift raub, faft beifer. Um feine Brauen kegt ein gefalteter Zug von bitterm Ernft. AU died aber mifcht feinem Spiel ein ſcharfes Salz reifer, feſter Mannheit ein, fo daß feine Kunft nie weichlich, nie fentimental, nein, nur berber, nur tief ſchoͤner wirkt, wenn von diefem Körper Gebärden ausgehen, taftend, bittend, wie unwiffender Kinder Hände, wenn diefe Stimme zittert in einer Enabenbaft eilenten Scheu, die das kaum gefprochene Wort angftooll zurüchzubafchen fcheint, wenn lıber diefe finftern Züge ein Lächeln geht. Im ‚SFriedendfeft‘ gab es einen Augen- blick, wo Kayßler mt einem ganz leifen Vorſtrecken der Hand, eier kaum merflihen Wendung des Kopf und einer faum hoͤrbaren Vibration des männlich vollen Tons ‚Bruder‘ fagte. In diefem Augenblid ging ein Lächeln um feinen Mund. Died Lächeln werde ich nie vergeflen, und es wird Stunden geben, wo ich ed wiederfehen und mir aus ihm den Glauben an dad Gute ftärfen werde. Denn died war ein Kinderlächeln; aus einer un« befleckten Seele flieg es auf, umſpielte eined wiflenden Manns hartes Geſicht und floß biniber zum Bruder, zu und allen mit einer Botfchaft der Erlöfung: die Erlöfung von allem Kampf und Haß durch die felbft- verftändliche Güte einer unzerftörbar reinen Seele. In diefem flillen Männer- lächeln mar eine Erlöfung jenfeit? jeder myſtiſchen Brunſt. Etwas ganz Irdiſches, wahres Heiliges.

568

In folhen Kugenbliden fühlte man, wieviel wichtiger ed doc aud in der Kunft ift, ein fchöner Menſch zu fein, ald vielerlei zu koͤnnen. Und man fühlte: Wenn doc fhon bei Künftlern rangiert werden foll, daß es dann unmöglich angeht, den Schöpfer vieler folher Augenblicke einen Kuͤnſtler zweiten Ranges zu nennen. Wer für die tiefe, fchlichte Schönheit ſolcher flüchtigen Seelenentfchleierung nicht blind geboren ift, wird das ganz Un- vergleichlihe, Einmalige an dieſer Kunft empfinden. Zweiten Ranges fcheint mir nur Kunft zu fein, die fchon einmal Gebotened abgeſchwaͤcht wiederholt. Wer aber Augenblicke diefer Art ganz allein fein eigen nennt, der gehört zu den ganz Eigenen, zu den Erften, auch wenn feine Kunft an Umfang und Mannigfaltigfeit vielleiht hinter der manches andern Tem⸗ peramentd zuruͤckſteht. Micht ‚Wieviel! ‚Wie eigen?‘ verleiht Künftler- rang. Friedrich Kayßler ift und beute ein ganz unentbehrliher Menſchen⸗ darfteller. Denn es find die Menfchen, die wir am meiften lieben, die er, und faft er allein, heute nachzuleben weiß.

Friedrih Kayßler ift aud ein Dichter. Nicht immer mit foviel Recht und Glüd, wie ein Schaufpieler. Denn bier gibt ed Vorbildner, die Dinge, wie fie feine Seele erfüllen, fhon ähnlich geboten haben, und die ihn num fortreißen in ihre Formen und fo den Ausdrud feines Eigenften unterbinden. Aber nur die Geftaltung ded Eigenften ergibt Kunſt. Alles geflihrte und an blos aͤhnliches gelehnte Dichten bleibt Dilettantiömus. Zuweilen ift Kayßlers Poefie nicht mehr obſchon aud dann vom reinften, ebrlichften, bluthaltigften Dilettantismus. Aber fie ift doch auch zuweilen mehr. Sein tragifhed Märchen ‚Simplicius‘ (Berlin, 1905, Bruno affirer) ift als dramatifche Kompofition weder ſymboliſch gefchloffen noch ganz felbitändig erfunden, aber in fzenifhen Bildern und fpradylihen Wendungen reich an reiner und eigener lyriſcher Schönheit. Sein neues Buch ‚Der Pan im Salon‘ (Berlin, 1907, Defterheld & Co.) ift in den Versſzenen wohl nicht mehr ald eine liebenswirdige Spielerei. Die Profafzene und die Mehrzahl der Gedichte find es, an die ich vorhin dachte: fie erfcheinen bei allem innern Ernft, bei aller feelifhen Schönheit, die fie offenbaren, doch dilettantiſch, nicht mit allereigenften Worten geprägt. Aber in mander Verszeile und vor allem in den Stüden erzäblender Profa greift doch ein eigenes fprad- Fünftlerifche® Talent durch. Vor allem die Märchen find ed, deren reiner, ſchlichter Kinderton dem großen Meifter Anderfen nicht nachgemacht, fondern gleich erlebt ift; die mit ganz einfachen Worten eine große, ſtill lächelnde, ernft wiffende Liebe zum Leben malen; ein Reben ift gemeint, dad an Buſch und Wald, Stein und Tier inniger hängt, ald an Kirche und Staat und Geſellſchaft. Pan im Salon. Eine uralte Wälderzeit ſchlaͤgt in diefem jungen Germanen zuweilen die Augen auf, Sie wehrt fich nicht berferfer- baft wild wider die Zwänge der Rultur, fie hat das nicht not. Mit einem balb bittern, halb heitern Lächeln ftreift fie alle Ketten ab und gebt hinaus in ihren lieben Wald. Simplicius. Mitten unter und gebt diefed Kuͤnſtlers

‘569

Seele wohl immer durch Wälder und bleibt fo wunderbar rein in unſrer fhmusigen Welt. Ihren Gott, der nicht in Kirchen, aber bei Blättern umd Tieren wohnt, atmet fie mit jedem Zuge ein und entatmet deshalb eine Kraft, die unfre Straßen nicht kennen. 5

„Ich bin ein Mann. Ihr nennt euch Männer nur

weil ihr ein Schwert an eurer Geite habt,

die Bruft gepanzert und wohl auch dahinter

vielleiht ein Herz. Mir ift ein Mann doc mehr.

Wer feinen Kindertraum fid) rein bewahrt

in einer nadten, unbewebrten Bruft

und wider das Gelächter einer Welt,

wie er ald Kind geträumt, zu leben wagt

bis auf den leßten Tag: Der ift ein Mann.”

So bat Kayfler im ‚Simpliciuß‘ felber dad Urbild oder Vorbild feiner Seele geſchildert. Es ift fein andres Bild, ald der meife Angelus gemalt bat in den Berfen:

„Rein wie das feinfte Gold, fteif wie ein Felſenſtein, ganz lauter wie Kriftall fol dein Gemüte fein.”

DieStadt am Strande/ von Felix Paul Greve Im Ton eines großen Franzoſen und ihm zu Ehren

m Strande die Stadt gleicht heut einer großen Kaſerne:

Mit den Daͤchern aus Schiefer, den ſtarrenden Backſteinmauern, Den grellen Straßen mit je nur einer Laterne Den Kaſten gleicht ſie, darin die Soldaten trauern.

Nur find die Fenſter mit gruͤnen Läden verſchloſſen, Die Türen verrammelt, erftorben der Menfchen Laute. Es bat der Weſtwind die Dächer fplılend begoffen Eine Kate einzig, die ſich zu bleiben traute.

Sie wohnt in der Häufer einem tief unten im Keller,

Wo Gerhmpel ſich tuͤrmt mit Fäffern und uͤbrigen Ziegeln: Dort ängftet fie feines Hundes verhallender Beller,

Dort fann fie in Ruhe ihre ftreihendes Daſein beiptegeln.

Sch aber wohne im gleihen Haus unterm Dache

Und böre der Winde Pfeifen vom Abend zum Morgen Und der Kate unheimliches Schreien, fo oft id erwache Uns eint ein Gedanfe: wir fühlen uns beide geborgen... ..

570

Die Witwe von Ephefus/ von Julius Berftl

Groteske in einem Aufzug Perfonen: Die Witwe Der Wächter

Ein Grabgewölbe vor den Toren der Stadt Ephefus. Ein dunkler, unfreundliher Raum, der von dem fpärlihen Schein einer Fackel, die an der linfen Wand befeftigt ift, nur fchlecht beleuchtet wird. Rechts ift der Ausgang ind Freie. Im Hintergrund, ganz im Dunfel, führt eine fchmale, niedrige Tür in die eigentlihen Grabfammern. Es ift Nadıt.

Born links, im Kreife der Fackel, fauert die Witwe, ein noch junges, kraͤftiges, nicht haͤßliches Weib. Sie ift in Trauerfleider gehuͤllt, ihr Haar ift gelodert. Sie fauert auf einer dünnen, zerzauften Spreu, weint und ſchluchzt beftändig und erhebt ihre Blicke nit vom Boden. Wenn der Vorhang aufgeht, ift ed flr einen Augenblick ftil auf der Bühne. Nur das Weib ſchluchzt vor ſich hin. Dann erfcheint am Ausgang die Geftalt des Wächter, vorfichtig, zögernd, ſich vorwärts tappend.

Der Wächter (bleibt ftehen und hordt): He! Iſt bier jemand?

Die Witwe (antwortet nicht und blickt auch nicht vom Boden auf, Sie weint ununterbrochen)

Der Wächter (tritt näher, nimmt die Fadel, leuchtet ihr ind Antlig): Verzeih, wenn ich eindrang und Di aus Deiner Trauer auffcheuchte!

Die Witwe (fchluchzt weiter)

Der Wächter (wie entfchuldigend): Es ift eine fehneidende Kälte heut Naht. Merftatte, daß ich mich ein Weilhen nur an dem euer Deiner Fadel wärme!

Die Witwe (ohne aufzubliden, entrüftet);: Warum ftörft Du mich? Sieht Du nit, daß ich verzweifeln will? Ich haſſe jeden Laut aus Menfhenmund. Zeder Schritt in meiner Nähe ift wie ein Stich durch meine Seele. Laß mid) allein in meinem Schmerz!

Der Wächter Ceingeſchuͤchtert. Er tritt ein paar Schritte zuruͤck, fo daß er ihr im Ruͤcken ſteht): Es fror mic fo arg. Der Wind fegt wie mit Meflern. Da fühlt man die Einfamfeit der Finfternis umfomehr Aber ic will Di nicht erzurnen. Ach gebe fchon wieder. Beruhige Dich! (Er wendet fi)

Die Witwe (vor fi binfeifend): Du Tor! Was treibt Dich auch in diefe Nacht hinaus? Bift Du ein Dieb, der auf verbotenen Wegen fchleicht? Ih bin arm. Bei mir findeft Du nichts. Ich trage nur diefe grauen Zrauerfleider. Mein Leben aber ift leer und öde und wertlos.

Der Wächter: Kein Dieb! Sehe ich aus wie ein unehrliher Mann? Meine Bekannten fagen mir nach, ich fei treu und aufrichtig und gutmältig.

Die Witwe (mürrifh): Was gehtd mic an! I

Der Wächter Cbefhmwichtigend): Ich will Dir nur damit beweifen, daß ich lieber unter Dad) und Fach fäße und mich in wollene Deden einmummeln fönnte. Aber mein Beruf

571

Die Witwe (höhnifh): Ein fonderbarer Beruf, der ed Dir zur Pflicht macht, in tiefer Nacht die Grabgewölbe aufzufuchen und trauernde Witwen in ihrem Jammer zu ftören!

Der Wächter: Und doc ein ebrliher Beruf! Einft war ih Garkoch, und man lobte meine Speifen. Und dennoch konnte ich felbft dabei ver- bungern. Da fah ich mich nach einem andern Unterfommen um und wart, weil fichd eben bot aber wife, ed gebt mir doch wider mein Herz und ward Wächter am Galgenplat!

Die Witwe (auffchreiend): Schweig mir vom Galgen!

Der Wädter (harmlos): Du fennft den Galgen?

Die Witwe (jammernd): Ob ich ihn fenne? Und das fragft Du no fo ruhig! Ob ich ihn fenne? Der verwuͤnſchte Galgen! Der ver- maledeite Galgen!

Der Wächter: Nicht wahr, der vermaledeite Galgen! Das fage ih auch. Er ftebt ſchwarz und finfter im Dunfel der Naht. Der Mond bat fi) hinter Wolfen verfrochen, ald fürchte er ſich. Der Wind ftöhnt un⸗ beimlih. Der Tote, den fie heute benften, baumelt fo fleif im Wind und ſtoͤßt fo eintönig gegen den Balken. Es ift fo feltfam in diefer Nacht. Und Du mwunderft Di nody, wenn ich bereingefrochen fam zu Dir?

Die Witwe (bitter): Ob, Du verftehft ed wahrlih, mein Mitleid zu erweden! Als ob der Galgen mic, fröhlicher ftimmen koͤnnte! Wiſſe, der Galgen ift mein Unglüd!

Der Wächter cbeftärzt): Konnte ich denn ahnen? Verjeih!

Die Witwe (unwirſch): Siehft Du denn nicht, daß ich den Tod meines Gatten betrauere? Er war Zimmermann. Der befte in der Stadt (heftig) oder willft Du es bezweifeln? Er hatte diefen neuen, fchönen Galgen zu bauen, der unweit der Grabgewölbe errichtet ward, und der eine Zierde für die Stadt bedeutet (wieder heftig) oder willft Du gar be- baupten, daß er feine Zierde ift?

Der Waͤchter (Eleinlaut): Ich fagte nichts!

Die Witwe (in der Erinnerung fehwelgend): Ob, er ging mit folcher Luft an feine Arbeit. Er lachte, ald er mich verließ, und fpradh: Heute wird er fertig, und morgen fünnen fie fchon den erften daran baumeln! Wußte er denn, daß er felbit zuerft den Tod durd ihn finden würde?

Der Wächter (beftürzt): Dein Gatte ward gehentt?

Die Witwe (entrüftet): Schamlofer! Mein Gatte war ein ehrlicher Mann! Dod als fie den legten Balken in die Höhe feilten, loͤſte fich die Schlinge der Balfen ftürzte und mein Wann wehe wehe (Sie bricht ſchluchjend zufammen)

Der Wächter: Ward getroffen?

Die Witwe: Auf die Bruft!

Der Wächter: Und flarb daran?

Die Witwe (jammernd): Ob, er war fo fchön, fo gut, fo treu! Kraͤftig an Geftalt, hochgewachſen, mit leichtem Gang, wenn er auch den linken Fuß

572

wenig nadhfchleifte ein huͤbſcher Mann, um den mid alle Weiber tu Gaſſe beneideten. So huͤbſch, ſo (Sie blickt zum erften Mal auf, bt fich nach dem Wächter um, ftarrt ihn an und ſtreckt die Hände vor, e abwehrend) Ganz fo wie Du!! So ebenmäßig gebaut, in gleicher öße wie Du, dasfelbe Haar wie Du, der Schnitt des Geſichts, die Fräftige eftalt Oh, Götter, helft mir! Welchen Trug täufchen mir meine ıgen vor? (Haftig) Zeig ſchnell, ob auch Du den linfen Fuß ein wenig chſchleifſt!

Der Waͤchter (erdutzt, taſtet ſich aͤngſtlich nach Wade und Fuß): deiner Treu ich daͤchte doch ich glaubte doch ganz beſtimmt, mein ang iſt gleichmaͤßig. Ich hinke nicht!

Die Witwe (fchlägt die Hände zuſammen, begeiftert): Ihr Götter! arin bift Du dem Verftorbenen alfo no über! (Ein wenig freund« her, entgegenfommender) Aber warum ftebft Du noch immer? Gebe Yich, ich bitte Dih darum! Dod dort in den Schatten, nicht bier in en Schein der Fadel! (Wieder betrübt) Du erinnerft mich zu fehr an den 3erftorbenen.

Der Wächter (fauert fi auf der entgegengefeßten Seite der Bühne ieder): Ich danfe Dir! Wie bit Du gütig! (Kleine Paufe, während e verlegen um ſich blidt. Dann) Du haft Deinen Gatten wohl fehr geliebt?

Die Witwe (auffabrend): Das fragft Du noh? Vor einem halben fahr erft hatte er mich ald fein Weib heimgeführt. Wir ſchwelgten im Süd. Und nun mit einem Mal ift alled vorüber!

Der Wächter (tröftend): Du mußt Dich doch mit dem Gedanfen ver- raut machen, daß er nun tot ift, daß Du allein daftehft, daß Dein Weinen ınd Klagen Dir nicht zu helfen vermag!

Die Witwe (aufbraufend): Schweig! Schweig! Ich gewöhne mid) an zichts. Ich weiß, daß ich feinen Tod nicht überleben werde. Die Sehn- sucht nach ibm ift zu groß. Ich werde fhmwermütig, trübfinnig

Der Wähter: Ich verftebe ja Deinen Schmerz, aber

Die Witwe: Wie fannft Da Did in meinen Jammer bineinverfeßen ? Du lebft in Deinem Gluͤck. Du fennft nicht die Schattenfeiten des Lebens, wie ich felbft fie vor ein paar Tagen noch nicht gefannt habe! Wir waren ja fo glüdlih! Ich erhoffte noch foviel von meinem Gatten. Er war unermüdlich in feiner Liebe. Ich mußte, daß ich bei ihm wohlgeborgen war! Und nun ftehe ich ganz allein da. Ob, diefe Einfamfeit! Cie ift von Schatten erfüllt, die mid; ängftigen und quälen. Ich hatte von je Furcht vor der Dunkelheit. Sie machte mid unfiher und ſcheu wie ein Kind. Aber an der Seite meined Gatten fand ich ja immer Schuß und Troſt. Und nun? Wie fteht ed nun dagegen? Ich bin allein. Die Furcht ift noch gefteigert. In allen Winfeln ſcheint es zu rafcheln, fi zu ftreden, zu heben, zu fchlürfen. Ich ſchauere, ich Frimme mich zufammen, ich möchte in die Erde finfen vor Angft und Herzklopfen. Denn bier ift niemand, der den Arm um mich legt, der fich eng am mic; fchmiegt, der

573

liebe Worte zu mir flüftert, der mit mir feherzt, mich aufheitert und mich alle Furcht vergeffen läßt! (Sie flarrt verzuͤckt mit ausgeſtreckten Armen vor fi bin)

Der Wächter (verlegen lähelnd, mit unbebolfenem Mitleid): Bift Du darım beflimmert? Vielleicht verfchafft e8 Dir einigen Troft, zu hören, dag auc ich die Nacht nicht liebe. Fumal, wenn man einfam am Galgen Wade fteben muß wie ih. Wenn das Dunfel feltfame Geifter gebiert. Dazu der eintönige Wind und Dein Weinen aus der Ferne, dad mid anlockte!

Die Witwe (mit einem gewiſſen Selbitbewußtfein): Wie fannft Du Dich mit mir vergleihen? Deine Wachenszeit währt nicht ewig, Wenn die Runde fommt, wirft Du abgelöf. Dann fannft Du nad) Haufe eilen, Dein Weib in die Arme ſchließen und das Glüͤck der Liebe geniegen wie ih einft!

Der Wächter (verlegen und unruhig): Ganz ſchoͤn! Ganz gut! Du malft mir prächtige Bilder! Wenn ih Dir aber fage

Die Witwe (aufbraufend): Willft Du etwa bebaupten, daß Du nicht der gluͤcklichſte Menſch auf Erden bit? Denn wer die Liebe befist

Der Wächter (ufammengedudt): Ich widerfprehe Dir ja nicht. Wenn ih Dir aber fage

Die Witwe (aufs höchfte entrüftet): Undankbarer! Verlangft Du vom Schickſal noch mehr? Gibt ed noch eine feligere Seligkeit ald die Liebe?

Der Wächter (der fich vergeblich zu fprechen bemüht bat, flüftert num ganz unterwäürfig, befcheiden): Verſtehe mich doch nur recht! Und laß mich nur zu Worte fommen! Wohl wäre ich der glüdlichfte Menſch von der Welt, wohl wollte ich mit niemand taufhen, wenn (berausplagend) wenn ich nur erft ein boldes Weib mein eigen nennen fönnte!

Die Witwe (fchnellt in die Höhe, ganz gefpannt und flarr): Du bit —?

Der Wächter (der jebt zu den Füßen Fauert, mit fbereinander gefreuzten Beinen, bleibt ruhig figen, lächelt nur verlegen zu ihr hinauf): Noch bin ich unbeweibt!

Die Witwe (erplofiv, heftig): So ftattlih! So wohl gebaut! So ohne jeden Fehler! Selbſt der linfe Fuß fchleift nicht einmal ein wenig nach! Und dennoch bift Du ledig? Das ift daß heißt (Sie fhittelt ganz ratlos den Kopf und ftarrt ihn fprachlos an, dann geht mit einem Mal ein heftiger Ruck durch ihre Glieder, ihre Bewegungen werden wieder lebhaft, ja baftig. Ihr Antlit hellt ſich auf, fie ſtreckt dem Wächter impulfiv die Band entgegen) Sa, aber warum fauerft Du denn noch dort drüben im Dunkel? Du baft doch ein anmutiged Gefiht, das den bellen Schein der Fadel nicht zu fcheuen braucht! Sete Di) doch hier an meine Seite und vericheuche mir die Furcht mit Deiner Anweſenheit (faft mit Zärtlichkeit), wie es ſonſt mein Gatte tat!

Der Wächter (deſſen Ichmerfällige Natur dem rafchen Umſchwung in dem Weſen der Wirwe nicht ſoſort zu folgen vermag): Du fagft Du meint doch Deine Trauer, Weib?

574

Die Witwe (unangenehm berührt): Frag nicht und fege Dich! Hier —!

Der Wächter (rückt etwas näher zu ihr heran, dabei behält er fie aber immer im Auge, ald fürchte er, in ihren Zügen Unwillen zu lefen, wenn er ihr zu nabe fommen follte)

Die Witwe: Nicht dort! Mäber! Naͤher!

Der Waͤchter (verdußt): Sagteft Du nicht vorhin erft, daß Dich meine Anmefenbeit beleidigt?

Die Witwe (leicht darlıber hinweggehend): Sagte ih? Vorhin? Jetzt aber fag ih Dir

Der Wächter: Und daß jegliches Angeſicht Dich in Deinem tiefen Schmerz nur noch mehr erfchlittere?

Die Witwe (nerod8): Gewiß! Gewiß! Ich fagte das alles wohl vorhin (wichtig tuend) doch bedenfe: Wieviel Zeit ift fchon feitdem ver- fteichen! :

Der Wächter (noch verdußter): Ja dann! (Lberlegend, zögernd, endlich verfehmigt und pfiffig lächelnd) Wie Du ed wuͤnſcheſt! Mit einer gewiſſen Schnelligfeit läßt er fi num neben ihr nieder)

Die Witwe (fih zu ihm binneigend): Doch fage mir nun ſchnell, wie ed fam, dag Du bislang noch einfam bift! Am Ende haffeft Du die Weiber?

Der Wächter (lähelnd, gutmuͤtig): Ich fie haſſen? Mein! (Unficher) Ich möchte ſchon doch

Die Witwe: So muß Dih ein Wunder von der Heirat zuräd- gebalten haben!

Der Wächter (wie oben): Kein Wunder. Es ging alles mit natlır- lihen Dingen zu. Aber ich will ganz aufrichtig fein, damit Du erkennen mögeft, daß ich mir ſchon Mühe gab

Die Witwe (haftig): So redel

Der Wächter: Wohl bin ich zum Gatten wie gefchaffen, der ein Weib durchaus vollfommen zufrieden ftellen fann! Meine Natur ift weder raub noch ungebärdig, wie man bei vielen Männern findet. Ich trinfe nicht, ich fpiele nicht. Ich bin fehr haͤuslich, weich und anfchmiegfam, gutmuͤtig und mitleidig. Aber einen Fehler habe ich, der bislang immer mein Unglüd geweſen ift

Die Witwe: Schnell, ſchnell, welchen Fehler?

Der Wächter (gögernd): Ich habe immer die guͤnſtige Gelegenheit ver- paßt, ein Weib zu erringen. Denn jedeömal, wenn ed foweit war, baf ed eigentlich angebracht gewefen wäre, mein Herz auszuſchuͤtten und der Ver⸗ ehrten meine Liebe zu erflären, da

Die Witwe (ärgerlih): Warum ftodft Du? So rede doch nur!

Der Wächter (ſchamhaft): Ich habe ja noch nie mit einem Weib davon gefprochen! Aber Dir gegenüber flihle ich mich freier und leichter. Wohl darum, weil Du fo tief unglücklich bift und um den Tod des heißgeliebten Gatten trauerft!

575

Die Witwe (ihn beim Arme zupfend): Spridy nicht von meinem Gatten! Laß die Toten ruben! Doch erzähle mir von Dir! Jedesmal, wenn Du daran bift, Dein Herz auszufchlitten, dann ſchnell, ſchnell!

Der Wächter: Dann fteigt ed mir mit einem Mal in der Kehle auf, preßt mir den Schlund zu, ſchnuͤrt mir die Bruft zufammen, alle Gedanfen, die id) mir vordem fo wohl geordnet hatte, torfeln durcheinander und jagen mir davon, wie fehr ich mich auch bemuͤhe, fie zu bafhen. Ich befomme einen roten Kopf. Ed wird mir ſchwindlig. Und vor Sham lauf ich davon. (Er maht die Bewegung des Fortlaufenden)

Die Witwe (neigt ſich bligfchnell zu ihm bin und hält ihn Frampfbaft beim Arme feld: Ob, ob, das ift ein großer Fehler! Du darfit nicht Davon- laufen! Du mußt Dir dad abgemwöhnen!

Der Wächter: Ja, das ift leicht gefagt, doch fchwer getan. Wenn ich nur immer wüßte, daß diejenige, auf die ich ein Auge geworfen habe, auch nicht unwillig wird, wenn ich mit meiner Liebe berausrüde!

Die Witwe (gefhäftig): Du bift ein Tor! Wie fannft Du nur fo was denfen! Ich fage Dir, fie wird die Augen niederfchlagen, wird lächeln, erröten dann aber darfft Du ihr fhon um den Hals fallen, fie an Dich preffen, fie in Deinen Armen halten, fie füffen

Der Wächter (verblüfft): Aber woher wißt denn Ihr, daß fie fich juft fo verhalten wird?

Die Witwe (verlegen, ärgerlih): Du bift ein Tölpel! Ich fagte id; meinte er

Der Wächter Cüberlegend): Schon gut! Schon gut! Nun aber noch dies eine: wenn alles fo eintrifft, wie Du es mir ſchilderſt ich wüßte ja vor Erregung fein Sterbenswoͤrtchen zu fagen!

Die Witwe (unwirfh): Wirflih, Du bift ein Tölpel! Braucht e8 dann nod der Worte? Die Blicke tuen alles! Die zärtlihen Bewegungen! Sie muß doch fühlen, wad Du mwilft, wenn Du fie ſo in Deinen Armen haͤltſt! (Dabei ift fie beftig aufgefprungen, hat ihre Arme um ihn gefchlungen und wiegt ibn nun zärtlich bin und ber)

Der Wächter (mit breitem, wohlgefälligem Schmunzeln): Gewiß, das muß fie fühlen! Das muß fie fühlen! (Da die Witwe ihn weiter wiegt und verliebt anlähelt) Doc fag warum lächelt Du mich nun fo zärtlich an? Ich kenne Dich ja gar nicht mehr. Vorhin, ald Du auf den Steinen fauerteft, in Deine Schleier gehuͤllt, mit dem wirren, flrähnigen Baar, da erfchieneft Du mir alt und verfümmert jet meiner Treu jeßt finde ich, daß auch nicht das Fleinfte Faltchen Dein Antlig durchfurcht. Und daß Du fo lächeln kannſt, wer bätte dad gedacht! Aber warum bältft Du mih nun noh? Ich danfe Dir. Gewiß werde ich num nicht wieder fo tölpelhaft und fhüchtern fein wie früher! (Er will ſich von ihr lo8winden)

Die Witwe (ibn beftig loslaffend): Du bift und bleibft ein Zölpel! Du wirft ed zu nichtd bringen, und wenn Dir die Weiber von felbft um

den Hals fielen!

576

Der Wächter (betribt): Nicht wahr! Das flirchtete auch ich immer! Aber Du bift mir darıım böfe?

Die Witwe: Ja! Ich zürne Dir! Haft Du mich nicht aus meiner Zrauer aufgefhredt? Und nun, da ich munter geworden bin, da ich mir Muͤhe mit Dir gebe, vergiltft Du mir meinen guten Willen auf diefe Art! (Sie fauert ſich wieder nieder und ſtuͤtzt das Kinn)

Der Wächter: Nun wendeft Du mir den Rüden! Merbirgft Dein Antlig! Hlbfcher und anmutiger warft Du, ald Du mid vorhin an« lächelteft!

Die Witwe (blidt wieder auf, gefhmeihelt): Wirklich? Aber das Licht diefer Fackel wirft haͤßliche Flecke auf meine Züge, die mich entftellen! Stolz) Du follteft mid im Tageslicht erbliden!

Der Waͤchter (feuriger): Glaubs fhon! Der Gatte war glücklich zu preifen, der ſolchen Edelſtein fein eigen nennen durfte. Und es ift ein Sammer, dag Du nun dem Leben den Rüden kehrſt und Dich ganz Deiner Trauer widmen willſt.

Die Witwe (auffchnellend, verlegen): Sagte ich?

Der Wächter (betrübt): Ya, ja! Die Schwermut wird Nunzeln in Dein Antlig graben. Die Augen, die mich vorhin fo leuchtend anbligten, werden trüb und wäfferig werden vom vielen Weinen. Die dumpfe Moder- luft diefed Gewoͤlbes wird Deine Haare grau färben. Aber die Leute werden fagen: Gebt, fo bat fie ihren Gatten geliebt. Jugend und Schönheit galten ihr nichts. Aber die Trauer um den MBerftorbenen erfüllte ihr Daſein!

Die Witwe (haſtig, verlegen): Werden die Leute fagen, meinft Du? Eigentlih fönnte es mir doch gleichgiiltig fein, wie die Leute uͤber mic) reden und denfen! Haben fie es verhindert, daß mein Gatte von dem Balfen erfchlagen ward? Und eigentlich fann doc niemand verlangen, daß ich Jugend und Schönbeit opfere für

Der Wächter (fie anftaunend): Ob, Weib —!

Die Witwe (fich felbit überredend): Kann ich fo graufam fein ge- fegt den Fall, wenn einer auf mic zuträte und um meine Hand wlrbe fann ich fo graufam fein, ihn von mir zu weifen und ihm fein Dafein zu jerftören?

Der Wächter (immer erftaunter): Ob, Weib Du mwollteft —?

Die Witwe: Ich weiß, wenn ich heraudtrete and Tageslicht, daß fie ihre Köpfe nad) mir ausreden, mir nachlaufen, mid begaffen, um mic) werben werden! Diefe dunfle Farbe meiner Trauerfleidung ſteht mir gut und wedt in den Männern ein feltfames Geflhl der Zuneigung und ded weichen Mitleids.

Der Wächter (erfchlittert): Ob, Weib, wie Du die Männer fennft! Ich fage Dir, fie alle werden ſich in Dich vergaffen, fie werden fih um Di) drängen und Deine Schönheit bewundern, die im Licht der Sonne verhundertfältigt wird! (Seufzend) Gibt e8 doch welche, die Deine Nähe ſchon beraufchte, ald Dein Antlig noch, vergrämt, in den Schatten der Nacht

577

wie mit dichten Schleiern verbhllt war. Doch was rede ich von diefen? Sie ftehen in den Winfeln und flaunen hinter Dir drein. Du aber fiehft fie nicht. Du mwandelft dur die Gaffen und (fchluchzend) Ob, Weib, werden wir und nicht wiederfehen?

Die Witwe (dicht an ihn herantretend): Was haft Du? Warum wirft Du fo betrübt? Gönnft Du mir das Leben nicht?

Der Wächter (fchmerzlih): Die andern werden Dich lieben, wenn fie Dih im Tageslicht erblicken. Ich aber habe Dich fhon lieblich und ſchoͤn gefunden, ald Du mid im Geflader dieſes armfeligen Lichtes anlächelteft!

Die Witwe chaftig, mit leuchtenden Augen): Ab, was willft Du damit fagen?

Der Wächter (gefnidt): Daß ich ein Toͤlpel bin und bleiben werde!

Die Witwe (ſtrahlend, zärtlih): Aber ein liebendwerter Tölpel Du! (Sie bafcht feine Hände, zieht fie an fich, ftreichelt fie, lächelt ihn verflärt an)

Der Wächter: Was ift Dir num mit einem Mal? Wieder diefes Lächeln wie zuvor!

Die Witwe (ſchelmiſch drohend): Du! Hlite Dich vor Deinem Fehler!

Der Waͤchter: Welchem Fehler?

Die Witwe (immer zärtliher feinen Arm hin⸗ und berfchaufelnd, ab» gebrochen itammelnd): Siehft Du nicht, daß ich erröte die Augen nieder- ſchlage laͤchle? Worauf warteft Du noch?

Der Wächter (verblüfft): Das beißt ich foll? (Gibt fi mit einem Mal einen energifhen Ruck und fliegt ihr um den Hald) Ach, Weib —!

Die Witwe Gärtlid flötend): Beliebter!

Der Wächter Cald ob ihm eine zentnerſchwere Laft abgenommen fei): Ad, ich danfe Dir, daß Du ed mir fo leicht gemacht haft!

Die Witwe (mit Übertriebener Zärtlihfeit): Still! il! Brich nicht mit Worten unfer jubelndes Glüf! Wir wandeln im Elyfium!

Der Wächter (nüchtern): Ich dächte doch, vordem war Died eine öde Grabfammer, und Dein toter Gatte

Die Witwe chält ipm den Mund zu): Laß die Toten den Göttern, und erinnere mic nicht an die Vergangenheit! Was kuͤmmert und jegt die ganze Welt? Ich habe ein neued Glück gefunden, und diesmal, wahrlich, foll e8 mir micht fo fehnell wieder entfchlüpfen! (Sie preßt ihn in komifcher Sinbrunft eng an ſich)

Der Wächter Guckt plöglic zufammen, ift wie aus den Wolfen ges fallen, ganz kopflos und verzweifelt); Ihr Götter! Du erinnerft mich an die Welt! Webe, da taumle ich nun, bin glücfelig berauſcht und ver geffe darlıber ganz meine Pflicht.

Die Witwe (energiſch): Was it? Deine Pflicht heißt jetzt: mich lieben!

Der Wächter (fläglih): Ad, was weißt Du von meiner Pflicht? Ich bafte ja mit meinem Leben fir den Toten, den ih am Galgen bewachen muß! Wenn er nun geftohlen iftl Wenn ihn feine Freunde geraubt

578

haben, um dem Leichnam ein ehrliches Begräbnis zu geben! So ift er umfonft an den Galgen gefnüpft worden! Mein Kopf aber ift verwirft!

Die Witwe (wiegt ihn noch immer befeligt in ihren Armen, uͤber—⸗ fhwänglih): Was fprihft Du nur immer, mein Geliebter, mein Held! Ad, meine Freude taumelt ind Grenzenlofe, dag ich ja gar nicht darauf achte, was Deine Lippen plaudern! Mein Herz lacht vielmehr, daß ich einen fo ftattlihen, fo wohlgebauten Mann gefunden habe, der allen Anſpruch darauf erheben fann, mir den verftorbenen Gatten vollauf zu erfegen! Der fo liebe, treue, gutmütige Augen bat und der (fchelmifch) nicht einmal den linfen Fuß nachſchleift! Wie werden jeßt erſt die Weiber in der Galle mich beneiden!

Der Wächter (fucht fih frampfhaft von ihr loszumachen, ganz ver- zweifelt): Hörft Du denn nicht, was ic Dir fage? Mein Kopf ſteht auf dem Spiel! Was nügt Dir alle Liebe und alles Glüd, wenn fie mic an eben dem Balfen aufhängen, von dem Dein erfter Gatte erfchlagen ward?

Die Witwe (ftugt, dann drohend, mit geballter Fauſt und heraus⸗ fordernder Haltung): Wer wollte es wagen?

Der Wächter (nervöß, zapplig): Schweig, fchweig! Mein einziger Wunſch ift jebt, daß der Tote, den ih am Galgen bewachen fol, noch am felben Fleck hängen möge, wie zu der Stunde, da ich ihn verließ! Denn fonft

Die Witwe (leicht): Was kümmern und die Toten! Laß fie ſchlafen! Haben wir nicht unfer Leben und unfre Liebe? (Sie will wieder zärt- lid werden)

Der Wähter (ganz erregt): Zum Henfer! Die Liebe fhütt mic nicht vor dem Strick! Ich muß eilen, daß ich zum Galgen fomme! Bete zu den Göttern, dag ich den Galgenvogel noch wohlbehalten finde, denn fonft webe und und unfrer Liebe! (Er eilt hinaus)

Die Witwe (ftürmt hinter ihm ber bis zum Ausgang, uͤberſchwaͤnglich): Oh, Schönfter Du! Mein Herrlicher, wo bift Du? Die Naht bat Dich verſchluckt. Dein Schritt ift verhallt. Verlaͤſſeſt Du mich ſchon in der erften Nacht unfrer fnofpenden Liebe? (Sie horcht am Ausgang. Dann eilt fie zurück in dad Gewölbe, in den Lichtfreiß der Fackel, zieht einen fleinen Spiegel hervor und betrachtet fi darin) Wehe, wie wirr und fträhnig fallen mir die Haare! Darf fo eine Braut audfehen? Die Kleidung ift unordentlich und vernachläffigt. Wie muß ich mich vor dem Geliebten fhämen, wenn der Tag berauffommt! Horch! Regte fi da nichts? Schritte Ob, er fehrt zurück! Er kann die Trennung von der füßen Braut nicht länger ertragen! Geliebter! (Sie ftürmt wieder nach dem Audgang und will dem Wächter um den Hals fallen. Der aber drängt fie zurück. Er tritt mit fhlotternden Knieen ein, zitternd und bebend, das Geficht von Angft entftelt. Er fann nur ſchluchzen und ftammeln)

Der Wächter: Web mir! Verloren! Habe ich denn meinen Kopf noch? Wann werden fie Die Schlinge um meinen Hald zufammenziehen?

579

Die Witwe: Was follen die wirren Worte? Wovon redeft Du, Geliebter? Bift Dir franf? Hat Di ein Fieber gepadt? Oder hat Dich die Liebe taumlig und verftört gemadt —?

Der Wächter (ohne auf ihre Worte zu achten): Fort! Alles fort! Der Galgen ftebt einfam und verödet. Die leere Schlinge tanzt im Wind. Weh mir! Warum achtete ih auch auf Dein Weinen? Wäre ich dem Locken doch nicht gefolgt! Hätte ich Dich niemals gefehen! Du bift mein Tod!

Die Witwe (entrüftet): Wie fprihft Du nun zu mir? Haft Du mir nicht vorhin Liebe geſchworen? Lageft Du nicht verzüctt in meinen Armen? Sol idy Did) etwa wieder freigeben, da ich Dich eben erft gefunden babe? Oh, ih werde Dich halten und verteidigen! Und wenn Du Di beimlic) losmachen mwillft von mir wahrlich, meine Finger werden fi in Deine Haare graben und Dich zuruͤckreißen, wenn Du nicht freiwillig fommen willft!

Der Wächter (betrübt): Was nügen die vielen Worte? Im Often ift ein gelber Streif, Es ift eine Stunde nah Mitternadht. Und feine weitere Stunde wird vergehen, dann hörft Du den Schritt der Munde aus der Ferne. Sie fommen, meine Wachſamkeit zu prüfen und mic abzulöfen. (Zammernd) Aber heute werden fie mich nicht ablöfen. Der Gebenfte ift verſchwunden. Ich bewache einen leeren Galgen. Sie werden mic; greifen und meinen Kopf durch eben die Schlinge ftedfen, an der der Tote baumelte. Wehe mir!

Die Witwe (erplofiv): Aber unfre Piebe?

Der Wächter: Was flmmern fie fi um unfre Liebe! Sie werden nur ein rohes Gelächter daflır haben und mich vor Deinen Augen aufs knuͤpfen.

Die Witwe (ſtarr): Wehe!

Der Waͤchter: Du aber haſt dann zwei Tote zu betrauern!

Die Witwe (wird unruhig): Zwei Tote! Ihr Götter, gabet Ihr mir nicht genug an einem? Kann ich nod länger in den Grabgemwölben fauern und meine Jugend verfiimmern laffen? Wie fagteft Du vorhin? Die Schwermut wird Nunzeln in mein Antlit graben, die Augen werden trüb und wäfferig vom vielen Weinen, die dumpfe Moderluft ja, glaubft Du denn, daß meine Blüte im Dunfel diefer Gruft unnuͤtz verdorren fol? Ja, glaubft Du, daß ich meine Liebe an die falten Quadern ded Gemölbes ver- fhwenden fann? Was babe ic) dann von meinem Leben? Was nügt mir dann died Pohen und Haͤmmern in den Pulfen? Diefes Drängen und Schäumen in allen Adern? Diefe Üiberfprudelnde Kraft, die einen Ausweg fucht und quellendes, frifches Leben verfchwenden und verfchenfen möchte? Dh, ich lehne mich dagegen auf! Ich ftemme meine Fäufte damiderl Ich gebrauche meine Nägel, meine Zähne! Ih

Der Wächter (voller Staunen): Ob, Weib! Wie bift Du fühn! Und fhön in Deiner Kühnbeit! Und liebensmwert und beraufchend! Und diefe Perle, die ich eben erft gefunden, fol ich verlieren und kann mid) doch nicht wehren gegen mein Schidfall

Die Witwe (aufbraufend):; Verlieren? Merlieren? Siebe, unfer

580

Reben foll erft beginnen! Im Often der gelbe Streifen ift der junge Morgen unſers Gluͤckes, unſers Lebens. Ich habe Luft am Leben und Sehnſucht nach Liebe. Und diefen Uberdrang in mir, dieſes fchäumende Verlangen follte ein toͤrichtes Schickſal mit einem Streich vernichten?

Der Wädhter (gefnit); Im Often ift ein gelber Streif. Die Runde fommt. Der Galgen ift leer. Wenn die Sonne berauffteigt, wird fie mic) armen Sünder in der Schlinge der Diebe, Räuber und Mörder hängen fehen!

Die Witwe (umrubig): Ja, was denn? Was denn? Warum jammerft Du und mahft aud) mic ‚mit Deinen Klagen verwirrt? Die Toten find tot! Aber die Lebenden müffen leben! Was babe ich von Dir, wenn Dein Leihnam am Galgen fchaufelt?

Der Wädter: Was find zornige Worte und dad Aufbäumen wider das Geſchick? Ein unnuͤtzes Beginnen!

Die Witwe: Kein unnützes Beginnen! Wir müffen einen Weg finden, auf dem und dad Schickſal nicht folgen kann!

Der Wächter: Du bit ein Weib!

Die Witwe: Ich bin ein Weib! Glaubft Du, daß id Dich nad) einer einzigen Macht der Liebe fchon wieder verlieren will? Einen Gatten babe ich ſchon jaͤhlings eingebüßt und ich konnte nichtd dagegen tun. Diesmal werde ich mehr auf der Hut fein!

Der Wächter (abwehrend): Nein, nein, Wirflichfeit bleibt Wirklichkeit. - Und ein Galgen, der in der dunfeln Nacht leer und öde ift, bleibt es auch, wenn die Sonne berauffommt. Dder glaubft Du, daß fie den Leichnam wieder zuruͤckbringen werden, blo8 um mid) vor dem Galgentod zu bewahren?

Die Witwe (ganz in Gedanken verfunfen): Das nicht, aber wenn die Runde fommt, muß fie einen Toten am Galgen finden! Sie muß, fie muß, verftehft Du wohl? Dann wird fie Deine Wachſamkeit loben und Did ablöfen. Wir aber fünnen nad) Haufe eilen und den erwachenden Morgen unfrer Liebe weiben!!

Der Wächter (ungläubig): Ob, Weib! Glaubft Du, daß die Toten vom Himmel regnen, blo8 um mir einen Gefallen damit zu erweifen? Die Toten find tot! Das fagteft Du felbft. Sie haben ihr Feben gelaffen und die Welt. Sie haben feine Empfindungen und Gefühle mehr. Wie fann fie mein Unglüd rühren? (Zerfnirfht) Nein, nein, all unfer Grübeln und Überlegen ift fruchtlos! Das eben ift mein Schidfal, daß ich den Tod finden muß, faum da die Liebe zu mir fam! (Meicht ihr die Hand, ſchluchzend) Feb wohl!

Die Witwe chält ihn feft, heftig): Was foll das heißen?

Der Wächter: Das foll heißen: was nüßt ed noch, die Nunde zu erwarten? Ich hätte damit nur eine Friſt gefunden, die meine Qual ver- doppelte! Ich werde mid) felbit ftellen!

Die Witwe Caufichnellend): Das ift der fihere Tod und

Der Wächter (Fläglih): Iſts nicht auch der fichere Tod, wenn ich noch bier vermeile?

581

Die Witwe (in hoͤchſter Erregung): Das bieße ja, alle meine Hoff- nungen zu Grabe tragen! Nein, nein! Was kümmern mic Eure Pflichten und Gefege? Ich will Deine Liebe und mein Glüd!

Der Wähter: Wenn aber doc die andern die Gewalt haben!

Die Witwe: Gewalt? So muß man die Gewalt mit Lift erfchlagen!

Der Wächter (ungläubig): Was willft Du tun?

Die Witwe: Still! Still! (Sie eilt nachdenflih auf und ab)

Der Wächter (hinter ihr drein, Fläglih): Torheit! Nichts ald Torheit!

Die Witwe (mie oben): Schweig, fag ich! Feigling!

Der Wähter: Soll man im Angefiht ded Tode

Die Witwe hält mit einem Ruck inne, begeiftert): Geliebter!

Der Wächter (zudt zufammen): Ha! Was ift gefcheben?

Die Witwe (no enthufiaftifcher): Geliebter!

Der Waͤchter: Du baft etwas gefunden?

Die Witwe (unruhig): Einen Gedanfen, einen Plan!

Der Wächter (beflommen): Der mic retten fönnte?

Die Witwe: Er ift gewagt, er ift Fühn, er iſt

Der Wächter: So Fühn wie Du felbit! Schnell, ſchnell, laß hören!

Die Witwe (ohne auf ihn zu achten): Die Götter können ja nicht zuͤrnen! Sie duͤrfen nicht zuͤrnen! Denn ift nicht jeded Mittel recht, wenn ed mid vor einer zweiten Trauer ſchuͤtzt?

DerWächterlungeduldig): So rede doch nur l Offenbare mir Deinen Plan.

Die Witwe (immer wie mit fi felbft redend): Einen fenne id, der ein feelenguter Mann war, ald er noch unter den Lebenden weilte, höflich und zuvorfommend gegen jedermann! Er wird aud im Tode feine Tugend nicht verleugnen!

Der Wächter (verdußt): Was foll dad beißen?

Die Witwe: Das foll heißen (mit rafhem Entfhluß) die Toten find tot! Aber die Lebenden müffen leben! Sagteft Du mir nicht, daß die Nunde einen Toten am Galgen finden muß?!

Der Wächter (unfiher): Ja, ja! Doch

Die Witwe (energifh): Nun wohl! Sie wird einen Toten am Oalgen finden.

Der Wächter (fchlägt die Hände zufammen): Ob, Weib, Fannft Du zaubern?

Die Witwe: Nicht zaubern, doch ihrer Gewalt mit Lift entgegentreten! Schnell, ſchnell and Werf!

Der Wächter: Aber fo erfläre mir doch

Die Witwe (wieder mehr zu ſich felbft): Ob, ich weiß, wenn er nod) am Leben wäre, wuͤrde auch er meinen Plan gutheigen! Er bat mir nie- mals einen Wunſch abgefchlagen, hat mir nie zu widerfpredhen gewagt! Palt den Wächter heftig am Arm, zieht ihn ein paar Schritt mit ſich, fategorifch) Mein toter Gatte wird den Geftoblenen erfegen!

Der Wächter (ſetzt ſich erfchroden bin, zitternd): Weib! Du wollten?

582

Um den Du eben noch trauerteft —? Deffen Tod Did felbft am Leben verzweifeln lieg —?

Die Witwe: Gewiß babe ich getrauert, wahrhaft getrauert! (Keifend) Oder willſt Du etwa behaupten, daß meine Trauer nicht echt war? ...

Der Wädhter: Ja, aber

Die Witwe (fireng): Kein aber! Wer ift nun mein Gatte? Zener Tote oder Du, der Du unter den Lebenden mwandelft und den ich verlieren fol, kaum da ich ihn gefunden babe? (Ungeftum) Ich aber will Dich nicht ver- lieren und bie Lebenden fommen vor den Toten!!

Der Wächter (fpradhlod): Weib —!

Die Witwe chberredend, mit weiblicher Logik): Iſt e8 eine Schande, an dieſen Galgen gehängt zu werden, an dieſen nagelneuen, frifchen, faubern Galgen, zumal, wenn man überhaupt fhon tot ift? Kommt er mit DVerbrechergefindel zufammen, daß er fih nod im Tode feined Umgangs fhämen müßte? Ein einziger erft hat fein Leben an diefem Galgen laffen müffen, und dem bat man auch die Zeit des Hängend verkürzt!

Der Wächter: Aber Dein Gatte! Dem Du diefe friedliche Begräbnis- ftätte gabft!

Die Witwe (mit fi) immer fleigender Mundfertigfeit): Kann ed meinem Gatten in diefem oͤden Grabgemölbe behagen? Du fagteft felbft: Die feuchte Moderluft! Und dann die flarren Steine, die ewige Naht! Nein, nein, draußen weht ein frifher Wind, die Sonne lacht fo breit und freundlid ad, der BVerftorbene hatte die Sonne fo lieb und den Wind und das Grün der Palmen draußen am Galgenplag

Der Wächter: Aber bedenfe doch

Die Witwe (förmlich überfprudelnd): Und weißt Du nicht mehr, was ih Dir vordem erzählte? Er bat doch den Galgen gebaut, er ging mit folhem Fleiß, folder Kraft und Ausdauer an die Arbeit, er hat ihn draußen errichtet, wo der alte Galgen, morfh von den Jahren, vom Wetter und den Würmern zerfreffen, in fid) zufammengebrochen war. Er hat den legten Balken in die Höhe gefeilt fröhlich, fein Werk vollendet zu haben und warb von eben dieſem Balfen erfchlagen. Ich bitte Dich um alles in der Welt: ift ed nicht recht und billig, wenn dieſer Mann aud im Tode an jenem Galgen bängte?

Der Wächter (beflommen): Ihr Götter! Die Beweisführung eines Weibes macht Licht zur Finfternid und Kälte zu Wärme! Ich weiß nicht aus no ein. Du legft Deine Schlinge um mid) und ziebft fie zufammen!

Die Witwe (ungeftim): Hier gibt ed Leben oder Tod! Ja, glaubfi Du denn, ich laffe Did wieder von mir, den ich eben erft gefunden? Wer weiß, ob jemald wieder ein Fuß diefed dumpfe Gewölbe betreten wird! Ich aber koͤnnte verdorren und vertrodnen, mein eigenes Dafein bejammern und mir bittere Vorwürfe machen, daß ich dad Gluͤck mutwillig wieder von dannen ziehen lieg! (Ekſtatiſch) Das Leben ift zu ſchoͤn! Und ſchon wert, einen kuͤhnen Streich daflır zu wagen!

583

Der Wächter (ſtoͤhnend, zum Ausgang blidend, durch den die erften Strahlen der Morgendämmerung bereindringen): Der Morgen fteigt herauf, Die Runde fommt

Die Witwe (ihn aufrlittelnd, heftig): Unfer neues Leben bricht an! Unfre Liebe ift glübend wie die Morgenfonne!l Eile Dich! Folge mir! Die Zeit wartet nicht auf und!

Der Wächter (no immer unfhläffig): Wenn aber

Die Witwe (Gornig): Du bift und bleibft ein Haſenfuß! Zaghaft und ängftlich, wenn Du Deine Liebe erklären follft, noch zaghafter, wenn es gilt, diefe Liebe zu verteidigen!

Der Wächter (wirft fi mit fomifhem Stolz in die Bruft): Zweifelſt Du an meiner Liebe?

Die Witwe: So folge mir! Wahrlich, wäreft Du nicht ftattlich und wohlgewachſen, ic liege Dich laufen!

Der Wächter Chalb erfchredtt, halb erfreut): Du wollteſt —?

Die Witwe (hält ihn feft, refolut, herrifch, mit der Überlegenheit eines weiblihen Tyrannen): Mein, nein! Ich babe Dich, und ich halte Dich! Und ich werde Dich verteidigen! (Energiſch drobend) Das aber fage ih Dir ſchon jetzt: mein verftorbener Gatte (ſchluchzend) ob, er war fo gut, fo ſchoͤn, fo treu! hat ed niemald gewagt, mir zu widerfprechen! (Kategorifch, legt ibm die Hand wuchtig auf die Schulter, fo daß er zufammenfnidt) Das verlange ich audy von Dir Folge mir! (Sie wendet ſich und verſchwindet im Dunfel der Grabfammer)

Der Wächter (ufammengefnidt und Fläglih): Ob, Weiber! Eure Schlauheit fchlägt felbit dem Tod ein Schnippchen! Wie darf ich mid) rühmen, fold ein Weib zu befigen! Man wird mich einen Hand im Glüd, einen

Die Stimme der Witwe (aud der Tiefe ded Gewölbe, hohl, fehr energifch und eindeutig): Geliebter! Ich warte!

Der Wächter (ufammenfahrend): Ich fomme ja! Ich fomme ſchon! (Im Abgehen) Und diefe Kraft und Würde im Ton ihrer Stimme! Es ift fo überaus felbftverftändlih, daß man ſich ihren Wünfchen fuͤgt! (Wirft fi ſtolz in die Bruft) Ob, wie wird mid alle Welt ald den Gatten diefes Weibes bewundern und beneiden!!

(Vorhang)

584

Kasperlefheorter

Das Kritikerzimmer / von Balthafar

F oftor Reißer, der bekannte Kritiker, kommt von der Premiere. Empoͤrt,

außer ſich, voll Arger geſogen, wie ein naſſer Schwamm voll Waſſer. Er hat gegenuber dem Dramaturgen des Theaters, dem geſchmeidigen Neu- länder, auch bereitd in der Paufe aus feinem Herzen feine Mördergrube gemacht. Und damit er dem Grimm, von dem er zu platzen droht, möglichft ſchnell Worte leihen und ihn, wie aus einem Ventil, aus feinem Kunft« empfinden beraußlaffen fann, wird er gleich unten im ‚Rritiferzimmer‘ fchreiben. Gerade bier! ‚Sollt Zhr mal fehen, wozu die Bude gut is,“ hat er dem Dramaturgen Neuländer mit einem direft kraͤnkenden Hohnlaͤcheln gefagt. Dann wird er bei Siehen die Leute vom Stammtifch treffen. Ed wird ihm ordentlich ſchwer, dem Portier in freundlihem oder wenigſtens leidlich böflihem Tone zu fagen, daß er ihm den Boten, den er fich berbeftellt bat, ind Zimmer fchiden fol. Er fann, im Begriff, Saͤtze zu formen, die diefes Theater zerfleifhen werden, zu einem Angeftellten dieſes Inſtituts nicht freundlich fein. Er kanns einfad nit! Er wirft dem Pförtner die Worte brummend bin, wie ein Almofen, und ift empört, daß ihm diefer ungefchlachte, flobige MilitSranwärter nod mit einem: „Jawoll, Herr Dokter. Wird jemadt: janz wie Sie et wuͤnſchen‘ Antwort gibt. In diefem Moment bat er auch gerade den fchlagenden Anfang der Kritif gefaßt: ‚Unmlrdig: das ift dad richtige Wort fuͤr die meufte Leiftung der Direftion Steinhardt, deren kuͤhne Sehnfucht ed noch immer ift, und Michtöfönner ald Genies, Dilettanten ald Künftler aufju .... aufzu . . .“ Das Verbum fehlt. Aber er fiebt den Fortgang der Periode förmlih in der Abendluft bängen, fo Flar, ald ob ihn ein Schritt dem Satze näherbringen müßte. Er tut diefen Schritt, ftolpert, fühlt eine fehwere, haltende Fauft, hört eine dumpfe, ruͤgende Stimme, die Stimme des Portierd: ‚Um Zotteswillen, Herr Dofter‘ und fieht, daß er um ein Haar die Treppe beruntergefallen wäre. Diefer verdammte Übereifer, der ihn immer faft ſinnlos macht. Das hätte huͤbſch werden fönnen. Keine Kritik, aber ein Rranfenlager. Schon faßt die Tage des Pförtnerd ein Fünfzigpfennigftüd. ‚Danfe fehr, Herr Dofter. Da jehts runter, Herr Dofter.‘ Wie hieß doch der Sap? Die Dankfbarfeit hat ihre zarten Finger auf Doftor Reißers Herz gelegt. Er muß ihr begegnen und die Wut zu Hilfe rufen. Ja, fo ward wohl. ‚Die Direktion Steinhardt bätte nach ihren Fünftlerifchen Antezedentien, die wir nicht unterfhägen wollen, doch die Pflicht, vorforgliher zu didponieren, wenn... .‘ Deutliher kann man ja nicht gut fein!

Doftor Reißer fit jet hinter dem großen Diplomatenfchreibtifh, deffen Tuch fi fo glatt über die Holzunterlage fpannt, wie eine gutfißende parifer Robe über einen ſchlank geftrafften Frauenruͤcken. Das diöfrete, vom grünen Schirm befänftigte Licht, das nur auf dem Fleck eindringt, auf dem fein Papier liegt, tut feinen Sinnen wohl; und diefe geſchmackvoll modernen

585

Möbel in den vornehmen, ernften und doch nicht finftern Karben, die ganze Kombination von Stil und Einfachheit ſchmeichelt ihm ungemein. Hier muß man fehreiben können. Hier müffen fih Worte und Wendung von ungeahnter Schlagfraft finden laffen. Nücfiht? „Wenn Herr Direkte Steinbardt fein Kritiferzimmer benutzt wiffen will, fo wird er ſich mit dem Bewußtſein begnügen müffen, unfern ſchweren Beruf durch eine privek Gefälligfeit um ein Weniged entbürdet zu haben, ohne daß der Kritiker vw der Form feiner Urteilöfprüche auf diefe Verglinftigung irgendwie Bey: nehmen darf”, hatte Doftor Reißer gefchrieben, ald damald die Einführm: diefer Kritiferzimmer afut geworden war; und Direktor Steinhardt hatte its in ein paar verbindlichen Zeilen mitgeteilt, daß er feine Intentionen vci fommen richtig vorgefühlt und aufgefaßt hätte. Alfo ruͤckſichtslos an dx Arbeit. Scharf und fchroff die Meinung gefagt. ‚Die Direftion Steinbartt deren Fünftlerifche Großtaten in der Geſchichte der jungſten Theaterereigmis ihren breiten Raum einnehmen, follte doch ....“

Doftor Reißers Augen blieben auf einem großen Bibliotheffhranf haften. Der war doc bier früher nicht gewefen? Er ging näher (der Perferteprit fing das Geräufch feiner Schritte) und machte Halt, wo die ſchweren ledernen Buͤcherruͤcken mit den Goldbuchftaben hinter dem fpiegelflaren Blair fihtbar wurden. Prachtvolle Bücherei das! Diefe Nachſchlagewerke, de und da und da und den meuften Meyer, dad alled hatte man im Diefer Neichhaltigfeit im ftaubigen Nedaftiondloh nicht. Geſcheiter Standpunf: von diefem Neuländer, dem er einmal zwifchen dem dritten und vierten Akt fo bingeworfen hatte: ‚Wenn da unten ’n paar Handbücher waͤrer fo zum Orientieren, wuͤrdet Ihr Euch fehr verdient machen.‘ Wirflich febr aufmerffam, das. Da fonnte er ja auch gleich nahfehen.... Matiırlid, er hatte Net: nicht ‚Die Brille‘, fondern ‚Die Stille‘ hieß das Stüd, mit dem ſich der Autor von heute Abend nicht ganz verheißungslos vor zwei Jahren in die Literatur eingeführt hatte. ‚freilich: bei forgfamem Mad» denfen laffen fih Standpunfte finden, die mit Ruͤckſicht auf die Erft- lingdarbeit des jungen Verfafferd der Direktion Steinhardt die Annahme auch feines zweiten Dramas ratfam erfcheinen laffen fonnten .. ..‘, ſchrieb Doftor Reißer.

Der Portier fam ind Zimmer. Auch feine ſchweren Sohlen wurden auf diefer bunten, weichen Teppichdede lautlos. Zwei Briefe reichte er. Der erfte? Aha, Kollege Vernichter. Ja, woher weiß er denn? „Der Doftor fehreiben im Kabinett nebenan,‘ brummte der Portier pianiffimo im Baß. Dad Kuvert flatterte in den Korb. „Alſo, lieber Kollege, ed gebt heute nicht zu Siechen, fondern, wie in letzter Stunde entfchieden wurde, zu Tucher. Gottlob weiß man jept, wo man Sie nad den Steinhardt- premieren ſchnell und bequem erreihen fann. Auch können wir den Weg felbander zurücklegen und noch eins plaufhen. Wuͤnſche inzwifchen wohl zu referieren. Ihr V.“ Wirklich famos! Wie uͤbel, wenn er nachher, nah der Arbeit, gierig nach einem Wort der Ausſprache, ein leere Lokal gefunden, wenn er nerods, ahnungslos gefucht hätte, um dann allein, verärgert fein Effen einnehmen zu müffen. Und der zweite Brief? Auch bier zerriß er fchnell den Umfchlag. Von Neulaͤnder. Was follte dad? Eine Beeinfluffung, eine Beſtechung? Unmillfürlicd) wurden die Brauen uͤber den Augen des Kritifere dicker; und Über ihnen fchnitten ſich Runzeln in die Stirn. Aber Neuländer

586

fhrieb nur: „Liebſter Doftor! Sie finden Stahlfedern mit weicher Spite im braunen, ſolche mit harter Spitze im grauen der beiden Federkaͤſtchen, die auf dem Schreibtifch ftehen. Ich weiß, Sie find in der Beziehung fehr peinlich.” Metter Kerl. Schade, daß gerade beute....

‚Die Steinhardtbühne bat diefem neuen Werf voll feffelnder Einzel» beiten durch eine reiche, aparte Inſzenierung große Dienfte geleiftet. Auch die Darftellung ....‘ Hier ftocte die Feder hart, wunderbar hart, aus dem grauen Käftchen. Etwas im Jimmer war zu Boden geglitten. Doftor Reißers Kopf fuhr herum. Da ſtreckte eine gertenfchlanfe age rm in grazidfer Bewegung den Arm nad feinem Stod, den fie beim Eintreten umgemworfen hatte. Dann legte fie mit feiner Gefte den Finger auf den Mund, die Augen dunfel und glänzend funfelten unter dem Hut der Herzogin von Devonfhire, wie ſchwarze Perlen, und die Altſtimme ſprach: „Pardon, ich habe mich in der Tuͤr geirrt.“ Das war die Bertoni, die Haupt⸗ darſtellerin des Premierenabends. Mit einem Laͤcheln, einer gemeſſenen Biegung des Oberkoͤrpers ging ſie. Aber ein Hauch von ihrem Parfuͤm, zu dieſem Interieur paſſend, wie ihre mit Pailletten beſchuppte Seidenſchleppe, leiftete dem Doftor Reißer weiter Gefellihaft.... ‚So wäre durch bie Leiſtung der Bertoni allein diefer Abend voll berechtigt geweſen,“ fchrieb der Kritifer. Zeichnete ‚NR. Dann pochte der Bote....

Nuoſchau

Regiefuͤhrung um 1800 m ſich aus Roſtock den Doftor- hut zu holen, hat Herr Alfred

Schmieden eine Diſſertation gefchrie- ben, die jet jeder ald Buch im Faden kaufen kann : Die bühnengeredhten Ein- richtungen der Schillerfhen Dramen für das Königliche National-Theater zu Berlin, Erfter Teil. Wilhelm Tell (Berlin, Egon Fleiſchel & Co.). Wie Die meiften germaniftifhen Arbeiten ift das Buch Schlecht geichrieben ; Stil und Anordnung maden ed zu einer langweiligen und unangenehmen Lek⸗ türe. Der widrige Abfchnitt ‚Text- fritif‘ fehlt natürlich auch nicht. Ein halbwegs guter Journaliſt, der auch das Gluͤck gehabt hätte, von Seiner Exzellenz dem Generalintendanten von Hülfen Zutritt zur Bibliothef der Koͤ⸗ niglihen Schaufpiele zu erlangen, hätte

aus dem bis her unveröffentlichten Ma- terial im Erzaͤhlerton ein intereſſantes und manches Vorurteil zerftörendes Kapitel aus der Gefchichte der Schau⸗ fpielregie vorgetragen.

Wenn man fo häufig der Meinung begegnet, von, Regie‘ im heut gebraͤuch⸗ lichen Sinne fönne erft feit 1874, feit dem Auftreten der Meininger in Berlin, die Rede fein, fo beweifen dagegen die in Schmiedend Heft ab» gedrucdten Schriftſtuͤcke Ifflands, daß man es auch um 1800 in Berlin ſchon herrlich weit gebracht hatte.

Das von Iffland lang erſehnte Kaſſenſtuͤck, den ‚Tell flır Alle‘, ſandte Schiller, feine Abneigung uͤberwin⸗ dend, partienweife, fomweit ed gerade fertig war, ein. Am 23. Januar 1804 fam der erfte Aft in Berlin an; am 20, Februar liegt es vollendet vor,

587

und num beginnen die Negievor- bereitungen. Verbandlungen zwifchen Direftor und Dichter geben bin und ber, und Mitte April fchicft Zff- land feinen Sefretär nach Weimar, um Schiller viele Bogen Regiebemer⸗ fungen vorzulegen, an deren Rand der Dichter oft ausflhrlic; feine Gegen- bemerfungen fchreibt. Hier fommt alles, was zu einer forgfältigen Ein- ftudierung gehört, zur Sprache: Rollen- befegung, Requifiten, Buͤhnenbilder, Beleuchhtungdeffefte, Zenſurſorgen, fchlieglih Fragen nad Geßlerd Er- ſcheinen zu Pferd, der Apfelfhußfene, dem Monolog, Parricidad Auftreten. Bon April bid Juni dauern dann die Arbeiten für den äußern Rahmen der Auffübrung. land fchreibt in ſchlechtem Franzöfifch dem Malerchef des Mational-Theaterd feine Vor—⸗ fchläge, ſchickt ihm zur Vorlage zwanzig Landſchaften aus der Schweiz und da= zu ausführliche Deforationdanmwei- fungen. Vor der Aufführung entwirft er noch einen genauen General⸗Auszug für den Snfpizienten. Die Rollenver- teilung ift am 1. Juni, die Premiere am 4, Zuli. Man fann mit Sicherheit annehmen, daß während diefer Zeit vielfach Proben ftattgefunden haben. (Bor der weimarer Uraufführung gab ed nur zwei Lefe- und vier Buͤhnen⸗ proben.) Den großen Erfolg des Dramas in Berlin fehrieb dann die Kritik auch zum Zeil der vorzliglichen Megie zu. Willi Speth

Ein Brief

5% verebrter Herr Zacobfohn!

Am 1. Februar diefes Jahres wurde ic von Direktor Schmieden an dad Neue Theater engagiert, nad)» dem ich vorher dem berliner König- lihen Schaufpielhaufe angehört hatte. Der Gedanfe, daß mein Vertrag mit dem Neuen Theater noch vor Schluß diefer Spielzeit zu Ende fein fönnte,

fam mir nie, obwohl mir aufftel, dag der Vertrag ohne ein Schlußdatum Bom 1. Februar 1907 biß...... ausgefertigt war. Ich nahm nichts an⸗ dres an, als daß ich, wie mir im An- fang angedeutet worden war, fpäter eine größere Gage erhalten, und dag der audgelaffene Endtermin als dann ausgefüllt werden würde. Das ftellt fi bald ald ein Irrtum heraus, und ich befchloß, mir bei einer Autorität Rats zu erholen. Diefer Mann, einer der Begruͤnder der Deutfhen Büh- nengenoflenfchaft, mußte den Vertrag mebrmals durdhftudieren, um aus den verfchiedenen Klaufeln Flug zu werden, und fagte mir dann, daßihm ein folcher Fall noch nicht vorgefommen fei: wenn die Sache nicht gütlich beizulegen fei, folle ich fie dem Gericht übergeben, da Herr Schmieden dem Deutichen Buͤhnen-Verein nicht angehöre, ſich alfo einer Entfheidung ded Buͤhnen⸗ fchiedögerichtd nicht zu unterwerfen brauche. Als ih nun das nächfte Mal meine Gage im Bureau des Meuen Theaterd erhob und bereits quittiert hatte, wurde mir angefonnen, einen Revers folgenden Inhalts zu unterzeichnen: ‚Ich befcheinige hiermit, daß ich vom 1. Mai 1907 ab an die Direftion ded Neuen Theaters feiner- let Ansprüche zu ftellen habe.‘ Diefes Verdlein unterfchrieb ih, zur Em— pörung ded Bureauvorſtehers, nicht und erflärte, daß ich nunmehr den Rechtsweg einfchlagen würde. Das babe ich auch getan. Die Entfcheidung ftebt noch aus. Ich hatte, bevor ich mit dem Meuen Theater abfchloß, zwei ſehr vorteilhafte Anträge an andre Theater, ſehe mich jeßt aufs ſchwerſte gefhadigt und fuͤhle mich verpflichtet, meinen Fall der Offentlichfeit mitzu- teilen, um unerfabrene Kollegen vor ähnlichen Erlebniffen zu bewahren. Mit vorzligliher Hochachtung Carl Diehl

Berantwortlich für die Redaktion: Siegfried Jacobſohn, Berlin SW. 19 Berlagvon Orfterheld & Eo.,BerlinW.15 Drudvon Imberg & Leffon, BerlinW.9

. (EN INCHR. SEN HEBN BI BIECHE BC DC BEI EICHE NE CHE . ruhig? * —2 W —W hu ih u) Ta er u we. en | ‚vun.

* 13. Juni 1907 III. Jahrgang Yıummer 24

Hauptmannd ‚Florian Geyer‘) von Willi

Zur wiener Aufführung Handl

ie Tragödie des Bauernfrieged‘ nennt der Dichter dieſes Werk.

Wollte er darin wirklich die tragifhe Notwendigfeit jener ungeheuern

Kämpfe, jener fuͤrchterlichen Zerftörungen in ihrem gefegmäßig drama- tifchen Gang enthüllen, fo ift ihm feine Abficht kaum geglüdt. Er gibt ein trauriged Abrollen ohne Widerftand, eine Auflöfung, die beinahe felbfttätig fortfchreitet und faum mehr etwas zu libermwinden bat. Tragiſch ift das Wirken einer Kraft, die ein Geſetz erfüllt, indem fie daran zerfplittert. Hier aber erfllit fi) das Gefeb wie von felbft; verwirrt und vernichtet liegen unter ihm alle menfdlihen Kräfte, von Anfang an nicht mehr mächtig, um ihr Sein oder Nichtfein zu kaͤmpfen und fämpfend ihre und ihres Untergangs Motwendigfeit zu ermeifen.

Die großen tragifhen Züge fehlen diefer Dichtung. Hat man einmal den Mangel feftgeftellt und das Werk aud der Art poetifcher Schöpfungen, in die ed ſich einreiben zu wollen fcheint, ſachte wieder hinausgeſchoben, dann ift jeder Einwand dagegen erſchoͤpft, und es bleibt nur mehr zu bejahen und zu bewundern übrig. Was fonft in den beften Werfen diefes Dichters fo füß und fo bitter, fo unmiderftehlidy zwingt: die heilige Liebe zu allem Erfchaffenen, die ftille, feufhe Sadlichfeit, die vom Innerſten ber nad) fcheinbar Außerlihem greift, um es ganz mit Seele zu erflillen das er- fcheint bier in doppeltem Lichte doppelt ſchoͤn; im Hiftorifhen und im Poetiſchen. Die Sprade, dad Material und Inftrument aller Dichtung, ift bier willfürlich umgeformt; aus dem Bofabular vergangener Jahrhunderte find mancherlei wunderlihe Broden hervorgeholt, ftaubig, erdig, ungeftalt, ihrem Zwed nad faum mehr Fenntlid, wie fie eben langfam unter die Oberfläche der lebendig weitergeftaltenden Sprache hinabgefunfen und da drunten Zeit um Zeit gelegen waren. Hier fließen fie ſich nun alle zu neuem Leben aneinander, erwachen eined vom Klang ded andern, lang er- lofhener Sinn leuchtet wieder in ganz gegenwärtiger Helle, und unfer Deutſch,

589

längft ſchon zu fchlanfern und leichtern Formen gewöhnt, regt und fühlt fich und behagt fich wieder einmal in einem viel ältern Kleid. So, rein aͤußerlich in der täufchenden Anwendung von Grammatik und Wortſchatz, bringt das leicht einer zuftande. Es ift eine Arbeit verftändigen Fleißes, Profefforen- funft, und wäre, wenns nicht tiefer ginge, bei einem Dichter nicht höber zu foben, ald etwa jedes andre fachlihe Studium auch, das er dann, der hoͤhern Wahrheit zu Ehren, in der Lebendigfeit feines Gedicht? mitaufleben läßt. Jedoch, hier gebt ed tiefer. Weit hinter das einzelne Wort und feine Stellung im Gabe gebt bier die poetifch-hiftorifche Echtheit. Sie ift nicht nur be obachtet und treu nachgeahmt, fie ift perfönlich erfühlt und perſoͤnlich um⸗ gewertet. Alles ſpricht da in derfelben Mundart; und jeder bat doch feine eigene Sprache. Der philologifche Fleiß bringt beftenfalld dad AWort- und Sabgeflige alten Chroniken wieder zuftande; der Dichter aber. legt das Leben und die Seele feiner Menfchen in ihre Art, zu reden. Er fchafft die Farbe und den Ton einer Zeit; die ftaubigen, fantigen, flobigen, vorzeitigen Worte und Saͤtze flingen und fchimmern darin wohl am fonderbarften. Aber nehmt fie alle weg, erfeßt fie, Überfegt fie mie ihr wollt; fo muß dod immer noch die ganze Feit mit ihren Menfchen, ihren Srrtümern, ihrer Neinheit und ihrer Gemeinheit unverändert und ungefälfcht zuruͤckbleiben. Etwa wie die Tragbdie der ‚Weber‘ genau diefelbe bleiben muß, ob num ihre Dialeftifhe Färbung alle Nuancen der Wirflichfeit hat oder nicht. Es gebt eben tiefer; bier find Menfchen dichterifch erfchaffen worden, und au ihre Sprache, die immer mit ihnen erfchaffen werden muß, bat ihr Leben aus erfter Hand, aus der Hand des Dichterd. Bevor er fie anrührte, war fie tot und ſtarr, fonnte unfer Ohr mwunderlich erfüllen, aber unfre Seele nicht erreichen; nun lebt und wirft fie aber, ift Ausdruck hoͤchſter und ge- meinfter Gefuͤhle, wechfelt mit Perfon und Stunde und Stimmung, an ihrem Pulsfchlag find die Schidjale der Handelnden und der Leidenden abzumeffen; fie ift das lebendige Eigentum lebendiger Menfchen geworden.

Die Menfhen dieſes Stud find, wie die Sprache, nach den Muſtern ihrer Zeit geprägt: Holzfchnitt. Alles bat ftarfe, harte Kontur, die Richter geben jab von Weiß in Schwarz. Aber auch bier wieder, in diefem Spiel mit einer alten Technik, wieviel menfchlihe Nähe, wieviel innige Anſchauung, wieviel Seele! Kaum zwei oder drei Szenen find, wenn man von Geyer felbft abfieht, der einzelnen Figur in diefem lärmenden Abrolfen des Schidfald von Taufenden gegönnt. Und faft jede bringt doc noch einen eigenen Ton aus ihrer Zeit und einen Hauch vom ewig Menſchlichen, der und noch inniger anruͤhrt, mit ſich herauf. So fragmentarifch fur; das alles ift, was in den paar fnappen Sägen, oft nur ganz nebenbei, von diefen Perfonen ausgefagt wird, man faßt doch vertrauendvoll die eine Seite an, die fie und, Fräftigft außgeprägt, vom Stüde her zuwenden, und taftet ſich mühelos um ihr ganzed Wefen herum. Es ift eben noch gemug dahinter. Irgend ein Ton in ihrer Mede, eine Wendung, eine Antwort, ein Audruf, wen fie fommen, ein Schweigen, wenn fie gehen, läßt und manchmal erraten,

590

was fie auch außerhalb der Szene find, was ihre Art flr den Gehalt ihrer Zeit und was fie für und Heutige bedeuten mag. So Marei, das bufchende Irrlicht einer im gefahrvollen Dienen beglüdten Frauenjeele; fo Löffelbolz, der Praftifche, Kluge und Guͤtige; fo Jakob Kobl, der Nepräfentant des urewigen Pöbeltroges, der nur feiner eigenen Gemeinheit vertraut, bis ihn feine eigene Dummheit zufhanden macht; fo der Schäferhans, die bare Beftialität in der Welt, der Tölpel mit dem Zotfchlageprügel, der blutige Handwurft der Geſchichte. Und Tellermann mort de ma viel der wie ein urzeitliher Rieſe durch feine zwei Szenen raft, einmal betrunfen und einmal zu Tode getroffen, und doch in feiner innern und aͤußern Lebendigkeit fo greifbar, fo nab, fo ganz zu uͤberſchauen! Diefes ift viels leiht das befte Beiſpiel: Tellermann liegt fhon tot; aber während Geyer nun den erflarrten Fingern die fchmarze Fahne entwindet, fteigt aus feinen Worten die Seele diefed Starfen, Treuen noch einmal licht empor, und ihre Strahlen fallen auf fein ganzes frübered Leben, daß wir im großen Umriß feine Notwendigfeit genau erfennen fünnen. So find überall durch das Stud bin die Fichter verteilt, die in flreifenden Schimmern oder im plöß- lihen Aufbligen irgendwie die Zeit und ihre Menfchen ind Tieffte erbellen und dem Gefühl der Gegenwart außliefern. Aus Kleinem und Bereinzeltem baut fi) da ein feit gefchloffenes, unabweisbar uͤberzeugendes großes Bild. Mit trefflih Fopierten Antiquitäten ded Stils wäre das nie berzuftellen gewefen; die Kraft eined Dichter mußte zur Echtheit ded Vergangenen noch die heutige, die ewig dauernde Echtheit hinzu erfchaffen.

Mitten drin in diefem vielfarbigen, buntfädigen, lichterreihen Bild einer Zeit flebt der Held, ftebt Florian Geyer felbfl. Daß er, in all feiner Mannbeit und Lauterfeit, die flnf Akte des Stüds hindurch ohne Tat bleibt, fommt der Tragddie, nicht feinem Heldentum zu Schaden. Er er- fheint um fo größer und beldifcher, je wirrer alled um ibn ber zerfließt und zerfällt. Er flebt nur da, und die andern miffen zeigen, wie ftarf und gerade und feelengefund diefer eine unter den vielen Wilden, Schwachen, Miedrigen, Gemeinen if. Das ift das Meiſterſtück diefer ſchwarz⸗weißen Holzſchnittkunſt, daß fie mit allem Licht und allem Dunfel des ganzes Bildes julegt immer wieder irgendwie dieſe eine größte Figur darin trifft. Go wird auch ohne Tat die Stärfe und Reinheit feines Heldentums glaubhaft. Tauſend Zeugniffe ftehen dafür auf; und wenn wir nur dem Fleinften ver trauen, fo müffen wir fie auch alle ald echt hinnehmen. Denn eines ift durch das andre, mit dem andern, für dad andre da. ine große inner- lihe Wahrbaftigfeit halt alles das umfchlungen und verbunden.

Florian Geyer ift der Kern und die Seele ded Ganzen; technijcd und dichterifch und ſymboliſch. Sein Heldentum ift ſchlichte Geradheit und Treue zur Sache. Seine Kämpfergröße und Hauptmanns Dichtergröße baben innige Verwandtſchaft miteinander; diefelbe ftolge Demut befeelt fie. Hier zeigt fie fich in der fargen, an großem Wort und flarfer Bewegung armen Manier, in der doch Großes und Starkes zur Erfcheimung gezwungen

591

wird. In diefem Drama, deffen Inhalt foziale® Aufbäumen und landüber- jiehender Krieg ift, ertönt feine anftachelnde Rede, fällt fein Schwertbieh, ift feine Truppe und fein Lager zu ſehen. Das alles bleibt zurüd, muf binter den Menfchen und den Menfchlichfeiten erraten und erfühlt werden. Diefe wunderbare, ganz asketiſche Keufchheit im Techniſchen war es viel- leicht auch, die den Dichter aus der Nähe alles Aktiven und Heroifchen, aus dem ganzen Umkreis des eigentlich tragifchen Geſchehens weggeſchredt bat. Aber ihr ift e8 doch wieder zu danken, daß da ein Stil geſchaffen worden ift, der zugleich die Wahrheit der Gegenwart und die Kraft ber Entruͤckung bat; eine Technik gefchichtliher Darftellung, die ihre Größe in ihrer abfoluten Nedlichfeit fucht. Es ift die deutfchefte dramatiſche Hiſtorie feit Goethe und Kleiſt. (Denn: deutfch fein fagt Richard Wagner beißt, eine Sache um ihrer felbit willen tun.) Es it der größte Triumpt ded modernen deutfhen Naturalismus: denn er bat Damit, indem er übe fein Wefen hinauswuchs, fich felbft aufgehoben.

Dämmerung) von Harry Kahn

IF: Meer her Friecht die Dämmerung in die Gaffen, wie ein gewaltig beutemwitternd Tier,

und ihre fahlen, fhweren Fänge faffen

nad) Mol und Mauer, Brüde Prahm und Pier.

Nun fchauern alle Schiffe an den Tauen, und ihre großen Segel blähn fich bleich. Die fragend in die Ferne fahn, die Frauen, mit zagen Blicken ziehn fie beim vom Deich.

Nun haften alle Kinder in die Häufer

und ſchwatzen ängftlih um das ſchwache Licht, die Alten aber fchreden auf, wenn beifer

vom Fleet ein Schrei fi in ihr Sinnen bridt.

Auf ihrem Wefen liegt ein banged Warten wie Ahnung einer noch entfernten Not. . Vom Hafen aber naht, in knappen, harten Taten gerudert, einfam fi ein Boot. .

Poſſen

8 war eine richtige Empfindung der berliner Buͤhnenleiter, daß nad) E dieſem traurigen Theaterwinter dem noch ein Nekrolog ge—

ſchrieben werden muß das Heiterkeitsbeduͤrfnis des Publikums gar nicht zu uͤberſchaͤtzen fein koͤnnte. Sonſt wagte ed von den ernſten Theatern hoͤchſtens eins, im Mai vergnügt zu werden: diesmal wurden und werden auf fait allen unfern Bühnen Scherze irgend welcher Art getrieben. Sonft ſchien es geboten, auch noc im Unfinn auf fogenannte ‚literarifche‘ Ambitionen Ruͤckſicht zu nehmen, mit der Beluftigung etwa einen zuverläffigen Anſchauungsunterricht in der Geſchichte der berliner Poffe zu verbinden: diedmal waren die Anſpruͤche fo berabgemindert, daß jeder böbere und niedere Blödfinn an und für fih auf Dankbarfeit rechnen durfte. Man machte es fi alfo leiht. Man ging nicht bis auf Louis Angely zuruͤck, der durch feine ſcharfe Beobachtung des lebendigen Tages und der umgebenden Wirflichfeit dad Berlin der zwanziger Jahre, ein uͤberaus barmlofes, Fleinbürgerlihes® und nlchternes, gutmütiged® und bebagliches Berlin ohne politiihe und ohne foziale Aufregungen, Flaffiih treu ge— troffen hatte. Man bielt David Kaliſch flr abgenugt, der um 1848 berum, in den Jahren der Randratöfammer, der neuen Ara und des preußifhen Militärfonfliftd feine politifhe Komödie, wohl aber das politifhe Couplet gefhaffen und darin, mutig und uͤbermuͤtig, diefelben Gedanken ausgeſprochen hatte, wie in feinem ‚Kladderadatih‘; der in diefen feinen Saupttugenten heute felbftverftändlih veraltet ift und dennoh mit einer Anzahl typiſcher, bei aller burlesfen Lbertreibung realer Geftalten bleiben wird. Man verfchmähte fchlieglih auch Auguft Weirauch, der, weniger um den Zuſammenhang mit den politifhen als mit den fozialen Zuftänden feiner Zeit bemüht, mitten unter dad Volk getreten war, einen beftimmten Arbeitöfrei® aufs Korn genommen und die fpezififch berlinifhe Komik darin gefucht und gefunden hatte. Man führte an, daß die repräfentativen Werfe der Blütenperiode im letzten Jahrzehnt beinah alle bei und erneuert worden feien, und bielt fi an Außenfeiter und Abfenfer. Diefe wären ald dramatifche Arbeiten, altbefannt, wie fie obendrein find, nicht der Erwähnung wert. Aber ed darf doch wohl als ein ‚Zeichen der Zeit‘ angefehen werden, daß ſolche Stüde heute folchen Erfolg haben fönnen.

Das Deutfhe Theater gab ‚Robert und Bertram‘ von Guſtav Naeder. Es wäre gar fein Fehler, daß diefer Poffe der Erdboden fehlt, daß fie weder in Berlin noch anderöwo zu Haufe if. Sie brauchte nur der Phantafie ihres Autors zu entftammen. Ach, wäre doch ein Zaubermantel

593

fein, und führt’ er uns in unbekannte Länder! Leider bleibt alles, die erften beiden Bilder bindurd, in den Grenzen einer ziemlid dirren Vernunft, die noch die tollfte Tollheit nach ihrer Bühnenwirffamfeit zu berechnen weiß. Über diefe Grenzen gebt ed in den legten beiden Bildern zwar hinaus. Aber ed gebt teild im die finnlofe Karifatur, teil® in den vollendeten Stumpfjinn, in beiden Fällen alfo in die peinlichfte Sumorverlaffenheit hinein, die den leifen Reiz einer altwäterifchen Liebenswuͤrdigkeit ganz vernichtet.

Bon diefem wie von jedem, aber auch jedem andern Reiz iſt Emil Pobls ‚Songleur‘ mit dem die Herren Meinhard und Bernauer ihre Ferien» direftion im Deutfhen Theater eröffnet haben von Anfang bis zu Ende frei. Was diefe verflaubte Albernheit zu ihrem Vorteil von den fehnöden Plattheiten unfrer Tage unterfcheidet, ift etwa der Mangel an Zoten und an Umzügen entkleideter Jungfrauen. In allem übrigen ift fie genau fo wäfferig und leer wie der übliche ungefalzene Narrenſpaß der berlinifchen Poffengegenwart.

Das dritte Stud, das im Neuen Schaufpielhaus zu ſehen ift, von Heinrich Wilken herrlihrt und, Hopfenraths Erben‘ heißt, ift wenigften® lofe mit der großen Vergangenheit der Gattung verfnüpft. Es if, fuͤr fi genommen, wahrhaftig nicht reich, weder an Geift noch an Menſchlichkeit, aber e8 ſchwebt doc nicht im luftleeren Raum, wie jene beiden Machwerke. Es bat eine Ummelt, einen Bintergrund: dad gar zu baftig bochgefommene Berlin der erften fiebziger Jahre, das nur durch einen Krach wieder ind Gleichgewicht, in die Bahn eines ruhigen Wachſtums zu bringen war. Mit lebrbafter Ab⸗ fichtlichfeit fontraftiert das Stüd in einer einfältig primitiven Handlung die preußifche Refidenz und die deutſche Reichſshauptſtadt, ihre alte und ihre neue Bevölkerung und wird dadurch ein recht grobed Drama, aber immerhin ein Drama,

Der Inftinft, der die dramatifhen Qualitäten von Hopfenraths Erben‘ als ein Hindernis für den Erfolg anfah und nach Kräften unterdrüdte und ver⸗ mwifchte, hat nicht geirrt. Alle drei Stüde haben mit den gleichen Mitteln gefiegt, die vorwiegend die Mittel des Varidtes, der Operette und des Zirkus find. Ja, felbft wo Schaufpielfunft an diefen Siegen teil hat, ift ed nur in drei Fällen die Kunft realiftifh humorhafter Menfchendarftellung, in allen andern Fällen die Kunftfertigkeit menschlicher Gelenfe und Stimmbänder, die Wißigfeit parodiftifcher Sonderbegabungen. Die Eoupletd und Kalauer, die Duette und Quodlibets, die Tänze und Chöre find kaum noch durch den befannten roten Faden ver- bunden. Es ift der ziemlich unverhüllte Triumph der einzelnen ‚Nummer‘, Die Einlage ald Selbſtzweck. Sie kann an jeden Fleck geftellt und um beliebig viele Strophen verfürzt oder verlängert werden, die ſich in ihrem inhalt weder um die Zeit, noch um die Tendenz, noch um dad Milieu der ‚Handlung‘ zu kuͤmmern brauchen. Straußend ‚Salome‘ in den Gründer

594

jahren. Diefe Zeplerfhe Parodie ift ja am fich wirklich furdtbar luftig. Man fann nicht anderd ald Tränen lahen. Es ift nicht die einzige Gelegen- heit. Jugendliche und weniger jugendliche Komiker, wie Harıy Walden und Ernft Arndt bei Halm, wie Hand Waßmann bei Reinhardt und bei Mein- bard»Bernauer, tradhten mit Glüd, eine möglichft unabreißbare Kette von Momenterheiterungen berzuftellen. Nebenbei, wie von ungefähr, gelingt es ihnen auch, den typifchen Berliner all in feiner Kauftif und feiner Schnoddrig« feit, in feiner Firigfeit oder feiner Behäbigfeit, in feiner Auferlihen Kratz⸗ bürftigfeit und feiner inwendigen Treuberzigfeit auf drei verfchiedene Arten gleich echt audzuprägen. Aber bier gerade ift der Punft, wo die Luftigfeit des nicht ganz oberflächlichen Zuſchauers in Traurigkeit umfchlägt. Er denft daran, welcher Wert noch vor wenigen Jahren darauf gelegt wurde, die ganze Vorftellung einer Flaffifchen berliner Poſſe mit folder Echtheit zu durchdringen und fo ein einheitliches Fünftlerifches Kulturbild zu geben. Er fragt fich, wieviel larer in fo furzer Zeit unfer äfthetifhes Gewilfen geworden fein muß, wenn man es unternehmen fann, uns in fünf Wochen drei Meben- werfe einer Mebengattung der Vergangenheit anzubieten, wenn man darin, in ffrupellofer Stilbarbarei, hundert Einzeleffefte aud allen möglihen Zeit- altern zufammenwärfeln darf, und wenn man fir diefe Arbeit noch durch beträchtliche Erfolge belohnt wird.

Diefe Erfolge find doppelt bedauerlihd. Sie fördern den Hang der Menge, ein Finftlerifhed Ganze außer acht zu laffen und ſich lediglih an die Teile und Teilchen zu halten. Aber fie verhindern auch unſere wiß- begabten Autoren, dad brache Feld volfötiumliher Komödiendichtung anzu⸗ bauen. Ald dad MWallner-Theater vor dem Ruin ftand, trat der Direftor Hafemann an Hauptmann und Sudermann (die damald noch zufammen genannt wurden) mit dem Vorſchlag heran, für ihn bumoriftifch-fatirifche Spiegelbilder ded modernen Volkslebens zu fchaffen. Er wurde nicht gehört. Er würde beute wahrſcheinlich ebenfowenig gehört werden. Und doh brauchte die berliner Poſſe nicht nur eine Vergangenheit zu haben: fie könnte aud) eine Zukunft haben. Die Maffe der Zugewanderten und dad unvergleichlih bewegtere Weltitadtleben der letzten Jahrzehnte haben den Typus des Verlinerd neu ausgeprägt. Wer ihn faßte und fefthielte, wer wieder einmal die Komik im wirflihen tätigen Leben ſuchte, wer die fchwebenden fozialen Fragen, um aus der jüngften Gegenwart nur den Bäderftreif und den Ausſtand im Baugewerbe zu nennen, von irgend einer humoriftifchen Seite aufjugreifen verftunde, wer ed, mit einem Wort, veranfchaulichte, wie die Berliner von beute fribbeln und wibbeln, arbeiten und feiern, wer dad täte: der fönnte und von dem hergebrachten Jammer diefer unkuͤnſtleriſch halben Wiederbelebungsverfuche befreien.

595

Friedrich Weidemann/ von Richard Specht

erfwürdiger Fall. Ein Bariton, den man ſich ald ‚Trompeter vom

Säkfingen‘ faum vorftellen fann. Mebr: einer, der ſich ficherlich

nie danach gefehnt bat, ihn zu fingen, und der, wenn er ed wirflic) verfuchen wollte, dad blafende und dichtende Idol der deutfchen Zung« frauenfchaft zu geftalten, ganz gewiß ſchlecht wäre. Wenn aud in einem andern ald dem üblihen Sinn: ed fäme etwas nachdenklich Menſchliches in die Figur, dazu etwas fehr Typiſches aus der Landöfnechtd- und Burſchen⸗ jeit: eine Geftalt voller lebendiger Werte, die da® Ganze umbedingt fprengen müßte, weil alle ‚dramatifchen‘ Proportionen ſich verſchoͤben, die nichtige Unbaltbarfeit des Textbuchs, die unfagbare Leere diefer Familienblattmufif in greller Klarheit ploͤtzlich entfchleiert würde, „Behuͤet dic) Gott, ed waͤr nicht fhön gemefen.‘ Freilich: möglicherweife fehr lehrreih und aufichluß- bringend. Aber da die gewonnene Einſicht doch nichts nüßen würde, außer bei jenen, die fie ohnehin fchon hatten lieber niht! Es wäre ſchade um die fchöne, ehrlihe und fefte Runft des jungen Sängers, die fo gar nichtd typiſch Komoͤdiantiſches bat, dag fie bei Unbedeutendem verfagt und bei den hoͤchſten Aufgaben erft fruchtbar produftiv wird.

Seine Begabung ift fehr germanifh. Bon dem glänzenden romanifchen Einſchlag, der am ‚veredelten Gaufler‘ hoͤchſte deutfche Erfcheinung: Mitter- wurzer binreißend zu entzuͤcken vermag, ift bei Weidemann nicht. viel zu fpiiren: nicht8 von verfchlagener Anmut, frecher Liebenswuͤrdigkeit, fchillernder Bielfarbigfeit des Geifted, von leichtfinniger Verwegenheit lachend erobernder Naturen. In ihm ift alles gebändigt. Alles Zucht umd Gehorfam. Er erobert langfam und ernitbaft. In feinem ganzen Weſen ift etwas Schwer⸗ blütiges, und felbft die ftarfe Güte, die der Grundton feiner fhaufpielerifchen Geftaltung if, bat nichtd mit jener leuchtenden, frohen, beweglichen Guͤte gemein, die durch jede Darftellung Ermete Movellis Flingt: fie iſt ftiller und zuruͤckhaltender. In feiner ruhigen, erniten, jungen Männlichfeit und in feinem berzlihen Humor liegt etwas, was wir hier in Wien nicht ſchoͤner ald mit dem Wort ‚baumeifterlich‘ benennen fönnen. Weshalb man ed ihm lieber gar nicht zumuten follte, galante Frivolität, tuͤckiſche Grazie, forglofe Verruchtheit oder ränfevolle Bosheit zu verkörpern; eber ſchon fein Petrucchio von heuer bat das wundervoll gezeigt adeligen Ubermut und vollfhaumende Kraft.

Das ift wohl auch der Grund, warum es einem bei feinen Mozart» menfchen feltfam ergeht: man hat ein leifes Geflihl mangelnden fünftlerifchen Gleichgewichts. Er gibt ihnen zu viel und zu wenig; gleichzeitig. Von feinem Don Juan möchte ich lieber noch gar nicht fprehen: er it offenbar nicht fertig. Oder vielmehr: Weidemann ift beim erften Angriff abgeglitten; bat ed gefpürt, daß es ihm noch nicht ganz geglückt ift, aus dem ftetd in Verlegenheit verumglüdenden Liebhaber einen herriſch fatanifchen Kavalier zu geftalten, und daß fo die Figur in der Mitte zwifchen der Sagengeftalt

596

und der Mozartfchen ſtecken geblieben if. Jetzt verſucht er, zu ergänzen, Lichter aufzufegen. Was nie zum Ziel führt, wenn er nicht fofort das Wefentlihe 'zu paden befommt. Er wird ſich gedulden und dann noch einmal den Angriff wagen muͤſſen; wobei es ebenfo fraglich ift, ob der Don Juan fuͤr fein Naturell zu zwingen ift, ald: ob es uͤberhaupt möglich fein kann, die ganze, fehr disparate Geftalt einheitlich menſchlich⸗ uͤbermenſchlich und -untermenfchlid zum Ausdruc zu bringen. Davon alfo erft, wenn eb ihm endgültig gelungen oder fehlgefhlagen if. Aber aud mit feinem Almaviva im ‚Figaro‘ ift ed merkwürdig. Sein erfter Eindrud ift prächtig; ſchon deshalb, weil er die chevalereöfe Verlogenbeit und die finnlihe Gier des ehdfichtölofen Ariftofraten ind Sympathiſche zu heben weiß. Vielleicht aber gerade dadurd hat man bei fchärferm Hinhorchen eine Empfindung der Inkongruenz. Er gibt den Grafen nicht als flatterhaften Wuͤſtling. Er nimmt den Schluß ftarf vorweg: der Mann, der feiner Roſine reuig liebevoll zu Füßen finft, bat nie aufgehört, fie zu lieben, auch wenn er, vielleicht fogar nur, um die ftetd aufgefcheuchte Eiferfucht zu betäuben, erofifchen Launen nachgibt. Aber er behandelt fie auch nur ald Laune; bat das Herren- recht aus einem wirklichen, echten Gefühl heraus aufgehoben; ſcheint weniger aus Fiebedneigung mit Sufannen zu tändeln, ald um einer feigneuralen Mode gedankenlos nachzugehen. Nur erhöht ihm jetzt der Widerftand, den er findet, den Reiz einer fonft raſch vergeflenen Wallung, und die Intrige, in die er ſich plöglih ald Genarrter verfponnen fieht, facht feinen hoch⸗ mütigen Eigenfinn zu paffioniertem Begehren und zum gewalttätigen Durch- feßen feines troßigen Willend an; ohne Nüdfiht auf den Wert feiner Neigung und ihres Verlangens. Er ift in feinem Gefühl verwirrt; unter- ſchaͤtzt die Liebe zur Gattin, obgleich feine durch die lädyerlichften Kleinig- feiten aufmwallende Eiferſucht ihm Klarheit bringen koͤnnte, wenn er ſich felbft ftatt der Empfindung der verlegten Liebe nicht die der verlepten Ehre vortäufchte. Das alles ftimmt aber, fo einheitlich und menſchlich es fchau- fpielerifh und im mufifalifhen Ausdruck gefügt if, nicht mehr recht zu Beaumarchais, wenn auch bei Mozart die große Rede des Figaro gegen die Ariftofraten wegfällt, Die durch foldhe Geftaltung fo ziemlich illuſoriſch wird; und es flimmt auch nicht mehr recht zu der heitern Galanterie diefer feligen Mufif, weil ed doch ein bischen zu ſchwer und zu ernft gebradht wird.

Man ginge aber ſehr fehl, aus alledem zu fchließen, daß Weidemann diefe und ähnliche Geftalten mit Abficht umfärbt. Er folgt den Intentionen ded Werks mit heißer Treue; aber gleichſam binter feinem Rüden, denm er weiß ficherlich nicht? davon verichiebt fein Naturell die Linien zu einer Zeichnung, die durch ihre unbedingte Eünftlerifche Nedlichfeit und duch ihre Snnerlichfeit auch dann feffelt, wenn fie fi nicht ganz mit jenen Konturen dedt, die der Tondramatifer in feiner Schöpfung gezogen bat. Sind aber diefe Umriffe dem Naturell des Künftlerd von vornherein adäquat, fo tritt eine jener Erfüllungen ein, durd die plöglidh das längft Gekannte neu und durchſichtig wird, und die zum Erlebnis werden. Das

597

gefchieht bei Weidemannd Hand Sachs und bei feinem Wotan. Auch bier ein langfamer Prozeß des Bildend und Werdens: von der primitiven Anlage des bios Wefentlihen an zu immer reicherer Fülle. Wenn id) vorhin gefagt babe, daß Weidemann nicht zu den rafchen Eroberern gehört was Übrigens, nebenbei gefagt, auch von feinem Verhältnis zum Publikum gilt fo ift das nicht fo gemeint, daß er mufivifch zufammenfegt und erft aus lauter fleinen Zügen ein Ganzes zu formen vermag. Wenn er nicht fofort intuitiv dad Entfcheidende der Geftalt fchaut, nicht augenblicklich ihr Unzufälliges, Gefegmäßiged und Organifches erfannt und feinen Ausdrud für fie gefunden bat, fo wird er fie nur ſchwer nachfchaffen fünnen; ſchon deshalb nicht, weil er micht zu jenen gehört, die ſich mit dem ‚Beiläufigen‘ befchwichtigen laffen. ‚Bat‘ er aber die Geſtalt, fo beginnt erft die Arbeit des Belebens, die bei ihm eine langfame, dann auch freilich nicht mehr ruhende Arbeit ift. Dann wird, aber immer nur aus den Zeichen des Werfs, Zug um Zug angefeßt; immer neue und immer einbeitlihe Einzelheiten, bis eine runde in ſich rubende Lebendigkeit erreicht ift; eine von ſolcher Kraft und Kontinuität, daf fie das Geflihl gibt: der Künftler könnte, wenn man ed wollte, auch alled, was vor dem erften, alles, mas nach dem letzten Aft oder was hinter der Szene gefchieht, mit gleihem Reichtum bis ind Fleinfte Detail darftellen fo ſehr ift er mit dem Menfchen vertraut, den er verkörpert, und fo genau weiß er, wie er fogar auf die Dinge des Alltags reagieren müßte, Vielleicht fommt diefer Eindruck aud daher, daß Weidemann ganz fern von aller theatralifchen Konvention ift; daß fein Ausdrud, auch in dem böchften und wirflichfeitöfremdeften Augenbliden, niemals in ein unwirkliches Pathos fallt, fondern immer ein mehr oder weniger gefteigerter Naturlaut, immer ein dem Leben abgelaufchter und Fünftlerifch verarbeiteter Klang ift. Gerade das ift, befonderd beim ‚Opernfänger‘, fo ungemein felten, und gerade dadurch wirft Weidemann mit ſolcher Wahrbaftigfeit und Glaub⸗ wirdigfeit. Die Mildenburg hat mir einmal gefchrieben, der größte Fehler der Darfteller von heute fei, daß fie fortwährend „beroifch find. Sie wollen immer alles ‚bedeutend‘ machen und verlieren dadurch ganz den natürlichen Lebendton. Ich kann die Stellen in meinen Partien, zum Veifpiel Iſolde oder den Brünnbilden, zählen, in denen ich ind Uberlebensgroße, Heroifche binausfchreite. Fuͤr alles andre bietet unfer Leben Anfnüpfungspunfte genug“. Das gilt auch von Weidemann, und das ift feine ſtaͤrkſte Wirkung. Es gilt fogar von feinem Wotan, und gerade dadurch wird die Tragddie des nah Macht und Liebe lechzenden, in zornige Selbfttäufhung verftridten, nad Befreiung fehnflchtigen und erft durch ſchmerzlich froben Verzicht zu innerer Freiheit und wiffender Liebe verflärten Gottes menfchlid ergreifend zu einem erfchlitternden Verftehen gebracht, wie faum zuvor. Es gilt noch mehr von feinem Hand Sachs, deffen aus milder Entfagung und verbeblter Liebe gereifte Heiterfeit, deffen wehvolle Güte und deffen auf Wahn und Wahrheit, Welt und Traum gelaffen lächelnd und doch mitleidig und mit« freudig blictender Humor meinem fubjeftiven Gefühl nad) noch niemals

598

mit gleicher Eindringlichfeit nachgefchaffen worden if. Wenn er die Er- füllung feiner eigenen Dichter- und Fiebedträume von dem braufenden Juͤngling ernten fieht, hat er einen Ausdrud von zärtliher Väterlichfeit, ftiller Be— fheidung und ſchwermuͤtigem Gluͤck, der einfach unvergeßlich iſt. Weide- mann tut ſich nicht wenig darauf zugute, daß er all die feinen Kleinigfeiten im Detail feined Schufternd und im handwerklichen Habitus feined Sachs in der Werfftatt feined Vaters abgelaufcht und nad) der Erinnerung kuͤnſt⸗ lerifch geformt bat. Das hätte aber wenig zu fagen, wenn er fir den ‚Poeten dazu‘ all die Einzelheiten dichterifcher Erhebung und Refignation nicht aus der MWerfftatt feined eigenen Innern zu holen vermoͤchte.

Seine Mittel: eine Elangvolle, jedem, nur feinem füßlichen Ausdrud geborfame Baritonftimme von folder Schattierungsfähigfeit, dag fie fat in jeder Partie anders zu Flingen fcheint. Er hat ald Pizzarro der bei ihm nicht der augenrollende Wuͤterich, fondern der von Ehrgeiz vergiftete und zu wahllofen Mitteln getriebene Höfling ift ein dunfel befeblendes, von innerlihem Grimm ſchwellendes Organ, ton⸗ unſchoͤn und von wuͤtender Kraft; ald Kurmwenal den Klang der barfchen Zärtlichfeit des Kriegsknechts: die derbe Stimme eines gütigen, rauben Alten; ald Almaviva einen vornehm gefchmeidigen, werbenden und warm überredenden Ton, der nur manchmal, in den Szenen der Eiferfucht oder des hervorbrechenden Autofratißmus, in ftählerne Energie uͤbergeht; ald Nachtwanderer in Pfignerd ‚Rofe vom Liebes⸗ garten‘ eine Geſtalt von unheimlich greller Phantaftif in ihrer flier- nadigen Brunft umd wilden Brutalität grollende Wucht und dumpfen Hohn; ald Donner im ‚Rheingold‘ elementar in der Niefenhaftigfeit der Erjcheinung und der Naturfraft des Ausdrucks eine faft unirdiſch mwetternde, erzene Stimme. Ein Organ von unglaubliher Wandlungsfähigfeit und Charafteriftif, ded innigften Tons ebenfo mächtig wie des herbſten jene, die ihn nur flr einen ‚Darfteller‘ hielten, hat er aufd fchönfte Durch den Konzertvortrag von Mahlers ‚Rindertotenliedern‘ widerlegt, die er mit einer verhaltenen Trauer und einer fchmerzuollen Größe gefungen bat, wie fie felbft Mesfchaert nicht erreicht hat und nur in der Höhe durch eine gewifle Flachheit und Behutfamfeit ded Anſatzes behindert; manchmal wohl auch dadurch, daß die rein phyſiſche Stärfe des Tons nicht immer ganz im Einflang mit der Kraft der Intention ſteht: man denft fi die in ihrem ungebheuern Ausdrud einfach nicht zu uͤberbietenden Ausbruͤche Wotans mit noch mädhtigerm Klang, ald ihn der manchmal man weiß nicht recht, ob aus Fünftlerifher oder rein flimmlicher Sfonomie auffallend zuruͤck⸗ baltende Sänger bier und da an ſolchen Stellen erreicht.

Dann: eine ungewöhnlich hohe Geftalt von prachtvoller Männlichkeit mit einem fhönen, freien, in großen, energifchen und doc feinen Zügen geichnittenen Kopf; ein Leib, der dem Ausdrucd des Ylnglingstums, des Helden und des Greifed gleich gehorfam ift; eine ungemeine Kraft der rubigen und einleuchtenden Gefte. Und vor allem: ein Auge von bezwingendem, leuchtendem Blick; flr die Mitfpieler ihrer eigenen Ausfage nah

599

von noch fuggeftiverer Macht als flir den Zuſchauer, flir den fid das Schauen des Künftlerd und die Vielfalt diefed bannenden, von drohendem, erſchreckendem Zürnen zu ftrablender, laͤchelnder Innigfeit wechfelnden Blicks zu oft im weiten Raum der wiener Hofoper verlieren mag. Er bat nicht eigentlich dad, mas die Franzofen ampleur nennen; um die Bühne fofort gleihfam mit feiner Perſon allein auszufüllen, hat er zu wenig burtige Bordringlichfeit. Aber man fpürt ihn augenbliclih, und allmählich, ganz ſacht, fteigert ſich diefes ‚Spüren‘ doch bis zu jener ampleur: er wird zum Mittelpunft. Das ift am fhönften, wenn noch ein zweiter folher Mittelpunft da ift: wenn er beifpieldweife mit der Mildenburg auf der Szene ftebt. Dann werden ſchau⸗ fpielerifhe und gefanglich-dramatifhe Kräfte fondergleihen frei; man bat fie jungſt, in den Wotan-Brünnhilde-Szenen der neufjenierten ‚Walflıre‘, mit einer Entruͤcktheit gefühlt, die fern von allem ‚Theater‘ ift, und hat durch diefe zwei erlefenen Exemplare jene Ahnung von Höhepunften der Erfcheinung ‚Menfc‘ empfunden, die Schopenhauer ald die befte Wirfung großer Dar- ftellungsfunft begreift.

Im ganzen: nod fein Vollendeter, aber ein mit mwunderfchönem, ge- bandigtem Ungeftim Vormwärtöfchreitender. Keiner von jenen, die blenden und rafc wieder verblaffen. Ein mit zaͤhem Wollen ums Hoͤchſte Ringender und Schritt für Schritt fiegreiher Fuß fallend. Eine künftlerifche ‚Brand‘. Matur: „Alles oder nichts.” Alfo einer der Seltenen aus dem Stoff, aus dem die ganz Großen geformt werden.

Eine Schaufpielerin/ von Guſtaf Kauder

er Vorhang ging auf Über einem Theaterſalon. VBefradte Herren , und Uniformen von verblendeter Pracht mengten fich, beugten ſich

mit zierlich gekreuzten Armen über Stubllehnen, vor welchen Ball- damen faßen, direft aus der chemifchen Pußerei. Durd eine Tür, deren Größe allzu fihtlih nur den Zwecken eines effeftuollen Auftrittd und Ab» gangs beftimmt war, drängten Gäfte mit jener ungewählten Häufigfeit, die jeder Negiffeur für den erreichten Realismus mondäner Geſellſchaften hält. Gefprähe wurden nur mit den Händen gefprochen, und blos die beffer be- zahlten Schaufpieler mübten fi) um die Nachaͤffung eleganter Klatfchereien. Sie erzählten von Parforcejägern, die mit dem Pferd geftürzt waren, und taten died mit einer Intimitaͤt, mit der Lotterieſchweſtern über Mesalliancen debattieren. Sie erzählten verächtlid von einem jungen Mann, der Un» fummen im Spiel verloren batte, und fchienen dabei fi fehr nach dem nächften Gagetag zu fehnen. Ihre Medifance war hungrig und uninter« effant, und ihre Bosheiten flatterten weit vor dem Objeft zu Boden. Die Zuſchauer, die das viel beffer fonnten, lächelten geduldig, hufteten und Elappten mit den Sigen, während man oben Angftlih an einem ungelenfen und proßigen Rahmen zimmerte.

600

Dann endlih, hinter einem gallonierten Diener mit Napoleonägeften, fam fie.

Sie war die junge Frau des Haufed und von vornherein beflimmt, auf dem zentralften Stuhl der Bühne zu fiten. Denn fie fpielte das Fach der guten Nollen. In diefem Stüd gab fie die Tochter eined reichen Speku- lanten, die die Banalität ihrer Herfunft nicht nur durd die gezwungene Beirat mit einem Wappentier, fondern nody mehr durch ihren feelifchen Adel ausgeldöfcht hatte. Und die ihre bange Herzendnot in die heimlichen Arme des wahlverwandten Dritten gebettet hatte. Eine adeltriefende Sentimentalität, aus der eigentlich nicht viel zu machen war.

Vorläufig mimte fie vor ihren Gaͤſten die Keufche. Sie nüpte die Schmalheit ihrer Geftalt, um fi unfdheinbar zu machen wie die Reinheit ſelbſt. Sie drüdte die Arme an den Leib, ließ ihre Hände ſchuͤchtern flattern, ſprach ſittſame Säge wie ein heuchleriſches Schulmädchen. Dabei hatte fie eine Angftlichfeit, ihre wirklichen Zufchauer, Die fie nach ganz andern Reizen gierig wußte, nicht allzulange zu enttäufchen. Sie drüdte die Knie durch, reckte ſich aus dem Guͤrtel, betonte obfjön, daß fie wenig oder feine Deſſous trug, fandte file Winfe und unbemerfte Zeichen, die fagen follten: ‚Gar fo anftändig bin ich ja gar nicht!‘

Bei all dem wurde fie unterftügt durch die laszive Borniertheit niedriger Frauen. Sie mahte den Eindrud, daß fie im Privatleben erlefene Genüffe des high life, wie Raviareier und geräucherten Lachs, nur in refpeftuollem Hochdeutfc nennen würde.

Man ftürzte fih auf fie mit anzüglichen Fragen und Tugendfallen, die fie mit einer Gewandtheit vermied, wie fie die Morbereitung auf zwanzig Proben verleiht. Man erzählte ihr nochmald und ausführlicher den Ruin jened unglüdlichen Spielers, und die Zuſchauer errieten aus der auf fälligen Wiederholung, daß er derjenige fei. Sie aber zudte mit feiner Wimper, und nur dad Taſchentuch Fnitterte zwifchen den Fingern. Dann aber ftand fie, ging unruhig ‚abfeits‘ bis an die Rampenlichter und blidte mit myopiſch zufammengefniffenen Augen in den Zuſchauerraum. Ihr Blick war: ‚Ich Schlange!‘ und ihre Haltung prablte: ‚Wie ficher, wie diöfret ich bin!‘ |

Die Zuſchauer fegten fi auf ihren Plägen zurecht: num fing es erft eigentlih an. Sie batte den ‚Kontaft‘ gefunden.

Sie hatte eine Szene mit einem Mann in ledernem Automobilrod, ihr verfchmähter Bewerber aus frühern Zeiten, an dem fie die Graufamfeit bewies, einen Mann in feinem Wort ernft zu nehmen. Danach hatte fie ein Gefpräch mit ihrem Water, worin fie die Perverfität bürgerlicher Defa- bence verriet. Mehr und mehr entfeflelte fie ihre Geſchlecht.

Dann fam er, ihr Liebfter, der Spieler. Er hatte ein Schaufpieler- geficht mit Flobigen Kinnbaden und einen phlegmatifhen Bauch. Er mimte die Lebenshärte ded Kartenfpielerd mit Enirfchenden Zähnen, mit niedriger Stirn und hohem Kragen, und holte die fhwingende Stimme aus einer

601

pathetifchen Seele heraus. Seine Hoſen waren, befonderd um die Knöchel berum, trivialfter Mittelftand.

Sie fiel über ihn ber in Verzehrung, umrang ihn mit burtigen Armen, Ihre Küffe waren brennende Lafter. Sie tobte über ihn hin, zum Krampf verzerrt, im bufterifcher Gier, die jeden Augenblick an fi reift. Ihre Stimme brady und fehluchzte von Entbehrung, von allzulangem Meiden und Gemiedenfein, in lallendem Verlangen. Ihre Liebe braufte ſtuͤrmiſch einher, ſchrie nach Feben und Sterben und rettender Vereinigung, im Wahnfinn grenzenlofer Hingebung. Ihre lüfternen Finger durchkrochen fein Haar, und über den Schrei nerviger Brunft triumphierten ihre unftillbaren Seufjer, die ihre Unerfättlichkeit rlıhmten: ‚So kann ich lieben, fo ſehr kann ich lieben!‘

Dann, vor den zuruͤckkehrenden Gäften, war fie mit einem Sprung wieder auf den Beinen und von ihm weg, zu meifterlicher Unbefangenbeit erftarrt, während ihre Überlegenheit ihn leife beſchwor: ‚Sprechen Sie doch ſprechen Sie irgend etwas!‘

Sp ftand fie am Aktſchluß aufgerecft vor ihren Zufchauern, mit unver» fhämter Stirn, ald durchtriebene Zigeunerin der Liebe, und ſpuͤrte ftolz die geweckte Erregung zu fi beraufatmen.

Die Zufhauer drüdten fi) die Hände in erſchreckter Verlegenbeit und dachten es fchon felbftändig mit begehrlichem Kigel: ‚Wieviel Raſſe, wieviel Temperament! Ein verfluchtes Frauenzimmer!‘ Vom fchlechten Stud war nicht mebr die Rede.

Sie wechjelte nun Szenen und Gemänder. Aber alles, mas gefagt und getan wurde, fehlen nur mehr ihrer Entfchleierung zu dienen. Die Worte wurden Farben, daraus ſich ihre Schönheit malte, die Geften waren Fichter, die ihre Sinnlihfeit befhimmerten. Das ganze Stüd ſchien nur gefchrieben, um die weiblihen Werte diefer Schaufpielerin glänzend zu verraten. Gie fpielte und ſprach von fi und immer wieder nur von fi felbft.

Sie hatte eine Szene mit ihrem Juwelier, dem fie ihre Schmuckſachen verfaufen wollte, um den iebften zu retten. Aber niemand dachte an Hochherzigkeit. Sie ließ Kleinodien durch gleichgültige Hände laufen, die müde waren von Gold und Edelfteinen. Jeder Ring, den fie weggab, erzauberte die Vifion eined verachteten Werberd, und die Perlen bligten hart, wie Tränen fniefälliger Männer, die Hab und Gut in obnmächtige Schaͤtze verwandelt hatten, um fie vor ihr audjubreiten. Die Koftbarfeit diefer Frau wurde deutlicher Begriff.

Sie hatte eine Szene mit Vater und Mutter, tränende Geftändniffe und wuͤſte Fluͤche. Sie fuchte nicht das Stoͤhnen der vergemwaltigten Seele. Eine mwütende Natur brach los, die alle Ketten des Anftanded von ihren unerbörten Trieben fprengte. Noch au Boden gefchleudert von der väter- lihen Empdrung, zuckten ihre Glieder in brünftiger Sehnſucht. Ihr Schritt war eng von den Leiden der Gejchlechtlichfeit.

Dann endlih in der Wohnung ihres Piebften. Sie fam mit unbe

602

irrter Sicherheit durch das dunkle Zimmer, Wie fie mit dem erften Hand» griff das Ficht fand, verriet fie ihre Vertrautheit in den Wohnungen vieler Männer. Wie fie mit Faltblütigen Bewegungen Hut und Jade von ſich warf, wollte fie geftehen, daß ihre Schlafröde in vielen Zunggefellennifchen bingen. Sie machte fi mit feinen Kämmen dad Haar, und ed mar wie eine Aufzählung all ihrer vergangenen Abenteuer.

Sie fam von dem Mann mit dem Automobilrod, an den fie ſich ver- fauft hatte, um ihren Fiebften zu retten. (Er war noch immer nicht ge= rettet.) Ihr wortlos fprudelnder Mund fpudte den Efel aus vor der er- duldeten Schmach. Aber ihre Hände, die uͤber den fchauernden Leib glitten, wiejen die derb geliebfoften Stellen daran. Die Windungen ihred entfeßten Körpers wiederholten den tierifchen Liebeskampf bis zur Sichtbarfeit. Es war das fraffe Schaufpiel ihrer widerwilligen Beſitznahme.

Zum Schluß dad Gegenftüd ihrer grandiofen Hingabe.

Ihr Liebfter fam, da praffelte ihre Leidenfchaft wie ein Brand. Mit Knien und Armen an ihn gebeftet, gierend in feine Küffe getaucht; jebt in taumelndem Gang verfhlungen, alle Glieder erwartungsvoll gepreßt von der Wucht ihred Wunfches; dann auf ächzenden Stühlen mit ihm zufammen- gedrückt, mit verftellten Augen vor ihn hingeworfen, aus aufgeriffenem Mund fpornende Schreie gellend; taufendfältig wechſelnd, doc dasfelbe erftrebend, in irrem Haften und Taften, Weigern und Hinziehen das uͤppige Verlängern der böchften Luft. Alle Fineffen und Raffinements, dad begehrliche Ver⸗ ftändnid einer ausſchweifenden Frau, die heißen Erfahrungen wilder Jahre ließ fie emporbrennen, fladernd und betäubend, in diefer Minute ihrer ftrahlenden Schamlofigfeit.

Die Zufchauer waren wie erfchlagen, ſchwitzend und erfchöpft zu orgi« aftifher Lähmung. Durch jedes Herz flutete breit der idiotifhe Effeft, den fie gewollt und mit allen Mitteln herbeigeführt hatte: ‚Wenn diefe mic fo liebte!‘ Alle da unten liebten fie und wollten von ihr geliebt fein, nad) dem Bild, das fie bot, bis zur fchmerzlichften Uberfpannung, die nur durch Tod und fnallende Schuffe gelöft werden konnte.

Der Schuß fam, Ihr Fiebfter, der Kartenfpieler und Ehrenmann, er- fhoß ſich hinter einer verfperrten Tür, an der fie in bruͤllender Verzweiflung binfanf, in der Haltung einer gefreuzigten Mänade, mit audgebreiteten Armen, die große Schaufpielerin

die Frau, die ihre Weiblichfeit vor aller Welt berzeigt.

603

Rasperlelheater

Der Kunſt eine Kaffe] von Liber

Das Vorftandszimmer des Dereind ‚Der Kunft eine Kaffe. In der Mitte fteht die Vereinsreliquie, eine wundervolle Kaffette im Stil des Ein- quecento, auf einer Onyrfäule, von deren ſchillernder Marmorfläche ſich das Siegel des Gerichtsvollziehers wirfungsvoll abhebt. Die Wände find mit Bildern bebängt auc bier ift dad Gerichtsvollzieherſiegel obligatorifd. In den Eden find Brofchüren aufgeſchichtet. An dem großen Schreibtiſch rechts figt der Vereindvorfigende, William Schlauer, den Kopf in die Hand geftügt. An einem Fleinern Tiſchchen links ift dad Vereinsmitglied Anton Schaute befchäftigt, dad Wereindvermögen von 4 Mark und 13 Pfennigen nad) Minzenforten zu ordnen.

Schlauer (fährt auf): Sie, da babe ich Sie äben eene ebochale Ent- deckung femadt ..

Schaute: Oh, Meifter, Sie find umermüdlih. Haben Sie wieder eine Ihrer herrlichen Erfindungen für unfer Zukunftstheater vollendet?

Schlauer: Ei freil'ch. Ich due ja nicht andred. Sie wiſſen ja, daß im mein Neformdbeater ooch de Mechanif umerbeerte Driumpfe feiern wird. Mu äben! Durch een Drud uff en Gnopp, nadierlih uff en eleftrifchen, da fol Sie weeß Kneppchen eene Spenenverwandlung in eener Gefunde vollendet wern...

Schaute (bingeriffen): Meifter. .

Schlauer: Nu da.. Und da bab ich Sie gerade diefe dee een bischen versollftändigt. Da id Sie nämlid noch d Anopp! Wenn man an den nur anttppt, Dann verfinft das Publifum, um blos de Bortemonnates bleiben lichen... Was fagen Sie dazu?

Schaute (unvorfihtig): Da fieht man wieder, daß in der Kunſt Knöppe die Hauptſache find.

Schlauer (zuͤrnend): Sie, fein Sie fefälligft nich fo realiſt'ſch in Ihren Eiferungen. So was kann idy nich heern. Ich bin Zdjalift, wie Sie wiffen ..

Schaute: Was ift denn dad?

Schlauer: Das id een Menſch, der Zdjale bat. Und nu glooben Sie nich etwa, daß ich mich mit ſo'n lumpijen, einzelnen Zdjale abgäben däte. Ob nee: das langt mir nu gar nich! Ich habe Sie Fleicy drei Idjale uf een Mal.

Schaute: Welde denn, verehrter Meifter?

Schlauer:Geld,moneyundargent. Ra, mehr genn Sie doc nic) verlang’..

Es Flingelt; Schaute geht, um nadyzufehen)

Schlauer (ruft ihm nah): Sch bin nur unter fewiffen Umfländen zufprechen !

Schaute (fommt zurück): Es find gleid drei Männer da.

Schlauer: Neue DBereindmitglieder?

604

Schaute: Sie find wirklich ein Idealiſt, Meifter. Nein: zumächft der Wirt von dem Saale, in dem Sie Ihren lebten Vortrag bielten. Er will die ruͤckſtaͤndige Saalmiete haben.

Schlauer: Gaͤm Sie ihm die Summe in Brofhlren A eene Marf. Oder, fagen Sie’n, er foll dem Verein beiträten. Da rechnen wir ibm die Saalmiete von’n Eintrittögelde ab...

Schaute (indem er den liberzieher anlegt, den Rockkragen hochſchlaͤgt und eine Wollmüge über die Ohren zieht): Ich werds ihm fagen. Und dann ift da auch gleich der Fehrer Ihrer Akademie, Doftor Schliefner. Er fordert fein Saldr, das er noch zu friegen bat.

Schlauer (empört): Mee, ſo'n Panaufe! Mee, nee wirflih| Gehn Se naus, Schaute, und fagen Se’n, Menſch mit fo veraltete Anfichten gann mir niſcht nügen. Saläre gann jeder zabln. Saläre ham fe bei'n alten Schaufpielfhulen ooch gezablt. Ich will'n Neformtheater machen. Bei der Akademie von’n Neformtbeater zahlt man feene Saläre. Das id aͤben der femwaltige Unterfchied. Und uff die Unterſchiede gommts doc an!

Schaute (nimmt eine Geſichtsmaske vor); Ich will dem Doftor das gern mitteilen. Aber ob er fich damit zufrieden geben wird?

Schlauer: Ma, dann, bitte, fagen Se'n, er fol doc gefälligft an die Theater von’n alten Attifa denfen. Das find meine Vorbilder! Er fol mir mal erfcht bemeifen, ob die Pädagogen in’n alten Attifa Saldr be— fommen ham. Und. . na, und 'ne Mark Vorſchuß genn Se'n ooch gäben .. Sie, und wer is'n der dritte, der draußen is?

Schaute: Ein Herr aud Berlin W., der fi Ihre Ideen vortragen laffen will.

Schlauer (jpringt auf): Menih, Sie find ooch keen richtijer Idjaliſt. Und da quaffeln Sie mir bier von Miete und Salär! Unflaublih. Laffen Se’n rein. Aber das fag ih Ihn', Schaute: ſowie ein einziges andres Mitflied in mein Verein eingetreten ift, treten Ste aus!

(Schaute ab, Morig Großgeld, ein Kapitalift aus Berlin W., fommt)

Großgeld: Nu? XAlfo?

Schlauer (fpricht jegt mit Vermeidung des fächfifchen Akzents): Hoch⸗ verehrter Herr. Es ift Flar, daß ſich heutzutage niemand mehr im Theater wohlfühlen kann ..

Großgeld: Stuß! So oft ich ins Metropoltheater jehe, komm ich auf meine Koſten.

Schlauer: Selbſt die Schaufpieler empfinden das Entwuͤrdigende der gegenwärtigen Situation, in der dad Theater nur noch zum Amüͤſement, nicht zur Erhebung dient...

Großgeld: Wenn idy mich erheben will, fahr ich in’n Luftballon.

Schlauer: Ich fage: die Schaufpieler verachten ihren Beruf. Ich ſah neulih, wie Baflermann unmittelbar vor dem Leffingtheater ausſpuckte. Das fpricht Bände!

Grofgeld: Ich weiß nich: meine Mieze fagt immer, fo wohl wie bein

605

Theater bat fe ſich frieher ald Konfektioneufe nich jefiehlt. Ma, und was

wollen Sie nu machen?

Schlauer: Jh will eine neue Generation von Schaufpielern und Schaufpielerinnen beranzieben. Nicht nur dad Organ, auch der Körper muß gruͤndlicher ald bisher fuͤr die Aufgaben der Bühne vorgebildet werden.

Großgeld: Körper? Is jut! Mit fo ’ner Neformation wird ſich mas anfangen laffen. (Draußen erhebt fich ein furdhtbares Geheul. Schaute wird von dem Wirt und Doktor Schließner verprügelt)

Großgeld: Was ift denn das?

Schlauer: Ein Apoftel, Er leidet für feinen Meifter. Das ift ja ſchon

immer fo gewefen... Grofgeld: So, fp.. Körpers zuruͤckzukommen . .

- nr ee

Aber um mu wieder auf die Ausbildung des Sie haben fid) an mid, jewendet, weil Sie Zeld brauden, und wenn ich Seld jeben fol (Sie reformieren weiter)

WNuocaor

Breslauer Theater

o um den 15. Mai pflegt man

fein Urteil uͤber die Theaterſaiſon endgültig abzufchließen. Diedmal aber ift alled bei und anderd. Wer von der Spielzeit 1906/7 das Wefentliche fagen will, darf erft volle drei Monate fpäter ald gewöhnlich reflımieren. Denn der eigentlihe Schwerpunft der theatra- liſch⸗ literariſchen Ereigniffe ift in den Sommer verlegt, deffen Buͤhnenſen⸗ fationen fir und durch die Ode des offi- ziellen Theaterwinter® vielleicht über Gebühr an Bedeutung gewinnen : Im Robetheater bat Reinhardt ſoeben Hauptmann und Schalom Aſch, Wede- find und Courteline gefpielt (teilmeife in einer Ausgabe flır die Provinz) ; im ‚Bredlauer Schaufpielhaufe‘ führt Barnowskhy die Hauptſtuͤcke feines Re⸗ pertoires vor; im Stadttheater iſt das wiener ‚Deutfche Volkstheater“ ein⸗ gezogen; und den Novitaͤten⸗Reſt will

606

etwas fpäter eine literariſche Sommer- bühne aufarbeiten, Das alfo ift die wirkliche breslauer Saifon, beftritten von Berlin und Wien im Mebenamte, Was fi) in den ganzen langen Mo naten vorher ereignet hat, wäre zum allergrößten Teil nicht wert, außerhalb der engften Mauergrenzen genannt zu werden, wenn e& nicht fo topifch für die Wünfche des Publikums und feine präzifierten Neigungen wäre. Einige bübfche Zahlen, in die fich die, Ver⸗ einigten Theater‘ und das neue, Bred« lauer Schaufpielhaus‘ bruͤderlich teilen. Lobetheater: An achtzig Mal ‚Die luftige Witwe‘, über flnfjig Mal ‚Öufarenfieber‘. Schaufpielhaus: Liber fünfzig Mal, Taufend und eine Nacht‘, etwa dreißig Dial ‚Der Goldfilch‘, an zwanzig Mal ‚Schügenliefel‘ und ‚Dufferl‘, etwa zehn bis fiunfjehn Mal ‚Zurheirat‘. Einfache Addition lehrt, wieviele Abende die beiden dem Schau⸗

fpiel gewidmeten Bühnen für ihre natürlichen Aufgaben übrig hatten, zus mal ihr Spielplan ja auch einige andre Operetten enthielt, die noch nebenbei

egeben wurden. Bis das Tobetheater Feine beiden göttlihen Schlager fand, das heißt alfo: in der erften Hälfte der Spielzeit, befaßte man ſich mit drama⸗ tifchen Gaben, die nicht im Bereich der kuͤnſtleriſchen Diskuſſion liegen. ‚Sher« lod Holmes‘ fehlte nicht, und füreinen guten Reſidenztheaterſchwank war man ſchon fehr danfbar. Schuͤchtern wagte man ſich einmal an Ibſen, zweimal an fogenannte Uraufflihrungen, wunder» bar findlihe Milieus und Tendenz- dramen von vorvorgeftern. Später, ald mit dem Einzug des „Öufaren- fieberd‘ und der ‚Luftigen Witwe‘ die Raffenrapporte zufrieden ftellten ſchminkte man fich die fchlecht und fluͤch⸗ tig gemachte fünftlerifche Maske aufs atmend ab. Eingefhoben wurden in die großen Serien ganz vorlibergehend Schoͤnherrs ‚Familie‘, eine fehr an- greirbare Gewaltstragoͤdie, Herzogs ‚Condottieri‘ in einer alle dramatiſchen Momentwirfungen glatt unterbinden den Aufflibrung, Dreyerd grellleuch- tende ‚Hochzeitäfadel‘ und ‚Die luftige Doppelehe‘. Das gab und die Bühne Theodor Lobes im Winter 1906/7. Und Breslau war durchaus einverftanden. War auch damit zu⸗ frieden, daß dad ergänzende große Drama im Stadttheater in der bier üblihen Weiſe behandelt, alfo teils kliſchiert, teild an die Wand gedrückt wurde. Die Direftion wird auf die Ausnahmen verweifen. Ihr Wille ge- ſchehe: Sie hat ſich je einmal fuͤr Hebbel GWMaria Magdalene‘) und für Ibſen WildenteYintereffiert, ohne ihnen bis ind Letzte nachzukommen, hat dem ‚Hamlet‘ einige ebenfo internationale wie jeitlofe neue Deforationen gegönnt und fchließlih den ‚Sommernadhtd- traum‘ ganz neu audgeftattet, ziemlich ſtlaviſch nad) den Szenenbildern Rein-

bardtd. Dad hat einige Geld ge- Foftet und mußte doch ziemlich ſinn⸗ [08 bleiben. Denn die Bühnenleitung fonnte ſich vorher darüber klar fein, daß fie weder die Schaufpieler noch den Regiffeur fiir Shafefpeare hat, und daß es nicht förderlich wäre, um jeden Preis den nabeliegenden Vergleich her- audzufordern. Zugegeben: was imi- tiert werden fonnte, war muͤhſam und forgfältig imitiert. Aber ſchon die peinlihe Fufammendrängung der Waldbilder aufeineneinzigen fyenifchen Schauplaß bewied ganz deutlich die Grenzen des hier Erreihbaren: es war unnötig, fie fo fra zu marfieren. Im großen gehörte die ernfthafte Ar- beit der Direftion nach wie vor der Oper des Stadttheaterd. Mit man- chem ftattlihen Erfolg, der ſich neben der ‚Salome‘ noch behauptete, hat fie Kritif und Verftändnis dofumentiert. Der fünfte Teil davon fuͤr das Schau⸗ fpiel, und die ‚Vereinigten Theater‘ ftänden anders da. Wenn ihr Herr feine Kraͤfte nicht gerade bis zum Maximum angeſpannt hat, ſo iſt das, Breslauer Schaufpielhaus‘ daran ſchuld, das feine ernfthafte Konkurrenz für ihn bedeuten Fonnte. Die zunftige Kritif bat mit den Kinderfranfheiten diefes merfwiürdigen Theaterbabys fehr, ſehr viel Geduld gehabt: fie hat anerkannt, daß die neue Bühne im Deforativen ſehr refpeftable Feiftungen geboten hat, und daß ihr im anfpruchdlofen Genre manches wunderhübfc gelungen if. Aber der Vorrat von Geduld ift im Laufe der Spielzeit mächtig angegriffen worden. Für eine zweite Satfon von ähnliher Art wirde ed vermutlich nicht ausreihen. Würde dad Schau⸗ ſpielhaus dann wieder einen hoch⸗ feudalen Dilettanten aufführen, der alles zu tun bereit ift, um auf die Bühne zu kommen, mit der ihn zus nächft noch nichts verbindet, dann würde man dad Schaufpielhaus ein- fach auslahen. Würde es ſich über

607

feine Beziehungen zum ernften Drama wieder nur mit Philippi, Leo Lenz und Bojenhard ausweiſen, fo dürfte ihm eine fräftige Ablehnung fiher fein. (Ein Oskar Bendiener darf auf einer Schaufpielbiihne hoͤchſtens ald guter Routinier, fiherlih nicht ald Fite- raturbero8 daftehen. Aber an jenen gemeflen war er ed. Und ein ein- famer Hartleben ift in fo mäßiger Ge⸗ ſellſchaft uͤberhaupt haltlos.) Viel⸗ leicht benutzt man den Sommer, ‚zu feinen Zielen ſich klar zu fühlen‘. In allem: Es ift fein ganz angenehmes Geſchaͤft, vom Theater in Breslau zu berichten. Aber, wie gefagt, die Thea- tergänger felbft find daran ſchuld, daß ed fo ift und nicht anderd. Und warum follte gerade Breslau daß fel- tene Glüc haben, einen Theaterleiter zu befigen, der feine Bühne mehr fein laffen will ald den Nefonanzboden eined minderwertigen Publifums- geſchmacks? Martin Weyl

Berichtigung

Ei Berichtigung ift bier für die

Anzeige der Ibſenſchen WVolfd- ausgabe in Nummer 22 infofern nötig, ald die Außerung: flr die große Ein- feitung fei überhaupt nicht Feder und Zinte, fondern Schere und Kleiftertopf benugt worden, nicht allzu woͤrtlich verftanden werden darf. Tatſaͤchlich find einige Abfchnitte der Einleitung neu gefchrieben, indem für die jingern Dramen Ibfend die Brandesichen Ein⸗ leitungen der großen Ausgabe durch neue Auffäge von Julius Eliad und Roman Woerner erfegt find; und es darf nicht beftritten werden, daß dies ein immerhin erfreulicher Tauſch if, fo wenig mir perfönlich auch die eng

biograpbifche und nationale Ausdeu⸗ Fett

tung bei Werfen fo Fosmifcher Span- nung wie den ‚Rronprätendenten‘ und dem Peer Gynt‘ genligen will. Der upteinwand gegen diefe ganze Ein- hrung: daß fie ftatt eines einheitlich

—— populär werbungskraͤftigen ſthetiſchen Eſſais eine unorganiſch zu⸗ ſammengeleimte philologiſche Biogra⸗ phie gibt, dieſer Einwand bleibt durch dieſe Berichtigung freilich ganz un⸗ beruͤhrt. Dagegen verdient der poſitive Teil jener Ausfuͤhrung inſofern noch eine Ergaͤnzung, als unbetont blieb, daß es einer der Herausgeber, daß es Julius Elias iſt, dem wir den voͤllig umgeſtalteten Tert der aͤltern, den uͤberhaupt neugeſchaffenen der letzten Proſadramen verdanken. produftive Wert dieſer vollendeten Verdeutfhung ift allerdingd durch feine fritifche Leiſtung zu erreichen oder zu überbieten. Fero Gin Bebbel-Sünger Em ‚Tag‘ vom 2. Juni verbreitet fi der muͤnchner Korrefpondent über die Aufführung, von Scholzens ‚Merve‘ unter der Überfchrift: ‚Ein Hebbel-Zünger‘; und um darzutun, wie ähnlich aud der Schluß jenes Dramas einem Hebbelfhen Motiv fei, ſchreibt er wörtlich: „Und traf ihn fo,‘ fagt Rhodope, wie fie ſich den Dolch in die Bruft ftößt.” Dies ift offenbar aus Hebbeld befanntem Drama, Othello und fein Ring‘. Ganz ähnlich ſchließt ja auch ein Shafes fpearefches Trauerfpiel ‚Önges, der Mohr von Venedig‘ mit den Worten: „Nun aber ſcheide ich mid, fo von Dir!” Der Kritifer fagt danach: „NReminiäzenzenjäger könnten in der Scholsfhen Tragödie noch mancherlei entdecken.“ Es ift jammerfchade, daf er und diefe weitern Entdedungen vorenthalten bat! Deutfche Uraufführungen 12.5. Joſeph Lauf: Gotberga, piel. Wiesbaden, Hoftheater. 14.5. Paul Ernft: Der Hulla, Luftfpiel. Köln, Stadttheater. 23.5. Franz Schamann: Die Bib- mardeiche, Politiſches Stud. Wien, Bhrgertheater.

Berantwortlich für die Redaktion: Siegfried Jacobfohn, Berlin SW. 19 Berlag von Deflerheld & &0.,BerlinW.15 Drud von Imberg & Leffon, BerlinW.9

>

20. Juni 1907

Il. Jahrgang Ylıummer 25

Fleck von Ludwig Tieck und Eduard Devrient

Zum bundertfünfzigften Geburtötag (10, Juni 1757 20. Dezember 1801) Tied:

leck war fchlanf, nicht groß, aber von fhönftem Ebenmaße, hatte braune

Augen, deren Feuer durch Sanftheit gemildert war, fein gezogene

Brauen, edle Stirn und Nafe, fein Kopf batte in der Jugend Ähn- lichfeit mit dem Apollo. In den Rollen eined Effer, Tancred, Ethelwolf war er bezaubernd, am meiften ald Infant Pedro in ‚nes de Eaftro‘, der, wie das ganze Stüd, fehr ſchwach und ſchlecht gefchrieben ift, von ihm geſprochen Flang aber jeded Wort wie die Begeifterung des edelften Dichters. Sein Organ war von der Reinheit einer Glocke und fo reich an vollen, flaren Tönen, in der Tiefe wie in der Höhe, da nur derjenige mir glauben wird, der ihn gefannt hat; denn wahres Flötenfpiel ftand ihm in der Järt- lichfeit, Bitte und Hingebung zu Gebote, und ohne je in den Ffnarrenden Baß zu fallen, der und oft fo unangenehm ftört, war fein Ton in der Tiefe wie Metall Elingend, fonnte in verbaltener Wut wie Donner rollen und in Iosgelaffener Feidenfhaft mit dem Löwen brüllen. Der Tragifer, fuͤr den Shafeipeare dichtete, muß, nad) meiner Einſicht, viel von Flecks Vortrag und Darftellung gehabt haben; denn diefe wunderbaren Übergänge, diefe Interjeftionen, died Anhalten, und dann der ftürmende Strom der Rede, fo wie jene zwifchengeworfenen naiven, ja an dad Komifche grenzenden Natur⸗ laute und Nebengedanken gab er fo natürlich wahr, daß mir gerade diefe Sonderbarfeit ded Pathos zuerft verftanden. Sah man ihn in einer diejer großen Dichtungen auftreten, fo umleuchtete ihn etwas Überirdifches, ein unfichtbared Grauen ging mit ihm, und jeder Ton, jeder Blick ging durd) unfer Herz. In der Nolle des Fear zog ich ihn dem großen Schröder vor, denn er nahm ihn poetifcher und dem Dichter angemeffener, indem er nicht fo fihtbar auf das Entftehen des Wahnſinns binarbeitete, obgleich er dieſen

609

in feiner ganzen furdytbaren Erhabenbeit erfcheinen lief. Wer damals feinen Othello fab, bat etwas Großes erlebt. In Macbeth mag ihn Schröder übertroffen haben, denn den erften Aft gab er nicht bedeutend genug und den zweiten ſchwach, felbft ungewiß; aber vom dritten an war er unver- gleichlich, und groß im fünften. Sein Shylod war grauenhaft und geipenftilch, aber nie gemein, fondern durchaus edel. Diele der Schillerſchen Eharaftere waren ganz flir ihm gedichtet; aber der Triumph feiner Größe war, fo groß er aud in vielem fein mochte, der Näuber Moor. Diefed titanenartige Geſchoͤpf einer jungen und kuͤhnen Imagination erhielt durch ihn furchtbare Wahrheit, edle Erhabenheit, die Wildheit war mit fo rührender Jartheit gemifcht, daß ohne Zweifel der Dichter bei dieſem Anblick felbft über feine Schöpfung bätte erftaunen müffen. Hier fonnte der Künftler alle feine Töne, alle Furien, alle Verzweiflung geltend machen, und entfeßte fid der Zu- börer über Died ungeheure Gefühl, das im Ton und Körper diefed Zünglings die ganze volle Kraft antraf, fo erftarrte er, wenn in der furdtbaren Rede an die Näuber, nad) Erfennung ded Vaters, noch gewaltiger derfelbe Menſch rafet, ihn aber nun das Geflihl des Ungebeuerften niederwirft, er die Stimme verliert, fchluchzt, in Lachen ausbricht über feine Schwäche, ſich knirſchend aufrafft und noch Donnertöne ausftößt, wie fie vorher noch nie gehört waren. Alles, was Hamlet von der Gewalt fagt, die ein Schaufpieler, der felbit dad Entfeglichite erlebt hätte, lıber die Gemüter haben müßte, alle jene dort gefchilderten Wirfungen traten in diefer Szene wörtlich ein.

Devrient:

ie großen Mufter, welche Fleck in feiner Studentenzeit begeifterten,

batten offenbar ihre Eindrücke in feinem Spiel zurlid'gelaffen. Seine

bürgerlihen Rollen erinnerten an Schröder, feine beroifhen an Neinede. Von diefem hatte fi) befonderd dad Leichthinmwerfen gemilfer Neden, das Hervorbeben durch Fallenlaffen auf ihn uͤbertragen. Durch dieje Meifter, vielleicht auch durch Borchers, hatte fich ebenfalld der Ausdruck der verbiffenen, in ſich gezogenen Leidenfchaft, die den Zufchauer mit dem Bangen wie vor einem nabenden Gewitter erfüllt ein Ausdrud, der an Ekhof fo berühmt mar, auf ibn fortgepflangt.

Diefe Farbungen waren ihm allerdings ganz unmwillfürlich, ohne alle Neflerion überfommen, und wenn er in voller Begeifterung die ganze Fülle feines Fünftlerifchen Wefend in Schwung feßte, erſchien er durch und durch urfprünglih und urfräftig. Aber wenn er nicht in rechter Stimmung war und leider begegnete ibm das je länger je öfter fo erlaubte er ſich mit diefen und manchen andern Kunftmitteln, die feine reihe Begabung ihm darboten, mit dem ungemein großen Umfange feiner Stimme und ibrer mannigfachen Modulation, der Fähigkeit, fein Spiel unendlich zu variieren, eine Art von mechanifher Spielerei.

610

Diefe Faunenbaftigfeit in feinem Spiele war die fehr unangenehme Kebr- feite einer Genialität, die fich auf die Infpiration des Moments ftellte. Ein leered Haus, der Mangel an Beifall, den er vielleicht felbft verfchuldete, Die Anweſenheit einer einzigen Perfon, die ihm verdrießlich war, Fonnten ihn dahin bringen, völlig gleichgültig zu werden, feine Rolle gänzlich fallen zu laffen, oder Übermütige Spielereien mit Ton und Geberde zu treiben. Oder er verlor wohl aud beim beften Willen plöglic, wie aus phyſiſchen Urſachen, Laune und Stimmung, und nur einzelne Szenen oder Momente gelangen ihm dann noch. Es war eine gangbare Außerung i in Berlin: man wiffe nie, wenn man ind Theater gebe, ob man den großen oder den kleinen Fleck werde zu fehen befommen, und felbft feine größten Verehrer fonnten oft den Unwillen nicht zuruͤckhalten.

Diefe Unart batte allerdings in einer gewiſſen ruͤckſichtsloſen Gewalt⸗ ſamkeit ſeines Charakters ihren Grund und in dem übermütigen Bewußt⸗ ſein von einer Kraft, der die gewaltigſten Wirkungen ein Spiel waren, aber ſie wurde zu ſolchem uͤbermaß eigentlich durch ſeine traurige Abhaͤngigkeit von geiſtigen Getraͤnken geſteigert. Der große Meiſter gab leider eins von den boͤſen Beiſpielen, welche die gemeine Mittelmaͤßigkeit ſo gern vorwendet, um ihre Luͤderlichkeit für Genialitaͤt zu verkaufen. Wie groß aber die Fünft- lerifhe Gewalt war, welche den Unregelmäßigfeiten Flecks die Wage bielt, lehrt ein wenig befannter Vorgang feined Theaterlebens.

Er hatte bei einer Darftelung des Karl Moor, uͤbellaunig und ver- ftimmt, weil feine erfte Szene nicht Beifall genug gefunden, im DVerfolg des Spield eine fo beifpiellofe Gleichgültigfeit gezeigt, Daß das Publikum zu murren begann, und ald er gar bei einem Monologe den Finger in den Lauf feiner Stugbüchfe ftedfte und diefe mit aller Nonchalance zu balanzieren begann, da brach der Ummille der Zufchauer in lautes Zifhen und Pochen aus. led hielt inne, trat einen Schritt gegen die Lampen vor und fab mit feinem wunderbaren Feuerblid uͤber das Varterre hin. Alles verftummte, ein Augenzeuge fagt: der Atem fei ihm vor diefem Blick vergangen, der Staub im Haufe müffe gezittert haben. Nun trat Fleck zuruͤck, und mit plöglih verwandeltem Weſen in feiner Rolle fortfahrend, fpielte er mit einer ſolchen Gewalt hinreißenden Feuers, daß feine aufmerffamiten Bewun—⸗ derer fich feiner ähnlihen Wirfung erinnern fonnten, und das Publikum zu einer wahren Naferei ded Beifalls getrieben wurde.

Schaufpieler wie Fleck find nicht beftimmt, eigentliche Mufter in ihrer Kunft abzugeben, die Kuͤhnheit ihrer Schöpfungsweife darf ſich nur auf die außerordentlichfte Begabung fügen. Fleck Fonnte feine Schule um fich fammeln, wie Efhof, Schröder und Iffland, denn fein Spiel hatte fein Spftem, aber die gewaltigften Impulſe gehen von Künftlern feiner Art aus, eine Erwedung, eine Befeuerung wirfen fie auf ihre Zeitgenoflen, die manche fhlummernde Kraft entbindet. Diefe alles mit fich fortreigende Gewalt des Fleckſchen Genies gab der Schaufpielfunft in Berlin einen neuen Schwung and neuen Glanz.

611

Merve/ von Neo Greiner

ilhelm von Scholzens Tragsdie ‚Mero&‘ fand in einer Aufführung | W des muͤnchner Hoftheaters lebhafteſten Beifall. Das Werk bildet

auf dem gradlinig vorwaͤrtsweiſenden Weg des Dichters eine be deutſame Etappe, wenn auch juſt die Stelle, an der es in Scholjzens rin gender Entwiclung ftebt, ihm nicht glnftig fein fonnte und fo fein rein fünftlerifcher Wert fi nicht auf der Höhe feined Entwicklungswertes ju halten vermochte. Des Dichters frühere Tragödie ‚Der Jude von Konſtan ift zwar dem Ziele nicht fo nahe, wie diefe ‚Mero&‘, die, von ihrem Schöpfer aus betrachtet, ſehr wefentlih und notwendig erfcheint; allein jenes voran gegangene Werf ift das unvergleichlid willensſchwerere, fattere, auch tiefere von beiden und troß des ſchmerzlichen, Noch nicht!‘, das ums daraus ent- gegentönt, dad endguͤltigere. ‚Meroe‘ bringt und nicht viel mehr ald die allerdings fehr wertvolle Gewißheit, daß der Kampf, den Scholjens ringendet Formmwille mit der Materie, fein aufftrahlendes Bewußtfein mit den dunklen Kräften feined Weſens zu beitehen hatte, zu feinen Gunſten entſchieden wird, ‚Meroe‘ fcheint mir der Ausdrud eines Triumphgefuͤhls, das, feiner Kraft und Zufunftäftille voll, in der Überftürzung feines erften Aufflafern die Siegedficherbeit fhon fir den vollendeten Sieg nimmt. Scholzens Geil batte den verborgenen Hebel entdeckt, der die Welt der Dramatifchen Dialeftif in Bewegung feßt, er fühlte fid) mit einem Mal im Vefig des Sclüfel, der die dunfeln, nicht nur feinem, fondern aud dem Ningen feiner Mil kaͤmpfer bis dahin verfchloffenen Pforten zur Form zu erfchließgen vermag. Und erfüllte fi ganz und tief mit diefer beraufchenden Empfindung, die mit voreiliger Gewalt nach Ausdrud begehrte und in diefer baftigen, von flopfender Ungeduld getriebenen Tragddie ‚Mero&‘ ihren Miederfchlag fand. Die fleinen Bedingungen des Theatralifhen werden uͤbergangen, die Einel- motivierung der Sjenifhen Bewegungen mit Bewußtſein bintangefeßt, dad Sprachliche zuweilen rein funktionell ohne Beſchwerung und Bereicherung durd) dad Ausdrucksvolle behandelt; denn der verwegene, trunfene Wille ded Nur-Dramatifers, der ſich rechenſchaftslos dem Geflihle feiner Souverämität bingibt, will herrſchen, allein berrfchen, übernimmt fi) manchmal, fett da und dort in feiner uͤberſchaͤumenden FZielfreudigfeit proviforifche Werte ein, um weiter zu fommen, und fättigt fi) mehr am Einzelnen ald am det Totalitär, Das Spiel aller freien Kräfte ift entfaltet; was wir aber ver miffen, ift die Fnftlerifche Gebundenheit durch das Werf, jene letzte Ergriffen- beit, mit der die fouverän gewordene Schöpfung ihren Meifter zum weiters wirfenden Werkzeug ihred Willens macht. Denn in den größten drama tiſchen Erzeugniffen, die wir befigen, beendete der bewußte Formwille des Dichters den Fünftlerifhen Schaffensprozeß nicht, Das Produft des Be wußtſeins und der Freiheit, deffen Bild der Dichter vor fich hingeſtellt, ſchien die Kräfte zu feiner Vollendung jetzt erft aus dem eigenen Schohe ju gebären, indem es, felbit wieder Natur geworden, zurlicigefunfen in die

612

Elemente, aus denen ed bervorgeholt ward, liber feinen eigenen Erzeuger hinauswuchs als ein Schidjal, das diefen zwingt, ihm in Demut zu gehorchen. Hier aber ift Herrfchaft und Demut, Wille und Trieb, Freiheit und Mot- wendigfeit im Künftler nicht jene endgliltige Verbindung eingegangen, durch die Kunft und Leben, Form und Natur zu einer legten Einheit verſchmolzen werden.

Dafür gibt ed außer dem fehmerwiegendften Grunde, der in Scholzend Entwidlung liegt und die neue Tragddie fo werden ließ, wie fie werden mußte, noch einen zweiten: zum erſten Mal in feinem reihen Schaffen ent- fernte fi) der Dichter von der Erde, die ihm Heimat iſt. Die Stimmung der alten Reichsſtadt Konftanz beherrfchte, vielfältig geftaltet, zu einer farben⸗ reichen, glänzenden Welt audgemweitet, die uͤber des Dichterd Menfchlichftes, über Gefühle, Gedanken und Taten ihr verwildernded Daͤmmerlicht ergoß, fie beherrſchte alle feine früheren Schöpfungen ohne Ausnahme. Jetzt fagte er fih von dem Boden lo8, aus dem feine Kraft gewachſen war, und ent- flob in ein phantaſtiſches Milieu grauer Vorzeit, in mythiſche Verbältniffe, mit denen ihn nichts Urtlmliches verfnüpfte. Auch in diefem Sinne be deutet ‚Meroe‘ einen Übergang: vom Erdgeflhl zum Weltgefühl. Aber während er jened im Tiefften nad allen Richtungen durchmaß, ift er in diefem nod ein Fremdling. Die Traditionen, die er dort mitbefam, muß er fich bier erft felber fchaffen, auf nichts geftüßt, ald auf die großen Geifter der Vorzeit. Die fchwerfte aller Aufgaben: nad unten bauen, bat er mit ‚Meroe‘ erft in Angriff genommen, Aber ed ift alled im Zuge. Freudig empfindet man die Folgerichtigfeit, mit der bei diefem Dichter eines aus dem andern wird.

Ich fagte es fhon: Scholzens Formwille fättigt fih in ‚Merne‘ mehr am Einzelnen ald an der Totalität. Das Epigrammatifche, das er meifterlich beberrfcht, bat feine lodenden, ſchillernden Reize noch nicht fuͤr ihm verloren und läßt feine fcharfen, bligenden Spiten in dem Gemebe überall auf- leuchten. So kommt es, daß die Tragddie ald Ganzes nicht den Eindruck eines fteil, aber ftetig anfteigenden Gebirges macht, deſſen Gipfel fi in den Wolfen verliert, fondern den eines gezadten, bier jäh aufſchießenden, dort unvermittelt abfallenden Felſenzuges. An den Stellen, wo fie in plößlichem Anlauf ihre Höhe erfpringt, geben überrafchende, fat überrumpelnde tbeatralifche Wirfungen von ihr aus, die durch ihre Kürze und Härte jaͤhlings bannen. Dazmwifchen liegen fältere, fchattenbaftere Partien, lıber die der ungeduldige Geift ded Dichter zur nächften Höhe hinwegjagt. So fonnte ed gefchehen, daß fich fchon in der Konzeption der Schwerpunft des Dramas verrückte, der in dem Konflift einer Frau lag, die den Gatten opfern muß, um ihren Sohn zu erhalten. Die tragifhe Löfung erhielt dad Merkmal des Schiefalhaften und Notwendigen dadurch, daf die Mutter, die um ihres Sohnes Willen zur Gattenmörderin wurde, unwiſſentlich von eben diefem Sohne mit Fluch) und Abſcheu Iberfchlittet wird. Danach fonnte der Inhalt ded Dramas nicht? andres fein, ald die Darftellung diefes Konfliftd, aus

613

dem durch immer gewichtigere Belaftung ded einen Konfliktöfomponenten Die Tat emporwaͤchſt, die in der Peripetie durch die Stellungnahme ded Sohnes immer mebr an Schickſalsmacht gewinnt und fchließlic ihre eigene Täterin jermalmt. Allein dies Grundproblem tritt zuruͤck vor jenem andern, an dem es ſich nur entzuͤnden follte, dem Konflift zwifhen Vater und Sohn, und wird erft im fünften Aft berrfchend, nachdem jenes durch den Tod des Vaters aufgetragen ift und die Bühne leer bliebe, ergriffe nicht dad ver⸗ nachläffigte Grundproblem jegt Beſitz von feinen Rechten. Died gefchiebt indbefondere in einer Szene zwifchen Meroe und einem treuen Rat ded von ihr ermordeten Gatten, die an Tiefe und Menſchlichkeit mit dem legten Akt des ‚Yuden von Konftanz‘ wetteifert, aber, wie diefer, nicht feft genug mit der Totalitaͤt der Tragödie zufammengefchweißt ift. Ihr Motiv verträgt

das volle Licht des Vordergrundes nicht mebr, nachdem ed folange im

Schatten geftanden und durch dad zweite, Konflikt zwifchen Vater und Sohn,

zurücgedrängt worden war. Daflır läßt dieſes alle Farben fpielen und ift

im erften und dritten Aft durd das harte Widereinander von Drud- und

Gegendrudfräften ftellenmweife von ungewöhnlicher theatralifcher Kraft, obwohl

ed, im dramatifch-Fonftruftiven Sinn, aud nicht rein erfcheint und an einem

von außen berangezogenen ftofflihen Subftrat zum Audtrag gebracht wird:

Der Vater, König Sarias, iſt der Vertreter der reinen Koͤnigsmacht, fein

Sohn aber den rivalifierenden Prieftern geneigt. Ein Zwieſpalt der

Problemſtellung eröffnet ſich: fie will zum einen Zeil rein Menfchliches,

zum andern gibt fie fi politifh. Handelte es fih um Vater und Sohn,

fo fonnte der tragiſche Zündftoff nur in diefem Verhältnis felbft, von innen

ber, in dem a priori gegebenen Widerſpruch zwifhen Alter und Jugend

gefunden und an einem fr den unlöslihen Zwieſpalt der Generationen

typifchen, irrtuͤmlich notwendigen Subftrat entflammt werden. Handelte es

ſich aber um die politifche Frage, fo durfte fie micht an Vater und Sohn

entwickelt werden, obgleich died eine fehr gluͤckliche Belaſtung des Konflifts,

eine Erfüllung mit tieferer Lebensſchwere zu fein fcheint. Allein nur feheint.

Denn fo wichtig dad Gefeß der Konfliftöbelaftung für dad Drama ift, es

bebt ſich felbft auf, fobald die Belaftung ihrem Wefen nad) oder durch ihre

fonftruftive Behandlung fehwerer ift ald das, was belaftet werden fol. Nun

iſt Scholz freilich viel zu fehr feiner Finftlerifchen Wefenbeit nad) Drama⸗

tifer, um nicht auch über diefe Verfehlung binwegzufommen und aus dem

Konflikt, wie er fi ibm nun einmal darftellte, die ziındenden Funken ber-

auszuſchlagen. Am Scluffe des vierten Alls, der diefen Konflift mit dem

Tode des Königs zu Ende bringt, an einem Punkt, wo ſchon das eigent-

lihe Meroe-Motiv beginnt, aus dem Dunkel herauszutauchen, ſteht die

fhönfte Szene der Tragbdie: der König und Meroe beim Nachtmahl. Sie

ift mit ihrem verbhaltenen Prunf, ihrer drohenden Schweigfamfeit, mit dem

ſchweren Fluß ihrer Worte und ihrer dichterifchen Weisheit eine ganz berr-

lihe Verfündigung deſſen, wad wir von dieſem Kuͤnſtler noch zu er-

warten haben.

614

Berliner Saftfpiele in Wien / von Willi Handl

ie literariſche Miſſion der Brahmſchen Gaſtſpiele iſt ſo ziemlich D erfüllt. Für Hauptmann und für den buͤhnenuͤblichen Ibſen wären

die Maffen des wiener Publifums fchon gewonnen. Was hier früher eine bedenklihe Prüfung für den neu werdenden Gefhmad war, ift nun Bedürfnis und vielgeliebter Genuß geworden. Man fennt fi) aus; man weiß, daß es fich hier um Unterſchiede des Stild handelt, um eine wefentlic andre Form, die mefentlid andern Inhalten entipriht. Die Zahre, in denen ed zunächft um die Form ging, um die neue Wahrheit in der Dar- ftellung von Menſchen, find vorbei. Man dringt, von feinem Zweifel ge- balten, von feiner Diskuſſion befchwert, immer leichter zu den Inhalten vor, zur neuen Wahrheit in der Darftellung von Scidfalen. Mit andern Worten: Man beginnt nun, nachdem die Bewunderung der großen berliner Schaufpieler auch fr den allgemeinen wiener Gefhmad zur Selbftverftänd- lichfeit geworden ift, eine feltfam verfpätete innige Liebe zu Hauptmann und zu Sbfen in fich zu entdeden; denn für uns bier find diefe beiden Namen mit den fhönften und frucdhtbarften Geftaltungen der Brahmſchen Truppe unlöslih verfnüpft. Ging man früber, die Darfteller zu bewundern, fo freut man fich jett auf dad Werk. Wie zum Beweiſe dafür haben die Leute ‚Mieze und Maria‘ und den „Heimlichen König‘ verfchmäht; da es der fchaufpielerifchen Kraft fo berrlic gelungen war, Dichterifche Größe ein- leuchten zu laffen, wollte man fie nicht mehr an Unzulängliches verfchwendet ſehen. Dann lieber gleich irgend eine theatralifche Brutalität; aber wenn ihr und fein fommen wollt, fo müffen ed ſchon eure allerfeinften drama tifhen Koftbarfeiten fein.

Das war alfo die literarifche Miffion: Ibſen und Hauptmann von der Bühne ber in ihrer Größe und Tiefe zu zeigen, die geiftige Widerfpenftig- feit im Parkett und auf den Rängen in Anerfennung, ja in wärmfte Liebe zu verwandeln. Das ift gelungen. Und mehr noch; diefe Art von modernen Meifterfpielen, die und nun jedes Jahr vorgeführt werden, bat unfre Fritifchen Forderungen fchärfer und genauer gemacht. Die heimifhen Theater, miß- trauifch gegen fich felbft, trauen fich faum mehr an Experimente mit Stüden aus dem Brabmfchen Mepertoire. Nur Schlenther machte diedmal eine Ausnahme, indem er, fnapp bevor die Berliner in Wien eintrafen, feine ‚Stügen der Gefellfchaft‘ fpielte. Und er bat, wie mir ſcheint und wie ich vor ein paar Wochen gezeigt habe, Fünftlerifch Recht behalten; das Publifum lief aber doch zu Baſſermann. Sie wollen nun einmal Ibſen lieber von den Deutihen. So fommt ed, daß und die großen Werfe Hauptmannd im allgemeinen nur einmal im Jahr fo ftarf lebendig werden. Da rüden fie immer aufs neue an und beran, immer näher, immer beller, immer reiher an Offenbarung. Die regelmäßige Paufe von einem ganzen Jahr, das ftändige Zurücdfommen auf eine beftimmte engere Auswahl unter den großen Werfen der Moderne bat entfchieden fein Gutes. Es hilft uns,

615

die biftorifche und Fünftlerifche Diftanz, die wir nun zu diefen Werfen gr wonnen haben, fräftiger empfinden. Ihr Wert wird und leudytender, ik Stil überfichtliher. Bei Ibſen heben fih langfam die Gefpinfte verdüfterten Ernftes, die den muͤhevollen Anfängen des Erfennens über allen geiel- fchaftlihen Dramen des Meiſters zu liegen fheinen. Der große, tiefe Wel- bumor feiner Weisheit lacht uns jegt fhon freier und freier aus dem ſelbſt bewußt leichten, oft gar erfinderifch Fühnen Spiel der Deutfchen an. Mur atmet in der Gegenwart von foviel genußreiher Menfchlichkeit fröhliche auf. Der Drud, den die faum bemältigte Fülle fremdartiger, ſcheinbet allzu firenger Gedanken auferlegt hatte, weiht nun. Es wird nicht mehr in zwangvoll furdtfamen Schauern beftaunt. ‚Die Wildente‘ genießen mr wie ein erbaben beitere Spiel mit den Elementen unfrer Unzulänglidfet, den ‚Volfsfeind‘ gar ald eine herzhafte Komddie von angenehm büterem Geſchmack. Noch wunderbarer faft bei Hauptmann. Da zmifchen jenem Stil und unfrer Art die machtvolle Größe feiner Protagoniften Aittner und Lehmann fo bejwingend vermittelt, Fann endlich auch diefes Publikum fiber diefen Stil hinweg zur eigentlichen Wahrheit diefes Dichters, zur Kraft und Tiefe feiner Seele. Auch Hauptmann ift und fo, allmählich böber un boͤher verehrt, durch die Jahre ber von den Deutfchen erft ganz geſchenh worden. Anfangs war er den Leuten bier wohl mur eim nicht fehr erfreu liches Problem literarifchen und dramatifhen Stils; dann fhon ein mil fommener Anlaß, die Niefenfräfte der neuen berliner Darftellungsart fit voll und ihrem Wefen gemäß entfalten zu feben; jeßt lieben wir aud die Unliterarifhen tiber alles Moderne und von außen Natürliche binmes einfach) das ewig Dichterifhe an ihm, den großen, firahlenden Blid, die Weite und Wärme des Gemüts, die Kraft ſtiller und fchlichter Gefühle Hauptmann, der Naturalift, ift und fo felbftverftändtich, fo hiſtoriſch 9% worden, daß er und nicht mehr erregt, kaum mehr befchäftigt; binter ihm tritt jeßt in neu erfannter, herzlich geliebter Schönheit ein Höherer berett: Hauptmann, der fromme Erbauer menfchliher Seelen, Hauptmann, der größte Dichter, den die Deutfchen jegt haben. _ Das war die literarifhe Miſſion. Die fchaufpielerifche verftand ſich daneben beinahe von ſelbſt. Niemand zweifelt mehr an der Größe der Größten, niemand läßt fih auch von den Schwaͤchen und Tonloſigkeiten der Unzulaͤnglichen in den Glauben an eine abſichtsvolle Natüuͤrlichkeit bin einltigen. Vier oder flnf Namen muß man fie nennen? find die Weckrufe und Loſungsworte der wiener Begeifterung für die berliner Schau⸗ ſpielerei. Früher ſchon hatte die einzelne Perſoͤnlichkeit iiber die theoretiſcher Cobpreifungen der Gefamtfpielerei hinweg dad hohe Urteil der Hiefigen an fi) geriffen. Das fegt fi) num mehr und mehr feft; und indem die Kleineren der geniefenden Erinnerung verfhwinden, die Niefen ſich in ihrer doppelten Eigenfchaft ald Driginale und ald dramatifc) wie dergeſpiegelte Menſchenbilder immer kraͤftiger und herriſcher durchſetzen, kommt dieſer Sies der Schauſpielerei doch wieder dem Triumph des Dichteriſchen uͤber des

616

Theater zu gute. Denn in den reinlihen und vielgeftaltigen Gefäßen diefer Kunſt ift gerade das Geiftig-feelifche, dad Zeitgemaͤß⸗weſentliche einer Dichtung am ficherften und am fichtbarften aufgehoben.

Hieß im vorigen Jahr die große Entdedung der Wiener Albert Baffer- mann, fo bieß diesmal ihre liebevolle Wehmut Rudolf Rittner. Noch ein- mal bog ſich der weiterfchreitende Gefhmad zu den Künften des Naturalismus Cdenen er bier niemals anhing) febnfüchtig zurüc, umfaßte vollen Herzens Die elementare Größe diefer Perfönlichfeit und jauchzte ihr zu. Daß er nun von der Bühne fcheiden, daß die Neinheit und Macht diefer Natur von und nicht mehr wirkſam verfplrt werden fol, war den Wienern, denen er ja doch nur gelegentliher Gaft, nie aufweckendes Beifpiel fein konnte, ebenfo berzlich leid, wie id vermute ed den funftgenießenden Berlinern. Nachdem Baffermann feinen Bernick abgefeuert hatte, zwei Novitäten durch⸗ gefallen und die Repriſen vom vorigen Jahr mit gefteigertem Glanz wieder- bolt waren, hatte ſich zulegt alle Aufmerffamfeit auf Rittner fonzentriert. Sein Florian Geyer war die neue fchaufpielerifche Großtat, die und das Gaſtſpiel beuer zu bieten hatte. Wunderbare Harmonie eined Darftellerd mit feinem Dichter im Wefen nicht nur, fondern auch im Höberwerden! Denn wie im Stüd ich befprad) dad neulich der Naturaliamus ſich felbft aufhebt und, fraft der aͤußerſten Konfequenzen feiner eingeborenen Prin- zipien, zum böhern Stil wird, fo findet Nittner, der Koftumfremde, Schollen« echte, hier eine bewundernswerte Diftanz zu fich felbft, indem er, im ſchwarzen Panzer und in der vorväterlihen Sprache, fein Seeliſches um fo feiter und reinliher zu einer Figur zufammenfaßt, der fein großed Weſen alled und der Fleine Alltag nicht? mehr zu geben bat. Welch eine Hoffnung nimmt da von der deutfchen Bühne Abfhied.......

Wir hatten, außer Brahm, auch Direktor Barnowskys Kleines Theater bier. Mit trefflihen Gefamtleiftungen, wie man fie bei und an berliner Saftfpielen zu ruͤhmen gewohnt if. Die befondere Gabe war: Wede— find in feiner ‚Didalla‘. Das bat die Wiener wohl am meiften gereizt, zu bören, wie diefer Dichter, den fie mit böflihftem Bedauern mißverfteben, fi felbft verfündigt. Er bat ed grimdlich beforgt. Seine Art, den Sinn der Worte berauszufagen, ift fo unbeimlih ftarf und deutlich, dag man darlıber vergißt, irgend welche andre Künfte der Darftellung zu verlangen oder nur zu erwarten. Sein Hetman, ein erjened Sprachrohr neuer Gedanfen, ift wie er ihn ſpricht einer der leichteft faßlihen Propheten, die ed je gegeben bat. Man muß ihn unbedingt verftehen; dad wiener Publikum hat ihn ja auch verftanden. Aber indem ihn nun die Gefellichaft ded Dramas fo arg mißverſteht, erfcheint fie ein wenig poſſenhaft verbiädet; was wohl zur beitern Wirkung, nicht aber zur künftlerifchen Durchleuchtung des Ganzen beiträgt. Alfo ftört der Dichter, gerade weil er ſich rednerifch fo wunderbar und über jeden Einwand erbaben zu verfünden weiß, das Gleihgewicht der dramatifhen Kräfte. Er bat zu fehr Recht; und das bedeutet im Drama immer ein Unredt.

617

Schillertheater] von Julius Bab

n der ziemlich emfigen Tätigfeit, mit der die Direktion des Schiller-

tbeaterd dad legte Drittel der Saiſon ausgefüllt bat, gab ed nur

eine Leiftung, die aus dem Kreiſe fchlihtbemühter Abonnements- lieferungen beraustrat und, leichtfinnig genug, die allgemeine äfthetifche Beachtung berausforderte: Man fpielte Hebbell Während feines zwoͤlf⸗ jährigen Direftoratd hatte Direktor Loͤwenfeld bisher auf feinen beiden Bühnen, auf langes, beftiged Zureden der Kritik, ein Hebbelfches Stuͤck berausgebraht vor zwei Jahren: Gyges und fein Ring‘. Schon gegen diefe Wahl lieg ſich manderlei einwenden. War ed Flug, das Publifum ſogleich vor das reifite, aber eben deshalb auch ſchleiervollſte Gedicht Hebbels zu führen? War es gut, den ungeibten Schaufpielern ſogleich die ſchoͤnſten, aber auch fchwierigften Gebilde diefer ganz eigenen Sprache jumumuten? Waͤre es nicht fehr viel näher liegend umd fehr viel ausſichtsvoller geweien, in diefem Kleinbürgertbeater Hebbel einzuflihren mit der großen Tragödie des Kleinbürgertums? Hätten dieſe realiſtiſch gefhulten Mimen nicht viel eber ald zum , Gyges‘ den Weg zu ‚Maria Magdalena‘ gefunden? Gleichviel: Direftor Löwenfeld fpielte den , Gyges‘ und fonnte für ſich anflıhren, daß er den Dichter mit feinem reinften, reifiten, gefchloflenften Werf vorftellen wolle. Nun aber hat er nach zweijaͤhriger Paufe fich wieder an einen Hebbel berangewagt, und was er fpielt, ift wieder nicht ‚Maria Magdalena‘, aber auch fein andres der großen gefchloffenen Werfe Hebbeld, die nun anderswo doch die Buͤhnen mit ihrem ebernen Wort zu erfüllen beginnen: im Schiller⸗ theater wurde das zweiaftige Fragment ‚Molody‘ gefpielt.

Es fallt ſchwer, fi etwas Sinnlofered vorzuftellen ald die Aufführung diejed Werfed an diefer Stelle. Ob Hebbeld ‚Molocy‘ Überhaupt gefpielt werden fol, das ift eine frage. Daß er aber am Schillertbeater nicht zu fpielen iſt, das ift gar feine Frage. Wenn man fi) nad) den Grlmnden diefed Unternehmens fragt, muß man annehmen, daß des Direktors Inſtinkt unbewußt darauf aus war, „Bebbel‘ zu geben und doch nicht? von Hebbel zu geben, daß er an diefem allzu gefährlihen Mann mit einem möglichft unfhädlihen Kompliment vorbei wollte. Denn von Hebbelihen Wefen batten diefe Genrebildchen aus dem deutjchen Urwald, die da im Holz« fchnittftil der ‚Bartenlaube‘ vorgeführt wurden, wirklich nicht e8 müßte denn in den feltfamen, meift nicht ganz börbaren Reden verſteckt geweſen fein, mit denen die wunderhübfhen Figuren der Bildchen die Zufchauer doch ziemlich verftimmten.

Als dramatifche Darbietung ift diefer große Torſo meined Erachtens überhaupt nicht zu geben. Er birgt an eigentlidy Dramatifcher Ausflihrung weniger ald Kleiſts Fleines Guidcardsffragment. Der eigentliche tragiſche Kampf des Hebbelfhen Entwurfs bat kaum mit einem Zug begonnen. Alles ift Erpofition im engften Wortfinn und dramatifch gar feine gute, weil eine viel zu umfänglihe Erpofition. Jh bin überzeugt, daß Hebbel bei weiterm

618

Fortgang des großen Plans diefe beiden Afte in einen zufammengefchoben bätte. Denn es ging wirflih um etwas ganz andres in feiner Arbeit als um germanifche Urzeitbilder, patriotifche Tichteffefte im Lauffihen Stil, Hier ift, vielleicht daB einzige Mal, eine Religiondtragddie hoͤchſten Sinne verfucht worden: die Geburt Gotted im Menfhen follte dargeftellt werden. Der Gott, den der zynifche Rationaliſt Hieram prunfooll diefen Wilden erfchafft, wird eine Macht werden in den Seelen jener, mächtig, felbftwirffam, von allem Zweck gelöft. Er wird ald ein wahrhaft geiftiged Sein feinem irdifchen Erzeuger ber den Kopf wachſen und ihn vernichten. Hieram, der Die tieffte zweckloſeſte Sehnfucht der Menfchennatur das religiöfe Empfinden in den Dienft eines Zwecks fpannen wollte, wird von den allgegenwärtigen Gewalten der Rede, die fid wohl weden, aber nie beberrfchen laflen, aufs gehoben, überwältigt. Dies war der große Plan, und von ihm ift nichts ausgeführt ald die Einleitung: die Erweckung ded Gottes. Die eigentliche Tragödie: die Überwindung des Gottmachers durch fein ‚Sefchöpf‘, hat noch gar nicht begonnen, ift faum in ganz leichten Zügen vorbereitet. Daß diefe verfchwenderifch breiten zwei Afte einen fo geringen Vorwaͤrtsgang zeigen, ift Cabgefehen davon, daß eben noch feine endgültige, mit dem Blick auf dad Ganze gefeilte Raffung vorliegt) allerdingd wohl dadurch zu erflären, daß ſich Hebbel zeitweilig in das bloße Mittel feiner Sdeen, dad aus dem Urzuftand zu erwedende Bolf, verliebte. Es reijte ihn zur breiteften Aus» malung, died frifche, ungelenfe Ind-Bewußtfein-Stürmen aller und fo ge- läufigen Erfahrung. Er konnte bier im Stoff gleihfam ein Symbol des fünftlerifchen Formprozeffed geben, deflen Sinn es ja ift, jedem fonven- tionellen Gefühl feine Urfprünglicyfeit wiederzugeben. Dies ift überhaupt der Reiz, den Schöpfungd= und Urzeitlegenden auf große Kuͤnſtler oft aus— gelibt haben GGoethe-Prometheus, Byron-Rain): an foldhen Stoffen voll ziebt und erklärt fi) die Kunſt zugleih. Fuͤr Hebbel aber hatte es noch einen befonderen Wert, ‚ein ganzes Volk ftammeln zu laffen‘. Er fand bier einmal den innerften Rhythmus feiner Sprache vom Stoff getragen. Denn feine Sprade ift mit ihren leidenfchaftlih jäben Stößen voll zu—⸗ fammengeballter Kraft und kaum überwundener Scheu durchaus nicht die Sprache eined Kulturmenfchen von audgeglihener Bildung; aber von der fcheuen, jäb zutappenden Art des Wilden bat fie viel. So feffelte ihn das Milieu diefer Erpofition lange, zu lange: er fam nicht weiter. Diefe wundervollen, hart phantaftifchen Szenen, deren Stil mit fo einziger Meifter- ſchaft die Schilderung der Urzeitmenfchen zwiſchen ſuͤßlicher Verſchoͤnerung und platter Naturrobeit bindurdhfteuert, diefe Föftlich lebensvollen, tief finn» reihen Szenen bieten dramatifch blutwenig: fie fchliegen vor dem Anfang. Sie aufzuführen, bleibt ein literarifhes Experiment, dad verdienftlich fein fann, fuͤr eine Volksbühne aber in jedem Fall unftatthaft ift. Zumal einem Dichter gegmüber, deffen vollendete Werfe noch ungenußt find!

Soll nun aber das Erperiment gemacht werden, fo miüffen geiftoolle Sprecher den verfohlungenen Sinn der Hebbelfchen Säge mit Klang und

619

Geſte Harzuftellen wiffen, Spieler von phantaftifcher Größe der Geberter müffen auf der Szene ftehen, und ein planvoller, herrſchgewaltiger Regiſſen muß died Fragment ald ein hohes Feitfpiel von der Geburt der Religie— abzurunden wiſſen. Im Schillertheater gurgelte das Pathos ded Herr Pategg in einſichtsloſer Monotonie und akuſtiſcher Unfaßbarkeit, bruͤllte Herr: Paeſchkes kokettes Liebhabertum, flirtete (als Waldmaͤdchen Theoda!) ein junge Dame, in deren Hand man den Tennisſchlaͤger geradezu vermißte Ob bei foldhen ‚Kräften‘ den Regiffeur für den jammervollen Eindrud dei Ganzen noch irgend eine Verantwortung trifft, bleibt mir zweifelhaft. Zweifellos aber ift der Spielleiter fhuldlos an einer Aufführung, mie jr bald darauf die ,‚Monna Banna‘ im Scillertheater erlebte, eine Auffuͤhrun die zufolge der lärmenden, finn- und verftandlofen Theaterei fämtlicher Haupt: afteure zu dem Troftlofeften gehört, was ich je in Berlin gefeben bake. So unter jeder Möglichfeit ernfter Kritif bat feit fünf Jahren Feine Auf führung des Schillertheaters geftanden. Wir wollen nicht hoffen, Daß der Darfteller diefed Guido Colonna den Rollenfreis Eric; Ziegeld erben fol: wir wollen wünfchen, daß es der Direftion bis zum Herbſt gelingen moͤge einen tauglichern Erfag für diefen ftarfen Künftler zu finden. Daß be energifhem Suchen ein guter Geſchmack aus der Provinz; noch vielerlc Gutes and berliner Licht ziehen kann, bewies diefer felbe Theaterabend. Eir einziger Schaufpieler, ein Mann, bisher ohne Namen und Auf, zwang um: in einer Epifodenrolle, fünfzehn Minuten lang, diefe läppiihe Parovie vorftellung ernft zu nehmen. Died war Herr Ernft egal, der Trivulie, den fanatifchen Florentiner, den fhwächlichen Fleinen Mann mit der ffrupel- freien, furchtlofen Seele, fpielte und der ihm nicht nur Kraft und Leben, fondern aud den Stil einer großen Perfönlichfeit zu geben wußte. Ein Mann von Beift, der pathetiſch und dabei wahr mirfte,

Im Bereich ded bürgerlihen Verismus haben, wie ftetd, auch in dieſen Monaten Loͤwenfelds Mannen viel beffere Arbeit getan, ald in Hebbels oder Maeterlindd Banden. Schon die Borftellung von Kleifts ‚Ferbrochenem Krug‘ war unvergleihlic viel repräfentabler ald die ihr am gleichen Abend vpraufgehende des, Moloch‘. Die Momente zwar, durch die Kleiftd Komödie ind Grandioſe, Unheimlich-Groteske wählt, das genial Verbrecherifche im Weſen des felbiifhuldigen Richters Adam, das hatte weder Darftellung noch Regie ergriffen. Es blieb mehr eine harmloſe Luftigfeit. Aber doch eine echte, farbig lebendige Luftigfeit. Herr Thurner, der, foweit man mict ſchoͤpferiſche Neuwerte, fondern gefällige Reproduftionen verlangt, gewiß ein guter Schaufpieler ift, war mit der erwähnten ftarfen Einfchränfung auch ein guter Adam; und Mag Meimer, der ftetd Flug und ſympathiſch zu repräfentieren weiß, ald Nat, Bernhard Herrmann, der ein befonderes Geſchick für Halbtrottel bat, ald Ruprecht, landen mit ihm gut in dem fauber infjenierten niederländifhen Bildchen... Der ‚Traumutus‘, den das Schillertheater weiterhin feinen Gaͤſten ald Neuheit vorfegte, war fogar, abgefehen von den mitwirfenden Weiblichkeiten, eine direft gute Vorftellung,

620

und felbft die blaffe, nuancenlo® verwaſchene Aufführung des ‚Falliffements‘, die ich dort fab, erbielt beim Gedenfen an jene ‚Monna Banna‘ nody immer eine äfthetifche Gloriole. Allerdings ift der wahrfcheinlic begabte Anfänger Paul Bildt, der den Advofaten Berent gut angelegt, aber nicht fertig durch⸗ gearbeitet hatte, ein Mitterwurzer gegen Herrn Wirth, den Colonna-Mann, und der fehr flarf begabte Herr Otto (ald Landrat und ald Sannaes) ift mindeftend ein Kainz, gegen Herrn Paefchfe-Prinzivalli gehalten, Bei fo ungleich verteilten Kräften zeigen diefe Abende alfo nicht Flar, was beute am Schillertheater die Regie vermag und mas nicht.

Zum Saifonfhluß gab ed noch eine Komödie: ‚Die Schmuggler‘, von dem elfäffifchen Heimatkuͤnſtler· Arthur Dinter,. Man muß erft die Komödie und die Beimatfunft vergeffen, um dieſe derbe Theaterſache goutieren zu Fönnen. Denn das Stüdf von dem Schmuggler, der in der Rolle des Regierungsrates die Zollbeamten fommandiert, ift feine innerlidy neu gefebene Ausprägung ded alten Komoͤdiantenmotivs, fondern eine recht Außerliche Nachahmung Gogols, Kleiftd und Hauptmannd geworden. Bon der Heimat ift nach Lbertragung ind Hochdeutfche auch nicht® mehr zu fplren; mit fehr äußerlihen Änderungen koͤnnte das Stüd fo gut an der ruffifhen wie an der framoͤſiſchen Grenze fielen, und die farblo8 allgemeine Kliſcheephyſiognomie der Perfonen verrät fih ſchon in den grobfchlädhtigen Namen, wie Schleim, Zipfel, Grimmig, Pimpe, Biedermann und Chaffepot der Held aber muß Sperber heißen! Alſo ein fonventionell grobed und noch dazu viel zu breit durch vier Afte geführtes Schwankſtuͤck. Aber bei der Unvermiiftlich- feit des feſt angepadten Hauptmotivs gibt es doch ein paar echt luftige Szenen, und mit ein paar fräftigen Strihen und Ausmerzung einiger fentimentaler Fadeſſen fünnte es eine durchaus befriedigende Abendunter« baltung fein. Warum geftrenge Herren von der Preffe, die den gewohnten Shwanffabrifanten Berlins ftetd mit fchranfenlofem Wohlwollen begegnen, diedmal ihr literarifched Herz entdedten und Herrn Dinter ‚vernichteten‘, weiß ich nicht. Wir wollen doch wohl für die Schwanfinduftrie fein Monopol errichten. Es ſcheint mir, daß wir immer noch beffer fahren, wenn wir uns diefe ‚Schmuggler‘ anfehen, ald wenn wir im Glashaus der Fee Caprice beim Schwur der Treue altern.

Kleist in Thun von Robert Walfer

leift hat Koft und Logis in einem Landhaus auf einer Xareinfel in der W unstung von Thun gefunden. Genau weiß man ja dad heute, nach

mebr als hundert Jahren, nicht mehr, aber ich denfe mir, er wird über eine winzige, zehn Meter lange Brüde gegangen fein und an einem Glodenftrang gezogen haben. Darauf wird jemand die Treppen des Haufes berunterzueidechfeln gefommen fein, um zu feben, wer da fei. „Sit bier ein Zimmer zu vermieten?” Und fur; und gut, Kleift bat es fi jegt in

621

den drei Zimmern, die man ihm für erftaumlich wenig Geld abgetreten bat, bequem gemacht. „Ein reijended Bernermeitſchi führt mir die Hausbhaltung.” Ein ſchoͤnes Gedicht, ein Kind, eine wadere Tat, diefe drei Dinge ſchweben bm vor. Im übrigen ift er ein wenig franf. Weiß der Teufel, was mit fehlt. Was iſt mir? Es iſt ſo ſchoͤn hier.“

Er dichtet natuͤrlich. Ab und zu fährt er per Fuhrwerk nah Bern zu literarifchen Freunden und lieft dort vor, was er etwa gefchrieben hat. Man lobt ihn felbftoerftändlich riefig, findet aber den ganzen Menfchen ein biächen unbeimlih. Der zerbrodene Krug wird gefchrieben. Aber was foll alles das? Es ift Frühling geworden. Die Wiefen um Thun herum find ganz di voller Blumen, das duftet und fummt und macht und tönt und faulenzt, e8 ift zum Verruͤcktwerden warm an der Sonne. Es fteigt Kleift wie glübend« rote betäubende Wellen in den Kopf hinauf, wenn er am Schreibtiih figt und dichten will, Er verflucht fein Handwerk. Er bat Bauer werden wollen, ald er in die Schweiz gefommen ift. Mette Jdee dad. In Potsdam läßt ſich fo etwas leicht denfen. Überhaupt denfen die Dichter fich fo leicht ein Ding aus. Oft fipt er am Fenſter.

Meinetwegen fo gegen zehn Uhr Vormittags. Er ift fo allein. Er wuͤnſcht fih eine Stimme herbei, was flr eine? Eine Hand, nun, und? einen Körper, aber wozu? Ganz; in weißen Düften und Schleiern verloren liegt da der Gee, umrahmt von dem unnatürlichen, zauberbaften Gebirge, Wie das blendet und beunrubigt. Das ganze Land bid zum Waffer it der reine Garten, und in der bläulichen Luft fcheint ed von Bruͤcken voll Blumen und Terraffen voll Düften zu wimmeln und binunterzubängen. Die Vögel fingen unter all der Sonne und unter all dem Ficht fo matt. Sie find felig und fchläfrig. Kleift fügt feinen Kopf auf den Ellbogen, fchaut und fhaut und will fi vergeffen. Das Bild feiner fernen, nordifhen Heimat fteigt ihm auf, er kann das Geficht feiner Mutter deutlich ſehen, alte Stimmen, verflucht das er ift aufgefprungen und in den Garten des Landbaufes binabgelaufen. Dort fteigt er in einen Kahn und rudert in den offenen, morgenlihen See hinaus. Der Kuß der Sonne iſt ein einziger und fort» während wiederholter. Kein Füftchen. Kaum eine Bewegung. Die Berge find wie die Mache eines geſchickten Theatermaler®, oder fie fehen fo aus, ald wäre die ganze Gegend ein Album, und die Berge wären von einem fein« finnigen Dilettanten der Befißerin des Albums aufs leere Blatt bingezeichnet worden, zur Erinnerung, mit einem Verde. Das Album bat einen blaß- grünen Umfchlag. Das ftimmt. Die Vorberge am Ufer des Sees find fo balb und balb grün und fo bo, fo dumm, fo duftig. La, la, la. Er bat fih ausgezogen und wirft fi ind Waſſer. Wie namenlos fehön ihm das if, Er ſchwimmt und hört Lachen von Frauen vom Ufer ber. Dad Boot macht träge Bewegungen im grinlich-bläulihen Waffer. Die Natur ift wie eine einzige große Fiebfofung. Wie das freut und zugleich fo fchmerzen fann.

Manchmal, befonders an fehönen Abenden, ift ihm, ald fei bier das Ende der Welt. Die Alpen fcheinen ibm der unerflimmbare Eingang zu

622

einem hochgelegenen Paradiefe zu fein. Er gebt auf feiner Fleinen Inſel, Schritt für Schritt, auf und ab. Das Meitfchi hängt Wäfche zwiſchen den Büſchen auf, in denen ein melodidfes, gelbes, franfhaftfchdnes Licht ſchimmert. Die Gefihter der Schneeberge find fo blaß, ed berrfcht in allem eine letzte, unanrübrbare Schönheit. Die Schwäne, die zwiſchen dem Schilf hin und ber fchwimmen, ſcheinen von Schönheit und abendlihem Licht verzaubert. Die Luft ift franf. Kleift wuͤnſcht fih in einen brutalen Krieg, in eine Schlacht verfegt, er fommt ſich wie ein Elender und Überflüfjiger vor. Er macht einen Spaziergang. Warum, fragt er ſich lächelnd, muß gerade er nichts zu tum, nichts zu flogen und zu wälzen haben? Er fühlt, wie die Säfte und Kräfte in ihm leife webflagen. Seine ganze Seele zudt nach förperlihen Anftrengungen. Er fteigt zwifchen hoben, alten Mauern, hber deren grauem Steingebrödel fi) der dunfelgräne Efeu leidenfchaftlid nieder- fchlingt, zum Schloßbügel hinauf. In allen bochgelegenen Fenftern fhimmert das Abendliht. Oben am Rand des Felſenabhanges ift ein zierlicher Pavillon, dort fitt er und wirft feine Seele in die glängendebeiligeftille Ausficht hin⸗ unter. Er wäre jetzt erftaunt, wenn er ſich wohl fühlen fünnte. Cine Zeitung lefen. Wie wärd? Ein dummes politifches oder gemeinnüßliches Gefpräh mit irgend einem wohlangeſehenen, offiziellen Schafsfopf führen? a? Er ift nicht unglüdlih, er hält im Stillen diejenigen für felig, die troftlos fein können: Matürlih und kraftvoll troſtlos. Mit ihm ſteht es um eine kleine, gebogene Nuance ſchlimmer. Er ift zu feinfüblend, zu gegen» märtig mit all feinen unfchlüffigen, vorfichtigen, mißtrauifhen Empfindungen, um unglüclih zu fein. Er möchte fchreien, weinen. Gott im Simmel, was ift mit mir, und er raft den dunfelnden Hügel hinunter. Die Nacht tut ihm wohl. In feinen Zimmern angefommen, febt er fich, entichloffen, bis zur Raſerei zu arbeiten, an den Schreibtifh. Das Licht der Lampe nimmt ibn das Bild der Gegend meg, das ftimmt ihn Flar und er fchreibt jegt.

An Regentagen ift ed entfeglich Falt und leer. Die Gegend fröftelt ihn an. Die grünen Sträucher winfeln und wimmern und regentröpfeln nad Sonnenſchein. Schmußige, ungebeuerlihe Wolfen gleiten den Köpfen der Berge wie große, freche, tötende Hände um die Stirnen. Das Land fcheint ſich vor dem Wetter verfriehen zu wollen, ed mill zuſammenſchrumpfen. Der See ift hart und düfter, und die Wellen fprechen böfe Worte. Wie ein unbeimlihe® Mahnen fauft der Sturmmwind daher und fann nirgends binaus. Er fihmettert von einer VBergwand zur andern. Dunfel ift ed und flein, klein. Es ift einem alles auf der Nafe. Man möchte Klöge nehmen und damit um fich berumbauen. Weg da, weg.

Dann ift wieder Sonne und es ift Sonntag. Gloden läuten. Die Leute treten aus der hochgelegenen Kirche heraus. Die Maͤdchen und Frauen in engen, fchwarzen, filbergefhmüdten Schnürbrüften, die Männer einfach) und ernft gefleidet. Gebetbuͤcher tragen fie in der Hand, und die Gefichter find fo friedlich und ſchoͤn, ald wären alle Sorgen zerfloffen, alle Falten ded Kummerd und Fanfes geglättet und alle Mühen vergeflen. Und die

623

Gloden. Wie fie daherſchallen, daberfpringen mit Schällen und Tonmwellen. Wie es über das ganze, fonntäglih umfonnte Städtchen gligert, leuchtet, blaut und läutet. Die Menfchen zerftreuen fi. Kleiſt fteht, von fonder- baren Empfindungen angefädhelt, auf der Kircdhtreppe und verfolgt die Bewegungen der Öinuntergebenden. Da ift manch Bauernfind, das mie eine geborne, an Hoheit und Freiheit gewöhnte Prinzeſſin die Stufen bin- unterfchreitet. Da find fchöne, junge, fräfteftrogende Burſchen vom Land, und von mas für einem Land, nicht Flachland, nicht Burſchen von Ebenen, fondern Burfchen, hervorgebrochen aus tiefen, wunderlid in die Berge eins geböhlten Tälern, eng manchmal, wie der Arm eined etwas aus der Art

chlagenen, größeren Menſchen. Das find Burfchen von Bergen, wo die

der und Felder fteil in die Einfenfungen binabfallen, wo das duftende, heiße Gras auf winzigen Flächen dicht neben ſchauervollen Abgründen waͤchſt, wo die Häufer wie Tupfe an den Weiden fleben, wenn einer umten auf der breiten Landſtraße fteht umd body hinauffieht, ob es etwa da oben noch Menfhenwohnungen geben fönne.

Die Sonntage hat Kleift gern, auch die Marfttage, an denen alled von blauen Kitteln und Bäuerinnentrachten wimmelt und gramfelt auf der Straße und in der Hauptgaffe. Dort, in der Hauptgaffe, find unter dem Bürger: fteig, in fleinernen Gewölben und in leihten Buden Waren aufgeftapelt. Krämer fchreien bäuerlichfofett ihre billigen Koftbarfeiten aus. Meiftens fheint ja an fold einem Marfttag die hellſte, wärmfte, dümmfte Sonne. Kleift läßt fih von dem lieben, bunten Menfchengetiimmel bin und ber fchieben. Uberall duftets nach Käfe. In die befferen Kaufläden treten die ernitbaften, bisweilen ſchoͤnen Landfrauen bedädtig ein, um Einfäufe zu machen. Viele Männer haben Tabafäpfeifen im Mund, Schweine, Kälber und Kühe werden vorübergezogen. Einer fteht da und lacht und treibt fein rofafarbene® Schweinhen mit Stodfhlägen zum Geben. Es will nicht, da nimmt er ed unter den Arm und trägtd weiter. Die Menfchen duften zu ihren Kleidern heraus, zu den Wirtfchaften heraus tönt Farm von Zehenden, Tanzenden und Effenden. AU die Geräufche und all die Freiheit diefer Töne! Fuhrwerke können manchmal nicht durchfahren. Die Pferde find gan; von handelnden und ſchwatzenden Menfchen umzingelt. Und die Sonne blendet fo eraft auf den Gegenftänden, Gefihtern, Tüchern, Körben und Waren. Alles bewegt fih, und das fonnige Blenden muß ſich fo fchön natürlich mitfortbemegen. Kleift möchte beten, Er findet feine majeftätifche Mufif fhöner und feine Seele feiner ald Mufif und Seele dieſes Menfchen- treibend. Er hätte Luft, fih auf einen der Treppenabfäge zu feßen, die in die Gaffe binunterführen. Er gebt weiter, an Weibern mit hochaufgerafften Roͤcken vorbei, an Mädchen, die Körbe ruhig umd faft edel auf den Köpfen tragen, wie Stalienerinnen ihre Krüge, wie ers fennt aus Abbildungen, an Männern, die gröblen, und an Betrunfenen, an Poliiften, an Schuljungens, die ihre Schulbubenabfichten mit fi herumtragen, an ſchattigen Flecken, die fühl duften, an Seilen, Stöden, Eßwaren, falfhen Gefchmeiden, Mäulern,

624

Mafen, Hüten, Pferden, Schleiern, Bettdeden, wollenen Strümpfen, Würften, Butterballen und Käfebrettern vorüber, zu dem Gewimmel hinaus, bis an eine Aarebrüde, an deren Geländer gelehnt er ſtehen bleibt, um in das tiefblaue, herrlich dabinftrömende Waffer zu ſchauen. Uber ihm gligern und ftrahlen die Schloßtürme wie flüffig-bräunliches Feuer. Es ift ein halbes Italien.

Zumeilen, an gemöhnlihen Werktagen, fheint ihm das ganze Städtchen

von Sonne und Stille verzaubert zu fein. Er ftebt ftill vor dem feltfamen, alten Rathaus mit der fcharffantigen Jahreszahl im weißfchimmernden Ges mäuer. So verloren ift alles, wie die Geftaltung irgend eines Volksliedes, das die Leute vergeflen haben. Wenig Leben, nein, gar feind. Er fteigt die holzbedeckte Treppe zum vormals gräfliden Schloß hinauf, das Holz duftet nad Alter und vorübergegangenen Menfchenfhidfalen. Oben fept er fi) auf eine breite, gefchweifte, grüne Bank, um Ausficht zu haben, aber er ſchließt die Augen. Entſetzlich, wie verfchlafen, verftaubt und entlebendigt das alles ausfieht. Das Nächftliegende liegt wie in weiter, weißer, ſchleier⸗ bafter, träumender Ferne. Es ift alles in eine heiße Wolfe eingebüllt. Sommer, aber was eigentlich flr Sommer? Ich lebe nicht, ſchreit er und weiß nicht, wohin er fi mit Augen, Händen, Beinen und Atem wenden fol. Ein Traum. Nicht? da. Ich will feine Träume. Schließlich fagt er fi, er lebe eben viel zu einfam. Er fchaudert, empfinden zu muͤſſen, wie verftoct er fich verhält der Mitwelt gegenüber.

Dann fommen die Sommerabende. Kleift figt auf der hoben Kirchhofs— mauer. Es ift alles ganz feucht und zugleich ganz ſchwuͤl. Er öffnet das Kleid, um die Bruft frei zu haben. Unten, wie von einer mächtigen Gotted« band in die Tiefe geworfen, liegt der gelblich und rötlich beleuchtete See, aber die ganze Beleuchtung fcheint aus der Maffertiefe beraufzulodern. Es {ft wie ein brennender See. Die Alpen find lebendig geworden und tauchen ihre Stirnen unter fabelhaften Bewegungen ind Waffer. Seine Schwäne umfreifen dort unten feine ftille Infel, und Baumfronen ſchweben in dunkler, fingender und duftender Seligfeit darlıber. Woruͤber? Nichts, nichts. Kleift teinft das alles. Ihm ift der ganze dunfelglänzende See dad Gefchmeide, das lange, auf einem fchlafenden großen, unbefannten Frauenförper. Die Finden und Tannen und Blumen duften. Es iſt ein ftilles, kaum ver- nebmbared Geläute da, er hoͤrts, aber er fiebtd auch. Das ift dad Neue. Er will Unfaßlihes, Unbegreifliches. Unten im See fchaufelt ein Boot. Kleift fieht es nicht, aber er fiebt die Lampen, die es begleiten, bin und herſchwanken. Er figt da, vorgebeugten Antliges, ald müffe er zum Todes- fprung in dad Bild der fchönen Tiefe bereit fein. Er möchte in dad Bild hineinfterben. Er möchte nur noch Augen haben, nur nod ein einziged Auge fein. Mein, ganz, ganz anderd. Die Luft muß eine Brüde fein und das ganze Fandfchaftsbild eine Lehne, zum Daranlehnen, ſinnlich, felig, müde. Es wird Nacht, aber er mag nicht binuntergeben, er wirft fih an ein unter Sträudern verborgened Grab, Fledermaͤuſe umfchwirren ihn, die ſpitzen Bäume lifpeln mit leife daberziehenden Windzigen. Dad Grad duftet fo

625

fhön, unter dem die Sfelette der Begrabenen liegen. Er ift fo ſchmerzlich glüdlih, zu glüdlih, deshalb fo mwürgend, fo troden, fo ſchmerzlich. So allein. Barum fommen die Toten nidht und unterhalten fi auf eine halbe Stunde mit dem einfamen Manne? In einer Sommernadht muß einer body eine Geliebte haben. Der Gedanfe an weißlich ſchimmernde Brüfte und Lippen jagt Kleift den Berg hinunter, and Ufer, ind Waſſer, mit den Kleidern, lachend, weinend.

Wochen vergeben. Kleift bat eine Arbeit, zwei, drei Arbeiten vernichtet. Er will hoͤchſte Meifterfchaft, gut, gut. Was da. Gezaudert? Hinein in den Papierforb. Neues, Wildered, Schönered. Er fängt die Sempader- ſchlacht an mit der Figur ded Leopold von Oſterreich im Mittelpunft, deffen fonderbares Geſchick ihn reist. Dazmwifchen erinnert er fi) ded Robert Guisfard. Den will er herrlich haben. Das Glüd, ein vernunftvoll ab» wägender, einfach empfindender Menſch zu fein, fieht er, zu Gerdll zer⸗ fprengt, wie polternde und fehmetternde Felsbloͤcke den Bergſturz feines Lebens binunterrollen. Er hilft noch, es ift jet entfchteden. Er will dem Dichterunftern gänzlich verfallen fein: es ift das Beſte, ich gebe möglichit rafch zugrunde!

Sein Schaffen zieht ihm die Grimaffe, ed mißlingt. Gegen den Herbit wird er franf, Er wundert fi uͤber die Sanftbeit, die jet Über ibn fommt. Seine Schwefter reift nah Thun, um ihn nad Haufe zu bringen. Tiefe Gruben liegen in feinen Wangen. Sein Geſicht hat die Züge und die Farbe eined in der ganzen Seele Ferfreffenen. Seine Augen find leblofer als die Augenbrauen darlıber. Die Haare hängen ihm in dicken, fpigen Klumpen von Strähnen in die Stirne, die verzerrt ift von all den Gedanfen, die ihn, wie er fi einbildet, in jchmugige Löcher und Hüllen binabgezogen baben. Die Verſe, die ihm im Gebirn tönen, fommen ihm wie Naben» gekraͤchze vor, er möchte fih das Gedaͤchtnis ausreißen. Das Leben möchte er audfchütten, aber die Schalen des Lebens will er zuerft zerträmmert haben. Sein Grimm gleicht feinem Schmerz, fein Hobn feinen Klagen. Was feblt dir, Heinrich, liebfoft ihn die Schweſter. Nichts, nichts. Das bat noch gefehlt, daß er fagen foll, was ihm fehlt. Auf dem Boden ded Fimmerd liegen die Manuffripte wie von Vater und Mutter fcheußlih verlaffene Kinder. Er gibt feiner Schwelter die Hand und begnligt fich, fie lange und ſtillſchweigend anzufhauen. Es gleicht bereitd einem Glogen, und das Mädchen fchaudert.

Dann reifen fie. Das Meitfcht, das Kleift die Wirtichaft geflibrt bat, fagt ihnen Adieu. Es iſt ein ftrablender Herbitmorgen, der Wagen rollt über Brüden, an Leuten vorbei, durch grobpflaftrige Gaffen, Leute ſchauen zu Fenſtern beraus, oben ift Himmel, unter Bäumen ift gelblihesd Laub, fauber ift alles, berbftlich, mas meiter? Und der Fuhrmann bat eine Pfeife im Mund. Es ift alle wie immer. Kleiſt figt in eine Ede ded Wagens gedräct. Die Tuͤrme ded Thuner-Schloffes verfhmwinden hinter einem Huͤgel. Später, in weiter Ferne, fieht die Schwefter Kleiftene noch einmal den

626

fhönen See. Ein biöchen fühl ift es jetzt ſchon. Landhäufer kommen. Ma nu, folhe vornehme Landfige in einer folhen Berggegend? Weiter. Alles fliegt und finft vor den Seitenbliden nad) rlıdwärts, alles tanzt, Freift und fchwindet. Vieles ift fchon in herbftlihe Schleier gehuͤllt, und ein biöchen vergoldet ift alles von einem biöchen Sonne, die aus Wolfen herausfcheint. Solches Gold, wie dad ſchimmert, und wie mand doch nur im Dreck aufe lefen kann. Höhen, Felswaͤnde, Täler, Kirchen, Dörfer, Gaffer, Kinder, Bäume, Wind, Wolfen, ei mad. Iſts mad Befondres? Iſts nicht das PWeggeworfen-Gemöhnlichfte? Kleift fieht nichts. Er träumt von Wolfen und Bildern und ein biächen von lieben, fchonenden, ftreihelnden Menfchen- bänden. Wie ift Dir, fragt die Schweſter. Kleift zudtt mit dem Mund und will ihr ein wenig zulädheln. Es gebt, aber muͤhſam. Es ift ihm, ald babe er vom Mund einen Steinblod wegraͤumen müffen, um lächeln zu können.

Die Schmefter wagt vorfihtig von baldiger Inangriffnahme einer praftifhen Betätigung zu reden. Er nit, er ift felber der Überzeugung. Ihm flimmern mufizierende, belle Scheine um die Sinne, Eigentlich, wenn er es fich aufrichtig geftebt, ift ihm jeßt ganz; wohl; web, aber zugleih wohl. Es fhmerjt ihn etwas, ja, in der Tat, ganz recht, aber nicht in der Bruſt, auch nicht in der Lunge, nicht im Kopf, mad? Wirklich? Gar nirgends? Ja do, jo ein biöchen, irgendwo, daß es ja fei, daß mand nicht genau fagen kann. Item, die Sahe ift nicht der Rede wert. Er fagt etwas, und dann fommen Momente, wo er geradezu findlich glücklich ift, und da natürlich macht das Mädchen glei eine etwas flrenge, ſtrafende Miene, um ihms denn doch auch ein bischen zu zeigen, wie jonderbar er eigentlich mit feinem Leben ſpiele. Das Mädchen ift eben eine Kleiftin und bat Er— ziehung genoffen, dad, mas der Bruder uͤber den Haufen bat werfen wollen. Sie ift natürlich feelenfrob, daß ed ihm beffer geht. Weiter, bei, bei, ift dad eine Wagenfahrt. Aber zu guter Febt wird man ihn laufen laffen müffen, den Poftwagen, und zu allerletzt kann man ficd ja nody die Bemerkung erlauben, daß an der Front ded Fandhaufes, dad Kleift bewohnt bat, eine marmorne Tafel hängt, die darauf bindeutet, wer da gelebt und gedichtet bat. Reiſende mit Alpentourenabfichten koͤnnens lefen, Kinder aus Thun lefen und buchitabieren es, Ziffer für Ziffer, und fchauen einander dann fragend in die Augen. Ein Jude fannd lefen, der Chriſt auch, wenn er Zeit bat und nicht etwa der Zug fhon im Abfahren begriffen ift, ein Türfe, eine Schwalbe, inwiefern fie Intereſſe daran bat, ich auch, ich kanns gelegentlich auch wieder einmal lefen. Thun ftebt am Eingang zum berner Oberland und wird jährlih von vielen taufenden Fremden beſucht. Ich kann die Gegend ein biöchen fennen, weil ich dort Aftienbierbrauereiangeftellter geweſen bin. Die Gegend ift bedeutend fhöner, ald wie ic) fie bier habe befchreiben fönnen, der See ift noch einmal fo blau, der Himmel noch dreimal fo ſchoͤn, Thun bat eine Gewerbeauäftellung gebabt, ich weiß micht, ich glaube vor vier Jahren.

627

Komddiantenlied/ von Rudolf Bernauer

ein Vater hat mich davongejagt, weil ich ihm meine Meinung gefagt, weil ich zu wenig Zus ftudiert und unfre dicke Magd verführt. Heidideldideldei, Heidideldideldei! Mir wurſt, mir glei), mir einerlet. Ich zog hinaus in Nacht und Wind. Mein Vater erziebt fein Enfelfind.

Mein Vater bat mich davongejagt, nicht, weilich ihm die Meinung gejagt, auch nicht, weil ich fein Zus ftudiert nein: weil ih unfre Magd verführt. Heidideldideldei,

Heidideldideldau!

Die Magd, die ift jet feine Frau. Mein Vater bat das viele Geld, ih aber hab die weite Welt.

Heidideldideldei! Ald Komddiant

zieh ich durchs deutſche Vaterland,

trag Tag flır Tag von Haus zu Haus

in Froft und Schnee die Zettel aus.

Heidideldideldei,

Heidideldideldei!

Komm auch an Vaterd Haus vorbei,

Herr Vater, reicher Herr Vater mein,

ih lad Euch zur Komödie ein.

Dies aber fei Euch gleich gejagt: Bringt mit Euch unfre dide Magd, und, daß wir alle beifammen find, bringt mit Euch aud) das liebe Kind. Heidideldideldei,

Heidideldideldau!

Ind Schuͤtzenhaus zur, Gruͤnen Au‘ lad ich Euch zur Komoͤdie ein und morgen wird wer begraben ſein.

Wir ſpielen ein Vagabundenſtück, es kehrt ein Vagabund zurück. Vor ſeines reichen Vaters Haus da blaͤſt er ſich das Leben aus.

Heidideldideldei, Heidideldideldei!

Dann ſchieß ich mir das Hirn entzwei. Sagt unſrer Koͤchin, daß ſie ſich ſchnaͤuz, und ſagt unſerm Paſtor, ich brauch fein Kreuz.

Aus den ‚Liedern eines böfen Buben‘, die, mit Zeichnungen von Julius Klinger, naͤchſtens in der Verlagsanftalt für Fiteratur und Kunft ‚Harmonie‘,

Berlin, erfcheinen.

628

Shaw und Wedefind in London

m Court Theatre der Herren

Vedrenne und Barfer, die diefed durch fie berühmt gewordene Haus nun bald fir ein andres, größeres vertaufchen werden, gab man kuͤrzlich von Shaw ‚Don Juand Höllentraum‘ und ließ darauf feinen Napoleon- Eins after folgen, der aus feiner frübern Zeit ftammt. Und die londoner Freie Buͤhne, genannt Stage Society, die ſchon daran denft, unter der gefchicften Leitung Mr. Whelens fich ein eigenes kleines Kammerſpielhaus zu bauen und damit ein neues Jentrumfüreineleben- dige Bühnenfunftin London zu ſchaffen, fie brachte foeben Wedekinds, Kammer⸗ fanger‘ in einer vortrefflihen engli⸗ fhen Übertragung von eben jenem Mr. Whelen und von Shaws Battin beraud. So fonnten Shaw, der ‚Wedefind Englands‘, und Wedekind, der ‚Shaw Deutfchlande‘, einander einmal in die Augen ſehen. Ver— gleiche hinfen, fagt man, und doc fann man aus ihnen lernen. Gier batte man zwei Satirifer zufammen, die vieled miteinander gemeinſam zu baben fcheinen, und Doc) fommen beide von ganz verfchiedenen Ausgängen ber und ftreben nad) völlig getrennten Zielen.

In dem Deutfhen iftd dunkler Drang, ſich felber zu finden und mit der Welt ringdum fich audeinander- jufegen, immer vom völlig fubjeftiven Standpunft aus. Er fchlägt zu, er hoͤhnt mit gellendem Laden und oft faufender Peitjche, weil er felber fo unrubig, fo unficher, fo wurjellos ift, weil er im Strom des Lebens wie

ſchau

ein faſt ſchon Ertrinkender ringt und wider die Strömung ankaͤmpft; krampf⸗ baft fchlagen die Arme aus, trogig hebt ſich die Bruft ber die immer fließenden, immer jerrenden Wellen den Fluß bin» ab, und der Mund tönt wieder von feltfamen Worten, die halb aus Angft und Entfeßen, balb aus Überdruß, Efel und Verachtung geboren find, die zu Klagen und Anlagen, zu Drohungen und Gefpött fi formen, die oft ſchrill und gell Flingen wie die graufen Pikfoloflöten ded Wagner- fchen Geifterfchiffes, dann und warn aber wie aud den innerften Tiefen einer gequälten fühlenden Menſchen⸗ bruft bervorquellen, zu wahrer Poefie geworden. Ein ſchweres Menjchen- Ihidfal, ein Lebendringen fpricht aus allem und fpricht zu allen, und aus dem Spotten wird Trauern, aus Dem Lachen faſt Weinen.

Und nun der Fre. Ihm eignet im böchften Grade, was dem andern zu feinem Unglüd fo völlig mangelt: ein eiferner, ficher gerichteter Wille und, bei aller jcheinbar fubjeftiven Will: fürlichfeit, ein objektives Auge und Dhr. Kein im Inneren tobender Gott trieb ihn, zu fagen, was er leide, feine eingeborene Notwendig- feit zwang ihm die Feder in die Hand, fondern der ftarfe Wille, der aus langſam erwachſener Erfenntnis entftammt. Micht weil er felber fo grenzenlos litt, fchleuderte er der Ge- fellihaft all den Spott und Bohn ind Geficht, fondern weil er meinte, er koͤnne damit wie einft ein Hogarth in feiner Kunft als ein praeceptor Britanniae, als eine Art Gottedgeißel, erneuernd, lebendgeftal- tend eingreifen, und dann freilich

629

auch, weil er durch einen feltiamen Charakterzug eine Freude, ja wohl gar Befriedigung darin empfindet, Hiebe rechts und links audjuteilen, wie ein Fubrfnecht fo gern feine Peitſche ſchwingt und am lauten, fnallenden Klatſch ſich baß ergößt.

Nirgends vielleicht treten dieſe zwei Seiten Shawſcher Eigenart fo ſtark zu Tage wie in feinem Jwifchenfpiel ‚Don Juan in der Hölle‘, das ja von einem Theaterftüc nicht? an fich bat, das aber doch durch die lebendige Dar⸗ ftellung und die wirklich raffinierte Art, mit der es bier auf die Bühne geftellt wurde, böchft anregend und bis zu einem gewiflen Grade beinahe drama⸗ tifh wirkte. Im CourtTheatre ſchwoͤrt man nicht auf einen beftimmten Dar⸗ ftellungsftil. Die Aufgabe bat ihn mit fi zu bringen, und aus Nöten der fleinen, antiquierten Buͤhne weiß man Tugenden zumachen. Indiefer Höllen- jene nahm man feine Zuflucht zu den Künften der Nefromanten, die auf un« erflärbare Weiſe in ihrem ſtockdunkeln Naum, in den man aus erleudhtetem Haufe hineinfhaut, Uhren oder Tauben aus einer Vaſe rechtd in eine folche links verſchwinden laffen oder gar Menſchen köpfen, und was dergleichen Kunſtſtuͤcke mehr find. Die Zeit und Raumlofigfeit der Szene mußte ſich fo jedem ganz außerordentlich lebhaft aufdrängen. Selbſt die Stühle, auf denen die Spredhenden dannund warın Platz nahmen, waren unfihtbar; fie Schienen in der Luft zu figen, im Nichte. Und nun all die feltfamen Worte und Meinungen, halb eruft, halb fpöttifch, die von diefen Seelen in der Hölle ausgefprohen werden, Seelen, die doch in FöftliheGewande, vom Künftler Ch. Ricketts nad) Velasquez entworfen, gekleidet waren! Der offenbar beab- fihtigte Eindruck, eines jener feltfam tiefen, verfchloffenen und doch zugleich fo beredten Porträts Velasquez zum Sprechen zu bringen, zum Sprechen

630

zu zwingen, er war erreicht. Gegen hber diefer ‚Disfuffion‘ fiel dann da Napoleonſtuͤck ftarf ab; es ſchien fak als hätte Sham damit nur beabfichtigt, fein englifhes Publifum in einen Zu ftand abfoluter Hilflofigfeit und ger ger Widerftandd- und Widerfprudt Iofigfeit zu verfegen, um dann umte der Maske des Menſchenſchlaͤchten Mapoleon ihnen zu ſagen, ‚was dai englifhe Volk in Wirklichkeit ift‘.

Shaw bat man bier fpielen gelernt; ed war auch fo fchwer nicht. Etwa Predigertum ftecft bier den meijten u den Knochen ; dem war nur eine Do moderner Sronie hinzuzufügen, um der Shaw⸗Stil war in der Hauptſache Mit Wedekind ift es andert.

bwohl fein ‚Rammerfänger‘ noch ſe zuſagen fein ‚objeftivftes‘, beſſer fein am meiften und mit beftem Erfolar nad außen projizierte® Stück iſt, läft es ſich weder, realiſtiſch noch im bloser Shaw ⸗Stil ſpielen. Beißen de Ironie bittere Satire und ein von Anfang zu Ende durdflingender Unterten fhmerzliher Tragif müffen ein Ganze ausmachen, in dem Laden, Zorn, | Wehmut ſich in fortwaͤhrendem Wechſe abloͤſen, da die Seele der Zuhoͤrer vom Dramatifer wie ein Inſtrument benugt wird, auf dem er in wilder Folge feine unerbörten Melodien fpielt. Hier ent: ſchied man ſich, wohl durd den urſpruͤng lihen Schluß mit dem wirflihen Tode der unfrommen Helene dazu verführt, zu einer im ganzen realiftifch ernſt⸗ baften Darftellung, deren tragifches Ende das Publiftum, das vorber viel gelacht hatte, ganz verwirrt und fait vor fich felber beſchaͤmt zuruͤckließ. In diefem Rahmen darf man der Auf- führung Gutes nachrühmen. Ob der Subjeftivift Wedekind freilich bier je dauernd Boden zu faffen vermag, iſt recht zweifelhaft. Aber fir feine Be—⸗ kanntſchaft ift man der Stage Society bier doch recht dankbar.

Frank Freund

Der Kammerfänger Spdren man Frank Wedefind als

Rammerfänger in feinen eigenen ‚drei Szenen‘ gleichen Namens gehört bat, verfteht man, warum ed den Dichter trieb, fein Werf einmal felbft zu ‚interpretieren‘; verfteht man auch, daß es ihn bis zum Öffentlichen Wider- fpruch reizen mußte, diefen feinen Ber- ſuch mißverftanden zu feben. Ihn von denjenigen, ‚die daflır bezahlt werden, Daß fie wiſſen, was gut und was ſchlecht ift‘, in andrer Art, aber in gleihem Grade mißverflanden zu feben, wie vorher die Schaufpieler und, Durch deren Schuld, die Zu— fchauer den ‚Kammerfänger‘ mißver- ftanden hatten. Mad mar dad nur für eine ftillofe und innerlich unzu= fammenbängende Farce, die bisher als Luͤckenbuͤßer vor oder hinter irgend einem Dreiafter heruntergetollt wurde! Ein Nitter vom hoben E, der nicht Drofchfenfutfcher, wohl aber Tapezier- gebülfe gewefen war, ein internationa= ler Star, ein Windbeutel, ein platter Frifeurfopf, ein geckiger Weiberheld, Herr Oskar Gerardo, kaiſerlich fönig- licher Kammerfänger, ſprach Dinge, die im Munde eines peffimiftifchen Kunſt⸗ und Lebendpbilofopben von Rang echt und überzeugend geflungen bätten, Bar gerade dadeine befondere Teufelet ded Karifaturiften Wedefind, diefeAus- fprüche einem tupifchen Tenoriften in den vielgefüßten Mund zu legen? Der Darfteller, in der Negel frei von der Stimme, aber nicht frei von der intellektuellen Unzulänglichfeit des typiſchen Tenoriſten, machte ſich feine Skrupeln. Er entdeckte einen un— uͤberbruͤckbaren Gegenſatz zwiſchen den komiſchen Erlebniſſen dieſes um— flatterten Kammerſaͤngers und ſeinen tiefernſten Worten, und da die Worte ihm die Komik zu gefaͤhrden ſchienen, ſo ſtrich er zwei Drittel von ihnen weg. Was blieb, war eine ganz ſpaß⸗

hafte Angelegenheit mit fluͤchtigen tragiſchen Lichtern, die nicht ums bedingt von Wedekind zu ſtammen brauchte. Kann mans dem Dichter verargen, daß er ſein Drama endlich ſo zu zeigen wuͤnſchte, wie er es ſieht? Er ſtellte es alſo, im Kleinen Theater, in den Mittelpunkt eines Abends, deſſen Einleitung man ver⸗ ſchlief und deffen Epilog man ver- mied, um ſich einen außerordentlich ftarfen Eindruck möglihft rein zu erhalten.

‚E8 bat einmal ein großer Weiler gefagt: Gutmütig find fie alle!‘ heißt ed an einer Stelle ded ‚Rammer- fängerd‘ von den Künftlern. Der Weiſe hat ed von den Dirnen ge— fagt. Wedefind meift den Jufammen- bang zwiſchen Kunft ımd Proſti— tution nad. Gerardo ift Fontraft- lich verpflichtet, für Geld und zu jeder Zeit dad zu tun, wozu Liebe und Stimmung abzuwarten dad Natirs lihe wäre. Er opfert fein Lebend- glüd, um Genuß zu fpenden. Von einem Sklaven, wie er es ift, Die kleinſte Aeußerung perfönlicher Freibeit zu verlangen, wäre zuvielverlangt. Die Neugier des Publifums klammert ſich an fein Privatleben ebenfo frampf« haft wie an fein Auftreten. Er ge« bört, ärmer ald der Armfte, der doch irgend einen Schluptwinfel bat, mit jedem Atemzuge der Offentlichfeit an. Hier ift Tragif.

Wedekind will offenbar nicht, dag über diefe Tragik fo gelacht wird, wie ed in allen fruͤhern Auffuͤhrungen der Fall war. Dort drang fie frei- lich niemald durch. Wedekind will, daß fie durchdringt, und er hat trotz⸗ dem fein fonderliches Intereffe daran, daß fie und Tränen erpreft. Ihn erfüllt dem Leben gegenüber eine ungerübrte Ergriffenbeit, eine gleich- mütige, unethifche, kalte Wahrhaftig« feit, und er bat die Fähigkeit, dieſes fein Weltgefühl zum Ausdrud zu

631

bringen. Zunaͤchſt ald Dichter. Bei einer beftimmten Replif de Kammer⸗ fängers, die er fehr erregt fprechen fönnte, ift angegeben, daß er fie ‚fehr fachlich‘ ſpricht. Das ift das Kenn- wort für MWedefind. Sehr fachlich ift das Schickſal des fiebzigjährigen Komponiften Dübring behandelt. Hoͤchſt kunſtvoll wird erreicht, daß man mehr an die allgemeinen Mufif-

zuftände ald an die individuelle Ge» P

ſchichte des ungluͤcklichen Greifes denft. Dad geiftige Vergnügen an den fatirifhen Hieben des Sozialfritifers Wedekind verhindert den Jubörer, ſich fentimentalen Regungen binzugeben. Ebenso fehr ſachlich ift das Schickſal der Frau Helene Marowa behandelt. Ein paar fchärfere Perfönlichfeitäzlige, und unfer fehmerzlichfted Mitgefühl würde aufgerufen. Es ift aber nur in notdürftigen Umriffen das typiſche Frauenlos hingezeichnet: was fuͤr den Mann, und namentlich für den Kuͤnſt⸗ ler, Intermezzo bleibt, ald Lebens- inhalt tragen zu müffen. Sebr ſachlich iſt Schließlich dad Schieffal des Kammer: fänger® behandelt. Feſt und Flar, unerbittlih und unabaͤnderlich. Wenn Wedelind diefen Kammer: fänger fpielt, jo fommt, verftärfend, noh die Sadjlichfeit feiner ſchau— fpielerifhen Prinzipien binzu. Die Prinzipien eines Künftlerd find die Verfchleierungen feiner Schwächen. Wedekind bat ſich mit einfichtiger Be— fchränfung zum Sprecher erzogen, weil er fein Schaufpieler im uͤblichen Sinne iſt. Technifchsartiftifch angefeben, ftebt eine fertige und farbige Geftalt wie der Profeffor Dühring des erfreu- lich fortfchreitenden Herrn Licho hoch über diefem Gerardo. Wedekind hat mit der Ungefligigfeit feines Körpers, mit der Plumpbeit feined Ganges, mit der VBefangenbeit feiner Geberden, mit der Starrheit feiner Gefichtd- flähen und mit der Widerfpenftig- feit feines Gedädhtniffes fo verzweifelt

zu fämpfen, daß nicht leicht di

Illuſion eines lebendigen Menſche entftebt. Aber er kämpft auch wirfli ‚verzweifelt‘. Das gibt ihm dieje ec ftaunliche Intenfität, die die Zubör vor der Bühne und auf der Butı binreißt und vor allen andern jet Frau, wo nicht flr und zu einer b deutenden Schaufpielerin, doch mi deftens fiir ihm zu einer zuverläilis artnerin macht. Es iſt nicht die } tenfität fchaufpielerifcher Geftaltun; kraft: es iſt Die Intenfität Dichteriid Schöpferfreude, einer Schöpferfteu! die mit der Vollendung ded Dihtwe nicht befriedigt ift und ſich als fuggelt Nbetorif fortfegt. Der Bortfünfl Wedekind ift auch auf der Bubne ? Fanatifer des Worts. Er hat indie‘ umfangreichften aller Cinafter b Wort geftrichen und läßt und dad nk einen Xugenblict bedauern. Aber W bannende Wirkung ift ihm viellet doch nur möglich, weil erden Kamm? fänger nicht allein meifterhaft jprid fondern zu einem fleinen Zeil auch t fächlid verförpert. Ein blondlodige blaudugiger und Fleinfchädliger Mi rico ift das felbftverftändlich nicht. IX warum follte ein fluger Charalteriſt

aus der Schule Wablers nicht fo au fehen und trogdem die Frauen vert!

machen und von allen europäiſche Bühnen mit Gold aufgewogen werden Man braucht ja nur die Augen fließen und diefes prachtooll dri nende Organ ganz auf ſich wirfen # laffen, um ſich mühelos vorftellen i fünnen, daß ed im Gefang den jie9 reichften Glanz entfalten wird. Gott der Kunft und ein koͤniglichet er: ſchwender von Schönheit, dereinal"” ioſes eben der Erniedrigung Mr, ſich feines Schickſals tief bewußt iſ in leuchtende Worte zu faſſen weiß UN! mit der Nefignation der Weisheittrad eine fo große, untragifche, weil kampf loſe Tragddienfigur ift Frank Wede⸗ find8 Kammerfänger. 5.)

=

Berantwortlih für Die Redaktion: Siegf riei d Jacobſohn, Berlin SW. 19

Verlag von Defterheld & Eo..BerlinW.15 Drudvon Imberg & Lefion, BerlinW-P

ee:

* * *

27. Juni 1907 III. Jahrgang Nummer 26

*

Der Findling Simeon Ein ſerbiſches Volkslied Ins Deutſche uͤbertragen und eingeleitet von Victor Tausk

Sy: Findling Simeon‘ ift ein chriftlicher Odipus. Außere Zufammen- haͤnge mit dem griechiſchen oder gar dem ſoyhokleiſchen Odipus find auf dem Wege der biftorifchen Forſchung nad der Llbertragung ded Stoffes in das ferbifhe Wolf nicht zu ermitteln.

Könige von Budim (Ofen in Ungarn) fommen in der ferbifhen Volfs- fage erft zu Ende des fünfehnten Jahrhundert? vor, aljo zu einer Zeit, da zwifchen den Südflawen und den Griechen ein Verfehr von folder Innig« feit nicht ftattfand, daß ein poetifcher Stoff aud dem Herzen eined Volkes in dad ded andern hätte verpflanzt werden fünnen. Aus diefer Zeit ftammt die Sage vom ‚Findling Simeon‘. Auf dem Wege der Literatur aber fonnte die Sage unmöglich in das damald vollfommen ungebildete, analphabetifche Volk, deffen Schriftzeihen nur in wenigen Mönchöfloftern gehütet und geuͤbt wurden, gelangt fein.

Wir haben ed hier es bleibt faum ein andrer Schluß uͤbrig mit

ner poetifhen Seelenwanderung zu tun. Der in Griehenland geftorbene Odipus wird zweieinhalb Zahrtaufende fpäter bei den Serben wiedergeboren, ald Kind der Blutfchande. Um diefed Moment ift die Sage vom Findling Simeon reicher ald die vom Sohne des Laios und der Jokaſte. Hier ift zugleich eine intereffante Ahnlichfeit mit der Hofmannsthalſchen Vorbereitung der Odipusfataftrophe gegeben. Gleichwie bei Hofmannsthal das ind Blut gezeugte Schickſal den Sohn in die Arme der Mutter treibt, muß auch Simeon, in Blutfhande empfangen, in Blutfhande fortzeugen. Aber nicht Boͤſes zeugt er fort. Hier fommt das Chriftentum der poetifchen Recht⸗ fertigung der Schönheit, die in der unerlaubten Umarmung der Gefchmwifter legt, zu Hilfe. Die Reue und Buße ded Sünderd hat allen Fluch der Sünde von feinem Schidfal genommen. Die Frucht, die er der Mutter in den Schoß gezeugt, erfteht nad) drei Jahren, nachdem dad Bußwerk voll« bracht ift, zu entfühntem Leben. Das Lied Flingt mit einem Triumph des göttlihen Verzeihens aus, wie ein ähnlicher in feinem Liede der Welt noch verfündigt wurde: die Frucht der Liebe zwifchen Mutter und Sohn ift der

633

heilige Sawa, der Erleuchter, der erfte große geiftige Rulturträger der Serben. Someit die chriſtliche Abfiht des Geſangs. Es it eine maflofe Ironie, daß mit Hhlfe ded Chriſtentums Afthefis uͤber Ethos fiegen muß. Sanft Sama tft im zweiten Geflecht der Sohn der Wahl, die Mann und Weib aneinander gepreßt bat, ohne flır die drage des Gefeget einen andern Raum gelaffen au haben, als eben die Antwort : „Nach umd die Sintflut” fugenlos

erfüllen kann. Der Findling Simeon

Kaifer Stefan zecht des roten Weines

Zu Budim, der weißen, ftoljen Veſte.

Es fredenzt den Becher ibm zum Trunke Andjelija, feine junge Schweſter.

Auf dem Jecher ruht ihr frohes Auge,

Und fie greift verfonnen nad) dem Becher, Führt ihn feit dann an die roten Rippen. Perlend fhimmert durch die blaffe Keble, Durch die feine Haut die Flut ded Weines, Stefan ſahs und fprad zu feiner Schwefter: „O Andjufha, meine liebe Schweſter,

Waͤrs nicht Suͤnde und von Gott verboten, Kuͤßt ich heute nod dein weißes Antlig!” Es entgegnete darauf die Schwelter: Kaiſer Stefan, du mein lieber Bruder, Nimm mid doch, begehrft du meines Kuffes! Iſt ed Sünde, wird und Gott vergeben!” Stefan kuͤßte feiner Schwefter Antlig.

As zum fechften Mal der Mond fi neute, Da empfing der Liebe Frucht das Mädchen; Trug den ſchweren Schoß wohl durch drei Jahre. Nah drei Jahren, ald die Friſt verftrichen, Loͤſt ein Knab zum Licht fi) aus dem Schoße. Kaifer Stefan bangte vor dem Knaben,

Und er nahm von Silber eine Trube,

Legt den Knaben in die Silbertrube,

Trug die Trube hin zum weiten Meere, Warf die Truhe in ded Meeres Mitte,

Ging darauf ein Halbjahr wohl vorüber; Zogen Fiſcher nad dem weiten Meere, Schleppten Nege beutefhmwer zum Strande, Fanden bier die Fleine Silbertrube.

Und die Fiſcher mühten ſich vergeblich, Wohl das Schloß der Truhe zu erfchließen. Braten fie zum Klofter auf dem Berge, Gaben fie des Klofterd greifem Prior.

634

Schnell erfchloß der fromme Mann die Trube. Lebend lag darin ein Fleiner Knabe. | Und der Prior nahm den Kleinen Knaben, Hob ihn fegnend aus der Silbertrube, Küpte fegnend ihn mit frommem Kuffe,

Und er taufte Simeon den Knaben,

Nahm das Kind in Vaterſchutz und Pflege. Wunderbar erwuchs der junge Knabe:

Als zum Jahr ed war, da ragt er haͤuptlings Über Knaben wohl von fieben Jahren.

Ald das Jahr zum achten Mal fich neute, Griff zum Roß der Knab und zum Gemaffen. Und es ſprach zu ihm der greife Prior: „Simeon, mein lieber Sohn und Schüler! Kaifer Stefan farb zu Budims Velten. Ohne Erben fteht fein Thron und öde, Wild umftritten von des Reiches Nittern. Nimm dein Roß und nimm dein blanf Gewaffen, Zieh nad) Budim zu der weißen Veſte, Tummle dih am Wahlfeld mit den Rittern.“ Und der Knabe zog zu Budims Veſte,

Traf im wilden Streit ded Reiches Nitter, Wer ded Reiches Krone follt erbeuten

Und des Kaiferd Schwefter zur Gemahlin. Alſo fprah da Simeon der Rnabe*):

„Bott mit Euch, Budims erlauchte Herren! Schleudert in die Luft des Reiches Krone, Sehet zu, auf wen fie ftürzend falle! Diefem fei zu Teil dad Reich, die Krone Und des Kaiferd Schwefter zur Gemahlin!” Es geſchah, wie Simeon gebeißen.

Aus den Lüften ſtuͤrzend, fiel die Krone

Auf die Schultern Simeons, des Knaben. Da erfaßte Neid und Gram die Ritter,

Sie ergriffen Simeon den Knaben, Schleppten ihn gefeflelt in die Kirche

Wie in eined Kerkers Fühle Mauern.

Wieder flog die Krone in die Lüfte,

”) Eine Variante ded Liedes bringt ftatt der folgenden Szene, in der uͤberſinnliche Mächte das aͤußere —— Simeons beſtimmen, eine Szene, in der Simeon mit den Rittern um Krone und Weib ringt und ſo durch eigne Hraft das vorbeſtimmte Schickſal erfüllen muß (ſiehe: Hofmanns⸗ thals Odipud).

635

636

Störzend fiel fie auf dad Dad) der Kirche, Berftend wid) dad Dad der heil’gen Kirche, Auf des Knaben Schultern fiel die Krone. _ Und die Ritter wichen vor dem Wunder, Gaben dem Ermählten Reich und Krone Und des Kaiſers Schweiter zur Gemahlin. Nun zu Pferde flieg der junge Kaifer.

Mit ihm zog die Mutter Andjeltja

Nah dem beil’gen Berg zum greifen Prior. Und es füßte, dreimal Maft erholend, Seine Mutter Simeon der Knabe.

Ald zum beil’gen Berge fie gefommen, Trat der greife Prior and dem Klofter. Grüßend ſprach er alfo zu dem Knaben: „Ei, was fol ed, Simeon, mein Knabe! Iſt nicht Stefand Reich dir zugefallen?“ Sprad der Knabe zu dem greifen Prior: „Wohl, mein Vater, fiel mir zu die Krone Und des Kaiferd Schwefter ald Gemahlin! Drei Mal nahm das Mädchen ich zu eigen, Raſt erbolend auf dem Weg zum Klofter.” Und ed fprad darauf der greife Prior: „Fluch dem Tage, dem verhängnidfchweren! Rats erholt ich aus den beil’gen Büchern. Sieh, mein Knabe, was die Bücher fagen!” In den Büchern ftand das graufe Schidfal, Und der Knabe lad die bangen Zeilen. Bange quoll aus feinem Aug die Träne, Und der Prior weift den Weg zur Buße: Eiſesnacht und ſchwere Kerfermauern,

Wo dad Waffer um die Aniee flutet, Schlangen fih und Sforpione paaren.

Nah drei Jahren löft der Greis die Riegel, Hand im Kerfer feinen toten Knaben.

Bei ded Knaben Leiche lichtumfloffen Hielten Wacht drei heil'ge Gottedengel: Petrus ward und Nikolaus der heil’ge

Und Maria, Gottes reine Mutter.

Segen ftrömt zu Andjelijas Schoße,

Zur Empfängnis der entfühnten Liebe,

Und fehd Monde trug fie ſchweren Gegen. Nach ſechs Monden löfte fi) zum Lichte Aus ded Maͤdchens Schoß ein Fleiner Knabe, Und der Knabe war der heil’ge Sama.

Ein Spiel] von Stefan Großmann

en ‚Kauft‘, den zweiten Teil des großen Gedichtd, habe ich im Burg- theater zweimal gefeben (und eigentlich) noch feinmal gehört). Das eine Mal vom Parkett aus, das andre Mal zufällig, eine Viertel» - ftunde lang von der Hinterbühne aus. Es war, glaub ich, bei der zwei⸗ undadhtzigften Probe. Die Eoloffale Bühne lag in düfterer Halbfinfternis Da, eim Führer neben oder vor mir fagte alle Augenblide: ‚Adhtung!... Vorſicht! ... Rechts geben... Hier liegt ein eleftrifher Draht... Geben Sie acht auf den Balken!‘ Eine tiroler Gipfelmanderung verlangt nicht foviel Aufmerkfamfeit. Der Apparat zum ‚Fauft‘ ift ungebeuerlih. Überall haushohe Leitern, turmhohe Gerüfle, endlos mallende Vorhänge, Kuliſſen, Mefleftoren, Rollwagen. Da hingen vom domhohen Schnürboden blaue Schleier bis zum Fußboden herunter, da ftanden gefrätfchte Leitern, hoch wie Ausfichtätlrme, und das grelle Ficht, dad in weißem Kegel aus den MNefleftoren hervorbrah, zwang das Auge plöglih zum Wegfchauen, zum Umpdreben in die Finfternid. Ein paar Schritte weiter, im Schlagfchatten der Kuliffen, ward naͤmlich ftocfinfter. Dort im Dunfeln tut fich, kaum ift dad Auge die Vorgänge im faft lichtlofen Raum gewöhnt, eine enorme rechtwinflige Tiefe auf. Dazu Rufe, Pfiffe, Schreien, Poltern und ein balbed Hundert Arbeiter, die auf die Gerüfte Flettern, body oben im geheimnis⸗ vollen Vielerlei ded Schnürbodend verfchmwinden, dann wieder plöglic an einem vorhberfchiegen und mit fedem Satz binunterfpringen in jene große rechtwinklige Tiefe... Ein Glodenfignal! Jetzt fteigt aus der Tiefe lang⸗ fam die naͤchſte Szene herauf, mit allen ſchon geftellten Deforationen ... Im Finftern grüßt jemand. Es ift ein Schaufpteler, der bier, verzmweifelnd auf» und abmarfchierend, auf fein Stihwort wartet... Moch wilderes Nennen, Schreien, Poltern, Räumen... Aber da bin ic) durch die dunfle Wirrnis der ungeheuern Halle glüdlic zu einem Ausgang gelangt und trete ind Freie. Dad war fo in der fünften Stunde der zweiundadhtjigften Probe zum zweiten Teil ded Kauft! Draußen im Licht Fam mir dies alles un« zweifelhaft närrifh vor. Ein Schau-Spiel ward fo vorbereitet. Die Schauenden wurden gewiß befriedigt, wo aber ift dad Spiel geblieben? Ungebeure technifche Anftrengungen und Bewältigungen! Jede Vorftellung ein Sieg Über hundert Tuͤcken der Theaterobjefte! Aber wie fonnte, wo fonnte bier nody Raum fein für die leichte Laune, aus der gerade dad Spiel, dad Spiel zum Schauen, geboren wird? Die Theatertehnif bat kaum je einen exaftern Sieg errungen. Aber was fie gebar, war fein freied Spiel der Künfte mehr, fondern ein mufterbaft ererzierted Manöver...

Fınf Wochen fpäter erlebte id die Geburt eines Schau-Spield, Da batten draußen in Schönbrunn auf einer Wiefe ein paar junge Maler und Kunftgewerbler eine Bühne errichtet. Am Tage vor der geplanten Aufführung wurde fie fertig gehaͤmmert. Eine Bühne, die im Halbfreis angelegt war. Weiher, weißer Stoff umgrenzte den Bühnenraum, zwei hohe Schlige im

637

Stoff ermöglihten den Darftellern das Auftreten. Und binter dem hoben Weiß diefer erquickend primitiven Bühne ohne Kuliffen, ohne Schnürbode, obne Gerüfte und Behelfe, hinter dem weißen Halbrund nidten alte, bob Kaſtanien mit der ganzen Breite ihrer grünen Gipfel...

Ein Spiel! Einige Künftler wollten ein Feſt geben.

Der Dichter Mar Mell war gerade in guter Stimmung. (Eben bat der berliner Preßpoͤbel fein Erftlingdwerf verböhnt.) Der Mufifer Rudel Braun war ald Helfer erbeten. Da mar eine Tänzerin Grethe Wiefentkel die eben in glüdlichfter Tanzlaııne war (fie hatte gerade ihren Abſchied aui der Hofoper ermwirft), und da mar die befte Finftlerifche Jugend der Stedt die Schüler von Kolo Mofer und Zofef Hofmann, die darauf brannten, » jeigen, wieviel Feftlaune und Farbenfreudigfeit in ihnen berumteufelte. ©: ward am 6. und am 7. Juni auf einer fhönbrunner Wieſe ein Spiel er fonnen und aufgeführt, in dem die eigentlihe Duelle edyter Schaufpie: freudigfeit wieder zu Ehren fam: der Spieltrieb! Spielend bat der Dicke Mar Mell die Pantomime ‚Die Tänzerin und die Marionette“ erjonnen, fpielend bat der Mufifer Rudolf Braun Töne dazu gefunden, fpielend baben die jungen Maler (unter dem geſpielt ſtrengen Regime des Architekten Joſe Eduard Wiemner) ihre Koftüme felbft entworfen, felbft bemalt und jelbt gefchneidert, in gemeinfamen Spielproben haben fie auf dem Hintergrunde diefer weißen Nundbühne fjenifhe Bilder von einer Harmonie des farbiger und tönenden Affordes vollendet, die dann an den Auffuͤhrungstagen drei taufend Wiener entzuͤckt baben.

Die Pantomime von Max Mell ift einfah. Pantomimenterte muͤſſen klar fein wie Volkslieder. Eine Pantomime, zu der man erſt das Tettbuch fefen muß, wäre mißraten wie Muſik, die erft ‚erflärt‘ werden muß. Dielet ſtumme Spiel hatte folgenden Sinn. Ein junger König wirbt um ein

Tänzerin, kniet vor ihr, bebt vor ihr, läuft ihr mach, die ihm tanzend immer |

wieder entfhwebt... Plöglid bleibt fie verfteinert ftehen. Die Floͤte |

eined Hirten, die man von weither hört, bezwingt fie. Da verftummt die |

Flöte. Jetzt wird die Tänzerin wieder tolle Tanzfeele, die Ausgelaſſent wagt ed, in den Thronfeflel (dad einzige Ausftattungsrequifit, dad man au

der Bühne fab!) zu Flettern, wagt ed, mit dem Szepter Seiner Majeflät

umberzutanzen, ja fogar mit dem Koͤnigsmantel einen gaffenbübifch froben Tanz aufjuführen. Der König lächelt beglüdt. Er kann den Blick mic

von ihr wenden, er muß fie anfchauen für und fir... Entfegt iſt mut der Hofſtaat. Die Bauern, die feitlih auf einer Bank beim Mein fißen, fihern nur vor fih bin... Da läuft der Hanswurſt herein, Er trägt ein merfwürdig Wefen bei fih. Die Bauernfinder gucken mit großen Augen und ſpitzen gierig die Ohren, was denn dad gut verhüllte Ding in der Hand ded Hanswurſts fei. Der enthüllt bebutfam feinen Schag: Es ift eine Marionette. Sie fpaziert, gut gezogen, ſehr gravitätifch number, .. Am Ende ſchauen nicht nur die Bauernfinder gefeffelt auf das Furiofe Ding, auch der junge König wird aufmerkſam. Die Tänzerin wird jornig. Die

638

Zänzerin will nicht, dag ihr König fih für eine Marionette intereffiere, Sie beginnt zu tanzen, um einen Blick des Königs zu erbafchen und dann feftzubalten. Vergebens. Ganz vertieft fiebt die blutjunge Majeftät auf Daß beinah befeelte Spielzeug. Die Tänzerin kauert ſich verzweifelt auf Die Erde. Am Ende reift der föniglihe Wunfch, die Marionette zu befigen! Ein Winf des Königs fagt dem noch zaudernden Hanswurſt, daß er für Die Marionette eintaufchen dürfe, was immer ihm bier gefale. Nun fchleicht der Handwurft fchmunzelnd an den Hofdamen vorbei. Ad, feine ift fo bübfch wie feine Marionette. Aber die da? Die Tänzerin, die verzweifelt am Boden liegt? Halt! Die nimmt der Handwurft: Topp!... Der König, in fein neues Spielzeug vertieft, nickt gnädig ‚ja‘. Hanswurſt zieht Der Tänzerin feine Scellenfappe an, nun ift fie fein Eigentum. Da, plöglic, tönt die Flöte wieder und gerade jetzt, da die Tänzerin mit flehenden Augen auf das rettende Erlebnis wartet, ift der Hirt da. Die Tänzerin braucht dem ländlihen Jungen nur ihre weinenden Augen zuzuwenden, und ſchon ift Handmurft zu Boden gefchleudert, die Tänzerin frei, Hirt und Tänzerin auf der Flucht...

Matürlich werden fie eingefangen. Die Bauern haben dem Hanswurſt fuhen geholfen. Natürlich treten zwei Fnallrote Genfer auf die Bühne, und natürlich fol der junge König im legten Augenblid enticheiden. Jetzt erwacht die Majeftät aus allen Maionettenfpielen wieder, der "Zauber der Zänzerin wirft wieder. Die Krone will der König auf ihr Haupt feßen, dod nein, fie beugt den Kopf zur Seite. Mur frei will fie fein, frei von den Henkersſtricken, frei von den Handwurftbliden. Tanzen will fie, ent» tanzen, enthüpfen, entfchlipfen jedem Weich... . Auch dem des täppifch- ernften Schäfere. Wenn der König ihr die Rivalin, die Marionette, fchenkt, dann läßt fie ihm daflır den jungen Werber, den Hirten. In der einen Hand die Marionette, mit der andern Band eine lange Naſe drebend, tanzt die Tänzerin hinaus. Ind neue Reich der fünftigen Abenteuer... .

Zu diefer anmutigen, dabei nicht untiefen Handlung, die nur am Ende, finde ich, nicht feft genug geichloffen bleibt (mad mit dem armen Hirten geichiebt, weiß niemand), bat Rudolf Braun eine reijende Muſik gejchrieben. Ganz; leicht, aud dem Handgelenk, wie fihd fir ein Mufifipiel gehört. Die jungen Maler baben den König, den Hofftaat, den Handwurft, den Schäfer gemimt und ihr Wiffen von der Schönheit der Bewegung diedmal in den eigenen Schnitt, die eigene Haltung und nicht zulegt ind eigene Koftum zu legen gewußt. Alle Koftime waren von den jungen Künftlern felbt entworfen und ſchoͤner, als ich fie je auf einem Theater fab. Da waren etwa die Herren ded Hofitaated. Sie trugen ganz lange ſchwarze Mäntel, einer der jungen Leute hatte dazu paflende Schablonen erjonnen, und die wurden nun in weißer Farbe auf die ſchwarzen Stoffe aufgetragen. Ein Verfahren, dad auf der Blihne viel öfter anwendbar ift, ald gedanfenlofe Schneiderroutine ahnt. Phantaftifchere und dabei imponierendere Hoffoftiume habe ich in den Hoftheatern nicht gefehen, wo dergleichen natürlich immer

639

ein Vermögen verfchlingt. Der Tänzerin haben die jungen Leute ein gam ſchlichtes (freilich vortrefflich gefchnittenes) weißes Neformfleidchen angelez, dad mit berunterfließendem Golpdflitter fo reijend ausgeſtattet war, daf +4 ganz prächtig ausſah. Der König batte ein weißes Koſtuͤm, umbüllt ver einem mit Goldornamenten prachtvoll fhablonierten Mantel. Königliche feben Rollerd Opernkönige nicht aus. Die ganze Ausftattung koſtete ver haͤltnismaͤßig einen Pappenftiel. Es wäre denn, man feßte die Fünf; lerifhen Einfälle und die freudig getane Arbeit der jungen Künftler mit u Rechnung. Wie haben fi) die jungen Menſchen ihrer felbfterfonnene Kleider gefreut! Auch diefe Freude gehörte zur Spielluft des Feſtes.

In der Dämmerung, wenn die Sonne unterging, wurde das Spiel ur einer Wiefe in Schönbrunn aufgeführt. Es war etwas Zauberiſches a diefem Sommernadhtötraum. Das Zauberifchfte unbedingt jenes jung Mädchen, das die Tänzerin gab, Fräulein Grethe Wiefenthal. Ein elbüt Wefen von zartefter Leichtigkeit, wie von jedem Windhauch getrieben, ſchwaͤrmte bier uͤber die weiße Traumbühne, und jeder dieſer leichte Schritte war Muſik. ... Diefes luftige Windwefen verförperte den tiefer Sinn des Tänzerinnenfpield. An Königen, an Handwiirften, an Hirten fanı diefes ſchwaͤrmende Kind nur vorliberziehen; ftehen, bleiben, feßhaft werden, fann diefe Fliegfeele nirgends! Sie ift eine Tänzerin durchs Leben un bat nur eine Seele: im Tanz! Ich wilßte nicht, welche lebende Tänzer diefed eigentliche Tanzproblem, fo frei von Erdenfhmwere, fo gemwictslo* mufifalifh, in Bewegungen träumen fünnte wie diefes Findhafte Maͤdchen Grethe Wieſenthal!

Und was iſt die letzte Quelle Wieſenthalſchen Tanzes? Spieltrieb! Dat | Weſen der großen, das heißt: der inftinktiven Tänzerin, der Tänzerin durdt Leben, ed ftammt nur aus ftarfem, unverfehrtem Spieltrieb !

Diefer unvergeplihe Abend auf der fhönbrunner Wiefe war hberbaup aus der Freude fpielender Menſchen gefchaffen worden. Eben deshalb wirt er nicht wie eine Aufführung, fondern wie ein Fefttagserlebnis, licht und leuchtend in der Erinnerung baften bleiben! Exakte Theatermandverübungen, meifterhaft gedrillte TIheaterererzitien, ernſthaft ausgearbeitete und gut memorierte Theaterrefleriondergebniffe, von den banalen Alltagsrefultaten ded gewöhnlichen Theaterbeamtentums nicht zu reden, dies alles müſſen wir in jedem Jahre an jeder Bühne reichlich genießen. Spiele, Luſt- und Scau-Spiele, wirflihe Spiele, entftehen nur ganz zufällig, im feltenen Gluͤcksſtunden. Auf der fhönbrunner Wiefe find folhe Stunden geweſen

640

Der Meiſter und die Jünger von Benno Geiger

Der Meiſter

De Meiſter ſtieg den hehren Hang empor und hieß die Juͤnger in dem Tale bleiben, des reinen Kleides weißer Schein verlor

ſich in dem Heiligtume dunkler Eiben.

Er ſegnete das feierliche Laub,

er horchte hin und atmete den Schlummer; ſein Ohr blieb keinem Atemzuge taub,

und in ihm ſelber ward ein Leben ſtummer.

Er weilte nicht und erſt am hellen Ziele der Wanderung ſchlug er im Farbenſpiele der Wolken und der Luft ein kleines Zelt

ſich auf. Des Morgens trat er vor die Fernen, des Abends las er in den Sternen und weinte lange fuͤr die ganze Welt.

Die Jünger

Im Tale blieben die gefamten Jünger, bebüteten und trieben laut das Vieb;

und auf den Ader warfen fie den Dinger, der ihren Garben Ährenpracht verlieh.

Sie ſchnitzten fi empfindfame Schalmeien aus langen Rohren in dem feichten Ried, bisweilen hob und Löfte fich im Freien gelind ein friedfertiged Hirtenlied.

Sefhoren ward das krauſe Vlied der Fämmer zu feiner Zeit; beim Schein des Dochtes woben fie grobe Leinewand aus falben erg.

Zu unterft funfelten im Abenddämmer die Hütten fröhlich: blaue Säulen hoben ſich von den Dächern zu dem nahen Berg.

641

KRasperlelbocter

Die Ruftipielaffocies/ von Kuno

Ort der Handlung: die Billa in Iſchl. Krumenthal, der Dichter, bat foeben fein tägliches Epigramm vollendet, macht ed zur Abfendung an den Berliner Börfencourier fertig und fucht nun einen modernen Dramatiker, dem fuͤr morgen etwas anzuhaͤngen waͤre. Ploͤtzlich haͤlt unten ein Wagen. Krumenthal ſetzt den Kneifer auf, faͤhrt entſetzt zuruüͤck, bleibt aber doch pin angenagelt fteben, als fein alter Genoffe in Apoll, Nadelburg, naturburfchen- baft die Treppe beraufipringt.

Nadelburg: Grüß Did Gott, lieber Freund. Wie gehts denn? (Er ftreft dem andern herzlich die Hände entgegen)

Krumentbal: Manu... wat machen Sie denn hier? In die Zeit ſchreibt man doch Stile.

Nadelburg: Ich fchreibe nur, wenn mir was einfällt.

Krumenthal: Ach, entfhuldige! Det hab ich nich jewußt.

Nadelburg: Aber, lieber Freund, gerade Du follteft dad doc wiſſen. Mir haben doc) früher immer zufammen gearbeitet.

Krumenthal: Jawoll. Aber denn haben wer dody immer nur je= fehrieben, wenn mir was einfiel.

Nadelburg (innerlih): So'n jiftijes Aas. (Laut) Fieber Freund, wozu die Spikfindigfeiten? Du fiebft, ed ift mir auch allein gelungen, Erfolge zu erzielen.

Krumentbal: Ich weeß. Sehr fcheen find die Stücke. Blos die Mige muß man fidy immer felber mitbringen, wenn man rinjeht ..... r

Nadelburg: Na, und der ‚Weg zur Hölle‘... .?

Krumentbal: Weg! Fur Hölle!

Madelburg: Na, und das „Bufarenfieber‘?

Krumenthal: Juſtav, mah Dir nid maufih! Da find doch de Hufaren von Sfowronnef, und blo8 det Fieber id von Dir.

Nadelburg: Oscar, wer im ‚Glashaus‘ faß, fol! nicht mit Steinen ſchmeißen! Außerdem bin ich beim „Öufarenfieber‘ durchaus nach modernen Kunftprinzipien zu Werfe gegangen. Nach derfelben Theorie, nach welcher Neinhardt den ‚Sommernadtätraum‘ infjeniert bat.

Krumentbal: Wiefo?

MNadelburg: Das ‚echte Mood‘ war mir dabei die Hauptſache.

Krumentbal: Juſtav, Du haft Dir fehr zu Deinen Vorteil entwidelt. Du fannft ja richtich jehende Witze mahen... Alſo wie id et? Woll'n wir de Konjunftur ausnuͤtzen? Wol’n wer fchnell zufammen ’n Stid ſchreiben, eb fi die Stimmung bei Dir wieder ändert?

642

Madelburg: Eigentlih follte ih Dir böfe fein...

Krumenthal: Kannfte machen. Bei die erfte Abrechnung von Sliwinski bifte ja doch wieder jut.

Madelburg: Aber, wenn ichs Dir offen eingeftehen fol: den Wunſch, wieder einmal etwad mit Dir zu arbeiten, hatte ich ja jchon lange. Weißt Du, Skowronnek ift fo ſchwerfaͤllig. Er braucht zu einem Aft gefchlagene drei Tage. ;

Krumentbal: In die Zeit mach ich'n fompletten Klaſſiker. Über—⸗ baupt, den Skowronnef hab ich in’n merkwürdigen Verdacht. Ich glaube, der jchreibt wirklich 'n neued Stid, wenn er'n neued Stick ſchreibt ..

Madelburg: Wenn man ihm nicht gut zuredet, bringt er fo was fertig... Ubrigend: geben wir unfer neued Stud Zickeln?

Krumenthal: Denn wären wir ja Martind-Gänfe! Mee, wenn diefes Stüd ransfommt, müfen wir mit dem Kollegen Schiller fagen fönnen: ‚Der janze Hof is feierlich jeladen.‘ Spaß, bei unfern Verbindungen. Am Gendarmenmarkt wohnen auch noch 2eute....

Nadelburg (glüdlih): Oscar...

Krumenthal: Zuftav... . willfte'n Kognaf?

Nadelburg: Danke, ja. (Sie floßen an, trinfen. Lange Paufe)

Krumenthal: No eenen?

MNadelburg: Danke, ja. (Wie oben)

Krumentbal: Zijarre?

Nadelburg: Danfe, ja. (Sie fiten und rauchen fchweigend)

Krumentbal: Sag mal... . det muß doch mu ooch mal zur Sprache fommen .... Haſte denn fchon’ne dee?

Madelburg: Wäre ic fonft zu Dir gefommen? Alfo hör mal. (Eifrig) Wie wäre ed mit einem jungen Witwer, der fich in feine Schwiegermutter verliebt .... Da ift ein andrer, der ihn verleumdet....

Krumentbal: Das is een moderner Schriftfteller: der wird nachher rausjefchmiffen.

Nadelburg: Sie glaubt der Verleumdung, macht mit dem andern ’ne Neife, um den Schwiegerjohn zu entgehen. Etwa nad Serufalem.

Krumentbal: Bil Du fhon mal in Zerufalem jewefen?

Madelburg: Nee.

Krumentbal: Na, denn fönnen werd ja machen. Und denn fchreibt ihr der Schwiegerſohn ’ne Fritifhe Anſichtskarte:

‚Bald folg ich dir nach fernen Landen, Wo mande viel zu lernen fanden. Dann fhenfft Du mir, dem Seladon, Die Lieb am Anti-Fibanon.‘

Nadelburg (ſrahlend): Oscar, Du bift noch immer der Alte!

Krumentbal: Nih wahr? Sp. . die Aftichlüffe mahen wer Nach« mittag von zwei bis drei. Und nu wollen wer Sliwinski telegrapbieren. In den Hauptzligen id det Stid ja fertih.....

643

Wiener Notizen/ von Willi Hand!

un haben wir bald überftanden; felbft die Bauern- ziehen ſchon ab.

Ihre Kubgloden-Echtheit ift meift der letzte Nachgeſchmack, der und

von der Saiſon bleibt. Erft war diefe Echtheit, ein intereffantes Produkt von Drill und Natur, immerhin fo etwas wie eine Fünftlerifche Kuriofität; jetzt ift fie nur mehr ein wenig foftbarer Znduftrie-Artifel. Man fhürft fie irgendwo auf, wo dad Material reichlich und die Zufuhr leicht ift; appretiert fie zum Theatergebrauh und muß dann nur nod für Abfag- gebiete forgen. Ein nicht fehr riskantes Erportgefhäft. Auch faum mehr fehr einträglich, feitdem die Produftion ind Große geht. Die Schlierfeer waren, das ift jest etwa ein Zabrzehnt, die Erften in Wien. Man fchrie vor VBegeifterung uͤber die Echtbeit und Einheit diefer Truppe. Und es war in der Tat erftaunlich, zu ſehen, wie fie, ohne Ruͤckhalt und Scheu, ohne Faͤlſchung und Verlegenheit, ihren Ton und ihr Reben auf der Bühne, vor Hunderten von Zufchauern beibehalten fonnten. Das hatte ihnen aller- dings ein Taufendfünftler von Negiffeur beibringen müffen, der Bauerntum und Theaterfpielerei gleich genau fennt und fehr wohl weiß, wie beide mit» einander und durcheinander zu bemältigen find. Man bielt e8 wohl damals au fir Kunft; war aber bald eines Beſſeren belehrt, ald fich zeigte, daß auch diefe befte, gelehrigfte und natürlichite aller Bauerntruppen niemals imftande ift, etwas andres zu fpielen als feichte Poffe oder feichtes Ruͤhr⸗ drama. Das beißt: ihr Leben und ihre Art können fie auf der Bühne ber» zeigen, folange fein Wort und fein Gefühl und Fein Ereignis fommt, das fie über ſich felbft zu ftellen, in ein befondere® Verbältnis zu ihrem Dafein zu bringen verfucht; denn dann verfagen fie, weil fie uͤber die Diftanz zwiſchen Kunftwerf und Wirflichfeit nicht weg Finnen. Sie können fi) auf dem Theater beftenfalld wiederholen; nicht fich darftellen. Ihr Naturalismus iſt eben um diefe Kleinigfeit ärmer, ald der norddeutfche: um die geiftige Kultur. Der Kreid der Späße, Fänfereien und Gewaltfamfeiten, in dem fich diefe Maturfpielerei bewegen fanın, war bald ausgemeſſen. Und ald die Konkurrenz fam, meift tölpifcher und weniger gut gedrillt als dieſe erfte Truppe, da wurde nicht mehr viel Aufhebens von der bäurifhen Kunft gemacht; man ließ die Leute gewähren, ald fahrende arme Schluder, die aus dem trüben Neft der Saiſon noch ein paar nabrhafte Broden berauszufifhen kamen. Unter den Fetten, die bier gefpielt haben, war auch ein Enfemble aus Innsbruck. Die brachten nun doch, neben vielem Unfinnigen, auch Anzen- gruber und ein paar von den beffern Autoren, die ſich bei und des Dialeft« ftüch8 angenommen haben. Darunter franz Kranewitter aus Innsbruck. Bon ibm erboffen viele das Auferftehen der großen bäurifchen Kraft im Drama Öfterreiche. Sein ‚Andre Hofer‘ ift von einem prachtvollen Trotz und von einer fchönen Gedrungenbeit des Worts. Mur bleibt er oft gar zu ſchwer im Niedrigen ftedten, fommt zu feinem böhern, vollern Ausdruck. Eine Verbaltenbeit, die bei aller Intenfität den Geruch der Armut nicht

644

ganz abftreifen fann. Die Tiroler haben bier zwei Einafter von ihm gefpielt: phantaftifche Paraphrafen Über menſchliche Leidenfhaften. Das eine Stuͤck, dad den Geiz behandelt, zeichnet feine Menfhen in hart eingedruͤckten Holz⸗ fhnittlinien, in einem kraftvoll unbarmherzigen Stil, der gar fehr an fchöne deutfche Legenden erinnert. Das zweite, mit einer Tendenz gegen die Trunf- fucht, verfällt in Plattheit, illuftriert Moral und geberdet fi überhaupt ganz leſebuchmaͤßig. Man bat von diefen zwei Stüden den Eindrud: ein Dichter, der nicht recht weiß, wie feine Innerlichkeit ſich am beiten mitteilt. Zwifchen feinem eigenen Ausdrudf und dem der Menge, auf die er wirken möchte, ſchwankt er noch unrubig hin und ber. Es fcheint ihm an innerer Merfpektive, an dem ruhigen Überblick über feine eigenen Kräfte zu fehlen. Und vielleicht wäre ed gut, wenn er die gepriefene Provinz, der er ja un⸗ ftreitig fein Beſtes verdankt, auf eine Zeit verließe, um fi dann kraͤftiger, bewußter dort wiederzufinden.

Auch bier in Wien haben wir einen folhen, dem vor allem das Urteil über das fehlt, was feiner Kunft taugt, und die umfichtige Kraft, fih anf den rechten Weg zu bringen. Das ift Franz Schamann. Seine Bismarck⸗ Eiche‘ hat der verendenden Saifon ein wenig nationalspolitifhen Farm gebracht und ihm felbft boffentlih ein Stüdchen Geld... Der Fünftlerifche Erfolg und dad Gelingen diefed merkwürdigen Komoͤdienverſuchs läßt ſich nicht beurteilen; die geizigen Finger der Zenfur baben zu tiefe Loͤcher in den Tert gebohrt. Da war fein rechted Urteil über ihn zu gewinnen. Aber fur; vorher "hatte dad Kleine Schaufpielhaus, das ſich nun, nach mancherlei mißgluͤckten Experimenten, hauptſaͤchlich flr ein Repertoire ftarf theatralifcher oder literarifch qualifizierter Einafter entichloffen zu haben ſcheint Felix Doͤrmann als Dramaturg bat da feine Hand im Spiel Schamannd ‚Abfchied‘ aufgeführt, den die Lefer der ‚Schaublihne‘ kennen. Das gab, im Fleinen, fchon eher ein Bild diefer literarifchen Phyſiognomie. Schamann ift ein Talent, das feine Kraft nicht zu flhren verfteht. Mit einer troßigen, verbitterten Miene fucht er auf der platten Erde nad feinen Menfchen, greift fie aud Staub und Schmuß und Gewöhnlichfeit heraus und will fie dann, mit einer Geberde, die oft etwas erftaunlid Titanifches hat, in die Höhe reißen, wo fie von den Stürmen großer Schidfale gepadt würden. Aber oft bricht ibm die fhöne Gefte mitten entzwei, wenn die Kraft der Einbildung verfagt; er fchnappt zufammen und endet im lachen. Oder feinen Menſchen geht in den Stürmen auf den dramatifchen Gipfeln plöglich der Atem aus, fie werden fahl, leer, unwahr. Diefed eine Große, den gleihmäßigen ftarfen Zug von der Wahrheit der Natur zur Wahrheit der Idee, hat er noch faum jemald aus ſich beraudgezwungen. Könnte er es, er wäre einer der theaterftärfften Dramatifer, die wir haben.

Man muß aber nicht glauben, dag wir jeßt bier ſchon ganz genuß— verlaffen find. Die ‚Luftige Witwe‘, von Brahms Gaftfpielen für eine Zeit vertrieben, fehrt num wieder, berrlih wie am erften Tage, zu und zurüd,

645

Und damit und für die Fufunft nicht bange wird, hat ſich die Zahl der wiener Operettenbuͤhnen tröftlih vermehrt. Damit tritt der Wahnſinn, deffen afuter Zuftand aus den vierhundert Aufführungen der ‚Ruftigen Witme‘ zu diagnoftizieren war, in ein mehr chroniſches Stadium, das ftiller, aber gefährlicher ſchleicht und ficherlic länger währt. Wir werden alfo nächftens drei Operettenbühnen haben, zur hoͤhern Ehre unfrer Kultur und für das tiefe Bedürfnis unferd Publitums. Ohne Zweifel aud für das Bedürfnis der Tertdichter und Komponiften, die zu lange ſchon binter dem beifpiel- Iofen Erfolg der ‚Luftigen Witwe‘ wie hinter einer umüberfteiglihen Mauer bänderingend geftanden und, erfolghungrig bi zur Verzweiflung, gewartet baben. Nun werden dem bedrohlich anfgeftauten Strome diefer Produktion gleich drei Schleufen auf einmal geöffnet: Waſſer auf die Mühlen der Thpeater-Spefulanten. Gott belfe dem Geſchmack des lieben Publikums!

Nuoſchau

Skandinaviſches Theater we bot im Fruͤhjahr eine

gewiß unvollftändige, aber doc) binreichend beweisfräftige Nevue über das gefamte ffandinavifche Theater in einem von Dänen gefpielten ſchwe⸗ diihen Drama und zwei norwegifchen Gaftfpielen. Beweisfräftig dafür, daß die Verjuͤngung der dramatifchen Fite- ratur von Schweden zu erhoffen ift, daß aber die Darftellungsfähigfeit bis jegt nirgend8 darüber binausgelangt, einzelne eigenartige Geftalten heraus⸗ zuſtellen, während ſich durchdringendes Enſembleſpiel, einendes Regiever⸗ moͤgen und das Hilfsmittel der Dekora⸗ tionskunſt noch im aͤrgſten liegen. (Wenn das kopenhagener Koͤnigliche Theater eine gerade vermoͤge dieſer Faktoren abgerundete Holberg⸗Auf⸗ führung wie, Jeppe vom Berge‘ zu liefern vermag, fo verfagt fiir mein Gefühl bier wiederum Dlaf Poulfen in der Hauptrolle infoweit, ald er fein eigened und des Publifumd er- fterbendes Intereſſe durch unabläffige

646

grobe Mätchen wachfigelt; er mag in jüngern Jahren und noch bei der dreißigſten oder fünfzigften Aufführung folher Ddegradierenden Künfte nicht bedurft haben.)

Folfetheatret führte ded Schweden are Söderberg dreiaftiged oder uͤnfbildiges Schaufpiel ‚Gertrud‘ mit Frau Betty Nanfen in der Titelrolle auf. Das und befannte fchmedifche Drama fchlehtbin ift da® Drama Auguft Strindbergd. Es hat in feiner Vergangenheit nicht, wie, etwa Däne- marf,einen Holberg oder Ohlenſchlaͤger aufzuweifen; in der Gegenwart ſekun⸗ diert dem Führer fein Björnfon oder Gunnar Heiberg. Strindberg allein bat die Arbeit von Generationen auf feine ftarfen Schultern genommen, Er bat der ſchwediſchen Dichtung eine neue Sprache gegeben, er bat diefer Sprache neue Formen gefunden, er bat, in mannigfachen Experimenten, das euro⸗ päifche Drama um fein eigenes, ebenfo individuell wie national neues Drama bereichert. Faſt alle, die feit dreißig

Jahren fich im ſchwediſchen Schrifttum einen Namen gemacht haben, find von irgend einem Stadium diejed proteus⸗ baften Befeelerd ausgegangen. Soͤder⸗ bergd Drama, dad man daneben ald erfted wieder, wenn auch in einigem Abftand, nennen fann, zeigt eine ge⸗ wiffe Abhängigkeit von Strindbergs moftifchen Dramen. Der erfte Buͤhnen⸗ verfuch eines Dreißigers ahmt Aufer- lichfeiten nach. So forrefpondieren die Sienerien im erften und fünften, im zweiten und vierten Bild, um dad Auf und Ab der Handlung aud dem Auge bedeutungsvollzumarfieren. Ein weib⸗ ähnliher Schatten inmitten des licht- bellen realiftifihen Milieus gleitet flır einen Moment murmelnd über die Siene; feindramatifches Agens, ledig- lich eine lyriſche Bifion der Heldin. Der Treffplag der heimlichen Liebe ift ein Ort der Verdammten und Aus- geftoßenen, body über einer großen mwimmelnden Stadt, an ihrer Grenze; verderbte Kinder, ein ſchnuͤffelnder Vagabund ftreichen da baft vorbei... Aber das iſt auch alles Die Menſchen der eigentlichen Hand⸗ lung und die Atmoſphaͤre, die fie um- wittert, haben faum etwas von Strind« bergſchen Menſchen und deren Gefuͤhls⸗ umwelt. Dieſe Frau, die mit verhüllter Leidenſchaft fieberiſch und triebhaft ihre Liebe ſucht, iſt micht Die moderne Here, die lockende Zauberin und das tuͤckiſche Tier, dad man inStrindbergd Produf- tion als Vordergrundäfigur zu fehen pflegt, auch nicht die veildhenblaue Madonna, die von Zeit zu Zeit ald Korrelat feiner Sehnſucht auftaucht. Sie ift nicht ald weſensfremde Kreatur vom Marne aus, von aufen gefeben; ihr Bild waͤchſt aus verftehender Neu- tralität. Hialmar Söderberg hat einmal den Roman vom Mitmenſchen ge— ſchrieben, von dem Doktor Glas, der ſelbſtlos, um eine ungluͤckliche Paſtors⸗ frau von der Satyriaſis ihres Mannes zu befreien, dem beſtialiſchen Seelſorger

heimlich eine Morphiumpille zu ſchlucken gibt. Aber die Frau verſteht ihre Freiheit nicht zu nutzen und, ſtatt dem Geliebten, dem ſie die ganze Zeit von ihrer troſtloſen Ehe aus nachgehangen, geraͤt ſie einem ganz andern Dritten in die Arme. Seine Tat erſcheint dem Doktor Glas unabwendbar notwendig wie das Leben, und doch fuͤhrt der Weg von ihr aus in die Irre. Gertrud ſetzt in ſeliger Blindheit ihr ganzes Daſein an die Liebe und muß zuletzt doch mit leeren Haͤnden ſtehen bleiben. Weil ihr Gefühl größer iſt als die Möglichkeit der Erfüllung. Weil ihre Seele zuftolz ift und nicht paftieren kann. Und mweil Schließlich zufällige banalellmftände den rechten Zeitpunft verftreichen ließen. Sie war Sängerin, war die Geliebte des Dichterd Gabriel Fidman, wird von ihm verlaffen die Gattin des Advofaten Kanning. Zu Tode verwundet, ſucht fie ein Alltagsglück in diefer Ehe, mit einem Heim, mit Kindern. Das Kind flirbt. Der Mann gebt feinen eigenen Weg ; er vermag fie

. nur neben andern zu lieben, neben

feinen männlihen Geſchaͤften und Kommoditäten. Sie findet den jungen Komponiften Erland Zanffon und ift von feiner Jugend nicht weniger ent» flammt ald von feinem Naturtalent. Doch er ift ein Prolet in feinem Blute, der das Fönigliche Geſchenk ihrer Gunft aus feinen plumpen Händen in den Schmut fallen läßt. Sie trifft wieder auf den gealterten Fidman, den man in der Heimat ald den großen Mann feiert umd der, uͤber alled andre, uͤber Ruhm und Streben jyniſch dahin- fahrend, nur wieder nad) ihr drängt. Sie läßt ihn, läßt ihren Mann, der ſich foeben einen Minifterfeffel erfämpft bat, und muß es erleben, daß ihr der letzte, juͤngſte Liebhaber felbit auflagt. Auch jegt noch will fie nicht wieder Lidmans audgeftredte Hand ergreifen noch ftill an ibred Mannes Seite ver⸗ bleiben. Sie ift fir Janſſon zu alt ge=

647

weſen, Fidman für fie. ‚Und fie er- innert ihn an fein eigenes hartes Wort, dad auch dem Buche vorangefegt iſt: „Ich glaube an die Luft des Fleiſches und an die unbeilbare Einfamfeit der Seele.”

Als bei der kopenhagener Premiere dad Stüd fiel, motivierten dad weife Leute damit, daß die Zeit der Problem- dichtung vorüber fei. Man dachte etwa an Ibſens gefellihaftäreformatorifche Dramen. Aber ‚Gertrud‘ ift gar feine Problemdichtung in dem Sinne, daß eine eingangs geftellte frage darin ge= Löft würde nad) der Formel: Wenn die Menfhen Flüger und die Zuftände beffer werden, fann dad nicht mehr paflieren. ‚Gertrud‘ ifteine Schickſals⸗ tragödie unter gemwiffen Proportionen. DiefeMenfchen,diegewiß keine Heroen, aber ebenſowenig Arme im Geiſte ſind, erſchoͤpfen ihre pſychiſchen Moͤglich⸗ keiten unwiderruflich. Ihre Strebungen und Taten ſind unter allen Umſtaͤnden irreparabel. Es iſt etwas von der beſten Hageſtolzweisheit darin, wie dieſes Schickſal geſehen iſt. Mit einer gewiſſen intelligenten Melancholie iſt dieſe Tragik, dieſe Diskrepanz zwiſchen leib⸗ licher und ſeeliſcher Vereinigung der Geſchlechter, die die vorletzte Gene— ration auf nackteſte biologiſche Formeln zu reduzieren beliebte, mondain ge— macht. Und es iſt zu alledem ſo durch⸗ aus ſtockholmiſch. Ich rede nicht da- von, daß das Stelldichein in einer bei Namen zu nennenden Anlage jpielt, daß das Feſt flr Fidman in Bernd Salons, aus Strindbergd ‚Notem Zimmer‘ hinreichend befannt, gegeben wird, und von andern lofalen An— fpielungenmehr. Mein, dieXtmofphäre zwifchen den Menfchen, die Luft, die ihre Worte trägt, fie haben diefen Charakter. Man fieht diefe übertrieben großen Dimenfionen der Architektur, als gälte ed noch immer die entſchwun⸗ dene Großmacht zu repräfentieren, diefe forcierte Inſzenierung des

‚648

Straßenbilded "und der, Öffentlichen Sammelpläge, die gleihwohl nur Falt und oͤde und troftlod wirken, das Pathos injeder alltäglihen®ebärde, die ftrenge Scheidung derÖber- und Unter⸗ Elaffe, das äußerlich gedämpfte Wefen, dem Ungebundenbeit und Frobfinn fremd find, und das nur hinter ver- fchloffenen Türen dem Uberſchwang fein Recht laffen mag. AU das auch, fühlt man, ftebt ald Medium zwifchen den Figuren diefed Dramas und leiht feiner Tragif die befondere Farbe. Die Luft des Fleiſches, freudig und offen bejabt, fcheint in diefem Klima feine Stätte zu finden, und in der Tat bat diefed Element in der Dichtung das ſchwaͤchſte Leben, die geringfte Glaub» wiürdigfeit gewonnen. Hier bleibtalles der Darftellung vorbehalten, und doch ift diefe darin befchränft durch den refervierten Stil ded Ganzen, durch den Ton des Dialogs, der jene ganze ftolge und verſchloſſene Stimmung in beabfichtigter Durchführung bis and Ende feithält. Bereits in feinen Er- zäblungen hatte Söderberg ein hohes Bemwußtjein vom Wert der Sprache, ald dem ſpezifiſchen Ausdrucksmittel der Dichtkunft, bewieſen, und dieſe Erfenntnis, die Selbftbefinnung der Spradfunft, ſowie ihre Anwendung machen mit diefem Drama vielleicht mehr Epoche ald das Fonftruftive Können des Autors.

Aber auch wenn das Stüdbei feiner Aufführung in Kopenhagen nidpt für den Ehemann Kanning einen Komifer, für den Komponiften einen Theater- ſchuͤler und für den Dichter Kidman einen Schaufpieler gehabt hätte, dem lediglich die Fähigkeit klarer Diftion nachzuruͤhmen ift, auch wenn die Regie fiir würdige Deforationen geforgt und nicht fo ſchlaͤchterhaft geftrichen bätte, würde doc niemals der volle Erfolg erreicht worden fein, wie an demfelben Abend in Stodholm. Frau Nanfen batte felbft fuͤr ihre ftarfe Reputation

dem durch die Kritik ftetö geftreichelten, verfumpften Publifum mit einer mehr als unterbaltenden Novität zuviel zu⸗ emutet. Ihr Spiel allein fonnte nicht über all jene Flaffenden Mängel hin- mwegbelfen. Mod dazu, da die Rolle der Gertrud etwas monoton geftimmt ift. Zu einer ftrahlenden Aftivität er- bebt fie fi eigentlich niemals. Die freude ift bedruckt, der Schmerz ver⸗ balten, und alle Veränderung ift nur Entgleiten, Sichherauswinden oder Sinfichverbeißen. Aber doch eben darum au Nanſens Mitteln fongenial. Ich enne fie außerdem nur ald Rebekka Weſt, ald die fie völlig tot blieb, bin jedoch lberzeugt, daß von ihrem Übrigen Mepertoire Amalie Sframd Agnete diejenige Rolle ift, die fie bis in den legten Seelenwinfel ausfüllen muß. Ihr Temperament drängt nicht zu weit» ausholender Bewegung. Sie ift ſtets wie ein Bild, rubend im Wefentlichen ihrer Erfcheinung, einer hochwirfenden frauenbaften Brünetten; und nur Nuancen wandeln fi). Der feſte Gang oder die Faum umfangreiche, ver- fchleierte Stimme variterenihr Tempo. DieKonturen der verweilenden®eftalt, der Arme und Hände verfchieben fid) um wenige Linien, oder die hellgrauen Augen febren aus der Ferne zurück und geben, feltfam nad} innen geftellt, dem Beficht einen feiner charafteriftifch- ften Afpefte in Momenten des gelöften Gefuͤhls. AU diefe Gebundenbeit ift gewiß nicht Schwerfälligfeit, fondern Berinnerlichung ;aber ebenfomwenig wie Betty Nanfen ſich je zu einer Fraft- vollen Heroine entwideln wird, Fönnte fie über eine Chaifelongue fpringen, wie Anna Larſſen. Vielleicht drängt ihr Ehrgeiz fie dennoch in jenes Fach, wenn fie jegt im Herbſt nad) mehr- jährigem Gaftieren in den Verband des Koͤniglichen Theaters tritt. Jeden⸗ falls muß ſie dort mit der alten Frau Hennings, nicht zum wenigſten um ihren Einfluß auf den Spielplan, in Kon⸗

furren; treten, und in diefer Beziehung wird nach ihrer biöherigen Wahl von Frauftanfen viel für dietegenerierung des modernen Nepertoires zu boffen fein ; denn Betty Henning hatte edauf ein Niveau herabgedruͤckt, deſſen Höhe- punft Hermann Sudermann bildete. Dasfelbe Volfötheater, deffen En- femble Frau Nanfen fi zur Mithilfe an der vonihrinaugurierten, Gertrud‘ Aufführung gewählt hatte, verfchrieb fic) feinerfeitd Frau Zohanne Dybwad vom Nationaltheater inKriftiania, um fie ald Marie-Louife in Henri Bern fteins ‚Dieb‘ zu mißbrauchen. Diefer pfiffig gezimmerte Kuliffenhbumbug fonnte ihr gewiß nicht Gelegenbeit geben, fich ald die Menfchendarftellerin zu bewähren, als die fie von Kundigen über ganz Sfandinavien gefhägt ift. Sin ihrem Beftreben, diefer Theater- rolle Fleifd; und Blut und Seele zu leihen, fo daß fie glaubwürdig vor und finde, mußte fie Stückwerk geben. Sie fonnte nur Situationen, allenfalls Epifoden lebendig machen; vielmehr fie mußte es, der Außerlich konſtruierte Zufammenbang ded Driginals fiel da⸗ bin. Augenblicöbilder blieben haften. Etwa wie fie gegen Ende des erften Aftd ihrem grünen Anbeter für fein Opfer zu danfen fucht: ihre Stimme, ein zwoitfchernder Vogel, war lange verftummt; doc durch die fchmeren Wolfen ihrer eigenen Gewiſſenspein und Zerriffenheit, ihrer irren Furcht vor den ahnungslofen andern fchlicd) ſich aus ſchmerzlichen, hilfloſen Tierchen⸗ augen ſcheu menſchlichſtes Laͤcheln wie erſte Vorſommerſonne, das zu leuchten verſuchte und waͤrmen mußte bis ins Herz hinein. Dieſe ihre Kraft und Elaſtizitaͤt, aus einem Strudel herein⸗ gefluteter Eindrüde ſich mit einem eminentmimiſchen Ausdruck zu erheben, gab dem dden dritten Aft den einzigen lübenden Moment unter demratlofen Durceinandergewimmelder begleiten- den Komparfen. Wieder die gleiche

649

Situation wie dort; doch nun ſoll Reue ihr Gewiſſen erleichtern, ſie will be— kennen, der verbannte Fernand muß im letzten Moment zuruͤckgehalten werden. Dieſes entſcheidende, Zuruͤck⸗ rufen!“ kam wie ein letzter, mit aller Macht herausgeroͤchelter Atemzug aus der erſtickten, zarten Kehle, und dieſer gurgelnde Aufſchrei ſetzte ſich fort in einer malenden, kreiſenden Bewegung von Arm und Hand, unablaͤſſig in hoͤchſter Not herumgewirbelt wie von einer Ertrinkenden. So vereinzelt die Eindruͤcke, fo vereinzelt die Reflexionen daruͤber. Aber ſoviel ſtand mir nach den erſten Szenen feſt, daß Johanne Dybwads Wandlungsfaͤhigkeit ſich un⸗ gleich weiter erſtreckt, als vielleicht zu⸗ fammengenommen die fo bemerkens⸗ werten Talente Betty Nanfend und Anna Larſſens fich je auszudehnen ver- mögen, daß bei ihr jene Infpiration, jene perfönlichfeitwandelnde Beſeſſen⸗ beit unter dem Geift der Rolle ficht- bar wird, die und ald legted Kriterium aller wahrhaft reproduzterenden Kunſt gilt, und daß der Aberglaube von dem nordifhen Temperament ald etwas unter allen UmftändenSchwerfälligem, Eingefrorenem, düfter Verfonnenem den Todeäftoß erbielt vor dem zuckend bewegten Übermut, der uͤber denganzen aͤußern Menſchen bin expreſſiven Leidenſchaftlichkeit dieſer Norwegerin.

In Kriſtiania darauf konnte ich Frau Dybwad in einer der Ibſenrollen, die ihren Ruf vor allem ftüßen, nicht er⸗ leben. Denn in Rriftiania fpielt man jegt überhaupt nicht Ibſen. Auch nicht an feinem Todedtage, ganz wie in dem pietätlofen Berlin. In dem National« theater, vor dem Ibſens und Bjoͤrnſons Statuen ald Hausgoͤtter aufgepflanzt find, tanzt die ‚Fuftige Witwe‘ das ganze Frübjahr. Nur fie. Sie tat es eine ganze Saiſon in Kopenhagen. Sie tut ed nun dur viele Wochen in Stockholm und Kriftiania. Und Björn Bjoͤrnſon, der bier ald Theaterchef

650

gleichzeitig das kuͤnſtleriſche und ge= ſchaͤftliche Reſſort zu verwalten hat, foll über diefen unverbofften Erfolg, der ihm ald Finanzier zuftieß, als Theatermann fo unglüdlid geworden fein, daß er ernitbaft den Abſchied nehmen will. Wenn aber ein andres Theater in Kriftiania die Abficht bat, Ibſen zu fpielen, dann darf das Nationaltheater auf fein Monopol pochen troß der, Witwe‘, und jenes andre muß ind Audland gehen. So mit feiner Gefellihaft Johan Fahlſtroͤm auf vier Tage nad) Kopenhagen. Gie fpieltenim@afino,dem eben die, Witwe‘ entfloben war, am erften Tage den Ibſen: ‚Ein PBuppenheim‘. Ragna Mettergren ald Nora, Zohan Fabl⸗ ſtroͤm ald Krogftadt, Frau Alma Fabl- ftröm als Chriſtine, ein kalkuttiſcher Hahn als Helmer und ein verfuſelter Leutnant als Rank. Der ſouveraͤn vorherrſchende Eindruck dieſer Dar⸗ bietung war: mitleiderregend. Nur aus dieſem Gefühl konnte ſelbſt die ewig konziliante kopenhagener Kritik ſo glimpflich damit verfahren und auf die naͤchſten Abende vertroͤſten. Frau Wettergren und dad Ehepaar Fabl⸗ ſtroͤm waren früher amMationaltheater geweſen und bilden jegt den kuͤnſt⸗ lerifchen Stamm diejer zweiten haupt⸗ ſtaͤdtiſchen Buͤhne, die jedoch in triſtiania nicht einmal dauernd ein feſtes Theater fuͤr ſich haben kann. Sie kommen nach Kopenhagen, erzaͤhlen den Zeitungs⸗ ausfragern von ihren oͤkonomiſchen Schwierigkeiten beiihrem kuͤnſtleriſchen Idealismus und praͤſentieren Ragna Wettergren als fabelhafte Primadonna. Das iſt fie natürlich nicht. Sie iſt eine fluge und temperamentvolle Schau⸗ fpielerin, die aber die Rolle der Nora, rein dem äußern Umfang nad), nicht bewältigen fann. Mal arbeitet fie den einen, mal den andern Typ beraus, mal das Singvoͤgelchen, etwas laut und derbe, mal das befreite Weib, etwas bleidy und programmatifc) falt;

aber von Zufammenhang, von Über- gängen mit unverminderter Lebendig⸗ feit ift Feine Nede. Dazu ein erftaun- liches Unvermögen, im Exterieur auch nur die Spur einer Jllufion zu er» regen. Diejer Mangel war dem Auge fo grell erfchredend, daß man zuerft eine Abficht Dahinter vermuten mochte. Später mußte man eöbereuen. Einzig wirfung3voll waren die beiden von dem Ehepaarfahlftröm bedienten Chargen. Befonders der Mann. Wie weit ent» fernt vom Böfewicht oder Teufel war diefe ſchwere, gedrungene Proletarier- figur des Deflaffierten, unbemweglich in der dicken Winterkleidung, mit groben verarbeiteten Haͤnden und in dem von Kaͤlte und Suff blauroten Geſicht ein Paar beſtaͤndig zu Boden gerichtete Tſchandalaaugen. Nur ganzim Innern, ſpuͤrte man, trieb das heiße Leben ſeine Maſchine, die die geſunkene Laſt wieder hochbringen ſollte, und wenn es dann aus ihr kochend aufbrauſte, hoben ſich die Augen fuͤr einen Moment, die dunkle Stimme verlor ihren Druck, und die geballte Fauſt wollte auf den Tiſch ſchmettern und wagte es zuletzt doch nicht. Dieſen Krogſtad haͤtte man un⸗ bedenklich in die beſte Brahmſche Ibſen⸗Auffuͤhrung hineinſetzen koͤnnen.

Alfons Fedor Cohn

Das neue Shakeſpeare— Evangelium

F as iſt ein Buch von Peter Alvor,

welches die alte Frage: wer eigentlich der Urheber der unter dem Namen William Shakeſpeare be— kannten Werke iſt, von neuem auf- wirft. Welches die Meinung, daß der Schauſpieler Shakeſpeare der Dichter ſei, ablehnt und ſich zugleich gegen die Hypotheſe von dem Gelehrten Bacon als Verfaſſer wendet. Welches ſodann die richtige Loͤſung gefunden zu haben glaubt: daß naͤmlich zwei befreundete Ariſtokraten jener Zeit, Henry Wriothedley, Graf von South⸗

ampton,der Gönner des Schaufpielers Shafefpeare, und Roger Manners, Graf von Rutland, fi) in die Ur- beberfchaft der Werfe teilen.

Peter Alvor will mit diefem Buche zunachft nur der Shafefpeareforfhung feine neue Deutung zur genauen kritiſchen Unterfuhung vorlegen, ift aber doch von feiner Meinung lıber- zeugt genug, um einen ziemlich aud- fübrlihen VBeweid zu wagen. Es wäre zu meitläufig, allen feinen Er= wägungen und Argumenten nachzu⸗ geben. Aber es ift nicht zu leugnen, daß feine Deutung im einzelnen mit- unter nabezu verblüfft. Die unge- wöhnlihe Kenntni® der englifchen und ausländischen, zeitgenöfjifchen und vergangenen Literatur, der Hiſtorie und der Mythologie, des fozialen und politifhen Lebens, des Hofes, ferner Länder wie Däanemarf und Stalien und vieler andrer Dinge, die bei dem Schaufpieler Shafefpeare verwundern, wuͤrden fid) erflären bei diefen beiden bochkultivierten, weit- gereiiten und dem vollen öffentlichen Leben angebörigen Grafen. Die fchöpferifhe Größe und Geſtaltungs⸗ fäbigfeit, die bei dem Gelehrten Bacon befremden, wären verftändlich aus ihren privaten Charafteren von feltener Stärfe in Tat und Leidenschaft. Dazu fommen, wie gejagt, fchlagende Über⸗ einftimmungen im Fleinen.

Störend ift der begeifterte Stil ded Buches. Peter Alvor fpricht von Meuadlung des Dichterideald Shafefpeare, von Thronerhebung der MWürdigen ftatt eined Unmürdigen. Bon Jubel. Mit Patbod. Glaubt an einjchneidende Wirkung. Dem- gegenüber tritt ed nur fchärfer ins Bewußtſein, daß diefe ganze Frage durchaus nicht fo weſentlich ift, wie vtelleiht noch mannigfach geglaubt wird, Man lernt ja doc mehr und mehr, die Perfönlichfeiten früherer Dichter zu vernachläffigen und fich

651

ganz den Werfen als eigenlebigen Gebilden hinzugeben. Hugo Lyck

Theaterredht

ch war unlängft Zeuge des Er- eigniffes, daß ein Generalftaatd«- anwalt, ein Amtörichter und ein ge= wefener Landgerichtödireftorr und gegenwärtiger geheimer Admiralitätd- rat dad Recht auf Kunft, dad Recht der Kunft und das Recht in der Kunft gegen den Staat, den Zenfor, den Staatsanwalt, die Theaterdireftoren, die Schaufpieler und das Publikum verteidigten. Der Admiralitätsrat Dr. Felifch hielt einenBortragliberTheater- recht in einer Berfammlung der juri⸗ ftifchen Gefellfchaft. Erfagte: „So Ihr Auriften nur Zuriften feid und das Theater nicht liebet, tuet Eure Federn davon.” Und dann zog er ernftlich in Erwägung, daß flir die Leitung eines Theaterd der Befaͤhigungsnachweis ebenfo gefordert werden müffe, wie bei jedem fonzeffionierten Gewerbe, damit die Kunft er fagte die ‚wirkliche Kunft‘ zum Unterfchied von der, After- funft‘ nicht Schaden litte. Der Generalftaatdanwalt zog fogleich die Konfequenzen per argumentum a contrario, und von der Afterfunft ausgehend, fagte er: „Und darıım be= antrage ich, meine Herren Gerichtshof, daf einem Manne, der Afterfunft be- treibt, von Staatswegen die Konzeffion entzogen werden dürfe. Der Angeklagte dinand bat dreihundert Mal den berlocd Holmes und zweihundert Mal den Hund von Basferville über die Bretter gefchleift.... Entziehung der Konzeffion, Todedftrafe und lebend längliher Ehrverluft!” Der Amts- richter fagte: „Wer zu ſpaͤt ins Theater fommt, muß bis zum Aftfchluß vor der Tür ftehen bleiben.” Dr. Feliſch ex- ponierte den Grundriß eines Theater- rechtd, das ift: der Gefamtheit der Mormen, die die Verbältniffe des

find in verfchiedenen Gefeßeögebieten zu finden, eineinheitliched Theaterrecht gibt ed nicht. Braucht man auch nicht. Es fehlen nur nod einige Beſtim⸗ mungen, die man bei ®elegenbeit im Bürgerlihen oder im Gewerbegeſetz unterbringen kann. Ich fam denganzen Abend aus der Freude gar nicht beraus. Man muß das freundliche Bild gehört haben, das die Theaterfunft in den Köpfen derZuriften gefpiegelt hat. Und die Herren fannten ihre Grenzen und waren befcheiden und gewiflenhaft. Dr. Felifh ift in theatralibus vor⸗ züglicdy unterrichtet, und er wird ges beten, ein Büchlein zu verfaffen mit demTitel: ‚Das gegenwärtige Theater- recht‘. Und nur zur Orientierung der Leſer jeien hier einige Inhaltsaufſchrif⸗ ten des zukünftigen Buͤchleins an⸗ gegeben. I. Das oͤffentliche Theater⸗ reht (Konzeffion, Zenfur, Polizei, ftrafbare Handlungen). II. Das private Theaterreht. (Nechte und Pflichten der Blihnenleiter, Nechte und Pflichten der Schaufpieler und des Theater- verfonald, Rechte und Pflichten der Autoren, Rechte und Pflichten des Publifums). II. Anhang: Charaf- teriftifche Fälle aus der Praxis der Bühnenfchiedägerichtöbarfeit. IV. Re= form- und Ergänzungsvorfchläge.

U. A

Deutfche Uraufführungen

29.5. Wilhelm von Scholz: Me- ro&, Drama. Münden, Hoftbeater. 1.6. Emald Gerhard Seeliger: Männer, Einaftige Komödie. Ham⸗ burg, Thaliatheater.

8.6. Hand Barth: Scirocco, Sjenen aus dem florentiner Künftler- leben. Wiesbaden, Nefidenjtbeater.

14.6. Leo Feld: Der Götter- liebling, Einaftiges Spiel. Münden. Nefidenztbeater.

15.6. L.EmdablundR. Friedrich: Gräfin Prott, Komödie. Magdeburg, Victoriatheater.

Theatermefend regeln. Diefe Normen

Berantwortlic für die Nedaltion: Siegfried Zacobſohn, Berlin SW. 19 Berlag von Defterbeld & &o.,BerlinW.15 Drud von Imberg & Leffon, BerlinW.9

Kr

[N OM nt <r ©) cr) —2 N mE ST| OD CU cn”