Preussische Jahrbücher

Rudolf Haym, Heinrich von Treitschke., ...

Harvard College Librarv

FROM THE BEQUEST OF MRS. ANNE E. P. SEVER.

OF BOSTON, Wınow OF CoL, JAMES WARREN SEVER,

(Class of 1817)

10 X 16 Sec 1899

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Preußiſche Jahrbücher.

Herausgegeben

Hans Delbrüchk.

Achtundneunzigſter Band.

Oktober bis Dezember 1899.

Berlin Verlag von Georg Stilke. 1899.

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Inhaltsverzeichniß

98. Bandes der „Preußiſchen Jahrbücher‘.

Aufſũtze.

Blum, H., Das Wirthſchaftsleben der deutſchen Südſeeinſeler

Brauſewetter, A., Beſprechung von W. Beyſchlag, Zur deuiſch⸗chrift. lichen Bildung

Cauer, P., Beſprechung von Wenzel, Der Zodestampf des aitſprachlichen Gymnafialunterrihts . .

—,— Beiprehung von A. Wernide, Die mathemeiifä- "naturwiffenfdaft- lihen Forderungen in ihrer Stellung zum modernen Humanismus

,— Beiprehung von J. . das er a Prima verlieren? . ;

—,— Beiprehung von a Riedier, Unfre Hodfäulen. und bie An forderungen des XX. Jahrhunderis . .

—,.— Befprehung von U. Riedler, Die bohhuln und > ie wifſſenſchaftlichen Beftrebungen . ; r

Conrad, H., Die neuefte Shafipere-Riteratur

Daniels, E, Memoiren der Gräfin Potoda —— ER THESE

Delbrüd, H. Auffifh-Polen . . . .

Drews, Belprehung von St. B. Brooke, Glaube und Bifenfäat

Gallwitz, H., Bom deutſchen Gott Me i

GleichenRußwurm, 4. Frh. v., Die pflicht zur Schönheit.

Gothein, M., Shelley i 5

darnad, D., Zu Goethes gundertundfänfgigftem Geburt ;

derrmann, D., Voltaire als Friedensvermittler

Rellen, T. Der Maffenvertrieb der Bolßgliteratur .

Külpe, D., Die äfthetifche Gerechtigkeit . ;

IV Anbaltsverzeihriß.

De M., Der Individualismus in der Hauptfritik

„— Belprehung von H. Böhlau, BUND, :

„— Theaterlorreipondenz —F

—, Theaterkorreſpondenz

,— Buchdramen. : ;

—, Beiprehung von M. v. . Megfenbug, | Remoiren euer cal i

,— Zheaterlorrefponden . . » - 5 Ei

Reftle, E., Zwei Bemerlungen

Neuberg, 8., Hildesheimer Kunft . .

Nohrbad, P., Sven Hedins und Landors Reifen. in "Onnerafen

Sandovoß, F., Beiprehung von J. W. Nagl und 9%. Zeidler, Deſterreichiſche Literaturgeſchichte 1.—14. Lieferung

—,„— Beſprechung von 2. Geiger, Goethe⸗Jahrbuch

,— Beſprechung von J. Vogel, Goethes Leipziger Studentenjahre.

—,— Beiprehung von M. Meyer, Goethe i

,— Beiprehung von R. Edart, Allgemeine Sammlung niederbeutfeger Näthiel . £

„— Beiprehung von 2. ãhnhewdi Boltsthämliches aus dem m Ron: reih Sadjen . i ; ;

—,„— Beiprehung von F. Söhns, Unfere Bilanzen 5 .

—, Belprehung von J. W. Bruinier, Das deutſche Voltslied

—,— Beſprechung von A. Seidel, —— aus der Volls- literatur . .

Sell, 8, Die wifenföaftihen Aufgaben einer rGeſchichte der Sriftligen Religion

Boigt, P., Befpreung. von D. Stifid, Die englide Agrarkrifis, ihre Aus. dehnung, Urſachen und Heilmittel

„— Beſprechung von W. Roſcher (W. Stieda) Nationaldtonomie des. Handels und Gemerbfleißes f

,— Beiprehung von M. Gantor, voiuuie Arithmetit * die Arithmetik des täglihen Lebens.

,— Beiprehung von K. Balder, Geſchichte ber Rationalöfonomie und der Sozialismus . u

,— Beiprehung von R. Siegbart, Die öffentlichen Slüdsfpiele

,— Beiprehung von M. Peters, Die Entwidelung der ae Nhede- rei jeit Beginn diefes Jahrhunderts. I, . F RR

,„— Beiprehung von ®. Kley, Bei Krupp .

Wendland, B., Element i .

Wirth, A, Die Lage in Indien und Iran .

Beiprodene Werte.

Adamus, F, Familie Wawroch . Asbadh, J. Darf das Gymnafium feine Brime verlieren ? Bieberftein, D. v., Memoiren der Gräfin Potoda

161

162

163 561

562 5683 123 417

551 340 216

Inpaltsverzeihniß.

Blum, $., Neu⸗Guinea und der Bismarlardipel

Böhlau, H., Halbtiehr! . . . . .

Brandl, A, Schlegel-⸗Tieckſche Ghaftipenrerüicherjehung, neue Ausgabe

Broglie, Herzog v., Voltaire avant et pendant la guerre de sept ans

Broote,-&t. A., Glaube und Wiſſenſchaft ; RR

Beyſchlag, W., Zur deutfhechriftlihen Bildung

Bruinier, J. W., Das deutſche Volkslied

Bultbaupt, Shalipere . . .

Cantor, M. Politiſche Arithmelik ER die Aritpmetit des täglien Lebens

Dähnhardt, D., Volfethümliches aus dem Königreih Sahfen . . «

Edart, R.,- Allgemeine Sammlung

Faber, H., Ein glüdlides Baar . ; ;

Geiger, 2., Goethe⸗Jahrbuch :

Hauptmann, ®., Das Friedengfeft .

Hedin, S., Durd Aſiens Wüſte

Ibſen, H., Baumeifter Solnch . i

Keyjerling, €. v. Ein ————

Kley, W., Bei Krupp . ;

König, 6. Filippo Lippi . —F

Kranemitier, F. Michel Gais zmayr er

Laehr, H., Darjtelung franthafter Geifteßzuflände i in Shatipers

Landor, H. S., Auf verbotenen Wegen

Lee, S., A Life of W. .

Meyer, M., Goethe

Meyjenbug, M. v., Memoiren einer - gbealiftin

Ragl u. Zeidler, Deutſch- Defterreihifche Siteraturgefchichte

Peters, M., Die Entwidelung der deutſchen Rhederei feit en a Jahrhunderts. I. . .

Pfeil, Graf J. Studien und Beobahtungen ans der Suͤdſee

Richter, H., Percy Byſſhe Shelley

Riedler, U., Unjere an und die Anforderungen des xx Jahı- hunderts 0 ;

Dietehnifhen dochſchuien ihre wiſſenſchafllichen Beftrebungen

Rof her, ®., (Stieda) Nationalölonomie des Handels und

Servaes, F., Präludien .

Seidel, A., Anthologie aus der afatifhen Boltsliteratur

Sieghart, R., Die öffentlihen Glüdsfpiele . . . - F

Söhns, F., Unſere Pflanzen . .

Stillich, D., Die engliſche Agrar, ie Ausdehnung, Unfagen ı mb Heilmittel . i .

Strauß, €, Ton Pedro

Stryienski, C. Mémoires de la Comtesse Potocke ES

Bogel, J., Goethes Leipziger Studentenjahre i

Balder, 8., Geſchichte der Nationalölonomie und des Sozialismus

Wenzel, Der Todestampf des altſprachlichen GymnafialeUnterrichtes

Bernide, 9, Die mathematiſch-naturwiſſenſchaftlichen ae in ihrer Stellung zum modernen Humanismus . . oo.

216 514 163 310

340

VI Inhaltsverzeichniß.

Politiſche Korreſpondenz.

Die Bagdad⸗Eiſenbahn. Paul Rohrbach.

Die Maßregelung der Beamten Abgeordneten Transvaal. Die Binde logie des Dreyfus-Prozeſſes. D

Aus Defterreih. ) . »

Der Sozialdemokratiſche Parteitag in Bannover. 8.

Der Ausbruch des ſüdafrikaniſchen Kriege8 D. » » 2 2 2 200.

Die Ablehnung des Arbeilswilligen-Geſetzes. Sozialpolitifches. Welt» madhtpolitit und Sozialdemokratie ®. .

Deutfhland, Transvaal und der Beſuch bes Raifers ie England Die neue Flottenforderung. ®.. - U 35

heologi Bonn; einer Be ber

onus in Dresten:

ibertrieb der Voltstiteratur

ndland, Kilmersdort bei Berlin:

bei Berlin: * in der Kunſilritik

(Rorifegung fiche Anmenfeite

4 - Ericheint jeden Monat. Hährlid 6 M. Eingellieft 2 u, 50 Pr.

be ehren durch alle Buchhandlungen und ——

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Berlin

* 2 RB | Berlag von Georg Stil

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3u Goethes Hundertfünfzigften Geburtstag.

Nede, gehalten zu Darmitadt von

Prof. Dr. O. Harnad.

Deutjchland jühnt in diefen Tagen eine fünfzigjährige Schuld. As im Jahre 1849 fich der Tag zum hundertitenmal jährte, da Deutjchlands größter Dichter zur Welt fam, wurde die Gedächtniß- feter mit weit weniger Antheilnahme, mit weit geringerer Begeifterung begangen als der Name Goethe es fordern durfte. Alles war von dem leidenjchaftlichen politischen Treiben eingenommen, in dem ein jo großer Theil deutjcher Geiftes: und Willenskraft fich damals er: tolglo8 abarbeitete und deſſen einzelne Phaſen man in ihrer Be- deutung bei Weiten überjchäßte. Politische Leidenjchaft, ſowohl im bejiegten Liberalismus wie in der ‚vordringenden Reaktion, er: füllte alle Welt, und Niemand ſchwor höher als zur Fahne der „Partei.” In diefem Getriebe fonnte die Erinnerung Goethes nicht Gejtalt gewinnen, des Genius, der jelbjt ſich nie in heftige Tagesfämpfe eingelaſſen, der den Blid jtetS unerjchüttert auf das Dauernde, unverändert Werthvolle gerichtet hielt, der ſich davon nicht abziehen lajjen wollte, gemäß jeinem furz abweifenden Wort:

„Warum mic feine Zeitung freut? Ich liebe fie nicht; fie dienen der Zeit.”

Um jo mehr it nun jegt der Anlaß ergriffen worden, um nachzuholen, was vor fünfzig Jahren verjäumt wurde. Deutſchland hat welthiftorische Ereignifje inzwifchen erlebt, und fich eine Form des Dajeins gegeben, in der es ſich befriedigt fühlt und der es Dauer wünjcht. Es vermag ſich heute mit freiem Herzen

Preußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIIL £eft 1. 1

2 Zu Goethes Gundertfünfzigftem Geburtstag.

und flarem Geijt jeiner großen geijtigen Beſitzthümer zu freuen, und vor Allem des Mannes, der jeit mehr ala einem Jahrhundert in der gejammten Sulturwelt als die höchjte Verförperung Ddeutjchen Geiſteslebens gefeiert wird.

Einen mächtigen Aufſchwung hat in den letzten Jahrzehnten die Verehrung Goethes und das Studium jeiner Werfe gewonnen. Meimar und Frankfurt find die Hauptitätten diejer Aeußerungen; aber in allen deutjchen Landen wird fortdauernd eine gewaltige Summe geiftiger SKraff auf die Erforjchung Goethes verwandt. Und das Ausland wetteifert darin mit uns; bejonders Frankreich, England, Nordamerifa liefert wertvolle Mitarbeit; überhaupt fein Kulturvolt iſt daran unbetheiligt.

Die Nothwendigfeit, jo eindringende Arbeit auf die alljeitige Erfenntnig von Goethes Geijtesleben zu wenden, it freilich zum Theil durch die Art und Weije gefordert, wie er jelbjt jich der Welt gezeigt oder auch verhüllt hat. Wohl fein hervorragender Schrift: jteller hat jolche Gleichgiltigkeit dagegen bewiejen, wie er von der Welt aufgenommen und gewürdigt werde, wohl Steiner hat jo wenig danach geitrebt, ſich ins rechte Licht zu jtellen, Durch die Anordnung jeiner Schriften den Zugang zu erleichtern und ein Totalbild jeines MWejens zu gewähren. Er vollendete jeine Werfe mit größter fünjt- lerijcher Sorgfalt; waren jie aber vollendet, jo warf er jie gleichjam auf den Markt, ohne fic) um ihr weiteres Schidjal zu befümmern. Wie er vom Bublifum jeiner Zeit dachte, hat er jelbit in der Frage und Antwort ausgejprochen:

„Warum erflärft du's nicht? und läßt fie gehn!“ „Geht's mich denn an, wenn fie midy nicht verſtehn?“

Aber auf die dauernde Wirkung feines Schaffens vertraute er um jo mehr: wer der Nachwelt gefallen wolle, ſprach er aus, dürfe nicht der Mitwelt zu Gefallen leben. Und jelbjt Liebes: gedichten, den Erzeugnijjen froher, rajch verraufchter Stunden, gab er den Wunjch mit:

„Alem ift Die Zeit verderblich, Sie erhalten fi) allein;

Jede Zeile fol unjterblich, Ewig wie die Liebe fein!“

Wer jo über die Gegenwart hinausblidte, der lebte natürlich zugleich auch in der Vergangenheit; der betrachtete Mberhaupt die Welt und ihre Entwidlung unter dem Gejichtspunft einer großen Einheit, in der die winzige Spanne, die er jelber durchlebte, nur

| Zu Goethes Hundertfünfzigftem Geburtstag. 3

von untergeordneter Bedeutung war. In diefem Sinne war Goethe vor Allem die Betrachtung der Natur ein Hohes Anliegen und hoher Genuß. In dem fortwährenden Leben, Vergehen, Neu-Sich— erzeugen der Natur jah er jene große, im Stern unübermwindliche, nur in Erjcheinungsformen wechjelnde, ewige Sraft, in der er jich jelber als mitwirfend fühlte. „Natur“, ruft er aus, „sie jchafft ewig neue Gejtalten; was da iſt war noch nie, was war fommt nicht wieder, Alles it neu, und doch immer das Alte ....... Ste baut immer und zerjtört immer, und ihre Werkſtätte iſt un- zugänglich!” Troß diejer legten Worte jucht Goethe doch in der Arbeit feines ganzen Lebens in die Tiefen der Natur einzudringen. Seine Tagebücher laffen uns erfennen, mit welch unermüdlichem Eifer er jich den Naturjtudien hingegeben hat. Unter der unend- lichen Fülle der Bejchäftigungen Goethes iſt die Naturforjchung die, die er am fonjequenteiten betrieben hat, und die ihm am meijten unentbehrlich) war. Der dichterijchen Thätigfeit gab er fich nur in gewifien günjtigen Stimmungen hin, wenn die poetiiche Ader ihm voll und leicht jtrömte; die Bejchäftigung mit der Natur begleitete ihn von einem Tage zum andern. Bon den anorganischen Grund: lagen des Lebens ging jie aus; mineralogische und geologijche Unterfuchungen waren ihm eine notwendige Würze jeder Neije. Sie erhob ſich zum vergleichenden Studium der Pflanzenformen, ihres einheitlichen Urjprungs und ihrer Umbildungen, endlich zur ver: gleichend anatomischen Betrachtung der Thierwelt, um überall nach den großen, unveränderlichen Gejeten zu juchen, die in der Fülle der Einzelerjcheinungen zu Tage treten. Sie drang über die Schranfe unſeres Erdballs hinaus in feinen Studien über die Licht: und ‚sarbenerjcheinungen und in jeinen meteorologischen Betrachtungen, und fand ihre lebte Befriedigung im Anjchauen des gejtirnten Himmels. Mit begeiltertem Empfinden alle Einzeleindrüde zujammen: faſſend, ruft der Dichter aus:

Wenn im Unendliden Daſſelbe,

Sich wiederholend, ewig fließt,

Das taujendfältige Gewölbe

Sid fräftig in einander ſchließt,

Strömt Lebensluft aus allen Dingen,

Dem Heinften wie dem größten Stern,

ud alles Drängen, alles Ringen

Iſt ewige Ruh' in Gott dem Herrn.“

Auf der Grundlage diejer Naturbetrachtung erhob jich nun jeine Erfenntniß und Würdigung der Menjchheit, ihrer Entwidlung, 1*

4 Zu Goethes bundertfünfzigfiem Geburtstag.

ihres Werdens und Vergehen, ihrer allmählichen Steigerung, bis zur Entfaltung aller von der Natur in fie gelegten Kräfte. Aber wenn Goethes Naturfinn fich in immer gleicher Weije fund giebt, jo hat jeine Stellung zur menschlichen Gejellichaft jich in wechjelnden Phaſen entwidelt, und jein eigenes Leben hat dadurd) in feinen verjchiedenen Zeiten ein durchaus verjchiedenes Gepräge erhalten. Wir jehen ihn in feiner Jugend naturfräftig der Gegen- wart leben, in jeinem Mannesalter ſich mit bewußtem Wollen der Vergangenheit zuwenden, als Greis mit jeherifcher Ahnung in die Zufunft jchauen.

Mit welch’ gewaltigem Feuer hat ſich der junge Goethe in die Bewegung gejtürzt, welche al$ „Sturm und Drang“ jeine litera- riichen Beitgenojjen mit ſich riß! Im jener Bewegung, die im gejellichaftlichen Leben wie im künſtleriſchen Schaffen gegen alles drüdende Formelweſen jich aufbäumte, fonnte er die ganze Gewalt jeine8 Genius, die ganze Schaffensfraft rüdhaltlos bethätigen. Er lebte im Gefühl, einem glüdlichen, einem jchönen Zeitalter anzu— gehören, und von der Anerkennung, der gleichen Gefinnung jeiner Zeitgenofjen getragen zu jein. Die jungen Schriftjteller, wie Lenz, Klinger, Stolberg, jcharten jich um ihn, ältere, wie Lavater oder Herder, jahen in ihm die hoffnungsvolle Kraft, von der nicht zu Berechnendes erwartet werden müfje. Ein überjcharfer Stritifer, wie Merd, jah in Goethe doc, die Genialität, die in ihren höchiten Aeußerungen aller Kritif entwachjen jei. Freilich wenn wir jet zurüdbliden, wie wenig Dauer haben dieſe Verhältniſſe gehabt, in deren Gegenwart damals der junge Dichter jchwelgte! Wie jchnell entwuch$ er der Umgebung, wie weit blieb jie hinter ihm zurüd! Aber wozu brauchte er auch die Umgebung! Er hatte ja die ganze Welt für ſich. Mit jeinem „Götz von Berlichingen“ hatte er Deutjchland erobert, mit „Werther Leiden‘ eroberte er thatjächlich die Welt. In alle Erdtheile drang dies Buch, das jelbjt ein Napoleon noch immer von Neuem gelejen hat. Die Gegenwart, die ihm jo huldigte, mußte wohl den jungen Dichter mit jich reißen. So war denn auch jein Auftreten: kühn, fieges- gewiß, lebens und liedesfroh, aber nicht bedrücend für die Um— gebung, jondern erfrijchend und erhebend, weil die Dankbarkeit für das glücliche Schickſalsloos überall hin von "m ausjtrahlte. Ueberreich jind die Zeugnifje für den überwältigenden Eindrud jeines Wejens: „Vom Wirbel bis zur Zeche Genie, Kraft und Stärke, ein Herz voll Gefühl, ein Geiſt voll Feuer mit Adlerflügeln.“

Zu Goethes Hundertfünfzigftem Geburtstag. 5

Eine wunderbare Charafterijtif hat in neidlojer Freude der bedeutend ältere Wieland in glänzenden Berjen gegeben; er jchildert den Dichter als Improvijator:

D melde Geſchichten, welche Szenen

Ließ er vor unfern Augen erfichn!

Wir wähnten nicht zu hören, zu fehn

Bir fahn! Wer malt wie er fo ſchön

Und immer ohne zu verfhönen? ....

Dod wie? was fag’ ih malen? Er fchafft

Mit wahrer innerer Schöpfungstraft

Erjhafft er Menſchen, fie atmen, fie leben,

In ihren innerſten Faſern ift Zeben.

Bie flogen die Stunden Durch unferes Zauberer Runft vorbei, Und wenn wir dadten, wir hätten® gefunden Und was er fei nun ganz empfunden, Wie ward er auf einmal wieder neu! Entfhlüpfte plögli dem fatten Blid Und fam in andrer Geftalt zurüd Lich neue Reize fih vor uns entfalten, Und jede der taufendfahen Geſtalten So ungezwungen, fo völlig fein, Man mußte fie für die wahre halten. Rahm unſere Herzen in jeder ein Schien felber nichts davon zu jehen, Und wie er immer glänzend und groß, Rings um fih Wärme und Licht ergo, Sih nur um feine Achſe zu drehn.“

E3 war jchon in Weimar, daß Wieland diejen gewaltigen Eindrud von Goethe empfing. In anderem Sinne wie in der Vaterjtadt lebt Goethe auch hier zuerjt derG&egenwart. Aus dem bloß literarischen Leben, von der fchließlich zum Uebermaß angeipannten geiltigen Produktivität it er gern dem freundjchaftlichen Ruf des Herzogd nad) der Heinen Reſidenzſtadt gefolgt, und läßt gerne hier ganz andere Bilder des Lebens auf jich einwirfen, feine Welt: fenntniß erweitern. Aber es bleibt nicht beim Beobachten; die Zuneigung Carl Auguſts weiß den Dichter allmählich auch jelbit für die thätige Mitwirkung zu gewinnen. Aus dem genialen Gajt des Herzogs wird allmählich dejjen gewijjenhafter Diener, der fich nur durch den kühnen Idealismus feiner Grundſätze von den gewohnheitsmichig die Gejchäfte führenden Beamten unterjcheidet. Alle Zweige der Verwaltung des kleinen Landes lernt er fennen; in allen will er die humanen Ideen des Zeitalters der Aufklärung zur Öeltung bringen. Den Herzog jelbjt will er von allem weit

6 Zu Goethes humdertfünfzigitem Geburtstag.

und Hoc) jtrebenden Ehrgeiz abziehen und nur auf die gewiſſen— baftejte Sorgfalt für das Wohl aller, vor Allem der niedrigiten jeiner Unterthanen einjchränfen. Obgleich durchaus nicht völlig einverjtanden, jtellt der Herzog ihn endlich an die Spite der Ver: waltung und vier Jahre lang leitet der Dichter in wahrer Siſyphus— arbeit die Gejchäfte des Landes, nach Idealen, die er jelbjt mehr und mehr für unerfüllbar erfennt. Er fühlt, daß er jich einem Beruf aufopfert, in dem niemals das wirkliche Ziel jeines Lebens gefunden werden fann.

Aber unter diejen ihn drüdenden Verhältnijjen reift nun aud) der entjcheidendjte Entjichluß jeines LYebens. Er erfennt, daß er ſich jelbjt und jein Schaffen nie wird zu der Höhe fteigern fünnen, die ihm jelber vorjchwebt, jo lange er mit dem Strom des (iterarifchen oder des politiichen Lebens geht; er fühlt, daß er jich ganz und gar von der Umgebung losreigen, ſich ganz und gar auf jeine eigenen Füße jtellen muß. Und das thut er mit jeiner plöglichen Reife nach Italien, die fajt wie eine Flucht ins Werk gejegt wird und dann Sich zu einem anderthalbjährigen Aufenthalt ausdehnt. Und von diefem Zeitpunkt an wendet er feinen Blid von der Gegenwart ab, und richtet ihn abfichtlich und Fonjequent auf Die Bergangenheit. Es iſt das klaſſiſche Altertum, das er vor Allem in Italien jucht, in dem er heimijch werden will, in dem er jegt die ihm gemäße Form der Menjchheitsentwiclung findet. Was bedeutet das, und wie erflärt es ſich? Goethe war doc) jicherlich nicht zur Verſenkung in gelehrte hiſtoriſche oder philo— logische Studien gejchaffen. Selbjtzwed waren jolche Studien für ihn nicht. Es war vor Allem der Drang, fich durch dieje Ver: tiefung in das griechijche und römische Alterthum eine fejte Grund: lage für die eigene geiftige Exiſtenz zu jchaffen, einen unverbrüchlich giltigen, unangreifbaren Standpunkt, von dem aus er die wechjeln- den Erjcheinungen des Lebens betrachten und beurtheilen fonnte. Er entnimmt die Maßſtäbe und die Triebfedern jeines Handelns dem klaſſiſchen Altertum und joviel e8 möglich, jucht er feiner Umgebung und auch jeinem praftijchen Wirfen, 3. B. der Theater: leitung, diefen Stempel aufzuprägen. Eine großartige, ſtets Die entfernteiten Gefchichtsepochen mit einander verfnüpfende Betrach- tung entjpricht dieſem Standpunkt, vor der alle wechjelnden Moden des Tages völlig zu Nichts zufammenfchrumpfen. Der Aufenthalt in Rom eröffnet ihm zuerſt diefen welthiftorijchen Bid. „Wenn man jo eine Erijtenz anfieht‘‘, jchreibt er an jeine Freunde, „Die

Zu Goethes bundertfünfzigftem Geburtstag. 7

zweitaujend Jahre und darüber alt it, durch den Wechjel der Zeiten jo mannigfaltig und von Grund aus verändert und doch noch derjelbe Boden, derjelbe Berg, ja oft Ddiejelbe Säule und Mauer, und im Bolfe noch die Spuren des alten Charafters, jo wird man ein Mitgenojje der großen Rathſchlüſſe des Schickſals“ . . . . „Mir ward bet diejem Umgang das Gefühl, der Begriff, die Anjchauung defjer, was man im höchiten Sinne die Gegenwart des Elajjischen Bodens nennen dürfte. ch nenne dies die jinnlich geiftige Ueberzeugung, daß hier das Große war, iſt und jein wird." In dieſer Schätzung des Bleibenden, Dauernden, in dem Gegenwart, Bergangenheit und Zufunft in eins fließen, findet er jett jeine Befriedigung. Dem gemäß läßt er jich, nach Deutjchland zurüdgefehrt, von allem Zwang der Antheilnahme an den Gejchäften des Tages entlajten; der Herzog gewährt ihm die Freiheit, nur in den Dingen thätig einzugreifen, welche ihm perjönlich) werthvoll erjcheinen. Und Goethe beginnt nun um jeine Berjon in Weimar eine ganze Reihe von Kräften, Einrichtungen, Schöpfungen zu jammeln und zu gruppiren, die diejen Ort zu dem erheben, was er noch heute iſt, zur klaſſiſchen Stätte Deutſchlands. Literatur, Theater, bildende Kunſt zieht Goethe in diejen Streis; jein Hauptmitarbeiter wird Schiller. Die erſte Folge diejes Handelns ift eine Entfremdung zwijchen ihm und dem Publikum; der Dichter der „Iphigenie und des Taſſo“ ift nicht mehr populär. Aber das kümmert ihn nicht; er fchafft nicht für den Augenblid. Und wenn er in einem Werf, in „Hermann und Dorothea“, durch die eigenthümliche Verfchmelzung von Antifem und Modernem auch eine jchnelle, glänzende Wirkung auf das Publikum erreicht bat, jo hatte er fie doch durchaus nicht erjtrebt. Dabei hatte er jeine Zurüdziehung von der Tageswelt damals an den größten Ereignifjen zu erproben. Die franzöfiiche Nevolution erfüllte auch in Deutjchland alle Köpfe und Herzen mit Erregung und Leiden- Ihaft. Goethe wurde von ihr innerlich nicht ergriffen und empfand jie bloß als Störung der organischen Entwiclung.

„Franzthum drängt in Diefen verworrenen Tagen, wie ehmals

Lutherthum es gethan, ruhige Bildung zurüd.”

Und je härter fich die Ereignifje der Außenwelt aufdrängten, defto willensfräsfiyer ſchloß er fich in den Kreis feiner ruhigen Bildung ein. Nach der Schlacht bei Jena verfiel Weimar der Plünderung; Goethe gerieth jelbjt in Lebensgefahr; allgemeine Auflöfung herrichte rings umher; die Erijtenz des ganzen Herzog-

8 Zu Goethes hundertfünfzigſtem Geburtstag.

thums war in Frage gejtellt. Aber jchon acht Tage nad) der Schlacht verzeichnet Goethes Tagebuch: „Verſchiedene Aufſätze ge: ſchrieben“ und drei Tage jpäter ift er jchon wieder mit der Durd; fiht der neuen Ausgabe jeiner Werfe bejchäftigt. Im weitern Verlauf diejer Zeit ward jeine Beſchäftigung mit dem Flafjijchen Altertfum weniger eifrig, aber nur weil ihn noch ferner Liegendes angezogen hatte; er wandte ich jegt der orientalischen, vor Allem der Arabiichen und Perſiſchen Dichtung und Weltanjchauung zu. Und als fich die Schwierigfeit und Peinlichfeit der Lage immer mehr jteigert, im Jahre 1813, als Sachjen-Weimar noch als Rheinbunditaat auf Seiten Napoleons jtand, während die allge meinen Sympatbhien fich jchon zu den Verbündeten hinneigten, da war ihm in diejen Konflikten die Verjenfung in jene orientalijche Sphäre das koſtbarſte Heilmittel zur Erhaltung jeiner Geiftes- und Seelenruhe.

Erſt nachdem die Wirren der Zeit ihren Abjchluß gefunden hatten, jehen wir Goethe wieder hervortreten, und zwar nun wieder mit voller Theilnahme, mit vollem Interejje an der Entwidlung und den Fortjchritten des neuen Jahrhunderts. Das Feſtſpiel „Des Epimenides Erwachen“, mit dem er die Befreiung Deutjchlands feiert, bezeichnet darin den Umjchwung. Wie Epimenides wendet er fich erwachend wieder der Wirklichkeit zu; aber auch wie diejer fonnte er von fich jagen:

„Run aber joll mein Geift enibrennen, In ferne Zeiten auszufhaun‘.

Daß die Art und Weije der Befreiung zu einem bedrüdenden Uebergewicht Rußlands in Deutjchland führen werde, jah er jorgen- voll voraus. Und diejenigen irrten, die da meinten, Goethe werde ji) jegt dem Parteileben, das jogleich nad) den Befreiungsfriegen lebhaft erwachte, hingeben. Der ind Greijenalter getretene Dichter wurde jeßt zum Seher, der mit weiterem Blick, mit Flarerer Voraus: ficht die Dinge überjchaute als die Zeitgenofjen, und der deshalb ji feinem Schlagworte fügen, auch jet nicht in die Kämpfe des Tages eingreifen konnte. Er lebte nun, da er die Keime der neuen Zeit erfannt hatte, in der Zufunft. Manche Anfeindung hatte er auch jet wegen dieſer vornehmen Stellung zu erdulden; im Ganzen aber wurde fie ehrfurchtsvoll reſpektirt. Goethe hatte id) wenige Jahre zuvor durch die Veröffentlichung des erjten Theils des Fauſt, wo er es gewagt, die höchjten Probleme aufzuwerfen, deren Löſung nun die Welt mit Spannung von ihm erwartete,

Zu Goethes hundertfünfzigſtem Geburtstag. 9

ein Anjehen errungen, das jchlechthin unvergleichlicy war. Nicht nur in Deutjchland, jondern unter allen Kulturvölfern feierte man ihn als den „Patriarchen“ der Dichtung, der Literatur überhaupt. Er jelbjt jah darin ein Unterpfand der fünftig immer mehr zu er: reichenden geiltigen Einheit der Literatur aller Kulturvölfer, die er als die Weltliteratur bezeichnete. Im Uebrigen war er ſich freilich dejjen völlig bewußt, daß das neunzehnte Jahrhundert fein (iterarifches jein werde. Scharf erfannte er jchon aus den eriten Anzeichen den großen Gegenjag zwiſchen dem geijtig gerichteten achtzehnten und dem praktisch gerichteten neunzehnten Jahrhundert. Die weltumwälzende Bedeutung der neuen Erfindungen erfannte er, als jie faum noch gelungen waren. „Reichthum und Schnellig- feit“, ſchrieb er jchon 1825, „it was die Welt bewundert und wonad) jeder jtrebt. Eijenbahnen, Dampfjchiffe und alle möglichen Facılitäten der Kommunifation find es, worauf die gebildete Welt ausgeht.... Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeit— jtrudel fortgerifjen. . . . alles ijt jegt ultra... . alles transzendirt unaufhaltjam ..... von reiner Einfalt fann die Rede nicht jein....“ Und daß der Einzelne fi) in diejem verwirrenden Getriebe der Konkurrenz meist nicht mehr mit eigener Kraft werde erhalten fünnen, daß neue joziale Gebilde und Genofjenjchaften nöthig jein würden, in denen Jeder jeine Stelle finden fünne, jah er flar voraus. Sein letzter Roman „Wilhelm Meijters Wanderjahre* it im Wejentlichen eine phantafievolle, aber doch jehr ernſt gemeinte Darjtellung der jozialen Verbände und Gejete, welche die Zukunft fordern würde. Daß ihm, dem Sohn des achtzehnten Jahrhunderts, dieje neue Zeit ſympathiſch gewejen jei, wird man nicht verlangen dürfen. Aber das wirklich Große und Bedeutende verfolgte er mit lebhaften Interejje. Hat er doch jelbit den Wunjch ausgejprochen, jo lange zu leben, bis er einen Kanal zwijchen Donau und Rhein, einen Kanal durch die Landenge von Suez und einen durch den Iſthmus von Panama vollendet gejehen hätte; der erjte jet eine Sache Deutjchlands, der zweite eine Sache Englands, der dritte eine Nordamerifas. Um dieſer drei großen Dinge willen, meinte der Adhtzigjährige jcherzend, Lohne es jich jchon, „noch einige fünfzig Jahre auf der Erde auszuhalten“ !

Und mit nicht minderer Stlarheit beurtheilte er auch die zu: künftige politifche Gejtaltung Deutjchlands, die damals joviel heiße Meinungsfämpfe, Befürchtungen und Wünjche erregte. „Mir it nicht bange*, ſprach er ſich aus, „daß Deutichland nicht eins

10 Zu Goethes hbundertfünfzigftem Geburtstag.

werde, unjere guten Chaufjeen und fünftigen Eijenbahnen werden ichon das Ihrige thun. Vor Allem aber jei e$ eins in Liebe untereinander! und immer jei es eins gegen den auswärtigen Feind. Es jei ferner eins in Maß und Gewicht, in Handel und Wandel! Wenn man aber denkt, die Einheit Deutjchlands bejtehe darin, daß das jehr große Reich eine einzige große Nejidenz habe, jo iſt man im Irrthum. . . Wodurd iſt Deutjchland groß als durch eine bewundernswiürdige Volfsfultur, die alle Theile des Reiches gleich: mäßig durchdrungen hat? Sind es aber nicht die einzelnen Fürſtenſitze, von denen fie ausgeht und welche ihre Träger und Pfleger find?“

So jcharf er aber die nothiwendigen Forderungen der Zufunft er: fannte, jo fejt hielt er doch mit jeinem Alles umjpannenden Blide an dem ununterbrochenen Zuſammenhang der Kultur, an der Wahrung der errungenen Kulturgüter feit. In diefem Sinne jprach er es aus: „Möge das Studium der griechiichen und der römischen Literatur jtet3 die Baſis der höheren Bildung bleiben!” Und ebenjo gab er auf dem jittlichereligiöjen Gebiet die Erklärung ab: „Mag die geijtige Kultur nun immer fortjchreiten, mögen die Naturwiſſen— jchaften in immer breiterer Ausdehnung und Tiefe wachjen und der menjchliche Geijt jich erweitern wie er will, über die Hoheit und jittliche Kultur des ChrijtenthHums, wie fie in den Evangelien ſchimmert und leuchtet, wird er nie hinausfommen!“

Die großartige Klarheit und Feſtigkeit des Greijes hat einen gewaltigen Eindrud auf Mit: und Nachwelt hinterlajien. Das Bild des „Olympiers“, wie man es gern genannt hat, wie es durch Nauchs Büſte klaſſiſch ausgeprägt it, iſt Diejer legten Ent- wiclungsphaje des Dichters entnommen. Mit ihm it in gleichen Ehren auch das Antlig des jugendlichen, jtrahlenden Siegers ge— blieben, auc) dies von der bildenden Kunſt prachtvoll aufbewahrt, am jchöniten wohl in Trippels Büjte, die jchon oft mit den Bildniſſen des Phöbus Apollo verglichen worden ift. Am wenigiten it das Bild der Mannesjahre, jener Zeit jtrenger Zurüdhaltung, lebendig und plajtiich anjchaulich geworden. Um jo mehr aber lebt der Dichter in den Werfen diejer Periode fort, Werfen höchſter Bollendung, die er im Zujammenwirfen mit Schiller gedichtet, vor Allem in der entjcheidenden Schaffensthätigfeit am „Fauſt.“

Für unjere Betrachtung heute fließen jene einzelnen Epochen zujammen in dem Totaleindrud einer gewaltigen Berjönlichkeit, deren Sinn jtetS auf das Große und dauernd Werthvolle gerichtet war und jich damit über die Wellen des Zeitlaufs erhob.

Zu Goethes hundertfünfzigftem Geburtstag. 11

„Sprih, wie du dich immer und immer erneuſt!“ „Kannft’8 aud, wenn du immer am Großen did freuft! Das Große bleibt friſch, ermärmend, belebend;

Im Kleinlihen fröftelt der Kleinliche bebend.“

Und gerade für unfere in den angejpannten Forderungen des Augenblids jeden Einzelnen abmattende, überwältigende Zeit it ein wunderfräftiges Heilmittel geboten in der Vertiefung in den Geift diefer in fich jelbjt ruhenden genialen Perſönlichkeit. Unſer alltägliches Leben gleicht einem mühjamen, jteinigen Pfade, der zwijchen zwei hohen Mauern hinläuft und weder Ausblid nod) Umblid darbietet. Wohl hoffen wir allmählich zu einem er: wünjchten Ziel vorzufchreiten; aber bisweilen iſt e8 uns auch, als führten ung die Mauern labyrinthifch an Orte zurüd, an denen wir jchon gejtanden. Aber an Tagen, die uns zur Feier des Großen aufrufen, da it e8 uns, als ob ſich die Mauern jpalteten und freier Fernblick fich aufthäte. Und heute bliden wir ın weite, jonnendurchfluthete Hallen, in denen die freien und edlen Geftalten Goethijcher Dichtung jich leicht und heiter bewegen oder jiegreich und herrſchend thronen.

Aber nicht auf einen Tag joll ſich diejer Eindrud bejchränfen. Goethe jelbit hat einmal geäußert: „Der Menjch mache jich nur irgend eine würdige Gewohnheit zu eigen, an der er fich die Luft in heitern Tagen erhöhen und die Kraft in trüben Tagen auf: richten fann. Er gewöhne ſich z.B. täglich in der Bibel oder im Homer zu lejen oder jchöne Bilder zu jchauen oder gute Mufik zu hören.“ Wir dürfen hinzufügen, er gewöhne jich, täglich in Goethes Werfen zu lejen. Die jchönfte Form, in der die Nach: welt den Dichter ehren fann, it die thatjächliche Vertrautheit mit jeinen Werfen. Die jchönjte Wirfung eines Feſtes wie e8 Deutfch- land jett begeht, würde die immer wachjende Kenntniß von Goethes Lebenswerk jein. Ja, möge fich an ihm erfüllen, was er einjt dem dahingegangenen Schiller nachgerufen hat:

Schon längſt verbreitet fi in ganzen Schaaren Das Herrlichſte, was ihm allein gehört.

Es glänzt uns vor, wie ein Komet entſchwindend, Unendlid Licht mit jeinem Licht verbindend.

Die wiflenichaftlichen Aufgaben einer Gejchichte der chriftlichen Religion.

Bon Karl Sell.

Die Aufmerfjamfeit, die der Leſerkreis diejer Blätter zuweilen der gejchichtlichen Erörterung religiöfer Fragen gewidmet hat, möge den DVerjuch rechtfertigen, gerade hier ein pium desiderium zu be- jprechen, das eigentlich zu den Anliegen der theologijchen Zunft ge: hören jollte, das aber vielleicht nicht weniger Ausjicht darauf hat, auch dem jchlichten Laienverſtand einzuleuchten. Natürlich muß dabei auf allen Apparat der gelehrten Theologie verzichtet werden. Man jagt den Theologen immer häufiger und lauter, wir lebten im Seitalter der „Religionsgejchichte” (vgl. Pr. Jahrbücher Bd. 87, Ernjt Troeltih: Chrijtentyum und Neligionsgejchichte) und ſelbſt ſtreng Firchlich gerichtete Theologen tragen dem Nechnung durd) eine wenn auch oft widerwillige, doch aufmerkfjame Verfolgung der außer: ordentlich fruchtbaren Arbeit auf dem Gebiet diejer jüngjten ge: ichichtlichen Disziplin, die bis jet im Ausland einen viel reicheren Anbau gefunden hat, als im Heimathland der Reformation. Um jo befremdlicher iſt es, daß auf Seiten der wijjenjchaftlichen chrijtlichen Theologie die allernothwendigjten Vorarbeiten für eine gejchichtliche Behandlung unjerer Neligion, und die erjten Anfänge einer jolchen jelbjt noch fehlen.

Ich meine damit: wir entbehren noch völlig eine Unterſuchung unjerer chrijtlichen Religion an jich jelbjt, der urſprüng— lichiten Formen ihres Glaubens und Lebens, aller jener Er— jcheinungen nämlich, in denen Religion zunächſt bejteht und fich

Die wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der chriſtlichen Religion. 18

fortpflanzt: Gebet und Opfer, Injpiration und Glaube, Liebes— werfe und religiöje Selbjtzucht, wie Gemeindezucht; der jogenannten pathologijchen Erjcheinungen des religiöjen Lebens, des Enthu— fiasmus und der Ekſtaſe, der Pijionen und der myſtiſchen Grlebnijie noch ganz zu gejchweigen, Die wenigitens von Piychiatern regelmäßig berüdfichtigt werden. Wir befiten wohl aus: gezeichnete Unterjuchungen über die Gejchichte des Dogmas, der Kirchenverfajjung, des öffentlichen Kultus, der Kirchenzucht, mujter: giltige Darjtellungen der Entwidelung chrijtlicher Kunſt und Literatur, aber das, was dem allem zu Grunde liegt, das innerfte perjönliche religiöſſe Empfindungsleben, und die Entfaltung der religiöjen Borjtellungswelten, die doch die eigentlichen Motive für das religiöje Willensleben enthalten, das ijt meines Erachtens noch nirgends zum Gegenjtand einer methodischen gejchichtlichen Unterjuchung gemacht worden. Es fieht ja aus wie ein Winf auf diefen Mangel hin, wenn A. Harnad dem eriten Band feiner Dogmengejchichte das Wort Goethes vorgejett hat: „Die chriftliche Religion hat nichts mit der Philoſophie zu thun. Sie iſt ein mächtige8 Wejen für fich, woran die gejunfene und Tleidende Menjchheit von Zeit zu Zeit fich immer wieder emporgearbeitet hat; und indem man ihr dieſe Wirfung zugefteht, iſt jie über aller Philojophie erhaben und bedarf von ihr feine Stütze“ (Gejpräche mit Goethe von Edermann II ©. 39).

Was auf diefes Motto folgt, iſt aber grade feine Gejchichte der Religion, diejes von „aller Bhilofophie“ und demnach von allem Dogma unabhängigen, ihnen beiden weit voraus liegenden jelbit- jtändigen „Wejens“, jondern nur die Gejchichte des Dogmas, dejjen religiöje Wurzeln allerdings Harnad überall bloß zu legen ſucht: aber die Neligion iſt doch wejentlich mehr als das Wurzelgebiet des Dogmas, fie iſt der Fruchtboden für das gejammte höhere jittliche, metaphyfiiche und äjthetijche Leben der neueren Menjch: heit überhaupt. Gerade unjere Zeit beginnt das lebtere immer deutlicher einzujehen. Woher die Scheu, diejes innerlichite, zartejte, vielgejtaltigjte und mächtigite Syitem jeelifcher Kräfte jtatt ge— legentlicher pjychologijcher Analyjen auch einmal in feinem ganzen Um: fang gejchichtlich zu unterjuchen? Ein Grund dafür iſt bald gefunden. Er iſt aller Ehren werth. Man jcheut ich, auch unter den freier gerichteten Theologen, die piychologischen und gejchichtlichen Wurzeln aller Religion, aljo auch unjerer Neligion offen darzulegen, weil man fürchtet, jie dadurch ihrer Einzigkeit zu berauben, ıhres

14 Die wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion.

„Offenbarungscharakters“, wie man jagt. Und dieje Furcht wurzelt in einer gewijlen Laienhaftigfeit der Betrachtung. Das Gleiche, was jo oft von ‘gebildeten Katholifen uns Protejtanten entgegen: gehalten wird: „euer Prinzip perjönlichen Glaubens und Ddirefter Ueberführung von der Wahrheit durch das Wort der heiligen Schrift führt zum jchranfenlojen Subjeftivismus, für den es nichts Pofitives, nicht8 Allgemeingültige® mehr giebt und geben kann,“ Das fürchtet man dann von den eigenen Glaubensgenojjen zu ver: nehmen, wenn man zugiebt, daß unjere Religion zunächjt, jubjektiv betrachtet, doch nur aus einem Gewebe von Empfindungen, Bor: jtellungen und Urtheilen bejteht, die jich bei jedem Einzelnen mit pſychologiſcher Gejegmäßigfeit etwas anders geitalten. Wo bleibt da die objektive Wahrheit, an der doch unjer Glaube hängt? Als Antwort diene vorerit die Gegenfrage: Wo bleibt die ob— jeftive Welt, wenn es doch nachgewiefen tft, daß alle Vorjtellungen von Diejer Welt auf der Organijation unjerer Sinnesorgane be: ruhen, daß Licht und Schall, daß Drud und Stoß nur unjere Empfindungen und Borjtellungen von einem außerhalb unjerer Sinne befindlichen Etwas find? Die Welt eriftirt doch auch an jich, wenn fie gleich nur durch das Thor unjerer Sinne und Veritellungen uns zum Bewußtjein fommt. So mögen wir auc) überzeugt jein, daß das, was als die Wirklichkeit aller Wirklichfeiten eriftirt: Gott, uns doch nur durch die ein für allemal gegebene pjychtiche Organifation, die unjer jubjektives Neligionsempfinden und Neligionsvorjtellen regiert, zum Bewußtjein fommt. Und alle Offenbarung von oben her wird jich diejes pfychiichen Apparates bedienen müfjen, wenn jie auf ung wirken will. Es it, jo will mir jcheinen, ein bischen die Angit, in den Augen der Laien den Kredit der Religion zu verjcherzen, die unjere braven kritiſchen Theologen davon zurück— hält, Ernjt zu machen mit der Anwendung der gejchichtlichen Methode auf die Hrijtliche Religion jelbjt und nicht bloß auf ihre Außenwerfe: Dogma, Kirchenverfafjung, Kirchendisziplin und dergleichen. Daher kommt e8 vielleicht, daß man gewifje Aufgaben gejchichtlicher Forjchung, jo weit meine Kenntniß reicht, noch gar nicht in Angriff genommen hat, von denen ein wijjenjchaftlich denfender Laie meinen fönnte, jie müßten längjt in dicken Büchern abgehandelt jein.

Sc nenne davon hier nur zwei:

1. Das Chrijtusbild in der Chrijtenheit, die wechjelnden Auffafjungen, die die Perjönlichkeit des Heilands nicht bloß in den

Die wiſſenſchaftlichen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion. 15

bildenden und redenden Künjten, jondern in der direkten Neligion, im gejammten Borjtellungs: und PBhantajieleben, in den jittlichen und jozialen Bejtrebungen und Bethätigungen aller Generationen der Chriſtenheit gefunden hat, it uns bis jegt in feinen verjchtedenen Geitalten nirgends in einiger Volljtändigfeit gejchichtlich bejchrieben worden. Man bedenke, daß ebenjo verjchieden wie das Chrijtus- bild eines Paulus, Origenes, Athanafius, Augustinus, Bernhard von Elairvauz, Franz von Aſſiſi, Sujo, Luther, Ignatius v. Yoyola, Calvin, Scriver, Pascal, Klopjtod, Zinzendorf, Herder, Schleier: macher war, ebenjo verjchieden find doc) auch die Chrijtusbilder der vielen einander folgenden Generationen von Gläubigen gewejen. Was haben denn eigentlich, jo fragen wir, dieſe Chriſten von ihrem „Deren“ gehalten, wie und wo hat er ihre Seelen berührt, mit welchen Antrieben hat er jie erfüllt? ine methodtjche, be— gründete Antwort darauf giebt uns die gejchichtliche Wifjenjchaft bisjegt nicht. Nur Kunſt- und Literaturgejchichte berichten Einiges darüber.

Sollte man nicht jagen, dal bier eine Königsarbeit vorliegt, die Notabene auch den Borzug hätte, viele Kärrner in Ihätigfeit zu jeßen.

Ebenfo fehlt noch bis auf einige allerdings jehr bedeutjame Anfänge: 2) eine Geſchichte der Bibel in der Chriitenheit. Nämlich die gejchichtliche Darjtellung der verjchtedenen Auffaſſung, Auslegung und Anwendung, die die heiligen Schriften im Ganzen und im Einzelnen in allen Jahrhunderten der Chrijtenheit gefunden haben. Cine jolche Gejchichte müßte weit hinausgreifen über die jeßt jchon oder noch üblichen Mittheilungen der Exegeten von verjchtedenen Auslegungen die einzelne Bibeljtellen bei den Kirchen— vätern und Theologen aller Jahrhunderte gefunden haben. Sie müßte zeigen, wie, ganz abgejehen von dem urjprünglichen Sinn, den die heiligen Schriften gehabt haben und allein gehabt haben fönnen, zu dejjen Ermittelung die jet jo virtuos ausgebildete, philologijche Kritif zweifellos ausreicht, dieje Schriften, entjprechend dem religiöjen Geiſt und Bedürfnig der Zeiten der Kirche eine ganz verjchiedene Ausdeutung und Umbdeutung erfahren haben. Der Zwed diejer Gejchichte wäre feineswegs der, eine Illuftration des jfeptiichen Sprüchleins zu liefern:

Hie liber est in quo quaerit sua dogmata quisque invenit quisque sua .. jondern der weit größere, zu zeigen, daß die Etappen des Schriftver:

16 Die wifjenfhaftlihen Aufgaben einer Gefhichte der Hriftlihen Religion.

ſtändniſſes die Etappen der Entwidelung des chrijtlichen Geiſtes find. Und wenn dann berausfäme, daß jchließlich die moderne Chrijten- heit, bei dem urjprünglichen Wortjinn der heiligen Texte angelangt und, überjchauend ihre vielfältige Anwendungsmöglichkeit, jich jagen dürfte: es it Syitem in dieſen wechjelnden Gejtalten des Schrift: jinnes und es iſt Doch ein organiſches Gewächs, dieſes Ganze von Schriftausdeutung und Schriftumdeutung, jo würde auch dieſer rein hiſtoriſchen Arbeit ein Licht religiöjer Er- baulichfeit entjtrahlen. Eine großartige Apologie der Borjehung! Inder die landläufige Apologetif meiſtens in den Eden und Winkeln, jozujagen in den Schutthaufen der Gejchichte herumfucht, jtatt jich vor die großen geichichtlichen Realitäten zu jtellen, die aller: dings in ihren eigentlichen Dimenſionen nur das gejchärfte Auge der Wiſſenſchaft überjieht.

Die Vorausſetzung der Erörterung diejer beiden und jo mancher anderen verwandten Aufgabe würde jein, daß man es für einen legitimen Gebrauch unjerer gejchichtlichen Wifjenjchaft hält, daß wir auch einmal die Vorjtellungen, in denen fich unjer Glaube verkörpert, derjelben Betrachtung unterwerfen, wie unjere anderen Vorjtellungen alle von der uns in ihrem innerjten Wejen ebenjo unerflärten und unerflärlichen „Welt“, ohne dasjenige preiszugeben, wovon alle Religion eben nur eine Vorſtellung it: die Wirklichkeit des Göttlichen. Das müßte geichehen durch fonjequente Anwendung piychologijcher und gejchichtlicher Prinzipien auf das ganze Gebiet der unmittelbar religiöjen Erjcheinungen im Chrijtentyum. Es fann aber nur gejchehen ohne Schaden der lebendigen Neligiofität, wenn man jid) Darüber ver— itändigt hat, da mit „Sejchichte der chrijtlichen Religion“ nur gemeint jein fann, was der jtrenge Wortverjtand bejagt: Gejchichte des jubjektiven chrijtlichereligiöfen Empfindens und Vorſtellens, nicht aber Gejchichte der göttlichen Offenbarungen und Beranftaltungen, die dem chriftlichen Glauben jeiner Anjchauung nad) zu Grunde liegen. Dieje Dinge gehören in die firchliche Yehre und Dogmatik hinein, jie liegen durchaus jenjeitS des Gebiets derjenigen menjchlichen Erlebnijje, die das einzig mögliche Objekt gejchichtlicher Forſchung bilden. So gewiß es im Gebiete unſerer Sinneswahrnehmung nur Erjcheinungen giebt, von welchen aus wir auf ein Ding zurüd- ichließen, was uns eben nur gemäß unjerer Organijation erjcheint, ebenfo find die Ereignijje (wörtlich, da „ſich eräugen“ bedeutet „ſich vor Augen zeigen“, dajjelbe wie „Erjcheinung“), von denen alleın die Gejchichte berichten fann auch nur die Erlebnifje, die die Menjchen

Die wiſſenſchaftlichen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion. 17

gehabt haben und von denen wir mit mehr oder weniger Sicher: heit auf das zurüdjchliegen müfjen, was wirklich gejchehen jein mag. Gejchichte handelt nur vom Grlebten. Jede, auch die abjolute Offenbarung Gottes, fann unter uns Menjchen nur Boden faſſen in Gejtalt von jeelifchen Erlebnijjen eines menjchlichen Individuums. Nur dieje Erlebnijje und nicht was ihnen zu Grunde liegt, find Gegenjtand unſerer gejchichtlich-piychologijchen Einſichten.

Ebenſo müßte man darüber einverſtanden ſein, daß man unter „Chriſtenthum“ und ſeiner Geſchichte nicht verſteht die durch die Propheten, Chriſtus und ſeine Apoſtel der Welt zuerſt verkündigte göttliche Wahrheit als ein Syſtem objektiver Thatſachen, ſondern die ſubjektive Art und Weiſe, in der Einer ein Chriſt iſt, alſo Glaube, Gebet, chriſtliches Leben und Handeln, wie es in ſehr verſchiedenen Geſtalten, ſeitdem es eine Chriſtengemeinde giebt, auf Erden ſich gezeigt hat.

Damit bleibt das Gebiet des perſönlichen Glaubens ſeinem Inhalte nach von aller Kritik völlig unangetaſtet. Es iſt nicht minder ſelbſtverſtändlich, daß man ſich alle verſchiedenen Geſtalten chriſtlichen Glaubens geſchichtlich vergegenwärtigt und doch nur in einer dieſer Geſtalten ſein eigenes religiöſes Bedürfniß befriedigt findet, wie es möglich iſt, alle möglichen Nationalitäten Revue paſſiren zu laſſen und ſich doch nur zu einer als der eigenen per— ſönlich zu bekennen. Denn jeder neue Tag, der unſere Kenntniß der mancherlei pſychologiſchen Formen der Religion vermehrt, lehrt uns einſehen, daß es verſchiedene Weiſen geben müſſe, in denen wir uns den „ewig Ungenannten“ enträthſeln, da auch die thatjächlichen Offenbarungen des Ewigen jich feine anderen Mediums bedienen, um mit uns in Verbindung zu treten, als unjeres eigenen religiöjen Vorſtellungsvermögens.

Eine mit religiöſem Takt abgefaßte Geſchichte unſerer Religion wird die perſönliche Religioſität eines jeden Chriſten unangetaſtet laſſen, ſie wird ſogar vielleicht den, der meint, jeder Religion bar zu ſein, daran erinnern, daß auch er noch Etwas von Religion beſitzt. Geht man von dieſem Geſichtspunkt aus: chriſtliche Religion als Gegenſtand möglicher geſchichtlicher Erforſchung iſt nur das Gebiet des perſönlichen menſchlichen Glaubens, Lebens, Hoffens und Fürchtens, dann iſt der richtige Anfangspunkt dieſer Geſchichte ſicher gegeben. Chriſtliche Religion in dieſem Sinne tritt zuerſt auf im Kreiſe der Jünger und Apoſtel Jeſu Chriſti als deren Glaube, nicht

Breußiſche Jahrbücher. Bo. XCVIII. Heft 1. 2

18 Die mwiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der Hriftlihen Religion.

früher! Sie iſt in ihrer eriten Geftalt jener Inbegriff religiöfer und jittlicher Stimmungen und Vorjtellungen, Grundjäge, Strebungen und Hoffnungen, fultiicher Handlungen und Begehungen, die jich unter dem Eindrud der Verfündigung jener Männer auf Grund ihrer Erlebnifje jchnell oder langjamer entfaltet haben. Der Theologe nennt dieje Religion die fides qua creditur. Sehr bald aber ver: jejtigt fich das, was fo flüjfig und lebendig aus der Seele jprang, aus Gemüthsjtimmungen in eine Borjtellungswelt, der Wille zum Glauben produzirt die theoretijche Gewißheit, daß das geglaubte ijt: die fides quae creditur, das Syſtem chrijtlicher Gott: und Weltanjchauung, der objektive Glaube, die objektive Religion ent— iteht. Ihr Inhalt gilt dem Gläubigen als das allein Wirfliche und damit lehnt er jede andere Vorjtellungswelt ab. Diejer ob: jeftive Glaube aber mit Allem, was daran hängt, unterliegt nun einer fortgejegten Umbildung, wie auch der jubjektive Glaube, die religiöfe Injpiration, Intuition ſich regelmäßig verändert.

Es fann durchaus nicht behauptet werden, daß wir von allen dieſen Veränderungen die gejchichtlichen Gründe anzugeben wüßten, ja auch nur, daß wir alle diefe Veränderungen jemals ganz erfennen fönnten. Nur muß ftreng darauf gehalten werden: das, was man „Das Geheimniß“ in der MNeligion nennen darf, liegt nicht ın dem Gebiete der religiöjen Piychologie, des Empfindens oder Bor: jtellens oder Denkens, jondern es liegt in dem Gebiet jenjeits der Schranfe unjeres Bewußtjeins, in jenem Gebiet, über welches die Metaphyſik ihre Hypotheſen aufitellt und über welches der jubjeftive Glaube jich bejcheidet nichtS zu „wiſſen“, jondern das er ahnt oder „in einem dunklen Spiegel jchaut‘ und Ddereinit offenen Auges zu jehen hofft.

Was ſich bei gutem Willen von der Weligion mit einiger Sicherheit wird erkennen lajjen, das jind wohl die meiſten jchöpferifchen oder bejjer gejagt die anführenden Berjünlichkeiten, die praftifchen Abjichten, welche den Kultus regieren, die Vor— jtellungen, Bhantajiebilder und Vorurtheile, die allmählich immer neue Weltbilder gejtalten und jo die fünftigen Dogmen vorbereiten. Denn das Dogma tjt das Ergebnif einer ganzen Reihe von einzelnen Faktoren. Erſt die Injpiration, dann die Gemeinde der Infpirirten, dann der Kultus, dann die religiöje Weltanjchauung, dann die Theologie, dann das Dogma. Iſt das Dogma firirt, dann beginnt die Legende, die Mythologie, die freie religiöje Dichtung ihr Wert und die bildende Kunſt nimmt es auf, bis die unausrottbar im

Die wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Gefchichte der hriftlihen Religion. 19

Volksgemüth wirkende „natürliche Religion‘ ihre Fäden über das Ganze jpinnt und jo jenes auch dem Wechjel der Sahrtaujende trogende Wejen einer Volfsreligion entiteht. Es wird noch der Arbeit von Generationen bedürfen, bis diefer Prozeh der Religions— entwidlung im weitejten Sinne im Einzelnen flar gelegt jein wird. Auch geht dieje umfafjendere Aufgabe über das hinaus, was wir die eigentlihe Gejchichte der hrijtlichen Religion nennen. Denn dieſe ijt ein bejtimmt begrenztes gejchichtliches Gebilde, während eine jede Bolfsreligion, wie fie unter uns lebendig it, ein aus Natur und Gejchichte zuſammengeſetztes Gebilde Ddaritellt, in dem die Fäden der chrijtlichen Religion vielfach nur den Einjchlag bilden: der Zettel aber jtammt aus den unvordenflichen Zeiten der Bildungsgejchichte unjeres Volkes.

Die Aufgabe einer Gejchichte der chrijtlichen Religion im Unterjchied von Kirchengejchichte, Dogmengejchichte, Kultusgefchichte läßt jich ihrem Inhalte nad) in die zwei Worte zufammenfafjen: Geſchichte der chrijtlichen Injpiration (fides qua ereditur) und Ge- jchichte der chrijtlichen religiöjfen Weltanjchauung in ihrer noc) vor: theologijchen und vordogmatijchen Gejtalt (fides quae creditur).

Daraus ergiebt fich, daß es nicht darauf abgejehen ift, die Kirchengejchichte zu bejeitigen oder umzugeitalten, jondern vielmehr jie jorgfältiger zu unterbauen. Ebenjo wie die Völfergejchichte und Weltgejchichte noch auf abjehbare Zeiten hinaus im wejentlichen Staatengejchichte bleiben muß, ebenjo muß die Gejchichte des EhrijtentHums abgehandelt werden am Faden der mächtigjten jozialen Inititution, die der chrijtliche Glaube hervorgetrieben hat: der Kirche. Epoche in der Gejchichte macht immer nur Die Kirche. Die Kirche, wo jie einmal it, it unjterblich, d. h. fie trägt ich jelbit.

Es handelt jich vielmehr nur um die gejonderte Betrachtung und hellere Beleuchtung der Gebiete des Seelenlebens, in denen jich die Wandlungen der Kirche vorbereiten. Aber allerdings würde Durch dieje Behandlung der firchengejchichtliche Stoff ein ganz neues Interejje gewinnen für Alle, denen das kirchliche Weſen gleichgiltig oder zuwider ift, dagegen an der Religion wenigjtens das eigentlich Menjchliche und Ehrijtliche interejjant tft. Das unermehliche Material für das Verjtändniß der eigentlichen Neligion, das in der erbaulihen Schriftjtellereti in allen ihren formen vorliegt und das von der zünftigen Kirchengeſchichte bis jetzt faum eines Blides gewürdigt wurde, aus dem aber ganze Generationen don Frommen

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20 Die miffenihaftlihen Aufgaben einer Gefhichte der hriftlihen Religion.

ihr tiefites Leben jchöpften, würde nun auch von der Wiſſenſchaft ausgebeutet werden müſſen. Genug von diejen bloßen Andeutungen!

Ein erjter Berjuch der BehandInng diejer Gejchichte dürfte auch auf jenes Mittel nicht verzichten, das beim Anfang jeder neuen Betrachtungsweiſe feine Dienjte leijtet: auf die Vergleichung. Es müßten durch Vergleichung die verjchiedenen Formen der chrütlichen Religion gefunden und fejtgejtellt werden. Diejem Unternehmen aber jteht bis jest noch unüberwindlich das fonfejjionelle Borurtheil entgegen, das nur eine Form der chriltlichen Religion als Die wahre gelten läßt und verglichen damit jede andere höchjtens als eine untergeordnete Stufe behandelt. Jede derartige Anordnung von Stufen der Neligion beruht auf der Anwendung durchaus jub: jeftiver Werthurtheile und geht davon aus, daß es eine an jıd vollfommene Form chrijtlicher Religion geben müſſe. Das wird ji) in gewifien Grenzen von ihren Urjprüngen behaupten lajien und es wird jicherlich vom praftifch firchlichen Standpunft auch fernerhin fejtgehalten werden müſſen. Denn lebensfräftige Kirchen tragen ihre Eriftenzberechtigung dadurch in fich, daß fie ji fonjtanten Bedürfnifjen in einer möglichit vollftommenen Form angepaßt haben. Stonfejjionen find wie Nationen hiſtoriſche Gebilde, die wie Dieje nicht wenig Irrationelles mit ſich führen können. Selten jind jie aber die ungemijchten Darjtellungen nur einer einzigen reinen NWeligionsform. Umgefehrt: die Neligtonsformen fünnen bis zu einem gewijjen Grad ideale, nur gedachte Formen jein, Ausprägungen eines organijatorischen Gedanfens, der nirgends vielleicht ganz vollfommen zum Ausdrud gefommen it, ebenjo wie ja auch die Art als jolche nicht exiftirt, jondern nur in leije vartirenden einzelnen Exemplaren.

Was hiernach die nächiten Aufgaben einer wirklichen Gejchichte der chrijtlichen Neligion jein dürften, joll im Cinzelnen etwas deutlicher gemacht werden. Sie lajien jich in die drei Worte faſſen: Genealogie, Morphologie, gejchichtliche Ent: widelung.

L Es dürfte der Verjtändigung über die rein hijtorijche Natur unjerer Wijjenjchaft dienen, wenn wir als die erjte der möglichen Aufgaben einer chrijtlichen Neligionsgejchichte bezeichnen die Dar: legung des Urjprunges der chrijtlichen Religion, nämlich ihrer Genealogie, ihrer Ahnenreihe Man hat offenbar zu

Die wiſſenſchaftlichen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlichen Religion. 21

unterscheiden Anfang und Urjprung der chrijtlichen Neligion. Den Anfang des Chriſtenthums macht zweifelsohne der Glaube der eriten Gemeinde von Chrijtusanhängern. Dem genau entjprechend heben die meijten „Kirchengejchichten“ ihre Erzählung an vom erjten Pfingjtfeit. Mit befonderem Nachdrud hat F. Chr. Baur den Glauben an die Auferwedung Ehrijti als die eigentliche Grund: lage der chrijtlichen Kirche hervorgehoben. In der That beginnt die jelbitändige chrijtliche Religion erjt mit dem Glauben einer Gemeinde an Chriſtus. Diejer Anfang aber jegt voraus jene ganze VBorgejchichte, die mit einem religiös dogmatischen Ausdrud bezeichnet wird als Inbegriff der Heilsgejchichte, oder der Heils- thatjachen, die mit einem rein gejchichtlichen Begriffe zu nennen ift die Gejchichte des iſraelitiſch-jüdiſchen Monotheismus bis zu jeiner abjoluten Bollendung in dem Evangelium Seju. Sp gewiß man aljo die Gejchichte der chrijtlichen Religion beginnen darf erſt mit dem Glauben der Apojtel; wie die Kirchengejchichten thun, man wird Doch dieje Religion wiederum nicht vollfommen verjtehen und nicht richtig erflären fönnen, wenn man nicht unterjucht hat, welche Ereignijje dieſen erjten chrütlichen Glauben hervorgerufen haben und unter welchen religionsgejchichtlichen Vor— ausjegungen er entjprungen iſt.

Wir wijjen, daß die aus der Tiefe der Erde mit einem Schlage entjpringende Quelle doch im legten Grunde von den Niederjchlägen jtammt, die aus der Luft niedergegangen und nur in der Tiefe angejammelt worden find. Dem Anfang einer jeden Quelle geht voran die Urjprungsgejchichte eines jeden Wajjertropfens, den fie enthält. So liegt aud) vor dem eigentlichen Anfang des Chrijten- thums mit dem eriten Befenntnijje zu Jeſus als dem Chriftus das weitverzweigte Gebiet der Urjprünge Ddiejer Religion. In Ddiejes Gebiet gehört aber nicht nur hinein die Perſon und die Lehre, die ganze Religion Jeſu jelbjt, jondern auch die ganze nationale Religion, auf deren Gipfel er als ihr Vollender jeinem eigenen Zeugnijje nad) erjchienen it, die erjt durch ihn international ge— worden ijt. Der Urjprung der chrijtlichen Religion liegt alfo jtreng genommen im Gebiet einer anderen Neligion. Die Stage, wohin Jejus als gejchichtliche Erjcheinung zu ftellen jei: ob an das Ende der ijraelitijch-jüdischen Religion oder an den Anfang der apojtolijch-univerjalen Religion, it nad) dem gegenwärtigen Stand der gejchichtlichen Erfenntniß nur dahin zu beantworten: an das Ende der ifraelitifch-jüdischen Religion. Er bildet ihren „Aus—

22 Bie mwifjenjchaftlihen Aufgaben einer Gejchichte der chriſtlichen Religion.

gang“, d. h. in diefem Falle: er bildet ihren Uebergang in eine neue Form der Religion, aber jo, daß er mit feinem gejammten gejchichtlichen Wejen und mit jeiner wunderbaren Berjönlichkeit doc wurzelt in der nationalen heimijchen Religion jeiner Bäter. Damit joll natürlich der religiöjen, erbaulichen Betrachtung, die auch mit einem gewiljen gejchichtlichen Necht Jeſus ganz für ſich als ein vollfommen finguläre® Wejen betrachtet, ihr Necht nicht ab- gejprochen werden. Nur hat die gejchichtliche Betrachtung nicht die Aufgabe, das Geheimniß dieſer Perjönlichkeit entweder zu be— jeitigen oder zu erflären; jie hat vielmehr dann ihre Schuldigfeit gethan, wenn fie es vermochte, es einigermaßen ficher und deutlich zu umjchreiben. Es fommt gejchichtlich zunächit nur darauf an, zu ermitteln wie Jeſus von fich jelber dachte. Die Stellung aber, die Jeſus jich jelber gab, war nicht die eines neuen Anfängers, jondern Die eines Vollenderd. Auch der „neue Bund“, den er furz vor jeinem Tode verfündigt hat, iſt die modifizirte Erneuerung eines alten Bundes, er ijt die Erfüllung einer alten Weijjagung, die Iſrael icon gegeben war. In der Bundesidee jchließt fich ja das ganze Wejen des nationalen Monotheismus zujammen. Weder jeine Perjon, noch jeine Religion fünnen anders verjtanden werden als auf diejem nationalreligiöjfen Boden. Niemand vermag zu bejtreiten, daß Iejus den nationalen Gefichtspunft der Priorität Israels an— erfannt hat. „Das Heil fommt von den Juden“ jo heißt es gerade in jenem Evangelium, das Jejus am meiſten über alles menjchliche Map hinaushebt. Aber auch jein religiöjer Standpunft ſetzt die ganze jüdiiche Vergangenheit voraus. Das jchöpferijch Neue im „Evangelium“, in jenem SHeroldsruf an die Frommen in Iſrael, der der Sammlung der eriten Chrijtengemeinde voraus ging, war nicht die „Religion Jeſu“, für die ſich Jeſus ſelbſt ja auf Gejek und Propheten beruft, jondern die Berjon Jeſu als Träger diejer Religion. Dieſe Perjönlichkeit aber jteht gerade auf den Voraus— jegungen der ganzen religiöjen Gejchichte jeines Volkes als des Volkes Gottes und Jeſus jelbjt weiß fich zu diefem Volf gejandt von Gott als der letzte aller jeiner Abgejandten, als der Sohn, der mehr tjt als ein Prophet, mehr ift als König Salomo, mehr als der Tempel. Nur wer alle die Beziehungen, die jeinem Geijte vorjchwebten bei diefer Verkündigung überjchaut, nur wer ihn jo in dem Zufammenhang auffaßt, in dem er jich jelber erblidte, nur der wird ihn einiger- maßen jo begreifen fünnen, wie er wirflih war. Das gejchieht aber nur vom alten Tejtament her.

Die mwiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion. 23

Es giebt aber noch eine andere gejchichtliche Instanz, um deren willen es nöthig it, bei Löſung unferer Aufgabe die Vor— geſchichte der chriftlichen Religion im ganzen Verlauf der alttejtamentlichen Religion von Moje an bis auf Ehrijtus zu ver: folgen. Innerhalb der Ehrijtenheit jelbjt it die Urkunde der alt= tejtamentlichen Religion als die eigene Offenbarungs- und Religions: urfunde rezipirt, fanonijirt worden: die Bibel des alten Tejtamentes. Erit hierdurch hat fie ihre ungeheure weltgejchichtliche Bedeutung erlangt. Dabei hat aber die EChrijtenheit mit dem vollen Necht einer lebendigen fortwachjenden Religion dieſe Urkunde ausgelegt und umgedeutet nach ihrem Sinn. Wir find heute Dank unjerer jicheren philologijchen Erfenntniß im Stande, wenigjtens einigermaßen den urjprünglichen authentijchen Sinn jener religiöjen Schriften ermitteln zu fönnen. Wir begreifen die Religion des alten Tejtaments als eine Religion für ſich, die nicht zu verjtehen ijt nad) den Ideen des jo viel jpäteren Chrijten: thums, jondern nur aus ihren eigenen Vorausjegungen. Und nurin dem Maße, als man das originale Berjtändniß der alttejtamentlichen Religionsurfunden gewinnt, vermag man jpäter abzujchäßen, was das Chriſtenthum aus diefen Urkunden gemadt hat. ES dürfte jih dann vielleicht zeigen, daß diefe Umdeutung des gejammten Ideenkreiſes der alttejtamentlichen Religion, weit entfernt, eine Fälſchung defjelben zu fein, vielmehr hinausläuft auf eine Ampli— fifation, auf eine Berflärung, auf die Uebertragung jener alten Ideen nationaler Religion in einen größeren Maßjtab und auf Anwendung dieſes vergrößerten Bildes auf neue und andere Berhältnijje. Hat man die chriftliche Kirche zum Theil mit altteftamentlichem Material gebaut Kanon, Bibel, Prieſterthum, Opferwejen jo müfjen dieſe Baujfteine doch zunächjt in ihrer urjprünglichen Bejchaffenheit verjtanden jein, wenn man ihre Verwendung gejchichtlid) beurtheilen will. Und doc iſt diefe Aufgabe, wie wichtig auch für die Gejchichte des Chriſtenthums, noch von jefundärer Bedeutung gegenüber der Wichtigkeit, die die religionsgejhigtliche Erkenntniß hat, daß die Urjprünge des Chriſtenthums in der ijraelitisch-jüdijchen Religion liegen. Denn dann kennt die Gejchichte überhaupt nur einen einzigen religiöjen Monotheismus, aus dem die drei mono» theijtiichen Religionen entſprungen find: jüdijcher, chriftlicher, Islam: den volfsthümlichen Monotheismus Ijraels, der von Moje jtammt.

Wenn diejer Monotheismus wie er es thut Sich jelbit herleitet aus einer göttlichen Offenbarung, nämlich aus Injpiration

24 Bie wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der Hriftlichen Religion.

und Selbjtenthüllung der Gottheit, jo iſt gegen Diejes religiöje Urtheil vom gejchichtlichen Standpunkte aus nichtS einzuwenden, denn jeine gejchichtliche Originalität, feine Unableitbarfeit von andern Erjcheinungen der Religion ift eine Thatjache. Die geſammte alt: tejtamentliche Religion bildet jo einen einzigen Gejchichtsfreis, von ihren erjten monotheijtiichen Anfängen in der mofaischen Monolatrie (Verehrung eines einzelnen Gottes als des der Nation zugehörigen Gottes ohne prinzipielle Ausjchliegung anderer (fremder) Götter) an bis zum vollfommen fittlichen Monotheismus und zum Univerjalismus der Propheten Iſraels, dann wieder von der Verfeſtigung dieſes fitt- lihen Monotheismus zur gejeglichen und rituell ausgeprägten Nationalreligion des jüdiſchen Befennervolfes und Duldervolfes bis auf den Tag, wo Jeſus erjcheint und fie, jedoch noch ohne die nationale Hülle abzujtreifen, durch jeinen VBatergottglauben und jeinen fittlichen Univerjalismus im Sinne der größten Propheten vollendet und verflätt. Die Urfunden diejer Gejchichte find von den Drafeln . der Propheten bis auf die Sprüche Jeſu Selbit- befenntnifje, religiöjfe Zeugnifje von jubjeftivjter Gejtalt, aus denen ji) mit genügender Sicherheit der Stern der Perſönlichkeiten er: fennen läßt, die fie verfündigt haben.

Außerhalb dieſes Gejchichtsfreifes giebt es mur noch eine einigermaßen analoge Erjcheinung: die allmähliche Entwidlung des philojophiichen Monotheismus in der griechiichen Philojophie, Auch fie mündet bei der Berbindung eben diejes philoſophiſchen Monotheismugs mit dem nationalen Monotheismug des Judentums in dem alerandrinischen Sudenthum in jene allgemeine Bewegung ein, aus der das jich über Paläſtina hinaus verbreitende junge Ehriftentyum eine wejentliche Kräftigung erfuhr. (Die Frage iſt fürs Erſte noch offen, ob eine Berührung Jeſu jelbjt mit dem alerandrinijchen Univerjalismus jtattgefunden habe.) Wer aljo blog vom geſchichtlichen Standpunft aus urtheilen wollte, der würde in unjerer Bibel die vier Evangelien noch zum alten Tejtament zählen können als dejjen eigentlichen religiöjen Gipfel: punft und der würde das neue Tejtament, die eigentliche Gejchichte des neuen Bundes zu lejen beginnen in der Apojtelgejchichte und dem, was auf fie folgt. Er würde jo „Weisjagung und „Erfüllung“ in einem Zuge lejen und dann im Folgenden die Anwendung. Das ijt natürlich nur gejagt zur Verdeutlichung der Sachlage, dieje Ver: deutlichung aber nähert jich der von allen orthodoren Kirchen feit- gehaltenen Anjicht von. der Einheit der alte und neu:

Die mwifjfenihaftlihen Aufgaben einer Gejchichte der hriftlihen Religion. 25

tejtamentlichen Religion, wonad) die Kirche und das Chrijten- thum eigentlich immer jchon dagewejen find und das Ebrijtenthyum feine neue Religion, jondern nur die Vollendung der einen ältejten Religion iſt. Diejer Sat jcheint aud) heute noch richtig, wenn man ihn jo ausdrüdt: das Chriſtenthum it die Erhebung des durch Jeſus perjönlich vollendeten ijraelttijch-jüdischen jittlichen Monotheismus zur allgemeinen Menjchheitsreligion.. Das wäre aljo die Theorie der Genealogie der chritlichen Religion.

Darum bezeichnet man auch Jejus in jeinem Sinne faum richtig als „Religionsitifter“. Er war fich deſſen jedenfalls nicht bewußt, vielmehr hielt er fich nur für den vollfommenen Kepräjentanten der längſt von Gott durch alle jeine Propheten gejtifteten einzig wahren wirklichen Religion. Er befreite nur die Ausübung diejer Religion von den Schranken, die das Judenthum jeiner Zeit ihr zog und er fieht in der Zukunft ihre Anwendung voraus aud) auf jolche, die Söhne Gottes jein werden in der ganzen Welt. Er thut das aber allerdings fraft höchitperjönlicher Machtvollkommen— heit, für die fein noch jo hoher Name hoch genug ift: nur der des „Sohnes“ genügt ihm. Und dabei bleibt er doch völlig im Kreiſe der Ueberlieferung der väterlichen Neligion drinnen, er iſt weit entfernt, irgend etwas fundamental Neues jagen zu wollen, er jagt und thut nur das Alte, Ewige, Wahre. Das „Evangelium“ ijt die „Erfüllung“ von „Gejeg und Propheten“.

E3 durfte hier auf irgendwelche Einzelheiten der Gejchichte diejer ijraelitijch-jüdijch-evangelijchen Religion jelbjt nicht eingegangen werden. Sie liegt, um nur auf einige hervorragende literarische Erjcheinungen hinzuweiſen, die verwandten Geijtes jind, bereit3 gejchrieben vor in Wellhaujens Iſraelitiſcher und jüdijcher Gejchichte, in Smends Alttejtamentlicher Religionsgejchichte und in Holgmanng Neutejtamentlicher Theologie. Diejer reife Ertrag der jüngjten Phaſe gejchichtlicher Bibelfritif jtellt eine Apologie des Anjpruches der biblijchen Religion auf vollflommene Wahrheit und göttliche Abkunft dar, die jeden anderen Beweisgang an Kraft übertrifft.

Insbejondere das Werf von Holkmann zeigt, wie das volle geichichtliche Verjtändnig Jeſu nur von rüdwärts her zu ges winnen ift: vom Judenthum ber.

Gewiß läßt ſich zwijchen der Neligion der jüdijchen Zeit: genofjen Ehrijti einerjeits und zwijchen der der Apojtel andererjeits von einer eigenthümlichen „Religion Jeju* reden, und wer dieje,

26 Die mwiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der chriſtlichen Religion.

das „Evangelium“ rein für jich betrachtet, fann daran genug haben lebenslang, was diejer aber ihren eigentlichen Werth giebt, it, daß fie durchaus in dem perjönlichen Charafter, in der Individualität Seju wurzelt, und daß fie ihren treffenditen Musdrud gerade in denjenigen jeiner Worte gefunden hat, die am meiſten den Stempel der Bolfsthümlichkeit tragen. Dann find wir aber wieder an das Studium der ihm vorausgehenden Bolfsreligion gewiejen. Es wird zum vollen wifjenjchaftlichen Verſtändniſſe dieſer religiöfen und jittlichen Individualität ohne Gleichen des höchſten Maßes eines dem Eindrude des Heiligen in menschlicher Gejtalt erjchlojjenen Feingefühles bedürfen, wie andererjeits der Würdigung der gejchicht- lichen Situation, in der er auftrat. Will man aber jeine abjolute religiöje Größe würdigen, dann fann es nur gejchehen, indem man jeine Perfönlichfeit vergleicht mit den Propheten jeines eigenen Volkes, mit denen er ich jelbit in eine Reihe ftellt als ihr Gipfelpuntt.

Die Reihe der eigentlich jchöpferiichen Individualitäten im Gebiete der Religion wenn diejer Ausdrud ſolchen gegenüber berechtigt it, die bezeugen, Alles empfangen zu haben jchließt mit Jeju; nur am Ende diejer Ahnenreihe leuchtet jein Haupt in dem ihm eigenthümlichen Glanze. Wenn Jemand jagen wollte, e8 jet nach ihm überhaupt nichts Neues mehr im Gebiet der Religion gefommen, der würde Necht behalten. Die eigentlich produktive Zeit der Welt, die alle Formen des geijtigen Lebens: Religion, Sittlich- feit, Wiſſenſchaft, Kunſt erzeugt hat, ijt mit dem „Alterthum“ zu Ende; die Reproduktion, die im Grunde doch nur unendliche Variationen bietet, beginnt. Das „Chriſtenthum“ ijt Die erjte diefer Neproduftionen und Kombinationen der im Bereiche Der antifen Welt aufgetretenen Originaloffenbarungen.

Keine einheitliche Worwegnahme einer Skizze der mono» theiftijchen Religionsentwidelung, die zum Chriſtenthum hinführt, jollten diefe Bemerkungen jein, jondern nur Der methodijche Hinweis darauf, daß wir zu jeinem wirklichen Verjtänd- nifje des Studiums feiner Genealogie bedürfen.

Sie lafjen jich kurz jo zujammenfajjen: Es iſt unmöglid), Die Berjon Jeſu und fein Evangelium wirklich gejchichtlich zu verjtehen, wenn man dabei lediglich von den Vorausjegungen der Apojtel und von den Gejichtspunften des Glaubens der eriten Chrijtenheit ausgeht, unbejchadet des hohen religiöjen Werthes, den dieje apojtolifche Lehre hat.

Die wiſſenſchaftlichen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion. 27

Vielmehr fann die wirkliche Individualität des geſchicht— lichen Gegenitandes der chrijtlichen Religion, der Berjönlichkeit Jeſu, nur begriffen werden auf dem Boden der altteftamentlichen Religions: geichichte und des Judenthums. Denn erſt gemefjen an deſſen Borurtheilen erjcheint die Größe und die Reinheit von Jeju religiöjer Eigenart und die völlig einzige Univerjalität jeiner Gottes- und Menjchenliebe.

Sind erjt durch ihn die prophetiichen Ideen zu einer die ganze Menjchheit erlöjenden Religion entfaltet worden, jo iſt es nöthig, die einzelnen Schritte, mitteljt deren dieje Neligion jich entwickelt hat, abzumejjen, joweit das noch möglich iſt.

Während aljo im jtrengjten Sinne des Wortes der zureichende Grund für die Entitehung des Chriſtenthums nur die Berjon Jeſu Ehrijti it, jo it Doch ſein Urjprung vorbereitet durch jene ganze Offenbarungsfette, deren eriter noch jichtbarer Anfang die Volks- und Neligionsgründung des Mojes ift. Die Kirche hat injtinktiv das Richtige getroffen, indem fie das alte Tejtament als gleichwerthige Urkunde der chrijtlichen Religion mit dem neuen Tejtoment verband. Nur eine wirkliche gefchichtliche Wifienjchaft der ganzen Bibel lehrt uns das Evangelium ver: jtehen, ihren glorreichen Abjchluß. Die „Kirchengefchichte des neuen Teſtaments“, wie die Alten jagten, beginnt dagegen erit mit den Apoiteln.

II.

Die zweite Aufgabe einer Gejchichte der chriitlichen Religion jcheint zu jein die Ermittelung der wejentlichen Formen, die die chriftliche Religion in ihrer jeitherigen Entwidelung angenommen hat, jo zu jagen ıhre Morphologie.

Die Behauptung aller ausjchliegenden Kirchen und einzelnen Konfeffionen ijt die, daß es im Grunde nur eine Form chrijtlicher Religion gebe und geben fünne, die eigene; jede andere jei eine Verirrung.

Natürlih Habe auch dieje Form jic) gejchichtlich entwidelt, aber dabei verändere ſie ſich nicht. Man gejteht aljo nur neue Spielarten des Chriſtenthums zu, die Entjtehung neuer Arten wird geleugnet.

Hierüber ift a priori nichts zu entjcheiden. Der Beweis des Gegentheil3 fann nur von der Gejchichte erbracht werden. ber eine pjychologifche Erwägung dürfte doch dabei behilflich jein.

28 Die miffenfhaftlihen Aufgaben einer Gejchichte der hriftlihen Religion.

Die wejentlihen piychologijchen Elemente der Neligion im Chriſtenthum jind einerjeit8 die Injpiration, das perjönlice Innewerden des Göttlichen, der Glaube als fides qua creditur, andererjeit8 die religiöjfe Intuition, das religiöje Anſchauungs— ganze die fides quae creditur. Gemeint ijt mit dem leßten Aus: drud ein Analogon zu dem, was die Philoſophie intellektuelle An: ichauung nennt: das Entwerfen einer Gejammtanjchauung der objektiven Welt von einem Punkte des jubjeftiven Fürwahrhaltens aus. Der Vorgang bei dem Entwerfen diefes Ganzen einer An- ſchauung hat viel inftinftives an jich. Das jo entworfene Weltbild ruht nicht auf empirischen Wahrnehmungen oder auf methodijcher Be- obachtung oder auf disfurjiver Begriffsentwidelung, jondern es ijt ein wejentli” mit den Mitteln der Phantaſie aber auc mit Mitteln des fombinirenden Denkens nach religiöjen Gefühlsmaßſtäben ent- worfenes Gebild, in dem die jubjektive religiöje Ergriffenheit ſich befriedigt, weil jie darin überall ihr Spiegelbild wiederfindet.

Injpiration und Intuition bilden, formal gejprochen, den Inhalt der Religion.

Nun ijt Klar, dag, wie mächtig auch der religiöje Genius, der irgendwo auftritt, hinein leuchten möge in die gemeinjame Ueber: lteferung und die Borjtellungsmafje jeiner Zeitgenofjen, wie viel neue Ideen und Ziele er aufjtellen möge, er doch abhängig it von der Kulturart und Kulturjtufe jeines Volkes, jeiner Zeit. Und je länger eine von einem Cinzelnen vorgetragene religiöfe Welt: anjchauung fich erhält, je mehr unbewußte und bewußte Anpafjung an geltende Begriffe und Vorjtellungen erfährt fie, um jo mehr wird jie in den allgemeinen geiftigen Entwidlungsprozeß bineingezogen,

So wird eine auf originaler Injpiration und Intuition be ruhende Religion auch unter verjchtedenen Verhältniſſen verjchiedene Ausdrudsformen annehmen müſſen. Dieje Verjchtedenheit wird ji nicht nur auf die intelleftuellen und künſtleriſchen Ausdruds mittel beziehen, jondern auch auf die religiöfen, die jittlichen und die jozialen Ideale. Cine und Ddiejelbe Neligion wird fich unter veränderten Verhältnijien al8 diejelbe nur behaupten fünnen, wenn jie, ohne ihre jchöpferischen Grundlagen zu verleugnen, doc) ver: jchiedene Formen ihrer gejammten Selbjtdarjtellung annimmt.

Eine innere Einheit diejer Formen fann ſich dennod) bewähren in übereinjtimmenden Zügen des Grundtypus.

Gelingt ed nun, eine Reihe von Typen aufzujtellen, in denen das Chriſtenthum ich charakteriſtiſch verjchieden darjtellt und zugleid)

Die wiſſenſchaftlichen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion. 29

in jedem Typus ein fonjequent einheitliche8 Gepräge nachzuweiſen, dann wäre ein Faden gefunden, an dem ich vielleicht auch die Genealogie diejes Typus Far machen läßt.

Schon die jeither angenommenen Typen, etwa Urchrijten: thum, katholiſches, protejtantijches Chriſtenthum weijen auf genealogiſchen Zujammhang hin. „Katholiſch“ nennt man Alles, was direkt von deraltfatholischen Kirche des dritten Sahrhundertsabjtammt, „proteitantijch“, was aus der Reformation des ſechszehnten Jahr: hunderts fommt. Aber man hat dann doch nöthig gefunden, 3.8. von „Neformatoren vor der Reformation“ zu jprechen und von „protejtantijchen Anmwandlungen“ innerhalb des „Katholizismus“, und damit gezeigt, daß es auch außerhalb des genealogijchen Zujammenhanges dody verwandte Erjcheinungen geben fünne, man hat aljo die Typen im Prinzip wenigitens anerkannt.

Nimmt man noch Hinzu den „chriftlichen Individualismus“, von dem in letter Zeit öfterd die Rede war, jo it damit wohl Alles angegeben, was man meines Wijjens jeither an allgemeinen Typen chrijtlicher Religion aufgejtellt hat. Irgend eine methodijche Ableitung jolcher Typen it mir nicht befannt geworden. Das aber dürfte das erjte Erforderniß einer Morphologie jein. Es müßte gezeigt werden, nach welchen Merkmalen fich die verjchtedenen ‚sormen chrijtlicher Religion unterjcheiden.

Hier ein Berjuch diejer Art. *)

Für alle Formen chrijtlicher Religion lajjen ſich vier wejent: lihe Merkmale aufitellen, wofür die Berechtigung jofort erwiejen werden joll:

1. Die eigenthümliche Injpiration, die Art und Weiſe wie man Gottes inne wird;

2. die eigenthümliche Intuition, der Glaube, die religiöſe

*) Die der ganzen Darftellung zu Grunde liegende Borausfeßung, von deren Annahme oder Ablehnung alles Weitere abhängt, ift, um es bier kurz zujammenzufafjen, die: In den führenden religiöfen Geiftern entſteht kraft der ihr ganzes Geiftesleben beherrſchenden Energie der perſönlichen Religion eine eigenthümlihe Gejammtverfafjung (Gefammtitimmung), Gejammtanihauung und Gefammtmwillensrihtung von einer hinreißen— den und durch jeden äußeren Erfolg gefteigerten Kraft. Dieje Anfhauung ift weder eine auf Schlüffe gebaute Metaphyſik noch ein bloßer Seelen- traum mie e8 die fünftleriihen Zdeale find, wenngleich fie die metaphyſiſche Betrachtung nicht vermwirft und ſich reichlich auch künſtleriſcher Mittel bedient; ſie iſt vielmehr im Weſentlichen ein Weltbild, das die natürliche Wirklichkeit, ſo wie fie den anderen Menſchen erſcheint, aus ihrer Stelle verdrängt, fie ijt eine Reihe von Schauungen, die für den Schauenden objektive Giltigkeit Haben. Sie ſchöpft, ohne durchaus daran gebunden zu

30 Die wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Gefhichte der hriftlihen Religion.

Weltanjchauung, die unter der Inſpiration ſich gejtaltet, die religiöje Vorjtellungswelt;

3. das Saframent, die Art und Weiſe, wie man jich mit Gott am wirkjamjten verbunden weiß;

4. das Lebensideal, der Lebenszwed, den man jich durch die Religion gejegt ſieht.

Bedient man ſich dieſer Kriterien, jo laſſen ji) aus der Stammform des Chrijtenthums, aus dem urjprünglichen Ehriften- thum bis jeßt vier charafterijtiich verjchtedene Formen entwideln. Dieje find Sproßformen: eine jede entwidelt ſich aus der ihr unmittelbar vorausgehenden. Demnac würden die morphologischen GSejtalten des Chrijtentyums zu bezeichnen fein als 1. urſprüng— liches Chriſtenthum, 2. Satholizismus, 3. Protejtantismus, 4. Pietismus, 5. chrijtlicher Humanismus.

1) Das ältejte urjprüngliche Chriſtenthum umfaßt alle jene Erjcheinungen, die man als vorfatholiich bezeichnen fann, aljo die- jenigen, die zwijchen der Auferjtehung Chriſti und der erfichtlichen Bildung einer „katholiſchen Kirche“ liegen. Alſo die Zeit ungefähr von 30—150 nad Chriſto. Man pflegt jie in firchene und dDogmengejchichtlicher Beziehung zu trennen in die apojtoliiche und Die nachapojtoliiche Zeit. Dieje Trennung iſt aber vom gejchichtlichen Standpunft aus fraglid. Sie beruht auf dem protejtanttichen Borurtheil von der Mujtergiltigkeit des apoſtoliſchen Zeitalters, Die doch ebenjo auch dem folgenden Zeitalter eignet. Denn die meijten Merkmale haben beide Zeiten gemein, und die Quellen, aus welchen man jie erkennt: apojtolische und nachapojtoliiche Schriften ge— hören nach den Anfichten der gegenwärtigen Kritif zum größeren Theil der gleichen Zeit an.

Die ältejte Kirche, die theilweije Schriften der jogenannten apojtolischen Väter, den Brief des Klemens, den Hirten Des

fein, aus Schrift, Ueberlieferung und allen andern Mitteln, behauptet fich aber auch in jedem Kampf mit entgegenjtehender Wiſſenſchaft, Politik, Nationalität. Sie begründet eine moraliihe Ueberzeugung,. die fi in fittlihdem Urtheil, Handeln und Bilden äußert. Während ihr Urfprung meijt verborgen ift, legt fie fich deutlih dar in Gebeten und erbaulichen Ausfprachen jeder Art, in Dichtung und fünftlerifhen Schöpfungen, im Rhythmus des perjönlichen fittlihen Lebens und in Der Inneren Stellung des Individuums zu allen Fragen des Tales und Gewiſſens.

ALS befonders deutliche Beijpiele deffen, was bier gemeint ift, fei verwiefen für den Katholizismus auf Auguftinus, Dante, Ignatius v. Loyola, für den Proteftantismus auf Calvin, Milton, für den Pietismus auf Zinzendorf, für den chriftliden Humanismus auf Binet, Robertſon, Kingsley.

Die wifjenfhaftlihen Aufgaben einer Gefhichte der hrifilihen Religion. 31

Hermas, die Lehre der zwölf Apojtel u. a. in ihrem Kanon heiliger Schriften las, hat auch feineswegs jo jcharf gejchteden. Jeden— fall it des Zujammengehörigen mehr als des Trennenden. Dieje erjte Form des Chriſtenthums iſt grundlegend. Sie hat vor allen jpäteren voraus, daß jie beruht auf der perjönlichen Belanntjchaft der eriten Jünger und Apojtel Jeſu mit ihm jelbit. Der Eindrud, den Jejus gemacht haben muß, jpiegelt fich für ung jeßt nur noch wieder in dem Glauben an ihn, den gerade jeine perjönlihen Schüler hatten und verfündigten. Schon der Glaube des Paulus jchließt ein Clement des Nefleftirten, der Theologie, der Schlußfolgerung aus anderen Glaubensjäßen in jich, der Glaube der Urapojtel allein zeigt und das, was man in neuerer Zeit Die „Ueberwältigung durch die Perjönlichkeit Jeſu“ genannt hat und was im buchjtäblichen Sinne nur da jtattfinden fonnte, wo man ihn perjönlich gefannt hat. In der auf jie folgenden Zeit hat jich einer der merfwürdigiten religiöjen Vor— gänge, die die Gejchichte kennt, vollzogen: die Befreundung der antifen Menjchheit mit den Ideen der alttejtamentlichen Welt und Literatur. Diefer Vorgang vollzog jich aber halb unbewußter Weiſe, während die Augen der eriten Gläubigen an jenem wunder: baren Bilde hingen, das die Apojtel der Welt vor Augen geitellt hatten, von Jeſus dem Menjchen und dem Gottesjohn, dem Ge— freuzigten und doch nach feiner Auferwedung vom Himmel her in verflärter Gejtalt Herrjchenden, der jeine Jünger erhebt zu Mit— herrjchern in einer fünftigen Welt. Die Gemeinde jener eriten Zeiten jieht fi) an als eine Schöpfung des heiligen Geiites. Der heilige Geiit, wie man ihn damals faßte, it eine übernatürliche Kraft, die das geſammte Seelen:, Geiſtes- und Willensleben derer, die er erfaßte über das gewöhnliche menjchliche Maß erhöht, ohne es Doch prinzipiell zu alteriren.

Demgemäß trägt der Glaube jener eriten Zeit (die fides qua ereditur) das Siegel der Gewißheit in jich jelbjt. Gr bedarf feiner äußeren Autorität. Die heilige Schrift, die allgemein ans erfannt wird, ilt das alte Teftament. Aber es wird verjtanden und ausgelegt im Sinne dieſes heiliges Geiſtes. Es iſt Das Weiſſagungsbuch der Ehriftenheit und dieſe Weifjagungen legt der heilige Gert Chriſti aus. Die perjönliche Erinnerung an Ehriftus beherrſcht noch Alles. Seine Worte werden als bindendes Geſetz überliefert, aber erſt ganz allmählich fommt es dazu, daß fie Jchriftlich aufgezeichnet werden. Was wir noch weit über Die

32 Die mwiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion.

eriten beiden Generationen der „Ehrijtianer” hinaus dauernd er: fennen fönnen, it im jittlichen und jozialen Leben jener durch— gehende Ernſt der Heiligung und Sittenreinheit, jene brüderliche Hilfleiftung und gegenjeitige Unterordnung, jene ungeheuchelte Demuth und Weltabgejtorbenheit, die am mächtigiten Zeugniß ab- legen für die außerordentliche Gewalt des perjönlichen Borbildes Ehrifti. Nicht mit Unrecht hat man dieſe Zeit die „der erjten Liebe“ genannt, wenn man dabei nicht überjehen will, daß zu jeder Liebe auch eine gewiſſe Einjeitigfeit, ein Haß des Fremden gehört. Dem entjpricht die eigenthümliche Literatur der Zeit: die neutejtamentlichen und nachapojtoltichen Schriften, die das reichite, reinjte und adeligite Neligionsbuch find, das die Welt befigt, voll des fühnjten und des findlichiten Glaubens, den wir fennen. Wer: hältnigmäßig jchnell find die einzelnen Schriften, aus denen all» mählich diejes Buch ſich bildete, in den gottesdienjtlichen Gebrauch einzelner Gemeindegruppen der jungen Chriſtenheit genommen worden und damit erlangten fie gleichen Rang mit dem älteren gottesdientlichen Buch, dem alten Tejtament, das man im All— gemeinen als prophetiiche WBorausdaritellung der evangelijchen Dinge anjab; aber nicht aus den Schriften quoll die Neligion, jondern die jtrömende Religion trug die Bücher und Schriften in die Höhe.

Einen prinzipiellen Unterjchied zwijchen jchriftlicher und münd- licher Ueberlieferung giebt es noch nicht: was als Wort des Herrn gilt, it Gebot, man it aber weit davon entfernt, zu meinen, nur einige bevorzugte Berfajjer hätten dieje Orafeljprüche (logia) des Herrn aufzeichnen fönnen.

Es gilt weiter die Autorität des jchriftlichen Wortes Der Apojtel, und die Autorität der noch im zweiten Jahrhundert auf: tretenden wandernden „Apojtel“ und „Propheten“ für ihre münd— lichen Befehle.

So haben wir es in diejer neuen Neligion mit einer Bildung zu thun, die mit dem mütterlichen Schooß, der fie getragen hat, nod) in Direfter Verbindung steht, während doch das fie begründende und das in thr vorhandene perjönliche Leben etwas thatjächlich Anderes und Neues ilt.

Die Injpiration diejes urjprünglichen Chriſtenthums bejteht in der von den Lleberlieferungen der apojtolijchen und nachapoſtoliſchen Zeit bezeugten Begabung mit dem „heiligen Geijt“. Dieje tritt ein in Folge des Glaubens, der durch die Verfündigung Der

Die wiſſenſchaftlichen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlichen Religion. 33

chrijtlichen Miſſionare erwedt wird. Sie äußert jich in der Bereit: willigfeit zum feierlichen Bekenntniß des chrijtlichen Namens (nomen Christianorum. Plin. Sec. Ep. X, 97). Die Begabung mit dem heiligen Geiſt iſt begleitet von bejonderen meijt wunderbaren Eigen ihaften Einzelner: Prophetie, Zungenreden, Stranfenheilung, Erorzis- mus, u. j. w. fie vermittelt Allen gleihmäßig die Neberzeugung, zu Gott in einem abjolut übernatürlichen VBerhältnijje der Kind» ſchaft zu jtehen, die man ſich als eine Adoption durch Gott gedacht haben muß. Die aljo Geweihten find den Einflüfjen der Dämonen und des Heidenthums entrüdt. Sie fühlen ſich auch in ihren intel: leftuellen Fähigkeiten erhöht, ebenjo wie in ihrem gejammten fitt- lichen Habitus und beweiſen das in der Bereitjichaft zu über- menjchlicher Aufopferung und außerordentlichen Leiden „um des Namens willen“.

Die Intuition, die im Glauben feitgehaltene Vorſtellungs— welt des urjprünglichen Chriftentyums iſt außerordentlich ſchwer zu zeichnen, weil, abgejehen von der „paulinijchen‘ und „johanneifchen Theologie‘, die beide eine jinguläre und feine allgemeine Geltung haben, nur bruchjtücdhweije Ueberlieferungen darüber vorliegen, nirgend3 in einer zujammenhängenden Darftellung und weil das Wejentlichjte diejer Borjtellungswelt bejteht in jenen überjchwänglichen Hoffnungen, Ahnungen und Stimmungen, die den Hintergrund des perjünlichen und des gemeinjamen Lebens bildeten, naturgemäß aber jich aller abjichtlichen Ueberlieferung entziehen. Wir dürfen auch nicht hoffen, hierüber jemals ausreichend unterrichtet zu werden und fönnen darum die etwa vorhandenen Analogien von jpäter auftretenden Injpirationsgemeinden (bei Wiedertäufern, Sevennolen, Separatijten und Seltirern) faum benugen. Es fehlt uns die Möglichkeit, lebendig zu vergegenwärtigen ſowohl was die perjün- lihe Verfündigung der Apojtel an anjchaulicher Schilderung des „Herrn“ enthielt, als die konkrete Anjchauung des ganzen über: Ihwänglichen Stimmungsgehalts jener Generationen, die das Wunderbarjte und NAußerordentlichjte täglich zu erleben glaubten. Doc läßt fich vielleicht der Unterjchied der religiöfen Glaubenswelt des urjprünglichen Chriſtenthums von der Jeſu jelbjt an— nähernd bezeichnen. Ber Iejus jelbjt die wundervoll einfachen Anjhauungen des alten Tejtaments, verflärt durch das, was jein eigenjter Beſitz war, durch die Ueberzeugung von dem Vatergott und die Gewißheit, dab Alles, was in der heimischen Religion nod) Verheigung war, durch ihn jelbjt fich erfüllen werde eine über

Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 1. 3

34 Die wiffenjhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der chriftlihen Religion.

alie Theologie und Schultradition hinaus gehobene, im Aether eined ganz und gar volfsthümlichen, bildlichen, anjchaulichen Bor: itellens und Denkens jchwebende fonfrete Gejtaltenwelt während der „Glaube an ihn‘ jofort einige Säße feititellt, die gegen Wider: jpruch und Mißdeutung vertheidigt, begründet und befejtigt werden müfjen. Dieje Behauptungen drüden das veränderte Verhältnik aus, in dem die Chriſten jich fühlten zu der jüdiſchen Glaubens: welt, aus der fie im MUebrigen jich erit langjam herauswinden. Da it erjtens das Kreuz: der gewaltjame Tod und die ıhm folgende Auferjtehung des Meſſiaskönigs bilden ein die ganze ſeit— herige Weltgejchichte ſozuſagen durchkreuzendes Faktum, das auf göttlicher Beranjtaltung beruht, eine Heilsthatjache (nach dem Sprad)- gebrauch diejes modernen Wortes); 2) Die Wiederkunft diejes Chriftus zum allgemeinen Weltgericht und zur Aufrichtung jeines Reiches auf Erden jteht noch bevor; 3) Die gegenwärtige Weltzeit, jo kurz jie auch noc) dauern mag, jteht unter der Herrichaft der Dämonen, die die Kraft des Heidenthums bilden, jeder Steg über jie arbeitet dem endlichen Triumph des Neiches Chriſti vor. Das thut bejonders die Berfündigung von dem auferjtandenen Sohne Gottes durd) die von ihm jelber ausgerüfteten Sendboten, die Mijjion. Hiermit hat die aus dem Kreije der jüdischen Religion jtammende Weltanjchauung der erjten Ehrijten ein Element des Dramattjchen und des Gejchichtlichen in fich aufgenommen, das ihre ganze zu: künftige Entwidlung bejtimmen wird. Im Mittelpunfte des Kampfes zwijchen Gott einerjeitS und dem dämonijchen Reiche anderer: ſeits jteht der gejchichtliche Jejus von Nazareth in der völlig über: natürlichen Würde eines Sohnes Gottes. In ihm ift in menjd: licher Gejtalt ein göttliches Weſen erjchienen, jei es der vorher im Himmel befindliche Chriſtus, jei es der Gott Logos ſelbſt. Die Welt, um deren Palingeneſie es jich handelt, it einjt durch ihn in jeiner göttlichen Stellung gejchaffen worden, er hat ihre Ent- wiclung geleitet, er jegt ihr auch das Ziel. Die Erjtlinge der fünftigen durch ihn einzurichtenden gereinigten und verflärten Welt Jind jeine Gläubigen, die Bürger eines himmlischen Gottesreiches. Als das Saframent des urjprünglichen Chrijtentyums, als das, wodurch die lebendige Verbindung zwijchen Gott und Menjchen hergejtellt wird, ijt zu bezeichnen die Verſammlung der Gläubigen (Heiligen, ecclesia, wörtlich berufene Volfsverfammlung der Voll: bürger). Wo dieje Verſammlung iſt und wären auch nur drei „in dem Namen‘ Jeſu verjammelt, da iſt in ihrer Mitte der „Herr“

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wirfjam mit feinem Geiſte. Die Verjammlung vollzieht die „Er: bauung eines heiligen Tempels“, in dem die Gottheit wohnt, in ihrer „Dankjagungsfeier‘ knüpft jie denjelben innigen Bund mit Gott, wie ihn Iſrael in feiner jährlichen Pafjahfeier ſtets neu be— jtätigte, jtellt fie ji) dar als der Anfang eines neuen und ewigen Gottesvolfes. Das Wichtigjte, was in diefer Verſammlung vorgeht, ijt nicht der einzelne Ritus, den man vollzieht (als bevorzugte Niten bilden fi) aus Taufe und Herrnmahlzeit), jondern die Ver: einigung der Ehrijtusjünger, wie und wo fie jtattfindet, it ein Gegenjtand des göttlichen Wohlgefallens, jie bildet den eigentlichen Augapfel Gottes,*) das Lieblingsaugenmerf der Vorjehung.

Der Lebenszwed der Gläubigen des urjprünglichen Chrijten- thums ijt die perjönliche Vollendung zu Bürgern des fommenden Gottesreichs, die aftive Heiligung. Nicht bloß die rituelle pajfive Heiligung, mit der jich Judenthum und Heidenthum begnügten. Gie beiteht in der Hingabe des ganzen Menjchen an den Willen Gottes. Darunter ijt verftanden jowohl der religiöje Berfehr mit Gott im Gebet, vor Allem im gemeinjammen Gebet, als auch die Unter: ordnung aller Yebenspflichten unter die Zugehörigkeit zur Gemein— ichaft, nämlich die Umgejtaltung aller bejtehenden Berhältnifje des Individuums in Ehe, Familienleben, Kindererziehung, Freund: ichaft, Gejelligfeit, Erwerb, Verkehr, Handel, Dienſt und bürgerlicher Stellung in diefem Sinne Was hierin die Gemeinschaft hindert, ijt nicht als Inſtitution zu bejeitigen, aber von dem Gläubigen perjönlich völlig zu meiden.

Sodann aber gehört zur Vollendung der Heiligung die be— jondere Hingabe Einzelner und zwar nicht Weniger an Gott in einem der Mijfionsberufe, die alleın Gott dienen: als Apojtel, Prophet, Wunderthäter oder in einem Gott in der Gemeinde be- jonders dienenden Stand ala Lehrer, Aufjeher, Aelteſter, Diener, als Wittwe oder jungfräulicher Asfet. (Dies iſt die eigentliche „Nachfolge Ehrijti“.)

Neben diefem bejonderen Xebensopfer an Gott wird allen Chrijten zur Pflicht gemacht die Uebung jener Tugenden, durch die man Chriſto prinzipiell, nicht perjönlich gleichförmig wird: der Geduld im Leiden, der Freigebigfeit und Mittheilſamkeit, der Ber: Jöhnlichkeit, des Verzichtes auf perjönliche Nechte, der thätigen

») Diefer Deuteron. 32 entnommene Ausdrud it m. W. nicht in Der älteften Zeit verwendet worden, fondern nur bier zur Berdeutlihung gebraudt.

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36 Die mwiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion.

eindesliebe, des Gehorjams gegen die Obrigkeit. Die jpezifiich chrijtliche Ethik ift die Uebung der von Chriſto vorgejchriebenen und geübten Tugenden zu jeiner Ehre und zu feinem Dienſt, aljo als Fortjegung feines Wandels auf Erden. Die Menfchenliebe, wie Chriſtus fie jelbjt geübt hat, verwandelt fich damit in Chriſtus— liebe, in Ehrijtusnachahmung.

Diejes Chriſtenthum war eine neue Religion und hatte jich zu behaupten neben anderen fonfurrirenden Religionen, außer dem Sudenthum, neben der weit verbreiteten ſynkretiſtiſchen Religion des Gnoftizismus und neben dem Stoizismus.

Sein fundamental Neues läßt jich in die wenigen Worte faſſen: 1. Ehriftus, Den eine ausreichende Ueberlieferung als wirkliche gejchichtliche Perjönlichfeit beglaubigte, it ein Menſch, der in gött- licher Weiſe gewirkt hat und fich nun in göttlicher Stellung befindet. So ijter das Hauptobjeft des Glaubens. Der Glaube beiteht darin, daß man feine Wunder anerkennt und ihn allein als den Zugang zu Gott verehrt. Hierin wurzelt das ganze Dogmen- ſyſtem der Kirche, dejjen Mittelpunkt die Gottheit Chrijti iſt. 2. Die neue Aufgabe jittlich religiöjer Art, die den Menjchen erwächjt, it die Seeljorge, die Sorge für den einzelnen Menjchen, daß er zum Heil gelange. Wie hieraus die ganze neue hriitliche Ethik erwächit, jo die neue Würdigung der menschlichen Berjönlichkeit überhaupt. 3. Das „Saframent der Gemeinjchaft“, die Uebung heiliger Handlungen, hat die Aufgabe, als Unterpfand ein fünftiges Leben zu verbürgen. Hieraus it die ganze Liturgie der Kirche erwachjen, einjchlieglic) der Nemter, die zu ihrem Vollzug noth- wendig jind, aljo die Kirchenverfajjung. Diejes gejchichtlich Neue im Chriſtenthum hängt überall, wie ji) von jelbjt verjteht, mit Worten und Abjichten Jeſu zujammen, bildet aber eine neue eigenartige Religionsjtufe.

Es wird wohl niemals gelingen, vollitändig alle Einzelheiten ihrer Bildung zu erflären. Aber nicht in dem, was unerflärt bleibt, nicht im Geheimniß ruht ihr Werth, jondern in dem, was jie von Iejus bewahrt als Offenbarung jeines Wejens.

Ihr Werth bejteht darin, daß das, was Jeſus perjönlich war, und was er brachte, hier eine unendlich entwidelungsfähige Form ges funden hat, in der es in der Welt und Gejchichte eine neue Zeit heraufführen mußte.

2) Die erjte Form, die ſich aus dem urjprünglichen Ehrijtentyum entwidelt, nicht mit einer inneren organijchen Nothwendigfeit, jondern

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unter dem Einfluß zwingender äußerer VBerhältnijje, die natürlich hier nicht erörtert werden fünnen, it der Katholizismus, die chrijtliche Religion unterm vorwaltenden Gefichtspunft der Kirche. Die Hauptformen de3 Katholizismus dürften fein: der Alt— fatholizismus (Kirche vollfommen unabhängig vom Staat in einem gegen die Kirche gleichgiltigen oder feindlichen Staat), Katholizismus als römische Reichs- oder als Staatsfirdhe, mittelalterlicher, römijc = abendländifcher Katholizismus, Nationalfatholizismus, (griechiicher, ruffischer, gallifanijcher, anglifanijcher) moderner Bapismus. Es handelt fich Hier um das allen Ddiejen Formen Gemeinjame, um den Artbegriff des Katholizismus. Es ijt: Glaube an die Kirche als von Gott geitiftete Heilsanitalt.

SeineÖrundlage ward bereits gelegt im urjprünglichen Chriſten— tum. Aber dort ruht das ganze religiöfe Syftem auf der Gewiß— heit des Heilsbejiges, man fommt nicht durch die Kirche zum Heil, hier zielt Alles auf Heilserlangung. Der Befit des Heiles verfündigt ſich im heiligen Geil. Die Heilserlangung wird ver- bürgt durch Heilsgarantien.

Das „Syitem der Heilsgarantien“ ist der Katholizismus. Sein tragender Pfeiler ijt die von Gott gegründete priejterliche Amts: genojjenjchaft.

Die Entjtehung diejer das Heil vermittelnden Träger fultijcher Aemter aus den Ordnungen der Urgemeinde bildet ein noch nicht gelöftes Problem gejchichtlicher Forfhung. Aber feine Löſung darf erhofft werden von der wirflichen Ergründnng der religiöfen Be— wegungen jener Zeit.

Bon Injpiration fann im Katholizismus nur mit einer gewifjen Zurüdhaltung gejprochen werden. Denn die in ihm vor— bandene Gewißheit des Heiles beruht nicht auf perjönlicher Er- leuchtung, jondern auf dem Vertrauen auf die Autorität. Nämlich auf die Autorität der bijchöflichen Nachfolger der Apoftel. Sie vermitteln den direften äußeren Zuſammenhang mit Chrijtus. Der Episfopat ijt die Fortjegung des Dienjtes Chrijti auf Erden, den zuerjt die Apojtel leiſteten. Wer fich ihm unterwirft, Huldigt Chrifto. Der Glaube it aljo gehorjame Unterwerfung unter die Kirche als göttliche Stiftung.

Dieje Stiftung ruht auf folgenden Stüßen: auf dem Kanon apoſtoliſcher Schriften; auf der Glaubensregel, als deren authentijcher Auslegung; auf dem bijchöflichen Amt als dem Depojitorium der

38 Die wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Gefchichte der chriſtlichen Religion.

überlieferten Wahrheit. Dieje unzerreißbare Kette von Heil bedingungen bildet die gewaltige Stärfe der Kirche, die allen im vollen Sinne des Wortes „Kirche“ it und fich zu ber großartigjten. jozialen Schöpfung ausgewachlen hat, Die die Gejchichte fennt. Sie ift etwas Anderes wie die apoſtoliſche „Berjammlung“.

Sie hat den Lebensabend der hinjterbenden antifen Welt mıt einem milden Schein verflärt, fie hat ihre koſtbarſten Kulturgüter für die Nachwelt gerettet, fie hat dann die fräftigjten Völker und Stämme der neueren Gejchichte: Germanen, Romanen, Slaven erzogen und unterwiejen, als die große Mutter aller neueren Zivilifation. Daß nicht ein politijches Neich, fondern ein geiſtliches Reich die erite umfaſſende Gemeinjchaft war, in die dieſe Völker halb mit Scheu, halb mit Liebe eintraten im Beginn des Mittel: alters, it von größter Bedeutung für ihre Zukunft geworden. Niemals können dieſe jungen europätjichen Nationen (das find je im Vergleich mit den früheren Einwohnern) e3 verleugnen, daß über ihrer Wiege vom achten bis elften Jahrhundert der chriftlihe Weihnachtsgefang der Kirche erflungen it, der fie zu einem höheren als bloß irdiſchen Dajein weihte. Die größte Leitung des Katholi zismus iſt Die durch viele Jahrhunderte fich eritredende Ausbildung jener zujammenhängenden Weltanſchauung, die die biblichen Religionsideen mit der antifen Wijjenjchaft und Philojophie und mit den halb chriftlich asketiſchen, halb heidnijch-germanijchen Lebens— idealen zu einem Ganzen verbindet, das auch heute der europätichen Kulturarbeit zu Grunde liegt und insbejondere unjer ganze äfthetiiches Empfinden, unjere Phantajiewelt beherrſcht. Nicht nur Dogma, Liturgie und Kirchenverfafjung, jondern auch „Diesjeits“ und „Jenſeits“, unjere Logik und unjere Ethif hat ung der Katholizismus gegeben, unjere Bolitif jtammt von ihm. Aus der Antike ſtammt fein Gottes: und jein Weltbegriff, weniger aus der Bibel. Beides wirft tief hinein in die kirchliche Praris. Gott üt der abjolut über die Welt erhabene Geiſt, jtreng übernatürlid gedacht und unnahbar. Er offenbart jich in abgejtufter Weiſe ım Sohn. und Geift. Der Batergott des erjten Chriſtenthums ver wandelt ſich in den dreieinigen, aber in diejer Verwandlung bewahrt er unter völlig veränderten Verhältniſſen des begrifflichen Denten: jeinen tiefiten Charakter, den jittlichen. Denn die Beziehungen der drei Perjonen des göttlichen Wejens untereinander jtellen eine Art von ſittlichem Verhältnig dar und jichern dem chrijtlichen

Die wiffenihaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion. 89

Gottesbegriff die Erhabenheit über Heidentyum und Judenthum, über Bolytbeismus und Pantheismus.

Der antife Kosmos, das Kunjtwerf ordnender Vernunft wird nun zur Schöpfung, zum freien Gebilde eines liebevoll ent: werjenden Geijtes, das, aus den Händen des Meijters entlajjen, jeine eigenjtändige Entwidelung nimmt nach eingeborenen Gejeßen. Aber diefe Welt ift nur ein Proviforium. Sie geht einer Um: wandlung entgegen und einer Vollendung. Die religiöfe Zukunfts— hoffnung des urjprünglichen Chrijtenthums jegt ſich um in den neuen Gedanfen der jenjeitigen Welt, des „Himmels“. Und das Chriſtenthum it jenes „Prinzip des Fortſchrittes“, das bewirkt, daß die ganze irdijche Welt, das Diesjeits, dieſem Ziele entgegengeht.

Die Entwidelung der Frömmigfeit wird damit die eigentliche Unruhe in der Uhr der „Weltgejchichte*. Es würde zu weit führen, wollte man darauf hinwetjen, wie jehr alle abendländijche Meta- phyjif und Myſtik, Ethif und Politik, Kunft und Technik mit diejem religiöjfen Grundgedanken zujammenhängt, die eine höchjt mannig— faltige, wijjenjchaftliche Ausprägung zulajjen. Die Welt, in der der fatholijche Glaube jich, bewegt, ijt eine vernünftige, rationell be- greifliche Welt: Glaube und Wiſſen jind hier jo verjühnt, daß fie jic) gegenjeitig aushelfen können.

Als das Saframent des Katholizismus dürfte in dieſem Zufammenhange, wo es jich nicht um jein eigenes Dogma, jondern vielmehr um rein objektive gejchichtliche Betrachtung des thatjächlich Borhandenen handelt, wohl am richtigiten das Prieſterthum be- zeichnet werden. Sein Urjprung ift dunfel. Es jcheint, daß aus dem Bedürfniſſe, die;heiligen Handlungen der Ehrijtenheit, das gemeinjame Gebet u. j. w. richtig vollzogen zu jehen, die Ausjonderung von bevollmächtigten Kultusperjonen ſich entwidelt hat und deren hervor: ragende Stellung hat dann wieder ihre Verrichtung gehoben und mit dem Charafter des Heilvermittelnden gejtempelt.*) Aus diejen Anfängen aber hat ſich dann jenes Syitem von Hultushandlungen entwidelt, das man in feiner höchiten Vollendung als die fichtbare und fühlbare Weltherrſchaft des eucharijtiichen (in der Eucharijtie wirfjam gegenwärtigen) Chrijtus bezeichnen fann, als die Gegenwart des Himmels auf Erden.

*) Nach diefer Bermuthung wäre nit da8 Opfer, fondern das Saframent, das Bedürfnig nad wirkſamer Gemeinfhaft mit Gott der Anlaß jur eigen» thümlichen Geftaltung des Gottesdienftes und zur Ausbildung eines chriſtlichen Prieſterthums gemejen.

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In diejer Gewißheit, jederzeit die volle Kraft der himmlischen Dinge zur Verfügung für ſich zu haben, wurzelt die unausiprech- liche Sicherheit, Freudigkeit und ZJuverfichlichkeit des echten Katho— lizismus, jeine befriedigt in jich jelbjt ruhende Wiljenjchaft, Kunit und Politik. Daher jtammt die feierliche Pracht jeines Gottes- dienites, das jelige Genügen, das jeiner Malerei und Mufif inne: wohnt. Der im Katholizismus fejtgehaltene Lebenszweck ijt Die Vorbereitung der Gläubigen im DiesjeitS auf das Jenjeits. Aber dabei giebt es verjchiedene Stufen der Neligiojität, auf denen das Jenſeits jchon vorweggenommen wird im Diesjeitt. Das fontemplative Leben der Andacht, des religiöjen Denfens, Des Gebetes, der Myitif, das höher jteht al8 das thätige Zeben und des Leben der ganz dem himmlischen Beruf gewidmeten Mönche (Nonnen) öffnen den höher Strebenden jowohl im Neligiöjen wie im Sittlihen eine freie Bahn der eigentlichen chrijtlichen Boll: fommenheit. Und eben darum, weil jie allen Bedürfnifjen gerecht wird, weil jie neben dem Marimum religiögsfittlicher Letijtung, das jie prämiirt, auch ein recht bejcheidenes Mınimum noch anerfennt und gelten läßt, it diefe Religion zur Erziehung unreifer Völker, zur Disziplinirung der Mafjen am meijten geeignet. Sie ijt eine patriarchalifche Religion. Sie iſt die geborene Weltpädagogin und fie wird diefen Ruhm noch Jahrhunderte lang über die Zeit hinaus behaupten, wo jie wirklich noch neue Bölfergruppen erzieht. Sie hat ſich behauptet inmitten feindlicher Religionen: Neuplatonismus, Islam, keltiſchem, germanijchem, ſlaviſchem Heidenthum, ketzeriſchem Dualismus und PBantheismus im Mittelalter und gegen die ge: waltige Stonfurrenzreligion, die mit dem PBrotejtantismus wider fie aufgetreten find. Welche Ahnenreihe, wenn man nur die aller- größten Vertreter des Katholizismus aufführt: Ignatius von Antiochien, Irenäus, Eyprian, Leo der Große, Chryjojtomus, Ambrofius, Augustinus, Gregor der Große, Photios, Karl der Große, Gregor VII. Thomasvon Aquino, Dante, Ignatius von Loyola, Bofjuet, Benedikt XIV., Möhler, Döllinger, Newman, Pius IX.! Daß alle dieje unter fich jo verjchiedenen Geilter in der angedeuteten Grund: anjchauung übereinjtimmen, in Diejem gejchichtlihen Sinne Katholiken find, dürfte nicht bejtritten werden.

3) Der Protejtantismus it in jeiner Entjtehung von allen Punkten abhängig vom Katholizismus. Er jett jich zu ihm darum nur in einen relativen, nicht in einen abjoluten Gegenſatz. Kirche, Dogma, jenjeitiger Lebenszweck werden auch von ihm fejtgehalten.

Die wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der chrifilihen Religion. 41

Er tritt zwar mit dem Anjpruche auf, das Urchriſtenthum zu er: neuern, aber er hat doch nur mit einer jehr wejentlichen Ausnahme (der urjprünglichen Reformationsbewegung) den Altkatholizismus erneut und ijt dann allerdings durch den Zwang der gejchichtlichen Lage in ganz andere Bahnen geführt worden. Auch er zerfällt in eine ganze Reihe von Unterarten: deutjch-lutherijcher, jchweizerijcher, franzöfiichscalvinischer Protejtantismus, bijchöflicher (anglifanijcher, ſtandinaviſcher), orthodorer, aufgeflärter Protejtantismus.

Die jehr wichtigen Unterjchiede aller diejer Formen bleiben hier außer Betracht. Der Name Protejtantismus wird oft bean: jtandet, weil er nur eine Negation auszudrüden jcheint, während dieſe Bewegung jelbjt, obwohl ſie eine fritifche iſt, doch jehr pojitive Wurzeln und Ziele hat. Wogegen jie protejtirt, das ijt nicht Die Kirche, jondern die Katholizität. Es fommt ihr nicht mehr an auf das allgemeine, einheitliche, die ganze Welt beherrjchende Chriſten— thum, jondern auf das wahre Chrijtenthum, gleichviel ob es ſich bei Wenigen oder bei Bielen findet. Gleichwohl hat der Proteftantismus etwas weniger Beitimmtes an jih. Es giebt in ihm viel mehr Uebergangsformen, halbe Formen. Er fann darum auch unter der Hülle eines anderen Kirchenthums regieren und er bedarf zu jeiner Durchführung nicht mehr allein des Kirchenthums. Protejtanten innerhalb des Katholizismus waren vielleicht ein Arnold von Brescia, Abälard, Dccam, die aufgeklärten Statholifen an der Wende dieſes Jahrhunderts, wie Dalberg, Wejjenberg u. A. und innerhalb des äußeren Rahmens des Protejtantismus leben und bewegen fich, meift unangefochten, alle anderen formen chrijt- (icher Religion. Das fommt von den gejchichtlichen Urjprüngen des Protejtantismus, der zujammentraf mit der Epoche einer neuen Weltentdedung, einer neuen Bildung und einer Sonjolidirung nationaler Staaten. Der Protejtantismus iſt nicht bloß Kirchen form, jondern ebenjo Kulturform, vor allem Staatsform. Die Injpiration des Protejtantismus iſt der perjünliche Glaube an die göttliche Heilsoffenbarung. Der Einzelne gelangt zu Gott nur durch eigenen Glauben. Diejer it conditio sine qua non. Verworfen wird darum die fides implieita, die gläubige Unter: werfung unter Alles, was die Kirche lehren mag. Er erfennt nur an die fides salvifica, den erlöjenden, rechtfertigenden Glauben. Diejer Glaube ijt eine Gabe der Gnade, aber er iſt auch ein Werf des Menjchen. Er ift die höchjte von den Menjchen verlangte und von Gott gewirkte Leitung. In dieſem Glauben jpricht jich aus

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das lleberwundenjein des Chriſten von der ihm entgegenfommenden Gnade, jein unbedingtes Zutrauen auf jie. Alles was man im Brotejtantismus Myſtik nennen fann, liegt in dieſem Akt Des Glaubens. Denn er iſt feine momentane Injpiration. Er ijt ein geheimnigvoller, aber an bejtimmte göttliche Organe gefnüpfter zujammengejegter Borgang. Er ijt fein Einswerden mit Gott, fein Emporgerafftwerden zu Gott, vielmehr könnte man ihn nennen ein großes Aufthun des inneren Gefichtes, dadurch) man nun Gottes Offenbarung erfennt. Der Tiefe diejes Vorganges entjpricht jein wejentlicher Inhalt: Chrijtus. Diejer, wie die Bibel ihn zeigt, iſt die gejchichtliche Perjönlichkeit, in der Gott ſich erjchliept. Sein Bild als das des „Gottverſöhners“ macht eigentlich den wejent: lichen Inhalt der Bibel aus.

Der Katholizismus hat zwar die „Bibel“ gejchaffen und hat ihr den Weg geöffnet, aber er fonnte jie in ihrem tiefiten Sinne nicht verjtehen, weil er jie, jeiner in der Antife wurzelnden Welt: anjchauung nach, jozujagen als eine Topographie der Kirche, ihrer Lehre und ihrer Heiligthümer anjah; dem Brotejtantismus dagegen hat die Bibel die Bedeutung einer Photographie des ji) offenbarenden Gottes. Glaube, Ehrijtus und Bibel jind jeine drei Stüßen.

Man darf die Annäherung dieſes Standpunfte8® an den Des Urchriſtenthums nicht überjchägen. Denn im Protejtantismus tit alle göttliche Erleuchtung bejchränft auf den Inhalt der Bibel. Der heilige Geiſt legt nur die Bibel aus.

Im Urchriſtenthum dagegen hat der heilige Geijt eine durchaus jelbjtändige Bedeutung. Der Brotejtantismus macht allem ‚Propheten thum‘ ein prinzipielle Ende, das doch noch im Katholizismus jeine Stätte fand. Die Bedeutung des proteftantiichen Bibelglaubens mißt man am bejten im Bergleich mit dem Stirchenglauben. Beide Male wird an eine Autorität geglaubt. Aber die Bibel iſt eine redende, eine ſich jofort ausjprechende, aljo eine lebendige Autorität, jie tt perjönlihes Wort des „perjönlichen Gottes", während Die Ktirchenautorität eine unter Umjtänden blinden Gehorjam fordernde Macht, eine injtitutionelle Autorität it.

Die religiöje Vorjtellungswelt des Wrotejtantismus iſt urjprünglich die gleiche wie im Katholizismus. Gefliſſentlich hat man das trinitarische, das chrijtologiische Dogma mit allen Ktonjequenzen übernommen. Ebenſo die Vorjtellung von Welt, von Diesjeits und Jenſeits. Dennoch modifizirt fich jehr bald durch

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die veränderte Würdigung der Erfenntnigquellen des Glaubens auch die religiöje Gedanfenwelt; das jeitherige Syitem, das einheitliche Weltbild zerbricht. Denn Alles, auch das Dogma unter: wirft man der Kritik durch die Bibel. Und dadurch ändern ſich Gottesbegriff, Weltbegriff und alle Werthbegriffe.

Iſt die Bibel Gottes Wort, ift fie der fich über ſich ſelbſt aus— iprechende Gott, dann tit der aljo ſich offenbarende Gott Geiit, Wille, That in ganz anderem Grade wie jeither. Seine Macht und Größe, jein abjtraftes Wejen tritt zurüd hinter jeinem fonfreten Willen. Gerade ın dem prädejtinatianijchen Determinismus der Reformationgzeit erjcheint die Gottheit als Wille, aber nicht als blinder Machtwille, jondern als barmberziger, unmwider: jtehlicher Heilswille. Diejer Wille jtimmt nicht überall mit der Vernunft. Er iſt überrationell, geheimnigvoll. Die Natur tritt vor dem Auge des Protejtantismus zunächſt zurüd. Sie iſt nur Schauplag göttlicher Thaten, nicht Medium göttliger Enthüllung. An ihr interefjirt nur noch die Ordnung, die Gleichmäßigfeit, das Geſetz. So liegt im Protejtantismus ein Zug zum Spiritualismusg, zum Idealismus, aber auch zur Annahme der Srrationalität der Welt. An der Stelle, wo im Katholizismus die Kirche jteht, jteht bier Chriſtus. Alle Theologie wird zur Ehrijtologie. Die Nöthigung, das alles zu vertheidigen, führt zur Wijjenjchaft der Philologie. So liegt ein Zug zur Sritif, auch zum Nationalismus in der Stimmung des Protejtantismus, andererjeitS aber liegt ihm viel mehr an der Trennung der Bibelwiljenjchaft von aller andern Wiſſenſchaft, an der Trennung von Glauben und Willen ald an ihrer Verföhnung. Darum fann der Protejtantismus auch eine jelbjtändige Wijjenjchaft neben fich dulden, jowie er jelbjtändige nationale Ausprägungen des Chriſtenthums dulden fann.

As das Saframent des Protejtantismus ijt zu bezeichnen die Bibel. Wermitteljt ihrer allen wird Gott gefunden, erfannt. Sie ijt der Wort gewordene Gott, der allgegenwärtige Gott Jedem, der lejen oder hören fann. Die Bibel legt ich jelber aus, jie bedarf feines bejonderen Lehrſtandes. Trotzdem nehmen die von der Gemeinde berufenen Ausleger der Bibel, die Prediger, eine Ausnahmejtellung ein. Im rationalitischen Protejtantismus wird geradezu die Predigt, die erbauliche oder aufflärende Rede das Saframent. Erſt durch den Protejtantismus hat die Bibel ihre heutige geifterbeherrjchende Ztellung erhalten. Die Bibel als Buch ruft von jelbjt die Schule hervor, die Schule die Bildung,

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die Bildung die geijtige Befreiung auch der niederen Volksklaſſen. Es wäre unerflärlih, woher im Protejtantismus, der jich Doc Anfangs überall verbunden zeigt mit einer mehr oder weniger ab- joluten Monarchie oder mit der Ariftofratie ein jo gewaltiger Zug zur Befreiung des niederen Volks gefommen ijt, wenn nicht auf diefem Weg. Die Bibel hat die Individuen freigemadt. Der Lebensz;wed im Protejtantismus jcheint zunächit der gleiche wie im Katholizismus: Grlangung der Seligfeit im Jenſeits durch Die Führung im Diesjeits.

Aber jeiner aftiven und nicht fontemplativen Art nach, jeiner fritiichen und nicht gefügigen, jeiner willenshaften und nicht phantafte- vollen Art nach verzichtet der Protejtantismus auf jede Vorweg— nahme des Jenſeits im Diesjeits. Das wejentliche Mittel, um Die Seligfeit zu erlangen, ijt das Befenntniß des Glaubens auf Grund der errungenen Erfenntniß, ein Befenntnig mit Wort und That. Dieje Forderung gilt für Alle gleich. Es giebt fein privilegirtes Chriſten— thum mehr (Klerifat) und Fein höherwertiges (Mönchthum). Die Erfüllung aller Pflichten gilt gleich, wenn fie im gleihem Sinn und Geiſt des Gottvertrauens geübt werden. Damit tritt das natürliche Leben des Volkes in allen feinen Beziehungen in den Vordergrund. Zum eriten Mal jenkt jich jo die volle Weihe der Ne- ligion auf das gejammte sirdiiche Tagewerf des Menjchen. Der Fluch der Arbeit verwandelt jich für ihn in Segen und unter diejem Segen erwächjt der fühne Glaube, daß es nirgends mehr auf das Was des menjchlichen Thuns anfomme, jondern nur auf das Wie? Die Bejeitigung von Hierarchie und Mönchthum entwerthet das firchliche Leben überhaupt und das politische Leben tritt an jeine Stelle. Der Protejtantismus wird Nationalreligion, er wird in Norddeutjchland, Skandinavien, Holland, Schottland National: charafter. Nur vorübergehend hat der Calvinismus eine internationale Belenntnißficche gründen fünnen, jein eigenjtes Wejen hat der Protejtantismus in gejchlojienen Nationalfirchen gezeigt. Er um: fleidet die politifchen Pflichten mit religiöjer Weihe. Die Unter: thanentreue ift nur eine Seite der Gottesfurdht. Dabei gejtaltet jich der Begriff der Kirche im Lutherthum, im Galvinismus ganz verjchteden: gemeinjam iſt allen Richtungen, daß man nicht durch die Stirche zum Glauben fommt, jondern durch den Glauben zur Kirche. Denn auch die lutheriſche Lehre von der Taufgnade jest doch einen Keim perjönlichen Glaubens voraus. Der erite aus: geprägte Protejtantismus tritt auf in Wiclif, während man mit

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Unrecht die noch auf dem Standpunkt fatholischer Weltanjchauung verharrenden Seftenfirchen, Gegenfirchen: Waldenjer u. U. als Borläufer des Protejtantismus bezeichnet.

Der religiöje Protejtantismus, jo wie er im jiebzehnten Jahr: hundert um jein Yeben focht, erijtirt nicht mehr; auch im Dogma, auch in der Stirchenform hat er die eingreifenditen Wandlungen erlebt. Dennod) lebt der Projtantismus fort ala Gefinnung, als Bibelglaube, als Nationalreligion. als politische Religion, als wijlenjchaftliche und technijche Triebfraft. Er iſt das Ethos und Pathos der germanijichen Bölfer geworden, der Deutjchen und Angeljachjen. Aber deren eigentlich religiöjes Leben hat längjt noch andere Elemente in jich entwidelt. Was man heute Protejtantismus nennt, iſt nicht mehr ein gejchlojlienes religiöjes Syitem, jondern ein fomplizirtes gejchichtliches Gebilde, nur zum Theil „protejtantijchen“ Urjprunges.

4) Biel jchwieriger als die Abgrenzung des Protejtantismus dürfte die des Pietismus fein. Diejer Name hat ſich bei uns eingebürgert für eine bejtimmte einzelne Erjcheinung des deutjchen Lutherthums: für die Spener— rande— Zinzendorfiiche Bewegung. Aber man hat ihn hie und da auch in einem weiteren Sinne gebraucht, mit um jo größerem Recht, als es fich gezeigt hat, daß jene lutherijche Bewegung zuerit ihre Vorbilder im reformirten Gebiet gehabt hat und als eben jene Vorläufer ihren Stammbaum wieder auf ältere Vorgänger mitten in der fatholijchen Kirchenzeit zurüdgeführt haben. Der Pietismus ijt nächſt dem Mönchtum die erjte religiöje Be: wegung in der Ehrijtenheit, die für fich um ihres inneren Gehaltes willen die Anerkennung der offiziellen Stirche gefordert hat, die erjte Bewegung, die den nur relativen Werth alles Kirchenwejens be— hauptet hat. Man wird darum jprechen dürfen von einem noch) unvollfommenen PBietismus. Diejer tritt vielleicht jchon im Monta— nismus auf, dann im Mönchthum. Schon beinahe entwidelt pietijtiiche Züge zeigt das reformirte abendländijche Mönchthum, bejonders das des Bernhard von Clairvaur. Aber auch Suſo, Tauler und die Gottesfreunde, wie nicht minder Savonarola gehören hierhin. Pietiſtiſche Kirchen find dann jowohl Wiedertäufer und Mennoniten, Independenten wie Herrnhuter, Methodiiten, Baptiiten und die ver— jchiedenen freien Kirchen unjeres Jahrhunderts. Die vollfommenijte Kirhenjhöpfung des Pietismus ift die Brüdergemeinde. Daran reihen fi) die großen internationalen und interfon- fejfionellen pietijtiichen Unternehmungen: das gefammte Vereins»

46 Bie wiffenfchaftlihen Aufgaben einer Gejchichte der hriftlihen Religion.

wejen der äußeren und inneren Mijjion, die evangeliiche Alltanz, die Heildarmee u. j. w. Aber auch) von einem fatholijchen Pietis— mus wird mit einer gewijjen Grenze gejprochen werden fönnen. (Quietijten, Ianjeniften, die Gruppe Satiler— Goßner— Boos). Die ruſſiſche jeftireriiche Bewegung iſt ertrem pietiſtiſch.

Es dürfte möglich jein, die gemeinjamen Züge der Piyfiogno- mie des Pietismus bei diejer Fülle von religiöjen Erjcheinungen nachzuweijen. Erſt der Pietismus als Neligionsform bildet den direften Gegenjag zum Katholizismus. Gr leugnet, was Ddiejer be— hauptet, daß man durch die Kirche zum Glauben fommt. Seine Injpiration it Heilsgewißheit aus perjönlichem Glauben, auf Grund der Erfahrung der Wiedergeburt, der Befehrung, der Heili— gung. Hierin gehter über den Protejtantismus hinaus und fnüpft an das ältere Chrijtentyum an. Die perjönliche Belehrung iſt feines: wegs ausjchlieglich an das Wort der Schrift gefnüpft. Sie fann überall her fommen. Während im Protejtantigmus zujammen ge: hören: Glaube, Chriftus, Bibel, jo gehören hier zujammen: Gefühl, Ehrijtus, Liebeswerf. Auf Grund einer Spezialoffenbarung wird Chriſtus erfannt, das aber treibt dann aud) zur Bethätigung des Bundes mit ihm.

Die Weltanjchauung des Pietismus entbehrt zunächit eines eigenthümlichen Gottes: und Weltbegriffes. Aber fie verzichtet aud) ausdrüdlich auf das Dogma. An dejjen Stelle tritt die jprudelnde Quelle der Religion jelbjt, die Bibel. Aber nur jcheinbar ijt der Pietismus bibliiche Weltanjchauung. Der ſog, württembergijche Bibelpietismus dürfte wejentlich noch unter die Kategorie Prote- itantismus gehören, oder er geht aus dem Biblischen ins Theoſo— phijche oder Humaniſtiſche über. In Wirklichkeit it dem Pietismus Eins und Alles in der Bibel Chrijtus. Der Gottesbegriff des Pietismus iſt gegeben mit jeiner Chrijtolatrie, mit der ausjchliep- lichen Verehrung Ehrijti als Gottes und Herrn. Es ijt befannt, in wie ausjchlieglichen Sinn die Bietiiten Chrijtus al® den „Herrn“ anrufen und prädiziren. Die dem entjprechende Weltanjchauung ergiebt: Die Welt ijt das Herrjchaftsgebiet Chriſti, das Objelt der Chrijtofratie. Chriſtus iſt der verborgene Weltherricher und ſoll auch als jolcher offenbar werden. Hier liegt die Anfnüpfung des Bietismus an die Politik, die jich bei ihm wie bei jeinem eigentlichen prinzipiellen Gegner, dem Katholizismus, immer wieder findet. Dann muß aber die Welt doch anders gedacht werden, wie jeither. Das eigentliche Leben der Welt iſt Willensleben, das eigentliche Organ, um die

Die mwifjenfhaftlihen Aufgaben einer Gejchichte der hriftlihen Religion. 47

Welt zu erfafjen, tt das Gemüth. Es tritt der nachmal3 von der Philoſophie wieder verarbeitete Gedanke der „inneren Welt“ als der eigentlichen Welt auf. Dieje Welt findet man, wenn man nur einfehrt bei jich jelbjit. In diefer inneren Welt da herrjcht Chriſtus allein. Er iſt der König Ddiejes inneren Reiches. Damit ijt Die Kirche erjegt und übertroffen. Auch der einjame Separatiſt fann jeinen Gottesdienjt halten in diejer inneren Welt mit Engeln und jeligen Geijtern im Bunde.

Durch dieje völlige Umgejtaltung des geiſtigen Horizontes giebt der BPietismus die Wiffenjchaft frei, nicht ohne ihr eine gewiſſe GSeringihägung zu widmen. Much der Philologie bedarf es nicht mehr. Die Bibel muß jeder Laienchrijt von fich aus und aus ihr jelber verjtehen fönnen. Aber der Pietismus feindet auch Die Wiſſenſchaft nicht an, jo wenig wie die Politif und die Technif; er hofft vielmehr, fie ji alle zu Nutze machen zu können. Je weiter die Wiljenjchaft abliegt von den göttlichen Dingen, deſto genehmer it jie ihm. Demnach befreundet er ſich am metiten mit Mathe: matif, Naturwifjenjchaften, Technologie, Geographie, Sprachenfunde. Er jchafft die NRealjchule.

Als das eigentliche Saframent des Pietismus, mittels deſſen er die Verbindung mit „dem Herrn“ vollzieht, jtellt ich dar das Gebet, vornehmlich das Bittgebet. Im Gebet vollzieht jich die Gemein: Ichaft mit Chriſtus. Dieje Gebetsübung, vornehmlich die gemein: jame Gebetsübung, jet voraus die Gebetserhörung.

Diefe liefert den jicherjten Beweis für die Herrichaft Chriſti über die Welt. Die Gebetserhörung bejteht in der inneren Gewiß— heit und in einem äußeren Ereigniß: Eintreffen des Grbetenen, Heilung einer Krankheit, Abwendung einer Gefahr oder Noth, einer Geldverlegenheit u. dergl. Eine andere Form des Gebetspietismus hat vornehmlich der Katholizismus fultivirt (Molinos, Frau von Guyon, zenelon), den Quietismus, das wortloje und wunjchloje Gebet, das Aufgehen in Gott. Aber daran zeigt ſich, wie alleın der protejtantijche Pietismus fonjequenter Pietismus iſt, indem er überall auf ein Werf dringt, nicht auf die bloße Gottgelajienheit. Denn tm GSebetseifer jteht der fatholijch geartete Pietismus gewiß nicht nad), nur iſt das Ziel jeines Eiferd ein anderes, nämlich das gleiche Ziel, das auch die katholiſche Kontemplation eritrebt, das pajjive, leidentliche oder efitatijche Einswerden mit Gott. Dagegen tritt bei Pascal, aber auch bei Fenelon die Chriſtokratie deutlich zu Tage. Mit diefer Gebetsübung ijt der volle Yebenszwed des

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Pietismus noch nicht erreicht. Diejer muß in einem gemeinjamen Werf bejtehen. Es iſt die Nachfolge Chriſti, genauer die Nachahmung Ehrijti in jeinem eigenthümlichen Lebenswerk. Die Lojung der Nachahmung Chriſti iſt befanntlich mit bejonderer Energie ausgegeben von den Minoriten als Nachahmung der völligen Armuth Ehrijti, alſo als Kopie der äußeren Lebens- oder jogar Leidensgejtalt Chrijti. Daraus entwidelte jich das Ideal der „geiltlichen Armuth“, was wieder abbiegt in die fatholijche Gott: gelajjenheit. Erjt nachdem der Protejtantismus jeine Entwidelungen erichöpft hatte, trat eine neue Form der Nachahmung Ehrifti auf, die e8 auf eine Direkte Fortſetzung jeines Lebenswerfes abjah, nämlich auf Miſſion, auf äußere und innere Mifjjion. Der Weltheiland wird gedacht ala Weltmiffionar. Seitdem ift das ge jammte Miſſionswerk das eigentliche Erfennungszeichen und Lebens: ziel aller Pietijten geworden. Bezeichnet wird dieſes Ziel gewöhn— li) mit dem Namen Reich Gottes, oder „Neid Ehrijti*. Die Hauptmittel zur Erreichung diejes Zieles find Gebet und Für: bitte, Geldjammlung für Mifjionszwede und perjönlicher Miſſions— dienjt. Diejer legtere verleiht einen außerordentlichen Charafter. Ebenjo wie im Katholizismus die Mönche, find im Pietismus die Berufsarbeiter in jeder Art von Miſſion die eigentlich vollfommenen Chriſten. Das Ziel der Welt iſt Weltbefehrung, möglidjit jchnelle und dann das Weltende. Der Chiliasmus ſchließt jid häufig, wenn auch nicht nothwendig, dem Pietismus an. Thatſächlich iſt mit dieſer Religion ein Schritt über die jämmtlichen jeitherigen „Konfejjionen“ hinaus gethan. Die in der gleichen Gejinnung ftehenden Frommen aller Konfeſſionen erfennen einander an, treten in gemeinjame Verbindungen und Vereine ein, denn überall, wo die Saat der gleichen Frömmigfeit und Liebes übung aufgeht, erblidt man bereits die Anfänge des Neiches Gottes, hinter dem die Kirche al3 eine mehr politifche tranfitoriide Sache verjchwindet. Das Kirchenthum ijt nicht mehr wejentlid) für das Chrijtenthum. Die pietiſtiſche Hoffnung lautet: Es kann nicht Ruhe werden Bis Jeju Liebe fiegt, Bis dieſer Kreis der Erden Zu feinen Füßen liegt. Mit diefer Looſung jucht die Brüdergemeinde ein Volk Gottes aus Gliedern aller Ktonfejjionen zu jammeln.

Die wifjenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der hrifilichen Religion. 49

5) Vielleicht am meiften Widerjpruch erregen dürfte, was dem Verfaſſer am gewifjeiten zu fein jcheint, daß es nothwendig it, noch eine weitere Form chrijtlicher Religion abzugrenzen, die jich im Laufe der legten Jahrhunderte immer deutlicher aus dem Pietismus berausentwidelt hat: den chrijtlichen Humanismus.

Sp wenig wie beim Pietismus jei hier Werth gelegt auf den Namen „Humanismus“ Wenn man nur findet, dat die Sache richtig erfannt und umſchrieben fei, jo möge ein geeigneterer Name gejucht werden.

E8 handelt ſich um eine Form chrijtlicher Neligion, die noch) in ihren Anfängen ſteht und, mit einer Musnahme, feine eigene joziale Organtjation gefunden hat, aljo um etwas noch nicht politisch oder doktrinell Greifbares, während der Pietismus die Seele des ganzen chrijtlichen Vereinslebens zu jein jcheint. Dieje joziale Irganijation tjt die Gejellichaft der Freunde, der. Quäfer, und aud) nur, jofern dieje jich das Werf der Menjchenliebe zur Aufgabe macht. Dennoch dürften jene Anfänge durchaus unter einer anderen Rubrik nicht untergebracht werden fünnen, denn jie unterjcheiden jich deutlich von dem Pietismus, an den jie doch unmittelbar angrenzen.

Der hier vorgejchlagene Name erinnert natürlich an Die HDumanitätsbewegung des vorigen Jahrhunderts. Dieje jtand, joweit jie von Rouſſeau ausging, im Gegenjat zu jedem pofitiven Chriſten— thbum. Aber fie führte in dem „humanen Chriſtenthum“ Yejlings, Herderd und auch Kants zu dem Gedanken der Verwirklichung des eigentlichen „Chriſtenthums Chriſti“ jelbit, zur angeblichen Wieder: entdedung der „Religion Jeſu“.

Niemand wird jich noch mit dem Gedanken täujchen, es ſei unter den gegenwärtigen Berhältnijjen eine einfache Nachahmung Jeſu oder der Apojtel möglich und das allein fünnte doch die thätige Religion Jeſu wollen aber darum liegt doch etwas Unverlierbares in dem Wort „Humanismus“, nämlich ein Ziel für die Bewegung des Chriſtenthums, das nicht in der Kirche liegt, nicht in den chrift- lichen Vereinen, nicht in den Individuen allein, jondern in einer chriſtlichen Menjchheit.

Sit die einfache Nachahmung Jeju undurchführbar, jo iſt doch nicht undurchführbar die Abficht, jein Lebenswerk in einem viel weiteren Umfange fortzujegen, aber in dem gleichen Glauben, den er begte, in dem Glauben an das Neid, Gottes.

Was Paulus vorjchwebte: daß der „zweite Adam“ der ganzen Menjchheit als ihr Heiland zugeeignet werde, das ijt ein unverlier:

Breußiiche Jahrbücher. Bd. XCVIIL Heft 1. 4

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bares Ziel. Es würde auch dann jchon hier auf Erden erreicht jein, wenn die Völfer der Erde chriftianifirt und zivilifirt, eine Familie von Gottesfindern bildeten, die jämmtlich in Chriſto ihr Haupt anerfennen und darum in Ddiefem Glauben eins, möglidjit nach den Grundjägen der Liebe, der Gerechtigkeit und der Humaniät ihre Beziehungen regelten. So viel Schwärmerifches bei der Aus: malung dieſes Gedanfens im Einzelnen unterlaufen mag, das Prinzip der Menjchenwürde, der Anerkennung des Nechts einer jeden jitt: lichen Individualität auf Ausbildung, das Necht jedes Menjchen auf Chriſtus gilt unter Chriften und daraus folgt die Anjtrebung eines jolchen allgemeinen und öffentlichen Zujtandes, in dem dieſes Prinzip verwirklicht werden fann. Die Miſſion jtrebt nicht jo weit. Ihr genügt die Verbreitung des chriſtlichen Glaubens, dann mag das Ende fommen.

Das „Reich Gottes“ iſt ihr fchließlich doch nur ein Glaubens: reich, eine Bekenntnißkirche. Was Jejus als Neich Gottes ver: fündigt hat, jcheint aber weiter zu reichen und mehr zu fordern. Und diejes Mehr ijt die treibende Kraft in dem, was wir „chrijtlichen Humanismus“ nennen (nicht humanes Chriftenthum).

Er hat jeinen erjten Anfang vielleicht genommen in Fran; von Aſſiſi. Bei ihm gehen freilich noch neben einander her die rein Ddemonjtrative heroijche Nachahmung Jeſu in feiner Bettel- armuth und die hilfsbereite Liebe, die Werfgemeinjchaft mit dem Werke, das Jejus Chriſtus getrieben. Das Legtere liegt vor in der aufopfernden Hingabe an Kranke, Ausſätzige, in feinem hilfreichen Wejen. Das wiederholt jich dann in manchen Erjcheinungen der Krankenpflege und Liebesübung im Mittelalter. Das Charafterijtijche dabei ijt die hervorbrechende humane Gejinnung. Man will das Ebenbild Chriſti im leidenden, bedürftigen Menjchen retten.

Die Reformation verfolgt in ihrer Liebesübung ein enger begrenztes Biel. Sie gilt dem Landsmann, dem Glaubensgenojjen. Die Liebesübung tritt in den Dienjt der Glaubensgemeinjchaft. Der Bietismus fordert das Liebeswerf ala Beweis des Glaubens und er individualijirt die Werfe der rettenden Liebe. Aber erjt dıe Aufklärung jtellt das andere Ziel auf: Rettung des Menjchen um des Menjchen willen und verbindet damit den weiteren Zwed der völligen Ausgejtaltung der Menjchheit nach dem Ebenbilde Gottes, nach dem jie gejchaffen tft. Die Aufklärung hat befanntlich die Liebesthätigfeit vom Bietismus übernommen und hat fie dann wieder an Diejen abgetreten, nicht ohne daß der Pietismus jich jelber Humanijirt hat.

Die wiſſenſchaftlichen Aufgaben einer Geſchichte der hriftlihen Religion, 51

Der Glaube dient nun der Liebe und der Wetterfer der auf rein humanen Abfichten ruhenden „Philanthropie“ mit den auf dem Glauben ruhenden chriftlichen Liebeswerfen fördert dieje Ent: widelung in jeder Weije.

Hand in Hand damit macht fich eine in praftiichen Idealen wurzelnde Weltanjchauung geltend, die, aus Glauben und Hoffnung entworfen, der Weltentwidelung fein dogmatifches, jondern ein jittliches Ziel jegt und dabei evangelifche Gedanken in größerem Umfang verwerthet, als es jeither gejchehen ift.

In dieſen Grundanjchauungen jtimmen dann Männer und ‚rauen der verjchiedenften firchlichen Denominationen, theologischen und philojophijchen Wichtungen, Vertreter aller gejellichaftlichen Stände überein. Sie alle einigt das „praftijche Chriſtenthum“. Man unterjchäßt doch die Bedeutung diejer gemeinjamen Looſung, in der jic) jo Viele vereinigen, die ganz getrennten Lagern anzugehören jcheinen, wenn man vorgiebt, e3 handle jich dabei nur um eine vorübergehende Bundesgenofjenjchaft. Bekanntlich) weijen alle jtreng firchlidy Gefinnten dieſe Gemeinjchaft der Liebe bei abweichendem Glauben ganz fonjequenter Weife ab. Denn es handelt ſich um ein Biel, das dieſem Glauben vorjchwebt und das über alles Kirchenthum und alle SKonfejfionsgrenzen hinausliegt, um jenes Biel, dem die erleuchtetjten chrijtlichen Denker, die eifrigjten Menjchenfreunde, die begeijtertiten Prediger, und die innigjten Dichter und Künjtler eingeftandenermaßen entgegenjtreben. Wer darauf achtet, zum Beiſpiel welche Gedanfenreihen in der Predigt der Gegenwart allein noch wirflihen Eindrud machen, der wird zugeben: Nur die Predigt einer aus dem Glauben jtammenden und nach dem Bilde Jeſu Chriſti geitalteten unbejchränften Menjchen- liebe in Wort und That gilt den Menjchen von heute noch als das unverfäljichte Evangelium.*) Und das darum, weil dieje Zeit wie feine andere den wirklichen Ehrijtus ſich zu vergegen— wärtigen gelernt hat.

Als Vertreter diejes „Humanismus“ ſeien hier beijpielswetje mit Ausjchlug aller Derjenigen, deren religiöjes Leben direft aus der Aufklärung jtammt und die darum jelbjtverjtändlich, jo weit es chriftlich ift, in Ddiefer Bahn gehen und unter Hinweglafjung der nicht ganz hierher pafjenden Erſcheinungen in romaniſch-katholiſchen Ländern, genannt: Klopſtock, Lavater, Jung Stilling, M. Claudius,

*) Man, Be 3. B. das Chriſtenthum, das Nietzſche zu bekämpfen wert

4%

52 Die wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der chriſtlichen Religion.

Peitalozzi, Wilberforce, L. Howard, Chalmers, Jean Paul, I. alt, Elifabeth) Fry, Fichte, Vinet, Rothe, Bunjen, E. M. Arndt, K. Nitter, H. Loge, Fechner, Caird, Wordsworth, F. Nüdert, Carlyle, Nobertjon, 3. D. Maurice, Ch. Kingsley, A. Bitzius, E. Frommel, 8. Gerok.

Man nehme dazu die internationalen und interfonfejjtonellen Agitationen für Sonntagsfeier und Sonntagsheiligung, für das rothe Kreuz, für Mäßigfeitsbejtrebungen, Arbeiterjchuß, Gefängniß— reform, die alle einen gewiljen religiöjen Hintergrund haben.

Die religiöfen Grundgedanfen diejes Humanismus finden jtd aber auch bet den Theojophen: I. Böhme voran und Detinger, dann in der deutjchen theojophijchen Naturphilojophie von Schelling, Steffens, Baader, Görres, in der theojophiichen Theologie von Hofmann und Bed, theilweije bei Ch. H. Weiſſe und Nitzſch, bei Ritſchl und Frank, bei Biedermann und Lipfius.

Als jolche religiöje Grundgedanken dürften zu bezeichnen jein: die Anjchauung von der nothwendigen Bajis, die jede Religion haben muß in individueller religiöfer Ueberzeugung, gleichviel, ob dieſe Erwerb der Erziehung tjt, oder auf direkter Erleuchtung und erfahrener Wiedergeburt beruht.

Das die Injpiration dieſer Neligionsform. Zum Beweis jei auf zahlreiche Biographien neuerer Zeit verwiejen. Zu jener „Wiedergeburt“ würde auch eine jolche fittliche „Befehrung“ gehören, wie fie 3. B. Garlyle erlebt hat, oder wie fie Fichte verlangt. Gemeint ijt damit jener Gemüths- und Willensentjchluß, aus dem ſich folgerichtig eine neue religiöſe oder jittliehe Vorjtellungswelt entfaltet, für welche alle Schrift: und Stirchenlehre nur noch Hilfs mittel tt, aber nicht mehr zwingende Autorität.

Natürlich it die gefammte Weltanjchauung bei Perſönlich— feiten, die auf jo verjchiedener Kulturjtufe und Erfenntnißjtufe itehen, verjchieden, für Alle aber it die wirkliche Welt, in der wir leben, eine Offenbarungsjtätte Gottes und dadurch geweiht, daß auf ihrem Boden jich das Reich Gottes vorbereitet. Die jtrenge Trennung des Diesſeits vom Jenſeits fällt weg, denn auch im Diesjeits ijt Gott gegenwärtig und wirkſam. Dieje Welt ijt eine Gotteswelt.e Das führt bei Einzelnen zu einem fürmlichen Naturfultus,*) überall zur innigen Befreundung mit der ganzen Schöpfung, bei nicht Wenigen zur Naturforjchung.**) Cs bejteht

*) Franz v. Aſſiſi, Wordsworth, Rüdert. **) Howard, Ehalmers, Kingsley.

Die wiſſenſchaftlichen Aufgaben einer Geſchichte der chriftlihen Religion. 53

ein inniger Zujamenhang zwijchen der Naturordnung und der menjchlichen Gejchichte: die Natur it eine Uebungsjchule der Geijter und im Mittelpunkt der Gejchichte jteht Chriſtus als der Träger der Abjichten Gottes.*) Beides zujammen jtellt- eine Weihe göttlicher Offenbarungen dar.

An Stelle der dogmatijchen Betrachtung des Zujammenhangs der Dinge tritt die Würdigung ihrer empirischen Wirklichkeit, von welcher auch das richtige Verhältnig der Menjchheit zur Natur abhängt. Eine jolche Betrachtung fann ohne Weiteres die Gejeß- mäßigfeit des irdijchen Weltlaufs zugeben, die die Bajis aller Naturerforjchung it.

Der höhere Gedanfe Gottes, dem die Welt dient, iſt in per: jönlicher Gejtalt verförpert in Jejus Ehrijtus. In ihm wird eben jowohl die Gottheit wie die Menjchheit angejchaut. Der eigentliche Beweis für jeine Gottheit bejteht in jeiner heiligen Menjchheit. Seine Gottheit ift die eines Menjchen. Während der Pietismus vorwiegend die leidende Menjchheit Jeſu ins Auge faßt, tritt hier die gejammte Berjönlichkeit, die im Thun und Leiden jich vollendet, in ihrer vorbildlihen Wollfommenheit in den Vordergrund der Verehrung.

Demgemäß ijt al8 das eigentliche Saframent des Humanis— mus zu bezeichnen das Chrijtusbild.

Der in jeiner vollen Menschlichkeit und Gejchichtlichfeit auf Grund der biblifchen Ueberlieferung vorgeitellte wirkliche Jeſus Chrijtus it die eigentliche Bürgjchaft unjerer Verbindung mit Gott und das perjönliche Lebensideal der Chriſten. Diejem Zug muß auch die auf die Erforfchung jeiner gejchichtlichen Wirklichkeit gerichtete Wifjenjchaft dienen. Die „Gemeinſchaft“ mit ihm iſt jowohl religiöjer, durd) das Gebet vermittelter, wie fittlicher Art. Insbejondere die jittliche Herrjchaft, die er über die Gemüther und durch dieje auf die Welt ausübt als der „Herr“, iſt die eigentliche Bethätigung jeiner Gottheit. Indem fein Vorbild maßgebend wird für das gejammte Leben, wird er erit aus einem Gott der Kirche, der er jeither vornehmlich gewejen war, der thatjächliche „Herr“ der Gejchichte, die ihm dienen muß.

Eine wirflihe Chrijtofratie, eine geitige und fittliche Herrjchaft Ehrijti beginnt. Es hat wohl feine Zeit in der Chrijtens heit gegeben, in der jeine Perjönlichkeit jo jehr im Worderarunde

*) Bgl. bei. K. Ritter.

54 Die mwiffenfhaftlihen Aufgaben einer Geſchichte der chriſtlichen Religion.

gejtanden hat, die Erinnerung an Jeſus eine jolche Rolle gejpielt hat wie die, jeitdem dieſer chriftliche Humanismus eriftirt.

Der Lebensz;wed des Humanismus ijt nicht mehr der rein oder vorwiegend religiöje wie noch im Pietismus, jondern der zus gleich religiöfe und fittliche der „Verwirflihung des Reiches Gottes“.

Man denkt diejes Reich Gottes, in einer zuerjt von Leibniz geltend gemachten Weiſe nun als die vollfommenc zugleich religiöje und jittliche Menjchheitsgemeinjchaft, als eine Gemeinjchaft der befreiten und verflärten Perjönlichkeiten. Damit foll die Ueber: weltlichfeit Ddiejes Reiches gar nicht in Abrede gejtellt jein, aber indem es jchon auf Erden fich zu verwirklichen anhebt, gilt aud) für jeinen Fortgang im Jenſeits, daß es nicht ein Neich der bloßen Beichaulichkeit, jondern fortgejegter Entfaltung und thätigen Wachs— thums jeiner Glieder iſt. Die nationalen wie die firchlichen Gegen: jäße verschwinden in diefem „Reich“. Das Weich Gottes tritt jo al3 das gemeinjame Ziel aller chriftlich- fittlichen Bejtrebungen an die Stelle der Kirche.

Die religiöje Gewißheit, bejtehend in perjönlichem Glauben, die von Gott geleitete Menjchheitsgejchichte als die eigentliche religiöje Welt, das Chrijtusideal die wirffame Verbindung mit Gott und das Reich Gottes das Ziel aller Beitrebungen man wird zugeben, daß dieje vier Punkte, wenn auch vielfach halb ver- hüllt, den eigentlichen religiöjen Gefichtsfreis einer großen Reihe der einflußreichiten Vertreter des Chriſtenthums in der näheren Vergangenheit und in der Gegenwart umjchreiben, und daß innerhalb diejer Gejichtspunfte eine Fülle jpeziellerer Aufgaben ihre Löjung finden fönnen. Wir find damit noch durchaus im Kreife chrijtlicher Anjchauungen geblieben, außerhalb deren der rein weltliche, der (Comtijch) poſitiviſtiſche oder auch der jozialiftifche Humanismus jich bewegt, allerdings nicht ohne mancherlei Einwirkungen dem chrijtlichen Humanismus zu geben oder zu verdanken. Der Humanismus hat zwei Gedanken in den Vorder— grund gejtellt, die zu den urjprünglichiten Zielen des Evangeliums gehören: 1) die chrijtliche Perjönlichfeit und 2) das Reich Gottes, ein Ideal der Individualität und eins der Gemeinſchaft. Aber eine eigene joziale Gejtalt hat der chriftlihe Humanismus nicht angenommen. Er it bis jet mehr ein Stil des religiöjen Empfindens, Handelns und Denfens als eine eigene Gejtalt religiöfer Vergejellichaftung aber ein Stil, der

Die wiſſenſchaftlichen Aufgaben einer Geſchichte der chriftlichen Religion. 55

ſich ebenjo bemerkbar macht im fleinjten wie im größten Streije, den er bejeelt. Am deutlichiten prägt er jich aus in einzelnen Perjönlichfeiten. Die großen Jndividualiten, von denen es eine Ueberlieferung giebt: J. Denk, ©. Frank, Schwentfeld, George For und William Penn, 3. Böhme, Detinger, Lavater, Fichte, DOberlin, Kierfegaard, Garlyle, J. T. Bed, Lagarde zeigen vielleicht am meijten dieſen Stil. Man würde faum zweit von dieſen auf eine einheitliche Lehre oder eine überein- jtimmende Handlungsweije verpflichten fünnen, aber im inneren Rhythmus eines ausjchließlich vom religiögsfittlichen Ideal geleiteten Lebens gleichen fie einander doc) jehr. Und derartige Gemein jamfeiten wollen auch von der vergleichenden gejchichtlichen Be: trachtung anerfannt jein. Denn nicht darauf fommt es an, in wie vielen Eremplaren eine Art verbreitet ijt, jondern welche innere Bedeutung jie in jich trägt. Dieje Bedeutnng aber bejteht darin, daß der hier jo genannte chrijtliche Humanismus ein Stil chrijt- liher Religion ijt, der ſich mit jeder intelleftuellen politijhen und jozialen Entwidlungsjtufe verträgt, weil er jich prinzipiell auf das eigentlich religiös-fittliche Gebiet be- ichränft.

Dieje Stilarten chrijtlicher Religion fonnten hier nur in wenigen Strichen gezeichnet werden, wo es allein galt, darauf hinzuweiſen, daß es jolche ideelle Typen giebt. Dabei ijt die Religion der breiten Maſſen in der Chriftenheit, in der noch ganz andere Ge— danfen lebendig find, theilweije jolche von unvordenklicher ältejter Brovenienz aus der urjprünglichen natürlichen Religion der Kind- heit unjeres Gejchlechtes völlig unberüdjichtigt geblieben. Diejes Element der Volfsreligion, das in Sitten und Bräuchen, in der Bolfsethif, in Aberglauben aller Art fich mächtig erweiſt, iſt gejchichtlich relativ unbeweglich. Es bildet thatjächlich eine Art Schwergewicht, Ballaft, und greift nur dadurd) ein in die Entwid- lung. Hier durften nur Typen perjönlicher Religion aufgeführt werden. Aber Typen wirklicher und lebendiger Neligion. Die lebendige Religion im Unterjchied von dem, was die Piychologie Religion nennt, jchließt immer aud) eine Art von Sittlichkeit in ſich, fie it voll von Vorjtellungen, die dem Gebiet der Phantaſie an— gehören und theils zur Wifjenjchaft, theils zur Kunſt hinüberneigen, fie hat jtetS den Drang zur Bergejellichaftung.

Sodann wurden nur jolche Typen aufgejtellt, die in direktem Zujammenhang mit dem urjprünglichen Chriſtenthum jtehen, als

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der erjten Form einer höchjtperjönlichen Religion, die ſich vermißt, die völlig univerjelle Religion zu werden. Denn dieje Typen zeigen wie das „Chriſtenthum“ es verftanden hat, jich den wechjelnden Bedürfnifjen der fortjchreitenden vornehmlich der abendländijchen Menjchheit anzupafjen und dabei die eigentliche ideale Leitung diejer europätjchen Kultur zu behaupten. Wie alle Typen, jo erjcheinen auch diefe nur verhältnigmäßig jelten in ganz reiner unvermijchter Ausprägung. Verglichen mit der jo viele Jahrtaufende umfafjenden Vorgeſchichte unjerer Religion iſt dieſe ganze Entwidlung innerhalb der Chrijtenheit nur eine Reihe von Metamorphojen, die der vollfommene chriſtliche Monotheismus durchgemacht hat, in jeiner Verbindung mit dem Geijt der antifen, der germanijchen, der romanischen und jlavifchen Völker. Und ficherlich‘ ift dieje Reihe noch nicht abgejchlojjen.

Erſt wenn Die eigentlich religiöje Seite dieſer Erjcheinungen deutlich abgegrenzt jein wird, wird man im Stande jein, das nationale Element und die jonjtigen in Betracht fommenden Faktoren der chriftlichen Religionsgejchichte genauer zu bejtimmen.

L

Mit der Anerkennung Diejer religiöfen Spyiteme im Chriſtenthum als einer morphologischen Klaſſifikation jeiner wichtigjten Erjcheinungen wäre ein neues Prinzip der Vergleichung nicht bloß jondern auch der Erklärung gefunden. Man würde nun Die firchenpolitiichen reignijje jowie die dogmatiſchen, fultiichen und fittlichen Erjcheinungen bis auf dieje Urjprünge zu verfolgen haben. Man würde dann weiter zeigen, wie jich in den Wechjelwirfungen aller dieſer Potenzen die geſammte Kirchen— geſchichte vollzogen hat. Das aufgefundene morphologiſche Geſetz würde einen ähnlichen Dienſt leiſten, wie der von Hegel beſtimmten Geſchichtsbetrachtung die „Dialektif der Idee“ ihn leiſtete. Nur werden hier die Menjchen nicht von einer über ihnen jchwebenden Idee geleitet, jondern die eigenthümlich gejtaltete Religioſität wirft als eine organijatorische Triebfraft in ihnen ſelbſt. So gut wie die Naturforjchung in kleinſten Yebewejen von jcheinbar faſt völlig gleicher Struktur doch einen funktionell verjchiedenen Typus an- erfennen muß, jo gut fann es aud) funktionell verjchiedene Kraft: mittelpunfte religiöjer Energie geben, die dann aud) neue Er: jcheinungen hervorrufen.

Die wiffenfhaftlihen Aufgaben einer Gefhichte der hriftlihen Religion. 57

Die perjönliche Entjtehung und allmähliche Entfaltung dieſer, um einen rezipirten Ausdrud zu brauchen, religiöjfen „Energiden“ zu zeigen, das würde die weitere Aufgabe der eigentlich dar— jtellenden Gejchichte der chritlichen Religion jein. Hiervon auch nur eine Umrißſkizze zu geben iſt unmöglich. Ein Berjuch derart in einer afademijchen Vorlefung wurde gemacht.

Gelänge das Unternehmen zunächſt auch nur in bejcheidenem Mape, jo würde die Kulturgejchichte um ein wichtiges Element bereichert jein.

Die Kulturgejchichte hat nämlich bis jest ich in ziemlich plan— lojer Weije damit begnügt, einerjeitS die Mafjenerjcheinungen der Religion, ihre volfsthümlichen Ausprägungen zu bes rücdjichtigen und dann einige meiſt abjonderlidhe Er: jheinungen perjönlicher NWeligiojität vorzüglich „wunderlicher Heiligen“. Für die planmäßige Beobachtung religiöjer Strömungen, die oft die politiichen, jozialen und fünjtlerijchen geradezu be— dingen, fehlte e8 an Vorarbeiten. Dieje liegen auf dem Gebiet der hier entwidelten Mufgaben, die Religion in ihren perſön— lihen Trägern und ihren innern Zujammenhängen uud dann erit in ihrer Wechjelwirfung mit dem gejammten Kulturleben dar: zujtellen. Denn was wir mit einem jo zu jagen mythologijchen Worte „Religion“ nennen iſt doch ebenjo gut wie „Ehriltenthum‘, „Kirche“ u. dergl. feine jelbjtändige erijtirende Größe, jondern eine Folge innerer und äußerer Zujtände im ein- zelnen lebendigen Menjchen jelber. Die Religion iſt der Menſch jelbjt in einer bejtimmten Poſition ſeines innern und äußeren Lebens. Demnach fann die Gejchichte der Religion ung auh nur die Kette der religiöjen Menjchen und ihre Wirfungen auf andere zeigen. Die Zeit zum objektiven ge: ichichtlichen Verſtändniſſe dieſes Phänomens jcheint gefommen. Es wird nur gelingen bei voller. jubjeftiver Sympathie mit der Re— ligion, die nicht ausjchließt, daß man ihre nothwendigen Schranfen erfennt. Denn höher als die Neligion jelbit it das, wovon fie zeugt: die Welt des Göttlichen.

(Gejchrieben im Juli 1899)

a.

Hildesheimer Kunft.

Von A. Neuberg.

E3 dürfen zwei Städte um die Ehre jtreiten, das „norddeutjche Nürnberg“ zu heißen: Danzig und Hildesheim. Die erjtere fann mit der alten Noris allerdings wetteifern in der Berförperung eines jtolzen Kaufherrengeijtes, darin ragt an die beiden die niederſächſiſche Nebenbuhlerin nicht heran, ihre Gejchichte ift die typiſche einer geiftlichen Stiftsherrjchaft, in der etwas den jtädtijchen Geiſt Hemmendes, Niederdrüdendes lag. Aber überlegen ift fie den anderen darin, daß in die Spuren einer gejchmadvollen und herr: lichen Renaifjance gejtaltend und bejtimmend die Nefte einer weit älteren, in jich gejchlojienen und doch mächtig nachwirfenden Kunit- epoche hereinragen, und zwar einer der ältejten auf deutſchem Boden. Noch heute wird mir warm ums Herz, wenn ich der Tage gedente, in denen Alt-Hildesheims Herrlichkeit mir aufging. Nirgends, außer in Nürnberg, haben mich die Erinnerungen deutjcher Renaiſſance jo umfluthet wie in den Straßen Hildesheims mit ihren zahllojen charakteriftiichen Wohnhäujern aus dem jechszehnten und fiebzehnten Sahrhundert. Goslar ift ähnlich, aber es ijt kleinſtädtiſch, und ein Vergleich würde noch nicht einmal jo ausfallen, wie wenn man Nürnberg und Rothenburg vergliche, Das ift beiden gemeinjam, daß jie, wie baugejchichtliche Muſeen, die zierlichjten Mujter nieder: deutjcher Fachwerfbauten anfbewahrt haben. Hauftein ijt jelten und theuer im Niederlande, daher der fait durchgängige Ziegelbau, aber mit jichtbarem Fachwerk der eichenen Balken und Pfoſten, und, was man in den deutſchen Seejtädten jelten findet, mit viel: jachen, funjtvollen Schnigereien oder Neliefs an den Holzgallerien

Hildesheimer Kunit. 59

und Frieſen. Man denke ſich jo ein Haus in zarten Farben, Die höchjt wirfjame, anmuthige Gegenjäge und Harmonien ergeben, meiſt in dunklen Tönen, tief dDunfelbraun oder röthlich; durchbrochen mit zahlreichen Eleinen Fenſterchen; überbaut von einem jcharfen Spitgiebel, der meiſt ebenjo hoch ijt, wie der Vertifalbau; oft jo fonjtruirt, daß jedes höhere Stodwerf etwas über das niedere heraustritt, jo daß eine drei- bis vierfache Ueberfragung entiteht, die durch ihre Schattenwirfungen das plajtiiche Bild wejentlich hebt. Den Formencharakter hat die deutſche Renaifjance geliefert. Zopf it nur jelten zu jehen, wie verirrt in dieje älteren ‚sormen. Mit dem Dreißigjährigen Kriege jcheint die Fähigkeit, luxuriös zu bauen, verloren zu jein. Wer von den Drangjalen weiß, die die Stadt von 1632 bis 1634 auszuftehen hatte, fann das nur mit Trauer bemerfen. Eine Zeit, in der man an die 300 alte Häuſer nieder: reißen mußte, um Brennholz zu haben, mußte für lange Zeiten ihre Spuren hinterlafjien. Um jo erfreulicher die Epoche, in der jeder halbwegs Wohlhabende jein Häuschen ſich anjehnlich gejtaltet hatte und „lujtig anzujehen“; oft mit wenig Mitteln und jpärlicher Kunit, aber doch zierlich. Hier vielleicht etliche gefehlte Balken mit ge: Ihnigten Köpfen, dort nichts als eine harmonische Stellung des Balfenwerfs gegen einander etwa in gefreuzten Barallelen —, und da wieder irgend eine anziehende Stleinigfeit, faſt unbeachtet in dieſer Fülle interefjanter Einzelformen, etwa eine ſchöne Linien— führung an einer Thür oder ein feiner Holzfries unterm Dache, oder ein leichtes Relief am Thorrahmen im weichiten, techniſch gebildetſten Fluſſe: o man fünnte Wochen lang jtudiren an diejen anziehenden, einen hohen Kunjtgejchmad beweijenden Formen. Wer ganz wenig anzuwenden hatte, lie doch immerhin die Schnigereten, z. B. das befannte Fächerornament der Renaiſſance, täufchend auf jeine Faſſade malen. Der Wohlitand aber it an reichen Schnigereien fenntlich, die zuweilen, wie am „Deutjchen Kaiſer“, jogar mit Gold grundirt find. Dabei ijt es für die Macht der Tradition recht be- zeichnend, daß der Gedanfenfreis der Daritellungen in gewijien typischen Grenzen bleibt. Es fehren immer diejelben Gegenjtände wieder, entweder biblische oder antif-allegorische. Für den eriteren all find mir bejonders die reizenden bunten Reliefs an den Erferchen eines Haujes in der Judengafje erinnerlich: der Traum Jakobs von der Himmelgleiter, an der die Engelchen behende Fflettern, Bileams Ejelin, die ſich altflug umwendet und auf den Seher ein: jpricht, und Anderes mehr, Alles mit jehr Schöner Fernwirkung,

60 Hildesheimer Kunft.

jelbjt in diejer engen Gaſſe. Im anderen alle, wenn die Zauber der Antife wieder erweckt wurden, jind es wohl die allegorijchen GSejtalten der Haupttugenden oder der jieben freien Künſte oder der fünf Sinne oder der vier Elemente oder der neun Mujen; und immer diejelben, halb liegenden, halb fitenden Figuren, oft hand: werfsmäßig nachgeahmt, zuweilen auch ſcheußlich Schlecht, aber doch ſtets einen Zug von Bildung an großen Vorbildern verrathend und eben dadurch Höchit bedeutungsvoll für die Macht der Ueberlieferung über ganze Generationen. Hier lebte offenbar eine Alles mit ſich fortreißende Tradition. Beachtenswerth iſt auch das Serienhafte der Bild: nereien, die nicht einzeln gedacht jind, jondern ſtets einen Ju: jammenbang bilden. Das tjt wohl als direfte Schulung an den Zeiten der Bernwardsfunjt zu verjtehen. An der feinen Hol; ornamentif der „Neujtädter Schenke“ heben ſich aus den tier dunflen Holzfarben in drei Reihen die neun Mujen, neun heid— nische Gottheiten mit ajtronomijchen Beziehungen auf die Planeten, und die neun „Itarfen Helden‘ heraus; unter letteren Alerander, Cäſar, Hektor der Trojaner, Carolus Magnus, Gottfried von Bouillon jehr interefjant für die Gedanfenwelt damaliger Yıldungz. Was man aud) nicht überjehen darf, it die jicher be rechnete malerische Frontwirfung. Am Sims des jogenannten Rolandhoſpitals in der Edemäderjtraße läuft z. B. ein langer Spruch hin: „Simon Arnholt von Hirjfelt bin ich gnant. Das landt zu hejen tft mein vatrlant. Auff den leibn Gott thu id vertrawn. Der woll gnedig dis mein Thun bawn. Der jelb woll mihr dis helffn vollendn. Leib undt jeel begnadn an letztn endt“. Diefer Spruch jett jedesmal dort ab, wo aus der Front ein Erfer vortritt, und läuft nicht am Erferfims weiter, jondern jet, dieſen ganz fahl lafjend, erjt jenjeits wieder an. Der Künſtler hat aljo das ganze Spruchband als vollitändig von einem Gejichtspunft zu lejen gedacht, alles auf rontwirfung berechnet. Das Male: rijche ging ihm über die pedantijche Nichtigkeit. Solche Sprüche finden ſich übrigens majjenhaft, lateinische und Ddeutjche, hoch— deutjche und niederdeutjche, gelehrte und volfsthümliche, philojo: phijche und gemüthliche, Zitate aus den klaſſiſchen Boeten und bib: lijche Sprüche. Hier jpricht die Volfsweisheit: „Mancher ijt arm bej grojiem Gut, Und mancher it reich bej Armuth“, dort bib- liſcher Troſt: „Wir han nur Herberg hie auff Erdn, Im Himel wir ewig wohnen werden“, da eine fräftige Dogmatik: „Dord dinen hillgen dodt leve id, Und werde nicht jteruen ewiglid.

Hildesheimer Runit. 61

Diner uperitandingfe (Auferſtehung) erfreie id mich. Das for— dreujch (verdrießt) den jatan jederlich”, oder die befannten Sinn jprüche: „Wer Godt vortrowet hefft woll gebowet, dat ihme nicht rowet (reuet)“. ,„Wath der Leiffe Godt Bejcheret, dath blifft alles ungewebreth (ungefährdet)'. Dort wieder ein feder Humor: „Wer bawen wil an ?sreier Straßen, Mus fich viel Unnüß Gejchweg nich Irren Laßen“ (übrigens ein Zeugniß für die übliche Kritif an Neubauten, die ein reges Wolfsinterefje beweiſt). In den reformatorischen Wirren, noch vor öffentlicher Zulaſſung evange— liſchen Bekenntniſſes, 1539, jchrieb ein muthiger Bürger an fein Haus (im Kläperhagen): „Virtus cessat, ecclesia turbatur. cle- rus errat, demon regnat, simonia dominatur“. Die Pracht: eremplare der alten Häujer jtehen am Markt, vor Allem das welt: berühmte Amthaus der Knochenhauer, d. h. Zunfthaus der Fleischer. Es iſt bis zu dem hohen, jpiten Giebel, der dem Markte zugefehrt it, nicht weniger als fünfmal fräftig überfragt und von oben bis unten bemalt und mit reichiten Schnitereten bededt; dabei aber, in dem Gewirr der Balfenköpfe und Sodel und Reliefs und Frieſe von einer Harmonie, Abtönung und Ruhe der Farben, die höchit bewundernswerth it. Ernſter jchauen an der andren Marftjeite das Wedekind- und das Templerhaus drein, beide dicht nebenein- ander und nur durch das Judengäfchen getrennt; eriteres jehr tenjterreich, mit drei Giebeln jchön errichtet; letzteres einer der jeltenen Haujteinbauten der Stadt, mit jeinem grauen, todten Stein jeltjam zu den bunten Tönen ringsum fontrajtirend, eine Art Kajtell, dem Nafjauer Haus zu Nürnberg ähnlid), mit mächtiger, wagrecht abgejchlojiener und thurmgefrönter Faſſade, aber durch den jchönen Erfer, durch mancherlei Reliefs und Ornamente doch ins Allgemeine eingepaßt. Die drei Häufer und auch die übrigen, ferner das Rathhaus und der Stadtbrunnen davor, der die übliche Nolanditatue trägt, geben dem Marftplag ein Ausjehen von jo jcharfem, bejtimmtem Charakter, jo erniter Würde und doch jo malertjcher Gejtaltung, daß er wohl jeines Gleichen fucht. Das, übrigens trefflich rejtaurirte Rathhaus mit einem romanijchen, zwei gothijchen Giebeln und einem dunfel gehaltenen Fachwerfanbau it wie eine Stilmujterfarte, dabei burgähnlich und doc) nicht jtörend. Auf drei fräftigen Strebepfeilern jtehen in ziemlicher Höhe die drei ihönen Steinjtatuen eines Bijchofs, eines Kaiſers und eines Bürger: meijters. Anmuthiges Leben bringen in die Steinmajje die grünen Yinden vor dem Nathhauje, hinter deren Zweigen man in dem

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tief eingezogenen Yaubengang des unteren Stocdwerfs das geſchäftige Treiben der Leute jieht. Wer das Innere des Baues bejucht, wird jih an der Schönheit und Stattlichfeit des großen Prunfjaales erfreuen, eines der prächtigjten, die deutjche Städte aufzumeijen haben. Er erjtredt jich durch drei Stodwerfe und gewährt mıt jeinen dunflen Dolzdeden, jeinen Yauben, jeinem jchönen Gejtübl, jeinen Fresken und vor Allem mit dem mächtigen Fenſter der einen Wand, durch welches eine Fluth von Licht jtrömt, das lebensvolle Bild der Nathsherrlichkeit einer alten Sladt jtolzen und fraftvollen Geiſtes. Die großen Wandfresfen, von Hermann Prell gemalt, erinnern die Epigonen fräftig an die Höhepunkte der Hildesheimer Gejchichte, an Biſchof Bernward, an den Sieg bei Bledenitedr, den 1493 die jtädtiichen Schaaren unter Führung ihres Bürger: meiſters Henning Brandis über den Herzog Heinricd von Braun- jchweig erfochten („It was eyn jtridfid mangelinge“, d. h. ein ftreit- bares Gefecht, jchrieb Brandis in dem Briefe, den er am Abend der Schlacht „mit hajte gejereven“; „de allmechtige ewiae god unde unje uterforen Hilgen (auserforenen Heiligen) unde patronen be: jchermeden uns, dat wij den famp behelden, greppen (griffen) vele fangen, wunnen (gewannen) reyfige have, des hertogen twe jlangen (zwei Feldſchlangen) unde I jteinbuffe (Steinbüchje), od ander boigkbuſſen (Bodbüchjen, aufgelegte Geſchützrohre), vele waghen mit provanden (Proviant), V tunnen crudes (traut, Pulver), jo dat id in grote ere unde erlicheit (Herrlichkeit) lopt (verlief), god ſij ewich gelovet.“). Auch Bugenhagens Einzug in die reformirte Stadtkirche, die Erjcheinung der heiligen Jungfrau vor Kaijer Yudwig dem Frommen, dem fie im Rofenjtrauch das Modell des Domes zeigt, und zulegt Kaiſer Wilhelm I. find dargeſtellt; es iſt etwas pathetiiche Hijtorienmalerei, ähnlich der im Goslarer Kaijer: haus, aber nicht ganz ebenbürtig, jedenfall® aber an ihrer Stelle höchjt wirkungsvoll. Unter den interefjanten Häufern der Stadt will übrigens eins nicht vergejjen fein, das ſogenannte „Kaijerhaus“ am Langenhagen, ein gejchmadvoller Nenaifjancebau nach italientjcher Art, an dem in hohen Steinfiguren und in gegen fünfzig Medaillons die römischen Kaiſer und Helden angebracht jind, eine gelehrte Spielerei, die den Gedanfeninhalt wie den Formenſinn des jeche- zehnten Jahrhunderts vortrefflich wiedergiebt; an der Hoffafjade hat der Künſtler jic) eine Güte gethan in dem reichen, neuen Formenſchatz der Nenaifjance, hat aber auch dem deutjchen Bau: material mit feinem Zinn jchöne Formen verliehen man muß

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3. B. die Eleganz der Dachziegelfaltung bewundern. An anderen Häujern find es Gejtalten aus der firchlichen Vergangenheit der Stadt, die man angebradht hat. So hat 1616 an der Straße „Hückedahl“ einer die Jungfrau Maria, den Evangeliiten Yufas (als jeinen Namenspatron) und die großen Bijchöfe Bernward und Godehard anbringen lafjen. Ein jchönes Zeugniß der Ehrfurcht vor alter, großer Zeit; der Kunſtſinn vergaß nicht an feine Quellen dankbar zurüdzugehen. Dieje Quellen lagen in der Zeit des großen Bernward.

Um den Geijt Ddiejer älteren, fonjtitutiven Epoche auf uns wirfen zu lajien, wandern wir am beiten nach der Nordweitjeite der Stadt. Dort steht am hohen Wall die Michaelsfirche. Als Kaifer Otto III. ihm eine Bartifel des heiligen Kreuzes ge- ichenft hatte, jtiftete dort auf der Höhe Bilchof Bernward eine Kapelle und fiedelte 996 ſechs Benediftiner an. Er wollte aber noch höher hinaus und legte „anno dujent ein“, von Rom zurüd- gefehrt, den Grunditein zu einer der bedeutenditen Kirchen, die in deutjchen Gauen jtanden; ıhre Weihe hat er 1022 noch jelbit voll- zogen. Die Anlage mit Doppelchor und flanfirenden Thürmen war an dem alten Plan von St. Gallen orientirt, aber jie war noch monumentaler gedacht durch zwei Querjchiffe, die das Längs— ichiff vor den beiden Chören freuzten und den Grundriß jo zu einem Doppelfreuze erhoben. Zwei Thürme über den Kreuzungen und vier an den Eden gaben ein impojantes Anjehen jo zeigt noch ein altes Modell die Ktirche. Leider ift jie durch Umbauten, Brände und rohe Eingriffe wejentlich zeritört der Oſtchor iſt ganz abgejchnitten worden; anfangs unjres Jahrhunderts wagte man es, das ehrwürdige Denkmal zum Teile abzubrechen und zu der in den angrenzenden Klojterräumen (noch heute) untergebrachten Srrenanjtalt zu ziehen; damals war in dem einen Seitenjchiff eine Kegelbahn. Tritt man jet von Oſten heran, jo jteht man vor den beiden noch übrig gebliebenen Bernwardsthürmen, die in ihrer verwitterten, dunklen Steinmaſſe und ihrem feitungsartigen Charakter höchſt ernit, faſt düſter dreinjchauen; es redet ein über: mächtiger, jtarfer Geift aus diefen Gebilden. Wenn fic) aber die Pforte ins Innere erjchlojjen hat, jo umfängt uns auf einmal der herrliche Eindrud feierlicher, ruhiger, aber durch überaus jchöne, weiche Farbenverbindungen belebter, fait anmuthiger Verhältnijie. Wir jtanden zum erjten Male unter dem Eindrud einer romanischen Kirche altjächjiichen Styls, der flachgededten,

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freuzförmigen Bafilifa. Hier iſt unmittelbare Anlehnung an Die altchrijtlihe Bauweije, allerdings ein Nücdjchritt Hinter Die farolingiiche, die bereit3 an den Problemen des Wölbungstechnit gearbeitet hatte, ein Zurüdbleiben auch hinter der wejtdeutjchen Baufunjt, die jich fonjtruftiv weiter wagte, aber andrerjeitS ein feiner Sinn für die altchriftliche Harmonie und äjthetiiche Wirkung des Gotteshaujes, der um jo bewunderungswürdiger tt, als er mit für damalige Zeit Fühnem Griffe die Schönheit jüdlicherer Formen erfaßte und in dieſes nordiſche Yand verpflanzte. Es fehlt noch ganz das Empordrängende jpätromanijcher und gothiicher Kunſt, es fehlt die Kühnheit des von Gedanfen getriebenen Hoch— baus, es herrjcht nur die ruhige Schönheit, die jozujagen abjolute Schönheit. Was Mozart in der Muftf it, das redet aus Diejer Kunſt. Mit jchöner Behaglichkeit, Wärme, Feierlichkeit it ein Haus gebaut, in dem man fich wohl fühlt, ein Haus der Ruhe, in dem der äußere und innere Friede garantirt erjcheint, in dem noch nicht vom unruhigen Geiſte gothiicher Bauart das Ge: müth aufgerüttelt und mit ungejtümer Macht nach oben gedrängt wird. Gänzlich auf Säulen zu bauen, das wagte man allerdings nicht mehr in dieſen großen Verhältniſſen. Zwijchen die Säulen, die das Mitteljchiif jtügen, ſind Pfeiler eingejchoben, aber noch in der Minderzahl. Dem reinen Säulenjyjtem traute man offenbar nicht mehr, aber man veritand es auch noch nicht oder man ver: ſchmähte es auch, nur mit Pfeilern zu bauen und dieje kunſtvoll zu gliedern. Die vier Pfeiler in St. Michael find jchlicht, ſchwer und jteif, man nahın fie als Nothbehelf hin und wandte umjomehr Kunſt auf die Säulen. Die meijten diejfer vor uns jtehenden, mit mächtigen, prächtig, ja üppig verzierten Stapitälen gefrönten Säulen gehören allerdings erit dem 12. Jahrhundert an. Aber die beiden erjten zur Nechten jind noch Nejte Bernwardjcher Kunſt. Sie find jchlichter, aber überaus jchön durch jenen Wechjel des gelblichen und des zartrothen Tones, der nach alten Zeugnifien eine bejondere Kunjt Bernwards war (er ließ in demjelben Farben: jtil auch die Mauern und Thürme der Stadt errichten). Antike Bildung beweifen die einfache attiſche Bafis und der feine Berl: jtab am unteren Rand der Dedplatte ; germanischen Fortjchritt zeigt das Kapitäl, dejjen nach unten geſchickt abgerundeter Würfel den durch die deutjche Kunſt erfundenen Uebergang der Rundjäule in den quadratiichen Durchjchnitt der Bogenmauer bildet. Man jteht mit einer Art Ehrfurcht vor diejen fait neunhundertjährigen

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Zeugen einer kraftvollen, das „Strenge mit dem Zarten“ verbindenden Bauart. Aeußerſt interejjant ift, daß man an den Würfelfapitälen Namen entdedt hat: Si. Yppoliti Martyris,Si. Audentii Confessoris, Sae. Agathae Virginis, Sae. Teclae. Ob die Säulen wirklich, wie alte Zeugniſſe berichten, Neliquien diejer Heiligen enthalten oder ob jie ihnen nur geweiht waren, haben wir nicht erfahren fönnen. Neuere Gelehrte (z. B. Dehio) meinen, in diejen Zuthaten ein ängjtliches Mißtrauen in die Tragkraft des Säulenbaues, ein Suchen nach jichernden, höheren Gewalten jehen zu müſſen. Es fönnte dem entjprechen, daß man St. Agathe, die Patronin wider ‚seuersbrunit, St. Thefla, der das Feuer nichts anhaben fonnte, u. dergl. auserlas. Aber man fann auch eine mehr ideelle Er- flärung darin juchen, wie uns jcheint, daß, dem jymboltjchen Charakter altromanijcher Kunjt gemäß, ein NAusdrud des Vertrauens der Kirche überhaupt, der Kirche als einer geiltigen Macht, auf die hohen Nothhelfer für ihr ganzes inneres Sein und Wejen gegeben werden jollte; der Zug in die Höhe war da, aber man fonnte ihn noch nicht technijch zum Ausdrud bringen, und jo that man es durch ideelle Mahnung. Diejem verborgenen Zug in die Höhe entipricht auch der wundervolle Abjchluß der Kirche zu Häupten der Gemeinde: die außerordentlich jchöne Malerei an der Holzdede. In edler, erhabener Zeichnung und mit klaren Farben, die ſich bei aller Yebhaftigfeit zu einem würde: und rubevollen Eindrud vereinigen (im Gegenjat zu den jonit jo zerjtreuenden, abziehenden Decken— malereien), hat im zwölften Jahrhundert Abt Rathmann den Stammbaum Chriſti gemalt, die im Mittelalter beliebte „Wurzel Jeſſe“ (noch heute in Hildesheim „Ielle-Boom‘ genannt), indem er auf acht großen, roth oder blau grundirten ‚zeldern Adam und Eva, Jeſſe, David, Salomo, Hiskia, Joſia, Maria und Chriſtus, Yebteren als den Berherrlichten, Thronenden, in feterlichiter Haltung malte und jie auf fleineren Feldern mit den Propheten, Evangeliten u. j. w., jowie mit allerlet Allegorien und Arabesken umgab. Es ijt wie eine Uebertragung der Bücherminiaturen ins Große. Eine ſchönere Dedenmaleret haben wir nirgends gejehen. Wandert man weiter, jo erjchließt jich, bejonders von den Zeitenjchiffen und vom Chore aus, immer reicher und jchöner das Bild der freien, groß: artigen Halle mit ihren prächtigen Säulen, und man bedauert nur, dat der Bau durch Einbauten (jogar ein Stüd Kreuzgewölbe in der Vierung) zerjchnitten und gejtört it. Das nördliche Querjchiff iſt noch in der ältejten Anlage erhalten; es zeigt drei Säulen Preußiihe Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 1. 5

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arfaden über einander, die jedenfallS den Frauen im Stloiter angewiejen wurden; denn wenn auch nach den alten Statuten nur „ſieben bejahrte“ ich darin aufhalten durften, jo willen wir doch, daß deren um 1247 eine Menge war, die ebenjo das Budget wie den Ruf des alten Benediktinerflojters gefährdete. Der Chor üt vom Querjchiff durch eine hohe Steinjchranfe abgejchlofien, die allerlei plaſtiſchen Schmud trägt: innen zwei feine Frieſe mit Engelchen und fabelhaftem Gethier, außen die größeren, früher vielfarbigen Statuen der Maria, vierer Apojtel und der Bijchöfe Bernward und Godehard, in einem gewiſſen freien Stile, aber nicht an die jchönen Werke romanijcher Plajtif reichend, wie ſie ın Bam— berg, Naumburg, ‚Freiberg, Wechjelburg entitanden. Was jonit ın der Kirche zu jehen it, gehört jpäteren Zeiten an und iſt nicht jo bemerfenswerth, bi8 auf das Chorgejtühl des jechszehnten Jahr: hunderts mit jeinen unruhigen Schnigereien und einen jchönen ‚slügelaltar von dem Wejtphalen Naphon (1509). Unter dem Lit: chor ijt die alte Bernwardsfrypta, für ſich zugänglich, weil katholiſch geblieben. Nachdem er über zwanzig Jahre an jeiner Lieblings: firche gearbeitet, gejonnen, geopfert hatte, wollte der Biſchof an ihrem Fuße begraben jein, und jo meißelte er dort neben einer Duelle jelbit jeinen Sarfophag, den er mit allerhand apofalyptijchen Figuren zierte; die lateinische Inschrift ſchließt demüthig: Ah, das gewaltige Amt hab’ ich nicht würdig verfchen: Ruhe ſchenke mir Bott: finget ein Amen für mid!

Sn Frieden ruhen bleiben durfte er freilich nicht, denn der heilig gejprochene Yeib wurde erhumirt und in St. Magdalenen aufbewahrt einen Arm und das Haupt erhielt die Domfirche.

- Man jollte übrigens nicht verjäumen, den noc) erhaltenen Theil des nördlichen Kreuzgangs (von der Jrrenanjtalt her) aufzujuchen. Er gehört zu den jchöniten jeiner Art und bietet in den Weber: gangsformen des dreizchnten Jahrhunderts, in malerijchen Blend: bögen und jcehmudvollen Arkaden, in romanischen Ornamenten an bereits gothiſchen Konitruftionen und in prächtigen Berjpeftiven ein überaus malerijches Bild,

Nach der jchönen Architektur von St. Michael bringt die An- jchauung des berühmteiten Gebäudes von Hildesheim, des Domes, zunächit einige Enttäujchung. Das Aeußere defjelben it durch prinziploje Zuthaten verunjtaltet und unwirkſam geworden; man fann nicht einmal die Gliederung flar erfennen. Nur die, freilich erſt vor fünfzig Jahren erneuerte, doppelthürmige Weſtfaſſade wirft

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Durch ihre ruhigen Berhältnifje, durch reinjte und edeljte Gliederung und durch eine gewiſſe Pracht romantischer Formen jehr wohlthuend auf das Auge des Beſchauers; es ijt, im Vergleich zu den majfigen Ihürmen von St. Michael, ein reinerer, mehr deforativer und reiferer Formenſinn in dieſer hellglänzenden, leicht emporgeführten Ktonitruftion. Betritt man nun durch den Vorbau, das „Paradies“, des Domes Innere, jo naht die zweite, noc) ärgere Enttäujchung: das an ich Schöne romanische Syjtem wieder in dem jchon in der Michaelsfirche bemerkten Stügenwechjel it jchaurig verzopft und vertüncht, ſodaß jeder Blid weh thut, wiewohl man zugeben muß, daß die Verzopfung nicht jo gänzlich tödtend wirft wie etwa an gothiichen Bauten. Hier dringen doc) das edle Arkadenſyſtem, die jchöne Säulenordnung und die jtattlichen Oberwände kräf— tiger durch. Innerhalb diefer Räume nun erwartete uns zu reichjtem Genuß eine Fülle hervorragender Kunſtdenkmäler. Das erite find die hohen Erzthüren, die das Paradies vom Langichiff trennen: des heiligen Bernward berühmte Bronzethüren, die er mit jeinen Gehilfen 1015 anfertigte. Sie find verwandt mit dem Erzportal am Augsburger Dome, aber jie jind höheren Alters, daher auch primitiver in Technik und Kunſtform, und dennoch weit wirkungs— voller. Der funftfinnige Bischof hat, wie ſonſt öfters, die Idee gehabt, eine Art bibliiche Gejchichte für das Volk, eine Art biblia pauperum, zu jchaffen, aber nicht naiv erzählend, jondern, ganz im Sinne jeiner refleftierenden Zeit, geheimnißvolle Zuſammen— bänge gebend. Das Drama von Sünde und Erlöjung bewegte ihn, und jo jtellte er die Urgejchichte der Menjchheit und die Ge- Ihichte Ehrifti auf je acht Feldern unter geiltvollen Gegenüber: itellungen dar. Seltjam plumpe Figuren mit häßlichen Gefichtern und unrubigen Bewegungen, jcheinbar ohne jeden Sinn für Grup: pirung, dem ungeübten Auge gewiß wunderlich! Und doch wird nähere Betrachtung finden, wie jchön Dies und jenes gedacht iſt, jo die Familienſzene des hadenden Adam und der jäugenden Eva, die unter einem an den Baumäjten verjchlungenen Mantel jißt, oder die Verkündigung Mariä, das Ave Maria. Die beiden Ge— italten des Engel® und der Jungfrau gleichen ja zwei buclichen alten Weiblein, die mit tief gebeugten Köpfen von unten ber eins nad; dem andern jchauen, und doch, welche gemütbliche deutjche Auffaſſung, welches eigenthümliche Leben in diefer Gruppe! Oder man jchaue die Kreuzigung an: welch feiner Sinn für Symmetrie bat die beiden Striegsfnechte zur Nechten und zur Linfen ans 5*

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geordnet, den einen mit der Lanze, den anderen mit dem Eſſig— ihwamm am Stabe, die nach dem Haupte des Gefreuzigten fonvergiren, und noch weiter nad) außen hin, aljo ganz gegen Die jonjtige Anordnung, Johannes und Maria. Auffallend ift die ganz betjpiellos freie Behandlung des Neliefs: während die Unterförper fait unmerflich jich vom Grunde heben, treten die Oberleiber und Ktöpfe ganz frei heraus, eine unebenmäßige, unklaſſiſche Art, Die das Wejen des Reliefs noch nicht erfaßt hat. Nach welchem Bor: bild Bernward hier gearbeitet hat, it lange dunfel gewejen. Wor jieben Sahren hat ein eingehendes Studium der inhaltlich merf- würdig ähnlichen, aber freilih in Holz gejchnigten Thüren der alten Bajilifa San Sabina auf dem Aventin zu Nom etliche Forſcher zu der VBermuthung der Abhängigkeit geführt Thatjache it jedenfalls, daß Bernward, als er 1001 in Rom weilte, im faijerlichen Balajt auf dem Aventin wohnte und jeden Tag das Kunſtwerk von San Sabina vor Augen hatte. Die Uebertragung in Erzguß fommt immerhin auf feine Nechnung. Darin war er ein echter Sohn jeines deutjchen Volkes, das, wie befannt, von jeher eine große Vorliebe für die Metallfunit zeigte wird Doc in alten Sagen die Schmiedefunft jelbjt des Helden für würdig erachtet. Ein andres derartiges Gußwerk it im jüdlichen Kreuz: ſchiff aufgejtellt, die Bernwardjäule. Er hatte in Nom die Trajanjäule gejehen, und ihm war fein Stunjtgedanfe zu groß. Sp machte er jich daran, das achtfach gewundene Erzband einer etiwa fünf Meter hohen Säule mit 28 Neliefs zu jchmüden. Das Leben Chriſti war der Stoff, aber diesmal von der Taufe bis zum Balmeneinzug, alſo die große Lücke zwijchen den nur Jeſu Kind: heit und Paſſion daritellenden Tafeln der Erzthüren. Soweit nicht die Spuren abjichtlicher Bejchädigung (bejonders im Bilder: jturme 1544) zu jehen find, iſt das Werf trefflich erhalten und durch die Schöne grünliche Patina belebt, das Relief ift merklich gejchiekter behandelt ; überhaupt ein nach Größe des Gedanfens und Trefflichfeit der Ausführung bewundernswerthes Werf. Die gleiche Kraft der Konzeption beweiit auch der mächtige Kronleuchter des Domes; er iſt auch eine Idee Bernwards, wenn auch erit nach jeinem Tode vollendet. Es giebt nur vier derartige alt: romanische Nadleuchter in deutjchen Yanden, und unter diejen it der große Bernwardleuchter der größte und jchönjte. Er mit nicht weniger als jieben Meter im Durchmejjer, neunzehn im Um: fang, und trug einjt in jeinen Ihürmchen und Sinnen aus ver:

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goldetem Kupferblech und getriebenem Silber 72 Sterzen. Es jollte das himmlische Ierufalem jein, die Stadt der triumphirenden Kirche, die über der im Schiffe ſitzenden jtreitenden Gemeinde leuchtete ; daher Ddieje goldenen Mauern, Zinnen, Thürme und Berlenthore. Die Silberjtatuetten der zwölf Apojtel haben die ichwedischen Soldaten im großen Striege ausgeführt. Die lautere Schönheit des ganzen Werfes muß jeden ergreifen. Wie hat es der gentale Künftler veritanden, die großen Gedanfen feiner Kirche zu wundervollem Ausdrud zu bringen! Jahrhunderte haben fich daran erquidt und gebildet. Und noch viel mannigfaltiger foll jeine Kunſt fi) uns erſchließen. Wir erwähnen deshalb nur bei- läufig das ſpätromaniſche Taufbeden im wejtlichen Seitenjchiff, jo herrliche Gußtechnif nach Bernwards Vorbild und jo aus- drudsvolle Schönheit der plajtiichen Darjtellung es zeigt, und werfen nur einen Blick auf die jehr problematifche Irmenſäule vor dem (übrigens äußerjt funjtvoll in Stein gearbeiteten) Lettner es joll das Gößenbild des Arminius jein, dem als dem Kriegs— gott die Sachſen Opfer brachten, bis es Karl der Große auf der Eresburg niederlegte ; indeß das jchmudloje, marmorähnliche Säulengebilde wird wer weiß woher geholt jein. Wir juchen die Domjchagfammer auf, in der uns der Küfter Wichtiges zu zeigen hat. Da iſt der Goldfeld, an deſſen Fuß und Knauf gewiß Bernward jelbit die jchönen Edelſteine, bejonders den föjt- lichen Topas, und die Gemmen und Steinjchliffe befejtigt hat, übrigens mit jo unbefangener Freude an der antiken Kunit, daß er eine Gemme mit den drei Grazien in befannter Nadtheit unbedenklich in das Weihgefäß fügte. Da it Bernwards Krummſtab, dem aber ein großer Meijter jpäterer Zeit den Schmud glänzender Gothif verliehen hat, des Biſchofs jeidengewobenes grünes Kleid, das man in feinem Sarge fand, eine funjtvolle Weberei voll feiner Ornamentif, jein geometrijcher Koder, der vor ihm lag, wenn er den jungen Kaiſer Otto unterrichtete, auch herrlich ge: ichriebene und reich gezierte Meh- und Evangelienbücher aus feiner Zeit (eins übrigens vom Abt Rathmann an St. Michael, deſſen Kunſt wir jchon bewundert haben). Da jind auch Kopien jener drei berühmten Erzeugnijje Bernwardjcher Kunſt, deren Originale in der fleinen Magdalenenfirche aufbewahrt werden (die Kopien im Domjchag erjegen die Betrachtung dieſer Originale): des goldnen Bernwardsfreuzes, mit dem er 994 jene Kreuzpartifel um: jchloß, und der beiden Standleuchter, die man auch in jeinem

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Sarge fand. Das Kreuz ijt einen halben Meter hoch, in Gold getrieben und mit über zweihundert Edeljteinen und Gemmen verziert; es ijt jein Attribut geworden, faſt das Wahrzeichen von Hildesheim die Aebte des Klojters, die Goldjchmiedzunft führten es in ihren Siegeln, und faum iſt ein Bernwardsbild ohne Diejes Kreuz zu finden. Die Leuchter, ziemlich ebenjo hoch, jymbolifiren aufs Schönjte den Zug zum Lichte die Blide der Eleinen Figuren jind aus der Tiefe nach oben gerichtet. Eine Injchrift bejagt, daß Bernward die Stüde durch einen Gehilfen (puer) „nicht aus Gold, auch nicht aus Silber, und doch aus Gußmaſſe herſtellen lieh,“ aljo in einer neuen Legirung. Man wird nicht müde, Die Er: zeugnifje dieſer ebenjo prächtigen wie feinfinnigen Kunſt des großen Biſchofs zu bewundern. Was jonjt im Domjchag it, das alte by: zantinijche Serufalemfreuz, ein Gejchent Ludwigs des Frommen, ein herrliches Flügelaltärchen mit einer Verfündigung von Fieſole, ein Stüd eines Kruges von Cana, dergleichen man auch jonit findet (3. B. in Quedlinburg) in Wahrheit wohl ein Ueberreſt jener großen Weingefäße, die die alten Chriltengemeinden für ihre Opferjpenden brauchten —, tritt in zweite Linie.

Bon der Domjchagfammer führt der Küſter gewöhnlich in den benachbarten fleinen Domhof. Das ift wie eine Welt für fich, ein nicht eben großes Stück Erde, unter deren grünem Raſen die ver: jtorbenen Domberren alter und neuer Zeit ruhen; auf der einen Seite die Dftapfis des Domes, auf den übrigen drei die Doppel: gejchojjigen Kreuzgänge, aljo ein vollfommener Abjchluß gegen die Welt, wie ein Bild der treuga Dei, des Gottesfriedens ım Schatten der Kirche. Hier it an der Domapjis der weltberühmte Rojenjtod zu jehen, der angeblich) taujendjährige, in Wahrheit faum viel über Ddreihundertjährige; an jeinem gebrechlichen Leibe doftern jeit Jahrzehnten die Gärtner, er jcheint doch altersjchwad) zu werden; im Herbſte, als wir ihn jahen, war es ein jchmächtiges, dürres Gewächs; aber ehrwürdig it es Durch jeine Sagenmwelt. Kaiſer Yudwig der Fromme, erzählt Frau Sage, ließ einjt bei der Sagd im Walde ſich Meſſe lejen, das heilige Gefäß ward an einem Strauche aufgehängt, dann ruhte der Kaiſer. Als er er wachte, war ein Wunder Gottes gejchehen. Ringsum, mitten im jommerlichen Blühen und Grünen der Büſche, war heiliger Schnee ausgejtreut, und das Goldgefäß am wilden KRojenjtrauch war jo jejt mit den Zweigen zujammengewachjen, daß feine Hand es löjen fonnte. Da erfannte der Kaiſer des Himmels Fügung und lieh

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in den Mejten des Wunderjtrauches einen Altar und darüber Die Domfirche des Bisthums errichten, das er von Elze hierher ver: legte. Schöner als der Strauch it das unvergleichlich jchöne Architefturbild der Kreuzgänge mit ihren Ddoppelitöcdigen Rund: bogenarfaden und der anmuthigen Fülle von wildem Weine. Eine Harmonie und eine Stimmung ift in Ddiejen Xinten und Ber: hältnifjen, die ergreifend wirft. Die lebendige Staffage von Male: rinnen, die von allen Seiten das jchöne Bild zeichneten, war mir ganz begreiflih. Schön find auch die ehrwürdigen Grabjteine in den unteren Kreuzgängen, zum Theil jogar außerordentlich jchön, bejonders der des Biſchofs Adelog aus dem zwölften Jahrhundert, jenes thatfräftigen Bijchofs, der mit Erfolg jeine Rechte jelbjt gegen den gewalttätigen Herzog Heinrich den Yöwen wahrte. Der Künstler hat ihn in einem prächtigen, weihevollen Hochrelier ab- gebildet, um welches die weltflüchtige Injchrift geführt iſt: Gloria, forma, genus, mundana, probabilis, altum transit, mancet, abit. Haec modo clamo tacens. Ora pro me! (Srdijcher Ruhm gebt dahin, liebliche Schönheit verblüht, hoher Adel vergeht; dies nur predige noch ich jchweigjamer Mann; bitte für mich!) Ein andrer Grabjtein rühmt die Barmherzigkeit des Priejterd Bruno, den Die Armen laut beweinten. Aus dem Streuzgang führt ein „vers Ichwiegenes Pförtlein“ in die nahe Domſchenke, wo jich einjt gegen Abend die Dombherren mit ihren Freunden aus der Stadt zur „Bapenjtunde“ zu verjammeln pflegten. Der Weltruf des Lokals gleicht dem des Nürnberger „Bratwuritglödle*, bejonders jeit Sulius Wolff in jeinem Epos „Renata“ den Ruhm des „hochge: giebelten Weinhaujes* gejungen hat. Nein Fremder wird an diejer alten caupona vinaria ecelesiae cathedralis vorübergehen, obwohl darin faum etwas mehr zu jehen iſt als eine Roſe im Glaſe auf dem Stammtifch, über dem einjt an der Dede die Roſe gemalt war, damit „zu verjchwiegener Berathung“, im traulichen Erfer man sub rosa jich bejprechen fonnte, und, was nicht zu ver: gejjen, ein gutes Weinchen im Glaje, „denn auch heute noch ver— zapft man dort recht achtungswerthe Tropfen.“

In einer Nebenfapelle des Domes werden Nejte eines hinter dem Hochaltar aufgefundenen merkwürdigen Zußbodens aufbewahrt; der funftjinnige, um Hildesheims Kunſtdenkmäler hochverdiente Dr. Römer trat 1850 zufällig unter die Arbeiter, die die Dielen im Oſtchor erneuerten und die darunter herausgebrochenen Gips— platten achtlos bei Seite warfen; er erfaniıte mit Stennerblid, was

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bier im Spiele war, und rettete die Nejte, aus denen ſich noch ein Bild des alten Gefüges ergiebt. Man hat zu wirklicher Mojatt, als Bijchof Hezilo 1077 die Chorapfis ausbaute, feine Mittel gehabt und deshalb eine Art Nachahmung erjtrebt durch ein Verfahren, wie man es jonjt nirgends gefunden hat (neuerdings übrigens in der Godehardificche nachgeahmt): man jchnitt die Konturen der Zeichnung in Gipsmafje ein und gab ihnen mit Holzfohle und Röthel Schwarze und rothe Färbung. Die Zeichnungen jtellen Iſaaks Dpferung und Melchijededs Opfer fein gedacht für den Plat hinter dem Meßopferaltar und verjchiedene Allegorien (3. B. die „Zeit“ als ein Haupt mit drei Gefichtern, äußert gejchidt, ja raffinirt fomponirt) dar und erinnern an pompejantijche Künite. Das Werk ift ein neuer Beweis für die alljeitige Triebfraft und Erfindungskraft, die Bernward in die Kunſt jeines Jahrhunderts gelegt hatte. Man tritt nad) Verlajjen des Domes gewih in ehr: fürchtiger Bewunderung vor jein Denkmal unter den jchönen Linden des großen Domhofes. Es ijt 1893 bei der großen Bernwarbd: Jäfularfeier aufgeitellt worden (wo einjt die Bernwardjäule jtand). Harter hat den Bijchof mit Krummjtab und zum Segen erhobener Nechten dargejtellt, zu den Füßen das Modell feiner Lieblings- Ihöpfung, der Michaelskirche, und eine Nachbildung des Goldfreuzes. Drei Reliefs charakterifiren den Bijchof, den Lehrer, den Künſtler. Diefer Bifchof muß ein Univerjalgenie gewejen jein. Was die Künſtler erzählen, übertreibt gewiß jeine perjönliche Handfertigfeit. Danach wäre er Architekt, Maler, Bildner, Schniger in Holz und Elfenbein, Rothgießer und Goldjchmied gewejen; dazu fommen die chroniftischen Angaben, daß er auch Arzt war, ferner, daß er Dad} ziegel erfand („nach eigener Erfindung ohne Anweifung‘‘, wie jein Biograph IThanfmar erzählt) und überhaupt den Ziegelbau in Deutjchland einführte. Seine perjünliche Thätigfeit an den wid) tigiten Werfen unbejtritten lajjend, mögen wir doch wohl mehr glauben, daß der bedeutende Mann die neuen Ideen angab, den neuen Geijt fand und mit jouveräner Gewalt Hildesheims Kunit- leben jo erregte, daß die Bewegung noch heute nachzittert. Et gehörte zu den begnadigten Menjchen, die die befruchtenden Waſſer verjchtedener Quellen in jich aufnehmen und zu einem vollen, jchönen Fluſſe vereinigen, der von ihnen aus Leben jchaffend durch Land und Volk ich ausbreitet. Was er in fich aufnahm, waren zuerſt die Schönen Vorbilder der alten Kunſt jeine Nomreije war eine geichichtliche Zügung —, dann die Nunjttraditionen der deutjchen

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Heimath ein gut Theil deutjchen Wejens it in ihm (vgl. was wir oben über jeine Metalltunit bemerften), ferner der reiche firch: liche Gedanfenkreis, die Myſtik, das Grübelnde jeiner Zeit, und vor Allem auch das ejchatologijche Wejen, das durch die Erwartung des Weltendes um 1000 bewegte Nachjinnen über die Wunderereignijie der Zukunft. Er it zugleich ein tüchtiger Biſchof gewejen, der Die Hechte feines Sprengel® gegen den Mainzer Erzbijchof im Streit um Gandersheim fräftig zu wahren veritand, und jo jteht er in der Erinnerung als das bedeutendite Beijpiel jener Männer in Stola und Kutte, die jorgenden Sinnes die Kunſt durch unruhige Zeiten leiteten, während, was jonit an der Spitze des Volkslebens jtand, der Jagd und dem Waffenhandwerf nachging.

Wie in den Bautraditionen jeine Gedanfen weiterledten, dafür iſt das glänzendite Beijpiel die dritte bedeutende Kirche der Stadt, St. Godehardi, am Südwall gelegen. Godehard jelbit, ſein Nachfolger, mußte in jeinen Spuren gehen. An fich engeren Geiſtes, wiewohl ein jittlich und religiös rejpeftabler Charafter, asfetiichen Mönchsinterejjen lebend und auf nichts jo jehr bedacht als auf jtrenge Reform der verwilderten Klöſter in Eluniazenfijcher Richtung, daher viel angefeindet in Tegernjee, Hersfeld, Krems— münster, wo er, der geborene Bayer, vorher wirkte, fonnte er doc) dem angebahnten Kunftleben nicht ausweichen und it mit den dreißig Kirchen, die er angeblich gegründet hat, ein Vertreter des ganz außerordentlichen Baueiferd jeines Jahrhunderts geworden, jenes fajt fanatischen Baueifers in Sachjen, den der Mönch Rudolph von Cluny jinnig aus dem Jubel erklärt, der die Menjchheit durchdrang, als der gefürchtete Weltuntergang nicht eingetreten war. Godehard wurde 1131 heilig gejprochen, und bald danadı begann Bijchof Bernward den Bau der großen Kirche zu Ehren jeines Namens. Er brachte aus Rheims, wo er der Heiligiprechung Godehards beimohnte, neue Baugedanfen mit, die die altjächitiche Weiſe wejentlich abändern jollten. Das iſt die in Frankreich jchon längere Zeit beliebte, auf die Gothif hindeutende Erweiterung der Titchoranlage. Sie wird an der Godehardsfirche darin sichtbar, dab die Seitenjchiffe am Kreuzarm nicht enden, jondern um die Apjis geführt werden und einen Chorumgang bilden; ja jie treiben no drei Fleine Kapellchen aus jich heraus. Wir jtehen aljo vor den eriten Spuren des nachmals jo mächtigen Einflufjes der fran- zöſiſchen Architektur. Dem Ditbau it ein überaus gefälliaes Aus: iehen gegeben, dem dann der herrliche Achtedsthurm über der

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Vierung die nöthige Würde verleiht. Auch die Ornamentik jelbjt der übliche Rundbogenfries it freier und zierlicher, und die Gliederung der Yanghausanlage mit dem fräftig ausladenden Querſchiff und der jchönen Lijenenverzierung zeigt einen reiferen Sinn, der jchon an die Schönheit des Bamberger Domes erinnert. Die freiere Ornamentif zeigt am jchönjten das Nordportal, an dem auch drei Figuren gemeißelt find (Chriitus, Godehard, Epiphanius), jo jchön und edel, daß man an die herrliche Blüthe romanijcher Plajtif im zwölften Jahrhundert, an die Naumburger und Bam: berger Skulpturen erinnert wird. Gntzüdend iſt die Wejtfajjade der Stirche, jchöner und in gewiſſem Sinne reicher als die des Domes, Mächtig tritt die runde Apſis vor, durch zwei Frieſe gejchiekt, mit deforativem Sinne gegliedert, das Yanghaus darüber ijt nicht mehr horizontal abgejchlojjen, jondern gegiebelt, und die beiden Thürme itreben, erjt quadratijch, dann oftogonal, jchon gewaltig aufwärts. Man muß die Anjtrengung bewundern, mit der die Maſſenhaftig— feit, der jteife Ernit, das fajt finjtre, unheimliche Moment des Alt: ſächſiſchen (wie es am deutlichiten die Gernroder Kirche zeigt) Durch die und jene neuen Glieder belebt und gebrochen und auf eine feinere Ddeforative Wirfung bewußt, aber noch mühjam hinaus- gearbeitet wird. Die Kirche ijt übrigens berühmt durch die funjt- volle Reitauration jeit 1848, durd) die vor Allem die höchit noth— wendige jichere Fundirung erreicht tt; denn die alten Baumetjter haben darin leichtfertig gejchaffen, haben jo liederlich gegründet, daß die Tragjäulen und Wände bedenflich ausgewichen jind; auch vom Dombau weiß man aus alten Zeugnijjen, daß er unter Azelin im elften Jahrhundert deshalb nichts vorwärts fam, weil Säulen und Mauern immer wieder auswichen oder gar einjtürzten. Das Innere von Godehardi zeigt überaus jchlanfe Verhältniſſe, pracht: volle Säulenfapitäle mit jchön jtilifirten Schuppen oder funjtvoll verjchlungenen Bändern und Berlenjchnüren, und vor Allem eine äußerjt wohlthuende farbige Ausjtattung; Welter hat an den Ober: wänden das Leben Godehards gemalt. Die Ausmalung der Apfis zeigt den vollen ſphäriſchen Glanz der Bafilifa, den die alte Ghrijtenheit liebte, um aus des Yebens Kampf und Noth in Die begeiiternde Herrlichkeit der heiligen Welt zu jchauen.

Ktehren wir vom Wall an Godehardi wieder in die Stadt zurüd, jo jteht ein alter Ihurm im Wege. Er erinnert an die junge Maid, die einjt im Walde den Geliebten juchte und durch die Wälder und Schluchten den Rückweg nicht fand, bis eines

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Glöckchens Läuten ihr die Richtung wies; jterbend weihte jie eine Glocke für die im Walde Irrenden, die allabendlich (für einen Schuh und einen Gulden pro Jahr) vom Thurme geläutet werden jollte. Solches ijt bis in neuere Zeiten gejchehen, und „Kehr— wiederthurm“ heißt der alte Herr noch heute. In der anſchließen— den Wollenweberitrage bat ſich Julius Wolff das Haus jeines Goldſchmieds Rotermund gedacht, in deſſen Erfer des Meiſters blonde Tochter Renata als verjtohlene, treue Gehilfin am Arbeits- tijche jaß und den Maigrafenbecher Hämmerte nach der neuen unit, die „nichts von Ihürmchen mehr und Streuzen, jpigen Bögen, Map: und Stabwerf, nichts von Heil’gen und Madonnen, und was jonit von Stirchenbauten wir entlehnten“, wußte, jondern wiedergab „all den Meiz und Bildwerf, womit Griechen einjt und Nömer ihre Säulen, Ktapitäle, Tempel, Vajen, Sartophage jchön umfleideten und jchmücten“: in dem jonjt wenig bedeutenden Epos eine ganz gejchidte Darjtellung des Einzugs der Nenaijjance, der neuen Kunſt, die bei den ängitlichen, altmodijchen, in gothijch- firchlichen Schablonen befangenen Zunftgenojjen Wergerniß und den Vorwurf teufliichen Zaubers erregte.

Ziehen wir einen Gang ins Freie vor, jo laden im Weiten die netten Anlagen des Bergholzes dazu ein. Port jtand vor grauen Zeiten die Burg des Nitters Benno, dort feierten jpäter die Städter ihre Maifeſte und feiern jie noch jeßt ihre Vergnügungen. Ein herr: licher Blick erjchließt jich über das weite janft gebildete, fruchtbare und gewerbreiche Thal der Innerjte. Im Norden die Höhen, hinter denen einjt die alte Zwingburg „Steuerwalt“ lag. Im Südojten die fernen Waldberge des Harzes und wie eingebettet im grünen Rahmen das jchöne Bild der vielthürmigen Stadt, vom grünen Gürtel der Wallpromenade umjpannt und jchöne Alleen herauf: jendend nad) unjerem Standort. Ueber dem rothgededten Häujer: meer erheben jich die hohen Kirchen; hoch ragt Andreas empor, links der ſpitze Jafobithurm, der höchjte über der Stadt, noch weiter links St. Michael und rechts von Andreas der Dom mit jeinen vergrünten Dächern, dann mit hohem Gtebeldach LYamberti und am weiteiten rechts Godehardi vornehmer Bau. Dahinter der behag- liche Galgenberg, an dejjen Fuß vor dreißig Jahren der berühmte Fund des altrömijchen Silberjchages (jet im Berliner Mujeum) gemacht wurde. Der Rückweg führt uns an der alten Moriß- firhe vorüber. Benno von Osnabrüd hat jie gebaut und Die Bauweije jeiner jchwäbiichen Heimath, wie zu Goslar, jo aud) hier

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verwerthet: das Charafteriftiiche iſt der reine, pfeilerloje Säulenbau, wie er im Kloſter Hirfau gelernt war. Es ijt die einzige Säulen: bafilifa des elften Jahrhunderts (in jpäterer Zeit it in Paulin— zelle Diejelbe Ordnung angewandt worden. Das jchlichte, freundliche Kirchlein it im Innern verzopft und roh getüncht; es enthält den Grabjtein des Gründer der Kirche, Des äußerjt jtreitbaren Biſchofs Hezilo, der im Goslarer Dom jeine Hildesheimer zu blutigem Kampf wider die Fuldaer führte; Der: jelbe Bifchof jprach in Kaiſer Heinrichs IV. Gefolge die berühmte Abjegung des Papjtes Gregor aus, durch ein geheimes Zeichen auf der Urfunde allerdings jein Gewiſſen jalvirend, was Dem diplomatischen Geſchick des jejuitiichen Schlaufopfes alle Ehre macht.

Wir haben auf unjerem Gange durd) die Stadt der übrigen Kirchen noch nicht Erwähnung gethan. Es wäre Manches von ihnen zu bemerfen und iſt manche bedeutende Erinnerung an fie gefmüpft: die hochragende Gothif an Lamberti (der einzigen ein: gewölbten Kirche in der ganzen Stadt), die einfachere, formjchöne Gothifan St. Andreas mit dem jchönen pentagonalen Chorumgang und dem hohen, fajt mühelos gehobenen Thurme. An diejer Kirche haftet die Erinnerung an die Hildesheimer Reformation. Anfangs hatten nur die Brüder vom gemeinjamen Leben in Mariä Lichtenhof (am Brühl) Yuthers Gedanken im Verborgenen gepflegt und ſeine eriten Schriften gelejen. Dann brady der neue Geijt hervor: Luthers Lieder hatten es dem Bolfe angethan, aber der jtreng fatholijche Rath, Hans Wildefüer an der Spite, erflärte ji) 1525 gegen den „Martiniichen Handel“ und hieß, wie Henning Brandis berichtet, „de Martinjchen bofe to vorbernende (Bücher zur Ber: brennung) bringen. Das Singen der neuen Lieder war verboten, und doch erjcholl es hier und da in der Andread- oder Michaels: firche: „Erhalt uns, Herr, bei Deinem Wort! 1532 trieb man über jiebzig Bürger, „lutheriiche Buben“, aus der Stadt. Aber das Volk errang fich jeinen Willen, 1542 ging auch der Rath zur evangelijchen Sache über, am 1. September hat Bugenhagen die erite evangelijche Predigt in St. Audreas gehalten. Hildesheim iſt jonach eines der markanteſten Beiſpiele jener Städte, die jich in Die Reformation „hineingejungen“ und fie „von unten her‘ errungen haben. Uebrigens ging 1543 der llebermuth des Sieges in der Faſtnacht jo weit, daß der Biſchof Valentin beim Nürnberger Neichstag gegen die Hildesheimer Bürgerjchaft Bejchwerde führte über allerlei „ungejchiete Fröhlichkeit, unchriftliche, gottloje und

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gottesläſterige Faßnachtsſpiel und Mummerien“, daß ſie z. B. „einen Biſchof ausgemacht, denſelben zum Stadtthor mit Ruthen und Geißeln ausgehauen,“ am Aſchermittwoch gar „einen jungen Buben für einen Bapſt mit einer dreifachen Kronen in einer Alben und Kappen und ſeiner Zugehorungen, mit Händ— ſchuh, gülden Ringen uf einer behängten Totenbahr ausgemacht“ hätten. „Der Rat wußte ſich mit Geſchick und Wit zu vertheidigen.*) Wie treu die Stadt zur evangeliichen Sache hielt, das jollte fie unter unfäglichen Leiden im Dreißigjährigen Ktriege erproben. Als 1633 der fatjerliche Befehlshaber mitten in der jchweren Be- lagerung der Stadt, falls jie für fatjerliche Majeität und den Kurfürſten (von Köln, der auch Bijchof von Hildesheim war) die Waffen ergreifen wollte, Privilegien verjprach, „daß ihr feine in Niederjachjen gleichen“ jollte, wies das die geplagte und erjchöpfte Bürgerjchaft doch entrüjtet ab. Die Drangjale machten fie nicht irre, Hildesheim blieb lutheriſch. Dennoch hielt ſich der Klerus noch durd) Jahrhunderte in der alten Zahl. Im vorigen Jahrhundert waren es noch 171 Ffatholijche Stlerifer (am Dom allein 88). Auch mit der Säfularijation it das Bisthum im Neformationszeitalter durch Nüdhalt an Bayern verjchont geblieben, es überjtand auc) die Näuberzüge des „tollen Ehrijtian“ von Braunjchweig-Yüneburg, der 1622 mit den zuchtlojeiten aller Schaaren über die Stifter berfiel, als „Gott's Freund und der Pfaffen Feind.“ Erſt 1803 bei der großen Säfularijation iſt die alte fait taufendjährige Stifts- berrlichfeit eingegangen.

Nicht untergegangen jind die Nachwirfungen jener eriten großen Zeit, des goldnen Jeitalters der Hildesheimer Kunſt. Nicht untergehen joll das Gedächtniß der Zeit, zu welcher Die Zacjen, nachdem jie ſich einmal dem milden „Seerfönig des Himmels“ ergeben hatten, die Träger der deutjchschriftlichen Kultur waren. Nicht untergehen joll vor Allem das Andenfen an den eriten großen ſächſiſchen Künjtler, den großen Bijchof, der jeiner

) An ältere Faitnahtömummereien erinnert das „Scauteufelfreuz” an einem Haufe des alten Marktes; dort ift im 15. Jahrhundert einer jener sornehmen Stadtjunfer erichlagen worden, die das Recht hatten, auf Faſtnacht vermummt durch die Straßen zu ziehen. Bon diefem Patrizierbrauche erzählt auch Hen— nig Brandis’, des Bürgermeijters, ausführliches Tagebuch: er durfte auch „ho duvel“ fein und berichtet eingehend von feiner und der Gefellen „kledinge: in Gram unde rot, de larv of gram unde rot, darup gebunden ein klein vilthot (Filzhut) mit dren ftrusvedderen (Strausfedern), al gram unde rot, de middelfte wit vorfulvert, (weiß verfilbert) umme den bot einen brunen fiden» ſleiger (Seidenſchleier) von einer halven elen.“

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Stadt für alle Zeiten jeinen Geiſt eingehaucht hat. Als ich hörte, day die Stadtverwaltung mit großer Treue, treuer als Nürnberg, an den alten Kunjtdenfmälern hängt die drei berühmten Häuier am Markte jind zur Sicherheit von ihr angefauft worden*) —, als ich in meinem bejcheidenen Gajthausjtübchen die ganz romaniſch ornamentirten „senjtervorjeger jah, als ich dem Gefpräch der Stammgäjte zuhörte, die über einen Neubau fich beifällig äußerten und nur das nicht billigten, daß man an den Fenſtern feinen „Stil“ jah, da war es mir, als wehte die große Vergangen- heit herüber aus der Zeit Bernwards, als hätte ich „jeines Geiites einen Hauch verſpürt.“ Und jo jtimmte ich an meinem Theile dankbar ein in die alte Mahnung, die an der Weftapfis von St. Michael eingemeißelt it: Venite, concives nostri, Deum adorate, vestrique praesulis Bernwardi mementote!

*) Möchte auch die preußiiche Regierung bei ihrer löblichen Fürſorge bleiben, der der Geheimrat Jordan 1898 auf dem Feſtmahle Ausdrud gab: alle Mi: nifter wären, wenn Forderungen für Hildesheim vorlagen, einig in der Ueber: zeugung geweſen: „Hildesheim geht vor.“

Der Majjenvertrieb der Volksliteratur.

Bon Tony Kellen.

Es find nicht immer die beiten Bücher, die das Volk lieſt und die ihm am leichtejten zugänglich gemacht werden. Wenn man von der religiöjen Lektüre abjieht, jo will das Volk etwas Packendes, Intereſſantes, etwas was einen jtarfen äußeren Reiz hat. Diejen Reiz aber haben Spekulanten, denen es nicht um Bolfsbildung, jondern nur um ein Gejchäft zu thun tt, zum Ueberreiz gejteigert. Statt des Interejjanten wird dem Volk Senjationelles und Pikantes dargeboten. Der Jugend bietet man Näuber- und Indianer— gejchichten, den Erwachjenen aber ebenjo werthloje und meijt jittlich viel jchlimmere Kolportage-Romane, die in Millionen Heften ver: breitet werden.

Man Hagt heutzutage jo viel über die Bücherfrijis. Kein Wunder, denn theure Bücher fauft das deutjche Publikum nicht. Ein gutes Buch findet oft faum 1000 oder 2000 Abnehmer; gehts darüber hinaus, jo iſt es jchon ein Erfolg. Und in der Stolportage- Yiteratur wird die jchlechtefte Waare in einer Anzahl von 50000 bi8 100000, ja 200000 und mehr aufgelegt. Dies it um jo auf: tälliger, als diejelben Leute, die dieje Literatur kaufen, vielleicht nie in ihrem Leben ein gutes Buch im Preiſe von einigen Marf aus eigenem Antrieb erwerben. Bon den Stolporteuren aber lajjen fie jich in wöchentlichen fleinen Raten von 10 oder 20 Pfennig 10, 12 bi8 18 Mark aus der Tajche loden.

Ich weiß allerdings recht wohl, daß auch andere Bücher zu— weilen einen recht großen Abjat finden, allein die literarijch werth:

80 Der Maffenvertrieb der Bolksliteratur.

vollen Bücher dringen doch nicht in demjelben Maße ins Volk, wie jolche Kolportage-Romane. Werfen wir einen Blid auf die zug: fräftigen Bücher, jo finden wir, daß große buchhändlerijche Er: folge in Deutjchland verhältnigmäßig jelten jind.

Die hHöchjten Auflagen in Deutjchland haben Bibeln, Fibeln und Stochbücher erreicht. Die Bibel war von jeher ein abjat- fähiges Buch in protejtantijchen Gegenden. Der Bibeldruder Hans Lufft in Wittenberg (7 1584) lieferte vom Jahre 1534, in welchem der erſte volljtändige Bibeldruf von ihm in Arbeit genommen wurde, bis zum Jahre 1574 gegen 100000 Bibeln. In der v. Ganjteinjchen Bibel-Anjtalt zu Halle erjchien 1886 eine Bibel: Ausgabe in 1000. Auflage. Die erite 1785 erjchienene Auflage war 8000 Exemplare jtarf und war in drei Jahren vergriffen; im Sabre 1844 waren bereits über 3 Millionen diejer Oftav-Ausgabe gedrudt. Ein anderes Werf, das 1883 in der 1000. Auflage erjchien, ift Die von Bädeder in Eſſen verlegte Häjterjche Fibel, deren 1. Auflage von 1853 Datirt. Daß auch Kochbücher eine große Verbreitung finden, tjt begreiflich.

Aber wie jteht es mit den literarischen Werfen? Welch un: geheure Zahl Bände von Schillers und Goethes Werfen in den verjchiedeniten Ausgaben verbreitet wurden, entzieht ſich der Be— rechnung. Man fann jich aber einigermaßen einen Begriff davon machen, wenn man bedenkt, daß noch immer neue Auflagen und Ausgaben veranitaltet werden und daß einzelne derjelben einen ganz folofjalen Abjat finden. Auch ausländijche Klaſſiker werden jehr viel in Deutjchland gekauft. Ein Beiſpiel, welch rajchen Abſatz eine billige, in Bezug auf Tert und Ausjtattung gut bejorgte Aus- gabe finden fann, hat die Deutjche Verlagsanjtalt in Stuttgart geliefert, indem jie auf Veranlaſſung der Deutjchen Shakeſpeare— Sejellichaft eine billige Ausgabe von Shafejpeares Dramen (leber- jegung von Schlegel und Tied) in einem Bande (gutes Papier, jchöner, wenn auch fleiner Drud, jolider Einband) zu 3 Marf ver: anjtaltete. Welchen Anklang dieje Ausgabe fand, beweijt der Um— itand, daß in 1'/s Jahren 10 Nuflagen zu je 2000 Eremplaren abgejegt wurden.

Es giebt auch einige Gedichtwerfe, die in neuejter Zeit 50 bis 100 Auflagen erlebt haben, allein das jind jeltene Ausnahmen. Das eigentliche Volk left jolche Bücher ja doch nicht. Die hoben Auflagen erflären ſich dadurd, daß die höchiten Kreiſe und der Mitteljtand jich die Bücher verjchafft haben. Schon eher dringen

Der Maffenvertrieb der Bollsliteratur. 81

Bücher praftifchen Inhalts in das Volk. Ich will nur ein Beiſpiel erwähnen: die Werfe des großen Waſſerapoſtels Kneipp erzielten einen außerordentlich” großen Abjag, troß ihres verhältnigmäßig hoben Preijes.

Dagegen giebt es literariſche Werke, die großes Aufjehen erregen und doch wenig gefauft werden. Ueber Niegjche wollte in neuejter Zeit Jeder etwas jchreiben; man fonnte jeinen Namen in allen Tageszeitungen lejen, aber wie hoc) mag wohl die Zahl der von Nietjches Werfen abgejegten Eremplare jein? Dagegen ver: mehrten jich unerwartet rajch die Auflagen von „Rembrandt als Erzieher“, objchon jelten ein Werf jo viel Angriffe und Gejpötte erdulden mußte wie diejes Buch. Allerdings ermöglichte der billige Preis (2 Mark für einen Großoftavband von 356 Seiten) einen rajchen Abjat.

Sm Allgemeinen fann man jagen, daß in Deutjchland von jeltenen Ausnahmefällen abgejehen ein theures Buch wenig gefauft wird, mag es noch jo werthvoll jein und noch jo viel Auf: jehen erregen. Umgekehrt hätte. man aber Unrecht, zu glauben, der billige Preis genüge, um den Abjag eines Buches herbeizuführen. Es giebt aber viele Fälle, aus denen hervorgeht, daß minder gute und theure Bücher verfauft werden, während werthvolle und billige Bücher vernachläjjigt werden. Oft iſt die Austattung dabei von Wichtigkeit, und zwar jpielt dabei wieder weniger die Gediegenheit der Ausjtattung eine Rolle, als vielmehr eine gewilje Originalität, eine neue Idee u. dgl. Auch die Verlagsfirma jpielt eine große Nolle. Ein Buch, das bei dem einen Verleger unbeachtet bleibt, würde bei einem andern Verleger ein jtarf begehrter Artifel werden. Nicht immer it es aljo der innere Werth eines Buches, der ihm zum buchhändlerijchen Erfolg verhilft; oft jind es jogar AZufälligfeiten, die diejen herbei- führen. Literarijcher und buchhändlerischer Erfolg gehen nicht immer Hand in Hand; oft find beide ganz unabhängig von einander.

Einen eigenartigen Zweig des Buchhandels bildet der Ver: trieb von jogenannten Kolportages Werfen, unter denen Die Romane bejonders zahlreich vertreten find. Nur ein Theil von Sortiments-Buchhandlungen befaßt fich mit der Kolportage, indem lie entweder direft an ihre Kunden die Lieferungen von Romanen und anderen Werfen verjenden oder durch Stolporteure diejelben ab— fegen lafjen. Die meijten Buchhändler aber bejchäftigen fich nicht mit SKolportage-Literatur, weil fie es unter ihrer Würde halten, derartige Produfte zu vertreiben.

Breußifche Zahrbüher. Bd. XCVIIL Heft 1. 6

82 Der Maffenvertrieb der Bollsliteratur,

Man hätte aber Unrecht, die Kolportage unbeachtet zu lafjen oder fie an und für fich zu bekämpfen, denn eine jehr große Zahl von Büchern und Heften der beiten Literatur wird heut zu Tage durch den Ktolporteur vertrieben. Man mu nämlich zwijchen Ktolportage-Romanen und bejjeren Lieferungswerfen, jowie teuern Büchern unterjcheiden, die ebenfalls durch Reiſende vertrieben werden. Sogar der reiche und gebildete Mann it in Deutichland nur jelten eifriger Bücherfäufer, und zumal in den Provinzen, wo das geijtige Leben nicht jo rege it, wie in den Großſtädten, tt auch für ihn die Anregung, die der Kolporteur ihm durch das Vorlegen der Neuheiten von Büchern und Zeitjchriften giebt, willfommen und jogar geradezu nothwendig. Im noch weit höherem Maße jind die breiten Schichten des Volkes auf die Stolportage für den Bezug ihres Lejejtoffs angewiejen. Iſt es doc) eine Thatjache, daß zwei drittel der gefammten buchhändlerijchen Produktion auf dem Wege der Kolportage vertrieben wird. Ken Einfichtiger wird behaupten, day all dieſe Bücher das Licht der Bordertreppen zu jcheuen hätten.

Bu der Zeit, als die Kolportage ſich auszubreiten begann, machte die Schundliteratur etwa 90 Prozent des Umſatzes der „iegenden Buchhändler“ aus; jet befaſſen dieje jich aber in ſtets jteigendem Maße auch mit dem Bertriebe anderer Werfe. Dem Netjebuchhandel Liegt wejentlich der Bertrieb der größeren fünftlerifchen, technijchen und populärswijienjchaftlichen Werke ob, deren Interejienten aufgejucht und aufgemuntert jein wollen. Nur durch die freie Bewegung, die jeit Einführung der Gewerbeordnung dem Buchhandel gejtattet it, iſt es möglich geworden, jolde monumentalen Werfe, wie Brodhaus und Meyers Konverjations: lerifon, zu jchaffen, die nur durch große Auflagen im Stande find, die Koſten für die Sorafalt des Inhaltes und der Ausjtattung hereinzubringen, und jolche Auflagen find eben nur zu erzielen durch jenen intenjiven WBertrieb, den der Stolportage- und der Neifebuchhandel gejchaffen haben. So wurde die vorige Auflage von Meyers tonverjationslerifon hauptſächlich durch den Reiſebuch— handel in 116000 Exemplaren verbreitet. Dajjelbe ijt bei anderen encyklopädijchen Werfen der Tall. Neben diefen und ähnlichen Werfen, 3. B. Bud der Erfindungen u. j. w., find es in# befondere religiöje Werfe, Prachtbibeln, technijche Werfe u. j. w., die ſowohl in die Ateliers der Architekten, die Büreaus der Ingenieure als auch in die Werkjtätte des Handwerker wandern,

Der Maffenvertrieb der Volksliteratur. 83

um ihnen Aufklärung und Fortbildung in ihrem Gejchäfte zu bieten. Die PVerlagshandlung Belhagen und Klaſing in Bielefeld theilt mit, daß von ihren Verlagsartifeln: „Daheim“; Andrees Handatlas; Stades deutjche Gejchichte; Jäger, Weltgejchichte in vier Bänden; deutjcher Reichsbote; Kalender für Stadt und Land; Rogge, Kaijerbüchlein; Rommel, Yutherbüchlein, welche zum Theil in ungeheuer großen Auflagen erjchtenen find, zwei drittel lediglich durch den Volks- und Reiſebuchhandel Abjat gefunden haben.

Was jpeziell den Kolportage-Roman betrifft, der für uns ein bejonderes Interejje bietet, jo it dies allerdings eine Klaſſe von Literaturerzeugnijjen, die fich eines üblen Nufes erfreuen. Sie werden auf Hintertreppen an Dienjtboten abgejett, die Lieferung von einem Drudbogen zu zehn Pfennig. Durch Abnahme der eriten Lieferung verpflichtet jich der Abnehmer zum Ankauf des ganzen Werfes und ein jolches Werf umfaßt nicht jelten 100 und mehr Lieferungen. Einer Köchin, die fich hat verleiten lajjen, einen Bogen eines ſolchen Iserfes anzunehmen, wird daher eine Ausgabe verurjacht, die einen verhältnigmäßig hohen Theil ihres Lohnes ausmacht.

Welches ijt der Inhalt diefer Romane? „Die meilten Kol— portage-Romane, jagt Dr. Fränkel, haben die Thaten großer Verbrecher und Verbrecherinnen zum Gegenjtand und deren Ber: herrlichung zur Aufgabe. Der Held it in der Kegel durch die Schuld der „Gejellichaft”, insbejondere durch ungerechte Vorgeſetzte, philiftröje Arbeitgeber, bejchränfte Eltern in die Bahn des Ver: brechens getrieben worden, und bethätigt nun feine von Hauje aus groß angelegte Natur durch die meisterhafte Vorbereitung und ebenjo kühne wie geniale Ausführung jeiner Einbrüche, Bank— beraubungen und ähnlichen Leiſtungen. Dabei handelt es jic) eigentlich um eine Art von ausgleichender Gerechtigkeit, denn der edle Räuber nimmt natürlich den Neichen und giebt den Armen, er iſt außerordentlich wohlthätg. Nach diefem Schema find die fraglichen Erzählungen mit wenigen Ausnahmen gearbeitet: Der $tolportage-Roman erwedt Mitgefühl und Bewunderung für den Verbrecher und wird jo zur Schule des Verbrechens. Und diejes Gift hat, Dank der rührigen Thätigfeit der Kolporteure, eine uns geheure, täglich wachjende Ausbreitung erlangt. In den Hütten der Armut, in den Arbeiterwohnungen, in den Familien der fleinen Handwerfer, überall finden wir die bunten Hefte, deren äußere Erjcheinung für den gebildeten Gejchmad ebenjo wider: wärtig ijt wie der Inhalt.“

6*

84 Der Maffenvertrieb der Bolksliteratur.

Der „Scharfrichter von Berlin“ enthält auf den erjten 240 Seiten nicht weniger als 12 ausführlich gejchilderte Schand- und GSreuelthaten, darunter eine unrechtmäßige Hinrichtung, einen Kinderraub, eine Orgie in der Banditenfneipe, einen Vatermord, einen Ehebruch, einen verjuchten Giftmord, eine Leichenberaubung, eine Revolte, das Treiben einer Faljchmünzerbande u. j. w. Was in den Romanen von Söndermann und Viktor von Falk, der beiden „Lieblingsjchriftiteller des deutjchen Volkes“ (!) geboten wird, erjieht man 3. B. aus folgenden Kapitelüberjchriften:

Der Mord auf der Yiebesinjel; Die Beichte der Dirne; Die Piraten

der Spree; Gift und Dynamit; Hinter der Kirhhofsmauer; Die

Hauernfänger von Berlin; m Zellengefängnig zu Moabit; Die

Geliebte des Prinzen; Die ſchöne Nihiliftin; Das Bombenattentat;

Die jhönen Frauen des Harems; Das Verbrechen im Kerker; Der

Hodjtapler; Galgenvögel; Die unheimliche Kiſte; Auf Piftolen u. ſ. m.

Ein Berleger fündigte eine neue Ausgabe des „Schinder: hannes“ mit folgenden, jchier unglaublich dünkenden Worten an:

„As eine Fräftige, feurige Jünglingsgeftalt, ringend und Fämpfend

mit feinem tragischen (1) Geſchick, tritt uns Schinderhannes, Deutſch

lands größter Räuberhauptmann, hier entgegen. Wenn aud) die

Leidenſchaft diefen wild und zügellos, in trüber, trauriger Zeit auf:

gewachjenen Sohn der Rheinlande auf die Bahn des Verbrechens

getrieben, jo war es auch wiederum die ihm ganz beherrjchende

Macht der Liebe zu Julia, dem jungen, unjchuldigen Mädchen, die

feinem wildbewegten Räuberleben ein jo eigenthümliches Gepräge

verlieh. Immer mieder verſuchte es Julia, Die durch ihre impo: nirende Schönheit, ſowie durch ihr tiefes fittenreined Gemüth einen unbezwinglichen, veredelnden Zauber auf den fühnen Banditenchef ausübte, den geliebten Helden (!) dem Verderben zu entreißen; aber das Verhängnig (!) erfaßte nur zu bald wieder den Wanfelmüthigen, um ihn auf diejenige Bahn zurüdzufchleudern, die ihn ins Verderben führen mußte und jchlieglih auch ouf das Blutgerüft bradte

RENT

Dieſe traurige Literatur erfreut jich fortgejegt eines jtarfen Abſatzes, weshalb immer neue Kolportage-Romane erjcheinen. Die Katajtrophe von Schloß Berg, das Drama von Meyerling jind jhon in Dutenden von Ktolportage-Romanen behandelt worden, gerade wie der Hauptmann Dreyfus und fein „todesmuthiger Ver: theidiger* Zola, der „Millionenräuber Grünenthal“ in neuejter Zeit in Zehnpfennigheften ausgejchlachtet wurden. Der Roman auf den Mädchenmörder Schenk fonnte man 3. B. in zahllojen Häufern Bayerns und Dejterreich$ vorfinden. Ueber den König von Bayern erjchienen 13, auf den Tod des Kronprinzen Rudoli

Der Mafjenvertrieb der Boltsliteratur. 85

entfielen 22 jolcher Machwerfe, und über Johann Orth wurden etwa 5 jenjationelle Romane veröffentlicht, bevor man auch nur etwas Sicheres über die Schidjale des unglüdlichen Erzherzogs erfahren haben fonnte. Die Ermordung der Kaiſerin von Defterreich ıjt natürlich) auch jchon in Stolportageromanen bearbeitet worden.

Vom „Scharfrichter von Berlin“ wurden 250 Taujend Exemplare abgejegt, die „Zotenfelder in Sibirien“ hatten jchon 150 Tauſend Abnehmer gefunden, bevor fie zu Ende geführt waren.

E3 liegt hier eine wenn auch nicht planmäßige, jo Doch wenigitens gejchäftsmäßige Vergiftung der WVolfsjeele vor. Mit Recht jagt Müller-Guttenbrunn in jeiner fleinen Schrift über „Bolfslektüre*, es jei gerade als ein erjchwerender Umstand zu er— achten, daß die Leſer dieſer Nomane gerade den tiefiten Schichten der Bevölkerung angehören.

Es giebt faum Worte, die jtarf genug find, die Verderblichkeit jolcher Machwerfe zu brandmarfen. Die Berfafjer find meijt Leute ohne Stenntnifje, ohne Talent und ohne fittlichen Halt, deren Be— gabung ſich darauf bejchränft, Szenen zu jchildern, bei denen den Lejer eine Gänjehaut überläuft, und eine „Spannung“ hervor— zurufen, wie jich der von ihnen gejchürzte Anoten löjen wird. Für den Käufer jteht dem Opfer, das er durch Zahlung des Preijes bringt, keinerlei geiltiger Gewinn gegenüber. Die Bejchäftigung mit jolchen Büchern führt vielmehr zu einer Verödung des Kopfes und des Herzend. Der Kampf gegen dieſe Kolportageromane iſt daher ein verdienjtliches Werf.

Diejenigen, die diefen Kampf zuerjt aufnahmen, haben nun irrigerweije geglaubt, daß die Gejchäftstorm, in der dieje Preß— erzeugnifje vertrieben werden, das jchädliche Element jet; fie haben das Haufieren mit Büchern verbieten wollen. Dadurch würden aber auch die guten Erzeugnifje des Buchhandels getroffen, und die Verleger von Slolportage » Romanen würden jchließlich doc) noch neue Mittel finden, ihre Waare an den Mann zu bringen. Das einzige Mittel, die jchlechte Kolportage-Literatur zu bekämpfen, beiteht darin, auf demjelben Wege gute Bücher unter das Volk zu bringen, und zwar jolche Werfe, die auch den gewöhnlichen Mann und das bejcheidenjte Dienjtmädchen zu interejjieren vermögen.

Leider herrjcht ein gewijjes Borurtheil gegen alle Kolportage— Yıteratur. Man jieht Diejelben als identisch mit Schauer: oder Hintertreppen-Romanen an. Nun ijt es ja wahr, daß die Mehr: zahl dieſer Werke in literarifcher Hinjicht jehr niedrig ftehen und

86 Der Mafjenvertrieb der Bolksliteratur.

eigens nur für eine gewilje Stategorie von Lejern gejchrieben wurden, die eben feine hohen Anjprüche an den Inhalt jtellen. Aber das will doch nicht jagen, daß ein im Lieferungen erjcheinender und von Kolportage-Buchhändlern vertriebener Roman jchon deshalb werthlos jein muß. Ic erinnere nur daran, daß 3.8. manche bejjere Werte franzöfifcher Schriftiteller einige Iahre nach ihrem Erjcheinen in Buchform aud) in illuftrirten Lieferungen zu 10 Gentimes (8 Pfennig) ausgegeben wurden. Und was jollte einen deutjchen Schriftiteller, der einen längeren werthvollen Roman in volfsthümlicher Faſſung ge jchrieben hat, hindern, ihn auch in Form von 10: Pfennig = Heften den unteren Streifen des Volkes zugänglich zu machen?

Diejes vorausgejegt, wollen wir einiges über die Herjtellung und den Vertrieb von Kolportage-Romanen bemerfen. Diejelben müſſen volfsthümlich gejchrieben jein und die Yejer von einem Heft zum andern in Spannung halten. Es ijt ja wahr, daß bier: durch der Autor leicht in Gefahr geräth, einen Sfandalroman zu jchreiben, allein wer ernitlich gewillt wäre, die literarijche und die jittlich-fünftlerifche Seite nicht außer Acht zu lajien, könnte auch dieje Klippe umſchiffen. Die Verleger halten natürlich darauf, daß die Gejchichte möglichit packend jei, und fie jegen dieſes aud) als Bedingung, wenn jie einen Schriftiteller beauftragen, ihnen einen Kolportage-Roman zu Lliefern.*)

Der Kolportage-Buchhandel im Allgemeinen verdankt nicht etwa dem zunftmäßigen alten Buchhandel jein Entjtehen, jondern er hat fich erjt in der neuejten Zeit entwidelt, nachdem die Geſetz— gebung nicht mehr hemmend auf den Druck und Vertrieb von Büchern und Schriften einwirfte. Die Preſſe wurde in Deutjchland ja erit 1848 frei, und erit nach jener jturmbewegten Zeit wurde

*) In dem Nachlaß eines Verfaflerd von Kolportage-Romanen mwurde u. a. folgender Brief eines Verlegerd vorgefunden: „Wir haben jett ſchon das 4. Heft fertig und noch feine fchaurige, reizende, kraftvolle Handlung, Wie lange noch ſoll es jo weiter gehen? Wann mwird endlih einmal ein Mord oder eine fonftige pilante Handlung die Erzählung Ipannend machen? Bir bedauern fait, Ihnen neuerdings unfer Vertrauen gefchentt au haben. Ihre breite, behagliche Schilderung des Familienlebens paßt für den Geſchmad unferer Leſer niht. Auf diefe Art befommen wir nicht für das 5. Heft, das wir bis Mittwoch in Händen zu haben hoffen, eine merfliche Beſſerung in diefer Hinfibt Könnten Sie nicht den alten Zandpfarrer zu einem In—⸗ triguanten ftempeln? Um fo weniger das nach der Einleitung zu ermarten wäre, um fo mehr würde der Roman gewinnen. Ueberhaupt iſt es mötia, die fchlechten Charaktere zu häufen. Kür das 7. Heft, wie Sie wiffen, die fritiihe Nummer, ift für den Schluß die ausführliche, genaue Schilderung einer Mord» oder Greueligene nötig, die aber erſt in Nr. 8 fortgefegt und in Nr. 9 zu Ende geführt wird.”

Der Mafjenvertrieb der Bolksliteratur. 87

in Deutjchland geitattet, Drudjchriften auch außerhalb des Ge: ichäftslofals zu verfaufen. Die Kolportage-Buchhändler jind inſo— fern im Vortheil gegenüber andern Yuchhändlern, als jie alle Gejchäfte gegen Kaſſe abjchliegen, was befanntlich bei den Sorti— mentern bei weitem nicht immer der Fall iſt.

Was den Umfang eines Stolportage-Nomans betrifft, jo ums faßt derjelbe gewöhnlich 100 bis 150, zuweilen auch bis 200 und jogar 250 Lieferungen von je einem Bogen. Die „Papierzeitung“ hat einmal folgende Berechnung angejtellt:

„100, 130 und 150 Hefte find in der Regel die Ziffer, welche als

Maßſtab für den geichäftlichen Erfolg angejehen werden, 130 und

150 Hefte zeigen ſchon einen fiheren Romantreffer an. Einer diefer

Romane umfaßt ſogar 200 Hefte, es ift der bei Werner Große in

Berlin erjchienene Roman „Kornblume und Veilchen“. nterefjant

dürfte es fein, ungefähr feitzuftelien, welches Kapital diefe Romane

in 10-Pfennigheften darjtellen. Man rechnet in den einjchlägigen

Gejchäftskreifen in der Negel auf den Roman etwa 25000 Mark

Koften für Herftelung und Vertrieb. Die Ziffer darf nicht über:

rajchen, denn das erjte Heft wird in einer Auflage von 100000

und mehr Eremplaren gedrudt, die fich aber von Heft zu Heft in

annähernd gleihmäßigem Werhältnifje bis zu 20000 oder 10000,

je na dem Anklange, den der Roman findet, herabmindert. Heft 1

bis 5 werden umjonft an die Kolportage-Handlungen abgegeben. Bom

6. Hefte an bringt jedes verkaufte Heft dem Verleger 5 Pf. Eine

Auflage von 5000 Eremplaren entipricht alſo einem Hefterträgnifje

von 250 Marf, bei einem Romanumfange von 100 Heften einem

Gejammterträgnijje von 25000 Marf. Eine Auflage von 5000 Exem—

plaren iſt aljo allein nothwendig zur Koſtendeckung. Was über

5000 Eremplare abgejegt wird, bildet den Reingewinn“.

Die „Fachzeitung für den SKolportage- Buchhandel“ erklärte aber, dieſe Ziffern jeien viel zu niedrig gegriffen. Site jagte, jene Berechnung jet vor 10 bis 20 Jahren zutreffend gewefen, als 3.8. die fleineren Kolportage-Verleger in der ſächſiſchen Oberlaufig gewiſſe reich bevölferte Fabrik und Indujtriebezirke ausschließlich verjorgten und „abgrajten”. Mit 25000 Mark könne aber ein für den Berliner und den übrigen deutjchen Millionenmarft arbeitender Großverleger nicht mehr rechnen. Das Fachblatt giebt jodann eine eingehende Aufftellung aller Einnahmen und Ausgaben, die durch die Heraus: gabe eines bedeutenden Ktolportage-Romans entjtehen. Sc begnüge mich, das Wichtigjte daraus hervorzuheben.

Die eriten Hefte bilden das „Sammelmaterial“ und von diejen hängt größtentheil® der Erfolg des Werkes ab. Von einem in Berlin erjchienenen Roman, der 150 Hefte umfaßte, wurden vom

88 Der Maffenvertrieb der Polksliteratur.

1. Heft 2500000 Stüd gedrudt, vom 2. Heft 215000 und von da an ging die Auflage abwärts bis zum 5., das noch in 175000 Eremplaren ausgegeben wurde. Die folgenden Seite wurden nur mehr an die Abonnenten abgegeben, jedoch nahm die Zahl Ddiejer immer mehr ab. Dies ijt eine Fonjtante Er: jcheinung; aus verjchiedenen Gründen wird eine mehr oder weniger große Zahl Abnehmer untreu. Interefjant jind folgende Angaben über den Abjat der bezahlten Hefte. Es wurden nämlich gedrudt:

Bon Heft 6 bis Heft 8 zwiſchen 75 und 70000.

„nn 9u un 15 0.70 60000.

[2 r 16 [23 "„ 28 [23 60 [23 50000,

“r Wu 4 u 50 40000.

PP EERT 40 ,. 30000.

en a. er: N 30 20000,

u: EL a a 46 20 , 18000.

12180 18, 16000.

er BE ur Sue. 5; 16 ,„ 15000.

nr ee Re A: 15 14000.

147 1H0. 14 ,„ 13000,

Bon Heft 6 bis Heft 150 wurden aljo an 5 Millionen Stüd abgejegt, objchon fait ?/s der Abnehmer vor Beendigung des Werkes „abgejprungen“ waren. Dennoch wurde der fraglice Noman als ein jogenannter „Durchichläger“ bezeichnet.

Der Verleger überläßt die 10: Pfennig Hefte gewöhnlich gegen 50%, Rabatt, manchmal jogar zu 4'/s Pfennig, jtatt zu 5 Pfennig. Jene 5 Millionen bezahlter Hefte brachten aljo ca. 225000 ME. ein.

Was die Ausgaben betrifft, jo betrugen Diejelben nahezu 150000 Mk., nämlich für:

12750000 Drudbogen (nebjt 1% Zuſchuß) . - 30906 ME.

8500000 Umfchläge (nebſt 19/0 Zuſchuß; 1 700000

Bogen) . . i 13600 8500000 Illuſtrationen (850.000 Bogen) se OBEN: 3; 12750000 Drude Tertbogen. . . 2.2 EEE 8500000 Umjchlagdrude. . » 2 202020. ..8500 8500000 Illuſtrationen. 883008, 8500000 Hefte zu ——— 1700⏑ 225 Bogen Satz. . . Er en an u. HUB 225 Stereotypie . . 2700 225 Schriftiteller- Honorar (a 30 Mt.) . +. 6750 . 150 Illuſtrationen NN) . 1500 150 Metungen. . . ee we Ben WERD Emballagggge28300 Geſchäfts-Unkoſtenn.. 220000

Summa: 143431 WM.

Der Mafjenvertrieb der Bolksliteratur. 89

Der Gewinn, den jener Roman dem Verleger einbrachte, fann aljo auf 80 bis 100000 ME. berechnet werden. Diejem Gewinn gegenüber it das Honorar, das der Autor erhielt (6750 ME.), ver— bältnigmäßig jehr gering.*)

Eine Thatjache jpringt beim Anblid der oben erwähnten Auf: lage der verjchtedenen Hefte bejonders in die Augen: Das ijt die Abnahme der Käufer. Das Werf hat nämlich feinen Werth für die, welche es nicht ganz bejigen, und deshalb werden bedeutende Summen auf dieje Weije nutzlos ausgegeben. Natürlich find hieran nur die Käufer jelbjt jchuld. Es find eben feine eigentlichen Bücher: freunde, die jene Stolportage-Romane faufen, jondern gewöhnlid) Arbeiter und untere Beamten, die nicht einmal 50 Pfennig oder 1 Mark für ein ordentliches Buch ausgeben mögen. Sie laſſen jich hauptjächlich durch das grojchenweije Bezahlen verleiten. Dieje Kategorie von Xejern iſt dieſelbe in allen Yändern.

In Fankreich jind die Kolportage-Romane gewöhnlich jchon vorher im Feuilleton des „Petit Journal“ oder des „Petit Parisien“ erjchienen oder wenigjtens im Genre der Feuilleton-Literatur diejer Sousblätter gejchrieben. Jede Lieferung fojtet 10 Centimes; Die: jelbe umfaßt in den meijten Fällen nur Y/g Bogen (8 Seiten Oftav), wovon die erite Seite gewöhnlich durch eine Abbildung in Anjpruch genommen wird, jo daß nur mehr 7 Seiten Text bleiben. In den meisten Papier: und Heitungshandlungen erhält man die erjte Lieferung gratis oder für 5 Gentimes die zwei erjten Lieferungen. Man liejt dieje, it gejpannt, wie die Gejchichte ausgehen wird, denn jie jcheint nach dem Anfang zu urtheilen, garnicht lang werden zu wollen, man fauft deshalb auch die folgenden Lieferungen, jie fojten ja nur zwei Sous, aber die Gejchichte wird immer ver: widelter und padender, und endlich hat man hundert oder zwei: hundert Lieferungen gefauft, und da merft man erit, daß es doc) eine theure Gejchichte geworden iſt. Solche Lieferungswerfe find offenbar verhältnismäßig viel theurer als andere Werfe (die Illu: jtrationen fünnen dabei nicht in Betracht gezogen werden, denn jie jind gewöhnlich primitiv ausgeführt und haben feinen Werth.)

Es iſt nach dem Gejagten leicht begreiflich, daß mit Kolportage—

*), Allerdings ſetzt der Verleger bei jenem Unternehmen ein bedeutendes Kapital aufs Spiel, allein diefer Umftand kann doch jenes Mißverhältniß nicht recht- fertigen. Und deshalb wäre es billig, daß der Autor außer einem feiten Honorar, das mit 30 ME. per Bogen gewiß nicht zu hoch bemefjen ift, noch Tantiemen vom Reingewinn erbielte, falls diefer eine bejtimmte Summe überfteigt.

90 Der Mafjenvertrieh der Vollsliteratur.

Romanen viel Geld verdient werden fann. Allerdings irren ſich die Verleger manchmal in ihren Spefulationen. Ein, ich möchte fajt jagen zu einer gewiljen Berühmtheit gelangter, Kolportage— Noman it „Der Scharfrichter von Berlin“. Ueber diejen ver- Öffentlichten verjchiedene Zeitungen eine Notiz, für deren Nichtigkeit ich allerdings nicht eintreten fann. „Der frühere Scharfrichter Krauts, hieß es in derjelben, der jegt eine Roßſchlächterei betreibt, lieferte jeiner Zeit das Material zu dem Stolportage-Roman „Der Scharfrichter von Berlin“, dejjen Held er jelbit iſt. Für dieſes Material erhielt er nach feiner eigenen Mittheilung zunächit 3000 ME. Damals betrieben die Verleger eine kleine Buchdruderei mit Hand— prejjen; als Krauts fie nach längerer Zeit wieder einmal bejuchte, hatten jich die Verleger eine große Druderei mit Dampfbetrieb ein: gerichtet. Freimütig gejtanden fie ihm, daß jie troß der erfolgten Beichlagnahme an dem Werfe 11/, Millionen Mark verdient hätten. Um jich nobel zu zeigen, zahlten jie Herrn Krauts noch 5000 Mk.“ Mag aud) die Summe von 1'/, Millionen etwas hoch gegriffen jein, jo fann man doc) immerhin annehmen, daß die Verleger einen bedeutenden Gewinn dabei berausgejchlagen haben.

Die Gejeßgebung bat das Kolportage-Unwejen in den legten Jahren wiederholt zu befämpfen verjucht, aber ohne Erfolg. Das Berjprechen, 3. B. bei Abnahme der 60. Lieferung einen Spiegel, der 120. ein „Delgemälde* als „Gratis-Prämie“ drauf: zugeben, darf nicht mehr auf dem Umschlag der Hefte ausgejprochen werden; in Folge dejjen joll dies jet mündlich gejchehen, indem der Stolporteur ſich in jeder Gegend als Lockvogel eine Berjon hält, welche auf Befragen jeitens der Kunden den richtigen Empfang der Prämien betätigt. Auch durch die Beſtimmung, daß die Kolporteure behördlich genehmigte Verzeichniſſe der bei ihnen ver: fäuflichen Schriften zu führen haben, iſt feine bemerfbare Ber: bejjerung des Inhalts der lehteren herbeigeführt worden. Selbſt wenn die betreffenden Beamten oder Selbitverwaltungsförperichaften wirklich immer (was wohl zu bezweifeln iſt) von den durch den Ktolporteur vorgelegten Büchern die jchlechtejten richtig herausfinden und verbieten, jo werden dadurch die übrigen, welche man zuläßt, noch nicht gut. Deshalb muß das Verbot der von der Behörde für unzuläjfig befundenen Schriften jo lange mehr oder weniger wirkungslos bleiben, als nicht für beſſeren Erjag gejorgt t.*)

*) Am 22. März d. 3. haben die Miniiter für Handel und Gewerbe und des Innern für Preußen eine Anmeifung zur Ausführung des Titel$ III ver

Der Mafjenvertrieb der Bolßsliteratur. 91

Da die Kolportage-Literatur einen bedeutenden Einfluß auf das Volk ausübt und zwar speziell auf jolche Kreiſe, die der bejjeren Literatur nicht zugänglich jind, jo wäre es dringend zu wünjcen, daß tüchtige Schriftiteller ſich dieſes Zweiges der Itterarijchen Produktion annähmen. Es find nur zu häufig gewifjen- (oje Spekulanten, die ſolche Kolportage-Romane fabriziren und Dabei nicht im Geringſten dafür bejorgt find, dem Wolfe eine an— gemejjene Lektüre zu bieten. Gewiß fann man den Arbeiterklafjen feine piychologischen Romane in 100 oder 200 Lieferungen dar: bieten, allein die Romane müſſen ja nicht unbedingt dieje Aus: Dehnung haben die große Zahl der „abjpringenden“ Käufer jcheint jogar ein Beweis dafür zu jein, daß jene Gejchichten gewöhn: lich zu jehr in die Yänge gezogen werden, und jelbjt eine Keriminalgejchichte, die man zum Vorwurf wählt, fann man ja in Iiterarijch wertvoller Weije bearbeiten und jo geitalten, daß Die Erzählung nicht bloß das Interejje des Volkes wedt, jondern aud) einen moralischen Einfluß auf dafjelbe ausübt.

Vielleicht tragen dieſe Zeilen dazu bei, den einen oder andern Schriftjteller, der bis jeßt nur verächtlich auf die Kolportage-Literatur herabblidte, für die Mitwirkung auf diefem Gebiete, auf dem eine Reform dringend Noth thut, zu gewinnen.

Das jicherjte Mittel, der jchlechten Literatur entgegen zu wirfen, iſt Das, die gute Literatur zu verbreiten. Wer vom Stolporteur ein Werk fauft, befundet damit, daß er das Bedürfnig empfindet, einen Theil jeines jährlichen Einfommens für Lejejtoff zu verwenden. Er nimmt den jchlechten Leſeſtoff, weil ihm diejer zunächit angeboten wird, und er würde den bejleren nehmen, wenn er ihm ebenfo beauem angeboten würde. Er hat nur nicht die Zeit zu juchen

Gewerbeordnung („Gewerbetrieb im Umberziehen”) erlaffen, die einfchneidend in den Kolportagebuhhandel wirken wird. Es wird nämlich beftimmt, daß „Werke, melde in Lieferungen erjcheinen, im Ganzen zur Kolportage erſt dann zugelaffen find, menn das Werk vollitändig vorliegt. Sind erſt einzelne Lieferungen veröffentlicht, jo fann die Zulaffung des ganzen Werkes ausnahms- meije dann erfolgen, wenn nah dem Charakter des Werkes, den bei der Herausgabe beteiligten Berjonen oder auf Grund anderer Umstände angenommen merden darf, dab auch die jpäteren Lieferungen den Borausfegunaen in S 56 Ziffer 10 der Gewerbeordnung nicht zumiderlaufen werden. Iſt dieſe Gewähr nicht vorhanden, fo ijt die etwaige Zulaffung auf die erfchienene oder vor» gelegten Lieferungen au beſchränken.“

An der Hand diefer Beitimmung fann allo die Verwaltungsbehörde (der Bezirksausſchuß, in Berlin der Bolizeipräfident) verlangen, dab ihr jede einzelne Lieferung vor dem Vertrieb dur Kolportage vorgelegt wird. Es iſt ibr damit eine ziemlih weitgehende Gewalt verliehen, die Verbreitung von Schundliteratur zu verhindern. Selbitverftändlich ift es ihr aber nicht möglich, lediglich minderwertige Werte zu verbieten.

92 Der Daffenvertrieb der Bollsliteratur.

und nicht das Talent zu wählen; er ijt angewiejen auf das, was ihm in die Hände fommt. Und da iſt es nun die Aufgabe Derer, denen die Bildung des Volkes am Herzen liegt, dafür. zu jorgen, daß ihnen Gutes in die Hände fommt.

In einem Staate, in welchem man darauf hält, daß jedes Kind lejen und jcehreiben lernt, muß auch Sorge dafür getragen werden, daß die Erwachjenen die erlernte Kunjt üben. Und das Bedürfniß diefer Hebung empfinden jie und haben fie von jeher empfunden. Noc vor fünfzig Jahren genügten vielleicht die Bolksbücher vom Fauſt und von der jchönen Magellone, jowie die „neuen jchönen Lieder“, die auf Büttenpapier gedrudt wurden, diefem Bedürfnifje. Heute it der Anſpruch und die Zahlungs fähigfeit größer geworden. Es bildeten fich Vereine, die jich die Aufgabe jtellten, gute Bücher zu jo billigem Preiſe herzujtellen, daß man auf einen Abjat nicht bei den Taufenden, die bisher Kunden des Buchhändlers gewejen waren, jondern bei den Hundert: taufenden rechnen durfte, die niemals einen Buchladen betreten hatten. Und fie juchten für ihre Erzeugnifje Abſatz durch Ver: mittlung der Ktolporteure.

Seit 1841 find in Deutjchland zahlreiche Vereine gegründet worden, Die jich zur Aufgabe jtellten, Bolfsbildung zu ver breiten und Bolfsjchriften zu veröffentlichen, zuerit ın Zwidau, dann in Magdeburg, Bremen (der auf A. Lammerd Anregung gegründete „Nordwejtdeutjche Volksjchriftenverlag“), Weimar u. j. w.

Einen anerfennenswerthen Erfolg auf dem Gebiete der Volksliteratur erzielte der „Verein für Mafjenverbreitung guter Schriften“. Dieſer Verein hat nach feinen Satungen den Zwed, „durch Herausgabe geeigneter Schriften den Deutjchen aller Yande, namentlich den ärmeren Schichten, guten und wohl: jeilen Xejejtoff, jowohl unterhaltender wie belehrender Art zuzu: führen, um dadurch) auf die fittliche und getjtige Hebung des Volkes hinzumirfen.“ Der Verein bejigt die Nechte der juriſtiſchen Berjönlichkeit. Die Mitglieder zahlen 3 Marf und haben dafür das Necht, die vom Verein herausgegebenen Werfe zu einem Borzugspreije zu beziehen; bei Zahlung von mindeitens 10 Mt. Sahresbeitrag erhalten ſie die Schriften „unentgeltlich“. Der Berein unterhält eine Verlagsbuchhandlung in Weimar unter dem Titel: „Schriften Bertriebsanftalt“. Der Verein wurde 1889 ge gründet und hat in den eriten Sahren jeines Wirfend eine rege Thätigfeit entfaltet.

Der Maffenvertrieb der Bolksliteratur. 93

Der Berein hat in Deutjchland Zweigvereine gegründet und auch in deutjchjprachigen Gegenden des Auslandes feiten Fuß zu fajjen gejudht. Er hat nicht immer den Erfolg und die An— erfennung gefunden, die er erwartet hatte. Auch im gejchäftlichen Betrieb hat es nicht an Schwierigkeiten gefehlt, weil der wohl: organijirte Kolportage-Buchhandel den Berein als einen Son: furrenten anjah und der Sortimentsbuchhandel ſich nur wenig dafür intereffirte.

Nach dem erjten Gejchäftsbericht des Vereins wurden bis zum 1. Januar 1891 251552 Hefte (a 10 Pig.) gegen fejte Bezahlung, 77555 Hefte gratis, 810 Halbjahrbücher und 1317 Marfbände, bis zum 1. Juni 1891 dagegen 505657 Einzelhefte, 1259 Halb- jahrbücher und 3361 Marfbände ausgegeben. Gegen Mitte des Sahres 1892 aber hatte der Verein (jeit 1890) ca. 1 Million Einzelhefte und über 10000 Exemplare der verjchiedenen Band: ausgaben abgejegt. Nach dem Nechenjchaftsbericht für 1892 hatte der Berein 5443 Mitglieder (Ende 1891 5663). Als Endergebnif jeiner Ihätigfeit jtellte fich) mit Abjchluß des Jahres 1892 ein Gejammtvertrieb von 1 250 529 Einzelheiten, 6819 Halbjahrbüchern und 9060 Marfbänden, jowie 739 Einbanddeden heraus. 172507 Einzelhefte wurden von der Anjtalt jelbjt, 1026 831 vom Berein ald Gratis » Vertriebs bezw. Agitationsmaterial verbraucht. Dies it jedenfalls ein bemerfenwerthes Reſultat, aber der Berein hat doch nicht den Erfolg gehabt, den man erwartet hatte, und in den legten Jahren hat man nichts mehr davon gehört.*)

Sm Jahre 1890 erließ der Verein ein Breisausjchreiben, nach welchem unter 83 Manujfript-Einjendungen dem Charafterbild aus dem Chiemgau: „Der Buppenjpieler* von Karl Schultes, Hof: theater-Direftor a. D., der angejette Preis von 1000 Mark zu: erfannt ward. Außer diefem Preiſe erhielt der Verfaſſer 350 M. Honorar. Für das Berlagsrecht der übrigen Erzählungen wurden nur jehr geringe Honorare (75 bis 250 ME) gezahlt. Im Jahre 1893 übernahm der Verlag die Armand’schen Romane, für deren Neuausgabe der Berfafjer zu feinen Lebzeiten 60 000 ME. verlangt hatte; jein Nechtsnachfolger überlieg fie dem Verein ohne fejte Honorarzahlung unter der Bedingung, daß ihm von einem etwaigen Reingewinn ein Anteil von 300/0 zufäme.

Der Berein hatte vorher jchon mit älteren und neueren Werfen

) Den Weimarer Verlag des Vereins finde ich nicht einmal mehr im Buchhändler: Adreßbuch verzeichnet.

94 Der Mafjenvertrieb der Bolksliteratur.

mannigfache Berjuche gemacht. Er fam dann zu der Ueberzeugung, daß er einen zeitgemäßen Noman aus der Gegenwart von einem erprobten Schriftiteller bringen müſſe. Da er jich feine fertigen Romane zur Auswahl vorlegen laſſen konnte, entjchloß er jich, einen für jeine Zwede pajjenden Noman in Auftrag zu geben. Zu dem Zwede erjuchte er eine Anzahl Schriftiteller um Einjendung von Entwürfen und hat dann Mar Kretzer mit der Ausführung eines ſolchen Romans beauftragt. „Slaubten wir doch aus dem Ent: wurfe zu erjehen, daß ber aller Feſthaltung einer idealen Tendenz e8 an der realijtiichen Ausgejtaltung im einzelnen nicht feblen würde, auf die bei unferen Zwecken nicht verzichtet werden darf.“ Der Berfafjer erhielt für den Roman „Irrlichter und Gejpeniter“ (3 Bände mit zujammen 1376 Zeiten) 18000 Mk. Honorar. Hierzu famen bedeutende Stojten für die Agitation. Der Erfolg entjprach dieſen Aufwendungen nicht, und der Verein bat aud) meines Wiljens jeither feine bejonderen Anjtrengungen mehr zur Erlangung guter Werfe gemacht. Bor einigen Jahren verjandte er ein Nundjchreiben an zahlreiche Schriftiteller, um fie zu erjuchen, ihre Werfe zum unengeltlichen Abdrud zu überlafien. Unter den deutjchen Schriftitellern find nun aber nur wenige jo gejtellt, da jie umfonjt arbeiten fönnten, und bei den Schriftjtellern gilt es doch auch: „Jede Arbeit it ihres Yohnes werth.“

Auch der Abdrud der für den Verein erworbenen Erzählungen in Zeitungen zweds Erſchließung einer „wenn auch bejcheiden, je doch jicher fliegenden Einnahmequelle* entjpricht meiner Anſicht nach nicht den Zweden des Vereins.

Welch große Hoffnungen hatte man an diejes Unternehmen gefnüpft! Man leſe nur einmal, was August Yammers in Weiter: manns Monatsheften (Dezember 1889) darüber jchrieb. Er wies auf die wenigen aus der deutjchen Nationalliteratur für die Ber: breitung im Volke geeigneten Werfe hin:

„Es muß fortan in Menge wahrhaft gut gedichtet und neu gefchrieben

muß eine Nationalliteratur der Zukunft gejchaffen werden. ...

Sinnergreifende Schöpfer wie Ludwig Anaus, Benjamin Bautier,

Franz Defregger und ihres gleichen werden bald gewiß die Dedung

des Volfserzählungsheftes, das zu Hunderttaufenden hinausgeht, mit

ihren Umjfchlagbildern nicht mehr für unter ihnen ftehend erachten.

Vielmehr wird dies dem wahren Nationalmaler und Menſchenfreund

gerade als die echte jozialreformatorische Aufforderung ins Herz greifen.

Wenn die edle Weimarer Unternehmung gelingt, an welcher Fein

*) Rechenſchaftsbericht des Vorſtandes. Weimar 1893.

Der Mafjenvertrieb der Bollsliteratur. 95

Geminntrieb haftet, wird fie binnen wenigen Jahren echte Volks: Ichriftjteller aus den Windeln ihrer unbewußten Talente herauägefördert haben und fie beftimmen, jahraus jahrein freudig für die Hundert: taufende und Millionen zu jchaffen, welche ſich durd fie erjt ganz unbewußt, dann immer bemwußter und danfbarer vom Seelenftaube reinigen, von geiftigen Feſſeln befreien und allmählich in das mwahre Verjtändniß ihrer Zeit wie ihrer Umgebung einführen lafjen wollen.”

Einen Bolfsjchriftiteller hat der Weimarer Verein nicht entdeckt, und fein großer YJeichner hat ſich für das Unternehmen interejirt. Es jcheint, als ob doch die Organijation nicht ganz die richtige aewejen jet.

Schon 1894 bezweifelte Julius Lippert*) mit Recht, „ob ein Dundert oder Taufend guter und mittlerer, neu gejchriebener oder neu gedrudter Nomane mehr durch ihre Ertjtenz und Verbreitung die der jchlechteren vernichten werde.“ Und er fügte hinzu:

„Uns ſcheint es eben nicht, daß der Geſchmack an der jchlechteren

Sorte nur deshalb noch vorhanden iſt, weil es an der bejieren fehlte.

Man kann nicht überjehen, daß ſich im Laufe der Zeit der Geſchmack

ganz mejentlich gehoben und gebejjert hat, und daß, von den Ertra-

vaganzen neuer Richtungen abgejehen, Verfaſſer und Verleger diefem

Umjtande Rechnung tragen und fragen müſſen. Wir haben und

produziren noch täglich einen Weberfluß von guter und bejter Inter:

haltungsliteratur, und wenn ein jo groß angelegter Verein auch nur ein Theilden von jener „Bedeutung für die Zufunft des deutjchen

Volkes“ gewinnen will, die ihm vorjchwebt, jo wird es nicht ſowohl

durch jeine Produktion als durch die Art der Verbreitung geichehen

fönnen; aber auch dann bleibt noch die Frage, ob auf der Hintertreppe der Kolporteur in objektiv befjerer Waare dem mit der fchlechteren den Rang ablaufen wird.“

Hierzu muß denn doch bemerft werden, daß zur Verbreitung quter Bücher meiſt nicht die Anjtrengungen gemacht werden, wie zur Verbreitung jchlechter Kolportage-Romane. Der große Abjat, den die Weimarer Hefte immerhin gefunden haben, beweijt doc), daß auch bejjere Sachen Käufer finden.

Lobend muß man es anerfennen, daß bisher auch jchon andere gemeinnüßige Vereine zahlreiche gute Schriften unters Volk gebracht haben. Außer den eigentlichen Vereinen zur Verbreitung von Bolfsbildung haben z. B. die verjchiedenen Genojjenjchaftsverbände manche gute Schrift verbreitet.

Auch im Ausland finden wir jolche Vereine. Zu den ältejten gemeinnüßigen Körperjchaften, die ſich auch die Verbreitung guter

* 25 Jahre des Strebens für Volksbildung. Prag 1894. S. 24.

96 Der Maffenvertrieb der Volksliteratur.

Schriften angelegen jein lajjen, gehört wohl die „Gejellichait zur Förderung des Guten und Gemeinnüßigen“ in Baſel, deren Gründungszeit in das Jahr 1777 zurüdreicht. Die Thätigfeit diejes Vereins zur Förderung der Volksbildung it eine außerordentlich umfajjende; außer Schriftenherausgabe gehören Vortragsveran: italtungen, Volksbüchereien und Muſeen, Kindergärten, Fortbildungs— und Fachſchulen aller Art zu jenem Programm. Cine ähnliche „Sejellichaft für Gemeinnügigfeit“ wurde 1810 in Zürich gegründet. Beide Vereine haben nur einen örtlichen Wirfungsfreis und werden durch ziemlich hohe Mitgliedsbeiträge (in Bajel 3. B. 10 Fr. jähr- lich) erhalten.

In der Schweiz giebt es außerdem mehrere „Vereine für Ver: breitung guter Schriften“ (in Bajel, Bern und Züri). Sie be jtreben jich, in der Bekämpfung der jchädlichen Literatur mit der Schule und dem Elternhaus Hand in Hand zu gehen, wie fie es ji) auch angelegen jein laſſen, die Beitrebungen des „Schweiz. Vereins gegen unjfittliche Literatur“ energijch zu unterjtügen. Die einzelnen Schwejtervereine, die den Vertrieb der Schriften auch ın Negie betreiben, unterhalten unausgejegt einen regen und freund: ichaftlichen Verkehr. Jeder Verein veröffentlicht jährlich etwa vier Hefte, die zu je zehn Gentimes verfauft werden. Der Basler Verein hat auch ein Haushaltungsbuch veröffentlicht, das die Haus- frauen zu einer einfachen Nechnungsführung veranlafjen joll. Weld große Zahl von Schriftchen durch dieje Vereine verbreitet werden, fann man 3. B. aus folgender Angabe erjehen. Das Total der im Jahre 1893 von Bajel vertriebenen Schriften betrug, in Zehner: beftchen umgerechnet, 411900 Gremplare. Der Gejammtvertrieb in den vier Jahren des Beſtehens des Basler Vereins betrug 1507400 Exemplare. Zum Basler Rayon gehören 304 Ortjchaften und Ablagen. Die Vereine bejorgen jelbjt den Vertrieb der von ihnen herausgegebenen Schriftchen. Troß des billigen Preijes wird meijtens noch ein Ueberjchuß erzielt, jo daß 3. B. der Basler Ver: ein jedes Jahr an die zwei obern Klaſſen der dortigen Volfsjchule eine Weihnachtsgabe gratis vertheilen fann (3. B. „Heinrich von Eichenfels.*) Außerdem wird ein Nejervefonds aus Gejchenfen, VBermächtniffen und Sahresbeiträgen auswärtiger Mitglieder gebildet.

Für Böhmen bejteht ein „deutjcher Verein zur Verbreitung gemeinnüßiger Kenntniſſe“ in Prag, der bereits etwa 200 Heftchen herausgegeben hat, unter denen ſich zahlreiche werthvolle Arbeiten befinden. In dem 1869 erjchienenen Aufruf heißt es, der Verein

Der Maffenvertrieb der Bolksliteratur. 97

ſei bejtimmt, „wahrhaft gemeinnüßige Kenntniſſe zu verbreiten, vor Allem jolche, die dazu dienen, die Wohlfahrt des Volkes zu be- fördern, die Fleine Aderwirthichaft, das Fleine Gewerbe und den Arbeiterjtand in mannigjacher Weije anzuregen und zu heben, und das gejammte Volk zum Bewußtjein jeiner Rechte und ‘Freiheiten, jeiner Bedürfnifje und Ziele zu leiten.“

Seit langer Zeit bejteht auch jchon in Holland eine ganz eigenartig wirkende und weit über das Land verzweigte „Maat- schapy vor nut van’t algemeene“ (Gejellichaft für Gemeinnußen).

Man wird mich vielleicht auch an die Lejezirfel, Leih— bibliothefen und wie Dieje jchönen Einrichtungen noch jonjt heißen mögen, erinnern, die doch auch viele Bücher unters Volf bringen. Daß die Leihbibliothefen gerade in Deutjchland jo üppig emporgeblüht jind, fann man dem Volk der Dichter und Denfer wahrhaftig nicht zur Ehre anrechnen. Heut zu Tage, wo Zeit: Ichriften und Bücher jo billig find, giebt es für niemand eine Entjichuldigung, wenn er jeinen Lejejtoff aus einer Leihbibliothef bezieht. Ich möchte jchon deshalb feine Zeitjchrift und fein Buch aus einer Leihbibliothef in die Hände nehmen, weil fie viel zu Ihmugig ausjehen. Ich meine, ein etwas feinfühlender Menjch fönnte Doch eigentlich feinen Genuß von der Lektüre einer Schrift haben, in denen bereits zahlreiche Lejer mit mehr oder weniger jauberen Händen (meijtentheil3 wenig jauberen, nach dem Ausjehen der Hefte oder Bücher zu urtheilen) geblättert haben.

„Das Schlimmite,“ jagt 5. Meyer*) mit Recht, „bejteht darin, dag die Mappen in gejunde Familien gelangen, nachdem fie zuvor in jolchen gewejen, bei denen anjtedende Krankheiten herrſchten. se tiefer die Ärztliche Wiljenjchaft die Krankheitsurſachen erforjcht und je ausgedehnter die Entdedungen hierin werden, deſto ent: ihiedener jollte jeder Hausvater die Seinigen vor der großen An— jtefungsgefahr durch die Yejezirfelmappe zu jchügen juchen; er jollte jie nicht in das Haus einlajjen! Das Gleiche gilt von den Bücherleihanftalten. Die Stimmen der Verzte, die jolche Warnungen ertheilen, werden immer zahlreicher und lauter.“

Für das Geld, das man als Leihgebühr entrichtet, fann man” ih doch aus den billigen Sammlungen (Reclam, Hendel, Meyer u. ſ. w.) gute und intereflante Schriften auswählen. Der billige

*) Das Lejebedürfnis des Volkes und defjen Befriedigung. Weimar 1591. ©. 6. Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Het 1. 7

98 Der Maffenveririeb der Bollsliteratur.

Preis ermöglicht es jedem, fich etwas zu Ffaufen, was jeinen Wünſchen befonders entjpricht. Schillers Tell hat in der Reclam— ihen Ausgabe einen Abjat von 619000 Stüd gehabt, Goethes Hermann und Dorothea eine ſolche von 490000, der erjte Theil des Fauft 290000, Walter Scotts Ivanhoe 45000 und Boz— Didens’ Pickwickier 40000.

Man wird vielleicht auch auf die vielfach bejtehenden Volks— bibliothefen Hinweijen; allein welch Heiner Theil der Bevölferung benugt fie! Und vor allem, die Zandbevölferung hat feinen Nusen davon. Dr. Fränkel jagt:

„Der Miherfolg der Volksbibliotheken ift jehr einfach zu erflären:

der Kolporteur nimmt den Leuten die Mühe des Weges bis zur

Bibliothef und die noch fchwierigere Mühe der Auswahl ab. Das

Volk lieſt, was ihm ins Haus getragen, was ihm Durch den

Kolporteur mit unermüdlicher Zungenfertigfeit angepriefen, ja oft

förmlich aufgedrungen wird. Das find zunädjt die neueiten

Gouplets, auf deutſch Gaſſenhauer, Yieder, deren Inhalt ebenjo ge

mein wie dumm zu fein pflegt, was nicht hindert, daß dieſes Zeug

3. B. in den Häufern und auf den Höfen und Straßen Berlins

ausgeboten und maflenhaft gekauft wird. Vielfach trägt der

Kolporteur jelbft die von ihm feilgehaltenen Couplet3 auf ven

Höfen zum allgemeinen Ergößen vor. Es ift für den Volksfreund

fein Vergnügen, dieſes entfittlihende Treiben zu beobadten: das

allgemeine Beifallägelächter über die mit lauter Stimme in die Yüfte gebrüllten Gemeinheiten, die lebhafte Theilnahme der Dienjtmädcen und der „Frauen aus dem Volke“ (melche beide über dieſem Genuß natürlich ihre häuslichen Pflichten verfäumen), die gejpannte Auf: merfjamfeit der Kinder auf Dinge, welche ihrer Kenntniß noch lange verborgen bleiben jollten. Ein in meinem Haufe dienendes Mädden mußte uns befennen, daß fie dem Kolporteur im Laufe eines Viertel- jahres Mt. 5,25, für ihre Veryältnifje gewiß einen ſehr bedeutenden

Betrag, bezahlt habe (die Frage hat ihre nicht geringe mirthjchaft:

liche Bedeutung !), allerdings nur zum kleinſten Theil für Yieder,

im wejentlihen für einen Roman, der zwar auf das denkbar

ſchlechteſte Vapier gedrudt, aber zweifellos auch Dies nict

werth mar.”

Der Verbreitung jchlechter Kolportage-Komane fann man, wie icon gejagt, abgejehen von der Aufklärung, bei der, außer den Geiſtlichen, Lehrern, Arbeitgebern u. j. w., jeder mitwirfen kann, am beiten durch Verbreitung guter Werfe auf demjelben Wege entgegenarbeiten.*) Wenn einmal ernjtliche Verſuche auf Diejem

*) Ginen eigenartigen Verſuch Hat neuerdings Ludwig Jacobowsky gemacht, in: dem er eine Sammlung von Gedichten (300 Gedichte von 100 Dichtern) auf dem Kolportagewege zu verbreiten ſucht. Diejes Büchlein „Neue Lieder fürs

Der Maffenvertrieb der Bollsliteratur. 99

Gebiete gemacht werden, werden auch bejjere Schriftjteller ihre Mitwirkung nicht verjagen. Man wird dann auch die Mittel haben, anjtändige Honorare zu zahlen, denn gute Bücher jchreibt niemand umjonit.

Es hat jedoch feinen Zwed, immer neue Werfe zu produziren. Unter hundert neuen Werfen befindet jich vielleicht faum eines, das nur an eines der älteren bejjeren Werfe heranreicht. Dagegen bleiben Hunderttaujfende Eremplare guter Bücher unver: fauft. Die Bereine, die jich die Verbreitung von Büchern im Volfe angelegen jein laſſen, mögen jich doch an die Werleger wenden, die oft noch große Vorräthe guter älterer Werfe haben (dies thut 3. B. der Borromäusverein für die fatholischen Gegenden). Wie wäre e8, wenn die Verleger einmal gemeinjchaftlich ein Ber: zeichniß ihrer Lagervorräthe aufitellten und den erwähnten Vereinen all die Bücher, die feine Aussicht auf Abſatz mehr haben, zu niedrigen Preifen zur Verfügung jtellten? Wenn das Volk für einige Grojchen ein Buch befommt (auch wenn es eine ältere Ausgabe it), jo fauft es dasjelbe gern. Das jieht man 3. B. an den Zola-Romanen, die jegt in den deutjchen Bazaren majjenhaft verfauft werden, objchon dieje jtarf gefürzten, aber. dafür feines- wegs verbejjerten Ueberjegungen fürs Volk jo ungeeignet wie nur möglich jind. Leider entjchliegen fich die Verleger nur ungern, bejjere Werfe zu „verramjchen“ (d. h. zu einem billigeren als dem urjprünglich angejegten Yadenpreife zu vertreiben), weil jie dadurch dem Anjehen ihres Gejchäftes zu jchaden fürchten. Franzöſiſche Verleger haben dafür einen andern Ausweg gefunden. Einzelne große Verlagshäujer wie Dentu, Garnier u. j. w. über: nehmen große Poſten jolcher Auflagerefte von Romanen und populär = wijjenjchaftlichen Werfen und verjchiden jie nach den franzöfiichen Kolonien und andern überjeeifchen Yändern, wo dieje Bücher willige Abnehmer finden. Diejer majjenhafte Verjandt von franzöfischen Büchern nad) allen Teilen der Welt trägt nicht wenig dazu bei, die Ausbreitung der franzöfiichen Sprade zu fördern und zu feitigen.

Volt” ift 160 Seiten ftarf (Meines Format) und ift in einer Auflage von 100,000 Stüd gedrudt. Es koftet nur 10 Pfennig, fo dab der Vreis ficher fein Hindernis für die Verbreitung ift. Der Herausgeber will durch diejes Büchlein der Berbreitung großftädtiiher Straßenlieder entgegenwirken. Daß diefes ihm auch nicht annähernd gelingen wird, ift ja Mar, aber man darf doch darauf geipannt fein, wie das Volk eine Auswahl der beten deutjchen Gedichte, die ihm durch Kolporteure ins Haus gebracht wird, aufnehmen wird. 7*

100 Der Mafjenvertrieb der Volksliteratur.

Die preußiiche Regierung hat Ddiejes Jahr zum erjten Mal im Etat des Hultusminiteriums eine Summe von 50000 Marl zur Förderung von Bolfsbibliothefen eingejtellt. Es iſt Dies jedenfalls ein jehr Löbliches Vorhaben, allein auf dem Wege fann nur etwas erreicht werden, wenn jedes Jahr ein größerer Betrag für WVoltsbibliothefen ausgegeben wird. Einzelne Negierungs: präjidenten, Yandräthe und Schulbehörden haben jich übrigens in neuerer Zeit der Bolfsbibliothefen bereitS in erfolgreicher Weile angenommen. In England haben, wie Dr. Pieper berichtet, die Städte das Necht, eine bejondere Bibliothef-Steuer zu erheben, die jährlich bedeutende Summen aufbringt. Die Bolfsbibliothet erhält dadurch den Charakter einer Anjtalt, zu der alle Bürger beitragen und auf deren Benußung jeder Gemeinde-Angehörige ein volles Anrecht hat. Dadurch wird das Interejje der Gejammt: heit für die Bibliothef bedeutend gejteigert. Amerika ragt hervor durd) die gewaltigen, nach vielen Millionen zählenden Stiftung? jummen, die von Privatperjonen für Volksbibliotheken aufgewendet wurden. In Deutjchland haben einzelne Stadtgemeinden bislang ih) nur zu verhältnigmäßig jpärlichen jährlichen Beiträgen ver: jtehen fünnen, und an großen Stiftungen für Bolksbibliotheten fehlt es fajt gänzlich. Auch die Vereine, die jich mit der Errichtung von Bolfsbibliothefen befajien, müſſen mit bejcheidenen Mitteln auszufommen juchen. Die Gejelljchaft für Verbreitung von Volks— bildung in Berlin jucht 5. B. Bücher von Privatleuten zu erhalten, die für dieſe überflüjjig geworden jind.

Der Ausſchuß für Wohlfahrtspflege auf dem Yande befaßt ji) mit Recht auch damit, dem Bolfe Bücher zugänglich zu machen. Auf der legten Generalverjammlung hat 3. B. Hr. NRittergutsbefiger Hans von Schöning in einem VBortrage über die Wohlfahrtsein: richtungen im Kreiſe Pyritz folgendes über die Sallentiner Volks— bibliothef mitgeteilt:

„Bald nachdem ich nad Sallentin gefommen war vor etwa adıt

Jahren hielt ich darauf, daß die Unterhaltungsblätter der Lokal—

zeitungen und auch dieſe ſelbſt in die Knechtſtube kamen, d. h. in den

Raum, in welchem die unverheiratheten Pferdeknechte ihre Mahlzeiten,

erites Frühftüd, Mittag: und Abendefjen, einnehmen. ch fand,

daß die Anechte die Blätter gern lafen, und nahm an, daß die Be:

Ihäftigung mit diejer Lektüre ihnen immerhin zuträglicher jein müſſe,

als wenn jie die darauf verwendete Zeit mit Obſtſtehlen und Yiebes:

abenteuern zubrächten. SZ päterhin gab meine rau an ihre Näh— finder die als „Kleine Palmzweige“ befannten Heften zum Yejen

Der Mafjenvertrieb der Bolksliteratur. 101 aus, mit Beding der Rüdgabe. Wir beobachteten, daß dieje Heftchen oft jehr ſpät zurüdgegeben wurden und zwar lag der Grund hierzu nicht etwa in dem langjamen Durchleſen durch die Kinder, vielmehr waren die Hefte nacheinander von mehreren Familienmitgliedern gelefen worden, oft jogar in andere Familien mweitergewandert. So jahen mir bald, daß ein großes Bedürfniß nad Lefeitoff vor: handen war. Wir regten dann die Verbreitung des ‚‚Arbeiterfreundes‘' an, des wohl allgemein befannten Wochenblattes; dafjelbe fand Bei: fall, und augenblidlich werden in meinen Amtöbezirt, der nur etwa 800 Seelen zählt, 100 Exemplare defjelben gehalten, natürlich ohne daß die Leute Hierzu beifteuern; den größeren Theil der Koften tragen die Kirchenkafjen, den Reſt lege ich ſelbſt zu. Nach und nah jammelten mir Bücher an, die uns zur Ausgabe an unfere Leute geeignet jchienen. Meine Fruu ift dann fpäter der „Geſell— ſchaft zur Verbreitung von Volksbildung“ beigetreten und erhielt von diejer ſogleich 50 prächtige Bücher, die wir ſelbſt aus einer großen Zahl auswählen durften. Nach diefem Zuwachs konnte man mit Recht Ihon von einer Volksbibliothek ſprechen; viefelbe ift dann, immer mehr, auch noch einmal durch durch die Güte der vor- bezeichneten Gefelljchaft, vergrößert worden, und zählt heute meit über 200 Bände.

Bon fleinen Erfahruugen, die Hr. von Schöning mit der Bibliothef gemacht hat, führte er Folgendes an:

„Zunächſt halten wir, menigjtens bei der Eigenart unferer Leute, die Erhebung eines Yeihgelves für ausgefchlojjen: es würde niemand bezahlen wollen, und wenn es auch noch jo wenig wäre. Sodann ift bei uns nicht darauf zu rechnen, daß die Leute kommen, fich ein Bud zu holen, nicht weil fie zu fchüchtern wären; es unterbleibt lediglih aus Schwerfälligket. So nimmt denn meine Frau auf ihren Kranfenbejuchen in den Dörfern immer einige Bücher mit und macht damit ftet3s große Freude. Sehr wichtig ift, nach unferer Beobadhtung, dag man den Geſchmack der Leute fennt und danach die richtige Auswahl trifft, nicht nur bei Anjchaffung von Büchern, auch bei der Ausgabe. Unfere Leute wählen nicht jelbft aus, man muß ihnen geben; verfehlt man dann aber das richtige, jo fann man damit die ganze Bibliothek in fchlechten Ruf bringen. So hatte meine Frau einmal den Verfuc gemacht, einem anderen Dorf: bewohner einen Theil der Bibliothek zur Verwaltung anzuvertrauen. Der Betreffende gab einmal an ein jchon älteres, gewedtes Mädchen ein Märhenbuh: das war ein Mifgriff, der zur Folge hatte, daß Schundlektüre im Dorfe Eingang fand. Meine Frau hat dann die Bücher zurüdgenommen und bejorgt die Ansgabe wieder felbjt, mas ihr übrigens viel Freude und verhältnismäßig wenig Mühe madıt. Im allgemeinen ift die für die heranwachſende Jugend gejchriebene Lektüre unſeren Yeuten als Leſeſtoff lieb und mwillfommen; die älteren lejen gern erbaulich gejchriebene Bücher. Gut bewährt hat fi die vor zwei Jahren erfolgte Beichaffung einer Bibliothef für den

102 Der Maffenvertrieb der Bolksliteratur.

Kriegerverein des und benachbarten Dorfes Dölitz. Diefelbe ift durch

den „Chriftlihen Zeitjchriften-Verein“ bezogen, deſſen Bücher dem

Geſchmack unserer Leute meift durchaus angepaßt find. Die

Bibliothefsbücher werden in Dölig in den regelmäßigen Monats:

Berfammlungen ausgegeben, find jehr begehrt und werden gern ge lefen. Ich mwiederhole zum Sclujje: es befteht zweifellos ein großes Leſebedürfniß bei unferen Leuten auf dem Yande, und mird Das- jelbe nicht mit guten Büchern oder Zeitfchriften befriedigt, jo findet um fo leichter eine in fittlicher und politifcher Beziehung bedenkliche

Lektüre Eingang.“

Hr. Landrat) Johannes in Diez a. d. Lahn hat mit der Er- richtung einer Kreiswanderbücherei guten Erfolg gehabt. Die zu dem Zwed angejchafften landwirthichaftlichen Bücher bleiben Eigenthum des Kreifes; mit den Orten wird allmählich gewechjelt. Nach dem Ausjehen der Bücher zu urtheilen, wurden am meiiten benugt die Bändchen über Schweinezudht und Ziegenzucht, aljo

"über die Zucht der Thiere des fleinen Mannes. Die Lektüre praf- tijcher Werfe it für den Landmann, den Arbeiter, Handwerker u. }. mw. gewiß von großem Nuten, aber er fann doch nicht alles im Kopf behalten, was er gelejen hat, und wie oft fommt e8 dann vor, daß er jpäter das Werf zu Nathe ziehen möchte, während es ihm dann nicht mehr zur Verfügung jteht.

Aehnlich verhält es ſich auch mit andern Büchern erzähl.nden und unterhaltenden Inhalte. Wie oft möchte man in einem Ihönen Buche, das man früher gelejen hat, das eine oder andere nochmals leſen. Man möchte e8 vielleicht auch -jeinem Sohne oder jeiner Tochter zu lefen geben, aber das Buch iſt vielleicht gar nicht mehr zu erreichen. Man fann oft die Erfahrung machen, daß gerade der gewöhnliche Mann des Volkes ein Bud, das ihm ge- fallen hat, als einen Familienjcha betrachtet, dejjen Genuß er außer jeinen Angehörigen nur jeinen beiten Freunden zu theil werden läßt. Er ift ſtolz, es zu bejigen, und das Geld, das er dafür ausgegeben hat, reut ihn nicht im Geringiten.

So ſehr ich alſo den Werth von Volfsbibliothefen, Xejehallen, Wanderbüchereien u. j. w. hoc) jchäße, jo möchte ich doch immer wieder betonen, daß man dieſen Einrichtungen nicht allein jeine Aufmerkjamfeit widmen fol. Das Volk iſt auch bereit, für Bücher Geld auszugeben. Allerdings giebt e8 ärmere Gegenden, wo der gewöhnliche Mann nicht die Mittel hat, fich Bücher zu faufen, und bier iſt es dankbar zu begrüßen, wenn ihm die Möglichkeit ge: geben wird, gute Bücher leihweife zu lefen. Aber im Uebrigen überlajie

Der Maffenvertrieb der Bolksliteratur. 103

man nicht der jchlechten Kolportage-Literatur das Feld, jondern juche auf demjelben Wege gute Bücher zu verbreiten. Herder jagt mit Recht: „Ein Buch hat oft auf Lebenszeit einen Menjchen ges bildet oder verdorben.“ Welch großen Genuß und welch großen geiftigen Gewinn fünnte das Volk aus jeiner Lektüre jchöpfen, wenn all jene Millionen Hefte werthlojer Kolportage-Romane durch gute Schriften erjegt wären!

Ruſſiſch-⸗Polen. Eine Reiſe-Studie

von

Hans Delbrüd.

Wer von unfern verehrten Lejern, jofern er nicht von Geburt oder Beruf dem Dften angehört, ift jchon einmal über die Spree gefommen? Oder wenn jchon, wie weit und wie oft? Betrachtet man es recht, jo hört für den Menjchen des Weſtens die Welt an diefem Flußrand auf. Auch der Berliner, jo weit er nicht jenjeits wohnt, fommt nicht hinüber. Das ganze amtliche Berlin, das Schloß, die Palais, die Minijterien, der Reichstag und Landtag, die Mufeen, Opern: und Schauſpielhaus, die Univerfität, das Kammergericht, die Denkmäler, die großen Hotels liegen im Weiten, auf der Seite, die nad) den vornehmen Billen-Orten, nad) Pots— dam, Sansfouci und nad) der Kulturwelt ausjchaut; unmittelbar an der Spree liegt noch die Börje und jenjeitS in dem eigentlichen alten Berlin liegt wohl das Rathhaus oder das Wallner:Theater, das ein Wejtler aufjucht, aber das jind nur einzelne Schaumjprigen, die hinüberfliegen, die eigentliche Völferwoge reicht nur bis an das Fluß-Ufer; hier brandet jie und jtaut zurüd. Der Sachje, Rhein— länder und Süddeutſche, der Berlin bejucht, der Engländer, Ameri— faner, Franzoſe, der Deutjchland bereit, bis an diefe Stelle fommt er und bier fehrt er um. Die Kurfürjten-Brüde am Schloß it die größte Völker-Scheide der Welt. Der wejtliche Berliner jelbjt, wenn wir annehmen, daß er einmal in jeinem Leben der Wiſſen— ichaft halber den Friedrichshain bejucht hat und um geographiich genau zu fein, auf der Reiſe nad) Heringsdorf oder ind Rieſen—

Ruſſiſch⸗Polen. 105

Gebirge einige Meilen weiter öſtlich bis ins Oder-Gebiet gekommen iſt der ſonſtige regelmäßige Lebenslauf führt ihn höchſtens bis an die Spree-Brücke und von dem, was jenſeits liegt, ſieht er nichts. Verreiſt er, jo verreiſt er nach dem Weſten, Süden oder Norden, aber nicht nach Oſten. Der ganze Oſten ſelber aber, durch dieſes Thor ſtrömt er ein, wenn er den Weſten aufſucht. Wie eine Rieſen-Klammer verbindet Berlin die öſtliche und weſtliche Hälfte des preußiſchen Staates miteinander, nur über Berlin ver— kehren ſie; ja der ganze andere Nordoſten, Stockholm, Petersburg, Moskau, Warſchau ſteht in Verbindung mit dem Weſten durch Berlin. Der Weſten ſeinerſeits aber kommt ihm entgegen bis an dieſen Punkt und nicht weiter. Scharf abgeſchnitten, mitten in einem Volk und Staat, ja mitten durch die Stadt ſelber hindurch geht hier die Grenze zweier Welten. Um über die Spree, über die Brücke mit dem Denkmal des Großen Kurfürſten hinaus nach Oſten zu kommen, muß man ſchon dort geboren ſein, oder aber amtlich oder geſchäftlich gezwungen ſein, die Reiſe zu machen.

In jener Gegend aber, im fernen unbekannten Oſten wohnt die Sphinx, das große Räthſel der Zukunft, das Schickſal der Welt im zwanzigſten Jahrhundert und dritten Jahrtauſend. Man ſpricht von Amerika, das mit ſeiner aufblühenden Jugendkraft das alternde Europa bedrohe. Ich fürchte nichts davon. Bloße wirthſchaft— liche Kraft richtet nicht viel aus in der Weltgejchichte: erſt wenn fie fich in politische und kriegeriſche Kraft umſetzt, wird fie gefährlich. Die Vereinigten Staaten aber werden jchwerlich jemals dazu gelangen, eine große Milttärmacht zu werden. Sie wollen e8 ja garnicht und jie find ein viel zu loderes Staatsgebilde, um es, jelbit wenn fie es wollten, durchzujegen. Kriegsmacht läßt ſich nicht mehr improvifiren: in langer, bingebender, opfervoller Friedensarbeit will jie ausgebildet jein. Sollten die Vereinigten Staaten dergleichen wirklich verjuchen, jo werden jie daran eher jelber zu Grunde gehen, als daß fie e8 erreichen. Bon Amerika wird der große Stoß, der das Angejicht der Welt einmal verwandelt, nicht kommen.

Auch aus dem alten Kultur-Europa, der romanijch-germanijchen Welt jchwerlih. Die Verhältnifje find hier allenthalben jo im Gleichgewicht, dat nirgends eine jtarfe Erjchütterung zu erwarten ist. Die großen Gegenjäge haben jich jo jehr in die Tiefe zurüd- gezogen, daß, da die Welt einmal Objekte für ihre Leidenjchaft ge: braucht, ſie fi) über den ungerechten NRichterjpruch eines franzöfiichen Gerichtshofes aufregt. Bon allen Großjtaaten der

106 Ruſſiſch⸗Polen.

brüchigſte iſt offenbar Oeſterreich, aber auch an den Zerfall dieſer Moſaik-Monarchie glaube ich nicht. Eine Großmacht hat eine wunderbare Lebenskraft: ohne einen ungeheuren Rammſtoß von außen wird die habsburgiſche Dynaſtie ihre zehn Nationen noch lange zuſammenhalten.

Wie aber ſieht es in Rußland aus? Entweder die Welt bleibt noch auf Jahrhunderte ungefähr ſo, wie ſie iſt, oder wenn eine Bewegung kommen ſollte, die ihr Angeſicht verändert, ſo kann ſie nur von Rußland ausgehen. Schon einmal, beim Tode Friedrichs des Großen, war Europa in einem ſolchen Zuſtand des Gleichgewichts, daß weſentliche Veränderungen kaum irgendwo möglich ſchienen. Da brach, drei Jahre nach dem Hinſcheiden des großen Preußenkönigs, in Frankreich die innere Bewegung los, deren Gewalt Niemand auch nur entfernt geahnt hatte und die in fünfund— zwanzig Jahren revolutionärer und kriegeriſcher Krämpfe nicht bloß Frankreich, ſondern auch die Verhältniſſe von ganz Europa, die inneren wie die äußeren, die wirthſchaftlichen wie die ſozialen, Die materiellen wie Die geijtigen um und umwandelte. Es giebt en— thuſiaſtiſche Nujjen, die da meinen, daß von ihrem Lande einmal die Vollendung ausgehen werde: daß der rufjiiche Agrar-Kommus nismus Die joziale Reform-Idee der zukünftigen Kultur-Welt fein werde. Dieje Erwartung halte ich ganz jicherlicy für verkehrt. Aber dat das Geheimniß der Zufunft im Innern Rußlands zu juchen tt, glaube ich auch. Dit diefer Staat wahrhaft gejund und jtarf, jo wird er einmal Ajien erobern, die Engländer aus Indien vertreiben und die Welt beherrjchen. Iſt aber die rujjiiche Macht nur Schein, bricht die ungeheure Gebilde einmal aus: einander, jtürzt es in Anarchie, jo wird das ganz. andere Folgen haben, als wenn etwa England eine Niederlage erlitte und jeine Kolonien verlöre, oder wenn Dejterreich jich in mehrere Staaten auflöfte, oder al8 der Niedergang und die Niederlage Frankreichs gehabt hat. Die Clemente, aus denen die Staaten des alten Europa zujammengejegt jind, find ihrer Natur nad) jo gejund und harmonisch, daß jie auch nach den größten Kriſen in irgend- wie modifizirter Gejtalt fortleben fünnen. Bon Rußland aber gilt der Sat: es wird jein wie es ijt, oder es wird nicht jein. Die jtarre Einheit von Nationalität, Staat und Kirche, die das Weſen des Ruſſenthums ausmacht, läßt die Ideen des weitlichen Europa nicht eindringen, oder, wenn jie eindringen, jprengen fie dieje granitene Pyramide auseinander

Ruſſiſch⸗Polen. 107

Es iſt wahrlich nöthig, daß wir in Deutſchland die große Frage des Dftens jtudiren. Unjer Schidjal, da nach Nantes Ausdruck die auswärtige Politif die innere beherrjcht, wird davon in höherem Maße abhängen als von unjeren eigenen Partei: fämpfen. Wie e8 in England ausjieht und in Frankreich und in Amerifa, das wiljen wir. Ueber Rußland aber bewegen ſich unjere Borjtellungen in einer Art Halbdunfel. Die entgegen: gejegten Urtheile tönen an unjer Ohr; jehr Wenige aber haben jelber einen Blick in dieje eigenthümliche Welt gethan: jchon über die Kurfürjten-Brüde geht ja der Reiſende nicht hinaus. Bis nach Tiljit und Memel reicht noch Deutjchland; das iſt von Berlin noch ebenjo weit wie von Straßburg und Met dahin, viel weiter al8 von Köln oder Frankfurt, aber jchon dieje ganze Hälfte unjeres eigenen Landes wird nicht mehr bejucht und gar über die rufjiiche Grenze begiebt jich der zivilifirte Mensch jo leicht nicht. Selbit in Wejtpreußen habe ich faum Jemand gefunden, der ein: mal Weichjelaufwärts bis Warfchau gefommen wäre.

Auch ich kann mich nicht gerade rühmen, mit eigenen Augen und Ohren jo jehr viel vom Oſten in mich aufgenommen zu haben. IH habe mich nad Möglichkeit in der Literatur umgejehen, ich habe mit manchem guten Kenner gejprochen, aber ich beherrjche weder Die rufjiiche noch die polnijche Sprache und bin, abgejehen von einem furzen Beſuch in Poſen, auch erjt in diefen Wochen jo weit gelangt, ein größeres Stüd wenigjtens des ruſſiſchen Polen mit eigenen Augen zu jehen und von den Bewohnern direkt über ihre Zuftände zu hören. Erſt bei diejer Gelegenheit habe ich auch unjern eigenen deutjchen Oſten fennen gelernt, die Herrlichkeit der Marienburg gejchaut und die wunderbare Pracht des alten Danzig auf mich wirfen lajjen. Das ijt ja das Eigenthümliche, daß die Völkerſcheide, die Berlin bildet, unjer eigenes Volf theilt, day es im ganzen Wejten faum Einen oder den Andern giebt, der weiß, daß an ber Nogat eine Stadt liegt mit einem Bauwerf, ehrwürdiger und ebenjo jchön wie das Heidelberger Schloß, ja auch wohl fühn neben dem Kölner Dom zu nennen. Daß Danzig weit mehr bietet als Augsburg, vollauf rivalijiren darf mit Nürnberg und dabeı jo ganz anders, daß nur, wer beide Städte gejehen hat, jagen darf, er fenne der Charakter des alten deutjchen Bürgerthums.

Mir iſt an dem malerijchen Strande der Danziger Bucht erzählt worden von einem andern deutjchen Reiſenden, der auf dem Thurm der Marienfirche einen Hymnus auf die landichaft-

108 Ruſſiſch⸗Polen.

liche Schönheit Oſtpreußens anhörte. Der Preiſende war ein Bayer, ein Alpiniſt, der über die Dünen der kuriſchen Nehrung gewandert war und die Einjamfeit diejer wunderbaren Sandhügel zwijchen zwei Meeren jo erhaben gefunden hatte wie nur je die Schneegipfel jeiner Berge. Wer weiß von Alledem etwas im deutjchen Weiten? Aber mein Zweck ijt feine Reiſeſchilderung, jondern die Aufzeichnung einer Reihe von politischen Beobachtungen, die ich auf meiner Reije, namentlich in Warjchau, gemacht habe.

Auch die Stadt Warjchau hat meine Erwartungen übertroffen. Sehr merkwürdig jpiegelt jich in dem äußeren Anblick die ver- jchiedene Gejchichte der beiden Städte Warſchau und Danzig ab. Warſchau it als Großjtadt Die jüngere. Die mittelalterliche Hauptitadt Polens war Krakau. Warjchau war nur die Nefidenz der Derzöge von Majovien und erſt Ende des jechzehnten Jahr: hunderts fiedelten die polnischen Könige dahin über. Danzig it die Stadt des PBürgertdums. Ein Batrizierhaus jteht neben dem andern; man jieht die üppige Fülle, in der dieje Gejchlechter lebten. Warſchau Hat jolche Häufer nicht, aber es hat eine Anzahl von fürjtlichen Paläſten; neben ihnen nur die Häufer Fleiner Leute, Die jeit einem Menjchenalter modernen Miethskaſernen Pla machen. Gewiß fein gejunder politischer Zuftand, ein Wolf, das wie das polnijche nur aus Adel und beherrjchter Mafje beitand. Aber man darf ſich jenen Adel doch nicht, wie es in Deutjchland wohl vielfach geichieht, als faſt fulturlos vorstellen. Dieſe Paläſte mit ihren großen Bibliothefen, jchören Sammlungen, gejchmadvoller Aus— itattung beweijen, daß die polnische Ariftofratie doch theilnahm an jener franzöfiich-europätjchen Bildung, die das vorige Jahr: hundert allenthalben beherrjchte. Den König Stanislaus Boniatowsfi pflegt man jich als einen liederlichen Schwächling, einen jchönen Lumpaci Bagabundus vorzuftellen, mißhandelt von feiner eigenen Aritofratie. Aber dieſer König hat auch das prädtige Schlof auf dem hohen Ufer der Weichjel an der Praga:Brüde ausgebaut und jehr jehenswürdig ausgeitaltet. Das Luſtſchloß Lazienfi iſt höchjt originell und Willamow, früher den Botodi, jegt den Branıdi gehörend, tt prächtig und reich wie ein privates Nationalmujeum. Die meijten der großen alten Magnatenfamilien exijtiren auch heute noch und verfügen über einen riejigen Grundbejit, führen aber, aus Politik, Staats: und Hofdienjt verdrängt, ein Still: leben, jind auch wohl nicht mehr als die Führer der Nation zu betrachten.

Auffisch- Polen. 109

Das Merfwürdigite an Warjchau aber iſt jein heutiger Jujtand. Es gehört zu den Großjtädten, deren rapides Wachstum immer von Neuem Erjtaunen hervorruft. Es hatte vor zwanzig Jahren 325000 Einwohner, heute hat die eigentliche Stadt nad) der legten Boltszählung 638000, mit den Vororten aber bereits weit über 800000 Einwohner. Im Jahre 1840 hatte es erſt 1600 majjive Häujer. Heute it es eine Stadt größer als Hamburg, ein Induftrie- und Handelsplag erjten Ranges. Wohl fieht man viel dürftiges Volk auf der Straße, unjaubere Juden in Menge, die aus Ruß— fand ausgewiejen, jich jüngjt maſſenhaft hierhergezogen haben; die Lajtwagen find oft nur mit einem, jchlechtgenährten Pferd be: ipannt. Die ganze Lebenshaltung der unteren Klaſſen jteht noch weit unter derjenigen der deutjchen, aber die Phyjiognomie der Straßen, die Fülle und Bewegung zeigt, dal es modernes Leben tt, was bier pulfirt und mächtig fortjchreitet. Aber nicht bloß' Warſchau it in diejer Weije aufgeblüht, jondern das ganze König— reich Polen ift im Begriff, ein Imduftrieland zu werden. Es hat in dieſem Jahrhundert jchneller an Einwohnern zugenommen als jogar Deutjchland. Die Gebiete, die heute das deutjche Weich machen, hatten im Jahre 1815 etwa 241/: Millionen Einwohner, heute 55, aljo erheblich) mehr als das Doppelte. Kongreß-Polen aber wurde im Jahr 1815 auf 3 Millionen Einwohner gejchäßt und hat jegt über 9! , aljo mehr als das Dreifache. Es iſt dichter bevölfert als Frankreich; es hat 75 Einwohner auf den Quadrat: filometer, Frankreich nur 72, Deutjchland 100. Neben Warjchau erijtirt die große Fabrifitadt Lodz mit faſt 400000 Einwohnern und an der Warjchau:Wiener Bahn, in dem an Oberjchlefien angrenzenden Gebiet, wo die Bergwerfe liegen, reiht ſich Fabrik an Fabrik.

Als ich mich erfundigte, wie es mit dem Wohljtand der Bauern jtände, erhielt ich entgegengejegte Antworten; der Eine jagte gut, der andere jchlecht. Endlich aber vereinigte man ich dahin, das es auf den Standpunft anfomme: im Vergleich mit der Ver: gangenheit habe der polnische Bauer erhebliche Fortjchritte gemacht: im Vergleich mit den polniichen Bauern in Preußen aber ſei er noch auf einem recht niedrigen Standard. Die rujjiiche Regierung bat die polnischen Bauern unter den allergünjtigiten Bedingungen von ihren früheren ‚zeudalherren abgelöjt und jie zu freien Eigen thümern gemadt. Aber jie hat fulturell und intelleftuell nichts für ſie gethan; Bolfsjchulen eriftiren auf dem Lande jo gut wie

110 Ruſſiſch⸗Polen.

gar nicht. Die preußiſche Regierung hat die Bauern wirthſchaftlich bei Weitem nicht ſo günſtig geſtellt, weil ſie auch gegen den Adel gerecht ſein wollte, aber ſie hat ſie durch das Schulweſen, die prompte, tüchtige Verwaltung und die Einfügung in die Kultur und das Verkehrsweſen des ganzen Landes ſo ſehr gehoben, daß ſie es viel weiter gebracht haben als ihre Landsleute unter dem Szepter des Zaren.

So ſind zwei Stücke des alten Polen, fremden Staatsweſen eingefügt, wohlhabend geworden. Das ruſſiſche weſentlich auf induſtrieller, das preußiſche auf agrariſcher Grundlage. „Wie ſieht es denn“, fragte ich einige polniſche Herren, „in dem dritten Theil. in Galizien aus?“ „O, das grade Gegentheil,“ hieß es; „und wie kommt es,“ fuhr ich fort, „daß das einzige Land, in dem Ihre Nationalität herrſcht, nicht blüht?“

Die Antwort war bald gefunden. Sie iſt, denke ich, nach vielen Seiten von Intereſſe. Das ruſſiſche Polen iſt zu einem wohlhabenden Induſtrieland geworden, nicht etwa durch die bewußte Fürſorge der ruſſiſchen Regierung. Das größte Werk, was ſie für das Wirthſchaftsleben Polen hätte ausführen können und müſſen, die Schiffbarmachung der Weichjel, hat fie unterlaſſen. Dieſer mächtige Strom wird faum zu etwas Anderem benußt, als zum Flößen; in unabjehbaren Yinien treiben die Stämme aus Den galiziichen Wäldern hinab nad) Danzig, um hier bearbeitet oder verfrachtet zu werden. Selbit flache Kähne fieht man nur wenig und ein vereinzeltes kleines Dampfichiff fährt, wenn der Wajjer- itand es erlaubt. Beliebig treten die Gewäſſer in den Niederungen über die Ufer und treiben die Sandbänfe hierhin und dorthin, jo daß das Fahrwaſſer ſich täglich verändert. Rußland aber denkt nicht daran, koſtſpielige Stromarbeiten auszuführen, um den Polen eine Wohlthat zu erweiſen. Selbſt mit Eifenbahnen tjt das Land noch ganz jparjam ausgeitattet. Eigentlich nur neun Linien ziehen jich durch diejes Land, das an Umfang einem Viertel des deutjchen Neiches gleichfommt. Steine direkte Linie geht nach Poſen oder Breslau; in großen Bogen und Winkeln über Thorn und Skiernewice muß man fahren, wenn man von Berlin nach Warſchau will. Dennoch jind e8 die Ruſſen gewejen, die freilich jehr wider ihren Willen Polen zum Induftrieland gemacht haben: indem fie Polen mit ihrem eigenen Staatsförper verbanden, liefert fie ihm diejen als Abjaggebiet aus. Um der unfruchtbaren Sandgegend von Lodz einigen Verdienſt zu verjchaffen, jiedelte die Negierung (als jie noch

Ruſſiſch-Polen. 111

unter ruſſiſcher Hoheit, aber ihrem Charakter nach polniſch war) deutſche Weber an. Aus dieſer Anſiedlung iſt die gewaltige Fabrik— ſtadt entſtanden. Sie hatte vor aller ruſſiſchen Konkurrenz den Vorzug, an der Grenze Kultur-Europas zu liegen, von Deutſchland die leitenden Perſönlichkeiten, wie die Maſchinen, wie alle neuen Anregungen, wie die Kapitalien zu beziehen, und konnte dabei, durch den hohen, ruſſiſchen Zoll geſchützt, den Vertrieb immer weiter in die Maſſen des ruſſiſchen Volkes hinein ausdehnen. „Die Reiſenden haben das Glück von Lodz gemacht“, ſagte mir mit Selbſtbewußt— ſein ein Mitglied dieſes Standes, das ſeit Jahren ganz Süd-Ruß— land durchzog. Lodz iſt eine faſt deutſche Stadt mit deutſcher Zeitung; die Sprache in den Geſchäften iſt deutſch und die Polen lieben die Stadt nicht. Aber von dieſer deutſchen Induſtrie auf ihrem Boden haben ſie ſelber gelernt und ſind in flottem Zuge, nunmehr, namentlich in Warſchau, auch einen eigenen Mittel- und Induſtrie-Stand auszubilden. Schon rüſtet man ſich in Warſchau, einmal der Ausgangspunkt der ſibiriſchen Bahn zu ſein. Warum Warſchau? Weil in Warſchau das eigenthümliche ruſſiſche Bahn— Syſtem mit der etwa zwanzig Zentimeter breiteren Spurweite anfängt. Hier alſo muß Alles, was aus Europa kommt, umgeladen werden. Das iſt der natürliche Umſchlags-, Sortier- und Pack— Platz. Jede neue Erwerbung, die Rußland für ſich macht, macht es zugleich auch für die polniſche Induſtrie, die ſeiner eigenen, älteren, mehr und mehr auf den Leib rückt. Schon bringt Polen, das noch nicht ein Dreizehntel der Volksmaſſe des ruſſiſchen Ge— ſammtreichs einſchließt, ein Sechstel ſeiner ganzen Eiſen- und Stahl-, ein Viertel ſeiner Textil-Produktion hervor.“)

Gerade umgekehrt, wie man nun ſofort ſieht, liegt es in Galizien. Kongreß-Polen wurde verbunden mit einem wirthjchaft- (ich inferioren, Galizien mit einem überlegenen Gebiet. Wien und Böhmen verforgten das öfterreichijche Polen jo reichlich mit Induſtrie— Artikeln, dat eigene Manufakturen nicht auffommen fonnten. Dieje natürlichen Verhältnifje find jtärfer als alle Pläne und Bejtrebungen einer Regierung. Galizien iſt ein rücjtändiges agrarijches Gebiet geblieben: erjt regierte hier die indolente öſterreichiſche Bureaufratie, dann fam der polnijche Adel wieder ans Negiment: das Ergebnif it Fortſetzung deſſen, was wir in Deutjchland „polnische Wirthjchaft“ nennen. Armuth, Wucher, Korruption find die Phyſiognomie diejer Zandichaft und dieſer Gejellichaft.

*) Neue Zeit. 14. Jahrgang. 2. 3b. €. 466. (1891.)

112 Ruſſiſch⸗Polen.

Sollen die Polen den Ruſſen nun dankbar ſein, daß ſie ſie aus ſolchen Zuſtänden gerettet und davor bewahrt haben? Dazu gehörte doch wohl, daß die Ruſſen, dies zu leiſten, den guten Willen gehabt hätten, wie etwa die preußiſche Regierung, die doch mit vollem Bewußtſein ihre polniſchen Unterthanen in das deutſche Kulturleben übergeführt hat und ſie gern und voll daran theilnehmen läßt. Die ruſſiſche Regierung aber hat Alles gethan, was in ihren Kräften lag, den polniſchen Aufſchwung zu verhindern. Ihre Schutzzölle ſollten dienen, in Moskau, am Don und am Ural eine Induſtrie großzuziehen, aber nicht in Warſchau, Lodz und Czenſtochau. Mit aller wünjchenswerther Deutlichfett wurde das amtlich aus— gejprochen. Als 1887 die Eijenzölle von Neuem erhöht wurden, ordnete der Allerhöchite Befehl vom 21. April/3. Mai an: „Den Miniitern der Neichsdomänen und der Finanzen wird aufgetragen, baldmöglichit gemeinfam auszuarbeiten und zur Prüfung in vor— gejchriebener Ordnung vorzujtellen Vorjchläge zu Maßnahmen, um in den wejtlichen Grenzgebieten der weiteren Entwidlung der be- jtehenden und der Entjtehung jolcher neuen Gußeifenjchmelzereien und Gijenwerfe vorzubeugen, welche mit fremdem Material und unter Beihülfe fremder Arbeiter arbeiten“. Aber diejer Allerhöchite Befehl iſt machtlos geblieben, denn die große Induſtrie blüht nur auf Nulturboden und davon findet man in Rußland nocd immer unendlich wenig, in Bolen, dem Nachbarlande Deutjchlands, viel mehr und das giebt den Polen über Rußland ein wirthichaftliches lebergewicht, welches ſich durch das Anwachjen des intelligenten polnischen Mitteljtandes noch fortwährend weiter ausdehnt. Neben den Deutjchen und deutjchiprechenden Juden, die ja vorlängjt im wirtbichaftlich-indujtriellen Yeben Rußlands eine prävalirende Rolle gejpielt haben, treten jetzt ſehr jtarf die Polen auf. Ich fragte einem hohen ruſſiſchen Beamten, der im Unterrichtswejen iteht, ob es richtig jet, daß gerade die Verdrängung der Bolen aus dem Beamtenthum dem polnischen Wirthichaftsieben durch Die Sntelligenzen, die in diefe Sphäre hinübergejchoben würden, jo jebr zu Gute fomme. Nicht nur das, jagte er, jondern jchon auf Die polnischen Schulen wirft es. Jedes polnische Kind weiß bereits: ich habe nirgends in den hohen Behörden einem Onfel oder Better, der mir einmal helfen wird; nur durch) mich jelbjt fann ich etwas erreichen. So werde jchon von früh auf jedes fleinjte Talent bei den polnischen Knaben wie Mädchen jorgjam ausgebildet. Die Ruſſen aber wüßten, daß jte im Tſchinownikthum auf jeden

Nuffifh-Polen. 113

Fall ihr Unterfommen finden. So gejchieht es, daß der Stand der polnischen Techniker weit nach Rußland hinein berufen wird, um die ruffiichen Arbeiter anzuleiten und zu beaufjichtigen. Aus freiwilligen Gaben jind jet mehrere Millionen Rubel zujammen- gebracht, um in Warjchau ein Bolytechnifum zu gründen.

Der industrielle Aufjchwung, den Polen genommen, hat jo viel Wohljtand ins Land gebracht, daß man jelbjt die jehr üble Lage, in der jich der Großgrundbefig befindet, darüber verjchmerzt. Der polnische Großgrundbefizer hat nicht den hohen Schubzoll (etwa 25°/, des Werthes), der noch heute den deutjchen jchügt; im Gegentheil, da8 Land wird überjchwemmt mit dem durch die über: aus billigen Bahnfrachten mobil gemachten innerruffifchen Getreide. Dabei ziehen im Süden die Arbeiter ab in die Fabriken und Berg: werfe, im Norden gehen jie als Wanderarbeiter über die Grenze nach Deutjchland. So it in Polen Mangel an ländlichen Arbeitern ganz wie bei uns, und bei ihrem geringen Wohlwollen für den polnischen Adel hat die ruſſiſche Negierung bisher nichts gethan, dem abzuhelfen. Jetzt freilich joll fie ernitlich der Frage der Wanderarbeiter näher getreten fein und Prüfungen anjtellen. Unjere Yandwirthe mögen fich das gejagt jein lafjen: jperrt die rujjiiche Regierung einmal die Grenze und entzieht den Arbeitern das Benefizium der billigen Päſſe, jo bricht über unfere öjtliche Zandwirthichaft eine Kataftrophe herein.

Bon der eigenthümlichen wirthichaftlichen Symbioje Polens mit Rußland wird man ausgehen müfjen, wenn man den heutigen politifchen Zujtand verjtehen will. Die Ruſſen regieren in Polen, aber die Polen nugen Rußland wirthichaftlich aus. Als ich die in unjerem vorigen Heft veröffentlichte Denkſchrift des General- Gouverneurs Fürſten Imeretinsky las, hatte ich das Gefühl: wie fann ein jo kluger Mann, wie diejer georgijche Fürft offenbar ift, ji) der Hoffnung Hingeben, daß die Polen fich jemals dem rujjiihen Staatsgedanfen unterwerfen werden? Er felber jchildert ung ja, wie jchlechthin ablehnend gegen alles Ruſſiſche fich die oberen Stände bisher verhalten und wie auch der Bauernitand, der bisher zu Rußland hielt, anfängt in das andere Lager überzugehen. Wenn er jchlieglich behauptet (j. Sept.-Heft ©. 440) eine neue Strömung lafje ſich bemerfen; ein Kreis von Intelligenzen habe die Kühnheit, laut zu erklären, es jei im Interefje der polnijchen Gejellichaft, mit der rufjischen Regierung in Frieden und Ein- verjtändniß zu leben, wenn nur die Regierung feine Invafion in

Breußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 1. 8

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das Gebiet des katholiſchen Glaubens, der polniſchen Sprache und Nationalität mache darf man das glauben? Der Aufenthalt in Polen hat mich belehrt, daß die Hoffnungen Imeretinskys doch nicht ſo völlig illuſoriſch ſind. Freilich ein Theil der Polen, namentlich die Jugend, hält an dem alten Ideal eines zukünftigen, unabhängigen Nationalſtaates feſt. Aber ein ſehr großer Theil und wie mir ſcheint, die eigentliche Intelligenz und der maßgebende Theil des Polenthums hat erkannt. daß alle Träume vom zu— künftigen Nationalſtaat Utopien ſind. Früher wurden alle Hoff— nungen auf Frankreich geſetzt. Frankreich iſt herabgeſtürzt von ſeinem früheren Stand und findet ſeine letzte Zuflucht in der Allianz mit Rußland. Oeſterreich hat den Polen immer noch ge— wiſſe Ausſichten geboten; Oeſterreich iſt in völlig deſolatem Zu— ſtand. Eine Zeit lang bat man die Hoffnung auf Deutſchland gejeßt; Deutjchland ijt wieder qut Freund mit Rußland geworden und haft die Bolen. An eine Erhebung aus eigener Straft denken jelbjt die Phantaſten nicht- mehr. So hat fich eine opportunijtijche Partei ge: bildet, die geneigt tjt, dem Fürſten Imeretinsky entgegen zu kommen. Das iſt nicht etwa die alte panjlavijtısche Partei, die auf die Eigenart der Nationen verzichten will, zu Gunjten einer ſlaviſchen Raſſen— Einheit. Dieje Partei hat zum Heile Europas bei den Bolen doch immer noch wenig Anklang gefunden. Man will jich nicht der rufjischen Nationalität, jondern nur dem rujjiichen Staats: gedanken unterwerfen unter der Bedingung, daß Die polntiche Nationalität dabei erhalten bleibe. Das iſt alfo in der That das, was Imeretinsky anbietet.

Daß diejer Gedanke ein jehr fünftlicher ist, leuchtet ein. Aber die abjolute politifche Nothiwendigfeit erzwingt zuweilen jo fünjtliche Bildungen und es fehlt nicht an MAnalogien. Soeben find die Delegirten von acht deutjchen Univerfitäten in Siebenbürgen gewejen, um der Enthüllung des Denkmals für den Bifchof Teutjch bei: zuwohnen und den fernen Volksgenoſſen Zeugnig abzulegen, das wie jie mit ung, jo wir mit ihnen uns Eins fühlen in der nationalen deutichen Gefinnung. Dieje Stebenbürger Sachjen aber, in der Unmöglichkeit, je mit dem Vaterlande politifch vereinigt zu jein, haben im vollen Ernjt ji) dem ungarischen Staatsgedanfen an— gejchlofjen unter der Bedingung, daß man ihnen ihre Nationalität ungefränft läßt. So haben jie nicht nur den magyarijchen Staats: männern, jondern auch den deutjchen Gäſten verfichert und es üt nicht möglich, einen Zweifel in ihre Worte zu jegen. Etwas Aehn-

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liches nun, wenn aud) ganz von fern erjt, jcheint ſich mir in Ruſſiſch-Polen anzubahnen. Gegenüber den alten Intranfigenten bildet jich eine opportuniftiiche Partei, die auf die europäiſche Lage, die Nuglofigfeit des revolutionären Strebens, die Opfer und Schmerzen, die das ewige Martyrium fojtet, endlich auf das wirth— jchaftliche Gedeihen und die Vortheile der Vereinigung mit Ruß— land, die Schädigung, die eine Zollgrenze im Oſten anrichten würde, hinweiſt und auf Grund all diefer Betrachtungen nad) einem modus vivendi ſucht.

Wie weit diefe Stimmung bereit3 um ſich gegriffen hat, mögen einige fleine Erlebnijje und Zwijchenfälle bezeugen, wo fie ganz abſichts- und zufammenhangslos zu Tage trat.

Ich fragte in Gejelljchafteiniger polnischer Herren, ob jchon Söhne der alten Magnaten:Gejchlechter in die ruſſiſche Armee eingetreten jeien. Die Frage wurde verneint und ein junger Gelehrter, der eben erjt dazu getreten war, fügte ohne Weiteres ein „leider noch nicht“ hinzu.

Indem ich mein Erjtaunen über das Wachsthum der polnischen Induftrie ausjprad), wandte ſich das Gejpräch auch auf die ruſſiſche. Es hätte nahe gelegen, dieje der polnischen gegenüber herabzujegen. Aber ganz im Gegentheil, jo gern man auch hervorhob, wie der polnische Technifer und Adminijtrator auch) von den ruſſiſchen Kapitalijten und Gutsherren den eigenen Yandsleuten vorgezogen werde, jo hatte man doc) auc) volle Anerkennung für das Gedeihen und die Solidität der ruſſiſchen Indujtrie, die ja freilich zum großen Theil von fremden und mit fremdem Gelde betrieben wird. Um: gefehrt gab man zu, daß das überhajtige Wachjen Warjchaus mancherlei Schwindel im Gefolge gehabt habe. Man war gerade in Beforgnif vor einem Krach. Aber die wirthichaftliche Zukunft Ruß— lands wie im Bejonderen der ruffiichen Staatsfinanzen wurde höchit günftig beurtheilt. Die militärijche Kraft Rußlands, hieß es, werde im Wejten vielleicht überjchäßt, die wirthichaftliche aber unterjchäßt. Nur der rujjiiche Weinbau fand wenig Anerfennung: Der Krim— wein iſt jehr gut, Sigbäder darin zu nehmen, jonjt aber nicht, wurde mir erflärt, al8 ich wiünjchte, auch dieſes Yandesproduft fennen zu lernen. Andere freilich behaupten, es gäbe auch jehr gute Lagen.

Eine wahrhaft freudige Anerkennung fand endlich das rujjiiche Branntwein-Monopol. Es wirfe überaus jegensreich, da die jtaat- lichen Agenturen ein von jchädlichen Zubjtanzen freies, gereinigtes

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Getränk in verſchloſſenen Flaſchen verabreichen*), die verderblichen jüdiſchen Schänken aber und der Vertrieb auf Borg mit dem daran hängenden Wucher beſeitigt ſind. Vereine zur Veredelung der Volksfeſte ſuchen den Alkoholismus noch weiter mit Erfolg zu bekämpfen.

Ich glaube kaum, daß man früher, als der böſe Feldmarſchall Gurko noch in Warſchau waltete, ſo viel unbefangene Anerkennung für Ruſſiſches aus polniſchem Munde hätte hören können und ſehe darin ein Zeichen, daß das Streben des Fürſten Imeretinsky auf gegenſeitige Annäherung nicht ohne Widerhall geblieben iſt, denn nicht nur an einer Stelle, jondern an ganz verjchiedenen und bei verjchiedenen Gelegenheiten habe ich ſtets diejelbe Beob— achtung gemacht. Ob nun aber der modus vivendi wirklich ge— funden werden wird, das ijt eine Frage, die ich noch feinesmweas bejahen möchte. Die Bedingung it ja, daß die Polen den ruffiichen Staatsgedanfen annehmen und der ruſſiſche Staat it ein och, das die Ruſſen jelber faum zu tragen vermögen. Nur durch Abjperrung von der europätichen Gedanfenwelt und jtrengite, jtete Beauflichtigung glaubt der ruſſiſche Staat jeine Autorität aufrecht erhalten zu fünnen. Die Zenjur prüft jedes Wort, che e8 gedrudt werden darf, ja jelbit jede Injchrift, jedes Firmen: Schild. Iedes Buch, jede Zeitjchrift, jede Zeitung, die die Grenze pajjirt, wird einer Unterjuchung unterworfen und was dem Geiite eines loyalen ruſſiſchen Unterthanen jchädlich jein möchte, aus- gejchnitten oder durch Ueberſtreichen mit Druderjchwärze unlejerlich gemacht. Man denfe, welche Aergerlichkeiten, welche Thorheiten, welche unwürdigen Eingriffe hier täglich das Leben des gebildeten Mannes mit Bitterfeit erfüllen müfjen. Auch der perjönliche Ver- fehr mit Kultur-Europa joll möglichit unterbunden werden. Für jede Neife bedarf man eines Paſſes, der in Warſchau etwa jechs- unddreigig Mark fojtet. Katholische Priejter aber, es jet denn, daß fie ein ärztliches Attejt beibringen, erhalten überhaupt nicht die Erlaubniß zu einer Neije ins Ausland.

Das führt bereit3 auf die befonderen Bejchwerden und Be- jchränfungen, denen Polen unterworfen iſt. Zum rufjiichen Staats: gedanfen gehört die Einheit von Staat und Kirche. Zwar die

*) Jh berichte, was ich gehört habe. In ftartem Widerfpruh damit jteht, was Fr. K. Witte im feinen jüngfi erſchienenen „Ruſſiſchen Reife eindrüden“ (Roftod 1899) erzählt. Er findet zwar aud die erfte Dualität des Monopol-Branntweins ſehr gut, Die zweite, für den gemeinen Mann beftimmte aber „abſcheulich“ und dabei zu billig.

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beſtehenden religiöſen Abweichungen werden tolerirt, aber unver— brüchlich gilt das furchtbare Geſetz, daß, wer einmal zur orthodoxen Kirche gehört, nicht aus ihr austreten darf. Hunderttauſende von Katholiken ſind einmal in ſogenannten unirten Kirchen getauft worden, die ein Ukas wieder von der katholiſchen Kirche getrennt und zur orthodoxen hinübergeführt hat. Nun ſollen auch alle in jenen Kirchen Getauften und ihre Nachkommen orthodor ſein. Sie weigern ſich deſſen; ſie laſſen ſich in den orthodoxen Kirchen nicht trauen, ſchleichen über die Grenze, um in Galizien einen katholiſchen Prieſter zu finden oder leben lieber in wilder Ehe. Anarchiſch-ſoziale Zuſtände ſind die Folge.

Ruſſiſch iſt in Polen die Staats- und Schul = Sprache. Das iſt nicht ſo ſehr drückend, da Ruſſiſch und Polniſch ſehr nahe verwandt ſind. Es ſei nicht verſchiedener als Hochdeutſch und Plattdeutſch ſagen die Einen, als Hochdeutſch und Holländiſch die Anderen. Die ruſſiſche Schrift macht faſt die größte Schwierig— keit. Aber das ruſſiſche Schul-Syſtem im Ganzen genügt den Polen nicht. Die Ruſſen behaupten zwar, es ſei beſſer als das frühere polniſche, aber das beſagt vielleicht nicht ſo viel und die Polen verlangen heute mehr. Der ruſſiſche Aberglaube verhindert die Einführung des richtigen Kalenders; in Folge deſſen müſſen alle großen Feſte in Polen doppelt gefeiert werden, einmal nach dem kirchlichen (europäiſchen), zwölf Tage ſpäter nach dem ruſſiſchen Kalender. Die Schulen haben auf dieſe Weiſe nur einhundertund— fünfzig Unterrichtstage im Jahr: da kann das Lern-Penſum des modernen Menjchen jchwerlich bewältigt werden. Ueberdies ver: langen die Polen, daß wenigjtens die polnische Sprache und Yıteratur in der eigenen Sprache gelehrt werde.

Die ländliche Volksſchule Fehlt noch in Polen wie in Rußland jo gut wie ganz und das iſt nicht ein bloßes Manko, jondern Syitem. Derjelbe ruſſiſche Staat, der die oberen, lejenden Klaſſen in Vormundjchaft nimmt und ihnen vermöge der Zenſur nur die Gedanken zufommen läßt, die er jelber approbirt, derjelbe Staat wünjcht ein geiſtiges Yeben bei den unteren Klaſſen über: haupt nicht und hält es nicht nur für überflüffig, jondern für jhädlich und gefährlich, wenn fie Lejen und Schreiben lernen. Auch das Aufjteigen der begabteren Söhne des Volkes zu höherer Bildung wird möglichit hintangehalten. Die Zahl der Schulen it gering und die Stellenzahl in jeder Klaſſe bejchränkt, jo daß es jelbjt für gebildete Familien oft jehr jchwer iſt, die Schulpläge für

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ihre Kinder zu erobern. Selbſt die Zahl der Studenten in den verſchiedenen Univerſitäten iſt neuerdings auf ein Maximum feſt— geſetzt worden, um die jungen Männer beſſer beaufſichtigen zu können, und um den Geiſt der Auflehnung, der ja in dieſem Sommer zu Unruhen führte, völlig zu brechen, iſt vor wenigen Wochen ein Ukas erſchienen, wonach die Behörde jeden Studenten, der ſich an einem akademiſchen Spektakel betheiligt, ohne Weiteres auf zwei oder drei Jahre als gemeinen Soldaten in die Armee ſtecken kann. Das ſind heute noch die ruſſiſchen Ideen über Bildung, Recht und Kriegerſtand. Die Armee eine Strafanſtalt, die akademiſche Jugend unter der Fuchtel, Bildung ein Gift, das nur in kleinen Doſen gegeben werden darf. Aus ſolchen Unterrichtsanſtalten gehen die Klaſſen hervor, die das Weltreich zu regieren haben. Macht man ſich klar, was der ruſſiſche Staatsgedanke that— ſächlich iſt, ſo ſcheint es unmöglich, daß ein Volk wie die Polen, das den Anſpruch erhebt, ein Glied der weſtlichen Kulturwelt zu jein, ſich ihm jemals unterwerfe oder auch nur einen modus vivendi mit ihm finde. Aber die Noth, jagt das Sprichwort, macht wunderliche Schlafgejellen. Los von Rußland fünnen die Polen einmal nicht, und werden jie bejjer daran jein, wenn fie in der ewigen abjoluten Oppofition verharren? 8 giebt doch aud) wieder Momente, die den Ausgleich erleichtern. In erjter Linie kommt den Nufjen in merfwürdiger Weife die Abwandlung zu Gute, die ſich jüngjt in den politischen Ideen des weitlichen Europa vollzogen bat und die ich als den Banferott des parlamentarijchen Idealis— mus bezeichnen möchte. Man will ja bei uns feineswegs wieder zum Abjolutismus zurüdfehren, aber die Vorjtellung, daß man im Konjtitutionalismus den Idealjtaat erreichen würde, die die Köpfe und Herzen unjerer Väter beherrjchte, ijt vergangen. Wer jpricht heute vom Ddeutjchen Neichstag, oder preußischen Landtag, Ab— geordnetenhaus wie Herrenhaus mit bejonderem Reſpekt? Du Lieber Gott! Wer verherrlicht heute noch die freie Prefje? Man wei nicht verächtlich genug von den Zeitungjchreibern zu reden. Es it ein Rückſchlag in den Stimmungen eingetreten, der bis nach Ruß— land hin gewirft hat. Sch war ganz erjtaunt, aus polntijchem Munde zu hören, daß die Autofratie doch eigentlich die beite Negierungsform jei. Goethe hat fich ja einmal für die Ein ichränfung der Preffreiheit ausgejprochen: „Eine Oppofition, die feine Grenzen bat, wird platt. Die Einjchräntung aber nöthigt fie, geiftreich zu jein und das ijt ein jehr großer Vortheil.“

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Man dürfe nicht direkt und grob ſeine Meinung heraus ſagen, ſondern müſſe ſie feiner auf indirekte Weiſe zu verſtehen geben. Als draſtiſches Gegenſtück zu dieſem erlauchten Ausſpruch mag ich das Wort eines Polen wiederholen, der zu mir ſagte: „Wir leben hier unter der Koſakenpeitſche, aber das macht klug. Wir ſind hier mehr als unſere Landsleute in Preußen, die an der deutſchen Bildung theilnehmen. Was ſpielen dieſe denn für eine Rolle in Ihren Parlamenten?“

Das zweite Moment, das in Betracht kommt, iſt die ſoziale Folge der Umwandlung Polens aus einem Agrar- in ein Induſtrieland. Iroß aller Abjperrung dringen die jozialdemofratijchen Ideen auch in die polnische Arbeiterjchaft ein und je weiter das fortjchreitet, dejto mehr wird die Neigung der oberen Klaſſen wachjen, jich an Die beitehende Staatsgewalt, und wenn e8 auch die rujjiiche it, ans zujchliegen. Auf diefen Punkt it jchon von der jozialdemofratischen Seite jelber, durch Roja Luxemburg aufmerkſam gemacht worden. „Der polnische Adel, die polnische Geiftlichfeit und Bourgeoifie fühlen ſich wohl im Hundeloch und fangen an, die injurreftionelle Fahne abzujchwören“ zeterte ein polniſch-ſozialiſtiſcher Aufruf.

Das dritte jehr wichtige Moment, das eine polniſch-ruſſiſche Annäherung ermöglichen würde, it die Leichtigfeit, mit der die Bedingung der Polen, Wahrung ihrer Nationalität, erfüllt werden fann. Die Gefahr einer Ruſſifikation ijt für die Polen that: jächlich nicht vorhanden. Alle Gewaltjamfeiten Gurfos haben da= rin nicht das Geringjte erreicht und einfichtige, unbefangen urtheilende Ruſſen haben mir gegenüber auch entjchieden bejtritten, daß fie je beabfichtigt gewejen jet. Was man wolle und gewollt habe, jei die Durchführung der ruffischen Staatsiprache, denn Rußland jei fein söderativ-Staat. Man berief jich darauf, daß eine große polnische Preſſe ungehindert eritiere und daß der rufjiiche Staat das polnijche Nationaltheater in Warjchau nicht nur dulde, jondern aus öffentlichen Mitteln jogar unterjtüge. Was nun auch die Ab» jiht Gurfos gewejen jei, der jetige Gouverneur Imeretinsfy will jedenfall von dem Gedanken der Rujjifizirung nichts wijjen. Er jelber jpricht mit den Polen auf jeinen Gejellichaften polniſch und er hat den Polen erlaubt, dem Dichter des Patriotismus, Miciewicz, dejien Werfe nur zu bejigen, früher Sibirien in Ausficht jtellte, ein jtattliche8 Denkmal mit polnischer Injchrift zu ſetzen. Daß er damit in der That den Polen ein jtarfes Pfand für feinen Willen auf Ausjühnung gegeben hat, wird erhellen, wenn man etwa folgende Lieder der Gefangenen aus Midiewicz’ „Dziady“ Lieft:

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Der Erſte: „Damit ich gläubig werde, muß ich erſt Jeſus und Maria den Zaren, der mein Land beſudelt, züchtigen ſehen. So lange der Zar lebt und Nowoſilcow trinkt und ich ſelbſt Sibirien fürchten muß, jo lange darf Niemand erwarten, daß ich rufen werde: Jeſus, Marta!“

Der Zweite: „Was thut es, wenn ich Verbannung, Zwangs- arbeit, Stetten ertragen muß, wenn mir nur als treuem Unterthan geitattet wird, für meinen Zaren zu arbeiten! Wenn ich in den Bergwerfen mit Fleiß und Kunſt jchmieden muß, jo jage ich mir: Diejes graue Eijen wird eines Tages eine Art für den Zaren. Falls ich aus dem Zuchthauſe herausfomme und mir ein junges tatarisches Frauenzimmer zum Weibe gegeben wird, jo jage ich zu ihr: Gebäre mir einen Pahlen für den Zaren (Bahlen, der Mörder Pauls I.) Schidt man mich als Koloniſten aus, werde td) Hetman oder Bojar, jo will ich auf meinem Acker Hanf jäen, nur Hanf, für den Zaren. Aus Hanf macht man einen Strid, einen grauen Strid, den man mit Silber einflechten fann; vielleicht wirft ein Orlow die Schärpe um den Hals des Zaren. (Orlow, Der Mörder Peters III)“

Der Dritte: „Mein Geiſt war verjtummt, mein Lied lag im Srabe, aber mein Genius hat Blut gewittert, und mit einem Schrei er: hebt er fi) wie ein Vampyr, begierig nad) Blut. Er durjtet nad) Blut, nad) Blut. Ia, Rache, Nache! Rache über unſere Henter! Rache, wenn Gott will, und wenn Gott nicht will!“

Was Imeretinsty jonjt beabjichtigt, it unjeren Lejern ja bereits aus der von Herrn Rohrbach veröffentlichten Denkſchrift befannt, auch der Widerjtand, auf den er in Petersburg jtößt. Die Einführung einer Anzahl polnischer Unterrichtsitunden an den Gymnaſien, worauf die Polen natürlich bejtehen müſſen, ijt bisher noch nicht genehmigt.

Mag nun aber der General-Gouverneur durchdringen oder nicht, jedenfalls it jeine Idee die eines klugen Nealpolitifers, denn Die Ruſſifizirung Polens iſt eine Utopie. Ich jtellte einmal in einer Sejellichaft polnischer Herren in Warjchau die Frage: Wenn ein Role jich entnationalifirt, wird er dann ıeichter ein Deutjcher oder ein Ruſſe? Ein jüngerer Schriftiteller war zunächjt geneigt, ſich für den Ruſſen zu entjcheiden, indem er auf die Einheit der Raſſe und die Verwandtjchaft der Sprachen hinwies. Dann aber jchlof er fi) doch aud) den anderen Herren an, welche einjtimmig ihre Meinung dahin abgaben: leichter ein Deutjcher. Denn beim Uebergang zum Deutſchthum jet e8 dem Polen noch möglich, jeine

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Religion zu behalten; vom Ruſſenthum aber ſei unzertrennlich die orthodoxe Kirche und zu dieſer hinabzuſteigen, ſei ſchlechterdings unmöglich. Es hätte zwar in Petersburg einmal einen Mann ge— gegeben, der zugleich Pole und griechiſch-orthodox ſein wollte, aber er ſei auch einzig in ſeiner Art geweſen und werde es bleiben.

Gerade dieſe Unmöglichkeit, daß die Polen jemals Ruſſen werden, auch wenn ſie die ruſſiſche Sprache lernen und ſich dem ruſſiſchen Staatsgedanken anſchließen, erleichtert nun die Annäherung, weil die Polen dabei für ihre Nationalität nichts zu beſorgen haben. In kompakter Maſſe zuſammenſitzend, bleiben ſie unter allen Umſtänden, was ſie ſind. In Preußen ſteht es umgekehrt. Hier ſind ſie über vier Provinzen weit auseinander gezerrt, von Pleß bis an die Oſtſee, von Meſeritz (zwanzig Meilen von Berlin) bis Lyck vertheilt und faſt allenthalben mit Deutſchen gemiſcht. Die Provinz Poſen ſelber hat über ein Drittel Deutſche; rein polniſche Kreiſe und Städte giebt es nur wenige. Der Uebergang vom Polenthum zum Deutſchthum und vom Deutſchthum zum Polen— thum findet ziemlich häufig ſtatt. Miſchehen ſind zahlreich. Hätten wir jtatt der jetzigen Halbheit eine wahrhaft muthige, von Selbſt— vertrauen erfüllte nationale Bolitif, jo würde die Germanijirung vermuthlich bald Kortjchritte machen. Die Polen jelber find fich darüber auch ganz Far. Am Schlufje einer Gejellichaft in Warjchau jagte mir einer der polnischen Herren, als der Wein etwas Die Zunge gelöft hatte: „Herr Profejjor, ich will Ihnen etwas jagen, Site find ein jehr liebenswürdiger Mann, aber Sie find wie jene Zahnärzte, die in die Zeitung jegen: „Schmerzlojes Zahnausziehen.“ Sie wollen uns die Schmerzen dabei erjparen, aber unjere Natio- nalität wollen Sie uns nehmen, jo gut wie die Anderen. Aber ich jage Ihnen, wir haben eine Vitalität, die nicht zu überwinden it. Unſere Politik iſt jegt, möglichjt viel Kinder in die Welt zu jegen und WVohlitand zu eriverben, wir jind nod) zu arm. Curopa, fügte er mit troßigem Humor hinzu, hält Polen für den Krebs an jeinem Körper, aber der Krebs iſt nicht zu operiren.“

Wie wunderbar jind doch die Geſchicke der Völker. Mit welchen Hoffnungen blidten die Italiener in die Zukunft, welche Erwartung begte die Welt von der in Jahrtaujenden bewährten Genialität diefer Nation, als jie die Zerrifienheit, die Fremdherrſchaft, den Briejterdrud überwand, ihre nationale Einheit fand und als gleich: berechtigtes Volk in die Neihe der Großmächte eintrat! Wie gar jehr find dieſe Hoffnungen enttäujcht worden. Arm, elend, ohne

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Ideale, ohne Talente, ohne Erfolge kriecht dieſes moderne Italien über den Erdboden hin. Noch ſchlimmer ſteht es in Spanien. Als einzige von allen katholiſchen Nationen hält die franzöſiſche jih noch aufrecht, aber ohne wahre Freude am Dajein. Dagegen Polen, das in völlige Auflöfung verjunfen, endlich von den Nach— barn, ohne daß es auch nur einen wahrhaft großen, heroiſchen Widerſtand geleiftet hätte, aufgetheilt wurde und zum Tode ver- urtheilt, ausgelöfcht jchien unter den Namen der Völker! Gerade unter der fremden Herrichaft hat es erjt jein Volksthum gefunden. Zwiſchen einer ſtumpfen Bauernjchaft und einem wilden, ziellojen, verrätherifchen Adel iſt ein fräftiger Mittelitand emporgewachien. Die Dreitheilung hat das einheitliche nationale Bewußtjein jo wenig zerrifjen, und vielleicht weniger als das der Deutjchen, die ja auch zertheilt, unter nicht iveniger als vier Staaten, das Weich, die Schweiz, Oeſterreich und Rußland leben. Bon allen Fatholichen Nationen find die Polen, die früher bejonders gern als Berjpiel angeführt wurden, wie der Katholizismus die Völfer herunterbringe, das einzige, das vorwärts jchreitet. Man fünnte noch an Ungarn denfen, aber es ijt nicht zu vergejien, daß fajt ein Drittel der Magyaren protejtantiich it. Auch die Polen waren einmal für einen Augenblid dem Protejtantismus gewonnen. Heute find Tie fatholijch, weil der Katholizismus national iſt und fie wahren ihre Nationalität, weil fie fatholijch jind. Die großen polnischen Tichter waren katholiſche Romantifer. Aber fie faßten die Kirche anders auf, und die Stirche it hier auch etwas Anderes als in anderen Ländern. Da jie nicht daran denfen kann, nach SHerrichaft zu jtreben, jo it jie bier tolerant; jie hütet jich, den Freidenker zu verfolgen und Der Freidenker hütet jich, ſie anzugreifen, denn jie jind Bundesgenofjen gegen einen gemeinjchaftlichen Feind. Wird jie auch einmal mit diejem Feinde in ein Bündniß treten? Hier find wir wieder bei dem Ausgangspunft unjerer Betrachtung ans gelangt. Im Dften wohnt die Sphinx. Von einem Pol zum anderen jchwanfen die Räthſels-Löſungen, die Antworten, die Urtheile. Hier heit es: Rußland iſt der Koloß mit den thöneren Füßen, binnen Kurzem wird er zujammenbrechen. Dort aber: nein, jeine Kraft wurzelt in einem Boden, der unerjchöpflich iſt und Kraft zieht Kraft an, nächitens wird es jogar die Polen jeinem : Staats» gedanken unterworfen und eingegliedert haben und dann fann es ganz Europa in die Schranken fordern.

Element.

Bon

Paul Wendland, - Wilmersdorf b. Berlin.

Was heißt Element? Der Gebildete würde auf dieje Frage antworten, daß man früher Feuer, Wafler, Luft und Erde Elemente, d. h. Grundftoffe, aus denen alle zujammengejegten Körper ge— bildet jein jollten, genannt habe. Der Gebildete weiß auch, daß die moderne Chemie fiebzig und etliche Elemente unterjcheidet; er weiß vielleicht auch, daß die junge Wiſſenſchaft damit noch feines- wegs am Schlujje ihrer Weisheit angelangt it. Jedem iſt aud) ein anderer Gebrauch des Wortes geläufig: Wir reden von Elementen der verjchiedenen Wijjenjchaften, vom Elementarunterricht, al® dem Unterricht in den Anfängen des Wiſſens, wörtlich in den Buch: itaben. Da liegt auch dem Laienverjtande die Frage nahe: Welches ift der urjprüngliche Sinn des Wortes? Bezeichnete es anfänglich die Anfangsgründe des Wiſſens oder die vermeintlichen Grund— jtoffe der Körperwelt? Dieje Frage führt zu der weiteren: Welches iit die Grundbedeutung des Wortes, von welchem Stamme it es abgeleitet? Mancher Gebildete würde ſich vielleicht bei der Antwort beruhigen, es jei eben ein lateinijches Wort; der deutjche Sprad)- verein fünnte uns etwa eine oder mehrere Verdeutjchungen freundlic) vorjchlagen (durch deren Annahme wir uns übrigens eines guten Stüdes Sprach- und Kulturgejchichte berauben würden). Klügere werden der Frage gegenüber ihre Unfenntniß eingejtehen, und jie brauchen jich ihrer um jo weniger zu jchämen, als die Philologie jelbjt bisher feine Antwort auf die Frage gefunden hatte, wenigitens

124 Element.

feine überzeugende. Bon den bisherigen Berjuchen, der Bedeutung des elementum auf den Grund zu gehen, jet nur ein ganz finnreicher erwähnt. Wie wir vom ABC, die Griechen vom Alphabet reden, jo hat man elementum aus der Zujammenjtellung der Buchſtaben LMN erflärt. Aber dieje Erklärung jcheitert jchon an der That- jache, daß auch die römischen Schulfinder mit ABC anfingen, man aljo vielmehr ein Wort abecetum hätte bilden müjjen.

Der Wunſch, über Gejchichte und Urjprung des Wortes ins Meine zu fommen, hat einen unjerer erjten Bhilologen zu einer weite Gebiete der Sprachgejchichte und des menschlichen Denkens um}pannenden Unterjuchung*) geführt, die zunächit für Philologen beitimmt iſt, deren Ergebnifje aber das Intereſſe weiterer Kreiſe zu weden vermögen. Sch möchte die Yejer bitten, den Weg, den uns Diels vorangegangen it, an meiner Hand zurüdzulegen. Die weite Wanderung wird, hoffe ich, jie nicht ermüden. Denn auch ehe wir zum ‚tele gelangen und zur stage, von der wir aus gegangen find, zurüdtehren, giebt e8 am Wege manche jchöne Blume zu pflüden, manche weite Ausficht in eine Landſchaft von ojt zauberhaften Neizen zu genießen.

Diels rühmt gegenüber der landläufigen ungünjtigen Be— urtheillung mit Recht die technijchen Leiſtungen des Alter— thums**), das jogar der moderniten Zeit die Erfindung Des Waarenautomates und des Tarameters vorweg genommen hat, das nahe an der Grfindung der Buchdruderfunjt gewejen jet und ſie nur aus künſtleriſchem Gefühl verjchmäht habe, weil ein antifes Auge die jtereotype Unjchönheit des Letterndrudes nicht ertragen hätte. Er will damit jicher nicht leugnen, daß der dichterifche und jpefulative Trieb doch der Grundzug des griechischen Geijteslebens it und deſſen innerjtes Wejen uns erjt erichließt. Der Grieche faßt die Außenwelt mit jcharfem Blide auf. Aber kaum hat er begonnen, einzelne Erjcheinungen zu beobachten und zu erflären, jo meint er auch, das Weltall bemeijtern zu fünnen. Der fühne Sedanfenflug trägt ihn über alles Einzelne hinweg zu einer fünjt- lertichen Gejammtanjchauung der Welt in ihrer Entjtehung und in

*) 9. Diels, Elementum. Cine Vorarbeit zum griehifchen und Iateinifchen

Thejaurus. Leipzig, Teubner 1899. 93 ©.

*) Für die tehnifhen und naturwiſſenſchaftlichen Leiſtungen des Alterthums verweiſe ich gern auf die Schrift eines der beſten Kenner dieſer Gebiete:

M. Schmidt, Zur Reform der Haffiihen Studien auf Gymnafien. Leipzig.

1899. Wie man aud über den prakiiſchen Vorſchlag des Verfaſſers

denten mag, die Brojhüre erhebt ſich hoch über die Sintfluth moderner Reformvorſchläge.

Element. 125

ihrem inneren Zujammenhange. Es iſt leicht, diejen die wirkliche Welt Hinter ich lajjenden Flug der Phantajie zu bejpötteln, wie es oft gejchehen it. Wir Modernen könnten neidijch auf diejen fejten Glauben, allen Räthjeln der Welt auf den Grund gehen zu fönnen, bliden. Eins jollten wir nicht vergefien: Die Griechen haben nicht nur die Probleme gejtellt, mit denen die Bhilojophie noch heute ringt, in Griechenland iſt aud) der reine, uninterejjirte Geiſt der Forſchung, der nichts als die Wahrheit will, geboren worden. Was iſt ung dagegen Aegypten, Babylon, Indien ?

An der Schwelle griechifchen Denkens nun taucht das Stoff: problem auf. Giebt es wirflich jo viele grundverjchiedene Stoffe, als die bunte Erjcheinungswelt unjere Sinne glauben machen will? Oder ijt es möglich, die Vielheit zu bejchränfen oder gar der Welt einen einheitlichen Sinn abzugewinnen? „Sollte die Pflanze, die ihre Nahrung aus Erde, Luft und Waſſer zieht und jelbjt wieder dem Thier zur Nahrung dient, während thierijche Auswurfsitoffe wiederum die Pilanze ernähren helfen, die jchließlich gleich dem Thierleib in jene eritgenannten Stoffe zerfällt jollten dieje im jteten Streislauf befindlichen Wejen einander wirflich innerlich fremd und nicht vielmehr bloße Umgejtaltungen urjprünglich gleich- artiger Stoſſe oder gar eines Stoffes jein?"*), Sollle etwa das Waſſer oder die Yuft oder das Feuer der im verjchiedenen Er- icheinungsformen ſich Daritellende Urſtoff jein? Alle dieſe Hypotheſen ſind aufgeſtellt worden. Oder ſollte die bunte Welt ſich nicht bejjer erflären, wenn man dieſe Urſtoffe kombinirte und ihnen die Erde gejellte? So meinte Empedofles (5. Iahrh.), und er iſt Damit der Vater der jo lange berrjchenden Elementenlehre geworden. Aber it die Vorausjegung richtig, daß eins der uns wahrnehmbaren Stoffgebilde der Urjtoff it? Sind nicht vielleicht die qualitativen Verjchiedenheiten der Stoffgebilde nur in unjerer jubjeftiven Wahrnehmung begründet und erijtiren gar nicht in der Wirklichkeit? Iſt alfo nicht der Urjtoff hinter den ihrer jefundären Eigenschaften entkleideten Stoffe zu juchen? Und fann nicht jo die einheitliche Naturerflärung gegenüber Empedofles ihr Recht be— halten, jo Unrecht jie hatte, wenn jie von einem der fichtbaren Stoffe ausging? So etwa jchließt (Leukipp-) Demofrit, der Be- gründer der Atomenlehre. Alle qualitativen Eigenjchaften zieht er von den Dingen ab und gelangt jo zu einem Urjtoff, der aus un

*) Gomperz, Griehifhe Denker. LJ. ©. 37.

126 Element.

endlich vielen unjichtbar kleinen, im Leeren ſich bewegenden Körpern bejteht. Nur durch Gejtalt, Anordnung, Lage unterfcheiden ſich dieſe Körperchen, und auf ihrer verjchiedenen Verbindung und Trennung beruht Werden und Vergehen aller Dinge.

So fannten aljo die erjten griechijchen Denfer Element und Elemente, aber fie hatten nur die Sache, nicht den Namen, nod) nicht einen feiten Begriff, noc) nicht das dem elementum ent: iprechende storysiov (= stoicheion). Bald redet man von Wurzeln des Seins, bald von Gründen, Keimen, Oejtalten, Ideen, Atomen. Eine feſte Terminologie giebt es eben nod) nicht. Noch Platos Zeitgenofjen gebrauchen das griechiiche Wort storysia von den An- fängen des Wiſſens oder der Wiljenjchaften, nicht von den Urftoffen. In der Schule Platos erjt ift die Terminologie gejchaffen und durd die Autorität des Ariftoteles im Zuſammenhange mit der von ihm durchgebildeten Lehre von den vier Elementen zu allgemeiner An: erfennung durchgedrungen. |

Welche Vorjtellung wollten die Philojophen damit ausdrüden, daß fie die Urftoffe mit dem Namen otorysia bezeichneten? Das muß uns der jonjtige Sprachgebrauch des Wortes lehren. ateiys (= stoichos) bezeichnet jede Art von Reihe, bald die in Reih und Glied aufmarjchirenden Soldaten, bald die Neihe des Chores, bald die reihen- oder jchichtenweije gelagerten Ziegel, endlich die gewiſſer— maßen in Reih und Glied aufmarjchirenden Buchjtaben. sroryea find die einzelnen Glieder jolcher Reihen. Die Philojophen, die diefen Ausdrud zuerit von den Urjtoffen gebrauchen, vergleichen diefe mit den Buchjtaben. Wie aus den Buchjtaben, jagen fie, die Worte und der ganze Neichthum der Sprache ſich zuſammen— jegt, jo aus den Elementen unjer Leib und die ganze bunte Er jcheinungswelt.

Auch Demofrit und jeine Jünger verglichen die unendliche Kombinationsfähigfeit der Buchſtaben mit der von ihnen ans genommenen unendlichen Mannigfaltigfeit der Atomverbindungen. Shre Gegner wandten dann in dem berühmten „Sleichnig vom umgejtürzten Schriftfajten“*) das Bild gegen fie jelbit; jo wenig fünne die jchöne Welt aus einem Atomwirbel hervorgehen, wie fid aus einem auf die Erde gejchütteten Haufen von Metallbuchitaben der Katechismus Epifurs zujammenfinden fünne.

Alfo der Vergleich mit dem Alphabet, mit den Buchjtaben als

*) S. Du Bois⸗Reymond, Neden I, 254.

Element. 127

Elementen der Sprache, der Schrift und des Wiſſens hat zur Be: zeichnung der Urſtoffe mit dem gleichen Namen geführt. Dieje Bezeichnung iſt dann nicht nur in der Sprache der Philojophen (und Mediziner) feitgehalten, jie iſt in den allgemeinen Sprad)- gebrauch übergegangen, nicht ohne unter dem Einfluffe volksthüm— licher Vorjtellungen auch Wandlungen ihrer Bedeutung zu erfahren. Der Boltöglaube, der fich ſtets die Natur in allen ihren Er- jcheinungen bejeelt dachte und jich von einem unjichtbaren Geijter: reiche umgeben fühlte, die ſtoiſche Philojophie, die die Götter als Berjonififationen der elementaren Kräfte darjtellte, die perſiſche Elementenverehrung, die namentlich mit dem Meithrasdienit nad) dem Weiten dringt, die Aitrologie, die die Gejtirne als Elemente bezeichnet, jie alle wirfen zujammen, um dem Worte oTorysiov wie auch jeinem lateinijchen Mequivalent elementum eine perjön- liche Bedeutung zu geben. Die Aſtral- und Clementargeijter beginnen jchon jegt ihre verhängnigvolle Rolle zu jpielen. Man ſchwört jegt bei den Elementen, man bannt die wohlbefannte Schaar,

Die ftrömend fih im Dunfifreis überbreiter,

Dem Menſchen taufendfältige Gefahr

Bon allen Enden ber bereitet.

Wir kennen aus Zauberpapyri und Bleitafeln die Künſte, mit denen die Meijter dieje Geilter und andere Dämonen in ihre Dienfte zwingen.

Ber fie nicht fennte, die Elemente, Ihre Kraft

Und Eigenfdaft,

Wäre fein Meifter

Ueber die Geifter.

Sp nimmt das griechiiche Wort die Bedeutung des Dämon an oder bezeichnet auch die Bildjäule, der der Dämon einwohnt. Noch heute nennt der Grieche storyeıa Unholde und Schußgeifter aller Art, Baumgeijter, Fluß-, Brunnen, Teichniren. Es wäre wohl lohnend, zu verfolgen, wie dieſer Glaube an Elementargeijter, den Theophrajtus Paracelfus in eine Art wifjenjchaftliches Syſtem bringt, bei den Völkern des Mittelalters fortwirft. Das „in Pot Element“ entjtellte „Gottes Element“ zeigt jhon eine Abſchwächung des ua), den uns unjere an die voltsthümliche Natur:

——

*) „Beim Element“ muß nad Grimms Lerilon im vorigen Jahrhundert nod eine gebräudliche Betheuerung gewefen fein.

128 Element.

bejeelung anfnüpfende Dichterjprache in feiner urjprünglichen Kraft nachzuempfinden jo jehr erleichtert. „Denn die Elemente hajjen das Gebild der Menjchenhand.“

Diejer Volksglaube verbreitet ein neues Licht über den Sinn mancher Pauliniſchen Stellen, die Luther nicht richtig überjegt hat und über deren Meinung die Anfichten der theologischen Ausleger wert auseinandergehen. Paulus wirft den galatijchen Chrijten vor: „Wie möget ihr nun wieder umfehren zu den jchwachen und arm: jeligen Elementen, welchen ihr wieder von Neuem dienen wollt?“ „Alſo aud) wir, da wir noch unmündig waren, waren wir unter die Elemente der Welt gefnechtet“ (4, 9. 3). Und im Briefe an die Koloſſer 2, 8 heißt es: „Sehet zu, daß euch Niemand vers führe durch die Philoſophie und eiteln Trug nad) Menjchen: überlieferung, nad) den Glementen der Welt und nicht nad Chriſtus“. Gemeint ift die Berehrung und die Furcht vor den fosmijchen, bejonders den Sterngeijtern. So haben die Stirchen: väter aus dem Aberglauben ihrer Zeit heraus gewiß richtig ge: deutet. Die Offenbarung des Johannes fennt Engel, die über Teuer, Wafjer, Erde walten. Und zum Beweije, welche eigenartigen Berbindungen das ChrijtentyHum oft mit dem Aberglauben der Zeit einging, füge ich zu den Ausführungen von Dield noch eine Ur- funde des zweiten Jahrhunderts, in der es lautet: „Berjchieden- artig jind die Gejtirne und ihre Kräfte, heilfame, jchädliche, rechte, linke... . Bon dieſem Widerjtreit und Kampf der Kräfte rettet uns der Herr und giebt uns den Frieden vor dem Kampfe der Kräfte und der Engel, den die Einen für, die Andern wider uns führen“.

Einen weiten Weg mußten wir zurüdlegen, bi$ wir wieder beim lateinifchen elementum angelangt find. Wir mußten es, weil die römische Literatur und bejonders die römische Philojophie die meilten Gedanken von den Griechen übernommen hat und darum nur aus griechijchem Geijtesleben heraus zu begreifen ift. So hat denn auch das römische Wort eine Gefchichte, die der des griechiiden parallel läuft. Auch hier iſt die urfprüngliche Bedeutung nicht „Grund: bejtandtheil*, jondern „Alphabet“, Anfänge des Willens und über: haupt der Bijjenjchaften. Der römische Dichter Yucretiug, der begeijterte Apojtel der Atomenlehre, wendet im erſten Jahrhundert v. Chr. Die elementa, d. h. die Buchjtaben als ftehendes Bild an, um durd) Die Mannigfaltigfeit ihrer Zufammenjegungen die unendliche Fülle der Atomverbindungen verjtändlich zu machen. Und der bildliche Ge—

Element. 129

brauch führt wie jo häufig zur Prägung eines fejten Begriffes: Die elementa find die Atome. An ihn fmüpft dann Cicero an, wenn er die vier Urjtoffe Elemente nennt. Damit hat er die Tpäter überwiegende Bedeutung des Wortes gejchaffen. Es iſt nur auffällig, wie jelten der Gebrauch des Wortes noch in dem Jahr: hundert nach Eicero ijt, wie jehr auch die phyjifaliiche Bedeutung zurüdtritt. Se mehr wir und der eigentlich chrijtlichen Welt nähern, um jo ausgebreiteter wird Die Anwendung des Wortes. So bejtätigt die Statiſtik eine Erflärung diejer Erjcheinung, auf die jchon frühere Bemerkungen über den biblijchen Gebrauch des Wortes führen fonnten: „In der That giebt das Evangelium den Sclüfjel für die ſonſt ſchwer begreifliche Thatjache, daß ein ge— (ehrtes Wort populär und jchlieglich geradezu gemein wird.“

Und der Urjprung des Wortes elementum? Jede Ableitung des Wortes muß fünftig von der durch die Sprachgejchichte er: wiejenen Thatjache ausgehen, dab die Urbedeutung „Alphabet“ ift. Eine Herleitung aus einem lateinifchen Stamme it bisher nicht gelungen, gejchweige denn eine, die diejer Urbedeutung gerecht würde. Aber es war überhaupt ficher ein Srrweg, wenn man nach einer lateinischen Wurzel juchte. Bor Cicero und Lucrez be— gegnet das Wort in der römijchen Literatur nit. Das fann fein Zufall jein, e8 muß wirklich ungebräuchlich gewejen jein. Und das bejtätigt zum Ueberfluß ein römijcher Dichter des zweiten Jahr: hunderts v. Ehr., der das griechijche oruysiov gebraucht; aljo gab es noch fein römifches Erjagwort. Das bejtätigt weiter die That- jache, daß Lucrez und Cicero, wenn fie das Wort auch gebrauchen, es doch als ungebräuchlich und fremdartig empfinden, daß Cicero daneben andere Umjchreibungen gebraucht, daß das Wort jich erft allmählich und langjam einbürgert. Die jprachgejchichtliche Unter: juchung, die jeder Worterflärung, die nicht bloße Spielerei jein will, vorangehen muß, beweijt aljo, daß elementum ein Fremd— wort und jein Urjprung im Griechischen zu juchen it. Damit hat Diel3 den richtigen Weg gewieſen und vielleicht mit jeiner ans iprechenden Erflärung des Wortes auch das Ziel des Weges erreicht: Es wird und aus dem Alterthum berichtet, daß man beim Elementarunterrichte den Stleinen, um jie jpielend die Elemente zu fehren, Elfenbeinbuchjtaben in die Hand gab. Die griechijchen Schulmeijter, die nach Italien zuzogen, werden wohl die Sitte mitgebracht haben. Mit dem griechijchen elephas (elephantus) be— zeichneten die Römer nicht nur das Thier, jondern auch jeinen

Breußifche Jahrbücher. Bb. XCVIII. Heft 1. 9

130 Element.

Zahn. Bon diefem Worte oder von den lautlic), auch in griechiichen Dialeften vorauszujegenden Nebenformen elebas, elemas wird elementum zur Bezeichnung des elfenbeinernen Buch— jtabens abgeleitet jein. Das Bedürfniß, einen paſſenden Erjat für das griechiiche storysiov zu jchaffen, hat Lucrez und Cicero veranlaßt, das Wort aus der Schulitube in die Literatur ein: zuführen und an ihm Ddiejelbe Erweiterung der Bedeutung zu voll: ziehen, die einjt das griechiiche Wort erfahren hatte.

So jehen wir aus den Anfängen jinnender Weltbetrachtung den Begriff des Urjtoffes auftauchen. Die mannigfachen Wortformen, mit denen er ſich verbindet, zwijchen denen er umherirrt, ohne eine fejte Stätte zu finden, jind Zeuge, daß der Inhalt des Begriffes noch nicht feſt bejtimmt, jein Umfang noch nicht ſcharf umſchrieben it. Die Denfarbeit der großen Philoſophen erjt giebt ihm einen ſcharf bejtimmten Inhalt und bannt ihn in eine feite Form, Die der Träger diejes Gehalte wird. Und nun hat das Wort (ostorysiov) auch wieder jeine reiche Gejchichte. Es geht in den Volksmund über und muß viel von feinem urjprünglichen Gehalt verlieren, und es Ddedt den Berluft durch Verbindung mit andern Bor: jtellungen, die den Begriff fait umwerthen. Das lateinijche Erſatz— wort wird dann zu dem Behifel, das die an jein Original gebundene Tradition nad) dem Weiten und zu den modernen Nationen führt. Führwahr

Die Sprache bleibt ein reiner Himmelshauch, Empfunden nur von ſtillen Erdenſöhnen.

Feſt liegt der Grund, bequem iſt der Gebrauch, Und wo man wohnt, da muß man ſich gewöhnen.

Die Theilnahme an der Vorbereitung des Thesaurus linguae latinae hat Diels bejtimmt, ſich durch einen praftijchen Verſuch „ein Urtheil über Methode und Schwierigkeiten der Arbeit zu bilden“. Und jegt, da die Verzettelung und Erzerption der Schrift: jteller beendet und das jo zujammengebrachte Material Jedermann in München zugänglich ıjt, da die Arbeit der Ordnung und Ber: werthung des Materiald beginnt, beanjprucdht die an ®. von Hartel gerichtete VBorrede des Büchleins ein ganz bejonderes Intereſſe. Sie lehrt uns, was wir vom Thejaurus erwarten, was wir nicht fordern dürfen. Grjchöpfende Monographien, die die Geijtesarbeit und Kulturentwidelung, die ſich in der Gejchichte einzelner Begriffe wiederjpiegelt, gejchichtlich darlegen, dürfen wir nicht fordern. Das Wenige, was in dieſer Richtung bereits geleistet worden it, wird

Element. 131

natürlich verwerthet werden. Aber nur aus griechiicher Kultur fann die Sprache eines Volkes, das „die Fluth des Hellenismus über jich hat ergehen lajjen“, auf weiten Gebieten begriffen werden, und die Thatjache, daß die Gejchichte der einzelnen Wiljenjchaften und der Technik bei den Griechen erjt in den Anfängen jtedt, daß wir einen Theſaurus der griechijchen Sprache, wie wir ihn brauchen und wie er eigentlich die nothwendige Vorarbeit eines lateintjchen wäre, nicht haben, zwingt bier zur Bejcheidung und Bejchränfung, zu einer Herabjtimmung der idealjten Forderungen an die Lexiko— graphie. Möchte der Wunjch in weitere Streije dringen, daß Spezialunterfucjungen, die das Material des Thejaurus benußen, dieſem in nächſter Zeit neue Gejichtspunfte zuführten!

Und vielleicht ift auch wenigitens der erjte Anjtoß zur Er— füllung des Wunjches eines Thejaurus der griechiichen Sprache dadurch gegeben, daß Dield die unendlichen Schwierigfeiten der Aufgabe jcharf ins Auge faßt und praftifche Vorjchläge macht, fie zu bewältigen. Für ung wirds ein frommer Wunjch bleiben, ein Traum, den wir nicht mehr erfüllt jehen fünnen, der in uns das wehmüthige Gefühl wect, wie unendlich weit Wijjen und Können nicht nur Einzelner, jondern ganzer Generationen auf allen Gebieten der Wijjenjchaft hinter den legten und höchiten Zielen zurücfbleibt. Aber etwas können wir doch, die Saat ausjtreuen, die in einer nicht zu fernen Jufunft aufgehen fann, dafür jorgen, daß uns die fünftigen Generationen nicht den Vorwurf machen, daß wir nicht einmal die VBorbedingungen zum Plane des Thejaurus erfüllt haben, nicht einmal die Wege bereitet haben. Es iſt eine tief bejchämende Thatjache, daß zu einer Zeit, wo eine größere Anzahl jpäterer Autoren uns in guten Ausgaben vorliegt, für die griechtjchen Klaſſiker ſo wenig gethan it, daß man mit den Fingern einer Hand ausfommt, wenn man die volljtändigen Klaſſiker-Ausgaben aufzählen wollte, die durch methodijche Nusnugung des handichrift- lichen Material eine fichere Grundlage für den fünftigen Thejaurus geben.

9*

Der Individualismus in der Kunſtkritik.

Ton Max Lorenz.

Kürzlich hat der im Kreiſe moderner Kunſtbeſtrebungen befannte und mit Necht geichägte Kunftkritifer Franz Servaes unter dem Titel „Präludien**) ein Buch veröffentlicht, in dem er je jieben Maler und Dichter unjerer Tage charakterifirt, in der Abſicht, von typiſchen Kunftleiftungen unjerer Zeit eine eindringliche Darlegung zu geben. „An repräjentativen Erjcheinungen das Wejen moderner deutjcher Kunft und Dichtung erläutern“, wollen dieje gefammelten Aufjäge. Ich möchte dieſes jehr eigenartige und geiſtvolle Bud benugen, um daran ein paar allgemeine Bemerkungen über das Wejen moderner Kunſtkritik zu knüpfen.

Das Sennzeichnende und Bemerfenswerthe der Serpaesichen Kritik liegt in dem perjönlichen Verhältniß, in dem ſich der Kritifer zu dem Stünjtler befindet. Servaes giebt nicht ſachlich, aus be— jtimmten Geſetzen heraus begründete Analyjen und Rezenfionen einer Anzahl von Kunftwerfen, jondern er entwirft ein Bild der fünftlerifchen Berfönlichfeit, ein Bild Bödlins, Klingerd, Haupt: manns, Dehmels u. j. w. nad) dem Eindrud, den er, den jeine Perſon von der anderen, von dem betreffenden Künjtler empfangen hat. Ein folches Verfahren iſt nicht herfömmlich und gewöhnlich, wenn man das Gewohnte und Ueberlieferte in Betracht zieht. Denn früher und zum großen Theil ift es auch heute noch der Fall fand das Kunfturtheil feinen Ausdrud nicht in einem

*), Bräludien, ein Effaygbudh von Franz Servaes. Berlegt bei Schufter u. Xoeffler, Berlin u. Leipzig 1899.

Der Individualismus in der Kunfikritik. 133

perjönlichen Berhältniß des Kritikers zum Künftler, jondern in einer jachlichen Auseinanderjegung der Kritif mit dem Kunftwerf. Der Kritiker galt ald Kenner und gewijjermaßen Verwalter bejtimmter, anerfannter und allgemein für wahr und richtig gehaltener äjthetifcher Regeln und Gejege und fällte fraft diejer Geſetze und vermöge jeiner Kenntniß ein objeftives Urtheil über eine Kunjtleiftung. Sie entjprach jenen Gejegen und wurde darum gutgeheißen, oder fie verleugnete jene Gejege und wurde darum verworfen. Diejer Kunfts fritifer war Hunjtrichter. Der Kritifer von Servaes’ Art dagegen it nicht Richter, der ein Urtheil mit dem Anſpruch auf objektive Nichtigkeit und jachliche Giltigkeit fällt, jondern nichts mehr als der Freund und Dolmetjcher des Künftlers, der ihn dem Publikum gegenüber vertritt.

Warum hat fich diefer Wandel im Wejen der Kunſtkritik voll zogen? Der äußerliche und Elar erfennbare Grund liegt natürlich darın, daß alte Kunjtgejege in einer veränderten Zeit auf eine neue Kunjt nicht mehr anwendbar find. Die Weltanjchauung und die Kunftprinzipien, aus der heraus jene Gejete abjtrahirt wurden, jind zufammengebrochen. Der Künjtler jieht die Dinge nicht mehr dur das Medium einer bejtimmten, idealijtijch = philojophijchen Weltanjhauung, jondern er tritt unmittelbar in Berührung mit der Natur und giebt jeine allerperjönlichjten Eindrüde mit den Mitteln jeiner Kunjt wieder. Die modernite Kunjt ift individualiftiich. Und individualiftiich it dem entjprechend auch die moderne Kunſtkritik. Der Kunitkritifer beurtheilt das Kunjtwerf nicht mehr nach dem objeftiven Maßſtab bejtimmter Gejete, jondern er tritt, wie der Künjtler unmittelbar vor die Natur, jo unmittelbar vor das Kunſt— werf und jeine Kritik bejteht nun einfach in der Beantwortung der Frage: Wie wirft das Stunjtwerf auf mein perjönliches, unver: fäljchte8 und unvoreingenommenes Gefühl? Worauf es jegt anfommt, it nur dies: gefällt das Werf oder gefällt es nicht, erregt es Lujt- oder Unlujtgefühle, erwärmt es oder läßt es falt. Der alleinige Maßſtab ijt das Gefühl, Liegt aljo ganz im genießenden Subjeft, Der Menſch das Individuum iſt das Maß aller Dinge im Stunjtleben geworden. Der Individualismus herrſcht im Kunſt— ichaffen wie im Kunſtgenießen; er wird geradezu zum Prinzip erhoben, fajt als ein neues Gejek der Nunjtkritif verfündigt. Das gejchieht nicht etwa nur von den Publizijten der Tagesblätter und Wochenjchriften. Zujtimmend vermag Servaes an anderer Stelle aus einem fürzlich erjchienenen Werfe des Profeſſors Cornelius

134 Der Individualismus in der Kunftkritik.

Burlitt „Die deutjche Kunjt des neunzehnten Jahrhunderts“ zu zitiren: „Mein Urtheil iſt eines, und iſt nur jo viel werth, als ich jelbit werth bin. Ich jpreche es aus, weil ein innerer Trieb e8 don mir fordert, der jo berechtigt tft, wie der, welcher einen Anderen treibt, zu bilden, zu malen. Aber es hat feine Giltigfeit über mich hinaus, und ich verwahre mich für alle Fälle jelbit da: gegen, daß mein Urtheil fich nicht ändern werde. Denn jo lange wir leben, wechjelt der Stoff, der uns bildet, und wechjelt die Umgebung, von der wir abhängen. Niemals habe ich die Abjicht gehabt, mein Urtheil zum herrjchenden zu machen, jelbit wenn id es gefonnt hätte. Denn ich halte jeden jolchen Sieg für eine Niederlage.“ Da haben wir den funjtfritifchen Individualismus in der höchſten Potenz. Giltigfeit hat das Urtheil von vornherein nur für das urtheilende Individuum und auch da nur bedingt, nämlich bis zu dem Augenblid, da unter anderen, neu eingetretenen Ver: hältnifjen das Individuum in jeinem Gefühl, Gejchmad und Urtbeil ſich ändert.

E3 iſt garnicht zu leugnen, daß diejer Individualismus zeit: gemäß und darum nothmendig it. Wir haben doc) feine alle oder wenigjtens alle „Sebildeten“ verbindende Weltanjchauung mehr, ın der wir wie in einem geiltigen Nährboden mit einander wurzeln und woraus wir einen Gejchmad, ein Gefühl, ein Urtheil alle mit: einander ziehen könnten! Jener Individualismus it nicht nur von unjerm Veritande als zeitentjprechend anzuerfennen, er hat aud etwas für unjer Gefühl Liebenswürdiges. Denn er iſt aufrichtig und in jeiner Aufrichtigfeit jtolz und bejcheiden zugleich. Er jtellt den Grundſatz auf: ich bin ich und ich will und kann mir jelbit genug jein; er läßt aber auch das „ich“ jedes Anderen gelten.

Trotz alledem läßt fich bei nächiter und genauejter Beachtung doc nicht verfennen, daß diejer kunſtkritiſche Individualismus ın mehrfacher Beziehung mit jich jelbjt in Widerjpruch geräth und darum unhaltbar it. Das zeigt fich jofort jchon in der Art, wie ein individualiitiiches Kunjturtheil zu Stande fomınt.

Der Beurtheiler läßt ein Werk auf fich wirfen. Diele Wirkung äußert fich dadurch, daß Stimmungen in ihm erregt werden. Sein fritifcher Beruf zeigt jich dann darin, daß er fähig ift, Diele Stimmungen jprachlich bezw. jchriftlich zum Ausdrud zu bringen, jo daß fie auch Andern verjtändlich und begreiflic) werden. Sein: rein perjönliche, nur ihm eigene, unverfäljchte jubjeftive Stimmung hat der Beurtheiler wiedergegeben. So iſt eigentlich bei dieſer

Der Individualismus in der Kunſtkritik. 135

Art der Beurtheilung das Stunjtwerf objektiv ausgelöjcht und eriitirt nur fraft der Stimmungsfähigfeit des Betrachters. Das mag dem Künjtler vielleicht nicht ganz recht jein, denn er iſt in jeinem Kritiker auf und untergegangen, er ijt dejjen individueller Willfür ausgeliefert und dieje Willfür zieht vielleicht etwas ganz Andere aus dem Werf, als der Künſtler zu geben beabjichtigt bat. Diejer für den Künſtler fatale Fall indeß wird in der Regel doh faum eintreten, und zwar aus folgendem Grunde nicht: Wirkſam auf unjere Seele tjt nur das, was wir begreifen, was wir auch empfinden, was wir mitfühlen fünnen. Grfennen heißt im tiefjten Grunde immer Wiedererfennen, daS in der Außenwelt, was in dem Innenleben der Seele auch jchon vorhanden und nur der Berührung, des Anjchlagens von außen her bedarf, um zu erzittern und jo zu Gefühl und Bewußtjein zu gelangen. Die Möglichkeit, ein Sunjtwerf zu empfinden und zu ges nießen, wird aljo immer abhängig jein von einer Gemein» jamfeit, einer tiefinneriten Gleichheit zwijchen der Seele des Künstlers bezw. Kunjtwerfs und jeines Betrachters: dieſe Gemein: jamfeit und Gleichheit fann größer oder geringer fein, jo wie zwei Kreife jich mehr oder weniger jchneiden fünnen. Der Genuß des Betrachters iſt um jo höher, je vollfonmener die Gleichung auf: geht. So feiert z. B. Servaes meiner Meinung nach über die Maßen Richard Dehmel und jcheut nicht davor zurüd, ihn mit Beethoven in Barallele zu jegen. Der Grund ijt ficherlich eine itarfe Aehnlichfeit in der jeelifchen Struktur Dehmels und jeines Verherrlichers. Bleiben wir noch ein wenig bei dem Vergleich mit den zwei Streifen: jchneiden jich die Kreiſe gar nicht, jo wird der betreffende Künjtler für den Kritiker garnicht exiſtiren; jchneiden fie jich weniger als zur Hälfte, wird die Abneigung jtärfer als die Zuneigung jein; jchneiden fie jich gerade zur Hälfte, jo wird er jwiichen Neigung und Abneigung jchwanfen, er wird abmwägen, Licht und Schatten vertheilen, er wird objektiv fein, maßvoll im Lob und Tadel. So etwa jteht Servaes zu Hauptmann. Das aber it die Hauptjache: das Urtheil it abhängig von einer Gleichheit oder doch Aehnlichkeit der jeeliichen Struktur zwijchen Künjtler und Kritifer, von einer Gemeinjamfeit der Empfindungen, von einer innerjiten JZujammengehörigfeit. Das bedeutet aber: das Kunſturtheil ijt im tiefſten Grunde nicht individualiſtiſch, jondern es hat jozujagen etwas Soziales an ſich. Künjtler und Ktritifer jind durch etwas verbunden, dag man als Sozialismus der Seele bezeichnen

136 Der Individualismus in der Kunſtkritik.

fönnte. Ganz ähnlich wie zum Künjtler, ift das Verhältnig des Kritifers zum Publikum. Der Kritifer wird zunächit feine ‘Freude und jein Genügen haben an feiner Fähigkeit, das Kunſtwerk mit: empfinden und darum verjtehen zu fünnen, und es wird ihm fernliegen, jein Urtheil Anderen aufzwingen, als Diktator diftiren zu wollen. Solche Diktatur würde nie und nimmer Kunftempfindung und Kunſt— genuß bei den andern hervorrufen fünnen. So erklärt denn Gurlitt mit Recht: „Niemals habe ich die Abficht gehabt, mein Urtheil zum herrſchenden zu machen, jelbjt wenn ich es gefonnt hätte.“ Das aber wird doch auch der Kritifer nicht abweijen, daß ein Lejer jein Buch aus der Hand legt mit dem Gedanken: was ich da gelejen habe, das iſt jicherlich richtig, das ergreift mich, das begreife ich, das habe ich im Grunde auch jchon dunfel und verworren gefühlt, als ich vor diefem Werk Bödlins oder jenem Klingers jtand, was da jeßt der Kritiker mit jo eindringlicher Klarheit ausſpricht. Kurz gejagt aljo: auch die Würdigung und der Erfolg eines fritifchen Werfes beruht auf gleicher Seelenjtimmung. Auch der Kritiker jteht jeinem Publikum gerade dem für ihn reifen Publitum nicht als Individualift gegenüber mit dem Grundſatz: ich gegen euch Andere. Much hier herrjcht jener Sozialismus der Seele, der Künjtler, Kritifer und Publifnm verbindet, ein Kunſt— werk zur Wirkung führt und fo in gewijjem Sinne Kunſt erit möglich macht. Was Anderes aber ijt diefer Sozialismus der Seelen, dieje gemeinjame Seelenjtimmung Bieler, die durch einen Künitler ihren gejtaltvolliten und nachdrüdlichiten, durch den Kritiker ihren klarſten und begreiflichiten Ausdrud findet, al8 der Anjat zu einer Weltanſchauung, die heute erjt ald ein Drang und ein Wollen in den Herzen der Bejten und Gebildetiten empfunden, über furz oder lang aber ficherlih auch zur Gedanfenform kryſtalliſirt werden wird. So fann man die Kunjt gewifjermaßen als den Vorläufer und Wegbrecher der Philoſophie betrachten. Beide aber, Kunit wie Bhilojophie, verfchmähen, müſſen verjchmähen das Zufällige, Abgejonderte, Einzelne im Leben und leijten immer von Neuem wieder die Niejenaufgabe, durch Aufipüren und Darjtellen des Typiſchen, Unvergänglichen, ewig Lebendigen und Wirfenden die organische Einheit alles Seienden zum Bewußtjein zu bringen und die Seelen der Menjchen aus der Zerjtreutheit und Zerrifjenheit zur Gemeinjamfeit und Einheit zu jammeln und jo zu höherem

Leben zu führen. * =

Der Individualismus in der Kunfikritik. 137

Nach Servaes’ Methode hat der Kritifer nicht die Aufgabe, den Künftler wie einen Angeklagten zu richten, jondern ihn zu be— trachten und dann, nach der Betrachtung, jein Dolmetjcher zu jein. Die Seele dieje8 oder jenes Künſtlers ijt von Diejer oder jener Beichaffenheit das ijts, was den Inhalt einer Kritik aus- zumachen hat. In ſolchen Seelenanalyjen leitet Servaes außerordentlich Hervorragendes. Tieferdringenden Scharfblid und teineres Verſtändniß jelbit für entlegenjte jeeliiche Regungen wird man in der modernen Kunſtkritik nicht leicht antreffen. Er legt die Seelen der von ihm behandelten fünftleriichen Individuen bis zum Grunde blos. Und doc, glaube ich nicht, daß mit der Piychologie des fünitlerifchen Individuums jede fritiiche Ber: pflichtung eingelöft ift. Ich will mich an bejtimmte Beifpiele halten.

In dem Aufjag über Hauptmann jchreibt Servaes bezüglich der „Einjamen Menjchen*: „Wie wunderbar allein dies Motiv: dag Menjchen, die ſich lieben, jich dennoch gegenjeitig vernichten müjfen, weil fie alle miteinander „einjam“ jind und zu einander die Brüde nicht finden können! Welch ein Schmerz der Streatur liegt darin!“ Auch ich halte dieſes Motiv für „wunderbar“, d. h. für bewundernswerth, für tief und ergreifend. Es wird aber vielleicht noch wunderbarer, wenn wir entdeden, daß es garnicht den „Einjamen Menjchen“ allein zu eigen it, daß ihm nicht nur Hauptmann Ausdrud gegeben hat, jondern auch eine ganze Reihe anderer zeitgenöffiicher Künjtler in noch viel jtärferem Maße. Ich nenne vor allem Maupajjant, dann jind auch als „Einjame Menjchen“ bejonders Nagel und Glahn in Hamjuns Büchern „Myſterien“ und „Pan“ erwähnenswerth. Ich entdede aljo, daß das Motiv der Einjamfeit garnicht eine individuelle Eigenthümlich- feit Hauptmannjcher Kunft ift, daß es fich vielfach bei allerlei In— dividuen verjchiedenjter Länder findet, daß es aljo „in der Zeit“ liegt, daß das Leid der Einjamkeit gewijjermaßen ein Zujtand, eine Krankheit des Zeitgeiftes iſt. Somit ergiebt jich als kritiſche Methode folgender Gang: von der Betrachtung des Kunſtwerks zur Herleitung des Kunjtwerfs aus der Seele des Künſtlers und die Er— färung der Künjtlerfeele aus der Seele der Zeit. Jede Künjtlerjeele muß nothwendigjter Weije ein bemerfenswerthes Stüd der Zeitjeele jein, denn andernfalls könnte der Künjtler nie und nimmer veritanden und genofjen werden. Etwas abjolut Individuelles, abjolut Einjames fann es in Wirklichkeit garnicht geben. Unter „Zeitgeiſt“ verjtehen wir den einem bejtimmten Zeitabjchnitt eigenthümlichen getitigen

138 Der Individualismus in der Kunftkritik.

Charafter. Ein Zeitabjchnitt fann aber nur dadurd) eine „be: ſtimmte“ geiftige Struftur aufweijen, daß ein anderer Zeitabjchnitt von anderem Geijt bejtimmt war. Der Geift einer Zeit iſt alſo bejtimmt durch jein Andersfein, jeinen Gegenjag im Verhältnig zum Geijt einer früheren Zeit. Dem entjprechend ijt der für eine Zeit typische Künſtler am jchärfiten zu begreifen durch jein Andersjein im Verhältnig zu dem für eine entgegengejegte Zeit typtichen Künftler. Der Naturalismus läßt ſich am Beiten und im Grunde begreifen durch fein Berhältnig zum Idealismus. Und nichts vielleicht breitet ein jo flärendes Licht über den naturaliſtiſchen Hauptmann und jein künſtleriſches Wejen, als der Vergleich mit dem idealiftiichen Schiller. So gelangen wir in der Kunſtkritik vom Individualismus zum Hijtorizismus.

Noc auf andere Weije fünnen wir dazu gelangen. Servaes bejpricht vierzehn Künjtler. Was hat ihn gerade zu diejen vier: zehn geführt? In einem inneren Zujammenhang jtehen jie nicht: in einen jolchen hat er jie auch garnicht gebracht, garnicht bringen wollen, bringen brauchen, vermöge jeines funjtfritiichen In: Dividualismus, der jich auf die Betrachtung des Einzelwejens be- Ichränft. Servaes erflärt dieſe Vierzehn für „repräjentative Er: icheinungen“ innerhalb des modernen Kunjtlebens, die „über den Tag hinaus Bedeutung“ hätten. Was heißt aber eine „repräjentative Erjcheinung“ und was leijtet Garantie für die Bedeutung „über den Tag hinaus“? Servaes jteht gleich dem von ihm hoch gepriejenen Dehmel auf dem Standpunkt, daß es nicht genügt, nur ein Künftler, d. h. ein virtuojer Beherrjcher der technijchen Kunjtmittel, ein „Artiit“, zu jein. Der große Künjtler und der große Menjch laſſen ſich nicht trennen. Der große Künſtler joll Führer der Menjchbheit zu einer höheren Kultur der Seele jein. In dem Sinne jchreibt er: „Darin allein fann ich die Kulturmiſſion der Kunſt erbliden: daß, indem jie das Leben jchmüct, jie zugleich eine höhere Menſch— heit jchafft, eine, die wählertijch ift in ihren Bedürfniffen und erwählt in ihrem Empfinden; daß jomit die Kunſt ihrer entwidelungs: gejchichtlichen Aufgabe ſich bewußt bleibe: das ganze Leben mit neuem Rhythmus zu durchdringen und hierdurch ein ewiges Prä— [udium zu werden für Alles, was jingend hinaufitrebt.* In nüchterner Proſa ausgedrüdt, will Servaes aljo die das Leben weiterführenden und die Menjchen Eräftigenden Tendenzen in der Kunjt zum Musdrud gebracht und im Künſtler verförpert jehen. Sch jtimme ihm in diejer Forderung bei, frage aber: Woran iſt es

Der Individualismus in der Kunfilritif. 139

zu merfen, daß ein SKünjtler jolche Tendenzen verkörpert? Der jich jelbit genügende Individualiit fann darauf antworten: An dem heftigeren Drang meines Blutes, der jtärferen Spannung der Nerven, an der Freudigkeit der Seele, an der Seligfeit, wenn man vor ein Kunſtwerk tritt. Wer aber garantirt dem Bejchauer die Rein— beit und Xebensfräftigfeit feines eigenen Gefühls? Haben wir doc) heutzutage Menjchen, Künjtler und Sritifer, deren Blut in Wallung gerät und deren Nerven ſich jpannen erjt bei abjonderlichen, ungewöhnlichen NReizungen! Eine objektive und zuverläjjige Kenntniß der das Leben und die Seelen der Menjchen fürdernden Tendenzen fönnen wir nur erlangen, wenn wir Dieje Tendenzen als erprobt und bewährt fennen lernen, d. h. aus der Gejchichte entnehmen. In der gejchichtlichen Entwidelung müfjen wir die Kräfte aufjuchen, die als unauslöjchliche, immer wieder ans Licht tretende, unzerſtör— bare das Leben gefördert haben. Sie bieten die objeftivite Garantie dafür, daß fie auch in die Zukunft hinein ſich wirkſam und fördernd erweijen werden. Die Künjtler, die auf der Entwidelungslinie der Geiſteskultur jich befinden, die im innerjten Zujammenhang, in jich jelbjt oft unbewuhter Seelenverwandtichaft mit den vergangenen Kunitgrößen leben die bieten die meilte Gewähr für Die Zufunft.

Der moderne Individualismus will von diefem Hijtorizismus, dieſem Beſtreben, jtetS die Verbindung mit der Vergangenheit auf: zujuchen, aufzudeden und herzujtellen, gar nichts wiljen. Mit Bes wußtjein und Abficht macht man gegen den Hijtorizismus Front. Niegiche iſt auch hier, wie fo vielfach in den Beitrebungen der Modernen, der Fürſt und Führer. Im feiner 1874 erjchienenen Schrift, „Vom Nuten und Nachtheil der Hiitorie für das Leben“, Jammelt er all jein Anflagematerial gegen die hijtorische Nichtung, von der er behauptet, daß jie die Perfünlichkeit ſchwäche, ihr die unmittelbare und elementare Kraft nehme, unfruchtbar und blaß, epigonen= und greijenhaft mache. Die Inſtinkte werden unterdrüdt, der Begeilterung bleibt bei der Betrachtung und dem Kleben am Thatjächlichen, bei der jteten Rückſichtnahme auf „das, was ift“, fein Raum. Niebjche verlangt das sahrenlajjen alles dejien, was war und das Ergreifen des Augenblids. „Ber dem fleinjten aber und bei dem größten Glüde iſt es immer eins, wodurch Glüd zum Glücke wird; das Vergeſſenkönnen oder, gelehrter ausgedrüdt, das Vermögen, während feiner Dauer unhijtorisch zu empfinden. Wer ich; nicht auf der Schwelle des Augenblids, alle Vergangenheit

140 Der Individualismus in der Kunſtkritik.

vergejjend, niederlafien fann, wer nicht auf einem Punkte wie eine Siegesgöttin ohne Schwindel und Furcht zu jtehen vermag, der wird nie willen, was Glüd it, und nod jchlimmer: er wird nie etwas thun, was Andere glüdlic macht.“ Merfwürdiger und ungerechtfertigter Weije jetzt Nietjche jeiner Schrift ein Wort Goethes als Motto voraus: „Uebrigens iſt mir Alles verhaßt, was mich bloß belehrt, ohne meine Thätigfeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben.“ Diejer jelbe Goethe hat doch gerade die Begeijterung als das Beſte bezeichnet, was wir aus der Beichäftigung mit der Gefchichte gewinnen. Und er ijt mehr im Recht, wie Niegfche. Denn wenn wir aus der Ge- Ichichte auch garnichts Anderes erjehen könnten, die8 merfen wir doch unabweiglich heraus, daß da eine Kraft in fortjchreitender Entwidelung die Dinge bejeelt und treibt, die nie zum GStillitand gelangt und über alle Fährnijje und Abgründe hinwegfommt. Es giebt da etwas Unüberwindliches, Allgewaltiges, daran auch wir betheiligt find, das auch uns bejeelt und begeijtert, da wir dod) als Menjchen die vornehmjten Träger der gejchichtlichen Entwidelung find. „Gejchichtlichen Sinn“ haben, heißt durchaus nicht nur an VBergangenem fleben und das, was war, begreifen, verjtehen und objektiv erklären, ſondern es heißt vielmehr in feiner beiten und höchiten Bedeutung, die Kräfte, die von der Vergangenheit bis zur Gegenwart ununterbrochen belebend und fräftigend wirfjam waren, in fich wirfend jpüren und in ihrer Bereinigung und Bewährt: heit zum Nußen und zur Gejtaltung der Gegenwart verwenden. Das Heute dem Gejtern organisch anreihen das iſt die große, frucht: bringende Aufgabe. Servaes allerdings jpricht von dem „armen Gejtern, dem wir mitletdvolle Blide nacdhjenden“. Lebt Denn aber in Wahrheit das Gejtern nicht mit dem, was in ihm lebens: kräftig, typijch, ewig war in dem Heute und wird in dem Morgen leben? Das iſt das Merkwürdige Nietzſches und feiner Jünger, da fie das Antlig von der bewährten Vergangenheit abfehren, um & ganz einer vagen Zukunft zuzumwenden. So find fie, könnte man jagen, „verfehrte* Hijtorifer. Von diefer Zukunft erwarten fie goldene Berge. Auch Servaes iſt, was die Kunjt betrifft, von folcher Zufunfts: jeligfeit erfüllt, deren Nahen er wohl zu ahnen meint. In dem Sinne jpricht er von dem, was jegt in der Kunft iſt, als von Bräludien, „nur“ Präludien: „So erfennen wir auch im Kunſt— ichaffen unjerer Zeit faum mehr als ein Vorjpiel, deſſen Klänge, weit entfernt unjere Sehnfucht zu bejchwichtigen, fie nur deſto

Der Individualismus in der Kunſtkritik. 141

heller und glühender entfachen.“ Ich muß geitehen, da ich in der Fülle diefer Zufunftshoffnung feine individuelle Stärke zu finden vermag, Jondern eher das Gegentheil, jo wie auch Nießfches „Ueber: menſch“ mir durchaus als das Sehnjuchtsproduft einer Seele er: Icheint, die dem Schidjal nicht gewachjen ijt. Es ift fo leicht, jeinen Hoffnungen und Gedanfen in der Zufunft freiejtes Spiel zu lafjen, da dieje Zufunft ein [uftiges, ja jogar luftleeres Gefilde it, in dem der Gedanke an feiner Materie jich jtößt, in der er aber auh an feinem Stoff jeine organifirende, gejtaltende Kraft zu erproben braudt. Gewiß bin auch ich der Ueberzeugung, daß wir noch nicht die KKünjtler haben, die das Leben unferer Zeit zu einer in ſich gejchlofjenen Einheit al8 Kunstwerk harmonijch gejtalten und jo die Difjonanzen der Zeit jieghaft überwinden fönnen. Warum aber jollen wir jo heftig von der Zukunft fordern, was vielleicht gar noch die Vergangenheit zu gewähren vermag? Oder ijt unjere Zeit etwa jchon mit Goethe fertig, in dem Sinne fertig, daß fie ihn ganz begriffen, Alles aus ihm herausgeholt, ihn völlig in fich auf: genommen hat, jo daß jie über ihn hinweg zu den höheren und ragenderen Halbgöttern der Zukunft jchauen darf? Das ijt doc) wohl jchwerlich der Fall und faum Einer wird es behaupten. Aber freilich, Niegjche meint ja, daß im Grunde auch die Ver: gangenheit nur aus der Zukunftshoffung und Zufunftsjeligfeit heraus begriffen und überwunden werden fann: „Nur wer Die Zufunft baut, hat das Necht, die Vergangenheit zu richten“. Daß etwas Wahres unter Umſtänden daran jein fann, joll nicht geleugnet werden. Wahrer aber dürfte für die Mehrzahl der Fälle doch der umgefehrte Saß jein: Nur wer die Vergangenheit begreift, hat das Recht, an der Zufunft zu bauen.

Notizen und Belprechungen.

Literariſches.

Deutſch-Oeſterreichiſche Literaturgeſchichte. Ein Handbuch zu Geſchichte der deutſchen Dichtung in Oeſterreich-Ungarn. Unter Wit wirkung hervorragender Facıgenojjen, herausgegeben von Dr. 3. W. Nagl, Dozenten für deutjche Sprade an der k. k. Univerfität Wien und Jakob Beidler, £. £. Profeſſor am Staatd:Obergymnajium im IIT. Bez. Wien. 14 Lieferungen*) zu je 60 Fr. = 1 Markt. Wien, Karl Fromme: Hofbuchdruderei und Verlagshandlung. 672 ©. Lerifon-DOftav.

Tem ernten Literaturforfcher wird diejed große, nad) dem Vorganat der bekannten König ichen Literaturgefchichte mit vielen „Bildchern“ und Fakſimiles ausgejtattete Sammelwerf, ungeachtet jehr tüchtiger umd zum Theil wirkli neuer Abjchnitte, in mandem Sinne recht bedenklich er- ſcheinen.

Schon der Titel macht uns ſtutzig. Wenn auf irgend einem Gebiete, ſo doch auf dem des deutſchen Geiſteslebens, der Geſchichte der Literatur und Kunſt, der Philoſophie und Pädagogik, ſollte ſich die Beſchränkung auf zufällige politijche Grenzpfähle als ein Unding von ſelber verſtehen. Auf dieſem Boden giebt es Gott Lob nur ein großes deutſches Vaterlant, „jo weit die deutiche Zunge Klingt.“ Man könnte, wollte man jich auf die Zeiten bis zu den Wirkungen der Lutheriſchen Bibel und der Nefor: mation bejchränfen, mit Fug eine gejonderte Darjtellung der ober» um

*) Deren erjte man uns vorenthalten bat, wohl auf Grund übler Gr fahrungen, die Verleger von Lieferungsmwerfen öfter mit Beitungt: redafteuren mögen gemadt haben, denn es fommt allerdings vor, dab diefe gegen Abdrud des beigefügten „Waſchzettels“ fi befugt halten, das unaufgeihnittene Wert an Sortimenter oder Antiquare zu über laffen. Wer jedoh andern eine Gewifjenlofigket zumuthet, der bat fih nicht zu beflagen, wenn er durch eine viel geringfügigere zu Schaden fommt. Es ift micht aus zu jagen, wie tief das Niveau der Kritif durd Das gottlofe Waſchzettelſyſtem der Herren Verleger bereits gejunfen if.

Rottzen und Beſprechungen. 143

der niederdeutjchen Literatur unternehmen, denn hier waltete wirklich bis dahin volkliche Tifferenzirung oder Doppelung innerlich dennoch gleich» artiger deutſcher Volk3bejtandtheile, nur müßte man dann die politiicy ab» geionderten Niederlande jelbitverjtändlicd; mit demjelben Rechte der geſammt— niederdeutjchen Bolfögemeinde zuweiſen, wie die deutjchen Schweizer der oberdeutjchen. Gleichwohl find die Beziehungen und Einwirkungen herüber und hinüber jo mannigfach verjchlungen, daß nur unverjtändiger Regionalis— mus dabei auf jeine Rechnung käme. Und nun gar jeit Ablauf des großen jechzehnten Jahrhunderts!

Ein Halbjranzoje, Charles Schmidt, Hat eine ſogar jehr vorzügliche Histoire litteraire de l’Alsace gejchrieben, die eben deutjche Literaturs und Bildungsgeichichte nur jein konnte, da fie die Zujammengehörigfeit mit den Geijtern der rechten Rheinſeite gar nicht zu vertujchen verjucht. Und die Franzoſen mußten damals (1879) fernen, daß ed am Ende des fünfzehnten und Beginn des jechzehnten Jahrhunderts faum irgendwo in Deutichland red» liher deutjch empfindende Gelehrte, Dichter und Führer des geijtigen Lebens gegeben hat, als im Eljaß, voraus in Straßburg. Die Mitarbeiter und Schüler Wimphelingd, Ringmann (Philefius), jogar der Franziskaner Murner, Sebajtian Brant (1457—1521), der große Prediger Geiler von Kaijeröberg (1445—1510), wer rechnete jie nicht unjerer einigen deutichen Literaturgejchichte zu?

Und fo, wenn der trefflihe Biograph Gottfried Kellers, Jakob Bächthold, eine fchweizeriiche Literaturgeſchichte verſaßte, fonnte ihm nicht einfallen, im Sinne politiichen Pfahlbürgertyums die großen Zujammen: hänge mit dem weiten Niederland zu leugnen.

Wäre die Tendenz unferer Oeſterreichiſch - Deutjchen Literaturgejchichte dieje jelbe, bejcheidener Eingliederung nämlich in die allgemeine deutjche Beijtesgejchichte, jo Fönnten wir fie freundlicher begrüßen. Nun aber jtellt jih bei näherem Zufehen leider nur zu ſehr heraus, daß hier ein wejentlich anderer Geijt die Leitung gehabt hat, und das heut, wo wir überall bei den armen Deutjchen des Kaiſerſtaates das lebhafte Gefühl der Zuſammen— gehörigkeit alles Deutichen wahrnehmen, den jehnfüchtigen Ausblid auf das benadhbarte Rei, das ihmen Schuß und Netiung bringen jolle vor der Ueberfluthung eine3 übermüthig gewordenen Slaven- und Magyarınthums. Jene Wiener Herren aber, obwohl mit Recht jtolz auf ihr Deutjch-Dejter: reiherthum, jteifen ſich in trauriger Berblendung auf ihre dem norddeutich=protejtantiichen Geijte angeblich fremde und unverjtändliche Voltsbefonderheit, dabei man es mit der Zugehörigkeit zu ihren Marken nicht immer ganz genau nimmt. Sie bilden ſich befonders darauf etwas ein, „in Formen katholiiher Weltanfchauung zu denfen und zu fühlen“ (38. ©. 657, aber auch fonjt durch das Buch zerjtreut in ähnlichen Vendungen). Diefe Gejinnung mag wohl für das Verjtändnig mancher Eriheinungen des Barocks und des Jejuitenitiles des uns wie gebildeten

144 Rotizen und Beiprehungen.

Stalienern (ih nenne Giofue Carducci vor Andern), fo widerwärtigen seicento oder jiebzehnten Jahrhundert3 zuträglich fein, aber jie wird damit denn doch zu theuer erfauft.

Wir, das deutiche Kaiferreich, deſſen Aufrichtung die deutjche Quittung auf den Triumph der Snfallibilität bedeutet, und der Preußiſche Staat, find geduldig und gerecht, wir üben wirflihe PBarität, die der Ultramon- tanismus ji zwar zu Nutze macht, aber prinzipiell verhöhnt und unfähig wäre jeinerjeitS zu gewähren.

Barität fann auf die Dauer nur auf dem Boden beiderjeitigen Be: dürfniſſes eined friedlichen Zujtanded ertragen werden, anderd wird fie Selbjtmord des gutherzigen Theiled. Der aber will, daS zeigt jich bier in einer doch zunächjt wifjenjchaftlichen Arbeit, die jtreitbare Kirche des Tridentinum und des jefuitiich gegängelten Vatikanismus, eben nicht fein.

Es ijt jehr beachtendwerth, daß ein zwar auch ſtockkatholiſcher aber doh ehrlich deutſch empfindender Mann, der trefflihe Dichter Joſ. von Eichendorif wohl gewußt und freimüthig bekannt hat, daß „Proteitan: tismus“ im Grunde ein allgemein deutfcher, uralter Charakterzug iſt und bleiben müfje, womit er allerding3 nicht an die unglüdlichen jtaats- kirchlichen Bildungen gedacht hat, die Deutjchlands politifche Entwidelung jo lange bintangehalten haben.

Wir willen uns jehr fern von der unhiſtoriſchen Auffaſſung der Pädagogik des Sefuitenordend und der kindiſchen Furcht vor jeiner All- macht und angeblihen Skrupellojigfeit jeiner Mittel, Dinge, die lediglich zur Reklame für den gehaßten Gegner ausjchlagen können, da wir all jein Bemühen als weſentlich anachroniſtiſch auffaffen, aber das fühlt auch der gut katholiſche Deutjche Dejterreich!, wenn er unbefangen iſt, das Heil unſeres Baterlandes ruht nunmehr auf dem protejtantichen Geijte, dem Geiſte der Freiheit, des fittlihen Wahrheitdmuthes, dem Geiſte der Kraft. der und vorwärts dringt. Er iſt der Geiſt, ohne den, wie Goethe richtig erfannte, auch ein Dichter wie Shafejpeare nicht wäre zu denfen ge: wejen, ohne den wir weder einen Sant, nod einen Zejjing, weder Herder noh Schiller, weder einen Goethe noch einen Bismarck zu verehren hätten.

Auch echte Geſchichtswiſſenſchaft darf mit Stolz ſich bewußt fein, daß fie im innerjten Sinne protejtantifch jei. Das iit nicht edlen fatholijchen Forſchern zum Verdruß gejagt, die fehr gut wifjen, welches Anjehens jie ſich eben durch ihre redliche Unparteilichkeit in Nom jelber erfreut. Von der Wahrheit hat Keiner zu fürchten, der reines Gewiſſens ijt. Da? attejtirten vatikaniſche Archivare und Bibliothefare unferm Leopold Ranke und jchon Friedrich Heinrich von der Hagen. Nicht unjer Ber: dient, aber doch ein Segen unjeres Proteſtantismus ijt e8, daß wir parı- tätiich, das iſt duldſam und gerecht jein können, leichter als wer etwa be jorgen müßte, mit jolcher Uebung jeinem Beichtvater eine Schuld zu

Rotizen und Beiprehungen. 145

befennen. War es doch der an Luthers Bibel aufgejäugte Knabe Wolj- gang, der die herrliche Figur des Bruders Martin im Göß jo rührend und doch wohl nicht unkatholiſch hinzujtellen veritand, Fein Calderon und fein Sejuit. Ja gewiß, wir vermögen: die katholiſche Weltanichauung wohl zu verjtehen, wie Eltern die Kinder, aber man fordere nicht, daß wir jie wieder in uns aufnehmen jollen. Lernte der katholiſch gebliebene oder durch die gewaltthätige jejuitiihe Gegenreform wieder katholiſch ge- machte Süden unſeres deutichen Bodens ſich au) nur annähernd jo in unjere geiltige Welt zu finden, da wäre die Brüde gejchlagen zum end= lihen Alldeutichland. Aber das jcheint zunächſt die Aufgabe und das Intereſſe Oeſterreichs, denn es ijt, troß aller uns gepriejenen „Boden tändigfeit“ rückſtändig. Wir verdanken ihm ficherlic) unendlich viel, es fann dereinſt und mehr verdanten. ber erjt, nachdem es ſich aus der Umflammerung des Jeſuitismus wird losgerungen haben. Bor der Hand thut ſich unjer Buch noch etwas darauf zu gut, wenn es die Sejuiten- fomödie preijt. die uns wohl etwas Spanisch vorlommt, auszurufen somos hermanos, wir Dejterreicher find ja Eure Brüder, ihr lieben Spanier. So dentt man aljo heute noch in achtbaren wijjenjchaftlichen Kreiien Wiens.“)

Daß die vorangejtellten Bemerkungen nicht vorgefaßter Meinung ent— ſtammen, jondern auf jorgfältiger Kenntniß des umfangreichen Wertes ruhen, deijen erite Hälfte etwa in den 14 Lieferungen vorliegt, muß an dem Faden der Darjtellung jelber aufgewiefen werden. Es foll kurz und bündig geichehen, sine ira et studio, jo viel billig zu fordern ift. Vor— weg jei gern bezeugt, daß wir dem Buche für vielfache Belehrung über manche 3. Th. abgelegene und nicht leicht Jedermann zugängliche Dinge dankbar verpflichtet bleiben.

Ueber die erjte Lieferung, da jie und nicht zugegangen, läßt fich nur jagen, daß jie die Darjtellung der Kolonifation Dejterreichs enthält. Die folgende behandelt „das nationale Erbe“ d. i. Sprache und Glaube der Vorfahren. Schon hierbei wird der norddeutiche und wejtdeutiche Forjcher die enge Beichränfung auf das bajuvarijche Befiedlungsgebiet mit feinen fränliſchen und alemannijchen Einjprengungen ſchwerlich zuſagend finden. Zu dem alten Merjeburger Berrenkungsjegen, dejjen Wichtigkeit in den mythologiſchen Eingangsworten beruht, laſſen ſich vielfach landſchaftliche Variationen ſtellen, aber wir nehmen dankbar Akt von der merkwürdigen Erhaltung bis in unſere Tage im Waldviertel:

Das Bein zum Bein, Das Blut zum Blut,

*) ©. 664 ſteht wortwörtlich: „Das somos hermanos (mir find Brüder), welches die Spanier, eingedent ihrer Abjtammung, mit Beziehung auf die Deutſchen jagen, ſcheint in ganz befonderem Sinne für die Defter- reicher zu gelten.“

Preußiiche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 1. 10

146 Rotizen und Beſprechungen.

Die Flechs zur Flechs, Das Fleiſch zum Fleiſch, Sei alles gut

Beim heiligen Blut.

Wir freuen und aufrichtig, hier in dem Abriß der öjterreichiichen Sagengeſchichte u. a. ziemlih unummwunden eingeräumt zu jehen, daß das Nibelungenlied, deflen Bearbeiter id allerdings auch für einen Dejterreicher halte, (ev mag ein Tyroler gemwejen fein) fir höfiſche Kreife bejtimmt ge: wejen jei. (S. 70 vgl. jedoch 95, wo e3 doc bloß für höfiſche Zuhörer überarbeitet genannt wird.) Darauf, daß „Dietrich perner“ d. i. Dietrich von Bern in Kärnten al3 Name erjcheint, wird, fcheint mir, zu viel Werth gelegt, da daſſelbe auch anderwärt3 in deutfchen Landen vor: fam. Es bemweijt nur, was faum noch befonderen Beweiſes bedürfte, daß die Helden unjerer Volksſage populär genug waren, um neben die Märtyrernamen des Firhlichen Kalenders zu treten, ja zum Theil jelber ſich unter die Heiligen zu mijchen. Ganz treffend wäre die Bemerkung ©. 75 „doß wir an Siegfried einen heidnifchen Sonnen: oder Frühlingdgott haben, ergiebt ſich aus der Firchlichen Gegenüberjtellung des Drachentödters St. Georg“, wenn man nit zu erwägen hätte, daß ja diefer St. Georg icon eine frühere Verchriſtlichung des Apollo- (oder Heralles-) Mythos zu jein jcheint. E& könnte aljo der heidnifche Drachentödter auch durd Vermittlung des chriftlichen Volksglaubens ins jpätere nordijche Heidenthum wieder zurüdgelangt jein. Schillerd Kampf mit dem Draden ruht fiherlich auf griechiſcher Nachwirkung des pythiſchen Apollon.

Ich glaube, man thut der chriftlihen Kirche, die als ſolche ziemlich unjchuldig dabei ijt, doch Unrecht, wenn man alle die Legendendichtung, in die jo viel altheidnifcher Glaube ſich gerettet hat, als abjichtliche Entgegenjegung auffaſſen will. Der Glaube an wunderfräftige Helden, wo er ſich fand, war ja auch eine Beglaubigung der Wunder, deren das miffionirende Chrijtenthum nicht entrathen mochte. Die Kirche verhielt ſich daher auch ihnen gegenüber naiv gläubig, wie Luther jich mit allem tollen Teufelsſpuk ernſtlich herumfchlug, an den feine Zeit und feine Volkskreiſe glaubten. Tradition war Tradition und Profan- und heilige Geichichte ichieden fich keineswegs jo feindlich, wie jie es ſpäter thaten.

Auch das ift richtig und widtig, daß die „Klage“ ald ein älteres, vom Nibelungenliede ganz unabhängige® Gedicht erfannt wird. Die herrliche Sdealgejtalt ded Markgrafen Rüdiger gilt als hiſtoriſch wahr: icheinlich, während der Biſchof Pilgrim es jicher ift; er war ein geborener von Pechlarn und jeine Einflußnahme auf die Entjtehung der Dichtung iſt gewiß glaublid (S. 88). Der Biterolf und Dietleib werden al3 jteiriich angeſprochen, jo auch die Häglichen Nejte eines Gedichted von Walther und Hildegunde, 13 vollitändige und 16 trümmerhafte Strophen, die ver Nibelungenjtrophe verwandt jind.

Rotizen und Beiprehungen. 147

„Der Geijt des öjterreichiichen Volkes“, Iefen wir S. 96, „hat ji in Tietrich fein Jdeal geichaffen, und noch heute... . freuen wir und dieſes Ideals. Wir Oeſterreicher ſind allerdings wie Dietrich von Mißtrauen gegen uns ſelbſt erfüllt; das Fremde imponirt uns daher ſogleich. Wir befennen unaufgefordert unſere Schwächen, während Andere die ihrigen ver- heimlichen. Wir fuchen und gejtehen von vornherein die Nechtätitel der Andern freiwillig zu... Wir geben gern nad), erwarten aber dafür von der Einjicht des Anderen ein Gleiches. Darin täufchen wir und meiſtens; und geradezu cyniſch erſcheint es und, wenn der Andere dieſe Nachgiebig- feit als jelbitverjtändliche Schwäche des Defterreichers faßt, mit dem man machen fönne, was man wolle. Wer aber unſere Geduld erſchöpft hat und uns die Schmad) anthun will, daß wir mit befjeren Grundfägen das Opfer Anderer werden jollen, entjefjelt gegen ſich die ganze Wucht unjerer Abmwehr.”

Wir wiljen nicht, an wen der Verfafier diefer brillanten Tirade da- bei gedacht haben mag, nur daß er den gutmüthigen Heldenfinn unjeres ganzen Volkes damit fo ziemlich umjchrieben hat. So meinen wir eg hoffentlich Alle.

Tas Gediht Kudrun, das oft als deutjche Ddyfjee neben den Nibe- lungen gepriejen wird, mag in jeiner durchaus nicht ſehr glücklichen Redaktion ſteiriſch oder tyroliih fein, hier wird erjteres behauptet wir erbliden darin feinen fpeziellen Nuhın des Dejterreiherd mehr und wären glücklich, tauchte noch irgendwo eine ſchlicht niederdeutiche Form diefes alten Widinger-Romans von der norddeutichen Waterfant auf.

Es ijt gewiß richtig, daß der urfprüngliche Vortrag epiicher Sagen- jtoffe an die Muſik gebunden war, aber mehr als zweifelhaft, ob die Strophen des Nibelungenliedes jemals wirflih noch gejungen worden jeien. Wer will, der mag ja glauben, da das ganze Gedicht, 2316 Strophen von je 25 Hebungen nad) Lahmann (Hdihr. A), 2440 nad Holgmann Gdſchr. B) auf die im altdeutjchen Liederbuche von Franz M. Böhme ©. 230 Nr. 133 gegebene fchöne Melodie „Die brünlein, die do fließen, die jol man trinden“ ſei gejungen worden. Sch bin der Meinung, e3 handle ji; hier von vornherein um ein Leſebuch, nicht ein- mal um ein Textbuch für Vorlefer, fondern ganz eigentlich um ein einfam in langen Winternächten zu lejendes Bud).

Der mufilaliiche Vortrag für das dreizehnte Jahrhundert ergiebt fich al3 einfach undenkbar. Rechnet man auf die ſechszehn bis fiebzehn Tate der Melodie auch nur eine halbe Minute, jo brauchte der Sänger 1157 Minuten oder über 19 volle Stunden ohne Pauſe. Da man wohl feinem Menichen die Ausdauer zutrauen darf, über vier Stunden monotonen Singſang auszuhalten, jo erforderte das ganze Gedicht allein fünf Tage.

Wohl durfte die altepijche Zeit fich auf den Vortrag einzelner Epi— joden aus der im Ganzen befannten Geſchichte beſchränken und das allein

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148 Notizen und Beiprehungen.

bezeugen auch hiſtoriſche Nachrichten. Die ritterlihe Epik ift aber nicht mehr Sang zur Harfe, fondern Rede oder gar Schreibe, wie der daraus erwachjene Roman.

Gut dargejtellt ijt die Einwirkung der Kirche. Dede Art höherer Bildung war nur durd fie und für fie zu denken. So wird unjere älteite deutjche aber auc) durchaus nicht lediglich die öſterreichiſche Literatur: geihichte zur Geſchichte der Mifjionirung Deutſchlands. Wir verdanfen dabei irischen und jchottiichen Mönchen zunächſt mehr als den direkten römiſchen Sendlingen. Der Liber confraternitatum von ©. Peter in Salzburg bezeugt die rajtloje Thätigfeit des Schotten Virgil (f 734). Die Schreibichule Arnos war eine Art Berlagdort jener Zeit; das merk: würdige Gediht Mujpilli, wie es Schmeller taufte, und ein Andachts— buch für Ludwig den Deutichen find in ihr hergejtellt worden. In Steier leijtete St. Lambrecht ähnliche Dienſte und der Biihofsfig Paſſau, das im Inveſtiturſtreite gut faijerlich blieb, (gegen Salzburg) wird die Bilanz: jtätte der chriftlihen Bildung für das ganze Donauthal. Kurz behandelt wird ©. 134 fgd. das geiftlihe Drama in feinen ältejten Formen. Wir hatten vor einiger Zeit Beranlafjung, gelegentlid) des Heinzelſchen Buches, davon zu berichten. *)

Wir fönnen auch über die nächſten Abjchnitte um fo getrojter kur; jein, als fie auf $. Kelle s Gejchichte der Deutjchen Literatur (Berlin 1892) jid wejentlich gründen. Als älteſtes Denkmal deutſcher Dichtung in Oeſterreich gilt darnach die ältere Genejis (ca. 1078) da fie in Kärnten entjtanden jei, wo das Chorherrenitift Borau den Ruhm des jteirifchen St. Lambrecht theilte.

Eine leöbare populäre Darjtellung unjerer älteren Literaturgeſchichte, wie fie doch wenigitens Wilhelm Scherer geboten hatte, wider den man übrigens jage was ınan mag, finden wir in unjerm „Handbuche“ (164), in den erjten Heften nicht. Es ijt ein wirres Repertorium, und bequemer wäre ed für den Lejer jchon, man hätte ed in alphabetijcher Folge als Wörterbuch der deutjchsöjterreihiichen Literatur-Geſchichte gegeben. Als einer der prächtigſten Bilderbeilagen ſei wenigjtens des Fakſimiles der Hand» jchrift einer Weltchronif gedacht, die der Bibliothek des Schottenſtiftes in Wien gehört.

Das ſpezifiſch Oeſterreichiſche iſt natürlih in all dieſen kirchlichen Dichtungen, ſowohl der Kloſterdame Frau Ava, als in dem hoben Liede des Abtes Williram, eines Franken aus Cberöberg (F 1085) und

*) Hier fei daher nur eine feltfame Deutung der Anmweifung alter Spiel. bücher erwähnt: resurgentem adorent nobiscum dicentes: „aevia, aevia. Ew.“ Bas aevıa jei, erfahren wir gar nicht, Ew wird ergänzt Ewangelista!! Nun giebt das Wort aevia die Volale ae ui a, um die Spieler zum Anftimmen des Alleluia aufzufordern, und das ew, gewöhnlih evovae gejhrieben, giebt die Vokale der Schlußworte von in secula seculorum amen, die bier halbfett gedrudt find.

Rotizen und Beiprehungen. 149

ſonſt recht jpärlich vertreten, ebenjo auch in den Fleineren kirchlichen Dichtungen und Legenden. So viel Poefie zwar in den bejjeren Legenden gerettet it. jo harte Prüfungen des gefunden Menjchenverftandes jtellen do die vielen anderen dar, und wen nicht Liebe zu unjerer alten Sprache hinzieht, der würde die darauf geiwendete Zeit und Mühe be= Hagen. Freilich ijt immer zu bedenken: man bildet jich wohl ein, die alte deutiche Dichtung jo ziemlich zu überjehen, doch was iſt's im Ganzen, ala traurige Trümmer? ind der beliebtejten Bücher des dreizehnten Jahr: hundert3 war das Marienleben des Karthäujerbruders Philipp von Seiß, auch des Gundaler von Judenburg „Chriſtes Hort” (5305 Bere) iſt nicht unbedeutend. Wir erhalten noch Notizen über die Dichtungen des Mönches Andrea Kurzmann von Neuberg in Steier, werden dann mit der Kindheit Seju des Konrad von Fußesbrunn, eined Schülerd Hartmannd von Aue, ins Donauthal geführt, dann aber bricht3 ab mit Verweiſung auf Goedekes Kapitel „Legendendichtnng“ !

Erjt mit dem vierten Abjchnitt „Rittertum“ und der erzählenden Dichtung tritt dad Donauland in nennendwerthe Konkurrenz; mit der vor— angegangenen übrigen Deutjchen Kunftentfaltung. Da ijt der Strider mit mancher geijtvollen Erzählung, der Pleier, Enenfel mit feiner zu einer Weltchronif ausgeweiteten Gejchichte Oeſterreichs“ da ijt der oft jo ungerecht geringgeihägte Ritter Ulrich von Liechtenſtein und, wohl die dichterijch bedeutjamjte Leijtung, der Meier Helmbrecdt, der nur nicht eigentlich al3 Dorfgejchichte wäre zu bezeichnen gemejen.

Ulrid von Liechtenjtein, das verdient bejondere Anerkennung, iſt hier endlich einmal nad) feinem VBerdienjt gewürdigt. Man darf billig erjtaunt jein, daß die hohe Begabung und Kunſt dieſes Mannes bei unjeren Literatoren bisher jo verlannt werden fonnte. Kennt und nennt man ihn doh jajt nur als ein Mujter ganz bejonderer Verrücdtheit wegen jeiner QTurnierfahrten und entrüjtet ſich über feine „Unſittlichkeit“ und Frivolität. Daß er der poejievolle, alle Töne virtuos beherrichende aber auch der unjerm heutigen Empfinden am nächſten fommende Lyrifer des Mittelalters ift, wen fümmerte e8? Auch jo im guten Sinne voltsthümlich iſt faum ein anderer Minnefinger. Ein ganz reizender Zug, der den ganzen Mann fennen lehrt, wie er leibt’ und lebte, wird ©. 207 nad) der jteierijchen Reimchronik erzählt: „ALS die jteierifchen Herren aus jener langen, bitteren Gefangenſchaft bei Ottofar ſich mit vielen großen Opfern gelöjt haben und aus ihren Kerfern fommen, da merkt nıan ihnen allen an, wie jchwer die harte Haft und die Sorgen fie bedrüdt haben: bleich, mit jpannenlangen Bärten, hinfend von der Dual der Feſſeln, jo treten jie betrübt vor den gewaltigen Böhmenkönig. Nur der Liechtenjteiner allein, der hat fich den Bart zuvor jcheeren laſſen, hat neue, jchöne Kleider angelegt, thut, als wenn ihm gar nichts widerfahren wäre, und gehabt jich jo munter, daß der König darob verwundert feinen frohen Sinn preiſt.“ E3 ijt derjelbe

150 Notizen und Beiprehungen.

Mann, der blutige Zähren weinen fonnte, zum Stein erbarmen, wenn jeine hochmüthige Herrin ihr Ninglein zurüdbegehrte. *)

Die eben erwähnte jteirische Chronik des Ottofar (von Horneck) ijt von Seemüller gewürdigt.

Mit der böfiihen Epit in Böhmen verlafjen wir den eigentlich öjterreichiichen Boden. Dankbar jedody müfjen wir fein für die forgjamen Dialektitudien dieje wieder jo arg bedrängten altdeutichen Kulturbodens. Bog der erjte Ottofar wohl vorzugsweiſe Sänger aus den Alpenländern an, aus Tyrol, Salzburg, Dejterreih, Kärnten, jo dody auch andere und der mit Ottofar II. in perjönlichem Verkehr jtehende Ulrich von Ejchenbadh, der nicht talentloje Bearbeiter der Alexandreis des Gualtherus von Chatillon, war doch wohl ein Bayer, wie jein großer Namensvetter Wol- fram. Auch die Fortjegung des Trijtan von Heinrich von Freiberg, glatt und geihmadvoll erzählt, gehört in diefen Kreis. Der Nüdblid auf das höfiihe Epos ©. 224 ijt kurz und gut.

Nach kurzer Darjtellung der Schwanf- und Novellendichtung, aus der, bei- läufig gelagt, unfere heutige Luftipieldichtung köftlihe Motive nehmen fünnte, wenn man nicht jo fittli wäre, ji an Sardou und anderen franzöfiihen Pofjenfabrifaten zu begnügen, wendet ſich das „Handbuch“ zur Darftellung der höfiſchen Lyrik.

Ic kann vor allen Dingen nicht darin einjtimmen, in Walther von der Vogelweide einen Dejterreicher zu jehen. Wir willen ja Alle, man hat ihn fich neuerdings ganz rejolut zugeeignet und auf den jchönen Platz zu Bozen als deutjches und antirömijches Wahrzeihen aufgerihtet. Das mag ganz jchön jein.**) Man hatte es aber ein wenig eilig damit. ich habe nicht dawider, den höfiſchen Redaktor des Nibelungenliedes als Tyroler gelten zu lafjen, aber Walther gehört, meine ich, von Geburt! wegen nach Franken. In Dejterreih lernte er nur fingen und jagen und hat auch mandherlei Trübed erfahren. Das fann hier nicht näher ausgeführt werden.

Unjer Werk will natürlicdy aud) die Anficht Konrad Burdachs nicht gelten lafjen, daß nämlich Dejterreih von dem Strome der höfiichen Voeſie, die ja von Weiten her drang, am fpätejten jei erreicht worden. Es habe eben jehr viel „bodenjtändigen“ Volksthums bewahrt („boden jtändig* ijt ein Lieblingswort der Herren), ja die ältejten Minnejänger jeien Dejterreicher, mindejtens Zeitgenofjen des Veldeke.

Co wird hier auch Reinmar der Alte, der von Hagenau, die Leite- frau des deutschen Nachtigallenchored, für Dejterreich in Anjpruch genommen,

) Dazu fiimmt nun freilich jchleht, wenn ein anderer der vielen Mit: arbeiter des encyllopädiihen Buches (j. S. 214) gleid wieder von dem „Don Quixote des Mittelalters" redet.

**, Auch an einem Bismarckdenkmal in Graz oder Cilli würde ja fein Reichsdeutſcher Anſtoß nehmen.

Notizen und Beiprehungen. 151

weil e3 bei Braunau und Linz, und in Niederöjterreich noch vier andere Hagenauen giebt. Die Mafje muß e3 bringen. Wir wollen nicht jtreiten, gelebt hat der Mann ja am Hofe Xeopolds V. (1177—9.) Es jei typiſches Geſchick des Dejterreichers, heißt es einmal (241), in der Heimath nicht, oder lange nicht anerkannt zu werden. in leider durch die ganze bewohnte Erde geheiligter Typus.

Man glaube ja nicht, daß die Zueignung Walther auf reiner Be- wunderung jeiner tüchtigen deutjchen und antiultramontanen Haltung be= ruhte, die ihm Töne eingab, wie die Welt fie nur nod aus Luthers Munde vernahm! Weit gefehlt! die Herren Nedaftoren und Mitarbeiter, zum Theil jelber Geijtlihe und hohe Würdenträger öffentlichen Lehramtes, verderben es nicht mit dem Romanismus und Sefuitismus. So wird Walther hier fajt ähnlich gejcholten, wie jchon zu feinen Tagen von dem deutih reimenden Staliener, dem Domherren Thomafin von Zirklaria. Er habe jich ca. 1212 mit maßloſen Mitteln an die Spite des politischen Kampfes gejtellt, dem gebannten Otto IV. ein Glüdauf zugerufen. „Die Klugheit und Bejonnenheit jtanden damald nicht auf Waltherd Geite.“ Das iſt zwar bloß als Zitat gegeben (249) aber doch offenbar mit Zu— jtimmung der Herren Herausgeber.

Nocd einmal, bei Erwähnung des braven weljchen Domherrn ver: nehmen wir lagen über den böfen, widerpäpitlichen und unzufriedenen Walther, der immer mit Bitten läjtig fiel! Nun da tröfte man jich mit dem frommen Hugo von Montfort (7 1423), dem legten und freilich auch lederniten Vertreter des Ritterthums in Steier (und Vorarlberg) oder mit Oswald von Wolfenjtein (1367—1445)! Zu loben ijt die Be— jcheidenheit der öjterreichifchen Literatoren, die jie hindert, auch Freie danks Beiceidenheit für ſich anzujprechen, „bei dem Mangel an Nach— richten über den Verfafjer“. (277.)

Ehe wir die Grenze zur neuen Zeit überjchreiten und uns durch Proſeſſor Jakob Zeidler in Wien über die dramatijche Literatur des vier- zehnten und fünfzehnten Jahrhunderts unterrichten lajjen, war ein kurzer Aufiag (von R. von Kralik) über die Muſik zu genießen. „Nichts iſt jo jhwer u. ſ. w.“ Wir verjtehen nicht davon.

Als Illuſtration, mohl nah dem schönen Berleger- Grundjaß „ein Bild um jeden Preis“, ſieht man unter andern die Photographie des Rathhaujes zu Sterzing in feinem heutigen Zuſtande. Warum? Weil in demjelben und jpeziell in dem auch abfontrafeieten Archivzimmer, die Bajlionsipiele gefunden wurden, von denen nun zu handeln war.

Damit Dejterreich doch aucd auf diefem Gebiete hervoriteche, jo jollen fih jeine Spiele vor den „Nürnberger Machwerfen“ bejonders vortheilhaft auszeichnen. Sit das nicht faſt Findifcher Negionalismus in der Literatur- geſchichte? „Machwerke“ kennt man wohl im Kaiſerſtaate gar nicht?

Die Entwidlung ded Dramas wollie es jo, daß es die Kirche (und

152 Rotizen und Beſprechungen.

den Schuljaal der Klöfter, muß man wohl hinzufügen) vermied und auf den Markt hinaus oder in die Säle der Nathähäufer flüchtete und damıt in die Hände de3 zünftig gegliederten Bürgerthums gelangte. Daß nun der Einfluß der Nenaifjance fich ſtark geltend macht, ift begreiflich genug. Hand Sad ijt in der That eine Parallelfigur zu Albredt Dürer. Ob wirklich der Uebermuth der Vaganten und Spielleute den Auszug aus der Kirche verjchuldete, lafjen wir auf fich beruhen. Hauptgattung blieben noch die Diterjpiele und Tyrol ſah die reichjte Entfaltung diefer Blüthe. „Wien litt viel im Dienjte feiner Mifjion in der Oſtmark.“) Seit 1580 fam Oberammergau und jpäter Hörig der Bedeutung Sterzings nahe.

Daß der Protejtantismus die Schullomödie an Stelle diejer Spiele jegte, nehmen die Herren doch hoffentlich nicht für ungut, da es ihm ja bald die lieben Herrn Jeſuiten recht emfig nachmadhten.

Aus der großen Schwanfjammlung Adalbert5 von Keller liegen ſich einige ausjondern, (j. ©. 370) die als öjterreihifch zu gelten Aniprud haben, aljo auch frei von Nürnbergijhem Einflufje jeien. Zu ihnen, ganzer jechjen, tritt jeit 1510 die Sammlung PVigil Rabers. ALS älteſte Poſſe (fie ift unflätig genug) gilt das Neidhartfpiel (c. 1350), nur 58 Verſe (S. 372).

Es iſt aber nicht erkannt, daß wir hier doch nur den unreifen Ber: ſuch der Dialogifirung eines alten Schwanfes vor uns haben, der auf den Namen des Neithart von Neuenthal geht und, daß V 35 nicht jo: wohl eine Regiebemerkung fehlt (fie fteht ja da: Vadat Nithardus et ponat florem sub pileo et redeat) als daß fie unvolljtändig iſt. Der rusticus muß, nachdem der Ritter Nithart den Hut über das erite ent— dedte Veilchen gededt, jeinen anders gearteten Viol unter den Hut jegen. Es ijt eben ein Eläglicher Verfuch, den groben aber wenigftens wißig vor: getragenen Spaß zu dramatifiren, den man in v. d. Hagens Minne jängern III, 202 nachlefen mag. Dejterreich hatte feinen Grund, auf dieſe ältefte Poſſe ftolz zu fein. Der alte Schwan ift eine der übermüthigiten Farcen des romantisch-höfiichen Frühlingfuchens und Grüßens. An Rabers Stüden wird auf Grund der Charakterifirung Michels, und gemik mit befjerem Recht, „unverfälichte Bodenjtändigfeit“ gerühmt. Der inımer wieder vorjchlagende Aerger über das rivalificende Nürnberg wirkt auch bier fajt komiſch.

Mit der neunten Lieferung beginnt der zweite Salbband des

*) Daber jei das Wiener Paſſionsſpiel von St. Stephan dort das einzige. Das Egerer Spiel, feine Duelle, mag jhon eine Kompilation älterer fein und u. a. die Prager Marientlage wörtlich ſich einverleibt haben, für uns bleibt e& wegen der jauberen Redaktion eins der interefjanteften Denkmäler dieſer Kunftübung. An Gehalt ficht e8 dem Oberammer- gauer Spiele gewiß nicht nad, aber es tft zu lang. Gedrudt in den Schriften des Lit. Vereins Bd. 156.

Rotizen und Beſprechungen. 153

„epochalen“ Werkes, wie ed die Wajchzettel des Verlags nennen. Er be: handelt die Zeit von der Reformation bis zu Maria Therejia.

Man mißverjtehe und nicht, wenn wir auch bei dem kurzen Blick auf diefen Abſchnitt, ja hier noch ſchärfer, die Schiefheit de8 Grundgedanfens diefe8 ganzen Unternehmens betonen müſſen, al3 jchäßten wir die viel- fahe Belehrung gering, die dem allerdings etwas wirren und un— gleichartigen Zuſammenwirken jo vieler tüchtiger Forſcher zu verdanken bleibt.

Nicht nur in Dejterceih lag bis ind beginnende jtebzehnte Jahr— hundert Literatur und Wiſſenſchaft in geijtlichen Händen. Es ijt ganz richtig, das jogenannte Klojterlatein, das Medium jeder höhern Bildung, ift Feine todte Spracde, jondern ununterbrochene, lebendige Tradition der Schichten der Bildung, und wie jede lebendige ward e3 angeeignet im Umgang, nit an der Hand von Paradigmen und Wörterbüchern oder gar Sammlungen Ciceroniſcher Phrajen unlebendig zujammengejtümpert. Wir leugnen auch unjererjeit3 keineswegs das hohe Verdienſt Victor Scheffels, der den Wahn von dem angeblich „finjteren Mittelalter“ zer— jtört habe. Wir ſchätzen aufs Höchſte den Geijt St. Benedikts, des ge- waltigen Erzieherd der mittelalterlichen, doch noch höher den Einfluß des b. Bernhard auf die mitteleuropäiiche Welt.

Wer wollte noch leugnen, daß aud der Humanismus mit der Pflege der Wifjenichaft in engem Bezuge jtand, wie fie in den Klöſtern, Benedik— tinern, Gifterzienfern und Chorherren, gepflegt ward? ber e3 ijt doc) bereit5 ein neuer Geiſt in der italienischen Renaiffance geboren, den Ulrich von Hutten mit dem Jubelrufe begrüßte, es iſt eine Luft zu leben. 63 ift der Geijt eines jtarfen Individualismus, der nothwendig die lange Bevormundung der römischen Kirche zerbrechen mußte.

Daß die deutihen Lande Deiterreihd und des Südens fich dem Segen der Reformation jobald wieder abwendig machen ließen, unter einem Spanier, der fein Deutſch veritand, daran laborirt dieſes Neich bis heute zu feinem und unjerm großen Schaden. Hier zeigt nun unjer Hands buch eine Befangenheit, die geeignet wäre, den Riß zwijchen dem Norden und Süden nod) zu erweitern, wenn nicht glücliche Folgen unjeliger Verblendung mächtiger wären, dennoch die alte Brüde wieder zu bauen. War e3 doch mit der Bedeutung Wiens, das eine Zeit lang der Mittel: vunft des Humanismus gewejen (Conrad Celtis) auch bald vorbei. Denn mit der Reformation trennt ſich Dejterreich vom Norden, in dem es grollend aber ohnmächtig neue fräftige Staatenbildungen ich durch: jegen jah. Und gleichwohl ward es vom Norden her doc allmählich, wenigitens literarijch, wieder angegliedert. Der allgemeinen Herrichaft der neuhochdeutſchen Schriftiprache vermochte es ſich nicht zu entziehen, ihon darum nicht, weil ein großer Theil ihrer Wurzeln in den eigenen Boden hinabreidhte.

154 Rotizen und Belprehungen.

Mit der Abkehr der Reformation und der Auslieferung des geiftigen Lebens an die jpanischen Jeſuiten ift auch die Folge herrlicher Anjäge ab» gebrochen.

Gewiß, al Kaifer Karl IV. Prag (1348) zur Univerfität machte (Wittenberg genoß e3 bald) und den bewunderten Batrarca zu ſich fud, da war es eine Weile die Heimjtätte der Nenaifjance in Deutſch— land. „Der Kanzler oh. v. Neumarkt verjeßt fajt jchon in das Weimar Karl Auguſts.“ (S. 408) Faft! Aber wo bleibt die Folge, um diejes Wort im Goethiihen Verſtande nod) einmal zu, brauchen?

Die Herren wifjen ganz genau, daß das deutſche Gemeinſamkeits— leben im Zeitalter der Reformation (durch den Jeſuitismus) zerjtört ward; jie erinnern und wehmüthig an die Thätigfeit eines Nicodemus Friſchlin in Laibad, an Balthafar Hubmayr, Nicolaus Herman, den großen Prediger Joh. Mathejius.

Ziemlich flüchtig, es foll kein Tadel fein, denn wir wiſſen wohl, ein eucyklopädiſches Sammelwerk kann nicht jedes Thema erichöpfend be— handeln geht und der öjterreichifche Meijtergefang und die dramatijche (Schul⸗) Dichtung vorüber, die zum guten Theil gleichfalls ſich in den Dienjt der Reformation gejtellt hatten.

Ih kann nicht umhin, hier ein merfwürdiges Aufleuchten der Selbit- erfenntnig zu zitiren, das milder wirken mag, ald wenn ein Nichtöjter: reicher es ausſprechen ſollte. Es ijt zwar ganz gewiß nicht im Sinne aller Herren Mitarbeiter gejagt, aber die Leitung hat es doch durch— gehen laſſen.

©. 573 unten (es war die Rede von dem breiten und trodenen Dramatifer Schmelpl.)

„Er verpflanzte das deutjche Schuldrama, dad ihm vor Allem in Sachſen nahegetreten war, nad) Oeſterreich. Daß er aber diejes in der Schule eines Klojters zu Wege bringen konnte, war nur möglich im Hinblid auf die irenischen Neigungen, welche Dejterreich während feines Wiener Auf: enthaltes beherrichten. Sein Drama fußt ebenfo wie da3 Iutherifche auf der Bibel, nur daß es jede Polemik vermeidet. Sehnſucht nad) Ruhe und örieden, Pflege aller jtillen, herzlichen, häuslichen Tugenden, tiefe Web: muth über die Zerrifjenheit der Welt find die Sonne, welde dieſe Schul: bühne beleuchten. Wenn nun Schmelgl in der Vorrede zum „blindges borenen Sohn“ jagt, er habe die Aufführung nad) alter Gewohnheit für den „Sonntag Lätare, obwohl er zu jeiner Zeit bejier Trijtare* genannt wirde, bejtimmt: jo ijt das tiefgefühlte Wahrheit. Man wird fait an das Grillparzerſche Ideal von „des Inneren jtillem Frieden“ und noch mehr an die rührende Figur des armen Spielmanns gemahnt. Das it die Tragödie des von Haus aus lebensfroben, liebens- würdigen Menjchen, der, hineingeftellt in die großen Konflikte einer ichweren Zeit, welche Härte und Entjchiedenheit verlangt, die Fragen des

Rotizen und Beiprehungen. 155

Verſtandes und der umerbittlihen Nothiwendigfeit jo gerne nad) der Logik des guten Herzens löjen möchte. Das ijt die öſterreichiſche Volksſeele, welde und ebenjomohl im milden Markgrafen Rüdiger al3 in den Geitalten der eigenthümlichen Märchenwelt Raimund ent- gegentritt.* Grillparzer habe die Tragik diejes Defterreichertfums in der Figur Kaiſer Rudolfs II. meifterhaft dargeſtellt.

Einer der bedeutenditen Abichnitte ift dem interefjanten Kapuziner— Prediger Abraham a. ©. Clara (geb. 1644 + 1. 12. 1709) gewidmet, auf Grund eines jehr erichöpfenden Buches Karajans. Ob die be- geifterte Schilderung genügen werde, ihm doch noch ein Denkmal zu er— richten, müfjen wir abwarten. Hier lejen wir (626): Die „bethörte, verjehrte und verkehrte Welt aber hat es biöher weiblich (sic) unterlafjen, ihm ein öffentliches Denkmal zu jegen oder auch nur eine Gafje nad) ihm zu benennen, ein trauriger Beweid, wie wenig wir Dejterreicher unjere hervorragenden Staatdmänner adten und fennen.“ Das ift ja wohl fein Wunder, daß das verbiejterte und von dem poefiefeindlichen Nicolai damal3 beherrichte Berlin diejem Geijte 1795 und 1797 nicht gerecht werden fonnte, man gab eine angeblide „Quinteſſenz“ aus feinen Schriften ald „ein GSpezififum fürd Zwerchfell“ heraus. Schon die baroden Zitel wirkten hier wie „Knallerbſen oder du ſollſt und mußt lachen.“ Auh Leſſing hat ihm feinen Gejchmad abgewonnen, das joll an dejien „oft pedantiiher Aeſthetik und Logik“ gelegen haben. Nun dafür bat ihn Goethe für Schillers Wallenjtein entdedt. Ganz Ganz bejonders hohmüthig behandle ihn Gervinus. Aber am iübeljten zu ſprechen find die Herren auf Wilhelm Scherer. Wir hatten wohl aud) Manches an Scherer und nod) mehr an jeinen Schülern zu bemängeln, bier müfjen wir doch Anzapfungen von ihm abmwehren, die eines gewijjen pfäffiichen Beigeſchmacks nicht entbehren. 3. B. wenn ed ©. 640 heißt: „Man jchmälert nun dieſes Verdienjt des freimüthigen Predigerd, indem man (der Mann war eben Scherer) den Kaiſer Leopold der lächerlichen Eitelfeit bejchuldigt, er habe gerne jeine Räthe und Höflinge mit der Brühe des Spottes übergießen lafjen, wenn er nur felbjt verjchont blieb, um da= durh an „Superiorität“ zu gewinnen. Einem religiö® gejinnten Habs— burger fann man eben ohne Beweis heute Vieles nachſagen, ohne des bereitwilligjten Beifalld zu entbehren.“ Auch daß Scherer al3 nervös und „protejtantijch ungerecht“ bezeichnet wird, beſtärkt uns nur in der Ueberzeugung, daß die gelehrte Welt Deutjch-Dejterreih gegen römische Pfaffen immer noch zärtlihere Rücdjichten nimmt, als fie weiß Gott verdienten.

Wir gejtehen gern, dem baroden Augujtiner, der jchon durch die Organijation feines Ordens „bodenjtändig“ ſei, nad) dieſer Beichnung liebenswürdige Züge abgewonnen zu haben. Für „die Barode“ jedoch und zu erwärmen vermögen wir verjtandesnüchternen Proteftanten nun

156 Notizen und Beiprehungen.

einmal nicht und die ſchlimmſte Empfehlung wäre wohl die Zenſur, nad der Barod jo viel wie warmherziger, funjtfreudiger Katholizismus, die den norddeutichen Protejtantismus beherrichende franzöfiihe Renaifjance aber weſentlich rationaliftiih, unjinnlich, falt und nüchtern je. So wird rühmend der Jeſuit und große Gelehrte Athanafius Kircher als offenbar ihönered Parallelbild zu Leibniz gegeben.

Wir jagten bereitd3, daß wir die populäre Furcht vor den Jeſuiten nicht theilen, aber das wiljen wir leider nur zu wohl, daß wahrhaft un— parteiiſch jich wohl protejtantijche Wiſſenſchaft erweiſen mag, nicht aber jejuitifche, die niemals ihre DOrdensziele als Hintergedanfen oder secondi fini, wie die Wäljchen jagen, lo8 werden fann. Hier bleibt eine Kluft be— fejtigt, ja fie jcheint zur Zeit durch die politiiche Macht unjere® Zentrums erweitert und ein Werk, wie das beiprochene ijt nicht geeignet, ſie zu be= jeitigen. Der deutjche Bruder drüben im vielipradigen ſchlimm erregten Kaiſerſtaate, dem wir gern die Freundeshand Hinjtredten, dem wir auch wohl nützlich zu jein kräftig genug wären, er muß uns nicht zurüdgeben: „Du gemüthlojer Steger!“

Weimar, im September 1899. dran; Sandvoß

(Zanthippus).

Halbthier! Roman von Helene Böhlau (Frau al Raſchid Bey). Verlag von F. Fontane & Co. Berlin 1899.

Das Buch verdient denjelben Erfolg und Beifall, den Gabriele Reuters Roman „Aus guter Familie“ gefunden bat. Doc ijt die Art diejer beiden Romane von Grund aus verjchieden. Die Neuter gab mit aftenmäßiger Genauigkeit eine naturtreue Darlegung wirklicher Lebensverhältniſſe. Die Böhlau erhebt ſich mit der Flugkraft der Phantaſie aus der flachen Ebene der Wirklichkeit zur Höhe der Ideen. Ahr Roman ift ein idealiftiiches Verf. „Halbthier“ iſt die Frau in ihrem Verhältniß zum Mann, der als Herr der Welt das jchwächere Gejchlecht zur Ordnerin und Hüterin feiner häuslichen Bequemlichkeit benugt das heißt dann Ehe —, oder zur Befriedigung feiner ſinnlichen Lüſte dann nennt er’3 Liebe. Das Leben des ehelichen Halbthiers führt die Gattin des berühmten Schrift- jteller8 Heinrih Ewald Frey, der im Haufe Haustyrann und draußen, in der Gejellichaft, gefeierter Künjtler ift, der für Freibeit und Schönheit fih herrlidy begeijtert. Bei den Nachtizenen in der Familie Freys ent: wicelt die Verfafjerin eine unheimlich ergreifende Schilderungsfunft. Sit die Frau wirklich zu nicht® Anderem, Höherem bejtimmt, als gute Haus— frau, getreue Dulderin, jorgjame und ewig geplagte Mutter zu jein? Lebt nicht auch in ihr ein Drang nad) den vom Sonnenglüd umglänzten Höhen des Lebend? D gewiß, diefer Drang lebt in der Frau, er lebt vor

Nottzen und Beiprehungen. 157

Allem in Freys jchönheitsjeliger Tochter Iſolde. Wie aber wird der Drang zum deal befriedigt? Siolde, in der die Sünftlerfeele des Vaters ſich regt, lernt den Maler Henry Mengerjen fennen, zunächſt aus jeinen Werfen. Sie ijt entzüdt von diejen Bildern, begeijtert, erhoben; jie findet darin ihre eigenen feinjten und herrlichiten Gefühle offenbart. Sie liebt Mengerfen aus jeinen Werfen heraus, liebt ihn mit Inbrunft und Anbetung. Sie verwechjelt den Künſtler mit dem Menjchen, um diefen Irrthum bitter zu büßen. Mengerjen ijt entzüdt von dem Liebreiz, der Gefühläkraft, der Schönheit und Reinheit Iſoldes, der Künſtler in ihm iji entzüdt. Sie erjcheint ihm wie die Göttin der Reinheit und Keujch- beit, die er in ihrer unberührten Nadtheit malen möchte. Für Iſolde fließt Kunit und Leben in Eins zujammen und fie opfert ſich aus Liebe und Runftbegeijterung: fie wird Mengerjend Modell. Als Künftler ijt der Maler entzüdt von dem Modell, als Mann jieht er in dem Mädchen nur den begehrten Gegenitand finnlicher Lujt. Der Mann veradhtet, was der Künſtler verehrt hatte. Was dem Künſtler Göttin ift, it dem Manne Halbthier. Iſolde mwähnte, aus dem Rauſch ihrer Liebed- und Kunſt— begeijterung wieeine Heilige ein Opfer zu bringen, und fieht jich gedemüthigt wie eine Hündin. Das ijt das Problem, das im Mittelpunkt des Romanes ſteht. Iſolde aber ift zu ftarf, um ſich jo jchnell brechen und demüthigen zu laſſen. Sie verabjcheut, wo fie verehrt hatte. Der Maler aber begreift diefen Abſcheu nicht. ebenjowenig wie er vorher den Sinn des Opfers be= griffen hatte. Er bleibt dabei, daß des Weibed Leben daS Leben der Sinne iſt und daß diejed Leben im Grunde doch nur für des Mannes Sinnenlujt bejtimmt iſt. Diejen Glauben muß er mit dem Leben bezahlen. Denn als er ſpäter einmal mit Iſolde an einjamer Bartjtelle zufammentrifft und die Arme begehrlich nach ihr jtredt, wird er von dem verfannten und geichmähten Weibe erjchofjen. So verfällt Iſolde als Mörderin dem Tode, nad bürgerlichen Recht. „Alſo dem Tod lief fie zu? Da, und mit auögebreiteten Armen. Nein, ſie kroch ihm nicht entgegen. Gottlob! Das fühlte fie mit Jubel, fie kroch nicht! Dann hatte fie doch etwas im Leben erreiht. Dann war fie doc) etwas. Uud da war ed wieder dad wunderbare Gefühl. Sie empfand ſich wieder al3 der Begriff des ewig bedrüdten Weibes, des geiltberaubten Weibes, der Sklavin aller Völker. Und da brach ein Jubel in ihr auf. „Und habt ihr eine Welt auf mich geworfen ich breche durch! Und Habt ihr mich verichüttet mit Schutt von Fahrtaujfenden ich breche durch!“ Da mußte fie aufs ihreien im Sraftgefühl. Dann barg fie ihr Geficht in einen vollen, jungen Buchenbuſch, der am Wege herrlich entfaltet jtand, weich und grün, feucht und flaumig. Sie fühlteihr junges Geficht in feinem duftenden Laub. Sie wühlte es ganz darin ein, wie in die Freuden der Erde. „Wie in die Freuden der Erde!“ Das fagte fie wei und innig. Dann warf fie ſich nieder und küßte den Boden, auf dem fie jtand: „Ich fomme wieder“! rief fie laut. „Ich komme

158 Rotizgen und Beiprehungen.

wieder!“ Und wie im Gebet prefte jie die Hände ineinander. Sa, te wollte mwiederfommen, und fie mußte wiederfommen. Das war ihr fejter, großer Wille, ihr heiliger Entichluß. Es gab hier eine Welt dumpfer, dummer, matter Seelen, Halbthierjeelen! Sie wollte einen tiefen Todes— ihlaf halten, der die Kräfte jtrählte; dann wollte fie wiederfehren, jtart und rein und gut und mächtig Alles vermögend mit der Kraft zu erlöjen. So jtand fie unerjchütterlich, Herrin über Leben und Tod in der Wonne ihrer großen Kräfte jchon entrüdt und wartete auf Die Sonne.“ Dies ijt der idealiftiich-ymboliftiihe Schluß des Romand. Er fann und darf allein als eine idealiftiiche Kunſtleiſtung genoſſen und be= urtheilt werden. Es iſt jelbjtverjtändlich, daß in „Wirklichkeit“ und im allen Fällen die Stellung der Frau die eined „Halbthieres* nicht iſt. Sch erinnere 3. B. an den Roman der Höchjitetter: „Sehnjudt, Schönheit. Dämmerung“, in dem die Frau geradezu als Halbgöttin dargeitellt iſt. Und miürde Helene Böhlau, die gemüthstiefe Verjafjerin der „Altweima= riſchen Liebes: und Ehegeſchichten“ etwa Chrijtene® Verhältnig zu Goethe als „Halbthierifch“ bezeichnen wollen? Dennoch bleibt ficherlic; das Hecht bejtehen, von einer bejtimmten Stellung aus und aus gewifjem, perſön— lihjtem Eindrud das Berhältniß zwiſchen Mann und Weib einmal jo Dar: zujtellen, wie e8 in dem vorliegenden Roman gejchehen iſt. Die künſtleriſche Wirkung ift garnicht jo jehr von der objektiven Richtigkeit und von der beweisbaren Allgemeingiltigfeit abhängig, als vielmehr von der Kraft der jubjeftiven Seelenjtimmung und der Eindrudsfähigfeit, mit der das jub- jettiv Empfundene zur künſtleriſchen Darjtellung gebracht ift. Unter den von Frauenhand gejchriebenen Emanizipationdromanen jteht Helene Böhlaus „Halbthier* durch die Höhe der Ideen, die Stärke und Aufrichtigleit der Empfindung, die Schärfe der Charakteriſtik und die Eindringlichkeit der Darjtellung an erjter Stelle. Mar Lorenz.

Nationalökonomie.

Die engliiche Agrarfrifis, ihre Ausdehnung, Urjadhen und Heil- mittel. Nacd der Enquete der „Royal Commission on Agriculture“ bearbeitet von Dr. Oskar Stillih. Jena 1899. Guſtav Fiſcher. VIII und 149 Seiten. Preis 3,60 ME.

Am September 1893 wurde in England eine königliche Kommiſſion zur Unterfuchung der Agrarkriſis ernannt, die bi8 1895 in 177 Sitzungen tagte und 191 Sadverjtändige vernahm. ihre Ausjagen (46151 Fragen und Antworten) und fonjtige Materialien wurden in drei großen Blau büchern 1894 und 1895 veröffentlicht, die jchon 1896 von König für fein

Nothzen und Beipredhungen. 159

Bud über die Lage der engliichen Zandwirthichaft benugt wurden. Der Schlußbericht (Final-Report) der Kommiſſion, der den ganzen ungeheueren Stoff ſyſtematiſch zufammenfaßt, ift dagegen erjt 1897 erjchienen.

Seine Ergebnijje einem größeren deutjchen Lejerkreije vorzuführen, iſt der Bmed der vorliegenden Arbeit, die meines Erachtens al3 eine der wichtigſten nationalöfonomishen Publikationen des legten Jahres bezeichnet werden muß. Die ungeheuere Schnelligkeit der modernen wirthichaftlichen Entividelung, die in wenigen Dezennien die ökonomische Situation eines Landes von Grund auf umgejtaltet, tritt und bier mit jeltener Plaſtik entgegen. E3 ijt ein Bud, das in der gegenwärtigen wirthichaft3=politifchen Situation Deutichlands bejondere Beachtung verdient, da ed und zeigt, welche bedenkliche Tragweite die durch den Preisiturz der landwirthichaft- liden Produkte hervorgerufene agrarische Kriſis auch bei und angenommen hätte, wenn nicht durch den Schußzoll ein gewifjer Ausgleich zwijchen den Produftionsbedingungen der deutſchen und der billiger produzirenden fremden Landwirthichaft hergeitellt worden wäre.

Aus der reichen Fülle des ſehr gejchidt und in anziehender Form verarbeiteten Materials jeien nur wenige Thatjachen kurz hervorgehoben.

Die in den jiebziger Jahren einjegende ausländiiche Konkurrenz hat mit bejonderer Wucht den Aderbau, namentlich die Getreideproduftion, getroffen; der Viehzucht ift ein ausländischer Wettbewerb erjt in den uchtziger Sahren eritanden, und er hat bisher aud) nicht die jelbe Intenſität wie im Körnerbau erlangt. In Folge deſſen hat fich die Weidewirthichaft auf Koſten des Aderlandes ſtark ausgedehnt; e3 entfielen in Millionen acres

auf das 1875 1895 Aderland . . . . 1810 15,97

Weideland . . . . 13,31 16,61

Summa: 31,41 32,58.

Um ſtärkſten hat jich die Anbauflähe für Weizen verringert, der am meijten im Preiſe gefallen ijt; fie betrug 1873/75 3,67 Mill. acres, 1893,95 nur no 1,79 Mill. acres. In den jtebziger Jahren deckte die heimische Produktion noch die Hälfte des Weizenbedarfs, gegenwärtig aber nicht mehr ein Viertel. Günſtiger liegen die Dinge bei Gerjte und namentlich bei Hafer, wo nur 40 und 20% des Bedarf vom Auslande bezogen werden.

Trog der Vergrößerung des Weideareald hat die Viehzucht Feine Sortfchritte gemacht; der Viehbeſtand ijt im ©egentheil jogar eher zurüdgegangen. 1892 gab ed in Großbritannien 6,945 Mill., 1895 aber nur 6,354 Mill. Stüf Pindvieh. Auch die Schafe hatten fich gleichzeitig von 28,735 auf 25,792 Mill. Stück verringert. Die geſammte jährliche Fleiſchroduktion wurde geſchätzt:

1876/78 auf 1,326 Mill. tons 1893/95 1,374 tons,

160 Notizen und Beiprehungen.

ſtagnirt aljo jo gut wie volljtändig. Gleichzeitig ijt aber die Fleiſcheinfuhr von 0,336 Mill. auf 0,689 Mill. tons gejtiegen, während die Fleiſch— preije erheblich gefallen find. Die Einfuhr von Moltereiproduften (Butter, Käſe ꝛc.) bat ſich ebenfall$ mehr als verdoppelt und überragt jest ichon bedeutend die eigene Produktion Englands. Es iſt der engliichen Yand- wirthichaft alſo nicht gelungen, für das, was fie im Körnerbau verloren, in der Viehzucht einen Erjaß zu finden.

Auch in der Wollproduftion ijt England in jteigendem Maße vom Ausland abhängig geworden; die heimische Produktion, die 1876/78 nod mehr als zwei Fünftel des Bedarfs lieferte, dedt jegt nur nod wenig mehr als ein Biertel. In feinen beiden wichtigften Bedarfsartifeln, in Weizen und in Wolle, ijt Großbritannien zu drei Vierteln auf auswärtige Zufuhren angewiejen.

Die Agrarkrifis hat nicht nur die landwirthichaftlihe Produktion bes deutend verringert und Englands Abhängigkeit vom Ausland außerordentlich erhöht, fie hat aud) tiefgreifende joziale Veränderungen zur Folge gehabt.

Die Entvölferung des platten Landes ijt noch meiter vor— gejchritten. Die Zahl der Tandwirthichaftlihen Arbeiter ift bei einer Zunahme der Gejammtbevölferung Großbritanniens von 26 auf 33 Milionen von 1871 bis 1891 von 1162000 auf 920000 Perſonen gejallen. Tie geringe Zahl der Bauern (yeomen und freeholders) ijt nod weiter zus jammengejhmolzen. Auch die Zahl der Pächter dürfte fih nicht un— beträchtlich verringert haben; ihre Lage muß al3 jehr Eritiich bezeichnet werden.

Der jteuerpflichtige Rohertrag des ländlichen Grund und Bodens ift von 1879/80 bis 1893/94 von 59,6 Millionen Litrl. auf 46,3 Millionen Litrl., aljo um mehr als eine VBiertelmilliarde Marf zurüdgegangen. Der Robertrag des rein landwirthichaftlih benugten Grund und Bodens dürfte noch jtärker gejunfen fein, da die obigen Zahlen auch Hausgärten, Parts x. einjhließen, deren Ausjcheidung erjt für 1896 möglich ijt: im leßteren Jahre jtellte ji der Nohertrag des landwirthichaftlich benußten Bodens allein nur auf 24,5 Millionen Litrl. Der Kapitalwerth des landwirth— ichaftlichen Grund und Bodens in Großbritannien hat von 1875—94 um 854 Millionen Litrl., d. h. um 50 Prozent, im ganzen Vereinigten König: reid; jogar um vund 1 Milliarde Litrl. abgenommen. Der Boden: ertrag ijt gegenwärtig unter das Niveau der vierziger Jahre herab- gejunfen.

Am ftärkiten hat die Krifis die Eigenthümer des Grund und Bodens, aljo die Bauern und die Landlords, getroffen. Da die bäuerlichen Grundjtüce meijt gänzlich ſtark mit Hypotheken belaftet find, jo leidet der jelbjtwirthichaftende Befiger viel mehr als der Pächter, der durch Pacht— reduftionen und Pachterlafje einen großen Theil der Verlufte auf den Land— lord überwälzen kann. Am wenigjten unter der Kriſis haben die Land-

Rotizen und Beiprehungen. 161

arbeiter gelitten, die den Vortheil der billigen Lebensmittel hatten; neuer- dings find aber auch ihre Löhne gefallen.

Die größten Verluſte an Einfommen wie an Vermögen haben jeden- fall3 die Landlord3 zu verzeichnen; und nur dem Umſtand, daß die Krifis am jchwerjten eine kleine und enorm reiche Klaſſe traf, Die gleichzeitig durch die Werthiteigerung des jtädtiichen Grund und Bodens und durd) ihre Ge- winne in Handel und Induſtrie die erlittenen Verluſte großentheil3 wieder ausglich, iſt es meined Erachtens zu danken, daß die englifche Agrarkriſis nicht zu Sozialen Kataftrophen geführt hat. Un Deutjchland mit feinen Millionen von bäuerlichen Befigern wäre eine Kriſis, die den Bodenwerth um 20 Milliarden Mark verringert, die ihn auf die Hälfte reduzirt hätte, jedenfall3 nicht ohne die ſchwerſten Erjchütterungen vorübergegangen.

Eine Heilung der Kriſis iſt nur von einer Preisjteigerung der landwirtbichaftlihen Produkte zu erwarten; ob die feit 1895 ein- getretene langſame Aufbefjerung der Preife anhalten wird, muß abgewartet werden. Jedenfalls ijt es von Intereſſe, daß die engliiche Landwirthſchaft auf die eingetretene Befjerung der Preije jofort mit einer Ausdehnung der Produktion reagirt hat.

Auf die Palliativmittel, die die Kommiſſion vorjchlägt, näher einzugehen, würde hier zu weit führen. Nur ein Punkt jei hervorgehoben: Die eng— fiichen Eijenbahnen nehmen durchweg Höhere Frachten für englijche*) als für ausländiſche Agrarprodufte, angeblich, weil die Verladung der aus— ländiichen Produkte eine leichtere jei, thatſächlich aber wohl, wie mir jcheint, weil die engliichen Eijenbahngejellichaften vielfach) mit den Schiffsgejellichaften fürt find und deshalb an einem möglichjt großen Transport ausländiſcher Produkte ein Intereſſe haben; übrigend wird Bahnfracht und GSeefradht gewöhnlich nicht getrennt, jondern in einer Nate erhoben. Dieſe Thatjache ſcheint mir bei und gerade jet befondere Beachtung zu verdienen, angelichts der Bejtrebungen, durch Ausbau des Kanalnetzes einen großen Theil des Giütertrandport3 von den Staatdeifenbahnen auf die privaten Transport gejellichaften zu übertragen.

Nationalölonomil des Handels und Gewerbefleißes. Ein Hand: und Lejebuh für Geſchäftsmänner und Studirende von Wilhelm Roſcher. Siebente Auflage. Bearbeitet von Wilhelm Stieda. Stutt— aart 1899, 3. G. Eottaiche Buchhandlung Nachfolger. XVI und 1119 Seiten. Preis geheftet 16 Mark. In Halbfranz geb. 18,50 Marl.

E3 kann nicht meine Aufgabe jein, ein fo alte8 und befanntes Wert

*) Erjt neuerdings find wohl in Folge der Agrarenquöte auf ein« zelnen Bahnen und zwar bauptfädhlid im Xofalverfehr mit London befondere Zarifermäßigungen für gemwifje landwirthſchaftliche Produkte eingeführt worden.

Preußiſche Jahrbüher. Bd. XCVIII. Heft 1. 11

162 Notizen und Beiprehungen.

wie Roſchers „Nationalöfonomit des Handeld und Gewerbefleißes“ einer ausführlichen Beipredjung zu unterziehen. Es genügt hier zu konſtatiren, daß Stieda, unter jorgfältiger Schonung und Beibehaltung der ganzen Roſcherſchen Syitematik und Darjtellungsmethode, über deren Bortrefflichkeit die Anfichten allerdings getheilt jind, durch zahlreiche Ergänzungen und einzelne Streihungen das Roſcherſche Werk bis auf die Gegenwart fort: geführt und in Einklang mit dem augenblidlichen Stande unferer wiſſen— Ihaftlihen Kenntnifje gejegt hat. Dad Buch ift in der neuen Auflage dadurh um etiwa zehn Bogen jtärker geworden, da der Herausgeber in ernjter und gründlicher Arbeit eine erjtaunliche Fülle neuen Materials ein- gefügt hat.

So begreiflich Stiedad pietätvolles Bejtreben iſt, Roſchers Tert nah Möglichkeit in feiner urjprünglichen Form zu erhalten, fo jollte er doch nit davor zurüdjchreden, feine Ausdrucdsweife dort, wo jie unjerem modernen Empfinden gar zu veraltet klingt, entiprechend zu modifiziren: jo patriarhaliihe Ausdrüde, wie „Fabrikherren“, „Abhängigkeit der Babrifarbeiter von ihren Herren“ u. a. m. follten wirklich bejeitigt werden.

Politiſche Arithmetik oder die Arithmetik des täglichen Lebens. Bon Moritz Cantor. Leipzig 1898, B. G. Teubner. X und 136 ©. Die Heine, recht hübſch ausgejtattete Schrift hat den deutſchen Bücher: markt um eine jehr originelle Erſcheinung bereichert, die um ein oit mißbrauchte® Wort einmal mit Recht anzuwenden einem wirkfichen Be: dürfniß entipricht.

Der BVerfaffer hat jeit vielen Jahren in jedem Winter an der Heidel- berger Univerfität eine zweiſtündige Vorlefung über „politifche Arithmetik* gehalten, deren Inhalt er hier einem größeren Publikum zugänglich macht, das ſich vermuthlich nicht auf den kleinen Kreis der nationalöfonomiih ge: ſchulten Leſer bejchränten wird. Denn die hier behandelten Fragen haben fajt durchweg ein allgemeined Intereſſe, wenn fie auch freilich für den Nationalölonomen von bejonderer Wichtigkeit jind. Heutzutage wird es faft für Jedermann nothwendig fein, etivad von den Rechnungsweiſen des Bant- und Börjengejchäftd, des Verſicherungsweſens, der verjchiedenen Sotterien und des jtaatlichen und fommunalen Anleiheverfehrs zu verſtehen. Ueber alle diefe Fragen unterrichtet Cantor in fnapper und doc aud für den mathematijhen Laien verjtändficher Form; dabei beſchränkt er jich er: frenlicher Weife nicht ängjtlich auf die rein mathematischen Fragen, jondern bemüht ſich, ein volljtändiges Bild der behandelten Materien zu entiverien, jodaß jeine kleine, aber erjtaunlich reichhaltige Schrift ein vollitändiges Kompendium der Technit des Bank und Börjenverfehrd ſowie des Ber: ſicherungsweſens darjtellt. Selbſt die gejchichtliche Entwidlung des Ver:

Rotizen und Beiprehungen. 163

jicherungdwejend wird in großen Umrifjen jlizzirt, auch die einjchlägigen juriftifchen Beitimmungen und die durch das Bürgerliche Geſetzbuch be— dingten Veränderungen werden jorgiältig mitgetheilt.

Eine detaillirte Inhaltsangabe erleichtert die Benutzung der Schrift als Nachſchlagebuch, was um jo danfenswerther ijt, ald man bekanntlich nicht3 fo leicht wie mathematijche Formeln vergißt. Ein Anhang giebt aus— gerechnete Tafeln für die üblichen Zinsfühe von 3, 31/, und 4% für alle Jahre von 1—100, um logarithmijches Rechnen nad Möglichkeit überflüfjig zu machen.

Gantor iſt ein Meijter fnapper und prägnanter Darftellung, feine Schrift durdaus ein Unifum. Wir wüßten fein Buch in der deutjchen Literatur, das in ähnlicher Weiſe mathematijches Wiſſen mit einer jo gründ- lichen Kenntniß des praftiichen Gejchäftsverfehrs vereinigte und zugleich fo erichöpfend über zahlreiche und wichtige Fragen orientirte.

Geihichte der Nationalöfonomie und des Sozialismus. Bon Dr. Karl Walder, Privatdozenten der Staatswiſſenſchaft on der Univerjität Leipzig. ordentl. Mitglied der Internationalen Bereinigung für vergleichende Rechtswiſſenſchaft und Volkswirthſchaftslehre zu Berlin und der American Academy of Political and Social Science. Pierte, völlig umgenrbeitete Auflage. Leipzig 1899, Roßberg'ſche Hofbuch— handlung. VIIL und 134 Seiten.

Während die Schriften anderer Gelehrter von Auflage zu Auflage dider und umfangreicher und vielfach auch theurer werden, verfolgt Herr Dr. Walcker fobendwerther Weile den umgefehrten Braud). Seine Schriften haben in der zweiten verbejjerten Auflage fajt durchweg eine erheblich fnappere Fajlung erhalten und find dem entiprechend auch im Preiſe reduzirt worden. So fojtete jeine Theoretijche Nationalöfonomie in der eriten Auflage (1882) 9 Marf, in der zweiten verbefjerten Auflage (1888) nur 2 Markt; jeine Landmwirthichaftspolitit ſowie feine Gewerbe: und Handelspolitik ift in der zweiten verbejjerten Auflage ebenfalls für 2 Mark zu eritehen, während die erite Auflage ji) auf 7 Mark jtellte. Auch das vor— liegende Werk, der V. Band jeines großen „Handbuchs der National: öfonomie*, hatte früher einen weit größeren Umfang und fojtete 8 Marf, während man e3 jeßt in der völlig umgearbeiteten Faſſung jchon für 3 Mark erhalten kann.

Zu dieſen Kürzungen ijt Herr Dr. Walder durd die richtige Er— fenntniß veranlaßt worden, daß „die meijten jüngeren wie älteren Lejer einer Geſchichte der Nationalölonomie wenig Zeit haben“ und er hat mit Recht geglaubt, „auf dieſen Umitand Niücjicht nehmen zu müſſen“. Immer— bin war es wicht leicht, auf 88 Seiten der Nejt des Buchs ijt mit

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164 Rottizen und Beſprechungen.

einigen Exkurſen und zwei Negijtern ausgefüllt eine vollitändige Ge- ihichte der Nationalökonomie und ded Sozialidmus zu geben. Dieſes Ziel ließ fi auch nur dadurch erreichen, daß der Verfaſſer bei der Auswahl des Stoffe von folgenden Grundfägen ausging: „Die widhtigiten Daten find immer zu geben, aud) wenn fie bereitö bei J. Kautz, W. Roſcher, 3. Ingram, 2. Coſſa und im I. Conrad'ſchen Handwörterbuch der Staats- wifjenschaften ftehen. Im Uebrigen kommt e3 darauf an, ſolche Daten zu geben, die in den genannten Büchern nit zu finden jind.“ Der Verfaſſer will alſo die genannten, meijt recht „verdienitvollen* Werte nicht überflüffig machen, obwohl er „im Anjchluß an berühmte, verjtorbene und lebende Nationalöfonomen nicht alle im Handwörterbuch geäußerten Anſichten theilt“, fondern nur ergänzend neben fie treten.

Erjt wenn man ſich das Far gemacht, begreift man die oft wahrhaft fapidare Prägnanz jeiner Darjtellung.

„A. Schäffle, geb. 1831, war Anfangs HFreihändler, wurde gemäßigter Schutzzöllner und Bimetallift. Dafjelbe gilt vom Berliner, 1835 geb. ®rofefjor Bagner. Zu den Mitarbeitern des Legteren gehören Prof. H. Diegel in Bonn, (deb. 1857), ferner der badifhe Finanzminifter A. Buhenberger für Agrarpolitit und Profeffor 8. Bücher in Leipzig.(geb. 1847) für Gewerbe und Handelspolitit,

B. Hildebrand, 1812—78, Brof. in Jena, begründete 868 Jahrbüder für Nationalölonomie und Statiftik, die jeit 1873 vom Hallefhen, 1839 geborenen Prof. 3. Conrad herausgegeben worden. Seine drei Mitredafteure find W. Leris, geb. 1837, Prof. in Göttingen, 2. Elſter, geb. 1856 und E. Löning, geb. 18483, Prof. der Rechte in Halle. Lexis ift einer der tüchtigſten und viel— feitigften deutfhen Nationalölonomen. Das 1872 von F. von Holtzendorff begründete Jahrbud für Geſetzgebung, Verwaltung und Volkswirthſchaft batte 1877—80 Brentano zum Mitredalteur, wird feit 1881 von Schmoller Heraus gegeben. 2. Brentano, geb. 1844, ift Prof. in Münden, G. Schmoller, geb. 1838 Prof. in Berlin.“

Muftergiltig in jeiner ſchlichten Knappheit muß auch der Abjchnitt über den deutjchen Merkantiligmus des achtzehnten Jahrhundert3 genannt werden. (©. 15).

„Als Friedrih Wilhelm I. in Litauen feine neuen Bauernkolonien jAul, fagte er, „die können nicht profperiren, wenn wir nicht eine Anzahl Städte in ihre unmittelbare Nähe ſetzen.“ Aehnliche Anfichten wurden von Friedrich dem Großen, 3. v. Jufti und dem öfterreihifchen Freiherrn J. von Sonnenfels geäußert, obgleich Friedrih fo manche grobe Vorurtheile der Mertantiliften theilte. I. Möfer wird häufig überſchätzt.“

Wem diefe überaus prägnante Darjtellung zunächit nicht behagen jollte, wird fich gewiß mit ihr verjühnen, jobald er beim tieferen Eindringen ın Walckers Schrift fieht, da ihm ſtatt zweckloſer Wiederholungen längjt be: fannter und auch in anderen Büchern enthaltener Gejchichten eine Fülle interefjanter und bisher gänzlich unbefannter Thatjachen zur Entjchädigung geboten wird.

Rotizen und Beiprehungen. 165

„Ber Berfaffer der vorliegenden Schrift wurde 1889 in Bernau in Livland geboren, ftudirte in Dorpat und Berlin, wurde 1873 badifcher und 1886 ſächſiſcher Staatsbürger und ift feit 1877 Dozent an der Univerfität Leipzig. Mein Handbuch der Rationalölonomie erſchien in 5 Bänden, 1882— 34. Die 2. Auflage 1888 ift viel kürzer gefaßt .. .. (S. 52/58.)

Autobiographifhe Notizen habe ih auf Wunſch der Herausgeber, im Literariihen Deutfhland von A. Hinrihfen, 2. Aufl. 1892, in A. de@ubernatis’ Dietionnaire international des ecrivains du jour, Florenz, 1891, Bd. 3 und im Literarifchen Leipzig, 1897, gegeben. Eine Familien« trabition befagt, daß meine germanifchereformirten, nicht etwa keltifch"fatholifchen, Vorfahren, die fih aud Waller fchrieben, zur Gentry, zum niederen Adel, Schottlands gehörten, und im 18. Jahrhundert wegen ihrer Betheiligung an einem Stuartihen Aufftande nah dem FFeftllande, nah Württemberg, Sachſen und Rurland, famen. Mein Großvater wurde in Stutigart, mein Bater in Mitau geboren. Auch mein Großvater mütterliher Seite ftammte aus Deutijchland, aus Seefen.

Nofhers Ausdrud Deutſchruſſen paßle nit auf die Balten meiner Jugendzeit. Gin Deutjhamerilaner lernt das Engliſche als eine Ichende Sprade.e Ich babe das Ruſſiſche dagegen wie eine todte Spradhe, wie das Lateinifhe und Griehiihe, gelernt. Faft alle meine Lehrer ftammten aus Nordbdeutfhland (Berlin, Schlefien, Thüringen, Schlesmwig-Holftein). Ich habe Livfand nie als wahre Heimatb, immer nur als eine Art Gafthaus auf dem Rüdwege nad Deutjchland be— trahtet. Auch verjhiedene andere Familien find im 18. Jahrhundert nad Livland gegangen, im 19. Jahrhundert wieder nad) Deutfchland zurüdgelehrt. Ih werde mandhmal irrtbümlid, obne meine Schuld, als Dr. phil. oder jur. bezeidhnet. (©. 54.)

Am Album Academicum der Kaiſ. Univ. Dorpat, 1889, find aus den Jahren 1802—89 14831 Immatrikulirte verzeichnet, mit Angabe der fpäteren Lebensftelung. Als Kuriofum fei erwähnt, daß in Bernau 1835, 1838, 1839 drei Nationalölonomen geb. wurden, nämlich Gerjtfeldt, A.v. Miastowski und ih. Auch Erfterer lebte, 1873—83, in Leipzig. ©. T. Waller Nr. 2948, iit mein Bater, %. Walker, Rr. 5189, mein Better. Unter meiner Nummer 6681 muß e8 Zeile 2 Heißen: Dr. oeconomiae publicae et sta- tisticae, Zeile 4 etatsmäßiger Dozent. In Bernau wurden auch K. G. Joch— mann, 1789—1830, und der Betersburger Brof. des Völkerrechtes %.v.Mar:; ten geboren, Zegterer 1843. Joch manns Reliquien wurden 1838 von 9. Zſchokkke in 3 Bänden herausgegeben. Gr bebt gegen Montesquicu bervor, die deutjhe Freiheit ftamme von den Medern, nidht aus den Wäldern Deutfhlands R. v Gneiſt zitirt diefe Worte bei— ftimmend ..... (S. 75) ;

Die Grundlagen meiner Anjhauungen über die ruffiihen Zuſtände be— fiehen in Folgendem. In den 1860er Jahren bejhäftigte ih mid in Dorpat eingehend mit der volkswirthſchaftlichen, befonders der fteuerpolitifchen Literatur Rußlands, über die ich 1869 jchrieb. 1864—72 verkehrte ich in Narva viel mit dem 1806 geborenen, 1878 verftorbenen Baron Rifolausv. Biftram (dem Bater des Autors, der im 2. Bande Rojhers zitirt wird). Der

166 Notizen und Beiprehungen

ältere Biftram, ein Verwandter des kurländifhen Barons v. Biftram, der mit der Gräfin Ida v. Hahn-Hahn befreundet war, hat in Münden NRationalötonomie ftudir, war Majoratsherr in Bolen, ruffifher Garde» rittmeifter a. D. und Kammerberr, ein geiftreiher Mann, der viel mit dem höheren rufjifhen und polnischen Adel verkehrt Hatte, ein guter, unbefangener Kenner der ruflifhen und polnifhen Zuſfände. Er fühlte fidh als Efibländer, wurde aug indereftibländifhenfgamiliengruftber Piftrams beecerdigt, war indeß auf dem väterlihen Gut im Gou— vernement Betersburg geboren.“ ..... (S. 79).

Neu und werthvoll ijt auch der folgende jtatiftiiche Nachweis, durch den hoffentlid eine thörichte Legende für immer zerftört wird. (S. 74175.)

„Engländer und andere Nidhtdeutihe glauben häufig, jeder Deutihe Gelehrte trage eine Brille, und babe „Schmiffe,“ Hiebernarben, im Gefidt. Beides ift ſtark übertrieben. Die Zahl der Leipziger Brofefjoren und Privat: Dozenten dürfte circa 150 betragen. Im Sammelwerk „Das literarifche Leipzig“. erſchienen 1897 58 Borträt® von Leipziger Brofefforen und Privatdozentn Davon tragen 44— 75,8 %o feine Brille, während 14— 24,1 %/, eine Brille tragen. In der Jluftrirten Zeitung erfchienen am 7. April 1894 die Porträts von 16 Brofefioren, die mit Ausnahme 8. Mengers lauter Neichsdeutiche find. Davon tragen 10 (62,5 9%) feine Brille, während 6 (87,5 %,,) eine Brille tragen. Auh im Auslande gab und giebt es dagegen Brillen- träger. Waſhington trug z. B. nah Bancroft 1783, im 51. Lebensjahre, eine Brille.

In Leipzig mahen die Verbindungsftudenten, mie man gemöhnlih an» nimmt, Y/,o oder !/,, aller Studenten aus. Aehnlich ifi es auf anderen großen Univerfitäten. Die große Mehrheitderdeutjhen Brofefforen, PBrivatdozgenten, Studenten bat glatte, narbenloje Ge— ſichter.“

Dieſe Ausführungen dürften allgemeiner Zuſtimmung gewiß ſein. Da— gegen ſcheinen mir andere geiſtreiche und originelle Behauptungen des Verfaſſers geeignet, einen gewiſſen Widerſpruch herauszufordern.

„Die freihändleriſche Denkweiſe hat etwas Kühles, Kritiſches, Beſonnenes, Verſtandespolitiſches, Männliches, während die ſchutz— söllnerifche, vollends die ſozialiſtiſche Denkweiſe etwas Gefühls— politiſches, Unbeſonnenes, Weibliches hat“ (S. 85).

„Einer der erſten Anhänger Smiths ſagte bereits: Der Freihandel ſei Proteſtantismus auf dem Gebiete der Nationalököonomie. Das ıf unzweifelhaft. Man wende nicht ein, dab Baſtiat Katholik war. Gr zog eben nicht die Icgten Konfequenzen.“ (5. 22.)

Alle Anerkennung verdient Walder& muthiges Eintreten für Heinrich Heine, dent er auch den ihm gewöhnlich ſchnöde vorenthaltenen alademijchen Nang, den er doch rite erworben hat, beilegt.

„Ber Dr. jur. 9. Heine bat, ähnlid den deutſchen Alaffitern, auch Berdienfte um die Nationalölonomie, überhaupt die Staatswiſſenſchaften. Bei ihm finden fih im guten Sinne des Worts kathederſozialiſtiſche Ideen und namentlich gejunde, ſtaatsmänniſche Anfichten über das jog. Königtbum der jozialen Reform“ (8. 48.)

Rotizen und Beiprehhungen. 167

Das ift freilich auch fein Wunder; denn „Deine ijt zum Proteſtantis— mus übergetreten und fühlte protejtantiich.”

Abjolut nothwendig zur Erzeugung protejtantiihen Fühlens iſt übrigens die Taufe nad) Walderd vornehm toleranter Anſicht nicht.

„1880 erihien im der „Gegenwart“ ein Artitel von Oppenheim, der mehr deutih und proteftantifh, als ifraelitiih gehalten war. Der verdienftvolle Rationalölonom war danıals zu den von mir fog. ungetauften Brotejtanten zu rehnen.” (S. 75/70).

Schon aus diejer Aeußerung erhellt Walderd fortichrittliche Gefinnung, die und noch jtärfer im folgendem Sa entgegentritt, deſſen Begründung einzelne Sfeptifer freilich nicht ganz überzeugen dürfte.

„Die Zukunft des Proteftantismus gehört der Aufllärung, mie aud der ftarfe Abjag der Romane der Frau H. Ward beweiſt.“ (S. 113).

Mit ebenfo großer Energie und mit ebenfo treffenden Argumenten wie gegen den Ultramontanismus zieht der Verfafjer gegen den Sozialis— mus und die Sozialiſten zu Felde.

„Karl Marx's Vater hieß Mordedhai, ſtammte von einer langen Reibe von Rabbinern ab und nahm 1824 bei der proteftantifhen Zaufe den Namen Marr an. 8. Mary wurde 1818 in Trier geboren und ſtarb 1858 in Yondon wohin er 1849 geflüchtet war. ... Marx's Auszüge aus englifhen Fabrik— infpeftoren:Berichten find intereffant. Der Kern der Marr’ihen Lehre, ift indeß ebenfo unhaltbar, wie der Herenglaube, oder ein anderer Aberglaube. Wenn das Unternehmerverbältniß wirklich an und für fid ein wumfittlihes Ausbeutungsverhältnig wäre, jo wäre audhderganze Sozialismus verdammensmertb, der cebenfomwenig ohne einen ftaatlihen Unternehmergewinn auslommen könnte, mie eine Heutige gut rentirende Staatsfabril. Man denke z. B. an die bayeriijhen Staats» brauercien. Wenn die Marx'ſche Lehre richtig wäre, fo wäre es eine heilige Pfliht der Menfchheit, zu einem Zuftand ohne Uniernehmergewinn, d. 5. zum Leben halb nadter Jäger- und Fifherhorden zurüdzufehren“ (S. 65/66).

Nachdem Walder jo den gefeierten Heros der Sozialdemokratie als unheilbaren Klonfufionarius entlarvt hat, enthüllt er und auch die geradezu unglaubliche und empörende Unmifjenheit Ferdinand Laſſalles.

„Er war, troß feiner theilmeifen Belejenbeit, jo unmiffend, daß er von Zelllampfs u. A. grundfägliher Berwerfungderun: gededten Roten nihts wußte, ja fogar zum fog. Inflationismus im Sinne der Robespierrefhen Aſſignatenwirthſchaft neigte. ... Er bat NRodbertus flehentlih, ihm mit Ideen auszubelfen (!), Rodbertug ging indeß darauf nicht ein, hauptfählih wohl, weil er feiner Normalarbeitstags-Idee felbft nicht recht traute und lieber vor einem Heinen Gelehrtenpublitum, als vor dem großen Publifum Fiasto machen wollte.” (S. 61/67).

Und dies Fiadfo war ihm jicher; denn „jein Sozialismus bejteht haupt— jählih im Wahne, nad) einigen Hundert Jahren werde das Kapitals und Grundeigenthum abgejchafft werden.“

168 Notizen und Beiprehungen.

Auch von Friedrid Engels ijt nicht viel Gutes zu berichten; er theilt leider „die Orundirrthümer Marıd, obgleich er den Letzteren an Be: gabung weit übertrifft.“

Troß der ſcharfen Kritik, die Walder an den Sozialiften übt, iſt er weit von parteiischer Ungeredtigfeit entfernt.

In feinem 1897 erjchienenen Buche über Marr hatte er behauptet, Marz jei nur 3 Fuß und 10—11 Zoll, aljo nur etwa 112—114 Zenti- meter groß gewejen, und er hatte daran die Bemerkung gefnüpft:

„Berfonen mit einer Körperlänge von 105—140 Gentimeter bilden nad Meyers Konv.-Ler., Art. „Amerge“ den Uebergang von diefen zur normalen Größe Sie find zwerghafte Geftalten.“

Nachdem ihn die jozialdemokvatiiche Prefje belehrt hat, daß er ſich ‘verlejen habe, daß es im feiner Quelle thatfählih jtatt 3 Fuß 5 Fuß heiße, benußt er mit ſchönem Freimuth in feiner Schrift die erfte ſich ihm bietende Gelegenheit, um Marr dad ihm gebührende Gardemaß von 1,70-1,78 cm zujuerfennen, und er bittet den Leſer, den angeführten Zuſatz von den „zwerghaften Gejtalten* zu ftreichen.

Sehr beherzigendwerth find auch gerade in den gegenwärtigen Zeitläufen die Worte, mit denen er feine Ausführungen über den Eozialismus bejchlieit.

„E8 wäre übertrieben, alle Sozialiften, unter denen fih ja aud gemäßigte, in ihrer Art mwohlmeinende Männer befinden, für Teufel in menſchlicher Beftaltzu halten.“

In der Gegenwart wird häufig geklagt, daß es originellen Köpfen ſchwer jei, gegenüber den nivellirenden Tendenzen der Zeit ſich An— erfennung und Beachtung zu verjchaffen. Wenn man jedod bedenkt, daß Dr. oec. publ. Walderd „Geſchichte der Nationalöfonomie und des Sozialismus“ bereit in vierter Auflage vorliegt, jo wird man ji der Erfenntniß nicht verſchließen können, daß fernige Eigenart und wahre Originalität in Form und Inhalt auch heute noch zahlreiche danfbare Bes wunderer findet.

Berlin. Dr. Baul Boigt.

Theater-Korrefpondenz.

Lejjing- Theater: Eleonora Duje ald Gajt, Casa paterna (Heimath) von Hermann Sudermann.

Deutihes Theater: Rosmersholm, Schaufpiel in vier Alten von Henri Ibſen.

Die Magda in Sudermannd „Heimath“ ijt wohl die größte Parade- rolle, die in der modernen Dramen = Literatur zu finden ift. Als jolche wird fie wenigitens von den Heroinen aller Länder über die Bühnen von taujend Städten gejchleift. Sch weiß nicht, ob dem Dichter immer damit gedient it. Sch möchte es jogar bezweifeln. Denn giebt e8 doch unter den PVirtuofinnen auch welche von jolcher Art, daß fie den Glanz der Rolle noch durch den Glanz der Toiletten zu verdunfeln trachten, jo daß fie auf dieſe Weiſe ficherlich jih mehr ihrem Schneider, als ihrem Dichter verpflichten. Dagegen kann es jeden Dichter nur zum Gefühle tiefiter Dankbarkeit jtimmen, durch Eleonora Duje vertreten zu werden. Gie offenbart mit ihrer hohen und reinen Kunſt den tiefiten und eigenjten Gehalt der Rolle, wenn auch nicht Jedem. Irgend ein Beitungsfritifer jeßte jeinen Lejern diefe Lehre vor: „Sudermann hat ein Familiendrama der gefränften Offiziersehre gejchrieben. Die Duje führt und die Tragödie der verrathenen Liebe, der ermordeten Lebensillufionen vor.“ Kein? von beiden, weder dad, was Sudermann untergejchoben, noch das, was der Duje zugeichrieben wird, iſt zutreffend. Ganz allgemein ausgedrüdt: „Heimath“ ijt die Tragödie der modernen Frau. Diefe Tragödie, wie jie übrigen! ähnlich auch von den hervorragenditen weiblichen Schrift: jtellerinnen empfunden und bargefiellt wird, bejteht darin, da das Weib unferer Tage zum Bewußtjein ihrer Einzelperjönlichkeit erwacht und heran gewachjen ift, gewiliermaßen aufhört, nur Weib d. h. „Weibchen“, Geſchlecht zu jein, um Menſch, Individuum zu werden. Dieſer Drang zum Menſchenthum, zur individuellen Freiheit trieb Magda aud dem väter: lihen Haufe, in dem der Zwang, die Konvention, die Zucht, die Ordnung

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herrichen. Magda wird gewöhnlich als die weltberühmte Künjtlerin mit den Bagabundenmanieren dargeftellt, die in ihrem jchranfenlojen Selbſtgefühl wähnt, über Allem hocherhaben zu jein. Das ift grundfalih. Magda iſt im tiefiten Grunde und ald Typus das zum Menſchenthum erwachte, zur Berjönlichkeit herangewadhjjene Weib. Daß fie Sängerin wird, ijt von jefundärer Bedeutung und eine Folge, die nicht aus dem Grundproblem des Stückes, jondern einerjeit3 aus individueller und mehr zufälliger Anlage, andererjeitS aus theatraliichen Abfichten des Dichters herzuleiten iſt. Auch wenn jie nicht die Stimme und die fünjtlerische Begabung hätte, wäre Magda aus dem Haufe gegangen. In eriter Linie aljo es jei noch— mals betont iſt Magda nicht die Künjtlerin, jondern das zur Perjön- lichfeit gereifte Weib. Sonnenklar wird dad dadurch bemwiejen, daß jie, dem Herrn v. Keller gegenüber, bereit it, ihre Künjtlerlaufbahn aufzu- geben und, dem Vater zu Liebe, in die Ehe zu willigen; um feinen Preis aber will fie ihr Kind verleugnen. Als frei gewordene und der Freiheit würdige Perjönlichkeit alfo trat Magda aus dem Vaterhauſe in die Welt. Da begegnet ihr aber, was auc) der Iſolde Frey in Helene Böhlaus Roman „Halbthier* widerfährt: der Mann, der bisherige „Herr der Welt“, glaubt nit an dieſe Perfünlichfeit, an den Menjchen im Weibe. Es ijt ihm gerade gut zur Beute jeiner Sinnenluft. So ergeht’3 jener Iſolde mit dem Maler Mengerjen, und jo ijt es aud das Schidjal Magdas in ihrer Beziehung zu dem Herrn v. Keller. Sie bleibt jtarf, jie kämpft weiter. Und Sieg wechjelt mit Niederlage. Man thut gut daran, jene Frage zu verneinen, die jie im enticheidenden Augenblid an ihren Bater richtet, ob denn nämlich jener Herr v. Keller der Einzige ijt, der jie bejeilen, der jie beichmußt hat. Sie bedarf als Weib der großen, beruhigenden, einen Liebe, die jie aber nicht finden fann, und taumelt jo von diejer Liebichaft zu jener. Das Genie ihrer Seele reißt fie immer wieder empor, rettet jie. Aber immer bleibt die Sehnſucht nach Liebe, nach einer Heimath. So fommt sie denn Schließlich wieder ind Vaterhaus, nicht etwa. um ſich als Siegerin huldigen zu lajjen, jondern zunächſt demüthig, wie mit gefalteten Händen, als das vom Leben gepeitichte und zerjichlagene Weib, das eine Heimath begehrt. Im jelben Augenblid allerdings, in dem ſie das Haus ihres Vaters betritt, fühlt fie auch jofort mit jchmerzlichjtem Bejremden, daß hier die Heimath ihrer Seele nicht jein fann. Der Konflikt, der fie ehemals aus dem Hauje trieb, jeßt jofort wieder ein, aber vertieft. verjchärft, auf höherer Stuie des Gegenjages. Eins ijt in der Daritellung und wohl überhaupt in der Perjönlichkeit der Dufe jo ganz bejonders ergreifend: ihr Antlig it von den herben Linien tiefiten Grams durchfurcht; aus ihren Augen Elagt ein unauslöjchlicher Schmerz, und das Leid läßt fie alt erjcheinen. Aber hinter diefem vergrämten und taujend Erfahrungen der Seele fündenden Geſicht blict ein anderes durch, ein Gefichtchen, ein Kindergejichtchen, jtaunend und fragend, wie merkwürdig Doc eigentlich alles in dem ſoge—

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nannten Leben beſchaffen iſt. Sch glaube, daß diejer Kontrajt von tiefjter Weltfenntnig und grauenvollitem Lebensichmerz auf der einen Seite und von unjchuldigjter, naiver, findlichjter Verwunderung über all diefes bunte Lebengipiel andererjeit3 die unerhört tragische Wirkung erklärt, die das Spiel, ja jhon die Perfönlichkeit der Duſe in jedem Augenblid erzielt. Dieſe unvergleichlihe Tragödin wirkt wie eine Verkörperung und Offen barung de3 Genies im Sinne Schopenhauerd etwa. Üinen neuen und zum erjten Mal bejriedigenden Aufichluß giebt das Spiel der Duſe über den Schluß des Dramad. Gewöhnlich jammeln jich alle, einfchlieglich Magdad, beitürzt und Fagend um den vom Schlage getroffenen und tterbenden Bater und der Bajtor Heffterdingk jpricht zu Magda die Schluß— worte: „E3 wird ihnen Niemand verwehren, an feinem Grabe zu beten“. Die Worte haben bisher immer den anderen Magda:Daritellerinnen gegen über als jinnloje und unangebradhte Verlegenheitsphraſe gewirkt. Die Duſe ipielt den Schluß jo: Zunächt merkt fie bei ihrer Erregung jie iſt vor Erregung „außer Sich“ garnicht, was vorgeht. Dann verſteht fie, der Vater jei geitorben. Mechaniſch tritt fie zu und mechanisch redet fie den Todten an. Dann wankt jie weg, wie um hHinauszugehen, von dem vermworrenen Gefühl getrieben: hier, an der Stätte ihrer Schuld, darf jie mit den Anderen nicht vor der Leiche Enien. Uber nur wenige Schritte taumelt jie der Thür entgegen. Denn fällt fie zujammen, dem Pfarrer in die Arme, erjt jegt zur Bejinnung und zum Bewußtſein der Vorgänge gefommen. Und dann bricht jie in ein Weinen aus ih wollte, dad Wort „herzbrehend* wäre noch nie gebraudt, um es jetzt für dag Weinen der Duje erfinden zu fünnen. Sie bricht niht nur dem Hörer zeitweilig das Herz, vor Allem ijt es das Weinen einer vom Scidjal nun wirklich endgiltig gebrochenen Seele: die triums phirende Magda ilt zur büßenden Magdalene geworden, der nur nod) der Trojt bleibt, anı Grabe des Todten zu beten. Ob fie etwa vor der Welt auch fernerhin noch Eängerin bleibt, ijt ganz ohne Belang; das ijt etwas rein Aeußerliches, Gleichgiltiged. Das innere Leben ihrer Seele ijt zum Abſchluß gekommen. In der Daritellung der Duje ſinkt Magda den Piarrer Heffterdingt in die Arme, Das iſt nicht ohne innerjte und iymboliihe Bedeutung. Die Beiden gehören nämlich im Wejen und Leben ihrer Seele zujammen. Ich habe noch nie eine richtige Daritellung diejes Pfarrers gejehen, der eine der merkwürdigſten und interejjantejten Charaktere in der modernen Xiteratur ilt. Heffterdingk iſt von Haufe aus eine Natur, zum Befehlen bejtimmt, zum Genuß des Lebens begabt, voll Kraft und Freude. Und diefen Mann bejtimmt irgend eine Anlage oder Erfahrung der Seele, nicht etwa feine Ansprüche auf Herrichaft aufzugeben jondern dieje Herrichaft zu erweitern, indem er durd; Dienen berrfcht und mit der Kraft der Liebe jtatt der Härte des Schwertes jeine Gewalt ausübt. Er hat fich bei Zeiten freiwillig zu der Entjagung ent—

172 Theater-orrejponden;.

ichloffen, zu der Magda durch ein tragische Schickſal gezwungen wird. So taucht denn auch am Schluffe der „Heimath“ das Sudermann immer und immer wieder bewegende Problem auf, durch Entjagen und Dienen ein Freier und ein Herr zu werden.

* * *

.Rosmersholm“ hat Ibſen auf der Höhe ſeines Könnens als ſein vollkommenſtes Werk geſchaffen. An Tiefe und poetiſcher Stimmungskraft kommen ihm andere, nachfolgende ſeiner Werke, vielleicht gleich; aber die Tiefe wird immer dunkler. Rosmersholm dagegen enthält eine ſeltene Miſchung von Tiefe und Klarheit. Mit wenigen, aber unauslöſchlichen Linien ift diefe Tragödie gezeichnet, die Tragödie des menjchlichen Ydeald. Wir Menjcen- finder haben jchließlich doch immer ein und dafjelbe Ideal, danach unjere Seele ringt: es ift das Glüd. Und diefes Glüd, das wir erjtreben und nie befigen, iſt die fichere Ruhe unjerer Seele in ſich jelbit, die Zu: friedenheit, die Vollkommenheit. Auf zweierlei Weife könnte unjere Seele zu diefer Volltommenheit und diefer Ruhe in ich, diefer Abgeſchloſſen— heit und diefem Fertigjein gelangen. Die eine Weije ift die: „ich bin ich“, fühle mid nur als Individuum, arbeite an der Befriedigung meiner individuellen Lüfte mit Kraft und Raſtloſigkeit, unbekümmert um die Anderen, jenjeit3 von Gut und Böje. Und die andere Weile it jo bejchaffen: in jelbitlojer Liebe arbeite ich im Dienjte der Anderen, der Mitmenſchen, jorge unabläffig für ihr Glück und finde dabei zugleich mein eigenes. Individualismus und Sozialismus, Menſch und Mitmenih - das iſt ficherlich der jchroffjte Gegenfag, der das Menſchengeſchlecht qual— voll peinigt. Gerade der Edelite, Beſte, Tiefite, der Genialite hat zweifel- 108 an einer Stelle der Seele da8 Gefühl figen: ich gegen euch Andere, was habe ich mit euch gemein, was wißt ihr von meiner Seele und ihrer Sehnjudt. Ebenjo aber hat aud) wieder diejer jelbe Edeljte und Tiefjte allem Lebenden gegenüber das Empfiuden: „das bijt du,“ und es giebt feinen Schmerz in der Welt, der nicht auch dein Schmerz iſt. Alſo heile die Schmerzen, lindere die Leiden der Anderen; das ijt dann dein Glück. Rebekka Weit vertritt dad Prinzip und die Idee des Individualismus. Sie jtammt da irgendwoher aus dem Norden mit feinen hohen, zerklüfteten Bergen, wo die Menjchen abgetrennt und einfam leben. Sie iſt die uneheliche Tochter cines jeltiamen, unheimlich fjchrullenhaften Doktors Weit, deſſen Tochter und vielleiht auch deſſen Geliebte; jedenfall aber und das ijt die Hauptiahe ift fie ohne Familie, empfindet nicht die Heiligkeit der Familienbande, iſt ohne Herkunft, ohne Tradition, ein wildes, nur auf jich jelbit gejtelltes Geſchöpf, dad nur eine Rückſicht fennt, bie auf den Drang des Bluted und die Erfüllung der Lüfte. Sie kommt aus ihrem einjamen, wilden Berglande der Mitternachtsſonne in das friedliche Tiefland, darin die Menjchen neben einander wohnen und mitein-

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ander jchaffen. Sie kommt in dad Haus des ehemaligen Pajtord Rosmer auf NRosmersholm in der bewußten Abficht, fich die Stelle zu erobern, die zur Zeit die noch lebende, aber kranke Paſtorsgattin Beate inne hat. Rosmersholm iſt ein alter, vornehmer Landſitz, den dad Paſtorengeſchlecht der Rosmers jeit Jahrhunderten inne hat. Und immer bat fich dieſelbe Tradition von Familie zu Familie vererbt: arbeiten für das Glüd der Mitmenjchen, durch Opfer und Dienen eine Macht fein. Die Rosmers ver- treten die joziale Idee, das Prinzip der menſchlichen Gemeinſchaft. Sid) opfern, erfordert mehr Seelenfraft, als ſich durdjegen, und die Nothivendig- feit ded immer erneuerten Opferd zehrt an den Kräften, jodaß jchließlich der lebte aus dem Stamme der Rosmers ein edler aber ſchwacher Mann geworden ijt, diejer grübleriſche, ſchwärmeriſche Johannes Rosmer, dem fi) Rebekka mit der wilden Triebkraft ihrer Elementarjeele zugejellt. Und nun bejteht daS Drama in dem Gegenjpiel zwijchen Johannes und Rebelka. Diefe will jenen zu ihrer Anſchauung befehren, auf daß er ein freier, jelbitherrlicher Mann wird, der mit der Tradition der Vorfahren bricht, der ſich von den der Vergangenheit entnommenen Pflichten nicht mehr be— lajten läßt. Der opfjerungsfähige Johannes Rosmer wirft mit jeiner priejterlihen Anichauung wiederum auf Nebelfa ein. Im Prinzip und in der Theorie vereinigen jie Individualismus und Sozialismus zu der Syntheje: „Freie Adeldmenjchen,“ das jind ſolche, bei denen Willen und Sollen im Einklang jteht, bei denen Rückſicht auf ſich ſelbſt und auf Andere zujammenfält. Um an der Echaffung ſolcher „ireien Adelsmenſchen“ arbeiten zu können, müßte man an die ureingeborene Güte der Menigennatnr jelienfejt glauben. Das kann Rebekka nicht, weil fie von der Schuld ihrer Vergangenheit ſich belajtet fühlt. Und auch Rosmer fann es nicht, da er erfährt, daß das Wejen, das er liebt, Rebekka, mit Trug in jein Haus getreten und mit Faljchheit und Ränken ſich zunächjt bewußt in feine Seele eingejchlichen hat, um jich feiner und jeines Haujes zu bemächtigen. Rosmer müßte jo meint er eine That jelbitlofeiter Aufopferung jehen, um wieder den Glauben an die Menjchen zu gewinnen. Zu der That erklärt jich Rebekka bereit: jie will fich tödten, mit der Er- Härung: „Ih ſtehe unter der Macht der Nosmersholmjchen Lebens: anſchauung jetzt. Es gehört ſich, daß ich ſühne, was ich verbrochen habe.“ Dem gegenüber drückt dann auch Rosmer ſeinen Entſchluß zu ſterben aus mit den Worten: „Nun gut. Dann jtehe ich unter der Macht unjerer jrei gewordenen Lebensanſchauung, Rebekka. Es giebt feinen Richter über und. Und deshalb müfjen wir jehen, daß wir jelbjt Juſtiz üben.“ Das aljo ergiebt fich als Duintefjenz des Ganzen: Rebekka jällt der Sozialen Anſchauung der Rosmers anheim, und Rosmer der indivi- dualiftiichen Rebelkas. Sie wechjeln den Pla und geben damit den Boden auf, aus dem fie gewachſen jind. So bleibt denn als logiicher Schluß für das Leben diejer Entwurzelten nur der gemeinjame Tod. Einer jtirbt am

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Andern, Rebekka an Rosmer, der Individualismus am Sozialismus und umgekehrt. In dem Sinne fragt Nebelta zum Schluß: „a, aber vorher jag’ mir noch Eins: Gehft du mit mir, oder gehe ich mit dir?“ Darauf erwidert Rosmer: „Der Frage werden wir nie auf den Grund fommen.“ Nein, nein. der quälenden Frage werden wir jobald nicht auf den Grund fommen, wie jich IndividualiSmus und Sozialismus, Menſch und Mitmenfch zu einander verhalten.

Um die beiden Hauptfiguren jind ganz wenige Nebenperjonen gruppirt, um das Problem heller zu beleuchten. Beate reicht nur noch aus dem Reid des Todes wie ein Gejpenjt hinein. Sie vertritt das Prinzip der Rosmers. das Prinzip der Selbjtaufopferung, bi8 zum äußerjten Extrem; fie tödtet fi) in dem von Rebekka genährten Wahn, dem Glücde Rosſsmers im Wege zu jtehen. Uber noch über ihr Grab hinaus reiht ihre Opferfäbigkeit: jelbjit um den Preis der Wahrheit jucht fie den geliebten Mann gegen etwaige ſpätere Angriffe ficherzujtellen; daher hat jie die Unterredung mit Kroll und jchreibt den Brief an Mortensgard. Der Reltor Kroll, Rosmerd Schwager, theilt im Prinzip die Lebensauffafjung der Rosmers. Nur was bei diejen Seele und Leben war, iſt bei dem Neftor zu todter Materie eritarrt. Das Brinzip der Ilnterordnung, das Wejen der Tradition faßt Kroll politifch-reaftionär auf und verwandelt es jo in jein Gegentheil, in reaftionären Despotismus. Ulrif Brendel verkörpert das reine, vollkommene. abjtrafte Ideal, das ſich durch nicht® im Leben verunreinigen läßt, am we nigiten durch die Lumpen, die dem armen Idealiſten zur Kleidung dienen. Für dieſes Ideal iſt an der Tafel des Leben fein Plat rejervirt. Peter Mortendgard, der Journalijt, ijt der Mann der Zukunft und des Erfolges. darum, weil er jih um alle dieſe Probleme und Ideale garnicht kümmert. Für ihn bedeutet daS Leben eine Reihe von Verhältniſſen und eine fette von Thatjachen, die man fennen, benußen und Ddirigiren muß. So bringt man e3 zu etwas. Die Dinge nehmen, wie ſie jind, wie fie jcheinen, und feine Tiefen und Gebeimnijje hinter den Dingen juchen das ijt praktiſche Lebenstlugheit. Der Idealiſt Brendel mit der Alles umfaljenden und ver: jtchenden Seele kennt aud; Mortensgard gut: „Peter Mortendgard iſt der Häuptling und Herr der Zulunft. ch habe niemal3 vor dem Antlig eine Größeren gejtanden. Peter Mortensgard hat die Kraft zur Allmacht in fic. Er vollbringt Alles, was er will.... Denn Peter Mortensgard will nie mehr, al3 er kann. Peter Mortensgard ijt kapabel, das Leben ohne Ideale zu leben: Und ſiehſt du -- das ijt ja das große Geheimniß des Handeln: und des Siegens. Das ijt die Summe aller Weltweisheit.“

Zum Schluß kann ich nicht umhin, auf eine Merkwiürdigfeit Hinzu: weijen, die fich mir während der Borjtellung aufdrängte. In gewijjer Weiſe jtedt nämlih in „Rosmersholm“ Hauptmanns Drama „Fuhrmann Henſchel“. Auch Henſchel iſt der milde, Hilfsbereite, juzial angelegte und ſchwache Mann, der an ein dem Drang jeiner wilden Triebe nachgebendes

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Weib Hanne gerathen ift. Auch diefe Hanne geräth in ein Haus, in dem die Frau frank ijt und es entiteht nachher das Gerücht, Hanne hätte durch gewifje jeeliihe Einwirkungen zu ihrem Tode beigetragen. Henſchels Schwager jpielt in dem Konflikt zwiichen dem Fuhrmann und Hanne eine Rolle, die der des Rektors Kroll fehr ähnlih it. Durch den Hinweis auf dieje Aehnlichfeit will ich natürlich nicht Hauptmanns Originalität im Mindejten zu nahe treten. Im Gegentheil: bei der Aehnlichkeit des Stoffes und der Gitwation wird gerade der fundamentale Unterjchied zwiſchen Hauptmann und Ibſen jo recht Har. Hauptmann geht in feinem Kunſt— ihaffen jicherlid vom Individuum, von einem bejtimmten Menjchen, vom Einzelleben, vom Einzelfall und von der Anſchauung ſolch eines Einzelfalled® aud. Den weiß er dann mit folder Zebenswahrheit und Lebendnothwendigfeit darzuitellen, das das Individuelle und PVereinzelte als durchaus und unablöslih zum Leben gehörig ericheint. „Das ijt da3 Leben“ den Eindrud hat man ſchließlich. Das Vereinzelte und Individuelle als allgemeingiltig und typiſch darzuitellen -- darin fiegt die Hunt Hauptmanns. Umgelehrt verhält es jich bei bien. Ihm iſt der Sinn des Lebens eine dee und der Kampf der Menichen it der Kampf von Ideen, irgendwelden myjtiichen Mächten, die don den Seelen der Menſchen Bejig ergriffen haben. eine Kunſt bejteht darin, die Welt der Ideen individualifiren und mit Fleiſch und Blut umfleiden zu können. Das bewunderungswürdigite Beiipiel dafür iſt Ulrik Brendel. ch glaube, daß Ibſens Art doc) tiefer und weiter areift, wie die Hauptmannd. Wie weit der Stimmungsgehalt Ibſenſcher Kunft greift, jieht man auch darin, daß jchon Rosmersholm in der Grundlage die myſtiſchen Stimmungen enthält, die Maeterlind, der Modernite unter den Modernen, nachher virtuojenhaft weitergebildet hat. Ueber Ibſen find wir noch lange, ſehr lange nicht hinaus.

In der Darftellung des „Teutjchen Theater“ jind Rektor Kroll (Hermann Niſſen), ganz bejonderd® aber Ulrik Brendel (Oscar Sauer) und Peter Mortendgard (Mar Reinhardt) volllommen zum Ausdrud ges bradt. Den Rosmer des Herrn Neicher fönnte ich mir in Maske und Art auch ganz anders denken. Er machte doch vielleicht mehr den Eindrud eines berühmten Naturforjcher3 oder Arztes, ald den des Paſtors aus einem uralten Boftorengeichlecht. Fräulein Dumont ijt eine vornehme und geijtvolle Künftlerin, zur Zeit vielleicht die erjte unjerer Berliner Bühnen. Aber ich glaube nicht, daß ihr jo Fomplizirte und gebrochene Charaktere wie der Rebelkas liegen. Die wilde Vergangenheit Rebekkas muß doch immer nod, au in der Läuterung, durchſchimmern; der Bruch der Seele, ihre Ent: wurzelung muß ganz deutlich werden. Dos Elementare und das eigen: thümliche jeeliiche Fluidum, das in Rebekka webt und zittert, beſitzt Fräulein Dumont nicht. Sie ift in manchen anderen Rollen vollendeter.

Verlin-Stegliß, 22. 9. 99. Mar Lorenz.

Politiſche Korrefpondenz.

Die Bagdad-Cijenbahn.

Diefer Tage beginnen der deutjche Generalfonful in Konitantinopel, Stemrid, und einige deutjche Bautechnifer mit ihm eine auf viele Monate berechnete Reife vom Bosporus nad) dem unteren Guphrat und Tiaris. Zwed der Erpedition iſt eine endgültige Unterfuchung der Terrainverhält- nijje ſowie der mwirthichaftlihen und allgemeinen Kulturbedingungen für den Bau der großen deutſch-türkiſchen Zentralbahn aus dem vorderen Kleinaften nad) Bagdad rejp. zum perfiichen Golf. Es handelt ſich dabei vor allen Dingen um die Wahl zmijchen verjchiedenen Routen.

Gegenwärtig endet das deutſche Bahnjyftem in Anatolien in zmei parallelen Strängen an zwei direft nord-ſüdlich von einander gelegenen Stellen, Angora und Konia (Ikonium). Die Entfernung zwiſchen beiden beträgt in der Luftlinie ca. 250 Kijometer; beide liegen annähernd halb- wegs zwilchen der Weſtküſte Kleinafiens und der Linie, längs der die Halb: infel an dem aftatischen Kontinent mwurzelt. Es fragt fi erftens, ob zunächjt der nördliche oder füdliche Strang fortgefettt werden, und zweitens, welche Route die Bahn einjchlagen joll, fobald fie aus Kleinafien in das Stromgebiet des Euphrat und Tigris eintritt! ob fie in der Hauptjade dem nördlichen oder dem füdlichen der beiden Zwillingsftröme folgen joll. Die oben genannte deutſche Expedition wird ihre Reife vorausfichtlich fo einrichten, daß von den beiden in Betracht fommenden Hauptlinien die eine auf dem Hin-, die andere auf dem Rückweg in Augenfchein genommen wird.

Um die Frage des ganzen großen Bahnbaues richtig zu würdigen, muß man Allem zuvor fich darüber Elar fein, was die Bahn eigentlich joll. Angenommen, fie ift von Smyrna—Konjtantinopel bis Bagdad oder Basra fertig, jo würde ihr zunächſt ja wohl ein gewifjer Antheil am durchgehenden Waarentransport vom perfishen Golf zum Mittelländifhen und Aegäiſchen Meere zufallen. Die Einnahmen hieraus können aber feine erheblichen fein, weil die großen und für die Frage der Nentabilität einzig in Betradt fommenden Tranfit-Gütermafjen aus Perfien und Indien der Billigfeit der Sciffsfraht megen jtetsS den Weg durchs Note Meer und den Suezfanal nehmen merden. Dagegen würde der Perſonen- und Poftverfehr nach Indien ihr mit Sicherheit weitaus zum größten Theil fi) zuwenden. Die Fahr: zeit von Yondon bis an die Euphratmündung via Wien—Konjtantinopel

Politiſche Korreiponden;. 147

Bagdad betrüge fieben bis acht Tage, von Basra bis Bombay per Schnell: dampfer fünf bis ſechs Tage; man gelangte aljo von Wejteuropa aus in zwei Wochen nad Indien, während jest die Dampfer der Peninsular and Oriental Steam-Navigation Company über Suez und Aden in fechsund- zwanzig Tagen, aljo der doppelten Zeit, von Yondon nad) Bombay fahren.*) immerhin, jo wichtig der Beſitz des fchnelliten und kürzeſten Weges nah Indien auch ohne Zweifel ift: die finanzielle Renta— bilität der Bahn kann eine Ermerbögejellihaft und das ift die anatoliche Eijenbahncompagnie Darauf doch nicht gründen. Es ift aber ein Itrthum, wenn man annimmt, das erjtrebte Ziel liege haupt: jählich in der Richtung, fi in den Dienſt des Tranfitverfehrs zu ftellen. Es iſt von hoher Wichtigkeit für die Bedeutung und den Werth der Bahn, aber viel wichtiger und werthvoller werden diejenigen Güter fein, die in dem von der Bahnlinie durchzogenen Gebiet durch den Bau jelber gefhaffen werden jollen! Die Bahn mird Aleinafien, das nördlichſte Syrien und Mejopotamien überhaupt erjchliegen, fie joll und wird die Werthe erjt erzeugen, die fie hernach transportirt, jo wie das die großen amertfanijchen Transfontinentalbahnen gethan haben und vielfah noch heute thun. Das Yand, das jetzt wüſte liegt, jet es, meil feine Yeute da find, die es bewäſſern und bebauen, jei es, meil feine Möglichkeit bejteht, die Erzeugnifje, die es hervorbringen fönnte, dorthin zu fchaffen, wo fich gute Verwerthung für fie bietet das Yand ſoll eine Yebens- und Verkehrsader erhalten, auf der Menjchen, Unternehmungen, Senntnijie und Kapitalien hinein» und die Produkte, die dann erzeugt werden, wieder herausftrömen! Das und nichts Anderes tft die eigentliche Bafis, auf die der Bahnbau mwirthichaftlih fundirt werden ſoll und fraglos fundirt werden fann. Weizen, Bich, Wolle, Baummolle, Seide, Del, Wein fönnen um ein Vielfaches mehr in den Gebieten erzeugt werden, die durch die Bahn erſchloſſen werden follen und ſie werden es mit Sicherheit, jobald ihre Erzeugung Gewinn bringen wird. Allerdings gehört dazu neben dem Bahnbau auh ein gewiſſes Mindeſtmaß an Verftändigkeit feitens der türfiihen Behörden in Steuer: und Verwaltungsjahen aber unter deutjhem Einfluß wird man auch hierin auf das unbedingt Noth: wendige hoffen dürfen, zumal die türkifche Regierung ſelber finanziell dabei nit am jchlechtejten fahren wird.

Man fönnte fragen, ob nicht die großen technischen Schwierigkeiten und Die zmweifelloje Spärlichfeit der jet vorhandenen Bevölkerung dennoch itarfe Zweifel an den finanziellen Ausfichten der Bahn rathjam erjcheinen lafjen.**) NKeineswegs. Natürlich kommt es fehr darauf an, welche Route gewählt wird, aber es fteht außer Frage, daß man ohne Schädi— gung anderer erheblicher Intereſſen eine ſolche einichlagen fann, Die feine unüberwindliden Schwierigfeiten bietet. An einer Stelle muß freilich das gewaltige Taurus-Gesirgsinftem überjchritten werden, das Die Flußgebiete des Schwarzen von denen des Mittelmeers und des Perfifchen

*) Ueber Brindifi werden allerdings 4—5 Zage geipart. ’*) Bol. den Artikel „Die Bahn Angora:-Bagdad“ in der „Zäglihen Rund—

ſchau“ vom 21. Sept. 99.

Preußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIIL Heft 1. 12

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178 Politiſche Korreſpondenz.

Golfes ſcheidet, aber dieſe Aufgabe iſt garnicht ſo ſchrecklich. Von dem berühmteſten, zwei Tagereiſen langen Tauruspaß, den Pylae Giliciae, kann ich z. B. aus eigener Anſchauung verſichern, daß er viel mehr romantiſch iſt, als für eine Eiſenbahn ſchwierig; nur am Nord» und Südeingang ſind längere enge Felſendefileen. Während die Kammhöhe zu beiden Seiten bis 3000 Meter anſteigt, liegt die Paßhöhe am Gülek-Boghas, der ſchwie— rigſten Stelle, nur 1390 Meter hoch. Der Brenner iſt noch 100 Meter höher und hat einen offenen Bahnübergang, ohne Tunnel. Schwieriger joll der Uebergang zwilchen Charput und Diarbefir, noch jchlimmer der in der Richtung von Kaijarie (Cäfarea in Cappadocien) auf Marajch fein, wo Taunus und Antitaurus zu überjchreiten find. Was aber die geringe Dichte der Bevölkerung angeht, jo trifft dieſe Beobachtung erjtend nur für den bei weitem kleineren Theil der projeftirten Strede zu, und zweitens wird ja eben der Bahnbau die Folge haben, daß die Bevölferungsmenge reifend zunimmt. Selbjt wenn man Amerika hier als Beifpiel nicht heranziehen will, jo wird man doch gelten lajjen müſſen, was fich jett in Sibirien längs der neuen, ja noch garnicht vollendeten Pariſerbahn zeigt: Anſiedlungen, Städte und Dorfihaften, Nderbau und Gewerbe, entmwideln ſich zur eigenen Ueber: rafhung der Ruſſen mit ungeahnter Schnelligkeit längs dem vorwärts: rüdenden Scienenjtrange.

| Eine andere Seite der Sache aber und eine mindejtens cbenjo entjcheidende, wie die wirtjchaftlihde iſt die politische. Namentlich handelt es jih um Nufland. Wird Rußland es zugeben, daß mir ein jo großes und politiich jo immens wichtiges Gebiet, wie es die Bagdadbahn durchziehen joll, ſelbſt nur wirthichaftlih unterwerfen? Vor zehn Jahren hätte Rußland fid) uns vielleicht no um jeden Preis entgegen geftellt heute wird es das ficherlich nicht thun, wenn wir nicht in feine natürlice Intereſſenſphäre innerhalb der Türkei eingreifen. Rußlands Lebensintereſſen liegen heute nicht mehr im nahen, fondern im fernen Orient, in Lit und Südafien. China und Werfien find ihm heute wichtiger, als die Türkei; dort handelt es fih ihm um die großen Ziele jeiner Weltpolitik, hier nur mehr darum, daß Feine ſolche Verſchiebung der Beſitz- und Madt- verhältnijje eintritt, daß es militärisch von diefer Seite her leicht gefördert reſp. in Schady gehalten werden fann. Cine fremde Maht kann Rufland unter feinen Umſtänden dulden: erjtens an den türkischen Meerengen, zweitens auf dem Plateau, das die Südufer des Schwarzen Meeres be herrjcht, und drittens nördlich der armenifchen Taurusfette und des perſiſch— furdifchen Grenzgebirges auf den Hocländern am oberen Euphrat und um die großen Salzieen von Wan und Urmia. Der Bospurus, Sinope, Trapezunt, Siwas, Erjerum und Wan find Rußland gegenüber, wenn einmal eine außertürkische Macht in dieſen Yändern Fuß ſaſſen jollte, noli me tangere. Da eine dereinftige Auftheilung der Türkei doc immer- hin das Wahrjcheinliche iſt, Rußland dann aber um feiner eigenen Sicher: heit willen mit Nothmwendigfeit die Hand auf das ganze Gebiet nördlich von der YinieDardanelfen Kaifarie Diarbefir Moſul legen wird, jo kann es jelbjt rein mirthichaftliche Unternehmungen Deutſchlands innerhalb vieler feiner Intereſſenſphäre faum anders als ungern jehen. Andererſeits haben auch mir nur ein mäßiges Intereſſe daran, Bahnbauten in Ländern zu

Politiihe Korrefpondenz. 179

arrıternehmen, die früher oder fpäter mit einer gewiſſen Naturnothwendigkeit irn Die Hände einer wirthſchaftlich wie politiich fo autonomen und auto- fratifhen Madt fallen, wie es Rufland ift. Der Sultan foll allerdings, eben um feine militärijche Stellung gegenüber Rußland zu verbefjern, den dringenden Wunſch hegen, daß eine Bahnverbindung zwiſchen Angora und Erjerum hergejtellt wird (über Josgad-Simas-Erfingjan) aber man fann ficher jein, ſolange Rußland irgend in der Yage ift, diefe Strede, ſei es mit melden Mitteln es wolle, in Konjtantinopel zu hintertreiben, daß aus Diejem Projeft nichts wird. Wirthfchaftlich ift es überdies von allen in Betracht fommenden eins der unrentabeljten.

Mit diefen Erwägungen ift gegeben, daß unjer Bahnbau ſich jo weit |

wie möglich jüdmwärts hält. Ich fage „ſoweit wie möglich“, denn, wie bereits betont, iſt die ſchließliche Rentabilität, und damit die Wahrjcheinlichkeit der Ausführung überhaupt, nicht unabhängig von der Wahl der Trace. Hauptlählid fommen nun folgende Möglichkeiten in Betraht. 1. Die Angoralinie wird ziemlih gerade ojtwärts über Siwas Malatia Charput nah TDiarbefir und von dort weiter nah Moful und Bagdad geführt. Diefe Route wird bis furz vor Diarbefir in die angenommmene ruſſiſche ntereffeniphäre fallen. 2. Die Honialinie wird über Eregli und durch die Pylae Giliciae auf Nintab, Biredjhid am Cuphrat und Urfa auf Diarbefir zu gebaut und dann meiter wie oben. 3. Die Angora- und die Kontalinie vereinigen fid) etwa bei Kaiſarie, und die Bahn geht dann zunädjt über den Antitaurus nach Malatia, von dort weiter wie oben. Dieſe Route dürfte die Eoftjpieligite fein. 4. Die Konialinie wendet fi) nach dem Durchgang die Pylae Gilicien auf Adana in Gilicten und Aleppo, vielleicht mit einem Dampftrajeft über den Golf von Nöfenderun, und folgt jenfeits Aleppo direfi dem Euphrat ftromabwärts bis in jein Mündungsgebiet. Diefe lettere Trace hat das gegen fi, daß fie fajt von Aleppo bis Bagdad dur ein Gebiet führen würde, das weder angebaut noch über: haupt je in nennenswerthem Mafe anbaufähig gemejen iſt rejp. jein wird. Ein Zurüdweichen vor ruffiihen Prätenfionen bis auf dieſe rein ted)- niſch wohl bequemfte allerfüdlichfte Yinie dürfte aljo wohl aus dem Grunde zwecklos erjcheinen, weil hier die finanzielle Rentabilität mit ziem— liher Wahrjcheinlichfeit nicht mehr vorhanden iſt.

Zmwifchen den vier genannten Möglichkeiten find noch verjchiedene Theilftombinationen möglich, die aufzuzählen hier wohl zu meit führen würde. Zunächſt wird man in Betreff der ragen Wo? und Wie? am Beiten thun, die Nüdkehr der Stemrichjchen Reiſegeſellſchaft abzuwarten. Auch auf die verjchiedenen Transaktionen, die bereits zwiſchen der deutjchen Geſellſchaft und Engländern rejp. Franzofen in Betreff des Anſchluſſes der deutichen Bahnen an die im vorderen Anatolien bereits bejtehenden fremden Linien ftattgefunden haben, gehe ich nicht ein ebenjowenig auf die naheliegende Frage, ob und welche politifhen Gründe dabei mitgewirkt haben, daß der Weiterbau der Angoralinie jolange geftodt hat und dafür der füdlicher gerichtete Vorſtoß bis Konia fo energijch betrieben worden tft. Eines aber muß gejagt und mit aller Bejtimmtheit immer und immer wiederholt werden: Die Bagdadbahn joll und muß gebaut, und fie muß bald und in der Hauptjadhe von uns gebaut werden!

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180 Bolitiſche Korreſpondem.

Ohne den Bahnbau iſt vorauszuſehen, daß die deutſchen Kräfte, die jetzt verſchiedene Unternehmungen in der Türkei ins Auge faſſen wollen, ſich hierher und dorthin nach verſchiedenen Orten zerſplittern, und wenn es dann einmal zu einer Liquidation der türkiſchen Maſſe kommt, dann ſitzen wir an hundert verſchiedenen Stellen über die ganze Ländermaſſe bin zer— jtreut, in die fih drei, vier Mächte theilen jollen. Die ganze Türfei fönnen wir nicht befommen, weder in einem nod im andern Sinne, alſo müffen wir von vorneherein dafür jorgen, daß mir uns eine großes, zu jammenhängendes Stüd mit feſtem mwirthichaftlihem Rüdgrat eben der Eiſenbahn von Megäiſchen Meer zum perfiihen Golf! aus ver Ge jammtmafje heraus fichern. Für die Einjegung großer, in der Heimat über: ſchüſſiger deutſcher Kräfte im Orient gemährt diefes Eijenbahnunternehmen allein eine Grundlage, "Die hinreichend breit und ficher ift und dazu eine dauerhafte und fortjchreitende Entwidelung verbürgt. Die deutjche, von der Bahn durdhzogene, erjchlofiene und zufammengehaltene nterejieniphäre würde folgende Gebiete umfaſſen:

I. Sübdfleinafien, 200 000 Quadratkilometer mit 3—31/. Mill. Einw.

2, Nordigrien, 70 000 [73 "„ —1 3. Mefjopotamien, 260 000 .. 1a on 5

zufammen 530 000 Quadratkilometer

mit ca. ſechs Millionen Einwohnern, ein Gebiet, ziemlih fo groß wie Deutihland. Daraus fann man entnehmen, welcher Zukunft die Yänder der Bagdadbahn fähig find. Um Feiner Utopien geziehen zu merden, füge ih hinzu, daß allein das alte Babylonien, die Landſchaft am unteren Euphrat und Tigris, zur Zeit des Perjerreihes nicht weniger als ein Drittel der Steuerfraft des ungeheuren Geſammtreichs bejaf! Die Wiederkultivirung Babyloniens ift eine Frage, die außerhalb dieſer Erörterungen bleiben muß, aber jelbjt abgejehen von dieſem ferniten Ziele hängen für uns an der fchleunigen Inangriffnahme der Bagdadbahn jo unermefliche jnterefjen, hängt daran ein jo gewaltiges Stüd unjerer zu:

' fünftigen Weltjtellung, des größeren Deutjchland über dem Meere, daß es

Thorheit und Kurzfichtigfeit wäre, ja ein Verbrechen an der Zukunft unjerer Nation, wenn durch unfere Verfäumnif Fremde dieſes Unternehmen an ſich brächten! Paul Rohrbad.

Die Mafregelung der Beamten- Abgeordneten. Transvaal. Die Piyhologie des Dreyfus-Prozeſſes.

Als ich unjere vorige Monatöbetrachtung über die innere Politik unter den Wirkungen des Kanal-Streits abjchloß, jagte ih, daß man von unjerm Standpunft mit dem Ergebniß ganz zufrieden jein könne: der Ranal jelbit, der uns als ein ſehr fragwürdiged Unternehmen ericeint, ward abgelehnt und die darüber entitandene Spannung zwiſchen der Regierung und den Konfervativen erichien und für das allgemeine In— terejje fürderjam. Seitdem hat jich meine Auffaffung etwas verändert.

Bolitifhe Korrefpondenz. 181

Als ich jene Worte jchrieb, waren die Mafregelungen der beamteten fonjervativen Abgeordneten noch nicht heraus und diefe Wendung erfüllt mich mit Beſorgniß. Die Chance, daß der Kanal nunmehr durchgejegt werden fönne, ift dadurch gewiß nicht verbejjert. Es it ja möglich, daß man endlich eine Majorität im Abgeordnetenhauje gewinnt, indem man in die Vorlage eine Menge Kompenjationen, namentlich für Schlefien, hin: einnimmt, die die Abgeordneten diejer Yandestheile hiniiberziehen. Für fonjervative Abgeordnete aber iſt ein jolcher Uebergang jetzt jedenfalls jehr erihivert und die gemaßregelten Landräthe und Negierungspräjidenten fönnen am allenwenigjten eine veränderte Weberzeugung zum Ausdruck bringen, ohne fich dem jchnödejten Verdacht auszufegen. Da wir gegen den Kanal jind, jo würde uns das nicht weiter grämen. Aber die Maß- regelungen jelber bedeuten in der Gejchichte des preußischen Konſtitutionalis— mus einen verhängnißvollen Abjchnitt. Eine der jchönjten Traditionen aus der Zeit des abjoluten preußischen Königthums war die unabhängige Ge— finnung, die dem Beamtentyum, man darf jagen, gejtattet wurde. An ſich it ja der Beamte nur Organ des höchjten jouveränen Willen® und in Frankreich würde jich Niemand vorjtellen können, daß der Präfeft eine andere Anficht haben fönne als jein vorgejegter Minijter. Das fichert eine prompte Verwaltung, wie jie frankreich auch immer gehabt hat. Aber es tödtet in dem Beamten die jelbjtändige PBerfönlichkeit und macht aus der ganzen Bureaufratie einen leblojen Mechanismus. Eine gewiſſe Selbjtändig- feit innerhalb des Beamtenthums ijt ein jo hohes moraliiches Gut, daß jelbit Schwierigkeiten, die dadurd bei der Ausführung der Verordnungen ent= ftehen, gern in Kauf genommen werden müſſen. Das bat jchon der herriſche Friedrih Wilhelm J. erkannt, der in jeinen Dienjtreglements immer wieder darauf zurüdtommt, die Beamten jollten ihm ihre ab- weichende Meinung frei und offen jagen, denn, fügt er hinzu, „Wir find do Herr und König und können thun, was Wir wollen.“ So war es auch möglich, das Landrathsamt zu jchaffen, das allein Preußen eigen- thümlich ijt und ſonſt in der Welt nirgends erijtirt. Denn der Yandrath joll nicht reiner föniglicher Beamter, jondern zugleich Vertrauensmann jeines Kreiſes ſein. Daher hat er den Namen, der den Gegenſatz bildet zum „Hofrath“. Die Näthe, die den brandenburgiichen Kurfürſten dom „Lande“ beigegeben wurden, haben in ihrem uriprünglichen Charakter etwas von Abgeordneten an ji und es entjprad) daher durchaus der hijtorifchen Entwidelung, daß man, obgleich ihr Beamtencharakter allmählid) immer jtärfer geworden ijt, ihmen dennoch die Wählbarkeit für die Volksvertretung ließ und die Kreiſe jie fogar oft mit Vorliebe deputirt haben. Daß ein gewiſſer Widerſpruch darin liegt, ijt unbejtreitbar. Der Beamte, namentlic) der Verwaltungsbeantte, der zugleich Abgeordneter ijt, hat zwei Herren zu dienen: dem Willen von oben und dem Willen von unten. ber da zulegt doch alles Heil des Staates darauf beruht, daß Ddieje beiden Willen ſich

182 Politifhe Korreſpondenz.

immer wieder zu einem einzigen zujammen finden, jo ilt es bis heute möglich geblieben, den formellen Widerjpruh zu überwinden. Die Regierung war tolerant, die Landraths-Abgeordneten behandelten etwaige Oppoſition im einzelnen alle mit dem nöthigen Takt. Als ich jelbit Mitglied des Abgeordneten-Hauſes war, war der Landrath von Rauchhaupt der Führer der fonjervativen Fraktion und ic) jagte mir damals öfter, mich in den Hijtorifer der Zukunft verjegend, daß e3 einmal als ein Aus- drud der bejonderen Großartigfeit des preußiſchen Staatsweſens betrachtet werden würde, wie ein Beamter der vierten Rangklaſſe mit joldher Selb— jtändigfeit und freimüthiger Kritik feinen vorgejegten Minijter als Macht gegen Macht gegenübertreten fonnte, ohne dab doch das feite Knochengerüft der Subordination, dejjen der Staat bedarf, dabei irgend welchen Schaden litt. Nod Herr von Bennigjen hat als Oberpräfident den Widerjtand gegen das Zedlitz'ſche Volksichuggefeg geführt und die Allianz feiner Partei mit der radifalen Oppofition dagegen angedroht und das war eine nicht bloß praftifchwirthichaftliche, jondern eine Frage fundamentaler Prinzipien. Jetzt ift dergleichen für alle Zeiten vorbei. Das Minijterium Hohenlohe: Miquel-Recke-Poſadowsky hat aus unjerem Staatöwejen eine Kraft aus— gejchaltet, die nie wieder erjegt werden fann. Die preußijchen Verwaltungs: beamten jind zu bloßen Präfekten berabgedrüdt. Wenn bei den nächſten Wahlen jür Yandtag oder Neichdtag Beamte aufgejtellt oder gewählt werden jollen, jo weiß man von vornherein, daß ſie nichts als Regierung: fonımifjare jein werden und wollen. Cine der jtärfiten Stüßen der föniglihen Autorität in Preußen, das Vertrauen, daß nit blo aus äußerem Gehorjam, iondern mit wahrer innerer Zujtimmung die politiiche Intelligenz, die in unjerem Beamtenthum ſteckt, die Regierung unterjtüge, diejed Vertrauen ijt für die Zukunft unterbunden und muß abjterben. Am deutlichjten wird das hervortreten in dem veränderten Charakter der Eonjervativen Partei. Sie war immer nur eine halb-jelbitändige, halb:gouvernementale Partei. Die vielen Beamten in ihr hielten jie in jteterenger Fühlung mit der Regierung. Hierauf wejentlich beruht ihre politijche Tüchtigfeit und Kraft. Jede Partei hat gewiſſe ertreme, fanatijche Ele mente und fann jie für die Wirkung auf die Mafjen auch kaum entbehren. Auch die Mittelparteien, wie die nationalliberale, jind keineswegs ohne jolhe feidenichaftlihen und extremen Tendenzen. Es fommt nur darauf an, daß nicht diefe, jondern die bejonnenen und ſtaatsmänniſchen Elemente die Oberhand und die Führung behalten. So haben, auch nachdem eine heftige Aufwallung unter den Konjervativen Herrn von Helldorff heraus— ichleuderte, do die klugen Rechner unter ihnen die Agrar-Demagogen immer einigermaßen in Schranken gehalten. Das wird in Zukunft faum noh möglich fein. Die Beamten jcheiden aus, und die Konjervativen werden eine materielle Klaſſen-Vertretung gewiljer Schichten, grade mie die Sozialdemokraten auf der andern Seite. Bisher muß man freilich

Politiſche Korreipondenz. 183

gejtehen, Hat ſich das noch nicht gezeigt. Mit außerordentlihem Takt und höchſter Zurüdhaltung, ohne ſich dabei irgend etwas zu vergeben, hat die fonjervative Preſſe ihre Sache geführt. Aber ich glaube faum, daß fie diefe Haltung wird behaupten können. Die natürliche Leidenjchaft der Wählermaſſen wird endlich alle Schranken durchbrechen.

Unter dem reinen Bartei-Gefichtöpunft fünnte man dieje Entwidlung mit einer gewiſſen Schadenfreude anfehen. Was iit zulegt der Sinn des Ganzen? Die Regierung hat, um die formelle monarchiſche NMutorität zu jtärfen, gewiſſe lebendige politische Kräfte, die ſich ihr augenblidlich uns bequem eriiejen, gewaltjam aus dem Wege geräumt. Das it nicht? ala die neue Anwendung einer Methode, nad) der jchon lange bei uns ge= arbeitet wird. Auf demjelben Blatt jtehen die Umijturzvorlagen, Die Majejtätsbeleidigungs:Trozefje. der dolus eventualis, der grobe Unfug, die Disziplinarprozejje gegen Bürgermeijter, Ortsichulzen und afademijche Lehrer alles daS haben die Klonjervativen jtet3 (vielleicht einzelne Fälle außgenommen) gebilligt und vertheidigt: nun hat es endlich einmal bei ihnen jelber eingejchlanen. Perſönlich haben fie faum ein Necht, fich zu beflagen, aber wer auf den Ruhm, die Größe und da3 Heil Preußens jieht, der muß jich, welcher Partei er auch angehöre, darüber betrüben, und es ijt ein Zeichen jenes Fanatismus, von dem wir fagten, daß er auch bei den Mittelparteien erijtire, wenn nationalliberale Blätter wie die National: Zeitung und die Kölnische Zeitung ihren Liberalismus und das fonftitutionelle Verfafjungsreht jo weit vergeſſen fonnten, die Maß— regelungen, weil jie gegen Konjervative gerichtet jind, zu billigen.

Sch wiederhole nod) einmal, eine gewijje Spannung und Trennung zwiichen den Konjervativen und der Regierung it in unjern Augen keines— wegs etwas Verwerfliches, jondern im Gegentheil zur Zeit jehr wünſchens— wert. Aber die Art, wie der Konflikt herbeigeführt worden ijt und der Gegenjtand, an den er anknüpft, fcheinen mir jo unglüdlich wie möglid) gewählt. Selbit diejenigen, die den Nanal-Bau aus innerjter Ueberzeugung für ein Kulturwerk halten, die mit Enthujiasmus von dem Segen jprechen, der von ihm ausgehen joll, fie werden doch nicht glauben, daß in all den Provinzen und Landſchaften, die an diefem Segen feinen Theil haben jollen, ji eine ftarfe Stimmung für ihn und deshalb gegen die Konſer— vativen hervorrufen lafjen werde. Mag der Kanal endlich im AUbgeordnetens Haufe angenommen werden, in weiten Landjtrichen wird immer ein jtarfes Vorurtheil gegen ihn bleiben, das der konjervativen Partei zu Gute fommt. Nun giebt es aber einen andern Gegenjtand, wo die wirthichaftlicherüc jtändigen Anſchauungen der Konfervativen nicht bloß jcheinbar oder viel- leiht, jondern ganz ficher dem allgemeinen Intereſſe hindernd in den Weg treten werden und überwunden werden müſſen. Das ijt die Erneuerung der Handeläverträge, über die in ein oder zwei Jahren der Kampf entbrennen wird. Hier war fchon längjt vorauszufehen, daß einmal ein Zulammenjtoß

184 Politiſche Korrefpondenz.

zwijchen der Negierung und den Slonfervativen erfolgen müfje. Hier war aud eine Parole gegeben, die Alles, was nicht wirklich extrem-agrariſch ijt, um bie Regierung gejammelt hätte. Der Kanal-Kampf jtärkt nun die Stellung der Konjervativen im Lande fo jehr, unterjtügt die Meinung, daß unfere Wirth— ichaftspolitif auf Koften der Landwirthichaft arbeite, in jo weiten Kreiien, rujt den Gedanken, daß der Opfer, die die Landwirtbichaft gebradt, num genug jeien, jo jtarf hervor, daß der Kampf für die Handelöverträge da- durch äußerſt erjchwert werden wird,

Hätte die Negierung umgekehrt, jtatt die Gewaltmaßregeln gegen die Beamten zu ergreifen und den faſt hoffnungslojen Kampf für den Kanal fortzufegen, ruhig einen Schritt zurüdgethan, zunächſt die Kanalſtrede DTortmund— Rhein von einer Privat:Gejellihaft bauen lajjen, nnd das gute Verhältniß zu den Konfervativen aufrecht erhalten, jo wäre jie in eine vortrefflihe Poſition gekommen und hätte alle übermäßigen agrariichen Anjprüche jtet3 mit dem Hinweis auf die Nachgiebigfeit in der Kanal-Forderung abgejchlagen und dabei alle bejonnenen Elemente auf ihrer Seite gehabt. Nun iſt die Situation fo verfahren, wie möglid. Unfere Liberalen bieten weder nach ihren Ideen, noch nach ihrem Perjonal: beitand Die Kraft, auf die die Negierung ſich jtügen fann; aus guten Gründen jcheut dieje jich, mit den Konſervativen völlig zu brechen und doch fann ſie, da wegen der Handelsverträge der neue Stonflift bereits am Horizont jteht, jich nicht wieder mit ihnen vertragen. Was wird werden?

Ueber den Nüdtritt des Minijterd des Innern, Herrn von der Nede, ijt nichts zu jagen und über den des Kultusminiſters Herren Bojje möchte ich nicht3 jagen.

* *

Der Hintergrund, auf dem ſich der Haager Friedenskongreß abſpielte, war der eben vollendete Krieg zwiſchen Nordamerikla und Spanien; nun: mehr wird das große Humanitätswerf auch in die rechte Beleuchtung ge: bracht durch das heraufziehende Gewitter: Gngland—Transvaal. Wer nun noch nicht einjieht, daß es die Despoten find und der Militarismus, die die Welt mit der jurchtbaren Kriegsgeißel heimjuchen und daß man die Völker nur mit parlamentarischen und demofratijchen Verfafjungen zu beglüden braucht, um die Menjchheit von der Kriegsfurie zu befreien, dem ijt nicht zu helfen. Oder iſt es nur die abnorme Bosheit gerade dDiejer beiden Völker, der Amerikaner und der Engländer, die alle Vernunft zu Schanden madt und die Welt in die Kriegsgreuel jtürzt? ch möchte den Friedenspredigern vorjchlagen, fich wenigjtens in Deutichland auf dieſe Hilfsargumentation zurüdzuziehen; jie werden ſich dadurd, wenn aud nicht die Friedensidee zum Siege führen, doch in weiten Kreiſen Sympathie erwerben. Man Hat heute in Deutjchland weder für die Nordamerifaner noch für die Engländer viel übrig und das Vorgehen gegen Transvaal ericheint als die brutale Vergewaltigung eines Kleinen durch einen Großen.

Bolitifhe Korrefpondenz. 185

Wir wollen offen gejtehen, dat wir die Sache nicht jo anjehen können. Wenn ed denkbar wäre, daß ſich ganz Südafrifa von England loslöſte und ein unabhängiges, holländijches Staatsweſen bildete, daS im derjelben Weiſe ſich geiltig an das Mutterland anfchliegend, wie Nordamerika an England, die Sphäre der niederländischen Nationalität, Sprache und Kultur erweiterte, jo würde uns das mittelbar auch für Deutjchland ald ein Ge— winn erjcheinen. Nicht weil wir den Niederländern nah Raſſe und Sprache näher stehen al$ den Gngländern, jondern weil es ganz generell unſer Intereſſe ijt, zwiichen Gngländertbum und Ruſſenthum möglichſt viel anderen Rulturvölfern, jeien es Niederländer oder Italiener, Franzoſen oder Dänen, Raum zu gönnen, und unjere eigene zukünftige Weltjtellung auf der Anlehnung an eine jolhe Reſerve von weiteren kleinen und großen Nativnalitäten beruht. Aber der Gedanke, daß Südafrika in diefer Weiſe niederländijch werden fünnte, ijt eine Utopie. Wenn auch England jest im Bejig des zweiten Wege: nach Indien ift, und alle Etappen, Gibraltar, Malta, Egypten, Aden fejt in der Hand hat, jo fann es ji dod) aud) die Station am Kap niemald nehmen laſſen. Es würde den größten und erichöpfenditen Krieg deßhalb führen und es denkt ja auch Niemand an eine jolde Umwälzung. Wenn dem aber jo it, jo haben wir zu fragen, ob wir ein bejonderes Intereſſe daran haben, daß die beiden unabhängigen Buren-Republiken bejtehen bleiben. Man denkt zunächſt: jelbjtverjtändlich; jo ift doch der Ausbreitung des Engländer: tbums eine Schranke gejegt. Aber eine nähere Ueberlegung, glaube ich, jeigt, daß dieſe Echrante, jo wie fie jeßt ijt, feinen Werth hat. Dieje Burenitaaten find ein eigenthümliches Gebilde, das man mit dem höchiten Wohlwollen betrachten kann, wovon man aber nicht erwarten und faum wünjchen fann, dab es bejtehen bleibe. Der jtrenge vollsthümliche Calvinismus des jiebzehnten Jahrhunderts ijt das einzige Kulturelement, das dieje aus— gewanderten Söhne Europas mitgebracht und bewahrt haben und das fie abhält, wieder in die abjolute Barbarei de3 germanischen Urmwaldes zurüd- zujinfen. Sie haben fein höheres Echulwejen, faum eine Schriftipradhe. Das jchlechthin Unentbehrlicdye an etivas höherem Menſchenthum müſſen jie, unfähig, es jelber hervorzubringen, aus dem Mutterlande beziehen. Auf fich jelbjt beichränft, hätte das biderbe Völfchen fein Stillleben noch lange fortiegen fünnen. Durch den Zufall aber, daß die Goldfelder auf jeinem Gebiet entdedt jind hat fich eine große modern-europäiſche Kolonie unter ihnen aufgetdan und hieraus ijt der Konflikt entiprungen. Die Buren wollen der Herrenjtand in ihrem Lande bleiben, die Einwanderer, die wohl häufig moraliſch inferior, kulturell aber und namentlich wirthichaftlich weit überlegen find, dauernd als bloße Gäjte behandeln, ihnen feine politifchen Nechte geben und fie dabei mit Hilfe ihrer Gejege möglichit ausnutzen. Es iſt ganz Kar, daß das auf die Dauer ein jchlechterdings unhaltbarer Zuſtand it. Es iſt unmöglich, daß in Kolonialländern die uriprüngliche Ein—

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wandererjchicht alle jpäteren präffudirt. Wir haben hier einen von den zahllofen Fällen, wo man mit dem formalen Recht nit durchlommt. Die erjte Einwanderungsschicht ſetzt feit, was Rechtens iſt, die jpäteren Einwanderer aljo haben ſich dem Necht des Staated, in den fie ſich be geben, zu unteriverfen. Gonz richtig. Aber gegen das bejtehende positive Recht reagirt ſtets ein anderes, aus den allgemeinen Prinzipien abgeleitete: Recht, mag man ed nun das natürliche, das allgemeine Menjchenrecdht, das Recht der Nevolution, dad Recht der Tebendigen Kraft, dad Recht der biftorifchen Entwidelung nennen. Wer fich nicht auf den rein konſervativ— formaliftiichen Standpunft jtellt, kann das Recht der fremden meijt engliſch— amerilanifhen Minenbefiger, Goldgräber und Kaufleute gegenüber der Burenregierung nicht leugnen. Gbenfowenig it zu leugnen, daß die Engländer fraft der beftehenden Verträge ein Recht haben, ſich in die inneren Berhältnifje Transvaals einzumijchen. Ob diejes Recht eine wirf- liche Suzeränetät darjtellt, ob es joweit geht, wie die Engländer behaupten, mag mit Fug bejtritten werden, aber darauf fommt in der That nicht viel an. Wir haben Hier eben einen Fall, wo da3 formale Recht nidt ausreicht; nicht ohne Grund lehnt England deshalb aud ein Schiedsgericht ab. Es beruft jich darauf, daß e3 die füdafrifanische Großmacht iſt und al3 folche die transvaaliichen Zuftände, durch die die Rechte jo vieler englischer Unterthanen berührt werden, nicht länger dulden will.

Der Zeitpunkt für das Eingreifen Englands iſt jo gewählt, daß man faum erwarten darf, ed werde von feiner Forderung abjtehen. Es ijt Elar, daß Rußland augenblicklich ſehr friedlich geftimmt iſt und die Gelegenheit einer jüdafrifanifchen Verwidlung nicht benußen wird zu einem Vorſtoß gegen die Engländer in Ajien. Die Vereinigten Staaten jtehen jo gut mit England wie noch nie und haben auf Kuba und den Philippinen alle Hände voll zu thun. Mit Deutichland hat England einen Vertrag geichloiien, deſſen Inhalt noch nicht befannt geworden ilt, der aber England auch nad) diejer Seite Dedung gewährt. Frankreich allein wagt, wie Faſchoda ge: zeigt hat, mit England nicht anzubinden. So ijt England gerade jegt ın der günjtigen Lage, jenen Spahn mit Transvaal ohne die Gefahr einer fremden Einmijchung ausfechten zu können. In einigen Jahren ijt Die politiihe Weltlage vielleicht eine ganz andere. Mit gutem Grund jind aljo jet die Engländer zur Offenfive gejchritten.

Wir wollen hoffen, daß die Kriegsdroßung, die Rüftungen und der zweifelloje Ernſt des englifchen Vorgehens endlich doch genügen werden, um die Buren ohne wirklichen Krieg zur Nachgiebigfeit zu bringen. Sie würden ja gewiß den Engländern einen tapferen und zähen Widerjtand entgegenjeßen und ſich nicht leichten Kaufes geben, aber ſelbſt der Sieg würde nutzlos fein. Die Welt hätte nicht? davon, als dad Schauspiel des tragijchen Heroismus. Ein bloßer Burenjtaat mit einer wirthichajtlichen Entlave wie Sohannesburg in feiner Mitte, iſt auf die Dauer unhaltbar

Bolitiihe Korreſpondenz. 187

und würde, wenn gewaltjam gehalten, aus einer Kriſis in die andere jtürzen. Alles Mitgefühl für den waderen, niederdeutichen Stamm kann und nicht abhalten, die Dinge zu jehen, wie fie find. Rechnet man, daß der Krieg die volle Kraft der Engländer in Anſpruch nehmen, jie auf längere Zeit hinaus fefjeln und Gelegenheit geben werde, ihnen anderwärts etwas abzuzwaden, jo mag man aus diefem Grunde den Krieg wünjchen, aber von Liebe zu den Buren wiirde ein folder Wunjcdh nicht eingegeben jein.

Mit oder ohne Blutvergieken, etwas früher oder jpäter, das Ende dieſes Konflikt? kann immer nur jein, daß den „Uitlanders“ in Transvaal politifche Rechte gegeben werden und haben ſie dieje erjt, jo werden jie jhon jelber dafür jorgen, daß fie bald völlig gleichberechtigt mit den Buren werden und dann iſt es mit dem jeßigen Buren-Staat zu Ende Denn die „Uitlander“ haben ſchon jet die Majorität im Lande und jind ihrer Sprache nad) zum allergrößten Theil engliſch.

BVielleiht würden die Buren jogar am bejten thun, jich einfach in das britische Kolomialreih aufnehmen zu lajjen. Sie würden ja damit keineswegs einfach unter engliiche Herrichait gerathen, jondern ſofort Ans ihluß an ihre Landsleute nehmen, die im Kap = Parlament bereits die Majorität haben. Durch einen jolhen Zuſammenſchluß aller nieder- ländiihen Elemente würde das Fortbeſtehen des niederländifchen Volks— thums vermuthlich bejjer geiichert fein, als durch die ijolirten und kaum entwidelungsfähigen burijchen Republiken. Das engliiche Ktolonialreich it ja jo liberal organifirt, daß jede Kolonie ein fajt jelbjtändiges Staatsweſen bildet. Haben die Niederländer iu Afrika wirklich die moralijche und geijtige Spannkraft in ji, ihre Nationalität zu behaupten, jo giebt ihnen die parlamentarijhe Verfaſſung der Kolonie dazu Spielraum. Selbſt wenn es zum Kriege kommt und die Buren unterliegen und werden mit Gemalt in das engliihe Weltreich hineingezwungen, jo Dürfen wir hoffen, daß die Kriſis nicht zum Untergang führen, jfondern nur neue Lebendbedingungen für eine eigenthümliche und werthvolle Nationalität ichaffen werde.

Sollte die Gemaltjamfeit, mit der England vorgeht, überdies dazu jühren, daß das Königreich der Niederlande, dejjen Herz jchlägt für die alten Abkömmlinge, fich enger an Deutichland anjchließt, jo kann auch dieje Folge der Transvaal-Frijis und nur erwünſcht fein. Der Bejuch, den die junge Königin Wilhelmine augenblidlih in Deutjchland am preußijchen Königshaufe macht, entbehrt vielleicht nicht alles politischen Hintergrundes.

* *

2*

Dreyfus iſt unſchuldig. Das kann nicht dem geringſten Zweifel unter— liegen. Es iſt nicht bloß nicht nachgewieſen, daß er ſchuldig iſt, ſondern es iſt poſitiv nachgewieſen, daß er an dem Verbrechen, deſſen er angeklagt war, unſchuldig iſt. Auch die Hypotheſe, daß er an Rußland verrathen, daß dies in der geheimen Verhandlung vorgefommen und daß er deshalb

188 Politiſche Korreſpondenz.

verurtheilt worden ſei, iſt offenbar hinfällig. Wenn dem jo wäre, jo hätten Anklage wie Verteidigung zweifellos ganz anders operirt. Wozu hätte die Anklage den verzweifelten Verſuch gemacht, Dreyfus wegen Ber: raths an Deutjchland und Italien verurtbeilen zu lajjen und Die öffent: fihe Meinung fortwährend weiter durch dieſe Behauptung erregt, wenn jie jicher gewejen wäre, die Anklage mit der anderen Begründung durd- zubringen? Die BVertheidiger aber, Demange, Labori, und namentlid Picquart, die doch auch ihre perjönlice Stellung zu wahren haben, hätten jih nicht jo unbedingt für Dreyfus in die Schanze gejchlagen, wenn fie gewußt hätten, daß er troß Allem, wenn auch an anderer Stelle, ein Verräther gewejen jei. In einem jo langen und jo leidenſchaftlich durd- gefochtenen Prozeß hätte ein derartiger geheimer Hintergrund überhaupt nicht jo völlig verborgen bleiben fünnen. Das Ganze iſt eine phantaſtiſche Hülffonjtruftion, entjprungen aus dem Bedürfniß den Vorgang Eriminell und pſychologiſch verjtändlich zu machen, aber fo rationell es wäre, es iſt nicht jo gewejen. Es iſt möglid, daß Dreyjus mit ruſſiſchen Offizieren verfebrt hat und daß die gefülichten Papiere 3. B., die Briefe unſeres Kaiſers von der ruſſiſchen Kriegspartei, vielleicht einem hochgeitellten Mann, den Franzoſen in die Hände gejpielt jind. Uber von irgend einer ver: rätheriichen Verbindung Dreyjus’ mit den Ruſſen, von irgend einer Ber: ſchuldung jeinerjeit3 kann nicht die Rede jein.

Die Erklärung jeiner Verurtheilung liegt ausichlieglid darin, daß der Prozeß zu eine Parteifache geworden war. Es iſt traurig genug für die Menichheit, aber es ijt jo, und keineswegs eine Eigenthümlichkeit Frankreichs: ijt irgend eine Angelegenheit erjt zur Parteiſache gejtempelt und die Leidenjchaften haben ſich dafür und dawider erhigt, jo tjt es mit dem Erfolg aller jachlihen Gründe vorbei. Selbſt Euge und klare Köpfe ind dann Sophismen und Verdadhtsgründen zugänglich, die fie in jedem andern Fall verächtlich bei Seite jchieben würden.

Für Diejenigen, die außerhalb jtehen, wird der Vorgang dann gay unverſtändlich. Mann weil; ji) nicht anders zu helfen, al$ daß man ein ganzes Volk für verrückt erklärt und weiß nicht, daß in dem eigenen Volke ih ganz analoge Verichiebungen abjpielen. Man beobachte das einmal auf anjcheinend ganz neutralem Gebiete: Fragen der Wijjenjchaft.

Mit was für Argumenten juchen Schweizer Gelehrte, die jonjt durd: aus bejonnen und methodisch gebildet jind, die Tell- und Winfelried-Sagen zu vetten, wenigjtens ein Stüd, einen Schimmer davon wijjenjchaftlich zu- zuitugen! Die Tichechen haben ebenfalls eine alte Beldengejchichte, die aber nicht einmal wirkliche Sage, jondern eine einfache Fälſchung eines bejtimmten Gelehrten aus unjerem Jahrhundert iſt. Als ein Profeſſor der tichechischen Univerjität Prag das einmal öffentlich, aber in rein wijjen- Ichaftliher Form bekannte, wurde er von feinen Kollegen ebenso öffentlich und förmlich in die Acht erllärt. Man glaube ja nicht, daß wir in

Politiſche Korreipondenz. 189

Deutichland anders find: ich will feine Beijpiele nennen, um nicht auf der Stelle den Sturm zu entfejjeln.

Man meint vielleicht, daß vereidigte Nichter, die den unmittelbaren Erfolg ihre Urtheild, Tod und Leben eined Menschen, vor Augen haben, mit größerer Unbefangenheit urtheilen müßten, als jelbjt die Gelehrten im Streite der Wiſſenſchaft. An fich müßte wohl auf beiden Gebieten mit gleicher Objektivität geurtheilt werden, und wenn Richter vielleicht noch ein jtärfered DVerantwortungsgefühl haben, jo find fie dafür auch nur durch mebr oder weniger Zufall zur Enticheidnng berufene Durchichnittämenjchen, während bei wiflenichaftlichen Streitigkeiten naturgemäß die hervorragenditen Sntelligenzen und Talente die Führung nehmen. Das eigentliche Problem de3 Dreyjusprozefjes liegt ja auch nicht darin, daß von den fieben Richtern fünf auf ſchuldig erfannt haben, ſondern darin daß, wie unbefangene Bericht: eritatter gemeldet haben, dieje Theilung auch die des franzöfiichen Volkes etwa richtig widergibt. Die große Mehrheit der Franzoſen hat jich weder durch die Ehrwürdigfeit Scheurer-Keſtners, noch durch die Gluth Zolas, noch durch die Nıtterlichkeit Picquarts, noch durch den Scharfjinn Yaboris, noch durch die Beredſamleit Demange’, von der Unjchuld des Dreyfus über zeugen lajjen. Fünf Kriegsminijter hintereinander und in langer Reihe Generale und Offiziere find vor dem Gerichtshof in Rennes aufgetreten und haben bezeugt, daß fie Treyfus für jchuldig halten. Kein Wunder, daß der Gerichtshof jelber fi) dem Eindrud ſolcher Zeugnifie, in denen die Stimme der Armee mwiderhallte, nicht hat entziehen fünnen. Männer die ım Stande find ſich vom Korpsgeijt zu emanzipiren und völlig ihrem eigenen Urtheil und Gewiſſen zu folgen, find allenthalben unendlic) jelten.

Die Frage iſt alſo nun, weshalb dieje Verrath3-Anklage, die doch etwas ganz Perjönliches iſt, zu einer Parteiſache werden fonnte und das liegt ausſchließlich in Dreyfus Eigenjchaft ald Jude. Die judenfreundlichen Blätter in Deutjchland jtellen es jo dar, al3 ob eine ungeheure militärijch- jeſuitiſche Verſchwörung in Frankreich eriitiere, die die Nepublid jtürzen wolle und diefen Prozeß benutzt habe, um zu zeigen, daß fie die Gewalt beſitze. Bon antijemitischer Seite wieder wird dad ganze Eintreten für Dreyfus als eine Judenmache, das Werk eines „Dreyfus-Syndikats“ hin— geſtellt. Das Eine iſt jo falſch wie das Andere. Es iſt vielmehr ein Vorgang, der ſich bei jedem jenjationellen Prozeß, in den Juden vermwidelt find, wiederholt und den wir vor wenigen Jahren bei der Verfolgung des unglüdlihen Schlächters Buſchof in Xanten bei uns jelber erlebt haben. Wenn der Berdadht eines jchweren Verbrechens jich irgendwo auf einen Juden lenkt, jo jegt fich jofort die bei allen Völkern verbreitete antijemitijche Stimmung dahinter, vergrößert die Verdachtsmomente und verallgemeinert die Anklage gegen das Judenthum überhaupt. Naturgemäß find die Juden auf diefem Punkt jehr empfindlich, treten für den Angeklagten auf die Schanze

190 Bolitifhe Korrefpondenz.

und fuchen nachzuweiſen, wie wenig er doc) eigentlich befajtet jei. Nicht fange dauerts, jo find fie fertig mit dem Urtheil, daß die Anklage jchlecht: hin nichtig ſei. Diefer Uebereifer aber reizt die Gegner zu der Trage: Wäret Ihr auch jo ficher, wenn der Angeklagte fein Jude wäre? Soll er etwa deshalb von vornherein als unjchuldig gelten, weil er Jude ijt? Ge— wiß haben die Juden abjolut Recht, wenn fie bei jeder Anklage auf Ritualmord von vornherein die Anklage belämpfen, denn der Ritualmord it nichts als ein wahnmwißiger, grauenhafter Aberglaube, und Blätter, die ihn auch nur als eine Möglichkeit hinjtellen, jollten jich ihrer Unwiſſenheit ſchämen. Aber was diejen Aberglauben am Leben erhält, ijt gerade das leidenſchaftliche und einmüthige Eintreten ded ganzen Judenthums fir jeden dieſes Ber: bredens Verdäcdtigten. Gerade in diefem Augenblick jpielt ji in Böhmen wieder ein folder Fall ab. Was follen die Juden machen? Sollen ſie etwa, ohne zu kämpfen, den Juſtizmord gejchehen lafjen? Die Grenze tit ſchwer zu ziehen, aber foviel ift ficher, daß das Eintreten der Preſſe und das Anrufen der öffentlichen Meinung gerade das Gegentheil von dem bewirkt, was erzielt werden ſoll: Nehmen die Juden die eine Partei, ſo nehmen die Wntifemiten, die doch in der Volksmeinung die bei weiten Stärferen find, die andere, und der perfünliche Kriminalprozeß iſt zur Barteijache geworden.

So iſt es auch mit Dreyfus gegangen. Als er das erite Mal ver: urtheilt wurde, geſchah es auf die Ausjage Bertillons bin, der als be rühmter Schreibjadhverjtändiger erklärte, daß der Angeklagte das Bordereau geichrieben habe. Ferner auf Grund der Ausfage Henry, der dad Bureau der geheimen Nachrichten vertrat und die ganze Autorität diefer myſtiſchen Behörde in die Wagjchale warf. Endlich famen noch hinzu die gefälichten Bapiere, ‚die dem Angeklagten nicht vorgelegt wurden.

Bertillon it jeitdem als ein Verrüdter erkannt; Henry war möglicher Weije jelber der Verräther oder jtand jedenfalld ganz unter dem Einfluß Esterhazys, des wirklichen Berräthers; die Fälſchung der Geheimpapiere wird nicht mehr bejtritten. So war die erjte Verurtheilung Dreifus’ ein Sujtizmord auf Grund falſchen Zeugnifjes, wie er leider nur zu oft vor: fommen wird. Der Antifemitismus fpielte dabei eine zwar fchon jehr laute, aber doch nicht entjcheidende Rolle. Dreyfus hatte fich durch jein etwas zudringliches, neugierige® und renommiſtiſches Weſen unbeliebt gemacht und der Verdacht jehte fich ſchadenfroh Hinter die Heinen Blößen, die er jich gegeben Hatte.

Nachdem er aber nunmehr verurtheilt war und der Feldzug feiner Freunde zu Gunjten feiner Befreiung begann, da entwidelte jich an diejem Streit der Gegenjaß von Judentum und Antifemitismus, der in Frant: reich, obgleih ja das ganze Land weniger Juden hat, als die Stadt Berlin allein, jtärker ift al® bei und. Pas rein demokratische Regiment hat die Macht des Geldes in Frankreich außerordentlich geiteigert. Wüh-

Bolitifhe Korreſpondenz. 191

rend bei uns die Traditionen des Hofes, des einflußreichen Adels, des Dffizierforps und des Beamtenthums die Geldmacht einjchränfen, giebt es in Frankreich nichts als das allgemeine gleiche Stimmredt, da3 dem Gelde nur wenig Widerjtand entgegenzujeßen vermag. Das Geld aber ijt zum jehr großen Theile jüdifh. Mit noch nicht vergefienem Zorn gedenten die Franzoſen Panamas, und daß fait alle Macher bei diejer Schmuß- wirtbichaft Juden waren. Das war Dreyfus’ Unglück auf der einen Eeite, auf der anderen, daß die Antifemiten die „Ehre der Armee“ als ihre Parole ausjpielen fonnten. Das einmal gejprochene Urtheil eines Kriegsgerichts jollte nicht angefochten werden Dirjen und alle Dffiziere, die vom Kriegsminiſter Mercier an abwärts leichtjinnig oder böswillig bei dem eriten Urtheil mitgewirkt hatten, jegten nunmehr um ihrer jelbjit willen Alles daran, um dieſes Urtheil aufrecht zu erhalten und einzelne Schurken darunter griffen zu wirflihen Fälihungen. Die Leidenjchaft verblendete die Sinne auf beiden Seiten mehr und mehr und das Volt nahm naturgemäß Partei „für die Armee“ und „gegen die Juden“. Wie jollte es auch nicht, wenn es auf jener Seite Freycinet jah, den einjtigen Leiter der nationalen Ver— theidigung; Billot, der 1870 vom Oberjten zum fommandirenden General befördert wurde wegen jeiner auögezeichneten Tapferkeit; Boisdeffre, dem man als Chef des Generaljtabes die Leitung des Nevanchefrieges geglaubt hatte anvertrauen zu dürfen?

Sit nun der Prozeß Dreyfus ein Zeichen des moralijchen Niederganges des franzöjiichen Volles? Keineswegs. Vielmehr ift der Muth und das Talent, mit der eine Reihe von Perjönlichkeiten ſich aus den Lagern des Barteivorurtheil® gerettet und für die erfannte Wahrheit gekämpft hat, im höchſten Grade achtungswerth. Der Prozeß ijt ein Zeugniß wohl großer morafifcher Verwirrung, aber auch großer moralischer Kraft unter den heutigen Franzoſen. Wenn er dennoch eine Etappe in dem Niedergange diejer Nation bedeutet, jo trifft das nicht ſowohl das franzöſiſche Bolt als den jranzöftiichen Staat. Das Entjcheidende it der Mangel jedes feiten, in jich jelbjt ruhenden Zentralpunftes in diefem Staatsweſen. Alles ijt dem Barteigetriebe anheimgegeben, nirgends eine Inſtanz, die einen jolchen Streitfall, wie diejen Dreyfus-Prozeß mit wirklicher Unbefangenheit be- urtheilte oder der man das auch nur zutraute. In Deutjchland würde ein derartiger Jujtizmord entweder joweit möglich twieder gut gemacht, oder aber aufrecht erhalten werden; auf feinen Fall aber wiirde dad ganze Staatögebäude darüber ind Wanfen fommen. So mag man e3 den Fran— zojen jogar zum Ruhme anrecdhnen, da die dee der Gerechtigkeit jo un erichrodene und opferfähige Verteidiger bei ihnen gefunden hat, aber die Stellung Frankreich unter den Weltmächten hat einen unverwindlichen Schaden erlitten, da man gejehen hat, daß ein einfacher Kriminalprozeß im Stande ijt, dieſes ganze Staatsweſen beinah umzuftürzen.

192 Politifhe Korrefpondenz.

Der Ausgang, den man endlich gefunden hat, Dreyfus wieder jchuldig iprechen zu lafjen, aber mit mildernden Umjtänden, nnd ihn dann zu be— gnadigen, fann wohl al$ der Ausdrud einer gewiljen taktiſchen Geſchid— fichfeit gelten, jteht aber moraliich dafür auf einer um jo geringeren Stufe.

24. 9. 99. D.

Von neuen Erscheinungen, die der Redaktion zur Besprechung zu- gegangen, verzeichnen wir:

Barolin, Johannes €. Der soziale Staat im Staate. 208. Leipzig, Wilhelm Friedrich.

Bartolomäus, R. Die Provinz Posen auf dem Frankfarter Parlament. "Ausschnitt aus der Zeitschrift der historischen Gesellschaft für die Provinz Posen. XIV. Jahrg. 1. und 2. Hett.

Bericht über Handel und Industrie von Berlin nebst einer Uebersicht über die Wirksamkeit des Aeltesten-Kollegiums im Jahre 1898, erstattet von den Aeltesten der Kaufmannschaft von Berlin. 263 S. Berlin, Julius Sittenfeld.

‚©. J. Gugeline. Ein Bühnenspiel in fünf Aufzügen. Berlin, Schuster & Loeffler.

Büdingen, Dr. med. Theodor. Zur Bekämpfung der Lungenschwindsucht. (Streif- züge eines Arztes in das Gebiet der Strafrechtspflege.) B1 S. Oktav, Braunschweig. Friedr. Vieweg & Sohn.

Füsselein, W. Hermann I Graf v. Henneberg (1224—1290) und der Aufschwung der Hennebergischen Politik. Abdruck aus der Zeitschrift tür Thüringsche Geschichte und Altertumskunde. XIX, Bd.

Hausing, Dr. Karl. Hardenberg und die dritte Koalition. Historische Studien Heft XIL. Oktav. 109 S. Berlin, E. Ebering.

Hausindustrie und Heimarbeit in Deutschland und Oesterreich. 1 Bd. Süddeutschland und Schlesien. Schriften des Vereins für Sozialpolitik. LXXXIV. 506 5. Leipzig, Duncker & Humblot.

Henning, Hans. Der Zustand der schlesischen Festungen im Jahre 1756 und ihre Bedeutung für die Frage des Ursprungs des 7jührigen Krieges. 46 5. Jena, Bernhard Vopelius.

Hron, Karl. Der deutsche Ausgleich mit dem Staate Oesterreich. Oktav. 207 8. Wien, Friedr. Schalk.

Richter, Dr. Arwed. Ueber einige seltenere Flugschriften aus den Jahren 1523 1535. 44 S ÖOktav. Hamburg, Lütcke & Wulff.

Runge, M. Festrede im Namen der Georg-August-Universität zur Akademischen Fi am 5. Juni 1899. (25 S.) 40 Pf. Göttingen 1899, Vandenhoeck &

uprecht.

Schanz, M. Römische Litteraturgeschichte II. 1. (2. Auflage). Oktav. (XII 372 S) M.7.—. München 189. C. H. Beck.

Manujfripte werden erbeten unter der Adrejje des Heraus— gebers, Berlin Charlottenburg, Kneſebeckſtr. 30.

Einer vorhergehenden Anfrage bedarf es nicht, da die Entjcheidung über die Aufnahme eines Aufjages immer erjt auf Grund einer fachlichen Prüfung erfolgt.

Die Manujfripte jollen nur auf der einen Seite des Papier ge jchrieben, paginirt jein und einen breiten Rand haben.

Nezenfiond-Eremplare find an die Verlagsbuchhandlung Dorotheenjtr. 72/74, einzujchiden.

Verantwortlicher Redakteur: Professor Dr. Hans Delbrück, Berlin - Charlottenburg, Knesebeckstr. 30,

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Shelley. Von Marie Gothein.

Nur ſelten wird das Leben eines Künſtlers der Vorſtellung entſprechen, die ſeine Werke erwecken; nur zu oft werden wir jene Enttäuſchung des Kindes empfinden, das vergebens auf der Stirne des wirklichen Königs die Krone ſucht, die ſein Märchenprinz trägt. Percy Byſſhe Shelley gehört zu den Ausnahmen, die auch im Leben die Dichterfrone trugen. Niemand, der jeinen Erdenpfaden gefolgt it, wird jich dem Zauber diejer Perſönlichkeit entziehen. Wie groß er auch als Dichter war England nennt ıhn jeßt jeinen größten Lyrifer —, bedeutender war er noch als Charafter, in jeinem Kampf gegen eine Welt der Stonventionen und Some promiſſe.

Wie intereſſant und außergewöhnlich dieſes Leben war, haben gleich ſeine Freunde und Gefährten empfunden; denn kaum für einen Dichter beſitzen wir ſo viele Schilderungen von Augenzeugen wie für Shelley. Seine Schweſter Hellen giebt ein reizendes Bild ſeiner Kinderjahre, ſein Vetter und Schulkamerad Medwin, der auch für Byron Eckermann-Dienſte geleiſtet hat, hat die Schulzeit geſchildert, Jefferſon Hogg erlebte die ſtürmiſche Univerſitätszeit und ſeine erſte Ehe mit ihm und giebt eine oft gefärbte, aber höchſt lebhafte Darſtellung dieſer Periode; die letzten Monate dieſes kurzen Lebens erzählt mit vollendeter Grazie Trelawney, der aben— teuernde Freund Byrons und Shelleys, einer der Helden des griechiſchen Aufſtands, der bis 1881 als ein Veteran aus dieſen Glanztagen engliſcher Dichtung gelebt hat. Von den dazwiſchen

Preußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 2. 13

194 Shelley.

liegenden Jahren erfahren wir durch Leigh Hunt, deſſen gaſtliches Haus den Sammelpunkt der jungen und ſtürmiſchen Talente bildete, und vor Allem aus den Anmerkungen von Mary Shelley zu den Werfen ihres Gatten.

Schon im Jahre 1884 hat Drusfowit eine deutjche Biographie, die nicht werthlos aber recht troden und platt ift, verfaßt. Danadı erichten Dowdens englische, vorzügliche und erjchöpfende Biographie, die eine Menge neuen Material verwendet. Das vorliegende, fürzlich erjchienene Buch*) von Helene Richter tft in der Schilderug des Lebens ganz von Domwden abhängig; jchon in der äußeren Form zeigt e8 dadurch, daß jede Quellenangabe unterdrüdt iſt, an, daß es jich an ein weiteres gebildetes Publitum wendet und der literarischen Forſchung feine neuen Aufjchlüffe bieten will und fann. Die erjten Kapitel find denn auch weiter nichts als eine gedrängte Ueberjegung aus Dowdens höchit reizvoller Schilderung der Jugend- jahre, und auch weiterhin folgt die VBerfafjerin in der Erzählung aller Wechjelfälle diejes Lebens jenem einen Leitfaden. Doc im biographiichen Theil beruht auch das Verdienſt diejer Arbeit nicht. Es ıjt allerdings ein Mangel, daß der Dichter als Menjch bier uns nicht jo lebendig wird, wie das bei dem herrlichen Material erreicht werden fünnte. Nicht zum Meindeiten rührt Dies daber, daß uns die Freunde Shelleys zu wenig vor Augen geführt werden, ſelbſt von Mary Shelley giebt die Verfafferin nur ein blajjes Bild, das jich der Lejer aus verjtreuten Bemerfungen zu: jammenjegen muß. Auch verjchmäht fie ganz, was der engliſche Biograph in freilich etwas ausgiebigem Maße thut, den Dichter jelbjt aus jeinen Briefen reden zu lajien. Unbedingtes Lob aber verdient die Beiprechung der Werfe, die jchon äußerlich den größten Naum des Buches einnimmt. Es jind poetiich nachempfundene Analyjen, die bei Dichtungen wie denen Shelleys, deren Inhalt jchwer greifbar und deihalb in Proja nicht leicht nachzuerzählen ijt, verdienjtvoll an fich find. Das Urtheil, wenn ich auch im Einzelnen nicht immer mit ihm übereinjtimme, it verjtändnigvoll und von Sympathie für den Dichter und jeine Werfe getragen. Jeder, der Shelley als Dichter genießen will, wird bier eine gute Unterſtützung und eine feinfinnige Hilfe finden.

Dafür macht jich aber in diejen literarischen Abjchnitten ein Mangel recht fühlbar: Shelley war zwar zweifellos ein hödhit

*) Helene Nichter, Percy Byſſhe Shelley. Weimar, Verlag von Emil Felber. 1898. 640 ©.

Shell. 195

origineller Dichter, doch war er nicht, wie die Verfajjerin meint, Beginner und Bollender jeiner Richtung. Nur einige Anjäte find hier gemacht, wenigitens jeinen Vorgängern ein jchwaches Streben auf gleicher Bahn zuzuerfennen, während das Zeitalter der Nach: folger mit den verächtlichen Schlußworten abgethan wird: „Die eng: liche Literatur des neunzehnten Jahrhunderts iſt Epigonen=Dichtung. Manche haben den Mantel des Propheten aufgegriffen und fich in jeine Fetzen getheilt; jein Geijt iſt aber auf Keinen herabgeitiegen“. Das iſt hart gegen Browning, den genialen Denfer unter den Tichtern, und gegen Tennyjon, deſſen feine Lyrik die weiteite Sfala der Empfindungen beherrjcht. Shelley mit all’ dem wunderbaren Flug jeiner Phantaſie war ein echtes Kind jeiner Zeit; er eilte ihr zwar voraus, wie jeder Genius dies thut, aber er it nur denkbar an der Stelle, wo er wirkte. Er jelber hat das ausgejprochen in der Vorrede zu jeinem entfejjelten Prometheus: „Dichter jind in einem Sinne die Schöpfer, im anderen die Gejchöpfe ihrer Zeit. Ein Dichter ijt das vereinigte Ergebniß ſolcher inneren Kräfte, die in der Natur anderer nur bejchränft erjcheinen“. Kine Haupt: aufgabe eines jeden Biographen muß es fein, fich in die Strömungen der Zeit jeines Helden zu verjenfen, um den Quellen nachzugehen, aus denen jein Geiſt gejchöpft hat. Es ijt bier nicht von Der Zucht die Rede, einzelne Entlehnungen aufzuweijen, die zu oft nur ein Triumph der Gelehrjamfeit des Verfaſſers jein joll, jondern darauf fommt es an, den fünjtleriichen und jozialen Ideengehalt jeiner Werfe nach jeinem Urfprung und Fortjchritt zu fennzeichnen.

Zwei Hauptrichtungen jind in Shelleys Dichtung zu verfolgen: jein Verhältniß zur Natur und jeine jozialreformatorischen Bes jtrebungen. In dem erjten trat Shelley bereit$ ein reiches Erbe an, das er zu mehren wußte. So neu, wie die Verfajjerin diejes Buches meint, war jeine Naturauffafjung nit. Es fann gar nichts faljcher jein als „die Yakiiten“ mit den Worten abzuthun: „Tentimentale Schwärmerei der Yandjchaftsmaleret und natur: geichichtliche Beichreibung“. Gerade fie haben endgiltig mit aller natur: geichichtlichen Bejchreibung aufgeräumt und jie haben die YLandjchafts- malerei zugleich mit dem gehaßten Formalismus des achzehnten Jahr: hunderts jiegreich überwunden. Sie waren es, und hier vor: nehmlich Wordsworth, die in die englische Dichtung einen tieferen Zug durch die Idee einer Weltjeele, die jich in dem fleinjten wie in dem größten Werf der Natur offenbart, gebracht haben. Für Wordsworth bejitt jede Blume, jeder Vogel, jeder Fels ein Em:

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196 Shelley.

pfindungsleben, das mit dem des Menſchen übereinſtimmt, und doch ganz unabhängig von ihm ſich nur dem enthüllt, der mit aufmerkſamer, weitgeöffneter Seele ihm lauſcht. Shelley ſelber hat gar nicht das Gefühl gehabt, auf dieſem Gebiete neue, re— formatoriſche Gedanken zu haben. Das zeigt ſich ſchon daran, daß er hier nie polemiſirt hat, wie es noch mit loderndem Eifer Wordsworth. Coleridge und ihre Anhänger thaten. Hierin hat er jich) vielmehr immer zu Wordsworth als jeinem Meijter befannt. Er giebt aber diejen Ideen eine neue Wendung, indem er in den Naturkult einen jtarf anthropomorphiltiichen Zug bineinträgt, der durch) das Studium der Antife zwar begünitigt wurde, in feinem eigenen Wejen aber tief begründet lag.

Bei Wordsworth befam die Natur um ihn feine neue Gejtalt, nur ein neues Leben. Gr jelbjt blieb immer der jtille Weile, der jein aufmerfendes Ohr zu ihr neigt. Shelley dagegen braucht Tür jeinen hohen Gedankenflug gleichgeartete Wejen; er trifft jie über den Wolfen, auf dem ftürmifchen Meere, oder als Hüterinnen zauberhafter Gärten. Es find dies nicht Perjonififationen gleich den Naturwejen der griechischen Mythologie, jondern die ele- mentaren Sträfte der Matur jelbit, die ihm jchön und er: fennbar werden wie die Gejtalt einer Geliebten, fajt unförperlich und doch individualifirt; jie haben ein Empfindungsleben, für das die Sprache, jo jehr jie nad) einem gejteigerten Ausdrud ringt, doch immer im Kreiſe des Menjchlichen bleiben muß. Der Tichter ijt mitten unter ihnen, er leidet mit ihnen, er jucht jie, er fleht zu thnen. Es war bei den beiden Dichtern nicht nur ein Temperaments- unterjchied, nein ein NRajjengegenjat vorhanden. Der vierjchrötige, nordiiche Bauer Wordsworth geht jpazieren mit gejenftem Auge, jinnend bejpricht er ſich mit den Gewalten, die jeine priejterlich ge: jtimmte Seele vernimmt. Wenn aber Shelley mit jeiner ariſto— fratiichen, feingliedrigen Gejtalt im Kahne hingeftredt ſich auf dem ichaufelnden Meere wiegt, das ungejchügte Antlit der glühenden Sonne ausgejegt, mit ungeblendetem Auge in das geliebte Blau itarrt, oder wenn er auf den jchwindelnden, blumenumwachjenen Bogen der Caracalla-Thermen träumend fitt, jo iſt es ihm em Leichtes, jich jelber in diejen feinem Geiſte jo vertrauten Regionen über der Erde zu fühlen.

Himmelweit jcheinen dagegen die beiden Dichter fich in den jozialen Tendenzen ihrer Werke zu ſcheiden: der bochkirchliche Tory und der revolutionäre Atheiit, was haben jie noch mit

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einander gemein? Dennoch liegen die Wurzeln ihrer Anjchauungen nicht gar jo weit auseinander. Für Beide it die franzöfijche Nevolution der Boden gewejen, aus dem Ddieje entjprangen. Sein Biograph vergißt zu erwähnen, daß jener 4. Augujt 1792, an dem der fleine Percy Byſſhe Shelley in Fieldplace in der Grafichaft Sujjer das Licht der Welt erblidte, der gleiche Samjtag war, an dem zu Paris ſich die Führer der Jafobiner zu der folgenjchweren Sitzung vereinigten, in der fie grundjäglich) den Sturz des König— thums bejchlojjen.*) Man möchte gerne einen Kontakt zwijchen diejer gemitterjchwülen Sigung und der Geburt des Knäbleins annehmen, denn die revolutionäre Feuerſeele und den geijtigen Wagemuth hatte er jicher nicht von den bejchränften Eltern: der Bater, ein reicher englijcher Durchjchnittsedelmann, „ein gutmütbhiger, launenhafter Querfopf*, wie ihn Dowden nennt, und die Mutter ganz ohne eigenen Willen und eigenes UÜrtheil.

Allerdings, als Shelley anfing, über jeine phantajtijchen Kinder— träume hinauszujehen, und jtatt mit der Riefenjchlange in Fieldplace zu fämpfen oder mit jeinem Schwejterchen als Engel und Teufel verkleidet jeine Umgebung zu erjchreden, die Unterdrüder der wirklichen Welt zu jehen und zu bhajien, was bei ihm eins war, da jah es traurig in jeinem Vaterlande aus. Im Mini: jterium hatte das Triumvirat Gaftelreagh, Liverpool und Elton Anfangs unter der Zujtimmung der ganzen Bevölferung, die vor Napoleons Geißel zitterte, den Krebsgang der Reaktion begonnen; der König war in unheilbaren Wahnfinn verfallen, und an der Spitze des Staates jtand ein Wüjtling, der jpätere Georg IV. Jung jein in den Zeiten verängitigter Neaftion, die auf jolche große Hoffnung folgte wie die der Revolution, das heißt prädejtinirt jein zur Oppofition. Dies Loos theilte Shelley mit Moore, Hunt und Byron.

Wordsworth dagegen hatte zwar die Revolution als Jüngling begeijtert miterlebt, aber jein Freiheitsideal hat ſich an den Kriegen gegen Napoleon ausgejtaltet, und jeine Freiheitsſänge waren gegen den Erben in der Revolution gerichtet, fie verherrlichten einen Strieg, der die alten Throne Europas wieder aufrichtete, und Die Erhaltung der wirklichen, wie der vermeintlichen Segnungen der Inititutionen des eigenen Yandes. Diejen Konflikt jah die junge

*) Eine bedenllihe Verwechſelung begegnet H. Richter, wenn fie auf den 4. Auguft 1792 die Greigniffe der freilich viel berühmteren Nacht des 4. Auguft 1789 verlegt.

198 Shelley.

Dichterjchule nicht, jah Shelley nicht, wenn er in jeinem jchönen Sonett an Wordsworth in ihm den verlorenen Führer der Freiheit beflagt.

Zudem lebte Wordsworth damals als gereifter Mann in jeinem den Horizont begrenzenden Berglande; jein von Roufjeaujchen Ideen getränfter Geijt jah in jeinem nordijchen Bauernjchlag die Verförperung des erjehnten Naturzujtandes der Menjchheit; im Zandleben erblidte er im Gegenjag zu der Verderbnik der Städte das Heil der Welt, und gerade dieſes jchien ihm überall durd) Neuerungen und Ummwälzungen gefährdet; Kirche und Staat wurden in jeinen Augen immer mehr die einzig zuverläjligen Hüter dieſes Schatzes fein Wunder, daß er mehr und mehr der Sache der Freiheit, wie er fie jelber früher gepriejen hatte, ver: loren ging.

Für Shelleys Weltanfchauung bejtimmend wurde das Studium von Godwins „Bolitiicher Gerechtigkeit“. Wie fein Zweiter it diejer ihm Lehrer .‚gewejen. Bis hinein in die phantajtischen Träume jeiner Jugenddichtungen fönnen wir den Gedanfengang jenes leidenjchaftslos raijonnirenden Kopfes verfolgen, der ebenjo fühl die Nothiwendigfeit eines radikalen Umſturzes der Gegenwart, wie die abenteuerlichiten Zuſtände des jicherlich erwarteten goldenen BZeitalters bejpricht.

Aber war Godwin in jeinem Privatleben jchüchtern, kleinlich und egoiftijch, weit entfernt ein Märtyrer jeiner Grundjäge zu werden, jo war Shelley unerjchroden und jelbjtlos. Mit Godwin jah er in jcharfem Gegenjag zu Rouſſeau nicht in einem naiven Naturzujtand den Anbruch des Millenniums, jondern in der gleich: mäßigen höchjten geiftigen Vollfommenheit und der durch Duldſamkeit gemilderten Selbitherrlichfeit der Individuen. Durch diejen wiſſen— ſchaftlichen Anarhismus Godwins gelangte er zu der völligen Negierung des Staates. Gr forderte, daß alle Menjchen zur gleichen geiltigen Freiheit emporgehoben würden, daher jah er, ganz verjchieden von Wordsworth, beim Landvolf nur Elend und geiftige Knechtſchaft. Seine jenfitive Natur litt unter jeder Berührung mit geijtiger und materieller Noth, überall juchte er dann, wie unter einem inneren Zwange, zu helfen; er hat jein ganzes Leben hindurch über jein Vermögen den Armen und Be: drängten gegeben. Ein Zug unerjchöpflicher Menjchenliebe verbindet ihn wieder eng mit Wordsworth, beiden blieb Byrons Weltjchmer; und Menjchenverachtung fremd. Wohl hat Shelley im Wlajtor

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wenigjtens einmal einen Jüngling gejchildert, der auf der Jagd nach jeinem Ideal weltflüchtig und menjchenjcheu wird, noch am eriten den Gejtalten Byrons vergleichbar; aber gerade dies Werf leitet er mit den Worten ein: „Won denen, die ohne Sympathie mit der Menjchheit zu leben verjuchen, gehen die Neinen und Zart: empfindenden unter an der Tiefe und Leidenjchaft, mit der jie nad) Sleichempfindenden juchen, jobald die Leere ihres Gemüthes fich ihnen plöglich fühlbar macht. Alle Uebrigen, jelbjtjüchtig, blind und verjtodt, bilden jene furzjichtige Menge, die das ewige Elend und die Berlafjenheit der Welt zugleich mit ihrer eigenen verſchulden.“ Das it aus dem gleichen Geiſt entjprungen, aus dem Wordsworth, auf den er jich unmittelbar darauf beruft, ver: jichert, daß man ihm die größte Segnung rauben würde, wenn man ihm den Umgang mit Menschen nähme.

Beide Dichter Führt ihre tiefe Menjchenliebe zu einem uns erjchütterlichen Optimismus. Shelley jieht mit Godwin und der gejammten Aufklärungs » Literatur all unjer Elend nur in den jämmerlichen jozialen und religiöjen Einrichtungen eine jchwache philojophiiche Bofition, aber für ihn eine volle dichteriiche Wahrheit, mit der er es auch perjönlich ernit nahm. Sein ausgeprägter Gerechtigfeitsfinn aber hatte nichts von dem jüdischen „Auge um Auge“ an ich; nicht auf Vergeltung zugefügten Unrechtes fam es ıhm an. Seinen Yaon in der „Empörung des Islam” jammert der jchlotternde Tyrann auf dem Staijerthrone, jo daß er ihn vor der Volkswuth jchüst, und den ren, die er befreien möchte, ruft er zu: „Sein Blutvergießen, feine Gewalt! Vervollkommnet euch jelbjt, jo werdet ihr eure Gegner zwingen.“ Ganz ebenjo hatte Godwin jchon 1793 Angejichts der Pariſer Schredenstage verlangt: „Laßt uns nicht heut erzwingen, was die Wahrheit morgen von jelbjt gewinnen muß.‘

Um Shelleys jtürmijches, erites Auftreten jedoch ganz zu ver: itehen, müfjfen wir ihn in die Schule zurücbegleiten. Im Zionshoufe und Eton lehnte er fich in jeinem angeborenen Haß gegen alle Unterdrüdung gegen die Tyrannei feiner Mitjchüler auf. Bon jeher neigt das Kraftgefühl des engliichen Schulbuben zur Brutalität, und den „tollen Atheiſten“, wie er jchon damals hieß, zu neden, war ein herrlicher Sport; er fonnte jo prachtvoll böje werden. Das gleiche Mißtrauen umgab ihn auch in Oxford, wo nur Hoggs Freundjchaft es Anfangs weniger fühlbar machte. Tie ertremen Anfichten, die der Knabe jchon früh aus den alten

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Epikuräern und den modernen Aufklärungsphiloſophen eingeſogen hatte, und die er in „ſeiner Leidenſchaft, die Welt zu reformiren“, nicht laut genug überall verkündigen konnte, paßten nicht nach Oxford und nicht mehr ins Jahr 1809.

Was ſchlimmer war, auch zu Hauſe ging die Saat des Miß— trauens auf; Eltern und Verwandte mußten nach Allem, was ſie von dem Sohne hörten, befürchten, daß er ein Ungerathener werden wolle. Und Shelley empfing die erſte tiefe Herzenswunde, als ſeine ſchöne Kouſine, mit der er ſtillſchweigend verlobt war, ſich um dieſer ſeiner Anſichten willen von ihm wandte. Aber ſolche Kränkungen haben ihn nicht einen Augenblick dahin gebracht, ſeinen Haß gegen einen Menſchen auszulaſſen; an allem Unglück war ja nur der Geiſt der Unduldſamkeit ſchuld; „hier ſchwöre ich“ ſchrieb er damals in tiefem Schmerze an Hogg „und breche ich meinen Schwur, ſo vernichte mich die Ewigkeit! niemals eine Intoleranz zu vergeben. Es iſt der einzige Punkt, wo ich mir erlaube, Rache in mir zu ermuthigen, dauernde, lange Rache.“ Und als viele Jahre jpäter Trelawney den Dichter furz vor jeinem Tode fragte, weshalb er jich denn immer jelbjt einen Atheiſten genannt habe, antwortete Shelley: „Ich gebrauche das Wort, um meinen Abjcheu vor dem Aberglauben auszudrüden; ich nahm es auf, wie ein Ritter in alten Tagen einen Handjchuh aufnahm, um dem Unrecht zu trogen.“

Er ging nad) Orford zurüd und gleichjam als Antwort auf das daheim erlittene Unrecht jchrieb er die Schrift „Ueber Die Nothiwendigkeit des Atheismus“. Auch die Univerjität nahm den Fehdehandſchuh auf und antwortete mit der Nelegation. An der kleinen Schrift it viel merfwürdiger als der Inhalt, der über den dürrjten Empirismus der Aufflärungszeit nicht hinauskommt, Die Art ihrer Entitehung. Seit Yangem hatte es für Shelley einen eigenthümlichen Netz bejejjen, mit Perſonen, die er gar nicht fannte, eine weitläufige Korreſpondenz über religiös-philojophijche ragen zu führen. Theils wollte er ſich jelbjt über jeine Zweifel Klärung verjchaffen, theils jeinem heftigen Befehrungseifer Genüge thun. Dies Schriftchen jollte nun zugleich der leichteren Ans fnüpfung jolcher Epifteln dienen; darum war es „jo furz, jo methodijch, jo Har wie möglich“. Es mußte ja auch den Gegner vollfommen überzeugen, wenn er nur mit ihm den Saß an der Spite für unumjtößliche Wahrheit nahm: „Die Sinne find die einzige Quelle aller Stenntniß für den Geijt,“

Shell. 201

Erfolgreich hatte die Univerfität diejen erſten Vorſtoß in dem Kampfe, dem Shelley jein Leben weihen wollte, abgewehrt, faum ein Jahr war vergangen und von Neuem jtellte er jich in die vorderiten Reihen. Diesmal galt e8 nicht der religiöjen, jondern der politifchen Unduldjamfeit: Den Iren wollte er in ihrem Erijtenzfampfe gegen die Unterdrüder helfen. Vor elf Monaten hatte er die Univerfität verlajien, was hatte er aber alles in diejer Spanne Zeit erlebt! Man fann das Maß diejes Yebens nicht gleich mit dem anderer mejjen; wie mit prophetiichem Geifte jprach er Damals die Worte aus: „Die Zeit it nicht allein nach ihrer Dauer zu mejjen, noch die Lebensdauer nach der Anzahl der Jahre. Das Xeben eines begabten und tugendhaften Mannes, der im dreißigiten Jahre jtirbt, fann ein verhältnigmäßig langes jein.“

Ihn, den Neunzehnjährigen, begleitete auf diejer Don-Quixote— Fahrt nad) Irland jeine jechszehnjährige Frau, das Schulmädchen Harriet Wejtbroof, die er vor ein paar Monaten der „Tyrannei“ ihres Baters entführt hatte, der jie, ein freies Wejen, noch zwingen wollte, in die Schule zu gehen, wo man jie nedte um ihrer auf: geflärten Anfichten willen. Und doch litt jie ja nur um Shelley, weil jie jeine Ideen vertrat; an jeine Ritterlichkeit appellirte jie aljo, und nicht vergebens. Er fonnte jie ja nun nicht mehr im Stich lajjen; aber wohl war ihm dabei von Anfang an nicht. Seitdem hatten die beiden Kinder-Gatten ein Wanderleben geführt, bald im Norden, in Edinburgh an den Seen, bald im Süden, bald in Yondon. Es war nur der Beginn ewiger Wanderungen, ihn traf das Schickſal einer Yieblingsfigur jeiner Dichtung, des ewigen Juden. In London hatte er Godwin perjönlich fennen gelernt, und jich feinen Augenblid von dem Stontrajte zwijchen Menſch und Lehrer in ihm enttäujchen lafjen. Aber er ließ jich auch nicht einen Augenblid beirren, als er den abenteuerlichen Blan faßte, nach Irland zu gehen, wofür Godwin und diesmal nicht nur aus jeiner üblichen Aengjtlichfeit, jondern weil er die völlige Ausjichtslofigfeit einjah, jede Unterjtügung verweigerte. Die fleine Harriet aber war entzüdt, und höchſt wohlgemuth jehte Shelley im Februar 1812, in der Tajche jeine Adrejje an das irijche Bolf, nad) Dublin über.

Die Flugjchrift war recht billig und daher auch recht jchlecht gedrudt; unter möglichjt viel Leute jollte jie vertheilt werden. Und jedes Mittel war recht hierzu. Vom Balkon wartete man, bis

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Jemand vorbeifam, „der jo ausſah;“ dann wurde ihm eine Brojchüre buchitäblich an den Kopf geworfen, was der bildhübjchen muth- willigen Harriet unendlichen Spaß machte. Sie fonnte fich vor Lachen nicht mehr halten, als die Kapuze einer alten Dame dazu herhalten mußte, die Schrift hineinzufteden „und zu Alledem jah Percy immer jo ernjt darein“. Es war ihm auch beiliger Ernjt damit; denn die Wahrheiten, die er da verfündigte, waren „einige, wenige, große, die ja jedes Kind begreifen fonnte und die die Menjchen nur hören mußten, um fie einzujehen.“ Shelley war mit neunzehn Jahren ein Doktrinär vom reinſten Waſſer; er verjtand gar nicht8 von iriſcher Politik und faum mehr vom irischen Bolkscharafter. Diefem Volke von ausgeprägtem Stammesgefühl glaubte er ſich gleich am Eingang als Kosmopolit empfehlen zu müſſen; und wenn er die Klatholifen-Emanzipation vertrat, jo war es nur, weil jie eine Staffel zur Freiheit war; die Hauptjache aber war ihm, daß die Iren beſſer, tugendhafter, weijer, vor Allem aber tolerante Freidenker würden. Ziemlich lang bejeelte ihn die glücliche Hoffnung, „eine edle Nation aus der Lethargie ihrer Knechtſchaft aufzurütteln;* unausbleiblich war dann die Ent— täujchung;; jelbjt die von den Frauen gefürchtete Verfolgung blieb aus; man nahm ihn neben nicht ernit.

Eine Enttäujchung weit bittererer Art wartete jeiner. Nur zu jchnell verflog der Traum einer glüdlichen Ehe. Aus dem fügjamen, frohen Kinde entwidelte ſich bald eine vergnügungsjüchtige Kokette, die über die Ziele und Träume ihres Gatten lachte, und endlich ferne von ihm ihren eigenen Freuden nachging, ohne jeinen flehent: lichen Bitten zur Nüdfehr Gehör zu leihen. Shelley litt furchtbar unter diejer Entfremdung. „Jeder, der mich fennt“, Hagte er, „weiß, daß meine Lebensgefährtin poetiiches Gefühl und philojophiiches Verſtändniß haben muß, Harriet aber hat feines von beiden“. In hartem Kampfe löfte er jich innerlich von ihr, dann aber mit der ihm eigenthümlichen Energie auch vollſtändig. Ein halbes Ber: hältniß, wie e8 wohl Harriets oberflächlicdem Sinn möglich jchien, binzujchleppen, war ihm einfach undenkbar.

Shelley it den DPoftrinarismus in jeinen PBrojajchriften nie ganz losgeworden, troßdem er jpäter bisweilen wie tn jeinem Bor: ichlag zur Barlamentsreform auch praktiſch richtige Vorjchläge ent: wickeln fonnte. Ziemlich lange hat er aber auch in jeinen poetiſchen Werfen mit diejer Untugend zu fämpfen gehabt. Welch weite jandige Streden müſſen wir in der „Königin Mab“ durchlaufen,

Shelley. 203

um zu einer Daje ſeiner Poeſie zu gelangen. In dieſen blühenden Stellen zeigt er allerdings jchon die ganze Lieblichkeit jeiner Muje. Zum eriten Male, nachdem er eine Periode romantischer Dinneigung zum Schauerromane überwunden hatte, empfinden wir in diejer Neihenfolge von Viſionen auch jeine Fähigkeit, der Natur menjch: lich vernehmbare Laute zu verleihen. Die luftigen Bewohner der höheren Regionen jind uns nahe gerüdt, fie find nur leichter, freier; jie jind leidlos, denn das Leiden iſt nicht nothwendig, jondern nur etwas vom Menjchen Gewolltes jo lehrt das Ge— dicht. Macaulay, gewiß ein Fühler Kritiker, jagt von ihm: „Er bringt das höchjte Wunder des Genius zu Wege, daß Dinge, die nicht jind, gedacht werden, als ob fie jeien, daß die Phantajien eines Geijtes zu perjönlichen Erinnerungen eines andern werden.“ Daneben hat aber der jugendliche Dichter der Königin Mab nod) zu viel auf dem Herzen, was er jagen muß, und er nimmt hierzu noch einen großen Apparat von Anmerkungen zu Hilfe. „Sie werden lang und philojophijch jein“, jchreibt er. „Ich werde die Gelegenheit, die ich für günjtig halte, ergreifen, um meine Grund: ſätze darzulegen, was ich jyllogiftisch in einem Gedichte nicht mag. Ein jehr Ddidaktiiches Gedicht iſt, glaube ich, ein jehr dummes.“ Wir fünnen diejer Einjicht nicht genug danken, dat die langen Abhandlungen über Deismus, Empirismus und Vegetarismus unter den Strich gefommen find.

Shelleyg war bis zulegt ein Lehrer in jeinen Dichtungen, ja mehr als das: er trat mit dem glühenden Wunjche auf, ein Welt: veformator zu jein; er hat nie, wie jein Zeit: und Pichtergenofie Keats, ein „lart pour l’art“ gekannt. Wie Byrons Dichtungen immer wieder die eine große, zerriſſene Seele vorführen wollen, Die einen unausjprechlichen Schmerz trägt, der ihr das Leiden der ganzen übrigen Welt Elein und verächtlich macht, jo liegt fait allen Dichtungen Shelleyg eine Idee, wenn man will eine Lehre, zu Grunde Wie er jelbit jagt: „ES jind Bilionen, welche meine eigene Borjtellung vom Schönen und Gerechten verkörpern.“ Das Schöne und Gerechte iſt aber für ihm nicht jegt auf Erden, es - muß erjt fommen, man muß es erringen; darum immer wieder in allen jeinen größeren Dichtungen das Bild des von jeinem Ge: wijjen gepeinigten, ruhelojen Tyrannen, der nur zum Spott Herrjcher genannt wird, während er doc) der größte Sklave iſt. In jeiner Vorliebe für alles Unterdrüdte, Verachtete diejer Welt geht Shelley jo weit, daß er z. DB. zweimal, in „Laon und Cythna“ und in

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den „Aſſaſſinen“, die Schlange als das Prinzip des Guten hinjtellt und ihr gegenüber den Adler, das Zeichen der Macht, als das einjtweilen jiegende Böſe. Alle diefe Dichtungen, ob ihre Helden untergehen, wie in „Yaon und Cythna“ und in „Hellas“, oder ob jie jiegen wie im „Entfefjelten Prometheus“, jchliegen mit dem Triumpbgejang auf das fommende, goldene Zeitalter, wo das Yeid nicht mehr ijt, wo das deal der Revolution, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichfeit, die ganze Natur, den vollfommenen Menjchen an ihrer Spitze, durchdringt.

Diejer gleichbleibende Ideenfreis, den Shelley in „Königin Mab“ zuerjt aufnahm, bildet noch im entfejjelten Prometheus, den er auf der Höhe, nachdem er jeine Schaffenszeit nahezu durchlaufen hatte, jchrieb, den Stern, aber hier doch nur den wenn man will immer noch doftrinären Stern. Aus diefem it ihm eine Fülle groß— artiger Phantafien erwachen. „Der Mangel an Selbjtjucht in Shelley wirft ungünjtig auf jeine Poefie zurüd“ jagt ein neuerer Kritifer von ihm, er hinderte ihn, Einzelwejen in ihrer immer be: ſchränkten Eigenart zu jchildern; alle jeine Gejtalten find typiſch und laſſen uns das auch feinen Augenblid troß ihrer Lebensfülle vergejjen. Im entfejjelten Prometheus hat Shelley das Urbild des jelbitlojen Dulders gejchildert. Auch Prometheus hat einjt im Trotze Jupiter geflucht, nun aber, da die Stunde der Weltbefreiung naht, hat er überwunden, und Dies it nicht, wie der Geiſt der Erde wehklagend fürchtet, ein Rüdzug, jondern nur die großmüthige Zuverſicht des Siegers:

„Ih wünſche nimmer Daß irgend ein lebendig Weſen leide.”

Hier liegt zwar feinesweges, wie Mary Shelley andeutet, eine Berwandtjchaft mit jener chrijtlichen Weltauffafjung vor, die von der Sündenjchuld ausgeht, doch hat ihm in der ‘Berjon jeines Welt- erlöjer8 Prometheus zweifellos die erhabene Leidensgeſtalt des Ge- freuzigten vorgejchwebt. Wiederholt befennt er, und namentlid) auch ın dieſem Drama, jeine Berehrung für die Perſon Chriſti, aber für ihn hat der Galiläer feine Erlöjung vom Leide gebradt, vielmehr hat dieſe „verachtungswerthe Religion“ nur Leid um Leid auf die gefnechtete Welt gehäuft.

So nimmt jein Prometheus eine bejondere Stellung ein unter den Titanengeitalten der Dichtung, die ſich gegen die bejtehende Weltordnung auflehnen. Der gewaltige Nebell Miltons, der zu groß war, um in einer einheitlichen Weltregierung neben dem

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All-Einen Platz zu finden, der ſchwermüthige Fürſt der Finſterniß. der Kain verſucht, und der um ſeiner Weisheit willen von dem Allwiſſenden geſtürzt ward, Goethes Prometheus, wie ihn ein Jahrfünft ſpäter Byrons Phantaſie erſchuf, und der ſtolze, ſchaffende Künſtler, der zu viel konnte und darum dem Haß des All— mächtigen trotzt alle dieſe entſtanden aus einer tief peſſimiſtiſchen Weltanſchauung. Den Triumphator, den Ueberwinder hat nur der ſiegreiche Optimismus Shelleys erfaſſen können. Wie um dieſes Uebermaß der ſelbſtloſen Hingabe an ſein Werk zum Ausdruck zu bringen, verſchwindet Prometheus faſt ganz für uns, ſobald die Befreiung anbricht. Wir ſehen ihn nur noch in ſeinen Wirkungen, in den Jubelchören der befreiten Welt; das ganze All hat Stimme und Leben erhalten, um ſeiner Freude Ausdruck zu geben; der Menſch iſt nur noch eine harmoniſche Seele von vielen Seelen.

„Der blaue Himmel Noms, das fraftvolle Erwachen des Frühlings in dieſem göttlichen Klıma und das neue Leben, mit dem es den Geilt bis zur Trunfenheit durchdringt, das gab die Injpiration für dieſes Drama*, jchreibt er jelbit. In solcher Stimmung wurden ihm die griechischen Tragifer und Plato ein perjönliches Erlebnis. Er hat mit dem verlorenen aber in feiner Tendenz befannten Schlußtheil der äjchyleiichen Trilogie wetteifern wollen, doch bewußt ging er über den alten Tragifer, dem der Mythus und feine eigene religiöje Stellung eine Berjöhnung Prometheus und Jupiters vorjchrieben, hinaus. „Eine Verſöhnung des Kämpen der Menjchheit mit ihrem Unterdrüder“, das war Shellen zu denfen unmöglich. Die Züge von Aejchylus’ „gefejleltem Pro— metheus“ finden wir nur nod) in dem Fluche wieder, den Shelleys ge: läuterter Titan das Idol Jupiters, um die Erinnerung jeiner Ber: gangenheit heraufzubejchwören, wiederholen läßt, den er aber zu— gleich von ſich weilt.

Neben der PBromethie haben noch Aeſchylus' Perſer Zhelley, wie er jelbjt berichtet, für fein Hellas als Vorbild gedient. Es it jeher bezeichnend, daß dies gerade die beiden Stüde find, in denen Aeſchyſus noch am wenigiten feine Größe als Dramatiker entfaltet hat, in denen er ebenjo wie Shelley mehr grandioſe Hymnen, theilweije in Dialogform, als Dramen giebt. Sein Hellas und Aeſchylus' Perjer zeigen jchon in ihren Stoffen lleber- einjtimmung, bier der neue gleichzeitige dort der antife Befreiungs— fampf des griechiichen Volkes gegen die Herrichaft des Orients, Den „Perjern“ entlehnt hat Shelley auch die Infzentrung, die

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uns in das Lager der Feinde der eigentlichen Helden führt. Ethiſch aber hebt ſich der moderne Dichter über den antiken hinaus, der, um den Siegesjubel des eigenen Volkes auszudrücken, nur ein einziges, grandioſes Wehgeſchrei des beſiegten Feindes finden kann. Shelley zeigt den noch ſiegreichen Tyrannen innerlich bereits über— wunden, und wenn auch hier wie in ſeinem Jugendwerk Laon und Cythna die muhammedaniſchen Unterdrücker bis zum Schluß ſieg— reich bleiben, ſo tönt doch über Tod und Untergang hinaus in unzerſtörbarer Gewißheit der Hoffnungsgeſang der kommenden Freiheit. Das war der Tribut der Dankbarkeit, den Shelley den durch Knechtſchaft zwar verderbten aber nicht entarteten Nachkommen des glorreichen Volkes brachte: „denn wir ſind alle Griechen“: bekennt er, „unſere Geſetze, unſere Religion, unſere Kunſt, unſere Literatur haben ihre Wurzeln in Griechenland“.

Shelley it zweifellos der griechiichite unter den englijchen Tichtern. Das zweite Jahrzehnt unjeres Jahrhunderts hatte die Dichterische Blüthe einer griechiichen Renaiſſance gebracht, die wijjenjchaftlich jchon aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts datirte. .Wordswortb hatte den Neigen eröffnet, indem er 1814 jchon eine furze Periode hindurch in Yaodamia und Dion ich Haffiischen Stoffen zumwandte, in denen er würdig und ernjt echte Züge antifer Ethif zum Nusdrud brachte. Keats hatte ſich mit leidenjchaftlicher Hingabe ganz den antiken Mythenfreis zu eigen gemacht und ihn mit glühender Phantaſie in jich lebendig gemacht. Doch er jah das griechijche Alterthum durch die Brille der englischen Rengaiſſance. Shelley, der den jungen Dichter aufs Höchſte bewunderte, jprach doch mit dem Wunjche, „ich möchte ihn Griechijch lehren“, das richtige Verſtändniß für den Mangel bei Keats aus, ihm fehlte die Anjchauung der griechischen Jorm. Und gerade hierin war Shelley Meijter. Zeine Ueberjegerthätigfeit, die jede fleine Lücke feiner produftiven Zeit ausfüllte, führte ihn in das innerite Geheimniß der griechtjchen Form und Spracdye ein und obgleich Shelley außer dem entfejjelten Prometheus feinen wirklich antifen Stoff behandelt hat, jo zeigen doc; Werfe wie Adonais und Hellas, wie er jeinen gan; modernen originellen Gedanfeninhalt in die reinen Formen der klaſſiſchen Bildung zu Eleiden vermochte.

Der entfejjelte Prometheus und Hellas erjcheinen als die Er- rüllung eines Verjprechens, das „Königin Mab“ und „Laon und Cythna“ nur gegeben. Welch ein weiter Weg und eine wie furze

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Spanne Zeit! Zwar den unreifen, trodenen Empirismus, der die Nothwendigfeit des Atheismus beweijen jollte, hatte er dichteriſch schon in der „Königin Mab“ überwunden; deiſtiſche und pan— theiſtiſche Voritellungen halten jich hier bereits die Waage, und frühe Plato-Studien verrathen fich in der gern gepflegten Vorſtellung von einem gleichberechtigten Dajein der Ideenwelt über der der Erjceheinungen; im Prometheus aber erflingt ein hohes Yied des Pantheismus. Die künſtleriſche Phantaſie wird jich und fann jich aber nie auf ein metaphyfiiches Syitem einjchwören; jo finden ſich denn auch in Gedichten diejer Periode, bejonders in Hellas, Stellen, die für jeine Verehrung von Berfeleys Idealismus zeugen; und der alte Ahasverus, der immer wieder, jeit jchon den Stnaben Schubarts Fragment tief erregt hatte, in jeinen PVichtungen auf: tritt, bis zulegt in Hellas immer weijer und milder werdend, icheint doch der verförperte Beweis eines außerweltlichen, regierenden Willens zu jein.

Mit Prometheus zujammen erjchtenen neun andere Gedichte, alles Berlen der Lyrik Shelleys, die den Stebenundzwanzigjährigen auf der Höhe jeines Könnens zeigen. In immer neuen Formen be: funden jie eine Zwiejprache der TDVichterjeele mit den waltenden Naturmächten, jei es der freie, unlenfbare Wejtwind, die jegen- ivendende Wolfe, jet es die zum Simmel jubelnde Yerche, jet es die Mimofe, die da:

„Liebt wie die Liebe, und was ihr gebridt,

Erjchnt fie im Herzen: der Schönheit Licht.“ Alle find wejensgleich, gleichen Stammes mit dem Tichter. Nur einmal in diejen Jahren und gewifjermaßen nur einmal in jeinem Wirken hat Shelley die fünftleriiche Sphäre gewechjelt, um, wie er jagt, „eine Leidenschaft, die ich jelber nie gefühlt, in feujcher Sprache und nach den Regeln einer aufgeflärten Kunſt zu jchildern“: Er jchrieb im Jahre 1819 ſein Drama: „Die Cenci“.

Mitten in der Arbeit am Prometheus erregten ein altes Manuſkript, das den Untergang des Hauſes Cenci berichtete, Die lteblich fummervollen Züge, die der Tradition nad) auf Guido Renis Bild Beatrice Cenci darjtellen jollten, und die Popularität, die dieje Geſtalt und ihr graufiges Schidjal in Italien be- gen, jeine Phantafie. Er, der jich jelbit immer jedes dra— matische Talent abgejprochen hatte, bejchloß, Ddiejen, man möchte \agen, hyperdramatijchen Stoff zu einer Tragödie zu formen. Die Lorrede, die wie fajt jede von Shelleys Vorreden die jeltene Eigen

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ichaft einer faſt objektiven Betrachtung des Werfes hat, jpricht mit großer Einjicht von der möglichen Art der dramatischen Behandlung des jpröden Stoffes. „Bei folch einem Gegenjtande“, heißt es hier, muß man die idealen Schreden der Ereignijje erhöhen und Die wirflichen mindern. . . In der rajtlofen und zergliedernden Kaſuiſtik, mit der die Menjchen eine Rechtfertigung Beatrices juchen und doch fühlen, daß ihre Ihat eine Rechtfertigung bedarf, in dem abergläubiichen Schreden, mit dem jie zugleich ihre Leiden und ihre Nache betrachten, beſteht der dramatiſche Charakter deſſen, was jie that und litt“.

Das Stüd it oft überjchwenglich bewundert nnd gelobt worden, jo verjchiedenen Naturen wie Yandor, Niegjche und Dühring erjcheint es als das Meifterwerf der neueren engliſchen Dichtkunit; von anderer Seite ijt ihm wie allen modernen englischen Schau- jpielen der Vorwurf gemacht worden, daß es völlig undramatijch jei. Schr zu Unrecht haben aber jolche Stritifer es zu den Iyrijch- dramatischen Gedichten gerechnet, wie die Dramen Byrons, jene ausgejponnenen Monologe, es jind. Die Charaktere jind trefflich individualifirt, der ſzeniſche Aufbau iſt tadellos, erjchütternd wirkt Beatrices halb wahnfiunverwirrter Schmerz, mit dem jie das Ver brechen, das der eigene Bater an ıhr begangen hat, halb ahnen läßt, halb verräth. Daß das Stüd fich dennoch nie die Bühne bat erobern fünnen nur einmal it es von der Shelley-Sejell- ichaft privatim aufgeführt worden liegt gerade in der drama- tijchen Ueberjpannung des Stoffes. Und dieſe it merfwürdiger Weiſe noch verjchärft worden durch jenes Prinzip Shelleys, nur die idealen Schrednifje zu erhöhen: Nicht die Abjcheulichkeit des Stoffes als jolchen peinigt den Yejer Shafejpeare hat uns oft ebenjo Schlimmes zugemuthet —, jondern die Auffafjung des Charafter® der Heldin. Shelley hat den Water und Beatrice, Nacht und Licht, einander gegenübergejtellt: Jener it ein un: menjchlich graufamer Tyrann, Hal und Wolluft in ihm gemijcht, wie er jeder Menſchlichkeit baar gejchildert werden mußte, um das Beitialiche jeines Anjchlags auf die Tochter begreiflich zu machen

- und Shelley war geübt in Tyrannenjchilderung —; gut beob- achtete Züge des italienischen VBolfscharafters wie jeine fatholische Frömmigkeit und das Pochen auf das Gottesgnadenthum jeiner väterlichen Gewalt jegen eigenthümliche Schlaglichter auf Ddiejes grauje Bild. Und nun Beatrice! Wir fünnen ihr wohl folgen, dal fie den Mord des Waters bejchlieht, die Mörder Ddingt, jie

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zur That anfeuert, Alles in dem Gefühl, daß nichts von Kindes: ehrfurcht bleiben fonnte, jondern es nur gilt ein Scheufal zu ver: nichten, wir fönnten es verjtehen, wenn jie in der vielbewunderten Serichtsizene jich ihrer That rühmen würde. So aber bringt es einen quälenden Eindrud hervor, daß fie bis zulegt die That leugnet, den Mörder, der jie als Anjtifterin jchon bezeichnet bat, mit ihren Augen und ihrer Nede Kraft jo bannt, daß er, wieder leugnend, für jie auf der Folter ftirbt. Dies eine Mal hat Shelley einen Zug ſophiſtiſcher Selbitjucht, wir möchten fajt meinen un- bewußt, in einen Charakter hereingebracht, der doch gerade als eine reine Blüthe, die aus einem verdorbenen Boden inmitten einer giftigen Atmojphäre hervorjproößt, gejchildert werden ſollte. Denn Shelley nimmt offenfundig für jeine Heldin Partei, ihr Untergang ericheint als ein ihr zugefügtes Unrecht, jie darf Mutter und Brüder, die befannt haben, des jchwächlichen Verrathes anflagen. Der Dichter wollte jie als ein durchaus wahres Gejchöpf darjtellen und vergißt, daß er jie fortwährend lügen läßt. Auch die vorüber: gehende Todesfurcht, wohl ein rein menschlicher Zug in einem jungen Wejen, erwedt in den Zuhörern Die peinliche Frage; hat ie nur deshalb fich jo glänzend vor den Nichtern vertheidigt, um jih ein Leben, das ihr doch nur Entjegen brachte, zu erhalten? An Mis. O' Neill, die Shelley, der jelten ins Theater ging, weil er meiſtens jeine Sllufionen dort nur zerjtört fand, mehrmals in Yondon bewundert hatte, dachte er bei der Rolle der Beatrice. „Gott bewahre*, jchreibt er aber dabei, „daß ich jelber jie jemals in Diefer Nolle jehen jollte, das würde meine Nerven in Stücke reißen.“ In der That, jelbit Nerven, die jich noch mit den Greueln eines Sardoujchen Stüdes abfinden, müßten bei einer jolchen geiſtigen Ueberreizung zujammenzuden.

Fern der ungajtlichen Heimatb, in Italien, „dem Paradies der Verbannten*, entfaltete Shelley in den legten vier Jahren jeines Lebens von 1818 an jeine volle Tichterblüthe. Das Schiedjal hatte ihm nad) vielen Stürmen ein verhältnigmäßig ruhiges Glück aufgejpart, das ihm die Yiebe einer edlen rau und die Freund— ihaft mit Byron jchuf. Byron hatte er 1816 auf einer Neije in die Schweiz fennen gelernt. Es war ein merfwürdiges Verhältnif, das dieje beiden Männer verband. Shelley erfannte bedingungslos die Ueberlegenheit des älteren, berühmten reundes an; ihm impo- nirte zudem im perjönlichen Umgang die gebietende, vornehme Art Byrons. So oft er auch unter dem peinlichen Verhältniß, das

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jenen mit jeiner Schwägerin Clare verband, und mehr noch durch die unzarte Art, wie dieſer es bald von jich abzufchütteln juchte, litt, immer wieder bezauberte ihn Byrons Verkehr. Und Byron, den zu Shelley Anfangs die Feindichaft zog, mit der ihn die englische Gejellichaft behandelte, die jenem wie ihm das 2008 freiwilliger Verbannung eingetragen hatte, ſah bald zu jeinem Eritaunen, daß in Diefem Manne Cigenjchaften, die er jelbit aufs Höchite ſchätzte, faltblütiger perjönlicher Muth, natürliche Begabung zu allen ritterliden Uebungen, äußerte Verachtung jeder Konvention und Gejellichaftslüge fich verbanden mit eimer ganz außergewöhnlichen Kindlichkeit und Neinheit des Herzens, die er bewunderte, weil fie ihm jelber fehlten. Wiederholt jchreibt er an englifche Freunde über Shelley in einem Tone, dem man dies Erjtaunen anhört: „Ihr mißfennt Shelley Alle“, um dann ein bewunderndes Lob der Perjönlichkeit hinzuzufügen, mit dem er jonjt jehr fargte. Trotzdem hat Byron auf Shelley als Dichter in ungleich geringerem Maße gewirkt wie Godwin und Wordsworth. Zu jtarf war die innere Verſchiedenheit, die ihn von Jenem trennte. Hingegen hat Shelley eine Zeit lang weit jtärfer Byron in jeinen Ideenkreis gezogen. Es war in den eriten Schweizer Tagen, wo Shelley, ganz von Wordsworth erfüllt, nachdem er mit dieſem in jeinem Alajtor gewetteifert hatte, auch Byron mit Wordsworth tränfte, wie diejer jich ausdrüdte. Der dritte herrliche Gejang des Childe Harold zeigt hiervon die unverfennbaren Spuren, zeigt den großen Fortſchritt, den Byron durch Wordsworth und Shelley in feiner Auffaſſung der Natur machte.

Mit Byrons ſkeptiſchem Peſſimismus ſetzte ſich Shelley gleichjam perjönlich in einem der jchönjten Gedichte jeiner leßten Zeit, in Sultan und Maddalo, auseinander: Es zeigt die beiden Freunde auf einem gemeinjamen Ritte am venetianischen Yido, wobei uns in Maddolo Byrons widerjpruchsvolle Gejtalt in ihrer liebens- würdigen Menjchlichkeit, verkflärt durch die Dichterfreundjchaft, ent— gegentritt. Auf jeine tiefjchmerzliche Klage, daß das menjchliche Herz wie die Glode, die drüben auf der Laguneninjel die Seren zum Gebet rufe, in uns Wiünjche und Gedanfen erwede, deren Grund und Zwed wir nicht erfennen, bis im Tode wie dort im Sonnenuntergang Alles verblaſſe, antwortet Julian Shelley mit jeinem umerjchütterlichen Glauben an die Freiheit des Willens:

Shelley. 211

Der Menſch verſchuldet, Daß Uebel ibn umftricken, die er duldet. Wir lönnten andere, könnten Alles fein, Bas wir erträumen: glücklich, edel, rein. Wo tft, was man als wahr und lieblich preift Als fhön, wo anders als in unſerm @eift? Und wären mir nicht alfo ſchwach berathen, So glihen unjre Wünſche unfern Thaten.

Indem er jo die Willensfreiheit vertrat, was für ihn eine dDichtertjche Forderung war, ſetzte er ſich nicht nur zu Byron in Gegenſatz, jondern in diefem einzigen Punfte wid) er auch von jeinem Xehrer Godwin ab. Diejer lehrt einen Determinismus, der ihn bis zur völligen Entjchuldigung des Verbrechens führt, das aus der Anlage des Individuums nothwendig hervorgehe, und doch leitet er höchjt widerjpruchsvoll Schuld und Sünde nur von der Gejellichaft ab, die diefe dem an fich guten Menjchen auf- dränge. Gerade weil Shelley mit Leidenjchaft dieſe lette Lehre umfaßte, trieb fie ihn zu der Annahme, daß es in dem Willen der Menjchen liege, anders zu jein, wenn fie anders und beſſer berathen wären. Byron lehnte philoſophiſche Spekulationen völlig ab, worüber die pejjimitischen Neflertionen im Kain und Manfred nicht täufchen dürfen; und eine jolche Auffaſſung Shelleys erjchien ihm völlig utopish. Im richtiger Erfenntnig jeines Wejens läßt denn auch Shelley jeinen Julian den Freund zu einem Irren geleiten, der wahnjinnig über ähnlichen Ideen geworden iſt, wie jie ihn jelber bejeelen. Und wie in einem Spiegel fieht Julian in der Seele des Iren, den Liebe und Welt verrathen haben, jein eigenes Bild:

„Er, an deſſ' Herz des Fremdlings Thräne nagt, Wie Waſſertropfen in den Felfen dringen,

Der Lieb und Mitleid fühlt mit allen Dingen, Den jelbft das Leid, das Niemand hört, bedrüdt, Der Fernes mit des Geiſtes Aug’ erblidt,

Der mit den Armen weint, Zertrel'ne hebt,

Mit den Gefangnen in der Belle lebt,

Ein Nero, der bei dem Drud der Welt erbebt, Den Niemand jonft empfindet.“

Ganz zweifellos ijt der Einfluß, den Byron auf Shelley als Satirifer ausübte. Die politijche Satire nimmt in der englijchen Dichtung von Dryden bis Byron einen weit größeren Raum ein, als in jeder anderen Literatur; denn der Dichter jtand hier weit mehr im öffentlichen Leben al8 anderwärts. Das achtzehnte Jahrhundert hatte

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212 Shelley.

eine Reihe der glänzenditen Satirifer hervorgebracht, und die jung- engliiche Schule wurde von den politijchen Zuftänden ihrer Zeit wieder heftig nach Dderjelben Richtung gedrängt. Selbſt ein jo weltfremder Dichter wie Keats hat wenigjtens einmal einen Anlauf hierzu genommen. Shelley hatte einige gute Anlagen zum Satirifer; er beſaß Wit, tiefes Pathos und ethijchen Zorn, doc) fehlte ihm eins, wonit Byron Alle meijterte und weit hinter fich ließ: Der pridelnde Humor, der erjt wirklich das Janusgeſicht der Satire, die fomijch-gegenjtändliche Situation und das ernite ZJeitübel, das jene durchjichtig umjchleiert, zum Ausdrud bringt. So ijt denn auch Shelleys „Dickfuß, der Tyrann“, zu jchwerflüfjig und ernit, um nicht von den Satiren im Don Juan oder dem Meijteritüd Byrons, der „Viſion des Gerichts“, überholt zu werden.

Die legten acht Jahre jeines Lebens hat Shelley jein Schidjal an das einer geijtig ihm ebenbürtigen rau geknüpft. Mary, jeine zweite Gattin, war die Tochter Godwins und Mary Wolliton- crafts, der berühmten WVerfafjerin jener Programmichrift „Die Rechte der Frau, von der an die Bewegung zur geijtigen Be: freiung der Frauen datirte. Sie hatte ihrer Tochter als Erbtheil den freien großfinnigen Charafter hinterlajjen. Shelley fühlte jich durch viele Züge gleicher Anlage und gleicher Scidjale zu Mary Wolljtoncraft bingezogen; Verehrung für diefe Frau erfüllte ihn lange, ehe er ihre Tochter fennen lernte. Im Borjpiel zu Yaon und Cythna hatte er jie verherrlicht in der idealen Führerin des Dichters, und in Gefprächen über die Mutter an ihrem Grabe hat er die Tochter für fich gewonnen. Nichts verband ihn damals innerlich noch mit Harriet; und Shelley war zu jehr Schüler, Mary zu jehr Kind ihrer Eltern, um nicht einzig und allein dieſes innere Band anzuerfennen ; ihr Bund war ihnen rein und heilig. Als dann zwei Jahre jpäter Harriets Selbſtmord Shelley tief er- jchütterte, fonnte fein Gefühl perjünlicher Schuld ihm dies tragische Ereigniß bitterer machen; und nur übelwollende Schmäbjucht fonnte ihn verantwortlich machen für eine Ihat, die bei Harriet Folge ihres leichtfinnigen Lebens war. Der Lordfanzler Elton aber jprach doch die Anficht der Mehrzahl der geordneten und durch die eigenthümliche englische Heuchelei diejer Jahre noch ver: engten Gejellichaft aus, wenn er durch einen willfürlichen Nichter- jpruch Shelley die beiden Kinder eriter Ehe nahm, weil der Lebens: wandel und die Anjichten, wie jie die Schriften des Dichters aus- jprächen, nicht für ihre chrijtliche Erziehung bürgen fünnten.

Shelley. 218

Der Schlag traf Shelley jo tief, daß er ihm die Heimath verleidete. Vergebens hatte ihn Leigh Hunt mit zarter Liebe um: geben, um ihm dieſe böjejte Zeit jeines Lebens erträglich zu machen. Shelley hatte fich ein Jahr lang die längſte Zeit, die er überhaupt an einem und demjelben Orte zugebracdht hat —, als „Einjiedler von Great Marlow“ in dem freifinnigen, geijtig belebten Kreiſe, der jich in dem gajtlichen Hauje Leigh Hunts zus jammenfand, jehr wohl gefühlt; der liebenswürdige Ejjayiit nahm die Rolle, die ihm damals zufiel, das Haupt aller Freigeiſter und Nadifalen Englands zu jein, mit Freuden auf. Jetzt aber Yloh Shelley das Land, wo man ihn ächtete, er ging mit Mary und ihrem Söhnchen Willtam nad) Italien, dies Kind mit doppelter Liebe jchirmend.

Mary war nicht ganz das Genie, zu dem jie Shelleys Be- wunderung jo gerne jtempeln wollte. Nach den erjten viel: verheigenden Anfängen, die fie als Nomanjchriftitellerin unter der Anregung ihres Gatten gemacht, hat fie jpäter ihr ganzes Leben nur noch jeinem pojthbumen ®eijte geweiht, jeinen Werfen, jeinem Namen gelebt. Sie war eine feine, jtille Blüthe; bei allem. jtillen Glüd, das fie dankbar empfing und gab und das nie getrübt wurde, vermißte Shelley bei ihr doch manchmal etwas von dem lebhaften Feuer, das jeine Liebe und jeine Ideen immer durch: jtrömte, und Mary Hagt jich jpäter jelbit an, daß jie ihn vielleicht hierin nicht ganz veritanden habe. Ein Gedicht diejer legten Zeit), Epipſychidion, gluthvoll und abjtraft, jchwer verjtändlich, erzählt von jolch einem Feuer, wie es mehr die Phantaſie ald das Herz des Dichters erfüllte, aber doch anfnüpfte in Mitleid und Sehn: jucht an ein jchönes, ins Kloſter verbanntes italienisches Mädchen. Epipjychidion nennt Shelley jelber die „vita nuova“ jeiner Ges dichte. Umgekehrt zu jeiner gewöhnlichen Gejtaltungsweije fnüpft hier Shelley an ein wirklich lebendes Wejen an, das in der Gluth jeiner unjinnlichen Dichterleidenjchaft zum reinen Ideal wird: „sch bin nicht Dein, ich bin ein Theil von Dir“ ruft er aus.

*) Der Name Epipſychidion „Nebenfeelhen” deutet Stopford Broot als „Ueber der Seele,” was H. Richter nah ihm gar als forreipondirend mit Uebermenſchen überträgt. Doch erklärt er fi aus dem in der älteren antiken Roritellung murzelnden Glauben von einem Abbild des Menden, dem Eidolon, das die Kunſt immer als Miniaturbild des Menſchen darftellt, und das bei Shelley wiederholt mit der Vorſtellung der Platonifchen Idee verquidt in feiner Dichtung eine Stelle findet, jo im entfeflelten Brometheus und nod deutlicher jchon in der Königin Mab, wo NYanthes' Seele ſich als das genaue Abbild des unten leblos liegenden Körpers, nur völlig idealifirt, emporfchwingt.

214 Shelley.

Mary hat diejes Gedicht allein unter denen ihres Gatten nicht fommentirt, berührten fie doch in ihrer jtillen Treue jolche Stellen wie die folgende peinlich:

„Nie mocht ic mich zu jener Selte zählen,

Die lehrt: nur Eines darf ſich jeder wählen,

Nur eine Liebe und nur einen Freund,

Um jeden fonft, jo weif’ und gut er jcheint,

Kalt zu vergeſſen.“

Und doch mußte fie ihn verjtehen, wenn er diejfen Gedanken weiter ausführt:

„Eng iſt das Herz, das nur ein Weſen liebt, Der Menſch, der fi nur einem Ziel ergiebt, Das Hirn, das einen Gegenftand errafit,

Der Geift, der nur ein einzig Ding erihafft.“

Neich an Freunden war diejes Leben, das jelber jo viel an Liebe gab. Trelawney, der erit in den legten Monaten in jeinen Kreis getreten war, hat jeiner begeijterten Freundſchaft in einer Schilderung vom Shelleys Perjönlichfeit Ausdruck gegeben, wie jie bejier als jedes Bild uns die Züge des Menjchen nahe bringt. Er jah den Dichter zum eriten Mal bei dem gemeinjamen Freunde Williams, der bald das Todesſchickſal mit dem Dichter theilen jollte und jchildert jeine grenzenloje Ueberrajchung, als ein großer magerer Süngling, der wie ein Knabe gekleidet in eine jchwarze Jade und Beinfleider, die ihm ausgewachjen jchienen, ihm mädchenhaft er— röthend den Hände entgegenitredte und ihm als der Dichter Shelley vorgeftellt wurde. „War es möglich!“ ruft er aus, „Eonnte diejer bartloje Junge jenes Scheujal jein, das mit aller Welt in Krieg lag, exrfommunizirt von den Vätern der Stirche, jeiner Bürger: rechte beraubt durch das fiat des grimmen Lord Kanzler, von den Mitgliedern jeiner Familie gemieden und den weijen Rivalen in unjerer Literatur als Gründer der Satanijchen Schule denunzirt?“

Außergewöhnlich wie diefes Yeben war auch jein Ende. Von je hatte das Meer und das Leben auf dem Schiffe auf Shelley eine magijche Anziehungskraft geübt; und wenn er nichts Anderes hatte, jo ließ er doch mit den Kindern Schiffchen auf einem Teiche jhwimmen wie in den Tagen von Marlow. Auf der Themſe, auf dem Genfer Zee, auf dem Mittelmeer, überall war das erſte Ver langen nach einem Boote; und das legte Verhängnik, das ihn erreichte, war nur der unglüdliche Ausgang, nachdem er viele Male ſchon in der Gefahr, zu ertrinfen, gejchwebt hatte. Ein Vierteljahr

Shelley. 215

vor jeinem Tode hatte er die Caſa Magni in Spezzia gemiethet, ein altes, vom Meer umjpültes Jejuitenflojter, wo man jich bei Sturm wie an Bord eines Schiffes fühlte; und da, wo alle jeufzten, weil jie ohne jede Bequemlichkeit leben mußten, war er glüdlich wie noch nie; diefe Einjamfeit erjchien ihm wie eine jener er- träumten paradiejiichen Injeln jeiner Dichtung. Mary fand nad vielen Jahren die Kraft, eine Schilderung der legten Kataſtrophe zu geben, der Todesangjt, mit der fie zwijchen Yivorno, von wo aus die leichte Nacht Ariel an Sem gewitterdrohenden Tage fröhlich ausgejegelt war, und Spezzia mit immer jchwächer werdender Hoffnung auf: und abwanderte. Ihr jchmerzdurdjzitterter Bericht und Trelawneys Schilderung führen uns von Tag zu Tag durd) diefe für Gattin und Freunde qualvollen Wochen, bis endlich die Auffindung der Leiche auf die aufregende Angit die Leere der TIodesgewißheit folgen lien.

Byrons Gedanke war es, dem griechijch gejinnten Freunde ein antifes Tcdtenopfer zu bringen. Am Strande von Yivorno wurde der Scheiterhaufen gejchichtet, der den Yeib des Dichters verbrennen jollte. Seine Aſche und jein Herz, das von den Flammen unver: jehrt von Trelawney dem Feuer entrijfen wurde, brachte man auf den jchönen protejtantijchen Friedhof in Rom. „Der Gedanfe, dort zu ruhen, fönnte einen mit dem Tode verliebt machen“, hatte Shelley geiagt, als er hörte, daß Keats dort begraben worden jet. Seht ſenkte man feine Reſte neben jenem ein. Ein bedeutungs- voller Zufall hatte ihn in den Gedichten von Steats leien lajjen, als ihn das todtbringende Unwetter überrajchte, man fand das umgejchlagene Buch noch in jeiner Tajche. So galt jein letzter Gedanke jenem Dichtergenius, dem er vor einem fnappen Sabre in jeinem herrlichen Adonais eine Grabjpende gebracht hatte, ohne zu ahnen, daß er ſich jelber damit einen unvergleichlichen Todten— jang finge. Für den Schmerz aller freunde fand Yeigh Hunt den Ausdrud in den beiden Worten, die jeinen Grabjtein jchmüden: Cor cordium, und Trelawney fügte Ariels Worte aus dem Sturm hinzu:

„Nichts von ihm, was je zerfalle, Denn die falzige Meeresflutb Wandelt's in ein Böftlih Gut.”

Die Memoiren der Gräfin Potoda.

Bon Emil Daniels.

Memoires de la Comtesse Potocka (1794—1820) Publiees par Casimir Stryienski. Avec un portrait en heliogravure. Paris Librairie Plon. 1897.

Memoiren der Gräfin PBotoda. Nah der éten franzöfiihen Auflage bearbeitet von Dscar von Bieberſtein Leipzig H. Schmidt & Co. 18.

Die Verfaſſerin diejer Yebenserinnerungen, eines der farben: reichiten aller Gejchichtsbilder, jtammte aus königlichem Geblüt: fie war die Großnichte Stanislaus II. Augujt aus dem Hauje Ponta= towski, des legten Königs von Bolen. Ein anderer Großonfel von ihr, Johann Klemens Sara Branidi, war bei der legten polnischen Königswahl der Gegenfandidat jeines Schwagers Stanislaus ge— wejen. Nach jeiner Niederlage hatte er fich auf jeine unermeß— lichen Beſitzungen zurüdgezogen, wo er als Hetman der Krone und Stajtellan von Strafau wie ein König lebte. Branidis bevorzugte Nejidenz war das Schloß von Bialyſtock, in welchem jeine Groß— nichte, Nomtejje Anna Tyszkiewicz, die Autorin unjerer Memoiren, ihre Jugend verbrachte, und das fie folgendermaßen bejchreibt: „Das Schloß war mit jeltener Pracht eingerichtet. Franzöſiſche Tapeziere, die mit großen Unfojten herbeigejchafft worden waren, hatten Möbel, Spiegel, Holzjchnigereien mitgebracht, Die des Sclojjes in WBerjailles würdig waren. Schlechterdings nicht zu übertreffen waren die impojanten Größenverhältnijje der Salons und der mit Marmorjäulen gejchmücdten Veſtibüls. . . . . . Das Arrangement der Gärten und der Parks, der Yuzus der verjchie- denen Gewächshäufer, die Schönheit und die Menge der Orangen=

Die Memoiren der Gräfin Potoda. 217

bäume alles das zujammengenommen erhob diejen Platz zu einem wahrhaft königlichen Aufenthalt. Bei Lebzeiten des Ktajtellans von Krakau verfürzten zwei Schaujpielertruppen, eine franzöjtjche und eine polnijche, jowie ein Korps de Ballet, Alles auf Kojten des Kaſtellans unterhalten, die langen Winterabende.. Das von einem italienischen Künftler deforirte Theater faßte 3—400 Ber:

Das war die Lebenswerje, welche die Srandjeigneurs Der Oppojition damals in ihren Häujern führten. Zu meiner Zeit waren davon nur noch die Erinnerungen übrig, die ich mir von hundertjährigen Dienern erzählen ließ.“

Ob die Beſitzer der bejchriebenen glänzenden Räumlichkeiten jich glüdlich fühlten, kann zweifelhajt erjcheinen, denn das Ver: hältniß des Grafen Branidi zu jeiner Gemahlin war noch zerrütteter, als das bei der liederlichen polnischen Ariſtokratie ohnehin jchon Brauh war. Auch die Eltern von Anna Tyszfiewicz lebten fajt immer getrennt von einander, der Bater in Wilna, die Mutter. mit dem einzigen Kinde in Bialyjtod, bei ihrer Tante, der verwittweten Gräfin Branida, mit der zufammen die Gräfin Tyszkiewicz während der Saiſon nad) Warjchau überzufiedeln pflegte. Hier in Warjchau erlebte Anna, noch ein Kind, die blutigen CEreignijje, welche der dritten Theilung Polens vorhergingen: die Vertreibung der rujjischen Truppen aus der Stadt im Frühjahr 1794 und die Erjtürmung der Vorjtadt Braga im Spätherbjt dejjelben Jahres durch Suwa— roff. Noch viele Jahre jpäter jtanden die Details des Zujammen- iturzes der polnischen Staatsruine mit einer jchredlichen Lebendig— feit vor dem geijtigen Auge der Gräfin: . . Wir wurden durch den Donner des Gejchüges und ein jehr heftiges Gewehrfeuer ge: wet. Mein Vater war abwejend, und die Dienerjchaft jogleic) zu den Waffen gejtürmt, ohne jich um unjer Schickſal zu kümmern. 68 wurde aljo eine weibliche Konferenz abgehalten, die entjchted, das es das Sicherjte wäre, jich tm Steller zu veriteden. Wir brachten dort den ganzen Vormittag zu, ohne etwas gewahr zu werden. Als gegen drei Uhr Nachmittags das Gewehrfeuer in unjerem Stadtviertel aufgehört hatte, ließ uns der König jagen, - wir möchten verjuchen, zu dem von ihm bewohnten Schloß zu ges langen. Wir fanden weder Kutſcher noch Yafaten, und übrigens würde ein Wagen auch jchwerlich) die mit Xeichen angefüllten Straßen haben pajjiren fünnen; wir jahen uns aljo gezwungen, zu Fuß die ganze Strafauer Vorſtadt zu durchichreiten, wo man ſich

218 Die Memoiren der Gräfin PBotoda.

jtundenlang gejchlagen hatte. Der Anblid diejes Schlachtfeldes, wo die Ruſſen zu Hunderten lagen, ließ mein Blut zu Eis er: jtarren. Aber das war auch der einzige widerwärtige Eindrud, den ich empfing; die verlorenen Kugeln, welche über unjere Köpfe bin pfiffen, beunrubigten mich in feiner Weiſe.

Bon diefem Tage an bis zum Gemegel von Praga verließen wir das Schloß nicht mehr, da die Stadt jich in beitändiger Gährung befand. Alles, was jich in der Zwijchenzeit ereignete, it volljtändig aus meinem Gedächtniß verjchwunden. Nur undeutlic) erinnere ich mich, daß ich meine Mutter in das Lager Kosziusfos begleitet habe, wo jchöne Damen, ein kleines Mützchen auf dem Ohr, zur ‚Förderung der Schanzarbeiten, mit Erde gefüllte Karren jchoben. Ich beneidete ihr Loos, und mein Kinderherz pochte jchon bei den Erzählungen von unjern Siegen.

Morgens und Abends hielt meine Bonne mich an, Gott flehentlich zu bitten, daß er unjere Waffen jegne. Mit ganzem Herzen vollführte ich, was jie mir vorjchrieb, obwohl ich nicht ganz begriff, was vorging, und warum man eigentlich den hübjchen ruſſiſchen Offizieren jo böje jein mußte, denen ich oft mit Wer: gnügen zugejehen hatte, wie jie ihre jchönen Pferde tummelten. Das Gemepel von Braga klärte mich auf, und mein Herz erjchlor ſich früh Empfindungen, welche ich wieder meinen Kindern einge: impft Habe. Neuntaujend wehrloſe Einwohner wurden in einer einzigen Nacht erwürgt, indem fie feine andere Zuflucht und fein anderes Grab fanden als ihre eingeäjcherten Wohnungen! Da das Schloß des Königs am Ufer der Weichjel lag, die allein uns von Braga trennte, jo hörten wir deutlich das Wehegejchrei der Opfer und das Hurrah der Henker. Man fonnte jogar von einander unterjcheiden die Stimmen und das Gejammer der frauen und der stinder, das Wuthgebrüll und die Flüche der Väter und Gatten, die in der Wertheidigung dejien, was der Menjch am liebiten hat, ihr Yeben ließen. Eine rabenjchwarze Nacht jteigerte noch den Schreden diefer Szene. Ein Flammenmeer, über dem weißliches Gewölk lagerte, ließ im hölliſch anzufchauenden Schattenrijjen die Sejtalten von Koſaken hervortreten, die wie die wilde Jagd auf ihren Pferden cinheritoben, die Yanze zum Stoß erhoben uud durd) ein fürchterliches Geheul einander zur Fortſetzung ihrer Blutarbeit anfeuernDd.

So vergingen einige Stunden; dann hörte man nichts mehr als das Krachen der zufammenstürzenden Balken und Deden. Tas

Die Memorien der Gräfin Potoda. 219

Wehegeſchrei, das Stöhnen, das Waffengeklirr, das Stampfen der Roſſe waren verjtummt, und das Schweigen des Todes lag aus: gebreitet über der Vorſtadt Praga, der Name Suwaroff aber war zum Fluche geworden.‘

Nachdem die Ruſſen Braga und die Preußen Warjchau bejett hatten, folgte die Gräfin Tyszkiewiez mit ihrem Kinde dem König, ihrem Onfel, nach Grodno, wo die legte Theilung Polens formell vollzogen und Stanislaus zur Unterzeichnung jeiner Abdankung genöthigt wurde. Gräfin Anna entwirft ein anjchauliches Bild von jenem frauenhaften Monarchen „mit der jchönen leicht par: füimirten Hand“ und erzählt dann von fich jelber: „Won einer fleinen Kammer aus, in welcher man mich mit meiner Gouvernante untergebracht hatte, ſah ich jeden Morgen den Cortege des Sflave gewordenen Königs. Die ruſſiſche Garde mit ihren breiten aus: drudslojen Gejichtern, aus der die Knute wandelnde Majchinen macht, erjchredten meine findliche Einbildungsfraft jo, daß Die ganze Autorität meiner Mutter dazu gehörte, um mich zum Ueber: jchreiten der IThürjchwelle zu bewegen, und auch dann that ich es nie ohne Widerjtand und Thränen.‘

. Aus Grodno in das Schloß von Bialyitod zurüdgefehrt, erlebte Komteſſe Anna ein neues, in ihrer geijtigen Entwidelung Epoche machendes Ereigniß, die Ankunft einer franzöfiichen Emigranten: familie, welche jie mit £öftlihem Humor jchildert: „Gegen das Ende des vergangenen Jahrhunderts‘, jo leitet jie ihre Charafterijtif ein, „war Polen von franzöfiichen Emigranten überjchwemmt, Die fast alle aus großen Häujern zu jtammen behaupteten und die Gaſt— freundjchaft, die man ihnen mit Emprejjement anbot, in einer Werje annahmen, als ob fie eine Gnade bewilligten. Die Gräfin Branidi hatte die ganze Familie Bafjompierre. Erſt war Einer gekommen, dann Zwei, dann Drei und jchlieglich die ganze Familie. Was ihr Oberhaupt anbetraf, jo machte jie von diejem nicht viel Aufhebens, aber man ließ doch feine Gelegenheit vorübergehen, ihn „der Herr Marquis“ zu nennen. Dann fam der Graf, ein Mann von uns gefähr fünfzig Jahren, der Gatte einer jungen und ziemlich hübjchen Stau, die er in dieſer Epoche der allgemeinen Umwälzung ge: heirathet hatte; in jeder anderen Konjunktur würde Fräulein von Rigny, wie die Eingeweihten jagten, feinen Anjpruch auf eine jo glänzende Berjorgung gehabt haben. Der Graf, klein, jchmächtig, mit wohlgepuderten, en vergette frijirten Haaren und mit dem unvermeidlichen Zopf als PBarteiabzeichen, macht einen nicht eben

220 Die Memoiren der Gräfin Potoda.

angenehmen Eindrud. Er hatte eine große, jpige Naje, einen finiteren Blid und einen verfniffenen Mund. Er galt als Schön: geiſt, imponirte durch Zitate und machte ganz nette Berschen. Wenn wir ein Theaterjtüd aufführten oder Jemandem eine lleber: rajchung bereiten wollten, oder wenn ein Feſt gefeiert wurde, gingen wir zu ihm und erjuchten ihn um ein Gedicht. Nachdem er jicd regelmäßig jehr hatte bitten lajjen, willigte er jchließlich ebenjo regelmäßig ein und bat uns nur, „jeine Slinder‘ nicht zu „ver: ihänden“ Dann famen die Proben ; das waren Haupt: und Staatsaftionen ! Bald mußte man gewiſſe mots heureux heben, dann wieder über einen Reim hinweggleiten oder aber den Ton auf einen Halbvers legen. Selten war der Verfaſſer zufrieden : er langweilte uns furchtbar.

Die Mutter der Gräfin zeigte Ueberrejte ehemaliger Schönheit und jchien jehr flug zu jein. Wir hielten es durchaus nicht für ausgemacht, daß ſie nicht etwa durch ihre frühere Dingebung die blendende VBerjorgung ihrer Tochter vorbereitet hatte. Ein dreiundzwanzigjähriger Neffe, . . . und einreizendes kleines Töchterchen, Amelie, vervollitändigten die Familie. Zuerſt wollten jie nur eine bejcheidene Wohnung annehmen und nahmen an unjeren Mahlzeiten Iheil. Später fanden jie das Quartier zu vejchränft und jahen ein, daß der Menjch nicht nur Ejjen und Trinfen braucht, jondern daß er auch noch andere unabweisliche Bedürfnifje hat. Sie ver: jtanden jich aljo dazu, auf das Berjprechen der jtrengiten Disfretion hin eine ziemlich reichlich bemejjene Benfton anzunehmen. Nach ein paar Monaten äußerten jie den Wunſch, ihr eigenes Häuschen zu haben; ein Heim für fich it ja jo ſüß! Sofort be- famen jie eine niedliche fleine Billa, eine viertel Meile vom Schlofie gelegen. Aber zu einer neuen Wohnung gehört jo viel!..... Die Mama übernahm es aljo, der Gräfin Branidi die Verlegenheit anzudeuten, in welche jie jener Zuwachs an Komfort geitürzt hatte. Sogleich wurden die betreffenden Weijungen gegeben und das Yandhaus in den Stand gejeßt, jeine neuen Gäjte zu empfangen. Es fehlte an nichts: Die Zimmer wurden einfach aber elegant möblirt, die Schränfe wurden gefüllt, der Taubenjchlag wurde ge: füllt, der Garten geharft, die Wege wurden mit Sand betreut, jogar an Remiſe und Pferdejtall war gedacht, denn die Familie brauchte ja Berörderungsmittel, um zum Sclojje zu gelangen. Onkel war zu alt und Amelie zu jung, als daß jie ein jo großer Weg nicht hätte angreifen jollen.

Die Memoiren der Gräfin Potoda. 221

Die Ueberhäufung einer ausländijchen Familie mit jo vielen Woplthaten erregte Neid, und wenn ein derartiges Gefühl jemals entjchuldbar jein fann, jo war das hier der Fall, in Anbetracht der Art und Weije, wie jene Wohlthaten erwidert wurden. Ta gab es unaufhörlich Vergleiche zwiſchen Bergangenheit und Gegenwart, verlegende Anjpielungen oder unzarte Klagen. Wenn ein Fremder unjere Emigranten wegen der wirklich reizenden Billa beglüd: wünjchte, antwortete man ihm durch einen tiefen Zeufzer, einen Bid der Entjagung, durch einige unzujammenhängende Worte, Die bejagten: „Das it ganz gut für Andere aber für uns !" Und dann jprad) man von Schlöfjern, die man fich gezwungen gejchen hatte zu verlajjen, von dem herrlichen und dem üppigen Leben, das man auf ihnen geführt hatte. Bon da bis zum Marjchall Bajlompierre und der Freundſchaft, welche den großen König und jenen großen Mann verbunden hatte, war nur ein Schritt, dun wenn diejer Boden einmal betreten war, dann gab es fein Aufhalten mehr. Die Seufzer wurden zu Thränen und die Anjpielungen zu Beleidigungen.

Da trat ein für die Bafjompierres überaus peinliches Miß— gejchtef ein: der Bejuch Ludwigs KVIIL, der auf der Neije nad) Mitau, wo ihn Kaiſer Paul veranlaft hatte, jeine Nefidenz auf: zuichlagen, in Bialyitod abjtieg. Er reitte unter dem Namen eines Grafen von Lille. Man hatte für ihn die für Souveräne beitimmte Zimmerflucht in Stand gejegt, und er wurde mit allen jeiner Ge— burt und jeinem Unglück jchuldigen Rüdjichten behandelt. Die Gräfin Branidi verfügte jich zu jeiner Bewillfommnung aus ihren Semächern in den Empfangsjalon. Er jchten von jeiner Nufnahme jehr angenehm berührt zu jein und vergalt jie durch ein Aufgebot von außerordentlicher Liebenswürdigfeit. Ich war noch nicht alt genug, um ihn beurtdeilen zu fünnen, aber er gefiel mir, denn er hatte ein qutmüthiges und offenes Wejen. . . . ..

Wir waren jehr gejpannt darauf, wie er die tilluitre erilirte ‚samilie aufnehmen würde. O weh! Es erfolgte eine von jenen Enttäujchungen, die man jchwer überwindet. Der König fannte ſie garnicht! Weder den Marquis noch den Grafen, weder Die junge Gräfin noch die alte Mama! Na er behandelte die Stützen des Throns, die er niemals gejehen hatte, und die nichts gethan hatten, das wanfende Königthum zu jtügen, jogar etwas von oben herab! Sein Begleiter d'Avary, überrajcht über das Air, welches jich unjere Bajjompierres gaben, hielt jich für verpflichtet, uns mit:

222 Die Memoiren der Gräfin Potoda.

zutheilen, was er von ihnen wußte: es waren zwar wirkliche Bajjompierres, aber eine arme und heruntergefommene Linie, Die nichts geerbt hatten al einen auf Erinnerungen gegründeten Hoc: muth, und zu den Erinnerungen gehörten auch jene Schlöjjer, von denen jie unaufhörlich jprachen. Die Revolution hatte jie nicht ruinirt, jondern bereichert. Sie hatten niemals einen jo angenehmen Haushalt wie den ihnen durch eine großmüthige Gajtfreundjchaft gebotenen bejejien.

Dieje Aufklärungen änderten an dem Benehmen der Gräfin Branidi nichts; bis an ihren Tod fuhr fie fort, ihre Gäſte mit Wohlthaten zu überhäufen. Die junge Gräfin profitirte übrigens von der Lektion: fie jprach weniger von Paris, das jie niemals gejehen hatte und enthielt fich der für ung wenig jchmeichelhaften Vergleiche zwijchen dem Lande, das jie hatte verlafjen müſſen, und dem, wo jie eine jo noble Aufnahme fand. Bon nun an trug fie ihre Wäjche, ohne länger zu wagen, jich über den Geruch der polnijchen Seife zu bejchweren, und da der König ganz entzüdt über das gute Ejjen gewejen war, worauf er einen jehr hoben Werth legte, glaubte ſie jich von nun an von der Verpflichtung frei, beim Genufje der Suppe den Mund zu verziehen.“

Berjönliche Erinnerungen und Familtentraditionen machten aus Gräfin Anna die glühende polnische Patriotin, als welche jie gelebt hat und gejtorben ijt, aber wenn die Idee der nationalen Unabhängigfeit den Inhalt ihres geijtigen Lebens ausmachte, jo wurde dejjen Form bejtimmt durch die franzöfiiche Bildung, und das war theilweije das Werf der Bajjompierres, die von nun an durch eine tragifomische Bosheit des Schickſals in der Gejchichte unsterblich jein werden, danf dem Talent einer Hafjiichen Stiliſtin, das jie jelber beigetragen haben, zu erweden: „Erzogen inmitten von Diejen Franzoſen eignete ich mir injtinktiv den Geiſt ihrer Sprache an, und bejchäftigte ich mich mit Vorliebe mit ihrer Yiteratur. Leidenjchaftlich liebte ich ihre Plauderei, die bald geiſt— reich und leichtfertig, bald lehrreich und ernit, aber doch immer von einer gewiſſen Heiterfeit war, jelbjt bei den ernjtejten Diskuſſionen, zu welchen die Politik Anlaß gab. Denn es waren Franzoſen der alten Zeit, welche, im Grunde genommen, über Alles lachten und bejtrebt waren, das Leben fo wenig ernjthaft zu nehmen, wie nur möglich.“

In noc höherem Mahe als der Familie Bajjompierre ver: dankte Gräfin Anna ihre intelleftuelle Kultur der franzöfiichen

Die Memoiren der Gräfin Polocka. 223

Borlejerin ihrer Großtante, dem Fräulein Duchene, einer geborenen Bartjerin. Dieje Dame beſaß feine Manieren, jo viele Kenntniſſe „wie ein wandelndes Slonverjationslerifon‘ und wußte zahlreiche „anecdotes eurieuses“. „Ich verdanfe ihr zu einem großen Theil das Wenige, was ich wei. Madame de Bajjompierre, deren Erziehung jtarf vernachläffigt worden war, hatte ihr noch mehr zu verdanfen als ich.“

Ieden Abend von jieben bis neun Uhr hatte Fräulein Duchene im Salon vorzulejen, und der ganze Hof, welcher die Wittwe des Stajtellans von Krakau umgab, durfte zuhören, aber nur unter der Bedingung, dak man fich ruhig verhielt. Die Vorlejerin hatte den aanzen Tag über nichts zu thun als nur während diejer zwei Stunden, die von der Schloßherrin dazu verwendet wurden, ich au courant der Zeitungen und literarijchen Neuigkeiten zu halten. Soweit dieje die Zeit nicht ausfüllten, las man die Klaſſiker, und die Gräfin Branidi, die jo tolerant war, daß fie niemals revidirte, wer an der täglich gelejenen Meſſe theilnahm und wer nicht, duldete, daß neben dem fatholiichen Chateaubriand auch der radifale Roufjeau vorgetragen wurde.

Das iſt mit einer einzigen Ausnahme, auf die wir noch zurüdfommen, Alles, was Gräfin Anna während ihres ganzen Lebens gelernt hat. Für unjere deutjchen Begriffe it es geradezu ein Wunder, wie dieje Halbfranzöjin es angefangen hat, ohne Die Grundlage eines gediegenen Wijjens eine jo hohe Bildungsitufe zu erreichen. Denn wer wollte jic) wohl vermejjen, einer Dame, bloß weil ihr der trodene Wifjensjtoff mangelt, echte Bildung ab- zujprechen, wo ihre Memoiren doch Ejprit, geijtige Gewecktheit, Feinheit, Geſchmack, Humor, Menjchenfenntnig und Gefühl zeigen und von einer jeltenen Begeijterung für alles Hohe und Herrliche durchweht jind! Natürlich hat eine jo oberflächliche, Hauptjächlich auf die Bollendung der Form gerichtete Bildung ihre großen Schwächen; dazu gehört 5. B. der Aberglaube, dem Gräfin Anna wie die meilten Bolinnen im außerordentlichen Maße ergeben war. Ste zweifelt nicht an der Exiſtenz übernatürlicher Mächte, welche das tägliche Leben der Menſchen beeinflujjen, und welche durch dazu begabte Perſonen jo bejchworen werden fünnen, daß jie Nede und Antwort jtehen müjjen. Solche übernatürliche Mächte exiſtiren nach der Anficht unjerer Autorin jicher; nur it es einer Katholikin nicht erlaubt, ich an jie zu wenden, oder man muß wenigjtens, wenn man es gethan hat, nachher zur Beichte gehen. Freilich

224 Die Memoiren der Gräfin Potoda.

fonnte einer jo gejcheidten Frau die Wahrnehmung nicht ent: gehen, daß jene Auffafjungen in einer unauflöslichen Disharmonie mit der Voltaireſchen Weltanjchauung jtanden, welche das Zeit: alter beherrjchte. Aber fie empfand nun einmal nicht das Be: dürfniß, Die bezeichneten Widerjprüche in jich auszugleichen, und jie rechtfertigt diefen Mangel an wifjenjchaftlihem Sinn jo geilt- voll, liebenswürdig und beredt, daß man ein gelehrter Pedant jein müßte, wenn man ihr ihren Mangel an philoſophiſcher Methode nicht aus vollem Herzen vergeben wollte: „Doch lebe die gute alte Zeit!" jagt jie, „wo man an Alles glaubte. Zuerft glaubte man an die Vorjehung, und das vereinfacht die Dinge jehr. Dann glaubte man an das Paradies, und das macht jehr viele Leiden erträglich. Man glaubte an die Jugend und an die Pflicht, jeine jündigen Triebe zu befämpfen, denn die geijtreichjten Autoren, die entzüdenditen Romanjchriftiteller hatten noch nicht bewiejen, daß Ddiejer Widerjtand mindejtens überflüjlig it, da die Yeidenjchaft ja alle Seitenjprünge rechtfertigt. Man glaubte an die Wunder, an uneigennüßige Liebe, an hingebungsvolle Freund: ichaft, man glaubte jogar an Dankbarkeit!

Nach den erniten Glaubenslehren famen die verführeriichen und entbehrlichen Glaubenslehren, die, aus welchen man jich in jeinem Gewijjen einen Vorwurf machte, und deretwegen es ber: fümmlich war, zur Beichte zu gehen! Man glaubte an Yiebes: tränfe, an Zauberformeln, an Ahnungen, an Wahrjagerinnen, an Nitrologen, an Gejpenjter! Dieje Glaubenslehren brachten Dichter, Geiſterſeher, Seftirer, Helden und Narren hervor. Heutzutage aber wollen die jtarfen Geijter, die tiefen und pofitiv gerichteten Denfer, an denen das Zeitalter Ueberfluß hat, an nichts mehr glauben oder glauben an nichts mehr als an Hauſſe und Baifje, aber Gott weiß, ob Haufje und Baiſſe auf bejjeren Garantien beruhen, und ob man dabei nicht auch jehr oft hereinfällt.‘

Wir haben Alie unjere Vorurtheile, aber jelten tit die Gabe und die Kunſt, mit jo viel guter Yaune und Phantaſie jeiner Schwächen zu jpotten.

Wenn die Uhr im Salon der Gräfin Branida neun jchlug, ichloß Fräulein Duchene ihr Buch, und die Flügelthüren wurden für Diejenigen im Schlojje und aus der Nachbarſchaft geöffnet, welche feine literariichen Interejjen hatten. Man plauderte dann. Die Gräfin Branida, deren Bater mit Karl XII. eng lürt gewejen war, wußte viele intereflante Anefdoten aus dem Leben des Königs

Die Memoiren der Gräfin Botoda. 225

zu erzählen: Eines Tages waren die Lebensmittel ausgegangen; der König, welcher immer an der Spite der Armee ritt, jprang plöglich ab und riß einen Büchel Kraut aus der Erde, das er zu fauen begann. Nach einem Augenblid des Stillichweigens jagte er zu dem Bater der Gräfin, der ihm betroffen zujchaute: „Ich verjuchte, die Welt zu erobern; wenn es mir gelungen wäre, meine Truppen auf dieſe Weije zu ernähren, jo weiß ich, daß ich Alerander und Cäſar wenn nicht übertroffen jo doch mindejtens erreicht haben würde.“

Karl fürchtete jich vor einer einzigen Macht in der Welt, vor der der Schönheit; hübjche rauen fonnten fich rühmen, einen ‚seigling aus ihm gemacht zu haben; jie jagten ihn in die Flucht. „So viele Helden,“ jagte er, „ind dem Liebreiz eines jchönen Gefichtes erlegen. Hat nicht Alexander, den ich bejonders liebe, eine Stadt verbrannt, einem albernen Freudenmädchen zu Gefallen. Ic will, daß mein Leben über eine derartige Schwäche erhaben jein joll, und daß die Gejchichte diejen Flecken an mir nicht findet.

Eines Tages meldete man ihm, daß ein junges Mädchen für einen blinden adhtzigjährigen Vater, den Soldaten mißhandelt hatten, von ihm Gerechtigfeit erflehen wolle. Der König, der jo jtreng auf Disziplin hielt, machte eine Bewegung, als ob er zu der Bitt- jtellerin hineilen wollte, um von ihr jelber die näheren Umjtände des Erzejies zu erfahren. Aber plöglich hielt er inne und fragte: „sit ſie hübſch?“ Und da man ihn verjicherte, daß fie mit großer Jugend eine bemerfenswerthe Schönheit verbände, jo ließ er ihr jagen, jie jolle ſich verjchletern, jonjt fünne er ihr fein Gehör geben.

Soweit die Gejchichten von Karl XII. Auch über Friedrich den Großen hörte Gräfin Anna verjchiedene Anekdoten und zwar aus dem Munde der galanten Füritin Iſabella Ezartorysfi der Mutter des berühmten Fürſten Adam zartorysfi.*) Es wird preußijche Yejer amüfiren, zu vernehmen, was die Bolin über den Näuber Wejtpreußens zu berichten weiß: Am Hofe von Sansjouci vorgeitellt, hatte jie eines Tages Gelegenheit gefunden, fich in jein

*) Ich habe dem Fürften Adam im Hlten Bande der „Breußifhen Zahr- bücher“ S. 578 einen Efjay gewidmet. In der Edition der Memoiren der Gräfin Potoda find einige auf die Fürjtin Iſabella bezügliche Zeilen nur durch Punkte angedeutet; fie beziehen fib vieleicht darauf, dag ihr Sohn Adam nicht das Kınd ihres Gatten, des Fürften Adam Caſimir Gzartorgsfi, geweſen tit, fondern, wie menigitens Theodor

von Bernhardi in feiner „Geſchichte Rußlands“ annimmt, einer Liaifon der Fürftin mit dem ruffiihen Feldmarſchall Repnin fein Leben verdantte.

Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 2 15

226 Die Memoiren der Gräfin Botoda.

Arbeitszimmer hineinzuglifjiren in dem Augenblid, in welchem er e8 gerade verlafjen hatte. So gewann die Fürſtin, wie jie glaubte, einen Einblid in des Bhilojophen von Sansjouci geheimjtes Walten und Weben, und fie will da Folgendes entdedt haben: Auf einem mit Papieren und Starten bededten Schreibtiich Itand ein Teller mit Kirchen, auf dem fich ein Zettel mit den höchjteigenhändig ge: jchriebenen Worten befand: „Achtzehn find noch d'rauf!“ In der Ede lag auf einer Caufeuje eine alte Hujaren= (sie!) Uniform, die darauf zu warten jchien, billig geflict zu werden. Neben einem offenen Briefe von Voltaire erblidte man die Nechnung eines Hof: lieferanten, eines Ktolontalwaarenhändlerd. Mufifnoten waren un- ordentlich auf ein Pult geworfen, und nicht weit von diejer Ver: jinnbildlichung der Harmonie erjchaute man einen furulijchen Stuhl, ähnlich dem auf dem Kapitol, nur mit dem Unterjchied, day der eine von rothem Marmor tft, während der andere aus ordinärem Holz war und nichts an fich hatte, was jeinen efelhaften Zwed verdedt hätte: „‚zür einen König ein jonderbares Arbeitszimmer !“ fügt Gräfin Anna Hinzu. Und weiter meint jie: „Ohne Zweifel veritand Napoleon einen viel bejjeren Gebrauch von jeinem Er- oberungsrecht zu machen als Friedrich von jeinem Geburtsrecht."

Die Ezartorysfa wollte ferner willen, daß für die Berlin be: rührenden Neijenden unendlich viel Takt und Gefchielichkeit dazu gehört hätten, um zwijchen den beiden Höfen zu laviren. Der König hatte jeinen, der ji) nur aus Militärs und Gelehrten zu: jammenjeßte. Die Königin, welche er niemals jah, vereinigte die eleganten Damen und den hohen Adel um jih. Wenn man den einen bejuchte, wurde man von dem anderen jcheel angejehen. Es war beinahe ein Ausjchliefungsgrund. Wenn der König von jeiner rau jprach, was jelten vorfam, nannte er jie immer nur die alte Kuh, vice versa nannte fie ihn den alten Schuft oder den alten Filz.

‚stiedrich jprühte von Geijt, aber er war jchroff und wenig liebenswürdig: weit bejjer gefiel der Czartorysfa Joſef II., den fie Gelegenheit gehabt hatte, genau fennen zu lernen, da fie zu jenem fleinen Kreiſe gebildeter Frauen gehörte, in deren Mitte der Monarch fi) nach gethaner Arbeit zu erholen pflegte. Umſo wider: wärtiger war ihr Kaunitz, dem jie einer jedes Map überjteigenden Unverjchämtheit anflagt: Auf Diners mußte jein Kammerdiener nach Beendigung der Mahlzeit ihm einen Spiegel, ein Beden und eine Zahnbürjte bringen, und dann wiederholte der Fürſt die Pflege

Die Memoiren der Gräfin Rotoda. 227

jeiner jchönen Zähne wie am Morgen, gleich al8 ob er jich allein in jeinem Anfleidezimmer befinde, während alle Anderen warten mußten, bis er fertig war; vorher wurde die Tafel nicht auf: gehoben.

Einmal war zu einem Diner neben dem ‚sürjten Kaunitz ein venetianijcher Nobile, Namens Grandenigo, eingeladen. Der Fürft, der in guter Zaune war, machte ic) das Vergnügen, das Wort an ihn zu richten und ihm zu jagen, er jei ein großer Ochs. Der arme Italiener, der fein Franzöſiſch veritand, fragte, überrajcht von dem ungeheuren Gelächter, feinen Nachbarn nad) der Urjache: „Das fommt daher“, antwortete Diejer, „weil Seine Hoheit liebt, dag man an feiner Tafel luſtig it.“ Den Venetianer befriedigte aber dieſe Antwort nicht ganz, er blieb zerjtreut und jah die Schüffeln nicht, die ihm gereicht wurden. Als der Fürſt bemerfte, daß dieje Zerjtreutheit das Serviren jtörte, jagte er ganz laut zu dem Gajtgeber: „Warum haujt Du ihm nicht eine 'runter?“

„Wenn man derartige Details hört‘, fügt Gräfin Anna hin— zu, „jollte man nicht glauben, daß jeitdem mehrere Jahrhunderte verflofjen wären?“

Die Verfaſſerin unjerer Memoiren meint, für ein junges Mädchen wären zwei Dinge unvereinbar mit einander, die Moral und die Bhantajie: „„Le genie du Christianisme*“ war joeben er: ſchienen. . . . Sch warne die Mütter, ihre Töchter diefe religiöfe Poeſie lejen zu laſſen. . . . ... Herr von Chateaubriand hatte, ich verjtehe ihn, die beiten Abjichten, er wollte, daß ein unflares Yiebedürfnig tournät au profit de dieu; (die deutjche Sprache verjagt bei dem Berjuche diefe Wendung zu überjegen), aber, ich wiederhole es, dieſes Buch iſt für fünfzehnjährige Mädchen gefähr: ich; es bringt eine Wirkung hervor, die der vom Autor beabfichtigten geradezu entgegengejegt iſt.“

Daß junge Damen von Liebe überhaupt garnichts hören jollen, erjcheint und Deutjchen mit Necht als widernatürlich und ver: ihroben, es iſt das indejjen innerhalb der Sphäre der franzöfifchen Bildung eine andere Zache; hier iſt eine in der angegebenen Weije forcirte Mädchenerziehung injofern begreiflich, als in diefem Kultur— freije die reine Klonvenienzehe herricht. Die zur Jungfrau erblühte Komtejje Anna jträubte ſich zunächſt gegen ein jolches Schidjal, aber die Verhältniſſe zeigten fich jtärfer als ihr jugendlicher Wille: „sc war die einzige Tochter, die Erbin zweier aroßer Vermögen, ıh hatte einen jtolzen Namen, angenehme Züge, eine jorgfältige

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228 Die Memoiren der Gräfin Potoda.

Erziehung. Sc war mit einem Worte das, was man übereinge: fommen it, eine gute Partie zu nennen... .. Mein Geijt und mein Herz hatten jich, ich weiß nicht recht wie, mit einer gewiſſen kindiſchen Schwärmerei erfüllt, die durch die Lektüre der großen Dichter genährt wurde, denn die hatte man mir ja nicht verbieten fönnen. Sch wollte Helden wie die Nacines, oder Nitter jo wie Tancred. Ic jehnte mich nach tiefen Yeidenfchaften, nach mit Naturgewalt plöglich über einen fommenden Sympatbhien, nad) großen und erhabenen Thaten. ch wartete. Aber als ich ſchließ— [ich jah, daß weder Britannicus noch Gonjalvo de Cordova famen, und daß ſich mir vermuthlich nicht einmal Grandijjon bieten würde, da bequemte ich mich, aus meinem Himmel herabzujteigen, und dachte traurig, ic) müßte der Gejchichte ein Ende machen und mid) verheirathen wie alle Anderen auch, nach Maßgabe der Vernunft und der Stonvenien;.

Es wurden meinen Eltern verjchtedene Partien vorgejchlagen. Die einen fonvenirten ihnen nicht, denn jie waren ihnen nicht glänzend genug, die anderen jchienen mir unthunlich, weil jie mir nicht ſympathiſch waren. Aberendlichnäbertefich GrafAlerander Botodi, und da er gleichfalls eine der bejten Bartien in Bolen war, jo wurde er ohne Bedenken acceptirt. Unjere Eltern hatten jchon Alles brieflich abgemacht, und als Potocki nach Bialyjtod fam, wußte er im Voraus, daß er feinen Korb befommen würde.“

„Einen blajirten Dandy“ nennt Gräfin Anna ehrlich ihren Gemahl, und fie fügt hinzu, es habe feinerlet Wahlverwandtjchaft zwijchen ihren Charakteren und Gejchmadsrichtungen beitanden. Nichtsdejtoweniger fühlte fie jich in der erjten Zeit ihrer Ehe, die jie auf dem bei Warjchau gelegenen Willanow, ehemals einer Be- ſitzung Sobiesfis, zubrachte, recht glüclich, und es grämte jie nur, daß ihr Mann die Neigung jeiner jungen Gattin nicht allzu leb— haft zu erwidern jchien. Als fie eines Sommerabends mit ihm am Ufer der Weichjel unter vielhundertjährigen Eichen bei Mondfchein jpazieren ging, brachte fie die Unterhaltung auf das Gemüthsleben und behauptete, daß es fein anderes Glüd auf diefer Welt gäbe al8 gegenjeitige Zuneigung, die aber ebenjo innig wie dauerhajt ſein müſſe.

Für die überaus beſcheidenen geiſtigen Kräfte des jungen Gemahls war dieſes Gejprächsthema ſchon viel zu abſtrakt. Er ließ jeine romantische Lebensgefährtin eine Zeit lang jchwärmen, dann zog er jeine Uhr und bemerkte, es wäre jchon jpät, auch

Die Memoiren der Gräfin Botoda. 229

wären die Mücken unerträglich, und fie wollten deshalb Lieber hineingehen.

„Der Ton, den ich angeſchlagen hatte, war jo verſchieden von dem, in welchem er nur diefe Bemerkung machte, daß ich, in meinem - Zimmer angelangt, in Tränen ausbrad) und entdedte, daß ich die unglüdlichjte Frau der Welt jei, weil ich jo wenig gejchäßt wurde.“ Graf Alerander gelangte auch jpäter nicht zu einer gerechteren Werthſchätzung jeiner geijtreichen Frau, in welcher er nur die Forte pflanzerin und die Repräjentantin jeiner alten Familie erblidte. Trotzdem verlief die Ehe eine Reihe von Jahren hindurch normal, was theilweije das Berdienit des von ihr hochverehrten Schwieger: vaters der Gräfin Anna war. Graf Stanislaus Potocki war, mit dem Maße der ariitofratischen Salonbildung des vorigen Jahrhunderts gemeſſen, ein jehr unterrichteter Mann; „er wußte Alles“, wie die Schülerin von Fräulein Duchene naiv jagt. Unter Anderem war er ein feinfinniger Kunſtkenner, und esmachte ihm Freude, in jeiner Schwieger: tochter die Liebe zur Kunſt zu entwiceln, welche ihre Mutter ihr jchon eingeimpft hatte, und welche von nun an eine der großen Leiden ichaften ihres Lebens’ zu werden begann. Am liebjten würde fie den ganzen Tag gezeichnet haben, und für den Landſitz Natolina, welchen jie jich mit ıhrem Gatten neu erbaute, entwarf fie jelber alle Pläne: „Wenn es uns an Geld fehlte, verfaufte ich Diamanten, um Marmor und Bronze faufen zu fünnen. Mein Mann jchien meinen Gejchmad zu theilen und, obgleich fühl und wenig zugänglid) für Begeilterung, freute er fich doch mit Stolz meiner Schöpfungen. Glückliche Zeit, wo meine Schlaflojigfeit niemals eine andere Ur— jache hatte als die überjtrömende Fülle meiner Bhantajie! Wie oft träumte ich mit offenen Augen! Mit welcher Ungeduld er: wartete ich den Anbruch des Tages, um die Jdeen auf das Papier zu werfen, welche in der Stille der Nacht in mir aufgejtiegen waren !“

Um die Zufriedenheit der Gräfin voll zu machen, wurde auch der heiß erjehnte Stammbalter geboren. Die Gräfin bejchreibt jehr ihön ihre erjten Mutterfreuden: „Ich habe nachher noch zwei Kinder gehabt, aber ich habe niemals die Empfindung wiedererlebt, welche jich in mir bet dem erjten Schrei jenes erjten Kindes regte. Meine Freude war ein Delirium, das für einige Minuten das Gefühl meiner Schwäche aufhob ; ich verjuchte, mich zu erheben, um meinen Sohn zu jehen. Aber ich fiel rückwärts, erichöpft durch die ausgejtandenen übermäßigen Schmerzen.“

230 Die Memoiren der Gräfin Potoda.

Inzwijchen war in Rußland Kaiſer Mlerander I. ans Ruder gefommen, von dem es ein öffentliches Geheimnig war, daß er Oeſterreich und Preußen ihre polnischen Yandestheile abzunehmen beabjichtige, um jodann ein mit Rußland nur durch Berjonalunion verbundenes Stönigreich Polen wiederherzujtellen. Aber zunächſt hatte Alerander die beiden anderen Oftmächte nöthig, um im Berein mit ihnen den nicht länger aufzujchtebenden Krieg gegen Wapoleon durchzuführen. Um die Alltanz mit Friedrich Wilhelm III. zu ge winnen, begab der Kaiſer fich nach Berlin und bei diejer Gelegen— heit war er in Willanow der Gajt des jungen Potockiſchen Ehe: paares: „Der Kaiſer war jung und jchön,“ jchildert ihn unjere Berfajjerin, „aber obgleich er eine jehr vortheilhafte Figur hatte, fam jeine Haltung mir nur elegant nicht auch wiürdevoll und föniglic) vor. Seinem Auftreten fehlte jene Ungezwungenbeit, welche eine hervorragende Stellung und die Gewohnheit, zu be: fehlen, zu verleihen pflegen. Er ſchien verlegen zu jein ; jeine über: triebene Höflichkeit hatte etwas Banales, und Alles, bis zur Steif- heit der unglaublich engen Uniform, ließ ihm viel eher als einen netten Offizier denn als einen jungen Monarchen erjcheinen.

Die damaligen Herren von Warjchau, die Preußen, erlaubten dem Kaiſer nicht, die Stadt zu paſſiren, weil jie den Enthujias- mus fürchteten, den jeine Anwejenheit erweden fonnte, weil man damals mit Bejtimmtheit behauptete, er jtände im Begriff, Jich zum König von Polen zu erklären. Und das war es, was uns die Ehre diejes Bejuches eintrug, denn der preußijche Kommandant von Warjchau hatte den Befehl erhalten, Alexander entgegen zu jahren und ihn auch wieder bis zur Grenze zu begleiten, eine Ehrenbezeigung, die Niemanden täujchte, und über die Jedermann lacht—

Wir waren im Ganzen ſechs Perſonen bei Tiſch; der Reſt des Gefolges in einem beſonderen Saal. Wir hatten oben am Tisch ein Kouvert A part auflegen laſſen; der Kaiſer jchien davon nicht angenehm berührt zu jein und rücte jeinen Sejjel nahe an meinen Stuhl. Er wenig und jprad) viel. Seine Unterhaltung war einfach und zurüdhaltend; jie machte nicht den Eindrud, als ob er große Fähigfeiten hätte, aber e8 war unmöglich, ihm Schwung der Ideen und eine außerordentliche Mäßigung abzu: Iprechen. Die Generale, welche jeine Suite bildeten, waren nicht jo bejcheiden; fie fragten uns, ob wir etwas in Paris zu bejtellen hätten, indem ſie ſich eimbildeten, daß ihre Eroberungen und

Die Memoiren der Gräfin Botoda. 231

Triumphe erjt dort ein Ende haben würden. Es verging aber nur ein Monat nach der Abreije unjeres erhabenen Gajtes, da ver: nahmen wir, daß er bei Aujterlig gejchlagen worden war und jich, ohne anzubalten, bis nach Petersburg zurüdgezogen hatte.

Sch fomme auf das Diner zurüd, das jehr lange dauerte. Alexander war harthörig, und, wie alle Tauben jüngeren Alters, affeftirte er, jehr leije zu sprechen. Man wagte nicht, ihn zu fragen, was er gejagt hätte, und antwortete aus Ehrerbietung jehr oft irgend etwas Beliebiges.

Nachdem wir aus dem Speijezimmer in den Salon gegangen waren, verweilte er bier noch zwei qute Stunden, indem er fort: während jtand. Man behauptete, daß er fich in jeiner Uniform jo beengt fühle, daß jede andere Haltung ihm läjtig würde. Gegen Mitternacht zog er ſich endlich zurüd, indem er von den beiden Schlafzimmern, die ihn zu empfangen bereit waren, das einfachere wählte.“

Auf Auſterlitz folgte Jena; der Krieg wälzte jich an Die Weichjel, und Warjchau wurde von den Franzoſen bejegt: „Zwei Tage nach jeiner Ankunft lieg Prinz Murat mir jeinen Bejuch anmelden und fam Abends mit einer zahlreichen Suite herauf. Das war ein grand homme oder vielmehr ein homme grand, mit einem jogenannten jchönen Gejicht, das aber abſtieß, denn es war ohne Adel und vollitändig ausdrudslos. Er hatte den majejtätiichen Gefichtsausdrud des Schaufpielers, der einen König giebt. Man bemerkte leicht, daß jeine Manieren angenommen waren, und daß er für gewöhnlich andere hatte. Er drückte jich nicht .üibel aus, denn er achtete jehr auf ich, aber jein gascogner Accent und einige gar zu ſoldatiſche Ausdrüde jtraften den Prinzen an ihm ein wenig Yügen. Er liebte es, jeine Waffenthaten zu erzählen und jprach uns mindejtend eine Stunde lang vom Strieg. Die Einnahme von Lübeck war fein Lieblingsthema .... Es war das auch wirklich eine jchöne Waffenthat, aber davon erzählen hören war weniger angenehm. Das Blut riejelte in den Straßen, Die Pferde bäumten jich vor den Leichenhaufen. Diejes gar zu getreue Bild des Krieges war nicht tröjtlich für uns arme ‚rauen, die wir alle diejenigen, welche uns theuer waren, zu den Waffen itrömen ſahen ......

Endlich jtand er auf, grüßte mit Würde und jagte uns, daß er in jein Stabinet zurückkehren müjje, um die Yandfarte von Polen und die Stellungen der rufjiichen Armee zu jtudiren.“

232 Die Memoiren der Gräfin Potoda.

So jehr die Vernichtung der preußijchen Herrichaft die Gräfin Anna beglücdte, jo wenig nimmt fie in ihren Memoiren eın Blatt vor den Mund, wenn es ſich um die Schilderung von Mängeln hervorragender franzöſiſcher Berjönlichfeiten handelt. So erzählt jie 3. B.: „In den Slantonnements wurden die höheren Offiziere auf Koſten der Grundherren bewirthet. Ein reicher Edelmann, der einen der berühmtejten Marjchälle glänzend aufgenommen hatte, war am anderen Morgen nicht wenig überrajcht, zu hören, daß mit den Feldfalejchen des Heros zugleich jein Silbergejchirr verjchwunden war. Das ging ihm über den Spaß, und er zeigte e8 dem Saifer an, der, entrüjtet über dieje Handlungsweije im befreundeten Lande, die Silberjachen jofort zurüdjtellen ließ und dDiefe Zerjtreutheit auf die Nechnung der Leute des Mar: ſchalls jeßte.“

Als eine der erjten unter den großen Damen Polens empfing die Gräfin Botoda häufig die Führer der franzöfijchen Armee in ihrem gajtlicfen Hauſe. Zuweilen wurde gejpielt, aber meiſtens geplaudert. Auch der andere Schwager Napoleons, der Fürſt Borgheje, pflegte ſich regelmäßig einzufinden, aber Niemand be— fümmerte ji) um dieſes Halb idiotiſche Produft jejuitiicher Er— ziehung: „Sch werde niemals vergejjen, wie er in den furzen Intervallen, während deren die Unterhaltung ein bischen ernit wurde, ji) Stühle zufammenjuchte, jie mitten im Salon paar: weije aufitellte und ſich dann damit unterhielt, trällernd mit jeinen ſtummen Wartnern Gontre zu tanzen.... Da er erjit Oberit war, und der Kaiſer jeiner weiteren Beförderung einen Anjtrich von ©erechtigfeit zu geben trachtete, jo lancirte man jein Regiment in ein kleines Scharmügel, wo mehr Lorbeeren zu gewinnen als wirkliche Gefahren zu laufen waren. Der Oberjt war jehr jtol;, zum erjten Mal den Säbel gezogen zu haben und jagte jehr ernit zu Herrn von VBaugiron, den er bei mir traf: „Erzählen Sie 'mal der Gräfin, wie ich meine Sciabola gezogen habe!“

Die Kranzojen revanchirten jich aejellichaftlich zunächit Durch einen Ball bei Talleyrand, auf welchem auch der Kaiſer mit jämmtlichen Prinzen erjchten. „QIalleyrand galt für den liebens- würdigjten und geijtreichjten Mann feiner Zeit, aber, offen ge- jtanden, gab er jich feine Mühe, uns als jolcher zu erjcheinen. Die Eingeweihten behaupteten, daß Niemand gewandter jei und mehr zu brilliven verjtehe, aber wenn id) ihn nach der Wirkung beurtheilen dürfte, die er damals auf mich ausübte, jo würde ich

Die Memoiren der Gräfin Potoda. 233

jagen, daß er von Allem überjättigt und gelangweilt zu jein jchten, geldgierig, eiferfüchtig auf die Gunjt eines Herrn, den er verab— icheute, ohne Charakter wie ohne Grundjäge, mit einem Wort ein Ktrüppel an Seele wie an Xeib.

Sch kann die Ueberraſchung nicht jchildern, die ich empfand, als ich ihn fich jchwerfällig bis in die Mitte des Salons vorjchieben jah, eine zujammengefaltete Serviette unter dem Arm, eine ver: goldete Platte in der Hand, auf welcher er demjelben Monarchen, den er anderswo als Parvenü verhöhnte, ein Glas Limonade

Die Sache iſt jonderbar, und man wird es mir vielleicht nicht glauben wollen, aber diejenigen im Gefolge des Statjers, welche die meiſte Würde bejagen und ihm auf die mindejt jervile Art dienten, waren nicht die Träger der alten großen Namen, die fich ihm ans geichlofien hatten, auch nicht die fremden Prinzen, welche, um Kronen bettelnd, hinter ihm ber zogen, jondern gerade die neu ges badenen Großmwürdenträger, die von ihm gemachten Marjchälle und hohen Beamten. Savary war der Einzige, der jich bejtrebt zeigte, einen gnädigen Blick aufzufangen, alle Uebrigen zeigten jich durchweg rejpeftvoll, ohne jich wegzuwerfen ......

Der Kaiſer tanzte einen Contretanz, der jeiner erjten Ans näherung an Madame Walewsfa zum Vorwand diente... Wir erfuhren jpäter, daß Talleyrand jeine Ihätigfeit joweit ausgedehnt hatte, dieſe erſte Zuſammenkunft herbeizuführen und die vorhandenen Schwierigfeiten zu heben. Nachdem Napoleon den Wunſch ge: äußert hatte, eine Bolin zn jeinen Eroberungen zu zählen, wurde eine gejucht, wie er fie brauchte, wunderjchön an Körper und nichtig an Geiſt . . . . Sie verwirflichte die Gejtalten von Greuze ; ihre Augen, ihr Mund, ihre Zähne waren wunderbar. Ihr Yachen war jo frisch, ihr Bli jo janft, das Ganze ihrer Erjcheinung jo verführerijch, dag man niemals daran dachte, was etwa ıhren Zügen an Negelmäßigfeit abgehen fonnte. Mit jechzehn Jahren an einen adhtzigjährigen Mann verheirathet, den man niemals jah, hatte jie ın der Welt fajt die Stellung einer Wittwe. Ihre große Jugend, verbunden mit einer jo bequemen Situation, gab zu vielerlei Gerede Veranlafjung, und wenn Napoleon der legte ihrer Yiebhaber ge— wejen iſt, jo behauptete man, daß er nicht der erjte war.“

Das erjte Schäferjtündchen zwijchen dem Kaiſer und Madame Walewsfa fand gleich am folgenden Abend jtatt, zur großen Ent: rüjtung der polnischen Damen, die freilich feineswegs der Sache,

234 Die Memoiren der Gräfin Potoda.

jondern nur der Form galt: „Wir waren Alle außer uns, da eine zur Gejellichaft gehörende rau jo rajch Entgegenfommen gezeigt und jich jo wenig vertheidigt hatte wie die Feſtung Ulm.“

Auf den Wunſch des Kaiſers, der den politijchen Einfluß der polnischen rauen kannte, nahmen jich fait alle franzöſiſchen Offiziere innerhalb der Ariftofratie Maitreſſen: „Leider jehe ich mich genöthigt, zuzugeben, daß wenige Franzoſen über Graujamfeit zu flagen hatten.“ Auch Murat wollte auf dieſem blumigen Wege moralischen Eroberungen zu Gunjten Frankreichs nachgehen, und er hatte jich Niemand anders zur Maitreſſe auserjehen als jeine geijtreiche Hauswirthin Gräfin Anna: Eines Morgens meldete man ihr den PBrivatjefretär des Großherzogs von Berg, einen Herrn Janvier, der mit jehr verlegener Miene eintrat, einen Schlüjjel in jeiner Hand haltend. Nach zahlreichen fonfujen Andeutungen, die die Gräfin Potoda abjolut nicht verjtand, fand Janvier den Muth, zu jagen, daß Seine Hoheit nicht wage, mir zahlreich bejuchte Gejell- ichaften vorzujchlagen, daß jie aber gedacht hätte, es würde mir angenehm jein, zuweilen in dem eleganten und laujchigen Zwijchen- jtod mit ihr Thee zu trinfen: „Ich fing an, zu verjtehen, und mein Zorn entbrannte. Er mußte das in meinen Augen lejen, denn er fiel beinahe vom Stuhl. Dann jtand er jtolpernd auf und ging auf eine Konſole zu. Bier legte er den verhängnißvollen Schlüjjel nieder und machte mir eine tiefe Verbeugung, indem er jich anjchickte, zu geben.

Sch vermochte mich faum zu beherrjchen, mein Unwille war zu ſtark. Indem ich mich bemühte, möglichjt verächtlich zu lächeln, bat ich Herrn Janvier, er möchte dem Prinzen jagen, daß meine Schwiegermutter unzweifelhaft jeine Aufmerkſamkeit jehr hoch auf: nehmen würde, denn in ihrem Alter liebe man die zu großen Ger jellichaften nicht mehr, und es fünnte deshalb wohl jein, daß fie von dem liebenswürdigem Anerbieten Seiner Hoheit Gebraud machen würde, jedenfall würde ich, da er den Schlüfjel da ließe, ihn meiner Schwiegermutter übergeben. Dann grüßte ich mit dem ganzen Aufgebot meines Stolzes den armen Sekretär, ber wie ver: jteinert an der Thür jtehen geblieben war, und verließ den Salon.“

Der Großherzog von Berg war durch dieje Niederlage jeiner Avantgarde noch nicht entmuthigt und jchritt auf einem Ball jelber zur Attade, indem er die Gräfin Anna mit Fadaiſen überjchüttete. Erjt ziemlich ſpät erfannte er, daß er nicht durchdringen würde ; darauf bemerkte er pifirt: „Madame, Sie jind nicht ehrgeizig, Zie machen ſich aus Prinzen nichts.“

Die Memoiren der Gräfin Potoda. 235

Auf einer Soiree, die Napoleon im Schloſſe gab, lernte Gräfin Anna das rüde perjönliche Wejen des forjischen Parvenüs deutlich) fennen. Unmittelbar vor Beginn des Gercles hatten holländische Deputirte bei dem Kaiſer Audienz, die gefommen waren, um ihn zur Schlacht von Jena zu beglüdwünjchen. Im Kreiſe der verfammelten Gäſte bedauerte man die Müynbeers, da man wußte, daß fih Seine Majejtät eines unangenehmen Bor: falles wegen in der allerübeljten Laune befand. Da öffnete ſich die Thür des Saales mit Gepolter, und man jah die jchwerfälligen Holländer in ihrer jcharlachrothen Gala mehr hereinrollen als her: eintreten. Der Kaiſer jchubite jie und jchrie: „Vorwärts! Vor: wärts!" Ohne Zweifel war die Thür in dem Nugenblid, wo Napoleon an ihr erjchien, von den Holländern belagert gewejen; er jchubite die armen Deputirten, welche den Kopf verloren und der Eine über den Anderen purzelten: „An jedem anderen Ort würde dieje fomijche Szene Heiterkeit erregt haben, aber Ton und Geſichtsausdruck des Herrjchers waren unheimlich, und, offen ge: jtanden, würden wir dieſer Szene lieber nicht beigewohnt haben.“

Nun folgen drei Jahre, aus welchen Gräfin Anna feine er: wähnenswerthen Lebenserinnerungen gezeichnet hat; ihre Memoiren verjegen uns ziemlich unvermittelt in das ‚srühjahr 1810 und unter die vornehme Gejellichaft von Wien: „Sehr nett,“ jo erzählt die Gräfin, „brachte man jeine Zeit bei einigen unjerer Yands- leute zu. Eines der angenehmiten oder, genauer gejagt, eines der elegantejten Häujer war das der Gräfin Yandoronsfa, obwohl ſich die Herrin ein wenig zu öjterreichijch gerirte. Eines Abends, als wir, um einen Theetiſch ſitzend, jehr lebhaft über die legten Tages: ereignifje plauderten, fam Jemand herein und meldete die Ankunft eines Kurierd aus Paris. Wien hatte durch die Anwejenheit der Franzoſen viel gelitten; man jtand hier noch unter dem Eindruck trauriger Erinnerungen, und das Geheimnik, welches in Bezug auf neu angefommene Depejchen beobachtet wurde, rief Konſter— nation in der Stadt hervor.

Einige in Diejem glänzenden Salon vereinigte Polen aus: genommen verabjcheuten alle Anwejenden Napoleon grenzenlos.... So hörte ich z. B., wie man auf Grund unwiderleglicher That: jachen beweijen wollte, daß das Ungeheuer feig jei, und daß er bald in Blödjinn verfallen müßte, weil er an Epilepſie litte.... Der heftigjte wie auch der gefährlichjte jeiner Feinde war zweifels (08 der Korſe Pozzo di Borgo, der allein bejjer zu iprechen und

236 Die Memoiren der Gräfin PBotoda.

zu haſſen verjtand als alle an diejer Unterhaltung theilnehmenden Deutjchen zujammengenommen. Wir laujchten jeinen Prophe— zeiungen, als der ruſſiſche Botjchafter Graf Razumowski jich an- melden lieh.

Wir eilten ihm Alle entgegen und überhäuften ihn mit Fragen. Sein Gefichtsausdrud war unheimlich, er war tief erjchüttert, jeine Stimme verjagte ihm. Erſt nad) mehreren Minuten eines uns vorbereitenden Schweigens vermochte er ung mitzutheilen, daß dem geheimnigvollen Kurier, der Urſache der momentanen Angit, Marjchall Berthier in aufßerordentlicher Mijjion auf dem Fuße folge, um für feinen erhabenen Herrn um die Hand der Erzherzogin Marie Louife anzuhalten. Und noch mehr! Diejem gewejenen gemeinen Soldaten, dieſem Parvenü, dieſem neugebadenen Fürjten war die unvergleichliche Ehre bejtimmt, bei dieſem denfwürdigen Akt den Kaiſer und König per procuram zu vertreten!

Diefer ganz aufßerordentliche diplomatische Schritt war die ‚solge der geheimen Abmachungen, welche Metternich in Paris zu Stande gebracht und unterzeichnet hatte. . . . . Der Fürſt von Neufchätel fand an der Grenze einen der größten Magnaten des Yandes, den Fürſten Paul Eijterhazy.

Diefe Details, mit fieberhafter Aufregung erzählt, mußten wahr jein. Sie wirkten, als ob ein Blig die Leute zerjchmettert hätte, welche ji) um Razumowski drängten. Die Neaftion lieh nicht lange auf ſich warten: Nach einem Augenblid der Stumm— heit und der Starrheit ertönte in dem ganzen Salon, unwill- fürlich hervorbrechend, ein Schrei des Entjegens. Man tadelte empört die Unanjtändigfeit und Feigheit einer Verbindung, die dem niederträctigen Ufurpator die erite Prinzejiin Europas auslieferte.

Man hörte weiter nichts als Flüche und unterdrücktes Schluchzen. Die Damen hatten Nervenzufälle, und die Männer jteigerten ihre Gefühle jtufenweije vom Zorn zur Wuth: „ES giebt feine Gerechtigfeitt mehr auf der Welt!“ jchrien fie. Und die Damen jagten: „Es bleibt nichts übrig, als Europa zu verlafien und uns in Amerika anzujiedeln!“ Die zart Bejaiteten unter ihnen behaupteten, die junge Prinzejjin würde den Tod davon haben, und jo würde fich denn die ungeheure Entweihung nicht vollenden. Andere meinten, Napoleon würde vor Freude irrfinnig werden, und der Himmel würde ſolche Greuel nur zulafien, um den modernen Nebufadnezar dann umjo tiefer herabzuftürzen.

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Am Abend nach diejer jtürmifchen Soiree vereinigten jich diejelben Individuen zu derjelben Stunde, an demjelben Ort, denn, mochte man das, was vorging, auch noch jo jtreng verurtheilen, man verging Doch vor Neugier nach den geringiten Details. Es iſt leicht begreiflich, daß ıch bei diejfer Zujammenfunft nicht fehlte.

Fürst Ejterhazy hatte den Botjchafter in die Hofburg geführt, wo ihm, entgegen dem Herkommen und der Etifette, Wohnung angewiejen worden war. Bei jeinem offiziellen Einzuge in die Stadt mußte er eine Üchberbrüdung paſſiren, welche in der Eile über die Ruinen der von den abziehenden Franzojen in die Luft geiprengten Wälle gelegt worden war... ..

Am übernächſten Tage jchritt man zur ſtandesamtlichen Trauung und zur Uebergabe der jeit unvordenflichen Zeiten den Erzberzoginnen ausgeworfenen Mitgift, welche jich auf eine halbe Million Franken Gold beichränfte. . . ..

Während ihres Aufenthaltes in Wien machte die Gräfin Potocka auch die Bekanntſchaft des Fürſten von Ligne, der den Ruhm genoß, der geiſtreichſte und eleganteſte aller Grandſeigneurs, gewiſſermaßen das Ideal dieſes Standes, zu ſein: „Damals über ſiebzig Jahre alt, war er noch einer der geiſtreichſten und glänzend— ſten Kauſeurs ſeines Salons, unendlich viel bedeutender in ſeiner Konverſation als in ſeinen Werfen. Nachſichtig, umgänglich und gut, wurde er von ſeinen Kindern angebetet und liebte ſie, weil ſie liebenswürdig waren, denn für ihn hatte nur Werth, was dazu beiträgt, das Leben angenehm zu machen, und er glaubte ganz ehrlich, daß er einzig und allein geſchaffen wäre, um ſich zu amüſiren. Wenn man ihn in ſeiner Jugend dem Ruhm hatte nachjagen jehen, jo hatte er das gethan, weil er ihm neue Erfolge bei den Frauen zu verjprechen jchien, und weil man zuweilen reüfjjirt, wenn man in der Xage üt, ein Billet doux auf ein Zorbeerblatt zu jchreiben. Befiger eines bedeutenden Vermögens, das er, ebenjo wie jein Yeben, auf alle mögliche Art und Weije vergeudet hatte, ertrug er mit jtoischer Heiterkeit die Entbehrungen, zu welchen ihn jeine Berjchwendung verurtheilte. Seine bejcheide: nen Strohjtühle, jeine Hammelfeule, fein unjterbliches Stück Käſe regten zu taujend geiftreichen und jehr gut aufgenommenen Wißen an. Man hätte jagen mögen, daß er an Vergnügtheit gewonnen hatte, was ihm an Vermögen verloren gegangen war, und daß er arm jein wollte, wie jener Weiſe des Alterthums, der jeine Schäge ind Meer warf, um glüclich zu jein.

238 Die Memoiren der Gräfin PBotoda.

Die Fürſtin bejaß nichts von dem, was fie hätte haben müjjen, um auch als Philofophin zu gelten. Mann und Frau machten den Eindrud, als ob jie überhaupt garnicht diejelbe Sprache jprächen und jich jedenfall® niemals etwas zu jagen gehabt hätten.

Die Fürftin jtammte aus einem der edeliten Gejchlechter Deutjchlands, aber, wie alle adligen Mädchen diejes Landes, war jie arm und ferner ohne jeden Liebreiz oder Geijt; es war un: möglich, zu begreifen, was den Fürſten zu dieſer Hetrath hatte be: itimmen können, bejonders, wo er ein Gegner von Heirathen mit deutjchen Mädchen war. Seine alten Freunde erzählten eine Meußerung von ihm, die ihm entjchlüpft war, als er jeine junge Gemahlin zum eriten Mal nad) Brüfjel führte, wo fein Regiment in Garnijon jtand. Diejes Wort malte mit einem einzigen Zuge jeine Bosheit und jeinen grenzenlojen Leichtfinn: Als die Offiziere gemeinjam jich bei ihm einfanden, um der Fürſtin vorgejtellt zu werden, jagte er zu ihnen: „Meine Herren! Ich fühle mich durd) Ihre liebenswürdige Zuvorfommenheit jehr angenehm berührt. Ste jollen fie jehen; ich muß Sie aber leider jchon vorher darauf aufmerfjam machen: Hübſch it jie ganz und gar nicht, aber jie iſt wenigjtens jehr gutmüthig und jehr jimpel, und fie wird Niemanden geniren, mich auch nicht.“

Zu der Zeit, wo ich jie ſah, befand ich die Fürjtin jchon in einem jehr vorgerüdten Lebensalter und oft in einer reizbaren Stimmung, aber man kümmerte jich nicht darum. Es war herföümmlich, jie ihrer gewohnheitsmäßigen Handarbeit zu überlafien, und wäh— rend jie die furchtbariten Stickereien anfertigte, gruppirte man ſich um den Fürſten und jeine Töchter und plauderte mit einer Deiter: feit und eıner gejchmad- und anmuthvollen Feinheit, die ich jonit nirgendwo gefunden habe. Wie die Franzoſen aus der alten Ge: jelljehbaft behaupteten, hatte Jich die Konverſation der Pariſer Salons, nachdem fie durch die Revolution aus ihrem alten Domizil vertrieben worden war, in Diejes bejcheidene fleine Palais ge— Mchte

Als die Franzoſen im Jahre 1807 in Warſchau im Quartier lagen, hatte ſich Gräfin Anna in einen jungen Offizier, de Flahault, verliebt, aber dieſer Neigung gegenüber Grundſätze bewiejen. Seitdem hatte ſich jedoch das Verhältniß zwiſchen ihr und ihrem Gatten immer ungünjtiger gejtaltet und war beinahe auf das Niveau anderer polnischer Ehen heruntergejunfen. Jetzt entſchloß jich die Potoda, ihren Mann und ihre zwei Stinder zu verlajjen

Die Memorien der Gräfin Potoda. 239

und dem Geliebten nach Paris zu folgen, und ihr Gemahl gab ihr gleihmüthig wenn nicht vergnügt Neijeurlaub, während die Schwie- gereltern jo gefällig waren, einen jadenjcheinigen Reiſevorwand zu erjinnen, damit die Dehors gewahrt werden fonnten. Freilich waren auch fur; zuvor der folofjal begüterte Vater Annas und Tante Branida geitorben! In Paris angelangt, ließ fich die Potoda bei Hofe vorjtellen ; als Ausländerin mußte jie nicht nur dem Kaiſer und der Kaiſerin, jondern außerdem noch jeder Königin und Prinzejjin aus dem Hauſe Bonaparte fjeparatim vorgejtellt werden. Jede hatte ihren eigenen Tag. Die Gräfin mußte aljo jeden Morgen eine lange und ermüdende Toilette machen und die ihönjten Stunden des Tages mit dem An und Ausziehen des Hoffleide3 zubringen. „Abends ruhte man jich aus im Theater!“ Der Kaiſer empfing gegen zwölf Uhr in jeinem Arbeitszimmer: „Man führte jich mit den drei üblichen VBerbeugungen ein... .. Ver Kaiſer ſtand, eine Hand auf jeinen Schreibtifch geitügt, und maß die ſich voritellende Dame mit einen gnädigen Blid, in dem Falle, daß jie jung und hübjch war. Das war aber nur das Vorjpiel einer noch viel jchwieriger durchzuführenden Aktion. Beim Hinausgehen waren die drei Verbeugungen zu wiederholen, aber während der NRüdwärtsbewegung. Die Schwierigfeit lag nun in einem Galamantel von übertriebener Länge, den man durch einen leichten, unjichtbaren Stop mit dem Fuß nach hinten Ddirigiren mußte, darin zeigte man jeine Grazie und Vornehmbeit. Nach drei Lektionen konnte ich meine Ausbildung als beendigt anjehen.“ Die Gräfin Potoda, welche mit mehreren anderen Damen zu: gleich vorgejtellt wurde, fand bei Napoleon eine jehr gnädige Auf: nahme, denn fie war jung und hübjch, und ihr Schwiegervater war Minijterpräfident des Großherzogthums Warſchau: „Nachdem wir das Kabinet des Kaiſers verlajien hatten,“ berichtet unjere Autorin weiter, „treten wir in den Empfangsſalon der Kaiſerin, wo jich jchon viele Yeute befanden. Zie trat aus ihren Gemächern, umgeben von einem zahlreichen und glänzenden Hof. Der Ge: Ihmad, mit dem ſie angezogen war, lieh fie ein bischen weniger häklich erjcheinen, aber der Gefichtsausdrud blieb derjelbe. Niemals belebte ein gnädiges Lächeln oder ein theilnehmender Blick dieje hölzernen Züge. Sie machte ihren Rundgang von der Einen zur Anderen wie die mechanischen Puppen, die rollen, wenn man fie auf: gezogen hat, und zeigte ıhre vornehme aber jteife Figur jowie ihre großen, wafjerblauen, glajigen Augen von unveränderlicher Starrheit.

240 Die Memoiren der Gräfin Potoda.

Der Kaiſer ging ihr zur Seite, um ihr zuzuflüftern, was jie zu jagen hatte, bejonders den Perjonen, welche er auszeichnen wollte. Als ich an die Neihe fam, und die Dame, die mich vor: jtellte, der jungen Souveränin meinen Namen genannt hatte, hörte ich Napoleon ganz deutlich die Worte „überaus graziös“ murmeln. Sie wiederholte jie jo ohne jeden Chic und mit einem jo itarf ausgeprägten tüdesfen Accent, daß ich wenig davon befriedigt war.“

Gräfin Anna hatte in Paris eine Tante, die Gräfin Vincent Tyszkiewicz, Schwejter des berühmten polnijch-napoleonijchen Helden, des Fürjten Joſef Pontiatowsfi. Gräfin Tyszkiewicz führte ihre Nichte u. N. auch im Talleyrandjchen Haufe ein. Talleyrand hatte be- fanntlich jeineMaitrejie geheirathet, eine jeparirte ‚rau Grant von ob- jfurer Herkunft, die zwarjchön, aber mit Geiſtesgaben nicht gerade über: mäßig gejegnet war und der feineren gejellichaftlichen Bildung voll- ſtändig entbehrte. „Durch jeine Amtspflicht bei Hofe zurüdgehalten, fonnte Talleyrand nicht rechtzeitig nach Haufe fommen, um uns zu begrüßen und ließ jich entjchuldigen ; die Sache war jehr ein: fach ; Niemand dachte auch nur daran, sich darüber aufzuhalten. Um jo jonderbarer erjchten es uns, daß wir beim Eintritt in den Salon Niemanden vorfanden, um ung zu empfangen, als eine Ehren- dame der Fürjtin, Die uns mittheilte, verführt durch einen Sonnenjtrahl wäre Ihre Hoheit joeben ein bischen ins Bois de Boulogne gefahren. Die Eingeladenen famen Einer nach dem Anderen. So wie e8 uns die Perjon, welche beauftragt war, in Abwejenheit der Hausherrin die Honneurs zu machen, als wahr: icheinlich bezeichnet hatte, mußten wir länger als eine Stunde warten. Eine Entjchuldigung wäre wohl am Plate gewejen, aber die Fürſtin fürchtete, ihrer Würde etwas zu vergeben, wenn jie ſich böflich zeigte, und bewerfitelligte ihren Eintritt mit einer majeftätijchen Würde, jprach uns von dem jchönen Wetter, von der baljamijchen Yuft und jchien es ganz natürlich zu finden, daß jie uns hatte warten lajjen.

Sch vermied in der Folge, mit Madame Talleyrand zujammen- zutreffen die impertinenten Fürſtinnen jind nicht nach meinem Geſchmack, bejonders nicht, wenn jie von unten beraufgefommen jind. Dieje, welche ganz Paris unter dem Namen Madame Grant gefannt hatte, legte eine geiſtige Nichtigfeit an den Tag, die durch nicht8 zu bemänteln war, auch nicht durch ihre Standeserhöbung; man zitirte ihre unfreiwilligen bon mots wie die gewollten ihres Gemahls.

Die Memoiren der Gräfin Potoda. 241

Um Ddieje Zeit war jie mindeitens 60 Jahre alt, aber ihre gejellfchaftliche Stellung verjchaffte ihr Schmeichler, die jie ver: jicherten, daß jie noch immer jchön wäre. Demgemäß ging jie ohne Hut, mit einem Kranz von Blumen im Haar.

Wenn jih Talleyrand an den Spieltijch ſetzte oder abwejend war, berrichte in dieſem Salon eine jo tötliche Yangeweile, wie ich je jelten anderswo empfunden habe. Und doch waren die Leute, welche in diefem Haufe zu verfehren pflegten, meiſtentheils Leute von Geilt......

In jeiner Jugend hatte Talleyrand, wie man jagte, große Erfolge bei den ‚rauen gehabt; jest jah ich ihn inmitten jeines alten Serails. Er war wirklich jehr fomijch anzujehen, wie alle diefe Damen, bei denen er abwechjelnd die Nolle des Liebhabers, des Iyrannen oder des ‚sreundes gejpielt hatte, fich vergeblich an- Itrengten, ihm jeine Yangeweile zu vertreiben. Die eingewurzelte üble Yaune widerjtand allen ihren Anjtrengungen. Der Einen gähnte er ins Geficht, die Anderen brüsfirte er, Alle behandelte er wie Tolle, indem er boshaft die Erinnerungen und die Daten bervorhob. . . . . z

Tante Tyszkiewicz führte Gräfin Anna auch bei der Vikomteſſe von Yaval ein, jo ziemlich das einzige angenehme Haus, welches unjere Berfajjerin in Paris fennen lernte. Jene geiftreiche Fran: zölin der alten Gejellichaft fand jich mit dem durch die Revolution verurjachten Verluſt ihres Vermögens aufs Glücklichſte ab ; fie jegte jo zu jagen ihren Stolz darin, arm zu jein, jprach von dem Ver: lorenen niemals und gab jich das Air, garnicht jchlimm zu finden, daß Andere ſich bereichert hatten ; brauchten fie doch ihr Vermögen, um jich darüber zu tröjten, daß fie feine Montmorency waren und damit fertig ! j

Eine gewählte Gejelljchaft, von der die Jugend feiner Partei abjolut ausgejchlojjen war, und zu der man ſtolz war, zugelajjen ju werden, vereinigte jich oft in dem Eleinen Salon der Vikomteſſe; dort aufgenommen zu werden, galt als ein Freibrief der Liebens- würdigfeit und des guten Gejchmades. Die Dienerjchaft bejtand aus einem Yafaten und einer Negerin, halb einer Sflavin halb einer Bertrauten ; fie machte den Thee. Bei Ddiejen jehr be— Iheidenen Empfängen verjammelte ſich Alles, was Baris an dijtinguirten Perſonen umſchloß. Talleyrand und die Herzogin von Kurland gehörten zu den regelmäßigjten Bejuchern. Madame Talleyrand aber erjchien niemals ; wie Gräfin Potocka mit einer der ihr eigen-

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thümlichen feinen Wendungen des Stils jagt: „Weil jie ji Gerechtigfeit widerfahren ließ.“ Der Salon der Vikomteſſe war, wie unjere Autorin behauptet, der einzige, in welchem die altfranzöfiiche Kunjt der Cauſerie wiederaufgelebt war. Man plauderte um des Plauderns willen ; Politif und Parteihaß über: Ichritten Ddiefe Schwelle nicht. Madame de Laval gab mit un- endlicher Gejchidlichfeit das Thema der Stonverjation an; ſobald fie die Afteurs in Thätigfeit jah, verjtummte fie und jchien durch ihre Handarbeit aus grober Wolle ganz in Anfpruch genommen zu jein, bis eine ſie befonders interefjirende Frage aufs Tapet fam und jie reizte. Dann jchwiegen wieder die Andern: Sie jprad) mit einer jo ungefünftelten und pifanten Grazie, daß Alle in ihrem Bann jtanden. Sie war jehr hübſch gewejen; ihre ſchwarzen, geiftreichen und janften Augen bewahrten noch immer einen über- rajchenden Glanz.

Natürlic) entrichtete auch dieſer Salon troß jeiner wirklichen Nobleſſe gelegentlich der menschlichen Unvollfommenheit feinen Tribut, 3. B., indem er ich zum Schauplaß für das Liebesfpiel zwijchen der 5Yjährigen Herzogin von Kurland und Talleyrand bergab. Die Herzogin Anna Charlotte Dorothea geb. von Medem war die Wittwe des Herzogs von Kurland und im Jahre 1800 beim Tode ihres Ge- mahls von Rußland, das Kurland einzog, im Befige eines ungeheuren Vermögens gelajjen worden. Die Herzogin hatte jich troß des be- ginnenden Greiſenalters noch Nejte von Schönheit bewahrt, die um jo mehr zur Geltung famen, als ihre Befigerin in der Lage war, ein fürjtlicheg Haus auszumachen: „Talleyrand,“ jo erfahren wir von der PBotoda, „war für die Neize dieſer Frau nicht unempfänglich, hatte ihr die Stellung einer der intimjtem Freundinnen von Frau von Yaval verjchafft, und es gehörte in deren Salon zur Konvention, Alles, was die Herzogin that, zu bewundern ; man bewunderte bejonders ihre eleganten Toiletten und ihre Diamanten. Ach habe jie öfter um Mitternacht fommen jehen, nur zu dem Zweck, um ihr Ballkleid oder einen neuen Edeljtein zu zeigen, wie als ob jie zwanzig Sabre gewejen wäre. Ihr alter Anbeter wartete jie immer ab und betrachtete jie mit einer Bewunderung, welche leicht hätte bewirken fönnen, daß jein ganzes Serail, zu dem meine Tante Iyszfiewicz auch gehörte, vor Neid plakte.

Unjere ungenirte Polakin weiß aber von Tante Tyszkiewicz noch ganz andere Gejchichten zu erzählen, welche uns unbejchadet des der Schweiter des großen Poniatowsfi jchuldigen Reſpektes

Die Memoiren der Gräfin Potoda. 243

wohl verführen fönnten, in dieſer Stammmutter der gejchichtlich hedeutjamen polnijchen Kolonie zu Paris eine würdige Yandsmännin von Wajchlapsfi nnd Krapulinski zu erbliden: „Ungefähr alle acht Tage verjammelte ſich Talleyrands Kreis bei meiner Tante, wo ich mich recht wenig amüſirte. Sie lud abwechjelnd dijtinguirte Yands- leute und durchreifende Fremde ein. Ihr Haus übte eine große Anziehungskraft aus. Ich vermag meine unangenehme Weber: raſchung faum zu jchildern, als ich wahrnehmen mußte, daß man hier anjtatt jedes anderen Vergnügens fabelhafte Summen verjpielte. Die Banf wurde von Unbefannten gehalten, mit denen Niemand ſprach; fie breiteten ihre Neichthümer aus, um die Anwejenden zu verloden. Man jchien ihre Berührung zu fürchten und behandelte jie wie Parias. Ihre argwöhniſchen Blide fchweiften von den Einen zu den Anderen, ohne die Hände der Spieler einen Mugen: blid aus den Augen zu lajjen. Alles diejes hatte etwas mit der Menjchenwürde Unvereinbares und Sataniſches. Nur die Habjucht lenkte diejen jonderbaren Zeitvertreib. Die verzerrten Gefichter der Spieler, Die finjteren, regungslojfen Phyfiognomien der Bank— halter, das Schweigen, welches in diefem Salon herrjchte, wo man oft in einer einzigen Nacht das Lebensglüd einer ganzen Familie aufs Spiel ſetzte, Alles das erjchten mir hajjenswürdig. Ich fonnte nicht umhin, meinem Grjtaunen, vielleicht jelbjt meiner naiven Entrüjtung Ausdrud zu verleihen, aber meine Tante erwiderte mir fühl, man merfe überhaupt wohl, daß ich nicht von hier wäre, derartige VBergnügungen fänden überall in Baris itatt, und der Fürſt, der viel arbeite, juche in ihrem Haufe die Berftreuungen, welche jeine Poſition ihm in dem jeinigen verbiete. In diejer Spielhölle jah ich auch zum erjten Male die alte Herzogin von Yuynes (aud) eine Yaval-Montmorency wie jene oben gewürdigte geijtreiche Caufeuje), die gebaut war wie ein Gensdarm und ſich anzog wie die gewöhnlichite Frau; ſie jpielte wild, hatte eine Stentorjtimme, lachte unanjtändig laut, widerjprach mit einer jeltenen Grobheit das Ganze wurde für Originalität ausgegeben. Ja, es war jogar Konvention, die Noblejje und die Fejtigfeit ihres Charakters und die Beharrlichfeit ihrer Anfichten zu bewundern. Was mich betrifft, jo fonnte ich mich niemals an dieje männliche Hülle und dieſen Ton eines Grenadierd gewöhnen. Ach! mein liebes Lignejches Palais! wie oft famjt du mir in den Sinn! Bwar durchflutheten feine Ströme von Licht deinen bejcheidenen fleinen Salon, das frugale Abendejjen glich in nichts 16*

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den Sajtmählern, welche diefen modernen Sybariten geboten wurden, aber welche Berjchwendung von Geiſt, welche liebenswürdige und ungezwungene Heiterkeit! Wie unendlich weit war Doch Dieje Eremitentafel jenen traurigen Schmäujen vorzuziehen !*

Jedoch fand Gräfin Anna auch Gelegenheit, auf einem Diner im Hauſe Talleyrand diefen merfwürdigen Mann von einer jeiner jympathijcheren Seiten fennen zu lernen: Unter den Eingeladenen befand fic) aucd) der Herzog von Yaval, der Schwager der Dame, in deren Salon es der Gräfin Potoda jo gut gefiel, durchaus fein Mann von Seit, aber doch eine Barijer Zelebrität, nämlich in jeiner Eigenjchaft als glüclicher Vater zahllojer, unfreiwilliger Witze: „Wir waren jchon beim Eſſen, al$ der Herzog von Yaval, auf den lange gewartet worden war, endlich eintrat. Der Herr des Hauſes, unendlich viel höflicher als jeine Frau, erjchöpfte ſich in Ent: jchuldigungen. Der Herzog hatte in diejer Epoche die Manie, alte Porträts zu faufen ; er gejtand ehrlich, daß er fich bei einer Gemälde: auftion verjpätet hatte.

„sch wette, jagte Talleyrand, „das Sie da wie gewöhnlid) eine jchöne Sudelei gekauft haben werden.“

„Jawohl!“ verjegte der Herzog mit Selbjtgefühl. „Dieje Sudelei möchten Sie wohl gejchenft haben, zum Schmud für Ihre Bibliothef. Es jind die Porträts zweier berühmter Perjönlich- keiten.“

„Und wenn auch!“ erwiderte Talleyrand, indem er gering— ſchätzig den Mund verzog. „Und welches ſind dieſe Perſönlich— feiten ?*

„Warten Sie ein bischen !* antwortete der bedauernswerthe Amateur in jichtlicher Berlegenheit und jeine Suppe löffelnd, um Zeit für die Ueberlegung zu gewinnen. „Die rau hat denjelben Namen wie Madame Regnault de Saint Jean d'Angely; es it eine gewijje Yaura. Und der Herr? Ja! ich vergejle immer feinen Namen: er flingt ungefähr wie patraque” (Altes Gejtell).

Alles jchiwieg, aber es war ein perfides Stilljchweigen, wie es dem Ausbruch tollen Gelächters vorherzugehen pflegt.

Und jiehe da unjeren Wirth, wie er dem armen Herzog jein ichlechtes Gedächtniß verweiſt, jcheinbar ohne die Yujtigfeit feiner Tiſchgenoſſen zu bemerken, denen er einen ruhigen, aber von Schall: haftigfeit vollen Blick zuwarf.

„Merten Sie fich ein für alle Mal die Namen Ihrer Helden, lieber Freund ; Sie wollten jicher jagen Yaura und Plutarch.“

Die Memoiren der Gräfin PBotoda. 245

„sa gewiß! Diejer verfluchte Plutarch ; ich vergejie ihn regel: mäßig ! Allerdings jcheint es mir, auf der Auftion waren aud) welche, die jagten Petrarca, aber das waren Ignoranten wie ich, und fie hatten feine Ahnung, wie Yauras Liebhaber wirklich hieß. Plutarch ! das weiß ja jonft Jeder; ich hab's auch gewußt; das iſt ja hiſtoriſch!“

Das war zuviel, und die lange zurückgehaltenen Heiterkeits— ausbrüche wurden homeriſch. Talleyrand allein blieb dieſem Ge— lächter fremd, und, indem er der ganzen Geſellſchaft einen perfiden Blick zuwarf, hatte er die Keckheit, den Herzog wegen dieſer ver— gnügten Stimmung zu interpelliren, von deren Urjache er feine Ahnung zu haben behauptete.“

Einige Tage nach dem gejchilderten Diner machte Gräfin Anna ihren Antrittsbejuch bei der Marjchallin Davouft, mit der fie be— reits in Warjchau in gejellichaftlichen Beziehungen geitanden hatte. " Die Marjchallin war eine geborene Leclere; die Schweiter des Generals Leclere, mit dem Pauline Bonaparte in eriter Ehe ver- heirathet gewejen war. Der alte Leclerc hatte ein Mehlgejchäft in Pontotje betrieben. Jetzt war jeine Tochter Herzogin von Auer: ſtädt und Fürſtin von Edmühl. Die Marjchallin, eine jtrenge Schönheit, konnte wohl als eine bedeutende rau gelten. In einem vornehmen PBenjionat erzogen, hatte jie jich dort feine Manieren und den Ton der guten Gejellichaft angeeignet. Beides ging ihrem Gemahl ab. Beliebt war jie aber nicht; dazu war fie zu hart. Man behauptete, jie wäre auf die flüchtigen Liebſchaften ihres Mannes ganz außerordentlich eiferfüchtig : „Da fie den Sommer in Savignysjur-Örge zuzubringen pflegte, mußte ich fie Dort aufjuchen .. Sch begab mic aljo nad) Savigny, an einem glühend heißen Tage, Ichlecht gejchügt durch einen kleinen mit Veilchen garnirten Hut, und jehr beengt in meinen lila Schnürjtiefeln, die genau zu einer eng anjchliegenden Robe aus neapolitanischem Grosgrain von der: jelben Farbe paßten. Hatte doc; Madame Germont, das Orafel der Mode, jelber meine ganze Toilette fomponirt. Da es aber am Rormittag war, fam mir dieſe Eleganz recht deplacirt vor.

Wie es jich hiermit aber auch verhalten mochte ich verjprach mir einen angenehmen Bejuh. Das Hotel der Marjchallin in Paris hatte mir eine hohe Boritellung von ihrem Gejchmad nnd ihrer Opulenz eingeflößt, und ich dachte, jie in Savigny lururiös eingerichtet zu finden. Ic fam gegen drei hr an. Das Schloß, mit Wall und Graben umgeben, hatte ein hermetijch verjchlojjenes

246 Die Memoiren der Gräfin Potoda.

Thor zum Eingang. In dem Graben wucherte das Unfraut ; man hätte glauben jollen, eine jeit Jahren verlajiene Wohnung vor Sid) zu haben. Nachdem mein Lafai endlich die Klingeljchnur gefunden hatte, dauerte ed noch ein paar Minuten, dann fam ein Fleines recht jchlecht angezogenes Mädchen und fragte, was wir wollten.

„It die Frau Marjchallin zu Haufe ?*

„Entjchuldigen Sie ja und der Herr Marjchall auch,“ antwortete das Mädchen... . . .

Sch ließ mich anmelden und, in meine Kutjche zurüdgelehnt, mußte ich abermals recht lange warten, indem ich mir inzwijchen überlegte, ob ich ausharren oder einfach meine Starte dalajjen jollte. Nach einer Fleinen Viertelſtunde zeigte ſich endlich ein Kammerdiener vor dem Schlage meines Wagens und geleitete mich in einen großen Schloßhof. Er entjchuldigte jich, daß es jo lange gedauert habe, indem er mir ohne Bedenken erzählte, daß, als ich anfam, die Leute ım Garten bejchäftigt gewejen wären; er jelber hätte mit der Neinigung des Objtgartens zu thun gehabt.

Man führte mich durch mehrere volljtändig unmöblirte Säle ; das Zimmer, in welchem man mich‘ Blat nehmen ließ, war auch nicht ichmud: reicher als die eriten, aber es jtanden wenigitens ein anapee und Stühle darin. Die Marjchallin erjchien dann auch jofort. Ich be- merkte gleich, daß ſie für mid) Toilette gemacht hatte, denn jie machte noch einige Knöpfe an ihrer Taille zu. Nach einigen Minuten jtodender Unterhaltung jchellte ſie und ließ ihren Gatten rufen. Dann nahmen wir unjer mühjames Gejpräch wieder auf. Nicht dag Madame Davoujt feine Tournure gehabt hätte oder jener Art von Geiſt ermangelt hätte, welche die Beziehungen zwijchen zwei Perſonen aus derjelben jozialen Schicht erleichtert, aber jie hatte eine gewiſſe Steifheit an jich, welche leicht für Hochmuth gelten fonnte. Sie vergaß niemals ihren Marjchallsrang , niemals belebte ein freundliches Lächeln die Züge ihrer jtrengen Schönheit. Immer blieb fie die Juno... ..

Der Marjchall fam endlich auch und zwar in einem jchweih- triefenden Zujtande, der jeine Bereitwilligfeit zur Genüge darthat : er jegte fich) ganz außer Athem und, jein Tajchentud) in der Hand haltend, um fich die Stirne abzutrodnen, trug er Sorge, zunächit darauf zu jpuden, um jo jicherer den Staub zu entfernen, mit dem jein Gejicht bedeckt war. Dieje joldatische Formloſigkeit disharmonirte ſtark mit den jteifleinenen Manieren jeiner Gattin ; fie war jichtlich unangenehm berührt davon. Ich fand, daß meine Anwejenheit

Die Memoiren der Gräfin PBotoda. 247

bei diejer jtummen Szene überflüjfig war, jtand auf und wollte mic; empfehlen, wurde aber gebeten, zum Frühſtück dazubleiben. Um die Zeit, bi8 das Ejjen bereit war, auszufüllen, machten wir eine Promenade durch den Park. Gebahnte Wege gab es darın nicht ; der Raſen war hoch aufgejchofien, das reine Heu; die während der Revolution gefällten Bäume trieben wilde Schöflinge; an jedem Strauch blieb ein Feen meiner Volants hängen, und meine lila Schnürjtiefel jchimmerten in grünlichen Farbentönen. Der Marjchall trieb uns mit Stimme und Gejten an, indem er uns eine himmlifche Ueberrajchung verſprach. Aber wer bejchreibt meine Enttäujchung, als ich hinter einer Gruppe junger Eichen drei fleine aus Weidenruthen geflochtene Käfige erblidte. Der Herzog ließ jich auf ein Knie nieder und rief: „Da find fie, da find jie !* Dann modulirend: „Pi! Pi! Pi!“ Darauf jtieg ein Volk Reb— bübner in die Höhe und flatterte dem Marjchall um den Kopf.

„Laſſen Sie die anderen erjt heraus, wenn die Jungen da jind, und aeben Sie den Damen Brod ; jie werden fich föniglich amüfiren, jagte er zu einem Bauernlümmel, welcher die Funktionen eines Oberförjters verrichtete. Und jo fütterten wir denn in glühender Sonnenhige Rebhühner !

Die Herzogin leerte mit unerjchütterlicher Ruhe und Würde den ihr gereichten Korb. Was mich betrifft, jo war ich einer Ohn— macht nahe, und da ich es nicht mehr aushalten konnte, jo bemerfte ich, der Himmel jchiene jich zu bededen, und wir wären von einem Gewitter bedroht. Bei der Nüdfehr in das Schloß nahm ich wahr, wie Maurer damit bejchäftigt waren, einen Thurm anzujtreichen, der bisher dem Safrilegium einer Nejtauration entgangen war und noch jene PBatina aufwies, welche die Zeit allein verleihen fann. Sch vermochte mich nicht einer gewifjen Kritif zu enthalten. Die Marjchallin verjtand mich ; ich glaubte jogar aus ihrem Blid und ihrem jpöttijchen Lächeln entnehmen zu fünnen, daß wegen Ddiejes Ihurmes ein ehelicher Streit vorgefallen war. Der Gatte verhehlte mir nicht, daß meine Bemerfungen nicht nad) jeinem Gejchmad waren. Er ſprach fich jogar jehr energijch gegen die Verrückt— beit mit dem alten Mauerwerk aus.

Als das Frühitüd vorbei war, drückte ich mich jchleunigit, indem ich mir, freilich etwas jpät, gelobte, daß man meiner nicht wieder habhaft werden jollte. Auf dem Rückwege dachte ich über alles Gejehene nach) und fam zu dem Ergebniß, daß das jchöne Frankreich doch jonderbare Kontrajte in ich jchlöfle, indem Die

248 Die Memoiren der Gräfin Potoda.

Srandjeigneurs der alten Gejellichaft lächerlich) unwijjend wären, die Helden des Tages aber die mit ihrem Blute erfauften Reich— thümer in einer jehr fnaujerigen Manier genöfjen.“

An dieſe Erzählung jchlieft die Gräfin eine allgemeine Charafterijtif des Hofes Napoleons I. an, die in manchen Zügen an die Schilderung erinnert, welche Bismard in feinen „Gedanken und Erinnerungen“ von dem Hofe Napoleons III. entwirft, und in anderen Zügen an si parva magnis componere licet Sardous Madame Sand Gene: „Diejer Hof“, jagt die Potoda, „Jo prächtig von Weitem, verlor, wenn er in der Nähe gejehen wurde. Man nahm dann eine gewijje Verwirrung und Dis: harmonie wahr, welche das mit gutem Recht vermuthete Bild der Größe und des imponirenden Glanzes verjcheuchten. Neben hoch— elegante und reich gejchmücte Frauen jtellten jich die Gattinen der Marjchälle, die e8 von Haus aus durchaus nicht gewöhnt waren, den Hofmantel zu tragen. Ungefähr ebenjo verhielt es jich mit ihren Männern, deren gejtidte Uniformen, jo glänzend bei der Parade, jo jchön auf dem Schlachtfelde, unangenehm mit recht wenig höfijchen Ausdrüden und Manieren konſtraſtirten. Zwiſchen ihnen und denen vom Ancien Regime, welche fich der im Beſitz der Gewalt befindlichen Regierung angejchlojjen hatten, herrjchte eine geradezu choquirende Berjchtedenheit. Man hätte glauben mögen, einer Theaterprobe beizuwohnen, auf der die Schauspieler den Effekt ihrer Koſtüme verjuchten und ihre Rollen herjagten. Diejer jonder- bare Mifchmajc würde ein Segenjtand des Hohngelächters geworden jein, wenn nicht die Hauptperjon einen jolchen Reſpekt und eine jolche Furcht eingeflößt hätte, dai der Gedanfe an das Lachen einem verging oder wenigjtens in jeiner Wirfung gelähmt wurde.“

Der Aufenthalt der Gräfin Anna in Baris fällt in den Sommer 1810, aljo in eine Zeit, wo ſich der Zujammenjtog Napoleons mit Nußland jchon vorbereitete. Deshalb wurde die Schwiegertochter des polnischen Minijterpräfidenten von dem Kaiſer mit jehr großer Auszeichnung behandelt. Bejondere Aufmerkjamfeit erregte bei den Bartjern ein Zwiegejpräch zwijchen den Beiden auf einem Ball im Kriegsminiſterium: „Dieje Unterhaltung, welche lang genug war, um auf mich neidijch zu machen, gab zu dem jinnlojeiten Gerede Anlaß. Mehr als eine Frau war etferjüchtig auf das, was man meine Bojition nannte, und Biele jehnten jich heimlich nach der Gunst, welche fie zu verjchmähen vorgaben. An den nächjten Tagen erhielt ich eine Anzahl von Bejuchen ; mehrere Berjonen,

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die bis dahin nicht daran gedacht hatten, mir dieje Höflichkeit zu erweijen, gaben ihre Karte ab, und ich jagte mir, daß in Bezug auf niedrige Gejinnung alle Höfe einander ähnlich find, die neuejten wie die älteiten.”

Kurz nach jenem viel erörterten Ballgejpräch erhielt Gräfin Anna eines Abends von Ihren Majejtäten eine Einladung auf den folgenden Tag jechs Uhr nach Saint:Eloud, zum Mittag: eſſen en famille. Dieſes Diner bildet einen der Höhepunkte der Yebenserinnerungen unjerer Berfajlerin: „Es war gerade Hoftrauer; ich ſchickte aljo jofort zu Madame Germont, um eine den Umſtänden angemejjene Toilette zu bejtellen. Sie ließ mir durch meine SKammerfrau jagen, daß der Kaiſer Schwarz nicht liebe, dab deshalb eine derartige Trauer, bejonders auf dem Lande, in Weiß getragen würde, und daß ich bis zwölf Uhr Mittags alles Nöthige haben würde.

Um halb jechs Uhr fuhr ich an dem Parkthore von Saint:Cloud vor... . der dienjtthuende Kammerherr führte mich in den Salon, wo die Herzogin von Montebello in ihrer Eigenjchaft als Ober: hofmeiſterin ziemlich fühl die Honneurs machte . . . . Die Kaiſerin trat präziſe um ſechs Uhr ein, begleitet von ihrer dame d'atour, einer Frau aus der alten Gejellichaft . . . Marie Louiſe war ſehr ein— fach angezogen, ſie trug ein weißes, mit einer ſchwarzen Borte geſäumtes Kleid. . . . Die Fürſtin Borgheſe kam einen Augenblick ſpäter, dann der Kaiſer und der Großherzog von Würzburg, der Onkel der Kaiſerin . . . . Hinter ihnen betrat der Miniſter des , Inneren, de Montalivet, das Gemach. Das war Alles . . .“

Auf der Stelle fam bei Napoleon der rüde Plebejer zum Bor- jchein, und das wiederholte ſich während der Gejellichaft mehrere Male; die Gräfin PBotoda, welche als Polin einen abgöttijchen Napoleonkultus treibt, ipricht das nicht geradezu aus, deutet es in— dejjen verjtändlich genug an... Sie fährt in ihrer Schilderung folgendermaßen fort: „Nachdem der Kaiſer an mich einige Worte gerichtet hatte, flingelte er und fragte, ob die Equipagen bereit jtänden. Auf die bejahende Antwort hin, die er erhielt, jchlug er uns eine furze Fahrt durch den Park vor. Er gab der Kaiſerin den Arm, und Beide jtiegen in eine elegante, A l’anglaise mit ſechs herrlichen Braunen bejpannte Stalejche, auf der ſich drei Jockeys in grünsgoldener Livree befanden. Wir folgten in einem hübjchen, ganz offenen, jechsfisigen Korbiwagen. Der Großherzog von Würz- burg ſah ziemlich verlegen aus und jprad) mit der Fürſtin

250 Die Memoiren der Gräfin Botoda.

Borgheje nur wenig . . . . überhaupt wurde das Schweigen nur durch die Klagen und die Seufzer der drei Damen unterbrochen, die, ohne Hut, dem Staub und den Sonnenjtrahlen ausgejegt waren. So durcheilten wir, immer im vollen Trab, alle Alleeen des Parks, ungefähr eine halbe Stunde lang. An den Biegungen des Weges, wo Sich die Fahrt nothwendiger Weije verlangjamte, bemerkte ich überall Perjonen, die Bittjchriften in den Händen hielten und auf ein Zeichen des Kaiſers warteten, jie ihm in die Kaleſche zu werfen. Dieje Fahrten waren eine von jenen Kaprizen des Kaiſers, deren Unangenehmheit für jein Gefolge er nicht begriff, und natürlich wagte Niemand, ihm eine Bemerkung darüber zu machen. Wenn die Kaleſche nach Haufe fam, war der Vorderjit immer ganz bededt mit Papieren... .

Als wir wieder daheim waren, war angerichtet. Der Kaijer gab Marie Louije ein Zeichen, ihres Onfel® Arm zu nehmen und in den Speijejaal zu gehen. Er folgte, wir traten auch ein, aus— genommen die dame d’atour und die Herzogin von Montebello, die jich zu meiner großen Ueberraſchung in einen anderen Saal begaben, wo eine Tafel von 30 Gededen wartete.

Die fatjerliche Tafel hatte die Form cines Nechteds. Die Ktaiferin und ihr Onfel, beides jtumme lebende Bilder, jahen an der einen Seite. Napoleon, ihnen gegenüber, hatte die beiden Plätze neben jich leer. Die Fürſtin Borgheje und ich befanden ſich an der einen der fürzeren Seiten, de Montalivet an der anderen...

Es war Ende Juni und jehr hell; die Sonne durchdrang das Laub mit ihren Strahlen, aber troß dieſes Glanzes waren bei offenen ?Fenjtern die Standelaber angezündet. Diejes Zwielicht wirkte jehr unangenehm. Es war eine bizarre Kaprize, aber man verjicherte mich, daß der Kaiſer niemals anders ab. Ein Page jtand, die Serviette in der Hand, hinter jeinem Stuhl und jchidte jih an, eine Schüſſel zu reichen, aber Napoleon litt es nicht, ein Diener that den wirflichen Dienit.

Servirt wurde mit einer rapiden Schnelligkeit und jo leije wie von Sylphen. Napoleon af wenig und jehr raſch; er bevorzugte einfache Gerichte. Um die Mitte des Mahles reichte man dem Kaiſer auf einer platten Schüffel, welche nicht zum Menü gehörte, Artiſchocken in Bfefferfauce. Er fing an zu lachen und forderte uns auf, jeine bejcheidene Kojt zu theilen, indem er diejes Eremitengericht jehr (lobte. Aber da jich Niemand verjucht zu fühlen jchien, davon zu fojten, jo ließ er die Schüffel vor ſich hinſetzen und ließ nichts darauf.

Die Memoiren der Gräfin PBotoda. 251

Im Gegenjat hierzu bejchäftigte ſich die Kaiſerin jehr eifrig mit den ihr gereichten Schüfjeln, wies feine zurüd und jchien von dem rajchen Tempo, in welchem fie auf einander folgten, unangenehm berührt zu jein. Gegen das Ende des Ejjens brad) der Kaiſer das Stilliehweigen, wendete jich an de Montalivet und fragte ihn wegen. der Arbeiten am Berjailler Schloß, das man zu rejtauriren anfing : „ch will,“ jagte er, „die Barijer amüjiren wie früher ; Sonntags müſſen die Wajjerfünjte jpringen. Aber it es wahr, daß unter Ludwig XVI. Ddiejes Vergnügen jedes Mal 100000 Franken ges fojtet hat?” Der Minijter bejahte, und Napoleon fuhr fort: „Das iſt viel Geld! Bloß damit man hingehen und Wajjerjtürze bejehen fann! Wenn ich aber den Barijer PBflajtertretern diejes Plaiſir verjage, diejen Yeuten, denen das Vergnügen über Alles geht, dann werden jie nicht veritändig genug jein, um einzujehen, daß ich es thue, um von einer jo bedeutenden Summe einen bejjeren Gebrauch zu machen.“

Indem über die Gärten dieſer königlichen Nefidenz und ihre ungeheure Ausdehnung gejprochen wurde, fonnte er nicht auf den Namen des berühmten Lenötre fommen, der jie angelegt hat. Ein eigenthümlicher Zufall fügte e8, daß auch de Montalivet fich diejes Namens nicht zu entjinnen vermochte, und jo bemühten jich Beide ohne Ergebniß.

Ich unterfing mich, ıhm der Fürſtin Borgheje ins Ohr zu flüjtern, die ihn laut wiederholte.

„ech ja!” jagte Napoleon. „Das haft Du übrigens nicht aus Dir jelber. Ich möchte wetten, daß Du überhaupt nichts von der Erijtenz Yenötres gewußt haft; er iſt ja nicht zu Deiner Zeit ge: jtorben.“ Dann jah er mich mit einem überaus liebenswürdigen Blid an.

Wir befanden uns hart vor der Aufhebung der Tafel, als der Kammerherr dem Kaiſer meldete, der Bizefünig von Italien erwarte ihn im Garten. Er jtand ohne Weiteres auf, ohne Marie Louiſe die Zeit zu lajjen, mit ihrem Eis fertig zu werden, was fie jo er: bitterte, daß jie jich nicht enthalten fonnte, ſich bei ihrem Onfel darüber zu beklagen.

In den Salon zurüdgefehrt, wo die beiden Damen vom Dienit uns bereits erwarteten, fanden wir dort die Fenſter ganz weit offen; jie jchauten auf die Hauptallee des Parfes. Prinz Eugen ging dort in der größten Aufregung auf und ab; jobald Napoleon ihn bemerft hatte, ging er ıhm entgegen. Nach der Lebhaftigfert ihrer

252 Die Memoiren der Gräfin PBotoda.

Unterhaltung zu urtheilen, mußte der Gegenjtand jehr ernjt jein Der Kaiſer gejtifulirte wie ein echter Korje: der Prinz jchien Be- ichwichtigungsverjuche zu machen ; man begriff leicht, daß Napoleon unzufrieden war. Der lang der Stimmen fam bis zu uns, aber ‚der Wind verjchlang die Worte.

.. Da Alles einmal ans Tageslicht fommt, bejonders an den Höfen, wo jo viele Augen und Ohren offen find, um Alles zu jehen und zu hören, jo vernahmen wir bald nachher, was die Ur: jache diejes Ungemitter8 gewejen war: der PVizefönig, von jeinem Schwager, dem König von Holland, beauftragt, dem Staijer Die Abdanfung des zuletzt Genannten mitzutheilen, hatte jich dieſes jchwierigen Auftrages entledigt und höchſt wahrscheinlich Anftrengungen gemacht, feinen Schwager zu entjchuldigen.

Im Salon herrjchte inzwischen ein ununterbrochenes Schweigen ... Die Kaiferin jprach fein Wort ; neben ihrem Onfel figend, der ihr das Beijpiel aljoluter Stummheit gab, jah jie gedanfenlos aus dem ‚senjter, ohne ſich um die Vorgänge im Park im Geringijten zu be: kümmern, wo Die immer jtürmijcher jich geitaltende Unterhaltung noch fortdauerte . . . . Endlich fam Napoleon wieder ; jein Antlitz war jtreng aber ruhig ; er ging auf de Montalivet zu und jagte ihm, daß er jich am anderen Morgen um fünf Uhr nach Klein— TIrianon begeben würde, das man für die junge Herrjcherin im Stand ſetzte. . . . Dann zog der Kaijer mich in eine Fenſterniſche und fragte mich, welche Neuigfeiten ich aus Polen hätte, und ob es wahr wäre, daß Kaiſer Alerander jeine nicht in Rußland wohnen wollenden polnijchen Untertanen mit der Güterfonfisfation be- drobe. Da ich gerade am Vormittag einen Brief von meinem Schwiegervater erhalten hatte, befand ich mich in der Yage, eine Ihatjache bejtätigen zu fönnen, an welcher der Kaiſer zweifeln zu wollen jchien. Ich ſprach von der Nothwendigfeit, an meine Ab: reife zu denfen.

„Machen Sie jich feine Sorge,“ jagte er zu mir mit jenem gnädigen Yächeln, das nur ihm eigenthümlich war, „amüſiren Sie jich, und denfen Ste nod) nicht daran, Ihre Koffer zn paden.“

So liegen gelegentlic) hingeworfene Worte auf einen Krieg mit Nußland jchliegen, von dem noch Niemand zu jprechen wagte, aber den jchon Alle für unvermeidbar anjahen, in Anbetracht der ungeheuren Borbereitungen, deren Zwed man freilich verjchwieg : „Was wiünjchen Sie, daß ich Ihnen aus Indien mitbringe ?* fragte mich eine der einflußreichiten Berjönlichkeiten der Epoche. „Lieber

Die Memoiren der Gräfin PBotoda. 253

etwas aus Moskau oder aus Petersburg,“ verjegte ich, um ihn aus: zuhören: „Möglich, daß wir da durchfommen, aber ich denke, Sie werden eine erlejenere Beute vorziehen. Wir haben den Pyramiden guten Tag gejagt; es würde jegt in der Ordnung jein, 'mal bin: zugeben und zuzujehen, was unjere Nebenbubler vom anderen Ufer des Kanals machen.“

Alles, was ich bier erzähle, wird jpäteren Zeiten wie aus Taujend und einer Nacht vorfommen, und doch habe ich es mir zum Geſetz gemacht, in nichts von der jtrifteiten Wahrheit abzu: weichen, aber man war jo an Wunder gewöhnt, dab das Wunder: bare möglich und das Unmögliche ausführbar erjchien.

Sch fomme auf die Gejellichaft in Saint-Cloud zurüd, . . . . die mit einem erhebenden Schaujpiel jchlog: Talma jpielte „Hektor“. Es war ein Triumph für diefen wunderbaren Schaujpieler, der mit einem jchönen Organ edle Bojen und Gejten und jelten regel: mäßige Züge verband. Wenn er jein Haupt mit dem Lorbeerfranze umwand, hätte man meinen mögen, einen antifen Iriumphator vor ich zu haben, der im Begriff war, einen von Sflaven gezo— genen Wagen zu bejteigen. Man vergaß den Schaujpieler und Dachte nur noc) an den Helden. Das NAuffallendite an ihm war jeine große Nehnlichkeit mit Napoleon, bejonders im Profil. Man hätte fie für Brüder halten mögen ; nur die Augen und ihr Aus— drucd waren verjchteden, bei dem Einen lag Tiefe darin, bei dem Anderen eine affeftirte Hoheit.

Paris war majjenhaft vertreten. Der Saal war nicht ge- räumig, man ließ taufend Intriguen jpielen, um einen Play zu befommen. Der Kaiſer verfügte über die Logen jelber ; die ‘Bar: terre= und ©alleriebillets3 wurden von den hohen Hofbeamten ver: theilt. Mein Billet berechtigte mich zum Gintritt in die Diploma- tenloge, die genau neben der faijerlichen lag. Man genoß dort zwei gleichermaßen interefjante Schaujpiele zu gleicher Zeit.

Napoleon, ein Liebhaber jchöner Verſe, jchten von dem Wunjche erfüllt zu jein, wenn nicht jeine Begeijterung, jo doch mindeitens jeine Befriedigung der jungen Staijerin mitzutheilen, welche, unbe- weglich auf ihrem mit goldenen Adlern verzierten Seſſel ſitzend, ihre Blide im Saal umherjchweifen ließ und jie nur für Augen: blide auf die Bühne richtete, eigentlich nur, wenn fie durch das Beifalltlatjchen des Katjers quasi dazu gezwungen wurde; er er trug mit einer jeltenen Geduld die apathiiche Sleichgiltigfeit jeiner Lebensgefährtin.

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Nachdem die Aufführung gegen elf Uhr beendigt war, grüßten uns Ihre Majejtäten und zogen fich zurüd. Darauf erdröhnte die glänzend beleuchtete Straße nad) Paris unter den Hufen der Kutjchpferde aller Derer, welche diefem Schaujpiel beigewohnt hatten, das in doppeltem Sinne ein königliches genannt werden fann, jo bewunderungswürdig war das Spiel Talmas.

Sp endigte diejer große und glänzende Tag, der die lujtigiten Vorkommniſſe in jeinem Gefolge hatte. Talleyrand, dem es bis dahin nicht eingefallen war, mir perjönlich Bijite zu machen, jon: dern der es bisher für ausreichend gehalten hatte, jeine Karte bei meinem PBortier abzugeben, fam gleih am andern Morgen und fragte mich nach den Details des Dinerd vom vergangenen Tage. Er verjuchte jehr gejchiekt, mich über das, was ich gejehen und ge- hört hatte, auszufragen. Ich begnügte mich damit, ihm zu jagen, was er jehr wahrjcheinlich jchon wußte; gegen feine Gewohnheit war er mujterhaft höflich, jprach von Polen überaus jchmeichelbaft und [ud mich endlich) zum Frühſtück in jeiner Bibliothek ein. Sch entjprach diejer Einladung ſehr bereitwillig, und da ich darauf halte, immer nur die Wahrheit zu jagen, jo muß ich gejtehen, dat ich niemals einen entzüdenderen Vormittag verlebt habe. Talley- rand machte mir bei feinen Schägen die Honneurs; es war jehr natürlich, daß fich bei einem Millionen reichen Kenner die jchöniten und jeltenjten Editionen zujammenfanden, aber nichts war der Art und Weiſe vergleichbar, wie er feine Bücher zeigte; er jagte niemals, was man jchon wußte, oder was Andere vor ihm gejagt oder gejchrieben hatten ; er jprach jehr wenig von jich jelbit, viel von hervorragenden Leuten, mit denen er Beziehungen gehabt hatte. Mit einem Wort: er zeigte jich jo unterrichtet, wie es ein Srandjeigneur, der jeinem Vergnügen viel Zeit widmet, nur jein fann. Um diejes jchmeichelhafte aber nicht gejchmeichelte Porträt zu vollenden, will ich noch jagen, daß Talleyrand die wunderbare Kunſt bejaß, wenn er von der Gegenwart jprach, jeine Vergangen: heit für einen Augenblid vergejien zu machen.“

Wir müfjen jebt zu den Privatverhältnifjen der Gräfin Po- toda zurüdfehren: Ihr Liebhaber Flahault war fein unbedeutender Mann, nach jeiner jpäteren Karriere zu urtheilen, denn nad) dem Treffen von Mohilew im Juli 1812 wurde er mit fiebenundzwanzig Jahren Brigadegeneral, während der Schlacht von Leipzig ernannte Napoleon den Achtundzwanzigjährigen zum Divifionsgeneral und jpäter zum Neichsgrafen und zum Bair. Unter Youis Philipp iſt er

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Botjchafter in Berlin und in Wien, unter Napoleon III. in London gewejen. Er hatte das Scidjal, am Tage der Schlacht von Sedan zu jterben. Einen weniger guten Namen als diejer Held hat jeine Mutter, Madame de Souza, damals eine berühmte Ro— manjchriftitellerin, hinterlajjen. Die Gräfin PBotoda lernte fie in Paris fennen und erfuhr, daß fie eine jtürmijche Jugend hinter fich hatte. Das jtieß die Potoda aber weniger ab; dagegen fühlte fie jich, und wir fünnen ihr das nachfühlen, jehr unangenehm durch die Taftlofigfeit berührt, mit welcher Madame de Souza ihrem mütterlichen Stolz über die reizende von ihrem Sohne aus Polen heimgeführte Beute Ausdrud verlieh. Nechte Freundinnen wurden die beiden Damen deshalb nie, obwohl jie es in Anbetracht ihres beiderjeitigen Verhältniſſes zu dem jungen Flahault jchielich fanden, in Gejellichaft auf freundjchaftlichem Fuß mit einander zu verfehren. Ueber Madame de Souza geben uns die Geheimberichte der Pariſer Agenten Ludwigs XVII. aus den Jahren 1802 und 1803, welche Sraf Remacle vor wenigen Monaten veröffentlicht hat, pifante Aufſchlüſſe. Sch komme auf Remacles Buch vielleicht in einer Ipäteren Nummer diejer Hefte zurüd aber jchwerlich auf Madame de Souza und will deshalb die Gelegenheit benußgen, den auf dieje Frau bezüglichen fittengejchichtlich jehr interejjanten Geheimbericht hierherzujegen; zumal er von feinem geringeren Berfajjer herrührt als von Royer-Collard. Er lautet: „Eine Neuigfeit, welche die Zeitungen jchon gebracht haben, mit welcher ſich aber in Ermange- lung eines bejjeren Stoffes die Salons doch bejchäftigen, it die Herrath der rau von Flahault mit dem portugiejiichen Gejandten Herrn von Souza. Herr von Souza iſt nur durch feine Stellung befannt, Frau von Flahault dagegen it jehr, jehr befannt. Sie it berühmt durch ihre Nomane und durch ihr eigenes Leben, das auch ein Roman iſt, viel weniger moralisch aber auch pifanter als die, welche jie gejchrieben hat: Tochter einer Weinhändlerin in Orleans, eine geborene Filleul, wurde fie von einer englischen Nonne im Klojter erzogen und heirathete ziemlich jpät den Bruder des Grafen d’Angivillier8 [den Grafen de Flahault). Ste be- bauptet, ihre Ehe mit diefem Manne, den jie gehaßt habe, niemals vollzogen zu haben. Ihren Sohn [unjeren Helden], für den fie die Zärtlichkeit einer Merope affektirt, hat fie, wie fie behauptet, von dem gewejenen Bijchof von Autun [Talleyrand|. Andere wollen wijfen, er wäre von Montesquiou, dem damaligen aner- fannten Liebhaber der liebenswürdigen Adele. Aber ein Wort von

256 Die Memoiren der Gräfin Potoda.

ihr fällt zu Gunjten Talleyrands in die Waagjchale: Als fie ihrer Schwangerjchaft gewiß war, da ging fie zu ihrer beiten Freundin und jagte ihr: „Beflagen Ste mich; ich habe mic) unglüdlich gemacht; ich muß von dem Abbe von Perigord in Wochen.“ Dieje Natvetät fünnte belujtigend erjcheinen, aber bei dem Charakter unjerer Heldin darf jie nicht jo aufgefaßt werden, denn jie wägt alle ihre Worte und Schritte ganz genau. Jedenfalls jteht joviel feit: da die Gräfin Flahault bei Hofe nie vorgeitellt wurde und zu Beginn der Revolution mit den beiden Männern liirt war, welche ich genannt habe, jo ging jie und mußte fie gehen in das Lager der Konjtitutionellen.

Die Schredensherrjchaft fam, und Graf ‚slahault wurde quillotinirt. Böſe Zungen behaupten, daß die Gräfin mit Agrippina habe jagen fünnen: „Mille bruits en courent à ma honte.“ Sie emigrirte und bejchloß, jich wieder zu verheiratben ... Die Details ihres Aufenthaltes in der Schweiz würden uns zu weit führen... .; furz fie wollte jich von ihrem jo vielfachen Fall durch einen glänzenden Streich für immer erheben und warf ihre Nete nach dem jungen Herzog von Orleans aus dem jpäteren König Louis Philipp], der ebenda in der Zurüdgezogenheit wohnte. Ihre Fortſchritte waren rapid . . . . , als ein geweiener Adjutant von Dumouriez, ein Herr von Montjoye, .. . . den jungen Herzog... . zu einer Neije nad) Yappland veranlaßte, wo das Eis des Nordens jeine Yeidenjchaft auslöjchte. Dann führte ihr Glück Madame de lahault den Herrn von Zouza zu, gerade dem Mann, der am meiften dazu gejchaffen war, betrogen zu werden, und dem man es am wenigiten gönnt, es zu fein. Er it nett und gebildet und hat alle gejellichaftlichen Vorzüge; ſein Sharafter iſt die Aufrichtigfeit und Ehrlichkeit jelber, aber der Lit dieſer Kokette fonnte er nicht widerjtehen. Site thaten jich zu: jammen und bezogen in Altona eine gemeinjame Wohnung, wo fie den ganzen Tag gemeinjam verlebten, aber ihre Nächte bewilligte ihm die Gräfin Flahault nicht, wie Die Fortſetzung unjerer Gejchichte lehren wird. Man jprad; von ihrer Heirat als von einem jehr nahe bevorjtehendem Ereigniß . . . . und man fönnte ein Buch darüber jchreiben, was die Gräfin alles that, um ihre Beute zu umgarnen, und von ihren Liſten, damit Souza von ihrer Vergangenheit nicht mehr erfuhr, als fich jchlechterdings nicht verhehlen ließ, von den Yiebesjzenen, welche jie jpielte, von den Anjtrengungen, welche fie machte, um ſich das Wohlwollen der Freunde ihres Geliebten zu erwerben . . ..

Die Memoiren der Gräfin Potoda. 257

Da fam der 18. Fructidor, .... und das Direktorium machte Talleyrand zum Miniſter. Frau von Flahault fehrte nad) Paris zurüd, denn Miniſter QTalleyrand war für fie ein ganz anderer Gatte oder wenigitens ein ganz anderer Liebhaber als der portugiejiiche Kandidat. Aber rau Grant war jeine Meaitrejje. ‚rau Grant ijt*jehr dumm, und ihre Nebenbuhlerin hielt e8 nicht für jchwer, fie aus dem Sattel zu heben. Sie dachte an Souza nur noch als an einen Nothnagel, aber o weh! fie täujchte jich. Ein Wit, den fie ſich über Madame Grant erlaubte, trug ihr (ganz buchitäblich zu nehmen) von Seiten des Bijchof-Minijters einen Fußtritt ein und entzweite fie volljtändig mit ihm. Frau Grant blieb Siegerin auf dem Schlacdhtfelde. Der Gräfin Flahault that es jett vielleicht jehr leid, Souza vernachläjligt zu haben, aber jie ließ den Muth nicht jinfen, fie geduldete ſich . . . . Die Zeit konnte Alles ändern, mildern, ebenen. Madame de Flahault verjüßte fich dieſe Wartezeit, indem fie ſich das Mitglied des Iribunats, Gallois, als Liebhaber anjchaffte, einen ehrenhaften und bejcheidenen Mann, von dem fie wuhte, daß er ſich, ohne Auf: jehen zu erregen, wieder abjchaffen lieg. Sie räumte ihm in ihrem Hauje ein Zimmer ein, jogar mit voller Penſion. Nachdem dieje Kleine Angelegenheit befriedigend geordnet war, umgab jie jich mit einer Gejellichaft von anjtändigen Yeuten, die fie zum Narren hielt, und, um ihrer privatijirenden Lebensweiſe einen würdigen Anjtrich zu verleihen (otium cum dignitate), jchrieb jie: „Karl und Marie*. Ihre Hoffnungen fingen bald an, in Er— füllung zu gehen: der Friede mit Portugal wurde gejchlojien; Souza fam nad) London, um dort abzuwarten, wann er nach Paris fommen fonnte.

Demgemäh brachte Gräfin Flahault jet zu Sunjten des An— jtandes ein Opfer auf Kojten ihrer Bequemlichkeit: Freund Gallois wurde zwei Thüren weiter weg einlogirt und fing an, feinen Freunden von Herrn von Souza zu jprechen, der jchließlich wirklich nad) Paris fam. Nach einigen Monaten fam dieſe große Affaire zum Abſchluß. Ueber den Moment der Ehejchliegung wurde das jtrengite Geheimniß beobachtet, und, außer den Trauzeugen, erfuhr Niemand eher, was fich abjpielen jollte, als bis es zu jpät war, die Sache zu verhindern.

Man fann jich vorjtellen, was über diefe Heirath zuſammen— geflatjcht worden ijt, aber die Anderen wiſſen nicht joviel darüber, wie der Schreiber diejer Zeilen. Man fieht, dat Frau von Flahault,

Breußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 2. 17

258 Die Memoiren der Gräfin PRotoda.

die von nichts her iſt, mit dreiundvierzig Jahren, ohne Vermögen, mit deu denkbar jchlechteften Ruf, einen jungen, reichen Mann aus einer der eriten portugiejijchen Familien heirathet . .. das iſt wirklich) erstaunlich! In den Augen der Leute, welche Madame de Flahault zum Narren zu halten verjteht, gilt fie noch obendrein als diejenige, welche ein Opfer bringt. Sie thut dem Herrn von Souza eine Gnade an, indem fie ihn nimmt. Mit ernjter Miene wird erzählt, fait das ganze Vermögen gehöre ihm nur zum Nießbrauch. Man bedauert die arme Dame, daß fie ihre Grazie und ihre Talente in Lifjabon begraben jol. Man behauptet, daß Souza jie einer iiberaus ftarren Etikette unterwerfen will, daß ſie nur mit einem Diener in Livree ausgehen und Männerbejuche nur in Gegenwart ihres Gatten empfangen darf. Souza will, daß fie die portugiefijchen Sitten annimmt. Much verjichert man, fie habe bei der Zeremonie geweint und wäre nur im Intereſſe ihres geliebten Sohnes auf die Partie eingegangen. Was ich weiß, das iſt, daß fie jich in ihrem neuen Hötel jehr behaglich fühlt, und daß es ihr großes Vergnügen bereitet, wenn fie fieht, wie jein Glanz angeltaunt wird.

Was noch pifanter ijt, das find die Yobjprüche, mit denen man in gewijjen Salons den armen Gallois überjchüttet. Man rühmt jeine Mäßigung, jeine Reſerve, jeine Entjagung. Man findet, daß er, indem er fich jtill zurüdzog, als vollendeter Gentleman gehandelt habe. Man wünjcht ihm zugleich Glüd“ aber ich will nun Franzöſiſch fortfahren, denn, was nun folgt, das weiß nur der Franke zierlich zu jagen, in unferer „plump Spraf* klingt es entjchieden häßlich. Alfo: „On le felieite en m&me temps d’ötre delivre d'un benefice dont les charges ont prodigieusement alter sa sante. On dit Mme. de Flahault tres exigeante, et comme son nouvel &epoux ne parait pas promettre beaucoup de ce cöte la, cela ne laisse pas que d’inquieter une de ses amies. ‚Comment ferez-vous, lui disait- elle, vous dont le coeur est si brülant, vous qui desirez que l’on vous donne des preuves d’amour si frequentes ?“

„Oh! ne vous inquietez pas,“ repondit la sensible Adele, „ee sera l’affaire de quelques verres d’orgeat de plus par jour.“

Ich gebe nun den Schluß des Geheimberichtes wieder deutich: „Diejenigen, welche die Gräfin Flahault fennen, jtimmen darin überein, daß fie ihrer Jugend feinen vortrefflicheren Abſchluß zu verleihen vermocht hätte. Diejenigen, welche Herrn von Souza fennen, find zwijchen Unwillen und Mitleid getheilt.“

Die Memoiren der Gräfin Potocka. 259

Bekanntlich war Ludwig XVII. ein großer Feinſchmecker, jowohl in der materiellen wie in der geiftigen Bedeutung des Wortes, oder, wie Byron von ihm jagte: „Ein Schöngeift, der die Negeln für Gedichte auswendig weiß, noch bejjer für Gerichte.“ Wie mag er über das zitirte Kabinetsftüd aus der Feder Royer— Collards gejchmunzelt haben! Und mag die Naconteur-Bajfion dieſes Schriftiteller® auch in Bezug auf manche Einzelheiten die Kritik dem Pikanten geopfert haben im Großen und Ganzen macht jein Porträt der verjchlagenen Abenteurerin unzweifelhaft den Eindrud der Naturtreue. Weberdtes hHarmonirt es ausgezeichnet mit der Auffaſſung, welche ſich die gewiß urtheilsfähige Gräfin Potoda von dem Charakter der Mutter ihres Liebhabers bildete. ‚sreilich Eonnte auch ihr ärgjter Feind der Madame de Souza nicht abjtreiten, daß ihren moralischen Mängeln bedeutende in- telleftuelle Vorzüge gegenüberjtanden. Die Fähigkeiten diejer Dame fulminirten durchaus nicht, wie es nach dem Bericht Royer-Collards jcheinen fünnte, in dem Talent, fich eine glänzende Verſorgung zu erringen, jondern reichten denn doch in etwas höhere Regionen herauf: Ihre Romane Adele de Senange, Charles et Marie, Eugene de Rothelin u. a. m. find noch heute nicht völlig ver: gejien, und ein jo urtheilsfähiger Kritifer wie Sainte-Beuve be- hauptet, daß einzelne der von ihr gejchaffenen poetischen Figuren überhaupt nicht dauernd vergejjen werden fünnen.*) Der Wider: jpruch zwijchen der TQTugendhaftigfeit der Romane von frau von Souza und der Galanterie ihres Yebenswandels berührt aller: dings wegen der darin liegenden SHeuchelei recht unangenehm, aber es muß doch dabei bleiben, daß die Souza eine der Perlen in jenem Kranz von Hetären war, welcher die Männer der Re— volution umgab. Sie war entjchieden begabter als z. B. Madame Tallien, von Jojefine Beauharnats zu jchweigen.

Um auf ihren Sohn zurüdzufommen, jo ijt e8 bei jeiner Abjtammung nicht auffallend, daß er flatterhaft war, und fo ließ er denn auch die Gräfin Anna bald genug jiten. Es war fein Wunder, daß er viel ummworben ward, denn jeine inneren und äußeren Vorzüge waren glänzend: „Ohne regelmäßig jchön zu fein,“ jo bejchreibt ihn Gräfin Anna Jahre lang nach der Löjung des Verhältnifjes, „hatte er ein reizendes Geficht. Sein Blid war von einer Melancholie verjchleiert, welche einen geheimen Kummer

Sainte-Beuves, „Portraits de femmes.* Nouvelle edition. Paris 1876. ©. 42 u. ff.

17*

260 Die Memoiren der Gräfin Botoda.

zu verrathen jchien. Seine Manieren waren elegant ohne Geden- haftigfeit, jeine Unterhaltung geijtreich, jeine Anfichten jelbitändig; Niemand hat je vollfommener die Vorſtellung verwirklicht, welche man ji) von einem Romanhelden und einem untadeligen Ritter macht. Auch hat jeine Mutter jich jeiner als eines Typus bedient, den jie unter verjchiedenen Namen in ihren himmlischen Romanen reproduzirt hat.“

Die Gräfin Botoda, die den Ungetreuen überhaupt jehr jchonend behandelt, verjchweigt abjolut, welche Frau jie ausgejtochen hat; wir wijjen jedoch von anderer Seite, daß es feine Geringere ge: wejen ijt als Königin Hortenje von Holland, die MutterNapoleons III., deren Gemahl ebenjo unheilbar fühl war wie Monjieur de Souza. Im Sommer 1810 verließ Gräfin Anna Paris, um in ihre Heimath zurüdzufehren ; im Herbſt des folgenden Jahres entiprang den Um: armungen Flahaults mit der Königin von Holland der Herzog von Morny, an Talent wie an rivolität der würdige Enkel der „gerühlvollen Adele“.

Die Botoda behauptet, daß fie gerade im Begriff gewejen jet, ihre Grundjäge fahren zu laſſen und jich Flahault zu ergeben, als die ritterliche Ader in dejjen Natur in Wallung gerathen wäre, und er ihr Kenntniß von den neuen von ihm gefnüpften Banden ge: geben habe: „So behielt ich das Necht, ihm beim Abjchied mein Porträt zu geben mit dem Gedicht von Legouvé entlehnten Sinnjpruche :

(est moins qu’une maitresse et bien plus qu’une amie.

AS ich darauf zu meinen Kindern zurüdgefehrt war, da fiegte nach) und nach das dem Freunde, der mich meinen heiligiten Pflichten wiedergegeben hatte, geweihte Gefühl der Hochachtung und Dank— barfeit über halb jchmerzliche, halb jühe Erinnerungen.“ So ver: jteht es ein franzöftjch empfindendes Frauenherz, unterjtüßt von der Gewandtheit der franzöfiichen Sprache, über Abgründe binweg- zugleiten !

Die Memoiren unjerer Berfafjerin erjtreden jich noch über die Feldzüge von 1812 und 1813, jowte über die Gejchichte des im Perjonalunion mit Rußland wiederhergejtellten Königreichs Polen und bleiben Zeile für Zeile jehr interefjant. Ich breche jedoch meine Bejprechung an diejer Stelle ab; nur das folgende charalte- riſtiſche Hitörchen hebe ich noch heraus, das Gräfin Anna von dem Adjutanten Napoleons, Oberjten Wonjowicz, den fie nach dem Tode des Grafen Potodi in zweiter Ehe heirathete, gehört hat:

Die Memoiren der Bıäfın PRotoda. 261

Nachdem der Kaiſer die Trümmer jeines aus Rußland zurückkeh— renden Heeres heimlich verlajjen und auf der Rückreiſe nach Frank— reich Warjchau paſſirt hatte, äußerte er zu jeinen Begleitern Cau— laincourt und Wonjowicz das Verlangen, einen feinen Umweg zu machen, um die Gräfin Walewsfa auf ihrem Gute zu bejuchen. Was er bei der Walewsfa machen wollte, das brachte er jenen beiden den Poſtwagen mit ihm theilenden Herren gegenüber „auf die allerpifantejte Art und Weiſe“ zum Ausdrud. Befanntlich pojirte der Kaiſer nach der Statajtrophe von 1812 den mit jeinem Bolfe fejtverwachjenen Monarchen, welchem weiter nichts pajfirt wor als der Verlujt einer Armee, die fich durch eine andere erjeßen ließ. Jenes kleine Gejchichtchen, vorgefallen, während die Sammer: gejtalten der Großen Armee durch den grenzenlojen bejchneiten Raum Litauens wankten, verjinnbildlicht ung die ganze Perjönlich: feit Napoleons, den Menjchen mit jeiner durch nichts zu läuternden Semeinheit jowie den Herrſcher und Feldherrn mit jeiner unzer— jtörbaren Seelengröße.

Auch der erite Gemahl der Gräfin Anna bejaß auf jeine Art unläugbar Seelengröße, denn er lebte mit der man fann nicht einmal jagen reuig in jeine Arme zurüdgefehrten Lebensge— fährtin, als ob nichts pafjirt wäre, oder beinahe pajjirt wäre. Gräfin Anna jchenfte ihm noch einen Sohn. Die merkwürdige rau verjteht ihrer Liebe zu diefem ihrem jüngjten Kinde einen ebenjo gemüthswarmen wie jprachlich meijterhaften Ausdrud zu geben: „Iheures Kind,“ schreibt fie in ihren Erinnerungen, „wie warjt Du jchön und artig. Nie entitellte Weinen oder Schreien Dein großes, frisches Gejicht. Du wurdejt die Liebe Deiner Mutter und die Freude des Haujes; Alle beteten Dich an. Ich danke Dir nod) für das Glüd, das Du mir gegeben hajt.“

Daß die Gräfin Potoda, verwittwet, noch einmal einem Lands— manne ihre Hand reichte, habe ich jchon erwähnt. Sie ging aber trogdem wieder nach Paris und fuhr dort fort, mit Flahault Be: ziehungen zu unterhalten, die jie als eine nach wie vor platontjche Yiatjon aufgefaßt wijjen will. Nun! Honny soit, qui mal y pense! Ihr den Denfwürdigfeiten nach dem von Angelifa Kauffmann gemalten Original beigegebenes Porträt zeigt, dat die Potoda mit ihren mandelförmig gejchnittenen, träumerijch-Elugen, ſanft-lebens— vollen Augen, dem etwas großen, beweglichen Mund, Ddejjen jchwellende Lippen ein gutmüthigsheiteres Lächeln umjptelte, und mit dem rajjemäßigen Stumpfnäschen zwar feine regelmäßige

262 Die Memoiren der Gräfin Potoda.

Schönheit aber doch eine liebliche und verführerifche Erjcheinung war. Wen man liejt, was jie über ihre perjönlichen Berhältnijie jchreibt, hat man zuweilen die Empfindung, daß die Verfajjerin ji) mit einer großartigen Ehrlichkeit äußert, aber noch öfter fann man jich des Eindruds nicht eriwehren, dag man echt polntjche Saljchheit vor jich hat. Ja zuweilen überfommt Einen das be- jchämende Gefühl, daß man als Deutjcher eigentlich doch zu dumm it, um das Bud) ganz zu verjtehen.

Was Gräfin Anna aber von Anderen als von jich jelber er: zählt, das iſt meijtentheils ehrlich ; und dabei ijt es mit Scharfblid beobachtet und mit Geijt jowie auch mit Gemüth aufgefaßt. Und dazu die herrliche Gottesgabe ihres Stiles, welcher die Stufenleiter vom Pathetiſchen zum Witzigen mit der größten Leichtigfeitt auf und nieder jteigt, welcher Klarheit, Feinheit und Präziſion mit Wärme, Einfachheit mit Gleganz verjchmiljt. Der in der Gräfin waltende fünjtlerijche Drang fommt der hijtorischen Wahrheit ihrer GSejtalten zu Gute: als PBolin möchte fie ihren Napoleon zeichnen wie einen Gott, aber als Nünjtlernatur it jie dem Zwange zum Naturwahren und Individuellen unterworfen, und jo malt jie, nolens volens von ihrer plajtiichen Kraft fortgerifjen, neben dem Gotte auch den rüden korſiſchen Barvenu. Dieje zahlreichen Bor: züge bewirken, day man bei der Xeftüre unjerer Berfajierin zu— weilen von der Stimmung angewandelt wird, zu urtheilen, Alles» was man bisher über das Napoleonijche Zeitalter gelejen babe, jei weiter nichts als trodener Notizenfram gewejen. Der Charafter der Potocka mag nicht bejjer gewejen jein al8 der von hundert anderen Bolafinnen auch, aber ihr Ejprit ijt jo einzig in feiner Art, daß man jich vor dem Andenken diejer Frau huldigend verneigen muß.

Sräfin Anna ijt im Jahre 1865 hochbetagt zu Paris gejtorben. Nach dem Frieden von Tiljit im Jahre 1807 hatte ſie gejchrieben: „Der König und die Königin von Preußen verdanften Mlerander das Fortbeſtehen ihres Königreichs, das in der Lilte der Nationen gelöjcht werden jollte, was wir von ganzer Seele und aus ganzem Herzen wünjchten.“ Und an einer anderen Stelle ihrer Memoiren jagt jie von Dalberg : „Er wünjchte aufrichtig die Wiederheritellung Polens und begehrte leidenjchaftlich die Befreiung Deutjchlands, zwei Dinge, die jo jchwer mit einander zu vereinigen waren, wie alle jeine übrigen Gemüthsregungen.“ ALS die glühende Patriotin nun jtarb, da waren die Kanonen für die Schlacht von Königgräß bereitS gegojien.

Die Memoiren der Gräfin Potoda. 263

Ihre legten Worte waren: „Ach! Das Leben ijt doch ſchön!“ Der greife Flahault, der im Alter, wie billig, fromm geworden zu jein jcheint, drücdte ihr die Augen mit den Worten zu: „Adieu, geliebte Freundin, oder vielmehr auf Wiederjehen !*

Sch jchließe meinen Eſſay, indem ich das jchöne Nachwort wiedergebe, welches die Gräfin Potoda ihren Lebenserinnerungen hinzugefügt hat: „......... Ch! Wie bizarr und wie pein= (ich it das Gefühl, welches Einen, der lange gelebt hat, bejchleicht, wenn er aufmerfjam jeine Blide hinter jich richtet! Wieviele Er: eigniffe, die uns bedeutjam erjchienen waren, jind nicht der Ber: gelienheit verfallen! Wieviel gejcheiterter Ehrgeiz, wieviele ge: täujchte Hoffnungen, wieviel abgejtumpfte Reue und abgefühlte Begeifterung!! .... Wieviele für unwiderjtehlich gehaltene Leiden— ichaften, welche mit der Zeit erlojchen jind! Welches Gewicht, das elenden Interejjen und eitelen Kindereien beigelegt worden ijt und feine Spur hinterlafjen hat. Wie unendlich groß it die Zahl der Berjonen, die dahingefchieden find, die Einen vor dem Alter weg: gemäht, die Anderen nach der YJurüclegung einer langen und freudlojen Lebensbahn. Wieviele Handlungen, wieviele Namen, welche die Uniterblichkeit verdient zu haben jchienen, jind in den Ab— grund verjunfen, welcher Alles verjchlingt, während minder ver: dienitvolle Leute jteigen, bloß weil fie mit wichtigen Ereignijien äußerlich verknüpft find!

Und man ift jelber Zujchauer aller diefer Dramen gewejen, man bat fich jelber dem gleichen Abgrunde entgegenbewegt Freudenſchreie, Schmerzensjchreie, Alles iſt vorüber !

Und wenn wir dem legten Ziele nahe gekommen find, jind wir dann weijer, find wir gegen Unglück innerlich gewappnet, und ergeben wir uns ruhig in die Fügungen des Schidjal3 ? Ach! Der Menjc hört erjt auf, zu leiden und zu hoffen, wenn er zu leben aufhört! Das Alter modifizirt und verändert die Natur unjerer Gefühle, aber e8 hebt fie nicht auf.“

Die äſthetiſche Gerechtigkeit.

Bon Oswald Külpe in Würzburg.

Zu den interejjantejten Problemen, die und im Gebiet der äjthetiichen Thatjachen entgegentreten, gehört der Unterjchied zwijchen der Wirkung, welche die realen Erjcheinungen auf uns üben, und derjenigen, die von einer künſtleriſchen Darjtellung der: jelben ausgeht. Wie ganz anders würden wir uns zu den traurigen AZuftänden modernen Großjtadtlebens verhalten, von denen uns jo viele Romane und Dramen der Gegenwart berichten, wenn wir fie nicht bloß durch eine eingehende Schilderung fennen lernten, jondern mit zu erleben Gelegenheit hätten! Vielleicht würden wir zu helfen, thatkräftig einzugreifen juchen, vielleicht uns voller Abjcheu davon abwenden oder das bittere Weh empfinden, welches die Einficht in die eigene Ohnmacht den noch nicht ab: gejtumpften Gemüthern erwedt, feineswegs aber würden wir in empfänglicher Theilnahme betrachtend verharren, die uns das Stunjtwerf als ein jelbjtverjtändliches Verhalten auferlegt. Wenn wir dieſes Gleichmaß von Interejje, Beobachtung und Stimmung, das wir dem Unerfreulichen ebenjo wie dem Erfreulichen widmen, wegen jeiner Vergleichbarkeit mit der fühlen Abwägung von Berdienit und Schuld bei dem urtheilenden Richter als Gerechtigfeit bezeichnen, jo ergiebt jich aus den bejchriebenen Ihatjachen der Begriff einer äjthetiichen Gerechtigkeit. Wejentlich verjchieden von der juriftijchen und von der jittlichen Form, it fie dazu bejtimmt, dieſe beiden innerhalb unjerer Weltbetrachtung zu ergänzen und über jie mildernd und ausgleichend hinauszugreifen.

Die äfthetifche Gerechtigkeit. 265

Der Unterjchied, von dem wir oben ausgegangen jind, ijt be: reits früh bemerft und zu erflären verjucht worden. Diejenige Philoſophenſchule des Alterthums, welche die Luſt als das all: gemeine Prinzip unjere® Wollens und Handels bejtimmte, Die fyrenaijche oder hedonijche Richtung, hat jchon darauf hin— gewiejen, daß wir die Klagen der Schaufpieler gern hören, die wirklichen aber ungern. Sie folgerte daraus, daß nicht alle Luft förperlich bedingt jein fünne, und hat damit offenbar einen be- jonderen Urjprung für das Gefallen an dargeitellten Klagen be- hauptet. Sodann hat Arijtoteles die gleiche Ihatjache erwähnt und jeiner Kunſttheorie einzufügen gejucht. Dinge, die uns in der Natur peinlich) berühren, wie die widerwärtigjten Thiere oder Leichname, betrachten wir nad) ihm in ihren allergetreuejten Nach: bildungen mit Vergnügen. Seitdem ijt in der Neithetif wiederholt von einem jolchen Gegenjat des Verhaltens bei wirklichen und bei fünjtlerijch dargeitellten Gegenjtänden oder Ereignijjen die Rede ge- wejen, und es hat nicht an Anftrengungen gefehlt, ihn aus allgemeineren Borausjegungen heraus verjtändlich zu machen. Aber eine völlig befriedigende Theorie diejer Erjcheinungen giebt es noch nicht. ES hängt das damit zujammen, daß die Nejthetik erit gegenwärtig mit vollem Bewußtjein eine piychologijche Disziplin wird, die alle Thatjachen ihres Gebiets als zum Seelen: leben gehörig anjieht und aus Gejegen dejjelben ableitet.

Wenige Ihatjachen der Aeſthetik dürften jedoch zugleich eine jo einleuchtende Probe auf die Güte und Nichtigkeit der in Diejer Wifjenjchaft angenommenen Prinzipien bilden, als die von ung jo genannte äjthetijche Gerechtigkeit. Denn es bedarf nicht vieler Beijpiele, um jie zu erläutern oder die Aufmerfjamfeit auf jie zu fenfen. Sie gehört zu den auffallenditen und befanntejten Er- jcheinungen des ganzen Gebiets. Der einfache Hinweis auf die Tragödie und den Genuß, den wir ihr verdanfen, enthebt uns jeder Aufzählung von Cinzelheiten. Andererſeits bildet gerade dieje Ihatjache auch wieder ein bejonders jchwieriges, ja paradores Problem, dejjen Auflöfung über die äjthetijchen Iheorien ge: radezu entjcheiden muß. Statt daß uns das Traurige mit Trauer erfüllt, genießen wir feine Darjtellung, jtatt, daß wir leiden und tiefen Schmerz empfinden, werden wir erhoben, ja bejeligt. Darüber läßt fih nur auf dem Boden einer Wejthetif, die von Grund aus feit und klar entworfen ijt, eine befriedigende Auf: flärung geben. Das engere Gebiet der äjthetiichen Gerechtigkeit

266 Die äfthetiiche Gerechtigkeit.

hängt mit der allgemeinen Kunjtlehre, ja mit dem äſthetiſchen Grundbegriff dejjen, was überhaupt geeignet it, Gefallen oder Mipfallen zu erregen, auf das Engjte zujammen. Denn was von der Trauer, dem Unglüd gilt, muß natürlic) auch von dem Glüd und der Freude gelten. Auch fie berühren uns äjthetiich anders, als in der Wirklichkeit des täglichen Lebens. Somit fommt bier Alles auf die Beantwortung der Frage an, worin das äjthetijche Vergnügen bejtehe oder worauf es fich gründe. Darum jehen wir ung zunächit einige Theorien, die den Thatbeſtand der äjthetijchen Gerechtigkeit zu erklären vorgeben, auf ihre Leiſtungsfähigkeit etwas näber an.

I.

Der erjte VBerjuch, das Wejen der Kunſt pjychologijch ver- jtändlich zu machen, jtammt von Arijtoteles. Allgemein ver breitet ijt, wie er lehrt, die ‚Sreude an Nachahmungen, weil jich cus ihnen ein Lernen ergiebt und Ddiejes für Jedermann jehr er: göglich ft. Das Lernen bejteht nämlich hier in der Wahrnehmung einer Uebereinjtimmung zwijchen dem Original und jeiner Nach: bildung, in einem Schluß von dieſer auf jenes. Wenn wir aljo von der fünjtleriichen Wiedergabe unerfreulicher Objekte uns an: genehm berührt fühlen, jo berubt das auf der Bergleichung zwijchen dem uns befannten Urbild und der nachahınenden Dar— jtellung, die es gefunden bat. ES ijt mit anderen Worten nicht der Stoff, jondern die Art jeiner künſtleriſchen Gejtaltung, was uns gefällt, und die Stärfe dieſes Gefallens wird von der merflichen Bollfommenheit abhängen, wit welcher es dem Künitler gelungen it, jein Modell zu fopiren oder in dem Nachbild erfennbar zu machen.

Eine verwandte Theorie iſt jodann von einem bedeutenden franzöfijchen Aejthetifer des 18. Jahrhunderts, Dubos, ausgeführt worden. Zu den größten Qualen gehört nach ihm die Lange: weile, und das Hauptverdienjt der Kunſt fieht er darin, daß fie den ſtarken Trieb nad) Unterhaltung und Beichäftigung in jehr zwedmäßiger Weije befriedigt. Was unjere Yeidenjchaften aufregt, das pflegt uns nämlich am jtärkiten zu unterhalten, jo daß die Menjchen mehr darunter leiden, ohne jolche Gemüthserjchütterungen zu leben, als unter den üblen Folgen, welche jie für die Gejundheit mit jich bringen. Indem nun die Kunſt Gegenjtände nachbildet, welche in der Wirklichkeit ſtarke Affekte hervorrufen würden, läßt

Die äfthetifche Gerechtigkeit. 267

fie Nachflänge derjelben in uns entjtehen. Da dieſe jchwächer jind, als die durch reale Erjcheinungen erregten Leidenjchaften, jo bleiben ſie ohme die peinlichen Neben- und Nachwirfungen der legteren und erweden jomit bloß das Vergnügen bejchäftigt zu jein. Wenden wir dieſe Betrachtungen auf den Fall der äſthetiſchen Gerechtigkeit an, jo muß das Gefallen an einer Daritellung un- erquidlicher oder beflagenswerther Ereignijje auf der Unterhaltung beruhen, welche die durch fie wachgerufenen Gemüthsbewegungen dem Zuſchauer, Lejer oder Hörer gewähren.

Troß der mannigjachen Unterjchiede, welche zwijchen den einfachen kurzen Bejtimmungen des Nrijtoteles und den ein: qehenderen und feineren Grörterungen des franzöſiſchen Aeſthetikers obwalten. it ihnen Doch beiden nicht nur Die Auffafiung der Kunſt als einer Nachahmung gemeinjam, jondern auch die Annahme, daß es fich bei der äjthetichen Yujt um etwas Mittelbares, nicht durch den Ddargeitellten Gegenjtand jelbit Be- Dingtes handelt. Beide jind darin einig, dat das äjthetijche Ver: gnügen an Nachbildungen der Wirklichkeit, an Kunjtiwerfe, gebunden it. Damit haben jie aber bereits, von allem anderen abgejeben, ıhre Theorie gerichtet. Mag man die äjthetijche Freude auf das Srfennen des Vorbildes in der Nachahmung oder auf das unter: haltende Spiel der Yeidenjchaften zurücdführen, in jedem Falle iſt der jo gewonnene Begriff zu eng, um alle Ihatjachen umjpannen zu fünnen. Sobald es gelingt in der Wirklichkeit den Standpunft eines pajjiven Zujchauers einzunehmen, fann der Art nach dajjelbe äfthetiiche Vergnügen entitehen, das wir an einer fünjtlertjchen Wiedergabe ähnlicher Borgänge empfinden. Wenn das zumeist nicht geichteht, jo liegt es nicht in Merfmalen begründet, die der Wirk: lichfeit fehlen, während fie dem Stunjtwerf zufommen, jondern im Gegentheil darin, daß die Beziehung auf unjer Wollen und Handeln, welche den realen Vorgängen anzubaften pflegt, in der Kunſt fort: fällt und damit der auch dort vorhandene äjthetiiche Gehalt unge: jtört und volljtändig zur Geltung gelangen fann. Statt der herz: loſen Unbefangenheit bloßer Betrachtung nöthigt uns die Wirklichkeit von Kummer und Noth ein werfthätiges Mitleid ab, in dem bei der Einheit und Begrenzung der uns zur Verfügung jtehenden jeeliichen Energie alles Interejje an dem anjchaulichen Vorgange als jolchem untergeht. Indem dagegen das Kunjtwerf gar feinen Angriffspunft für eine praftijche Bethätigung darbietet, wird die Kontemplation zur freien und mächtigen Alleinherrichaft in unjerem

268 Die äſthetiſche Gerechtigkeit.

Bewußtjein gebracht und die äjthetiiche Stimmung in reiche Thätig— feit gejegt. In der realen Welt dürfen wir nur jelten blog Auge und Ohr jein, der reinen Betrachtung hingegeben Gejtalten und Ereigniſſe in stiller Feierlichfeit genießen; gebieterisch verlangt Sie zumeiſt eine unmittelbare Betheiligung an ihrem Gejchehen, reikt jie ung mitten hinein in den Drang und Zwang ihrer Aufgaben und Gejchäfte. Aber das Kunſtwerk fordert von uns nur die auf merfjame Gelajjenheit einer empfänglic) gejtinnmten Seele. Es wäre das unnützeſte uud überflüfigite Ding von der Welt, wenn es jid nicht dazu geeignet erivieje, äſthetiſch betrachtet und beurtheilt zu werden.

Gewiß läßt jich auch ſonſt noch vieles gegen die beiden Theorien von Arijtoteles und Dubos jagen. Wäre doch das Vergnügen an der Kunſt ein recht findijcher Zeitvertreib, wenn ihm die Erfennung des Originals in dem Nachbilde zu Grunde läge! Ferner würde vieles von dem, was wir an Kunſtgenuß thatjächlich haben und erleben, dieje Bezeichnung nicht mehr verdienen, wenn wir Dubos' Theorie von den Nachklängen realer Leidenschaften als gültig an- erfennen wollten. Aber nicht darauf fommt es hier an; es genügt gezeigt zu haben, dal der Unterjchied, den beide zwijchen der Wirk: fichfeitt und der Kunſt aufrichten, um die äſthetiſche Gerechtigkeit verjtändlich zu machen, den Ihatjachen nicht entipricht. Werjuchen wir es daher mit einer anderen verbreiteten und angejehenen Lehre, welche nicht mit Unrecht den Anjpruch erhebt, die einfachite und flarjte Schilderung des äjthetiichen Verhaltens gegeben zu baben. Es ijt die von Herbart zuerit mit tonjequenz entworfene und von jeiner Schule weiter ausgeführte formaliſtiſche Theorie.

Der Grundgedanfe derjelben bejteht in der Feſtſetzung, day es jic) bei den Gegenſtänden unjerer äjthetifchen Beurthetilung immer nur um Berhältnijie, niemals um das in Verhältnijjen jtebende Einfache handle. Nennen wir das, was in gewiljen Beziehungen zu anderen Inhalten der Erfahrung gegeben ift, den Stoff oder die Materie, dieje Beziehungen jelbjt aber die Form, jo iſt hiernach einziges Objekt für unjeren Gejchmad das Verhältnig oder die Form, worin die einzelnen Bejtandtheile eınes Erfahrungsinhalts zu einander oder zum Ganzen jtehen. Alſo nur auf die Gruppirung, auf die Kompojition, auf den quantitativen oder qualitativen Zu: jammenbhang als jolchen haben wir nad) diejer Anjicht bei einer älthetiichen Auffafjung und Würdigung Rüdjicht zu nehmen, während die abjolute Bejchaffenheit der bejondern in diefen Zuſammenhang

Die äſthetiſche Gerechtigkeit. 269

eingehenden Erfahrungen für den Mejthetifer wentgitens gänzlich bedeutungslos wäre. Zu dem Stoff wird aber hierbei nicht nur die Summe der in der unmittelbaren Wahrnehmung enthaltenen einfachen Qualitäten, der Farben, der Töne, gerechnet, jondern auch alles, was dieje ausdrücden, darjtellen, jymbolifiren. Ob beijpiels- wetje eine mufifalifche Kompofition wilden Iroß oder weiche Hin: gebung, unruhiges Suchen oder erlöjendes Finden, hoffnungsloje Trauer oder erhabenen Frieden jchildert, tt nach diejer Theorie in äjtheticher Beziehung völlig gleichgültig. Dagegen tt es nicht unwichtig, in welcher Weije derartige Boritellungen oder Gemüths- bewegungen auf einander folgen, und in welchen Stärfeverhältntjien fie zu einander jtehen.

Die Anwendung diejer Theorie auf unjeren Fall der äſthetiſchen Serechtigkeit läßt ſich hiernach ohne Weiteres vollziehen. Weder in der Wirklichkeit noch in der Kunſt ift das Unangenehme, Traurige, WBedauerliche, für ji) genommen, das Objekt eines Gejchmads: UÜrtheils, und es fällt daher die Frage nach dem Grunde unjeres abweichenden Verhaltens gegenüber der Wirklichfeit jolcher Dinge und ihrer fünjtlerifchen Darjtellung aus dem Rahmen der Nejthetif überhaupt heraus. Damit wird mun freilich die Frage nicht beant— wortet, jondern nur vor ein anderes, vorläufig unbefanntes Forum verwiejen, und da wir nicht willen, wo und wie die Formaliſten fie zu verhandeln und zu erledigen verjuchen, jo iſt jede weitere Vermutung ein unfruchtbares Beginnen. Wir werden daher durd) dieſen Standpunft vor die Aufgabe geitellt, die Berechtigung nach zuwetjen, mit der wir hier ein äjthetijches Problem glaubten formuliren zu müjjen. Es läßt fich aljo night umgehen, zu prüfen, inwiefern die radikalen Beitimmungen der formaliſtiſchen Richtung gültig und zwedmäßig find.

Wenn wir joeben von einem Radikalismus gejprochen haben, jo meinen wir damit die abjtrafte und jchroffe Iſolirung der Form von dem Stoff. Es giebt fein Verhältnig ohne ein Etwas, für welches es behauptet wird, und es jett daher jedes Gejchmadsurtheil im Sinne der Formaliſten eine nicht ganz unerhebliche Schärfe und Feinheit analytijcher Thätigfeit voraus, wenn es ceim reiner, von allen trübenden Nebenwirkungen des Stoffes befreiter Aus— drud des äjthetiichen Verhaltens jein jol. Wir müſſen bei den ‚sarben ebenjo jehr wie bei den leblojen oder lebenden Gegen: jtänden, die ſie darjtellen, lediglich auf die wechjeljeitigen Be— ztehungen achten, welche jie miteinander bilden, wir müſſen bei

270 Die äfthetifche Gerechtigkeit.

den Worten eines Gedichtes von ihrem Klange ebenjo wie von den Gejtalten, Gefühlen, Handlungen, welche ſie uns jchildern, ab: zujehen veritehen, wenn anders wir Bild oder Gedicht auf ihre älthetiiche Bedeutung Hin unterjuchen und beurtheilen wollen. Daß bei einem jolchen Verfahren alle Unbefangenheit einer naiven Verſenkung in fünjtlertjche Produkte aufhören und einer hochnoth— peinlichen Ausjcheidung der fich immer wieder vordrängenden un- äjthetiichen Elemente Pla machen müßte, braucht nicht erit be: wiejen zu werden. Eine jchwierige, der wifienjchaftlichen Arbeit vergleichbare Sonderung des Wejentlichen vom Unwejentlichen würde angejtellt werden müjjen, bevor man es wagen dürfte, Die Schönheit oder Häßlichkeit eines Drama oder Epos zu behaupten. Denn die Gefühle des Gefallens oder Mipfallens, auf die ſich unjere Gejchmadsurtheile zu jtügen pflegen, jind ja an ſich viel zu unbejtimmt und gleichartig, als daß man aus ihnen heraus auch nur mit einem Schein von Sicherheit auf die Herkunft aus äjthetijch zuläjjigen oder unzuläfjigen Momenten jchliegen fönnte. Es unterliegt wohl feinem Zweifel, daß die Gejchmadsurtheile der meijten Menjchen, ja jelbjit der Kunſtkritiker und Xejthetifer von Beruf, an dem Maßſtab der Formaliſten gemefjen, fich als unrein erweijen würden. Insbeſondere aber entitände unter der Voraus— jegung, daß dieſe Theorie gültig jei, ein gewaltiger Riß zwijchen den Natur und Kunſt in ihrem Sinne betrachtenden und ſchätzenden und den von diejes Gedanfens Bläfje nicht angefränfelten Berjonen.

Wir haben bisher angenommen, daß fich die ‚Forderung der formaliſtiſchen Aejthetif, wenn auch nicht ohne beträchtliche Schwierig: feiten, jo doc) überhaupt erfüllen laſſe. Aber jelbjt dieje Klon: zejlion an ihren Standpunft müfjen wir bei genauerer Prüfung wieder aufgeben. Denn jie verträgt fich nicht mit einer offen- fundigen Thatjache unjeres Gemüthslebens, nämlich mit der Einheit dejjelben.. Es it jchlechterdings unmöglich, die äſthetiſchen Ge— fühle und Ztimmungen von den Einflüffen frei zu erhalten, welche der Stoff eines Kunſtwerks unwillfürlic) ausübt, weil wir uns nicht in verjchiedene Provinzen zerteilen fünnen, von denen die eine etwa bloß die auf die Form bezüglichen Gerühle, die andere dagegen die an den Stoff gebundenen in jcharfer Ab- grenzung neben einander entjtehen und jeßhaft werden ließe. So wenig wir in einem und demjelben Augenblick freudvoll und leid: voll zugleich fein fönnen, jo wenig vermag man das Vergnügen an der bloßen Form allen Einwirkungen zu entziehen, die von

Die äfihetifche Gerechtigkeit. 271

dem jich in ihr entfaltenden Stoffe ausgehen. Dadurch) geräth man auf dem Boden der formalijtiichen Theorie in ein höchit mipliches Dilemma. Entweder nämlich muß man die Gejchmads- urtheile von der Gefüblsgrundlage, auf welcher fie nach der ge- wöhnlichen Auffafjung ruhen, völlig abheben und ihnen rein theoretiiche Beſtimmungen jubjtituiren, auf deren Gejtaltung die thatjächlichen Gemüthserregungen des Gefallens oder Mißfallens nicht mehr ablenfend oder verwirrend einzuwirfen vermögen. Dder man muß zugeben, daß das formaliftische Dekret eine ideale sorderung enthält, der die unvollfommene Wirklichkeit unjerer Sefühle und der durch fie bedingten Werthurtheile in der Negel nicht zu entjprechen im Stande it. Beide Glieder diejer unver: meidlichen Alternative jind für die formaliſtiſche Nejthetif, wie man jieht, äußerjt bedenklich. Entjcheidet fie jich für das erite, jo hat die Aejthetif aufgehört eine Lehre von eigenthümlichen Wirkungen auf das Gemüth, vom Gefälligen und Mipfälligen zu fein. Vom grünen Tijch her, unbefümmert um die unmittelbaren Aufwallungen der Luft oder Unluſt, jeßt fie feit, was jchön oder häßlich jein joll, mit derjelben Untrüglichfeit, wie die Mathematik ihre Begriffe definirt und den Definitionen gemäß verwendet. Wir brauchen dann nicht erjt in der Erfahrung Umschau zu Halten, um zu er: fennen, ob und wann etwas für jchön oder häßlich gehalten wird, wir fonjtruiren vielmehr mit der freien Sicherheit des Geometers, unter welchen Umftänden ein Gebilde diejes oder jenes Prädifat verdiene. So wird denn der Gejchmad allem Streit und Gegenjat entzogen und in die reine Sphäre einer wenn auch noch jo grauen Theorie emporgehoben. Ein Gegenjtand heißt dann nicht mehr ſchön, weil er gefällt, jondern weil und jofern ſich an ihm gewiſſe Merkmale antreffen lajjen, die ihn ganz objektiv, ohne die patho- logiſchen Erjchütterungen des Gemüths zu Nathe zu ziehen, als einen jolchen charafterijiren.

Wir wifjen, daß Herbart einer jolchen Folgerung aus jeiner Annahme nicht beigejtimmt haben würde, denn er hat unzwei— deutig auf die MWichtigfeit empirischer Unterjuchungen über ge: fallende und mihfallende Berhältnijje hingewiejen. Dann aber it es auch jehr zweifelhaft, ob ihm das andere Glied unjerer oben aufgejtellten Alternative nad) Sinn gewejen wäre. Denn wie jollte die empirische Beobachtung unjeres äjthetiichen Berhaltens iiber die reine Bedeutung der Formen einen bejriedigenden Auf: ichluß gewähren fünnen, wenn das auf Theorien diejer Art weder

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geſtimmte noch abzurichtende Gemüth immer auch von dem Stoff lichen der zu beurtheilenden Gegenſtände affizirt wird? Abgeſehen davon, wird die Formaläſthetik, unter dieſem Geſichtspunkt be— trachtet, zu einem Codex von Regeln, denen ſich kaum ein einziger Fall der Wirklichkeit fügte und anpaſſen ließe. Die untrennbare Gemeinschaft von Stoff und Form jpottet allen Anjtrengungen des äjthetifchen Scheidefünftlerd und wird auch das jublimfte Ge: ichmadsurtheil dem Verdachte ausjeßen, daß es den Einfluß jtoff- licher Schlafen nicht völlig habe abjtreifen fünnen. Betrachtet man aljo das Schöne und das Häßliche als den Ausdruck für pojitive und natürliche Neaftionen unjeres Semüths auf die Ein- drücde, die uns Wahrnehmung oder Phantaſie vorführen, jo muß man darauf verzichten, die Yehre der Formaliſten in der Erfahruna beivährt zu finden oder an ihr zu prüfen.

Mag man nun aber ein Verhalten, wie es die Theorie der Herbartianer fordert, für möglich oder für unmöglich erklären, in jedem Falle ergiebt jich ein jchroffer Zwiejpalt zwijchen der eigen: jinnigen WVirflichfeit und einer Konjtruftion der äjthetiichen Begriffe. Wer mit ung der Anficht it, daß es fich in der Nejthetif vor Allem um Beobachtung von Thatjachen, und zwar von Bewußtjeins: thatjachen handelt, wird fich einer Lehre nicht anjchliegen können, die geflifjentlich, ohne nöthigende Gründe, von den. in der Erfahrung gegebenen Formen und Bedingungen des Gefallens mit einem willfürlichen Schnitt einzelne abtrennt und anerfennt, andere da gegen verwirft und entwerthet. Ich jage, ohne nöthigende Gründe. Nur dann nämlich, wenn ſich zeigen jollte, da wir ung dem Stoff eines Kunjtwerfes gegenüber wejentlich anders verhalten, als jeiner Form gegenüber, würde man die Berechtiguug der formaliſtiſchen Lehre troß aller jonjtigen Schwierigfeiten, denen jie ausgejegt iit, zugeltehen müſſen. Aber gerade dafür fehlt e8 an jedem Nadı- weile. Herbart und jeine Schule haben ihn nicht erbracht, und er läßt jich auch nicht führen. Damit fällt aber auch jede aus den Ihatjachen jelbjt errichtete Stüße für den Formalismus fort. Seine ‚sorderungen find nicht nur unerfüllbar, fie jind auch unbegründet. Sp haben wir ung denn unjere Poſition gejichert, wir dürfen auch fernerhin von einer äjthetiichen Gerechtigfeit reden, weil wir Die dieſen Begriff in Frage ſtellende Auffafiung Herbarts als unzu: treffend zurückweiſen fonnten.

Da erhebt fich eine neue Theorie mit dem Anſpruch, das ın unjerem Begriff jtedende Problem leicht und überzeugend auflöjen

Die äjthetiiche Gerechtigkeit. 273

zu können. Es iſt die Theorie der Illuſion, des Scheins, der bewußten Selbſttäuſchung, die in der Gegenwart beſonders von E. v. Hartmann, Groos und Konrad Lange vertreten wird. Auch ſie richtet zwiſchen der Kunſt und der Natur oder vielmehr zwiſchen dem Objekt unſeres Geſchmacksurtheils und den in der Wahrnehmung gegebenen Dingen eine Schranke auf, aber ſie beſtimmt das für beide charakteriſtiſche Merkmal ganz anders als Ariſtoteles. Während diejer das Gefallen an der fünjtlerifchen Darjtellung auf eine vergleichende Erfenntnigthätigfeit zurückführt, wird der Eins drud nach der Illuſionstheorie erjt durch eine jchöpferijche Um— bildung mit Hülfe der Phantaſie zu einem äjthetifchen. Innerlich nachahmen, nadjchaffen müjjen wir das Wahrgenommene nad) Groos, an deſſen Ausführungen wir uns hier hauptjächlich halten, wenn es für uns einen äjthetiichen Werth erlangen joll. Durch diejes Verfahren entjteht ein Schein, ein Bild, das fich vom Gegenjtande ablöjt und nun erjt äjthetifch gewürdigt wird. Wir beleben das Todte, Starre, bejeelen das Unbejeelte, verwandeln in jpielender Thätigfeit die Nealität in eine Scheingeftalt. Und wie alles Spielen mit Luſt verknüpft zu jein pflegt, jo erwächit auch aus dem Spiel der inneren Nachahmung eine heitere, erfreuliche Stimmung.

Daß das Schmerzliche, Traurige, VBerwerfliche zum Anlap eines äſthetiſchen Genuſſes werden fann, wird nach diejer Auffajjung einfach genug erklärt. Wir fünnen nämlich derartige Erjcheinungen ebenjowohl innerlich nachahmen, wie Die entgegengejegten des Guten, Freudigen, Angenehmen und deshalb auch die nämliche Yult aus ihrem Bilde empfangen. Auch noch in anderer Weije liege ji) vom Standpunfte der Illuſionstheorie aus ein jolches Verhalten als nothwendig ableiten. Man fünnte etwa folgender: maßen argumentiren: entweder wir halten das Gejehene oder Ge: hörte mit dem, was es bedeutet, für Wirklichkeit, und dann dürfte es feinen Unterjchied geben zwijchen der Beurtheilung der Kunſt und der Natur; oder wir halten es für einen Schein, den wir mit vollem Bewußtjein der Wirklichkeit entgegenjegen, und dann fallen alle realen Anreize und Beziehungen fort, in denen unjere praftijchen Interefjen wurzeln. Alſo fann, da es eine dritte Möglichkeit nicht zu geben jcheint, nur in der Illuſion, in der bildmäßigen Natur alles Aejtgetiichen der Grund dafür gejucht werden, daß wir die Noth und den Sammer, fünjtlerijch dargejtellt, anders als im Leben empfinden und beurtheilen.

Preußifche Jahrbüher. Bd. XCVIII. Heft 2. 18

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Aber wenn es nun doch eine dritte Möglichkeit gäbe? Dann würde dieſer Beweis ſeine zwingende Kraft völlig einbüßen. Und ich meine in der That, daß hier ein Fall überſehen worden iſt und daß gerade dieſer Fall den äſthetiſchen Thatbeitand allein richtig ausdrüdt. Die Begriffe des Scheins und der Wirklichkeit itehen fich freilich als ausjchliegende Gegenjäge gegenüber, umd wenn es fi) um die Bedeutung einer Vorjtellung für unjere Er: fenntniß der Außenwelt handelt, läßt jich wohl nur von ihr jagen, dal; fie entweder auf etwas Reales hinweiſt oder ein bloßer Schein it. Aber dieſer Gefichtspunft ijt ja feineswegs der einzige auf VBorjtellungen überhaupt anwendbare, und es erhebt ſich daher zu: nächft die Frage, ob wir ihm innerhalb des Gebiets der äjthetijiyen Thatjachen überhaupt eine Stelle einzuräumen haben. Sobald wir dDieje Frage verneinen müſſen, haben wir nicht nur eine Dritte Möglichkeit gewonnen, welche die oben aufgejtellte Alternative und den auf ihr beruhenden Schluß aufhebt, jondern jind zug'eich zu einer neuen allgemeinen Bejtimmung des äfthetijchen Verhaltens fortgejchritten.

Es liegt zunächit auf der Hand, daß wir in vielen Gejchmads urtheilen, die wir fällen, auf einen Gegenjag zwijchen Schein und Wirklichkeit gar feine Nücdjicht nehmen. Wenn wir ein Gebäude ſchön oder häßlich nennen, jo trägt der Umjtand, daß es jich vor uns objeftiv erhebt oder daß wir es nur in einer Nachbildung wahrnehmen, zu dem Ausfall eines jolchen Urtheils nichts bei. Zwar fann die Umgebung, in die es gejtellt it, die Größe, Die ihm in der Natur zukommt, einen mehr oder weniger erheblichen Einfluß auf die äjthetiiche Erregung ausüben, die wir ihm ver: danfen, auch mag die nähere Einficht in jeine Zweckmäßigkeit unjer Gejchmadsurtheil modifiziren. Aber die bloße Thatjache, dan er das eine Mal etwas Neales, das andere Mal nur ein Bild, eın Schein it, jpielt offenvar bei dem Zuſtandekommen unjerer äjthetijchen Beurteilung gar feine Rolle. Noch deutlicher zeigt jich das Fehlen diejes Gefichtspunftes bei dem Genuß von muſika— liichen Broduftionen. Was hier die Wirklichkeit jein jollte, von der wir einen Schein ablöjen oder unterjcheiden, iſt für einen unbe: fangenen Berjtand wohl nicht einzujehen. Man würde natürlich zunächjt daran Ddenfen, daß die Muſik Art und Verlauf von Ge: miüthsbewegungen auszudrüden vermag, wenn wir jie von aller Verbindung mit Programmen oder Texten losgelöſt betrachten. Aber dieſe Gemüthsbewegungen ſind ja niemals in der Muſik

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objeftiv enthalten und können daher aud) nicht eine Wirklichkeit jein, von der wir einen Schein, eine Illufion nachzubilden im Stande wären. Much bei den Werfen der Boefie pflegt es ſich nicht anders zu verhalten. Handelt es ſich hier um freie Schöpfungen der dichteriichen Phantaſie, jo iſt unjere äjthetijche Mirdigung wahrlich feine andere, als wenn uns Erzählungen „nach dem Leben“ dargeboten werden. Berfajjer hiſtoriſcher Dramen haben ich auch niemals gejcheut, von der gejchichtlichen Wirklichkeit abzuweichen, und bejonnene Kritifer ihnen niemals daraus einen Borwurf gemacht, wenn die Abweichungen äſthetiſch genügend motivirt waren.

Der geläufige Gegenſatz von Schein und Wirklichkeit, der in unjerem Erfennen von jo großer Bedeutung üt, it aljo wenigitens feine allgemeine Bedingung für die äfthetiiche Auffafjung und darf daher auch nicht zur Beitimmung des Wejens der letteren jchlechthin benußt werden. Wir gehen jedoch noch weiter, indem wir erklären, daß der äfthetiiche Zuftand grade durch die Abwejen- heit der uns im Handeln und GErfennen jo jelbitveritändlichen Be- ztehung auf ung jelbjt und auf Gegenjtände außer uns charafterifirt it. Wer jich in ein jchönes Werf der Natur oder der Kunſt an- ſchauend und genießend vertieft hat, wer dabei in die eigenthüm: (iche Stimmung der reinen Stontemplation, der bloßen Betrachtung, gerathen it, der wird willen, daß es für ihm fein Objekt mehr gab, dem er ſich gegenübergejtellt hätte, jondern nur noch eine einheitliche Erfahrung. Die Begriffe Schein und Wirklichkeit ver: fteren bier ihren Sinn, weil fie auf einer Unterjcheidung beruhen, die noch nicht eingetreten war oder nicht mehr vollzogen wurde. Auf den Standpunkt des Kindes, das jein Ich von einem Nicht: Ich zu jondern noch nicht gelernt hat, fehren wir zurücd, wenn jic) unjere Seele mit äjthetijchen Eindrüden gänzlich füllt. In den urfprünglichen Zuftand aller Erfahrung jind wir mühelos wieder gerathen. Es giebt fein Meußeres und fein Inneres mehr, und wir jtellen uns nicht mehr auf den uns inzwijchen jo vertraut ge— wordenen Boden unjeres Gegenjaßes zur Welt.

Aber, wird man einwenden, das alles iſt ja nur ein Kampf gegen Windmühlen. Denn von dieſem Schein im Gegenjaß zur Wirklichkeit, der auf der Unterjcheidung eines Sch und feiner objektiven Umgebung beruht, iſt ja in der Sllufionstheorie, wenigitens in Der feineren und tieferen Ausführung von Groos, gar nicht die Nede. Denn der Schein, der durch innere Nach:

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276 Die äſthetiſche Gerechtigkeit.

ahmung jpielend erzeugt wird, entjteht bei der Anjchauung eines realen Gegenjtandes ebenjowohl wie bei einem jubjeftiven Gebilde der Phantaſie. Auch it dazu feine Mehnlichkeit zwijchen dem Gegenftande und dem von ihm abgelöften Bilde erforderlich. da wir das Lebloje beleben, das Unbejeelte bejeelen, in jtarre geometrifche Formen ein Gleiten und liegen, in die muſikaliſchen Stimmen Verzweiflung und Ausgelajjenheit auf dem Wege der inneren Nachahmung hineinfühlen fünnen. Wir wollen Diejem Einwande nicht mit der naheliegenden Bemerkung begegnen, Das es ficherlich nicht zwedmäßig jei, jo irreführende und mißverjtänd: liche Ausdrüde wie Schein und Nachahmung da zu verwenden, wo etwas von dem gebräuchlichen Sinn diejer Worte Abweichender bezeichnet werden fol. Auch wollen wir in dieſem Zuſammen— hange fein bejonderes Gewicht darauf legen, daß die Bildung eines Scheing mit Hülfe des Spiels der inneren Nachahmung durchaus feine allgemein verbreitete Form des äjthetiichen Ge: nießens ift. Mur zweierlei ſei gegen dieje jpeziellere Faſſung der IHufionstheorie geltend gemacht: Erjtens nämlich bringt jie den äfthetiichen Werth eines Eindruds in Abhängigkeit von einem Um: itande, der die allgemein herrichende Abjtufung des Gejchmads nicht zu erflären vermag. Und zweitens verjchiebt fie den eigent— lichen Gegenjtand unjerer äſthetiſchen Werthſchätzung völlig.

Die äfthetifche Bedeutung eines Kunjtwerfes muß nach Diejer Theorie offenbar auf die Lebhaftigfeit der inneren Nachahmung zurücgeführt werden. Je mehr uns ein Stoff ergreift, rührt, je mehr er unjere Borjtellungsthätigfeit und unjer Gemüth aufregt und entfejjelt, um jo größer muß im Allgemeinen, wenn wir von einem ermüdenden, erjchöpfenden Uebermaß abjehen, die Luſt und damit der äjthetiiche Werth des dazu führenden Objekts jein. Daß dieje Folgerung mit der berrjchenden Beurtheilung von Kunſt— werfen nicht im Einflange jteht, braucht faum gejagt zu werden. Goethes Fauft würde hiernach vor einem jpannend erzählten Ehe— bruchsroman gewöhnlichen Schlages jchwerlich den Vorzug ge: bühren, und wir hätten vom Standpunkt des rein äjthetijchen Ge- nujjes aus fein Mittel, um Tizians Meifterwerfe über die Gemälde eines Tiepolo zu jtellen. Noch mißlicher ıjt aber die von uns zu zweit hervorgehobene Verjchiebung des eigentlichen Gegenjtandes unjerer Gejchmadsurtheile. Aeſthetiſche Luft iſt ja die Luſt aus dem Spiele der inneren Nachahmung. Nicht alfo das Kunjtwerf gefällt oder mipfällt, jondern das durd) dajjelbe eingeleitete und

Die äfthetifche Gerechtigkeit. 277

unterhaltene Spiel der inneren Nachahmung. Es it jomit auch die bejondere Bejchaffenheit des äjthetiich gewürdigten Gegenjtandes für diefe Würdigung jelbjt direft und unmittelbar völlig gleich: gültig. Wenigitens dürfte es recht jchwer fallen, irgend welche aejegmäßigen Beziehungen zwijchen Form und Gehalt eines Kunftwerfs einerjeit$ und der Befriedigung zu entdeden, welche feine innere Nachahmung gewährt. Damit entfernt fich aber dieje Theorie noch weiter von den IThatjachen der äſthetiſchen Beur— theilung, als es der Formalismus jemals gethan hat. Denn diejer hat wenigjtens die Formen als etwas am Kunſtwerke jelbjt baftendes angejehen und genauer anzugeben verjucht, welche von ihnen gefallen, welche mihfallen.

Sp fann uns auch die Illufionstheorie über das Wejen und den Grund der äjthetiichen Gerechtigfeit feine genügende Auf: flärung geben. Daß wir von den Schattenjeiten des Lebens in der fünitlerifchen Darſtellung einen anderen Eindrud erhalten als in der Wirflichkeit, fann nicht daraus abgeleitet werden. daß wir es dort mit einem Schein, hier mit der Nealität zu thun haben, oder daraus, daß ſich dort ein Spiel der inneren Nachahmung entfaltet, das bier fehlt. Der Stern der Sache muß jedenfalls in anderen Momenten gejucht werden, die vielleicht eine jefundäre Berechtigung der hier befämpften Gefichtspunfte ergeben. Dieſer Aufgabe, die mit der Nufitellung eines haltbareren Begriffs des äjthetijchen Eindruds zujammenfällt, wollen wir uns im folgenden unterziehen.

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Wollen wir den Eindrud genauer bejtimmen, den uns ein Kunſtwerk macht, jo fünnen wir zwei Wege einjchlagen. Der eine beitehbt darin, daß wir an einem bejtimmten Exemplar alle die Wirkungen ausjcheiden, die fich, abgejehen von der äjthetijchen, auf dafjjelbe zurückführen laſſen. Ein anderer Weg dagegen bietet fich uns darin, daß wir recht verjchtedenartige Kunſtprodukte mit einander vergleichen und dasjenige herauszugreifen verjuchen, was ihnen Allen gemeinjam tt. Nehmen wir, um das erjte Verfahren zu illuftrieren, beiipielöweife die berühmte Gruppe des Yaofoon zum Ausgangs: punkt unjerer Analyje! Der Vorgang, den wir bier dargeitellt ſehen, fann uns ethijch, finnlich berühren, er fann auch zum Gegen- itand einer rein intellektuellen, wifjenjchaftlichen Auffaſſung und Beurtheilung gemacht werden. Das Mitleid, das wir mit den Nermiten empfinden, die fich unentrinnbar von den Schlangen um:

278 Die äfthetiihe Gerechtigkeit.

flammert jehen, die Annahme, daß jie das Unheil jelbjt verichuldet haben, die VBorjtellung von einer jtrafenden Gerechtigkeit, Die ſie erfaßt hat das Alles gehört, für jich genommen, zu den ethiſchen Wirkungen. Ein ausgejprochenes finnliches Gefühl wird bei dieſen Objekt faum auftreten, wenn man nicht vielleicht ein leije8 Grauen dazu zählen will, das uns infolge einer lebhaften Bergegenwärtiquna der jchmerzhaften Situation, in der jich die unglüdlichen Opfer befinden, befallen mag. Die wifjenjchaftliche Unterjuchung endlid fann theils die Hijtorische Bedeutung des gejchilderten Vorgangs theil8 jeine technische Ausführung und die Entjtehungszeit der legteren ergründen. Das Alles braucht in der äjthetiichen An- jchauung nicht unterzugehen, aber macht doch auch ihre Bejonder: heit nicht aus. Für fie ift das entjcheidende Merkmal das reine und tiefe Interejje an dieſem Wahrnehmungsinhalt und Dem: jenigen, was er an innerlichen Beziehungen trägt und bedeutet, jowie das Gefallen, welches Gehalt und Erjcheinungsmweije in ihrer wechjeljeitigen Durchdringung vermöge dieſes Intereſſes entjteben lajien.

Für das andere Verfahren fünnen wir z. B. ein Schillerjches Drama, eine Beethovenjche Symphonie, ein Naphaeljches Gemälde, einen römischen Palazzo, ein Bildwerf des Michelangelo zur Unter: lage wählen. Stoffliche Merkmale können hier offenbar nicht den Begriff des äjthetiichen Eindruds bejtimmen. Denn die Materie der in dieſen verjchiedenen Kunſtwerken erjcheinenden oder aus- gedrücten Gegenjtände enthält nichts, was ihnen allen gemeinjam wäre. Ebenſo wenig werden wir eine bejtimmte Form angeben fönnen, die in allen gleichmäßig wiederfehrte. Nicht minder jind die logischen oder ethischen Beziehungen, theils von einander ganz verjchieden, theils überhaupt nicht vorhanden. Die einzige allgemein geltende Wirkung ijt wiederum die Berjenfung in das Wahrgenommene jeiner bloßen Bejchaffenheit nach und die aus jolchem Zuſtande einheitlicher Kontemplation eriwachjende Luft oder Unlujt. Die Hingabe an das Anjchauliche und jeine Bedeutung, das volle Er: griffenjein von jeinem Wejen und Verlauf bildet alleın die Voraus- jegung für die Entjtehung äjthetijcher Erregungen. Diejes Interetje an den Borjtellungsinhalten als jolchen tt für ethijche Erwägungen belanglos. Hier wird die Ihat auf die Gejinnung bezogen, oder einem anerfannten Zwed untergeordnet, während die äußere Er- jcheinung, in die jich das Handeln gekleidet hat, für jeinen ethijchen Werth nicht in Frage fommt. Gin unmittelbares Interejje an der

Die äſthetiſche Gerechligkeit. 279

Wahrnehmungsthatſache als ſolcher iſt ferner der wiſſenſchaftlichen Erkenntniß nur das nothwendige Hülfsmittel, um bei der Auf— ſtellung von Begriffen und bei der Auffindung von Geſetzen für dieſen beſonderen Fall nicht fehlzugehen. Auf dieſer Vorſtufe der Erkenntniß aber verharren wir im äſthetiſchen Verhalten, und darum wird uns die anſchauliche Erſcheinung hier niemals zu einem an ſich werthloſen Hinweiſe auf ein Syſtem von Begriffen und Sätzen, zu einem bloßen Exemplar einer Gattung.

Das Thier hat keinen äſthetiſchen Genuß, weil ſein Intereſſe für die Umgebung lediglich durch das Verhältniß geleitet wird, in dem ſie zu ſeinem Wohl und Wehe, zu ſeinem Nutzen oder Schaden, zu ſeiner Selbſterhaltung ſteht. Das Raubthier, das ſeiner Beute auflauert, würdigt deren Bewegungen und Stellungen nur unter dem praktiſchen Geſichtspunkt ihrer Zweckmäßigkeit für einen Ueber- » fall. Das Hausthier, das jeinem Herrn auf Schritt und Tritt folgt, Tieht in ihm den Bejchüger und Erhalter jeines Dafeins. In dem äjthetiichen Eindrud dagegen verliert jich die Beziehung auf die eigene Perſon gänzlich, er jet die vollite Objektivität und Selbitlojigfeit voraus. Darum find auch die äfthetiichen Gefühle der Luſt und Unlujt in einer eigenthümlichen Verjchmelzung mit den Gegenitänden, auf die fie bezogen werden, gegeben. Nicht daß etwas mir oder dir gefällt, jondern dat diejes Etwas über: haupt gefällt, ıjt für jie wejentlid. So wenig wir bei den Farben, die wir den fichtbaren Objekten außer uns beilegen, auf die jubjektiven Bedingungen unjeres Gefichtsfinns, welche nach dem Urtheil der Wifjenjchaft eine große Bedeutung für fie haben, zu achten pflegen, jo wenig denfen wir bei der äjthetijchen Beſtimmung eines Kunſtwerkes daran, daß jchön und häßlich, anmuthig, komiſch und dergleichen Begriffe find, die ſich nur pſychologiſch, alſo mit Nüdjicht auf das Subjekt, veritehen und erflären lajjen. Die wahrgenommenen Dinge jelbjt werden auf Grund ihrer unmittel: baren Bejchaffenheit mit den äjthetifchen Merkmalen ausgerüjtet.

Aber auch das gegenjtändliche Etwas, das wir zum Träger jolcher äſthetiſchen Prädikate machen, ijt nicht ein Objeft, wie es die Naturwiljenjchaft in räumlicher und zeitlicher Beziehung, nad) jeiner jtofflichen Zujammenjegung und nach den Kräften, die es erfüllen, bejtimmt, jondern das Hörbare und Sichtbare, wie es erjcheint, wie es vorgejtellt wird. Darum haften ihm alle die Mängel an, welche die Unvolllommenheit unjerer jinnlichen Wahr: nehmung mit jich bringt. Nicht das objektiv richtig gezeichnete

280 Die äſthetiſche Gerechtigkeit.

Quadrat, jondern das mit Ffleineren vertifalen Seiten verjebene macht uns in Folge einer befannten optijchen Täujchung den ge: fälligen Eindrud einer ſymmetriſchen Figur. Die äjthetiiche An- ichauung it daher die naive urjprüngliche, nicht die von wiſſen— Ichaftlichen Neflerionen berichtigte und zerjegte. Aus diefem Grunde iſt es num aber auch für den äjthetiichen Werth einer Vorſtellung gänzlich belanglos, ob und wie wir fie auf reale Objekte zurüd: führen fönnen oder nicht. Wurzelt das Gefallen oder Mißfallen nur in der anjchaulichen Bejchaffenheit eines Eindruds, jo ift jein Berhältnii zur realen Welt gleichgültig. Daraus ergiebt fich einmal die prinzipielle äjthetijche Gleichwerthigfeit von Natur und Kunſt, von Wahrnehmungs: und Phantaſiegeſtalten. Unterjchiede unſeres Sejchmadsurtheils können hier nur bedingt jein durch die Mb: » weichungen, welche die vorgejtellten Inhalte jelbjt aufweijen, je nachdem, ob jie natürlich gegeben oder künſtleriſch dargeftellt, ob jie durch die Vermittlung der Sinne oder mit Hülfe der Einbil- dungsfraft bewußt geworden jind. Sodann aber gründet jich darauf die Freiheit des jchaffenden Künjtlers bei der Wahl und Verarbeitung jeiner Stoffe. Er erhöht den äfthetiichen Werth jeines Werfes nicht durch die peinliche Anlehnung an ein natürliches Mujter. Darıun iſt auch der Naturalismus, der ein jolches Wer fahren fordert, von dieſem Gefichtspunfte aus gar feine äſthetiſche

Nichtung. Deshalb fann er doch in anderer Hinficht und wir werden jelbjt jpäter eine jolche geltend machen jehr wohl eine

äſthetiſche Bedeutung beſitzen.

Die Bildung des ganzen, gefallenden oder mißfallenden Ein— drucks iſt hiernach keine einfache, ſondern eine recht komplizirte Sache. Wir hören z. B. ein Gedicht: da dringen Laute in be— ſtimmtem Tonfall, Rhythmus, in beſtimmter Geſchwindigkeit und dynamiſcher Abſtufung auf uns ein. All das kann uns bereits an ſich gefallen oder mißfallen, wie die Beurtheilung eines in unver— ſtändlicher Sprache vorgetragenen Liedes beweiſt. Dazu treten nun weiter die Vorſtellungen, die den Sinn der vernommenen Wörter bilden. Mehr oder weniger lebhaft tauchen ſie in unſerem Bewußt— ſein auf und folgen in ihrem Ablauf und Wechſel getreulich den erklingenden und verhallenden Lauten, die an unſer Ohr ſchlagen. Dieſe Bedeutungsvorſtellungen verbinden ſich ferner mit Gefühlen und laſſen Stimmungen in uns wirkſam werden, die gleich den Orgelpunkten das mannigfaltige Gewoge der Melodien und Harmonien dieſer Einzelvorgänge zu einer Einheit zuſammenfaſſen. Das alles

Die äſthetiſche Gerechtigkeit. 281

gehört zum äſthetiſchen Geſammteindruck des Gedichts und beeinflußt in abgeſtufter Energie die abſchließende Werthſchätzung des Ganzen. Die wiſſenſchaftliche Aeſthetik hat die ſchwierige aber zugleich auch einzig fruchtbare Aufgabe, die äſthetiſche Bedeutung aller, den Ge— ſammteindruck zuſammenſetzenden Faktoren zu ermitteln und die geſetzmäßigen Beziehungen zwiſchen ihnen und ihren Wirkungen feſtzuſtellen.

Jedes Element wirkt nun freilich auf unſern Geſchmack nur nach Maßgabe ſeiner zufälligen Repräſentation im Bewußtſein. Nur der wahrgenommene Laut und Rhythmus eines poetiſchen Kunſtwerks kann einen äſthetiſchen Einfluß gewinnen, und ob oder inwieweit ein ſolches Element beobachtet worden iſt, läßt ſich durch fein Geſetz vorherbeſtimmen. Darum fallen die Geſchmacksurtheile verjchiedener Perſonen über dafjelbe Objekt jelbjtverjtändlich ver: jchieden aus, und es wäre vielmehr merhwürdig und wunderbar, wenn fie es nicht thäten. Won der Yebhaftigfeit der in der Phan— tajie erzeugten Vorſtellungen hängt auch die Stärfe der jie be- qleitenden oder durch fie geweckten Gefühle und Stimmungen ab, und nach der Tiefe und der Vertheilung der Aufmerkſamkeit auf die einzelnen Faktoren richtet jich das Interefje, das wir ihnen zuwenden, und die lebendige äjthetijche Energie, die jie entwideln. Es handelt jich demnach bei dem Gejammteindrud, über den wir urtheilen, um eine Stombination von Elementen, deren jedes für jich innerhalb gewijjer Grenzen variiren fann. Wiederholungen der gleichen Kombination find aber, wie ſich aus einer einfachen Wahricheinlichfeitsbetrachtung ergiebt, bei einer jolchen Fülle vartt- rungsfähiger Glieder zu den größten Seltenheiten zu rechnen. Die Meijterwerfe der Kunſt aller Zeiten stellen uns im Allgemeinen jolche unwahrjcheinlichen Fälle dar, in denen der Geſchmack ver: ichiedener Individuen ſich übereinjtimmend äußert, und gewiß tt ihre Anzahl flein genug, um das Necht der hier angejtellten Er: wägung zu erhärten. Aber die Wejthetif verliert durd) dieje jelbit- verjtändlichen Abweichungen zwilchen den Gejchmadsurtheilen der Menjchen ihren wijjenjchaftlichen Charakter mit nichten. Gelingt es ihr zu zeigen, wie eim jedes Element für jich wirfen würde, wenn es allein vorhanden wäre, und wie die einzelnen Faktoren jich zu größeren oder fleineren Gejammteindrüden vereinigen, jo läßt jich jede Bejonderheit des Geſchmacks unjchwer erklären, d. h. auf allgemein geltende Gejete zurüdführen. Der Gemeinplat, daß jih über den Geſchmack gar nicht jtreiten laſſe, it ganz richtig,

282 Die äfibetifche Gerechtigkeit.

joweit er bloß auf die natürliche Ihatjache der verjchtiedenen Werth— urtheile hinweiſt, die über denjelben Gegenjtand gefällt werden, und jedes diejer Urtheile als ein durd) bejtimmte Urjachen zuretchend bedingtes und injofern gültiges anfieht. Er iſt aber durchaus unrichtig, wenn er die Meinung einjchließt, daß jich über die Be- jonderheit der Borausjegungen, welche den einzelnen Urteilen zu Srunde liegen, überhaupt nichtS ausmachen lafje, und dat demnach eine Berjtändigung über die Urjachen der thatjächlichen Abweichungen unmöglich jei.

Mean pflegt die äſthetiſchen Gefühle, die durch unjere Geſchmacks— urtheile zum Ausdrud gebracht werden, als ein Gefallen oder ein Mißfallen zu bezeichnen. Von ihnen find wohl zu unterjcheiden alle diejenigen Gefühle und Stimmungen, die an die einzelnen beurtheilten Vorſtellungen jelbjt oder ihre Gejammtheit gefnüpft find. So jind 3. B. die Sympathie, die wir mit dem Helden eines Dramas empfinden, die Empörung oder Trauer, die uns er- rüllen, wenn ein jeiner ummürdiges Geſchick über ihn hereinbricht, die aufgeregte Spannung, mit der wir dem Fortgang der Handluna folgen, und die Nührung, in die wir angejichts jeiner edlen Haltung im Kampfe mit den ihn bedrohenden oder gar überwältigenden Mächten verjegt werden, Gemüthserregungen, die dem Gegenjtandı unjeres äjthetifchen Urtheils jelbit angehören und daher Fur; Objeftsgefühle genannt werden fünnen. Ihnen jteht dann das Gefallen oder Mihfallen als ein Neaftionsgefühl gegenüber. Je nach der bejonderen Bejchaffenheit der Vorjtellungen und Gemüthserregungen, die das Objekt, den äjthetijchen Eindrud bilden, unterjcheidet man jchöne, erhabene, anmuthige, tragiiche, fomtiche Gegenſtände unjeres Gefallens. Die VBorausjegung für die Ent: itehung eines Neaftionsgefühls iſt jtetS das Intereſſe an der bloßen Beichaffenheit des Gegenjtandes, welcher der verjchiedenen Haupt: formen von Eindrüden er auch immer angehören mag. Damit ii: jedoch nicht gejagt, unter welchen Bedingungen er gefällt oder mißfällt. Es iſt ein unbeilvoller Irrthum moderner fünjtlerijcher Beltrebungen, in demjenigen, was interejjirt, ohne weiteres auch ſchon etwas erfreuliches zu erbliden und daher dem Eigenartigen. Neuen nachzujagen, weil es nach anerkannten piychologiichen Ge- jegen die Fähigkeit hat, die Aufmerkſamkeit auf fi) zu lenken. Das Interejjante fann ebenjowohl mißfallen wie gefallen, und mit Rückſicht auf dieſe doppelte Möglichkeit jtellen wir dem Schönen das Hähliche, dem Anmuthigen das Plumpe u. j. mw. entgegen.

Die äſthetiſche Gerechtigkeit. 283

Nach dieſen Vorerörterungen ſind wir nun für die Löſung unſeres Problems der äſthetiſchen Gerechtigkeit genügend vorbereitet. Damit Trauer, Elend, Unglück äſthetiſch berühren können, muß man ſich zu ihnen in ein Verhältniß ſetzen, das durch das Intereſſe für ihre bloße Beſchaffenheit hergeſtellt wird. Das iſt nur da möglich, wo alle Reize, die ſolche Vorgänge dem Wollen und Handeln ertheilen, unwirfjam geworden find. In der realen Welt gehören dieje Fälle zu den Seltenheiten. Bier jind vor allem die jittlichen Anforderungen und Verpflichtungen von einer die fontem- plative Ruhe unterdrüdenden Kraft, jo daß wir derartige Eindrüde lieber meiden, wenn es uns verjagt tt, praftijch einzugreifen. Innerhalb einer fünjtlerischen Darjtellung aber verlieren fie jofort dieje Beziehung zum Wollen und Handeln und gewinnen fie un: mittelbar cine äjthetijche Bedeutung. Auch hier fann das Mit— gefühl mit den gejchilderten Vorgängen lebendig jein, und wir haben fein Recht, von einem bloßen Scheingefühl dabei zu reden. Aber es hat aufgehört der Ausgangspunkt für eine praftijche Be- thätigung zu werden. Mit dem vorgejtellten Zujtande ſelbſt ver: ihmolzen, auf ıhn bezogen, bildet es einen Bejtandtheil des äjthe- tiichen Gejammteindruds. Die Wirklichkeit dagegen jtellt uns in eriter Linie praftiiche Nufgaben, deren größere Wichtigfeit einen jolchen Yuzus des Yebens, wie ihn der äjthetiiche Genuß bildet, nicht zur Geltung gelangen läßt. ragen wir danach, wie es denn fonıme, daß ein Kunſtwerk die praktische Beziehung zu den in ihm dargejtellten Vorgängen aufbebe, jo werden wir freilich auf den Unterjchied zwijchen Bild und Wirklichkeit verweijen müfjen. Darin liegt jedoch feine Anerkennung der oben befämpften Theorie des äjthetifchen Scheins. Denn erjtlich läßt jich auch den realen Vor: gängen eine äjthetiiche Seite abgewinnen, wenn jie die Wolle des bloßen unbetheiligten Zujchauers möglich) machen. Und zweitens tt die Unterjcheidung des Kunſtwerks von der Wirklichkeit nur als eine objektive Bedingung für die Entitehung eines äjthetijchen Verhaltens anzujehen und bedeutungslos für den jubjektiven Zuſtand des Genießenden. Für die Natur dejjelben gilt ja vielmehr, wie wir bereits ausgeführt haben, daß wir von Sch und Nicht= Ich, von objeftiver Nealität und jubjeftiver Illuſion gänzlich abjehen.

Wann aber wird uns nun eine äjthetisch aufgefaßte Trauer und Noth gefallen? Mit dem bloßen Interejje an ihrer Beichaffen: heit it ihr pofitiver Werth noch nicht gegeben. Ja es ijt zunächit fraglich, ob fich ein jolcher überhaupt hier entwideln fann. Denn

284 Die äfthetifche Gerechtigkeit.

das Beflagenswerthe, Noth und Elend, Unfittlichfeit und VBerderbt- heit, jie alle fünnen doch nicht zugleich gefallen und die in dem natürlichen Mitgefühl mit folchen Zujtänden und Vorgängen be gründete Unlujt erweden. Die Piychologie lehrt uns, daß die Ge- fühle durch einen einheitlichen Charakter ausgezeichnet jind, vermög: dejien nur eine Qualität jeweils zur Herrjchaft gelangt. Zwar lajjen jich Farben und Töne, Helles und Dunfles, runde und ediae Formen gleichzeitig erleben, nicht aber die Gefühlsgegenjäbe der Luft und Unluft, auch wenn fie ganz verjchiedenen Urjachen ent: jtammen. Iſt aljo wirklich ein Objeftsgefühl des Mitlerds, der Nührung, und nicht etwa blos eine Vorftellung, ein Begriff von ihnen vorhanden, jo läßt jich in demjelben Momente daneben nicht noch ein Neaktionsgefühl der Freude empfinden. Entweder nämlid muß die traurige Stimmung jelbjt bereits aufgehoben jein, wenn das Gefallen einjeßt, oder die auf entgegengejegte Gefühle bin: wirkenden Faktoren erzeugen einen rejultivenden Gemüthszuſtand, in dem je nach der Stärfe der gleichzeitig vorhandenen Urjachen bald äjthetijche Luft, bald auferäjthetiiche Unlujt hervortritt. Beides bietet eine erhebliche Schwierigkeit für die Erflärung des äſthe tiichen Gefallens am Traurigen. Vermag es erit nachträglid Boden zu gewinnen, jo läuft e8 Gefahr ein jchwacher und unzu— verläjliger Nachklang zu werden, um dejjentwillen es ſich wahrlid) nicht verlohnen jollte, eine jo jtarfe Gemüthserjchütterung uner: freulicher Art, wie jie der Anblick troftlojer Ereigniffe gewährt. auf fich zunehmen. Vielleicht haben dann diejenigen vollfommen Recht, die ſich feine Tragödie im Theater vorjpielen lafien und feine Nomane tragischen Inhalts lejen wollen. Gelingt es aber während der unmittelbaren Einwirkung des äſthetiſchen Eindruds der von ihm ausgehenden Unlujt joweit Herr zu werden, daß eine jchrwache Negung des GSefallens aufzufeimen vermag, jo it auch dieje be: itändig in ihrer freien Entfaltung bedroht und gehemmt und fann im nächjten beiten Augenblid dem Mitgefühl an dem dargeitellten Elend und Jammer, aljo der Unluſt, Platz machen müjjen.

Wenn uns fein anderer Musweg bleibt, jo werden wir, wie es jcheint, auf die alte medizinische, von Arijtoteles in jeiner be rühmten Definition der Tragödie angedeutete Auffafjung binge: drängt, nach der dem Gewitter gleichend, das die Luft reinigt, die Gemüthserregungen des Mitleids und der Furcht von Zeit zu zeit ich entladen müſſen, um unjere Seele zu befreien und zu er- löſen. Dann wäre das Gefallen am Tragijchen der Freude ver:

Die äfihetiiche Gerechtigkeit. 285

wandt, die wir empfinden, wenn eine an fich jchmerzhafte Operation an einem franfen Gliede unjeres Körpers glüdlich gelungen it, oder der Befriedigung, die uns die jättigende Nahrung gewährt, wenn ein recht quälender Hunger vorausgegangen it. Gewiß braucht nicht gejagt zu werden, daß eine jolche Yujt mit dem äjthetiichen Gefallen gar nichts zu thun hat. So wenig wir be: jtreiten wollen, daß jie vorfommt, daß dieje rein finnliche Wirkung neben der äjthetijchen einhergeht, jo jehr muß doch zugleich betont werden, daß jie an jich ihren eigenen Gejegen folgt, und in dem äjthetiichen Gefühl feine regelmäßige oder nothwendige Begleit- erjceheinung findet. Wer der Anjicht it, daß das Gefallen am Tragiſchen jich nur einjtellen fann auf Grund einer fraftvollen Er: giegung der Ihränendrüjen, der muß auch das Gefallen am So: mischen auf die wohlthätige Erjchütterung zurüdführen, welche die jtoßweijen Erjpirationen des Lachens für den gejunden Menjchen bedeuten.

Im Gegenjag zu Diejer findlichen Auflöjung des äjthetijchen Problems bieten ſich uns zwei Gejichtspunfte dar, die uns ein wirkliches Verjtändniß jenes Unterjchiedes, von dem wir bei der Beltimmung des Wejens der äjthetijchen Gerechtigfeit ausge: gangen waren, eröffnen. Zunächſt haben wir zu erwägen, daß die Trauer, welche ſich an einen bloßen Grfahrungsinhalt mit gewohnheitsmäßiger Sicherheit anjchliegt, ebenjo wie diejer jelbjt von allen praftijchen Beziehungen, Aufgaben und Zweden befreit tt. Ein uns in fünftlerijcher Darftellung gebotener jchmerzlicher Stoff fann, jofern wir uns ihm gegenüber in der für das äjthetijche Verhalten charafteriftiichen Kontemplation befinden, nicht die Qual und Sorge, nicht die Leidenjchaft erregen, die jih im Yeben mit unvermeidlicher Gewalt zur Geltung bringen. So gleicht die im äfthetiichen Zujtand auftretende Trauer der verflärten Wehmut, mit der wir unjerer lieben Toten gedenfen, nachdem Die leiden— ichaftliche Empfindung ihres Verluſtes von uns gewichen it. Ihr haftet nichts jinnlich Unangenehmes mehr an, fie entladet ſich nicht in wilden Ausbrüchen der Verzweiflung, ſie jtört nicht das ruhige Gleichmaß unjerer Stimmung. Ohne uns den Frieden der Seele zu rauben, begleitet jie die jtille, liebevolle Hingabe an das Bild der Entjchlafenen. So gehört aud) die Theilnahme, die wir dem Xeiden innerhalb der äjthetijchen Betrachtung widmen, zu dem vorgejtellten VBorgange, wie eines jeiner Merkmale. Sie wird jelbjt zu einem bloßen Inhalte unjerer Erfahrung, zu einem

256 Die äfthetifche Gercchtigfeit.

Objekt, und jtellt an uns feine Anforderungen, die wir wollend oder handelnd zu erfüllen hätten. ine jolche Unlujt it jchwad) genug, um ein äſthetiſches Gefallen möglich zu machen, und wird bei dem Kampf um die Herrichaft im Bewußtjein feine unüber: windliche Gegnerin jein.

Dazu fommt als ein weiterer wichtiger Faktor eine eigen- tümliche Leiſtung unjerer Mufmerfjamfeit. Sie vermag nicht nur einzelne Gegenstände unferer Erfahrung zu tjoliren, während anderen der Einfluß entzogen wird, den jie jonjt auf das Bewußt— jein ausüben fünnten, fie ijt auch im Stande, bejtimmte Seiten oder Nichtungen, die ſich an den Inhalten unjerer Erfahrung unterjcheiden lajjen, allen oder wenigjtens vorzugsweije zur Geltung zu bringen. Nun wifjen wir, daß Die äjthetiiche Be— trachtungsweije durch das Interejje für die bloße Bejchaffenbeit der Erfahrungsgegenjtände bedingt it. Darum werden alle jonjtigen Wirkungen Dderjelben unterdrüdt und fallen alle Die mannigfaltigen Neize fort, welche von ihnen in jinnlicher, jittlicher, wiljenjchaftlicher Beziehung ausgeübt werden fünnen. Es gelingt uns mit Hülfe dieſer theils hemmenden, theils iolirenden Macht unjerer Aufmerkfjamfeit in demjelben Moment, wo wir während itarfer Zahnjchmerzen auf die Empfindung als jolche uns fonzentriren, die finnliche Unluft zu jchwächen oder gar zum Schweigen zu bringen. Ebenſo fann der Arzt infolge einer zwedmäßigen Ein— jtellung jeiner Aufmerkjamfeit in dem jchwer leidenden Patienten nur einen „Fall“ jehen und dadurch die Jichere Ruhe gewinnen, die für eine klare Beurtheilung und das richtige praftijche Ein- greifen unerläßlich it. Im der gleichen Yage befinden wir uns, wenn uns traurige Zuſtände äjthetijch erregen. Die Beichäftigung mit ihrer anjchaulichen Bejchaffenheit lenkt von der natürlichen Nührung, von dem gewöhnlichen Mitleid ab, die als erite Bor: itufe für eine willensfräftige Bethätigung angejehen werden fönnen. Damit aber entfalten fi) nun ungehemmt die Wirfungen des Eindruds auf die äſthetiſchen Gefühle.

Mean wird es in dieſem Zuſammenhange nicht mehr für noth- wendig halten, daß wir die bejonderen Eigenjchaften genauer auf: zählen, welche die Entjtehung eines äſthetiſchen Gefallens an betrübenden Vorgängen veranlajien. Denn dieje jind im Prinzip feine anderen als die Merfmale, durch welche erfreuliche Gegen: ſtände einen pofitiven äjthetifchen Werth erlangen. Unſere Aus: einanderjegung bat ja zu der Einficht geführt, daß es fich nicht

Die äfthetiiche Gerechtigkeit. 287

darum handeln fann, das äjthetiiche Gefallen an dem Yeidvollen und Schmerzlichen in bejonderer Weije gerade auf die dadurch ausgelöjte Unluſt zurüdzuführen. Wir haben vielmehr gezeigt, daß und wie die überall mögliche äſthetiſche Wirfung aud) in jolchen ‚zällen frei werden fann, wo ſich das Weh einer mit: leidenden Seele jeglichem Gefallen als ein unüberwindliches Dinder: niß in den Weg zu ſtellen jcheint. Darum mag der Dinweis auf einige gefallende Momente genügen. So fann die jinnliche Erjcheinung, in der ji) uns Elend und Noth und unglüclicher Kampf enthüllen, für jich einen jchönen Eindrud gewähren. Nicht minder fann der organtiche Zuſammenhang zwiſchen den einzelnen Iheilen des jorgjam aufgebauten Kunſtwerks das Ktennerauge be: jriedigen. Ferner mag der Rhythmus der Stimmungen und Sefühle, der jih an die Folge der gejchauten Ereigniſſe fmüpft, ein wohlthuender jein. Endlich wird das Erhabene, da wir ın einem tragifchen Gejchi zu erfennen vermögen, wejentlich die erfreuliche Natur der äjthetiichen Wirfung unterjtügen. Die Auf- zählung ijt feine volljtändige und will es nicht jein. Nicht das Unerjchöpfliche in ein umfajjendes Syitem zu bringen, jondern Die allgemeinen Gejichtspunfte klar ans Licht zu stellen, welche bei der Yöjung des Problems der äjthetiichen Gerechtigkeit maßgebend jind, war hier allein die Aufgabe. Aus dem einen Grundbegriff des äjthetiichen Eindruds haben wir unjere Yöjung entwideln fünnen. So verräth ſich bier troß aller Unvolljtändigfeit im Einzelnen der fejte und nothwendige Zuſammenhang aller äjthetijchen Begriffe miteinander. Wir wollen e8 uns jedoch nicht verjagen, nachdem wir die IThatjache der äjthetiichen Gerechtigfeit auf ihre Srundlagen zurüdgeführt haben, ihre Bedeutung an einer be: jtimmten künſtleriſchen Richtung, an der des Naturalismus, zu erläutern.

II.

Ueber den Naturalismus als äjthetijche Theorie oder Norm it fein Wort zu verlieren. Im diefer Beziehung bleibt er hinter den Anforderungen weit zurüd, die man an eine befriedigende GErflärung der Thatjachen und eine ſich daraus ergebende regulative Beftimmung des fünftleriichen Schaffens jtellen muß. Aber damit iſt über die äjthetische Bedeutung einer naturaliitiichen Kunſt nichts entjchieden. Bielmehr würde ſich Die äjthetiiche Wiſſenſchaft geradezu ein Armuthszeugniß ausitellen, wenn jie einer jo mächtigen,

288 Die äſthetiſche Gerechtigkeit.

von Zeit zu Zeit wie mit innerer Nothwendigfeit hervorbrechenden und jich ausbreitenden Richtung der fünjtlerijchen Thätig- feit gar feinen Werth zuzuerfennen in der Lage wäre. Zwar an den willfürlichen baroden CEinfällen einer über: reisten individuellen Phantafie dart die Mejthetif vorübergeben, ohne befürchten zu müjjen, daß fie diejenige Weitherzigfeit einbüke, die eine Grfahrungswifjenjchaft gegenüber den in ihr Gebiet fallenden Thatſachen jederzeit ausüben muß. Aber Bejtrebungen, welche eine ganze Periode beherrjchen und der gejchichtliden Be trachtung geradezu als unumgängliche Durchgangsitufen zur höchſten Kunjtblüthe erjcheinen, zwingen den von Beobachtung und Unter: juchung des erfahrungsmäßig Gegebenen geleiteten orjcher feine Begriffe und Gejege jo zu gejtalten, daß fie ihnen gerecht werden fünnen. Mit jener Bhilojophie des Schönen, welche da defretirte, was alleın Gegenitand eines Gejchmadurtheils fein Dirfe, it es hoffentlich ein für allemal vorbet.

Kun hat man freilich jchon darauf hingewiejen, daß die tech— nischen Hülfsmittel durch das Beitreben naturgetreu zu malen oder zu jchildern verfeinert worden find. Je genauer wiedergegeben werden joll, was eine Yandjchaft, ein menschlicher Charakter, eine Situation an Eigenthümlichkeiten, Licht und Schattenjeiten in ſich bergen, um jo jorgfältiger, dDurchgebildeter und minutiöjer muß die Behandlung der dazu dienenden PDarjtellungsmittel werden. Ta: neben it auch die Nothiwendigfeit hervorgehoben worden, das moderne Yeben mit jeinen Kräften, Zujtänden und Zielen auch in der Kunſt zum Ausdrud gelangen zu lajjen. Andere Zeiten, andere Kämpfe, Intereſſen nnd Gewohnheiten! Gegenüber der romantijchen Flucht in die Vergangenheit oder in ein blühendes Reich unbefümmert jchaffender PBhantafie hat fi) unter uns eine warme und fraftvolle TIheilnahme an der Gegenwart, an der Wirklichfeit eingejtellt. Bon diefem Wirflichkeitsfinn der modernen Menjchen zehrt die naturalijtiiche Kunft, ihm kommt fie zugleic entgegen. Indem jie den Yejer, Hörer, Zujchauer in das bunte Setriebe, in die widerjpruchsvollen Tendenzen unjerer Zeit hinein- führt, rechnet fie auf ein matürliches großes Intereſſe für dieſe Dinge und pflegt jic darin nicht zu täüjchen. Aber man mus über dieſe halb widerwillig zugeitandene Bedeutung des Natura- lismus noch einen erheblichen Schritt hinausgehen, wenn man den pojitiven Werth, den die Yeiftungen dieſer Richtung für fich in Anfpruch nehmen dürfen, begreifen will. Denn die technijche

Die äfthetifche Gerechtigkeit. 289

Kunjtfertigfeit it an jich fein Gegenjtand einer äjthetifchen Wür— digung. Legt man den Hauptnachdrud auf das Können, nicht auf das Dargejtellte, jo zieht man in die äjthetijche Beurtheilung eines Eindruds etwas hinein, was fich nur auf Grund eines be— jonderen Wiſſens um die technijche Entjtehnng dejjelben abjchägen läßt. Aber auch derjenige, der feine Ahnuug davon hat, wie die Xeinwand zubereitet, die Farben verrieben und aufgetragen werden, fann ein Werf der Malerei genießen und würdigen. Schon Kant hat bemerkt, daß der wahre fünftlerische Eindrud auf einer Betrachtung beruhe, welche das Werk auffajje, ald wenn es ein Stüd der Natur jei. Betont man andererjeitS bloß das glück lihe Berhältnig, in welchem die naturalijtiiche Kunftübung zu dem natürlichen Interejje der Menjchen an der fie umgebenden Wirk: lichkeit jtehe, jo hat man zwar eine VBorbedingung für die Ent— widelung äjthetijcher Erregungen angegeben, aber die nähere Be— ziehung zum Gefallen zu bejtimmen vergejjen. Zugleich würde ſich von dieſem Gejichtspunfte aus eine bedauerliche Einschränkung des Werthes naturalijtiicher Kunſtwerke für die Zeit, in der fie entitanden jind, ergeben.

Hier tritt nun ergänzend derjenige Thatbejtand ein, den wir unter dem Namen der äjthetiichen Gerechtigfeit gejchildert und er- Härt haben, Für das Verſtändniß der naturalijtiichen Kunſt iſt das Prinzip unentbehrlich, nad) welchem ein in der Wirklichkeit faum oder gar nicht äjthetifch berührender Vorgang in der Dar: jtellung, die ihm das Kunſtwerk verleiht, zu einem Objekt des blogen Gefallens oder Mipfallens werden fann. Breitet jich über die Vergangenheit der feine, verhüllende Nebel aus, den unjere Unwifjenheit zwijchen das damalige Gejchehen und unjeren ein— dringenden Blid jchiebt, jo daß nur das Große, Glänzende, Eigen artige deutlich zu werden vermag, jo läßt dagegen die Wirklichkeit deö gegenwärtigen Daſeins und Lebens auch das Kleine, Trübe, Gewöhnliche zu einer klaren Erjcheinung werden. So liegt e8 denn im Wejen des Naturalismus begründet, daß er gerade dieſen Zügen jeine bejondere Aufmerkſamkeit jchenkt, und auf allen Gafjen fann man den Vorwurf gegen ihn hören, daß er ſich darin gefalle, dad Niedrige, die Schattenjeiten in Handlung und Gefinnung vor= zuführen. Man bedenkt dabei nicht, wie der Künſtler mit ficherer Hand die zahlreichen Unwerthe des Lebens, der Natur in äjthetijche Werthe ummwandelt nnd dadurd den in der Wirklichkeit benach- theiligten, zurüdgejegten Erjcheinungen eine größere Bedeutung

Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 2. 19

290 Die äfihetiiche Gerechtigkeit.

fihert. So fann das Unfittliche und Unangenehme, ja jelbit das Häßliche der realen Welt in den Kosmos der Kunjt aufgenommen und dadurch von den Faktoren befreit werden, die ein reine Ins tereffe an ihrem Inhalte nicht auffommen lafjen. Wie die Traum: gejtalten dämmernder Phantajie ziehen fie an uns vorüber, fein Handeln und feine wiljenjchaftliche Zergliederung fordernd oder ermöglichend, nur zur finnigen Betradhtung einladend. Aus jolcher Verjenfung in das Dargeitellte, aus Diejer theilnehmenden Empfänglichfeit erblüht ein Zauberreich äfthetijcher Geſtalten.

Das it der Wunderftab der Kunſt, der uns im Bilde, im Gedicht eine Wirklichkeit bejcheert, die rein äjthetiich gewürdigt und genofjen werden fann. Treibt uns das den Gejeten des Rechtes und der Sittlichfeit widerjprechende Verfahren im Yeben zum thätigen Eingreifen, zur Verhütung des Böſen, des Unerlaubten, zur Beitrafung des Verbrechers, jo wird es uns in der poetijchen oder malerischen Schilderung zu einem Gegenitand der Nach— empfindung, der inneren Theilnahme, der bloßen Betrachtung. Armuth und Elend, Schmug und Verfommenheit juchen wir, wo fie uns als finitere Mächte im menjchlichen Dajein begegnen, zu lindern oder zu meiden; dem Kunſtwerk aber, das jie uns an- chaulich vorzuführen weiß, geben wir uns mit Geilt und Gemüth willenlos hin. Unjer Interejje an ihnen wird durch feinerlei Aus: brüche unjerer Neigung oder Abneigung zertheilt und gejtört. In freier, tiefer und reiner Theilnahme an der Bejchaffenheit des Gegenitandes verharren wir pajjiv und jchweigend auch gegen: ‚über den gräßlichiten, entjeglichiten Vorgängen. Und vermag e: vollends ein Künjtler über den Unvollfommenheiten und Schwächen der beiten aller Welten die Sonne des Humors leuchten zu laſſen, dann entringt fich ung jene ewige, über Naum und Zeit erbhabene Heiterkeit, die unter Thränen lächelt.

In dieſer Umwerthung der Werthe, einer wahreren um bejjereren, als jie Niegiche pathetijch verfündet hat, ruht die Ueber

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legenheit der Kunjt über die Natur. Dieje äjthetiiche Gerechtigkeit |

stellt ich ebenbürtig neben ihre Schweiter Themis. Während die |

fegtere mit der Binde vor den Augen, auf feiner Waage, ohne

Anjehen der Berjon das Gute und Böje, das Necht und das Un— |

recht gegeneinander abjchägt, umfaßt jene mit allzeit offenem Blid das Stleine und Große, das Starfe und Schwache, die Güter und Uebel, die Fehler und die Vorzüge. Wo die jtrenge Schwester ihren Richtſpruch unnacdhjichtig Fällt, da tritt fie mild verjöhnend

Die äfthetifche Gerechtigkeit. 291

und ausgleichend ein. Sie iſt es, der nichts Menjchliches fremd bleibt, die das Niedrige, Gewöhnliche, Urmjelige aus feiner dunklen Pariaftellung emporhebt zur lichten Wärme eines äjthetijchen Interefjes. Alle Auswüchje und Stieffinder der Natur, von der öden unfruchtbaren Steppe bi8 zum jchmugigen SKehrichthaufen, von der Verworfenheit des unverbefjerlichen Böjewichts bis zur lächerlichen Hohlheit de eitlen Narren, von der widerwärtigen Habgier bis zur jündigen Fleifchesluft, von Haß und Neid und Radhjucht bis zur elenden Feigheit fie alle verjammelt fie um ſich, ihnen allen ficherr fie eine Betrachtung jenfeitS von gut und böje. Die hochragende Warte des fittlichen Ideals, gejunder Kraft und Friſche der Empfindung wird dadurch wahrlich nicht in den Staub gejtürzt. Nicht die ethijchen Werthe werden dadurch ge: ändert, es wandelt jich dadurch nicht das Unfittliche in ein Sitt— liches, das Unerlaubte in ein Erlaubte um, jondern es wird nur der in dieſen Unwerthen verborgene äjthetifche Inhalt an das Tageslicht gefördert. Das Unangenehme bleibt unangenehm, das Gejegwidrige gejegwidrig, die Pflichtverlegung hört nicht auf eine Pflichtverlegung zu jein; aber dieſe Momente verjinfen vor der itillen Gelajjenheit der äjthetiichen Stontemplation, die wir jolchen Erjcheinungen entgegenbringen, jobald jie ſich in künſtleriſchem Gewande unjerem Blide zeigen.

Darin aljo jehen wir das Berdienit des Naturalismus, daß er eine jolche äjthetiiche Gerechtigkeit übt. Das Gute bedarf ihrer jelbjtverjtändlich weniger als das Schlechte, das Erfreuliche weniger ald das LUnerfreuliche. Denn jenen wenden wir auch jchon im Leben unjere Theilnahme, unjer Interejje zu, und jo werden jie auch jchon in der Wirklichfeitt häufig von der genießenden An— Ihauung des äjthetifchen Zuftandes ergriffen. Aber von dieſer Anerkennung bleibt zugleich ausgejchlojien diejenige Kunſt, die ung vortäufchen möchte, daß Unrecht Recht oder daß Uebel ein Gut jei, die ſich in den Dienjt bejtimmter Theorien außeräjtbetijcher Art stellt. Aufreizung zum Klaſſenhaß, Propaganda für eine moderne Sittlichfeit und Lebensanjchauung, Borliebe für das Frivole und Gemeine liegen der echten naturalijtiichen Kunſt fern. Vo der Dichter jolche Ingredienzien in den Trank miſcht, den er uns reicht, da werden wir gewaltjam aus der Sphäre der reinen Kontemplation in ein gänzlich unäjthetiiches Verhalten hinein- gerijjen, da werden gerade Die praftijchen Beziehungen des von ihm gejchilderten Gegenjtandes zu uns, die dem Stunjtwerf gegen-

19*

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über zurüdtreten und vergehen jollten, mit täpptijcher und rober Hand wiederhergeitellt. Nur eine von jeder Tendenz freie, unbe fangen die Schäden aufdedende fünftlerijche Arbeit fann den äjthetiichen Werth beanjpruchen, den wir dem Naturalismus zu: getheilt haben.

Doc; nicht nur in dieſer Beziehung bedarf die Anwendung der äſthetiſchen Gerechtigfeit einer Einjchränfung. Wir müſſen aud noch darauf hinweijen, daß eine Schilderung der Mängel um Verfehrtheiten der Welt im allgemeinen nur in naturalijttjcher Form, d. h. in unmittelbarer Anlehnung an die Wirflichfeit erträg: lich it. Wie gerne lajjen wir ung von dem Künſtler in ein ideales Gebiet leiten, dejjen Vollkommenheiten nur in der freien Phantaſie Beitand haben! Aber von den Greueln und Schandthaten, die ung eine erhißte, eigens darauf zugejpigte Einbildungsfraft vor die Seele führen möchte, wenden wir uns mit Grauen und Abjcheu ab. Nur wenn wir das Bewußtjein haben, das, was wir wahrnehmen, jei der Natur abgelaujcht, jei treu und mit unbejtechlicher Wahr: haftigfeit nach realen Vorbildern berichtet oder gezeichnet, pflegen wir e8 zu dulden und äjthetiich zu würdigen. Dabei ijt es gleich; gültig, ob dieſe unjere Annahme begründet ijt oder nicht; ent- icheidend it vielmehr nur die Frage, ob wir das Dargeitellte nad Maßgabe unjeres Wifjens, unjerer Erfahrung für möglich Halten. Darum it es im Interejje der äjthetiichen Wirkung geboten, ſich mit der Schilderung der Nachtjeiten nicht in das Abjonderliche, Unwaphrjcheinliche, Seltene zu verjteigen, jondern das Typiſche, den meiſten Geläufige auszuwählen. Die äjthetijche Gerechtigfeit vergeudet ihre Huld nicht an den erträumten Uebeln, an den von einer verirrten Phantafie heraufbejchworenen Spufgejtalten, jondern jie neigt fich herab nur zu den Bildern einer beflagenswerthen Berfettung von Dingen und Ereignijjen, die in der Wirklichkeit möglich erjcheint oder für möglich gehalten wird. Es hängt das damit zujammen, daß ein allgemeines Snterejje für derartige Stoffe nur vorausgejegt werden fann, wenn fie jich durch eine innere Wahrjcheinlichfeit von bloßen Ausgeburten einer patholo— gischen Vorſtellungskraft unterjcheiden lajjen.

Sp iſt es uns möglich geworden, mit Hilfe des Begriffes der äjthetifchen Gerechtigfeit dem Naturalismus einen Lorbeer zu pflüden, den ihm noch fein Mejthetifer gereicht hat. Nicht dem Prinzip, der Theorie, der Norm jei er geweiht, jondern der künſt— lerijchen Richtung jeines Namens. Aber auch nicht allem, was in

Die äfthetifche Gerechtigkeit. 293

der Kunjt unter diejer Flagge keck und frech daherjegelt, fünnen wir dieſen Preis ertheilen, jondern nur jenen echten und ernjten Werfen, die der erhabenen Idee der äjthetijchen Gerechtigfeit dienen und deren Aufgabe erfüllen. Jede Zeit hat ihre Kümmernifje und prägt den allgemeinen Unjegen, der auf der Welt lajtet, in ihrer bejonderen Weije aus. Der Naturalismus wird dafür der Spiegel, in welchem wir in leidenjchaftslojer Weiſe auch die Ktehrjeiten zu jchauen und zu würdigen vermögen. Wer der Kunſt verbieten will, uns in das Schattenreich) der Verderbniß zu führen, jtrebt nicht nur nach einer unerreichbaren Bejchränfung ihres Waltens und Wirkens, jondern trachtet auch in jeinem blinden Eifer danach, alles, was in jenem Neid) lebt und webt, jeglicher mitempfindenden Theilnahme zu berauben. Beruht die Kraft und der Reichthum des Idealismus auf der freien und hochgejtimmten Phantafie, die fih von der unvollfommenen Wirflichleit aus in ein glüclicheres, , teineres, bejjeres Gefilde rettet, jo haftet dagegen der Naturalismus an der Erde mit ihren Mängeln und Schwächen. Ohne Ver: jhönerung und doch in der einer künſtleriſchen Darftellung inne- wohnenden Verklärung giebt er uns die Wirklichkeit, wie fie it, mit ihren Schladen und Flecken. Offenen Auges wandeln wir heute vielfach in einer Traumwelt, die nur einen fleinen Bruch- theil der wirklichen bildet und doch den Anjpruch erhebt die ganze jein zu wollen. Bon der modernen Kunjt erhalten wir dann den tieferen Einblid in die ung fremd gebliebenen Sphären und lernen auch jie mit unbefangener Theilnahme erfajjen und tragen. Und jo gleichen wir in unferer äjthetijchen Gerechtigfeit jener höheren, von der es in der Bergpredigt heißt, daß fie „die Sonne auf gehen läßt über die Böfen und über die Guten und regnen läßt über Gerechte und Ungerechte.”

Das MWirthichaftsleben der deutichen Südſeeinſeler.

Von Hans Blum.

Der weitaus größte Theil des deutſchen Südſeeſchutzgebiets wird von melaneſiſchen Stämmen bevölkert und zwar von ſolchen. die nach dem Vorgange des Profeſſors Dr. von Luſchan Weſt— melanejier genannt werden. Djtmelanefier mit ungewöhnlich langen, hohen und jchmalen Schädeln finden ſich auf einigen Injeln der Fidfchigruppe, vor Allem aber in Neu-flaledonien und auf den Neu-Hebriden. Kaijer Wilhelmland ift die Heimath des echten (melanefiichen) Papua. Der Küjte entlang find malaitjce Beimifchungen nicht zu leugnen jo zweifellos nicht auf der Mattyinfel aber auch ſonſt bis zur Ajtrolabebai hinab. Die inländischen Bergbewohner Neu-Guineas erinnern jtellenweije ſehr an den Auftraltypus, von ihnen haben wir indeß bis jetzt nur äußerjt jpärliche Kunde. In die Flußthäler find offenbar die Papua der Hüfte vorgedrungen, jo am Ramu und am Slaijerin- Auguftafluß, haben jich aber dort von malaiischer Mifhung ganz frei gehalten. Vom Feſtland Neu-Guinead gen Djten wandernd treffen wir auf den Franzöſiſchen Inſeln und auf Neupommern noch unvermijchte Papua bis zum Nordende der Gazellehalbiniel in den Bainingbergen. Die Gazellehalbinjel jelbjt, Neu-Lauen— burg und Neu-Medlenburg- Süd find von einer Raſſe bevöltert, die wahrjcheinlich einer melanefifch-polynefiichen (aljo malaiischen) Mengung ihr Dajein verdankt. Möglicherweije find Polyneſier von Oſten aus rüdwandernd in den melanefischen Injelgürtel

Das Birtbichaftsleben der deutſchen Sübdjfecinfeler. 295

dort eingedrungen. Auf den deutjchen Salomoinjeln begegnet uns wieder der echte Papua. Die öftlicheren Kleinen deutjchen Inſel— gruppen jind von WBolynefiern bejiedelt. Auf den Wdmiralität- injfeln herrſcht in einer Miſchraſſe malaiische Art vor; Aehnliches finden wir auf den Cremiten und Nnachoreten. Nördlich der. Linie, in dem jogenannten Mifronefien, zeigen die Marjhalls mehr Berwandtjchaft mit Polynefien, während die Bewohner der Karolinen vorwiegend mit melanejischem Blut durchjegt jind. Ein buntes Gewirr! Wo find die Fäden, die aus dieſem Raſſen— und Sprachencdhaos heraus zu den dunklen Spuren leiten, auf denen vor vielen hundert Jahren die erjten Menjchen jene Inſel— welt bejiedelten? Zweifellos hat die neuholländische Raſſe zu— allererjt Ozeaniens Küjten aufgefuht und wahrjcheinlich fam auch fie aus dem Süden Djtafiens. Später, vielleicht Jahrtaujende jpäter, find die Oſt- und dann die Weſtmelaneſier von Djtindien über den malaiiſchen Archipel nachgedrängt, ihnen folgten Die Polynefier, als auch jie den Stärferen weichen mußten. Neuere Forſchungen führen zu der Annahme, daß jowohl Madagastar, die Keelinginjeln, al8® auch ganz Ozeanien und noch früher Australien und Tasmanien allmählih in großen Paujen von Stämmen bejiedelt worden find, die urjprünglich alle in Ojftindien heimijch waren. Die vordringende mongolijche und indische Raſſe trieb Die Ureingeſeſſenen gen Oſt und Weſt auf die See hinaus oder auf die unwirthlichiten Gipfel des indilchen Hochgebirges. Die Sprachforſchung glaubt in Madagaskar, in den einjfamen Hochlanden einzelner Striche Indiens, auf Neujeeland, auf Tahiti gleiche Wurzeln zu finden. Im Großen und Ganzen wird Hinter: indien daher wohl die Urheimath aller Südſeeinſeler jein, aber fie jind zu weit auseinander liegenden Zeiträumen in fleinen Trupps und Sippen gewandert, jind unjtät hin- und hergezogen, durch Wind und Wellen verjchlagen worden, haben vielfach ſich ge- mijcht und find jchlieglich auch wieder von Oſt gen Wejt rüd- gejtrömt. Ein einheitliches Bild diefer Wanderungen wird wohl nie zu Stande fommen. Gbenjowenig fönnen wir über die Zeit der Befiedlung Haltbares ermitteln: jie liegt jedenfalls näher, als man häufig anzunehmen geneigt iſt. Neuere Forſcher jegen den Beginn der Befiedlung Ozeaniens auf das Jahr 1000 vor Ehriftt Geburt an. Am jtaunenswerthejten jcheint uns der fühne Wagemuth, der die Heimathverdrängten hinaus aufs unbefannte Weltmeer trieb. Gewiß find die Yaunen des Waflers und des Windes viel

296 Das Wirthſchaftsleben der deutfchen Sübfeeinjeler.

häufiger die Wegweijer der Irrenden gewejen, als nach Richtung und Biel bejtimmte Pläne. Trotzdem waren es unerjchroden: Seefahrer und gewandte Sciffbaumeifter, die auf dem Einbaum die großartigite Bejiedlung leifteten, die wir aus der Gejchichte fennen. Die Annahme, Ozeanien jei ehedem ein feiter großer Erd: theil das Südland! gewejen, dejjen Gipfel heute als Inſel— ichollen aus dem Meere ragen, ijt ja nicht ohne Weiteres zurüd: zuweilen, wiewohl der Franzoſe Bernard für den weftlichen Stillen Ozean den geologijchen Nichtigfeitbeweis dieſer Muth: maßung erbracht zu haben glaubt, aber dieſes Südland it mindejtens in der Diluvial» vielleicht jchon in der Tertiärzeit eine Beute des Wafjers geworden. Die Menjchen, deren Nachkommen heute noch die Südjeeinjeln bevölfern, wohnten dorten jicher erit jeit wenigen Jahrtaufenden, die legten Nachwanderer (Polyneſier nicht einmal jo lange. Wir müfjen alfo in ihnen die Ueberreite von Stämmen erbliden, die ein fühnes Seefahrervolf waren lange bevor Europas Vorfämpfer auf dem Weltmeer die Geftade der Süpdjeeinjeln zum erjten Mal erjchauten.

Die Entdedung diejer Injelwelt iſt vorzüglich mit dem Namen Cook verknüpft; freilich haben andere Spanier und Portugiejen (Magelhaes 1520) einzelne Schollen des Stillen Meeres Ihon Jahrhunderte früher gefichtet; die weftliche, jetzt deutſche Inſelwelt, war bereitS zu Beginn des fechszehnten Jahrhunderts befannt, Neu Guinea feit 1526 durch den Portugiefen Jorge de Menejes; aber die vielen Entdedungsfahrten der nachfolgenden Sahrhunderte haben wenig Kunde von Land und Leuten zum heimathlichen Norden getragen, vor Allem recht geringe, wirklich wijjenjchaftliche Ausbeute. Ueber die nunmehr deutjchen Südſee— jchußgebiete haben erſt die legten Jahrzehnte einigen Aufſchluß gebracht und das wirthichaftliche und gejellichaftliche Leben unjerer Südjeeunterthanen ift bis zum heutigen Tage unvollfommen er: forjcht, nur von wenigen engbegrenzten Bezirken, von der Gazelle balbinjel*) und von einigen Küſtenſtrichen Neu-Guineas haben wir

*) Bor einigen Wochen ift bei Friedrich Vieweg in Braunſchweig ein Bud des Grafen Joahim Pfeil erfhienen, das gerade die Bewohner ber Gazellehalbinfel und ihre Sitten und Gebräudhe mit großer Sorgfalt und Genauigkeit behandelt: „Studien und Beobadhtungen aut der Südjee.“

Graf Pfeil hat e8 darin verftanden, feine eigenen Grfahrungen, Erlebies und Gelejfenes zu einem ſchönen künſtleriſchen Kranze feiner Darftellung zu verweben, die Jeden mit Befriedigung erfüllen muß, der an Natur und Neifebefhreibungen Freude und Intereffe Hat. Das

Das Wirtbichaftsleben der deutſchen Südſeeinſeler. 297

nähere Stunde; immerhin ijt auch das Wenige anregend und be- lehrend und bietet willfommene Gelegenheit zu einer Betrachtung primitiver Wirthichaftszuftände bei einem ung durch politijche Inter: ejjen näher gerüdten Naturvolfe, zu der die befannten Arbeiten Lavalleyes, Büchers, Ratzels und Anderer den eriten Antrieb gegeben haben.

Allem vorausgejchidt jet, daß die deutichen Südjeeinjeler noch volljtändig in der Steinzeit lebten, als fie mit den Weißen in Bes rührung traten. Sie fönnen in gewiſſem Sinne als moderne Bertreter des von dem Palävanthropologen neolithijch genannten Zeitraumes gelten, ebenjo wie die nunmehr ausgejtorbenen Tas» manter vielleicht faum der paläolithijchen Periode entwachjen waren, al® Europäer das ferne Südeiland zum erjiten Mal erblidten.

Bon der phyſiſchen Grundbedingung alles thieriichen Lebens ausgehend, betrachten wir zunächjt diejenigen Wirthichaftsformen und Einrichtungen, die zur Befriedigung der Leibesnothdurft am nöthigjten find: die Mittel der Ernährung. Der Gedanke, daß die Klüfte und Klamms Neu-Guineas je von Menjchenrudeln des Urzuftandes durchjtreift worden jeien, die von Wurzeln,

durd feine Zluftrationen und durch feine ganze Ausftattung vorzüglich u einer Feitgabe geeignete Werk ift um fo mwertbvoller, als Gral feil —— wiſſenſchaftliche Forſchung und Prüfung aller Quellen zur Grund— lage ſeiner Arbeit gemacht hat, und es 4 eig vermeidet, Ber: —— nur Erdachtes, Phantaſien, Märchen aufzutifchen, wie es leider Werfen verwandter Gattung fo oft eignet. „Die Studien und Beobadtungen aus der Südfee” find mirklihe wiſſenſchaftliche Unter- fuhungen und Betradhtungen über die ethnologiſchen, anthropographiſchen, wirthſchaftlichen, religiöfen, rechtlichen, fozialen Zuftände auf jener fernen Anfelmelt, in Sonderheit im Bismardardipel, wo Graf Pfeil felber mehrere Jahre gemeilt und mande Forfhungszüge quer durch Neu— Medlenburg und Neu-Pommern unternommen bat. Und in jeiner Darftelung fommt nit nur gründliche wiffenfhhaftlihe Forihung, ſondern auch feine eigene feine Beobahtungsgabe voll zur Geltung und erhöht, verbunden mit einem flotten und liebenswürdigen Stil, den Reiz der Lektüre. Das fteigende Interefje für foloniale Intereffen findet in diefem Bud eine wilfommene und hoffentlich recht ausgiebig genugte Quelle der Anregung und Belehrung.

In Anlehnung an Ddiefen Hinweis auf das Pfeilfhe Werk fei es mir auch geftattet, auf mein eigenes foeben erfhhienenes Bud „Reu- Guinea und der Bismardardhipel”“, Berlin, Schoenfeldt & Eo., aufmerffam zu machen, in dem dem Leſer zum erjten Mal im Bus fammenbang ein Bild des politifhen und wirthſchaftlichen Werdegangs unferes Eübdfeeihußgebietes geboten und der Werth befjelben unter wirthichaftlicher Beleuchtung der bisherigen agrifulturellen und geichäft« lihen Unternehmungen geprüft wird, das Buch enthält in Kürze Alles, was Heder über Neu-Guinea miffen müßte, dem unfere folonialen Beftrebungen nicht fernliegen.

298 Das Wirthſchaftsleben der deutſchen Sübdjeeinfeler.

Früchten und jeglichem lebendem Gefleuch und Gefreuch in Durd- aus thierifcher Weije ein gehetztes Dafein frilteten, iſt abzulehnen: es fehlt die für eine jolche Urlebensweife nöthige Fauna, es mangelt an fruchtreichen Bäumen und Sträuchern und das Gelände ift zu zerriffen. Die erjten Bejiedler Neu-Guineas waren jchon primitive Aderbauer, als fie einwanderten, haben aber jich jeitdem faum etwas vervollfommnet. Noch heute gejchieht die Boden: bejtellung in der Form des urjprünglichjten Hadbaus, im Bismard- Archipel vorwiegend an leicht geneigten Hängen. Das einzige Geräth bejteht in einem gehärteten Spigholz, das mitunter einen badenförmigen Anja hat. Erdfrühte Yam, Taro, Bataten, Tapiofa Bananen und Tabak werden allenthalben angepflanjt, freilich nicht über den allerdringenditen Bedarf hinaus. In Be zirfen, in denen Sago- und Kofosnußpalmen in überreicher Menge gedeihen, bejchränft fich die Bodenbebauung auf ein Mindeftmas, jo um den Berlinhafen herum, wo die Güte der Natur ein jelten träges Volk allzu freigebig bejchenft. Kaum zwingt die Einerntung des Sagos sack-sack genannt dieje glüdlichen Faulpelze, denen naive, freudige Bejahung des Daſeins einzige Lebensweis— heit ijt, dazu, einige Wochen dem dolce far niente zu entjagen. Immerhin find ſolche von der Natur ganz beſonders bevorzugte Strihe auch in dem bodenfraftjtrogenden Neu-Guinea Ausnahmen. Sn der Regel erfordert die Gewinnung der Nahrungsmittel eine geregelte Arbeit im Felde. Dieje liegt fajt ausjchlieglich der Frau ob. Sie, die ehedem im Urzujtand des Hordenlebens Früchte und Knollen jammelnd den Hunger jtillte, hat dieje urjprünglichite Nahrungſuche allmählich in die Anfänge der Bodenbejtellung hinübergeleitet und dieſer Entwidlung gemäß tritt jie uns fajt bei allen Naturvölfern als alleinige Ausüberin landwirthichaftlicher Arbeit entgegen. In Neu-Guinea leijten die Männer höchiten! bei der Rodung und Einhegung der Pflanzungen den jchweriten Berrichtungen einige Hilfe. Da es mühelofer it, von Zeit zu Zeit mit Hilfe der jengenden Gluth des Feuers neue Urwald: jtreden zum Pflanzland herzurichten, al8 das alte von dem üppig aufichtegenden Jungholz zu jäubern, werden die Pflanzungen in Zeiträumen von zwei bis fünf Jahren verlegt. Hieran jchliegt jic mitunter eine geringfügige Verſchiebung der Wohnjite an; im all gemeinen herrjcht jedoch Seßhaftigkeit, als natürliche Folge dei Aderbaues, vor. Obwohl der Grundzug der Landnutzung der der rohen Bodenverjchwendung it, vermißt man nicht eine gemifie

Das Wirthſchaftsleben der deutſchen Südfeeinfeler. 299

Sorgfalt in den Pflanzungen; einige Stämme zeichnen ich bejonder® aus, jo die Bewohner der Inſeln Tarawai und Valies (Bertrand: und Guilbertinjeln) an der Nordfüjte von Kaijer-Wilhelmland. Die Pflanzungen diejer Eilande werden in einer Weiſe gepflegt, daß man glauben möchte, ihre Beſitzer müßten dem Hadbau längjt entwachjen jein, und doc iſt ihr Geräth daſſelbe wie das aller Papua, der einfache Spigitod. Auch dies Beijpiel mag lehren, daß die Technif nicht allein die BZeugerin des Fortjchritts iſt. Der verjchwenderischen Bodennugung im Großen paart fich jtellenweije ein gewijjies Maß von Boden— geiz, injofern auf dem einmal gerodeten Lande eine Frucht: folge jtattfindet: Land, das der Erdfrucht müde iſt, wırd mit Bananen bejegt. Auf der Gazellehalbinjel it dieſe Uebung allgemein, in Saijer-Wilhelmland nur jehr vereinzelt. Düngung des Bodens findet nirgend jtatt, Ddesgleichen mangelt jegliche fünftliche Bewäjjerung; langjährige Erfahrung hat den Papua gelehrt, die Bejtellung jeiner Pflanzungen den örtlichen Wetter: verhältnifjen anzupafjen. An ein corriger la nature denft Die überlegungsarme Einfalt nicht, um jo jchlimmer trifft den Papua eine Mibernte; denn ganz abgejehen davon, daß Erdfrüchte und Bananen ſich nicht zu langer Aufjpeicherung eignen, fennt er feine Sorge für die Zukunft. Auch der Einfluß des Weißen und dejjen Nachfrage nad) Knollen und Früchten haben erjt eine jehr geringe Vermehrung des Bodenanbaues herbeigeführt, am meisten noch im Bismard-Archipel. Vor Allem wird dort die Kokosnußpalme jeit den letten Jahren über den Eigenbedarf der Eingeborenen hinaus angepflanzt. Derjelbe Erfolg tt auf den Mearjhallinjeln zu be— merfen, leider noch nicht in Kaifer-Wilhelmland. Die Palmen find zwar auch dort neben Brotfruchtbäumen, Galip, Mango, Ingwer, Betelnuß, Zuckerrohr u. dgl. die jteten Begleiter der Dörfer, aber nur nach Mafgabe der Bedürfnijje ihrer Inſaſſen. Nur jehr, jehr langjam dämmert das Verjtändnig vom Werthe der Gitererzeugung im Hinblid auf die Zukunft. Da aber durch den Aderbau die erjte Grundlage alles wirthichaftlichen Vorausberech— nens und Hinterherbedenfens einmal gegeben ift, fann und muß man auf ihr weiter bauen. Die deutjchen Südjeeinjeln jind durch: weg von einem bereits Aderbau treibenden Wolf bewohnt, die Er- zeugnijje defjelben bilden den Hauptjtod der gefammten Ernährung. Der phyfische, wirthichaftliche, ja auch joziale Zujtand jener Injel- völfer erhält dadurch jein bejtimmtes Gepräge. Von ihm muß der

300 Das Wirthſchaftsleben der deutfhen Südſeeinſeler.

Europäer ausgehen, will er fich dieſes Naturvolf nüglich und dienjtbar machen.

Im Vergleich zur Bodenbebauung nehmen andere Quellen der Ernährung nur eine untergeordnete Rolle ein. Cine regelrechte Viehzucht bejteht nirgends, auch nicht in der Wechjelbeziehung zum Aderbau, jo daß diejer durch Zuführung von Viehdung ver- bejjert würde. Hunde, Schweine und Hühner werden, wie auf allen Südjeeinjeln, jo auch auf den Ddeutjchen gehalten. Die eriteren find jedenfalls jchon Hausthiere der Papua gewejen, als dieſe ihre indiſche Heimath verließen, haben doch jelbit die Auftralier, vermuthlich viele Jahrhunderte früher, den Dingo zum fünften Erdtheil geführt! Die klaffende Lücke zwiſchen der ein: heimischen Fauna aller Südlande und den Hausthieren der Einge: borenen weiſt gebieterijch darauf hin, daß erjt die Bejiedler der fernen Eilande Hund und Schwein in ihnen heimiſch gemadıt haben. Möglicher Weije ift das lettere erjt durch europätjche oder malaiische Seefahrer an einzelne Gejtade der Südjee gebradıt worden, jo nach Neujeeland erjt durch Cook; jicher gilt die8 vom Huhn. Diejes dient übrigens den Papua Neu-Guineas lediglich mit jeinen Federn zur Schmüdung des wolligen Kraushaars bei fejtlichen Gelegenheiten, nicht als Speife; im Bismardarchipel wird e8 dagegen von den Eingeborenen gegeſſen, jeine Eier indeß verjchmäht der Melaneje, wie der Bapua. Der Beſitzſtand an Schweinen ijt auf Neu-Pommern und Neu-Lauenburg größer als in Ktaifer-Wilhelmland auch in dieſer Hinficht paßt fich der Bismardarchipel den Wünjchen der Weißen durch Vermehrung der Schweinezucht allmählid an aber nirgends bildet Fleiſch— nahrung, zu der auch die Hunde einen wejentlichen Beitrag jtellen, eine dauernde regelmäßige Ergänzung der Koſt. Mageren Wochen folgen Tage des Ueberfluſſes an thieriſcher Nahrung gelegentlich eines Feſtes (sing-sing) oder einer Beerdigung. Denn auch ein trauriges Yamilienereigniß bietet den „Leidtragenden“ nur die willfommene und nöthige Gelegenheit, in Schweine ichinfen und Hunderippen zu völlen. Nöthig deshalb, weil der Menjch der Fleiſchnahrung niemal® ganz entrathen fann, ohne einer jicheren Entartung, wenn auch erjt in einer Reihe von Ge: ichlechtern, entgegen zu gehen. In ihrer urjprünglichen Heimath hatten die Bewohner der Südjeelande thierifche Nahrung genug: jie waren gewöhnt an reiche Jagdbeute. Die armjelige Jauna der Schollen Ozeanien bot hierfür feinen Erjag, die Hausthiere

Das Wirthſchaftsleben der deutfhen Sübdjeeinjeler. 301

reichten bei Weitem nicht aus, aber die Natur verlangte ihr Ge- wohnheitsrecht, und nichts war folgerichtiger, als daß erbeutete Feinde eine willfommene Sleijchnahrung wurden. WBielleicht iſt dies nicht der einzige Grund des auf allen Südjeeinjeln heimijchen Kannibalismus, religiöje Vorjtellungen mögen diejen gleichzeitig begünftigt haben, gewiß aber it der Mangel an thierijcher Nahrung, den die Injulaner injtinktiv als Quelle des phyſiſchen und piychiichen Niedergangs empfanden, eine jtarfe Triebfeder des Menjchenfraßes gewejen, und ijt e8 heute nod).

In gewiſſem Umfange bot einen anderen Erſatz für Die fehlende und doch jo unentbehrliche Fleifchnahrung der Reichthum des Meeres an Fiſchen. Der Fiſchfang iſt in Mifronejien und im Bismardarchipel in der That ein weitverzweigte® und aus: gebildete8 Gewerbe, in Kaijer-Wilhelmland nur auf einigen Fleinen der Hauptinjel vorgelagerten Eilanden. Auf der Gazellehalbinjel und in NeusLauenburg bejteht ein bejonderes Fiſchereirecht: Die Binnenländer find von den Schägen des Waſſers ausgejchlofien, den Anwohnern der Küſte eignet jedesmal der an ihre Befigung anjchliegende Abjchnitt des Meeres, jedoch) iſt dieſe Scheidung, wie alle Eigenthumvertheilung, nirgends jtreng durchgeführt. Der Fiſchfang gejchieht mit Neben, Körben, Angeln, aucd mit Bogen und Pfeil, legteres jedoch) nur an den Küſten Neu-Guineas. Die Pfeile haben einen Spitenfranz von vier bis ſechs Enden. Das Fiſcheſchießen iſt vielfach ein Zeitvertreib halbwüchjiger Knaben, die ſich in der Dämmerung mit dem Bogen bewaffnet auf den Niffringen der Inſel und Inſelchen tummeln. Einen regelmäßigen Beitrag zur Nahrung liefert der Fiſchfang den Papua von Fatjer-Wilhelmland nicht. Gemeinjame Fiſchzüge in Kanuflottillen gehören zu den Seltenheiten. In dunklen Nächten bieten jolche auf Fiichfang ausziehende Kanus mit ihren Xocfeuer- bränden einen äußerſt malerischen Anblid. Die Neupommern der Blanchebai und die Neulauenburger dagegen betreiben die Fiſcherei mit großem Eifer und planmäßiger Taktik. Schon die Kinder, auh Frauen und Mädchen, verbringen die Zeit mit Eleinen (Schmetterling-)Negen im Küjtenwajjer fijchend, wie etwa unjere Kleinen im Wieſenbach Kaulquappen hajchen. Für die Großen it das Spiel der Kinder ernite Arbeit, die ihnen einen weſent— lihen Beltandtheil der Nahrung liefert. Unjeliger Weije hat das Dynamit der Weißen viele filchreiche Meeresitriche arg entvölfert. Schu der Seefifcherei durch die Regierung thut daher dringend noth.

802 Das BWirthihaftsleben der deutfchen Sübdjeeinfeler.

Die Schon erwähnte Armuth der Fauna Neu-Guineas erklärt den Mangel an jeglidem Jagdſport unter den Eingeborenen, Die wenigen Eleinen Beutel- und fliegenden Säugethiere find dem Menjchen weder gefährlich noch nußbringend. Der Papua jteht ihnen ganz gleichgültig gegenüber; bringt der Zufall irgend ein Gethier in jeine Hände, jo wird es verjpeijt ald Luxusnahrung, als Sonntagbraten. Auch verwejende Thierleichen finden ihre Liebhaber. In einigen Gegenden herrſcht eine ausgejprochene Vorliebe für angefaultes Fleiſch. Es ijt befannt, daß dieſe Sitte unter Naturvölfern eine ziemlich weite Verbreitung hat, vor Allem in Sübdamerifa. Die zahlreichen gefiederten Bewohner des Ur: waldes jind vor den Fallen und Pfeilen der Eingeborenen ziemlich jicher, ficherer al® vor den Nachitellungen des Weißen, der den fojtbaren Balg des PBaradiesvogel® und den Schmud der Kron— taube gegen Elingende Münze auf dem europäijchen Markt eintaujcht. In Kaijer-Wilhelmland hat jedoch die Anwejenheit und Begehr: lichfeit von Vogeljägern und Sammlern bislang wenig jpornenden Neiz auf den trägen Tamul ausgeübt. Anders in dem vogel: reicheren (nördlicheren) Holländijch-Neu:-Guinea. Dort haben die malaiiſchen und celebejjiichen Vogeljäger die Eingeborenen den wirthichaftlichen Werth der Paradiesvögel erkennen gelehrt: die Bapua des niederländischen Halbtheils der größten Injel der Erde find heute leidenjchaftliche Jäger, zum Segen für ihre joziale Ent: widlung. Denn abgejehen von dem Nachtheil, den der Mangel an Jagdbeute auf die Ernährung ausübt, leidet auch die Pſyche der männlichen Bevölferung unter der Thierarmuth der gewaltigen Südinjel. Der Mann, dem die Jagd, die Abwehr wilder Thiere, die von der Natur gegebene Urbejchäftigung war, findet in Neu: Guinea in diejer Hinficht feine Bethätigung: er wird träge, ja er verthiert wieder, da der Hebel fehlt, der ihn einjt der Thierheit enthob.

Ungünjtig wird die Ernährung dadurch beeinflußt, daß fein feſtes Mengen: und Zeitmaß die Mahlzeiten bejtimmt: die Feld— bejtellung und der Fiſchfang ſetzen freilich) der Speijezeit eine gewilje Tagesjtunde, aber doch ohne zwingende Nothwendigkeit, wie bei fortgejchritteneren Völkern. Die Menge der Speije bängt jehr von der Laune des Zufall® ab: magere und fette Monde wechjeln ohne Wahl. Mihernten machen fich furchtbar fühlbar, da die Sorge für die Zufunft dem Papua nicht eignet. Die Zu: bereitung der Speiſen gejchieht durchweg mit Hilfe des Feuers,

Das BWirthihaftsleben der deutschen Sübdfeeinfeler. 303

das unabläſſig brennt. Die Salzung wird theild® Durch Ver— wendung von Meerwajjer, theil® durch Beimijchung bejtimmter Kräuter und Blätter erreicht. Als Getränk dient vorzugsweije die Milh der Kokosnuß, Waſſer, vor Allem jolches aus Lagunen, meidet man ob der Dysenteriegefahr. Beraujchenden Trunf her— zuitellen, ijt faum befannt, um jo leidenjchaftlicher huldigt der Bapua dem Tabak. Das Betelfauen ift mehr unäjthetijch für unjer Auge, als jchädlich, im Gegentheil erhält es die Zähne, die befanntlich in den Tropen wadliger fiten, al8 im Norden. Auch die Ernährung der Kinder ift naturgemäß eine pflanzliche: jchon dem Wöchling jtedt die Mutter vorher zerfaute Tarofrummen ins Mäulchen. Daneben währt die Stillung des Säuglings durch die Bruft jehr lange. Der Mangel an Kuhmilch macht ſich empfind- lich geltend. Man weiß, welche Rüdwirfung die langen Yaktations- perioden auf die HBeugfraft des Weibes haben und fann daran füglid den ungeheuren Einfluß ermejien, den die Zähmung des Rindes auc auf die Zucht eines gefunden und zahlreichen Nach: wuchjes unter den Menjchen ausgeübt hat.

Im Ganzen zeigt die Lebenshaltung der Papua eine Stufe mit vorwiegender Pflanzenfojt, gewonnen durch Hadbau ohne Viehzucht, aber auch ohne dauernde thierijche Nahrung, die auf andere Weije erbeutet wäre, einen Zujtand, der den natürlichen Hilföquellen des Bodens angepaßt, wahrjcheinlich injofern einen Rüdjchritt bedeutet, als die jeßigen Bewohner der Südjeeinjeln in ihren urjprünglichen Wohnjigen eine reichere Fauna, mehr Kampf mit diefer und mehr Ausbeute aus ihr gehabt haben. Die Dazwijichenfunft des Weiten hat diefen Niedergang in etwas jchon gehemmt, da die bisherige, auf die Dauer zur Fortentwidlung einer Raſſe nicht ausreichende Ernährung durd) Zufuhr von Fleiſch und Störnerfrucht eine wejentliche Ergänzung fand; beides wird von den jchwarzen Arbeitern jehr bevorzugt. Die bejjere Er— nährung, die übrigens bis jeßt nur jehr Wenigen zu Theil ward, genügt aber allein nicht, um die wirthichaftliche Lage des Papua jo zu heben, daß er ein mügliches Glied in dem großen Wirth» jchaftsgebilde der heutigen Menjchheit werde, auch jeine technijche Bildungsfähigfeit fällt in die Waagjchale.

Die Stoffveredelung hatte bei den Bewohnern der deutjchen Süpdjeeinjeln unter Berüdjichtigung der Nurſteinwerk— zeuge einen hohen Grad erreicht, als der Weihe jeine erjten Hütten an den Gejtaden Neu-Guineas erbaute. Freilich bejchränfte fich

804 Das BWirthichaftsleben der deutſchen Sübjeeinfeler.

ihre Gejchiclichkeit im Allgemeinen auf die Herjtellung von Schmud: gegenftänden, religiöfem Geräth und allenfall® noch von Waffen.

Die Hütten find durchweg aus dem faum bearbeiteten Holz; des | Urwaldes, nach Form und Zwed als bloße Schußdächer errichtet. |

Die Bekleidung erjtredt ji) nur auf die Verhüllung der Scham mit Baumfajergurten; ım Bismardarchipel verzichtete man vor zwanzig Jahren noch auf diefen Luxus: jetzt ijt es bejjer geworden. Einen großen Hausrath birgt eine Tamulwirthichaft nicht. Da: gegen find Waffen Bogen, Pfeile, Speere, Keulen weit über den Bedarf hinaus vorhanden. Die zahlreichen Schmud: gegenjtände, die vielen Lejern von der Ausjtellung her und aus Muſeen befannt find, geben ein beredtes Zeugniß von der Kunſt— fertigfeit der Bapua in Schnitz- und Kerbarbeiten. Man bedente nur immer, daß dieſe Ringe, Spangen, Bruftichilder, Haarpfeile, Prlöde aus Holz, Stein, Knochen, Perlmutt und Zähnen nur mit Steinwerfzeugen gefertigt wurden. DOft reichten viele Jahre, ja ein Menjchenalter nicht aus, um einen ſolchen Schmud zu vollenden! Die Flecht- und Gerbarbeiten der deutjchen Südjeer injeler, die Nee, Körbe, Matten, Umhänge, Gurte, ja Schlafjäde (am Ramufluß) find mit nicht geringerer Ausdauer aus Baum: fajern, Fruchtfajern, Lianen, Rotang gewunden und gebunden. Aber alle dieje nicht unerhebliche handwerkliche Thätigkeit it faum als fejtes Glied in die Hauswirthichaft eingereiht, it faum regelrechte „Arbeit“, jondern fajt nur der Ausflug eines bloßen Thätigfeittriebes, der noch nicht zum vorjorgenden Erwerbfinn, zum zielbewußten Arbeitstrieb aufgejproßt tft, nicht mehr bloßes Spiel, noch nicht Arbeit, jondern Zeitvertreib für die müßige Stunde, oft einer auffachenden Begehrlichfeitslaune entjpringend, manchmal einem ndividualbedürfnig, jelten einem religiöfen genügend. Wenn jede menjchliche Thätigfeit in ihrem legten Grunde einem vielleicht oft unbewußten Geſetz der endlichen Nüglichkeit gehorcht, dann iſt dieſes in der gewerblichen Bethätigung der Papua jehr verblaßt, denn die wenigen Haus- und täglichen Gebrauchsgegenjtände erfordern einen jehr geringen Aufwand von Mühe und Zeit im Verhältniß zu der Herjtellung von bewunderns— werthen Schnigarbeiten. Dieje aber lajjen jchwer einen Nüglich- feitSwerth in wirthjchaftlihem Sinne erfennen und doch nehmen jie die Hauptrolle ein. Dabei jchafft jedes Einzelwejen nach jeiner eigenen bejonderen Neigung, nicht nad) dem Plane einer inein: ander greifenden Stammes oder auch nur Hauswirthichaft. Nur

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Das Wirthſchaftsleben der deutſchen Sübdjeeinjeler. 305

für drei bejtimmte Gewerbe jind wenigjtens die Anfänge einer Arbeitsgliederung vorhanden, für Töpferei, Fiſchereigeräth und Kanubau.

Die Töpferei hat ſich auf einigen Inſeln der Küſte Neu— Guineas entlang, ebenſo im Bismarckarchipel an gewiſſen Plätzen und auch in Mikroneſien als beſonderes Gewerbe herausgebildet, jo auf Bili Bili, Tami, Tamara, Port Moresby. Die Topf: formerei it dort ausjchließlich Frauenhandwerf. Die Erklärung hierfür findet man leicht, wenn man jich erinnert, daß die Frau die Heimjerin und Bereiterin der Feldfrüchte it. Da jie die im ‚slechtwerf oder Bananenblatt heimgebrachten Knollen mit etwas Erde an den Rändern dieſer Behälter umgab zum Schuß gegen Ankohlen, fand fie die härtende Kraft, die das Feuer auf den Lehm ausübt. Die zufälige Entdedung ward der Ausgangspunkt des Töpfereigewerbes. Dertlich entfaltete es jich dort am günjtigiten, wo in der Nähe Thon gefunden wird. So erflärt jich die alleinige Musbildung der Töpferei an ganz bejtimmten engbegrenzten Pläßen. Yon dieſen ausgehend, hat der Thontopf ältere Gefähformen, theils Jolche aus gehärtetem Holz, theils aus gehöhltem Stein allenthalben verdrängt. Die Töpferei wurde ein ermwerbsmäßige Beichäftigung für gewifle Stämme, ein Haus: und Stammes: gewerbe.

Die Technik der Topfbaukunſt it ſehr einfach, roh. Die Weiber formen die Gefäße aus Thon mit den Händen, höchſtens unter Zubilfenahme eines flachen Steines zum Glätten und eines feinen Holzſchlägels. Bejonders mühjam iſt die Ausfiebung des Yehmes von Steinen und Steinchen. Die rohgeformten Töpfe werden in der Sonne allmählich gleichmäßig gebrannt. Wer: jierungen ſind jehr jelten, dagegen finden ſich bejondere Zeichen aufgedrüdt, die Fabrikmarken bedeuten. Wie früh jich jchon das Bedürfnig des Waarenſchutzes herausjtellt! Analogien aus der deutichen vormittelalterlichen Gejchichte find ja allgemein befannt.

Nicht jo Icharf durch Arbeitstheilung und Sonderfertigfeiten als <tammesgewerbe gefennzeichnet ijt die Heritellung von Fiſcherei— gerätd. Sie wird von allen Fiſchervölkern auf den Balaoinjeln, Mariannen, SKarolinen, Marihallinjeln, im Bismardarchipel be: trieben. Immerhin finden fich einzelne Dörfer, in denen die Netz— Hechtfunst, andere, in denen die Fiſchkörberei bejonders ausgebildet nd. Angelhafen, Reuſen und an den lüften Kaijer-Wilhelmlands süchpfeile werden von Jedem nach Eigenbedarf gefertigt. Die Fiſch—

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förbe, in zwei verjchtedenen Größen, jind bejonders an der Küſte Neu: Pommerns zu Haufe. Sie werden aus Notang geflochten und in | gemefjener Entfernung vom Lande mit Lianentauen verankert; an | der Meeresoberfläche find fie fenntlic) durch einen Kranz von Bambusjtäben. Im Herbjtmond iſt die Blanchebucht bejäet mi: jolchen Fijchermarfen, an denen als Wahrzeichen meijt ein tabu flattert.

Die Netzflechterei zerfällt in zwei Arten: einmal fertigt ſich Jeder ſelbſt ein kleines Netz zum Handgebrauch, oft nur zum Spielzeug, dann aber thun ſich Mehrere, manchmal ganze Sippen zuſammen, um große Schleppnetze zu wirken, die bei einer Breite von zwei Metern eine Länge bis zu 60 Metern erreichen. Dieſe Geflechte werden derart verwendet, daß einige Kanus die mit langen Tauen verſehenen Netze ein paar hundert Meter aufs Meer hinausfahren, wo ſie ſorgfältig hinabgelaſſen und von den am Ufer Zurückgebliebenen zum Strande gezogen werden. Das Ver— langen nach größerer Ausbeute und gehöriger Arbeitsnutzung zeugt ſo eine Arbeitsgemeinſchaft.

Dieſelbe Noth führt beim Kanubau zum Zuſammenſchluß Mehrerer zwecks gemeinſamer Arbeitsleiſtung. Im Uebrigen iſt die Schiffbaukunſt vielfach Stammesgewerbe, ſo auf Yap, auf Jaluit, auf Uatom und in Kabeira im Bismarckarchipel, auf Angell und auf Tarawai, dem Idhyll papuaniſcher Kultur, an der Küſte Neu: Guineas. Die Grundform des Kanus iſt der Einbaum mit aufgenähten Brettern, häufig mit jchnabeligen Bugverzierungen, mit einer aus Bambusjtäben gefertigten beiderjeitig überragenden Plattform in der Mitte und in der Negel mit Auslegern. Dieje find an der nördlicheren Küfte von Katjer-Wilhelmland jtellenweije nicht be fannt, auch fehlen fie den Booten der größeren Binnengewsäjler. In Neu-Guinea find große Segelfanus feine Seltenheit, im Bismard— archipel haben die Eingeborenen das Segel erjt durch den Weißen fennen gelernt, jich aber mit erjtaunlicher Gejchiedlichkeit dieſe Kunit dienlich gemacht. Sein Kanu it dem Neu-Pommer mehr werth als Weib und Kind, die er freilich auch nur als wirthichaftliche Kräfte zur Mehrung jeiner Behaglichkeit werthet. Er baut dem Fahrzeug eine bejondere Hütte am Strand, jchüst es in jeder Weiſe gegen Die zerjegende Sonnengluth und tüncht es jtetS mit Kalt, jobald er e8 aus dem Wajjer zog. Auf den Marfhallinjeln finder jich als bemerfenswerthe Sonderart nicht der Einbaum, jondern eine Kanuform, die ganz aus einzelnen Brettern zuſammengenäht üt.

Das Wirthichaftsleben der deutfchen Südfeeinfeler. 807

Neuerdings macht fich in den Injelbezirken, vor allem im Bismard: archipel, Nachfrage nad) europätjchen Booten bemerfbar. Die Ein» geborenen zahlen in Matupi willig ME. 600 bis ME. 1000 für ein Segelboot. Ueberhaupt haben Waſſerſport und Schifffahrt im Bismardarchipel durch die Dazwijchenfunft der Weißen einen er: freulichen Neuantrieb erhalten, das Kanubaugewerbe ijt neubelebt, jtrebt zu höherer Entwidelung auf und zwar unter Benugung von Hammer und Meipel.

Leider hat das Eijen des Europäers nicht durchweg jolch einen günjtigen Einfluß auf die gewerbliche und handwerkliche Thätigfeit der Bapua ausgeübt. Im Gegentheil! Die Kluft zwijchen Stein- zeit und moderner Technik ift zu groß, als daß ein Wilder die Segnungen der legteren unvermittelt aufnehmen könnte. In jein Leben trägt das Eijenwerfzeug nur eine ungeheure Lücke hinein, die bisher durch die jahrelange mühevolle Bearbeitung von Stein und Holz dur) Holz und Stein ausgefüllt war. Er ward der Wohlthat des Erzes nicht durch) eigene Erfindung und Straft theil- haftig und erliegt der Wucht diefer Macht, die ihn von engen Feſſeln befreit, ohne ihm durch ſich jelbit die Anpafjungsfähigfeit un den gewaltigen Fortjchritt zu geben. Gelingt es dem Weißen, von jeiner Kulturhöhe einen Steg zur Steinzeit des Bapua zu jchlagen, indem er ihm nur gegen ernjte Arbeit jtufenweije die Vortheile jeiner Technik gewährt, jo fann den Neu-Guineern und uns die Erwerbung der Südjeeinjeln zum Segen gereichen. Die gegenwärtigen Zus jtände, bei denen die Kuriojitätenbegehrlichkeit der Europäer der armen Natureinfalt alle Schäge mühelos in die Hände jpielt, müfjen zum Untergang der Ureinwohner führen, gewiß zum größten Schaden für die Eroberer jelbjt, die der Schwarzen zur Arbeit im Feld und auf dem Wafjer bedürfen. Die Bernunft und die Menschlichkeit weijen als einzigen Weg: Anbauen an das, was vorhanden iſt, aber jachte, langjam, jchonend gleich der großen Künjtlerin Natur!

Die unentwidelten Formen der Güterzeugung und Stoff: veredelung haben naturgemäß auch eine niedrige Stufe des Waaren- austaujches zur Folge. Kaifer-Wilhelmland hinft am meiſten nad). Ein Handel mit Nahrungsmitteln iſt jchon deshalb unnöthig, weil eine reine Naturalwirthichaft vorherricht, Jeder und jedes Dorf nur joviel anbaut oder fängt, als zum Leben unentbehrlich it. Da auch die Bewohner der fleinen von dem Hauptland losgeriſſenen Atolle ihre eigenen Pflanzungen oft auf dem gegenüberliegenden Feſtlande haben, jo ijt nicht einmal die Bedingung für eine

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Ergänzung der Bodenerzeugnijje durch die des Meeres gegeben, und nur die Töpferei als eigenthümliches Gewerbe einiger weniger Inieljajien hat einen Waarenaustaujch gezeitigt. Die Bewohner von Tamara, Bili-Bili, Tami verjorgen die ganze Küjte mit Thon: waaren, indem jie auf ihren jchmuden Sanus den Saum des Landes bereijen. Gegen ihre Töpfe taujchen fie meist Flecht- und Schnitwerf, Eberhauer und Hundezähne, jelten Nahrungsmittet. Dieje Handelsthätigfeit hat den gejchäftigen Injulanern ohne Zweifel eine gewiſſe gewerbliche und intellektuelle VBorherrichaft über die Bewohner der großen Hauptinjel erworben.

Im Bismardarchipel herrſcht regeres Leben. Die natürliche Scheidung zwijchen den Fiſchern der Küjte und den Yandmirthen des Binnenlandes hat dort von altersher einen regelmäßigen Aus: tauſch der Seeerträgnijje gegen die Bodenerzeugungen hervor: gebracht. Die Weiten fanden bereits die Einrichtung von Märkten, Markttagen und Marftplägen vor, als fie ihre Füße auf die Gazellehalbinjel jegten. Seither find dieſe Märkte immer zahl: reicher und regelmäßiger geworden und bilden das wichtigjte Binde— glied von Weiß zu Schwarz. Die Bewohner der Marjhallinjeln und Starolinen find als kühnes jeefahrendes Handelsvolf befannt, von der WPalaogruppe aus beitehen alte Beziehungen zu den Philippinen. Allem Anjchein nach find die Handelsfahrten Diejer Süpdjeeinjeler früher ausgedehnter gewejen, als jegt. Hat doch in der Marjhallgruppe ehedem eine Seefarte den kühnen Schiffern als Wegweijer auf ihren Fahrten gedient. Diejelbe iſt aus mehre: ren Steinchen und Fäden zujammengejett und wird „Medo“ genannt. Die Steinchen deuten die Lage der einzelnen größeren Inſeln des Archipels mit überrajchender Genauigfeit an. Die Nutzung diejes Medo it aber heute faſt in Vergefjenheit geraten. Auf den Ktarolinen find Spuren ähnlicher Seekarten gefunden worden. In den gejchlojjenen Yandmajjen des Bismardarchipels und am Strande Neu:Guineas entlang herrſcht die Küftenjchifffahrt vor. Es war alſo wenig Beranlafjung zur Erfindung nautischer Hilfsmittel gegeben, die in dem zerriſſenen Injelchenchaos von Mikroneſien jchon eher nöthig waren. Um jo erjtaunlicher it der Ortöjinn der Papua und der Neu-Bommern: Bäume, die dem Auge des Weiken faum auffallen, prägen jich ihm jo feit ins Gedächtniß, daß er nach Jahren noch den Lauf jeines Schiffleins diejen natürlichen Seemarfen anpajjen fann.

Dem ausgedehnten Dandelsverfehr zu Wajfer entjpricht fein gleichwerthiger auf dem Yande. In Neu:Guinea mag die Gelände:

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zerflüftung viel zu der feindlichen Abſchließung fait jeder einzelnen Dorfichaft beigetragen haben. Die Meeresanwohner und Die Bergiajien jind in Urfehde verfeindet, aber auch an der Küſte entlang und zu den nächiten Hügeln hin führen nur Tamulpfade, die jehr wenig begangen jind. Das Handelsbedürfnig hat dieſe Anfänge von Verfehrswegen jedenfalls nicht gezeitigt. Auf der Gazellehalbinjel dagegen verbindet ein ausgedehnteres und aus— getretenere® Pfadnetz die Marktpläße und neuerdings entjtehen unter dem wohlthätigen Drud der Landesverwaltung jchon breitere Neit-, ja Fahrwege. Die Marftweiber bleiben freilich noch ihren alten holprigen Saumpfaden treu. Daß bei der Unvollfommen: heit der Ueberlandverbindungen (und bei der jprachlichen und politijchen Zerrijjenheit der Papua) fein Botendienjt jic) aus— gebildet hat, auch nicht unter befreundeten Dorfſchaften, fann nicht Wunder nehmen. Die Neu-GÖuineabufchleute haben ſich aber auf andere Weije geholfen und mit Hilfe der Trommel einen trefflichen, weithin reichenden Fernſprechdienſt eingerichtet. Freilich dient derjelbe noch nicht zur Vermittlung von Termin» und Differenz: gejchäften, aber doch zur Benachrichtigung über außergewöhnliche Vorfommnifje, vor Allem über die Unternehmungen der Weißen.

Das Interejiantejte in dieſen urjprünglichen Verkehrs- und Handelseinrichtungen iſt die Erjcheinung, daß der Handel jchon über die einfachſte Form des Taujches von Waare gegen Waare hinaus: gewachjen iſt. In Kaijer-Wilhelmland freilich herricht dieſe ur: anfänglichite Art des Güteraustaujches noch vor, immerhin fehlen auch dort abjtrahirende Werthbegriffe nicht ganz. „Geld“ in Bücherjhem Sinne, nämlich: „diejenige Taufchwaare für jeden Stamm, die er nicht jelbjt hervorbringt, wohl aber von Stammes freunden eintaujcht“ giebt e8 in Neu-Guinea allerdings noch nicht. Wenn trogdem Eberhauer und Hundezähne in gewijjem Sinne Werthmeſſer geworden jind, jo mag die Entjtehung diejes „Geldes“ darauf zurücdgeführt werden, daß neben dem Schmudwerth jolcher Thiergebijje Totemvorjtellungen eine Rolle im Seelenleben des Papua jpielen. Sie allein machen es erflärlich, daß die an und für ſich doch technijch, gewerblich und für die Ernährung bedeutungs— (ojen Eberzähne zur Wertheinheit wurden, anjtatt des ganzen TIhieres, das wegen jeines ungeheuren Nutzens für den Fleiſch— nothleidenden am eheſten geeignet war, in WBücherjchem Sinne „Seld“ zu werden, wie thatjächlich das Biel) (pecus, pecunia, fee) bei vielen Völfern Jahrhunderte lang Werthmaß gemwejen it.

310 Das Birthihaftsleben der deutihen Sübdfeeinfeler.

Sm Bismardarchipel hat die größere Mannigfaltigfeit des Wirthichaftslebens und jeine höhere Entwidelung (die größere ge: jellichaftliche Verunterjchtedlihung) früher und eindringlicher das Bedürfniß nach einem feſten Werthmaße wachgerufen. Das Miujchel: geld Diwarra auf der Gazellehalbinjel, Bälle in der Neu-Lauenburggruppe ijt jedenfalls jchon ſeit Jahrhunderten auf jenen Injeln eingebürgert. Gefunden werden die Diwarra— mujcheln an verjchiedenen Plätzen der Oſtküſte Neu Medien: burgs und im Süden Neu:Bommerns. Durch Bleichung erhalten jie eine möglichjt weiße Farbe und werden auf Fäden auf: gezogen, von denen ein ziveimetriger etwa den Werth eines Thaler® Hat. Ich Führe die Entjtehung dieſes Mujchelgeldes jowohl auf urjprüngliche Schmudgelüfte als auch auf religtöje Vorſtellungen zurüd: es geht die Sage, daß der Geijt des Vulkans Unafofor alles Diwarrageld gejchaffen und ausgejtreut habe. Jedenfalls bejtehen zahlreiche, noch nicht genügend geflärte Be- ziehungen zwijchen dem Diwarra und dem Kultus. Ohnedem wäre es jchwer, zu ergründen, wie eine winzige Mujchel von ge: tingjtem technischen oder woirthichaftlichen Subjtanzwerth den Funktionswerth des Geldes erlangen fonnte. Bei Salz, Vieb-, Metall:Geld iſt jtetS die Brücde von der Subjtanz zu der Funktion vorhanden, bei diejer werthlojen Mujchel fehlt jie ohne die Ver— mittlung religtöfer und äjthetijcher Elemente gänzlich. Trogdem hat das Diwarra einen jo feiten Geltungswertb, daß es ſich jogar zu dem europätichen Metallgeld mit überrajchender Schnellig- fett in ein bejtimmtes Werthverhältniß gejett hat. Es läuft jegt neben diejem als Geldjurrogat (Gelderjagmittel) um. Aller— dings it die Vorliebe für Silbergeld Einmarkſtücke und Shillings jehr im Wachjen begriffen. Merfwürdig, aber jebr erflärlich it dabei die ausschließliche Bevorzugung nur einer Münze, für deren Vielfaches in Thalern oder Fünfmarkitüden nur jehr Wenigen langjam das Berjtändnig dämmert. Die große Bedeutung einer ſolch immerhin beachtenswerthen Ent: widlung von Geldwirthichaft unter einem tiefjtehenden Naturvolt liegt auf der Hand; fie ebnet dem Kulturbringer die Wege beiter, als Bibel und Gejangbud. Daß auf den Starolinen von alters ber ein Steingeld umläuft, it befannt; die Herkunft und Ent: ſtehung deſſelben dürfte gleichfalls in religiöje Vorjtellungen ein- münden, wie ja das gejammte Wirthjchaftsleben der Menjchen und am meiten noch das jolcher Naturvölfer in innigem Zuſammen—

Das Wirthihaftsleben der deutfhen Südſeeinſeler. . 311

hang mit Glauben und Seelenleben entſtanden iſt und ſich ſo fortbildet bis in unſere Tage hinein.

In Neu-Guinea iſt dieſes Ineinanderweben von Volkspſyche und Volkswirthſchaft auf Schritt und Tritt noch ganz deutlich zu erkennen, vor Allem auch in den Anſchauungen über die Eigenthumsverhält— niſſe, bei denen wir noch einen Augenblick weilen müſſen. Einiges darüber iſt ſchon gelegentlich im Anſchluß an die Schilderung der Zu— ſtände in Landwirthſchaft, Gewerbe und Handel gejagt: es kann auch an diejer Stelle nur eine furze Zujammenfafjung der Eigen- thumsverhältnifje, wie jie im Großen und Ganzen Geltung haben, gegeben werden. Die vielerlei örtlichen Abweichungen werden dabei nicht berüdfichtigt. Der Grundzug allen Bejiges auf den deutjchen Südfeeinjeln ift das Mutterrecht, ſowohl für Liegenjchaften, als auch für bewegliche Habe. Die Erinnerung daran, daß die rau, die Hüterin des Herdes und Säerin des Feldes, auch die Schöpferin der Familie it, beherrjcht noch die gefammten NRechtsanichauungen über Eigenthum. Daß das Weib dabei der wirthichaftlichen Ausbeute: luſt und phyſiſchen Ueberlegenheit des Mannes zum Opfer fiel, hat ihre hiſtoriſche Stellung im wirtbichaftlichen Rechtsleben fait garnicht beein— flußt: das Erbrecht insbejondere fußt durchaus auf dem Mutterrecht.

Brivat-EigenthHum am Grund und Boden ijt unbefannt. Das bebaute und das in den Bezirk einer Dorfichaft fallende Land eignet dem ganzen Dorfe. Berhandlungen und Berträge über Yandfauf müfjen daher mit der Gejammtheit der Inſaſſen, vertreten durch die Meltejten, geführt werden. Auf der Gazellehalbinjel icheint der Boden urjprünglich unter die einzelnen Sippen getheilt und danach jeder Bezirf benannt zu fein. Die Sippe, die meijt auch heute noch mit der Dorfjchaft nach Umfang und Abjtammung zujammenfällt, it die Eignerin des ihr von altersher gehörenden Yandes. Das Haupt der Familie oder Sippjchaft it nur der bevollmächtigte Vertreter der gemeinjam bejigenden Gejammtheit, wenn auch einige jolcher „Häuptlinge“ im Berfehr mit den Weißen gerne don „ihrem“ Grund und Boden jprechen. Ein jolches Zondereigenthumsrecht bejteht weder fraftdergejchichtlichen Entwidlung noch hat es jich unter dem Einfluß europätjcher Kultur eingebürgert. Se mehr freilich der Weiße als Anwerber auf Grund und Boden auf den Plan tritt, je intenjiver alſo die Bodennußung ſich ge: jtaltet, um jo jtärfer wird auch bei den Schwarzen das Bedürfnis nach Privateigenthum an Yand erwachen. Anfänge jolcher Um: werthung des Eigenthumsbegrifies jind bereit vorhanden.

312 - Das Birtbihaftsieben der deutſchen Südſeeinſeler.

Für andere unbewegliche Habe, jo für Kofosnuppalmen und jonjtige Fruchtbäume gilt jchon eher ein gewiljes Privat: eigenthumsrecht. Häufig werden einem Kinde bei der Geburt be- jtimmte Nugbäume zugejprochen oder junge eigens für den Neu: geborenen gepflanzt. Solcher Einzelbejis iſt äußerlich kenntlich gemacht durch Umwinden mit Blättern, Fäden, Tüchern, dem Tabu, der eine tiefe (religtöjfe) Scheu genießt. Im Uebrigen jind Dieb- itahl, Betrug, Hehlerei nicht nur dem Begriff nach befannt, jondern werden auc ausgeübt. Zivil: und Strafprozekordnung fehlen aber, Wiedervergeltung, Buße und Neugeld jind die Nechtsmittel gegen den Webelthäter. Miethe, Pacht, Darlehen, Bürgjchaft find unter den Neu-Pommern und Neu-Lauenburgern feine Seltenheiten, ım Saijer-Wilhelmland dagegen nur auf den höher entwidelten Inſelchen (Tarawai und Valies voran) befannt.

Die wenigen beweglichen Habjeligfeiten des Papua tragen ausschließlich den Charakter des Privateigenthums, meiſt jind es ja nur die von jedem Einzelnen jelbit gefertigten Schmudjachen und Waffen, die-nach jeinem Tode theils die Neife zum Schatten: reich mitmachen, theil$ ins Tamboranhaus wandern oder auch nad) dem Muttererbrecht an die nächiten Verwandten, nicht an die Söhne, übergehen. Die jeefahrenden Stämme haben das Privateigenthum an beweglicher Habe jchon weiter gebildet. Der Bejig eines Kanus, neuerdings eines Segelbootes, giebt dem Eigenthümer nicht nur ein wirthichaftliches, jondern auch politijches Uebergewicht. Hier fann der Hebel der Kultur am erfolgreichiten einjegen. Auch das Mujchelgeld wird als Sondereigenthbum des Einzelwejens be trachtet, in der Kegel aber von dem Familienhaupte im Diwarra- haus aufbewahrt: der Einzelne hat daher feine freie Verfügung über dieſen todten aufgejpeicherten Schaß, deſſen Bedeutung er eigentlich nur empfindet, wenn er gezwungen iſt, jich Bundes: genojien gegen Feinde zu faufen. Nur für diefen Fall fühlt der Wohlhabende die Macht des Geldes; zur Verfeinerung des Yebens- genufjes, zu größerer Behaglichkeit, bejjerer Kleidung, Wohnung und Nahrung verwendet er jeine Neichthümer noch nicht. Aber die Zeiten dieſes Kommunismus nahen ihrem Ende.

Ein Eigenthumsrecht an fremde Berjonen, Sklaverei, bejtebt im Allgemeinen nicht, doch fennen die Neu = Pommern ein Wort dafür und die Bewohner der Injel Natom im Norden der Gazelle halbinjel jind jogar von Altersher berüchtigt, die Bergſaſſen der Yaining in Sklaverei zu halten und in fremde Knechtſchaft weiter

Das Wirtbihaftsleben der deutſchen Sübdjeeinfeler. 313

zu verfaufen. Der Preis für ſolch' einen Unglüdlichen beträgt im Allgemeinen 10 Faden Diwarra. Kinderraub fommt allenthalben vor; auf den Salomoinjeln haujen gefürchtete Kopfjägerſtämme; aber Sklaven werden nur gehalten, wo der Haushalt fremder Arbeitsfräfte bedarf, in der Regel iſt die lebende Striegsbeute für die Mägen der hungernden Streiter bejtimmt.

Die armfeligite Sflavenjchaft duldet aber im ganzen deutjchen Südſeeſchutzgebiet das weibliche Gejchleht. Um Geld oder Geldes: werth wird die ‚rau, oft jchon als Kind, vom Vater für den Sohn gekauft, und it außer dem Nurgejchlechtswejen, dem Weib: thier, das gebärt und ſäugt, lediglich das Arbeitspferd des Mannes. An jeinen „höheren“ religiöjen Interejjen, dem Dufduf und Ingietbund hat jie feinen Antheil. Wie wunderbar jpinnt die Natur ihre Fäden: Das Weib, die Finderin und Hüterin des Feuers, des Herdes, Die erite Säerin des Bodens, die Gründerin des Heims, dann fraft roher Körpergewalt die Sklavin des Mann: thieres und je höher und jchöner Gefittung und Bildung ſich emporwinden, die ebenbürtige Genojjin, die bejeligende Kraft— jpenderin des Mannes, der mit ıhr vereint um die höchiten (Hüter der Menjchheit ringt!

Wenn wir zum Schluß die in großen Zügen angedeuteten wirth: ichaftlichen Zujtände bei den Bewohnern des deutjchen Südſee— ſchutzgebiets unter die Kategorien der theoretiichen Wirthichaftslehre zujammenfafjen, jo vermijjen wir zumächjt die Grundjäße der weit: gehenden Arbeitstheilung, ohne die wir uns einen großen wirth— jchaftlihen Bau garnicht vorzujtellen vermögen. Eine berufliche Gliederung it nicht einmal in ihren einfachiten Anfängen Priejter, strieger, Händler vorhanden. An dem Bund der Ingiet und den Dufduffejten kann allem Anjchein nach jeder erwachiene Mann Theil haben, jofern er jich dem Mummenjchanz der Aufnahmefeſtlichkeit unterzieht und das nöthige Geld für die Vortänzer und Schreier aufbringen fann. Dieje aber Haben mit den „PBriejtern“ anderer Natur: oder Halbfulturvölfer aus Gegenwart und Antife nur das gemein, daß fie ihren „Zauber“ wohl zu eigenem wirthjchaftlichen Vortheil zu nützen wijjen. Die Briejter des Ibis und die Medtzinmänner der Delaware find ja auch gute Gejchäftsleute gewejen, und Die innige Beziehung zwijchen religiöjer Beherrſchung der Gemüther und Bereicherung der priejterlichen Faullenzer bejteht unter den Palmen der Gazellehalbinjel auch ſchon; vielleicht iſt Dies Der Beginn einer Ausjcheidung von bejonderen „Prieſterkaſten“ in

314 Das Wirthſchaftsleben der deutſchen Sübdjeeinfeler.

dem Entwidelungsgang, den das Geje der Arbeitstheilung durd die Iahrtaujende hindurch gemacht hat. Urſache und Wirkung werden in dieſer Hinficht kaum reinlich zu fcheiden fein.

Ebenjowenig fann von einem bejonderen Kriegerjtand die Nede jein: jeder waffenfähige Mann nimmt jeinen Antheil an den zahl: reichen Fehden, die von Urahnenzeit her die Bewohner Neu: Guineas aufreiben. Führer im Felde find die förperlich Stärfiten und Gewandtejten, aber auch nur für die Dauer des Kampfes. Nach jeinem Ende fehren Alle, gleich geachtet und nicht geachtet, zu ihrem QTagewerf, zu ihrem Yaulthierdajein zurüd. Waffenübung im Frieden unter bejonderer Leitung iſt nicht befannt.

Daß Sich weder ein Aderbauer-, noch Händler- oder Handwerferjtand herausgebildet hat, ift bei der geringen Be: thätigung all! dieſer Zweige des wirthichaftlichen Lebens begreif: ich; um jo jchärfer jind die Wirkungskreiſe der männlichen und weiblichen Thätigkeit gejchieden. Die Beitellung und Wartung des Feldes, die Heimjung der Früchte, ihre Zubereitung, der Be: juch des Marktes, jegliches Lajtenjchleppen, die Töpferei, die Pflege und Beaufjichtigung der Kinder kurz, man möchte jagen, alle Ichweren Arbeiten find dem Werbe gebürdet, der Mann jagt, fijcht, Ichnigt Waffen und Schmudwerf, baut allenfalls einmal eine Hütte oder ein Kanu, im Ganzen ıjt er ein Tagedieb und läßt lieber jeine halbwüchjigen (weiblichen) Kinder für fich arbeiten. In Mifronefien und unter dem Fiſchervolk der Blanchebucht jind die Gründe zu einer Bejlerung diejer Arbeitstheilung nad) Gejchlechtern ichon gelegt; dort beginnt auch der Mann zu jchaffen, aber lang- jam, jehr langjam. Das Mißverhältniß in der Bertheilung der Laſten zwijchen Mann und Weib jchneidet tief in das wirthichaft: liche und gejellichaftliche Yeben diejer Naturvölfer ein. Der Nieder: gang dieſes Volksthums, das einjt wie jämmtliche Bewohner Ozeaniens, jchon einmal den erjten FFlügeljchlag zu einem Aufflug gethan hatte, erklärt ſich in feinem legten Grunde vielleicht aus der würdelojen Stellung, die der Frau in diefem Wirthichaftd- und Sejellichaftsleben angewieſen it. Die Entwidlungsgejchichte der Menschheit ijt die umgefehrte Bahn gegangen, indem jie das Weib mehr und mehr von dem harten, allen Berjönlichkeitstrieben ent: gegenjtrebenden Geſetz der Arbeitstheilung befreite, und jie muß und wird troß des widerjprechenden Schein der Gegenwart dDiejen Weg weiterwandeln, wenn immer die Menjchheit höher und höher jteigen joll.

Das Wirihſchaftsleben der deutſchen Sübdfeeinjeler. 315

Eine technifche Arbeitsgliederung iſt bei dem niederen Stand aller handwerklichen Thätigfeit jo ziemlich ausgejchlojien. Wo An- fänge einer jolchen dämmern, it jchon gelegentlid) darauf hin— gewiejen. Am ehejten tritt eine Scheidung der technijchen Arbeits: leitung noch beim Kanubau zu Tage und fehlt dort auch feines- wegs. Aber im Ganzen iſt jeder Einzelne der Fertiger aller feiner Bedürfniggegenftände, der Befriediger aller jeiner Wünjche. Da— gegen macht jich das Geſetz der Arbeitstheilung, das ja wechjel- wirfend auch ein Geſetz des Arbeitszujammenjchlujjes it cooperation simple et compliquee und labour cooperation in der Erjcheinung geltend, daß mitunter ganze Sippen ſich gruppen, um ein größeres Werf zu leijten, jo die Flechtung eines großen Fiſchnetzes.

Dieſer Umſtand wenn auch nur vereinzelt auftretend iſt für die Vergeſellſchaftung der Papua um ſo bemerkenswerther, als ſonſt faſt jede Bedingung zu einer geſellſchaftlichen und ſtaat— lichen Einigung und Gliederung fehlt. Boden- und Gelände— beſchaffenheit ſind den Beziehungen der Menſchen untereinander in Neu-Guinea nur hinderlich; ja fie ſchließen einen Verkehr geradezu aus. Die Thierwelt, deren ſchreckliche Vertreter in anderen Zonen die Menſchenrudel zuerſt zu engerem Zuſammenſchluß zwangen, iſt dem Papua ganz ungefährlich, noch dräuen fremde, feindliche Menſchenmächte. So ermangelt Neu-Guinea aller Bedingungen, die ein Anfangſtaatengebild zeugen könnten, und in der That iſt ſchränkenloſer Kommunismus das einzige Kennzeichen des öffent— lichen und joztalen Lebens. Es giebt fein Machtanjehen, nicht des Alters, nicht einzelner Gejchlechter, faum das der Meltejten in den wichtigiten Gemeinfragen. Der einzige Bezirk in Katjer- Wilhelm: land, in dem die Anfänge einer jtaatlichen Gliederung und Herr: ichaft vorhanden jind, it das Meich des Häuptlings Maſſoi auf den Inſeln Tarawat und Valies. Die Schöpferin diejer Daje in der papujchen Finfterniß it die malatische Kultur gewejen, die auf den gejegneten Eilanden von Altersher eine Pilanzitätte errichtet hatte. Die Berührung mit der Sundarafje hat die ohnehin in Folge ihrer Raumbejchränftheit arbeitjameren Inſelſaſſen den Werth des Schaffens und Beſitzens gelehrt und der Neichjte unter ihnen ward „König“, wie immer aus Urzujtänden heraus Tapferfeit (jo bet den Germanen) oder Bejit oder (geütige) Zauberfraft die erjten Bildner aller Klajjenunterjchtede gewejen jind. Dieſer joztologijche Differenzirungsprozeß aber bedeutet den Fortichritt, in anderen

316 Das Wirthſchaftsleben der deutfchen Sübdjeeinjeler.

‚sormen auch heute noch: das Beijpiel von Tarawai giebt um: den Fingerzeig, wie dem entwidelungsfeindlichen Kommunismus der Papua beizufommen jei. ‘Freilich dürfen wir nicht unterjchägen, dat der Malaie jenen Eilanden eine Kultur zutrug, die ihrer eigenen unendlich viel näher jtand, als die unjrige. Um jo jchwerer üt unjere Aufgabe. Wir müfjen viele Mittellinien ziehen und werden janften Zwang und weiſe Selbjtbejchränfung unjererjeite üben müjjen. Anders kann es nicht gelingen, den Papua als nützliches Glied in unjern Wirthichaftsbau einzureihen ; dies Ziel aber ent: jpricht jowohl dem Selbjtinterefje als dem der Menschlichkeit und Menjchbeit.

Auch im Bismardarchipel find faum die Anfänge einer Ttaat- lichen Gliederung vorhanden. Das höchite joziale Gebilde iſt die Sippe, die den ihr urjprünglich zugefallenen Landjtreifen benamtt, ohne damit den Begriff eines politischen Gemeinwejens zu verbinden. Immerhin hat die an und für jich die Papuafultur überflügelnde Wirthichaftsgliederung der Neu-Pommern und Neu-Lauenburger ichon eine Scheidung von Reich und Arm gezeugt. Dieje bat den Grund gelegt zu einer Anfangbildung von Ständen, indem die samilienhäupter (agala), die Anführer im Kriege (luluai), und die Reichen (uviana) als Träger bejonderer Würde geachter werden. Dieje Differenzirung bat die Yandesverwaltung mit Ge: chi ausgenugt, um eine dauernde gejellichaftliche Gliederung, richterliche und politische Gewalt zu jchaffen.

Auf den Marjhallinjeln find ebenjo, wie im Bismardarchipel Häuptlingswürde und Reichthum nicht unbefannt. Freilich fann auch dort von wirklichen jtaatlichen Gemeinwejen nicht die Rede jein. Eher tft dies der Fall auf den Balaoinjeln, wo eine Reihe von fleinen Republifen unter angejehenen Oberhäuptern jchon die Grundlage eines größeren Verbandes erfennen läßt. In ganz Mikro nejien jcheidet jich die Bevölferung in gewiſſe Klaſſen, deren Ur- jprung wohl auf Einwanderung von Tagalen und Negritos zurüd: zuführen fcheint. Alte Beziehungen zu den Vhilippinen find ja allenthalben zu erfennen. Auf den Ktarolinen (Ponape) weten alte Ruinen und Steintafeln darauf hin, dag wahrjcheinlich doch die Urahnen der jeßigen Bewohner, oder vielleicht der älteiten Kaſte unter ihnen jchon einmal eine höhere Entwidlungsitufe er reicht hatten, die indeR wieder in Verfall und Vergeſſenheit gerietb, ebenjo wie die Steinfolojje und Höhlenbauten der Djterinjel nad den beiten Forſchungen die Werfe dejjelben polynefischen Stammes

an

Das Birthihaftsleben der deutſchen Sübdjfeeinjeler. 317

jind, von dem jegt faum einige Hundert jtumpf ihrem legten Tage entgegenfichen. Das Zeichen des Krebſes jcheint über manchen Eilanden der Südjee zu jtehen; Spuren des Niedergangs mehren jich in Fülle, je genauer man zufieht, und es lohnt wohl, einen Augenblick noch den wahrjceinlichen Urjachen diejes Verfalls unjere Aufmerkſamkeit zu jchenfen.

Die Räthjel des Bevölferungproblems geben uns die Schlüſſel an die Hand. Die Thatjache der Volksabnahme in Hamati, in Franzöfijch-Ozeanten, in Saledonien, in Neujeeland iſt allgemein befannt. Man hat den Alkohol, Seuchen, Kriege, religiöje Mafjenopferungen, Menjchenfraß, die würdeloje Arbeits: vtehjtellung der Frau dafür verantwortlich gemacht. Unter allem dieſem jcheint der legte Grund der ausjchlaggebendjte zu jein. Nicht nur die langen Laftationspertoden, fondern noch viel mehr die durch Jahrhunderte hindurd) geübte WVerfrüppelung des Weibes baben jeine Zeugfraft immer mehr beeinträchtigt, fie jelbit als nur gebärendes und jäugendes Gejchlechtswejen entartet. Dann aber bat die von Gejchlecht zu Gejchlecht währende Inzucht Die bei der Stleinheit jo mancher Atolle und der Abgejchlojjenheit jeder Dorfſchaft erflärlih it am Ende ihre furchtbaren Folgen ge: zeitigt. Die Alpenthäler, in denen Nehnliches jich heute vor unjeren Augen abjpieit, liegen ja nicht allzu fern und auf den Inſeln der Siüdjee wüthet und rächt ſich die Naturwidrigfeit jchon jeit Jahrhunderten; denn es iſt jicher, daß die rajende Abnahme der Bevölferung (jo in Neufeeland) jchon eingetreten war, bevor die Weißen ihren Branntwein und ihr Eijen an jene Gejtade getragen hatten. Tas legtere hat übrigens vielfach jchlimmer gewirkt al3 der Alkohol und die Pſyche des Südjeeinjelers härter getroffen als jenen Magen der Branntwein. In Katjer-Wilhelmland und dem Bismarcarchipel hat der legtere glüdlicher Weije jeinen Einzug nicht gehalten und doc) tritt auch dort mindejtens feine Vermehrung der Bevölferung ein. Die häufige wirthichaftliche Not), der ausgeprägte Kommunismus, der Mangel an jeglicher Hervorfehrung der eigenen Berjönlichkeit, aljv auch derer, die dejjelben Blutes jind, mehren die Urjachen des Bevölferungitillftandes: Kindertödtung und Abtreibung der Leibes— frucht ſind leider jehr im Schwunge; der Beweggrund mag dabei initinftiv die Nahrungsjorge jein, und ſolch' blühende Dörfer wie Tarawai und Valies mit ihrer jubelnden fräftigen Kinderjchaar, ihren arbeitjamen, aber doc) lebensfrohen rauen und vor Allem ihren im Feld und auf dem Waſſer geichäftigen Männern bilden

318 Das Wirthſchaftsleben der deutihen Südferinfeler.

eine herzerquidende Ausnahme, leider eine jehr jeltene Ausnahme. Und doc muß es der Zwed einer gefunden Wirthichaftspolitif au jenen Schollen des Weltmeers jein, die Papua, die Melanejier und die Mifronejier uns und fich jelbjt zu nützlichen Arbeitern zu erziehen.

Die Mittel und Wege, die zu dieſem Ziele führen, jind ın Kürze folgende: Die Grundbedingung eines Erfolges aller erzieherifchen Thätigfeit unter den Südjeeinjelern tjt die Befreiung des weiblichen Geſchlechts von jeinen Ueberbürden.

Im Zujammenhang damit müjjen Maßnahmen für eine geregelte Eheſchließung und Kinderzucht getroffen werden und es iſt dahin zu wirfen, daß eine größere Miſchung des Blutes eintrete.

In unmittelbarer Anfnüpfung an die aderbauliden und jeemännijchen „Fertigfeiten der Papua muß man ihnen Gelegenheit geben, ſich jei es im Dienjte der Weißen, jei es in ihrer eigenen Wirthſchaft unter planmäßiger Nußgung der Segnungen unjerer Kultur zu vervollfommnen.

Das Wejentliche ijt Dabei, daß man dem Papua nur gegen ernjte regelrechte Arbeitsleiftung nicht gegen Eth— nologica und Kuriojitäten jeine eben erjt erwachte Be- gehrlichfeit nach Eijen, Tuch und Berlen befriedige.

Der Lohn für joldhe von Eingeborenen geleiitete Arbeit muß nach Maßgabe ihrer, nicht unjerer Werth: voritellungen abgeihäßt, er darf jedenfalls nicht zu hoc) jein.

Die beiden legten Punkte umfaſſen eigentlich die Kernfrage der Erziehung des Papua zur Arbeit und find doch bisher am meiſten außer Acht gelajjen worden. Die Kuriofitätenwuth des Werken bat die wirtbichaftliche Leberlegenheit des Europäers über den Schwarzen geradezu in das Gegentheil verfehrt. Es thut dringend noth, ın beiderjeitigem Interefje, nöthigenfalls von Amtswegen, einen gelinden Drud zu üben, wie überhaupt die Yandesverwaltung in der Er ziehung der Eingeborenen ihre vornehmjte Aufgabe erbliden müßte. Wie fie hierbei den Schwarzen ein Hort gegen mögliche Uebergrifi: von Pflanzern und Händlern jein joll, jo muß ihr anderjeits ein milder väterliher Zwang gegen ihre braunen Unterthanen unter allen Umständen gejtattet jein. Es iſt bezeichnend, daß jelbit von

Das Birthihaftsleben der deutihen Eübdjeeinfeler. 319

maßgebender jozialdemofratijcher Seite die Heiljamfeit ſolcher Ein- geborenenpolitif anerfannt wird. Aus Zwang wird Gewohnheit, aus Gewohnheit Bedürfnig und it dieſes erſt vorhanden, dann fönnen wir getrojt hoffen, daß die Bewohner unjerer Südjeeinjeln nicht gleich den Kariben der Antillen vor vier Jahrhunderten unter dem Einfluß einer höheren Kultur zu Grunde gehen, jondern jich als nügliche Glieder in das weltumjpannende Wirthichaftsgebilde der heutigen Menjchheit fügen werden. Die fejte ehrliche Abjicht, diefem Ziele zuzuftreben und in diefem Sinne Bildung und Ge: jittung über unjere Tochterländer, über den ganzen Erdball zu breiten, fann allein einer großen jtolzen Nation, fann allein des deutfchen Volfes würdig jein.

Voltaire als FFriedensvermittler.

Yon Dtto Herrmann.

So befannt es iſt, daß der gefetertite Cauſeur an Friedrichs II. Tafelrunde in Sansjouct zugleich als Dichter, Philojoph und Gejchichtsjchreiber ich ausgezeichnet hat, jo wenig hört man da- von, daß er auch in der Politif eine Rolle gejpielt und jpeziell während des jiebenjährigen Strieges jeine Hand mehrfach dazu ae boten hat, den Frieden zwijchen Preußen und Frankreich wieder: herzujtellen. Und doch it es einerjeits jehr begreiflich, dat Xoltaire ji) von dem jtillen Hafen der Dichtkunit auf das hohe Meer der Bolitif Hinauswagte, da ihn ja viele, zum Teil enge Beziehunger mit Fürſtlichkeiten, StaatSmännern und Günjtlingen Deutichland: und Frankreichs verbanden. Andrerjeits dürfte grade jeine Thätigken als Friedensvermittler, wenn jie auch jchlieglich ohne Erfolg blieb, wegen der ihr zur Grunde liegenden Motive und wegen der Auf— nahme, die fie namentlich bei Friedrich II. fand, nicht uninter: ejiant jein. Es ijt daher gewiß anzuerfennen, daß ein franzöſiſchet Hiltorifer, der Herzog von Broglie, in jeinem fürzlich erjchienenen Buche: Voltaire avant et pendant la guerre de sept ans dieſen Gegenſtand aufs Korn genommen bat. Yeider hat aber der Herzog. welcher Mitglied der Pariſer Akademie it und bereitS mehrer: große Werfe über das Fridericianiſche Zeitalter veröffentlicht bat, trot aller den Franzojen eigenen Klarheit und Eleganz der Dar jtellung in der vorliegenden Frage fein Necht, das letzte Wort ju beanjpruchen. Er hat nämlich) mit gleichfalls echt Tranzöfticer Sorglofigfeit eine jchon gedrudte Hauptquelle für die Friedens—

Voltaire als Friedensvermittler. 321

verhandlungen überjehen, die wichtiger iſt als jeine Mättheilungen aus ungedrudten Minijterialakten, und it auch nicht immer den Regeln der Chronologie gefolgt. So mußte er begreiflicher Weije mehrfach zu theils ungenügenden theils jchiefen Rejultaten fommen. Wir wollen daher im Folgenden den jo interefjanten Gegenjtand einer erneuten Betrachtung unterwerfen, indem wir verjuchen, die Fehler des franzöfiichen Autors nicht bloß aufzudeden, fondern auch zu repariren.

Schon vor dem Ausbruch des jiebenjährigen Krieges hatte Voltaire zweimal in die Beziehungen zwijchen Preußen und Frank— reirh einzugreifen gejucht, und zwar im Direften Muftrage der franzöfiichen Regierung: 1740 jollte er, unter dem Vorwande, den jungen König Friedrich zu feiner Thronbefteigung zu beglüd- wünjchen, ihn über jeine Pläne zur Eroberung Schlefiens aus» borchen; 1743 hatte er den Auftrag, den preußifchen König zum Wiederanjchluß an das Bündnig mit Ludwig XV. zu bewegen. Aber Friedrich, jo jehr er den Dichter Voltaire bewunderte, wollte doch von dem Spion Voltaire, den er durchjchaute, nichts willen und ließ ihn daher unverrichteter Weije abziehen. Wenn Broglie daher meint, die franzöfiiche Regierung hätte auch im Jahre 1750, als Voltaire der Einladung Friedrichs nach Berlin folgte, ihn als Spion verwenden jollen Richelieu und Mazarin hätten dies jiher getan —, jo jcheint mir unjer Autor auf dem Holzwege zu jein; denn Voltaire würde damals, auch wenn er jich Mühe gegeben hätte, aus jeinem föniglichen Gönner ebenjowenig über dejjen politifche Anfichten herausgepreßt haben wie 1740 und 1743.

Der Aufenthalt Boltaires am Berliner Hofe dauerte nur drei Sahre. Seine Habjucht, wie fie fich in der Einjchmuggelung in Preußen verbotenen ſächſiſchen Bapiergeldes zeigte, und jein Iitterarijcher Ehrgeiz, wie er in jeinem Streit mit Maupertuis, dem Präjidenten der Berliner Afademie, zu Tage trat, verjtimmten den großen König gegen den großen Dichter. Als dem Könige nun vollends eine Meußerung Boltaires hHinterbracht wurde, er babe feine Luft mehr, Friedrichs „schmugige Wäjche zu wajchen“, d. h. jeine franzöfijchen Verſe zu forrigiren, da erflärte Friedrich: „Man drüdt die Orange aus, dann wirft man fie weg“ und ertheilte dem gentalen Franzoſen, wenn auch ungern, die erbetene Erlaubniß zur Abreife. Voltaire beging nun nod) die Unvorfichtigfeit, einen Band Gedichte des Königs mitzunehmen, wurde deshalb in Frankfurt am Main durch den preußijchen Nefidenten, Baron Freytag, feſtge—

Vreußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 2. 21

322 Roltaire als Friedensvermittler.

halten und mußte bier, als er einen Fluchtverſuch wagte, ſich einem Arrejt unterwerfen, in Folge dejjen er nach jeinem eigenen Zeugnih franf wurde und aus dem ihn, nach Ablieferung jener Gedichte, nicht die Vermittelung jeiner Negierung, an die er ſich vergeben: wendete, jondern erjt eine Kabinetsordre aus Berlin befreite.

Mochte Voltaire, wie Friedrich glaubte, mit jeiner Strankbat |

nur Komödie gejpielt oder mochte die ihm widerfahrene wenig rüd: fichtsvolle Behandlung wirklich jo jchwer getroffen haben, die Krän- fung wirfte jedenfall jo lange in ihm nach, daß er vor Begunr des jiebenjährigen Krieges er hatte fich inzwijchen auf ein Yan) gut in der Nähe von Genf zurüdgezogen zunächſt mit einer ge wijjen Genugthuung jeinen früheren Gönner einer übermächtiger

Allianz gegenüberjtehen jah. Er jchrieb damals an eine }Freundın |

der Bompadour, eine Gräfin Yübelburg: „Sie erwarteten wohl nıdt daß Frankreich und Dejterreich eines Tages Bundesgenofjen ſein würden. So einjam und der Welt abgejtorben ich lebe, jo bin ıd doch übermüthig genug, mich über dieſes Bündniß zu freuen." Einige Tage jpäter fragte er die Gräfin, ob Maria Therejia Bor

bereitungen zur Wiedereroberung Schlejiens treffe. „Der Moment |

iſt jegt günjtig hierfür; wenn fie ihn vorübergehen läßt, wird er nicht wiederfommen. Freuen Ste ich nicht zu jehen, wie ze ‚rauen, zwei Saijerinnen (Maria Therefia und Elijabeth) mi unjerm großen König von Preußen, unjerm nordijchen Salome Fangball jpielen? . . Und würden Sie jich nicht freuen, Salomı in Wien am Hofe der Königin von Saba zu jehen?“

In dieſer Zeit juchte Friedrich II. das freundjchaftliche Per: hältnig mit Voltaire wieder anzubahnen, indem er ihn zwar nid perſönlich Dazu war er zu vorfichtig aber durch jenen Sekretär und Vorlejer, den Abbe de Prades, zum Bejuch bei jıd aufforderte; er reichte ihm wieder die Hand, mit der er ihn, nad Broglies Ausdrud, furz vorher „jo brutal geohrfeigt hatte“. Ten Grund für dieſes Entgegenfommen jieht Broglie darin, daß Fried rich in Frankreich populär bleiben wollte, „in Theatern um Akademien beweihräuchert”, und daher „den furchtbaren Spötter‘ auf jeiner Seite zu haben wünjchte; mir jcheint eher das leiden: ichaftlihe Bedürfnig des Königs nach der geiftvollen Plaudern“ Voltaires den Anjtoß gegeben zu haben. Mag dem jein, wie ıhm wolle: der Dichter lehnte ab, er zog es vor, wie er jagt, rubig au jeinem von den Alpen überragten Yandgute mit jeinen „Büchern Gärten, Weinbergen, Pferden, Kühen“ weiter zu leben. Ti

Voltaire als Friedensvermittler. 323

Schwärmerei Voltaires für das Landleben wird ihn aber wohl ebenjowenig zu jeiner Ablehnung bejtimmt haben wie „die Wer: gänglichkeit der Ehrenjtellen“, die er an anderer Stelle vorjchüßte; es war vielmehr jedenfall® noch ein jtarfer Reit von Empfindlich- feit gegen jeinen früheren Mäcen in ihm zurüdgeblieben. Wie groß dieſe Empfindlichfeit war, fünnen wir aus einer Aeußerung Voltaires entnehmen, welche in die Zeit nach Friedrichs erjten Er— tolgen im jiebenjäyrigen Kriege fällt: „Diejer Teufelsferl von Zalomo jcheint das Uebergewicht zu befommen. Wenn er jtets alüclich und jtegreich bleibt, wird meine ehemalige Vorliebe für ihn gerechtfertigt werden; wird er gejchlagen, jo werde ich gerächt wer: den.“ Zugleich bat er den Marjchall von Nichelieu, jeinen „Heros“, wenn er nach Frankfurt fäme, ihm von Dort die Uhren des ſchurkiſchen Baron Freytag mitzubringen.

Ueberwog hier noch das Gefühl der Rache, jo wurde dajjelbe vollfommen in den Hintergrund gedrängt, als Friedrich II. nach der Schlacht bei Kolin und ihren verderblichen Folgen in den Ab— grund des Berderbens hinabgejtürzt zu jein jchien: Voltaires ganzes Beitreben ging jetzt dahin, feurige Kohlen auf das Haupt des preußischen Königs zu jammeln. Er jah wie Broglie, freilich die ‚sarben etwas jtarf auftragend, bemerft mit einem Schlage die Gelegenheit, fich durch einen Mft großen Edelmuthes berühmt zu machen, indem er den, welcher ihn furz zuvor unterdrüdt hatte, jegt aber „gedemüthigt zu jeinen Süßen lag“, vom gänzlıchen Untergang rettete, und zugleich mit Glanz wieder in den Kreis diplomatijcher und politischer Angelegenheiten einzutreten, von dem er zu jeinem Schmerze ausgejchlofjen worden war. Es war aljo nicht jowohl jelbitloje Dinneigung zu Friedrich oder ein Gefühl des Danfes für die jchöne Zeit, die er an der Spree und Havel in den föniglichen Schlöjjern verlebt hatte, als vielmehr perfönliche Gitelfeit, die Voltaire bewog, jett die VBermittlerrolle zu über- nehmen.

Er wandte ſich zuerſt nicht an Friedrich direkt, ſondern an ſeine Schweſter, die Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth, deren enge Beziehungen zu ihrem königlichen Bruder er kannte und mit der er auch ſchon vorher forrejpondirt hatte. „Geſtatten Ste mir“, ſchrieb er ihr, wahrjcheinlich im Juli 1757,*) „dab ich Ihnen eine meiner Ideen mittheile. Sch bilde mir ein, daß der Marjchall von

*) Die Daten des Briefmehjels zwifchen Voltaire, Wilhelmine und Friedrid) find in dieſer Zeit ſehr unficher. 21*

324 Voltaire als Friedensvermiltler.

Nichelieu jich gejchmeichelt fühlen würde, wenn man ſich an ibn wendete. Es iſt meiner Anficht nach nothwendig, ein gemifjes Gleichgewicht aufrecht zu erhalten, und ich glaube, daß es für ihn feicht jein würde, das Interejje jeines föniglichen Herrn mit dem Interefje jeiner Verbündeten und dem Ihrigen zu verjchmelzen. Lajjen Sie ihn gelegentlich jondiren: Niemand fann geeigneter jein als der Marjchall von Richelieu, eine ſolche Miſſion zu er füllen. Ich jpreche von diefen Dingen nur in der Vorausjetuna, daß Ihr Bruder, der König, gezwungen würde, Frieden zu jchlieken, und um Sie darauf aufmerfjam zu machen, daß er Ihnen in diefem Falle gewiß zu großem Danfe verpflichtet wäre, jelbit wenn die Umjtände ihn nöthigen jollten, Opfer zu bringen.“

Zu gleicher Zeit jchrieb Voltaire auch jelbit an Nichelieu, jeinen „Heros“, der im Jahre 1756 die Inſel Minorfa den Eng: ändern entrifjen hatte und gerade jetzt als Nachfolger des Marſchalls d’Ejtrees zum Kommandirenden der franzöjiichen Armee im nördlichen Deutjchland ernannt wurde. Um Politif befümmere er jich zwar, jo bemerkt er in feinem Brief an Nichelieu mit offen: barer Berjtellung und ich jelbjt gleich darauf widerlegend, genau ebenjo wenig wie um die Streitwagen der alten Aſſyrer, er babe aber doch nicht umhin gekonnt, der Marfgräfin von Bayreuth) den Wunjch vorzutragen, daß er, Nichelieu, die Rolle eines Feldherrn mit der eines Schiedsrichter vereinigen möge. Dieje jeine der jei fein Rath, jondern eben nur ein Wunjch, der Niemanden fompromittiren fönne, und der nur jeinem Eifer für die Perjon und den Ruhm des Marjchalld entiprungen jet.

Der Rath Voltaires fiel jowohl bei Friedrich II., der durch jeine Schweiter informirt worden war, wie auch bei dem Marjchall von Nichelteu auf fruchtbaren Boden. Friedrich jchrieb am 6. Sep: tember 1757 einen Brief an Nichelieu, „den Mann, der die Iniel Minorfa troß ungeheurer Schwierigfeiten erobert hat, und der auf dem Punkte jteht, Niederjachjen zu unterwerfen“. Es handele ih um die „Kleinigkeit“, Frieden zu ſchließen, jo erflärte der König vorjichtiger Weije in diefem Briefe, um jeine Nothlage nicht ein- räumen zu müſſen. Er jet bereit, die alte, jechzehnjährige Ber: bindung mit Frankreich wieder aufzunehmen. Wenn Richelieu in Bezug auf die VBorjchläge, die er ihm mache, feine Injtruftionen habe, möge er jtch welche erbitten und den König von ihrem Inhalt in Kenntniß jegen. Der Marjchall antwortete hierauf, da er mit einem Helden wie Friedrich lieber verhandle als kämpfe:

Voltaire als Friedensvermittler. 325

da er in der That ohne Injtruftionen fei, werde er einen Kourier abfertigen, um die franzöfiiche Negierung von den „Eröffnungen“ des Königs zu benachrichtigen.

Worin bejtanden dieje „Eröffnungen”, fragt Broglie, und be- antwortet die Frage dahin, daß wir leider gar nichts hierüber wüßten, weil „feine jchriftlihe Spur“ davon erhalten jei. Ein Irrthum des franzöfiichen Autors: nicht bloß eine, ſondern viele jchriftliche Spuren über dieſe Friedensverhandlung find erhalten. Weshalb hat Broglie diefe Spuren nicht entdedt? Weil er, wie wir oben jagten, mit echt franzöfiicher Sorglofigfeit die Haupt- quelle für alle politijchen Verhandlungen Friedrich IL, jeine Korrejpondenz, nicht benußt hat. Dieje „Politiſche Korrejpondenz ‚sriedrichd des Großen“, welche jchon vor einigen Jahren bis zum Ende des jiebenjährigen Krieges geführt it, it ein monumentales Urfundenwerf gleich der Correspondance de Napoleon LJ., und es erjceheint uns Deutjchen fajt unbegreiflich, wie ein in Franfreich und über die Grenzen Frankreichs hinaus mit Recht berühmter Hiltorifer, der ſich Hauptjächlich mit der Periode Friedrichs II. bejchäftigt, jte überjehen fonnte. Der Fehler ijt um jo jchwerer verjtändlich, weil Broglie in jeinen früheren Werfen die Korrejpondenz benußt, ja jogar im vorliegenden Buche über Voltaire einmal zitirt bat.

Nach der „Politischen Korreſpondenz“ ſchickte Friedrich am 6. September den Kammergerichtsrath) von Eidjtedt, der Spezial: gejandter an den Ddeutjchen ‚sürjtenhöfen war, mit jeinem oben erwähnten Briefe und einer bejonderen Injtruftion an den Marjchall von Nichelieu. Auch in diejer Injtruftion iſt übrigens von feinen ‚stiedensvorjchlägen des Königs die Rede; Eidjtedt jollte vielmehr danach, ähnlich wie Friedrich es in jeinem Briefe that, den Marjchall auffordern, jich „zu äußern“, falls er zu Vorjchlägen ermächtigt wäre, wenn nicht, jogleich an jeinen Hof zu jchreiben. Die Abjicht des Königs ging nach der Inftruftion dahin, „daß Sch den Frieden antragen lajje und durch Euch den Marechal über Die Conditions und Propofitiong, wie man jolchen zu jchließen vermeinet, jondiren laſſe.“ Der König folgte dem Nathe Voltaires aljo ganz genau, er bediente jich dejjelben Ausdrudes „jondiren“, den jener in jeinem Briefe an die Marfgräfin von Bayreuth an- gewendet hatte. Die Idee des Dichters fand demnach eine jehr günjtige Aufnahme bei ‚Friedrich, wenn er ihr auch nicht jofort folgte, jondern erſt dann, als jeine militärische Lage durch den Sieg

326 Voltaire als Friedensvermittler.

der Ruſſen bei Großjägerndorf jic noch mehr verjchlimmert hatte.*) De „Eröffnungen“ Friedrichs aber, von denen Nichelieu in feiner Ant- wort }pricht und die Broglie joviel Kopfzerbrechen machen, ent: halten, wie gejagt, feine detaillirten Vorſchläge zum Frieden.

Am 20. September (Bolit. orrejpondenz Bd. 15, Nr. 935% überjandte Eidjtedt dem Könige nebjt der obigen Antwort Richeliu: einen Bericht über zwei Unterredungen mit dem Marſchall. Tu: nach hatte Ddiejer auch mündlich) die baldige Abjendung eine Kouriers nach Verſailles zugefichert, zugleich aber betont, daß de Friedensſchluß mit Preußen ohne Opfer diejes Staates bei jene Regierung auf Schwierigfeiten jtoßen werde, da Maria Thereitı den Franzoſen die öfterreichijchen Niederlande (etwa das heutic Belgien) verjprochen habe, falls jie ihr bei der Wiedereroberum Schlefiens helfen würden. Eickſtedt erhielt nun Befehl, wen Richelieu von Abtretungen oder dergleichen jpräche, „beicheiden‘ hervorzuheben, „daß Vorjchläge dieſer Art nicht das geeignete Mittel wären, um den Frieden in die Wege zu leiten;“ der Marſchal möge fich erinnern, was Ludwig XIV. 1672 in Utrecht paſſite (mit der Einnahme von Utrecht endete der Siegeszug Ludwigs AN. in Holland). Bon Abtretungen aljo wollte der König jett, an 24. September, nichts wifjen, obwohl er noch furz vorher, am 18. oder 19. September, jeiner Schweiter Wilhelmine gejchrieben hatte, er jehe voraus, „daß die beiten Bedingungen, die man von diefen Leuten (den Franzoſen) erhalten wird, demüthigend un jchreeflich jein werden.“ Aber das war nur der Ausdrud em! momentanen, bis aufs Höchite gejteigerten Niedergejchlagenbeit; in Allgemeinen hielt Friedrich, bei allem Wechjel jeiner durd du Kriegsglüd bedingten Stimmungen, von nun an mit eier Energie an dem Grundſatz fejt, lieber zu jterben als einen faulen Frieden, einen Frieden mit Yandabtretungen, zu jchließen.

Die von dem preußiichen Könige ungeduldig erwartete Antwort der franzöfifchen Regierung traf um die Mitte Oftober endlich an: der Hof von Berjailles lehnte es ab, mit Preußen allein, ohn Zuziehung feiner Verbündeten, noch dazu bloß durch einen Genen über den Frieden zu verhandeln. Nach dem Berichte Eicjtedt! hatte Nichelieu diefer von ihm vorgelejenen Antwort jeines Hofet noch mündlicy hinzugefügt, ohne die Zeſſion Schlejiens ſei M Friede unmöglich. Damit war das Band der Verhandlung zunät

*) Vergl. B. Bolz: Kriegführung und Rolitit König Friedrichs des Grob! in den erjien Jahren des ficbenjährigen Krieges, Berlin 1896.

Voltaire als Friedensvermittler. 327

durchichnitten, denn von Abtretungen wollte der König ja eben nichts wiſſen. Er war aber nicht verzweifelt, jondern hoffte, wie er jeiner Schweiter am 17. Oftober jchrieb, daß Die Franzoſen ihre Unverſchämtheit und, ihren Stolz noch bedauern würden. Drei Wochen jpäter jchlug er fie bei Roßbach.

Unmittelbar nachdem dieſe durch ihn veranlaßte erfte ‚riedensvermittlung gejcheitert war, arbeitete der unermüdliche Voltaire bereits an einem zweiten Plane, um Frankreich und Preußen zu verjöhnen. Hatte er jic) das erite Mal eines Generals als Mittelsperjon bedient, jo wollte er diesmal einen Staatsmann, den mit der Markgräfin Wilhelmine befreundeten früheren franzö— jiichen Minister des Aeußeren, den in Lyon lebenden alten Kardinal Tencin, in Aftion treten lajjen. Voltaire wandte jich nicht direkt an Tencin, der ihn früher einmal bei einem Bejuche etwas ungnädig empfangen hatte, jondern an den Bankier Trondin in Lyon. Am 20. Oftober jchrieb er ihm, er jei der Marfgräfin jehr zugethan, babe ihrem Bruder „angehört“ und finde es nicht in der Ordnung, dag man dem Haufe Dejterreich noch mehr Macht zufommen lafjen wolle, als es jelbit unter Kaiſer Ferdinand II. bejejien habe. Der König von Preußen müſſe freilich Opfer bringen, weshalb aber ihn jeines ganzen Befiges berauben? Welche jchöne Wolle fünne Ludwig XV. fpielen, indem er die für Frankreich jo ruhm: volle Zeit des weitphälischen Friedens erneuere! Da nun die Marl: gräfin in freundichaftlichen Beziehungen mit einer Perſon jtehe, die Tronchin oft jehe Voltaire meint den Kardinal Tencin möge jie an den König von Frankreich einen „rührenden“ Brief jchreiben und „die Berjon“ möge dann diejen Brief dem Könige mundgerecht machen. Ia „die Perjon“ Voltaire vermeidet es, Tencins Namen zu nennen, um jich nicht bloß zu jtellen die Perſon fönnte vielleicht jpäter jogar dem zu berufenden Friedenskongreſſe präfidiren und jo ihre bisherige Zurüdgezogenheit mit dem ehren volliten und edeliten Amte, welches es auf der Welt gebe, ver: taujchen.

Dem alten Kardinal, einem Gegner des franzöftich = öjter- reichiſchen Bündnifjes, jchmeichelte die ihm zugedachte Nolle nicht wenig. Er war jogleich bereit, den Brief der Marfgräfin zu über: mitteln und empfahl ihr nur noch durch Voltaire, in diefem Briefe auch dem Abbe Bernis, dem derzeitigen franzöſiſchen Miniſter des Auswärtigen, einige Nojen auf den Weg zu itreuen, da er großen Einfluß in Verjailles habe.

328 Voltaire als Friedensvermilttler.

Bis hierher fünnen wir Broglie folgen. Seine weitere Dar: jtellung der zweiten Boltairejchen Friedensverhandlung it aber durchaus lücken- und fehlerhaft, weil er wieder die „Politiſche Korrejpondenz“ nicht eingejehen und auch die Daten verwirrt hat. Er nimmt an, die Boltaire-Tencinjche Friedensvermittlung je hauptjächlich durch Friedrichs Steg bei Roßbach und jeine darauf geitügten Ansprüche durchfreuzt worden; in Wahrheit fällt aber der größere Theil der Verhandlung den Broglie gar nidt bringt erjt, wie wir jehen werden, in die Zeit nad) diejer Schladt (5. November 1757).

Nachdem Boltaire am 27. Oftober die Marfgräfin von jeiner neuen Idee in Kenntniß gejeßt, wandte fich dieje, wir wifjen nicht, an welchem Tage, aber doch frühejtens in den eriten Tagen dei November, an ihren Bruder mit der Bitte, ihr jeine Abfichten mitzutheilen und welche Antwort fie Voltaire geben jolle. Friedtich beſchied (13./14. November) die Markgräfin dahin, es jei ihm erwünscht, jich im Fall der Noth eine Hinterthür aufzuhalten, er dürfe ſich das aber nicht merfen lajjen. Wilhelmine jchloß hieraus jehr richtig, daß der König gegen ihren Briefwechjel mit Voltaire nicht8 einzuwenden habe, wenn jie den Anjchein vermeide, al: handle jie in jeinem Auftrage. Sie jtellte deshalb am 23. No vember Voltaire den Brief für Tencin in Ausjicht; dieſen Brief jelbjt hat fie, wir willen nicht aus welchen Gründen, erjt am 27. Dezember abgehen lajjen, nachdem ihr Bruder ihr noch zuvor (18./19. Dezember) den Wunſch zu erfennen gegeben, zu willen, „wie man in ‚sranfreich über den Frieden dent.‘

Alfo nicht die Schlacht bei Roßbach hat die Tencinjche Ber: mittlüng jcheitern lafjen, jondern vielmehr ein von Broglie jelbit angeführter, den franzöfiichen Minifterialakten entnommener Befebl des Abbe Bernis an Tencin, ſich nicht um Dinge zu befümmern, die ihm nichts angingen, und der Marfgräfin höflich, aber ablehnen? zu jchreiben. Der arme Kardinal mußte das Konzept zu Diejem Schreiben, nachdem es Voltaire begutachtet, aud) Bernis vorlegen, der noch einige Ausdrüde dejjelben veränderte, die zuviel Ent: gegenfommen für Friedrich verriethen.

So verlief Voltaires Vermittlung mit Hilfe des Politiker? Tencin ebenjo ergebnilos wie die mit Hilfe des Generals Kichelieu; jie hatte aber außerdem noch für den ehrgeizigen Dichter ein un angenehmes Nachjpiel im Gefolge. Frankreich jchwärmte damals für den Helden von Roßbach, der mit jeinem fleinen Heere fich jo

Voltaire als Friedensvermittler. 329

unvergängliche Yorbeeren erworben hatte. „Das ganze Königreich‘‘, jagt Bernis in jeinen Memoiren, „war preußijch geworden, unjere Armeen waren preußijch, jelbjt mehrere unjerer Minifter wären es gewejen, wenn jie gewagt hätten, die Maske abzuwerfen, und unjer Bündnig mit Dejterreich und Rußland wurde mehr in Paris als in London befrittelt.“ Da zu den Unzufriedenen bejonders die Itterarijchen Freunde und philojophiichen Glaubensgenofjen des Königs von Preußen gehörten, jo geriet) Bernis auf den Verdacht, daß Voltaire die Vermittlerrolle nur deßhalb übernommen habe, um jich bet jeinem alten Gönner, dem Feinde Frankreichs, wieder in Gunſt jeßen und zu ihm zurücfehren zu fünnen. Bernis hatte früher als junger Abbe und Ffleiner Verſemacher mit Voltaire und einem gewiſſen d'Argental in einem fröhlichen, literariichen Klub verkehrt und jich dabei wegen jeines wohlgenährten Ausjehens den Spignamen „Babette“ erworben; jet aber war er der zugefnöpfte Herr Minijter, der von früheren Scherzen nichts mehr wijjen wollte und dem Dichter jeine Anfnüpfungsverjuche mit dem Feinde jehr verübelte. Da er auf VBoltaires Briefe nicht antiwortete, ſo wandte jich Diejer nun in heller Verzweiflung an d’Argental mit der Bitte, ihn „bei jeiner lieben Babette* zu rechtfertigen. „Zerſtören Sie den Argwohn, daß ich mich noch für den Mann interejjire, über den ich mich jo jehr zu beflagen habe.“ Endlich ließ ſich Bernis erweichen, den Betheuerungen des Dichters zu glauben, und Vol: tatre jandte ihm nun einen feurigen Danfesbrief, welcher jchloß: „Ver: zeihen Sie dem alten Schweizer jein Gejchwäß, und möge Eure Eminenz ihm daſſelbe Wohlwollen bewahren, mit welchem die jchöne Babette ihn beehrte.‘

Wir fommen jet zu dem dritten und Schlußafte des Dramas: Voltaire als Friedensvermittler; er it länger als die beiden vor: angehenden Akte, endet aber ebenjo wie jie mit einem Fiasko des Helden. Zu jeinem Hauptmitjpieler hatte der Dichter in dieſem dritten Akte den Miniiter Choiſeul, wie im erjten Nichelteu und im zweiten Tencin. Unjer Autor Broglie muß, um im Bilde zu bleiben, diefen Akt nur halb gelejen haben, denn jeine Erzählung davon, jo hübjch fie klingt, enthält noch mehr Lücken und Fehler als jeine früheren Auseinanderjegungen.

Nach der Schlacht bei Kunersdorf, im September 1759, nahm Voltaire, nad) fajt zwetjähriger Pauſe, zuerit wieder einen Anlauf, ſich dem preußifchen Könige als ehrlichen Makler für den ‚srieden in Erinnerung zu bringen. Aber die Folgen diejer Schlacht waren

330 Boltaire ald Friedenspermittler.

jür den König bei Weitem nicht jo verderblich als diejenigen da Niederlage bei Kolin. Die Nujjen wagten ihn bei Beuthen a der Oder nicht anzugreifen, jondern zogen ſich nach Polen zurüd: ; die Dejterreicher, welche Dresden erobert, hoffte der König durc Entjendung des Finckſchen Korps jchnell nach Böhmen zu werten um dann Dresden zurüdzuerobern. So lehnte er Voltaires Ar | träge zunächſt ab: er wiſſe, welches Unglüd er erlitten, aber dx | Schlaht bei Minden und der Berlujt Kanadas müßten aud Franzoſen vernünftig machen; möge doc Voltaire den Frieden ge nießen, den er bejige. Bald darauf aber erlitt das preußiſche Her | nicht minder wie der preußiiche Waffenruhm eine jchwere Einbuße indem eben jenes Finckſche Korps in offenem Felde die Wafter itredte. Der König fonnte nun weder die Dejterreicher aus Zadia vertreiben noch Dresden zurüderobern, und jeine Ausjichten für der fommenden Feldzug gejtalteten jich jehr trübe. Als Daher ir franzöſiſche Dichter zu Beginn des Jahres 1760 mit neuen Friedens erbietungen an ihn herantrat, ging er, wie wir jehen werden, ei: darauf ein.

Voltaire hatte jich furz zuvor, im November 1759, durd | jeinen Freund d’Argental dem Herzog von Choijeul, Bernis’ Nad | folger al$ Premierminiſter, der ihn als Dichter jehr hoch jchäste obwohl er jelbit nicht, wie jein Amtsvorgänger, poetijcher Dilettant war, und der jeiner Hilfe im Kampfe gegen die Jejuitenparter be durfte, auch als politischen Agenten zur Verfügung gejtellt. Cr hatte Argental, „jeinen Schugengel‘“, flehentlich gebeten, den Herzoge Folgendes vorzujtellen: „Voltaire jteht in regelmäßiger Briefwechjel mit Luc“), obwohl er jehr aufgebracht gegen ihn ſein darf und muß, und er wird diefen Verfehr, mit weiterer Unter: drüdung jeiner Empfindlichkeit, um jo lieber fortjegen, wenn er dem Staate damit einen Dienſt erweilen kann.“ Er jtehe ferner ın Beziehungen mit mehreren fleinen deutjchen Fürjtenhäujern (Pral;, Württemberg, Gotha) und habe Freunde in England. Er könne überall hinreifen, ohne den mindejten Verdacht zu erregen. So möge man jich denn jeiner, wie ehemals des Abbe Gauthier vor dem Utrechter Frieden, als Agenten bedienen, um die Würde der Krone nicht bloßzuitellen, wie eine Jagdgejellichaft durch einen Piqueur erit das Yager eines Wildes umgehen laſſe, bevor fie ſich zum Stelldichein begebe.

*) Unjauberer Beiname Friedrichs II.

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Voltaire als Friedensvermitiler. 331

Voltaire erzählt, daß jeine Bitten größeren Erfolg hatten, als er jelbit zu beffen wagte. Choiſeul habe ihn zum Diplo: matiſchen Kurier gemacht und ihm mehrere „ojtenjible‘ Briefe fr ‚sriedrich II. überjandt, die jo abgefaßt waren, daß Defterreich gegen die franzöfiiche Negierung nicht mißtrauiſch werden fonnte. Sa, er habe jogar von dem preußischen Könige einen förmlichen ‚sriedensentwurf erhalten, deſſen Bedingungen allerdings wenig annehmbar gewejen jeien.

Nach Broglie verdient diefe Erzählung feinen Glauben. Voltaire habe ſich hier eine Bedeutung beigelegt, die ihm nicht zufomme, und die ganze Berhandlung zwijchen Friedrich Il. und Choiſeul jet nicht jo „ernithaft‘ gewejen, wie der Dichter glauben machen wolle. Von jenen „ojtenjiblen‘ Briefen, behauptet Broglie, jet feiner mehr erhalten. Gine Spur von dem Antwortjchreiben Friedrichs finde ſich zwar in den Briefen an die Herzogin von Gotha, aber in einer „geheimnißvollen“ Sprache und unter fingirten Namen, was die Kenntniß der Verhandlungen „unmöglich“ mache. Bisweilen entjchließe jich Friedrich wohl dazu, jelbit an Voltaire zu jchreiben, aber dann gejchehe es in Verſen und mit offenbarer Verjpottung des Dichters. Nachdem jich der König von Preußen eine Zeit lang, jagt Broglie, mit einem „Spiele“ bejchäftigt hatte, welches ihm im Grunde genommen „Eindiich‘ erjcheinen muhte, warf er plöglich die Karten weg, da der „unglüdliche Anfang‘ des Feldzuges von 1760 ihm nicht mehr erlaubte, jeine Zeit „mit Scherzen zu verbringen“; am 1. Mai 1760 erklärte er Voltaire, die Waffen erſt nach drei Feldzügen niederlegen zu wollen.

Wenn an diefen Behauptungen unjeres Autors faum ein wahres Wort ift, und wenn er von den damals gepflogenen Wer: handlungen gar nicht mitzutheilen weiß, jo liegt der Grund hier— für eben wieder -darin, daß er es nicht der Mühe für werth ge— halten hat, einen Blid in die „Politiſche Korrejpondenz Friedrichs des Großen‘ zu werfen. Nach dem 19. Bande derjelben, welcher genügende Zeugnijje enthält, um Perſonen und Dinge far zu beurtheilen, joll in Folgendem das dritte Stadium der Voltaire: ihen Friedensvermittlung dargeſtellt werden, wobei ſich Gelegen— heit finden wird, Broglies falſche Anſichten, namentlich ſeine ver— kehrte Auffaſſung von der Politik Friedrichs II. zu berichtigen.

Zunächſt lieg Choiſeul im Januar 1760 dem preußiſchen Könige durch Voltaire die Mittheilung zugehen, Frankreich wünjche jehnlichit, fich mit England und Preußen zu vertragen, jelbjt wenn

332 Voltaire als Friedensvermittler.

es jeine eigenen Berbündeten im Stiche lafjen müßte. England jollte gegen Minorfa und die franzöfischen Bejigungen in Afrika das jchon eroberte Kanada mit der Inſel Guadeloupe wieder herausgeben; Preußen jollte Sachjen räumen und dem Kurfüriten von Sachjen eine fleine Entjchädigung geben.

Wie ernithaft Friedrich diejen „oftenjiblen‘ Brief Choijeuls aufnahın, geht daraus hervor, daß er jofort in einer eigen: bändigen Denkſchrift, „idees pour la paix“ betitelt, darauf ant- wortete. (E8 iſt dies jedenfalls der fürmliche riedensentwurf, den Voltaire erwähnt.) Mit Preußen, heißt es Darin, könne Frankreich fich leicht verftändigen. Denn gegen die Räumung Sadjens habe der König nichts einzuwenden, vorausgeſetzt, daß auch die Franzoſen die preußiichen Gebiete am Rhein und in Weitphalen räumten und daß die Ruſſen und Schweden fich ın ihre Heimath zurüczögen; der Kurfürjt von Sachjen möge, wenn erforderlich, durch Säfularijation von Erfurt entjchädigt werden. Schwieriger jet es, die Anjprüche Franfreich$ und Englands zu vereinigen. Da aber die Engländer feine franzöfiihe Yandung in England jelbjt mehr zu befürchten hätten und aljo noch 30000 Mann nach Deutjchland werfen fünnten, da jie ferner auf dem Punkte jtänden, Martinique und PBondichery zu erobern und den jranzöfiichen Handel gänzlich zu zerjtören, jo jollte ein jo weiſer und aufgeklärter Miniſter wie Chotjeul jich nicht länger von Deiterreich als Statift gebrauchen lajjen, jondern lieber jeinem Herrn die glänzende Nolle verjchaffen, Europa zu beruhigen, und jich dadurch) jelbjt unjterblichen Ruhm erwerben.

Stleichzeitig (23. Januar 1760) ſetzte ‚sriedrich den engltjchen Minijter Pitt durch jeinen Gejandten Knyphauſen von den Bor: ichlägen Choiſeuls in Stenntniß und bat ihn um jeine Anjichten darüber. Der Herzogin von Gotha aber, an die Voltaire jene Borjchläge zur Weiterbeförderung an den König überjandt hatte, ichrieb er von jeiner Hoffnung auf guten Erfolg. „Die Erjchöpfung ihrer Finanzen macht die Franzoſen jo weije wie lauter Blatos.... Die Dejterreicher werden jich dem Frieden anjchliegen müfjen, wenn ein jo mächtiger Berbündeter wie Frankreich fie verlajien bat.‘ Uebrigens möge die Herzogin ſich Voltaire gegenüber nichts davon merfen lajien, daß jie um das Geheimniß wilje; das fünne dem Herzog von Choiſeul, dem Schlußnagel (cheville ouvriere) der Verhandlung, unangenehm jein. Nach einer Meußerung gegen: über dem Herzog Ferdinand von Braunjchweig jah der König

Voltaire als Friedensvermittler. 333

ferner in dem „eparatfrieden mit Frankreich das einzige Mittel, um der Ueberzahl jeiner Feinde widerjtehen zu können; jonjt werde er ſich höchitens bis Ende Auguſt halten.

Schon hieraus erjieht man deutlich, daß die Voltaire-Choiſeulſche Vermittelung Friedrich II. durchaus nicht als eine ‚Spielerei‘ er: ihten, wie Broglie meint. Der König ging aber noch weiter. Da die englifchen Minijter ihm riethen, Alles zu thun, um Die wirklichen Abfichten der franzöfiichen Regierung aufzudeden, jo ſchickte er, mit dem Einverjtändniß der Herzogin, den gothaiſchen Freiherrn von Edelsheim nad) Barıs. Er gab ihm eine Injtruftion für jich und einen Brief an den Bailli de Froullay, den Großmeiſter des Maltejerordens, den er von Potsdam ber fannte, mit auf den Weg. Er machte Froullay, wie in den „idees pour la paix,“ auf die Nachtheile aufmerfjam, welche die Franzoſen bei einer Fortjegung des Krieges erleiden würden, und bat ihn, als guter Franzoſe für den Frieden zu wirken ; Edelsheim jollte, bevor er Froullays Ant: wort erhielte, die Stimmung am Berjailler Hofe zu erforichen juchen, und, wenn Froullay ihn im Stiche ließe, ich direft an Choiſeul wenden. In einem Schreiben an die Herzogin von Gotha vom 26. März fündigte der König ihr dann „die Ankunft“ an und theilte ıhr mit, daß der „B. de F.“ jogleich die Eijen ins Feuer gelegt habe, aber dieje Ausdrüde werden uns durchaus nicht, wie Broglie, geheimnißvoll erjcheinen.

Inzwijchen hatte Friedrich durch Voltaire eine Aeußerung Choiſeuls erfahren, wonach, wenn der Frieden im Juni noch nicht geichlofien jei, er nur nad) der Zerjtörung dreier Reiche oder der— jenigen Preußens zu Stande fommen fünne. Schon dieje Neußerung mußte den König jtußig machen; er erklärte der Herzogin von Gotha, er jei fein Oedipus, um jolche Räthſel zu löſen. Noch miß— trauifcher machte ihn Die, wieder durch Voltaire übermittelte Forderung Choiſeuls, er jolle Wejel und das Herzogthum Kleve an Frankreich abtreten. Er meinte, wie er Voltaire jchrieb, der Minifter Choiſeul müfje „von zehn Legionen öjterreichticher Teufel‘ beſeſſen jein, um eine jolche Forderung zu ftellen. Es jtimmte ihn aud) nicht zuverfichtlicher, al$ der am 27. März in jeinem Hauptquartier sreiberg in Sachſen angelangte Baron Edelsheim ihm eine Ant— wort Froullays überbrachte, wonach Frankreich, laut einer Erklärung Choiſeuls, aus Rückſicht auf Maria Thereſia den Frieden mit Preußen nicht direkt, jondern durch Vermittlung Englands betreiben wollte, Er entjandte Edelsheim zwar nach Yondon, jchrieb aber

334 Voltaire als Friedenspermittler.

gleichzeitig an Knyphauſen, er jehe ein, daß Frankreich ohne ihn mit England Frieden jchliegen wolle, um gegen Preußen deſto freiere Hand zu haben und es zu Gebietsabtretungen zu nöthigen, in die er jedoch niemals einwilligen werde.

Gerade in Ddiejer Zeit, als Sriedrich merkte, daß man ibn franzöfiicherjeit8 wohl doch nur dupiren wollte, erhielt er aus Kon— jtantinopel die erfreuliche Nachricht, daß die Türken bereit jeien, mit ihm ein Vertheidigungsbündnig abzufchliegen und an Oeſter— reich den Krieg zu erflären. Dieje Nachricht, der er allzu leicht Slauben jchenfte, und nicht der „unglücliche Anfang‘ des Feld: zuges von 1760, wie Broglie meint, bewog ihn am 1. Mai, jenes oben erwähnte Schreiben an Voltaire aufzujegen, in welchem er jeine Entjchlojjenheit zur Kortjegung des Krieges befundete, Unter dem „unglüdlichen Anfang” des Feldzuges fünnte man nur die Ver: nichtung des preußijchen Korps unter General Fouqué bei Yandes- hut in Schlefien verjtehen. Dieje fand aber erit am 23. Juni itatt, zum Theil veranlapt durch die Yeichtgläubigfeit des Königs, der Fouqué nicht unteritügte, weil er eben türfische Hülfstruppen erwartete. Im Mai dagegen rechnete der König bejtimmt auf friegertjche Erfolge; jo jchrieb er am 18. an Fouqué, er wolle in Böhmen und Mähren einfallen, den Türfen die Hand reichen und den Ktriegsjchauplat an die Donau verlegen. Wegen jeiner Sieges— zuverficht aljo, und nicht weil der unglüdliche Anfang des Feld— zuges ihm weitere „Scherze“ verbot, jchrieb der König am 1. Mai an Voltaire: „Wie aud Herr von Choijeul gejonnen jein mag, er wird mit der Zeit gar jehr auf meine Pläne hinhören müjien. Ich erfläre mich nicht näher darüber, aber in weniger als zwer Monaten wird man die ganze europätjche Bühne jich verwandeln jehen, und Sie jelbjt werden zugeben, da ich Necht hatte, Ihrem Herzog Kleve zu verweigern . . . Sch werde die Waffen erſt nad) drei Feldzügen niederlegen. Dieje Schurfen jollen jehen, daR jie meine Yangmuth mißbraucht haben : der König von England wird den Frieden nur in Paris, ich werde ihn nur in Wien unter: zeichnen.“

Das Vertrauen des Königs auf den Sultan aljo, oder „auf den Doftor der Medizin mit großer Müge, der den Kranken heilen wird, indem er denen, die den Stranfen nicht lieben, Arme und Beine abjchneidet‘‘, wie er der Herzogin von Gotha in einer nur Broglie, nicht uns „geheimnigvollen“ Weije jchrieb das Ver— trauen auf die baldige Hilfe der Pforte war es, welches ihm, nebit

Voltaire als Friedensvermittler. 335

der Ueberzeugung, daß die Franzoſen ihn nur dupiren wollten, ein weiteres Entgegenfommen unterjagte, als er es jchon gezeigt hatte. Am 12. Mai jchrieb er Voltaire, der ‚sriede jet mit den Schmetter: lingen fortgeflogen, man werde jich jchlagen bis „in saecula saeculorum.“ Und als Voltaire jpäter, um die Mitte des Juni, im Einverjtändniß mit Choijeul, noch einmal erklärte, Frankreichs Abjicht wäre feineswegs, daß der König Schlejien verliere, er möge ſich nur vor einer großen Niederlage hüten, da antwortete Friedrich: „ch habe Alles gethan, was im meinen Sträften jtand, um den ‚stieden ziwijchen Frankreich und England mit Einbeziehung Preußens in die Wege zu leiten, aber die Franzoſen haben mir auf der Naſe jpielen wollen, und jett laſſe ich fie ganz einfach jigen. Ich werde nicht ohne die Engländer, und die Engländer werden nicht ohne mich Frieden jchließen. Sch würde mich eher 37 EN laſſen, als Euch Franzoſen noch einmal das Wort Frieden zurufen.‘

Dieje wiederholte runde Abjage machte den Dichter wieder empfindlich, und er mwünjchte jet ſogar, nur aus gefränfter Eitel- feit, daß Friedrich gedemüthigt werde. „Sorgen Sie nur für gute Truppen und gute Generale”, jo wandte er fi Ende Juni 1760 an Choijeul, „und Ste werden nichts zu fürchten haben. Wenn Yuc verloren ift, werden Sie der Schiedsrichter des deutjchen Meiches, und alle Fürjten dejjelben liegen Ihnen zu Füßen.“ Die £leinen Erfolge der Franzoſen gegen die alliirte Armee bei Korbach) und Bergen jchienen ihm große Siege in ihrem Schooße zu ent: halten, und er bat Choijeul, den Frieden erit nach) einem triumph: reichen Feldzuge abzujchliegen.

So endete auch der dritte und lebte Verſuch Boltatres, Europa den Frieden zu geben, mit einem fläglichen Miperfolge. Der Friede war, da der König von Preußen in feine Gebiets: abtretungen einwilligen wollte und da die franzöfiiche Regierung ent: jchlofjen war, ihren Berpflichtungen gegen Dejterreich getreulich nachzufommen, nicht eher möglich, als bis Maria Therejia auf Schlejien, den jchönjten Edeljtein in ihrer Krone, endgiltig verzichtet hatte. Diejer Verzicht aber wurde ıhr befanntlich erjt durch den Umjchwung der Dinge in Rußland aufgezwungen.

Faſſen wir zum Schluß noch einmal die beiden Hauptperjonen der Voltairejchen FFriedensvermittlung, den König und den Dichter, ins Auge. Der König hat die Hand, welche ihm Voltaire dreimal entgegenitredte, bald jchneller, bald langjamer, jedesmal aber be—

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reitwillig und mit der Ausjicht auf Erfolg ergriffen. Es tft eine falſche Auffaſſung feiner Bolitif, wenn man mit Broglie annimmt, er habe dabei zuweilen mit Voltaire ein findisches Spiel getrieben, denn es war ihm, wie wir aus jeiner Korreſpondenz jahen, jtets voller Ernit. Auch uns muß es freilich auf den erjten Blick jelt- jam erjcheinen, daß ein jo klarer Kopf die Unmöglichkeit eines Er- folges nicht von vornherein erfannte, und die Ihatjache, daß er Voltaire einmal als Friedensengel bejungen und in diejer Eigen ſchaft noch) über Birgil geftellt hat, muthet uns bei einem jo be: rechnenden Berjtande gleichfalls jeltfam an. Aber der König war eben nicht bloß eine flar berechnende, jondern auch eine von augenbliclichen Stimmungen jehr abhängige, phantajtiiche Natur, ja diejfe Stimmungen beherrichten zuweilen jeinen Verjtand. Diese Eigenthümlichfeit jeiner Individualität, die ihn jo oft und Jchnell ohne genügenden Grund von einem Extrem ins andere übergehen ließ, ließ ihn auch die Voltaireſche Vermittlung, die ihm doch nicht viel mehr als dem Ertrinfenden ein Strohhalm nützen fonnte, zu: erit hoffnungsfreudig ergreifen und dann, auf jenes unfichere Wer: jprechen der Türfen bin, ebenjo jchnell wieder fahren. Mit Diejer Eigenthiümlichkeit hängt auch jeine „Manie” zum Dichten zufammen, wie er fie genannt hat; es war ihm ein Herzensbedürfnig, jeinen wechjeinden Stimmungen und Grlebnifjen in Verſen Ausdrud zu geben, mochte der Gegenjtand auch dem jo aktuellen und unpovetijchen Gebiete der Politik entlehnt jein.

Die Gründe, welche Voltaire bewogen, das Delblatt des Friedens bin und ber zu tragen, hängen ebenfall® auf Engjte mit jeinem Charafter zujammen. Die Baterlandsliebe hat jedenfalls auf jeine Friedensideen den geringiten Einfluß gehabt, denn er jpottete nicht minder über jeine Yandsleute, wie er jich den Spott des preußischen Königs über fie gefallen ließ. Im erjter Linie jtachelte ihn der Ehrgeiz, nicht bloß als Dichter, jondern auch als Bolitifer eine Nolle zu jpielen und fich in der Gunjt eines Hofes, jei es Verjailles oder Sansjouci, zu jonnen. Sodann jchmeichelte es jeiner Eitelfeit, gerade dem Manne zu helfen, der ihn jchwer gefränft hatte und jo vor aller Welt im Lichte der höchſten Groß— muth zu erjcheinen. Endlich war es, wie Broglie mit Recht bervorhebt, eine „magnetische Anziehungskraft“, die ihm immer wieder zu Friedrich hinzog und ihn bewog, ihm zu helfen. „Es gab einmal“, jo heißt es in einem Briefe Voltaires an den König, „einen Yöwen und eine Watte. Die Ratte verliebte ſich

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Voltaire als Friedensvermitiler. 337

in den Löwen und machte ihm den Hof. Der Löwe gab ihr einen fleinen Schlag mit der Tate; die Natte ging in ihr Loch, liebte aber den Löwen weiter. Und als fie eines Tages jah, wie man ein Neß ausfpannte, um den Löwen zu fangen und zu tödten, zernagte fie eine Majche defjelben.“

* * *

Die obige Unterſuchung hat gezeigt, wie ſehr der Herzog von Broglie den Grund-Charakter der politiſchen Verhandlung, mit der ſich ſein Buch bejchäftigt, verfannt hat. Aber wir würden dem illuftren Autor Unrecht thun, wenn wir nicht in den Lefern auch eine Vorjtellung von dem Glanz feiner Darjtellung und der eindringenden, pjychologijchen Feinheit feiner Charafteriftif zu er— weden juchten. Wir haben nicht viel in Deutjchland, was fich in dieſer Art mit den Franzofen meſſen fann. Laſſen wir einen Franzoſen jelber jprechen: A. Meziere8 hat im „Temps“ Die Charafterijtit Broglies folgendermaßen wiedergegeben:

Dans les dispositions d’esprit ou Voltaire a quitte la Prusse, il ne faut pas s’etonner qu’en 1756 il fut du petit nombre de ceux qui applaudirent au rapprochement de la France et de l’Autriche. Il prenait sur le passe une sorte de revanche lorsque Frederic II recom- mencait à lui faire des avances pour s’epargner des &pigrammes, pour ne pas ajouter a tant d'inimities coalisees l’hostilit€ des philosophes qu’un mot de Voltaire pouvait dechainer contre lui.

Il n’eut cependant pas la cruaut€ de souhaiter que Frederic füt reduit aux dernieres extremites. Il eut möme ä ce sujet un bon mou- vement; en apprenant que le roi de Prusse ne voulait pas survivre & la perte de ses Etats, il lui &crivit pour le dissuader du suicide. Paroles sensees, humaines, mais trop generales, peu appropriees aux circonstances, peu appropriees au caractere de l’homme. Il y a dans l’äme de Frederic des parties stoiques et-heroiques dont l'intelligence de Voltaire, si ouverte qu’elle soit, ne comprend pas la grandeur. Les sentiments de cette nature lui sont à lui-même si etrangers qu’il n’y entre pas facilement. Le bel esprit, le philosophe couronne avec lequel il echange des pieces de vers et des propos philosophiques est avant tout un soldat et un roi, decide a remplir jusqu’au bout les devoirs de sa fonction.

On peut le vaincre, on peut le deposer, On ne l’humiliera pas, il ne tombera pas vivant aux mains de ses ennemis. Sur ce point, sa correspondance est catögorique. Chaque fois qu’il touche à ce sujet, on y sent la resolution arrätee d’un homme qui a beaucoup reflöchi aux vicissitudes humaines et dont le parti est pris avec une fermete

Preußifhe Jahrbücher. Bb. XCVIII. Heft 2. 22

338 Voltaire als Friedensvermittler.

inebranlable. Dans la mauvaise fortune, Frederic pense et sent en Ro- main. Si. comme le dit Voltaire, il etait un composé de César et de l’abbe Cottin, il y avait aussi en lui quelque chose de Brutus.

Ce que M. le duc de Broglie met surtout en lumiere avec beau- coup de sagacite, c'est le gout persistant qui, apres tant de griefs et de motifs d’irritation, finit toujours par rapprocher les deux amis. Quelques raisons qu’ils aient de se mepriser l’un l’autre, Frederic et Voltaire meprisent encore plus le reste du genre humain. Eux seuls se sentent de plain pied dans les regions superieures de l'esprit, au-dessus des prejures et des erreurs ol se complait la sottise humaine. Des qu'une occasion se presentait pour eux de reprendre leur conver- sation brutalemwent interrompue, ils la reprenaient à distance à travers les obstacles, en t&eınoignant une jvie sincere de rentrer en communication l’un avec l’autre. Ils ressemblent a deux amoureux qui ne parviennent pas à se brouiller compl&tement et qui ont, par instant, des retours de tendresse. L’opinion qu’ils ont l’un de l’autre ne change pas, mais de même qu’on prut encore aimer une femme qu’on meprise, chez tous deux l’attrait naturel survit a l’estime disparue.

Dans l'intimite, au milieu de leur entourage, ils ne se menagent guere. Voltaire ne prut s’empecher de dire que le roi. au fond, n'est qu’un vaurien. Frederic ne prononce jamais le nom de Voltaire en presence de son &tat-major sans accoler à ce nom une serie d’epithetes injurieuses qu'ı) srrait difficile de eiter toutes, dont les plus douces sont crlles de dröle et de fripon. Voltaire essaye-t-il d’obtenir que Mine Denis rentre en gräce aupres du roi, le roi fait r&pondre imme- diatement: „Que je n’entende plus parler de cette niece qui m’ennuie. On parle de la servante de Molıere, mais personne ne parlera de la niece de Voltaire“.

Vienne au contraire une occasion de correspondre directement, tous deux la saisiront avec einpressem=nr et se diront au besoin les choses les plus aimables. „Vous manquez a mon bonheur, éerit Voltaire au roi, j'aime vos vers, votre pro=e, votre philosophie hardie et ferme. Je n’ai pu vivre ni sans vous ni avec vous; je ne parle pas au roi, au heros, e’est laffnire des souverains; j- parle a celui qui m'a enchante, que jai aime et cont“- qui je suis toujours fäche.* Frederic repond sur le möne ton: „Vons etes la creature la plus seduisante que je eonnaisse, capable de vous faire aimer de tout le monde quand vous voulvz. Vous avez tant de gräc- dans l’esprir. que vous pouvez offenser et meriter en meine fenps I’.ndulgence de ceux qui vous connaissent. Enfin, vous series parfait si vous n’e'iez pas homme.“

l.a verite nons oblige à dire que dans cet &change de paroles gracieuses Frelerie n'éorit pas une ligne qui puisse faire tort & sa mémoire, dunt puiss-nt rougir pour lui ses descendants, Dans

Voltaire als Friedensvermittler. 339

ses €panchements les plus intimes avec un Francais, il reste jusqu’au bout roi de Prusse. Il caresse l’'homme et ne flatte pas le pays. Jamais sa verve ne s’exerce en notre faveur aux depens de ses soldats. Il ne dit rien dont il nous soit possible de tirer parti contre la grandeur et la gloire de son regne. Malheureusement, Voltaire n'observe pas la möme reserve. Apres la bataille de Rosbach, il regoit une Epitre singulierement injurieuse pour les troupes frangaises, et ila le triste courage de s’associer, par des vers celebres, à l’ironie du vainqueur. En rapprochant ainsi les deux illustres representants de deux grandes nations, il faut bien convenir que les Prussiens n’ont point & se plaindre du leur, et que le nötre, malgre tout son esprit, ne nous donne pas une entiere satisfaction. M. le duc de Broglie &crit avec trop de nuances pour le dire expressement, mais il le laisse entendre presque a chaque page de son tres attächant et tres spirituell reeit.

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Notizen und Beiprechungen.

Pädagogit.

Neue Schriften zur Schulreform.

Wenzel, Der Todesfampf des altipradlihen Gymnafial-Unterrichts. Berlin, (Karl Dunder). 1899. 47© Mi. 1,—.

Aler. Wernide, Die mathematiſch-naturwiſſenſchaftliche Forſchung in ihrer Stellung zum modernen Humanismus. Berlin (Otto Salle) 1898. 18 ©. in 4. Mt. 1,—.

Julius Asbach, Darf das Gymnafium feine Prima verlieren? Düſſel— dorf (2. Schwann) 1899. 18 ©.

Die beiden erjten der hier vorliegenden Schriften fünnen injofern zu: fammengejtellt werden, als beide die gleiche Thatjadhe zum Ausgangspunkt nehmen: daß der philologiihe Schulunterridt, wie ihn früher das Gym: nafium bot, zur Zeit nicht nur aus feiner Machtſtellung verdrängt ift, fondern fi in der Lage des Unterdrüdten befindet.

1. In der rüdhaltlojen Anerkennung diefer Thatjahe liegt dad Haupt: verdienit, wenn ouch nicht das einzige, der Ausführungen von Wenzel. Es giebt immer noc Freunde des Gymnaſiums, welche ihm dadurch einen Dienjt zu ermweifen meinen, daß ſie verjichern, ed vermöge mit dem latei- niſchen und griechifchen Unterricht, wie er jeßt betrieben wird, etwas Tüchtiged zu leilten. Die Preußiichen Jahrbücher haben ſchon im ver- gangenen Jahrzehnt, als noch der Lehrplan von 1882 galt, dieje Auffaſſung bejtritten. In einer Reihe von Aufjägen, zuerjt*) im Januarheft 1889, wurde der Nachweis geführt, daß die alte Zateinjchule, in dem Bejtreben ihre äußere Alleinherrichaft zu behaupten und um dieſes Preijes willen aud allen modernen und realijtiichen Anforderungen gerecht zu werden,

*) „Die Gefahr der Einheitsſchule.“ Diefe Abhandlung ift mit anderen von verwandtem Inhalt zufammengefakt in meiner Schrift: Suum cuique, Fünf Auffäge zur Reform dee höheren Schulweſens. Kiel und Leipzig, 1889.

Rotizen und Beſprechungen. 341

gar zu viel verjchiedenartige Stoffe neu in ihren Lehrplan aufgenommen und dafür die alten, in denen ihre Kraft beruhte, gar zu jehr eingeichräntt babe. Die Verkürzung ſei jchon jo weit gediehen, daß die Beſchäftigung mit Latein und Griechijch zwar immer noch mande Mühe made, aber feinen fühlbaren Gewinn mehr bringe. Ganz ebenſo urtheilt Wenzel über den gegenwärtigen Zuftand, der freilich jeit der neuen „Reform“ von 1892 die jchlimmen Erjcheinungen, die fich ſchon damals beobachten ließen, in erhöhtem Grade zeigt. Auch in den Folgerungen, die er aus der gewonnenen jchmerzlichen Erfenntniß zieht, bewegt ſich der Berfafler in derjelben Richtung wie wir: er verlangt, daß dad Gymnafium jeden Vorzug an Äußeren Berechtigungen vor den beiden Schweiter-Anftalten aufgebe und dafür die Freiheit eintaufche, ich im Inneren mit feinem eigenen Lehrplan jo einzurichten, daß damit wieder etwas Rechtſchaffenes erreicht werden könne.

Es giebt eine Erzählung von einem vorfichtigen Manne, der gehört batte, daß man unter Federbetten jehr warm liege. Che er fich entichloß ein ſolches anzuſchaffen, wünſchte er die Eigenichaften dieſer Betten in fleinerem Maßjtabe kennen zu lernen: er ließ jich eine von ganz geringem Umfange anfertigen, legte ji) darunter und fror. Nun war fein Urtheil gebildet: wenn es jich jchon unter einem Kleinen Federbett jo unbehaglich liegt, wie viel jtärfer mwirde das Mifbehagen unter einem größeren fein! Natürlich hütete er fih nun, Geld für ein ſolches aus— zugeben, und freute fich, daß er jo jchlau gewejen war erjt im Kleinen die Probe zu machen.

Diefe Geſchichte drüdt jo ziemlich diejenige Beurtheilung des alt= ſprachlichen Gymnafial: Unterrichtes aus, die wir ſeit Jahren zu widerlegen fuchen. Es ift ſehr erfreulich, hierfür einen Bundesgenofjen zu finden; und defjen Eintritt in den Kampf erwedt um fo mehr friche Hoffnung, al3 er ganz jelbjtändig erfolgt iſt. Wenzel hat von dem, mas Die Preußischen Jahrbücher über jein Thema gebracht hatten, feine Kenntniß gehabt.*)

2. Bom Standpunkte der fiegreichen Bartei aus ſpricht Alexander MWernide, aber in mildem und verjöhnlihem Sinne Wie in jeinem größeren Werke: „Kultur und Schule“, über das an diejer Stelle vor zwei Sahren berichtet wurde (Bd. 89 ©. 371 ff.), fo überjchüttet er auch diedmal den Leſer mit einer Fülle kultur und literargeſchichtlicher Einzel— heiten, deren innere Verbindung und geiftige Verarbeitung nicht volljtändig gelungen ift. Nicht einmal das Thema ijt klar formulirt; ungefähr dürfte es durch einen Gedanken ausgedrüdt werden, der öfter wiederfehrt und auf ©. 12 jo lautet: „Sollte der Gegenſatz von Geijteswifjenjchaften und Naturwiſſenſchaften wirklich jo groß fein wie man gelegentlih behauptet?*

*) Auf den Inhalt der Wenzelihen Schrift geht etwas genauer ein meine Anzeige in der Wochenſchr. für klaſſ. Philologie, 1899 S. 1089.

842 Rotizen und Beſprechungen.

Wenn die Frage ſo geſtellt wird, ſo antworten auch wir getroſt mit „Nein“; denn „gelegentlich“ behauptet „man“ gewiß recht Verkehrtes und Uebertriebened. Der Berfafjer aber jcheint num wieder nad) der entgegen- gejegten Seite vom Richtigen abzuweichen, indem er den Unterjdied zwijchen beiden Wifjensgebieten als geringfügig darzufiellen judt. .Ihre Methode“, jagt er, „it im Weſentlichen diefelbe; fie it die induftiv- deduftive Methode der modernen Wiſſenſchaft, welche jchließlich überall dem Prinzipe der gejegmäßigen Entwidelung folgt.“ Gewiß ift e8 möglich, wifjenfchaftliche8 Denken in jo allgemeinen Worten zu bejchreiben, daß damit beide Arten von Forſchung, die hijtorifche und die naturwiſſenſchaft— fiche, gleichmäßig getroffen werden. Darum bleibt ed doch wahr, daß auf beiden Seiten nicht nur die Stoffe grundverjchieden find, jondern auch den Stoffen entſprechend die Aufgaben, die gelöjt werden jollen, und die Wege, die zum Biel führen. Wie jtörend diefer Gegenjag wirkt, wenn er verfannt wird, wie fruchtbar er wird, wenn man tiefer nachgräbt, davon haben wir gerade Eiirzlic) in dem Streit um die Methode der Geſchichtswiſſenſchaft Proben erlebt. Auch an zujammenfafjenden prinzipiellen Crörterungen des inneren Verhältnifjeg zwijchen den beiden großen Wifjensreichen Hat e3 jet wie früher nicht gefehlt. *)

Nur injofern könnte Wernide Recht haben den Gegenjag zwijchen Natur: und Geiſteswiſſenſchaften zu leugnen, als das Verhältniß zwiſchen beiden fein feindliches zu fein braucht. Er ſelbſt mahnt ja zur Eintracht, zu gegenjeitigem Verjtehen; nur der Name „Geiſteswiſſenſchaften“ jcheint ihn wie andere gefränkt zu haben. Wirklich ift die Bezeichnung, wenn aud) nicht ohne Sinn, doc, ungejchicdt gewählt, und geeignet einen oberflächlichen Betrachter irre zu führen. „Hiſtoriſche Wifjenfchaften“ klingt' befcheidener und ift treffender. Aber wenn hier etwa wie Ueberhebung aus dem Namen herausgelejen werden fann, jo wird ſolche von manchen Vertretern der anderen Seite und unter ihnen auch von Wernide (S. 14) wirklich geübt, indem jie meinen, „Wiſſenſchaft“ ſei überhaupt nur diejenige Forſchung, die nach den Gejegen der „exakten Wiſſenſchaft“ verfahre.

Bon dem bunten Inhalt der vurliegenden Schrift in der Kürze eine Vorftellung zu geben, ift nicht möglid. Suchen wir den Gejammteindrud alle3 dejjen, was der Verfaſſer beigebracht Hat, feitzuhalten, jo iſt es diejer: auch in den Zeiten, die von den Ankängern philologiſcher Bildung als die glänzenditen angejehen werden im griechiſchen Alterthum, im Zeitalter der Renaiſſanee und des Humanismus Hat doch zugleich die

*) In erfter Linie ift bier immer wieder an die Heidelberger Reltoratsrede von Helmbolg zu erinnern: „Ueber das Berbältnik der Raturmiffen- Ihaften zur Gefammtheit der Wiſſenſchaft“ (1862). Aus neuefter Zeit ver dient die bei gleicher Gelegenheit gehaltene Rede von Windelband über „Geſchichte und Naturwiſſenſchaft“ (1894) Beadhtung. Insbejondere von Seiten der Methode ift der Unterfchied erörtert in meinem Vortrag über „die Methode des Birkelfhluffes“, Preuß. Jahrbüder 92 (1898) ©. 48 ff.

Rotigen und Beſprechungen. 848

Erforihung der Natur einen wichtigen Pla eingenommen und mächtige Fortſchritte gemacht. Dies ijt richtig. und wird auch dem, der es nicht ohnebin wüßte, durch die von Wernide gejammelten Belege anjchaulid. Aber was folgt daraus? Die Erwartung, jcheint mir, daß nun umge— fehrt in einer Periode, die von den Anhängern der naturmwiljenjichaftlichen Bildung ald eine beſonders glänzende angejehen wird eben in unjerer Bet aud der philologiſchen Wiſſenſchaft ein wichtiger Pla einge- räumt und die Sraft, Großes für die Menjchheit zu leilten, zugetraut werden muß. Etwas der Urt hat wohl auch Wernide jagen wollen; denn er giebt auf den legten Seiten feiner Schrift jelbit Material, durch welches der mathematifhe und naturwifjenjchaftliche Unterricht nady der geſchicht— fihen und philologiihen Seite hin ergänzt werden fol. Dieſe kurzen Mitteilungen find wirflid) werthvoll und anregend. Gie berühren ſich nahe mit den Vorſchlägen, die kürzlich Profefjor Mar E. P. Schmidt*) gemacht Hat, nur daß beide Schulmänner von entgegengejeßten Eeiten her— fommen. Schmidt ijt Philologe und wünſcht den Unterricht feines Faches dadurch zu bereichern und im feinem Niedergang aufzuhalten, daß beim Lateinifhen und Griehijhen mehr als bisher auch auf das geachtet wird, was die beiden alten Bölfer in Geographie, Natur- forſchung. Mathematik geleijtet haben. Wernide jet die Worherrichaft der realiitiichen Fächer ald gegeben voraus und empfiehlt jeinen Fachgenofjen, innerhalb diefer Fächer den Anforderungen des hiftorischen Dentend dadurd gerecht zu werden, daß ſie nad) Möglichkeit auf Die Geichichte der exakten Forſchung, bejonderd® auf ihre Anfänge im Altertum, hinweiſen, wozu oft jchon eine etwas aufmerkjamere Betrachtung der Terminologie den Anlaß giebt. Schade, daß der Verfaſſer ſich auf fnappe Andeutungen bejchräntt hat. Er jchöpft hier aus dem Vollen, aus eigenfter Erfahrung, und würde durch etwas reichere Ausführung an diejer Stelle fi) mehr Dank verdient. haben als durch die zufammengeraffte Motizenmenge der vorhergehenden Abichnitte.

Bei aller Freundlichkeit, die Wernide fo zuleßt der philologiichen Seite des Uinterricht3 ermweijt, bleibt er doc fern davon, fie in ihrer wirklichen Berehtigung anzuerkennen; es ijt eben nur freundliche Duldung, was er gewähren will. Und dies hat im lebten Ende darin feinen Grund, daß er fi, hierin der Mehrzahl der Philologen ganz ähnlich, nicht entichließen fann, verjchiedene Arten von höherer Geijtesbildung neben einander gelten zu lafjen. Das Phantom einer „allgemeinen Bildung“ beherrſcht auch ihn. So lange man fi) aber don diefem nicht frei mat, wird es nie gelingen, in dem Lehrplan einer höheren Schule die Wiſſenszweige jo anzuordnen, daß feiner zurüdgedrängt wird und verkümmert. Wir leben in einer Zeit der Goethe-Erinnerungen; und da ift es wohl angezeigt, einen Saß wieder

*) Schmidt, Zur Reform der klaſſiſchen Studien auf Gymnaſien, Leipzig (Dürr) 1899. 40 S. Mt. 0,75.

844 Rotizen und Beiprehungen.

aufzufriichen, in dem der Alte von Weimar jeine reiffte Ueberzeugung aus— geiprochen hat: „Eine allgemeine Ausbildung dringt uns jeßt die Welt ohnebin auf, wir brauchen und deshalb darum nicht weiter zu bemühen; dad Bejondere miüfjen wir und zueignen.“

3. Die Thatjache, von der Wenzel und Wernide ausgehen, wird von dem Berfafjer der zulegt genannten Schrift ausdrücklich beſtritten. Asbach. Direktor des Kgl. Gymnafiums in Düfjeldorf, verſichert: „Wir fönnen an zahlreiden, zum Theil glänzenden Beifpielen den Beweis liefern, daß die Primaner von heute, wenn die Schule ihre Pflicht gethan, mindejtens ebenjo gut vorgebildet wie früher zur Univerfität übergehen. Die Lektüre der lateinischen und griechiſchen Autoren bereitet ihnen feine größeren Schwierigkeiten als der früheren Generation.“ Da kann id nur wieder, fo wie kürzlich Oskar Jäger gegenüber, befennen, daß meine Erfahrungen durchaus entgegengejegter Art find. Doc möchte ich glauben, daß mein verehrter Herr Kollege im Grunde ganz ähnlich gefonnen ift; denn auch er jtellt unter den praftiichen Borjchlägen, die er nachher madıt, -an den eriten Pla (S. 13) die Forderung, daß das Lateinifche im Unterricht ver- jtärft werde, und begründet dies durch einen Hinweis auf die mangelhafte Kenntniß diefer Sprache, die fi bei den Studenten gewifjer Fächer neuer- dings gezeigt habe.

Die eigentliche Abjicht der Asbachſchen Schrift lag übrigens nicht in der Erörterung diejes Punktes, jondern war allgemeinerer Art. Er wollte gegen einen Plan protejtiren, den furz vorher Wilhelm Münch früher Provinzial-Schulrath in Koblenz, jegt Honorar-Profefjor an der Berliner Univerſität in zwei viel bemerkten und viel bejprochenen Aufjägen *) angedeutet hatte. Münch hatte vorgeſchlagen, ſchon von Oberſekunda auf: wärts, entjprechend dem künftigen Berufe und den beginnenden wijjenjchaft- lihen Neigungen der Schüler, eine Differenzirung des Lehrplanes eintreten zu lafjen, jo daß ein Theil derjenigen Unterrichtsjtunden, an Denen jeßt Alle theilnehmen müſſen, durch fakultative erjegt würde, für die zwiſchen alten Sprachen, neueren Sprachen und exakten Wiſſenſchaften die Wahl frei ftünde. In einem Bedenken hiergegen, dad von Münch im Voraus er: wähnt und dann aud von Asbach beſonders betont wird, jehe ich gerade einen Borzug ded Planes: er durchbricht das bisherige „Prinzip der all: gemeinen und gleihmäßigen Ausbildung“. So nähert er und der Mög— lichkeit, daß jeder Schüler gerade die Bildung erhalte, die ihm und jeinen Anlagen gemäß if. Dabei würden in Zukunft nur für einen Theil der Primaner, etwa für ein Drittel, Griechiſch und Latein die Hauptmajje des Lehritoffes ausmachen; die Wenigen aber, die freiwillig fommen, würden fi) bei neu vermehrter Stundenzahl mit den alten Sprachen und ihrer Literatur viel eingehender beſchäftigen und viel werthvolleren Ertrag

) Wilhelm Münch, Einige Gedanken über die Zukunft unſeres höheren Schulweſens. National⸗Zeitung, Novbr. 1898.

Rotizen und Beſprechungen. 845

davon haben können, als jet die Vielen, die und von miderftrebenden Eltern aud Sorge um die Berechtigungen zugeführt werden. Weit entfernt aljo, feine „Prima zu verlieren“, würde dad Gymnafium durch eine folche Einrichtung erjt wieder hergeftellt und zu neuem Leben gefräftigt werden. Denn jeine Stärke beruht doch im Ganzen jo gut wie im Einzelnen niht in der Menge der Scüler, die ihm zufjtrömen, fondern in ber Gründlichfeit und inneren Einheit der Geijtesbildung, die es geben kann. Daß dieje Bildung ihrer ganzen Art nad) nicht für die Vielen ijt, hat man zum Unglüd vergefjen; Münch erinnert wieder einmal daran.

Der Münchſche Gedanke unterjcheidet jich der Sache nad) faum von dem, was die Preußifchen Jahrbücher jchon jeit lange fordern und was zu meiner Freude ſchließlich (S. 17) auch Asbach billigt: daß den drei vorhandenen Formen der höheren Schule die gleichen äußeren Rechte und jo in freiem Wettfampf Gelegenheit gegeben werde, zu zeigen, was jede vermag. Ob das Biel bejjer auf dem von und empfohlenen Wege oder auf dem etwa3 verjchlungenen, den Münch juchen will, erreicht werden fann, ift nur noch eine äußere Frage, über die eine Verjtändigung wohl zu erzielen fein würde. Leider giebt Mind in einer jüngſt veröffent- lihten*) Rezenfion, die jih mit Asbachs Kritik auseinanderjeßt, zu ver- ftehen, daß die Ausfichten auf Verwirklihung feine Planes inzwiſchen geringer geworden feien. Er klagt nicht ohne Grund über die Hemmungen, unter denen organifatoriihe Vorſchläge in Deutichland und zumal in Preußen zu leiden haben; diesmal liegt doch ein Theil der Verantwortung für den mangelnden Erfolg bei ihm jelbjit. Die Art, wie er feine Ge— danken vortrug, war nicht recht geeignet Freunde mitzuziehen, geſchweige denn Gegner zu überzeugen. Mit ehrenwerther Aufrichtigfeit gedachte er der technifchen Schwierigkeiten, die einer Organifation, wie jie ihm vor» ſchwebt, entgegenftünden; aber er jagte nicht3 über die Frage, wie denn diefe Schwierigkeiten zu löſen feien. Die ganze Auögeftaltung feiner Idee ſchien er Anderen überlafjen zu wollen; und da hat fich denn freilich Keiner gefunden. Vielleicht entjchließt er jelbit ſich nachträglich, der praktiſchen Seite jeiner Entwürfe näher zu treten und und in den Hauptzügen nur zu entwideln, wie er fich die Durchführung denkt. Sicher würde dadurch die Literatur der Schulreform um einen gedanfenreichen, hoffent= lich auch um einen folgenreichen Beitrag vermehrt werden.

Düffeldorf, 8. Oktober 1899. Paul Eauer.

*) Deutſche Literaturzeitung 1899 ©. 1503 f.

846 Notizen und Beiprehungen.

Hochſchulfragen.

A. Riedler, Unſere Hochſchulen und die Anforderungen des zwanzigſten Jahrhunderts. Berlin (A. Seydel) 1898. 120 ©. Groß-Oktav. ME. 1,00.

Derfelbe, Die techniſchen Hochſchulen und ihre wifjenjchaftlichen Be ftrebungen. Rede, zum Antritt des Reltorates der Kgl. Techniſchen Hochſchule zu Berlin gehalten am 1. Juli 1839. 17 ©.

Bor acht Jahren erichien eine inhaltreiche und verdienjtliche Schnit eined inzwijchen verjtorbenen Beamten der Bauverwaltung, Egon Zölle: „Die Univerfitäten und techniſchen Hochſchulen“, auf die wir an dieler Stelle (Bd. 67 ©. 718 j) aufmerkfjam gemacht haben. Riedler behandelt ein ähnliches Thema, ohne übrigen® von feinem Vorgänger Notiz zu nehmen. Sein Bud ijt im Kreiſe der Fachgenojjen viel gelefen und beijprochen worden; e3 verdient aber auch darüber hinaus befannt zu werden. Fragen von allgemeiner Bedeutung werden darin zwar ın er müdender Breite, aber mit offenbarer Sachkenntniß erörtert, und mit nt fchlofjenem Urtheil, das denn freilich mitunter zu Konjequenzen führt, de den Widerſpruch herausfordern. Eben jetzt hat der Berfajjer durch feine frifh und flott gehaltene Rektoratsrede erneuten Anlaß gegeben, ſich mit jeinen Gedanken zu bejchäftigen.

Die Grundlage, auf der das Ganze derjelben beruht, ijt eine lebhafte Ueberzeugung von dem hohen Werthe, der der Berufdarbeit des Techniters zufommt. Daß ein Baumeijter, um aud nur Ausreichendes zu leilten, während jeiner Studienzeit viel mehr arbeiten muß als ein Philologe oder gar ein Juriſt, kann wohl nicht bejtritten werden. Und was die Dieniie betrifft, die der Techniker für die menſchliche Gejellichaft feiftet, jo braudt man nur einmal fich der veränderten äußeren Bedingungen bewußt ju werden, unter denen heute im Vergleich etiwa zu der Zeit vor hundert Jahren unjer Leben jich abjpielt, um den freudigen Stolz gerechtfertigt zu finden, der den Berfafjer im Gedanken an feinen Beruf erfüllt. Wenn er in einzelnen Aeußerungen diejer Gefinnung (S. 5 f.) über das Bid hinausſchießt, jo iſt das erflärlich; denn er jteht im Kampfe gegenüber der zu geringen Achtung, die Staat und Geſellſchaft der Arbeit des ngenieurs zollen. Sollten die Züge von leichgiltigkeit der eignen Werwaltung gegen hervorragende Verdienfte, die Riedler (S. 65 f.) anführt, nicht ver- einzelt dajtehen, jondern Proben einer herrichenden Anſchauungsweiſe je, jo verjteht man feinen Unmuth und man lernt unjere Unterricht‘ verwaltung ſchätzen. Weniger begründet jcheint mir die Klage, dab aud die Gejellichaft für bedeutende Leiftungen der Technik nicht genug Verjtändnik und Interefje habe. E3 mag ja in verjchiedenen Gegenden Deutichlands ver» ichieden damit jtehen; dann iſt aber, was der Verfaſſer jagt, mindejtens ın dieſer Allgemeinheit unrichtig: „Ueber den Zujammenhang der ngenieur: werfe mit der Nulturentwidlung weiß der Gebildete überhaupt nicht?“ (S. 45).

Rotizen und Beſprechungen. 847

Eine andere Beſchwerde, die er gegen die Gelellichaft erhebt, wird man anerkennen müfjen: fie giebt noch immer der Unriverjität und Allem, was zu ihr gehört, einen Vorzug, der in den thatſächlichen Verhältniſſen niht mehr begründet iſt. Riedler betont dad Recht und den Adel der ſchaffenden Wifjenjchaft neben der forjchenden. Wenn er fie fogar über jene jtellen möchte, jo ift das eben eine Uebertreibung, wie fie der Eifer des Streite® mit fi bringt, und ijt ein Beiſpiel des jo oft begangenen Schlerd, daß man meint, Dinge ald größer und kleiner, bejjer und jchlechter vergleihen zu müſſen, die viel mehr der Art nach ald dem Grade nad, von einander verjchieden find. Für die Eigenart des Uni— verfitätsunterrichteö zeigt der Verfaffer nur mäßiges Verjtändniß, indem er gelegentlich (S. 92) verlangt, es müfje „eine jcharfe Grenzlinie gezogen werden, um der bisherigen VBermengung von Forihung und Lehre vor- zubeugen“; wogegen er das Wejen der technijchen Berufsbildung vortrefflic) Ichildert, ald ein Charakteriftiiches dabei das „Bewußtjein der Berantwort- lichkeit“ hervorhebend, das fie im Menjchen erziehe (S. 67).

Wenn Niedler für das äußere Anſehen ſeines Standes kämpft, jo tft died nur Mittel zu feinem eigentlichen Zweck; es ijt die nothwendige Vor: ausfegung für das, was er erreichen will: Vermehrung und befjere Orga- nijotion der technifchen Hochſchulen. Dieſer Zufammenhang ift einleuchtend. Die bejtimmten Vorjchläge aber, die nun in erjter Linie gemacht werden, find zwar nicht an fid) überrafchend; denn Nehnliche® hat man öfter gehört aber als Folgerungen aus den vorher dargelegten Thatjachen und Buftänden etwas befremdlih. ES ijt, ald ob der Verfaſſer mit plöglichem Ruck jeine Haltung änderte, vor eben den Mächten, die er ſiegreich befämpft hat, fich verneigte und bejcheiden bäte, nun doc ihn und die Seinen freundlich aufzunehmen. Angenommen, die „allgemeine Bildung“ dächte wirklich jo geringihäßig von den Werfen der Technik und ihren Schöpfern, wie Niedler meint, jo wäre das eben nur ein Beweis mehr, daß die joge- nannte allgemeine Bildung nicht? taugt, daß wir ihr je eher je lieber den Laufpaß geben und und bemühen jollen, eine Anzahl bejonderer Bildungen an ihre Stelle zu jeßen, unter denen denn auch der Gedankenkreis des Techniferd und die Art, wie er die Welt anjehen muß, zu ihrem echte fommen würden. Statt dejjen hält NRiedler die allgemeine Bildung wie etwas an ſich Gutes fejt, hofft nur, fie jo zu erweitern, und das heißt zu— gleich zu verdünnen, daß auch von den Berühmtheiten der Technik wenigitend ein wenig in ihr Plaß finde (S. 20. 45). Bon den Univerfitäten urtheilt er nicht mit Unrecht, daß fie aus ihrer langen Geſchichte manches Ueber- febte an Formen und Einrichtungen mitjchleppen, wodurch es ihnen er— ſchwert wird, den fich ändernden VBedürfnifjen einer neuen Zeit recht zu genügen. Und doch weiß er für die techniichen Hocichulen, die eben aus dem Leben diejer neuen Zeit erwachjen find, nichts Schöneres zu wünſchen, als daß jie ald neue Glieder in den alten Organismus eingefügt werden

8348 Notizen und Beiprechungen.

(S. 75 - 81). Er plant eine Geſammthochſchule mit etwa 12 Fakultäten, von denen die Hälfte auf technijche Fächer fommen würde. In diefem Zu— fammenhange wird dann natürlich aud dad Recht der Doltor-PBromotion für die neuen Fakultäten gefordert. Das Fehlen einer ‘langen Tradition, die Vorausſetzungsloſigkeit des Schaffens ift zugleich ein Mangel und eine Stärke. Man follte meinen, die Techniker würden lieber die Seite der Stärke hervorfehren, anjtatt immer an den Mangel zu erinnern; fie müßten einen Stolz darin finden, etwas durchaus Neues, Eigenartiged, Lebenskräf— tige8 neben dad alternde Gebilde der Schweiteranitalt zu jtellen. Der Verfaſſer erwähnt dieje Anficht ald eine unter feinen Berufsgenojjen*) ver: tretene (S. 80), läßt aber erfennen, daß er jelbit den anderen Weg, die Vereinigung mit der Univerfität, vorziehen wiirde.

Nur für den Fall, da es dazu nicht kommen jollte, geht er auch auf jene Möglichkeit ein und giebt bier, wo es ſich um die Ausgeitaltung eines ihm vertrauten Inſtituts handelt, ſehr praftiihe und beherzigensmwerthe Rathſchläge. Er warnt davor (©. 94 f.), das Privatdozententhum, jo wie e3 ſich an den Univerfitäten entwidelt hat, einfach herüberzunehmen, weil ed, noch mehr als dort, für die techniſche Hochichule darauf anfommen müſſe. „wifjenjchaftlich Hochitehende Kräfte aus der Praxis“ zu Lehrern beran- zuziehen. Sodann protejtirt er gegen den Verjud), an den man wohl ge= dacht habe, die Univerfitäten dadurch zu vervollitändigen und zu moderni— firen, daß einzelne Fächer, die ihrer Natur nad) auf beiden Seiten Anſchluß finden können (Geometrie, Phyſik, angewandte Chemie u. a.), von Der technischen Hochſchule abgejplittert und ganz mit der Univerfität verbumden würden. Dadurdy würde man die Hochſchulen der Techniker zu bloßen Fach— ſchulen herabdrüden, während Riedler verlangt und in feiner Rektorats— rede aufs Neue begründet, daß auch fie in ihrer Weije einen univerfalen Charakter tragen jollen. Deshalb empfiehlt er, ähnlich wie dies jeiner Zeit mit eingehenderer Begründung Zöller gethan Hatte, eine Befejtigung und Erweiterung der hier und da fchon mit dem Polytechnikum verbundenen allgemeinen Abtheilung, die „mehr biete, als das tägliche Brot der grund legenden und Hilfswifjenihaften“; bier jollen ji die Studenten über ſolche Gebiete orientiren können, die nicht zu ihrem eigentlichen Fache ge— hören, mit denen aber ihr Beruf fie in nahe Berührung bringen wird: Nechtökunde, Staatöwifjenfchaften, Hygiene, VBolldwirthihaft u. U. Dem allen würden wir rüdhaltlos zuftimmen fünnen, wenn der Verfaſſer nicht die Ungerechtigkeit beginge, eben die Verkürzung, die er von den techniichen Hochſchulen abwehren will, für die Univerfitäten zu fordern (S. 92. 96); das darf natürlich nicht zugegeben werden. Es jchadet ja gar nicht, wenn

*) Einer derjelben bat ganz neuerdings den „Doktortitel der Techniker“ abgelehnt mit Gründen, die den oben angedeuteten verwandt find, und mit einer beinahe trogigen Selhftahtung, vor der man Reſpelt haben kann. Sonntagsbeilage der Kölniihen Zeitung vom 8. Ditober.

Rotizen und Beiprehungen. 849

beide Anftalten, ungehindert und ohne Fünftliche Verſchmelzung neben ein- ander geitellt, in einem Theile der ®egenjtände, die fie behandeln, über- einftimmen. Die Art der Behandlung wird dann eben veridhieden fein und, indem fie von zwei Seiten her wirkt, um fo kräftiger in den Stoff ein= dringen, wie fich das für Mathematit und Phyſik jchon bisher genugſam bewährt hat. |

Diefe Möglichkeit des freien Wetteiferd der beiden Schmweiteranftalten auf einzelnen gleichartigen Gebieten möchten wir auch in Bezug auf den dritten Punkt empfehlen, den Riedlerd praktifche Vorſchläge betreffen, die Lehrerausbildung. Er will davon nicht3 wiſſen was Zöller befürmwortet hatte daß etwa für Gymnafiale und Realſchullehrer dad Studium in Mathematik und Naturwifjenichaften der techniſchen Hochſchule zugemwiejen werde; aber für deren eigene künftige Dozenten fordert er (S. 93) einen gemilchten Bildungsgang etwas fomplizirter Art, ohne zunächſt einen ge— naueren Plan dafür vorzulegen. Mir jcheint, man müßte fich hier wie andermwärtd vor zu vielem Reglementiren hüten und ruhig den Weg weiter gehen, den kürzlich die preußijche Unterrichtöverwaltung, wenn auch erjt mit ganz bejcheidenen Anſätzen, bejchritten hat: in der neuen Prüfungsordnung für das höhere Lehrfacd (1898) ift den Kandidaten der Mathematik und der Naturmwifjenichaften gejtattet, biß zu drei Semeftern an einer technijchen Hochſchule zu ftudiren. Wenn foldhe Freizügigkeit, in erweitertem Maße, herüber und hinüber zugelajjen wird, jo werden ſich gegenfeitige Anregung und fruchtbarer Austaufh von Gedanken und Anjchauungen von jelbit einjtellen.

Ermähnt fei nod), daß Riedler zum Schluß auch die äußerlich drin- gendjte Frage, die der Neugründung von techniihen Hochichulen, umfichtig erörtert. Er verlangt mindeſtens zwei für den öjtlichen Theil der Monarchie, eine in Danzig, die ja inzwijchen der Verwirklichung ein Stüd näher gerüdt ift, und eine in Breslau, und empfiehlt eine dritte, die er ebenjo wie in Breslau mit der Univerfität vereinigen möchte, für Kiel.

Wir jchließen hier zwei Reden an, in denen namhafte Vertreter der Univerjität, beide auf Niedlerd Buch Bezug nehmend, verwandte Themata behandelt haben:

Felir Klein, Univerfität und technifche Hochſchule. Rede, vor der Ver— fammlung deutſcher Naturforjcher und Aerzte zu Düfjeldorf am 19. Sep- tember 1898 gehalten.

Wilhelm Waldeyer, über Aufgaben und Stellung unferer Univerfitäten jeit der Neugründung des deutjchen Reiches. Berliner Rektoratsrede, am 15. Oftober 1898 gehalten. Berlin (Aug. Hirihwald) 1898. 31 ©.

Der Göttinger Mathematifer, jelbjt ein Kind der großen niederrheinis ſchen Snduftriejtadt, jteht den Erfolgen wie den Forderungen der Technik mit vollem PVerjtändniß gegenüber. Er erkennt an, daß die beiden Hoch— ſchulen gleichartige Anjtalten find und daß, worauf ſchon Riedler hinge—

350 Rotizen und Beiprehungen.

deutet hatte, dad Polytechnitum faum in anderem Sinne eine Fachſchule ift als die drei fogenannten oberen Fakultäten der Univerjität. Bei der vierten, der philofophifchen, findet er allerdings ein Ueberwiegen des rein alademi- fhen Betriebes, kunftatirt aber mit Befriedigung, daf feit einiger Zeit eine Bewegung begonnen hat, die dahin geht, die Art, wie die fünftigen Gym— nafiale und Neallehrer wifjenichaftlic, ausgebildet werden, den Bedürfniſſen ihre praftifchen Berufes etwas mehr anzupafjen. Klein fieht ein Mittel, durch welches die Profefjoren feines eigenen Faches, die der Geſchichte, der Spraden mit dem Leben des Berufes, für den fie doch vorbereiten jollen, Fühlung gewinnen, in den „Ferienkurſen“, die ſich an mehreren Univerjis täten bereit eingebürgert haben. Während er hier wünjcht und hofft, daß die zu frühzeitige Epezialifirung, das einſeitige Betonen der wiſſenſchaft— lihen Forichung, das der Freude am fpäteren Lebensberuf leicht jchatet, durch praftiihe Rückſichten ergänzt werde, empfichlt er umgekehrt den tech— nischen Hochſchulen die Einführung eine® Spezialunterridtes, der den tüchtigjten ihrer Zöglinge ähnlihe Gelegenheit zu wifjenichaftlicher Ver— tiefung und jelbitändiger Forichung geben joll, wie fie die Univerjität in ihren gelehrten Seminaren bütet. Auf diefe Weife jollen beide Anjtalten von einander lernen und fich innerlich näher femmen.

Der Eindrud dieſer durchaus gefunden, furz und treffend begründeten Gedonfen wird ein wenig dadurd) beeinträchtigt. daß auh Klein zum Schluß, wiewohl nur zaghaft, für den Pan einer aud) äußeren Verbindung der techniſchen Hocichule mit der Univerfität feine Sympathie zu erfennen giebt. Dieſe Wendung hängt wohl damit zufammen, daß er fih von dem Glauben an die Möglichkeit einer einheitlichen „allgemeinen Bildung“ nod nicht ganz frei gemacht hat. Ererzählt, vaß vor dreißig Jahren der damalige obırite Beamte unjered NRegierungsbezirfed ihm zu beweiſen gejucht Habe, ed gebe zwei Arten höchſter wiljenichaftliher Bildung, die techniſch-natur—⸗ wifjenichaftlide und die humaniſtiſche; dagegen habe er nah Kräften protejtut. Ob die Namen völlig zutreffend gewählt waren, mag zweijelhaft bleiben; noch mehr, ob dıe Zweizahl gegenüber der zunehmenden Fülle moderner Geijteskultur ausreicht: in der Hauptiadhe hatte jener Herr gewiß recht. Je mehr man die Eelbitändigfeit verichiedener „Bıldungen“ anerfennt, deſto mehr. wird gerade dad erreicht werden, was Klein im Grunde wünjht: der Austaufch fruchtbarer Anreaungen zwiichen den Nachbargebieten. Auch für die höheren Schulen, dıe an die Schwelle der Hochſchule führen, läge die Rettung in folder friedlichen Auseinander— feßung. So haben, um durch einen Bergleihh zu iprechen. Preußen und Deiterreich einen förderlihen Bund erjt ichließen können, als fie nicht mehr in die enge Form einer gemeinjamen Verfaſſung gezıwangt waren.

Der Anjicht, die wir vertreten, und auf die Klems Gedanten bin dräng n, jteht Waldeyer mit bewußter Ablehnung gegenüber. Er wıll die Vergleihung auch nur der medizinischen Fakultät mit einer technijchen

Rotizen und Beiprehungen. 351

Fachſchule nicht recht gelten laſſen. „Das Weſen der Univerſität liegt“ feiner Meinung nad „darin, daß fie für alle gelehrten Berufe die grund— fegende wifjenfchaftlihe VBorbildung geben will und muß“. Für die Zeit, in der die. überlieferte Form der Univerjitäten begründet wurde, war das gewiß richtig. Seitdem aber hat fich das Gebiet der gelehrten Berufe und ihre Zahl erweitert; und ob fie immer noch alle auf der Univerfität ihre Vorbereitung finden, läßt fich nicht au3 einer begrifflichen Definition, fondern allein durch Beobachtung der Thatfachen feſtſtellen. Thatſache aber ift, daß der Arditelt, der Maſchinenbauer, der Bergmann für feine Arbeit nicht geringerer Wifjenichaft bedarf als der Direktor einer chemischen Fabrik, ald der Arzt und der Amtsrichter, daß es aljo eine ganze Reihe durchaus „gelehrter* Berufe giebt, für die man befondere Anjtalten zur wiflenschaftlihen Vorbildung Hat einrichten müſſen. Diefen modernen Hochſchulen vermag Waldeyer von feinem Standpunkte aus nicht ganz ge- recht zu werben.

Uebrigens bildet in feiner Nede dad Berhältniß der Univerfität zum Polytechnikum nur einen Theil des Themad. Er erörtert weiter, und zwar in vorurtheilslofem Sinne, die Frage des Frauenſtudiums und Die Bewegung der University extension, die er in der modifizirten Form, die fie in Berlin angenommen hat, dem Intereſſe jeiner Kollegen empfiehlt. Bulegt geht er auf die akademische Selbjtverwaltung ein, die neuerdings in Gefahr fei, von Regierung und Boltövertretung verfannt und deshalb verfürzt zu werden (S. 25). Waldeyer warnt vor foldhen Verſuchen mit erfreulicher Entjchiedenheit. Und dabei wendet er ſich nicht bloß gegen die politiijhen Mächte, die geneigt fein fünnten in das Leben der Univerjitäten einzugreifen, fondern auch an feine Berufägenofjen, denen er zeigt, wie jie jelber durch die Art ihrer Thätigkeit dahin wirken fünnen, daß fremde Ein» miſchung ausgeſchloſſen bleibe. Unter den beiden Aufgaben des afademijchen Lehrers jtellt er dad Lehren dem Forjchen voran: zum Forſchen fühle jich ein Jeder von felbjt angetrieben; aber die Lehrarbeit jei „da8 mühjamere Verf, wenn fie mit dem ganzen Ernjte und mit der vollen Hingebung durchgeführt wird, wie eine gereifte Hörerfchaar und die hohe Aufgabe der Univerjität dies fordern“. Man wird faum jagen können, daß diefe Auf— fafjung heute die herrichende jei. Sollte ſie es wieder werden, jo würde darin allerdings die bejte Gewähr dafür liegen, daß nicht Außenjtehende fi) veranlaßt jehen, die Univerfität an die Dienjte zu erinnern, die fie der Gefellichaft leiften foll, und um deren Willen fie geichaffen worden iſt.

Düfjeldorf, 29. September 1899. Paul Eauer.

Theater:Korrefpondenz.

Deutfhes Theater: Ein glüdlihes Paar. Luftipiel in drei Aufzügen von Hermann Faber. Das Friedensfeſt. Schaufpiel in drei Akten von Gerhart Hauptmann.

Berliner Theater: Baumeifter Solnef. Schaufpiel in drei Aufzügen von Henrik Ibſen. Deutjch von Dr. Sigurd Ibſen.

Hermann Faber hat das aus mir unbekannten Verdienſten ftammende große Glück gehabt, zwei Stüde im Zeitraum von etwa einer Woche an zwei erjten Bühnen Berlins zur Aufführung gebraht zu jehen. „Emige Liebe” fiel im Schaufpielhaus durch. ch hatte von vornherein fein Ber: trauen dazu und rettete mir den Abend dur Fernbleiben. Zu dem Luſtſpiel „Ein glüdlices Paar” ging id. Denn ich vertraute und baute auf das „Deutjche Theater“, das durd die Klugheit feines Direktor aber auch durch andere Umftände mehr äußerer Art in den verdienten Ruf ae fommen ift, der Yiteratur zu dienen. Doch man darf wohl niemals blinv vertrauen. Bon dem Stüf des Herrn Faber jage ich nicht3 Anderes und ich fage das als ernftes Urtheil ohne die Abficht der Uebertreibung —, als daß Mojers Werke als Haffiih im Verhältnig zu dem Faberſchen Stüd zu bezeichnen find. Was mich in diefem Fall interejfirt, wäre einzig umd allein die Beantwortung der Frage: Was fann den Direktor Brahm zur Annahme dieſes Machwerks veranlaft haben? Ich mei Feine Antwort darauf.

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Die Aufführung des Hauptmannſchen „Friedensfeſtes“ war eine herrlihe Auferjtehungsfeier. Es mar das zweite Werk, mit dem Haupt: mann vor die bejchränfte Deffentlichkeit der „Sreien Bühne“ vor faft zehn Jahren trat. Ich Halte dieſes Stück für das beite Drama, das dem Dichter überhaupt gelungen ift; und ich verftehe hier den Begriff des Dramas in dem Sinne, wie ihn Hebbel im Vorwort jeiner „Maria Magdalena” vdefinirt hat. Darnach hat und das Drama das Leben und die Weltzuftände in der Gebrochenheit darzuftellen, wozu das „Moment der Idee“ zu treten hat, in der das Yeben „die verlorene Einheit wiederfindet“. Die dramatische Auffafjung des Weltprozejjes ift aljo durchaus dialektiſcher

Theater-Rorrefpondenz. 353

Natur. Gegenjäte, aus der Tiefe des Weltjeins jtammend, bewegen fich gegeneinander und offenbaren fich nah aufen hin als das, was mir im Drama „Handlung“ zu nennen pflegen. Die Handlung ift aljo mit dem Weſen des Dramas und des in Ddiefem dargejtellten Weltvorganges aufs Innigſte und Innerſte verfnüpft und nicht etwas, das mit Rüdficht auf die äußere, effeftvolle Bühnenmwirfung erft von klugen Technifern hinein: getragen ift. Hauptmanns „Friedensfeſt“ enthält in vollfommener Weife jolde Handlung, die aus dem den Dingen ureingeborenen Zwieſpalt hervorgeht.

Der Dr. med. Fris Scholz hat in jüngeren Jahren weite Reifen durch die ganze Melt gemacht. Nirgends konnte er Ruhe finden. Er ift eine jener ruhelojen, modernen Naturen, die an dem Zwieſpalt zwiſchen Schnjuchtsfülle und Erfüllungsmöglichkeit jchwer zu leiden haben. Nichts genügt den Sinnen und dem Denken. Das Denken möchte eine ganze Melt einheitlih umfaſſen und ihr Geheimniß auf einen Sclag löjen. Das geht nidt, und nun beginnt die Zerfplitterung und Berfajerung, Scholz hat ſich bejonders lange in der Türkei, dem Yande der Harems, und in Japan, dem Yande der Geishas, aufgehalten und dabei natürlic) mitgenommen und ausgefoftet, was jolche Yänder an bejonderen Genüfjen bieten. Aus dem unfteten Yeben des Weltwanderers fällt er plößlich in das Ertrem des infiedlerdafeins. Er miethet ſich ein „einfames Land— haus‘ und nimmt fih ein Weib. Er vertaufcht die zerjtreute und berufs- mäßige Sinnlichkeit der türfiichen und japaniihen Schönen mit der indivi- duellen Yiebesfraft eines robuften Mädchens aus dem Wolfe, das auf ihn allein feine unverbrauchten Sinne fonzentriren wird. So meint er für fein leibliches Theil gejorgt zu haben. Das einfame Yandhaus hat zwei Etagen, eine untere und eine obere. In die obere zieht fih Scholz zurüd, um hier einfam zu finnen, zu Denken, zu träumen, zu phantafiren. Hier lebt er gewiſſermaßen ald Gehirnmenidh. in der unteren lebt er mit feinem Weibe zujammen und zeugt finder. So führt er ein gebrochenes Yeben der Seele und des Yeibes. Die Ehe des geijtreihen, von Natur tief veranlagten und hochſtrebenden Dr. Scholz mit dem derben Mädchen aus dem Wolfe ftellt die Gebrochenheit des Yebens in einen leiblichen und einen geiftigen Theil offenfundig dar. In diefen Zwieſpalt find vom Beginn ihres Dafeins die Kinder ſolcher Ehe gejett. Jeder Theil will fie für fich haben. Der Vater will fie in jeiner oberen tage in ein Yeben des Geiftes hineinzmingen und meint, ihnen zu dem Zweck in einjeitigjter Weiſe Weisheit eintrichtern und einprügeln zu müſſen. Die Stinder laufen ihm davon und halten es lieber mit der Mutter, die ihren Trieben und Neigungen freien Yauf läßt. So fommt es zu Szenen, in denen das Kind mie Wilhelm erzählt vom Vater am einen und von der Mutter am anderen Arm gezogen wird. Schließlich muß der Vater als der weniger robuste Theil nachgeben. Die Kinder tragen am Ende dazu bei, daf der Vater immer mehr jich auf jeine Etage bejchränkt, ſich immer mehr abjondert, immer abjonderlicher wird. Er wird in feinem Denfen und Fühlen von Niemand in feinem Haufe veritanden. Er fühlt fih nicht ohne Grund beargwöhnt, belauert, beladht, befeindet. Er zieht ſich immer mehr in fich zurüd. Cine unheim— liche Furht und ein tüdisher Haß überfommen ihn, der in feinem

Preußiiche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 2 23

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Seelenleben jih von der robuften, brutalen Yeiblichfeit der unteren Etage immer mehr und mehr bevränat fühlt. Er haft dieſe Yeiblichkeit, er verachtet jie und er fürchtet fie auh. Er hält fie für etwas Gemeines, das zu Allem fähig it. So kommt er dazu, jeine Ehefrau dem Knecht gegenüber hinterrüds des Chebrudys zu bezichtigen. Das ijt zweifellos niederträchtig, feige, ehrlos, Es tft aber in feiner innerften Bedeutung doc immer das Aufbäumen einer in Furcht und Haß geſetzten Seele gegen die verabjcheute Uebermacht des Sinnlihen und Xeibliden. In dem Moment aber, in dem das Geiftige ſich aufs Tiefjte erniedrigt und ins Segentheil feiner Beftimmung verkehrt hat, erhebt ſich aus dem Yeiblichen ein Jdeal in Gejtalt der Liebe des Kindes zu dem Yeibe, der es getragen hat. Der empörte Sohn jchlägt aus Yiebe zur Mutter den Water ins Angefiht. So find die Verhältniffe zur äuferften Spite getrieben. Diejes Leben in dem einjamen Yandhaufe ift von Grund aus zerflüftet. Water und Sohn gehen aus dem Haufe. Die Familie Scholz hat aufgehört zu eritiren. Es find Die zentrifugalen und atomifirenden Tendenzen des Yebens, die den alten Scholz früher in Uneinigfeit mit fich jelber durch die ganze Welt getrieben haben und die jeßt die von ihm begründete Familie auseinanderiprengen.

Es giebt aber auch zentripetale Kräfte, die darauf ausgehen, zu ver: einigen, was getrennt iſt und zujammenzuführen, was auseinander: itrebt. Es wirft unter den Menſchen eine Araft der Yiebe, die es nit begreift, daß Haß die auseinander halten follte, die zujammengebören. Dieſe Kräfte wirken in der Familie Buchner. Mit ihr dringt zum erften Mal Wärme und Freude in das einjame Yandhaus. Ida Buchner hat fih mit Wilhelm Scholz, dem aus dem Haufe gegangenen Sohn, verlobt. Da iſt es erklärlich, daß die Mutter, die jung vermwittwete ſchöne und edle Frau Marie Buchner, den innigen Wunjc hat, den Bräutigam ihrer Tochter mit feiner Familie wieder auszjujöhnen. Der Zufall will es, daß zugleih mit Wilhelm, am Weihnachtstage, auch deſſen Vater nad) jechs Jahren zum erjten Mal mieder fein Haus betritt. Der alte, jchredliche Gegenſatz könnte vielleicht wieder aufleben. Frau Buchner übernimmt die Vermittlung. Und jie findet den Boden zur Verföhnung bereitet. Denn in der Trennung haben die mit Sehnſucht an einander gedacht, Die mit einander ſich jo bitter haſſen. Der Kerzenglanz des Weihnahtsbaumes ftrahlt über eine verföhnte und glüdliche Familie. Das Weihnahtsliev, das da fingt, wet mit holven, reinen Tönen die >artejten und ſüßeſten, befeligendjten Empfindungen aber auch die böfeften Dämonen. Diefer Umſchwung, der während des Yiedes hereinbricht, ift von ungeheueriter dramatischer Aunft und Kraft. Wilhelm liebt feine Braut aus tiefjtem Herzensgrund. An der zarten Reinheit ihrer unbefledten Seele glaubt er jelber reiner und bejjer werden zu können; ihre ftarke und opferfähige Güte wird die feiner Seele eingeborenen wilden Hräfte zu bezwingen wiſſen Doch auch der ältere Bruder Robert hat das Verlangen, dur die Mact der Yiebe zu genefen. Und als die Yiebe in Geitalt das zum eriten Male holdſelig und ſonnig in das düftere Haus tritt, da entbrennt der Unglüdjelige in Yiebe zu feines Bruders Braut. Er kämpft jein Gefühl jtandhaft nieder. Denn er ift im allertiefften Grunde feiner Seele aut.

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Als nun aber das Yied Aller Seelen löſt und die Empfindungen auf: wühlt, da kann fi Robert in feinem Schmerz, in feiner milden Sehnfuht, in feinem innigen Glüdsverlangen kaum beherrſchen. Er mill fih aber noch beherriben und fo fommt er dazu, hinter die von ihm vielfach gebrauchte Maste des Cynismus zu flüchten. Er bezeichnet Die ganze Szene als jentimentale Albernheit Dagegen braujt der im Augen- blide hingebendjten Glüdsgefühls jäh verlegte Wilhelm auf. Die Brüder gerathen aneinander. Der Vater wird bei dem ausbredhenden Streit an das furchtbare Geſchehniß erinnert, das ihn vor Jahren aus dem Haufe trieb. Der geiftig zerrüttete Mann verwechjelt Gegenwart und PVergangen- heit. Er mähnt, die Angriffe ſeien wieder gegen ihn ſelber gerichtet. Furchtbar aufjchreiend bricht er zujammen, um in ein tödtliches Fieber zu fallen. Die Yiebe trat in dieſes Haus, um ihr frommes Werk zu thun. Es ſchien gelungen. Da jollte es fich ermweifen, daß in diefem Haufe, bei dieſen von der Hand des Schidfals ſchwer belajteten Menjchen auch die viebe zum Unheil ausichlägt. Die Yiebe wollte erretten und fie vollendete beim Rettungswerk das Nerderben.

War die Kraft und das Wefen diefer Yiebe vielleicht noch nicht jtarf und rein genug? Auch die jelbitlofeite Liebe läuft, in diefe Welt der Sinne gebannt, Gefahr, beflekt zu werden. So muß denn aud die cdle und gütige Frau Marie Buchner befennen, Wilhelm nicht ganz ohne allzu perjönlihes Wohlgefallen in ihr Haus gezogen und ihrer Tochter zum Bräutigam erwählt zu haben. Auch die Welt der Yicbe ift in dieſem Drama eine zerbrochene und im innerjten Wejen gejpaltene. Nah allen Seiten hin und mit unerbittliher Konjequenz ijt der Weltproze in feinem Gebrocenjein dargeftellt. Aber Wilhelm und Ida werden dody glüdlich werden. Gerade im Augenblid des tiefiten Elends ſchließen fie fi, mie es ſcheint, fefter denn je aneinander. Sie glauben bejtimmt an das Glüd ihrer Zukunft. Auch der Zufchauer fönnte es glauben. Vielleicht jogar hat es auch der Dichter jo gemeint, jo daß Wilhelm als ein armer Heinrid) aufzufaflen wäre, dem durch eines reinen Mägdeleins Opferfähigkeit Glüd und Leben bejchievden wäre. ch halte diefen Schluß für ſchwächlich und glaube nicht an ihn Robert mit feinem allzu fcharfen Blid für die Nacht: jeiten des Yebens hat Recht, wenn er auf Wilhelms Trage nad) das Zufunft an feiner Seite erklärt: Die wird wie die Mutter, d. h. die alte Frau Scholz. da würde das nie und nimmer zugeben. Doc fie täufcht jih über fih und ihre Liebe Es tft das im tiefiten Grunde garnicht nur die erlöjfende und jelbitlofe Liebe der reinen Jungfrau. Unbewußt ſteckt in diefem Trieb zu heilen und zu erlöfen auch ein finnlicher Schauer vor dem Abgrund, der ſich aufthut. Wilhelm ift der leivende, aber auch ein wenig der dämoniſche Mann, der ſchreckt und im Schreden zugleich anzieht. Solche Schauer find gemijcht aus Luſt und Unlujt, d. h. fie find Wolluft. Mit der Erlöfung des Mannes durch Weibesliebe ift das doch jtets jo eine eigene Sade. Es handelt ſich da wohl immer mehr um einen poetijchen Mahn als um eine praftiiche Wirklichkeit. Das Schidjal der Familie Scholz ift unabänderlid durch alle Generationen hin beftimmt. Es iſt ein Yeben der Gebrocenheit, ein Dafein in grauenvoller Nacht; aber aus dieſer Nacht ftreden die Menfchen flehend die Arme empor zu den Sternen der

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Liebe und des Friedens, nach denen unabläfjig, aber immer vergeblich ihre Sehnfuht ringe. „Das Friedensfeſt“ ift in Wirklichkeit eine gemaltiae Tragödie des Haſſes, in der Idde aber zugleich ein Schaufpiel der Yiebe. Darin liegt die ungeheure dramatische Kunſt und tragiſche Wirkung, das wir in jedem Augenblid, in dem diefe Menſchen ſich haſſend zerfleijchen, zugleich ihr herzliches Bedürfniß nach erlöfender Liebe herausfühlen. Sie möchten ſich lieben und müſſen fich halfen. So iſt ihr Schidjal in der Dialeftit des Weltprozeſſes graufam bejtimmt.

Dieſe tiefe Tragödie wurde im „Deutjchen Theater” mit hoher Voll: endung Ddargeftellt. An eriter Stelle jei Mar Reinhardt als Fris Scol; genannt. Er verzichtete richtiger Weife auf alles pathologiihe Beimerf. Es jpielt da nämlih ganz unnöthig ein Stüd Gehirnerweihung hinein. Diefe Pathologie in der Poefie ift eine naturaliftiiche Schrulle, die aus einer oberflächlichen und falfchen Auffajiung Ibſens ftammt und heute längit überwunden tft. Herr Reinhardt entwarf ein tiefergreifendes Seelen: gemälde und jteigerte im Augenblid der Kataftrophe die Tragif zu einer Gewalt, die wahrhaftig im alten Dr. Scholz einen alten König Year er bliden lie. Sehr gut war Rudolf Rittner als Wilhelm, ganz Cholerife: und durhaus der Sohn feines Vaters, auf den ſich das jpezielle Schickſal diefes Waters vererbt hat. Mit individuelliter Charakterijtif jtellte Emanuel Neicher den Nobert auf die Bühne, den Cyniker mit dem hellen, harten Bid für die Nachtjeiten des Lebens, der im tiefunterjten Seelengrunde doch von der Sehnfucht nad) einem deal verzehrt wird. Annie Trenner mar eine gute Augufte Scholz, die mit dem einen Bruder den Cynismus, mit dem andern das cholerifsche Temperament gemeinfam hat. Hans Fiſchers Hausfnecht Friebe war ein eindringlid) charakterifirtes \ndividuum. Frau Marie Buchner ijt die einzige individualitätsloje blafje Figur des Stüdes. Aus ihr machte Youife Dumont, was zu machen tft. In der Rolle ver Ida liegt doch viel mehr, als Giſela Jurberg herauszuholen vermochte.

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Unter Ibſens Dramen iſt „Baumeiſter Solneß“ am ſchwerſten zu ver ſtehen und am meiſten der Auslegung bedürftig Es iſt klar, daß die ſämmtlichen Vorgänge des Dramas ſymboliſch gemeint find. Hinter den materiellen NWorgängen auf der Bühne fteht eine andere Welt mit einem tieferen Leben. Das gilt es zu begreifen oder zu empfinden. Ob man beatei' oderempfindet, ift aber ein grundlegender Unterſchied. Bei Maeterlind genügt es. zu empfinden, bei Ibſen muß man begreifen. Maeterlind dichtet aus einer lyriſchen und mufifaliihen Erregung heraus ; Ibſen dagegen jchafft meh: mit dem Hirn aus philofophiicher Grundjtimmung. Den Dramen Maeter linds liegt das wogende Meer der Gefühle zu Grunde, die Werfe Ibſens jtammen aus dem hohen Himmel der Jdeen. Maeterlincks Dichtungen ſtehen wir gegenüber wie einem Mufitftüf. Das regt bejtimmte Gefühle in uns auf, die tiefer, heftiger und geheimnifvoller find, als die unjeres Jonitiacn Yebens. Wir ahnen etwas, und in diefem Ahnen empfinden wir Yuft. Ibſen dagegen giebt ein Näthjel auf. das veritandesgemäß gelöjt werden muß. Solche Löſung erfordert aud) das Räthſeldrama vom Baumeiiter Solneß.

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Solneß iſt „in einem frommen Hauſe auf dem Lande“ aufgewachſen und er hat Alles das, was in einem ſolchen „frommen Hauſe“ als heilig und ewig und ſittlich gelehrt wird, als heilig und ewig und ſittlich in ſich aufgenommen. Er iſt „Baumeiſter“ geworden, nicht „Architekt“; „denn dazu hat er nicht gründlich genug gelernt,“ wie er ſelbſt erklärt, er hat nicht alle vom Staate vorgeſchriebenen Kurſe durchgemacht und Examina abgelegt. Er hat aber Genie und in ſich das Bewußtſein, das Schönſte und Größte, was es nur giebt, bauen zu können. Doch das genügt ſelbſt— verſtändlich nicht, die Leute zu veranlaſſen, dem Unbekannten und noch Unbewährten Aufträge zu ertheilen. Nun bewohnt er aber ein altes Haus mit einem großen Garten rund herum, das er von der Mutter ſeiner Frau ererbt hat. „Von außen nahm es ſich aus wie ein großer, häßlicher, dunkler Holzkoſten. Aber inwendig war's doch ganz nett und gemüthlich.“ Würde dieſes Haus abbrennen, dann könnte er den großen frei gewordenen Platz benußen, um auf eigene Rechnung zu bauen. Er hegt den Wunſch, das Haus möge abbrennen, damit er dur den Brand in die Höhe fommen fönnte -- und das Haus brennt thatjählih ab: denn es giebt ‚einzelne, auserforene, auserwählte Menfchen, denen die Gnade verlichen ward und die Macht und die Fähigkeit, etwas zu wünſchen, etwas zu begehren, etwas zu mwollen jo beharrli und jo jo unerbittlih, daß ſie es zulegt befommen müſſen.“ Solne gehört zu Ddiefen „Auserkorenen“. Indeß „allein wirfet einer jo große Dinge nit”. U nein, Die Helfer und und die Diener, Die müſſen ſchon auch dabei jein, wenn's „zu was werden ſoll“. Dieje Helfer und Diener bedeuten die günjtigen Umſtände und glüdlichen Zufälle, die der Wünfchende und Wollende klar zu erfennen und flug zu benußen fähig jein mul. Solche günjtige Umjtände befördern den Brand des Haufes thatjächlich, in Geſtalt einer „Rite im Schornitein“, die eine ftändige Feuersgefahr bedeutete und auf Die Solneß feine Hoffnungen und Wünſche in Beziehung auf den Brand baute. Allerdings bricht jchließlich das Feuer nicht, wie erwartet war, durch die Ritze aus, Jondern anderswo, Zur Zeit des Brandes hatte des Bau: meijters Gattin Aline gerade Zwillinge geboren. Der Schreden erjchütterte ſie jo entjeglich, daß fie das ‚Fieber befam, „und das ging in die Mild über”. Die Kinder jtarben daran. Doc Solnef; hat erreicht, was er erreichen wollte: die Möglichkeit zum Bauen; und er baute, und bald tft er ein großer Baumetjter, gerühmt von allen Menjchen, unter denen er lebt, ein Baumeiſter, der das Herrlichjte baut, was jene Menichen zu bauen haben: Kirchen!

Als Solneß mieder einmal eine Kirche zu bauen hat, in einer fleinen Stadt hoc im Norden, in Yyjanger, wo er in der Einjamfeit „Orübeleten ungejtört nachhängen“ fonnte, da „erforichte und prüfte er jich jelbit“, und das Ergebniß tft, daß er, im Bemuftiein einer bisher gleihjam latenten Kraft, am Tage der Einweihung felber den Thurm erjteigt und den Kranz, nad; Yandesjitte, an die Spite hängt. Bisher hat er nie gewagt, „hoch und frei hinaufzujteigen“, weil er an Schwindel litt. Wie er nun da hoch oben, über der Menge, in freier, E£larer Yuft, ſteht, da jpricht er zu Gott, dem er bisher gedient hat: „seht höre mich an, du Mächtiger! Non heute an will ih auch freier Baumetiter jein. Auf meinem Gebiet.

358 Theater-Rorrefponden;.

Wie du auf dem Deinigen. Nie mehr will ich Kirchen für dich bauen. Nur Heimjtätten für Menſchen.“ Er baut fortan Heimjtätten, darin ſich ein Jeder jo einrichten kann, wie ed ihm bequem ift, wie es feiner Natur entipricht, unbefümmert um die Anderen.

Es ijt unverkennbar, daß die gejchilverten Borgänge nur Spmbole find: Jenes alte, ererbte Haus, darin es fih jo „nett und gemüthlic“ wohnt, bedeutet die alten überfommenen Ideale, die von Geſchlecht zu Ge: ſchlecht unbeſehen herübergenommen find, bedeutet den einfältigen Glauben, die überlieferten Autoritäten, die frommen, in gutem Glauben aufge: nommenen Lügen, die alle die dummen, aufdringlichen ragen nach dem „Woher“ und „Wozu“ bequem beantworten. Die „Kirchen“ find der Gipfelpunft aller joldyer vermeintlichen Ideale und Wahrheiten, jte find das Aelteſte, Chrmwürdigite, Heiligite innerhalb der Gejellihaft, die Verförperung der offiziellen Anfchauung.

Solnef, in einem „frommen Haufe auf dem Lande“ erzogen, d. h. dort erzogen, wo die gekennzeichneten Anfchauungen am üppigjten mwucern, will, im Bemußtjein jeines Genies und feiner Kraft, einer der Erſten, cin Führer der Gefellichaft werden. Zu dem Zmwede indeß muß er fih Raum Ihaffen, muß er Diejenigen verdrängen, die vor ihm den Pla und ven Ruhm bejegt haben. Mit der rüdfichtslofen Kraft feines Willens, eines eifernen, brutalen Erobererwillens, jchafft er fich diefen Pla: er veranlagt den Brand des Hauſes, d. h er vernichtet gemaltfam, was ihm im Wege ſteht. Dod fein Sieg ift nicht jo volljtändig, wie er gedadt hatte: Er fannte genau die Schwächen feiner Gegner, er war gemillt, diefe Schwächen, dieje „Helfer und Diener‘ zu benußen, doch das miflingt zum Theil. Wir fönnen hier an die Vorgänge bei Revolutionen denken: mit aller Kraft jegen die Nevolutionäre die Hebel an die jchwächiten Stellen der zu vernichtenden Sefeliichaft und meinen, den Sturz genau vorausberechnen zu Fönnen. Meiftens aber brechen vie Flammen unerwartet an ganz anderer Stell: hervor, und bei dem jähen Sturz erleiden auch die den Schaden, melde zuerft und zumeift an diefem Sturz gearbeitet haben. So geht es aud Solneß. Es wird jetzt klar fein, was jene Ritze im Schornftein des alten Gebäudes, die an anderer Stelle hervorbrehenden Flammen und der Verluſt der Kinder bedeutet.

Hat der Baumeijter auch nicht ohne eigene, jchwere Verluſte fein Ziel erreicht, Jo hat er es aber immerhin erreicht. Jetzt hat er Plat und freien Weg zur Herrichaft und zum Ruhm. Bald it er einer der Eriten, der Führer; er baut Kirchen mit höheren, gemwaltigeren Thürmen, als man fie bisher gebaut hatte, d. h. er baut das überlieferte Gebäude der Gejellichaft weiter aus, er vertritt am fühnjten und bedeutenditen die überlieferten Glaubensſätze. ch möchte jagen: er tjt ein genialer Reaftionär.

Aber er bleibt es nicht. Se höher er jteht, um jo weiter reiht fein Geſichtskreis, um jo einjamer wird es um ihn. Er durchſchaut das Schein heiligthum des vermeintlichen Heiligthums, er erkennt das Todte, Ge ſpenſtiſche der vermeintlich ewigen Jdeale. Er giebt feine bisherige Welt: anſchauung auf, er will feine Kirchen mehr bauen, jondern „Heimſtätten mit hohen Thürmen und Spigen‘‘, d. h. er will die Menjhen aus der Mover athmojphäre todter deal: emporheben in die klare Yuft, ins helle Sonne:

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licht; er will in Jedem die Perfönlichkeit weden, er will der Individualität Raum ſchaffen, damit fie fi, unbefümmert um Andere, in allen ihren Trieben und Gedanfen frei und ganz ausleben fann. Dod es ift ſchwer und mühevoll, als Perfönlichkeit, als Einzelner, nur auf fich jelbft geitellt, zu leben; es iſt viel bequemer, überfommene Gedanken aufzunehmen, als neue zu denken; es ift viel gemüthlicher, fich in irgend ein Syſtem ein: zuhüllen, das durd fein Alter heilig geſprochen iſt, als ſich eine Welt: anjhauung neu zu erringen. Und die Menjchen lieben das Bequeme und SGemüthliche, es ift jo fiher, wenn der Eine fih an den Zmeiten u. ſ. f. anlehnen fann. Damit hatte der fühne Baumeifter, der fühne Neformator nicht gerechnet. Die Menfchen wollen gar nicht feine Heimftätten mit hohen jpigen Thürmen; er hat vergeblih gebaut, er hat die Menſchen überjchäßt.

Und er hat auch noch etwas Anderes überſchätzt: feine eigene Willens: fraft. Die Menſchen hat er nicht glücklich gemacht, feine eigenen Kinder hat er verloren, die Lebensfreude feiner Frau hat er zerftört. Seine brutale Thatfraft iſt in vielen Kämpfen zerrieben und nad) Erreichung des Jirles, im Beſitz, ſchwach geworden; von jenem ehemaligen rüdjichtslofen, chernen Erobererwillen iſt fajt nichts geblieben. Dafür aber hat die Neue in feinem Herzen Plat genommen, Gewiſſensbiſſe zernagen feine Seele. Sein Getit ift verwirrt und zerrüttet, er it dem Wahnfinn nahe. Nur ein einziges, phantajtijches Glück malt er fi) noch aus, eine einzige, lächerliche Hoffnung heat er: obwohl thatjächlid und zweifellos der Bejit von Kindern für ihn ausgejchlofien it, und obwohl er das jelbjt genau weiß, jo wartet er doc immer, wie mit der Hoffnung eines Jrrfinnigen. auf dieſe Kinder, auf Das „Unmögliche“, und daher hat er in feinem finderlofen Haufe „Kinderſtuben“, nicht eine, drei.

In dieſe Situation tritt Hilde Wangel. Sie kommt aus Yyjanger, aus jenem Städtchen hoch im Norden, wo Solneß vor Jahren Die oben erwähnte Kirche gebaut hatte. Sie fommt „ohne Geld und ohne Koffer“, d. h. ganz frei, nur auf ſich angemwiefen, ohne Worurtheile, ohne jene Ideale, die ſonſt innerhalb der Gefellihaft hoch im Kurs ftehen. Sie fommt mit der ungebrodenen Kraft der Jugend, mit ebenderjelben rüdfichtslofen Energie, die Solneß bei Beginn jeiner Yaufbahn zu eigen gewejen ift. Sie tritt in das Haus des Baumeijters, um ein erhaltenes Verſprechen einzulöjen und um ihr Glüf zu gewinnen. Damals, als Solneß in Lyſanger war, hatte er ihr gejagt, daß fie ausjehe wie eine fleine Prinzejfin, und wenn fie erft groß fein würde, dann jollte fie feine Prinzeſſin fein. „Und als ih dann fragte,“ jo erzählt Hilde, „wie lange ich warten jollte, da jaaten Sie, Sie kämen in zehn Jahren wieder wie ein Unhold und entführten mid. Nach Spanien oder irgend jo einem Yande. Und dort würden fie mir ein Königreich kaufen, verfprachen Sie.” Und darauf hatte er das Mädchen gefüßt.

Hilde Wangel hat dieſen Vorgang in den zehn feither verflofienen Jahren nicht vergefjen. Dem fühnen, genialen Baumeifter fühlte fie fich qleichgeartet, wahlverwandt. Daß jie ihn da oben den Kranz an die Spite hängen jah, das „war ja jo entjeglich jchön und jpannend! Ich fonnte mir nicht denken, daß es in der ganzen Welt einen Baumeijter gäbe, der einen jo ungeheuer hohen Thurm bauen könnte. Und dann,

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daß Sie jelber droben jtanden, an der alleroberjten Spite! Ein wirklicher lebendiger Menſch! Und dab Ahnen garnicht ein bischen ſchwindlig murde! Das mars eigentlich, wovor einem am allermeiften jo ſchwindelte“ Als er fie dann geküßt hatte, da hat fie ihn von Stund an als ihr eigen, als ihren Kameraden betrachtet, und als die zehn Jahre verfloiten find, da kommt jie nun und präjentirt ihre Forderung. Natürlich will ſie et nicht mehr das Königreich in Spanien; was fie will, das iſt ein Yeben in Freiheit und Selbitbeftimmung, fi ausleben will fie, un: gefejlelt durch alle Jdeale und Vorurtheile und PBeritellungen und all das Yächerliche und Komiſche, was die Menſchen gewöhnlich hoch und heilia halten das will jie, und Solneß als den Genojjen ihrer Freiheit.

Sie findet in Solne nicht ihr deal wieder; jie findet ihn frant und Schwach geworden, als einen gänzlich Anderen. Und darum, eben weil er ein Anderer geworden tft, hatte er auch das Intereſſe an jener Begegnung mit Hilde verlieren müflen, mit der Veränderung feiner Seele mußte auch jenes Ereignig mehr und mehr in jeiner Erinnerung ver: blajjen, und in der That, als Hilde davon zu jprechen beginnt, weiß er nichts mehr von diefer Begegnung. Aber jo ganz ijt Die alte, kraft— volle Seele doch nicht in ihm gejtorben, fie iſt nur gewiſſermaßen ein- geſchlafen, hat nur ein Traumleben, ein Yeben des Unbewußten geführt. Er geſteht: „Iſts nicht jonderbar? Ne mehr ich jest darüber nachdente, da fommts mir vor, als wär ich lange Jahre herumgegangen und hätte mich damit abgequält auf etwas zu fommen jo etwas Cr: lebtes, von dem ich meinte, ich müßte es vergejlen haben. Und nie fan ich heraus, was das jein könnte.“ Wie nun Hilde alle Details aus jener Zeit ihm vorführt, wie fie gewiſſermaßen an ihm rüttelt, da erweckt jie die eingejchlafene Seele, da friſcht fie die verblafte Erinnerung wieder auf. Mit aller Kraft jest Hilde ihr Bemühen ein, den Baumetjter wieder völlig zu ihm ſelbſt zurüdzuführen. Zu dem Zmwed muß jie Alles be: jeitigen, was den Baumeifter zu dem Veränderten, Schwächeren gemadıt hat. Sie erfährt ſein Schickſal, die Geichichte von dem Brande des alten Gebäudes. Ste erfennt mit jcharfem Blid die Schuld, welche des Bau- meiſters Umgebung an feinen Yeiden trägt.

Da iſt zunächſt Kaja, Buchhalterin bei Solneß, ihrer äußeren Stellung nah. Sie jteht aber auch in einer inneren Beziehung zu ihm. Sie ge hört zu den nervöfen, heftig empfindfamen anjchmiegenden Frauennaturen. die das Große fühlen, wo fie ihm begegnen, die fich ihm ganz hinaeben, wie einer dämoniſchen Macht, die aber jonjt nichts weiter vermögen, als eben ſich hinzugeben, ganz in das Andere, Große aufzugeben, ohne aus eigenem Kraftvorrath einen pofitiven Einfluß ausüben zu fünnen. In der Thea Elvitevt des Dramas „Hedda Gabler“ hat Ibſen bereits einmal einen jolden Charakter gezeichnet. Naja empfindet das Bedeutende und Starke in Solneß, fie bewundert und liebt ihn mit Yeidenjchaft, ihr ganzes Weſen geht in ihm auf. ber fie bat feine Ahnung von der früheren Größe des Baumeijters, fie begnügt fi mit den Trümmern diejfer Größe, fie fann ihn nie heben und ftärfen. Sobald ver jtärfere Einfluß Hildes auf Solne wirkt, muß Naja aus ihrer Position verdrängt werden. Die rüdjichtslofe und jtarfe Hilde vernichtet die ſchwache

Theater-Forreipondenz. 361

Kaja gerade jo, wie Thea Elvftedt an Hedda Gabler ihren Einfluß auf Löoborg verliert.

Drüdender uno jtärfer als das Verbindungsband mit Kaja iſt Die Kette, durch welche Solneß an jeine Gattin Aline gefeilelt if. Was dem Charakter. Alines das Gepräge giebt, das iſt ihr Begriff der „Pflicht“. „Pflicht“ ift ihr Alles, das ganze Yeben iſt ihr eine „Pflicht“. Das Haus iſt abgebrannt, fie hatte das Fieber, fie follte die Kinder nicht nähren und fie that es dennoch: denn es war ja ihre „Pflicht“ und die Kinder ftarben an dieſer „Pflicht“. Das erlittene Unglück zehrt an ihr, aber fie klagt nie laut, freudlos und jchmeigend wandelt fie umher, ein leibhaftiges Jammerbild, denn zu dulden und zu jchweigen ift ja ihre „Pflicht“. Sie hat für des Gatten Beftrebungen nicht das mindeite Ver- itändnif, nur Mifbilligung, aber fie bringt es nie zu einer Ausſprache und Verftändigung, denn fich zu unterwerfen tft ja ihre „Pflicht“. Sie be- ſorgt die Wirthichaft, denn das iſt ja ihre „Pflicht“ ; fie beforgt die Ein- fäufe für Hilde, obwohl ihr das Mädchen tief unſympathiſch iſt, denn das it ihre „Pflicht“. Kein Saft, feine Kraft ift in dieſem Gejpenjt, Fein Muth, dem Wunfche des Herzens Raum zu geben und die Forderung, das Necht auf eigenes Glüd zu vertreten. Alles Warme, Belebende tft erftict und Ddurchfältet in der eifigen, jonnenlojen Atmofphäre diejer „Lrlicht”. „Pflicht“ das hört ſich „io falt und ſpitzig und jtechend“ an, bemerkt Hilde. An „dieſe Todte“ iſt Solneß bei lebendigem Yeibe gefettet, er, der ein freudelofes Yeben nicht tragen kann; dieſe Frau hat er beitändig um ih, an der jeder Blid, jede Bewegung eine ftumme lage und Anklage bedeutet, und die fich garnicht bewußt it, welche Qualen folche ſtummen Nlagen der Umgebung bereiten. Solneß glaubt an dem Unglüd jeiner rau einzig und allein jchuldig zu fein, an ihrem Unglüd der Kinder— lofigfeit; er meint, mit dem Tode der Kinder damals bei dem Brande jet ihr ganzes Lebensglück mit getödtet. Cr jagt: „line, die hatte aud ihren Beruf im Yeben. Ebenſowohl, wie ich den meinigen.

Aline, die hatte auch ihre Anlagen zum Bauen. Neine Häufer und Thüren und Pfeiler nichts von dem, mas ich jelber treibe. Kleine Hinderjeelen aufzubauen, Hilde. Kinderſeelen aufzubauen,

jo daß jie groß werden im Gleichgewicht und in jchönen, edlen Normen. So daß ſie fich erheben zu geraden, erwachjenen Menjcenfcelen. Das war's, wozu Aline Anlagen hatte.*

Solneß täufcht fich jehr, er hat Frau Aline viel zu hoch geichät. Eines Bejleren werden wir belehrt aus einem Gejpräch zwischen Hilde und Aline. Erſtere beklagt das traurige Schidjal der Frau Solneß, bejonders ven Tod der Kinder. Doch Frau Solnej meint, der Verluft der Kinder, das wäre eine höhere Fügung. Die hätten es jett jo gut, wie man cs fich nur denken fünne. Ueber die ſollte man fich bloß freuen. Und dann fährt ſie fort: „Nein, es find die fleinen Verlujte im Yeben, die einem wehe thun bis in die Seele hinein. Wenn man das Alles verliert, mas andere Yeute fajt für gar nichts adhten. Da verbrannten zum Berjpiel alle die alten Porträts an den Wänden. Und alle die alten jeidenen Kleider, die der Familie wer wei mie lange gehört hatten. Und die Spitien der Mutter und der Großmutter die verbrannten aud. Und denken Sie nur

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die Schmuckſachen! (ſchwermüthig) und dann alle die Puppen. Frau Aline hatte „neun wunderſchöne Puppen“, mit denen ſie immer zuſammen geweſen war, auch nachdem ſie erwachſen war, und auch, nachdem ſie ver— heirathet war, und „dann verbrannten fie ja die armen Dinger‘. Die zu reiten, da dachte Niemand dran. Ad, das ift ein trauriger Gedanke. Auf ihre Art waren die ja auch lebendige Weſen.“ Nun fennen mir Frau Aline

Aus dem Geſpräch mit ihr geht Hilde, der „etwas recht Warmes und Herzliches” nothmendiges Yebensbedürfnif ift, hervor wie aus einem „Grab: gewölbe*. Es iſt flar: von diefer Frau muß Hilde den Baumeifter be: freien, wenn fie ihn retten will. Aline fteht zwiſchen ihm und feinem Glück. Und Hilde fann und will ed nun nicht begreifen, „daß einer nad) jeinem Glück nicht greifen darf. Nach feinem eigenen Yeben nit! Bloß weil Jemand dazmwilchen fteht, den man fennt!” Ind nun fommen mir zu einem Wortaustaufch zwischen Hilde und Solneß, der recht eigentlich die Are des Dramas bedeutet, den Schlüjjel für das Verſtändniß des ganzen Stüds bietet: auf die foeben zitirten Worte Hildes bemerkt der Baumeifter: Jemand, an dem man nicht vorbei darf.

Hilde: Ich möchte wiſſen, ob man das im Grunde nicht dürfte. Sie find krank, Baumeister. Schwer frank glaub ich fait.

Solneß: Sagen Sie verrüdt, denn das meinen Sie je.

Hilde: Nein, am Berjtande, glaub ich, fehlt Ihnen weiter nichts.

Solneß: Wo fehlt’s mir denn? Heraus damit!

Hilde: Ob die Sache nit die ift, daß Sie mit einem fränflichen Gewiſſen zur Welt gefommen find.

Solneg: Mit einem Fränkliden Gewiſſen? Was tft denn das für ein Teufelsding?

Hilde: Ich meine, daß das Gewiſſen bei Ihnen recht ſchwächlich it. So zart gebaut. Daß es feinen Stoß verträgt. Daß es das, mas ſchwer tft, nicht heben noch tragen kann.

Solnef: Hm! Wie follte denn das Gewiſſen fein, wenn ich fragen darf!

Hilde: Ber Ihnen möcht ic am liebften, dah das Gewiſſen jo jo recht robuft wäre.

Ein wenig weiter heißt es, man märe glüdlicher, „wenn man ein recht Fräftiges, von Geſundheit ftrotendes Gewiſſen hätte. So daß man ſich das getraute, was man am liebjten möchte“. Darauf meint Solneß: Ich meinerfeits glaube, da die Meiften in dem Punkte ebenjo große Schwächlinge find, wie ich jelber.

Hilde: Mag jchon fein.

Die zitirte Szene legt den Kernpunkt des Dramas, das Tragiice darin bloß: Diejes Tragijche beruht auf dem Doppelcarafter des Menſchen als Egoiſt und Altruift. Hilde will, wie bereits gejagt it, dem Bau metiter feine alte Araft und Freiheit wieder verſchaffen. Sie will dem egoiftiichen, individualijtiichen Prinzip, das die Grundlage ihrer beiden Charaktere it, zum Siege verhelfen. Sie führt Solne immer wieder jeine frühere thatkräftige Senialität und Kühnheit vor Augen. Er ke raufcht fich in dieſer Erinnerung an fich jelbit; er will wieder der jein, der er war, er will den Beweis dafür geben, dal; er es bereits iſt, er

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will von Neuem ein Probeftüd liefern. Er entjchließt ji, den Thurm jeines eben gebauten, neuen Wohnhaufes am Tage der Einweihung wieder ſelbſt zu befteigen. Der Baumetjter ſoll jelber jo hoch fteigen, wie er bauen fann. Und wenn er dieſen Thurm bejtiegen hat, dann mill er nur nod eins bauen, etwas, das noch nie dagewejen iſt, zujammen mit Hilde, etwas jo Herrlihes und Großes, wie es fih nur die fühnite Phantaſie ausmalen fann: ein „Luftjchloß“, aber ein Luftſchloß mit einer „Grundmauer“, und da hoch oben wollen die beiden dann leben. Dieies „Luftſchloß“ iſt im Grunde gar nicht verjchieden von den vorher beiprochenen „Heimjtätten“ mit jpıigen hohen Thürmen. Es it dadurd jymbolifirt die völlige Ausbildung der Perjönlichfeit, der kraſſeſte Individualismus, ein Yeben in höherer freiheit und Selbjtherrlichkeit, als in jenen „Heimftätten für Menſchen“ eine jo ungeheure, ſchwindelnde, fonnennahe Höhe, wie es ſich die fühnfte Phantaſie nur ausmalen fann; aber es joll doch Fein Phantaſieſtück fein, es joll eine reale Unterlage, die Grundmauer haben, es joll aljo beruhen auf der ins Ungehcure gejteigerten, genialen Kraft Hildes und des Bau- meijters. Beide trauen fih eben eine jolde Kraft, ein ſolches Nietzſcheſches Uebermenjchenthum zu.

Der Tag, da das erwähnte Wohnhaus eingeweiht werden foll, ift da. Solnef bejteigt den Thurm bis zur Spite ein Schwindel ergreift ihn er ſtürzt zerjchmettert liegt er am Boden. Cr hatte ſich eben nur an feinem eigenen Bilde aus früherer Zeit beraujcht, er glaubte die frühere Kraft mieder zu bejisen, aber dieſe Kraft war jeht nur eitel Vhantajterei. Die einmal gebrochene Kraft ijt nicht mehr zu heilen. Und Hilde? Der Tod des Baumeifters trifft fie tief ins Herz, mie irr ftarrt jie auf ven Fallenden. Aber fie ift zu fraftvoll und muthig, um beim eriten Anfturm des Schidjals gebrochen zu merden. Wenigjtens gelang es ihr doch, den Baumeijter wieder jo hoch zu jehen, wie fie ihn fchon einmal gejehen hatte, wenn er ſich auch nicht dauernd und ficher auf der Höhe halten fonnte. Den Baumeijter wieder jo hoch geſehen zu haben, das tjt ihr ein Triumph. Und mährend jo gleichzeitig an Irrſinn grenzender Schmerz und triumphirende Freude ihre Seele durchftürmen, jagt fie, „wie in jtillem, irrem Triumph”: „Aber bis zur Spite fam er. Und ich hörte Harfen hoch oben. Mein mein Baumeijter!“

Es mu etwas Gkitatiiches, Vifionäres in der Art liegen, wie jie diefe Worte fpriht. Denn dahinter liegt noch die Vorjtellung verborgen, daß ſie jelbjt nicht nur eben jo hoch jteigen, jondern fich auch jo hod) dauernd halten wird, in Freiheit und Selbjtherrlichfeit, aus eigener Kraft dem eigenen Glüde lebend. Wird fie es? Mein! Wohl vertritt fie jegt noch, jung und im Grunde unerprobt, die Theorie von des Herzens Härtigfeit und der Seele Mitleidloſigkeit Sie iſt eine Illuſtration zu dem Sate des Philofophen Nietzſche: „Gebunden Herz, freier Geiſt. Wenn man fein Herz hart bindet und gefangen legt, kann man jeinem Geiſte viele Freiheiten geben.“ Aber auch in ihr jchlummern jene Krankheits— feime eines zu „zarten Gemijjens;“ und menn jie auch noch nicht groß gewachſen find und die ganze Seele durchwuchert yaben, von Zeit zu Zeit regen fie fih doch ganz leife: Als Hilde mit Aline Solneß ſpricht, da überjchleicht auch fie das Mitleid mit der unglüdjeligen Frau, wenn

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auch nur vorübergehend. Als ein gewiſſer Nagnar Brovik den Baumeiſter um eine Empfehluug bittet, legt fie für ihn Fürſprache ein, obwohl Solne dieje Empfehlung nur mit Schädigung jeiner eigenen Intereſſen geben kann. Als fie den auch oben zitirten Sat verfiht, man dürfe an dem vorüber gehen, was hindernd im Wege fteht, da meint fie doch: „Ach, wenn man doch die ganze Gejchichte verjchlafen könnte.” Und endlich: In der erften Nacht unter des Baumeiſters Dah träumt ihr, fie ſtürze „von einer un— geheuer hohen, fteilen Felsmand hinab.“ Auch Solnef; träumt öfter der: aleihen. Diefer Traum vom Fallen iſt die ſymboliſche Darftellung jenes Sefühls der Schwäche, von dem fehr bedeutende Männer rüdjichtsloie Ihat in geheimjten unbewachten Augenbliden überfallen werden: ſolche Menſchen ftehen auf denkbar höchjter Höhe menjchlicher Macht, fie halten jih für unbezmwinglih, wie vom Schidjal auserwählt und gefeit, um doh haben fie Augenblide: da taucht in ihren Seelen wie aus einem tiefiten, verborgenften Winkel das Gefühl menjchliher Gebrechlichkeit empor, erhebt fich grauenvoll und gefpenftiih die Ahnung nahen Sturzes.

Aus allem Dargelegten ergiebt jih als Problem des Dramas dus Verhältniß zwiſchen Egoismus und Altruismus. Cs tft dajjelbe Problem, das ſich auch in anderen Dramen Ibſens findet und das ich bei der Be iprehung von ‚„‚Rosmersholm‘ unlängit dargelegt habe. Was den Geſammt werth diejes Dramas betrifft, jo dürfte es wohl das ſchwächlichſte unter allen jein. Auf der Höhe feines Könnens hat Jbjen die große Fähigkeit, den mit Fleifh und Blut zu umkleiden und individuell darzujtellen. ‘a „Baumeijter Solneß“ dagegen find die Ideen doch nur zu einem Schatten: dafein gebracht. Wir haben es mehr mit perjonifizirten Begriffen zu thun. Auch die oft geradezu ins Mleinliche gehende Symbolik iſt als ein Vortheil nicht anzuerkennen. Doc bleibt es immer ein Werf \bjens, das der cin: gehenden Behandlung trog aller Mängel werth ift.

Warum das Berliner Theater feine Abonnenten mit diejer Aufführune beglüct hat, ijt nicht zu erjehen. Weder Publikum noch Schaufpieler find hier ibſenreif. Was foll man dazu jagen, daß die Nolle der Aline von der Daritellerin komiſch aufgefaßt wurde! Aline iſt unſympathiſch, aber doch eine durchaus tragische Geſtalt. Das Rublitum übrigens ging auf die verfehlten Intentionen der Darjtellerin mit größten und aufrichtigem Ver— anügen ein. Beſondere Heiterkeit erregten die neun Puppen, mit denen Aline geipielt hat. Die Damen, die im Parfet und in den Yogen ſich vor Lachen jihüttelten, wiffen gar nicht, daß fie jelber, auch wenn fie ſchon Großmütter fein follten, noch immer mit ſolchen Puppen im Ibſenſchen Sinne jpielen. Rühmend fann ich Fräulein von Pazatka nennen, die die Kaya mit richtigem Verftändni und der eigenthümlichen, vom Bann der Suggeftion erzwungenen Hingabe ſpielte.

19. 10. 99. Max Lorenz.

Politiſche Korrejpondenz.

Aus Dejterreid. 15. Oftober 1899.

Dad Minifterium Thun hat jein Ende erreicht. Seit Monaten war an demjelben nicht mehr zu zweifeln, da es feinen Weg gab, die dem Grafen Thun von der Krone gejtellte Aufgabe, den Reichsrath lebensfähig zu machen, in irgend einer Form zu löfen. Im Augenblide des Abſchluſſes der Negierungsthätigkeit de3 genannten Grafen und feiner parlamentarischen und bireaufratijhen Mitarbeiter legt man fich nothwendig die frage vor. wie dieje Herren überhaupt jemals daran denken fonnten, mit Erfolg zu arbeiten, und man fann darauf feine andere Antwort geben, als daß die einzelnen Elemente dieſes Minijteriums von jehr verichiedenen Voraus: jegungen ausgegangen jind und daß der gänzliche Mangel eines auf die zu erwartenden Ereignifje berechneten, deutlichen Programmes den Sturz dejjelben zur Folge haben mußte.

Das Nuftreten des Grafen Thun läßt fi ſachlich in gar feiner Weije erklären, ed kann wohl nur auf ganz perjönliche Beweggründe zurücgeführt werden; denn es ift ganz unmöglich, einem Manne, der als Vermwaltungsbeamter die wejt-öjterreichiihen und namentlich die böh- mischen Berhältnifje kennen gelernt hatte, diejelben phantaftiichen Wor- jtellungen von der Macht und den Mitteln eines öſterreichiſchen Minijter- präfidenten zuzujchreiben, von denen Graf Badeni erfüllt geweſen war. Diejer hatte Galizien zu regieren verjtanden und war der Meinung, daß die Künſte und noch mehr die rüdjichtslofen Nechtsbeugungen, die ihm dort über alle Schwierigkeiten Hinweggebolfen hatten, auch in den Erbländern zum ‚Ziele führen würden, wenn man nur rückſichtslos genug in der Anwendung jei. Seine Zuverſicht war durch die Wolle, die ihm bei der Bejeitigung de3 Ktoalitionsminijteriums Windiichgräß- Plener zugefallen war, begreifliher Weije geiteigert worden, ſie hat ihn von einem faljchen Schritte zum anderen fortgerijjen und hätte wohl zu noch gefährlicheren Gewaltthätigfeiten geführt, wenn die Krone bereit ge-

366 Politifhe Korreipondenz.

weien wäre, ihm dieſelben zu gejtatten. Graf Thun hat die Gelegenheit gehabt, den Irrweg feined Vorgängerd zu beobachten und den Schluf daraus zu ziehen, daß der offene Krieg gegen die Deutichen nicht geführt werden fünne, ohne die Grundlagen und die ſeit Maria Thereſia be— ftehenden bewährten Einrichtungen des Staated preißzugeben. Er fonnte nicht im Unflaren darüber fein, daß die Tichechen in feiner Weije geeignet find, die Aufgaben zu übernehmen, die biäher den Deutſchen zugefallen waren, dab fie am allerwenigiten gejammtöfterreihijche Intereſſen ım Auge haben, fondern abjichtlic) Verwirrung und Feindjeligkeit unter den Öjterreichiichen Nationen fördern, um im Trüben ihren böhmijchen Staat herausfiihen zu können. Sie wollen jo wenig von einer Kon: föderation der Nationen etwas wiljen, als von einem die nationalen Be- dürfniffe gerecht abjchäßenden, die Einheit der Verwaltung jedoch unbedingt fejthaltenden Zentralismus; ihnen ſchwebt immer nur die Abjiht vor, aus Böhmen ein zweited Ungarn zu Eonjtruiren, einen Staat, in weldjem die Tichechen ebenſo alleinherrichend werden. wie es die Magyaren in der jenfeitigen Neichshälfte thatjächlich geworden find. Darüber konnte ſich Graf Thun feinen Täufchungen Hingeben, auch wenn Herr Dr. Kaizl es versucht haben jollte, ihn von der Loyalität der tichechiichen Aniprüche zu überzeugen. Auch den Einfluß der Polen und der deutichen Kierifalen fann er doch nicht überichägt Haben, er fann nicht angenommen haben, daß dieſe im Stande jein würden, ihre politiichen Freunde zu jreiwilligem Verzichte auf alle ihre Lieblingspläne zu bewegen, nur damit Graf Thun Minijterpräfident bleiben Eönne?

Es ijt nicht wahrjcheinlih, daß die geheimen Pläne Thuns jemals das Licht der Deffentlichfeit erbliden werden, man wird jeinem Auftreten daher auch kaum jemals eine bejondere Bedeutung beilegen fünnen. Seine Regierung hat feinen anderen Zwed gehabt, als den Ausgleid mit Ungarn in Oejterreich zu oftroyiren und die Unhaltbarkeit der Badenischen Sprachen: verordnungen ad oculos zu demonjtriren; das Lebtere hat fie mit aller wiünjchenswerthen Bolljtändigkeit erreicht. Daß dazu auch der Bertrauensmann der Jungtſchechen mitwirken mußte, mag diejen wohl jehr unangenehm jein; es ijt daher begreiflich, daß fie ihren Groll den einjt jo gefeierten Kaizl fühlen laſſen; dennoch fönnen jie es nicht ungefchehen maden, das jie die Regierung in Händen gehabt haben und nichts damit anzufangen wußten. Es geht nicht an, die Betheiligung der gegenwärtigen Neich:- rathsmajorität am Minifterium Thun zu verjchweigen oder abzuleugnen und von einem zulünftigen Minijterium der Rechten al$ einer vielver: iprechenden parlamentarischen Neuheit zu Sprechen, der die Löſung der öjterreichifchen Berwidlungen gelingen könnte. Die Herren Dipauli, Kai! und Kaſt waren Vertreter der Rechten im Minifterium Thun, die echte bat ſich wiederholt demielben zur Verfügung geftellt; mehr könnte ſie nicht tun, wenn auch noch die Ebenhoch und Ferjancic mit Minifterportefewilles

Politiſche Korrefpondenz. 367

ausgeitattet würden. Nicht Thun allein, auch die Rechte ijt unterlegen, indem fie das Erbe Badenis anzutreten verjucht hat.

Dad neue Minijterium, das jich als ein Uebergangsminifterium eingeführt hat und nur aus vier Minijtern, im Uebrigen aus „Leitern“ der verwaiiten Minijterien beiteht, hat gar Feine Beziehungen zu den parlamentariichen Parteien, es joll die Gejchäfte im Auftrage der Krone jo lange führen, bi8 auf dem Wege der Koalition ein neues parla= mentarijches Minifterium entitehen kann. Mit diefer „Widmung“ ijt ihm vielleicht eine längere Dauer zugedacht, als die gegenwärtige Majorität des Reichsrathes annehmen zu wollen jcheint. Der Minifterpräfident Graf Manfred ClarysAldringen, früher Landes: Präfident von Schlejien, jeit Bacquehems wohlverdientem Berjinfen in ruhmloje Bergejjenheit Statt: halter von Steiermarf, bringt feine anderen Vorbedingungen für fein ſchwieriges Amt mit, al3 die genauejte Kenntniß der Bedürfniffe der Ver— waltung und der arbeitenden Bevölferung im Norden und Süden der Donau, dazu die unbejtrittene Eigenichaft, als Beamter den Verfehr mit allen reifen eifrig gejucht und daraus Belehrung über alle VBerhältnifje in den von ihm verwalteten Ländern geichöpft zu haben. Man weiß, daß er ein überzeugter Katholik it, fich jedoch niemals den Ultramontanen an— geichloffen hat. ein Umijtand, der für Selbitändigfeit in Auffaſſung und Willen jpricht. Er hat ji für alle Fälle darauf eingerichtet, die Regierung jo fange zu leiten, ald man feiner bedürfen wird; die Nefjortangelegen- heiten werden gewiß mit Geſchick behandelt werden: Männer wie Körber, Witteck, Hartel, Stribat find vollkommen geeignet, für die tadelloje Fort— führung der Gejchäfte zu bürgen. Graf Clary war von vornherein ent- ichlofjen, die Sprachenverordnungen für Böhmen einfach aufzuheben, „weil fie einfeitig und auf eine Weije zu Stande gelommen jeien, welche die Deutjchen verlegen mußte“; er beruft den NeichSrath. nachdem der Zujtand wie er vor dent Jahre 1897 in allen Sprachenangelegenheiten geberricht bat, wieder hergejtellt it; er wird dem Reichsrathe in fürzejter Friſt ein Spracengejeg zur Berathung unterbreiten, dad mit Berücjichtigung der von den nationalen Parteien namentlich aber in dem Pfingitprogramme der Deutjchen geäußerten Wünſche dad Staat3interefje zu wahren geeignet fein ſoll. Dies hat er nicht nur zu dem Vertretern der deutichen Parteien fondern auch zu den Jungtichechen geäußert, worauf dieje nicht anjtanden, ihn ihrerjeit3 ald einen Feind des tichechischen Volkes zu erklären, das befanntlidy ein angeborened Recht darauf zu bejigen vorgiebt, daß in jedem Orte des Königreiches, wenn derjelbe auch ausjchließlih von Deutjchen bewohnt ift, tichehhisch Gericht gehalten und verwaltet wird. Die Be: ziehungen des tichechiichen Bolfes zu dem Lande, dad vom Erzgebirge, Niefengebirge, vom Böhmerwalde und von einer im böhmiſch-mähriſchen Geſenke laufenden Linie begrenzt wird, bilden nämlich den Inhalt jenes geheimnißvollen Staatsrechtes, deſſen Wortlaut Niemand, aud)

368 Politifhe Korrefponden;.

fein Jung- und fein Alttſcheche Fennt, das aber das Palladium dei tſchechiſchen Volkes, oder vielmehr aller jener auf tichechiichem Boden überſchüſſigen Sünglinge bilden joll, die als Beamte in deutjchen Städten. Märkten und Dörfern angejtellt werden wollen. Daß auch die böhmiihen Feudalen dem Minijterium Clary die Oppofition ankündigen, fann nid Wunder nehmen. Diele Herren träumen davon, in dem neu zu errichtenden böhmischen Staate die erjte Geige jpielen zu dürfen und glauben, went nur erſt die demofratiichen Sungtichechen die Kajtanien aus dem Feuer geholt haben werden, jie mit Hilfe ihrer klerikalen Gefolgſchaft beieitigen und ſelbſt im Sejuitenfinne vegieren zu fönnen. Ihr öſterreichiſcher Patriotismus, von dem fie jtet3 überfließen, richtet Sich in erjter Linie gegen die bejtehende Ordnung im Staate und gegen die Tradition der regierenden Dynaſtie. Mit dieſen Ddejtruftiven Elementen wird fein öjterreichiiched Minifterium jemals rechnen Fönnen.

Die katholiſche Volkspartei und die Polen find jedenfall nicht ab: geneigt, mit dem Grafen Clary zu unterhandeln, jie danken ihm die Cr löjfung aus einer Geiellichaft, die ihnen jchon viel zu theuer geworden il. um fie nicht auch einmal gerne zu entbehren. Entſcheidend für die Miſſier des „Uebergangs-Miniſteriums“ wird aber felbjtverjtändlih die Haltung der Deutſchen jein. Nach Allem, was bis jetzt jowohl von der Anfid! des Kaiſers über die Gejtaltung der Verhältnifje im Staate und über di: Aufgaben der Regierung befannt geworden ift, kann ein erniter Zeil! über das, was den Deutichen bei der gegebenen Sadlage frommt un) nüßlich werden wird, faum bejtehen. Sie haben die Hand zu ergreifen. die ihnen geboten wird, fie haben die Regierung zu unterjtüßen, durd welche die Badenischen Sprachenverordnungen aufgehoben worden. Oppoſitio— gegen diejelbe wäre nicht etwa nur ein politiicher Fehler, jondern er Widerſpruch mit dem eigenen Programme, ein jelbjtmörderijcher Narrer- jtreih. Mögen unjere Radikalen immerhin noch Bürgichaften darsı verlangen, daß nicht wieder einmal im Verordnungswege der Beitt jtand der Deutjchen angetajtet werde; bis jie dieſe Bürgjchaften ix formuliren vermögen, twerden die Deutihen doch nicht umbin fönner. jenen Minijtern ihr Vertrauen zu bezeugen, die den Kampf gegen di Tſchechen nöthigenfalis aufnehmen, und fi für den Fall dieſes Kampie auch jeder anderen Regierung zur Verfügung zu jtellen? Wenn jemal: jo mögen fie ſich jegt den Rath Bismarcks zu Gemüthe führen, daß vor Allem darauf ankommt, ſich wieder in den Sattel zu ſchwingen, de Reiten werden ſie dann vielleicht erlernen. Dazu gehört jedoch eine a wiſſe Mäßigung der Forderungen, für die unfere Radikalen aller dings wenig Verjtändniß zeigen. Der vielgenannte Abgeordnete ol’ dejjen Popularität längit über die Schönerers hinausgewachſen ift, verlanc: u. U. eine Zuficherung der Krone, nie wieder von dem im 8 14 des & jepes über die Nechtsvertretung der Negierung eingeräumten Rechte der

Politifhe Korreſpondenz. 369

Gejeggebung im Berordnungswege Gebrauch machen zu wollen. Davon fann wohl nicht die Rede fein, folange die Objtruftion eine Waffe der Minoritätparteien bleibt; denn man fann doch von einer Negierung nicht erwarten, daß fie fich freiwillig jede Mittels benimmt, die Staats— geſchäfte fortzuführen für den Fall, daß das Parlament feine Mitwirkung hierzu versagt. Die Deutſchen müfjen an der Regierung theilnehmen, dann werden fie nicht in die Gefahr fommen, durd) den $ 14 vergewaltigt zu werden; ihre Aufgabe ift ed, nachdem die Krone ſich von der Slloyalität der Tſchechen überzeugt hat, eine Negierung zu ermöglichen, welche ebenjo den nationalen Bedürfnifjen der Deutichen wie den gejammtftaatlichen Intereſſen entſpricht. Die verewigte Verfafjungspartei hat fich dazu unfähig gezeigt: e3 wird ſich num erweijen, ob. die auf Grund eines nationalen Programms geeinigten deutſchen Parteien durch die Erfahrungen der legten Jahre klüger und widerjtandsfähiger geworden find. Unter diefen Erfehrungen ift nicht die werthlofefte, daß die Tichechen nur deshalb aus der Regierung entfernt werden, weil fie mehr für jich in Anſpruch genommen haben, als der öjterreidhiiche Staat ihnen gewähren kann und darf. hre politische Unmäßigfeit hat ihren Fall verurfaht. Die Deutichen können Die angejtrebte neue Koalition ruhig abwarten, vorausgejeßt, dab fie das Minifterium lary-Aldringen, da3 feiner überwiegenden Mehr: beit nad) aus ehrlichen Deutſchen zufammengefegt ijt, im Amte erhalten. *

Der ſozialdemokratiſche Parteitag in Hannover.

Der vom 9. bis 14. Oftober in Hannover abgehaltene ſozialdemo— fratifche Parteitag iſt ein Ereigniß, an dem wir hier nicht mit einigen furzen Bemerkungen vorbeigehen können, das im Gegentheil eine genauere Betrachtung verlangt. Er jtellt eine neue bedeutfame Etappe auf der Bahn des Wandel3 der ſozialdemokratiſchen Anjchauungen dar, er iſt viel- leicht die wichtigſte Tagung der deutichen Sozialdemokratie jeit der Auf— hebung de3 Sozialijtengejeges.

Schon jeit dem Erfurter Tage (1891), auf dem der Marxismus als geichlofjened Syitem in dem neuen WBarteiprogramm zur offiziellen Ans erfennung gelangte, geht durd die fozialdemokratiiche Partei ein Zwieſpalt zwijchen der alten revolutionären und einer neuen reformerijchen Richtung, die ſich allmählih in einen immer entjchiedeneren Gegenſatz zu den marziftiihen Boltrinen gejeßt hat. Zunächſt lediglich die Wichtigkeit der Aufgaben der Gegenwart dem revolutionären Endziel gegenüber betonend und fi auf die praftifchen politiichen und gewerfjchaftlichen Fragen be—

Preußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 2. 24

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ichränfend, ging diefe Richtung dann, ald durch das eingehende Studium der Agrarfrage der Glaube an die abjolute Gültigkeit der marriftijchen Theorien in weiten Kreiſen der Partei erjchüttert war, zu einer gründ« lihen Kritik der theoretiihen Grundanfchauungen über, die in dem be fannten Buch Bernjteins*) und in jeiner Verwerfung faſt des ganzen marziftiichen Syſtems gipfelte.

Um das Ergebniß der Verhandlungen des hannöverſchen Barteitags, die hier im Allgemeinen ald aus der Tagesprefje befannt vorausgejeßt werden miüjjen, richtig beurtheilen zu können, muß man jich in aller Kürze den wejentlihen Inhalt der bisherigen fozialdemokratiichen Gedanken— welt vergegenwärtigen.

Die revolutionäre ſozialdemokratiſche Theorie, wie fie von Marr be: gründet und von Engels weiter ausgebaut ift, wurzelt in der Ueber: zeugung von der abjoluten Hoffnungslofigfeit der Lage der arbeiten: den Klaſſen innerhalb der heutigen Gejellichaftdordnung., Denn der Kapitalismus erzeuge durch die rajtloje Ausdehnung und VBervolllommmung des majchinellen Großbetriebes „eine das durchichnittliche Beſchäftigung— bedürfniß des Kapitals überſchreitende Anzahl disponibler Lohnarbeiter. eine vollſtändige induſtrielle Reſervearmee, disponibel für die Zeiten, wo die Induſtrie mit Hochdrud arbeitet, aufs Pflafter geworfen durch den nothiwendig folgenden Krach, zu allen Zeiten ein Bleigewicht an den Füßen der Urbeiterklajje in ihrem Eriltenzlampf mit dem Kapital, ein Negulator zur Niederhaltung des Arbeitslohnes auf dem, dem fapitaliftiihen Bedürfniß angemesjenen niedrigen Niveau" (Engel3, Herrn Eugen Dühringd Ummälzung der Wiſſenſchaft, S. 24. „Das Gejeß, welches die indujtrielle Rejervearmee jtet3 mit Umfang und Energie der Napitalalfumulation im Gleichgewicht Hält, jchmiedet den Arbeiter feiter an das Kapital, als den Prometheus die Meile de Hephäjto® an den Fellen. Es bedingt eine der Affumulation von Kapital entfprehende Allumulation von Elend. Die Altumulation von Reichthum auf dem einen Pol ift aljo zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitöqual, Sklaverei, Unwiſſenheit, Brutalifirung und moraliſchet Degradation auf dem Gegenpol* (Marz, Kapital I, ©. 611). „Und von der kapitaliſtiſchen Produftionsmweije eine andere Vertheilung der Produkt erwarten,“ ſetzt Engel hinzu, „hieße verlangen, die Elektroden einer Batterie jollten dad Waſſer unzerjegt Iafjen, folange fie mit der Batteri: in Verbindung jtehen, und nicht am pojitiven Bol Sauerjtoff entwideln und am negativen Wajjerjtoff.“

Aus diejer gänzlich hoffnungslofen Lage kann fid) die Arbeiterklafje nur durch Die Befeitigung des Kapitalismus, durch die Eroberung der Staat&gemalt

*) Die Borausfegungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozial demofratie. Bon Eduard Bernftein. Stuttgart 1899.

Politiſche Korreipondenz. 371

und Die revolutionäre Umgeſtaltung der ganzen Fapitaliftischen Gejellichafts- ordnung retten. Dieje Umgeftaltung wird durch die Akkumulation des Kapitald und die Konzentration der Betriebe vorbereitet; denn dadurch wird einmal die fozialiftifche Organifation der Gejellichaft weſent— lich vereinfacht und außerdem wird durch zunehmende Proletarifirung der Mittelichichten das revolutionäre Proletarierheer bejtändig vergrößert, bis e3 jchließlic die große Mehrheit der Bevölkerung umfaßt und damit zu einer uniderjtehlihen Macht geworden ijt.

Der Zuſammenbruch des Kapitalismus wird durch den in ihm ent- baltenen Widerſpruch zwilhen Broduftion und Ronfumtion be= jchleunigt. Durch die Beichränfung der Konjumtion der Mafjen auf ein Hungerminimum untergräbt fich der Kapitalismus den eigenen inneren Marf; er ijt gezwungen, den ganzen Erdkreis nad neuen Konſumenten abzu= jagen; die Ausdehnung des Abſatzes kann aber mit der Ausdehnung der Produktion niht Schritt halten. Die Kollijion wird unvermeidlich; periodijche Kriſen jtellen fid) ein, in denen die fapitoliftiiche Produktions» weije ihrer eigenen Unfähigkeit zur fjerneren Verwaltung der Produktiv— fräfte überführt wird, bis dann jchließlih mit dem Stoden der weiteren Ausdehnung der Märkte der Kapitalismus in einer ungeheueren Kriſis zujammenbredhen muß. Alsdann tritt die Arbeiterklaffe in Aktion, ver— itaatlicht oder vergejellichaftet die Produftiongmittel und hebt damit den dem Kapitalismus immanenten Widerjpruch zwijchen Broduftion und Kon— jumtion endgültig auf, um im Sozialismus „eine ununterbrodyene, ſtets rajcher fortichreitende und praktiſch jchranfenloje Steigerung der Produftion herbeizufuhren, die „allen Gejellichaftögliedern die voll— ftändig freie Ausbildung und Bethätigung ihrer körperlichen und geijtigen Anlagen garantirt“. Und nicht in nebelbafter Ferne liegt diefe Möglich: feit; im Gegentheil, fie iſt ſchon jegt da. Schon jetzt hat Die Ent- widelung der Produftion einen Höhrgrad erreicht, auf dem Die Leitung der Gejellichaft durch die Kapitalijtenklajje „nicht nur überflüffig, jondern auch ökonomiſch, politiih und intelleftuell ein Hinderniß der Entwidelung geworden ift. Iſt der politiiche und intellektuelle Bankerott der Bourgeoifie ihr jelbft kaum nod ein Geheimniß, jo wiederholt ſich ihr ökonomiſcher Banterott regelmäßig alle zehn Fahre.“

Dad ift großentheild® mit Engeld eigenen Worten in aller Kürze der Hauptinhalt der jozialdemokratiichen Lehre, deren jtrenge logiiche Konfequenz, die Prümifien einmal zugegeben, fait Jeden, der ihr näher getreten ijt, für längere oder fürzere Zeit in ihren Bann gezogen bat. Das it das Zauberlied, das ſeit Jahrzehnten der deutichen Arbeiterichaft immer wieder erflungen iſt und Hunderttaujende, ja Millionen begeijtert hat. Es ift durch und durd) revolutionär; das Endziel, die Bejeitigung des Kapitalismus, ericheint in greiibare Nähe gerüdt; praktiſche Arbeit auf_dem Boden der heutigen Gejellihaft hat nur geringen Werth.

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872 Politiſche Korrefpondenz.

Dad war die Stimmung, die den größten Theil der Sozialdemokratie unter dem Sozialiftengejeß und namentlich in den Fahren 1890 und 1891 erfüllte, ald die großen Wahlerfolge im Februar 1890, Bismarcks Ent- loffung und die Aufhebung des Sozialiftengefeges ihr Selbftvertrauen und ihren Optimismus aufs Höchſte gejteigert hatten. Damals konnte Friedrid Engel3 den „Umſchwung der Dinge von Grund aus“ für 1898 in Au: fiht ftellen, damal3 fonnte Bebel auf dem Erfurter Barteitage erflären:

„Die bürgerliche Gejellichaft arbeitet jo kräftig auf ihren eigenen Untergang los, daß wir nur den Moment abzuwarten brauchen, in dem wir die ihren Händen entfallende Gewalt aufzunehmen haben. (Zuſtim— mung). Da, ih bin überzeugt, die Verwirflihung unjerer legten Ziele ijt jo nahe, daß Wenige in diefem Gaale jind, die diefen Tag nicht erleben werden.“ (Bemegung).

„Wenn wir nun jehen, was für eine folofjale Ummwälzung auf öfone- mifhem und politiichem Gebiet jtattgefunden hat, wenn wir jehen, wie alle Berhältniffe ſich allmählih jo entwidelten, daß fein vernünftiger Menſch mehr darüber im Zweifel fein kann, daß die Dinge auf eine längere Dauer jo nidht mehr weiter gehen fünnen und darum die Kataſtrophe nur noch eine Frage der Zeit ijt, dann iſt ed nicht nur natürlich, dann ift es nothwendig, daß man zu Anjchauungen. wie ich fie habe, fommt und fie auch ausſpricht.“

Mocte Bollmar auch jhon damals Bebeld Anfichten al3 den Wunder: glauben eined fitatiferd verhöhnen, die überwältigende Mehrheit der Partei jtand unzweifelhaft grundjägli auf der Seite von Engel! und Bebel, obwohl die dem Kapitalismus noch gewährte Gnadenfrift manchem etwas allzu kurz erjchienen jein mag.

Zu wiederholten Malen Hat Bebel auch in der Folgezeit den „Kladderadatich“ als bevoritehend prophezeit, unter dem er nicht, wie viel: fach) angenommen worden ijt, eine fiegreiche revolutionäre Erhebung der Arbeiterflafie, jondern ganz im Engelöihen Sinne den Zufammenbrud des kapitaliſtiſchen Syſtems in einer ungeheueren Kriſis verjteht, der die Gejellichaft zur Einführung des Sozialismus zwingen würde. Won dieſer phantaftiihen Anjchauung ijt Bebel und mit ihm ein Theil der Partei auch heute noch erfüllt. In Hannover hat er erklärt, er fei auch heute noch davon überzeugt, daß einmal wenn auch nicht jo bald, wie er früher geglaubt in Folge der Ueberproduftion und bei der Unmöglichkeit, neue Exportgebiete zu finden, eine Periode chronischer Kriſen eintreten werde, in der bei Arbeitern wie Unternehmern die „allgemeine Ueberzeugung entiteht, jo kann ed nit mehr weiter geben, die Grundlage der bürgerlichen Gejellichaft ift abjolut unhaltbar, wir müfjen und zur Schaffung einer neuen Grundlage entichließen.“ Nur jo ijt es zu verjtehen, daß er auf einer Seite den Gedanten an eine ge waltjame, revolutionäre Erhebung ſtets mit Entrüftung von ſich wies, auf

Politiſche Korrefponden;. 373

der anderen Seite aber von der baldigen Verwirklichung des Sozialismus träumte.

Es kann hier nicht meine Aufgabe fein, die naive Vorjtellung, der Zuſammenbruch unferer Exportinduftrie würde die Arbeiter ins gelobte Land ded Sozialismus führen, näher zu fritifiren. Ich bejchränfe mich hier darauf, referivend feſtzuſtellen, daß dieſes Hauptitiid des bisherigen jozialdemofratiihen Katechismus auf den hannoverſchen Parteitag nicht nur von den Neformern, jondern auch von den jcharffinnigeren Köpfen unter den Radikalen rüdjicht3[los verworfen worden iſt; Bebel jtand hier mit jeiner bedingten Bertheidigung diejer Idee ganz allein. Bernitein und David lehnten fie rundweg ab, Auer hat die Kladderadatſch-Idee graufam ver- böhnt, aber auch Kautsky will nicht3 von der „lädherlichen Zufammenbruchd- theorie“ wiſſen; er hält fie für jo „idiotiſch““ daß er fie jogar allen unzweideutigen Stellen in Engels Schriften*) zum Trotz einfach für „legendär“ erklärte. „Hätte Engeld da3 gejagt, jo wäre er nicht der große Denker gewejen, der er war, er wäre ein ſolcher Idiot geweſen, daß fein einziger Wahlkreiß ihn zu feinem Delegirten auf den Varteitag ge= wählt hätte.“ Auer war jo bo8haft, jofort darauf aufmerkſam zu machen, wie wenig jchmeichelhaft diefer Sag für Bebel fei, nachdem jchon vorher David Kautskys Verleugnungen der Srijentheorie gegenüber ausgerufen hatte: „Soll fie nicht mehr gelten, gut, jagen wir das, dann find wir einig! Spielen wir aber nicht Verjted, jagen wir, wir haben dieje Theorie al3 ein läherlihes Märchen erfannt.“

Mit der Aufgabe der Zujammenbruchstheorie hat die Sozialdemokratie eines ihrer faszinirenditen Argumente aufgegeben. Ihr feljenjefter Glaube en das herrliche ſozialiſtiſche Jenſeits beruhte in eriter Linie auf der kühnen und großen Perſpektive, daß das kapitaliſtiſche Diesjeitd an jeinen inneren Widerſprüchen in nicht ferner Zeit von ſelbſt zuſammenbrechen, unter der unendlichen Fülle des Reichthums, den es nicht zu verwenden vermag, von jelbit erſticken werde.

Giebt man dieje Lehre auf, jo kann man den Sieg ded Sozialismus nur noch von der Sonzentration und Alkkumulation der Betriebe und Kapitalien erwarten; damit ſetzt man an die Stelle einer baldigen drama— tiihen Kataſtrophe, in der der angebliche vollſtändige Wahnjinn unjerer Geſellſchaftsordnung ſich offenbart, einen fomplizirten und langwierigen Prozeß, der mie jelbjt die Nadifalen für die Landwirthſchaft nicht un— bedingt leugnen zahlreiche gegentheilige Tendenzen aufweiſt, dejjen Ab— wicklung beftenfalld noch viele Jahrzehnte, vielleicht viele Sahrhunderte dauern muß, und der jchon deshalb nicht geeignet ijt, die Mafjen mit unbedingter Siegedzuverficht und revolutionäre Begeifterung zu erfüllen.

*) Mit Marx liegt es in der That anders; eine fo jchroff zugelpigte Krijen« theorie, wie fie Engels im Antivühring entmwidelt bat, findet jih im „Kapital“ nicht.

374 Politifhe Korrefpondenz.

Mit dem Fallenlafjen des grenzenlojen Optimismus für die jozia- lite Zukunft geht die Aufgabe des abjoluten Peſſimismus für die Fapita- fiftiiche Gegenwart Hand in Hand. Auch die Lehre von der zunehmenden DVerelendung oder mindejtend der unbedingten Hoffnungsloſigkeit der Arbeiter unter dem Kapitalismus kann nad) den Verhandlungen in Hannover al3 von allen Seiten aufgegeben gelten. Der von Bebel geprägte Begriff der „relativen Verelendung“ fann nur als ſchwache Verhüllung des eingetretenen Rückzuges gelten, und mit Recht Hat David aud im diejer Frage fich gegen das „Verſteckſpielen“ gewandt: „Spielen wir nicht Verited, fondern erllären wir ruhig: dieſe Pojition des Programms über die Verelendung ift ein Irrthum.“

Damit bricht aber auch der andere Eckſtein des Revolutionarigmus aus. Sit die Lage der Arbeiter in der heutigen Gejellihaft3ordnung feine unbedingt hoffnungsloje, findet fchon Heute ein Aufſteigen der Arbeiterklafje jtatt, ermöglicht ſchon die Gewerkſchaftsbewegung, die jozialpolitifche Gejeßgebung , die genofjenfchaftliche Organifation u. A. m. die jtändige Hebung ihrer Lebenslage, dann gilt ed doch, alle Kräfte auf dieje Aufgaben zu fonzentriren, jtatt in peſſimiſtiſcher Verzweiflung ar der Gegenwart alle Heil vom zukünftigen Kladderadatſch oder von dem fürchterlichen Salto mortale der jozialen Revolution zu erwarten.

Heberlegt man jich das Gejammtergebniß der Bernjtein-Debatte auf dem diesjährigen Parteitag, jo fieht man, daß die beiden Haupttheorien der bisherigen jozialdemokratijchen Gedanfenwelt, auf denen ihr Revolu tionarismus in erjter Linie beruhte, die Theorie von der abjoluten Hof: nungslofigfeit der Lage des Proletariat3 unter der heutigen Gejellichaft:: ordnung und die Lehre vom baldigen Zuſammenbruch des Kapitaliämus in einer ungeheueren Krifis, im Großen und Ganzen von der radikalen. wie der opportuniftiichen Seite als thatſächlich aufgegeben gelten können: joweit man unter allen möglichen Verklaufulirungen fcheinbar noch an ihnen jejthält, hat man fie wenigſtens aller praftifchen Bedeutung ent Heide. Der Sieg der Neformer ijt in diejen beiden Punkten ein vol; jtändiger, ſodaß fich der prinzipielle Gegenjag der beiden Richtungen im Wejentlichen auf eine verjchiedene Auffafjung der Konzentration: theorie zujpißt.

Für die Radikalen hat die Konzentrationstheorie abjolute Bedeutung; in der Indujtrie, wie in der Landwirthichaft und im Handel vollzieit fi nach ihnen eine Zufammenballung der Kapitalien, dringt der Grof- betrieb ſiegreich vor und jchafft die technijchen und adminijtrativen Bor: bedingungen für die Sozialifirung der Produktion. Trotz der nicht mehr ae leugneten Berjchiedenheit der Formen, in denen fich dieier Prozeß im Ge werbe und in der Landwirthſchaft abjpielt, ift das Endergebniß nach ihnen über: all dafjelbe: Proletarifirung der Mitteljchichten, der Handwerker und Bauern bejtändige Vergrößerung der „Tozialrevolutionären Armee,“ die allmählich

Bolitiſche Korrefpondenz. 375

jo anjchwellen wird, daß fie die Staatdgewalt niederwerfen und in der revolutionären Diktatur des Proletariatd die völlige Umgejftaltung der Gejellichaft vollziehen fann. Am deutlichiten kommt dieſer Gedanfengang in den Reden der Roja Quremburg zum Ausdrud:

„Die Genoijen, die glauben, in Ruhe, ohne Kataklysmus die Gejell- ichaft in den Sozialismus hinüberleiten zu fünnen. jtehen durchaus nicht auf Hijtoriihem Boden. Wir erjtreben eine gänzlihe Umbildung der berrichenden kapitaliſtiſchen Gejellichaft3ordnung, die nicht auf dem Wege der joztalen Reform herbeigeführt werden kann.“

Diejen Anjchauungen jtehen Bernftein und feine Anhänger durchaus ablehnend gegenüber, indem fie der Slonzentrationdtheorie nur eine jehr bedingte Gültigkeit zujprechen. Fir das eine große Gebiet alles wirth— ichaftlichen Lebens, für die Landwirthichaft, leugnen fie ihre Richtigkeit rundweg und behaupten, daß bier die Entwidelung viel eher in der Richtung der weiteren Ausbildung des Mittel- und Slleinbetriebed ver: laufe. Die in Induſtrie und Handel unzweifelhaft in hohem Grade vorhandene Tendenz zur Betriebsfonzentration erkennt Bernitein an, obwohl er ihre Intenfität etwas zu unterfchägen ſcheint. Mit vollem Recht betont er aber, daß die veränderten gewerblichen Organijations- formen jehr mannigfaltige, fomplizirte und ſich gegenjeitig kreuzende Intereſſengegenſätze jchaffen, nicht aber einfach, wie die Radikalen annehmen, ein einheitliches jtändig wachjendes „jozialrevolutionäres Heer” einer Kleinen Ausbeuterklaffe gegenüberjtellen.

Der Entwidelungslehre Bernjteins und feiner Anhänger fehlt jede revolutionäre Spige; jie ijt durchaus und bewußt evolutionijtiich. Bernſtein fennt feine abgrundtiefe Kluft zwiſchen kapitaliſtiſcher umd ſozialiſtiſcher GBejellichaftsordnung, die nur die Revolution zu überbrüden vermöchte. Sein Sozialismus ift im Grunde genommen nicht Anderes ald die Vor- ftellung einer ftändig fortichreitenden Verbeſſerung der volföwirthichaftlichen Organifation, auf die Staat und Gejellihajt immer größeren Einfluß gewinnen, verbunden mit einer allmählichen Hebung der Lage der arbei- tenden Klaſſen. Das find Unfchauungen, die auch bei den jogenannten bürgerlichen Parteien nur vereinzelt auf prinzipiellen Widerſpruch jtoßen werden. Wer leugnet, daß unjere volk3wirthichaftlihe Organifation im hohen Grade verbefjerungsbedürftig ijt, und wer wird bejtreiten, daß unjere Zeit von der Tendenz beherrſcht ijt, alle Stantsthätigfeit mehr und mehr in Wirthichaftspolitit und Sozialpolitif zu verwandeln!

Obwohl die Anjchauungen Bernjteins und feiner Anhänger zu den revolutionären Doltrinen der Sozialdemokratie, die ſich vor weniger als einen Dezennium noch der unbeitrittenen Anerkennung erfreuten, in unverſöhn— lihem Gegenfaß ftehen, obwohl er Alles verbrennt, was die Partei bisher angebetet hat, hat fi) der Parteitag nicht entichliegen können, mit den opportus= niftiichen Ideen reinen Tiſch zu machen. Während jeinerzeit die „ungen“,

376 Bolittide Korreipondenz.

deren Anfichten ſich nur unmefentlid von der offiziellen Parteiboftrin unterſchieden, kurzer Hand außgejchlofjen wurden, hat es der Sozialdemokratie diesmal troß alles vorherigen Gejchreies der jächfiichen Revolutionäre an der erforderlichen Energie zur entjchiedenen Stellungnahme gegen den Opportunismus gefehlt, die allerding® wohl die Partei in zwei Stüde zerriffen hätte. „Der Sceiterhaufen war ſchon da,“ wie Bollmar böhnte, „aber die Zündhölzchen wollten nicht anbrennen, und die Kraft hat nicht audgereiht, und auf den Sceiterhaufen zu werfen!“ Anjchauungen, die die volljtändige Negation der Marx-Engelsſchen revolutionären Ideen bedeuten, können nunmehr al3 legaler Bejtandtheil der jozioldemofratijchen Gedantenwelt angejehen werden: dad iſt dad wichtigſte Ergebniß des hannoverſchen Parteitags.

Aber nicht nur, daß die Einheitlichkeit der ſozialdemokratiſchen An— ſchauungen zerriſſen iſt, auch der Radikalismus ſelbſt hat ſich dem Einfluß opportuniſtiſcher Vorſtellungen nicht zu entziehen vermocht. Auch unter den Revolutionären dürfte Niemand fein, der an den baldigen Zujammen- bruch unjerer Gejellihaft3ordnung glaubte, der die Lage der Arbeiter in der Gegenwart für unbedingt hoffnunglos hielte. Auch für den Radikaliamus in der jozialdemofratifchen Partei ift, wie jchon oben angedeutet, der Sozialidmus nur ald Endprodukt eined langwierigen und fomplizirten Ent- widelungsprozejje3 denkbar, der nicht nur der revolutionären Propaganda, fondern aud; und in erjter Linie der praftiichen Arbeit, der Iangjamen Hebung der Arbeiterklafje gewidmet fein muß. So wild ſich der Revolu— tionaridmus einer Luxemburg und Zetfin noch gebärdet, jieht man genauer zu, jo hat er doch jchliehlich einen recht akademijchen Charakter. Die Revolution ift auch den Radikalften der Radikalen nicht mehr die gejprenate Thür, durch die der Arbeiter aus der tiefiten Nacht des kapitaliſtiſchen Elends auf einmal in das jonnenbeglänzte Paradied des Sozialidmus ein- tritt; fie ift auch ihnen jeßt nur der Schlußjtein, oder vielleicht richtiger die deforative Spige eines großen Gebäudes, das noch nicht allzu weit über die Fundamente gediehen ift.

Das interefjante Redeturnier in Hannover hat die Fülle von Intelligenz, von frijchem, geiftigen Leben, die in der Sozialdemokratie ſteckt, deutlich offenbart. Mit derjelben rückſichtsloſen Schärfe, mit der fie bisher die bejtehende Geſellſchaftsordnung kritiſirt hat, Fritifirt fie jeßt ihre eigenen Anſchauungen; was die Prüfung nicht bejteht, wird kurzer Hand zum alten Eijen geworfen. Die Ummandlung aller Ideen, die ji) vollzieht, ijt jchon weit vorgejchritten und für Jeden, der die Augen nicht abfichtlich ver: ihließt, offenkundig. Sieht fi) doc) jelbit die „Kölnische Zeitung“ zu der Erklärung genötbigt: „Der Streit, ob die Sozialdemokratie in einer lang: ſamen Mauferung begriffen ift, ift für ernithafte Yeute erledigt, mögen die Scharfmacher auc noch jo betrübte Gejichter machen.“

Welchen Einfluß wird der Wandel ihrer theoretiihen Anjchauungen

Poliliſche Korreſpondenz. 377

auf die praktiſche Politik der Sozialdemokratie und auf die weitere Ent— widelung der deutſchen Parteiverhältnifje haben? Das ift die wichtige und ſchwierige Frage, die ſich und jet aufdrängt, deren Erörterung aber einer jpäteren Betrachtung vorbehalten bleiben mag; vielleiht wird ſich ſchon im nädjten Heft Gelegenheit bieten, auf diefen Punkt genauer einzugehen, wenn wir willen werden, ob der Verſuch ded Abgeordneten Bafjermann, eine wirklich arbeiterfreundlihe Politit zu treiben, eine Spaltung der nationalliberalen Partei zur Folge hat oder nicht. V.

Der Ausbruch des ſüdafrikaniſchen Krieges.

Der ſüdafrikaniſche Krieg iſt durch das Ultimatum des Präſidenten Krüger ſchneller zum Ausbruch gekommen, als man annahm. Die Buren haben nicht abwarten wollen, bis England ſeine Rüſtungen vollendete und ſeine geſammelte Streitmacht an ihren Grenzen aufmarſchiren ließ, um ſeine Forderungen auf der Spitze des Schwertes zu überreichen, ſondern haben ihrerſeits die Initiative ergriffen, ihre Mannſchaften zuſammen— gezogen und den Krieg provozirt. Seit Napoleons Tagen, haben die engliſchen Staatsmänner geſagt, ſei in ſolcher Sprache nicht zu ihrem Lande geredet worden. Nicht mit Unrecht. Aber nicht aus Uebermuth haben die Buren dieje herausfordernde Haltung eingenommen, fondern da der Krieg ihnen einmal unvermeidlich deuchte, jo wollten fie fich die jtrategifhen Vortheile, die ihnen ihr Vorjprung in der Mobilijation ges mwährte, nicht entgehen Infjen und warfen den Engländern den Handſchuh ins Geſicht. Dad Ultimatum war nicht geftellt, um angenommen zu werden oder noch irgend eine Verhandlung zu ermöglichen, jondern im Gegentheil, um fie abzujchneiden und den Krieg auf der Stelle zu erzwingen.

Auch auf den Urſprung und den eigentlichen Grund dieſer kriegeriſchen Ereigniſſe wirft dieſer Vorgang ſein Licht. Wie ſo häufig bei großen hiſtoriſchen Kataſtrophen iſt auch hier der letzte Differenzpunkt, der zum Kriege führt, anſcheinend ſo klein, daß man wohl fragen mag, was eigentlich den blutigen Waffengang nöthig macht. Die Buren haben die Hauptforderung der Engländer, den Uitlanders nad) fünfjährigem Aufenthalt das Stimmredt zu verleihen, im Prinzip zugejtanden, dieje Konzejjion je- doch an die Bedingung gelnüpft, daß England feinen Anſpruch auf Suzeränität aufgebe und die volle Suveränität Trandvaald anerfennee Wenn man nun bedenft, daß die Majorität der Einwohner Transvaals bereit3 engliſch ift und bei der Ausdehnung des Minenbetriebed noch in jtetem Wachjen,

378 Bolitiſche KRorrefponbenz,

daß alfo im Laufe weniger Jahre auch die Majorität der Wähler un der Nepublif aus Engländern beftehen müßte, jo jieht man, daß die Suveränitäts frage praftiich garnicht die große Bedeutung hat, die jonjt dem Prinzip innewohnt. Ungenommen, die engliihe Regierung hätte auf alle umd jede Suveränitätsrechte über Transvaal verzichtet, jo wäre Ddiejer Staat mit der Zeit dennoh ein englijch regierte® Gebiet geworden, und die Regierung in diefem Gebiet hätte wegen de3 natürlichen Gegen: ſatzes gegen das in die Minorität geworfene Buren Element ihren Anſchluß bei England gefucht, und England hätte damit vielleicht mehr Einfluß gewonnen, als bei dem unbejtimmten und bejtrittenen Recht der Suzeränität, dad fortwährend zu Sompetenztonflitten Anl; giebt. Weshalb hat die engliiche Regierung alfo dieſe natürliche Ent widlung nicht einfach) abgewartet? Die Antwort: aus Herrſchſucht und Habiucht, aus unerfättlicher Eroberungsgier, mit der man heut in Deutid- land bei der Hand ift, genügt doch wohl nicht zur Erklärung. Dieler Krieg iſt von fol einer Tragweite, daß die engliichen Staatdmänner jıd wohl werden überlegt haben, ob jie fich darauf einlafjen jollen. Der Vergleich von einem Rieſen, der über einen Zwerg berfällt, paßt midi ganz. Die fede Art, mit der die Buren endlich, ohne die legte Möglichlen von Verhandlungen zu erjchöpfen, auf ihren Gegner losgegangen jind und ihm mit ihrem Ultimatum ins Gejicht geichlagen haben, zeigt ten Zwergenbewußtjein. In einer Siung des jüngjten Geographenfongreiie jtreifte Herr Poultney Bigelow, der Südafrika ganz gut kennt, den bevor: jtehenden Konflitt und jagte, feine Sympathie jei immer mit den Schwächeren, deihalb gehöre jie in diefem Streite den Engländern.

Die engliihen Minifter verfichern jept, fie hätten den Krieg nich gewollt und erſt dad Krüger'ſche Ultimatum Habe ihn unvermeidlich ge macht. Solchen PVerfiherungen pflegt man wenig Glauben zu jchenten. aber es jcheint mir in dieſem Falle nicht ganz unmöglich, daß man gehofft bat, wenn erjt die englijche Krieggmaht in Südafrika verjammelt ie. unter ihrem Drud zu irgend einem Abkommen ohne Blutvergießen mit den Buren zu gelangen. Was England durch den Krieg zu gewinnen bat ijt, wie wir gejehen haben, gar nicht jo jehr viel; nur ein paar Jahre Geduld und ed mußte fait von jelber fommen., Die Gefahren aber, dw der Krieg für Englands ganze Weltjtellung mit ſich bringt, ſind jebr groß und die Mojten werden unter allen Umjtänden ungeheuer jein. War braucht aljo keineswegs in den Engländern die reinen Humanitätsfreunde und jelbjilojen Vorlämpfer liberaler Ideen zu jehen, um ihnen doc zw zutrauen, daß fie diejen Krieg nicht gewollt haben, jondern ganz ital gewejen wären, durch Drohungen ein gutes Abkommen von den Burer bewilligt zu erhalten.

Das aber wollten die Buren eben nit. Auch fie find fich natürlıs ganz klar darüber, daß die Bewilligung des Stimmrechts fie einem en«

Politiſche Korrefponden;. 379

liſchen Regiment außliefert. Ein foldes Regiment wäre ja noch nicht der Tod für ihre Nationalität: im Kapland leben die Holländer unter englijcher Regierung und leben recht gut. Sie beherrichen ſogar das Parlament. Sch wiederhole, was ich ſchon das vorige Mal gejagt habe, daß Das Holländerthum ſich durc das Vereinigen der Burenrepublifen mit Kapland in Südafrika befjer jtehen würde, ald durch die Fortexiſtenz dieſer Repu— blifen. ber diefe Buren wollen nit bloß Holländer, fie wollen vor Allem Buren bleiben. Das ift daS Entjcheidende. Diejer eigenthümliche joziale Zuftand, der fich durch die Jahrhunderte gehalten hat und geheiligt ift, dieſes chriftlich-halbbarbarifche Hirten» und Bauern-Dafein, ohne Ein- mijchung anderer Elemente, ohne aufregende Aenderungen und Reformen, abgejchloffen von der Welt und allein auf fich bezogen, das iſt das deal, das fie nicht fahren lafjen wollen.

Wären die Engländer jehr vorfichtig vorgegangen und hätten ſich auf die eine Forderung des Stimmredtes jür die jpäteren Einwanderer beichränft, jo hätten fich die Buren dem wohl auf die Dauer faum ent= ziehen können. Uber die günftige politifche Konitellation, wie wir fie im vorigen Heft geichildert haben, hat die Engländer verführt. Sie haben die Hände gerade frei und wollen den Augenblick benugen. Sie jtellten Forderungen, die direft in das Innere des Staatdlebend Transvaals ein- griffen, wie die Gleichberechtigung der englifchen Spradye und die Schleifung des Sohannisburger Fortd, das die dortigen Uitlanders in Reſpekt halten joll. Sie beriefen ji) auf ihr Recht der Suzeränität, was, wenn auch nicht ganz abzuleugnen, doch auch nicht ganz einwandfrei zu behaupten und in feinen Grenzen ganz unjicher ijt. Aber nicht ſowohl auf den Anhalt der einzelnen Forderungen fam ed an, jondern darauf, daß England fid als die Vormacht von Südafrika Hinjtellte, und wenn e3 das durchſetzte, zukünftig auch Deutjchland, Portugal und Frankreich gegenüber damit auftrumpfen konnte. Herr Ehamberlain, der mit dem vollen Selbjtbemußtiein des meltbeherrichenden England dieſe Politik führte, bedachte nicht, daß er gerade damit den Buren die Waffe in die Hand gebe. Auf dem Standpunkt eined dauernden Verjagend des Stimmredted an die Witlander hätten fi) die Buren jchwer behaupten tönnen. Aber entichlofjen, den Konflikt aufzunehmen, benußten fie mit vollendeter diplomatifcher Gejchidlichfeit das Aufwerfen der Suzeränitäts- frage, um den Streit auf diefen Boden hinüber zu jpielen. Hier hatten fie das natürliche Recht und die öffentlihe Meinung der Welt gegenüber dem englijhen Großmadtsdünfel von vornherein auf ihrer Seite, und ala nun die Engländer drohten und rüjfteten, jchlugen jie zu.

Wie wird der Krieg verlaufen? Ein Blid auf die Geſchichte des letzten Menſchenalters lehrt, wie ſchwer es ijt, den Ausgang eines Krieges vorauszufehen. Wer hat genlaubt, daß die Spanier vor den Amerikanern jo gänzlich ohnmächtig fein würden ? Wer hat geglaubt, daß die Griechen,

380 Politiſche Korrefpondenz. z

die den Türken jo muthig zu Leibe gingen, ſich auf Nichts als auf? Aus reißen verjtehen würden ? Wer bat den Japanern zugetraut, daß fie die Ehinejen jo vollitändig über den Haufen rennen würden? Wer bat ge: glaubt, daß die Türken den Ruſſen 1877 einen jo zähen Widerjtand leiſten würden? Wer hat geglaubt, daß das franzöfiihe Kaiſerreich 1870 Deutjchland jo wenig gewachſen wäre? Wer bat geglaubt, daß 1866 Preußen mit Oejterreich binnen wenigen Tagen fertig würde ?

Die Buren find augenblidlid in der denkbar günftigjten jtrategiichen Lage. Sie haben offenbar in aller Stille fertig mobilifirt und dann durch das Ultimatum den Krieg zum Ausbruch gebracht, während die Engländer noch viele Wochen nöthig haben, um nur eine den Buren annähernd gleiche Streitmaht in Südafrika aufjtellen zu können.

Die Frage ijt, wie weit fie im Stande find, den Vortheil der jtrate- giihen DOffenfive wirflih auszunugen. Shre natürliche Stärke beruht in der jtrategijchen und wohl ouch taktischen Defenfive. Das liege in der Natur des Heered ald eined Bürgeraufgebot3. Kommt der Feind ins Land, fo ſammeln fich ſehr jchnell alle erwachſenen Männer mit ihren eigenen Waffen, in deren Gebrauch fie gut geübt find, auf ihren eigenen Pferden, die Brujt jedes Einzelnen erfüllt von der höchſten Eriegerijchen Entjchlofjenheit. Fehlt auch die eigentliche militärische Führung, jo find die Umjtände doc) fo einfach, daß die Leitung der Bürgeroffiziere genügt. Die Waffe, bei der das Fachmäßige jchlechterdingd nicht zu entbehren ift, die Artillerie, ift bei den Buren natürlich am ſchwächſten, aber immerhin haben fie doch für eine Anzohl vortrefflicher Gejhüge gejorgt, und die Mann: ichaften follen gut eingeibt fein. Kommt alſo der Feind in ihr Land, io wird er ſchwere Arbeit haben. Als die Dejterreiher 1878 Bosnien offupierten und die Bevölkerung fich zum Theil dagegen auflehnte, mußten ihließlich nicht weniger als 262000 Mann mit 300 Geſchützen aufgeboten werden, um das Land völlig zu unterwerfen und im Baum zu halten. Dabei wurden die Infurgenten nur auf 80000 Mann veranichlagt. Co groß ift die Widerſtandsfähigkeit einer kriegeriſchen Bevöllerung auf dem eigenen, von Natur defenſiv günjtigen Boden.

Um die Widerjtandsfähigkeit der Buren abzumejjen, fehlt vor Allem jeder jichere Anhalt für ihre Zahl. Es heißt, weil im alten Tejtament die Bollszählung verboten war und König David für die Uebertretung dieſes Verbots bejtraft wurde, wollten die bibelfejten Buren aud) Heute noch feine Volkszählung veranjtalten. Die Angaben für Transvaal ſchwanken zwijchen 80000 und 150000 Geelen, dazu fommen noch etiwa halb foviel im Dranje-freijtaat, aljo im Ganzen 120000 bi3 220000 Seelen. Wahricheinlih it die geringere Zahl die richtige. Nehmen wir die höhere und rechnen als dad Marimum derjenigen, die die Waffen tragen können, ein Fünftel, jo gäbe da8 45000 Mann, dazu noch 5000 Mann Freiwillige anderer Nationalitäten, macht 50000

Politiſche Korrefpondenz. 381

Kombattanten. Könnten die Buren mit 50000 Mann in diefem Augenblid eine rüdficht3lofe jtrategiiche DOffenfive unternehmen, jo könnten fie wohl den größten Theil Süd-Afrikas innehaben, ehe die Engländer mit gleich jtarfen Truppen zur Stelle find. ber der Fehler ift, daß diejer Armee die Offenfiv-Eigenfchaft fehlt. Man bedenke, was es heißen will, 20 % der Bevölkerung in die Waffen zu rufen. Preußen bat 1813 nur 5!/, % aufgejtellt und das gilt für eine unerhörte Leijtung. 1870 hatte Deutich- land etwa 3 % in Waffen. 20 % ins Feld zu jtellen ift nur möglich auf ganz furze Zeit und auf ganz kurze Entfernungen, aljo im eigenen Lande oder an jeiner unmittelbaren Grenze zur VBertheidigung. Das Wirthichafts- leben macht Anjprüche, die genau jo unabweisbar auftreten wie Hunger und Durjt. Als die Tiroler 1809 Innsbruck genommen hatten, gingen fie zunächſt nad Haufe, „um das Heu einzubringen,“ und mittlerweile famen die Franzoſen wieder zurüd.

Bon Mafeling und Glencoe, wo jebt gefämpft wird, bis nad, Kap— jtadt ijt etwa jo weit zu marjchiren, wie von Königsberg und Memel bis nach Bajel, und die engliihen Truppen haben an verjchiedenen Stellen Befeitigungen angelegt, die nicht jo ohne Weiteres zu erjtürmen find. Mit modernen Waffen ijt auch eine Minderzahl in der Defenfive jehr ſtark und was die burifche Artillerie gegen die fachmäßig gejchulte englifche leijten wird, muß ſich erjt zeigen.

Um mit ihrer Offenfive einen wirklichen. d. h. nicht bloß einen vor: übergehenden, jondern definitiven Erfolg zu erreichen, müßten die Buren wirklich 50000 Mann ftark fein (was doch jehr unwaährſcheinlich ijt), und müßten ferner irgend welche wejentliche Hilfe, ſei e8 durch eine Erhebung der Eingeborenen, fei ed der Holländer im Kapland erhalten. Die Holländer im Kapland haben gewiß eine jtarfe nationale Sympathie für die Buren, aber daß fie fid) in einen furchtbaren Krieg jtürzen jollten um ihretwillen, ift doc wohl faum zu erwarten. Und wenn die Kaffern ſich erheben, jo muß ſich zeigen, ob jie vorziehen, gegen die Engländer oder die Buren zu kämpfen.

Gelingt ed nun den Buren nicht, mit ihrer Offenjive einen großen Bortheil zu erlangen, ein ganzes engliſches Truppen-Korps zu vernichten, oder menigjtend ganz Natal zu erobern, jo hat ihnen die Offenfive nicht nur feinen Nutzen, jondern jchweren Schaden gebracht. Wohl mögen jie einige Eijenbahn-Brüden und ſonſtige Anlagen zerjtören und dadurd) den zufünftigen Vormarſch der Engländer erſchweren, aber was jie ihrerjeits dabei zujeßen, ift doch noch koſtbarer.

Das Ueble für fie ift ja, daß ein ſehr großer Theil ihrer Leute nicht gar zu lange von Haufe wegbleiben fann. Fallen fie nad) ein bi zwei Monaten aus der Offenfive in ihre eigentliche Pofition, die Defenfive zurüd, jo find ihre Kräfte ſchon zum großen Theil verbraudt. Die Leute drängen nad Haufe, und das Land ijt zu groß, um fie fo ganz jchnell

382 Bolitifche Korrefponbenz.

wieder auf bedrohte Punkte zu verfammeln. Beide Sreiftaaten zufamr find nicht viel Heiner, als das beutfhe Reich und fie haben ut mehr al3 drei oder vier Eiſenbahn-Linien. Ein Landſturm, der erft eine Woche marfchiren muß, bi8 er an die Stelle fommt, wo der Feind er- wartet wird, wird, wenn der erite Enthufiagmus verraucht ift, immer gewaltige Lüden aufweifen. Stehende Heere haben eben auch vor dem beiten Landfturm fehr große Vorzüge.

Ein eigentlicher Unterwerfungäfrieg gegen die beiden Buren-Staaten würde für die Engländer immer ein fehr ſchweres Stüd Arbeit bleiben. Aber vielleicht werden fie Hug genug fein, darauf garnicht auszugeben, fondern den Buren, jobald fie ihnen irgendwo eine Niederlage beigebradt haben, einen Kompromiß anzubieten. Selbft wenn die Suzeränitätäfrag: formell unentjchieden bleibt und nur dad Stimmredt für die Witlander fejtgehalten wird, jo haben die Engländer ja Alles, was fie gebrauden. Umgekehrt die Buren fönnen, ſelbſt wenn fie fiegen, die Konzeſſion dei Stimmrechts an die Witlanderd unmöglich für alle Ewigkeit verfagen. Auf bei ihnen wird aljo für die Stimmung, „wozu eigentlih das Blut- vergießen?“ bald genug Raum werden. Wenn es ihnen wirklich ge länge, die Engländer völlig aus Südafrifa zu vertreiben und einen hulländiihen Bundesitaat vom ap zum Limpopo zu errichten, würd diefer Krieg eine welthiltoriiche Bedeutung erlangen. Daran iſt abe jchwerli zu denken. Umgekehrt, wenn die Engländer jehr ſchnel und volljtändig fiegen jollten, wird ihr Selbſtbewußtſein, das jet jchen groß genug iſt, ind Unermeßlihe anfchwellen. Die pofitive Mad verjchiebung würde nicht jo jehr bedeutend fein, da das gährende, unter drüdte Buren = Element noch lange eine kranke Stelle am engliſchen Staatsförper bilden würde. Aber der moraliihe Impuls, die kühne Eroberungspolitit weiter und weiter zu verfolgen, das Biel, Afrile englisch zu machen von Alerandrien bi8 zum Kap, nunmehr ohne Zaudern ins Auge zu fajjen, würde jehr jtark jein, und die Macht, mit der England dann zunächit zujammenftößt, ift Deutſchland.

21. 10. 99. D.

383

Von neuen Erscheinungen, die der Redaktion zur Besprechung zu- iufzjegangen, verzeichnen wir:

7 Schleiermacher, Fr. Ueber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Ver- ächtern. Zum Hnndertjahr-Gedächtniss ihres ersten Erscheinens in ihrer ursprüng- lichen Gestalt neu bera geben und mit Uebersichten und Vor- und Nachwort versehen von R. Otto. it 2 Bildnissen Schleiermachers. XII. 182 8. Oktarv. Eleg. kart. M. 1.50, in Lwbd M. 1.80. Göttingen, Vandenhoerk & Ruprecht.

A. v. Das Rad in Reimen. 1888, M.1. Kiel und Leipzig, Lipsius &

ischer.

Untersuchungen über die Lage der Hausirgewerbes in Deutschland. 8. und 5. Bd. Schriften des Vereins für Sozialpolitik. LXXIX. LXXXI 308, 858 S. Leipzig, Duncker & Humblot.

Untersuchungen über die La des Hausirgewerbes in Schweden, Italien, Gross- britannien und der Schweiz. Schriften des Vereins für Sozialpolitik. LXXXIIL 223 S. Leipzig, Duncker & Humblot.

Die Verhandlungen des 10. evang.-sozialen ar re abgehalten in Kiel am 25. und 26. Mai 1890. (138 S.) M. 2,—. Göttingen 1899, Vandenhoeck & Ruprecht.

Fogel, Dr. Jul. Goethes Leipziger Studentenjahre, geb. M. 4.—. Leipzig, Carl Meyers Graphisches Institut.

A.2...:.. W. A. Monte-Carlo. Roulette et Quarante. (51 8.) O Pf. München 1899, Carl Haushalter.

Welter, N. Frederi Mistral, der Dichter der Provence. Oktav. (356 8.) M. 4.—. Mar- burg, N. G. Elwert.

Wiedemann, R. dere vorn 18. Juli 1899, M. 1.80. Selbstverlag des Herausgebers, Halensee-Berlin, Friedrichsruherstr. 18.

Achelis, Prof. Dr. Th. Soziologie. 145 S. M. 080. Leipzig, G. F. Göschen.

Der Bote für deutsche Litteratur. Organ des Scheffelbundes. 2. Jahrg. Heft 5—10. Leipzig. G. H. Meyer. .

Bräunlich, Lie. theol. Pfarrer. Leo Taxil. Ein Miniaturbild a. d. grossen Ver, zweiflungskampfe der römischen Priesterherrschaft um ihren Bestand. 15 S. München, S. F. Lehmann,

Bräunlich, Lie. theol. Pfarrer. Die österreichische Los-von-Rom- Bewegung. 08 5. M. 0.60. München, 8. F. Lehmann.

Brix, Theodor. Der nationale Grössenwahn und der Kampf mit den Dänen. 31 S. Berlin, Imberg & Lefson. Danietson, Joh. Rich. Finlands Vereinigung mit dem russischen Reiche, Oktav.

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Hoarrassonitz, Otto. Die schwedisch-norwegische Union und ihre staatarechtliche Grundlage. (A. d. Stockholmer Ztg. Nya Dagligt allehanua). 24 S. Stockholm, Hasse W. Tullebery.

Hartmann, M. Der Islamische Orient. Berichte und Forschungen. I. (40 S.) M. 1. Berlin 1890, Wolf Peiser Verlag.

Hase, Karl von. Kirchengeschichte, 10 Lieferungen je 50 Pf. Liefr. I. Berlin. Breitkopf & Härtel.

Harsindustrie und Heimarbeit in Deutschland und Oesterreich. Bd. 2. Die Haus- in«ustrie der Frauen in Berlin. 616 S. Oktav. Bd.8. Mittel- und Westdeutsch- land, Oesterreich. 550 S. Ortav. Bd. 4. Gesetzgebung, Statistik und Uebersichten, 2778. Oktav. Leipzig, Duncker und Humblot.

Lehmann-Hohenberg, Professor Dr. Bismarcks Erbe. Los von Rom, gut deutsch allewege 478. Oktav. München S. F. Lehmann.

Livps, Dr. G. F. Grundriss der Psychophysik. 16435. M.0.80. Leipzig, G. F. Gösuben.

Löwenstimm, Aug. Der Fanatismus als Quelle der Verbrechen. 88 S. Berlin, Johannes Räde,

Menge, Dr. H. Die Oden und Epoden des Horaz. (505 S.). Berlin, Langenscheidt- sche Verlagsbuchh.

Ernst. Altrheinische Geschichten. 208. Dresden und Leipzig, Karl

issner.

Müller, Leonhard. Badische Land geschichte, Erster Theil: Der Anfang des Landständischen Lebens im Jahre I819. (223 S). Berlin, Rosenbaum & Hart Neubürger, Emil. Goethes Jugendfreund Friedr. Maximilian Klinger. 35 S. Frank-

furt a. M., Reinhold Mahlau (Mahlau & Waldschmidt).

Ompteda, Frh. e. Freilichtbilder. Novellen. 248 S. Berlin, F. Fontane & Co.

Oncken, W. Die Sendung des Fürsten Hatzfeld nach Paris. Sonderabdruck a. d. „Deutschen Reyue*“. Stuttgart, Deutsche Verlags-Anstalt.

Pan 189. 5. Jahrgang, 1. Hälfte. Berlin, F. Fontane & Co.

Pfutlf; Otto 8. 4. Bischof von Ketteler. (1811—1877). 2. Bd. 240 8. Oktav. Mainz, Franz Kirchheim.

Pichler, Adolf. Letzte Alpenrosen. Erzählungen a. d. Tyroler Bergen. 168 8. Leipzig, G H. Meyer.

Riesen, E. ve. Gedanken über eine ee S. Berlin, Emil Apolant.

Schulze-Smidt, R. Die drei Romane. Bd. 1 2198. 2256 S. Dresden u. Leip- zig, Kari Reissner.

Seidier. Die gesetzlich unmöglichen Verurtheilungen des Amtsgerichtsrath Seidler 124 S. Oktav. Berlin, Imberg & Lefson

Sewett, Arthur. Der Armenpastor. Ein sozialer Roman. 27 S. Dresden u. Leipzig, Karl Reissner.

Stiltich, Dr. Oskar. Die Spielwaaren - Hausindustrie des Meininger Oberlandı 100 8. M. 2—. Jena, Gustav Fischer.

Verwattungsbericht der Invaliditäts- und Altersversicherungsanstalt Berlin für d. Rechnungsjahr 1898,

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Brix, Theodor. Was in dem „Lande der Denker und Dichter“ passiren kann. Oktav. Berlin, Herm. Walther.

Caspari, Prof. ©. Das Problem über die Ehel vom und sozialen Geschichtspunkte. 126 8. Oktav u. VI 2—- F J. D. Sauerländers Verlag.

Deritz, Franz. Bebel v. Bogislawski Bleibtreu. Neuere Betrachtungen Deutschlands Heer und Wehr. 128 S. Oktav. Berlin, Herm. Walther.

„_F_— Bibliographie der deutschen Zeitschriftenlitteratur. Band

Leipzig, Felix Dietrich.

Ernst, Otto. Ein frohes Farbenspiel. 191 S. Leipzig, Staackmann.

Euler, Carl. Friedrich Friesen. 2, Aufl. 102 S. eipzig und Wien: A. P Wittwe & Sohn.

Flugschriften der deutschen Volkspartei. 1. Heft: Die Verfassungsrevision in W

Fredericg, Paul. L’Enseignement sup6rieur de l’Histoire. Paris, F. Alcan. Gand, J. Vuylsteke.

licher Grundlage. 8 Oktav. (274 S) M.8.-. Berlin, Verlag von Conrad Kögel, Gottfried. Rudolf Bd. 1. +72 S, Berlin, E. S. Mittler & Sohn. Langmesser, Dr. A. Jakob —— der Freund Lavaters, Lenzens, Kli (216 S) M.4.— Zürich, E. Speidel. Latscha, J. uw. Pfr. W. Trudt. Nationale Ansiedelung und Wohnungsreform. 2, 83 8, Frankfurt a. M., Richard Ecklin. Das Leid als die Wurzel des Glückes. Ein Beitrag zur Reformation des Gla Von einem Christen. 472 S. Oktav. Leipzig 1 Eduard Schmidt, Leist, Dr. Alexander, Prof, Vereinsherrschaft und Vereinsfreiheit im kün Reichsrecht. 54 S. Oktav. M. 1.20. Jena, Gustav Fischer,

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Dom deutfchen Gott.

Bon 9 Gallwitz.

Der Gott, welcher unjern Borvätern von den chriftlichen Miſſionaren verfündet worden iſt, war zunächit ein fremder Gott. Nicht der Gott, welchen Jeſus Chriſtus verfündigt hat, jondern der Gott, welchem die römiſch-katholiſche Kirche diente. Dieje jelbjt hat mit ihrer Gotteslehre eine Erbjchaft von der griechijchen Kirche angetreten, aber nicht ohne diejes Erbe jelbjtändig umzugejtalten und zu mehren. Ehe von dem deutjchen Gott geredet werden fann, wird es nöthig jein, von dem griechischen zu handeln.

Für das Verjtändnig des griechifchen d. h. des Platonijc)- Pythagoreiſchen Gottesbegriffs tt feitzuhalten, daß die Griechen fein Ziel für die Fortentwicklung des Menjchengejchlechts und feine daraus jich ergebenden Aufgaben fannten. Die Abgrenzung der Völker jchien ihnen ebenjo eine unverrüdbare Naturordnung zu jein, wie die Gliederung der Stände innerhalb der Bürger chaft und die Nothwendigfeit des Sklavenjtandes als der breiten Grunde lage für das bürgerliche Gemeinwejen. Der Gedanfe, den Gegen ja von Freien und Sklaven zu verwijchen, jchien ihnen ebenjo unvollziehbar, wie die Aufhebung des Nangunterjchtedes zwiſchen Griechen und Barbaren. Die jittlicfe Weltordnung in ihrer da= maligen gejchichtlichen Ausprägung galt als eine unabänderliche, die Hauptfunftion der oberiten Gottheit war die Gerechtigkeit, nämlich die Pflicht, die gegebenen Grenziteine zwijchen den einzelnen Völfern, den Ständen und den damaligen Normen von Gut und Böje unverrüdt zu erhalten.

Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 3. 25

386 Bom deutſchen Gott.

Was für ein Interejje konnte dann noch vorliegen, die Idee einer über der Welt thronenden Gottheit auszubilden, wenn es feın Ziel gab, dem die Gejchichte entgegengeführt werden jollte? Kein anderes als das Bedürfniß, die Widerfprüche und Mängel, welche allen irdijchen Dingen anhängen, abzujtreifen und mit der logijch gejchulten Denkkraft zur Idee eines höchiten, in ſich widerjpruchs- freien göttlichen Wejens aufzufteigen. Die Gottheit mußte die VBerförperung des nad) der Schäßung des Philojophen höchiten Organs des Menjchen, der Denkkraft werden; die Weltanjchauung jelbjt konnte nur eine äfthetijche nicht eine teleologijche jein. Bier liegen die Wurzeln der Platoniſchen Ideenlehre jowie die Triebfräfte ihrer Fortbildung zum Neuplatonismus, und hieraus will das Wejen des griechiichen Gottes verjtanden werden.

Der Mann, welcher ihn in die firchliche Glaubenslehre ein— gebürgert hat, mag er auch jelbjt darüber zum Ketzer geworden jein, ijt Origenes. Der Grundgedanfe jeines Syſtems it: Gott iſt reiner Geift, daher unmwandelbar und nur durch das Gejet der logischen Nothwendigfeit beherricht. Von Ewigfeit hat er alle Dinge, auch den Fall der Menjchen vorhergewußt, welcher, da Gott durch feine außer ihm befindliche Kauſalität eingejchränft jein fann, auch von Ewigfeit gewollt und nothwendig gewejen iſt. Die Schöpfung diejer Welt, die den Menjchengeijt zu einem natürlich: jinnlichen Leben nöthigt, it ein Strafaft für den vorzeitlichen Sündenfall, und das Erlöjungswerf bejteht nicht in einer fittlichen Neujchöpfung, jondern in der Erhebung des Geijtes über die Biel: heit und Unruhe der natürlichen und gejchichtlichen Welt. Nüdfehr zum reinen Geift, Anjchauen der Ewigfeit Gottes ift der Weg zur Heiligung und Seligfeit. In dem fünftigen Zuftand der Vollendung wird für die erlöjte Seele auch die bunte Fülle der verjchtedenen räumlichen Anjchauungen und Formen untergegangen jein, ſie wird in der einzig vollfommenen, reinen Form erjcheinen, der Kugelgeitalt.

Da göttlich Ewiges und gejchichtlich Menjchliches grundjäglich unvereinbar jind, muß auch das Erlöjungswerf Chriſti ebenjo wie der Sündenfall in die Ewigfeit zurücdverlegt werden. Das chrijto- logische Problem tt das der ewigen Zeugung; Jeſus Chriftus iſt wahrhaftiger Gott vom Vater in Ewigfeit geboren, er ijt die Idee, durch deren Anjchauen jich der Menſch über die Sündhaftigfeit und Bergänglichfeit jeiner Natur erhebt und die Gewißheit jeiner Er- löjung in fi) aufnimmt. Sind nicht die göttlichen Eigenjchaften

Vom deutfhen Gott. 387

der Allgegenwart, Allwifjenheit, Allmacht, Unveränderlichkeit, kurz die Züge des reinen Geijtes in Jeſus Chrijtus nachzuweiſen, jo ift den Menjchen die Hoffnung auf ewiges Leben und Theilnahme an der göttlichen Natur abgejchnitten.

Aus diefem griechiichen Gottesbegriff find die theologischen Probleme herausgewachjen, welche bis in die neueite Zeit das Denfen der Dogmatifer bejchäftigt haben: die Lehre von den gött- lichen Eigenjchaften, der Trinität, der Schöpfung aus Nichts, die Lehre der zwei Naturen in Chriftus, die von der Prädejitination und der Unfreiheit des menjchlichen Willens, d. h. der Unverein- barkeit des menschlichen Willens mit dem göttlichen, endlich auch die Lehre von dem Wirken des Geijtes durch die Saframente. Der Weg zu Gott iſt für die Gebildeten das philojophijche Denten, welches jich mit der Kraft des heiligen Geijtes dedt. Ihnen ver: bürgt die in Chrijtus gejchenfte reine Gotteserfenntnig Erlöſung und ewige Leben, während für die ungebildete Menge in der Myſtik und in der Asfeje die Wege vorgezeichnet find, auf welchen jie aus der Welt des wechjelnden und aufregenden Scheins flüchten und zum Genuß der ewigen Ruhe in Gott fommen fönnen. Da Gott als eine in fich gejättigte, unmwandelbare dee vorgejtellt wird, jo jind gejchichtliche Aufgaben für das Reich Gottes in der Welt nicht zu löſen. Die Natur und mit ihr der Menjchengeift vermag nicht mit dem göttlichen Geiſt in Wechjelwirkung zu treten, beide jind nur Spiegel, in welche die göttlichen Ideen hineinleuchten fünnen, um die ihnen wejensverwandten Stoffe in die obere Welt zurückzulocken. |

Der Gott der griechiichen Bhilojophie it geboren in der Zeit des beginnenden Niedergangs der hellenischen Kultur. Die Blüte Griechenlands war verwelft, ohne Frucht angejeßt zu haben, die ichaffenden und gejtaltenden Kräfte waren erlahmt, als die reflef- tirenden, anjchauenden auf den Plan traten. Da eine hoffnungs- volle Aufgabe für die Zufunft fehlte, jo blieb auch den Göttern, von welchen die Philojophen redeten, nichts mehr zu jchaffen übrig. Die reiche Zeit lag rückwärts im goldenen Zeitalter; damals herrjchte noch ein fräftigeres Göttergejchlecht, während das gegenwärtige an dem allgemeinen Niedergang theilnahm und ebenjo wie die Philo— jophen von des Gedanfens Bläſſe angefränfelt war.

Die Platonische Philojophie mündet daher auch folgerichtig in das neuplatonijche Denken aus. Nachdem es auf diejer Welt den Gegenjtand jeines Denfens und Handelns verloren hat, irrt es in

25*

388 Vom deutfhen Gott.

den weiten Himmelsräumen der Ewigfeit unjtät umher, bemüht, Die irdijchen Sinne und das auf ihnen fich erbauende, räumlichzzeitliche Erfennen von ſich abzuthun und ein neues Organ bei ſich auszu— bilden, vermitteljt dejjen e8 das Ewige, Unfaßbare, Unnennbare unmittelbar in jich aufnehmen und nachempfinden fünne. Um aber einen Ausgangspunkt für das Denfen über die Welt zu gewinnen, mußte der Neuplatonismus ein bejtimmtes Bild des Weltorganismus vorausjeßen und fand es in dem römischen Weltreich, welches in itarrer, fajt ewiger Rechtsordnung einen Theil des WVölferchaos zur Einheit zujammenjchlog und in der äjarenvergötterung ich als die Verjinnlichung der göttlichen Weltherrjchaft und Weltord- nung daritellte.

Nachdem der Cäſar Chriſt und Oberhaupt der chrijtlichen Staatsfirche geworden war, ward e8 auch dem chrijtlichen Denfen geläufig, jeine Herrjchaft als Abbild des göttlichen Weltregiments zu jchauen und ihn als den Wächter und Garanten der orthodoren Lehre zu betrachten, wie es in der rujjiichen Kirche bis zur Gegen- wart der Fall tft. Noch leichter mußte es dem römischen Bijchof werden, nachdem er al8 Oberhaupt der abendländijchen Kirche an- erfannt war, mit dem Anjpruch aufzutreten, Gottes Statthalter zu jein und jein Haupt mit dem Strahlenfranz göttlicher Weisheit und Gerechtigkeit bis zur Unfehlbarfeit zu jchmüden. Diejer Ehebund zwijchen Neuplatonismus und römischer Weltfirche ift von Auguſtinus eingejegnet worden und hat die Jahrhunderte bis zur Gegenwart überdauert.

Es ijt nicht zu verwundern, daß dieje griechijche Denfart auch in der römischen Kirche und Theologie ein unheilvolles Wirken entfaltet hat. Der Ehriltengott wurde zu einer blutleeren greijen= haften Gejtalt; nicht zum König, der zum Kampf aufruft, um jein Neid) aufzurichten, jondern zum griechiichen Denfer, der jich mit den beitehenden Berhältnifjen jo gut als möglich abzufinden und der beitehenden Weltordnung noch möglichjt viele vernünftige Züge abzugewinnen jucht.

Yag die goldene Zeit der Bolllommenheit am «Anfang der menschlichen Entwidelung und durfte auf eine neue aufiteigende Entwidelung nicht gerechnet werden, jo blieb der chrijtlichen Theologie nichts Anderes übrig, als rückwärts zu jchauen und die Urjache, welche den urjprünglichen Zujtand aufgehoben hatte, zu bejeitigen. Wie fann der Siündenfall für uns aufgehoben 'werden?, jo hieß das Thema, welches das theologijche Denfen bejchäftigte. Wie

Bom deutihen Gott. 389

fann das von Adam Gejchehene, was auf der Menjchheit ohne ihr perjönliches Zuthun dauernd als Schuld lajtet, ungejchehen gemacht werden? Dieje Frage beherrjchte die Gemüther derartig, daß feine ‚sreudigfeit und Kraft übrig blieben, um an die pofitive Ausbildung der von Gott verliehenen Anlagen zu denfen. Troß aller Ber: jicherungen, welche die Kirche in ihrer Glaubenslehre wie in den Saframenten über die Sühnung jener anfänglichen Schuld darbot, fam e3 niemals zu der freudigen apojtolifchen Heilsgewißheit: das Alte it vergangen, es iſt Alles neu geworden; es ijt ein neuer Bund gejchlofjen zwijchen Gott und den Menjchen, in welchem der vergangenen Schuld nicht mehr gedacht werden, und ein neues, fruchtbares Reben erblühen joll. Die Kirche ward aus einer Heils- anjtalt mehr und mehr ein Gefängniß, in welchem die Menjchheit jene anfängliche Schuld abzubüßen hatte, und verrannte jich der— artig in ihr Mißtrauen gegen die natürliche Austattung und Ent: widelung der menschlichen PBerjönlichkeit, daß fie ein Leben außer: halb des Gefängnijjes nicht für möglich hielt und das Bewußtjein verlor, daß Gott der Schöpfer, Erhalter und Regierer der Natur: ordnung tt, und daß feine menschliche Naturanlage ohne jein bejonderes Wirken entiteht.

Die griechiiche philojophiiche Weltverneinung und die im römischen tatholizismus der Völferwelt aufgezwungene, die Mannig— faltigfeit der Individualitäten in jtarrer Einheit zuſammenfaſſende Weltbejahung find das geiſtig jittliche Erbe der alten Welt, welches die germanifchen Völker angetreten, und von welchem jie Jahr— hunderte hindurch gezehrt haben. Den göttlichen Herrjchaftsanjpruch der römischen Kirche haben jie im jechzehnten Jahrhundert zurüd- gewiejen, aber Stimmung und Art des griechiichen Denfens find von ihnen beibehalten worden, dieſe haben noch im neunzehnten Sahrhundert die idealiftiiche Philojophie in Deutjchland beherrjcht und auch die Gedanken des chrijtlichen Glaubens geformt.

Luther ijt der Neformator der Stirche und der Prophet einer neuen Zeit geworden, weil in ihm Gott jich auf eine neue un— mittelbare Art offenbart hat, wie es jeit den Tagen der Apojtel nicht gejchehen war. Aber zu einer in jich abgeflärten evangelijchen Weltanſchauung hat es Luther nicht gebracht, vielmehr die Theologie der alten Kirche unbejehens in die Stirche der Reformation herüber- genommen.

Die freie, gläubige, fruchtbar jchaffende, chrijtliche Perſönlichkeit, welche in Xuther zuerjt auf deutjchem Boden erjchienen iſt, bedarf,

390 Bom deutfhen Gott.

wenn jie über jich jelbjt Har werden und ſich in der Welt recht: fertigen will, einer neuen Gottes: und Weltanjchauung im Gegen: ja zu der griechifchen, welche Ausdruf der Stimmung der ſich auslebenden Antife it.

Der deutjche Gott ijt nicht der gelehrte Denker, der in jeinem Innern ein harmonijches ideales Weltbild zu jchaffen und feit- zubalten weiß; er ijt der König oder Herzog, welcher fein Reich aufrichtet und gegen Die Feinde der Wohlfahrt und des Lebens zu Felde zieht. Er lehrt Güter jchaffen und rohen Stoff geſtalten, den Urwald lichten und aus der Fülle verjchiedenen Samens den geeignetjten und fruchtbarjten auf das Feld ausjtreuen. Er lehrt durch Liit und Gewalt jchädliche Thiere ausrotten und dem Ungeſtüm der Elemente Schranfen ziehen. Er will die in die natürliche Welt wie in die Menjchenbrujt gelegten edlen Keime entwidelt und die widerjtrebenden Kräfte vernichtet oder doch niedergehalten jehen. Er kann nicht unterwürfige, willenloje Sklaven als blinde Werf: zeuge in jeinem Dienjt gebrauchen, ihn verlangt nad) erworbener Ueberzeugung und jelbjtändiger Verantwortung der Seinen. Ebendarum fann er auch feine Sicherheit geben, daß ein bejtimmtes Weltziel unvermeidlich erreicht werden muß, wie e8 den Griechen fejtitand.

Nach dem griechiichen Glauben hat der Weltverlauf feinen pofitiven Fortſchritt. Da die Erkenntniß Gottes, welche ewiges Leben bringt, in der Offenbarung fertig gegeben tft, jo handelt es ji) nur darum, ob eine größere oder geringere Zahl von Ehrijten zum Genuß diejer in ſich gleichartigen Seligfeit gelangt, in welcher die Individualität vermwijcht, und ein Geift dem andern gleich fein wird. Nach den Inftinkten des deutjchen Glaubens läßt fich das Neich Gotte8 nur durch einen wirklichen Kampf Chriſti und der Seinen auf Erden aufrichten. Diejer Kampf it das Thema der Weltgejchichte und erhält die Herzen aller Mitfämpfer in bejtän: diger Spannung. Da es feine logische Nothiwendigfeit giebt, daß ein bejtimmtes Ziel des Gejchichtsverlaufs erreicht wird, jondern Gottes Pläne nur durch freie menschliche Mitarbeit ausgeführt werden fünnen, jo it dadurch die Verantwortung und zugleich der Wert der Einzelperfönlichfeit ins Unendliche gejteigert. Ahr iſt Gottes Ehre anvertraut, wie dem TFahnenträger die Ehre des Regiments und des oberiten Kriegsherrn. Der Sieg des Gottes: reiches über das Reich der Welt kann glänzender oder dürftiger ausfallen, die Ernte fann reicher und geringer jein. Durch menſch—

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liche Trägheit, Selbjtjuht und Charafterlofigfeit werden dem Neiche Gottes unmiederbringliche Verluſte beigebracht; die Zu: funft der Gejchichte, nicht nur des eigenen Volks, ſondern auch der Menschheit it der Chriftenheit und jedem Einzelchriiten auf das Gewiſſen gelegt.

Durd) dieje Ungewißheit über den Ausgang der Weltgejchichte wird der ganze Reichthum der geiſtigen und leiblichen Anlagen zu energijcher, Zebensentfaltung gerufen: Nicht nur perjönliche Verantwortung und perjönliches Schuldgefühl über Verſäumniſſe, jondern auch Freude über Erfolg, Demuth und Stolz, Furcht und Hoffnung nicht in Bezug auf das armelige leibliche Ich, ſondern um die Ehre Gottes und den Sieg jeiner Sache, aud) in Bezug auf Größe und Bedeutung des Waterlandes und des eigenen Lebenswerfes. Alles was der moderne Menjch als den bejonders werthvollen Inhalt jeines inneren Lebens hoch zu jchägen liebt, it aus der Wurzel des deutjchen Glaubens hervorgewachſen, den Gott in Yuther gewirkt hat.

Aber diejer Gott jelbjt iſt zunächit ein verborgener, unbefannter Gott geblieben, er hat nur theilweije von Luthers Berjon Beſitz ergreifen fönnen: Gefühl und Willen hat er fich unterthan zu machen vermocht, aber über den Kopf iſt der alte Gott der Griechen Herr geblieben. Die überlieferten Glaubenslehren hat Luther nicht antajten wollen, jo fühn er die ärgerliche Firchliche Brarıs befämpft hat, welche daraus hervorgewachjen war.

Die Frage, weshalb der kühne Bibelfritifer und Bejtreiter der Unfehlbarfeit der Konzilien nicht auch die überlieferten Glaubens: lehren der Väter als gleichgiltig und gefährlich für den perjönlichen Heilsglauben bei Seite geworfen hat, it pſychologiſch nicht leicht zu entjcheiden. Luthers Schriften enthalten die jtärfiten Ausdrüde gegen die Vernunft. Er verjteht unter ihr nicht die von Gott ver: liehene vernünftige Ausitattung des Denkens, vielmehr hat er diejem neben der göttlichen Offenbarung in der heiligen Schrift eine jouveräne Stellung angewiejen. In dem Befenntnig auf dem Wormjer Reichstag jind die beiden Fundamente, auf welche er den Bau jeines Glaubensgebäudes ſtützt: die heilige Schrift und helle, flare Gründe der Vernunft. Was er als des Teufels Hure be: fämpft, iſt die entartete, verfnöcherte Vernunft, wie jie ihm in dem entarteten, mittelalterlichen Erbe der Scholaftif und ebenjo in der formalen humaniſtiſchen Bildung jeiner Zeit entgegentritt. Er be— fämpft, um ein modernes Wort zurüd zu datiren, den theoretijchen

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Menjchen, deſſen unmittelbares Empfinden und Wollen unter der Herrſchaft der wiljenjchaftlichen Methode verknöchert ijt, und der darum auc das Zeugniß des lebendigen Gottes an jeinem Herzen nicht mehr zu vernehmen vermag. Gott jelbjt hatte unter der logijchen Zergliederung der Schultheologen jein Leben eingebüßt, er war entweder zu einer Abjtraftion geworden, welche der gejchulte Dialektifer nach Willfür jeinen Zweden dienjtbar machen konnte, oder zu einem fernen Lichtglanz hoch über diejer Welt, zu dem der Myſtiker mit jehnjüchtig ahnungsvollem Herzen aufjchaute, ohne doch die jeltenen flüchtigen Augenblide völliger Erleuchtung und jeligen Friedens länger fejthalten und mit den Weltaufgaben ver: einigen zu fönnen.

Die Vernunft der Scholaftif wie die des Humanismus jind die nachgeborenen Kinder des griechiichen Gottes, jo daß Luther im Recht war, ihre Lehrjäge im Vergleich zu der Gottesfindjchaft, deren er jich im Glauben unmittelbar bewußt war, wie Hurenfinder und Teufelsbälge zu behandeln. Den altkirchlichen Lehren über Gottes Wejen und Eigenjchaften, über die Vereinigung der gött— lichen und menjchlichen Natur in Chriftus, über die Saframente, bei welchen Prieſterwort den heiligen Geiſt ebenjo mechanisch mit der Materie zujammenjchliegt, wie die göttliche und menjchliche Natur in Chriſtus zujammengefügt tt, jah Luther diefen Bajtard- charafter nicht mehr an, jondern behandelte fie als echte Kinder des in der heiligen Schrift waltenden Gottesgeiites.

Auch it er von begreiflicher Scheu befangen gewejen, an Die Nevifion und Umarbeitung der Gejammtglaubenslehre der Kirche heranzutreten und vielleicht gerade in der Erwägung, daß dabei der Vernunft, d. h. der jcholajtiichen Methode und dem Heiden Aristoteles ein allzugroßer Einfluß eingeräumt werden müjje, und der lebendige Gott, der in Furcht und Liebe ihn zu fich gezogen hatte, jich zu einer todten Formel verflüchtigen werde.

Wenn wir erwägen, mit welchen Mitteln der nominaliftijchen Dialeftif Luther die Konjubjtantiation jeiner Abendmahlslehre und die in der Kindertaufe fich vollziehende Wiedergeburt zu bemweijen gefucht hat, jo werden wir befennen müjjen: Es it ein Segen für die weitere Entwidelung des Broteitantismus, dat Luther nicht wie Augujtin jeine Hauptwirfjamfeit in wijjenjchaftlich-theologifcher Schriftjtellerei gejucht hat. Es hätte noch größere Gefahr bejtanden als bei Augujtin, daß die Stimme des Propheten von der des Thilojophen und Theologen zum Schweigen gebracht worden wäre

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oder von den Epigonen überhaupt nicht mehr hätte herausgehört werden können. Die Zeit der Reformation, welche nur in den ſchulmäßigen Formeln des weltmüden griechiſchen Geiſtes zu denken vermochte, konnte wohl einen neuen Glauben in ihr Herz aufnehmen, aber ihn nicht als giltige, durchſichtige Weltanſchauung aus— geſtalten.

Dieſe Aufgabe, deren Löſung allein der Reformation zum Abſchluß und der evangeliſchen Kirche zum Zuſammenſchluß ver— helfen kann, iſt in den zwei letzten Jahrhunderten wohl oft ver— ſucht, aber nicht erfolgreich durchgeführt worden.

Der Pietismus beſaß in ſeinen führenden Perſönlichkeiten ſtarke Kräfte, um gegen ſittliche Verbildungen den Kampf aufzu— nehmen; er hat auch das Innenleben der Einzelſeele bedeutend vertieft, aber alle Erkenntniſſe zu einer chriſtlichen Weltanſchauung zujammenzufajjen, und die Olaubenserfahrungen mit den Er: gebnijjen der Welterfenntnig zujammenzujchliegen hat er nicht als Aufgabe anerfannt. Sein natürlicher Sohn, der Kationalismus, welcher unter der breiten Mafje der Bevölkerung in Stadt und Land Begeilterung für Berjtandesbildung jowie Eifer für fittliche Zucht und ehrbares Leben eingebürgert hat, it zwar bemüht ge— wejen, eine vernünftige Weltanjchauung zu jchaffen; da er aber den Nuten, d. h. das jinnliche Wohlergehen der Kreaturen als legten und höchiten Weltzwed fette und unter dieſem Gefichtspunft die Zwecmäßigfeit des Weltalls wie der Menjchheitsgejchichte zu rechtfertigen unternahm, fonnten jeine Ergebniſſe nicht anders als fünjtlich) gejucht und trivial ausfallen. Sobald der Optimismus des vorigen Jahrhunderts mit jeiner Anbetung der vollfommenen Welt und der menjchlichen VBortrefflichfeit angefichts des Zujanmımen= bruch$ der alten Weltordnung in der franzöfiichen Revolution das ‚seld räumte, war der Nationalismus dem Fluche der Yächerlichkeit verfallen.

An der Schwelle des neunzehnten Jahrhunderts haben in Deutfchland drei Männer: Goethe, Kant, Schleiermacher, an der Bertiefung der fittlichen und religiöjen Ideen mit jolchem Erfolg gearbeitet, daß die Gegenwart noch immer damit bejchäftigt ift, aus der Fülle ihrer Gedanken Anregung und Befruchtung zu ihöpfen. Allen Dreien ijt aber der griechiiche Gott, welchem jie unmijjentlich dienten, verbängnigvoll gewejen, und hat die Offen» barungen, welche der deutjche Gott unmittelbar in ihnen gewirkt hatte, in fremdartigen Formen ausgeprägt, jo daß jie dadurch ent=

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jtellt und unverjtändlich geworden find und nur die Herzen derer, welche gelehrte Bildung bejaßen, zu bewegen vermocht haben.

Goethes Jugendftreben ift ganz vom deutſchen Gott geleitet. Fauſt im erjten Theil ringt danach, alle Anlagen und Triebe der deutjchen Individualität in jich zu entfalten, um fie zu harmonijcher Einheit zujammenzujchliegen und in ihrer Neinheit zu erhalten.

Der Ehebund mit der Helena hat feinen fühnen Getitesflug gelähmt und ihn an der Abgejchlojjenheit und Selbitgenügjamteit der griechifchen Natur Gefallen finden lajjen. In feinem Alter läßt er fi) an dem Genuß der Elafjischen Schönheit und an der Freude, welche technijche Betriebjamfeit gewährt, als an dem höchſten, vollauf befriedigenden Lebensinhalt genügen, nicht ohne Einbuße jeines Berjönlichfeitslebens. Die zarten Gewijjensregungen der Jugendzeit find überwunden, die überweltlichen Ziele find dem zunächjt Erreichbaren angepaßt. In der Jugendzeit wallt jein Herz in freudigem, unermüdlichem Zufunftshoffen: der Gott, den er im Herzen trug, hat ihn zum Kampf angefeuert gegen das in die Welt eingedrungene Böſe und ihn mit Abneigung erfüllt gegen den niedrigen Gefährten, der dem edlen Gottesfind in der Menjchenjeele beigejellt iſt; ſpäter hat er die Ruder eingezogen und den Kahn jeines innern Lebens auf dem Strom des Welt: lebens treiben lajjen:

„Ueber's Niederträchtige nimmer dich beflage; Denn es ift das Mächtige, was man dir auch fage.“

Er hat zwar auch im Alter innere Harmonie und tapferes Hoffen troß verjtärkter Refignation nicht verloren, aber fie haben ihr jicheres Fundament in dem Glauben an einen perjönlichen heiligen Gott, der jein Gottesreich auf Erden aufrichten will, eingebüßt und führen als Stimmungen ein unficheres, jchwanfendes Dajein.

Carlyle, nach Luther wohl der gewaltigite Prophet Gottes unter den germanijchen Männern, hat ſich ganz bejonders an der Hoffnungsfreudigfeit einer Goethejchen Ode aufgerichtet, welche er den Marjch nennt, nach dem das tapfere teutonifche Geſchlecht durch) die Dede des ihm beitimmten Abjchnitte8 der Emigfeit marjchirt:

„Die Zukunft dedet Schmerzen und Glüde Scrittweis dem Blide;

Doch unerichredet Dringen wir vorwärts.

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Und ſchwer und ſchwerer Hängt eine Hülle

Mit Ehrfurcht. Stille Ruhn oben die Sterne Und unten die Gräber!

Doch rufen von drüben Die Stimmen der Geifter, Die Stimmen der Meifter: Berfäumt nicht, zu üben Die Kräfte des Guten!

Hier winden fih Kronen In ewiger Stille,

Sie follen mit Fülle Die Thätigen lohnen! Wir heißen euch hoffen.“

Aber diejer Hymnus it zur WVerherrlichung der Maurer ge: ichrieben, der Bertreter der immerhin jeichten Aufklärung und ſchwächlichen Menjchenliebe des vorigen Jahrhunderts, welche in Deutjchland weder durch Opferwilligfeit noch durch Heldengröße jih einen Namen gemacht und verhältnigmäßig wenig gethan haben, eine neue Zeit heraufzuführen.

Die jtärkite erneuernde Straft an der Wende des vorigen Jahr: hunderts tt ohne Zweifel von der Begeijterung für den fate- gorischen Imperativ der Kantjchen Philojophie ausgegangen. Durch) den jtegreichen Erfolg der aus ihr herausgewachjenen Erhebung des deutſchen Bolfes gegen die Napoleonijche Sinechtjchaft it ihr der Stempel echter göttlicher Offenbarung aufgedrüdt. Kants fritiiche Philojophie it nach zwei Seiten eine echte Weiterbildung des Werfes der deutichen Neformation. Sie hat der Perſönlichkeit die WBerantwortlichfeit zugejchoben, 1) für ihre empirischen Er— fenntnifje, 2) für ihren moralichen Glauben. Die Erfenntnif des Menjchen und zwar Die auf jinnliche wie auf überjinnliche Dinge gerichtete, it damit zu einer ethischen Funktion geworden; der Philojophie als planlojer Uebung des menjchlichen Scharfjinns oder als Mittel, jeden beliebigen Sat als einleuchtend und wahr: icheinlich hinjtellen zu können, ijt binfort die Wurzel abgegraben.

Aber wie bei Luther die Denkthätigfeit nicht aus den Geleijen des griechiichen Geijtes herausgefommen tft, ebenjowenig hat Kant vermocht, das unbedingte Soll des Sittengejeges, welches von Gott unmittelbar in die Bruſt gelegt jein joll, mit den aus jeiner Er: kenntnißtheorie jich ergebenden Erfahrungsjägen zu einer wider:

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ſpruchsloſen Einheit zu verbinden. Seine idealiſtiſche Philojophie ift, wie fchon ihr Name andeutet, die Erbin der griechijchen Ideen, der Denfweije des verwelfenden Heidenthums, dem die Welt ent: göttert war, und welches nun jenjeits der wirklichen Welt jich eın Neich der Ideen erbaute. Die platonijche Ideenlehre bedeutet für die wirkliche Welt den Verzicht auf Weiterentwidelung; höhere Ziele des fittlichen Lebens, welche erreicht werden fünnten, jind aus: gejchlojien. Diejen Charakter des Fertigen trägt auch das Kantjche Denken. Das jeweilige Inventar der Ideen der menjchlichen Ver: nunft gilt ihm al8 das Map, wonach das Wejen des Seins zu bemejjen und als die Form, in welche jeine Fülle hineinzuzwängen it. Es ijt ein zeitlojes, mit der Gejchichte nothwendig auf Kriegs fuß stehendes Denken. Da die ewigen Dinge dem Gejeß des Werdens nicht unterjtellt jind, jo müſſen die Urtheile der menſch— lichen Vernunft, wenn fie zur logijchen Klarheit entwidelt find, bei Allen diejelben jein, jo daß für Jeden der Grundſatz giltig it: Handle jo, dat die Marimen deines Thuns zur Norm einer all: gemeinen fittlichen Gejeggebung erhoben werden fünnen. Der menschlichen Individualität darf, weil fie nicht der reinen Vernunft angehört jondern empirisch bedingt tt, feine Bedeutung zuerkannt werden.

Dieje jpröde Schale griechiicher Ideen hat bei Kant ebenjo die fruchtbare Entfaltung der in ihm zum Leben drängenden jittlichen Kraft verhindert, wie in Luther durch die herrjchende ſcholaſtiſche Methode die Neubildung der evangeliichen Glaubenslehre ver: fümmert iſt. Und ebenjo it es leicht, bei der Iheologie Schleier: machers, des genialen Erneuerers des religiöjen Empfindens, des fräftigen Mitarbeiters an der fittlichen Wiedergeburt Deutjchlands, denjelben verhängnigvollen Einfluß griechiicher Denkweiſe nach— zuweilen.

Die Neligion als jchlechthinniges Abhängigfeitsgefühl von Gott fann fich mit den fchaffenden fittlichen Kräften nicht organiſch ver: binden und muß dieje mit jtetem Mißtrauen betrachten. An einem Siegesfejt muß die Frömmigkeit folgerichtiger Weije trübjelig bei Seite jtehen, weil ihr Gott die kräftigen Affefte, welche dabei zur Ent: faltung fommen, nicht als ſich wejensverwandt anerfennen fann. Ebenjo hält die jchlechthinnige Abhängigkeit das perjünliche Ver: hältniß der Einzeljeele zu Gott nieder, entjprechend dem Sat des Spinoza: Wer Gott liebt, darf nicht erwarten, dal er von Gott wiedergeliebt werde. Den Gegenitand der Vorjehung Gottes bildet

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nicht die einzelne geheiligte, zur Vollendung ihrer Eigenart ge— fommene Berjon, jondern die Kirche, die Gemeinschaft der Gläubigen, welche ebenjo wie die Berjon ihres Stifter bei Schleiermacher alle Merkmale einer griechiichen Idee trägt.

Die Kant-Schleiermacherjchen Gedanken haben in verjchiedenen Schulen die ſyſtematiſche Theologie der evangelijchen Kirche das legte Jahrhundert hindurch beherrjcht, ohme jemals fich von der Gebundenheit des griechiichen Geiſtes losmachen zu fünnen und die Bedeutung der menfchlichen Einzelperjönlichkeit, welche durch un: mittelbare Gemeinjchaft mit Gott ihren jelbitändigen Wert erhält, in der Glaubens: und Sittenlehre praftifch durchzujegen. Das Wort von der Nechtfertigung durch den Glauben ohne des Geſetzes Werk ift im Protejtantismus Deutjchlands noch nicht verwirklicht, nur daß es nicht mehr das Geſetz des jüdijchen oder römijchen, jondern des griechiichen Geiſtes ijt, welches auf uns lajtet.

Der griechijche Gott ift nicht der Schöpfer der Welt; er jteht als Idee oder reiner Geiſt der Materie als einer fremdartigen Macht gegenüber; er mag wohl unter bejonderen Umjtänden einmal ın die Welt eingreifen, jo lange der Denfer durch das Schema des Naturgejeges jich nicht gehindert fühlt, der Willkür und dem Zufall in der Welt freien Zugang zu gewähren, aber die Grundvorjtellung it: das Wirken der Gottheit it von allen Analogien des irdijchen Geſchehens und menschlichen Handelns frei zu denfen. Alle räum— lichen und zeitlichen Schranfen find aus dem Gottesbegriff zu ent— fernen. Die Süße von der Idealität von Naum und Zeit Jind ‚solgerungen der platonijchen Sdeenlehre.

Wir Menichen find durch unjre Sinne genötigt, alle Dinge außer uns räumlich nebeneinander zu ordnen. Da Jeder jeinen eigenen Horizont bejitt, und es nicht ausbleiben fann, daß von verschiedenen Standpunften aus die Perſpektiven fich verjchieben, jo hat die Ehrfurcht vor dem überweltlichen Gott daran gehindert, dem Raum in Gott einen Bla anzuweiſen. Man hat Gott Die menschliche Raumanjchauung abgejprochen und die Jdealität des Raumes behauptet, wober unbejtimmt blieb, ob der Nebeneinander: ordnung der Dinge im Raume, welche wir durch unjere Seh- und Tajtnerven vorzunehmen gezwungen find, auch irgend eine Qualität oder Kraft in der Wirklichkeit entipreche. Dagegen muß fejtgejtellt werden: der Naum, welchen unjer Auge beherrjcht, nämlich das Sonnenſyſtem, welchem unjer Planet unmittelbar angehört, unter: jteht einer räumlichen Gliederung, über welche jich unbejchadet der

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Verfchiedenheit der finnlichen Wahrnehmung genaue Urtheile be- ſchaffen lajjen.

Wie wir die Willfür unjerer jubjeftiven Wärme: und Kälte: empfindung durch den Thermometer regeln, d. h. eine Naturfraft der andern zur Kontrolle jegen, ebenjo müfjen auch die ſich drehenden GSejtirne jelbit anzeigen, in welchen Kurven jie jich bewegen, welche Abſtände fie von einander halten und mit welcher Gejchwindigfeit fie fich durchs Weltall bewegen. Die pünftliche Genauigkeit, mit welcher jie den auf menjchliche Beobachtungen beruhenden Be: rechnungen wirklich entjprechen, it der Beweis, daß die von uns wehrnehmbare räumliche Nebeneinanderordnung der Gejtirne im Weltall nicht eine unwejentliche Zugabe iſt, jondern mit dem Geſetz der Gravitation und damit der Grundlage alles organischen Lebens unabtrennbar verbunden iſt. Dann aber ift das Geſetz der räumlichen Beziehungen zwijchen den ebenjoviele raftzentren darjtellenden Welt: förpern auch von Gott gejchaffen und muß von ihm bei jeiner Welt: regierung rejpeftirt werden. Das wäre ein jchlechter Meiiter, welcher bei einem Bau bejtändig die von ihm gelegten Grundlagen ändern müßte, um den Bau weiterführen und zum Abjchluß bringen zu fönnen.

Dagegen wird der Einwand erhoben: Gott ijt reiner Geijt und jteht daher erhaben über der mechanischen Wechjelwirfung der Natur. Aber diejer Einwand, der Gottes Wejen vor Vermijchung mit der Welt bewahren will, führt dahin, auch jede Wirkung Gottes in der natürlichen Welt und damit Weltjchöpfung, Erhaltung, Ne- gierung, wie jie der chrijtliche VBorjehungsglaube fordert, für un: möglich zu erklären. Iſt die Wechjelwirfung der mechanijchen Kaufalität, welche als Vorausjegung der Natur und Grundgejet des Seins anerfannt werden muß, nicht von Gott gejegt, jo braucht jie aud) Gottes Gedanken nicht dienjtbar zu jein. Iſt ſie aber bei ihrem Werden Gottes Geijt unterthan gewejen, jo darf Gott nicht als reiner Geijt in der von Kant geprägten Wortbedeutung be- jchrieben werden. Weil die mechanijche Kaujalität das Werf Gottes iſt und die Züge jeines Geijtes an jich trägt, darum vermag Gott auf ſie und durch fie zu wirfen, während er im entgegengejegten Falle nach einer Yüde im Naturgejeß juchen müßte, um noch eine Wirfjamfeit auf Erden ausüben zu fünnen und vor den sort: jchritten der modernen Naturwijjenjchaft ſich in Wahrheit in den leeren Raum jenjeit3 der Sterne zurücdziehen müßte.

Wenn der Pjalmjänger Gottes Nähe und Wirkjamfeit überall jpürt, wohin er auch eilen mag in allen drei Dimenfionen des

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Raumes, jo liegt dem nicht eine mathematische Anjchauung von der abjtraften Unendlichkeit und Unbegrenztheit des leeren Raumes zu Grunde, vielmehr fieht er, joweit Wirklichkeit gegeben ift, auch göttliche Wirfjamfeit. Gottes geijtiged Wejen und Wirfen wird in den Pſalmen mit einem natürlichen, den Sinnen wahrnehmbaren Prozeß verglichen, mit dem Licht, dejjen erjtes Aufleuchten nach dem mojfaijchen Bericht das Schöpfungswerf eingeleitet hat, welches zu erleuchten, zu wärmen, Xeben zu zeugen und zu heilen vermag. Mögen die Alten das Licht als etwas Jmmaterielles der ftofflichen Welt entgegengejegt haben, jo hat die genauere Forſchung dod) diefe Scheidung aufgehoben, und läht auch die uns wahrnehmbaren Erjcheinungen des Leuchtens und Wärmens auf den naturgejeglich gebundenen Wırfungen eines Stoffes, des Aethers, beruhen. Sit nun das Licht zu etwas Stofflichem geworden, jo hört es doc) nicht auf, ein geeignetes Sinnbild der Gottheit zu jein, es bleibt für alle Zeit das beite Abbild des Geiſtes, aber e8 mahnt uns, daß wir den Geiſt nicht in ausjchliegenden Gegenjat zum Körper: lichen jeten, vielmehr ihn nach Analogie des Lichtes als die feinste Art des Stoffes und der jtofflichen Wirkſamkeit zu verftehen juchen. Hat man früher von einem unvereinbaren Gegenſatz zwijchen Körper und Geiſt geredet, jo fam dies daher, daß man dem Stoff das Prädifat der Undurchdringlichkeit jeitens anderer Stoffe zujchrieb und Deshalb dem Geist, welcher mit dem menjchlichen Leibe that: jächlich eine Verbindung eingegangen tft, eine jchlechthin andere, wenn auch nicht weiter vorjtellbare Bejchaffenheit als reiner Geiſt zugejchrieben hat.

Iſt gegenwärtig der Nachweis gelungen, daß verjchiedene Körper, welche früher als undurchleuchtbar galten, von bejtimmten, jtofflich vorzuftellenden Lichtjtrahlen durchdrungen werden, jo tt es auch der Phantaſie unverboten, den die Welt erfüllenden und re— gierenden Geift, davon auch wir einen Theil in uns bejigen, als einen allerfeiniten Stoff aufzufajien.

Dabei muß freilich davon abgejehen werden, ıhn als eine träge, ruhende Mafje allenthalben in der Welt gleichmäßig vertheilt zu denfen. Da er die treibende und leitende Kraft alles Werdens it, und alle Bewegungen von ihm ausgehend zu denfen find, jo muß er vorgejtellt werden, wie er von einem oder von verjchiedenen Zentren ausgehend die dazwijchenliegenden trägen und dunfeln Bartien zu bewegen und zu durchleuchten jich bemüht, wie er jic) theilt, um von verjchiedenen Seiten einen fonzentrijchen Angriff

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vorzunehmen und ſich aus der Zerjtreuung wieder an bejondern Bunften zu größeren Majjen jammelt. Die unterjchiedsloje Stetig- feit und Gleichförmigfeit des göttlichen Wejens und Wirfens, welche man im Snterefje der göttlichen Einfachheit und Welterhabenheit ausgejagt hat, jteht in Widerjpruch zu der Art des natürlichen und geichichtlichen Werdens. Nirgends in der Welt giebt es eine Gleich: fürmigfeit des Lebens. Die Oberfläche der Erde iſt nicht regelmäßig geitaltet und bietet daher auch nicht gleichmäßige Lebens- und Entwidlungsbedingungen dar, weder für die Pflanzen: und Thier- welt, noch für das gejchichtliche Leben der Menjchen. Scheinbar regellos und zufällig geht hier und da über ein Bolf ein befruchtender Geitesregen nieder. Hier tjt es eine einjame, riefenhafte Perſön— fichfeit, auf der Gottes Geijt in bejonderem Maß ruht, welche aber unveritanden unter einem Gejchlecht von Zwergen wandelt. Dort wendet ſich der Geiſt produftiven Schaffens und fruchtbarer Er: fenntniß gänzlich von einem Volk, nachdem es Jahrhunderte hin- durch feinen Mangel an jchöpferiichen Geiltern gehabt bat. Bei auserwählten Bölfern und in bejonderen Zeitabjchnitten fünnen die erleuchteten Geijtesträger jo zahlreich jein, daß von dem ganzen Volk oder der ganzen Zeit ein gleichmäßig heller Lichtichein aus: jtrahlt wie von der Milchitraße, jo daß aus weiter Entfernung der Glaube entitehen fann, es jei die Helligkeit gleichmäßig über den ganzen Naum verbreitet, ohne von einzelnen Zentren auszujtrömen.

Eng verbunden mit Allgegenwart pflegt Allwijjenheit von Gott ausgejagt zu werden. Soweit Gott räumlich als allgegenwärtig anerfannt werden muß, darf ihm auch Allwifjfenheit nicht ab: gejprochen werden. Was er geijtig durchdringt, geht auch in jein Bewußtjein ein oder ijt bereits im Voraus darin gegeben. Die göttliche Allwifjenheit will aber nach der Lehre der Kirche mehr bejagen als das gleichzeitige, allbeherrichende Ueberjchauen alles dejien, was gejchieht. Gott joll jederzeit ein Bewußtſein aller Dinge haben, der zufünftigen ebenjo wie der gegenwärtigen. Die Gejchichte Joll bis zum Abſchluß in allen Einzelheiten durchjichtig vor jeinen Augen ausgebreitet liegen, die Zeit und das ihr inne: wohnende Geſetz der Entwidlung beitehe nicht für ihn, er jehe alle Dinge sub specie aeternitatis.

Eine jolche Darlegung hebt die Perſönlichkeit Gottes wie das lebendige Vertrauen zu ihm auf. Ein Technifer, der eine Majchine fonjtruirt hat, vermag das Jneinandergreifen der Näder und die Umwandlung der zugeführten Rohſtoffe in das fertige Fabrikat in

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zeitlofer Folge als nothwendig gegeben jich vorzujtellen. Ein Mathematiker, der eine Riejenrechenaufgabe richtig durchgeführt hat, vermag den Gejammtverlauf der Rechnung in einem momentanen Anjchauungsbilde jich vorzuhalten. Jener operirt mit jtarren, ans nähernd unveränderlichen Stoffen und Kräften, diejer mit fertigen Begriffen und Zahlenbildern. Das zeitloje Borherjchauen des Zieles ermöglicht jich bei beiden dadurch, daß fie nicht mit lebendigen und unberechenbaren Sträften zu thun haben, jondern mit todten und genau abgemefjenen Größen. Sobald eine derjelben jich ändert, fällt auch die Sicherheit der Berechnung dahin. Wird von Gott schlechthin ein Vorauswillen alles Zufünftigen ausgejagt, jo wird damit der Menſch auch nur als ein todte Ziffer oder ein willen: (ojes Rad in einer Maſchine angejehen, es wird ihm jein Erit- geburtsrecht vor allen Kreaturen abgeftritten: jeine Individualität, jeine Freiheit, furz jeine Entwidlungsfähigfeit und die Damit gejeßte Unberechenbarfeit ſeines Wejens.

Der Gott, welcher jede Sünde, jede Katajtrophe von Ewigfeit vorberjieht, it entweder ein Gott, der nur von ferne der Welt: geichichte zujchaut, alle Ereignijje vorausweig, aber nicht im Stande ijt, in fie einzugreifen und fie zu hindern, oder er ijt nahe, er fönnte helfen, aber er hat feinen Eifer, fein Erbarmen.

Beide Gedanfenreihen widerjprechen den Ausjagen, welche wir aus dem Munde der Begründer und Erneuerer fruchtbarer reiner Sotteserfenntniß bejigen. Ihnen liegt vor Allem am Herzen, die vertrauenerwedende heilige Perſönlichkeit Gottes zu behaupten. Dieje haben jie mit allen Affekten ausgejtattet, welche aus dem Augenblik geboren werden und auf der Unfenntnig der Zukunft wie auf dem Gegenjat beruhen, den Vergangenheit und Zufunft zur Gegenwart bilden. Gott trauert über die Entartung eines Menſchenkindes oder den Verfall eines Volkes, er zürnt über die, welche jeine Bundestreue verachten, er einpfindet Neue, daß er an Unwürdige jeine Wohlthaten verjchwendet hat, er it eiferjüchtig auf die fremden Gottheiten, denen die Liebe jeines Volkes zufällt. Er hört nicht auf zu mahnen, zu warnen, zu jtrafen, zu tröjten, feine Hände gegen jein Volk auszubreiten. Er thut, was nur ein Menſch thun fann an einem Freunde, oder ein Vater an jeinem Kinde, foweit er in deſſen Entjchließungen und Nöthe Einblid hat, um es nach Kräften vor Sünde und Untergang zu bewahren.

Sicherlich bejigt der Gott, welcher jedes Menjchen Anlage geichaffen, die Eltern und Boreltern geleitet hat und alle Einflüjfe,

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die jeine Natur bejtimmt haben, von Anfang an überjchaut, eine vollfommenere Ktenntni des Menjchenherzens, als fie ein Menjchen: find auch bei den nächſten Angehörigen fich anzueignen vermag. Deshalb ijt ihm auch ein viel umfafjendere® Vorherwiſſen des menjchlichen Entwidlungsganges eigen als unferer bejchränften Einjicht, aber gleichwohl muß es für Gott in der Individualität des Menjchen ein dunfles Gebiet geben, welches er mit jeinem Vorherwiſſen nicht zu durchdringen vermag. Er mag vorausjehen, wie dieſer oder jener Eindrud auf diejes oder jenes Individuum wirken, und welde Stimmungen und Thaten er zeitigen wird: aber ob die Perjönlichfeit dem Eindrud fich treu und gemwifjenhaft bingeben und ihn in Wirkjamfeit umfegen, oder ob fie träg und gleichgiltig alsbald in ihre Nuhe zurüdfehren und die Wogen der innern Erregung alsbald durch die Deltropfen äußerer Nücdhjichten aufhalten und glätten wird, iſt nicht vorherzujehen.

Ohne dieſe Schranfe giebt es für uns Menjchen feine Sittlichkeit, fein Fürchten und Hoffen, feine Opferfreudigfeit und Hingebung, weder Glauben noch Treue. Wenn dieſes unjer Slaubensleben uns immer mehr gottähnlih macht, jo iſt der Schluß nicht abzuweijen, daß auch in Gottes Geijt, wenn in ihm Glauben und Hoffen wohnen ſoll, eine Schranfe jeines abjoluten Vorherwiſſens gegeben jein muß.

In dem menschlichen Geiftesleben it das Wiſſen eine Begleit- erfcheinung des aus der dunfeln Tiefe der unbewußt triebhaften Negungen aufiteigenden Wollens und Handelns. Wir fordern, daß ein Mensch jeine Triebe möglichtt vom Bewußtjein durchleuchten und klären lajje, ehe er jie in Thaten umfegt. Wir erfennen wohl bei jchöpferischen Geiltern ein Wirfen an, weldyes über die bewußten Regeln und Grundjäte und Einfichten hinausgeht; aber ein dauernder Zwiejpalt zwijchen Wiſſen und Wollen darf bei einer menjchlichen Berjönlichfeit nicht angenommen werden, jie würde damit den Charakter der normalen Gejundheit verlieren. Wo derartige Erjcheinungen fich einstellen, deuten fie auf franfhafte Entartungen oder vorübergehende Krijen. Wird Gott nach Art des menjchlichen Geiſtes als Perſönlichkeit gedacht, jo darf fein Widerjtreit zwiſchen Wiſſen und Wollen in ihn hineingetragen werden, d. h. Gottes Entjchliegungen dürfen niemals den bewußten Srundjägen und Erfenntnifjen widerjprechen, während es doch nicht ausgejchlofjen it, dat es auch bei ihm ein Handeln giebt, welches über das Handeln nach bewußten Zwedjegungen hinausgeht.

Bom deutſchen Gott. 403

Wird Gott abjolute Allwifjenheit auch in Bezug auf Die fünftigen Dinge und insbejondere alle bevorjtehenden menjchlichen Entjchliegungen und Thaten zugejchrieben, jo muß ihm auch uns bedingte Allwirkjamfeit zufommen. Wider jein Wiffen und damit auch wider und ohne jein Wollen fann auch nicht das Geringjte gejchehen, daher ijt jeder bejtehende gejchichtliche Zuſtand auf ihn als die letzte verantwortliche Urjache zurüdzuführen.

So iſt es thatjächlich in der unter der Tradition des Neuplato: nismus erwachjenen Dogmatik der Fall. Die widerfinnigen Folgerungen diejer Behauptung, daß Gott auch der Urheber der Sünde jei, haben die Dogmatifer abzujchwächen verjucht, indem jie theils die Wirklichkeit der Sünde geleugnet, theil8 in Gott eine Scheidung zwijchen unmittelbarem und mittelbarem Wirfen, zwijchen Wirfen und Zulaſſen, oder zwijchen dem Gebiet des Wiſſens und Wollens durchzuführen verjucht haben. ine Löjung der Schwierigfeit, welche in dem Sat von der Allwirkjamfeit Gottes liegt, ijt Dadurch nicht erreicht worden.

Daß die Naturordnungen, joweit jie ſich den menjchlichen Einwirkungen entziehen, ausjchließlich geleitet werden vom Willen Gottes, der fie gejchaffen hat, bedarf feiner Erörterung. Dagegen fordert es eine jorgfältige Prüfung, inwieweit der menjchliche Wille dem göttlichen erfolgreichen Widerjtand entgegenzujegen ver: mag. Die Thatjache einer jolchen Kreuzung des göttlichen Willens durch den menjchlichen wird von der heiligen Schrift mit aller Unbejangenheit anerkannt. Jeſus flagt über die Einwohner Serujalems: Wie oft hab ich euch verfammeln wollen, wie eine Henne ihre Küchlein jammelt unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt, und wiederholt damit nur die Klage, welche fort und fort von den Propheten gegen ihre Zeitgenofjen erhoben ift. Die jchein- bar entgegenftehenden Ausjagen, welche die unwiderftehliche Wirk— jamfeit Gottes auch auf dem Gebiet zu behaupten jcheinen, welches der menjchlichen Entjcheidung vorbehalten it, erflären jich daraus, daß von jolchen Berjönlichkeiten die Rede iſt, welche ſich von Gottes Geift leiten lafjen und immer tiefer in Gotte8 Gedanken eindringen. In ihnen wirft Gott Wollen und Bollbringen nad) jeinem Wohlgefallen; ihre Herzen lenkt er wie die Waſſerbäche. Sie erkennen auch in jcheinbar zufälligen Erlebnifjen den tiefen Zujammenhang des göttlichen Wirfens. David urtheilt über die Beichimpfungen, welche er von Simei zu erdulden hatte (2. Sam. 16, 10): Der Herr hat es ihn geheißen, um zum Aus—

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drud zu bringen, daß er in dieſen Schmähungen den von Gott geordneten Zujammenhang mit feinen früheren Verjchuldungen er: blide. Ebenſo fann mit Recht behauptet werden, daß Gott die einzelnen Menjchen auch ohne ihr Wiljen benugt, um ſie jeinen Zielen dienjtbar zu machen. Eine ſolche Benußung menschlicher Willenskräfte geht nicht über die Analogie der Einflüjje hinaus, welche ein bedeutender Menſch auf das Wollen Anderer ausübt. Endlich unterliegt auch feinem Zweifel, daß Gott in jedem Augen: blid die Macht bejitt, die Ausführung eines menjchlichen Willens: aftes zu hindern, da, wenn er jeine Hand von dem Menjchen ab- zieht, deſſen Leben ein Ende findet.

Die jpezielle Frage: Wo findet Gottes Allwirkjamfeit eine Grenze?, it auf das Gebiet des perjünlich ethijchen Lebens bejchräntt und läßt jich auf die Formel bringen: Vermag der Menjch den heimlichen Einwirkungen Gottes, durch welche ein erhöhtes heiliges Leben in ihm gejchaffen werden joll, Widerjtand zu leijten oder nicht? Jeder wird aus jeiner eigenen Erfahrung darauf bejahende Antwort geben. Wir fünnen durch Leichtjinn und Trägheit mandıe Anlagen unjerer Natur verfümmern und entarten lafjen, jo daß die gejammte Perſönlichkeit minderwerthig wird. Falls ein jo Entarteter jein Gejchi auf unentrinnbares göttliche8 Verhängniß, auf unverbejjerliche angeborene Berbrechernatur zurüdführen wollte, jo wird doch im Widerjpruch zu ihm Die Pädagogik wie Die Strafrechtspflege, jede um ihrer Selbjtbehauptung willen, feithalten müjjen, daß ein bejcheidenes Maß von Selbitzucht auch bei der ungünjtigiten Beanlagung mitgejeßt it und durch geeignete Be handlung gejtärft werden fann. Stommt es nicht zu diejen Aften der Selbitzucht, jondern entartet die Perſönlichkeit weiter, bis ſie unter die Herrichaft zuchtlojer, gewaltthätiger LXeidenjchaften oder in geiftige Verblendung hineingerätb, jo ift auf diefem Punkt der göttliche Heilswille in der Welt nicht durchgedrungen, und die un: beilvollen Wirkungen, welche von dem Verhalten jolcher Perſönlich— fetten ausgehen, find nicht von Gott gewirkt, jondern durch Wider: ſtand gegen Gottes Willen durchgejegt.

Will man von der Wirfjamfeit der Inquifition, welche durch Ausrottung des evangeliichen Glaubens in Spanien, Italien und Frankreich den allmählichen Niedergang diejer Yänder verurjacht hat, ausjagen: Gott hat es jie geheifen? Will man die plan: mäßige Ausrottung der Indianer Nordamerifas durch den weißen Mann, die Vergiftung Chinas durch Opium, der Negerrajien durd

Vom deutjchhen Gott. 405

Branntwein auf Gott abjchieben mit der Folgerung: Gott hat es zugelafjen, darum entipricht es jeinem Willen, andernfalls hätte er es zu hindern vermocht? Wir Menfchen bejiten eine weitgehende Vollmacht, auf die Gejeße unjerer Anlage und auch des uns be— fannten Naturzufammenhanges eine Einwirkung auszuüben, nicht nur die verborgenen Anlagen des organischen und geiltigen Lebens zu entfalten, jondern ebenjo auch fie zu zeritören und das ung von Gott überwiejene Material zu verunjtalten. Gott hätte den Prozeß der Degeneration, welcher als Thatjache vorliegt, unter: drüden fönnen, dann hätte überhaupt das menschliche Leben aufs gehoben werden müſſen. Läßt Gott dem Prozeß der Entartung bis zur völligen Selbjtauflöjfung freien Lauf, jo it er nicht jchuldig an den dadurch gewirkten Uebeln. Sie find nicht von Anfang an mit der Schöpfung als nothwendig gejeßt, jondern fallen der menschlichen Sünde in ihren mannigfaltigen Formen und Ab: ſtufungen zur Laſt.

Wird dieſe Thatſache anerfannt, jo muß die gewohnte An— jchauung von der durchgängigen Bolltommenheit in der Welts ordnung eingejchränft werden. Der Kampf ums Dajein oder der Kampf um die Macht ıjt eine göttliche Ordnung, er hat in der Welt jeinen Pla behauptet, noch ehe der Menjch in ihr erichienen it. Das organische Leben erbaut ſich auf dieſem Geſetz des Stärferen gegen das Schwache als auf feiner heilfamen, reinigenden, erziehenden Grundordnung und würde längjt entartet jein, wenn es anders wäre. Daß bei der Herrjchaft diejes Grund: gejeges in der Schöpfung immer höhere und feinere Organismen ſich gebildet haben bis zum Abjchluß der Schöpfung, dem Menjchen, welcher als das jchwächjte und bedürfnigreichite aller Gejchöpfe in die Welt getreten ift und doch durch geiftige Beanlagung die Zügel der Weltherrichaft in die Hand befommen bat, liefert den Beweis, daß der Geijt die ſtärkſte Macht in der Welt bildet und das Gejet der Selektion auf allen Stufen jeinem Endziel dienftbar zu machen gewußt hat.

Dagegen verjtößt es gegen dies göttliche Grundgejet, wenn der Menjch, der Träger des Geijtes und berufene vernünftige Herr der Schöpfung, eine Sklave der niederen Mächte wird, um elender und thierijcher als jedes Thier zu jein. Wohl find Unfälle, Altern und endliche Auflöfung des Leibes unvermeidliche Bedingungen des natürlichen Lebens, wie auch der Schmerz jeine heiljame Leben erhaltende, vor Gefahr warnende Bedeutung im Haushalt des

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thieriſchen und des ſeeliſchen Lebens beſitzt. Damit iſt aber nicht das ganze Heer von Schmerzen, Seuchen, und verunglückten Exiſtenzen auf Gottes Weltordnung zurückzuführen. Die menſch— liche Sünde trägt die Schuld, wenn das geſunde Blut in Millionen verdorben iſt, wenn in manchen Gegenden bis fünfzig Prozent der neu— geborenen Kinder innerhalb des erſten Lebensjahres wieder ſterben, oder wenn das Durchſchnittsalter der Männer in Ständen, welche unter ungünſtigen ſozialen Verhältniſſen leben, bis unter das dreißigſte Jahr heruntergeht. Das unüberſehbare Heer der giftigen Krankheiten, die ſich durch Generationen hindurchziehen, ſind nicht Gottes urſprüngliche Schöpfung, ſie können auch wieder beſeitigt werden, wie ſie in die Geſchichte eingetreten find. Die Welt— geichichte hätte einen viel bejjeren Fortgang nehmen und Zeiten prächtigerer Blüthe und reicherer Ernte aufweijen können, wenn manche Entartungen nicht eingetreten wären.

Solche Erörterungen flingen der Gegenwart unfromm. Es iſt ein Lieblingsjaß der dDurchjchnittlichen pajjiven Frömmigkeit: Man muß fich in Gottes unabänderlichen Willen ergeben und auch in jedem Leid jeinen guten und gnädigen Willen erbliden. So zu jprechen mag vom Standpunkt des abjterbenden Griechenthums, des Buddhismus und des Islam richtig und geboten fein, dem chrijtlichen Glauben entjpricht e8 nicht. Wird der gefammte Welt: (auf mit jeinen chriftlichen Berbildungen und Entartungen auf Gott als lette und ausreichende Urjache zurüdgeführt, jo it Gott nicht mehr als fittliche Perſönlichkeit vorgejtellt, jondern er iſt der Welt gleichgejeßt und nur als logischer Begriff, als causa prima von der natürlichen Welt unterjchieden. Er hat Schuld an dem lang: jamen Fortichritt der Zivilijation, an dem Untergang zahlreicher Völker, welche troß hoher Begabung für die Kultur feinen Gewinn gebracht und nicht einmal vor ihrem Abjterben den Frieden einer reinen Gotteserfenntnig gefunden haben. Seine unmittelbare Ordnung müßte es jein, daß die geoffenbarte Religion jowohl im alten Bunde wie im neuen die unbeilvolle VBerbildung in der Hierarchie des Judenthums wie der römischen Kirche genommen hat, wodurd) der Sieg des Reiches Gottes über die Erde viel jtärfer aufgehalten iſt als durch den Aberglauben der heidnijchen Volfsreligionen und die Verfolgungen der römischen Cäſaren. Bei diejer Annahme würde Gott wohl der allmächtige, durch feine ethiichen Geſetze und Nücjichten eingejchränfte griechiiche Deipot jein, aber nicht eine PVerfönlichkeit, welche Vertrauen und Glauben

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und Treue fordern darf, ſo wie der Deutſche ſich nicht nur ſeinen König, ſondern auch ſeinen Gott vorſtellt.

Hieraus folgt zugleich, daß der Glaube an eine jeden Orga— nismus der natürlichen Welt liebevoll umfaſſende und ſchützende Vorſehung unhaltbar iſt. Ein ſolcher liegt mehr im Intereſſe eines gedankenloſen Optimismus als einer ihrer Verantwortung bewußten, wahrhaftigen Frömmigkeit. Die natürliche Theologie des vorigen Sahrhunderts glaubte beweijen zu fünnen, daß wir in der beiten aller denkbaren Welten leben; fie hat folgerichtig zu dem Satz von der endlichen Erlöjung und Seligfeit aller vernünftigen Wejen fortjchreiten müſſen und für jede jchmerzliche Ziwedwidrigfeit eine Necdhtfertigung Gottes gejucht, wobei es unmöglich war, Plattheiten und Ungereimtheiten zu vermeiden. Die Urkunden des chrijtlichen Glaubens wijjen nichts von einer alle Menjchen gleichmäßig ums fafjenden Vorſehung Gottes. Nur die allgemeinen Bedingungen des Lebens find für Alle mit der gleichen Umficht geordnet: Gott läßt jeine Sonne aufgehen über Gute und Böje und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. Eines bejonderen Schußes fünnen jih nur Diejenigen erfreuen, welche zu den Auserwählten Gottes gehören. Bei einem bejonders erjchütternden Unglüdsfall, welcher im Tempel während des Opferns vorgefommen war, hat Jeſus die Folgerung gezogen, daß der Tempel nicht mehr Gottes Offenbarungs— ftätte und Iſrael nicht mehr Gottes Volk je. Ev. Luc. 13.

Die bejondere Borjehung, welche früher über Ijraei gewaltet hatte, wird auf Diegenigen übergehen, welche fortan das Bolt Gottes bilden. Die, welche durch Ehrijtus zur wahren Gottes- erfenntniß gebracht jind und ihre Kräfte aufrichtig in Gottes Dienjt jtellen, dürfen für ihr Lebenswerk auf eine bejondere Förderung und Bewahrung rechnen: Ihre Haare auf dem Haupte jind alle gezählt, über ‚ihnen wachen Gottes Engel und behüten fie auf allen ihren Wegen. Da ihnen jelbjt ihr leibliches Wohlbefinden nicht als höchites Gut gilt, jondern ihr Lebenswerk, dem jie ihre beiten Sträfte weihen, jo bejigen jie die Verheißung, daß ihr Werf gegen blinden zerjtörenden Zufall gejchügt fein, und daß auch ihr Leben, joweit es zur Erreichung dieſes Zieles unentbehrlich it, erhalten werden joll.

Aus dem Obigen ergeben ſich die Folgerungen: Eine gleich: mäßige göttliche Vorjehung, welche alle Intereſſen der Menjchen zu fürdern geneigt wäre, ijt weder verheigen noch wahrnehmbar. Die natürliche Weltordnung erfordert von Menjchen ein bedeutendes

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Maß von Umſicht, Thatkraft und Selbitbeherrichung, wenn das Leben erhalten und verfeinert werden joll. Der Leichtjinnige und Träge wird erbarmungslos von den lebensfeindlichen Mächten ver: ichlungen. Dagegen wird jeder Chrijt, welcher in Gottes Dienit arbeitet und deswegen in bejonderem Maß mit Widerwärtigfeit zu thun hat, die Erfahrung machen, daß eine bejondere Vorjehung über ihm waltet, die ihn befähigt, auch gegen eine Welt von Hindernifjen feine perjönlichen Zwede, weil jie Gottes Zwecke find, durchzujegen.

Wo ein ftarfer, an eigenen Erfahrungen ſich nährender Bor: jehungsglauben vorhanden tjt, beweiit er nicht, daß eine durch— gängige Teleologie die ganze Welt beherrjcht, er ift vielmehr ein individueller Erwerb diejer gläubigen Perjönlichkeit und fann nicht ohne Weiteres von einem beliebigen anderen Menjchenfind auf die eigene Perſon bezogen und verallgemeinert werden. Gottes höchites auf die Erziehung freier fittlicher Berjönlichfeiten gerichtetes Wert fann nicht jtetig und gleichmäßig feinen Fortgang nehmen, wie die rohe mechanische Wechjelwirfnng, es ıjt abhängig von der Empfäng- lichfeitt und Mitarbeit, welche es im Menjchen findet. Gottes jittliches Wirfen darf weder nach phyſiſchen noch logijchen Kate: gorien berechnet, jondern nur nach Analogie des produftiven menjchlichen Schaffens vorgejtellt werden. Die geijtige Wirkſamkeit einer Berjönlichfeit verläuft nicht jtetig und unveränderlich, vielmehr bedingt durch die Anregungen, welche von der Umgebung auf fie ausgehen. Einem Redner, Lehrer, Mujifer iſt befannt, wie durd) eine veritändnißvolle eifrige Zuhörerjchaft die eigene Leiſtungs— fähigfeit gemehrt wird. Je feineres Verſtändniß ein Menjch bei einem andern findet, um jo rücdhaltlojer fann er jein Herz aus jchütten, dadurch jeine Gedanken und Stimmungen flären, jowie die Kraft jeines Wollens jteigern. Eben aus derjelben unerläßlichen Wechjelbeziehung zwijchen Gottes Wirfen und menſchlichem Ent: gegenfommen erklärt jich die Thatjache, daß die Geſchichte des geiftig-fittlichen Lebens feine Stetigfeit aufweilt, jondern ſprunghaft fortjchreitet.

Es ijt daher der Tod der ‚srömmigfeit, wenn Gott eine jtarre Unveränderlichkeit zugejchrieben wird. Er würde der Sphinr gleichen, welche mit demjelben unbeweglichen Ausdrud des Gefichts Die Sahrtaufende der Gejchichte am ſich vorüberziehen jieht und den Wünjchen und Enttäufchungen des Menjchenherzens nur Theil— nahmlojigfeit entgegenbringt. Er wäre nicht ein Gott, vor welchem

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ein Gebet möglich wäre, d. h. auf Erhörung rechnen dürfte. Jedes Gebet jet voraus, daß eine Veränderung in Gott vorgehen fann. Gott wartet auf Das Gebet der Seinen, um feine Hilfe nieder- itrömen zu lafjen, wie die Negenwolfen, welche über die Erde ziehen, warten, daß eine von der Erde aufjteigende Strömung fie aufhalte und ihre Schleujen öffne, während fie über wüſtem Gefilde weiterziehen müjjen, ohne das verdurjtete Land tränfen zu fünnen.

Gottes Unveränderlichfeit nicht in metaphyfiichem, aus dem Begriff des reinen Seins gewonnenen Sinn, jondern in fittlichem Sinn iſt jeine Treue. Dieje aber ijt nicht unveränderlic), jondern wie der Magnet in dauerndem ZJujammenhang mit Eijen, in welches jeine Kraft übergehen fann, dieje jelbjt erhöht, jo wächſt auch Gotte8 Treue gegen die, welche in jeinem Dienjt treu find. Sn ihnen fann er um jo reichere Wirfungen ausüben, fie dürfen um jo zuverjichtlicher beten und ihm Erhörung jolcher Bitten abdrängen, an welche ein Anderer zu denken nicht wagen darf. Sie dürfen unter Umständen bitten, daß Gott ihnen das Schwert jeiner All macht, jeine Wunderfraft anvertrauen möge, deren Gebrauch für jelbjtjüchtige bejchränfte Menjchen unheilvoll jein würde.

Ein Luther hat das Leben jeines todfranfen Mitſtreiters Me— lanchthon von Gott jtürmijch fordern dürfen, wie ein bewährter Mintiter bei jeinem Monarchen wohl die Kabinetsfrage jtellt, um eine von ihm für unentbehrlich gehaltene Maßregel durchzujegen. Bei der Erfranfung jeiner Tochter hat er nicht gewagt, das ihm perjünlich teure Leben von Gott zu fordern.

Solche lebensvolle perjönliche Wechjelwirfung zwijchen Gott und Menjch ijt das Merkmal des deutichen Glaubens, der bejondern Offenbarung Gottes in der deutjchen Individualität. Der deutjche Gott hat innerliches jelbjtändiges Berjonleben gewirkt in der Fülle von originalen Anlagen und Charakteren, durch welche unjer Bolt ausgezeichnet gewejen it. Er hat gewohnt in der unendlichen Zahl der geijtlichen und weltlichen Liederdichter, welche alle natürlichen Stimmungen der Seele mit Frömmigkeit zu durchdringen und zu heiligen gewußt haben: Geduld und Ergebung im Leiden, todes- verachtenden Muth und Kampfesluſt, Troß gegen brutale, hierarchijche Gewalt und Berachtung aller freiheitsfeindlichen Mächte, inniges Naturverjtändnig und jprudelnden Uebermuth, zarte Minne und eheliche Liebe. Ja jelbit die das Leben erhöhenden Wirfungen des Weines haben die Seele von E. M. Arndt in Andacht zu Gott erhoben, jo daß er von dem edlen Geift des Traubenblutes rühmt :

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„Es wäre Glaube, Liebe, Hoffen und alle Herzensherrlichkeit Im naflen Jammer längft erfoffen, und alles Leben hieße Leid, Märft du nicht in der Waffersnoth des Muthes Sporn, der Sorge Tod!“

Und Fr. v. Hardenberg fann Sich die Seligfeit des künftigen Lebens nicht vorjtellen ohne die verflärende Wirfung eines neuen edlen Tranfes :

„Die Sternwelt wird zerfließen zu golbnem Lebenswein ; Wir werden ihn genießen und lichte Sterne fein.“

Die Stimme des deutjchen Gottes klingt ſeit zwei Jahrhunderten fait ohne Pauſe aus den Tonjchöpfungen der großen Ddeutjchen Muſiker heraus. Nicht nur die Protejtanten Händel und Bad, auch der Katholif Beethoven beweijen, daß dieſer Gott auch in Zeiten des Niederganges und jeichter Aufklärung in dem deutjchen Bolfe gelebt und in den Herzen jeiner auserwählten Propheten Klänge von jolcher Majejtät und Stlarheit, Tiefe und Sehnjucht zu weden vermocht hat, daß alle Völker der Welt mit frohem Staunen herbeieilten, um zu laujchen und ihm die Ehre zu geben.

Derjelbe Gott hat den deutjchen Denkern fich perjönlich offen- bart, jo daß fie ihn in ihren Willen aufgenommen und jeine majejtätijge Nähe in Ehrfurcht angebetet haben ; aber fie haben bisher in fremden Zungen von ihm geredet, es iſt ihnen noch nicht gelungen, den Gebildeten und Ungebildeten unjeres Volks Gottes Wejen und Wirken in anfchaulichen Bildern überwältigend vor Augen zu führen. Gott al$ „Ding an jich“ als „reiner Geijt“ mit den unperjönlichen, abjtraften PBrädifaten des reinen Seins: der Allgegenwart, Allwiffenheit, Allwirkſamkeit, Unveränderlichkeit hat als unheilvolles Erbe des griechischen Volkes Denken und Ausdruds- weije der idealiftiichen Philojophie beherricht, jo lange dieje lettere jelbjt die Herrichaft behauptet hat.

Im legten Menjchenalter hat in Folge des Aufblühens der eraften Naturwiſſenſchaft eine andere Grundanjchauung von der Welt jich im öffentlichen Bewußtjein eingebürgert: der Materialismus. Er bildet die nothwendige Neaftion gegen die in der idealiſtiſchen Philoſophie ausgejprochene Verachtung der Materie und hat diejer zu der ihr gebührenden Bedeutung zu verhelfen gefucht, nicht ohne in der Belämpfung des reinen Geijtes die Materie zu einer ebenjo unbrauchbaren Abjtraftion zu machen.

Was iſt die Materie ? Diejes große Näthjel hat man damit zu löjen verjucht, daß man die allergröbjte und roheite Wirfungs- form der Natur, die mechanijche Kaujalität, welche bei feinem den

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Sinnen wahrnehmbaren Vorgang geleugnet werden fann, als die einzige Wirfungsart der Materie anerkannte und aus blinder, ſinn— lojer mechanischer Staujalität allein den geheimnigvollen Aufbau aller Yebensorganismen bis zum Menjchen und auc) den aufiteigenden Lauf der Menjchheitsgejchichte abzuleiten, um nicht zu jagen zu er— flären, verſuchte. Es iſt dies diejelbe Anmaßung, welche fich in Spinozas tidealijtiichem Syitem offenbart, alle Vorgänge der wirf: lichen Welt aus den zwei geiftigen Wbjtraftionen, Denken und Aus: dehnung, zu fonjtruiren. Beidemal ergiebt ſich eine Welt der Ein— bildung, welche der Wirklichkeit nicht gerecht wird.

Der jetige Materialismus jteht, wenn er auch theoretijch gegen den Glauben an Gott eifert, gleichwohl Gott näher als die jogen. pofitive idealijtiiche Philojophie. Er jett einen angeblid) uns vernünftigen Urftoff voraus, durch dejjen Bewegungen alle Dinge entjtanden find, und zwar ohne daß ein nach Analogie des Menjchen gedachter Geiſt mitgewirkt hat. Aber die der Materie innewohnende Unvernunft it viel weijer als der menjchliche Geijt, fie iſt von einer Zwedmäßigfeit bejeelt, welche das menschliche Denken noch immer nicht voll und ganz ergründet hat. Sie hat das Licht des Geijtes aus dem Menjchenleib hervorbrechen lajien und hat den Menjchen, das empfindlichite, Hilfsbedürftigite aller Gejchöpfe, in die Herrichafts- itellung über die Schöpfung erhoben. Wenn die geiftigen Heroen, welche durch jchöpferifche Gedanfen eine neue Zeit heraufgeführt haben, mit ihrem Vertrauen auf den möglichen Fortgang der Welt: gejchichte zu Ende waren, dann hat dieje „blinde Materie” immer noch neue Ziele und überrajchende Wendungen bereit gehabt.

Diejer Materialismus it frömmer als eine idealiftiiche Philo— jophie, welche von dem griechischen Dualismus den Ausgang ihres Denfens genommen hat und darum nie dazu gefommen it, Natur und Gott in eins zu jchauen.

Die von dem Materialismus gepredigte Sittenlehre nennt ſich Egoismus im Gegenja zu der vom griechiſchen Geijt gepredigten Abtödtung des individuellen Selbjt, mag dieje fich durch leibliche Asfeje oder durch Aufopferung der perjönlichen Affekte und eigenjten Initinfte im Dienſt des überweltlichen Denfens vollziehen. In dieſem Gegenjat bezeichnet der Egoismus eine vertiefte Sittlichkeit. Gilt das Denken als das die Menjchen zu Gott erhebende Clement, jo it für die Entfaltung der menjchlichen Eigenart fein Raum mehr, in der Beziehung zu Gott jind alle Menjchen gleich, da ſie alle diejelbe vernünftige Aus:

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jtattung des abjtraften logischen Denkens empfangen haben. Die jeßige chriftliche Sittenlehre ijt dadurch, daß jie aus dem griechtijchen Denfen herausgewachjen ijt, nicht nur mit den Ausſagen Chriſti in Widerjpruch gefommen, jondern auch außerordentlich langweilig und widerjpruchsvoll geworden. Daß die chrijtliche Religion die Gleichheit der Menjchen vor Gott lehre, it eine der landläufigen Lügen, welche nur durch die philojophijche Verbildung der chriſt— lichen Religion erflärlich it. Das Chriſtenthum der heiligen Schrift it weit davon entfernt, die Menjchen als vor Gott gleich anzu: jehen oder von dem unendlichen Werth einer jeden gejchaffenen Menjchenjeele in Gottes Augen zu reden. Es fennt eine fleine, verhältnigmäßig feine Schaar von Auserwählten Gottes. Wer jich gegen das Evangelium verjchließt, iſt und bleibt im Tode, er bringt es nicht zu der mit der Gottesfindjchaft bezeichneten Berjönlichfeitsbildung und befigt feinen Werth in Gottes Augen.

Die chriftliche Religion will eine Scheidung unter den Menschen herbeiführen, die tiefer und jchärfer iſt als alle natürlichen Unter: ichiede. Sie fann daher auch nicht gegen alle Menjchen diejelben Pflichten predigen. Gegen den chrijtlichen Bruder fordert jie Yiebe, volle Herzensgemeinjchaft und die dazu gehörigen VBorausjegungen: Offenheit und Vertrauen; gegen „Jedermann“ iſt nur ein ehrerbietiges Verhalten, unter Umjtänden hilfreiche Barmherzigkeit gefordert. (1. Betr. 2,17.) Wenn von der Feindesliebe die Rede iſt, wie in dem befannten Spruch: Liebet eure Feinde u. j. w., jo ijt damit nicht ein allgemeines jtetiges Verhalten gegen Jedermann be: zeichnet, jo wenig wie mit den Borjchriften: So dir Jemand einen Streich giebt auf den rechten Baden u. j. w.; Diele Mahnungen wollen für die Fälle, in denen ein Chriſt unter der Bosheit eines ihm perſönilch mißgefinnten Gegners leidet, ein Mittel und zwar das allerfräftigite angeben, um feurige Kohlen auf das Haupt des Feindes zu jammeln und jein SDerz zu überwinden.

Die ganze Sittenlehre des biblischen Chriſtenthums fann ın dem Schema des Egoismus dargejtellt werden: Laß dein Ic, deine Perjönlichfeit zur möglichiten Entfaltung fommen nach dem Bilde des vollfommenen gottähnlichen Menjchen Jeſus Chriitus. Paulus it jo wenig ein Gleichheitsapoftel, daß er die Chriſten in Korinth) ermahnt, alle Kräfte anzufpannen, um Andere zu iibertreffen und vor ihnen mit bejonderer Würde befleidet zu werden, wie es den Siegern bei den Iſthmiſchen Spielen zu Tbeil

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wurde. Ebenjo haben wir ein Wort Chrijti, welches als jelbit- veritändlich vorausjegt, daß es auch im ewigen Leben Unterjchiede des Ranges und Ehrenpläße zu jeiner Rechten und Linken geben wird. Dieje zu erlangen, hängt aber nicht allein ab von dem Map des Eifer und der geijtigen Kraft, die Jemand im Dienit Gottes aufwendet, jondern wejentlich von der geijtleibluhen Aus— ftattung, die er von Gott empfangen hat. (Matth. 20, 23.)

Es iſt ein jeltfames Verhängniß, daß dieje biblijchen Gedanfen- reihen über den Kampf um die Nusleje nicht durch die Predigt der Ktirche, jondern erjt durch Vermittlung der materialiftiichen Natur: wifjenjchaft unjerm Bolf befannt geworden find und noch immer vom Bewußtjein der Kirche als unchriftlich geächtet werden. Als Ausdrud der chriftlichen Sittenlehre findet man fajt durchweg bis- ber eine Anjchauung, welche eine fräftige Entfaltung der In— dividualität für gefährlich) anjieht. Demüthige Ergebung in die Verhältnifje, Zufriedenheit auch mit unmwürdiger Lage, ein gleich: mäßig auf alle Mitmenjchen vertheiltes Wohlwollen, Bedürfnik- lojigfeit für die eigene Perſon, eine gleichförmige Gemüthsrube, welche fich von Höhepunften und Tiefpunften der Stimmung, von kräftiger Liebe und fräftigem Haß möglichjt weit entfernt hält, find ungefähr die Grundzüge in dieſem Sittlichfeitsideal, welches viel: mehr den Lebensinterejjen eines Diogenes als eines chritlichen Apojtels entipricht.

Im injtinktiven Gegenjat dazu verlangt der Protejtantismus der Gegenwart nach Entfaltung der Individualität des Einzelnen, nach Behauptung der Standesinterejjen, Sicherung der materiellen Lage, Erhöhung des Einfommens, um an den Gütern des Lebens in höherem Grade Antheil zu gewinnen und größere Macht aus: üben zu fünnen. Nicht nur der Gelehrte ſieht jeine Wiſſenſchaft als Mittel an, das ihm zur Macht verhelfen joll, auch die evangelijchen Pfarrer treten mit gutem Gewiljen zu Verbänden zujammen, um ihre Standesinterefjen zu jchügen und ihre materielle Yage zu ver: bejjern. Mag dieje Erjcheinung von Vielen als Zeichen des Nieder: gangs von der früheren Höhenlage des Idealismus verdächtigt werden, jo fann jie mit demjelben Necht auch als die Bor: bedingung einer fraftvolleren, glaubensfroheren Sittlichfeit ge— deutet werden. Der deutjche Gott erjcheint aufs Neue auf dem Kampfplatz, um fein Volk aus dem geiltigen Dienjthauje zu führen und von dem fremden Geſetz eines vergangenen, abgejtorbenen Zeitalters zu befreien.

414 Vom deutfhen Gott.

Mögen auch zur Zeit gewaltige führende Geijter fehlen, jo tt doch der Blid der großen Mafjen nicht mehr rüdwärts, jondern vorwärts gerichtet. In den breiten Schichten unjeres Volks it eine Thatkraft erwacht, wie fie bisher nur bei unjeren angel» ſächſiſchen Stammesbrüdern befannt war. Die weibliche Jugend fühlt in fich Kraft und Freudigkeit, ſich neue Arbeitsgebiete zu er- jchliegen und jcheut nicht zurüd, auch den Konkurrenzkampf mit den Männern aufzunehmen. Die Knaben, welche früher nur ihre Phantafie mit Lederjtrumpfs und Robinjons Abenteuern genährt haben, während jie dabei von ängjtlicher Scheu bejeelt blieben, aus den gewohnten, ficheren, heimathlichen Berhältnijjen herauszutreten, haben begonnen, ihre Thatkraft zu üben, um ihre perjönliche Leiltungsfähigfeit zu erhöhen. Mag aud) der Eifer für das Sport- wejen jich noch nicht aus der Periode jeiner Kinderkrankheiten herausgearbeitet haben, jo hat er doch einen frijchen, hoffnungs— rohen Geiſt bei der Jugend geweckt, der geeignet it, Die geijtige Sticluft des Rauchens, Biertrinfens und Startenjpielens, die in den früheren Jahrzehnten die Atmojphäre der deutjchen Jünglinge und Männer während ihrer Erholungszeiten bildete, zu vertreiben und die Brujt tiefer aufathmen zu laſſen. Endlid hat den Arbeiteritand ein heißes Verlangen nach allgemeiner Bildung und itraffer Selbjtorganijation ergriffen, und er giebt troß bedauerlicher Ausschreitungen Proben einer fittlichen Kraft, welche die oberen Stände theils mit Bewunderung, theils mit eiferfüchtiger Sorge erfüllt.

Das neuerwachte, auf zukünftige Ziele gerichtet, jeiner Kraft frohe Streben hat zunächjt nichts mit chrijtlicher Frömmigkeit zu thun, es fühlt jich injtinktiv im Gegenjag zu einer Kirche, welche die alte gute Zeit rühmt, gern in der Sprache der Vergangenheit redet und Beugung unter die Erfenntnigformeln und Symbole vergangener Jahrhunderte vorschreibt. Die neue zum Licht der Welt erwachte Ihatkraft weiß noch nicht, daß. alle neuen geijtigen Lebensfeime von Gott gepflanzt werden, und daß jie jich nur dann fruchtbar und jchön entfalten fünnen, wenn ihre Art, Her— funft und Beltimmung vom Bewußtjein richtig erfaßt werden. Bisher ijt meiſtens nur, wenn es ſich um Entjagen, Selbjtüber: winden, Kampf gegen die Natur handelte, von Gott und Gottes Gebot die Nede gewejen; dazu muß die Ergänzung gefügt werden: Auch die jchaffenden, erneuernden, begeijternden Lebensfräfte in uns jind Gottes Werk, in ihnen joll Gottes Nähe ebenjo empfunden werden wie in Heimfuchungen des Leidens. Dann wird das Wort

Bom deutfhen Gott. 415

Gottes nicht als läftiger Zwang, jondern als frohe Botjchaft ver- fündigt wie einjt in der Fülle der Zeit.

Wenn gegenwärtig ernite Stlagen laut werden, daß unter den Deutjchen feine führenden Geijter von weltumfajjender Bedeutung zu finden jeien, und daß auf dem Gebiet der Künſte und Wiſſen— ichaften die Deutjchen im Niedergang begriffen jeten und hinter andern Nationen zurüdtreten, jo mögen die Thatjachen zugegeben werden, aber jie rechtfertigen nicht das tiefe Verzagen, aus dem die Klagen entjpringen. Der deutjche Geiſt hat alle feine Kräfte anzujpannen, um in wirthichaftlicher Betriebjamfeit, in fühner Unternehmungsluft, in organifjatorischer Selbitzucht den angel» jächjischen Vettern nachzufommen; ihm fehlt jet das gejättigte Behagen und der abgejchlofjene Horizont, welche zu künſtleriſchen und wijjenjchaftlichen Leitungen erften Ranges unentbehrlich find.

Die deutjche Kultur und zwar ebenjo auf protejtantischem wie auf katholiſchem Boden bedarf einer neuen tieferen, unmittelbareren Sotteserfenntnig. Sie braucht Propheten, welche den Ddeutjchen Stämmen und Ständen zurufen:

Siehe da ift euer Gott! Er ift euch nahe, er iſt zu euch ge— fommen in dem Ringen um die politische Verfafjung, in den blutigen Kämpfen um die Einigung Deutjchlands, in dem fühnen Unter: nehmungsgeift, welcher die deutſche Flagge über das Weltmeer geführt hat, in dem milden, hochherzigen und doc) fraftbewußten Geiſt, dem die Sozialpolitif entjtrömt ift, und auch in dem rück— ſichtsloſen Streben nach Erweiterung der politischen Nechte, welches die Arbeiter und Subalternbeamten durchdringt. Gott jelbjt ijt in dieſem Sturmwind braujender Antriebe und gährender Gedanfen zu jeinem deutjchen Volk herniedergefahren, um es aus der Stid- luft der Niederung auf eine Höhe zu führen und ihm einen freieren Ausblid in das neue Jahrhundert zu gewähren. „Gott iſt es, der in euch wirfet beides, das Wollen und das VBollbringen nad) jeinem MWohlgefallen, darum jchaffet euer Heil mit Furcht und Zittern“, jo hat Paulus einjt den Chriſten in Philippi die Beichen der jtürmijchen Zeit gedeutet.

Wir warten auf die Propheten, welche den einzelnen Ständen und Gruppen unjeres Volks, joweit die deutjche Zunge Elingt, in verständlichen, ungelehrten Lauten zurufen werden: Siehe da tt euer Gott!

Sie werden nicht Streitfragen über die Vergangenheit hervor: ziehen, ſondern die Zufunft deuten und mit Luft und Liebe die

416 Bom deutfhen Gott.

Gegenwart verjtehen lernen; jie werden Gott nicht durch Ueber: lieferung in ſich aufnehmen und durch Verſtandesſchlüſſe fich feiner vergewijjern, jondern jie werden feine Herrlichkeit mit Augen fchauen und jein Wort mit ihren Ohren vernehmen und jeine Kraft in ihrem Willen jpüren. Und dann wird auch an uns Deutjchen die Berheigung erfüllt werden: Sie jollen mein Volk fein, jo will ich ihr Gott jein!

Sigmaringen.

Die Lage in Indien und ran.

Bon Albreht Wirth.

Die Ereignijje in Transvaal haben jchon zur Zeit des Jameſon— Einfalles eine ungeahnte Rüdwirfung auf die politische Lage der ganzen Welt ausgeübt: Gegenjat der Deutjchen und Briten; An: näherung zwijchen Berlin, Paris und Lijjabon; Sinfen des englifchen Preitiges in Süd» und Dftaften; Sympathiefundgebungen zwijchen Deutjchen, Vlamingen, Buren und Deutjch-Amerifanern; endlich . Beichleunigung der aujtralifchen Bundesbewegung und der Imperial Federation in allen britijchen Kolonien. Die Wucht der jebigen jüdafrifanischen Ereignifje wird noch viel allgemeiner und viel jtärfer in der Weltpolitif empfunden werden. Bereits drängt Die england=feindliche Strömung der um ihre aujtralajiatiichen und füdamerifanischen Kolonien bejorgten Niederlande zum Zollanjchluß an das Deutjche Reich und die burenfreundliche Schweiz denkt an ein gleiche8® Vorgehen. Ebenjo haben Frankreich und Rußland ſchon längjt für die Buren Stellung genommen. Die Vereinigten Staaten jind mit ihrer Meinung und ihrem Beifall noch getheilt, aber es läßt fich mit Sicherheit erwarten, daß die Iro-Amerikaner für Krüger Partei ergreifen und jo den Riß in dem britijch- amerifanijchen Einverjtändnig, den das Scheitern der fanadijchen Grenzfommijjion und die Platform derer um Bryan und Crofer hervorrief, noch beträchtlich erweitern werden. Für Indien vollends wird der Ausgang der Dinge in Südafrika von entjcheidender Bedeutung jein; da aber Berfien und Afghanijtan eng mit Indiens Ge—

Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 3. 27

418 Die Lage in Indien und Sran.

ichiden verknüpft find, auch für Iran. Die Erhebung der Zulu unter Kekwayo wurde von hervorragenden englischen Offizieren unmittelbar auf die Verlegenheiten, die damals General Roberts in Kabul hatte, zurücdgeführt: ähnlich wird der Donnerhall des jegt in Süd— afrifa ſich abjpielenden Dramas unzweifelhaft in Sübdafien jein itarfes Echo finden.

Es wird jich empfehlen, zunächit die Beziehungen Indiens zu Südafrifa im Lichte der jüngjten Gejchehnifje darzuftellen und dann auf die gegenwärtige Gejammtlage in Iran und Indien einzugehen.

Wie Japan und China im reger Wechjelwirfung mit der amerifanijchen Gegenküſte des Stillen Meeres jtehen, jo zwar, daß viele Zehntauſende der gelben Raſſe von Aſien nach Amerika, aber nur wenige Hunderte von Weißen den umgefehrten Weg gewandert jind; jo hat auch die Bevölferung der jüdajiatijchen Küjten ſtets rege Verbindung mit der Gegenküſte des Indiſchen Ozeans im Schwarzen Erdtheil gepflegt, mächtige Auswanderungs- tluthen nad) Afrifa werfend, aber jo gut wie feine Einwanderung von dort empfangend. Indiſche Kaufleute bejuchten in der erſten Zeit des Chriftentyums Abeſſynien, Somaliland, Sanfibar und wahrjcheinlich auch jchon die Sofala und Madagaskar. Mastats Smane errichteten im Anfang des achten Jahrhunderts mit Hilfe belutjchijcher Söldner die Sultanate von Sanfibar und Kilwa und brachten, die Ophirfahrten Salomos wieder aufnehmend, Gold von Zimbabwe und der Sofala nach Indien, jowie jchwarze Sklaven bis nach Kanton und Futſchau. Malayifche Stämme aus Inſel— ajien eroberten im zehnten Jahrhundert*) den Often Madagastars. Wenig jpäter jegten jich Araber im Norden der großen Inſel feit, die fie el Komo oder Mondinjel benannten. Marko Polo weiß vom regjten Verkehr zwijchen Südindien und Sanfibar zu be richten. Da Gama findet in der Gegend von Quilimane gold: beladene Dhaus, die nach Indien jegeln. So jehr war Oſtafrika in Staatsleben, Handel und Kultur von Südafien abhängig, daß es überhaupt gar feine andere Außenwelt fannte. Auch die An: funft der Europäer änderte an dieſem Zujtand zunächit nur jehr wenig. Für Portugiejfen wie Holländer waren ihre jüd- und oft: afrifanischen Beſitzungen faſt ausschließlich Stationen der Indien: fahrt, jet's zur Verproviantirung, ſei's als jtrategifche Puntte, um

*) Das (bisher völlig unbelannte) Datum erfhliche ih aus einer Stelle des „Buches der Wunder,” einer arabifhen Sammlung von Schiffer geihichten aus dem 10. Jahrh.

Die Lage in Indien und Iran. 419

das Indische Meer zu beherrichen. Das holländische Kap und Mauritius wurden demgemäß von Batavia, und das portugiefijche Mojambik bis in die Mitte unjeres Jahrhundert® von Goa aus regiert. In Folge jolcher Verbindung famen muhammedanijche Malayen nad) Kapitadt ihre Zahl wird jetzt auf 15000 an- gegeben und Schaaren von Goanejen nach Moſambik. Mit der englischen Flagge änderte ich die Lage. Europäiſche Ein» wirfungen gewannen die Ueberhand. Allein die Hauptbedeutung des Kaps wurde immer noch darin gejehen, daß es für den Wer: fehr nach Aſien unentbehrlich war, jowohl vor wie nach der Er- öffnung des Suezfanals, jowohl für Handel wie für Krieg. In der That erwies fich die Beſetzung Südafrikas als ausjchlaggebend, als 1357 die Meuteret in Indien ausbrach; es wird behauptet, daß Sir George Grey, der eigenmächtig, unter bedenflichjter Ver— antwortlichfeitt die abgelöjte Bejatung jtatt heim-, nach Kalkutta ſchickte, das indische Neich jeinem Wolfe erhalten habe. Umgekehrt wurden jehr häufig indifche Truppen für die Dämpfung jüdafrifa- nischer Aufitände und Unruhen verwandt. Gewöhnlich wurden auch die Statthalter am Kap aus Männern genommen, die in Indien hervorragende Poſten befleidet. Im Gefolge der europätjchen Kolonijation ftrömten jodann die indifchen Krämer und Kaufleute noch zahlreicher nach Oſt- und Südafrika; deren Kleinhandel von Makdiichu*) im Norden bis nach Durban it zu Zweidrittel in ihren Händen. Indische Kulis aber gingen in Schaaren nad) Mombaja, die Bahn nad) Uganda zu bauen, und auf die Pflanzungen von Ujambara und Sciresland (zwiſchen Nyaſſa und Sambeji) und nach Natal, das ein wahres Waradies für jie geworden iſt, injofern nad) Ablauf ihres Stontraftes, der meilt auf fünf Jahre läuft, die Kulis unter jehr günjtigen Bedingungen ich anjiedeln fünnen. Ihre Zahl in Natal iſt raſch im Wachjen und fann auf 90000 gejchäßt werden.**) Dieje weit: liche Erpanjion der Inder tt von Wichtigfeit, denn Regierungen wechjeln, aber die Mafje des Volkes bleibt und fie ift es jchließlich, die dem Lande jeinen Charakter verleiht. Auch it diefe indiſche Maſſe nicht leb- und hilflos, denn jie bejteht nicht lediglich aus Sudras und Banyanen, jondern hat Männer der höchiten Kaſten in ihrer Mitte, die regen geiltigen Austaufch mit der Heimath

*) Bon einem deutfhen Schriftiteller jüngft phantaftiih auf 1 Mill. an—

gegeben. *") An der Somali-Küjte.

420 Die Lage in Indien nnd Fran.

unterhalten und die über alle weltbewegenden ragen wohl unter: richtet find. Diele diejer Hindusflaufleute haben jogar in den Augen der Buren Gnade gefunden, die ja jonjt auf „Kleurlinge“ ichlecht zu jprechen find. Merfwürdig it, daß gelegentlich Aighanen jich den auswandernden Hindu anjchliegen, freilich nur, um, jobald fie etwas Geld verdient, in die ferne Heimath zurüdzufehren. Nach den Erwerb juchenden Zandsleuten, den Kaufleuten, Haufirern, Handwerkern und Pflanzungsarbeitern fommen als flüchtige Gäjte indifche Soldaten nad) Afrifa, zumeist Sikhs aus dem Pendichab. Sie wurden zuerjt von Mac Donald in Uganda, dann in den Kämpfen gegen die Sflavenjäger am Schire verwandt; jpäter am Nil und als Bolizeitruppe in Matabeleland. Für diefe auswärtigen Wirr: niffe, an denen es vollfommen unjchuldig it, muß Indien mitzahlen, indem die Unterhaltung der indiſchen Regimenter der indischen Staatsfafje aufgebürdet wird. Im Krieg gegen die Buren jollen jedoch Feine farbigen, jondern bloß anglo:indische Truppen verwendet werden, angeblich) um nicht Eingeborene daran zu ge wöhnen, gegen Weiße zu fechten ein Grundjag, den England oft genug verlegt hat, denn am Ohio hat es Nothhäute gegen die Franzoſen geführt, am Ganges Sepoys gegen Holländer, Deutjche (Oſtende-Kompagnie) und Franzoſen benußt, am Oranje die Bajuto den. Buren entgegengeworfen. Auch rechnet man jtarf auf die Sikhs und Gurkhas gegen die Ruſſen. Der Grund ijt vielleicht, daß man feine Zeugen etwaiger Niederlagen haben will.

Bon anglosindijchen Truppen jollen im Ganzen 17 000 nad) Durban verjchifft werden. Die Mobilijation derjelben und ihr Transport ijt, joweit ausgeführt zur Zeit, daß ich jchreibe, 7000 Mann viel glatter und jchneller von Statten gegangen, al8 dies die Militärbehörden in England jelber fertig brachten. Durch fortgejegte Grenzfriege hat die Bereitjchaft der engliſchen Ktolonialarmee einen viel höheren Grad erreicht, als das Heer der Heimath; jo waren die Provinzialarmeen eines Vespafian und Severus jtet8 den Truppen der Hauptjtadt überlegen. Nur im Sanitätswejen hat fich ein jchwerer Mangel gezeigt, da die Zahl der anglosindijchen Nerzte unter das Minimum gejunfen, jchon vor zwanzig Iahren für gefährlich gering erklärt wurde, und außerdem durch die Peſt noch bejonders in Anjprud) genommen tt. Auch erlitt die Verſchiffung der Neiterei Aufjchub, da im Hafen in Karatſchi eine Krankheit unter den Pferden ausbrach, die man jedoch der Dberleitung jchwerlich zur Laſt legen fann.

Die Lage in Indien und Iran. 421

Die Entfernung von 22 Prozent der weißen Truppen aus Indien bedeutet einen militärischen Schritt von großer Tragweite. Zu dem Zulufrieg waren mehrere anglosindiiche Negimenter ab- gegangen und noch früher hatte Beaconsfield, ald Demonitration - gegen Rußland bei den Präliminarien von ©. Stefano, 7000 Sepoys nach Malta gejchidt; niemals aber fam es zu einer Truppenverjchtebung von der Ausdehnung wie gegenwärtig. Die Frage entiteht, ob dadurch nicht die Bertheidigung des Indiichen Reiches gegen innere Feinde und gegen Rußland wejentlich erjchwert wird. Offen— bar fühlen ſich die Engländer jehr ficher. Sie befürchten feine Aufitände und willen fich im Befit einer „wiſſenſchaftlichen“ Grenze gegen Nordweiten. Iſt das Sicherheitsgefühl gerechtfertigt? Die stage fann vermuthlic) bloß praftijch entjchieden werden, denn jehr bedeutende militärische Autoritäten haben erklärt, daß es Wahn— jinn jei, an einen ruſſiſchen Angrıff auch nur im Traume zu denken, und ebenjo bedeutende Männer haben jich dahin geäußert, daß nicht8 Elarer, als daß ein jolcher Angriff erntlich beabjichtigt und unabläflig vorbereitet werde. Je nachdem die eine oder die andere Partei in England überwog, iſt man an der Nordweitgrenze vor: oder zurüdgegangen und hat man die indijche Armee vermindert 1885 bloß 57000 Weiße oder vermehrt. Die Whigs er: achteten das Vorrüden für eine unnöthige Geldvergeudung und eine gefährliche Herausforderung, die Tories waren meijt für eine itarfe Bolitif. Im Allgemeinen war die Mehrzahl der Stimmen für weije Selbjtbejchränfung; jelbjt Tory-Redner und »Schriftiteller wiejen darauf hin, da man durch unaufhörliches Weiterdrängen lediglich jichere Stügpunfte verlajje und ſich unnöthig exrponire. Trotzdem iſt, wie einem verborgenen Gejeß der Schwere folgend oder wie fortjchreitende Meereswellen, die Grenze, nach furzen Schwanfungen und Rückſchlägen, im Wejentlichen immer weiter, vorgerüdt. Afghaniſtan und Südwejtperjien wurden freilich wieder aufgegeben, aber Kandahar und Schulter waren eben jowenig wirf- liche englifche Grenzen, wie Amten® und Orleans vor einem Menjchenalter deutjche.. Man konnte fich einfach in Afghaniitan nicht halten, weil „eine große Armee dort verhungert, eine fleine von den Bewohnern aufgerieben wird“. Dafür wurden 1893 Hunza und Nagar, 1895 Tichitral, 1897 Swat, im Norden und Nordweiten von Kaſchmir angegliedert, 1898 wurde Tira gewonnen, 1899 Stelat amtlich) dem britischen Beludjchiitan einverleibt und eine neue Karawanenjtraße von Quetta, dem jtärfiten und vor:

422 Die Lage in Indien und Iran.

gejchobenjten englijchen Waffenplag im Wejten, über Nuktſchi nad) Mejched eröffnet. Acht Jahre früher war Quetta durch den be- rüchtigten Bolanpaß mit der Feſtung Jafobabad und in Folge dejien mit dem Indusgebiet mitteljt Eijenbahn verbunden worden. Auch wurde eine jtrategiiche Bahn wejtlich vom Indus zwiſchen Safofabad und Peſchawar begonnen und ijt zur Hälfte fertig. Diejem, wie es nach englischen Zeugnifjen jcheinen jollte, durchaus widerwillig unternommenen Erweitern der eigenen Grenze jteht bloß ein höchſt geringes VBordrängen der Ruſſen gegenüber. That: jächliche Gebietsausdehnung iſt jeit fieben Jahren im Grunde gar feine zu verzeichnen, mit Ausnahme etwa einiger unbeträchtlicher Bojten auf dem Pamir, nur eine große wirthichaftliche und militärische Erjtarfung in dem bereits Gemwonnenen: die Bahn bis Tajchfend und Andiſchan fortgejett, der Handel immer mächtiger in DOjtturfeitan unter Verdrängung der englijchen Waaren, Expeditionen nach dem Pamir und Ihian-Schan.

Paul Rohrbach hat in dieſen Jahrbüchern den ruſſiſchen Standpunft dargelegt und von den Offizieren in Turkeſtan be- richtet, daß jie nicht davor zurüdjchreden würden, jelbjt im Winter den Hindufujch zu überjchreiten. Die engliſche Auffafiung hält blog Sommerfeldzüge für möglich, wie denn jelbjt nicht einmal eine Handelsfarawane nach Mitte Oftober Kajchmir verläßt, und man glaubt, dat, wenn je rufjiiche Truppen Srinagar oder Peſchäwar erreichten, fie dies nur als Gefangene thun fünnten. Ueber den Hindukuſch führen zwanzig Päſſe, allein ſämmtlich jind jie äußerſt ſchwierig und die wichtigjten dazu noch durch britijche Forts ver: jperrt; meiſt jind fie von reißenden, bis einhundertundzwanzig Meter breiten Flüſſen und Gebirgstobeln durchjtrömt, die fünf und zehn Mal die Straße kreuzen, nirgends aber überbrüdt find. Die Furthen werden in der Regel von mehr oder weniger großen Stantonnements beherricht. Häufig it der Weg bloß ein ab- ichüffiger Stletterpfad, auf dem eine Abtheilung bloß im Gänje- marjch vorgehen fann; von Kanonen feine Rede. Mitunter üt auf jieben bis zehn Tagereifen, wie vom Wularjee bis Gilgit, Die Gegend jo nadt und fahl, daß jelbit das Gras für die Maulejel mitgeichleppt werden muß. Heike Fieberſchluchten wechjeln mit Ichneejturmdurchtobten Hochjochen. Kommen aber wirklich einige taujend Mann nach Kajchmirs lachender Ebene, jo war längit Zeit, dorthin die dreifache Zahl indischer Soldaten zu werfen. Der Weg nad Kaſchmir iſt noch der fürzejte, trotzdem wird ein

Die Lage in Indien und Iran. 423

Heer von mindejtens dreigigtaujend Mann zwei Sommer dazu brauchen. Biel länger ijt der über Afghaniſtan, das zudem erjt noch zu unterwerfen iſt; an achthundert SKtilometer durch den Khaiberpaß und taujend Stilometer über Kandahar. Ueber die Suleimanberge, die Afghanijtan von Sindh und dem Pendſchab trennen, führen nicht weniger als fünfzig Bälle, aber nur drei bis vier jind brauchbar und auc) die nur wenige Monate: wenn es im Weiten diejer Päſſe jchon zu jchneien beginnt, ijt der Oſten noch eine fieberbrütende Einöde, unpajlirbar wegen Ueberſchwemmung und Hitze. Der Indus aber it tief und reißend und durch Banzerflußdampfer gejchügt, während die Brüde bei Suffur durd) die jtarfen Pläte Jafobabad und Multan, wohin man leicht in zehn Tagen vierzigtaujend Mann von Süden, Ojten und Norden werfen fann, und durch befondere Brücdenfort® ausreichend gededt it. Selbit wenn eine Bahn von Buchora bis Kabul gebaut iſt, jo vermindert das nicht die Schwierigfeiten, denn eine Armee von fünfzigtaufend Mann würde, vorausgejegt, dat Alles ganz glatt geht, wenigſtens einhundertundzwanzig Tage zum Transport brauchen. Im Südwejten ijt vollends die einzige Feſtung Quetta ausreichend, jede Invaſion zu vereiteln.

Gejchichtsfundige Leute haben nicht verfehlt, darauf hinzu— weifen, daß thatjächlich Indien hundert Mal vom Wejten und Nordweiten angegriffen worden iſt. Vielleicht jchon von Den Skythen, auf die man die Takhs von Tarila und einige Rajput— jtämme zurüdleitet, dann von Darius, Alerander und Seleufus; jpäter von den Juntjcht, den Parthern, den Saſſaniden; nach den erjten Werjuchen der abbajidischen Araber in Sindh und Kajchmir die jechzehn Einfälle Mahmuds des Ghasnaviden, darauf die Goriden, die Mongolen Dichingisthans, die Tataren Timurs, jelbft die Chinejen über Tibet; in neuerer Zeit Nadir Schahb der Perjer und verjchiedene Herrſcher der Afghanen. Dieſer gewaltigen hiſtoriſchen Reihe jtellen aber die Engländer mit Necht entgegen, daß alle jene Eroberer mit einem Saufen uneiniger Bölfer und Stämme, niemals wie jegt mit einem großen einheitlichen Staate zu thun hatten, daß unjere Schußwaffe die ganze Ktriegstechnif von Grund aus verändert, daß damals weder Eifenbahnen noch Telegraphen noch gepanzerte Flußdampfer be— itanden. Es fann ohne Weiteres zugeltanden werden, daß Die englifche Grenzitellung in Indien thatjächlich ungemein ſtark iſt, und daß namentlich das Netz jtrategiicher Bahnen faum etwas zu

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wünjchen läßt. Dagegen leidet die englische Auffafiung an dem unverbejjerlichen Fehler, daß fie den Gegner ganz und gar nad der eigenen Schwäche beurtheilt. Der englifche Soldat ijt jehr verwöhnt, er jcheut den Winter und die Alpen, er fann nicht jo leicht brüdenloje Flüſſe pajfiren. Der Koſak fühlt ſich im Schnee höchſt wohl und hat e3 gelernt, durch eine kunſtreiche Vers fnüpfung jeiner Yanzen und der leeren Kochtöpfe gute Flöße her: zujtellen. Vor Allem aber bedarf der englijche Soldat eines un- verhältnigmäßigen Gepädes, bedarf der Offizier feiner Zigarren, jeiner Badewannen, jeiner Wein: und Whiskyflaſchen. Auf zehn: taujend Mann fommen zwölftaufend Troßfnechte und fünfzig- taujend Kameele. Auf jolcher Grundlage fußend berechnete nod jüngiteng eine englijche Autorität, Oberjt Hanna, daß eine rujfische Invaſion mindeſtens Ddreihundertfünfzigtaufend Kameele haben müjje. Nun jei aber in dem fahlen Afghaniitan ſelbſt für die genügjamen SKameele fein Futter, daher ſechs Pfund Gerite für den Tag, gering gejchäßt, für jedes Thier wiederum eine Million und jechzigtaujend Kameele für Gerjte nöthig jeien; ein Gerſte tragendes Thier fünne indeß ebenjo wenig von der Luft leben wie eines, das Zelte trägt, aljo weiter drei Millionen Kameele und mit Grazie ins Unendliche. Dabei nimmt der Oberit jtet3 einen Mearjchtag, ebenfalls nach engliſchem Mufter, von zwanzig Stilometer an. Derartige Sindereien werden vom eng- liſchen Publikum und nicht minder von militärischen Fachmännern durchaus ernjt genommen; aber wie, wenn die Koſaken gar feiner Kameele bedürften? wenn jie alles Nöthige im Manteljadf mit jid führten? wenn endlich ein Turfmenenroß zehn Tage lang je ein bundertundjechzig Kilometer zurüdlegen fann und jelbjt jein ‚Sutter (KKlöße aus Schafsfett) aus einem vorgebundenen Beutel im Traben zu ſich nimmt? Das giebt der Invaſion Indiens ein verzweifelt anderes Geficht. Dazu haben die Engländer die GSefälligkeitt gehabt, gerade die unzugänglichiten Alpenpäſſe und die jchlimmjten Wüſten durch gute Straßen und Eifenbahnen zu einem großen Theil gangbar zu machen. Jede Meile, die jie den Ruſſen entgegengehen, macht es für ihre Feinde leichter. Nach vielem Tajten und fruchtlofem Mühen, vielen Siegen und Niederlagen und unentjchiedenen Gefechten haben die Engländer bejchlofjen, Afghaniſtan in Ruhe zu lajjen und als Pufferftaat zu ver- werthen. Dafür haben jie mit Erfolg jich bejtrebt, im Süden von Afghaniſtan eine Einflußiphäre zu jchaffen und ihre indische Grenze

Die Lage in Indien und Jran. 425

bi8 nad) Perfien auszudehnen. Die Ausdehnung der Bahn von Quetta bi8 Nuſchki ward jchon vor zwanzig Jahren empfohlen; Zweige diefer Bahn jollten, jo meinte jpäter Sir Charles Dilfe, nah Seiſtan (zwijchen Khorafjan, Afghaniſtan und Belutjchijtan) und nach dem perjiichen Meerbujen gelegt werden. Seiſtan jelbit wurde 1873 durch britiiche Vermittlung Sir Charles Gold: jmith, Leiter der perjiichen Telegraphenlinie zwijchen den per: fiichen und afghanischen Nebenbuhlern getheilt. Kelat wurde, wie oben erwähnt, jüngſtens anneftirt, und mehrere britifche Erpeditionen durchzogen in den legten Monaten den jchlecht befriedeten Süden Belutſchiſtans, während die Küjte von Keratſchi bi8 Gwadar durch indische Kanonenboote völlig beherrjcht wird. Alle dieſe Operationen haben nicht den geringjten wirthichaftlichen Vortheil, fie find ledig- (ich unternommen, die indische Grenze zu jichern. Das Gleiche gilt zum großen Theil von den Berjuchen, in Sübdperjien, von deſſen jonnverbranntem Boden wenig zu holen it, die ausjchlaggebende Stellung zu erringen. Die Verſuche gehen bis auf den Anfang des achtzehnten Jahrhunderts zurüd, als einige Beamten der britiſch-oſtindiſchen Gejellichaft über Land nah Ispahan reiiten, und richteten jich damals gegen die Holländer; fie erneuerten jich, als Napoleon Gejandte nad) Teheran jchicte, einen Ueberlandzug nach Indien planend, und als die Zaren Mlerander I. und Nikolaus 1. den Schah befriegten. Im Jahre 1856 fuhr eine britijche Ab» theilung den Karunfluß bis Schujter hinauf und eine andere eroberte Buſchir; die offupirten Pläge wurden wieder herausgegeben, aber fortan betrachteten Balmerjton und Nachfolger den perfiichen Bujen für einen englijchen See. Sodann trachteten die Engländer dar- nach, ganz Perfien wirthichaftlich zu unterwerfen. Sie gründeten eine Reichsbank, riſſen den Handel an fi) und jchidten jich an, den Tabaf zu monopolifiren. Die Ausdehnung der Ruſſen in Dagheſtan, ihre Dampfjchiffe auf dem Kaſpiſee und ihr Schienen- jtrang in Turkeſtan vereitelten jedoch diefe Bemühungen und ver— fliehen Rußland das Uebergewicht. Sobald jich der weiße Zar rühren will, fällt ihm Khoraſſan zu. Dadurch wird Herat ernitlich bedroht. Zugleich rüdt der Indische Ozean näher. Hier iſt dem: nad; eine neue Gefahr für das Indiſche Reich und ein neuer Grund für die Ausdehnung von dejjen Wejtgrenze. Hier vorzus bauen, hier ruffischem Vordringen zu begegnen, haben die Engländer drei Mittel erfonnen. Zunächſt die unbedingte Seeherrjchaft an der iranijchen Küſte; ferner das Gewinnen der halb oder ganz

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unabhängigen Stämme Südperjiens; drittens eine Eijenbahn, die Karatjchi oder Quetta mit dem perfiichen Golf verbindet. Mit der See iſt es ihnen bisher geglüct, fie haben nicht nur die politischen Entwürfe der Franzoſen im perfiichen Golfe abgewiejen, jondern auch die Dampferlinien der Franzoſen und Deutjchen (von Bremen) dort aus dem Felde gejchlagen; ebenjo wenig haben bislang ſich die Ruſſen in Bender Abbas fejtgejegt.*) Mit den Luren und den Bakhtirern haben neuerdings die Engländer innige Freundſchaft gejchlojjen, und haben durch ein Haus in Bagdad (Lynch und Co. an fünfzigtaufend gute Gewehre in die Hände der friegerijchen Ber Lam zwijchen Tigris und Puſcht-i-Kuſch und ihrer Nachbarn, der Luren, gebradt; jie hoffen, jowohl der Luren, deren Tüdliche Horden bis nad) Bender Abbas jchweifen, wie der Kurden jich einjtens gegen die Ruſſen bedienen zu fönnen, namentlich wenn Leptere nach dem Schatzel:Arab Berlangen trügen. In gleichem Sinne find fie damit bejchäftigt, eine Straße von Schufter, die Ihon vor zehn Jahren ein indischer Major in geheimem Auftrag refognoszirt hat, nad) Ispahan zu bauen, als Vorbereitung für die militäriſche Beherrſchung Südwejtperfiens. Dieje ganze geräuſch— los ins Werf gejegte Befejtigung englifchen Einflujjes dient zugleich dazu, ihre Stellung am unteren Euphrat zu fräftigen, die nun: mehr nicht bloß von einem rufjischen Vorſtoß, jondern auch von den Deutjchen bedroht it. Die Verlängerung unjerer anatolijchen Bahnen bis Bagdad, die gejichert jcheint, ijt naturgemäß den Briten ein verdrieglicher Dorn im Auge, und jie wenden alle ihre Kraft darauf, ſich wenigitens jüdlich von Bagdad zu behaupten. Denn der Augenblid it nahe, um den jeit Jahrzehnten gebegten Lieblingsgedanfen einer jüdajtatiichen Ueberlandbahn vom Mittel- meer bis an den Stillen Ozean endlid” in Wirklichkeit umzujegen. Eine derartige Bahn joll entweder von Aleppo oder bejjer, da der Sultan widerjtrebt, von Suez ausgehen, den Norden des Nadſchd durchſchneiden, deſſen unabhängiger Emir, jo iſt die zuderfichtliche Hoffnung, jich freundlich erzeigen wird, Basra oder Mohammerab berühren, zwijchen Bujchir und dem hoben Tafellande hindurch nach der jüdperjiichen Landſchaft Yariitan führen, jodann Belutjchtitan durch: queren, wonach das indische Syitem ſich anjchliegt, und von Aſſam oder

=) Ih war neulidy dort und merkte, daß das hartnädige, von Bombay aus unterhaltene Gerücht einer ruffifhen Bejeßung fih auf einen ein« zigen Arzt bezog, den die Ruffen gegen die Belt ausgeihidt Hatten, den einzigen Europäer des Drtes.

Die Lage in Indien nnd Jran. 427

dem birmanijchen Chamo (am Irawaddi) dem oberen Jangtje zuftreben und zulegt Schanghai erreichen. Die Linie wäre zugleich ein Gegen: gewicht gegen die jibirische Bahn. Andere Engländer bevorzugen eine Verbindung der indischen Nordweitbahn mit der turfeftanijchen; die Berbindung jei viel fürzer und die Grenze jei hinreichend geichügt, um jolches Wagnis zu unternehmen. Auch bejteht, muß zugejegt werden, fein hindernder Vertrag wie der, daß feine Bahn ın Berjien bis November 1905 gebaut werden darf, es jet denn von einer rujjiichen Gejellichaft.

Aus der Verlängerung von Eijenbahnen, wie überhaupt der Einführung wejtlicher Kultur, ergiebt jich nicht ohne Weiteres und nicht ohne Reſt eine entjprechende Vergrößerung europätjchen Einflufjes im Orient. Wirkung ruft Gegenwirfung hervor. Wir erleichtern und bejchleunigen den Berfehr, und die Drientalen benugen dies, um in regere Beziehungen miteinander zu treten. Wir greifen halb verfallene Einrichtungen und Staaten an, und die Bedrohten werden aus ihrer Ruhe geſchreckt, um fich zu tärferem Widerjtand zu rüften. Bereits jteigt in dem von hundert Raſſen, Sprachen und Religionen zerrifjenen Indien in ungewiſſer Dämmerung die Idee einer gemeinjamen Nationalität auf, Die früher nie bejtand; bereits beginnt der gemeinjame Gegenjat gegen das Chriſtenthum die Todfeinde innerhalb des Islams, Sunniten und Schiiten, einander näher zu bringen; bereits offen= baren jich Anjäge zu einer neuen, wejtlich angeregten, aber öjtlich- national beitimmten Kultur, wie jie jo glänzend in Japan fich entwickelt hat. Die Waffen des Wejtens werden gegen ihn jelbjt gefehrt. Die wichtigjte dieſer jüngiten Erjcheinungen ijt der Panislamismus. Seit mehreren Jahren it der Schah auf dem treundjchaftlichiten zuge mit dem Zultan, und ich habe die Ueber:

zeugung obwohl meine Freunde in Iran, von örtlichen Ein» drüden geblendet, fajt durchgehends vom Gegentheil durchdrungen jind wenn je wieder im Jehad (heiligen Kriege) die grüne

sahne des Propheten entfaltet wird, Sunna und Shia ſich nicht gegeneinander, jondern zujammen gegen die Europäer fehren werden. Ich habe ferner die Leberzeugung, daß im näheren Orient auc) politiſch daſſelbe gejchichtliche Gravitationsgejeg zu arbeiten an— fängt, wie im ferneren Djten, wo es Die beiden Feinde, China und Japan, im gemeinjamen Widerjtreit gegen die Wejtmächte zu verjöhnen und zu vereinen jich anjchidt. Die trennende Kluft örtlicher Interefjen fällt zur Zeit noch mehr in die Augen, allein

428 Die Lage in Indien und Iran.

die dauernde und unzerjtörbare Wahlverwandtichaft in Art, Sitte und Anjchauung wird, jobald einmal zum Bewußtjein ermedt, zulegt den Ausjchlag geben. Unzweifelhaft hat das Bewußt— werden in den Beziehungen der junnitifchen Staaten ſchon be: gonnen. Die Afghanen und ihr Emir hören auf den Sultan, die muhammedanijchen Maharadjchas und ihre Unterthanen unterhalten einen regen Berfehr mit der Pforte; Derwiſche durchitreifen pre: dDigend, belehrend und anjtachelnd alle Lande von Oſtturkeſtan und Birma bis zum Mittelmeer, wie denn ihrem Antrieb die Unruhen jo im indischen Nordweiten, wie in QTurfeftan (Andijchen 1898), wie jogar in Kurdijtan zugejchrieben werden. In Mekka vollends, wohin auch Schiiten pilgern, ift der große Sammelpuntt nicht nur für religiöfe und fulturelle Nachrichten aus der ganzen Welt des Islams, jondern auch für politifchen Meinungsaustaujd. Kun iſt es aber notorifch, daß infolge der Dampfichiffe das Wallfahrten nach Mekka, gerade auch von Indien, legthin ungemein zugenommen hat. Der Panislamismus bildet zugleich ein neues geiftiges Band zwijchen Südafien und Oſt- und Südafrika, ein - Band, das die Interejjen der halben Bevölkerung der Gegenküſten vereinheitlicht und ſtärkt. Eine ähnliche VBermittelungsrolle ſpielt der jchwächere Bruder des PBanislamismus, der neu aufitrebende Hinduismus, der zwar nicht jo viel Bedeutung beanspruchen dari, weil er vorläufig bloß religiös, nicht politijch fich entfaltet, und ferner weil er nicht jo weltweite Ausdehnung hat, deſſen jteigende Macht aber nichtsdejtoweniger fich jcharf bemerkbar macht. Bei dem Hinduismus hat jich zweimal die Erfahrung gezeigt, die bei uns der römischen Kirche zu Theil ward, Wie der Katholizismus aus dem Angriff der WProtejtanten geläutert und mit neu er wachender Straft hervorging, jo hat der Brahmanismus den Angriff der Buddhiſten überdauert, hat einige von dejjen Elementen auf genommen und jich infolge Ddejjen (unter Mijchung mit Volks— aberglauben) zum Hinduismus umgestaltet und hat nunmehr, von den Ehrijten bedroht, jich zum Widerjtand aufraffend, aus eigener Yebensfülle eine zweite, vielverjprechende Wiedergeburt erreicht. Was übrigens an äußerer Wucht dem Hinduismus abgeht, erjegt er durch die Zahl; jeine Anhänger werden auf 150 Millionen geichägt, während die indischen Muhammedaner, obwohl gleicher: maßen bejtändig zunehmend, faum auf 55 Millionen fich belaufen. Neben den Neligionen liefern ein bleibendes und unverwüſtliches Gegengewicht gegen die weitliche Kultur die Sprachen. Auch ihr

Die Lage in Indien und Iran, 429

Einfluß in dem Widerjtreite wejtöftlicher Wechjelwirkungen iſt im Wachjen begriffen, denn durch den Drud von oben wurden die jtärferen Sprachen in die Breite getrieben und zerdrüdten bei ihrem Croberungsgange die jchwächeren. Wie fi) unter dem Drud der Araber und Europäer Suaheli in Afrifa und Malayijch in Inſelaſien ausbreitet, jo unter der Fremdherrſchaft in Indien das Urdu oder Hindojtani. Der Herrjcher begünjtigt eine einheit- liche Sprache bei feinen Unterthanen, weil dialektiſche und jprachliche Buntheit jeine Verwaltung jtört. Wir jelbjit juchen bewußt in Neuguinea einer der zahllojen PBapua-Mundarten den Vorrang zu verjchaffen, einfach der Handlichfeit halber. So iſt es ge- fommen, daß gegenwärtig Hindojtani von 95 Millionen gejprochen oder verjtanden wird. Ebenjo ijt in Iran, das durch wejtliche Einwirkungen, bejjere Straßen, Zelegraphen, Außenhandel zu größerem Zentralijiren veranlaßt wird, das Perſiſche in einem Stadium der Ausbreitung.

Sch habe mehrfach betont, daß die mächtigen Strömungen, die eine innere Konjolidation des Orients zu verurjachen oder zu befördern geeignet find, zwar bereit fichtbar, indejjen wejentlic) noch im Entjtehen, keineswegs in voller Entfaltung und Wirkſam— feit begriffen jind. Gegenwärtig werden die Verjchiedenheiten noch zehnmal klarer und jchärfer empfunden, al® Die Ueberein— jtimmungen, und auf Grund Diejer Verjchiedenheiten herrſcht Europa. In PBerjien nimmt der Oſten feinen Antheil am Wejten und der Norden hat feine Sympathie für den Süden, die jeßhafte Bevölferung iſt wider die Nomaden und die Beamten wider das Volk. Der tüchtigite Stamm des Reiches, die Leute von Aferbeidjchan, sprechen türfifch, der äußerſte Südwejten Spricht arabijch, im äußerſten Südoften jind Belutjchen; Kurden und Luren und Bakhtiaren und Gilaner und Majenderaner haben je ihre bejondere, meijt ans Pehlewi erinnernde Sprache und werden von den Farſi Redenden nicht verjtanden. Dazu noch Armentjch, das Sprijch der Nejtorianer und das jeltjame Patois der Juden. Der Südweitjaum und ein Theil der Kurden gehört der Sunna an, der größere Reſt der Schia. Mehnlich wird in Belutjchiitan arabijch, belutjchiich und brahui gejprochen, während Farſi Die Schriftjprache it. Afghaniſtan zerfällt linguiftiich in eine Unzahl afghanijcher Mundarten (Bujchto), türfijch, ſeiſtan-perſiſch, ſartiſch und die Sprachen Kafiriitans und der Nachbarländer. Indien vollends ijt fein Land noch ein eich, jondern ein ganzer Erd—

430 Die Lage in Indien und Jran.

theil; Kap Komorin it von den Gipfeln Kaſchmirs joweit ent- fernt, wie Stodholm von den Nil Kataraften, dem entjpricht denn auch die ungeheure Mannigfaltigfeit jeiner Raſſen, Sprachen und Zivilifationen. Urrajjen find die Ktolarier des Ganges und Brahmaputra und die Dravida des Defhans, noch jetzt beiderjeits viele Millionen umfaſſend; jpäter famen die Mrier, deren Ab— fümmlinge reinen Blutes faum zwanzig Millionen betragen, nod jpäter Türfen und Mongolen. Dazu wurden im Often und Nord: often Birmanen und tibetanische Stämme angegliedert. Diejer Völkermiſchmaſch enthält an neunzig Hauptſprachen. Das wichtigite Trennungselement aber iſt der ſtets lebendige und legthin höchſtens noch verjchärfte Gegenjaß zwijchen Hinduismus und Islam. Das herrichende Volk bedient ich dieſer Gegenjäge meijterhaft. Es nimmt jeine Soldaten aus den arischen Sikhs und den nepalijchen Gurkhas (den Tibetanern verwandt), den Dogra Kaſchmirs und den Karen des Salwen und Irawaddi, und denft jogar daran, eine chinejische Grenztruppe zu errichten; es nimmt jeine Beamten aus den hinduiftischen, jtolzen Nadjchputen und den muhammedanijchen, feigen Bengalen, und refrutirt jeine Polizei aus allen Klaſſen der Eingeborenen vom Pendſchab bis nach Madras und Birma, Wie die Völfer, jo unterjcheiden ſich die Zivilifationen: Kopfjagende Kannibalen und höchjtgebildete Denker und Künſtler. Die erjtaun- liche Zerflüftung und Zerjplitterung Indiens hat das Erobern und Herrſchen verhältnigmäßig leicht gemacht. Die Engländer weifen mit Genugthuung darauf hin, daß einhundertundvierzig- taujend Weiße im Stande find, zweihundertundneunzig Millionen Eingeborene des indo=birmanijchen Reiches im Zaum zu halten, und daß bei Plafjey, wo der Grundjtein der jegigen Herrichaft ae (legt wurde, fünfzigtaujfend Bengalen vor den dreitaufend Mannen Elives flohen. Auch wir behaupten mit wenigen Hunderten unjer oſtafrikaniſches Reich von fünf Millionen recht rauflujtiger Einwohner.

Die Engländer haben Indien gewonnen und dadurch Itrategiich und finanziell ihre Weltherrichaft begründet und er: halten. Auch hat, troß der vereinzelten Agitation einflußlojer bengalijcher Journaliften und Advofaten, ihr Regiment vorläufig feine irgendwie erniten Gefahren im Inneren zu erwarten. Selbit die Mordanfälle fanatijscher Muhammedaner auf Europäer in Yahore, Peſchawar, der Provinz Audh, haben nur örtliche Be- deutung, da einjtweilen der indijche Islam einer fejten Organijation

Die Lage in Indien und Iran. 431

noch ermangelt. Die eingeborenen Truppen, deren Unterhaltung vielen Maharadichas gejtattet ift, fünnen, außer etwa dem Heere des Nizam in Südindien, feine Bejorgnijje erregen, da jie zu ichlecht disziplinirt find. Ein Theil gerade der gebildetiten Hindu und Moslems jind aufrichtige und überzeugte Freunde Englands. Am bedenklichiten it noch, dak die Werken allmählich die Fühlung mit den Yandesfindern verlieren. Früher, vor den Dampfern und vor Suez, gingen die Weißen auf eine halbe oder ganze Yebengzeit nach Indien und verjchmolzen in Sitte und An: ihauung mit dem Volke; jet auf wenige Jahre mit Urlaub in die Heimath dazwijchen, ſodaß die Interefjengemeinjchaft völlig erlojchen it. Früher ehelichten ſie Töchter des Landes, jegt nur weiße Frauen; früher bezogen fie ungeheure Summen und legten jie in großartigen Paläſten und prunfvoller Haushaltung an: das gefiel und imponirte den Ortentalen; jebt jind die Gehälter Fleiner und möglichit viel von ihnen wird für die Heimath gejpart. Andererjeit8 jteigen die Babu, die eingeborenen Beamten, empor. Da dem Sahib die indischen Sprachen nicht mehr wie früher gleich einer zweiten Mutterjprache geläufig jind, erjegt ihn der jtrebfame und billigere Babu. Da ferner der Babu mit wenig Geld nad) Yondon reifen fann und er dort viele Arme und Elende jieht und nicht verfehlt, dies daheim zu erzählen, jo jinkt jeder Sahib in der allgemeinen Achtung. Schon jeßt iſt dreiviertel der Verwaltung, der Gerichte, der Bojten und Telegraphen, des Eijenbahndienftes und ein jehr großer Theil des Außenhandels in den Händen der Eingeborenen. Die Bejiegten nehmen im Frieden zurüd, was die Sieger im Kriege genommen. Wie Walleniteind Bauern oder wie die Ehinejfen von den Mandjchu. Die Sache wird um jo leichter, je weniger die Eroberer als Ktoloniiten im unterworfenen Yande Fuß gefaßt haben. Während nach Sibirien allein in den legten fünf Sahren rund eine Million ruſſiſcher Bauern gewandert iſt und Turkeſtan in zehn Jahren an 35000 rujfiiche Siedler empfangen bat, haben die Engländer ein ganzes Jahrhundert durch in Indien nichts für nationale Einwanderung gethan. Im Gegentheil, ein bürgerlicher Siedler, weder Militär noch Beamter, jtört Die amtlichen Kreiſe. Bloß in Ajjam find einige Theepflanzer jchottijcher Herkunft. Der Fehler wird fich blutig rächen, denn auf die Dauer it ein erobertes Land, jelbit ein tropiſches, ohne Koloniſten der Grobererrajje nicht zu halten. Das haben Phönizier, Griechen, Römer und jelbit die viel gejchmähten Spanier und WBortugiejen

432 Die Lage in Indien uud ran.

bejjer verjtanden. Dabei war der Fehler jo leicht zu vermeiden. An den Abhängen des Himalaya, im herrlichen Feenlande von Kaſchmir, in den Thälern der Suleimankette, in den Alpenweiden des jüdlichen Pamir ijt das prächtigjte Klima und viel guter Boden für britijche Siedler. In Indien fann fi) Jedermann jein Klima und jeine Ackererde ſelbſt ausjuchen, er hat die größte Auswahl, von der mittleren Indusebene, wo es heißer ijt als in der Sahara, bis zu den nebligen Triften unter den Gletichern des Gaurtjanfar.

Die neueren auswärtigen Beurtheiler der britijchen Herrichaft in Indien haben jämmtlich bloß Lobens- und Bewundernswerthes gefunden;*) jo der bedächtige Freiherr von Hübner, der jenjationell geijtreiche Orientaliſt Darmejteter, der burjchifos Tiebenswürdige Plauderer Ehlers, die gelehrten Politiker Yacheval-Clavigny und Barthelemy:St. Hilaire, unterjchiedliche amerikanische Miſſionare und mehrere deutjche Philologen, Zoologen und Ethnologen. Ge: wöhnlich mit vortrefflichen Regierungsempfehlungen verjehen, famen diefe Beurtheiler zumeijt oder ausschließlich mit Engländern zu: jammen oder folchen Europäern, die bereits englijcher Art jich an: geähnlicht Hatten. Bielleicht iſt es nicht unnöthig, and) einmal eine abweichende Meinung zu Worte fommen zu lajjen. Ich habe joeben hervorgehoben, daß ein wurzelhafter Grundfehler des ganzen Syitemd der Mangel eigener Ktolonijten it. Die Majchinerie des Syitems mag noch jo vollfommen, noch jo fein ausgearbeitet jein, wie die unabläjjige, angeitrengte Arbeit mehrerer Gejchlechter fie nur hat ichaffen können, die einzelnen Schrauben und Räder mögen noch jo glatt ineinandergreifen und jtörende Neibungen noch jo vorjichtig vermieden werden: das Syjtem bleibt ein fünjtliches und wird nun und nimmer ein organijches; es iſt wie ein leichter Güter-Schuppen über der Erde, nicht wie ein feſtes Haus in die Erde hinein: gebaut oder gar wie ein Baum aus ihr hervorwachjend. Daher bedarf es feines Erdbebens, noch eines Bulfanausbruches, jondern bloß eines mäßigen Sturmes, um das Gebäude zu erjchüttern. Es ijt richtig, daß einige Tauſende der Landesſöhne in englijchem Geijte leben und wirken, daß zwei bis drei Millionen die englijche Sprache verjtehen, allein die Zahl der Erjteren ijt zu unbeträchtlidh und eine Sprache, die bloß dem bequemeren Berfehr dient, iſt wie ein Kleid, das an- und abgethan wird; aud) hat weder ihr Spaniſch—

*) Einer Zeitungsnachricht zufolge macht bloß ein franzöfilher Maler eine

Ausnahme, defjen Namen ich leider vergeffen. Der Maler ſieht viele ihlimme Zeichen und prophezeit den baldigen Sturz der Engländer.

Die Lage in Indien und Jran. 433

Neden die Tagalen den Spaniern, noch das gemeinjame Holländijch die Hottentotten den Buren geneigter gemacht. Diejenigen aber, die von den Engländern einträgliche Stellen empfangen, wähnen ohne fie noch fettere Aemter an jich zu reißen. Wirkliche Anhäng- lichkeit an die Fremdherren hat unter Taujenden faum Einer, aber Alle beugen fich dem Zwange oder klammern fic) an den zeitweiligen Nußen. Mit dem Scharfblid des Schwachen und dem argwöhnijchen Neid des Drientalen erjpähen die gebildeten Inder rajc die Blößen ihrer Herren, während der Pöbel von jedem noch jo unficheren Gerüchte wie Laub vom Wirbelwinde bewegt wird und auf ihn nicht der geringjte Verlag iſt. Dilfe, Roberts, Rawlinſon geben jelbjt zu, daß die geringjte Schlappe in einem Feldzug gegen die Ruſſen der Achtung vor England jofort einen groben Stoß ver: jegen würde und leicht jofort zu einem allgemeinen Aufitand an- reizen fönnte. Größere Niederlagen, durch‘ die Hand des Zaren oder jest in Südafrifa erlitten, werden daher für die englijche Stellung in Indien unheil- oder gar verhängnißvoll fein. Bon ji) aus wagen gegenwärtig die Orientalen fajt nichts, mit Hilfe von Weißen aber fajt Alles. Das Scidjal Indiens hängt mithin von Der inneren Zage nur wenig ab und fajt nur von auswärtigen Ereignijien. Die Frage it nun jehr oft aufgeworfen worden, ob die jegige Lage, ob die britijche Herrjchaft ein Glüd für das Land jei und ob von anderer Regierung Bejjeres zu erwarten? Mit einer gewiſſen Dürftigfeit der Phantaſie ward dabei die andere Regierung ſtets mit einem Einfall der Ruſſen unausweichlich ver- fnüpft, in jedem Falle aber wurde die Frage von den erwähnten Beurtheilern jämmtlich dahin beantwortet, daß die jetige Ver: waltung die denkbar bejte und geeignetite jei, die Eingeborenen glücklich zu machen. Hier möchte ich nun zunächit fejtlegen, daß Abjicht und Wirkung nicht verwechjelt werden dürfen: was aud) immer das Ergebnik des bisherigen Negimes gewejen ijt oder jein mag, das Ziel der Engländer war einzig und allein, England jtarf und reich und glüdlich zu machen. Da uns Bismard gelehrt hat, einzig und allein für Deutjchland zu jorgen und für andere Leute feinen Finger zu rühren, jo dürfen wir darin fein Arg jehen. Sind jedoch die Inder glücklich? Nein. Das kann nun ihre eigene Schuld jein und iſt es auch zum Theile, da tadeljüchtige und halt- oje Menjchen jchwer zufrieden zu jtellen find, oder fann Schuld der hochmögenden Herren fein. Ob indejjen die Unzufriedenheit berechtigt oder unberechtigt, das iſt wiederum wohl für den Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 3. 28

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Moraliiten von Belang, aber ganz und gar nicht für den Politiker, dem es lediglich darauf anfommt, wie tief und verbreitet die Un: zufriedenheit ift und welche Wirkungen fie hervorrufen fann. Sordan verbreitet jich in den „Sebalds“ über das träge saullenzerleben der Seehunde von San Franzisko. Sie werden vom Staate gefüttert, Niemand darf ihnen was zu Leide thun, fie fünnen jich frei im Meere bewegen und thun was fie wollen; fein Käfig, feine Schranfen. Und trogdem entdeckt der Dichter, daß dies Schlaraffenleben den Thieren zur Laſt ift. Der ſtärkſte und feinjte Neiz fehlt. Kein Hunger, darum fein Genuß; feine Gefahr, darum feine echte Lebensfreude. Nehnlich it das Gefühl der einjtigen Herrjcherklafjen Indiens, jo der Radjchputen und der Mahrattas, wie der Mogulsmannen. Sie beziehen glänzende Benfionen und jchwelgen in Ueppigfeit und Sinnenlujt, aber es iſt doch nur ein Schatten- dajein, denn es it unthätig und unnüß. Gehen wir weiter zu den einflußreichen Heiligen und Gelehrten der Brahminenfajte, jo fann von ihnen feine Sympathie für den Weften erwartet werden, der überall ihrem Einfluß in den Weg tritt und der für ihre tiefiten Gedanfen nur Spott hat. Die zahlloje Beamtenfajte ferner ärgert jich täglich über die gejellichaftliche Zurüdjegung, die jie von den weißen Vorgejetten erfährt, jowie über den verdrießlichen Umjtand, daß fie nicht nach edler orientalischer Sitte unterjchlagen und erprejien fann. Die Maſſe des Volkes endlich hat Zweierlei gegen ihre Herren vorzubringen. Bor Allem find diefe nicht ihres Blutes noch Glaubens noch Lebenswandels, es find eben Fremde, unverjtanden und jelbjt ohne Verſtändniß. Obwohl daher die Verwaltung jo ziemlich aller native states, in denen ein dem Namen nach jelbitändiger Vaſallenfürſt unter „Beirath“ eines Reſidenten waltet, jchlecht und forrupt und volfsbedrüdend ift, jo it e8 doch für die Engländer ein jteter Gegenjtand der Verwunde: rung, daß jchier fein Menjch aus diefen Maharadjcha-Staaten nad den doc) jo unendlich viel befier verwalteten Provinzen auswandert, die unmittelbar unter englijcher Fauſt jtehen. Die zweite Klage des Volkes ift Die, daß es immer ärmer, während der Sahib immer reicher werde; früher jet der Durchjchnitt des Tageslohnes das Doppelte und Dreifache gemwejen wie jeßt, da er auf 16 Pfennig gejunfen. Wie weit das richtig, wage ich nicht zu entjcheiden, jedenfalls hört man es allgemein behaupten. Alle Inder aber empfinden auf das Bitterjte das Eingreifen in ihre Lebensgewohn— heiten. Um den Staat fümmern fich jchließlich auch bei uns

Die Lage in Indien und Iran. 435

nur die Wenigjten: wenn man ihnen aber ihr Bier oder ihre Pfeife nimmt, werden ſie ungemüthlih. Die Koreaner haben vor drei Jahren eine Revolution gemacht, weil man fie ihrer Zöpfe berauben wollte, und die Perjer, weil jie feine Zigaretten rauchen wollten, die von ungläubigen Händen zubereitet. Ebenjo erzeugt in Indien oft das Eingreifen in tägliche Sitte und Gewohnheit Widerwillen und Feindſchaft gegen die Negierung. Diejelbe hatte viel zu dulden, weil fie die Wittwenverbrennung verbot, und jeßt, weil jie ihren Untertanen nicht erlauben will, an der Peſt und Cholera zu jterben. Vielen ijt eben der Tod nach eigener Wahl lieber, als das Leben nach fremder, ein jelbjtverordnetes Leiden lieber, als Gejunden durch fremdes Nezept. Auch bei uns wäre und iſt noch ein asketiſcher Katholik höchjt unwillig, wenn man ihn bei jeiner Fleiſchestödtung jtörte. Kurz, britischer und orientalischer Geiſt jind jo unvermijchhar wie Waſſer und Del.

Das Verhältnig des englijchen Eroberer8 zu den Eroberten wird am klarſten dadurch bezeichnet, daß er fich möglichit von ihnen abjondert, möglichjt wenig direft mit ihnen verfehren will. Mit Ausnahme der tapferen Eingeborenen-Kegimenter haft und ver— achtet er fie. Sein Hund und fein Pferd jtehen ihm näher als jie. Sie haben feinen Theil an jeinem Leben. Es find wind: Ichiefe Linien, die in aller Ewigfeit jeine Zirkel nicht freuzen. Einige unbedeutende Ausnahmen bejtehen: ein Nadjcha wird ein berühmter Kridet-Spieler, ein rühriger Buddhiit oder Jaina wird von der Londoner Gejellichaft geehrt, vereinzelte Hindu und Parſi werden in indijche Freimaurerlogen aufgenommen. Im Wejent- lichen jedoch wird die colour line auf das Strengite bewahrt. Man jollte nun denfen, daß im gelobten Yande der Kaſten jolche Aus: Ichließlichkeit fein jonderlich Befremden hervorrufen fünne, allein jeltjamer Weiſe gilt jie für natürlich bei Indern, aber für tadelns- werth bei Europäern. Vielleicht jchwebt der Gedanfe vor, daß der Herricher mit Jedermann und allen Klajjen auf gutem Fuße jtehen jolle. So verfehren bei uns Burjchenjchaften nicht mit Korps, aber Häufig Profejjoren unparteiijch mit beiden. Das Verhalten der Engländer erregt um jo mehr Anjtoß, weil e8 nicht gleichmäßig it. Denn, ohne jich irgend näher einzulafjen, bevorzugen jie that- Jählih Hindu vor den Muhammedanern, welch lettere jich was Bejjeres fühlen als ihre „götzendieneriſchen“ Nebenbuhler. Bor einigen Wochen noch ging ein Sturm des Unwillens durch ganz Yahore, weil der Statthalter des Pendſchab bei einem offiziellen

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436 Die Lage in Indien und Jran.

Bejuche bloß den anmwefenden Hindu, nicht den Moslimen die Hand gedrüdt.

Indien iſt für Großbritannien eine unerjchöpfliche Quelle des Reichthums. Die Gehälter der engliichen Offiziere und Beamten belaufen ſich auf 1,6 Milliarden Mark, Ein Unter-Leutnant be— fommt 340 Markt monatlich, ein Negierungspräfident jährlich 60—120 000 Mark, der Vizekönig 600 000 Marf. Eine derartige Befeitigung der leitenden Klaſſen Englands ijt offenbar für das britifche Reich jelbjt von unjchägbarem Nuten. Die Abficht, ein— fach britifchen Bürgern zu einträglichen Stellen zu verhelfen, liegt oft Ear zu Tage. Schon die Offiziere und Soldaten verbringen faft ein halbes Jahr in angenehmer Muße auf den ſanitäriſchen Höhenftationen, bei vielen hohen Beamten ijt aber ihr Amt gar bloß eine Sinefure. Ein Mann wie Sir H. Nobertjon, der poli— tiſcher Offizier bei dem afghanijchen Kronprätendenten Ajub Khan ijt, mithin jo gut wie nichts zu thun hat, bezieht 75 000 Mar. Sodann ijt der Außenhandel Indiens, der über 21/; Milliarden Mark beträgt, überwiegend in britiichen Händen und das Beitreben geht troß des gerühmten Freihandeliyftems genau wie in Negypten darauf hin, fremde Mitbewerber „wegzuefeln“. Waaren aus fontinentalen Staaten Europas werden bei der Zollunterjuchung oder jchon beim Löſchen der Ladung geflifjentlich gejchädigt, während britiiche Waaren glatt durchfommen,*) und jo weit geht die Klein— lichkeit, daß 3. B. ein Fall, der mir perjönlic befannt iſt, ein Franzoſe nie Preislisten heimischer Firmen lejen konnte, weil jie ing Meer" getaucht und die Seiten aneinander geflebt waren. Der ewigen Quängeleien müde, bejtellte der Franzoſe zulett bei englijchen Firmen. Die Kolonialpolitif anderer Nationen wird für proteftionijtijche Willfürherrjchaft erklärt, aber Indien wird despotijch regiert und Freihandel bejteht hHauptjächlich in der Theorie. Drittens werden aus dem indijchen Staatsjchag britifche Stationen und Unternehmungen außerhalb Indiens bezahlt. Ein anderes Volk würde, jobald in den Beſitz „der Schatfammer der Welt“ gelangt, es vermuthlich gerade jo machen, nur jollte die angeljächjiiche Preſſe nicht den Spaniern vorwerfen, daß fie vom Golde der armen Kubaner ihre Gejandtjchaft in Waihington unterhielten. Das indijche Neich zahlt die Gehälter der britiichen Gejandtjchaft im Teheran und jämmtlicher Nefidenteu von Maskat bis ind Somali—

*) Die Varteilichkeit war in Aegypten fo offenkundig, daß deutſche Kaufleute einen Prozeß anhängig madten, der lange die Diplomaten beſchäftigte.

Die Lage in Indien und Fran. 437

land, es unterhält die fojtipielige Feſtung Aden, die Wachtichiffe und Leuchtthürme im Berfijchen und Rothen Meere, die britijchen Telegraphenlinien durch die Türkei und Perſien, die Bolizeitruppen von Singapur und Hongkong und es hat endlich aufzufommen für die Kriege und Eijenbahnen nicht bloß in Belutjchiitan, Birma und der jüdchinejischen Grenze, jondern auch für die meijten Kriege in Oftafrifa, injofern dieje mit indischen Truppen geführt werden. Englische Politiker jelber haben das Syitem als ein höchſt unge— rechtes bezeichnet, auch richtet fich dagegen bejonders die Aftion des indischen Kongrefies, jener Jahresverfammlung von Hindus Agitatoren.

Perſien ijt mit jeinen neun Millionen Einwohnern weit weniger wichtig als Indo-Birma mit zweihundertneunzig. Ueber jeine gegenwärtige Lage ijt nicht viel Gutes zu berichten. Seit— dem Mujafar den Thron bejtiegen, iſt das Land unaufhörlich zurüd- gegangen. Noch nie waren die Straßen, jelbjt die Hauptfarawanen> wege, jo unjicher und noch nie die Finanzen jo ärmlich. Das Heer it in unaufhaltjamem Verfall und eine Flotte iſt nicht vorhanden. Die Verwaltung it jchlecht und bejtechlich wie immer, Es wird nicht lange dauern, jo wird auch Perſien in europäijche Gewalt fommen. Dabei ijt, mit Ausnahme der gänzlicd) verworfenen Schirafer, das Volk tüchtig und fernhaft; aus den Kurden ließe jich eine Grenztruppe herjtellen, wie fie fein Reich fich befjer wünjchen fann; es fehlt nicht an Kraft und Intelligenz, an jtaatSmännijcher wie fommerzieller Fähigkeit. Bloß die Regierung it hoffnungslos. Wie einjt die Parther aus einem unwifjenden, unbedeutenden Grenz: ſtamme fich zum Herrjchervolf emporjchwangen, jo fünnten jeßt die fraftvollen Kurden, deren Gejammtzahl fait zwei Millionen it, das Szepter an fich reißen, wie jie es unter Obeidullah jchon 1880 verjuchten; fie haben gegenwärtig eine ähnliche Stellung wie die Iren in Großbritannien und die Buren in der Stapfolonie. Allein das unaufhaltjame Wordringen der Europäer wird es zu einer nationalen Entwidlung der Kurden vorläufig nicht fommen lajjen. Gewöhnlich wird eine Theilung Perſiens zwijchen Rußland und England erwartet, und die Perſer jelbit haben fich in eine jolche Ausficht Schon im Voraus hineingefunden. Beachtenswerth it, daß auch eine deutjche Partei bejteht. .Unjer Handel iſt mächtig im Wachen, ſowohl der über Trapezunt und Reſcht wie der über Buſchir und Bagdad, unjere Ingenieure haben die Khanifin-Straße gebaut, mehrere Deutjche jind im Dienjte das Schah, jchlieklich

438 Die Lage in Indien und Iran.

wird eine Verlängerung unjerer anatoliichen Bahn Berjien berühren oder wenigitens der Grenze jehr nahe fommen. Ich habe Perſer getroffen, die jogar eine Dazwiſchenkunft von unjerer Seite erhofften, um Iran vor Ruſſen und Engländern zu erretten. Abdurrahman aber war von der Rede des Kaiſers in Damaskus und jeiner Freundſchaftserklärung an die muhammedaniiche Welt jo entzüdt, daß er jtehenden Fußes einen deutjchen Lehrer für jeine Söhne nach Kabul entbot und hinfort von allen Ungläubigen die Deutichen am höchjten jtellt. Jedenfalls haben Deutjche und Franzoſen ein bejjeres Berjtändniß und durchgehends auch mehr Sympathie für orientaliiches Wejen als die Engländer, während bei den Ruſſen jih mehr ein dumpfes Gefühl der Rafjen- und Wahlverwandtjchaft geltend macht, als überlegene Intuition. In der That hat unjere Völferfunde und Biychologie und Naturwifjenjchaft einen Fond von Sympathie und Brennpunkte deutjcher Kultur in ganz Aſien geichaffen, woran eine folgenreiche Entwidlung fich fnüpfen wird. Ueberall wirken in ihrer Heimath Armenier, die auf unjeren Hoch: jchulen ihre Bildung erlangten: Araber, Türfen und Perſer wiiien, daß wir uns eifrig mit ihrem Schrifttyum und ihrer Kultur be- fajjen; Inder und Chinejen, bei denen gelehrtes Wifjen jo unend— lich viel mehr gilt als bei den genannten drei Rafjen, legen großen Werth darauf, daß wir in der Sanskritliteratur und der Sinologie den erjten Rang einnehmen; Japan tt jo jehr der deutjchen Wiſſen— ichaft geneigt, daß an der Univerjität von Tofio mehr Profejjoren aus Deutjchland find als aus allen anderen Nationen zujammen und daß namentlich die japanische Medizin und fait das ganze Necht deutjch find. Die ſibiriſchen Stämme haben zwar feine Ahnung noch von unjeren Arbeiten, aber auch bier haben Deutjche das Beite geleiftet, und es ijt wohl möglich, dat einjt die Gelehrten der Burjaten und Jakuten das anerfennen.

Auch Iran wird dem Schiedjal europäijcher Herrichaft nicht entgehen, allein es hat noch immer eine erjtaunlicze Lebenskraft bewiejen und der nationale Geilt hat noch immer der Kultur der Erobernden obgefiegt. Es hat die Skythene und Hunneneinfälle und hat die Griechen überdauert; e8 hat in Wifjenjchaft und unit der arabijchen Herren bald das Uebergewicht erlangt, es hat die Mongolen zulegt abgeſtoßen und unter den einheimischen Sefaviden eine hohe Blüthe erlebt, e8 hat die Osmanen aus Ajerbeidjchan und die Ruſſen aus Gilan und Mazendaran vertrieben. Wenn es aus den wejtlichen Ideen jet frijche Anregung erhält und unter

Die Lage in Indien, und Iran. 439

wejtlichem Drude zu jtarfer Einigkeit jich jammelt, fann es in ferner BZufunft von Neuem eine nationale Wiedergeburt und ein glänzendes Zeitalter heraufführen.

Die Kräfte, die ein Wiedererwachen orientalijcher Macht und Kultur ermöglichen fönnen, wirfen indeß langjam und in der Stille. Bloß in einem jo einheitlich entwidelten und jo national jelbjtbewußten Lande wie Japan fonnte eine völlige Umbildung und Neorganijation des Staate8 und Volkes in wenigen Jahr: zehnten vor ſich gehen; in jo zerjplitterten und zerflüfteten Ge: meinwejen, wie fie in Border: und Südaſien bejtehen, dauert ein jolcher Prozeß viel länger. Auch wenn die Umwandlung durch einen religiöfen Anſtoß bedingt iſt: jo hat der Buddhismus zwei, das Chriſtenthum drei Jahrhunderte gebraucht, bis Die religiöje Bewegung ſich in politiiche Macht umgejegt, und aud) der raſch wie frejiend ‚Feuer um fich greifende Islam hat ein Jahrhundert nöthig gehabt, um bis Spanien und Indien vorzu: ſchreiten. Dazu iſt der wirthichaftliche Verfall wenigjtens in Iran jo ungeheuer und die durch Dürre und Entwaldung verurjachte Verödung des Bodens jo entjeglich, daß fünfzig Jahre Aufforjtens und gewiljenhafter Landwirthichaft noch nicht Hinreichten, um früheren Wohlitand zurüdzubringen. Dagegen iſt ein baldiger bedeutender Aufichwung des Landes durch den wejtöjtlichen Handel zu erwarten, der in jüngjter Zeit unverfennbar darauf ausgeht, die uralten Verfehrsjtragen, die über Yand nach Indien führen, aufs Neue zu beleben. Diejem Handel vor Allem verdankte einjt Sciras feine Blüthe im jpäten Mittelalter, und Isfahan, das noch) vor einem viertel Jahrtaujend eine Million Einwohner zählte (gegen jechzigtaujend jett), und das bis zur Zeit Peters des Großen und der englijch-perfiichen Handelsgeſellſchaften die größte und reichite Stadt ganz Vorderajiens war.

Gegenwärtig iſt der wichtigite Faktor in der Yage jo Indiens wie Süd-Irans Großbritannien. Die britijche Machtjtellung jedoch it von zwei Stombinationen bedroht, einem Yandangriffe von Nordweiten und einer Umgeitaltung der Meachtverhältnijje im Indischen Ozean. Beiden Möglichfeiten gegenüber arbeitete England mit Eifer daran, jich eine eigene Bahnverbindung zwijchen Aegypten und Indien zu jchaffen, zum Schu und zur Abwehr nach Norden zugleich und nad) Süden. Zu Lande hat es dem Vordringen der Deutjchen von Anatolien, der Ruſſen von den SKajpigegenden, der Franzoſen vom Mekong zu begegnen.

440 Die Lage in Indien und Sran.

Zur See verjucht Frankreich von Dichibuti, Madagasfar und Tonfin aus Einfluß zu gewinnen; Rußland möchte ji) an der Küſte in der Nähe Abeſſyniens feitiegen und hofft auf einen perjiichen Hafen. Es jcheint zweifelhaft, ob da eine Ueberland— eifenbahn den Engländern wirklich viel helfen fünne. Sie fann nicht vertheidigt werden. Die britijchen Kenner behaupten freilich, jie könne auch nicht angegriffen werden. Die Linie jei allent- halben von menjchenleeren Wüften umgeben, die für größere Heere unpajjirbar jeien. Die Meinung verräth indeß nur wiederum einen Mangel an Einbildungskraft. Wir haben bereit3 die Er- richtung von militärischen NRadlerabtheilungen erlebt, dem wird die Benugung des Automobil auf dem Fuße folgen, wie dasjelbe thatjächlich jchon auf den Philippinen in Anwendung jein joll. Dem Automobil aber find Wüjten nicht unüberwindlid. Auch abgejehen von folcher Zufunftsmufif zeigt die Durchbrechung der englijchen Linie von Kimberley nach Mafefing, wie unmöglich es it, jelbit von naher Bafis aus eine Wüjtenbahn mit Erfolg zu jchüßen.

Die einzige und wichtigjte Stüte für das Britiiche Reich bleibt immer dejjen Seeherrichaft. Die bisherige Erfahrung lehrt, daß Südafien weſentlich nur durch die Beherrſchung der jüd- aſiatiſchen Gewäſſer dauernd behauptet werden fann. Dies er- fannten bereit3 Darius und Alerander. Beide entjandten Flotten von der Indusmündung nad) dem Rothen Meere. Die Be: herrjcher Perjiens, von den Arabern und Mongolen bis zu Abbul Abbas und Nadir Schah juchten, jobald fie zu Lande einiger: maßen jejt jtanden, auch im Indijchen Ozean ihr Gebot geltend zu machen. Schah Ruf verjuchte und Nadir Schah vollbracdhte die Eroberung Masfats; Abbas gründete Bender Abbas und nahm die Injel Ormus. Noch belangreicher war natürlich das Meer für die fernen Europäer. Ste mußten, um auf dem jüd- afiatiichen Feitland Fortjchritte zu machen, aller Häfen von Natal bi8 nach Malakka jich verfichern. Sobald dies den Portugiejen gelungen, fiel ihnen der Handel von Perſien und Indien von jelber zu. Die Holländer begannen ihre öjtliche Laufbahn damit, daß fie in Aden, Masfat, Ormus, Diu (nördli) von Bomban), Geylon, Kalikut, Madras und Malaffa die Portugiefen angriffen: erjt nachdem jie zur See überwiegende Erfolge errungen, fonnten ſich die holländischen Soldaten und Kaufleute in Indien und Perjien entfalten. Als jpäter die Franzoſen ıhre Mugen auf

Die Lage in Indien und Iran. 441

Indien warfen, gewannen jie zunächjt eine Bafis in Madagaskar und den umliegenden Injeln, bombardirten jiamejtische Häfen und berannten Mombaja, Sanjibar und Delagva; darauf erjt gingen fie unter Dupleir zu Zanderwerbungen im Inneren Indiens vor. Selbit die Dejterreicher leiteten ihre beiden ojtindischen Unter: nehmungen im vorigen Sahrhundert durch Bejegung von Delagoa und den Nifobaren ein. Aus diejer Weberficht erhellt, daß zum Mindeften ojtafrifanische Herrjchaft jtetS mit indijcher verbunden war. Die natürlichen und die jtrategijchen Bedingungen werden aber weder durch Dampfichiffe noch dur; Dum-Dum wejentlich geändert; deshalb wird auch jegt noch Indien mit Oftafrika jtehen und fallen. Niemand hat dieje Erfenntniß deutlicher gehabt und folgerichtiger ihr gemäß gehandelt, als England jelbjt. Es ift zwar mehrfach gejagt worden, am eindringlichiten jüngjt von Pafjarge, daß England die transafrifanijche Bahn und den Er: werb des Transvaals anjtrebt, um für einen etwaigen Berlujt Indiens in einem abgerundeten afrikanischen Grofreiche Erſatz zu finden; allein wenn je jo wird jetzt Aut Caesar aut nihil Eng— lands Gejchid jein.

Die Pflicht zur Schönheit. Bon Alexander Freiheren von Gleihen-Rubwurm.

Die Natur ijt der Lehrer des Menjchen. Aus ihrem ewig reichen Born jchöpft der Künjtler und der Philojoph, ihr entlehnt der Dichter jeine Bilder und ihr entnimmt der Erfinder die Kräfte für jeine Majchinen. Und jie it jchön. Im ewigen Eije der Sletjcher, in der unermeßlichen Sandfläche der Wüſte liegt Die Schönheit der Ruhe und, wenn am dunklen Firmament die Stern- bilder glänzen und durch den nächtlichen Wald ein leijes Naujchen geht, athmen wir befriedigt auf. Ein Gefühl breitet ſich in unjerer Seele aus, das wir in die Worte fajjen möchten: Es iſt jchön. Aber wir jchweigen. Denn lauten Jubel verträgt die Schönheit nicht. Wirkt ihr Zauber auf uns ein, jo iſt es ein jtiller Frieden, der die Ahnung auffeimen läßt, daß das Gefühl der Schönheit jelig und daß Seligfeit jchön jei.

Sm Gewitterjturm, im Toben des Meeres fühlen wir die Schönheit der Macht und jede Bewegung in der Natur vom srühlingswind, der das Blumenblatt zur Erde fächelt, bis zum Orkan, der Bäume zerbricht, als wären ſie ein Spielzeug für Stinder, ijt jchön. Die Schöpfung wäre ein Meijterwerf, wenn der Menjch nicht die Häßlichkeit Hineingetragen hätte.

Sehen wir durch das gewaltige Fernrohr des Aitronomen nicht als mejjende Gelehrte, bei denen jich alle Begriffe in Zahlen verwandeln jondern als Menjchen mit offenen Mugen und Herzen, jo enthüllt jich ung eine Weite und Herrlichkeit, ein un endlicher Raum voll bewohnter Welten, dejien Bild, in unjer

Die Pflicht zur Schönheit. 443

fleine® Menjchenauge zujammengefaßt, Einblid gewährt in Die unendliche Harmonie des Großen. Lautlos gleiten die Weltförper auf ihren Bahnen und, was wir Sphärenmufif nennen, iſt das Wiederflingen des großen Schweigens in unjerer Seele. Halten wir aber das Auge an das Glas eines Mikroſkops und beobachten der geringjten Dinge eines, den Flügel der Fliege oder einen Tropfen Wafjer, jo finden wir auch hier Farbenpracht und Fein— beit der Zeichnung, Leben und XLebensfähigfeit bis in das fleinjte Atom.

Leben an fich joll aber jchön jein, denn es iſt die Blüthe des Organismus, die höchite Entfaltung jchlummernder Kräfte. Es joll. Doh der Kampf um's tägliche Brot, die Sucht, um jeden Preis das Neuejte neben dem Neuen anzuhäufen, it am Werf, den edlen Keim des ewig Schönen zu erjtiden und jtatt dem fräftigen Yebensbaum mit jtrogenden Blättern, duftender Blüthenpracht und reihem Früchtefegen entjteht eine blajje, fümmerliche Pflanze, die nichts weiß von Schönheit und Kraft und froh it, wenn ein elender Zweig bis zum Sonnenlicht fommt. So find wir Menjchen; ein Gefühl für das Schöne liegt in uns, aber unjerem Bewußtſein ift die Pflicht entjchwunden, in den Werfen der bildenden Kunſt, in unjeren Dichtungen und im Gange des Lebens eine Richtfchnur fejtzubalten, welcde die Linie der Schönheit bezeichnet.

Kampf it überall, von den Bakterien, die zerjtörend in den menjchlichen Organismus eingreifen, bis zu den Weltförpern, die in ungemejjenen Fernen dröhnend aufeinander jchlagen, aber wir brauchen ihn, denn im Genuß friedlichen Dämmerns erjtirbt der Yebenstrieb und das Nirwana der Buddhijten fann niemals das deal fraftvoller Naturen jein. Nur die Häßlichkeit, die Rohheit des Gefühle muß aus dem Dajeinsfampf unter Menjchen verbannt werden. Yuch die Edeljten fünnen in Wettjtreit gerathen, aber jie veritehen es, jogar in der höchiten Leidenjchaft ihres Krieges die Gemeinheit fernzuhalten.

Nach Neuem ringt der Menjch, jeit er jich der Fähigkeit des Erfennens bewußt ist, aber das Neue muß für uns hochentwidelte intelleftuelle Naturen nicht nur auf dem Gebiete des praftijchen Lebens, jondern auch in der Verfchönerung der Welt in uns und um uns einen Fortſchritt bedeuten. Die Befriedigung förperlicher Triebe ohne den Genuß des Schönen erniedrigt den Menjchen unter das Thier, denn leben wollen, heißt jchön jein,

444 Die Pflicht zur Schönheit.

ſchmückt ich doch im Augenblide der Liebe jedes Lebewejen mit aller ihm zu Gebote ftehenden Pracht. Die Natur jchafft und befist die Schönheit ohne Nachdenken und Ueberlegung, der Menſch hat die Pflicht, fie für fich jelbjt und feine Umgebung zu er: werben, denn fie iſt das höchite Gut aller Zeiten und Völker.

I.

Es genügt nicht, zu wifjen, daß im Schooße der Erde ver: borgen ſich Goldadern befinden, man muß ihre genaue Stelle entdeden, Bergwerfe anlegen, das edle Metall fördern und läutern; Gedanken allein und wären es die herrlichjten find nicht im Stande, ein vollendetes Ganzes zu bilden. Man muß jie innerlich verarbeiten, zu Tage bringen und mit dem Handwerk jeiner Kunſt etwas aus ihnen geftalten. Ein Stunjtwerf zu fühlen hat feinen Werth. Nur, wer es machen fann, ijt ein Künftler. Gold muß man prägen, Gedanken fajlen wie edle Steine; erjt der Kopf des Fürſten macht die Münze aus dem Metall, erit das Wort des Dichters, die Farbe des Malers, der Ton des Komponijten giebt dem Gedanken bleibende Kraft.

Warum aber einem Ding, das dauern joll, den Stempel der Häßlichkeit aufdrüden?” Man ſucht nad) dem Gold in der Erde, man joll ebenjo nach dem Schönen auf der Erde juchen. Wer durch das Schlechte abgejtumpft ijt oder in einem üden Sinnentaumel vertrauert, wer unter dem Wahren ausjchließlich das Gemeine und äſthetiſch Verlegende verjteht, joll mit feinem Singer an das Heiligtum der Kunſt rühren, mag er auch mit vollendeter Meijterjchaft jein Handwerk beherrichen. Der Wille zum Schönen muß wie ein Zaubermantel über jedes Kunjtwert ausgebreitet jein und, wer es jieht, hört oder liejt, joll mit einem Gefühle der Befriedigung von ihm jcheiden. Der höchſte Schmerz, der gewaltigjte Kampf fann in jeiner Darftellung etwas Ber: jühnendes bergen, das ihn aus dem Gemein-Menjchlichen heraus: hebt, die größte Häßlichkeit fann durch einen Strahl von Güte oder Geiſt das Abjtoßende verlieren. Jeder Menjch und jedes Geſchöpf hat wenigjtens einen Augenblid im Leben, der ihm den Adel der Schönheit oder den Reiz der Anmuth verleiht. Diejen Zuſtand fejtzuhalten it die Aufgabe des Künſtlers, er joll nicht verlegen, jondern muß erfreuen oder erheben, wagt er ſich aud daran, ein Medujenhaupt darzuitellen.

Die Pfliht zur Schönheit. 445

Im klaſſiſchen Alterthum formte die Kunjt jchöne Götter und Menschen und begnügte fich, voll jubelnder Freude das „Sein“ zum Ausdruck zu bringen. Der Menjch wurde im Bild zum Gott uud der Gott zum vollendeten Menfchen. Als in der chriftlichen Revolution die üppige Heidenwelt zujammenbrad) und der neue itrenge Glauben das orientalische Verbot nad) Europa brachte, Gott abzubilden, trat langjam das „Bedeuten“ an die Stelle des „Seins“. Statt Götterbildern begann man Symbole zu jchaffen. Die jogenannte „altchrijtliche* Kunſt fuchte alles dem Heidenthum Entjtammte zu verbannen uud verneinte das griechijche Schönheits— ideal. Sie erreichte erſt nach vielen unbeholfenen Verjuchen, dem Schönen nahefommend, das Erhabene, indem die byzantinijchen Bilder von Ehrijtus und der Madonna einen Zug jtiller Größe, böchjten Leides und höchſter Verklärung enthielten. Die Annahme, daß der Heiland häßlich gewejen, gejtügt auf eine Stelle in den Propheten, wich im Bilde einer idealeren Auffafjung, denn die Schönheit hatte fich unbewußt in die jtarre Form gejchlichen.

Als ſich Sokrates in Platos Gejprächen mit einem Sophijten über das Wejen derjelben unterhält, führt er den eitlen Mann allmählich auf den Gedanken, daß Alles auf der Welt Vergleich jet und das Schönere der Feind des Schönen. Darin liegt das Prinzip von Fortjchritt und Kampf auf dem Gebiete der Kunit. Wer heutigen Tages genau wie die Alten malen oder Dichten würde, fönnte feinen Beifall erwarten, denn jede Zeit hat ihr Ideal und ihre Naivetät, jede Epoche eine andere Auffaflung vom „Ewigichönen“. Deſſen ungeachtet bleibt, herrlich und jung, ver: jtändlich und bewundernswerth für immer ein Werf, das innerlich) den Anforderungen der eigenen Zeit voll entjprochen und im Ge: wande der Schönheit das Wahre zum Ausdrud gebracht hat. Nur die fanatiihe Moral verblendeter Mönche, die blutgierige Zerjtörungswuth mißhandelter Völker und die verbohrte Einfeitigfeit vor Wiljen dumm gewordener ?sachgelehrter verliert die Achtung vor dem heiligen Kunſtwerk und zerjtört es jelbjt mit der fampf- bereiten Fauſt oder jeine Wirfung auf unjer Gemüth mit der Kraft des zerjegenden Wortes. Die Rohheit der Maſſen und ein zum Schlagwort erhobenes, thörichtes Prinzip find in gleicher Weije Feinde der Kunſt.

Das Leben der Völker iſt wie das Meer, Sturm fährt in die ſpiegelglatte See und die Woge wirft erſt nach wildem Wetter die Muſchel mit der Perle ans Land. Auf Perioden des Genuſſes

446 Die Pfliht zur Schönheit.

und der Vollendung, in denen die Menjchen vor den Altären der Schönheit opferten, folgten immer Zeiten des Verfalls und Nieder: gangs. Das Lied begeijtert auch den fämpfenden Krieger, aber die höchite Kunst blüht nur dann, wenn der Sänger am Herdfeuer in die Harfe greift, wenn durch die veredelnde Daritellung des Streites die Disharmonien des Lebens in freien Akkorden fünit- lerifcher Berflärung ausklingen. Ueber die Bitterfeiten der Parteien erhaben, fern vom Schmuß der Straßen und vom Staub unjerer Wohnungen gedeiht einzig und allein echte Poejie. Auch gerechter Hat muß ſich im Herzen des Künſtlers läutern, che Worte ihn fünden oder Farben ihm bleibenden Ausdrud verleihen. Cs brauchen nicht Könige und StaatSmänner zu fein, mit denen ſich die Phantaſie bejchäftigt. Homer verjtand es, den „göttlichen Sauhirten“ uns lebendiger vor Augen zu jtellen, al3 mancher moderne Dramatiker jeine „Eleinen Leute“, wenn auch der Duft von Kuchen und Kaffee von der Bühne her leibhaftig in unjere Naſen zieht.

Die Daritellung des Natürlichen it zum Fluch geworden. An Stelle des fieghaften Humors und der zügellojen Phantafie it die Langeweile getreten. Der Wahrheit zuliebe wird oft die er— Ichütternde Tragif durch Gähnen unterbrochen. Es iſt ein Ueber: gang, den wir durchmachen. Seit Napoleon in Erfurt dem alten Goethe die berühmten Worte über Politif und Kunjt gejagt hat, haben die gährenden und wechjelnden äußeren Berhältnijje das Gefühl für die Schönheit im Menjchen zurüdgedrängt. Eine Wolfe it über die Sonne gezogen, in deren Schatten viel Großes und Nützliches entjtanden it, aber die Zeit muß wiederfommen, in welcher der höchjte Ausdrud des Lebens nicht eine große Waffen» that, jondern ein jchönes Kunſtwerk it.

Die Blüthe des GriechenthHums waren die Tage des Perifles in Athen, die römische Republik fand am Hofe eines Augujtus ihre Vollendung und aus den deutſchen Keformationsfämpfen ging Luthers Bibelüberfegung hervor, die unjerer Sprache das Rüdgrat gab. Die Gejchichte der Päpſte gipfelt in den Namen Rafael und Michelangelo, von der Größe Venedigs find Bilder und Bauten geblieben, und als ewige Frucht aller Kämpfe der Aufflärungszeit dauern die Werfe unjerer Klafjifer. Aber mit der Kunjt gebt es wie mit dem Ader. Hat er reiche Früchte getragen und jeinen Herrn mit einer fchönen Ernte erfreut, jo muß er brach liegen, bis er neue Kraft in fich aufgejammelt, wieder ein Samenforn zu entwideln und den Halm zur Reife zu bringen.

Die Pflicht zur Schönheit. 447

In einer Generation jchlummern die Kräfte, die in der nächſt— folgenden zur vollen Entfaltung gelangen. Wenn nach einer Zeit allgemeinen fünjtleriichen Durchdringens ſich die Idealgeſtalten großer Geilter in öde Abjtraftionen verlieren, wenn fich im Bud) und auf dem Theater, im Bild und am Bauwerf flache Nach: ahmungen vergangener Größe jtatt Geitaltungen der eigenen über- zeugenden Gedanken breit machen, begeijtert ein neues ſelbſtem— pfundenes Werf unendlich leichter als die jchönjte Epigonenarbeit, mag es auch derb, vielleicht jogar verlegend wirfen. Für feine Zeit iſt es jchön, enthält es an ich auch viel des Unkünſtleriſchen und Häßlichen. Es fann relativ bedeutend und abjolut vollitändig ungenügend jein.

Man fonnte demnach glauben, das Wejen der Schönheit unter: liege dem Wechjel, jogar der Mode, bejonders wenn man die ver: ichiedenen Erklärungen der Philojophen lieſt, die ſich von Plato bis Niegiche bemühten, den Begriff des Schönen feitzulegen. Am einfachiten drückt fich für uns dieſer Wandel in den Worten aus: Schön iſt, was gefällt, was den Beſten, Höchitentwidelten unter uns gefällt. Haben wir doch ebenjo gut ein äjthetijches Gewifjen als ein moralijches! Freilich fann es durch die Ungunjt der Ber: bhältniffe dumpf und ftumpf werden, aber unterdrüden läßt es fich ebenjo wenig als jenes. Das tiefinnerjte Wejen der Schönheit bleibt ich gleich im Wandel der Zeiten, aber wir ändern uns, wir ganz allein. Im Aufundabwogen der Entwidlung, von Jahr: hundert zu Jahrhundert, von Volk zu Volk, von Glaube zu Glaube war der Begriff, den man ſich von der Schönheit machte, bis zu einem gewiſſen Grade veränderlich, je nachdem das äjthetijche Ge: wiſſen reiner oder trüber im Menjchen lebte. War es nicht da$- jelbe mit Gut und Bös? mit unjerem moralijchen Gewiſſen? Wie oft jchwanft es bei der Beantwortung verwidelter pjychologijcher tagen. Sollte den jchwierigen Räthſeln unſerer mannigfaltigen Kunſt gegenüber das äjthetijche Gewiſſen ſtets jicher gehen?

Am unbefangenjten jtehen wir vielleicht dem Porträt gegen über, denn der Menjch bezieht jeden Begriff vor Allem auf jich jelbit. Dem Bild einer Perſon gegenüber, das ſonſt nichts will als ähnlich jein, wird uns der eigene Schönheitsbegriff am leich- teten flar.

Wirft man einen Blid auf die Gejchichte der Porträtfunit, jo iallen uns zuerjt die masfenartig gemalten Gejichter auf den ägyptiſchen Mumien in die Augen. Die Griechen fanden es bereits

448 Die Pflicht zur Schönheit.

geichmadvoller, den menjchlihen Körper in Stein zu hauen und Alles an jeiner TDaritellung nad einem edlen Maße zu ordnen. Vielleicht beitand zwiichen Modell und Kunijtwerf nur Familien— ähnlichkeit. Das Bedeutende blieb, während das Zufällige unter- drüdt wurde. An den Sofratesföpfen fann man das Verhältniß der Griechen zum Häßlichen jtudiren. Die Materie wurde vom Geifte bezwungen und der Ausdrud eines leuchtenden Beritandes wußte die Fehler der Form zu bejiegen. Die Römer ſchwankten bereitö zwijchen fonventioneller Schönbildnerei und kraſſem Realis- mus, aber ihrem Wejen lag die Hauptgefahr aller Porträtfunit fern, der Hang zum Sleinlichen. Das frühe Mittelalter zeigt uns in Miniaturen und Grabjteinen eine traurige Kunit. Ein unflares Schönheitsgefühl war allein aus allem Reichthum vergangener Zeiten übrig geblieben. Schier götzenhaft jteht in Ravenna die Gejtalt der Gala Placidia vor uns. Man hielt es jogar für nöthig, mit findiicher Hand ihren Namen beizujchreiben, denn erfennen fonnte jie Niemand. Auf den meiiten Grabplatten ver: mist man jedes Schönheitsgefühl, es jei denn, es habe jich in . jenen Ausdrud tragiicher Stille geflüchtet, den die fromm ge- falteten Hände und die jtreng anjchliegenden Gemwänder verleihen. Ein bedeutender Fortjchritt liegt in den individualifirenden Dar: jtellungen der Donatoren auf manchem SHeiligenbild des Mittel: alters. Sie jind mit Wahrheitsliebe und einer gewiljen Lebens— freude gemalt; der unbedeutendite Ausdrud iſt oft durch den Ernit aufrichtig frommer Gejinnung veredelt. Immer mehr bejtrebt jich der Künſtler, jeine Bejteller „ſchön“ zu malen und in beſſeren Ein- Hang mit der himmlischen Umgebung zu bringen. Kühnen Muthes brachen die Italiener mit der Tradition, jie jahen das Herrlichite auf Schritt und Tritt und hielten die menſchliche Schönheit für würdig, göttliche Gedanken zu verkörpern. Frei behandelte man das Heiligenbild, nur dem Geſetze des Schönen gehorchend, frei das Bildniß des Menjchen, der damals als Selbitzwed und Mittel: punft der Erde galt. Der Sage nad jah Gott am letten Tage der Schöpfung mit Befriedigung auf dieje Krone des Werks und mit Ehrfurcht ging man daran, e8 dem Ebenbilde würdig darzu— jtellen. Leonardo da Binct gab in jeinem „Trattato della Pittura* die Negel, ein Porträt habe den leibhaftigen Menjchen in einem vortheilhaften Augenblid zu bringen. So malte Raphael Julius den Zweiten. Der wilde Charafter des wie ein Landsfnecht fluchenden Papſtes jpricht aus jedem Zuge, aber die innere Größe

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des Freundes von Kunjt und Alterthum it nicht vergefjen. Das Gefühl, dem Bilde eines bedeutenden Mannes gegenüber zu jtehen, erfüllte uns, wüßten wir auch nichts von ihm und jeinen Thaten. Raphael blieb mit jeinen Porträts in den Grenzen jchöner Menjch- lichfeit. Ueber fie hinaus führte uns Michelangelo mit dem wunder: baren Standbild des Lorenzo Medici „il pensieroso*“. Niemand folgte ihm in dieſer heroiſchen Darjtellung des Einzelnen. Auch in germanijchen Ländern befolgte man die Regel des großen Leonardo. KLeuchtend und jchönheitsdurjtig glänzen Dürer3 Augen auf feinem wunderbaren Selbjtporträt und wir möchten gerne jedem biederen Niederländer auf Rembrands Bildern die Hand drüden. Schön dünkt es ung, van Dyfs Damen die feinen Fingerjpigen zu küſſen. Doch jelbit die allzu zierlichen Züge der Herren und Damen auf den Rokokoporträts berühren nicht unangenehm, er: innern fie doch an das reizende Plaudern jener Zeit, an das Be: itreben, liebenswürdig und geijtreich zu fein. Es wird erzählt, daß gewijie Maler im vorigen Jahrhundert mit fertigen Bildern, denen nur der Kopf fehlte, von Schloß zu Schloß zogen. Wie fommt es, daß troß jolcher Handwerfsmäßigfeit die jogenannten Ahnen: bilder meiſtens den Eindrud jtiller VBornehmheit machen? Sie ftören nicht, bewohnen würdig unjere Näume und wir jehen gern in ihre Eugen, freundlichen Züge. Gemijjen modernen Malern blieb es leider vorbehalten, unangenehme Porträts zu malen, bald nebelhaft verjchwimmend, bald von beängitigender Unruhe, bald erjchredend brutal oder nichtsjagend wie Wachsfiguren.

E83 gäbe viel weniger Unfinn auf der Welt, wäre man über die urjprüngliche Bedeutung gewiſſer Schlagworte im Klaren. „Konventionell* heißt der Popanz, mit dem viele tunjtjünger von der Bahn des Schönen abgejchredt werden. Konvention (das heißt Uebereinfommen) ijt e8 freilich, wenn man mit apodiftifcher Sicher: heit behauptet, eine Naje 3. B. müſſe griechifche Form haben, um Ihön zu fein. Aber ebenjo fonventionell it es, wenn man unter Künstlern übereinfommt, daß es nicht erlaubt jet, etwas Herz— erfreuendes zu malen.

Bon einer italienischen Landſchaft entzüdt, jagte eine Dame zu einem modernen Maler: „Das ijt schön, das jollten Ste malen!“ Ernithaft antwortete er: „Das fann ich nicht, das iſt ja gar nicht wahr.“ Einem blauen See die Wahrheit der Erjcheinung, Die Berechtigung der fünjtleriichen Wiedergabe abzujprechen, um Wahr: beit und künſtleriſches Intereſſe etwa dem Startoffelfeld allein zus

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zuerfennen, jollte dies nicht fonventionell jein? Der blaue Ze und das Kartoffelfeld find beide wahr und mindeſtens gleichberechtigt vor der Kunit.

Eine jeltfame Erjcheinung im heutigen Leben iſt ein gewiſſer Hat gegen das Schöne. Es ijt der Haß des Kraftlojen, der in jeiner Ohnmacht den Gürtel der jpröden Wunderjungfrau nicht zu löjfen vermag und es dem Sonntagsfind mikgönnt, Kraft und Willen in jich zu tragen. Aber das Sonntagsfind iſt zumeilen der dumme Hans und läßt ſich von Neidlingen aufjchwägen, es wäre eines Mannes würdiger, Jungfer Schönheit fahren zu lajien, um einer plumpen Dirne nachzulaufen.

„An und für fich iſt Nichts jchön. ES wird erjt jchön durd Die Art, wie e8 gemacht wird.“ Auf diefen Sat aus Platos Gajtmahl bauten die modernen Realiſten ihre Theorien und ichufen eine Stilrichtung, die unter der Yajt der Wahrheit die Anmuth vergaß und in der Wahl des Stoffes oft eine Ge jchmadlofigfeit fundgab, die lebhaft an die pathologijche Seite des Affekts in den Marterdarjtellungen der Maler vom Ende des jechzehnten Jahrhunderts erinnerte. Damals gab es Myſtiker und WBathologen unter den Künſtlern wie heute, weil Dinge dDargejtellt werden jollten, die malerijch nicht faßbar waren. An und für fich iſt freilich nichts jchön, aber e8 muß den Keim zur Schönheit enthalten, wenn aus ihm durch vollendete Technik ein Kunſtwerk im heiligjten Sinne des Wortes werden joll. Nur ein Meiſter wie Nembrand vermag aus einer anatomischen Szene etwas künſtleriſch Großes zu jchaffen. Das Genie überwindet einen Stoff, an welchem Talente elend zerjchmettern.

sm Mltertdum und in der Nenaifjance juchte man den Stoff für die bildende Kunſt vor Allem im Körper des Menichen, uns bietet ihn das gejammte Weich der Natur. Schon im vierzehnten Jahrhundert wich der goldene Hintergrund der Heiligen einer Landjchaft und die Heimath des Künſtlers gab die Folie für das Legendenbild ab. Pinturicchios Darjtellungen des damaligen Rom in den Borgiazimmern find von glänzender Farbe und wundervoll zu den bibliichen Szenen gejtimmt, aber jie jtehen wie die Dekoration im Theater gegen die Figuren zurüd. Erſt die Kunjt des neunzehnten Jahrhunderts hat die Yandjchaftsmalerei zu ihrer jetigen Bedeutung erhoben. Dies beweiit, daß unjere Zeit troß allen gegentheiligen Be: bauptungen ein jtarfes Gefühl für die Lyrif befigt. Denn der

Die Pflicht zur Schönheit. 451

Reiz einer ſchönen Landſchaft ruht in der Stimmung, fie it das Yied in der Malerei.

Seine Liebe und jeinen Haß, jeinen Zorn und jeine Hoffnung will man aus den Berjen des Dichters heraushören, jeine Stimmungen joll man in den Naturjchilderungen des Landjchafters wiederfinden. In den Zeiten: Claude Yorrains und Pouſſins bedurfte man der Stilifirung. Die Natur an jich jagte den Menjchen nichts, ehe jich die allgemeine Umwandlung der Gefühle in Rouſſeaus „Konfejlions* fryitallifirt hatte. Die Leute aus der Biedermeierzeit und ihre Nachfolger verlangten die gemalte jchöne Ausficht ohne inneres Empfinden und unjere Stürmer und Dränger juchten in einem künſtleriſch aufgebaujchten Gegenjag zu jenen mit einem möglichjt häßlichen Stüdchen Erde und den gewagteiten ‚sarbenfombinationen myſtiſche und jymbolische Gefühle zu er: weden.

Jetzt endlich jcheint man auch auf diefem Gebiete die Pflicht der Schönheit zu erfennen. Sch habe in einer modernen unit: ausitellung eine Landſchaft bewundert voll holder Einfalt und von überzeugender Wahrheit wie ein Heinejches Gedicht. Ein reifendes Kornfeld vom Walde umrahmt, tiefblauer Sonnenhimmel und hoch in der Luft eine einjame Gabelweihe. Frieden und Sonne lag über diejer Yandichaft. Frieden und Sonne jenfkte ji) in das Herz des Schauenden. Ein jolches Bild im Zimmer zu haben it ein Glüd. Vom Kunſtwerk muß eine jchöne erhebende Stimmung ausgehen, erfüllt es jeinen Zwed, uns das fleine alltägliche Leid vergeſſen zu lajien.

Die Epigonen unjerer Klajjifer und die fraftvollen Männer aus den FFreiheitsfriegen hatten ihr Augenmerk hauptjächlich auf das Nützliche gerichtet, ihnen genügte der Deldrud über dem Plüjchjopha in der Miethsfaferne. Unter dem Freiheitsgefühl der politifchen Menjchen war der Sinn für die Schönheit eriticdt. Wir genießen die Früchte ihrer Arbeit und in uns entwidelt id) langjam aber jicher das Gefühl: Alle bildenden Künſtler, mögen jie Häufer und Kirchen, Bahnhöfe und Iheater bauen, mögen jie Denkmäler errichten oder Statuetten für unjere Zimmer jchaffen, mögen jie gewaltige Flächen mit Fresken ſchmücken oder uns ein feines jtimmungsvolles Interieur geben, haben die einzige Pflicht, Dinge zu jchaffen, die an ſich jchön, ihren Zweck und ihrer Um— gebung entjprechend auf uns empfindende und gejchmadvolle Menjchen wohlthuend wirken.

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452 Die Pflicht zur Schönheit.

II.

Eine Dijjonanz, die an ſich unjer Ohr verlegen würde, wirft Schön durch die Art ihrer Auflöfung. Wenn jchreiende Gegenſätze harmonisch ausklingen, find jie Fünjtlerijch verwendbar, denn in der Dichtung it nur das Hoffnungsloje abjolut häßlich.

„Lasciate ogni speranza“, jagt Dante, ehe wir die Hölle betreten und jpricht in diejen einfachen Worten die höchjte Qual, das Entjeglichite des ewigen Verderbens aus. Unjer Dajein tft in der Hoffnung begründet. Sie iſt das pojitive Gefühl in uns, Lebensnerv und Triebfraft, ohne die wir rettungslos dem phyfiichen und geijtigen Untergang geweiht wären. Der hoffende Menjch will Schönes jchaffen und jchön jein.

Wenn durch eine Dichtung die Hoffnung zittert, und jich die Wahrheit mit vollendeter Form vereinigt, dann ijt fie abjolut jchön und wird auf uns als relativ jchön wirfen, jo lange ihre Hoffnung in ung einen freudigen Widerhall findet, jo lange uns ihre Wahr: heit als wahr erjcheint. Je weniger Tendenz; und je mehr wirk— liches Leben ein Werf enthält, dejto länger fann es veritanden, bewundert und geliebt werden.

Was und jolange wir Kinder waren äußerjt werthvoll erichien, belächeln wir heute und, was uns heute als höchſtes Ziel vorjchwebt, erjcheint uns jpäter vielleicht wenig erjtrebenswerth und gering. Der Alltagsmenſch iſt veränderlich wie die Wölfer, Die Woche ungleich wie das Jahrhundert, aber durch den Einzelnen wie durch die Nation, durd) den Tag, wie durch die Zeiten flutet der gleiche eleftrijche Strom, die Hoffnung, die uns das Bewußtjein giebt, daß etwas Bejjeres, Schöneres unjerer wartet, die ung Die Pflicht auferlegt, dem Guten und Schönen näher zu fommen.

Das Ideal einer Zeit jchlummert in allen ihren Kindern und wird zuerit in den freien Dichterijchen Naturen gewedt, die im Stande find, ihm Form und Ausdrud zu verleihen. In Homer und Sophofles zeigt fi) das Wollen und Leben der Griechen, in der platoniichen Geſtalt des Sofrates ihr philojophiicher Getit, in der Bibel leuchtet das tiefe, orientalijche Denken der Juden, aus der Edda jtrömt uns die jalzige Seeluft des Nordens entgegen und aus Allen die Hoffnung nad Schönheit verlangender Menjchen.

Unjere Dichter, die jich theils aus VBejcheidenheit, theils um einem ſtatiſtiſchen Bedürfniß zu genügen, Schriftiteller nennen, haben das Glüd, Dank der fortgejchrittenen Kultur überall her jchöpfen zu fünnen. Die Welt liegt wie eine Yandfarte vor und aus

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gebreitet und wir fönnen in einem Jahr verjchtedenartigere Eindrüde in uns aufnehmen als unjere Vorfahren in einem Lebensalter, aber die bejchaulie Muße fehlt ans; Gedanken, Anregungen, ein Ktinematograph wechjelnder Bilder jtürmen auf uns ein, doc) wir fönnen nichts in uns behaglich ausreifen lajien. Das fojtbarite Hut, die Zeit, ıjt im neunzehnten Jahrhundert abhanden gefommen. Darın liegt vielfach der Verluſt an Schönheit begründet. Eile verträgt jich nicht mit einer abgerundeten Bewegung, Eile jchadet dem Dichter, verfaßt er jein Werf, Eile vernichtet die Wirkung des Werfes, überfliegt es der Lejer, jtatt e8 zu genießen. Ueberhaſtetes Treiben erniedrigt den Menjchen zur Ameije und nimmt ihm Die Freude am Lebensgenuß, die Freude am Schönen. e breiter die Maſſen werden, deren Anjpruch an ein jogenanntes, bejjeres Da: jein den Zug der Zeit immer demofratijcher geitaltet, dejto jchwerer wird es, einem Ideale zu dienen. Wie jich der Standpunft von Dichter und Publikum langjam dahin veränderte, läßt jich am beiten an den dramatijchen Werfen verfolgen.

Als in Religion und myſtiſcher Schwärmerei die einzige Trieb» fraft des Lebens jtedte, erjchöpfte jich die dramatiſche Kunjt in geiftlichen Spielen. Die Kirche herrjchte über das ganze Dajein, ihrer gebieterijchen Hand ordneten jich die Künjte unter. Prächtige Höfe traten in den Vordergrund, das Leben wurde immer ges waltiger in jeiner äußeren Entfaltung und wenig jpäter, als unter Päpſten und Medicäern Michelangelo und jeine ZJeitgenojjen Ewiges ichufen, brachte am Hofe der Königin Elifabeth Shafejpeare die Tragödie der Staatsaftion zur höchjten Vollendung.

Der Drang nach Bildung wurde allgemeiner, revolutionäre Ideen bemächtigten jich, durch die Enzyklopädiſten angeregt, der Menjchen und Beaumarchais griff in jeinem Luſtſpiel „Figaros Hochzeit“ mit Fräftigem Spott die Zitten der damaligen Macht: haber an. Das erjte politische Tendenz-Lujtipiel war gejchaffen. In Deutjchland hielt Schiller mit jeiner fräftigen „Louiſe Millerin“ der Welt den Spiegel der Wahrheit vor Augen und jchuf das erite bedeutende bürgerliche Trauerjpiel. Doch ihn und jeinen glüdlichiten Nachfolger auf diejem Gebiet, Hebbel, verließ nie die tragiſche Größe und fie vermieden es, durch Eleinliche Züge eine faljche Wirklichkeit zu erzeugen. Das Leben darzujtellen, wıe es uns umgiebt mit jeinen fleinen Mühen und Xajten, mit den blauen Flecken, die ung ein Stoß an die Kante verurjacht, ohne die Grenzen der Schöne heit zu überjchreiten, it eben nur mit Humor möglich. Ein Didens

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fann Dinge bejchreiben, die einem Tragifer verjchlofien find. Freilich geht das alltägliche Leben jeinen gleichmäßigen Gang, während jich die Charaftere immer jchroffer gegenübertreten und ſich die Kataſtrophe entwidelt. Die Uhr jchlägt ihre Stunden un: geachtet der Qualen und Freuden in der menjchlichen Brujt. Aber wie man jic) das Leben vergällt, wenn ſich die Stimmung durch jede jtörende Kleinigkeit und durch jeden förperlichen Schmerz ver: derben läßt, jo jchwindet aus der Dichtkunſt der Hauch von Poefie und Größe, wenn uns jtatt fortjchreitender Entwidlung interejjanter Menjchen und Handlungen nur ein noch jo fein beobachteter Ausschnitt aus dem täglichen Leben geboten wird. Hoffnungslos gemein jind ſolche Einblide gar oft, fie erjchüttern uns nicht, ſie efeln uns an, wir jehen nirgends eine wohlthuende Auflöjung vor— bereitet, wir hören nur Diſſonanzen und jehnen ung nad) Schön: heit, denn wir verlangen nad ihr. Iſt doch das Schönheitögerühl ein mächtiger Unterjchied, der uns die Menjchen allein aus allen übrigen Gejchöpfen heraushebt.

Hätten wir überhaupt eine Kunſt ohne den Trieb zur Schön: heit? Hätten wir ein Ideal ohne den Begriff des Schönen?

Was in uns an edleren Empfindungen jchlummert, wird ge— wedt durch dieſe Wirfung auf uns und Die reine Freude jteht bimmelhoch über allen jinnlichen Genüfjen, denen das Thier mit gleicher Luſt zu fröhnen vermag.

Wer im Theater nichts verlangt als den Kitel überreizter Nerven, wer in der Venus von Medici nichts Anderes jieht als das jchöne Weib und nichts als die eigene ungejunde Phantajie mit den Werfen der Dichter zu nähren jucht, it ein Barbar, ichlimmer als jene, die mit frevelnder Hand Statuen zertrümmerten und Tempel verbrannten. Er jteht nicht höher als Tieks berühmter „geitiefelter Kater“, der den Tönen der Nachtigall laujchend jich bereits die Schnauze nach dem herrlichen Braten ledte.

Wie fann aber ein Werk, das im Gemeinen wurzelt, den Menſchen erheben, wie fann die ausschließliche Darjtellung niedriger Xeidenjchaften und armjeliger Schmerzen ohne Hoffnung auf Löjung, ohne Strahl göttlicher Größe die Ziele eines Kunſtwerks erreichen ?

Seit Plato jeine Gedanken über „to xaAsv xar dyadsv' nieder: gejchrieben, gehören das Gute und Schöne in edler Vereinigung zujammen und jind nur dadurch getrennt, daß die Freude am Guten in jeiner Wirfung liegt, die Freude am Schönen aber in

Die Pfliht zur Schönbeit. 455

ihm jelbjt. Die gute That gefällt in ihren Erfolgen, das jchöne Werk erfreut uns einfach durch jein VBorhandenfein.

Die Flügel der Seele wachen und feimen beim Anblid der Schönheit, jagt Plato, und jie jollen uns hinübertragen über Ge- brechen und Krankheit, über Schmuß und Elend, über rüdjichtsloje Semeinheit und niedrige Streberei. Das alles giebt es freilich überall in reichem, überreichem Maße und wer es leugnen wollte, ijt ein Narr und wer es als Künftler unterdrüden wollte, wäre ein Idealiſt, der den Boden unter jich verloren hätte. Aber über dem häßlichen Gewürm blüht die Blume und neben dem Schatten des Lebens leuchtet eine herrliche, glüdjpendende Sonne. Nur wenn man Dunfel und Licht einander gegenüberjtellt, wie jie draußen auf der Straße, draußen in der weiten Natur ineinanderfließen, ichafft man ein Kunjtwerf, das Wahrheit und Schönheit mit ein: ander vereinigt. In der Photographie fehlt Farbe und Wärme, in der genauen Schilderung einer Bauernjtube auf moderne Art fehlt der würzıge Hauch, den die Menjchen hineintragen, fommen ſie aus Gottes freier Natur.

Schönheit ijt nicht Gejchmadjache, obwohl ſich mit den An: jchauungen das Urtheil über fie ändert, jie wirft immer über: wältigend auf empfängliche Gemüther. „La beaute est composee d’un jugement et d’un sentiment, enveloppes l’un dans l’autre. (Cousin, fragments philosophiques).

In der Natur liegt fie latent wie alle großen Kräfte der Menjch allein it im Stande, jie zu empfinden und durch Intuition zu erweden. Aber nach Plotin bemerken nur jchöne Seelen die Schönheit, für Andere ijt jie eine jchlummernde Kraft ohne Nuten und Werth.

Verjpüren auch einige Künjtler-Naturen das Vermögen in jich, zu eigener Freude und zum Frommen der Andern mit einem Schönheitsideal vor Augen zu jchaffen, jo verhallt ihre Stimme umjonjt, wenn jie fein Echo findet. Bon Alters her wurde Die Schönheit mit dem Lichte verglichen und der betende Menjch neigte fi) vor der Sonne. Aber der Sonnengott, der jtrahlende Helios- Apollon, war der Bater der Mujen.

Licht jet die Kunjt! In der Welt unjerer Empfindungen und Gedanken eine jtrahlende Sonne, die Yeben verbreitet, Wärme und Luft, wie das Tagesgejtirn auf unjerer armen Erde.

Mag der tiefe Realismus eines Spinoza oder der oberflächliche Materialismus des achtzehnten Jahrhunderts im Schönen nur einen

456 Die Pflicht zur Schönheit.

angenehmen Reiz der Empfindungsorgane entdedt haben, uns jet e8 wieder innere Freude und Gebet und das Wort „jchöne Literatur“ flinge nicht mehr wie ein Hohn auf die Schilderungen der hoffnungs= lojen moralischen und phyſiſchen Verkommenheit, jondern werde zur Wahrheit!

Die Schönheit jollte und könnte wie die Liebe bis ins Kleinſte dringen, wir müßten fie täglich, jtündlich genießen, wollten wir Menjchen im höchjten Sinne des Wortes werden. Nicht eine Sammlung fonventioneller Bollfommenheiten ijt wahre Schönheit. Ich las einmal in einem Märchen, wie jich Hans ein Weib wünjchte mit Lippen wie Korallen, Wangen wie Milch und Blut, und Haaren wie Gold. Doch all’ die machte das Weib nicht jchön, denn als es dor ihm jtand in der Pracht der verlangten Eigenjchaften, wollte es ihm fajt wie ein Ungeheuer erjcheinen.

Nicht jolche fonventionelle Dinge bilden die Schönheit der Frau. Wenn jtatt indischer Gefalljucht ernite heilige Ueberzeugung jie beherrjcht und in ihr die Pflicht lebt, jo jchön als möglich zu jein, wird jede Geberde und jede Bewegung zur anmuthigen Ber: föürperung edler Gedanken, ihre Sprache und ihr Lächeln behalten den Zauber der Jugend über die Jahre hinaus. Bittoria Colonna war eine alte Frau, als jie jtarb, aber wie jchön mußte fie zu jein verjtanden haben, daß ein Michelangelo in Verzweiflung ihre Hände fühte und fich vorwarf, daß er nicht den Muth gehabt, auch die jchöne Stirn zu berühren, vielleicht die Lippen, von denen jo viele anmuthige Worte geflojien.

Wir haben jet taujend Mittel mehr als früher, die Schönheit zu fajjen und zu erwerben. Wie ein ftolzer König jeine Braut von Herrlichkeit zu Herrlichkeit führt, fann der Menjch in gerechtem Stolze zeigen, was er auf Erden vermag. Er hat mit der Natur im Wetteifer gejchaffen und die Welt, die er jic gebaut, braucht jih vor dem Borhandenen nicht zu jchämen. Was jind Die jchönjten Tropfjteine gegenüber den jteinernen Wundern der Gothif, wie armjelig jind die wilden Früchte im Vergleich mit den berr- lichen form: und farbvollendeten, die der Menjch zu erzielen ver: ſteht. Derjelbe Menſch, der Stoffe in allen Farben des Regen bogens weben fann, jchillernder, jchimmernder als die Fügel der Libelle und des Schmetterlinge. Ja! wir find gewaltige Zauberer! Mitten im Winter haben wir gelernt, alle Blüthen des Frühlings eritehen zu lajjen, um unjer Leben mit ihnen zu jchmüden. Aus der einen Gentifolie find hunderte von Roſenarten entjtanden, jede

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für ji) ein Märchen an Schönheit und Duft. Der Mann, der uns um eine Blume bereichert, verdient größere Bewunderung als der Erfinder eines neuen Geſchützes. Wir jind Zauberer, Könige auf Erden, Göttliche wohnt in ung. Vergeſſen wir das nicht! Seien wir zu jtolz, um Häßliches und Gemeines zu ertragen! Empören wir uns gegen die Häßlichfeit und jehen wir nicht mit jeiger Gleichgültigfeit zu, daß die Ehrfurcht vor der Schönheit ab» nimmt, die Freude an ihr verblaßt, daß jchöne alte Gebäude an— geblicher Nüslichkeit weichen und das Stleinod idealer Gejinnung mehr und mehr aus dem Herzen unjerer Zeitgenojjen jchwindet.

Je mehr das Schöne aus alter Zeit vergeht, dejto roher wird der Gejchmad, denn unjer Gemüth verlangt Anfnüpfen an das Beitehende und verbietet uns, mit der Vergangenheit zu brechen. Ohne Gemüth ift jedes Werk der Nohheit verfallen. Aber das eigenfinnige, Eleinliche Feithalten an der Tradition wird ebenſo— wenig ein wahres Kunjtwerf hervorbringen als die franfkhafte Sucht nad) Originalität. Der Menjch muß Lehrling, Gejelle und dann erjt Meijter werden, die Augen immer mit Andacht nad) der Göttin Schönheit gerichtet.

Wehe den faljchen Propheten, die uns zurüdjführen möchten in die Finjternig unter dem Vorwand, das Leben dürfe nicht jchön jein und biete nur Naum für nütliche Arbeit. „Sinjterlinge“ nennen die ruſſiſchen Bauern jelbjt ihren vermeintlichen Freund Tolſtoi und dejjen Jünger, die eine Rückkehr zu primitiven Sitten mit Wort und That predigen. „Wie“, jpricht der praftijch ur= theilende Bauer, „diefer Mann, unjer Herr, iſt durch die Gunit des Himmels und das Glück feiner Ahnen reich) geworden. Er fünnte Kirchen bauen und Gärten anlegen zu Stolz und Zier der Gegend, er fönnte für unjere Jugend Muſik jpielen laſſen und Märchen erzählen, aber er zieht es vor, Stiefel zu fliden und Holz zu jpalten. Er will in unjere Finſterniß hinunterjteigen, als ob es Dadurch bei uns heller würde.“

Sp lautet das Urtheil über jold) jonderbare der Schönheit und Kunſt jpottende Schwärmer. Ein gejund empfindender Menjc) fann fic) ohne Neid an allem Schönen erfreuen, fann er es auch nicht als Eigenthum erwerben. Was mein Auge und mein Ohr ergößt, it mein. Doch hätte ich um theures Geld das Eojtbarjte Stunjtwerf befommen und jtände ohne Verſtändniß davor und liebte es nicht und ließe nicht Andere an meiner Freude theilnehmen, dann gehörte es mir nicht wirflic) trog meines Kaufvertrages.

468 Die Pflicht zur Schönheit.

Es iſt menſchenunwürdig, wenn Einzelne praſſen wie Lucull. aber ebenſo unwürdig, die ſchwarze Suppe der Spartaner für alle kochen zu wollen. Das Mädchen Griechenland iſt nicht unſterblich wegen des eiſernen Ringes Sparta, den es am Finger trug, ſondern wegen des Zauber-Goldreifs Athen.

„A thing of beauty is a joy for ever.“ (Keats.)

Wer dem Menſchen eine ſolche immerwährende Freude ſchafft, dem kann Vieles vergeben werden. Giebt es noch einſichtige Menſchen, die es nicht begreifen, daß Leo der X. während der Geſpräche mit Raphael und Michelangelo das ferne Grollen der Reformation überhörte? Schönheit macht uns zwar nicht zu moralijch vollfommenen Menjchen, aber fie bejjert ung und bändigt zuweilen den böjen Geift, wie Davids Harfe das Gemüth König Sauls. Das Höchite ift freilich, wenn die Liebe zum Schönen Eitelfeit, Ruhm und Gewinnjucht joweit zu zähmen vermag, wie bei jenem Tyrannen Demetrios, der die Eroberung von Rhodos unterließ, weil dabei ein Stadttheil in Flammen aufgehen fönne, der ein berühmtes Gemälde enthielt.

Ihre Kunſtſchätze jollten eine Stadt wie Rom bejjer vertheidigen als die fleinen, elenden Forts, welche die Campagna verunzieren.

Ehrfurcht vor der Schönheit, Freude an ihr, Fähigkeit, Be geiiterung zu empfinden, it das jchönjte Necht und eine gewaltige Pflicht der Jugend. Wer über jolches jpottet, der jpottet jeiner eigenen Menjchenwürde. Wie edel dachten jene Handwerfsleute in Florenz die Genojjen der „arte della Jana“ die Stein um Stein, Geldjtüdchen um Geldjtüdchen 'herbeitrugen, ihren Dom zu erbauen. Die Florentiner find uns überhaupt ein jchönes Beijpiel, bejonders als fie fingend und jubelnd Gimabue mit jeiner Madonna auf dem Wege nach Santa Maria Novella umringten, jo froh über das Ereigniß, es jei etwas mehr an Schönheit in die Welt gefommen, daß der ganze Borgo nach ihrem Jubel benannt ijt und noch heute „Borgo allegro* heißt.

Sie ahnten unbewußt den großen Sieg, der darin liegt, daß des Menjchen Hand und Herz den jpröden Stoff zur Schönheit bezwungen, denn jie ijt nichts Meußerliches und Ueberflüſſiges in unjerem Leben, fie it ein hohes Gut, deſſen Beſitz zu erringen Menjchenpflicht it.

„Weißt du aud, was die Schönheit fei?

Sieh zu, ob ich's verfehle:

Ein Gleichniß beut die Liebe mir,

Sie geht vom Körper aus glei ihr

Und endigt in der Seele.“ (Srillparzer.)

Die Pfliht zur Schönheit. 459

III.

Unter Feuerbachs Einfluß jchrieb Richard Wagner: „Das Ziel it Der jtarfe und jchöne Menſch. Die Revolution gäbe ihm Stärfe, die Kunſt die Schönheit!“

St e8 auch nicht die Revolution im damaligen Sinne des Barrifadenfämpfers, jo it es doch eine Auflehnung gegen das Häßliche und Hoffnungslofe, die uns Stärke verleiht. Im Kampf fräftigt jich der Körper, jtählt ſich der Geiſt und wenn unjer Idealismus, Schönes zu jchaffen und e8 in einem fchönen Leben zu genießen, nicht fern in den Wolfen ein ewiger Traum bleiben ſoll, muß er zum Schlachtruf werden gegen die trübe Lehre des Häßlichen und Gemeinen. Im der Kunſt zeigt ſich das Leben mit feinen Zielen, die Anjchauungen einer Zeit jpiegeln ſich in Bild und Wort und, wer ein jchönes Werf aus feiner Gedanfenwelt in die Wirklichkeit zaubern will, muß verjtehen, in der Harfe des Lebens nicht Disharmonien, jondern Akkorde zu greifen. Wollen wir eine lichte Kunjt haben, jo müfjen wir die Heilung an unjerer Perſon beginnen, nur dem Schönen Einfluß gewähren und das Nüsliche mit dem Gewande der Anmuth befleiden. Ernjte Männer werden den Kopf jehütteln und den Mahnruf des Idealiften in der Hera der Majchinen und in den Zeiten der unruhigen Hajt vor: läufig belächeln, aber ihr Spott wird jchwinden, wenn fie den Werth des Schönen wirklich begreifen. Zieht Hoffnung in der Menjchenjeele ein, herrjcht Zufriedenheit, wenn auch nicht mit dem gegenwärtigen Zultand, jo doch mit dem, was man bei ruhiger Entwidlung erreichen fann. Nur zufriedene Menjchen verlangen darnad, ji) und ihr Leben zu jchmücden. Schönheit wird ihr Streben, Schönheit wird ihr Gedanfe. Sie find an Leib und Seele gejund und brauchen nicht in betäubendem Genuß franfe Nerven zu reizen, jondern empfinden am wahrhaft Schönen reine, glüdbringende Freude. Diejer Durſt gebildeter Menjchen wurde ihon oft unter dem Schlagwort „Rückkehr zur Natur“ zuſammen— gefaßt, it aber nichts Anderes als das zurücdgedrängte Bedürfnik nach Schönheit, der Wille des Samenkorns, den Stengel und die Blüthe zu treiben.

Warum jo häßlich? fragen wir uns, wenn wir den überarbeiteten Schulbuben blaß, mit Brille und jchweren Büchern bepadt nad) Haus wandern jehen. Warum jo häßlich? wenn ein dicker Student mit zerhadtem Gejicht, aufgetrieben vom Biergenuß zur Kneipe geht? Die Schüler, die zu den Füßen der alten Bhilojophen

460 Die Pflicht zur Schönßeit.

andächtig laujchten, jahen anders aus. Die Männer, deren Jugend ein Hauch phyſiſcher Schönheit umwehte, blieben frijcher und jünger, als die armen biergetränften Bureaufraten unjerer Zeit. Wer prinzipiell die Vergangenheit bewundert, findet freilich nur Fehler in der Gegenwart, wer jedoch die eigne Zeit liebt, auf Die Zukunft vertraut und das Schöne verjchwundener Epochen nicht vergejien will, bedauert, daß dem einjeitigen, gewaltigen Fortjchritt der große Rückſchritt andererjeits gegenüberjteht.

Die Kultur des Alterthums wurzelte unter einem Himmels— jtrich, der ein Yeben ım Freien ermöglichte, und der langjame Puls: fchlag der Zeit geitattete den Menschen, faltenreiche Gewänder zu tragen und in jchönen langjamen Bewegungen dahinzujchreiten. Bedurften jie der Ktraftentwidelung und Gelenfigfeit, warfen jie das Kleid ab. Sie waren jchön, was brauchten fie jich zu ſchämen. Eine Rückkehr zum antifen Gewand erlaubt weder unjer Klima noch die Art und Weije unjeres Lebens. Kohlenſtaub füllt die Luft unjerer Städte, und Hände, die früher der Bedienung des Einzelnen zur Verfügung jtanden, jchaffen jetzt mit gewaltigen Majchinen an der Heritellung von Meajjenartifeln. Das Nützlich— keits- und Gleichheits-Prinzip iſt der Schönheit feind, denn für Alle fünnen nicht Meiiterwerfe gejchaffen werden und wer nur auf den Gebrauchswerth der Dinge jein Mugenmerf richtet, betrachtet die Welt vom Standpunfte des Ihiers, nicht aber von dem des be: jeelten vernünftigen Gejchöpfes.

Es fehlt weder an Mitteln noch an Kenntnijien, unjere Um— gebung viel jchöner als je zu gejtalten. Wann gab es Merzte, die dem Körper die gleiche Sorgfalt zu theil werden ließen als jest? Wann it in dunkler Nacht eine Lichtquelle hervorgezaubert worden, wie heute die eleftrijche Flamme? Wann war es möglich, das belebende Wort fajt gleichzeitig in allen Theilen der Erde zu verbreiten?

Im Norden wenn Wind und Wetter über das Yand jagen, ſchmücken die jchönjten Blumen unjere Tafel, aber wir winden uns feinen Kranz mehr aus ihnen und legen ihn um unjere Stirn, denn wir würden uns lächerlich und grotesf vorfommen. Was wir aber als lächerlich empfinden, tjt der wichtigjte Unterjchied im Wandel der Sitten. Die Schönheit vergangener Zeiten eignet jich nicht mehr für die rußgejchwärzte Gegenwart nnd wir müfjen, auf der Bahn der Entwidelung fortichreitend, eine neue finden, die jich Eingang erzwingt in die Paläjte und Hütten, die unjerer Kultur und unjerer Gejchichte würdig üt.

Die Pfliht zur Schönheit. 461

Ein unruhiges Tajten macht jich jeit einigen Jahren bemerf- bar, man jucht dem Buch, der Wohnung, dem Gebrauchsgegenitand einen perjönlichen Stempel aufzudrüden, der das Verlangen nad) Schmud und Schönheit enthält, aber man vergißt die Hauptjache: ſich jelbit. Der Menjch, zu deſſen Füßen bezähmte Naturfräfte ächzen, dejjen Gedanke den Erdball beherricht, hat die Zeit und die Luft verloren „ſchön zu jein.“

Wir lachen über die vornehme Frau des achtzehnten Jahr: bunderts, die ſich noch auf dem Todtenbett pudern und jchmücden ließ und vergejjen, welches erhabene Pflichtgefühl fie zu Diejer äußeriten Anftrengung leitete: die Pflicht zur Schönheit. Wir jind im Kampfe des Lebens und in der Ueberfülle der Arbeit zu ernſt geworden, um klaſſiſcher Heiterfeit Eingang zu gewähren, deren größtes Ergebniß eine gejunde Seele in einem gejunden Körper it. Wur auf dem Boden diejer Gejundheit fann fich das Schöne entwideln, nur, wem eine fräftige Revolution gegen Krankheit und Unterdrüdung Stärke verleiht, wird in jeinem Da: jein Schönheit erreichen.

Ihr Feind iſt vor Allem die Einjeitigfeit und das bejtimmte Ziel, deſſen fi) die Erziehung vom Knaben an jchuldig macht. Hat der Egoismus des Staates, Fräftige Soldaten zu erziehen, auch dem Turnen und Fechten Eingang verjchafft und bildet er den erwachjenden Süngling zum fräftigen Mann, jo verliert fich bei den Meiſten bald die Yujt an körperlicher Uebung oder wird im beinahe berufsmäßig betriebenen Sport zur Ueberanjtrengung, die den Menjchen ebenjo verhäßlicht wie das Gegentheil.

Die Luft zu unnatürlicher Steigerung und die Sucht fich einander zu überbieten, nimmt unjerer Zeit den vornehmen Ausblidt auf das Ganze, das bejtändige Berdunfelnwollen einer fremden Sonne raubt uns die Freude am eigenen be— jcheidenen Stern. Wir müjjen die Welt wieder mit den Augen des Idealiſten betrachten, nicht zweifeln und fürchten jondern wollen und hoffen.

Wie viel mehr Elend und Häßlichfeit gab es früher und wie erhob fich in immer mächtigeren Wellen die Fluth der Schönheit in der Mntife, der Renaiſſance und der deutſchen klaſſiſchen Zeit. Immer größer wurden die Streije, die der gewaltigen Göttin unter: lagen und wenn ſich jegt wieder Propheten regen, die vom Menjchen: thum mehr verlangen als Wifjen und Können, die im getjtigen Genuß des Gejchaffenen, in der Freude am Schönen allein ein

462 Die Pfliht zur Schönheit.

würdiges Ziel erbliden, jo liegt darin eine fröhliche Ausficht auf die Zukunft.

Man hat von der politijchen Gleichheit und von der Wiſſen— ichaft ein neues reiche8 Leben erwartet und wurde enttäujcht. Die nationale Eitelfeit jollte Wunder wirfen und entflammte nichts als gemeinen Streit. In Habſucht und Interefjenfampf löſte ſich das einjeitige Leben für Handel und Induftrie. AU dieſe jorg- fältig gepflegten Objtbäume im Garten des Daſeins gaben nur Knojpen, die Wind und Regen vom te rifjen, während der ver- achtete Strauch in der Hede jich mit wunderbaren Blüthen bededte und nur weniger Pflege bedarf, um uns mit ſüßen Früchten zu überjchütten.

Vom Baume der Erfenntniß zu ejjen war dem Menjchen ver- boten und er doch. Neben ihm aber blühte unbemerft der Strauch der Schönheit.

Aus den Worten der Philojophen von den alten Indern und Plato bi8 zu den Denfern des heutigen Tages geht Elar und deut- lid) die Lehre hervor, mögen jie das Dajein des Schönen an fich leugnen, zerlegen und anerfennen, daß im reinen Empfinden der Schönheit der höchite Ausdrud des Menjchenthumes liegt, weil jih in ihr feine Befriedigung unjerer nothwendigen Bedürfnifie findet, jondern weil fie allein zu unjerer Freude dient.

Sie jchlummert im Kinde, das in Feld und Wald Blumen jucht, jie zum Heinen armjeligen Strauße zu verbinden, jie rubt in den Anjchauungen niedrig jtehender Völker, die jich mit Mujcheln und Federn jchmüden und in ihre Haut bunte Figuren ätßen. Aber fie hat fich entwidelt und feite Negeln gewonnen und im griechifchen Ideal ihren höchjten Ausdrud gefunden, der jich den wechjelnden Zeitanſchauungen anjchmiegend in jeinem abjoluten Wejen nicht mehr verändert hat.

Mögen uns Nörgler zurufen: ihr Idealiſten ſchwärmt für den Hermes des Prariteles und für die Venus von Milo, aber ihr jeht aus wie die Starifaturen in den fliegenden Blättern, ihr redet euch die Lippen wund über die Zeiten des Perifle8 und der Hypathia und jiht zwiſchen engen jchmudlojen Wänden aneinander- gedrängt ohne Raum und Zeit zur Entfaltung, ihr habt die Najen ın der Yuft und fallt in den Schmutzhaufen zu euern Füßen! jo antworten wir ohne Zögern: Wir haben einen Bejen in der Hand, vor unjerer Wanderung die Straßen auszufehren, unjere Kunſt wird die Wände jchmücden, jo jchön, vielleicht fchönee als früher

Die Pflicht zur Schönheit. 463

und unjere reiche Gedanfenwelt wird aus der Enge hinausjtreben. Der Wunjch jcehöner zu werden wird uns zur Erfüllung verhelfen. Alles it Wille im Leben und wer die Pflicht zur Schönheit ernit nimmt, fann jeinen Kräften entiprechend etwas erreichen, das durch das Gejammtwollen der Menge zum Ziele führt. Nicht Jeder muß Dichter oder Maler jein, aber Jeder kann Freude an den ichönen Werfen der Auserwählten empfinden.

Daß unjer Dajein troß der großen Schäte, über die wir auf allen Seiten verfügen, mit Bewußtjein immer häßlicher geworden it, Liegt darin, daß wir in dem Bejtreben, reich zu werden, darauf verzichten, reich zu fein. Der moderne Menjch ift zwar ein Egoijt wie Die moderne Nation, aber es geht Beiden, wie der berühmten Frau Gilebeute in Göthes Fauſt, die in dem Verlangen, immer mehr und mehr zufammenzuraffen, die werthvolliten Stücke wieder aus ihrer Schürze fallen läßt.

Das Yeben iſt kurz, doch es tt lang genug, um jchön zu jein, wenn wir unjere Wiünjche mit unjferem Können in Einklang zu bringen wijjen. Das Mädchen vom Lande iſt in feiner Tracht mit einem Sträußchen veralteter Gartenblumen an der Bruſt in jeiner Art ebenjo jchön wie die Dame im Glanze der Juwelen, aber die Bäuerin mit ihrem jonnverbrannten Gejicht iſt häßlich, wenn jie einen jtädtifchen Hut auf ihren Kopf jeßt, wie die alte Kofette, wenn fie fich mit jugendlichen Farben ſchmückt.

Wie oft find es nur Nleinigfeiten, die uns die Freude am Daſein vergällen, geringfügige Dinge, die der Schönheit den Ein- tritt ins Leben verwehren, aber es fehlt die Gelegenheit oder der Sejchmad, jie aus unjerem Kreiſe zu entfernen. Die eritere zu ichaffen it Pflicht des führenden Theiles der Menjchheit. Geſetz— geber, Dichter und Künftler haben die große Nufgabe, außer dem Schädlichen das Häßliche zu entfernen nicht durch Verbot, jondern durch Beijpiel und Preis des Schönen. Wird das Häpliche hier: bei der Lächerlichfeit preisgegeben, um jo bejjer, denn nichts bildet den Gejchmad des Einzelnen und des Volkes leichter, als wenn man es lehrt an richtiger Stelle zu lachen. Keine Strenge und feine Strafe heilt einen Schaden jo gut als das bejchämende Ge— fühl der fomijchen Wirkung.

Der Gejchmad aber ift die Krone einer langen Kulturentwick— lung und der Fluch der Emporföümmlinge liegt in jeinem ‘Fehlen. Durchaus individuell gehorcht er feinem Gejeh und wird, jo lange es Menjchen unjerer Art giebt, die wirkliche thieriſche Gleichheit

464 Die Pfliht zur Schönheit.

von uns fern halten. Gejchmad und Schönheit jind das Palladium unferer Kultur und Bildung, ftreng arijtofratijch dienen jie Den Beiten allein und werden immer den llnterjchted zwijchen den innerlich Hochjtehenden und der Maſſe bilden. Je weiter die Kreiſe werden, denen jie ſich offenbaren, deſto fortgejchrittener ijt unjere Welt und wenn fich wieder ein perifleijches Zeitalter vorbereitet. jo wird es fich nicht auf den Marftplag von Athen jondern auf die Gejammtheit der aebildeten Nationen erjtreden.

Daß aber mitten in dem waffenjtarrenden Europa der ideale Gedanfe immer mehr um fich greife und dadurd) das Weich der Schönheit an Boden gewinne, jet Sorge Mller, deren Her; und Horizont über das Kaſſenbuch, den blauen Aftendedel oder die Spite des Säbels hinausgeht. Die Nenaijjance der Italiener und unjere Elafjiiche Zeit trafen zwar mit politiichem Niedergang und fremder Knechtſchaft zuſammen und man hört oft, die Größe Des Staates hindere die Entfaltung der Kunft, weil jie die erjten Geijter an das öffentliche Leben fejlele, aber im unabläfjigen Drang nach vorwärts, der uns die Waffe oder die ‘Feder, Den Hammer oder den Zirfel in die Hand drüdt, wird das Verlangen immer deutlicher: nicht nur nüßlich, jondern auch jchön, nicht wahr allein, jondern erhaben!

Wer fein Talent daranfegt, den niedrigen Yeidenjchaften der Anderen zu dienen, und wer jeine Schäte an Zeit, Kraft und Verſtand vergeudet, Gemeines oder Häßliches, jei e8 zu jchaffen, jei es zu genießen, der gleicht jener Königin des Alterthbums, Die ihre jchönjte Perle in den weingefüllten Becher warf und ihrem Geliebten zum Tranfe gab. Der Wein ward nicht bejier und die Perle war verloren.

Die Schönheit diene zum Schmud, nur dann erhebt fie uns über die Kämpfe des täglichen Lebens.

Sm Traume wanderte ich einjt durch einen wunderjchönen Garten, Blumen dufteten auf allen Seiten und wendeten ihre farbigen Stelche der Sonne zu und Bögel jangen.

Zwijchen dem Yaub der Bäume über blühende Sträucher hinweg jah man ins weite Land und mit gejchärftem Auge fonnte ich erfennen, wie der Yandmann friedlich jeinen Acer bejtellte und wie Schaaren fröhlicher Menjchen von ihrer Arbeit heimwärts wanderten.

Sie waren jtarf und jchön. Man jah ihnen an, daß fie thätig waren, aber die Arbeit hatte nicht ihre Geitalt noch ihren Ausdrud verdorben.

Die Pfliht zur Schönheit. 465

Id) wanderte weiter und fam in einen Hain, in Ddejjen Schatten herrliche Statuen thronten. Sie ftellten Menjchen dar, fchön, wie ich ſie vorhin gejehen, nur noch edler, ruhiger und nadt.

Da weitete ji) vor mir der Hain, die uralten Bäume traten zurüd und vor mir lag, in NRojenbeete gebettet, ein Tempel. Es jtiegen Leute die Stufen hinan, ich jchloß mich ihnen an und fam in große, bildergejchmüdte Räume. Sc bemwunderte, denn Alles war jchön, wahr und einfach. Ic hatte das Gefühl, all dieje Werfe müßten jo und fünnten nicht anders jein.

Und die Menjchen um mich bewegten fich, als wären ihre Bewegungen Muſik und, jie waren freundlich und jchienen froh.

Da famen wir in einen Raum, in deſſen Mitte jtand ein Altar und vor dieſen trat ein Mann. Site jagten, er jet ein Dichter.

Und er jprad:

„Sterbliche, die ihr den Tempel der Schönheit betretet ...“

Da erwachte ich und wußte, daß ich von einem Fabelland geträumt hatte. Draußen aber durch den Sommermorgen riefen die Sloden und luden zu einem Gottesdienjt ein, der jo ſchön fein könnte und jo himmliſch, wenn nicht auch er allzu irdiſch geworden wäre.

Der Traum eines Dichters ijt zu weit von der Wirklichkeit, um Wahrheit zu werden, aber jeine Gedanken verdichten fic zu Worten und jeine Worte erregen Sehnjuht in den Gemüthern.

Pflicht it aber, daß beide zur Schönheit mahnen: Die Ges danfen und das Wort.

Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIIL Heft 3. 30

Sven Hedins und Landors Reifen in S$nnerafien. *) Bon Paul Rohrbad.

Die Erforfhung Innerafiens hat ihre größten Fortſchritte nicht jo jehr durch den rein geographijchen Entdedertrieb wie Durch die politijchen Bejtrebungen der Ruſſen und Engländer in jenen Gegenden gemacht. Ruſſiſche und englische Neifende find es auch bei Weitem zum größten Theil, denen wir die Erweiternng unjerer Stenntniß über das hohe Innere des Kontinents verdanfen und zwar waren die Neifenden bezeichnender Weije meijt Offiziere und Beamte. Die beiden Unternehmungen, die den Gegenjtand diejes Berichts bilden jollen, fallen aus der Sphäre jolcher mehr politijchen Entdederthätigfeit heraus: jie jind von Privatleuten und mit privaten Mitteln ins Werf gejebt, und fie haben rein wijlenjchaft: lihen Zielen gedient. Sven Hedin, der Glüdlichere der beiden Neijenden, it Schwede; das Gebiet jeiner Forſchungen bildet das HBentrum der gewaltigen, abflußlojfen Gebiete Hochafiens, das jand: erfüllte einftige Meeresbeden zwijchen dem Thian-ſchan und dem Kwenlun, jammt feinen hohen Randlandjchaften. Landor, der vom Mißgeſchick Verfolgte, iſt Engländer und hatte jich die Aufgabe geitellt, nördlich) vom Himalaya, dem Laufe de8 Brahmaputra

*) Sven Hedin, Durd Aſiens Wüſten. Drei Jahre auf neuen Wegen in Bamir, Yop«nor, Tibet und China. Mit 256 Abbildungen, 4 Chromo— tafeln und 7 Rarten. 2 Bände, Leipzig 1899, F. A. Brodhaus. Preis 20 Marl. Henry ©. Landor, Auf verbotenen Wegen. Reiſen und Abenteuer in Tibet. Mit 202 Abbildungen, 8 Ehromotafeln und einer Karte. Dritte Auflage. Leipzig 1898. F. A. Brodhaus. Preis 10 Mt.

Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 467

folgend, Lhaja, die unzugängliche, verbotene Hauptitadt Tibets, zu erreichen. Wenn man die beiden Männer nicht nad) ihren Erfolgen, jondern nad) ihrer perjünlichen Kühnheit und dem Opfermuth im Dienste ihrer Idee mißt, jo wird feiner von ihnen dem Andern nachitehen; nichtSdejtoweniger aber iſt Sven Hedin doch ohne Zweifel der bedeutendere, jtärfere Genius. Man fühlt ich jelbjt gegenüber jolchen wirklichen Bionteren der Forſchung, jolchen jtählernen, der Wiſſenſchaft ſich opfernden Charakteren Eein jehr ein, auch wenn man jich jagen darf, daß man zu Wajjer und zu Yande ein Stüd von der Welt durchzogen und Gegenden fennen gelernt hat, die nicht häufig als Neijeziel dienen und bereit außer: halb jelbjt der Peripherie des europäischen ulturfreijes liegen. Immer: bin, gegen Hedin und Landor find das unerhebliche Ausflüge, und jelbit ein Monat unter den kurdiſchen Banditen in Hoch» armenien und dergleichen mehr bedeutet gegen ein wochen: langes Ningen auf Tod und Leben mit dem Dämon Durjt in der Wirte oder gegen Martern, wie jie nur eine raffinirte Graujamfeit erjinnt, nicht mehr als ein Spaziergang in den Bergen gegen eine Hochgebirgstour. Auf der andern Seite geben aber eigene, wenn auch bejchränfte Erfahrungen injofern ein Recht, auch Größeres einer Würdigung zu unterziehen, als ein richtiges Augenmaß und zutreffendes Schäßungsvermögen für Leitungen in der Art Hedins und Landors ſich erjt einjtellen, wenn man jelber eine praftijche Vorjtellung davon hat, was eine jolche Erpedition bedeutet. Wer jelbjt das Satteln und Lagern fennt, Tag um Tag, die Freude am flotten Vorwärtsreiten in freier milder Natur, in Klüften und Einöden, durch Berge und Steppen, wo es noch feine Kultur giebt, und die jpärlichen Bewohner des Landes über den Fremden, den Europäer, nod) erjtaunen wer jelbjt mit vollen Zügen den Reiz des epijchen Erlebens im Barbarenlande genojjen hat: das Zus ſammentreffen und Verhandeln mit den Eingeborenen, die Bejuche in ihren Häufern, bei ihren Würdenträgern, auf ihren Beluftigungen, das herrliche Gefühl der Freiheit, zu bleiben, zu reiten, zu rajten, wo, wohin ich will, befehlen, jpenden, verjagen zu fünnen, mit einem Wort, Führer zu jein, der jeine Ziele vor Augen jieht, jeine Leute, feine Karawane jeinen Zwecken dienen läßt, mag er dabei auch noch joviel mit Reibungen, Widerjtand, Hindernijjen zu fämpfen haben wer, jage ich, von alledem hat fojten dürfen, der Lieft jolche Werfe wie Hedins und Yandors Bücher jozujagen mit einer Art follegialen Empfindens, und jollte diejes jelbjt ein 80*

468 Sven Hedins und Landors Reifen in Inneraften.

, wenig dem Gefühl verwandt jein, mit dem der fleine Provinzial: jchaujpieler vom „Kollegen“ von der Refidenzbühne jpridt. Ganz abgejehen aber von diejer bejonderen Art des Genufjes, den ic perjönlic) bei der Lektüre gehabt habe, it e3 doch das Erleben und das Erzählen der Helden an ich, „der Nimbus des Heroischen und Abenteuerlichen, das poetische Gefühl eines naiven odyijeushaften Heldenthums“*) in Gebieten, die zum großen Theil noch nie vom Fuße eines Europäers betreten worden find, was Seden, der eins der Werfe in die Hand genommen hat, jo jchwer von der Lektüre wieder aufitehen lafjen wird. Noch wird es ja eine Weile dauern, bis der legte große weiße led von der Erdfarte verjchwindet, aber Sven Hedin hat ein mächtiges Stück diejes bisher noch unbetretenen, unfolorierten Gebiet3 mit dem Gelb der Wüjte, dem Blau der Flußadern und Seen, dem Grün der Dajengebietes und dem Braun der Bergländer überzogen! Es iſt hHinreißend zu leſen, wie er arbeitet, jtrebt kämpft: vorwärts, vorwärts, wie er jeine jieges- gewiſſe, fühne Mannesjtimmung in jchlichter Offenheit reden läßt, jchildert, wie das Geheimnigvolle, Abenteuerliche ihn lodt, mit dämonijcher, magnetijcher Gewalt an ſich zieht und wie doc wieder auf jeder Seite der ernite, müchterne gejchulte, mejjende, zeichnende, Gejteine, Gras und Kraut wie Münzen und Götter: bilder jammelnde Jünger der Wifjenjchaft jich zeigt: der ebenbürtige jchwedische Bruder des norwegiſchen Helden Nanjen. Glücklich, wem die Götter ſolchen Sinn, ſolches Wiljen, ſolches Können, jolches Erreichen verliehen !

Als Hedin jeine Neije antrat, war fein Vorhaben, Ajien von Weiten nach Oſten zu durchqueren: von der faspijchen Niederung bis nach Peking, im Durchjchnitt auf der Breite des vierzigiten Parallelfreijes. Das mittlere Stück diefer Route, zwijchen Kajchgar und dem Hoang-Ho, liegt in einem bisher bejonders unbefannten Theile des Stontinents, in der wejtlichen Gobi, d. i. dem wiſſen— Ichaftlich Höchjt interefjanten und wichtigen Beden des Tarimflujjes, zwijchen dem fünfundjiebzigiten und dem neunzigjten Yängengrade. Hedin giebt jelber an, daß er von den rund 10500 Kilometern, die er fartographijich aufgenommen hat, auf 3250 der Erſte, auf dem Reſt der Yweite, Dritte bis höchjtens Vierte war, der dieſe Wege ım Dienjt der Wiſſenſchaft ging. Fragt man nad) den Re:

*) Dieſe vortreiflib charakterifirende Wendung fommt aus einer vom ®er:

leger mitgetbeilten Bejprehung in Weſtermanns AJlluftrirten deuiſchen Monatsheiten.

Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 469

jultaten jeiner Reife, jo treten jolche für das große Publifum nicht ganz in jo erfennbarer, flagranter Weije hervor, wie bei den Eırpe- ditionen eines Stanley, Schweinfurt oder Nanjen, aber e8 wäre ein großer Irrthum, fie deshalb für gering zu halten.

Da der Schwerpunft der Forichungen Hedins im Tarimgebiet liegt, jo jet es gejtattet, zunächjt den Yejer über diejes merkwürdige Stüd der Erdoberfläche furz zu orientiren. Quer durch Ajien zieht ji) vom Oftfuß das Pamir bis gegen die Mandjchurei hin ein fait 4000 Kilometer langes und im Durchjchnitt 700 800 Kilometer breites Wüjtengebiet hin, das unter verjchiedenen Namen begriffen wird. Der größere, öftliche Theil wird gewöhnlich Gobi oder Schamo genannt, der fleinere, wejtliche heißt Takla-Makan; die Chineſen nennen das Ganze auch Hanshat, d. i. trockenes Meer. Dies Gebiet ift gegen die hohen Nandlandichaften, welche es umgeben, jtarf eingejenkt; im Weſten betragen die Differenzen in der Höhe mehrere Taujend, im Djten gleichfalls noch Hunderte von Metern. Der Boden der großen Mulde zeigt jelber feine jehr bedeuten— den Niveauunterjchiede, wohl aber ijt ihr weitlicher Theil in einen viel gewaltigeren, höher aufragenden Landblock hineingejchnitten, als der öjtliche. Die Höhe der Sohle des Bedens liegt, wenige tjolirte Er— hebungen ausgenommen, zwijchen 700 und 1100 Metern; nur an einer Stelle, nahe dem Schnittpunft des 90. Längen- mit dem 42. Breiten arade, nördlich vom Lob-nor, findet fich eine wenig ausgedehnte Deprejjion von etwa 50 Metern unter dem Meeres: jpiegel. Das ganze weite Gebiet iſt der Boden eines ver— jchwundenen Binnenmeeres, das wahrjcheinlich noch zur Tertiärzeit eriitirt hat und etwa Diejelbe Größe und auch annähernd die Geſtalt beſaß wie unjer Mittelländisches Meer. Welche Umjtände das Verjchwinden dieſer mächtigen Wafjerfläche veranlagt haben, läßt ſich mit annähernder Sicherheit noch nicht jagen ebenjo wenig, wie man für das Einjchrumpfen des andern, mit jeinen Reiten bis in die Gegenwart hineinragenden, inneraftatijchen Binnenmeeres, des turanijchen, dejien Boden jett gleichfall8 größten- theils Sandwüſte ift, eine haltbare Erklärung zu geben im Stande ift. Thatſache iſt jedenfalls, daß fich ein langhingejtredtes immenjes Ländergebiet, vom Kaufajus und dem jüdrujjischen Steppengebtet an bis zu den die Monjune auffangenden NRandgebirgen im äußerjten Oſten Ajiens, gegenwärtig in einem Zuftande jtarfer und ftetig fortdauernder Austrodnung befindet. Gerade Hedins Reifen haben das mit neueu Beobachtungen belegt.

470 Sven Hedins und Landors Reiſen in Innerafien.

Berjegt man ſich in Gedanfen auf den gewaltigen Muitag- ata, den „Vater der Eisberge* am Djtrande des Daches der Welt auf dem Bamirplateau, wo Hedin einen großen Theil jeiner Erpeditiongzeit zugebracht hat, und blidt von dort gen Oſten, io wird man von dem eigenen Standort aus zur Rechten und zur Linken und im weiten Bogen am Süd» und Nordhorizont, jo weit das Auge reicht, jich fortjegend, einen ungeheueren Hocdlandswall erbliden, der, in jtarfer Böjchung aufiteigend, ein mehrere Taujend Meter tiefer liegendes, ebenes Beden umjchließt, das in der Haupt- jache von Majjen graugelben Wüftenflugjandes erfüllt it. Nach Diten, in der äußerjten Ferne, verlaufen die beiden Flügel des um dieje Ebene emporgebauten Hochlandes weit jenjeits der Grenze des Gefichtsfreijes; da, wo nördlich und jüdlich die legten deim Auge noch jichtbaren Grenzpfeiler emporragen, bleibt zwiſchen dieſen eine breite Lücke, wo der Horizont endlos erjcheint wie auf dem Meere: dort jegt fich die Ebene gleich den Hochlandsrändern, Die jie überragend begleiten, noch ins Grenzenloje hinein fort. Denken wir uns auf unjerem fajt 8000 Meter hohen Standpunft unjer Auge mit der zwanzigfachen Sehjchärfe des Adlers begabt, jo würden wir jehen, daß rundum von dem Gebirgswall ſtarke Wafjeradern hinabrinnen. Wo die Flüffe fließen, durchzieht ein langer, grüner Streifen die Wüfte; dazwijchen aber ijt alles Sand, Sand, nichts als Sand, zu hohen Dünenfetten zujammengeweht!

Die meiſten der zahllofen grünen Bänder, die vom Pamir, vom Stwenslun und vom Thiansjchan konzentriſch gegen Die mittlere Yängsare des Tarimbedens zu herunterfommen, dringen nur wenige Tagereifen weit in die Wüſte vor; dann werden fie immer dünner, löſen ſich in einzelne unzujammenhängende Baum: und Gebüjchgruppen auf, und jchließlich hat der Sand den lebten Tropfen des Waſſers, das zulegt nur noch unter: irdiſch weiterficerte, verjchludt: Dann herrſcht nur noch der Tod. Bon diefem Schidjal der Hunderte von jterbenden Waſſer— läufen machen einige mächtige Adern eine Ausnahme. Sie ver: einigen ich zu einem großen Strom, dem Tarim, der mit feiner Wafjermajjie ojtwärts fließend den Sand auf einer Strede von mehr als 1500 Kilometern bejiegt. Zuletzt aber erliegt auch er dem furchtbaren Feinde; mächtige Schilffümpfe und weite, flache, fortgejegt verdunjtende Wajjerlachen, die man unter dem Namen Lob-nor zujammenfaßt, bezeichnen das Ende des Stromes ; hinter dem Lob-nor herrjcht dann wieder als einzige Siegerin die Wüſte.

Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien. 471

Das Tarimbeden ift ein Oval von etwa 1500 Stilometern Länge und halb jo viel größter Breite, das jind ungefähr die Ent: fernungen von Warjchau nad) Baris und von Brüfjel nach Venedig. Der Tarim jelber fließt mehr auf der Nordjeite der großen Mulde und empfängt daher vom Thian-jchan eine Reihe von Zuflüfjen, die jtarf genug find, die hier im Durchjchnitt wenig über 100 Kilo— meter breite Sand» und Steppenbarriere bis zum Hauptſtrom zu durchbrechen. Auf der Südjeite, vom Kwen-lun her, gelingt das nur einem einzigen Gewäſſer, dem Khotan-darja, und auch diejer erreicht den Tarim nur bei Hochwajjer. Weiter ojtwärts dringt der SKterijasdarja tief in die Wüſte hinein vor, aber fünf bis jechs Tagereifen trennen noch den Punkt, wo jein letztes Wajjer verficert, von dem großen Fluß. Ein dritter Strom endlich, der Tſchertſchen— darja, der gleich) den beiden vorigen von dem Nordrande des Kwen⸗-lun-Syſtens fommt, läßt jeine Wafjer im Lob-nor-Gebiet jelber mit dem des jterbenden Tarım zujammenfließen.

Mit diejer Skizze haben wir bereits einen Theil der Nejultate und Erfenntnifje umjchrieben, die wir erjt Hedin verdanfen. Wenden wir uns nun den Cinzelheiten jeiner Kreuze und QUuerzüge und Erpeditionen zu. Ende Februar 1894 brach Hedin von Margelan, der Hauptjtadt des rufjiichen serghanagebietes, nach jeinem erjten Neijeziel, dem Pamir, auf, und Mitte Oftober langte er in Kaſchgar im chinefischen Oſt-Turkeſtan an, welche Stadt nun für lange Zeit jeine jtets wieder aufgejuchte Operationsbafis wurde. Die jiebenmonatliche Durchforjchung des Pamir, namentlich jeiner Seen und der Gletſcher— welt am Muftag-Ata, bildet den erjten, vorbereitenden Theil jeines Werkes. Der eigentliche Kern der Unterfuchungen, die Hedin hier angejtellt hat, ift jo jehr jpeziell fachwijjenjchaftlicher Art, daß der Forſcher in den betreffenden Stapiteln, die etwa die Hälfte des erjten Bandes füllen, jeine Ziele und Nejultate bloß andeutet. Bejondere Bublifationen, deren genaue Ausarbeitung vorausfichtlich noch ges raume Zeit in Anjpruch nehmen wird, fjollen das ganze Material jammt den Nejultaten, zu denen Hedin gelangt, der gelehrten Welt vorlegen. Nichtsdejtoweniger lejen ſich die Schilderungen vom Bamir im höchiten Grade interefjant, jtellenweije prächtig jchön. Als Probe möge die Szenerie des Lagerplates vom 16. Auguſt in 6300 Metern Höhe am Fuße des Eispanzers auf dem Muftag-ata dienen.

„sc hatte einen malerischen Sonnenuntergang erwartet; er war aber nicht bejonders ungewöhnlid. Die Sonne verjanf hinter

472 Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien.

gelbroth jchimmernden Wolfen, die noch) lange nad) Sonnenuntergang leuchteten, und auf denen die Gebirge von Pamir jich als jcharfe Silhouetten abzeichneten. Das ganze Sarif-fol-Thal lag jchon eine gute Weile im Schatten, als die Sonne nod) ihre legten Strahlen über den Muſtag-ata ergoß. Doch bald wurde auch unjer Lager von dunflen, falten Schatten umhüllt, der Gipfel des Berges er: glänzte einen Nugenblid wie ein jcharlachrother Wulfanfegel, um gleich darauf ebenfalls in Dunkel gehüllt zu werden.

Ic trat in die Nacht hinaus, um den Vollmond aufgehen zu jehen. Wir hatten nicht weit nach dem unendlichen Weltenraum, daher trat der Herricher der Nacht hier in jo blendendem Glanze auf, daß man ihn nur mit Anjtrengung betrachten fonnte. In jtiller Majejtät jtieg er hinter der dunfeln, jäh abfallenden Fels— wand an der gegenüberliegenden Seite des Gletjchers empor. Tief unten im Abgrunde lag der Gletjcher im Schatten. Manchmal hörte man einen dumpfen Stnall, wenn eine neue Spalte ent: itand oder das Gepolter eines Blodes, der vom Wanzereije her: unterſtürzte. .. ....

Am ſchönſten iſt die Szenerie da, wo der Mond ſteht. Schon die Architektur der Natur iſt ein kühnes Meiſterwerk! Hier dehnt ſich der blaue Gletſcher aus, von ſeinen beiden, mit Eis- und Schneefeldern gepanzerten Felswänden eingefaßt; dort erhebt ſich der fünfköpfige Bergrieſe hoch zum Himmel empor. Die Felswand uns gerade gegenüber fällt in ſo tiefen Schatten, daß wir nur mühſam unterſcheiden können, wo das durchſichtige Manteleis auf ihrem Grate endet und das ſchwarze Geſtein anfängt.

Alles iſt jtill; das Echo der Felswand dort auf der anderen Seite antwortet nicht. Die dünne Luft ijt nicht zu fühlen und braucht eine Yawıne, um in Vibration zu gerathen. Man jieht den Athem der Yaks*), aber man hört ihre Athemzüge nicht, jtill und regungslos jtehen die Thiere da. Ein jeltjames Gefühl ergreift die Sinne. Es wird uns jchwer zu begreifen, daß vier Welttheile unter unjeren Füßen liegen und daß eine durch den Punkt, auf dem wir uns befinden, um die Erde gelegte fonzentrijche Kugel nur die Spiten einer leicht zu addirenden Zahl von aſiatiſchen und jüdamerifanischen Bergen abjchneiden würde. Man glaubt an der Grenze des jchweigenden, grenzenlojen Weltraumes zu jtebel: 4 4.

*) Mal, das als Reit und Laſtthier gebrauchte, hödertragende, jhmwarz- baarige Rind Hodhafiens. Es lommt wild und gezähmt vor.

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Es war eine unheimlich lange Nacht, die fein Ende nehmen zu wollen jchien. Wie jehr wir auch in unjere Nejter (in der Jurte, der kirgiſiſchen Filzhütte) hineinfrochen und die Knie bis unters Kinn heraufzogen, der Körperwärme war es doch unmöglich, den Steg über die von außen überall hereindringende Kälte davonzus tragen. Steiner konnte auch nur einen Augenblid jchlafen. Erſt gegen Morgen fiel ich in eine Art Halbichlummer, wachte aber immer wieder vor Yuftmangel und ängjtlichem Ringen nach Athem auf... Endlich ging die Sonne auf!”

Ein Jahr nach feinem Mufbruch von Margelan, im Februar 1895, machte ſich Hedin von jeinem Standquartier Kaſchgar auf den Weg nad Ojften, der Wüjte entgegen. Sein Diener Islam Bai, ein rufjischer Kirgife aus der Stadt Oſch in Ferghana, war unter jeinen Begleitern. Diejer Islam Bai jollte für Hedin ein unvergleichlicher Schaß werden. Das Ziel war die Wüſte Takla— mafan, jpeziell die Negion zwiſchen dem Jarkend-darja oder Tarim und dem Khotan-darja. Beide Flüſſe vereinigen ſich unter einem Ipigen Winfel; Hedin beabjichtigte, von einem Punkte am Jarkend— darja, etwas über 200 Stilometer oberhalb des Zujammenflufjes, in jüdöftlicher Nichtung quer durch die Wüſte auf den Khotan-darja (oSzugehen. Die Entfernung ſchätzte er nach den ihm vorliegenden Karten auf 287 Kilometer 15 Tagereijen. In Maralbajchi be- ſuchte ein achtzigjähriger Greis Hedin vor dem Antritt jeiner Reiſe und erzählte ihm, er habe in jeiner Jugend einen Mann gefannt, der fich einjt in der Wüſte verirrt und dort eine alte Stadt ge— funden habe; in den Häuſern hätte eine Menge chinefiicher Schuhe gejtanden, aber jo mürbe vor Alter, daß fie bei einer Berührung in Staub zerfielen. Wieder ein Anderer habe, gleichfall8 an einer Auinenftätte in der Wüſte, viel Silber gefunden, aber von einer Schaar Wildfagen ſei er jo erjchredt worden, daß er davonlief und die Stelle nachher nicht wiederfinden fonnte. in verjchuldeter Mullah aus Khotan jei in die Wüſte gegangen, um dort zu jterben; er habe jedoch in ihr Gold und Silber gefunden und jei jegt ein reicher Mann. Hedin war fajt überzeugt, daß dieje Erzählungen einen bejtimmten Grund haben müßten.

„Wie laſſen ſich“, jchreibt er, „Dieje Legenden von der großen Stadt des Alterthums, Takla-makan, erklären? St es nur ein Zufall, daß diefe Sagen von Khotan über Jarfend und Maral- bajchi nad Akju von Mund zu Mund fliegen, und daß die alte Stadt überall unter demjelben Namen befannt iſt? Wollen die

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Eingeborenen ſich nur dadurch interefjant machen, daß jie ver lajjene Häufjer, die fie gejehen haben wollen, bis in die fleinjten Einzelheiten bejchreiben und bejtimmt verfichern, e8 habe in grauer Vorzeit im Innern der Wüſte große Wälder gegeben, Aufenthalts: orte für Mojchusthiere und anderes Wild?... Wie ein Kind laujchte ich diejen abenteuerlichen Sagen, die mir die gefährliche Fahrt, die ich zu wagen beabjichtigte, mit jedem Tage verlocdender erjcheinen liegen. Sie hypnotifirten mich; ich wurde blind gegen jede Gefahr, die unheimliche Wüſte verherte mich; jogar die Sand: jtürme, die ihre Wurzel in der Tiefe der Wüſte haben, erjchienen mir prachtvoll und bezaubernd.

Und dort Hinten am Rande des Horizonts thürmten die Dünen ich in edel gerundeten Formen auf, die zu betrachten ic nie müde wurde, und hinter ihnen lag in der Ruhe der Grabes- jtille das unbefannte verzauberte Land, von deſſen Dafein nicht einmal die ältejten Urfunden eine Ahnung haben das Yan), das ich als der Erjte betreten wollte!“

Das Land, in dem Hedin weilte, Oft-Turfejtan, gehört zu China und mit chinefischen Beamten hatte er es in eriter Linie überall zu tun. Die Sprache des Volkes iſt aber türfijch und in den jiebziger Jahren diejes Jahrhunderts beitand hier unter dem berühm- ten Rebellen Jakub-Bek von Kajchgar auch eine jtarfe, national türkische und muhammedanijche Herrjchaft; ſeit Jakubs Ermordung iſt es aber den Chineſen geglüct, ihre Autorität wiederherzuftellen. Als ein Dentmal des landesväterlicden Waltens der chinefijchen Negierung fand Hedin in einem Dorfe, Namens Meinet, bei Maralbajcht folgendes Plakat in chinefischer und türkischer Sprache. mit dem faijerlichen Namen darunter, angejchlagen: „Da ich (der Katjer) gehört habe, day einige Bels dem Volke ungejegliche Steuern auferlegt und jich das FFiichereirecht angemaßt haben, will ich, daß derartige Uebergriffe beim nächiten Dao Tat (Gouverneur) gemeldet werden. Wenn diejer nicht auf die Klagen hört, joll das Bolf jich direft an mich wenden. Kuang-Tſü.

„Der arme Kuang-Tſül Er hat nie etwas vom Dorfe Meinet gehört und kümmert ſich den Kuckuck um den Fiſchfang im Jarkend Darja* jagt unjer Neijender dazu.

Erjt am 10. April fonnte die Expedition aufbrechen, nachdem die nöthigen Nameele und Borräthe bejchafft waren. Acht Thiere zählte die Karawane, das Stüd zu 135 Marf gefauft. An Leuten hatte Hedin außer jeinem getreuen Islam Bat noch drei Ein:

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geborene angeworben nur einer von Ddiejen follte die Wüjten- reije überleben. Eiſerne Waſſerkiſten und Schläuche bildeten außer dem Proviant und den njtrumenten den wichtigiten Beitandtheil des Gepäds; dazu ein beträchtliches Quantum Sejamöl zur Er: nährung der Stameele in der Wiüjte. Wenn das Kameel täglich) einen halben Liter Del befommt, fann es einen Monat lang ohne jede andere Nahrung marjchiren. Im Frühjahr, der Jahreszeit, in der die Erpedition aufbrach, jollten die Kameele den dritten Tag bereits nicht gut ohne Waſſer aushalten können, im Winter aber und auf ebenem Terrain jogar jechs bis jieben Tage und jelbit noc) länger.

Die eriten Tage des Wüſtenmarſches verliefen glüdlich; man hielt jich in der Nähe des Jarkend-darja und fand öfters Waſſer. Am 23. April gab Hedin beim legten Wajjerplat den Befehl, die Züternenbehälter zur Hälfte, d. h. für einen Marſch von zehn Tagen, zu füllen, überzeugte jich aber nicht perjönlich, ob jeine Anordnung gewiljenhaft befolgt wurde. Die beiten Starten gaben die Entfernung bis zum Khotan-Darja noch auf hundertdreigig Ktilometer ſechs Tagereijen an; Hedins eingeborener Führer behauptete jogar, es fünnten nur vier fein.

Der folgende Tag war glühend heit. Der Sand begann jich zu langen Dünenzügen aufzuhäufen, und je weiter nach Djten, deito mächtiger wurden die Ketten. Die Ktameele Eletterten jedoch bewundernswerth ficher an den jteilen Abhängen hinauf. Auf einem gigantischen Sandwall machte die Karawane Halt; die Ausjicht über das Dünenmeer war endlos. „Daß ich nicht vor Entjegen erbleichte*, jchreibt Hedin, „als mein Bli nach Oſten hinjchweifte, über diejes Meer mit den Niejenwogen von feinem, gelbem Sande, das uns jeßt überall umgab, fam wohl daher, daß ich nicht glauben fonnte, mein Glücksſtern, der jtetS jo hell gejtrahlt, würde jet erlöjchen . . . . Desiderium incogniti, die Sehnjucht nach dem Unbefannten, hieß der Zauber, der mich unmiderjtehlich nach dem Schlojje des Wüſtenkönigs Hinzog, wo ehrenvolle Entdedungen und die verborgenen Schäße der Sagen meiner warteten... . „Vor— wärts!“ flüjterte der Wilitenwind. „Vorwärts“! jang das Erz der Starawanengloden. Taujend und aber taufend Schritte dem Ziel entgegen, feinen einzigen rücdwärts!“

Am 24. April furchtbarer Sandjturm, Dünen über Dünen, ein uferlojeg Meer von ungeheuren Sandmengen. Schon nach dreizehn Kilometern war die Karawane erjchöpft und jchlug Lager.

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Keine Spur von organijchem Leben mehr; fein Nachtjchmetterling, der ans Licht flatterte; Fein dürres, vom Winde getriebenes Blatt mehr. Am 25. April ſah Hedin nad) dem Waſſer und fand, das es nur noch für zwei Tage reichte: die Leute hatten in der Ueber: zeugung, bald an den Khotan-darja zu fommen, und um die Stameele leichter zu beladen, weit weniger Wajjer mitgenommen, als ihnen befohlen war. Nun erhob ſich die Frage: umfehren zum Waſſer oder vorwärts in der Hoffnung, bald neues zu finden?

Den 26. April. Die Kameele begannen zu verjagen; Das wenige noch übrige Waſſer wurde gehütet wie Gold. Nachmittags machte man einen merfwürdigen Fund die weißen mürben Ge— häuſe einiger Schneden und mehrere vom Wajjer rund gejchliftene Nolliteine. Wie lange Zeit mochte vergangen fein, jeit das Meer, das einjt hier brandete, ihnen dieje Form gab. Abends verjuchten die Leute einen Brunnen zu graben. In zwei Metern Tiefe wurde der Sand feucht; man grub mit verdoppeltem Eifer und tranf von dem Reſt des Wajjerd ohne Gewiſſensbiſſe, denn der Brunnen jollte ja die leeren Zilternen wieder füllen. „Mittlerweile war es Itodfinjter geworden, und zwei Lichtſtümpfe wurden in fleine Nijchen in der Brunnenwand gejeßt. Der Inſtinkt trieb alle Thiere nad der Schachtmündung. Die Kameele jtanden mit vorgejtredten Hälſen da und bejchnupperten den fühlen, feuchten Sand ..... Wir dachten nicht daran, nachzugeben. Wir wollten, wenn es jein mußte, den ganzen nächjten Tag hierbleiben, aber Waſſer mußten wir haben.“ Da plöglich jtöpt der Mann in der Tiefe einen halb unterdrücten, entjegten Schrei aus: er war mit einem Male wieder auf völlig trodenen Sand gejtoßen; alle Arbeit, der ganze Kräfte— verbrauch, waren vergeblich gewejen.

Den 27. April. Alles, was zurückgelaſſen werden fann, wird geopfert, um die Thiere noch einige Zeit bei Kräften zu erhalten. Die Dünen erreichten an diefem Tage ihre Martmalhöhe, jechszig Meter. Zwei Kameele jtürzten, um nicht wieder aufzujtehen. Gegen Abend erblidten die Neifenden im Wejten dicke Negenwolfen; aber fie zogen nach Süden ab und jchenften feinen Tropfen. Die Ein: geborenen gaben jeßt die Hoffnung auf, am Leben zu bleiben. Am 28. April neuer Sandjturm. Der Marjch fiel Allen jchwer, denn von der Umgebung war vor wirbelndem Sande nichts zu jehen. Die Leute jpotteten in ihrer Verzweiflung über Hedins Kompaß, der jie doch nur in die Irre führe; es jei zwecklos, ſich überhaupt noch mit langen Märjchen anzuitrengen. „Verlor man

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die Andern außer Sicht, jo konnte man den Sturm weder dur) Rufen noch durch Flintenjchüjje übertönen; man verirrte ſich und wäre rettungslos verloren gewejen. Man ſah nur das nädhite Kameel; die übrigen verjchwanden in einem undurcdhdringlichen Schleier. Nur ein eigenthümlich pfeifender, ſauſender Ton ließ fich hören, wenn die Milliarden von Sandförnern vorbei- eilten.“ An dieſem Tage ging das dritte Kameel verloren. Am Abend wurden alle entbehrlihen Sachen im Lager zurüds gelafien: „Proviant auf drei Monate, Zuder, Mehl, Honig Neis, Kartoffeln, Gemüje, Maffaroni und ein paar hundert Stonjervendojen, alles wurde fajjirt. Mehrere Pelze und Filz: deden, Kiffen, einige Bücher, ein großer Bad Zeitungen, der Koch— apparat mit dem WBetroleumvorrath, Kochtöpfe, Porzellangejchirr u. j. w. wurden zurüdgelafjen.“ Allerdings hoffte man, jobald erit Wafjer gefunden wäre, die Sachen wiederzuerlangen; e8 wurde auch ein hohes Merkzeichen bei dem Depot aufgerichtet. Nur jolche SKonjerven, die Feuchtigkeit enthielten, namentlich etwas Wajjer, wurden weiter mitgenommen, Doch ließen jich die ver: ichhmachtenden Leute erſt dann herbei, davon zu genießen, als jie ji) überzeugt hatten, daß Fein Schweinefleifch dabei ſei. An Wafjer eriftirten noch zweit Liter, in zwei Kannen, aber am näditen Morgen war die eine leer! Man hatte Verdacht auf Solltichi, einen der Leute, aber es ließ fich ihm nichts beweijen.

29. April. Man fand einen uralten verdorrten Bappeljtamm, ohne Wurzeln, und jchöpfte einen Augenblick Hoffnung, fich jetzt dem Gebiete der beginnenden Vegetation zu nähern. 30. April. „Wir hatten noch zwei Glas Waſſer in der etjernen Kanne. Während die andern Männer mit dem Beladen der Stameele be: jchäftigt waren, überrajchte Islam Bat den Jolltſchi, wie er, mit dem Rüden nach) den Stameraden gefehrt, die eiſerne Kanne vor dem Munde hatte... Bor Wuth fochend jtürmten Islam Bat und Kaſim auf Solltjcht los, jchlugen ihn zu Boden, ohrfeigten ihn, jtießen ihn mit den Füßen und würden ihn umgebracht haben, wenn ich ihnen nicht jtreng befohlen hätte aufzuhören.“ Am Abend wurden Die Lippen der Männer mit den lebten übrig: gebliebenen Wajjertropfen angefeuchtet. Bis hierher hatte Hedin am Schluß jedes Tages die Kraft gefunden, ausführliche Auf: zeichnungen mit Tinte in jein Tagebuch zu machen. Bon jegt ab wurden e3 nur ganz furze Notizen mit Bleiftift auf ein Stüd Bapier: die Peilungen der Himmelsrichtung mit dem Kompaß,

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die Zahl der Schritte in jeder Richtung und der allgemeine Gang der Ereignijje.

Am 1. Mai trank Hedin, von Durjt entjeglic) gequält, ein Trinkglas voll jchauderhaften chinejischen Branntweins, was ihn für den ganzen Tag des Neftes feiner Energie beraubte. Schon um halb zehn Uhr Vormittags waren jeine Kräfte zu Ende. Das Belt wurde aufgejchlagen, um die Tageshite bi8 zum Sonnen: untergang bejjer zu überjtehen. Hedin dachte, daß nun Alles zu Ende jei; Phantafien und Träume bei offenen Augen jtellten ſich ein. Unzählige Male jah er dabei nach der Uhr, und jede Stunde erichten wie eine Ewigfeit. Gegen Abend wurde es fühler, und die jchredliche Wirfung des Branntweins verflog. Je mehr die Sonne fich dem Horizont näherte, dejto fräftiger fühlte jich Hedin wieder. Ja, er glaubte fähig zu jein, Tage und Nächte hindurch zu Fuß weiter zu wandern.

„sh brannte vor Ungeduld aufzubrechen, ich wollte nicht iterben .... Wenn man todtmüde ift, ift Die Ruhe ſüß. Man fällt bald in Betäubung und jchlummert jchmerzlos in einen langen, jchweren Schlaf hinüber, aus dem man nicht mehr erwacht. Man fühlt jich jehr verjucht, ſich dieſer ſüßen Betäubung zu überlajien, doch bei dem Gedanken an die Meinigen hatte dieje Ber: juchung jest ihre Macht über mich vollitändig verloren.“ Die Unglüdlichen griffen nun zu den verzweifeltiten Mitteln. Sie hatten noch ein Schaf mit und jchlachteten es, um jein Blut zu trinfen; aber der dide, rotbraune Strahl gerann fait augenblidlic an der heißen Luft. Dann fingen jie ameelurin auf und mijchten ihn in einem Becher mit Ejjig und Zuder. Hedin und der Diener Kaſim waren die einzigen, die nicht davon tranfen, und das war ihr Glüd, denn die Anderen mußten mit heftigem, die legten Kräfte verzehrendem Erbrechen dafür büßen. Abermals wurde das Gepäd reduzirt; was zurücdblieb, wurde in acht Kiſten verpadt und auf die nach innen umgejchlagene Leinwand ins Zelt gejtellt, um diefes auf dem Kamm einer Düne als weithin jichtbares Kenn» zeichen fejtzuhalten fall8 man noch einmal zurüdfehren jollte. Zwei Diener, Mohammed Schah und Jolltjchi, waren im Sterben und blieben hier zurüd. Blutenden Herzens und voller Selbit: vorwürfe, daß er dieſe Leben auf jein Gewijjen geladen hatte, nahm Hedin von ihnen Abjchied. ES war finjtere Nacht, und nur das Lagerfeuer beleuchtete qualmend den Eleinen Flecken der Wüſte zwijchen den furchtbaren Sanddünen, den einzigen Zeugen des

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Unterganges der Karawane. Wenige Dünenkämme waren erit überwunden, als wieder ein Kameel jtürzte und jich zum Sterben hin— legte. Mit Laterne und Kompaß jchritt Hedin durch die Nacht voran, die iiberlebenden Diener und Thiere hinterher. Um Mitternacht brach Islam Bai zujammen, bat, mit den Stameelen liegen bleiben zu Dürfen und jagte, er wolle jterben. Hedin und Kaſim nahmen Abſchied von ihm, um allein, ohne Gepäd und Kameele ojtwärts vorzudringen. Der Khotan-darja konnte nicht mehr weit jein, aber dennoch fündigte nicht das kleinſte tennzeichen jeine Nähe an. Die brennende Yaterne blieb neben dem zujammengebrochenen Islam Bai auf einem Diünenfamme jtehen und war den beiden vorwärtsdringenden Männern noch lange jichtbar. Zwei Chrono- meter, eine Uhr, ein Kompaß, ein Federmeſſer, ein Bleijtift und ein Stüd Papier, eine Doje Hummer, eine Büchje Kakao und zehn Zigaretten das war alles, was Hedin von den acht Kameel— lajten, mit denen er ausgezogen war, noch weiter mit jich nahm.

2. Mai. As es heiß wurde, gruben jich die beiden Männer tief in den Sand und ruhten bis zum Abend. Die Nacht hin— durch und am nächiten Morgen wanderten jie mit Unterbrechungen weiter.

3. Mai. Kajims Falfenaugen entdedten am Rande des öjt- lichen Horizonts eine grünende QTamarisfe. Auf dieje fonzentrirte jich jeßt die ganze NRettungshoffnung. Als fie erreicht war, fauten die Beiden wie Thiere an ihren jaftigen Nadeln. Bald erjchten ein zweiter Strauch und nach Oſten hin waren noch mehrere zu jehen. Den Tag über wurde wieder im Sande geruht. Abends um zehn Uhr stieg man im Dunkeln plöglich auf eine Gruppe von drei prächtigen Bappeln mit zwar jaftigen, aber bitteren Blättern. Dort jammelten fie trodene Zweige auf und zündeten als Signal für Islam Bat, fall8 er noch lebte, und für andere Menjchen, falls jie jchon dem Fluſſe nahe jein jollten, ein gewaltiges Feuer an. Ein Berjuch, nach Waſſer zu graben, war bei den ganz gejchwächten Kräften nutzlos. Kaſim briet ſich eine mitgenommene Scheibe von ‚dem jaftigen Fettichwanz des Schafes, und Hedin würgte etwas Hummer hinunter. Dann wurde Alles fortgeworfen bis auf die ausgeleerte Stafaobüchje, um daraus von dem Wajjer des Khotan— Darja zu trinfen.

4. Mai. Kaſim blieb liegen und Hedin ging allein durd) Nacht und Sand weiter. An diefem Abend mußte er Die legte Zigarette allein zu Ende rauchen bis dahin hatte Kafim immer

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die zweite Hälfte befommen. Um Mitternacht ſank Heden nieder. Da hörte er eine Menjchenjtimme. Es war Stafim, der jich erholt hatte und nachgefommen war. Nach einer Weile entdedten jte plöglich) Menjchenjpuren im Sande aber es waren ihre eigenen. Sie waren jtundenlang im Kreiſe herumgegangen!

5. Mai. Endlich erjchien am Horizont eine dunkle Linie; fie fonnte nichts anderes bedeuten, al8 den Wald am Ufer des Khotan=zdarja! In der folgenden Nacht gelangte Hedin endlich, nachdem auch Kafim noch jchon im Uferwalde liegen ge blieben war, in das ausgetrodnete Flußbett. „Während ich ging“, jchreibt er, „hielt ich den Blick bejtändig auf den Mond gerichtet, in der Erwartung, unter ihm einen Silberftreifen im Waſſer des Fluſſes zu jehen. . . . . Nach einer Wanderung von zweieinhalb Kilometern unterjcheide ich jedoch die dunkle Waldlinie des anderen Ufers. Sie wird immer deutlicher. Dort fteht ein dichtes Gebüſch von Sträuchern und Schilf, und eine halb umgefallene Pappel liegt jchräg über einer Vertiefung im Flußbett. Ich habe nicht mehr viele Schritte bis ans Ufer, da fliegt pfeiljchnell eine aufge icheuchte Wildente mit pfeifendem Flügeljchlag auf. Ich höre ein lätjchern, und im nächjten Augenblide ſtehe id am Rande eines faum zwanzig Meter langen Tümpels mit friſchem, faltem, herrlichem Wajjer!

Am Abend des 30. April war der legte Tropfen Waſſer über Hedind Lippen gefommen, nachdem jchon vorher die Nationen tagelang aufs Aeußerſte bejchränft worden waren. In der Nacht vom 5. auf den 6. Mai erreichte er die Lache im trodenen Bett des Khotan-darja! Das macht über fünf Tage, etwa einhundert: undfünfundzwanzig Stunden und das in der Wüjte bei glü— hender Tageshige und nächtlichem Marjchiren oder vielmehr fort: gejegtem Stlettern über hunderte und aberhunderte von bergehoben Dünenfetten. Der Lejer wird fragen, welches die Empfindungen Hedins waren, als er an dem rettendem Wajjer jtand. Cr deutet an, daß jein erjter Gedanke ein religiöjer war, der zweite wie viel Schläge in der Minute jein Puls zählte! ES waren neun- undvierzig. Darauf tranf er, trank... trank . .. tranf. Eins undzwanzig Mal füllte und leerte er jeine E£leine, blecherne Kafao- büchje, die etwa ein Trinfglas fahte, im Laufe von zehn Minuten. Dann zog er jeine hoben, wajjerdichten Stiefel aus, füllte jie bis an den Rand, 309 die Strippen auf die beiden Enden eines Stodes, und machte jich damit auf den Weg zu Kaſim. Der lebte noch

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und leerte beide Stiefeljchäfte hintereinander auf einen Zug! Bald darauf traf Hedin mit Hirten zufammen, von denen er Nahrung erhielt, und einige Tage jpäter fand er den treuen Islam Bat, der jchlieglich doch noch aus eigner Kraft mit dem lebten Kameel und den werthvolliten Sachen, namentlich den wijjenjchaftlichen Aufzeichnungen und Apparaten, mehr todt als lebendig am 7. Mai Morgens das trodene Flußbett erreicht hatte. Dort brach er zu: jammen, als er fein Wajjer fand und legte jich zum Sterben nieder; aber wenige Stunden jpäter ritten durch eine glüdliche Fügung Kaufleute auf dem Wege, der durch das Flußthal führte, vorüber und retteten ihn! Der Brave hatte faſt Hebermenjchliches geleijtet; Hedin und er gejtanden ſich jpäter gegenfeitig, daß, als fie fich trennten, Jeder die Hoffnung aufgegeben hatte, den Andern wieder: zujehen. Islam Bat hatte bei den Pappeln, wo Hedin und Kajim das Signalfeuer angezündet hatten, mit der Art einen tiefen Spalt in einen der Baumjtämme gehauen und daraus etwas Saft gejogen das rettette ihn, denn er befam erjt dreißig Stunden jpäter al8 Hedin Wajjer!

Nachdem jich die drei Ueberlebenden wieder gefräftigt hatten, machte Hedin noch einen Verjuch, das in der Wüſte zurüdgelajjene Gepäd wiederzuerlangen, doch ohne Erfolg. So blieb ihm nichts übrig, als nach Kajchgar zurüdzufehren, um von dort aus jich für feine weiteren Pläne eine vollitändig neue Ausrüftung aus Europa fommen zu lajjen. Die Zeit bi8 zum Eintreffen der Sachen be— ſchloß unjer Neijender wieder auf dem Pamir zuzubringen, wo, wie er wußte, gerade eine große engliſch-ruſſiſche Kommiſſion mit der Feitjtellung der Grenzlinie zwijchen dem indobritijchen Gebiet und dem Zarenreich bejchäftigt war. Es ift interefjant und amüjant, von Hedin zu hören, mit welch einem Aufwand von Sekt, fran— zöjischen Weinen und Delifatejjen, von Muſik und gegenjeitiger Liebenswürdigfeit bei jplendiden Diners die Rivalen ihre Aufgabe erfüllten. Den Höhepunft erreichten dieje Feſtlichkeiten, als das Telegramm über die Genehmigung der von rujjijcher Seite vor= gejchlagenen Grenzlinie durch Lord Salisbury eintraf. Hedin in jeinem fadenjcheinigen Reijeanzug von Manjchetten und Stragen war natürlich feine Nede fam ſich unter den Gala-Uniformen und Ordensiternen wie die Krähe unter den Pfauen vor, wurde aber wegen feines Todesmarjches hoch bewundert. Es gab Gänſe— leberpajtete und Spargel und viele andere gute Dinge in diejer welt und menjchenfernen Hochgebirgs:Wildnig wohl zum erjten

Preußiſche Jahrbücher. Bd, XCVIII. Heft 3. 3

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und legten Mal, jeit die Gipfel der ewigen Bergriefen des Pamir gegründet stehen. Am dritten Oftober war Hedin wieder in Kajchgar und im Beſitz einer neuen Ausrüftung.

Mitte Dezember brach Hedin auf, abermals der Wüſte, die ihm jo verhängnigvoll geworden war, entgegen. Diesmal führte jeine Route am jüdlichen Rande des Tarimbedens, auf Khotan zu, das an der Stelle liegt, wo der Khotan-darja aus dem Gebirge heraus und in das Wüſtengebiet eintritt, jechs jtarfe Tagemärjche oberhalb der Stelle, wo die Trümmer der Unglüds- karawane endlich an das Flußbett gelangt waren. Khotan oder Iltſchi ift heute eine unbedeutende Stadt, aber eine jehr alte Anjiedlung. Den Ehinejen, denen fie gehört, it fie von Alters her wichtig durch das Vorkommen des von ihnen hochgeichäßten Nephrit, eines hellgrünlichen, harten Minerald vom Werthe eines Halbedeljteines, in der Nähe. Der Nephrit wird wie Gold ge graben; gute Stüde fojten mehrere Hundert Mark. Die Umgegend von Khotan iſt außerordentlich reich an Alterthümern, von denen viele in die altbuddhiſtiſche, andere in die helleniftifche Zeit zurüd- weijen; namentlich zahlreiche Gemmen und Terrafotten liefern einen Beweis dafür, wie jtarf die Nachwirfungen des Aleranderzuges bis in dieſe entlegenen Gebiete hinein jpürbar gewejen find. In Khotan jpuften wiederum die Erzählungen von der alten, be- grabenen Stadt in der Wüjte. Ein Mann erzählte Hedin, daß er einmal draußen in der Wüſte jold) eine Stadt gefunden habe und in ihr noch Leichen in jißender Stellung, als ob ein plößlicher Sandjturm fie eingebettet habe. Bereits ein chinefischer Reiſe— bericht aus dem Jahre 632 n. Chr. erzählt aber von einem alten KKönigreiche Tuholo, nach Hedin ohne Zweifel dasjelbe Wort wie Takla, das „jchon jeit Langem“ in eine Wüfte verwandelt jei, und dejjen Städte in Ruinen lägen. Bejonders intereffant it es noch, daß Hedin auch chriftliche AlterthHümer fand. Noch im Jahre 1274 lebten nach Marco Polo im chinefiichen Oſt-Turkeſtan Jafobuschriften und Nejtorianer, die ihre eigenen Kirchen hatten. Jetzt ift jchon lange die legte Spur des alten Chriſtenthums in diefen Gebieten ver: ſchwunden, doch giebt e8 jeit Kurzem in mehreren Städten ſchwediſche Miſſionare. Hedin urtheilt mit Hochachtung über ihre Motive und ihren jelbjtverleugnenden Muth, aber er bedauert es, daß jie an einem unfruchtbaren und unflugen Werfe arbeiten. Ganz Turfejtan ijt befanntlich jtodmuhammedanijch, und Muhammedanermiffion in einem Gebiete mit, wenn auch nur lofaler, muhammedanijcher

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Obrigfeit, vollends dort, wo der Islam noch ganz und gar nicht durch europätjche Kultureinflüfje, vor alem durch den modernen Ver: fehr zerjegt wird, ift und bleibt eine Thorheit,wenn auch eine gut» gemeinte. Darin fann ich Hedins Urtheil aus eigner Anjchauung der orientalischen Verhältnijje heraus nur unbedingt beipflichten. Am 14. Januar 1896, falt zwei Jahre, nachdem er in Meargelan, der Hauptitadt des rujjiichen TFerghanagebiets, den Boden jeines zentralafiatiichen Forſchungsgebietes betreten hatte, brach er von Khotan, dem Yaufe des feſt zugefrorenen Fluſſes nordwörts folgend, auf, diesmal ohne Zelt und Bett. Statt deren diente ihm ein aus Ziegenfellen zufammengenähter Schlafjad, und das bei einer Kälte, die Nachts oft unter zwanzig Grad minus janf. In dem legten menschlichen Wohnplag am Fluſſe wurden ‚sührer nach der NRuinenjtadt in der Wüſte genommen. Bon hier bog die Karawane rechtwinklig vom Flußlauf nad Dften ab, wieder in das Sandmeer hinein. Am fünften Marjchtage er— reichte fie einen großen abgejtorbenen Wald mitten in der Wüſte. Gebleichte niedrige Stämme und Baumjtümpfe, jpröde wie Glas, und zahllofe Wurzeln bededten eine weite Fläche und lieferten ein unvergleichliche8 Brennmaterial. Am jechsten Tage ſtieß man wirklich auf die alte Stadt. Allerdings machte die Stätte eher einen merkwürdigen als einen impojanten Eindrud, denn die Häujer waren nicht aus Steinen oder Yuftziegeln, jondern aus Holz, Binjen und Stud gebaut gewejen. Auf einem Gebiet von drei bis vier Kilometern im Durchmejjer waren zahl— [oje hohe Pfojten oder Balfen fichtbar, mit Spuren von Wänden dazmwijchen, die auf eine ganz eigenthümliche Art hergeitellt waren. Bwijchen den jenfrecht in die Erde gerammten Balfen, die ın größerer oder geringerer Anzahl, gleich den Pfojten eines Zaunes nebeneinander jtehend, das Gerippe der Außenwände bildeten, liefen zahlreiche dünne, horizontale Querlatten, an die in feiten Büjcheln, eins dicht neben dem andern, Schilf gebunden war. Hierüber war eine Schicht mit Häckſel vermijchten Lehmes gejtrichen und die ganze in einem Falle noch einen Meter hohe Wand weiß getündht. Eins diejer Häujer nannten die Eingeborenen Bud— Chané, d. i. einen Buddha-Tempel. Die Wände waren gejchidt bemalt: betende Frauen, jchwarzbärtige Männer, Hunde, Pferde, auf Wellen jchaufelnde Schiffe waren da zu jehen, auch ein Stüd „Papier“ mit unlesbaren Schriftzeichen. In einem anderen Hauje fand Hedin eine Menge Gipsfiguren, die offenbar Buddhabilder 81*

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darjtellten, ebenjo halbnadte Frauenbilder, Leiften, Frieje, Blumen und Guirlanden von Gips, Thonjcherben, einen gewaltigen Mühl: jtein aus Porphyr und andere Dinge. Lange jchnurgerade Doppel: reihen von PBappelftümpfen, Spuren von Pflaumen: und Aprikojen- bäumen und eine ausgedörrte Seidenraupenpuppe lieferten den Beweis, daß es hier einjt Gartenanlagen und Geidenzucht, aljo Maulbeerbäume, gegeben hatte. Ausgrabungen zu machen, erwies fi) wegen der fließenden, ſtets nachrutjchenden Sandmajjen als jo gut wie unmöglih. Nur ein relativ fleiner Theil der Ueber— bleibjel das, was gerade auf dem Grunde der Dünenthäler lag war überhaupt fichtbar; weitaus das Meijte jtedte unter den Sandmafjen der mächtigen halbmondförmigen Kämme be: graben.

Die Eingeborenen nannten den Ort Tafla Mafan. Hedin iſt der erjte Europäer, der ihn gejehen hat, was ihn mit ebenjo begreiflichem wie gerechtem Stolze erfüllt. Wer aber hat Ddieje Stadt gebaut, und woher fommt es, daß fie jeßt mitten in Der Wüſte begraben liegt? Bon den Ruinen find es nad) Weiten über fünf Tagemärjche bis zum nächſten Gewäfjer, dem Khotan-darja ojtwärts aber erreichte die Karawane nad) drei Tagemärjchen den nächjten Fluß, der, von dem füdlichen Hochlande herabfommend, tief nach Norden in die Wüjte hineindringt: den Kerija-darja. Hedin iſt der Meinung, daß der Kerijä-darja einjtmals bei der alten Stadt vorbeigeflofjen jet, im Laufe der Zeit aber jein Bett immer weiter ojtwärts verlegt und auf dieje Weije die Stadt dem allmählichen Untergange geweiht habe. Thatjächlich zeigen ſehr viele Flüſſe Turfeftans dieſe Neigung, ſich nad) Ojten zu verjchteben. Unter Berüdjichtigung der herrjchenden Winde und der Schnellig- feit, mit der die Dünen wandern, berechnet Hedin 1500 Jahre, eher jogar noch ein halbes Jahrtaufend mehr, als das wahrichein- liche Alter der Stadt. Der terminus a quo ijt das Eindringen des Buddhismus in QTurfejtan, ein Vorgang, der fich ficher bereits mehrere Jahrhunderte vor Chrijto vollzog; der terminus ad quem iſt die arabtijiche Eroberung, die zugleich die Muhammedanijirung des Yandes brachte, zu Anfang des achten nachcehrütlichen Jahr: bunderts. Bor dem eriten Termin it es undenkbar und nad) dem zweiten höchſt unmwabhrjcheinlich, daß eine buddhijtiiche Kultur hier geblüht Haben jollte ein buddhiftiiches Volt aber hat das alte Tafla Mafan, wie aus den gefundenen Altertyümern ſicher hervorgeht, bewohnt.

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Hedin behält ſich vor, in jpäteren Veröffentlicjungen auf dies hiſtoriſche Problem noch bejonders zurüdzufommen. In jeinem jegigen Werfe deutet er nur jeine VBermuthung an, daß es nicht die Vorfahren der heute im Lande haujenden Turkſtämme gewejen jeinen, von denen die Stadt bewohnt wurde. In Betreff der geologischen Berhältniffe meint er, daß zur Zeit der Blüthe von Takla Mafan mindejtens der Raum zwijchen jener alten Ortslage und der heutigen Südgrenze des Sandes noch nicht Wüſte gewejen jei, mit andern Worten: daß damals Tafla Mafan wahr: icheinlich ebenfo am Rande der Wüſte auf bewäfjertem Fruchtlande lag wie heute Khotan, Kerija und alle die anderen Städte in der Grenzzone zwijchen dem Fuße des Kwen-lun-Syſtems und dem janderfüllten Tarimbeden. Wenn Hedin Recht hat und dem wirflich jo tft, dann muß noch in Hiftorischer Zeit die Wüſte um mehr als 100 Kilometer jüdwärts vorgedrungen jein, und noch zur Zeit Aleranders des Großen hätte jich eim großes, fruchtbares und bevölfertes Land dort ausgedehnt, wo e8 heute nur die todtbringenden Flugſanddünen giebt. Es iſt dann allerdings nicht nöthig, mit Hedin anzunehmen, daß gerade der Kerija-darja in jener Vorzeit bei Tafla Makan vorbeigefloffen und dann in der Folge drei Tagereijen weit oſtwärts gewandert it; wenn zwijchen der alten Buddhiitenitadt und dem Kwen-lun damals noch fein Wüftenjand lag, jo fann ebenjo gut eins der andern zahlreichen und ftarfen Gewäſſer, die vom Gebirge herabfommen und jet vom Sande verjchludt werden, der Gegend ihr Leben gegeben haben. Merk: würdig tt in jedem Falle, daß fich die Ueberbleibjel des großen Waldes bei den Ruinen und jogar ein jo vergängliches Baus material wie die Binjen der Häujerwände durch) mehr als ein Sahrtaujend erhalten haben fraßen doch jogar die Ejel und Stameele munter von eben jenen Binjen aber Hedin verjichert, daß die Ueberdedung mit dem feinen trodenen Sande der jtetig wandernden Dünen eine im höchjten Maße fonjervirende Wirkung auf organijche Stoffe ausüben. Noch wunderbarer erjcheint es, daß ſich noch erheblich weiter in die Wüſte hinein, eine Tagereife wejtlich vom Serija=darja, ſechs Tagereiſen öſtlich von der Stelle, wo Hedin im Herbit des vorhergehenden Jahres nad) jeiner Schredensreije an den Khotan-Darja gelangt war, die Ruinen einer zweiten alten Stadt fand, die zwar jchlechter er— halten war, aber jonjt ganz denjelben Typus zeigte wie die erjte. Sogar ganz im Norden des Bedens, am mittleren Tarim jelbit,

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wußten die Eingeborenen von einem eben jolchen Orte in der Wüſte zu erzählen, den fie Schar = ı- Köttef nannten, d. h. die Stadt im todten (abgejtorbenen) Walde. Diejen legteren Punkt hat Hedin nicht zu finden verjucht, da die Angaben gar zu unbejtimmt waren. Jedenfalls ijt aber jchon das, was er thatjächlich gefunden hat, von der höchiten Wichtigkeit, und der modernen phyſikaliſchen und hijtorischen Erdfunde iſt durch die Entdedung jener verhältnik- mäßig jungen Denkmäler einer hochentwidelten Kultur mitten in der jchredlichiten Wüſte Ajiens ein Problem gejtellt, das interejjanter und wichtiger it, als Alles, was bisher an vergleichbaren Vor- fommnijjen befannt ijt.

Zur Ergänzung der Gedanken Hedins über das vernichtende VBordringen des Sandes in Folge der herrſchenden Windrichtung aus der Wüjte jüdwärt® möchte ich auf ganz parallele Be- obachtungen aufmerffam machen, die im rujjiichen Transfaspien angejtellt worden find. Dort liegen die Verhältnijie in etwas fleinerem Maßjtabe ähnlich, wie in Oft-Turfejtan, im Großen: eine Sandwüſte, Narasfum, dehnt fich im Norden aus, und ein Streifen Fruchtland erjtredt jich am Fuße eines Gebirges, des Kopet-dagh, im Süden als ein jchmales, grünes, fultivirtes Land von Weiten nad) Oſten. Der Wind fommt auch hier überwiegend aus Norden und die Folge it, dat der Sand erfolgreich bejtrebt ift, die etwa 25 Kilometer breite, von zahlreichen jpäter in der Wüſte ver: jiegenden Bächen bewäjjerte Nulturzone zu verjchütten. Der rujjische General Obrutjchew*), hat die Wanderjchnelligfeit des Sandes bier auf 4—5 Kilometer im Jahrhundert berechnet und gemeint, in 500—600 Jahren würden die Dünen direft am Fuß des Kopet-dagh liegen. Das jtimmt fajt genau zu Hedins Be rechnung für Taflasmalan: etwas über 100 Kilometer VBordringen in rund 2000 Jahren.

Am 20. Februar, fünf Wochen nach dem Aufbruch von Khotan, erreichte Hedin den Urwaldgürtel des großen Tarim und ging zwei Tage jpäter über den fejt zugefrorenen, hier 156 Meter breiten Strom. Einundvierzig Tage nad) dem Beginn dieſer Reife langten jie in einem Ffleinen Städtchen nördlicd) vom Strome an, in Schah > jar. „Hier fam mir eine große Idee“, jchreibt Hedin: Er beſchloß, nicht erit, wie anfänglic) geplant, nad) Khotan zurüdzugehen und ſich dort für eine neue große Expedition auszurüften, jondern, wie er

*) vgl Radde, Transkaspien und Nord-Choraſan, im Ergänzungsband zu Petermanns Mittheilungen, 1898.

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ging und jtand, gleich oftwärts zur Löſung der Lob-nor— Frage aufzubrechen. Bei diejer handelt es fich um eins der wichtigiten Probleme der Geographie Inner-Aſiens.

Es iſt eine befannte Ihatjache, daß abflußloſe Seebeden, die jeit langer Zeit von einem rejp. mehreren Flüſſen geſpeiſt worden find, Jalziges Waſſer enthalten, und das ijt überhaupt nicht anders denkbar. Der Erdboden enthält überall in größerer oder ge— ringerer Menge Salze, die vom Flußwaſſer aufgelöft und mitge- führt werden; wenn nun der Fluß in ein abflußlojes Beden mündet, jo entiteht dort zunächit ein See, deſſen Spiegel jolange jteigt, bis die Fläche jo groß geworden iſt, daß die von ihr ver- dunjtende durchjchnittliche Waſſermenge dem jährlichen Zufluß gleich it. Während nun das einjtrömende Waſſer fort und fort ver- dunſtet, müjjen natürlich die zugeführten Salztheilchen in dem Beden zurüdbleiben, und mag ihre Menge auch Anfangs noch jo gering jein, jo muß fich durch ihre Jahrtaujende lange fortgejegte Summirung jchlieglich doch ein jtarfer Salzgehalt des Seewaſſers ergeben. Auf dieje Weije find die meijten Salzjeen entjtanden, und in einzelnen Fällen, namentlich in der warmen Zone und wenn die Flüſſe ſchon an jich jalzhaltigen Boden durchfliegen, jteigert ſich der Salzgehalt ihrer Mündungsjeen bi8 zu dem Charafter einer Lauge oder gejättigten Sole, wie 3. B. beim Todten Meer oder dem Elton-See in der Kaspiſchen Niederung. Da Wafjer nicht mehr Salz in gelöjtem Zujtande in ich aufnehmen fann, als 28 bis 29 Gewichtsprozente, jo muß natürlich, jobald dieje Grenze erreicht iſt, das überjchüjjige Salz ausfryitallifiren und, je nach feinem jpezifiichen Gewicht, entweder zu Boden jinfen oder oben: auf jchwimmen. Das leßtere it z.B. bei dem berühmten Tus- Tſchöll, dem Tatta lacus der Alten, auf der Hochebene des inneren Kleinafiens der Fall, wo im Sommer eine meterdide Salzichicht gleich einer fompaften Eisdede, auf der man gehen und reiten fann, über dem Wajjer lagert. Angefichts diejer Erwägungen und Beifpiele it es theoretiich mit abjoluter Sicherheit zu erwarten, daß aucd das Meündungsbeden des Tarim ein Salzjee it. Daß der Strom in einen See mündet und nicht etwa allmählich im Sande verrinnt, das jtand durch das einhellige Zeugniß der hiftorischen und geographijchen Urkunden fejt.

Man kann ſich das Eritaunen der wifjenjchaftlichen Welt denken, als der große ruſſiſche Neijende Prſchewalſkij im Jahre 1876 als erjter wijjenjchaftlich gebildeter Europäer das Ende des Tarim

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erreichte und einen Süßwajfjerjee fand. Außerdem lag Diejer jüße Lob-nor viel jüdlicher als die alten chinefiichen Karten und Erzählungen angaben. Als dieſe Nejultate in Europa befannt wurden, erklärte der Berliner Geograph Freiherr von Richthofen, die Lob-nor-Frage ſei durch Prichewaljfij, unbejchadet der jonjtigen Verdienſte diejes großen Mannes, nicht endgiltig beantwortet, denn man müſſe es als eine abjolute Unmöglichkeit bezeichnen, da in Wirklichkeit das wahre Mündungsbeden des Tarım Süßwaſſer enthält zumal, da die Gegenden, durch die der Fluß jein Waſſer hindurch: führt, befanntermaßen zu den jalzhaltigjten der Erde gehören.

Die Löjung des Räthſels, die Hedin fand, iſt jehr eigen: thümlich: Der Tarim wechjelt mit jeiner Mündung zwijchen zwei ver: jchiedenen, ziemlich weit von einander abliegenden Beden, Deren eines immer troden wird, wenn das andere jich füllt. Brichewaljfij hatte vollfommen Necht, al8 er 1876 einen Süßwaſſerſee als Endbajfin des Stromes fand; aber er wußte nicht, daß Diejer See erſt wenige Jahre exijtirte, geographiich gejprochen, „von geſtern“ war. Darnad) hat e8 natürlich nichts Wunderbares, wenn er noch nicht zur Salzpfanne geworden war. In den jechziger Sahren noch floß aber die Hauptmajje des Tarimwajjer® in das nördlichere Beden, wo fie auch während der letten hundert Jahre wahrjcheinlich) dauernd jich hineinergojjen hat, und gerade zur Zeit, da Hedin am Lop-nor weilte, zwanzig Jahre nad) dem Bejuche Brichewaljfijs, war der jüdliche See jchon wieder im Verjchwinden und der nördliche in der Füllung begriffen. Natürlich hatten einit- weilen noch beide ſüßes Wafjer.*) Nur die durd) Sandanhäufungen abgejchnürten Randlagunen zeigten bereits bradiges und jelbit jalziges Wajler.

Immerhin ift es merfwürdig, daß ein Fluß von der Waſſer— menge des Tarim nicht einen dauernden Mündungsjee von einiger Größe zu Stande bringt, aber die enorme Verdunſtung in der trodenen Luft der umgebenden Wüſte und die Gier des Sand» bodens, in dem das Bett liegt, find ſtarke Gründe, die es ſchließlich doch erklären. Gegenwärtig endet der Tarim in folofjalen Schilf-

) Ich darf den Lefer zum näheren Berftändniß für einen jolden Wechſel einer Strommündung zwiſchen zwei verjchiedenen Bepreifionen auf das verweifen, was ich im Sabre 1897 anläßlich der Beichreibung meines Ausflugs nad Zurkeftan in diefen Jahrbüdern über die Mündung des Amu-Darja in den Aralſee refp. den Sary Kamyſch und über den alten Oruslauf ausgeführt habe. In der Buchausgabe meiner Reife (Berlin, Georg Stille 1898) ift es Seite 135 ff.

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wäldern, zwijchen denen fich nur noch wenige Beden und jchmale Kanäle mit offenem Wafjer finden. Das Scilf jteht undurch- dringlich, wie eine kompakte Holzwand, bis zu fünf Meter über der Wajjerlinie hoch. In diejen dichten Maſſen halten die Loplik (Leute vom Lop-nor) des Fiichfanges wegen jogenannten Tſchappgane offen ſchmale, forridorartige Kanäle von einem Meter Breite, deren Eingänge meift faum fichtbar find und über denen fich in der Höhe die Schilfwände dicht zujammenjchließen. In dem Tichappgan werden Fiichnege ausgelegt, und Hedin jah Hunderte davon auf dem Grunde des flaren, mehrere Meter tiefen Wafjers liegen, während er in einem mit Zopleuten bemannten großen Ein» baum darüber hinglitt.

Am äußerſten Ditende jeiner Lop-nor-Route befand ich Hedin Ichlieglich über taufend Kilometer von feiner zeitweiligen Operations» baſis Khotan, wo fajt fein ganzes Gepäd und der größte Theil jeiner WReijefajje lagen. In den legten Apriltagen trat er den Rückweg an und ritt am 27. Mat, nach einer Abwejenheit von piereinhalb Monaten, wieder in Khotan ein. Jetzt blieb ihm nur noch das letzte Stüd des Programms, das er ſich vorgenommen hatte, zu erfüllen übrig: die Durchquerung Nord-Tibets. Man fann jagen, daß es heute nirgends auf der Erde mehr, außer in den Wolargebieten, ein zujammenhängendes Stück von jolcher Ausdehnung giebt, von dem wir in geographijcher Hinficht jo wenig wüßten, wie von dieſem verjchlojienen Lande Tibet. Nur der verhältnigmäßig kleine wejtliche Zipfel am oberen Indus, der zu dem indosbritiichen Wajallengebiet von SKafchmir gehört, ijt einigermaßen gut befannt. Alles Uebrige ijt ein großer weißer Fleck mit vielen hypothetijchen und nur jehr wenigen ficher feitgelegten Seejpiegeln, Gebirgszügen und Wajjerläufen. Tibet jteigt in jeiner mittleren Höhe in einer Ausdehnung von mehreren Millionen Quadratfilometern über 4000 Meter hoch empor, d. h. eine Fläche der Größe Mitteleuropas liegt theils nahe dem Niveau der Montblanc- Spite, theild noch höher. Wirklich bewohnt find daher nur Die relativ am tiefiten gelegenen Theile im Süden, die Thäler des Indus und Brahmaputra, wo die großen Städte Leh, Schigatje und Lhaja in etwa 3600 Meter Höhe, aljo nur eine Stleinigfeit unter dem Gipfel des Groß-Glodner, liegen. Weitaus das Meijte von Tibet, der ganze Norden, iſt völlig menjchenleer. Gerade hier aber, wo der riejenhafte Kwen-lun, das längjte Hochgebirge Ajiens und das ältejte der Erde, das Land erfüllt, harrt eine ganze Reihe

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der wichtigjten geographiichen ragen und Probleme der Antwort. Um nur eins herauszugreifen, jo jet auf die eigenthümliche Boden: bildung in abflußlojen Gebieten hingewiejen, über die hier Be obachtungen im größten Maßſtabe gemacht werden fünnen. Da die Derwitterungsprodufte der Gebirgsgrate, Gipfel und Abhänge nicht, wie in andern Gebirgen, durch fließendes Waſſer fortdauernd zum Meere hHinabgejchafft werden fönnen, jo bleiben die bejtändia wachjenden Maſſen auf den Flanken der Bergzüge und in den Deprefjionen zwijchen ihnen in Gejtalt unermeßlicher Schuttmajjen liegen, und das ganz Gebirgsſyſtem erjcheint unter diefen Trümmern fürmlich begraben. Die gewaltige Durchjchnittshöhe namentlich der nördlichen Theile Tibets iſt, wenigjtens bis zu einem gewiſſen Grade, eine Folge diejer Abflußlojigfeit, die jede einjchneidendere Thal- bildung durch Erofion zur Unmöglichkeit macht. Im diejer Hinficht das Beobachtungsmaterial zu erweitern, jowie Studien über die Elimatischen und geologijchen Berhältnifje im Allgemeinen, über bydrographijche und atmojphärische Vorgänge im Bejonderen an- zujtellen, war eine Aufgabe, die auf diefem jungfräulichen und nad) allen jeinen Berhältnijjen einzigartigen Forjchungsgebiet für Hedin den höchjten Reiz haben mußte.

Sn den eriten Julitagen jtand Hedin mit einer großen Kara- wane von 56 Pferden, Ejeln und Stameelen bei Dalai-fturgan am Fuß der ungeheuren Nordfette des Kwen-lun, etwa unter dem 85. Grade öjtlicher Länge. Er hatte jech$ zuverläjjige turfeitantjche Diener mit ich; außerdem wurde hier eine große Anzahl von Tagliks Eingeborene der Gegend bei Dalai-Kurgan engagirt. Der Kwenslun hieß hier Toffus-dawan. Am 7. Auguſt wurde der Kamm in 4780 Meter Höhe auf dem Jappkaklik-Paſſe überjchritten. Als am Abend das Lager aufgejchlagen wurde, nannten die Ein: geborenen, die in großer Zahl für die eriten Reijetage als Begleiter und Helfer engagirt waren, den Ort: Bulaf-bajchi, d. i. Haupt der Quelle. Das war der lette Name, den Hedin nach dem Be: ginn des Vordringens in Tibet notirte, zugleich auch der letzte türkische Name auf feinem Wege durch Ajien. Bis dorthin famen im Sommer noch einige Goldgräber aus Turfejtan, aber nur vom Sult bis September erlaubt es die Witterung zu arbeiten. Von bier an mußte Hedin die Lagerpläge, Seen, Flußläufe und Gipfel nummeriren, denn nie war ein Menjch hierher ge langt, der ihnen hätte Namen geben können. Nur Chulane (Wildejel) und Yaks belebten die Gegend. Sie nähren ſich

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von dem dünnen, mageren Graje, das in den Thälern und auf den Abhängen wächit, und das fie während des größten Theils des Jahres unter dem Schnee hervorjuchen müfjen. Die Tagliks begannen zu dejertiren, da jie Furcht hatten, immer weiter ins menjchenleere Yand hinein mitgenommen zu werden; auch Hedins chineſiſcher Dolmetjcher wurde bald mit einem Begleiter zurüd> geichidt, da er furchtbar an der Bergkrankheit zu leiden anfing. Die Lager mußten öfters mehr als 4700 Meter hoch auf: geichlagen werden; Nachts fiel das Thermometer Anfang Augujt auf 7°; der Inhalt des Tintenfafjes gefror zu einem Eisflumpen ; nur ganz wenige genügjame Pflanzen dauerten in diejer Region aus, und die Slarawanenthiere mußten von dem mitgenommenen Mais leben. Einige zwanzig Ejel trugen die Maisjäde; e8 war vorauszufehen, daß die armen Thiere allmählich unter den Strapazen des fortgejegten Marjches, in dem Maße, wie fich das Futter ver: minderte, zu Grunde gehen würden. Auch eine Heerde Schafe und Biegen ging als lebender Proviant mit.

Die Karawane war jebt zwijchen zwei Ketten des Kwen-lun, der nördlichen, bereits überjchrittenen, und einem mächtigen, jchnee- tragenden Kamm, dem Arkastag im Süden. Hedins Marjchrichtung war direft öjtlich, aber, um in die Gegenden zu gelangen, wohin er wollte, mußte er den Arka-tag überjteigen. Ienjeits diejes Ge- birges wollte er dann wieder jeinen öjtlichen Marjch zum Stillen Ozean fortjegen. Die Bergfrankheit, von der Hedin übrigens ver- ſchont blieb, machte die Leute immer verdrofjener. Bei Yager 4 fehlte nur noch eine Kleinigkeit an 5000 Metern Höhe. Reis und Fleiſch Fochten nicht mehr weich, da der geringe Luftdruck das Wajjer viel zu früh zum Sieden brachte. Nach) 3 Uhr Nachmittags fiel das Thermometer bereits unter Null, und Hedin jchreibt, daß Die Pfeife das Einzige war, woran man überhaupt noch) etwas ‘Freude hatte. Bei Lager 5 Höhe 4975 Meter glaubte Hedin von einem jchweren Schlage betroffen zu werden ; jein Islam Bai er: franfte. „Eigentlich“, heißt e8 im Neijetagebuch, „war er es jtets, der unjere Karawanen zujammenjtellte und ordnete... .. Zehn Mann hätten ihn nicht aufiwiegen fünnen ; er ijt unerjeßlich. Und nun liegt er da, gebrochen ‚wie ein GreiS und röchelt wie ein Sterbender. Es wäre bitter, wenn er jeßt jtürbe, nun da er im dritten Jahre fein ruhiges Leben in Oſch aufopfert.... Unjer Lager gleicht einem Kranfenhauje und mit Invaliden umberzuziehen it unmöglih. Man fühlt jich unter jolchen Verhältnijjen wie fejt-

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gefettet und hat feine andere Wahl, als die Kranfen unter Be defung zurüdzulafien oder umjzufehren! Bor der letteren Alternative fühle ich jedoch ein wahres Grauen; ich muß die un: befannten Hochländer, die jich im Süden des Arkastag ausdehnen, unterjuchen.“

Wie unvergleichlich Hedin jelbjt durch Temperament, Charakter und Konſtitution zu feinen Forjchungsreijen ausgerüftet war, dafür mögen noch einige weitere Worte jeine® Tagebuch von diejem Zagerplag als Beleg dienen: „Wie herrlich it es hier oben im Gebirge, in der Elaren, frijchen Luft zwijchen bejtändig wechjelnden Landjchaftsbildern, im Gegenjag zu den einförmigen Wüſten mit ihrem grauen Himmel, ihrer Stidluft, ihren Sforpionen, Zeden und Mücden und ihrem Wafjermangel! Ic bin überglüdlich in dem Gedanfen, jene Gegenden hinter mir zu haben. Aber meine Diener fürchten die jtillen Berge und jehnen ſich nad) dem Tief: lande zurüd.“

Nach einigen Tagen erholte jich Islam Bat, und man machte den Berjuch, den Arka-tag zu überjchreiten. Mit unjäglicher Mühe arbeitete jich die Karawane zu einem Paß in die Höhe, der jüds wärt® hinüber zu führen jchien um oben zu jehen, daß der jchneebededte jcharfe Hauptfamm, durch eine breite, tiefe Senfung von ihnen getrennt, noch weit jüdwärts lag, allein Anjchein nach hier unüberjteigbar. 5253 Meter hoch wurde gelagert; am Morgen gab es Fein Teuerungsmaterial, und Hedin mußte mit Kakao in Eiswafjer vorlieb nehmen, was ihm in der Wüſte Takla- mafan entjchieden lieber gewejen wäre als hier bei 59 Kälte.

Bei Lager Nr. 8 erfannte Hamdan Bai, einer der Taglifs, Die Gegend wieder: er hatte im vorigen Jahre mit dem eng— lifchen Reiſenden Littledale Tibet jenfreht auf die Route Hedind von Norden nach Süden durchquert und bejann fich jest darauf, daß fie damals in diefer Gegend einen Paß über den Arka— tag gefunden hatten. Da trat ein Ereigniß ein, das alle weiteren Pläne Hedins über den Haufen zu werfen drohte: jämmtliche Tagliks dejertirten in der Nacht vom 18. auf den 19. Augujt. Als Hedin und jeine wenigen turfejtanischen Diener am Morgen aufwachten, jahen ſie jich allein; dazu fehlten eine Menge Ejel, Pferde und Vorräte. Sofort ſchickte Hedin jeine vier zuverläfjigiten Leute gut bewaffnet auf den beiten Pferden den Flüchtlingen nad. Um Mitternacht jahen die Berfolger deren Lagerfeuer, jprengten ohne einen Augenblid zu zögern heran und drohten Jeden niederzujchießen,

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der ſich widerjegen oder zu entfliehen verjuchen würde. Wider: jtandslos ließen die Durchbrenner jich die Hände auf dem Rüden zufammenbinden und zum Lager der Karawane zurüdtransportiren. Dort wurde Gericht gehalten. Die Turfejtaner drangen auf tüchtige Prügel für die Dejerteure, aber Hedin ließ die Körperitrafe durch zwölf leichte Hiebe eigentlich bloß marfiren; im Uebrigen lautete jein Urtheil dahin, die Leute hätten alle ihre rechtlichen Lohn— forderungen verwirft, ob ſie jchließlich etwas befommen würden, jollte von ihrem ferneren Benehmen abhängen und vorläufig müßten fie Nachts gebunden jchlafen. Dieje Milde,. verbunden mit der jtarfen moralijchen Demüthigung, erwies fich al8 das Bejte, was Hedin thun konnte. Auch diejer Zug zeigt jeine unvergleichliche Begabung als Forjchungsreijender.

Täglich zwifchen ein und zwei Uhr Mittags jtellte jich jet ein furzer aber heftiger Hageliturm ein, der die Gegend weiß ein— hüllte. Beim Aufjtieg zu Littledales Paß ſtieß man auf einen Ejelfadaver von der englijchen Expedition: das mumienartig ein- getrodnete Thier war ganz unverjehrt. Alſo nicht einmal Wölfe und Naubvögel gelangten hierher! Erjt am 24. Auguſt wurde der Arkastag überjchritten Paßhöhe 5544 Meter. Jetzt hatten fich Alle an dieje enormen Höhen gewöhnt und Steiner litt mehr an der Bergkfrankheit. Von oben erjchten jüdwärts ein Seebeden, dem alle Gewäſſer vom Kamme herab zuzujtrömen jchienen: das Strom: gebiet des Lop-nor lag endlich im Rüden und das abflußloje Hoch: fand von Tibet war erreicht. Die Szenerie war überwältigend: völlig todt und jchweigjam aber phantajtische Wolfenbildungen, Schneefetten, jchwarzblaue Bergwände und jchaurig = jchöne Be— feuchtungseffefte bewegten die Seele des Neijenden.

Fünf Wochen lang zog Hedin jet gen Oſten durch unbe: fanntes, unbewohntes Gebiet. Zwanzig abflußloſe bitterjalzige Seebeden hintereinander wurden pajjirt. Zuletzt wartete Alles mit faſt brennender Ungeduld auf die erite ſüße Wajlerfläche als ein Zeichen, daß die abflugloje Region endlich durchzogen jei. Eins nach dem anderen von den Thieren fiel, um nicht wieder aufzuftehen; zulegt auch Hedins treues Neitpferd. Am 27. September fanden die Leute ein tibetanijche® Obo: einen Haufen he= jchriebener Schieferplatten. Man hatte aljo einen Ort erreicht, wo Menjchen hinfamen! Bald mehrten fich jolche Funde. Hedin machte jich einmal an das Kopiren einer ſolchen Inschrift als er eine halbe Stunde lang die fremden Charaktere nachgemalt

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hatte, merkte er, daß fich nach je fieben Zeichen immer diejelbe Sruppe wiederholte! Es war die buddhiftiiche Gebetsformel: „Om mani padme hum“ (DO, das Kleinod im Lotos, Amen), die wohl viertaujendmal auf jiebenundvierzig Platten gejchrieben ſtand. Der Xejer wird ſich den Merger und die Enttäufchung des Reiſenden denfen fünnen. Am 1. Oftober endlich fand man die eriten Menjchen mongolijche Nomaden, wo Hedin neue Pferde und Proviant faufen fonnte und freundliche Aufnahme fand. Am 9. November wurde der gewaltige Koko-nor oder Blaue See er: reicht. Von bier an hört die eigentliche Forſchungsreiſe auf; e3 handelte fich für Hedin jegt nur mehr darum, jo jchnell wie mögli Peling und die Heimathb zu erreichen. Am taujendunderjten Tage jeiner Reife durch den aſiatiſchen Kontinent jah er die Stadtmauer von Peking vor ſich auftauchen. Begreiflicher Weiſe wollte er jich erjt einen menschlichen Anzug machen lajjen, bevor er Europäer aufjuchte, aber als er bei der ruſſiſchen Botjchaft vorbeifam, hielt er es nicht aus und jtürmte hinein... ..! Am 10. Mai 1897, dreieinhalb Jahre nach dem Verlafjen der jchwedischen Heimath, tauchten die Thürme von Stodholm vor den Augen des fühnen Neifenden wieder auf. Große Ehren warteten jeiner.

* * *

Kann nad) den vorgeſteckten Zielen, nach den erreichten Nejultaten und nicht zum Mindeiten noch der Methode und den Mitteln, mit denen der Genius feine Ideen verwirflicht, fein Zweifel daran jein, daß Hedin ein Forjcher großen Stils iſt, eben- bürtig den Livingjtone, Nachtigal, Nordenjtjöld? jo wird fid Henry ©. Yandor, der jein Unternehmen begann, als Hedin durch Rußlands Ebenen der Heimath zueilte, mit einem etwas be jcheideneren Plage begnügen müſſen. Nicht nur, daß er im Gegen: ja zu dem ebenjo glüdlichen wie fühnen Schweden vom Miß— gejchid verfolgt wurde und nur einen fleinen Theil jeines Planes verwirklichen fonnte jeine Berjönlichkeit entbehrtauch in etwas jener ruhigen Größe, die nur durch ihre Bejcheidenheit, wie durch die Höhe der Aufgaben, die ſie Sich jtellt und die fie durchführt, imponirt. Yandor ijt ein verwegener Draufgänger, ein Menjch von phänomenaler Widerjtandskraft gegen alle Uebel und von beinahe unbegrenzter förperlicher Xeijtungsfähigfeit, den das für unmöglid GSeltende an jich reizt. Diejer Veranlagung entjpricht jein Ziel:

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nach Xhaja, der verbotenen Hauptjtadt Tibets, vorzu— dringen, und zwar von Indien aus.

Der legte Europäer, der Lhaſa gejehen hat, ift der franzöfijche Mijfionar Pater Huc, der zujammen mit jeinem Kollegen Gabet im Jahre 1845 die Stadt von Peking aus über den Kofo:nor er: reichte. Schon in der erjten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts war der Franziskaner-Mönch Odorich von Pordenone, päpitlicher Sejfandter in China, in Lhaſa; im fiebzehnten und achtzehnten Ssahrhundert haben Sich franzöfiiche Jeſuitenmiſſionare jogar fängere Zeit dort aufgehalten. Sie Wlle erzählten die merf- würdigiten Dinge von dem Yande und namentlich der Hauptitadt, vom Dalai Yama, dem buddhiftiichen Papſt, der in Lhaja refidirt, von dem eigenthümlichen Kultus, der bejfonders an diefem Zentrum der tibetaniſch-buddhiſtiſchen Kirche die frappanteiten Aehnlichkeiten mit fatholischen Riten aufweiſt aber jeit der Mitte diejes Jahr: bunderts verjchließen die Tibetaner ihr Yand, vor Allem aber die zentralen Gebiete um Lhaſa herum mit jolcher Hartnädigfeit, daß es feinem Europäer mehr gelungen it, hineinzufommen.

Bonvalot und Prinz Henry von Orleans gelangten Anfang 1890 bis auf wenige Tagereifen an die Stadt heran. Sie waren vom Lop-nor aufgebrochen, überjchritten nacheinander von Norden nach Süden zahlreiche Ketten des Kwen-lun-Syſtems und gelangten durch die unbewohnten Theile Nord-Tibets, ohne Menjchen zu jehen, bis in die Nähe des gewaltigen Sees Tengrisnor, der nur noch hundert Kilometer nördlich von Lhaſa liegt. Dort fängt das Yand an, bewohnt zu werden, und fie wurden von Eingeborenen bemerft, die ihr Nahen meldeten. Zwei Tagereijen jüdlich vom Tengrisnor verjperrte ihnen eine jtarfe Abtheilung tibetanijcher Soldaten den Weg und troß jiebenwöchentlicher Unterhandlungen gelang es nicht, den Weg frei zu befommen. Mit einem großen Bogen nach Oſten erreichten die Franzoſen jchlieglich Tonfing.

Landor wählte jeine Einbruchsitelle nach Tibet weit wejtlic) von Lhaſa unfern der Gangesquelle. Bor allen Dingen fam es für ihn datauf an, die Tibetaner über jeine Abjichten in Unkenntniß zu erhalten. Aber gleich dieſe nothwendige Worbedingung des Erfolges gelang es nicht, zu erfüllen. Der tibetantjche Gouverneur jenjeit8 der Grenze erfuhr durch Spione von Yandors Plan und ließ die Bälle über den Hauptlamm des Himalaya bewachen.

Während Hedin eine unvergleichliche Stübe an jeinen muham— medanifchen QTurfeftanern und namentlih an Islam Bat beſaß,

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war Landor darauf angewiejen, jich jeine Diener aus der zwar förpeilich brauchbaren, aber zaghaften und durch jede Gefahr aus der Faſſung zu dringenden Bergbevölferung in den jüdlichen Himalaya-Thälern zu nehmen. Dieſe Leute, die jogen. Schofas, find Heiden, und es ijt fein Zweifel, daß der Muhammedaner ſich im Allgemeinen tüchtiger und unerjchrodener zeigt. Auch in Indien jelbit fann man dieje Beobachtung machen. Da Landor wußte, daß der Iong Pen (Statthalter), der in der Grenzfeitung Taklakot jaß, die Wege gegen fein Eindringen bewachen ließ, jo faßte er die Idee, über einen jechstaujendjiebenhundert Meter (!) hohen Paß zu gehen, wo natürlich, zumal um dieſe Jahreszeit, unendliche Schneemafjen lagen. Niemand hätte ihn an diejer Stelle erwartet; einmal drüben, wäre er tief in das jchwach bevölferte Yand hinein- gefommen, ohne entdedt zu werden, und jobald die Grenzwächter erit jeine Spur definitiv verloren hatten, hoffte er, vermöge jeines großen Vorjprungs, nicht mehr erwijcht zu werden. Freilich lief er dann immer noch Gefahr, beim erjten Begegnen mit Tibetanern, auc) jolchen, die garnichts von ihm wußten, als Europäer erfannt und den Behörden denunzirt zu werden. Aber in diejer Beziehung verließ er fich auf jein gutes Glüd. In der That jollten nad einigen Wochen jeine Gefichtsfarbe einen jo dunfeln Ton und jeine Kleidung ein jo reduzirtes, undefinirbares Ausjehen annehmen, daß ihn die Tibetaner zeitweilig für einen Indier hielten.

Bevor Landor jeinen eriten Einbruchsverſuch machte, jchidte er einen kräftigen Schofa aus, um den Paß zu refognosziren. Der Mann wurde unterwegs beinahe von einer Lawine verjchüttet, fehrte um, bevor er die Höhe erreicht hatte und meldete, da je fein Durchfommen. Landor, ein Arzt Dr. Wiljon, der ihn Anfangs begleitete, und mehrere Eingeborene machten ſich nun auf den Weg, um jelber nachzujehen. Bei jechstaujend Meter fingen alle an, an Bergfranheit zu leiden. Bald blieb der Doktor zurüd, dann einer von den Dienern, dann noch einer. Landor bejchreibt die Situation folgendermaßen: „Ein dider Nebel fiel und umhüllte uns, was dag Emporklimmen bedeutend erjchwerte. Unſere An: jtrengungen, weiter zu fommen, waren verzweifelt ; unjere Lungen waren in frampfhafter Thätigfeit, als ob fie beriten wollten, unjere Bulje bejchleunigt. Unjere Herzen Elopften, al® wollten fie jich einen Weg aus dem Körper herausbahnen. Erjchöpft und von einer unwiderjtehlichen Schlafjucht ergriffen, erreichte ich mit dem Nongba (der einzige Diener, der mit aushielt) ſchließlich dennoch

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die Höhe. Trogdem ich mir jchon lange die Unmöglichkeit klar gemacht hatte, meine Leute auf diefem Wege hinüber zu bringen, war es eine Genugthuung, hierher gelangt zu jein und eine folche Höhe erreicht zu haben.“

Es war elf Uhr Nachts und jchneidender Nordojtwind; heller Mondichein lag über den endlojen, hoch überjchneiten Bergzügen, und die Sterne funfelten unbejchreiblich hell. Unter dem Stand: ort Zandors lagen Nebel; als jie ſich ein wenig hoben, zeichnete jic) auf ihrer wallenden, brauenden Oberfläche die Gejtalt Landors im Mittelpunkt eines leuchtenden Kreiſes als ein großes dunfles Gejpenjt unheimlich und phantaftijch ab; er jtand innerhalb eines Mondregenbogens. Wlöglich überfiel die beiden Männer der Schlaf. Troß alles Anfämpfens brachen fie auf dem Schnee zujammen; die Wirkung glich der eines jtarfen narkotijchen Mittels. Der Rongba ftöhnte vor Schmerzen, und Landor widelte ihn aus Mitleid in jeine Dede. Aber die Eleine Anjtrengung genügte, um ihn im Kampf gegen den Schlaf unterliegen zu laſſen. Nach rüdwärts auf den Schnee fallend, machte er noch) eine letzte verzweifelte An— jtrengung, zu den gligernden Sternen emporzubliden, dann trat Bewußtlojigfeit ein In diefem beginnenden Erjtarrungsichlaf hatte Landor eine ſchreckliche Viſion: er jah jich mit allen jeinen Ge— fährten in einem weiten Grabe von durchjichtigem Eije eingejchlojjen, dejien Wände ich jchnell nach innen zujammenzogen. Der Alp preßte ihm einen lauten Schrei aus, er erwachte entjegt, be— griff mit dem Reſt jeines Bewußtjeins die Situation, rüttelte feinen Gefährten auf, und Beide erreichten glücklich die weiter unten Wartenden.

Biel weniger jchlimm als dieſe jchredliche Paſſage war der mehr al3 5700 Meter hohe Uebergang, auf dem man schließlich nach Tibet gelangte, auch nicht. Sehr bald traf die Karawane auf tibetanische Spione, aber die beiden Europäer waren bereits durch die Sonne und die Wirfung der biendenden Schneeflächen ftart verbrannt und trugen Qurbane und Schneebrillen, daß Die Spione die Gejellichaft in dem Glauben verließen, einen Hindu— doftor mit jeinem Bruder und Dienern gejehen zu haben, die auf einer Bilgerfahrt zum heiligen Manjarowar-See und dem Berge Kelas jich befinden.

Zwei Tage darauf jtieß Yandor auf eine große Abtheilung Soldaten. Nach) langem WBarlamentiren gelang es ihm, Den Weitermarjch bewilligt zu erhalten da verriet) ihn einer jeiner

Breußifhe Jahrbücher. Bd. XCVIII Heft 3. 82

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eigenen Leute als einen Sahib („Herr“ = Europäer). Nun fahte er den Plan, die Tibetaner durch eine andere Liſt zu täujchen. Er that jo, als ob er ſich in jein Schiedjal ergebe, kehrte zum Himalaya um und entwich in einer jtodfinjtern Sturmnacht beı fürchterlichjem Schneetreiben mit nur ſechs Mann, die er glücklich zum Mitgehen bewogen hatte, aus jeinem Lager, während ver Doftor Wilfon mit der Mehrzahl der Leute zurüdblieb. Den ganzen folgenden Tag über blieb das Lager jtehen, um einen Auf: enthalt Landors an diefem Punkte zu markiren. Die Liſt jchien geglüct zu fein, und für mehrere Tage verloren die Tibetaner Die Spur der Eindringlinge. Da, als Alles gut zu gehen jchien, machte Zandor eine niederjchmetternde Entdedung: in der Eile Des Aufbruchd war viel zu wenig Proviant eingepadt worden. Mur ein fühner Entjchluß fonnte Rettung bringen. Bier Schofas jollten verkleidet nach Taflafot gehen, Speife einfaufen und jid) einzeln wieder zurücdjchleichen. Yandor jelbjt mit zwei Leuten blieb in einem verborgenen Schlupfwinfel zurüd. Dort lebten die drei fünf Tage lang von jungen Nefjeln und jahen während diejer Zeit öfters tibetanische Soldaten unterhalb ihres horitartigen Ber: jtedS auf der Suche nad) ihnen vorüberreiten. Schlieglidd kamen die Leute mit Lebensmitteln zurüd, aber nur, um jich in der nächjten Nacht den Preis von fünfhundert Rupien zu verdienen, den der Jong Pen von Taflafot auf Yandors Kopf gejett hatte. Zu ihrem Unglüd waren fie dumm genug, die Gejchichte von dem Preife Landor zu erzählen. Dadurch wurde Ddiejer mißtrauiſch, und als in der Nacht ein Schofa mit jeinem großen Mejjer heran jchlich, befam er von Landor furchtbare Prügel mit dem Flinten— folben. Tags darauf, nachdem man eben aufgebrochen war, merfte Landor noch im legten Augenblid, daß ihn die Leute, die vor der tibetanischen Tortur eine furchtbare Angſt hatten und fic) durch) feine Auslieferung zu retten hofften, geradenwegs einem feindlichen Wachtpojten in die Hände führen wollten. Die Folge beitand wiederum in einer freigebigen Tracht Prügel für die getreuen Diener. Nur auf zwei von ihnen, Tjchanden- Sing und Man-Sing, fonnte fi) Landor unbedingt verlajien. Leider litt Man:Sing am Ausjat in jeinem beginnenden Sta: dium. Die weiße, glänzende, jtraff gejpannte Gefichtshaut und die gefrümmten verzogenen Finger waren untrüglice Zeichen. Nach einem erniten Balaver willigten die Schofas endlich, jchein- bar ergeben und fügjam, ein, Zandor bis zum Maium-Paſſe,

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der vom Indus» bis zum Brahmaputragebiet hinüberführt, zu begleiten.

Borläufig waren die Tibetaner getäufcht. Freilich hatte Landor jtatt der dreißig, mit denen er aufbrach, nur noch ſechs Leute mit ſich, aber er konnte ſich mit diejen jchneller bewegen und eher dem Berdacht entgehen, daß er ein Europäer fein. Sein nächjtes Ziel waren Die beiden Seen Manjarowar und Nafastal, der heilige und der Teufelsjee. Nördlich von dieſen beiden großen Wajjer: beden, die nur durch einen jchmalen langen Felsdamm von ein= ander getrennt, in 4700 Meter Höhe neben einander liegen, erhebt ji) die merlwürdig geformte Pyramide des fait 7000 Meter hohen heiligen Berges Kelas, der in Nordindien, Nepal und Tibet als ein Thron der Götter gilt. Zahlreiche Pilger wallfahrten jährlich dorthin und umwandern den Berg an feiner Bafis, was gewöhnlich drei Tage dauert; die frömmiten legen den ganzen Weg friechend wie Schlangen zurüd, andere gehen auf den Händen und Knieen, noch andere rücdmwärts, um das Verdienjt ihrer Pilgerjchaft zu er- höhen. Die Situation war einjtweilen für Landor eine leidliche; man verfolgte ihm nicht und es war daher möglich, Feuer anzu— zünden und warme Speiſen zu genießen. Als fie am Nafastal angefommen waren, zeigte einer der Diener auf einen Felſen im See: „Sahib, ſiehſt Du jene Injel? Auf ihr wohnt ein Lama: Einfiedler, ein heiliger Mann. Er ijt dort allein und lebt von Fiſchen und Schwaneneiern; nur im Winter, wenn der See ge: froren ift, werden ihm Vorräthe gebracht. Der Einjiedler jchläft in einer Höhle, fommt aber ins Freie, um zu Buddha zu beten.“ Während der folgenden Nacht trug der Wind ein undeutliches Geheul vom See her den Lagernden zu. „Was iſt das?“ fragte Zandor die Schofas. „Es ijt der Einfiedler, der zu Gott jpricht“, antworteten fie. Jede Nacht Flettert er auf den Gipfel des Felſens und richtet von dort jeine Gebete an Buddha, den Großen!“ Am See gab es mehrmals fleine Nenfontres mit Räubern, die aber feinen ernjthaften Ueberfall zu machen wagten. Ein Trupp ver: juchte, durch die Neize zweier Weiber, die ſchmutzig und jtinfend, die Gefichter, um das Aufipringen der Haut zu verhindern mit ichwarzer Salbe bejchmiert, am Wege ftanden und winften, die Reifenden zum Ausplündern in jein Zeltlager zu loden, hatte aber feinen Erfolg. Mit einer anderen Bande war das Zuſammen— treffen nüßlicher. In wilden Galopp verfolgte ein ganzer Schwarm Landors Eleinen Zug. Als der Befehl erfolgte, zu halten und die

gar

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Näuber zu erwarten, waren die Schofas vor Furcht wie gelähmt; Landor dagegen nahm faltblütig die Flinte in die eine, feinen photographijchen Apparat in die andere Hand und ging den Banditen entgegen. Mit den jchlechten tibetanijchen Yuntenflinten it e8 nur auf ganz furze Entfernung möglich zu jchießen Landor jtellte daher feine Kamera ruhig ein und wartete, bis er die Räuber gut auf der Bifirfcheibe hatte. Die nun folgende Szene ijt jo fojtbar, daß fie nur mit Landors eigenen Worten wiedergegeben werden fann: „Dann löjte ich den Momentverichluf aus, als jie nur nod) dreigig Meter entfernt waren und eben von ihren Pferden herunterfletterten. Nachdem die Kamera ihre Schuldig- feit gethan hatte, legte ich jie jchnell auf die Erde, und nun fam die Büchſe dran. Sch jchrie ihnen zu, die Waffen niederzulegen, und um meinem Befehl mehr Nachdrud zu geben, legte ich meinen Mannlicher auf fie an.

Sch glaube, eine janftere Räuberbande iſt nicht zu finden, obwohl diejes Gelichter oft tapfer ift, wenn es für fie leicht iſt, muthig zu fein. Ihre Luntenflinten flogen mit unglaublicher Schnelligfeit von den Schultern auf die Erde. Die juwelenbejegten Schwerter, die jie trugen, wurden rajch neben die Feuerwaffen gelegt. Die Banditen fielen nieder, nahmen ihre Müten mit beiden Händen ab und jtredten zum Zeichen des Grußes und der Unter: würfigfeit (jo iſt es Sitte bei den Tibetanern) die Zunge heraus. Ich konnte nicht umhin, ein zweites Momentbild von ihnen aufzunehmen, denn fie jahen gar zu komiſch aus.“ Nun befamen auch Landors Diener wieder Muth und redeten die Räuber ım Auftrag® ihres Herrn an: „Sie jollen mir einige Yaks und Pierde verfaufen, ich werde fie gut bezahlen.“ Nach vier Stunden Han- delns waren zwei Vals zum Tragen der Laſten eritanden Preıs vierzig Nupien (eine Silberrupie = annähernd einer Mark), Nah dem Handel wurde ein Mahl gehalten ; Tſamba und Thee waren die Hauptbejtandtheile. Die Tjamba iſt die Nationaljpeije der Tibetaner; fejter Hammeltag und Gerjitenmehl werden verfnetet und mit heißem Wafjer zu einem Brei vermijcht. Den Thee ri» ten fie mit Butter und Salz vermijcht an, und wenn jie jich eın bejonderes Feſteſſen machen wollen, jo bereiten fie jich die Tſamba itatt mit heigem Wajjer mit diejer Brühe. Aus dem Brei werden mit unjagbar jchmugigen Fingern Kugeln geformt und eine nad) der andern in den Mund gejchoben. Nach dem Eſſen wurde es warm, und Männer und Weiber entledigten fic) ihrer diden Pelz

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fleidung, die jie auf dem bloßen Körper tragen, ungenirt bis zu den Hüften. Die Pelze find zu allen Jahreszeiten nothiwendig, denn die Temperaturjchwanfungen betragen auf dem tibetanijchen Hochlande auch im Sommer im Laufe von vierundzwanzig Stunden bis zu fünfzig Grad,

Am Manjarwar:-See liegt eine große Gomba, ein buddhi— jtiiches Klofter mit einem Tempel. Landor fühlte ich jo ficher, daß er dort einen Beſuch zu machen bejchloß, um Lebensmittel zu erlangen und das Kloſterleben unter den Lamas fennen zu lernen. Zwijchen zwei und drei Uhr Nachts langten die Neijenden vor der eriten Hütte des Klojterdorfes an und Elopften jo gewaltig, daß fie beinahe die Thür einjchlugen. „Ihr jeid Dakoit“ (Räuber), jagte eine heijere Stimme von innen, „jonjt würdet Ihr nicht um Dieje Stunde fommen.” „Nein, das find wir nicht ; bitte, öffnet, wir jind wohlhabende Leute. Wir wollen Niemandem etwas zu Xeide thun und für Alles bezahlen.“ „Kann nicht jein, nein! hr jeid Dakoit, ich werde nicht öffnen.“ Statt der abermaligen Antwort traten Landors Leute jet die Thür ein und jeßten jich, ehe der Beier des Haujes ein Wort jagen fonnte, um das Feuer, das Drinnen brannte. Der Wirth berubigte ich, als er einige Silber: münzen auf jeiner Handfläche fand.

Am nächſten Morgen badeten die indifchen Diener Landors alle im heiligen See Manjarowar, in dem nach ihrem Glauben Siva, der größte aller Götter lebt. Wer in diefem Waſſer gebadet bat, wird in ganz Nord: Indien hochgeehrt. Gleichviel, welche Verbrechen er vorher begangen haben mag, ein Eintauchen des Körpers genügt, die Seele zu reinigen. Um die Leute zu erfreuen, jchleuderte auch Landor einige Geldjtüde in den See, dann betrat er fühn das Innere des Tempels und lieg nur zur Vorſicht jeinen Tſchanden-Sing mit geladener Büchſe am Eingang Poſto faſſen. Kluge Devotion und, was noch wirfjamer war, reichliche Silber: fpenden vor den zahlreichen Götterbildern gewannen Landor bald die Freundſchaft der Yamas.

„Welches find die böjen Eigenjchaften, die man am meijten vermeiden muß ?* fragte Landor den Einen von ihnen, der ihn führte. „Wolluft, Stolz und Neid,“ antwortete diefer. Dann er: griff er die Hand des Fremden und öffnete fie. Kaum hatte der Lama einen Blid hinein gethan, jo fing er an, Xandor mit ſelt— jamer Unterwürfigfeit zu behandeln. Er jtürzte fort und theilte den Anderen irgend etwas mit, das ſie alle in große Bejtürzung

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verjegte. Jeder wollte jegt Landors Hand jehen, und dies Be— nehmen war ein vollftändiges Näthjel für ihn. Er jollte jpäter den Grund erfahren.

Nun folgen in Yandors Buch zwei außerordentlich interefjante ftapitel über das tibetaniſche Mönchthum der Lamas und Die mannigfaltigen religiöjen, medizinischen und jonjtigen Borjtellungen, jowie die jozialen und fittlichen Verhältnijje des Volkes. Ich ſtehe nicht an, dieſe Stüde, jowie überhaupt Alles, was Yandor an Be: obacdhtungen über das Leben und den Charakter der Tibetaner bringt, für das Werthvollite in jeinem Buche zu erflären. Auch die Schilderungen der merkwürdigen Natur des Landes find vor: trefflid) und, was hervorgehoben zu werden verdient, es wird jchwer jein, ein beſſer und unterrichtender illujtrirte® Buch über eine Reife zu finden, als das jeinige. Nicht auf derjelben Höhe iteht ed in rein geographijcher und geologifcher Hinfiht. Um nur ein Beijpiel zu nennen, jo giebt er zwar auf jeiner Starte an, daß die beiden Seen Nafastal und Manjarowar, obwohl jie genau im gleichen Niveau liegen, doch feinerlei Kommunikation mit einander haben, aber er bemerkt nichts über den Salzgehalt ihres Wajjers, was wichtig zu erfahren wäre, denn der Rakastal ijt der Quellfee des jtarfen Induszufluffes Sadletih und muß daher Süßwaſſer haben, der Manjarowar aber jalziges, wenn er wirklich ohne Ber- bindung mit dem Erjteren und daher abflußlos ift.

Bald nad) dem Aufbruch aus dem Kloſter verlor Yandor jeine jämmtlichen Schofas. Einen Theil entließ er freiwillig, da er jah, dat die Leute völlig demoralifirt und eher eine Gefahr für ihn als eine Hilfe waren ; zwei, die Anfangs weiter mitgehen wollten, dejertirten bei der nächjten Gelegenheit des Nachts und nahmen den ganzen mühjam erhandelten Proviant, jowie eine Menge nothwendiger Sachen mit. Jetzt war er allein mit jeinen beiden getreuen Hindu-Dienern Tjchanden-Sing und dem armen, ausjägigen Man-Sing, jowie den beiden Yaks. Trotdem bejchloß er jeinen Marjch fortzujegen. Aber jchon am erjten Tage jah er, daß die Tibetaner doch Kenntniß von jeinem Aufenthalt im Lande erhalten haben mußten. 150 Soldaten verfolgten ihn. Auf einem hohen Berggipfel wurde er eingeholt und obwohl es ihm bei der Feigheit dieſer „Krieger“ gelang, die ganze Gejelljichaft in die Flucht zu Schlagen und jogar noch Lebensmittel von ihnen zu er- beuten, jo war Doch jeine Yage jegt verzweifelt. Zwar fam er unter unjäglichen Bejchwerden noc etwa dreihundert Kilometer weiter

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auf dem Wege nad) Lhaſa und entdedte unterwegs die zweite Haupt: quelle des Brahmaputra, aber bei einem Flußübergang ging ihm fajt jein ganzes Gepäd und alle Munition bis auf die wenigen Batronen verloren, die er und jeine beiden letten Getreuen bei jich trugen. Damit war jein Schidjal bejiegelt. Vortrefflich jind die Beobachtungen, die‘ aud) während des legten jo gut wie hoffnungslojen Bordringens jelbjt nach diejem Schlag noch gemacht wurden, und man fann dem eijernen Troß des Mannes, der nicht eher einen Schritt rüdwärts thut, als bis er gefangen und gefejjelt fortgejchleppt wird, unmöglich die höchjte Bewunderung verjagen aber aller Muth Landors und alle Treue der beiden Hindus wurden jchlieglich an dem unabwendbaren Schid= jal zu Schanden. In der höchjten Noth jchien noch einmal das Glück zu lächeln. Man traf Tibetaner, die Pferde und Lebens: mittel verfaufen wollten, aber das Ganze war faljches Spiel. Während Landor fid) bücte, um den Fuß eines der Pferde zu unter: juchen, jtürzten ich einige dreißig fräftige Männer auf ihn, ein Strid wurde ihm um den Hals geworfen und dann fejjelte man ihn und jeine gleichfalls hinterrüds überfallenen Yeute nod) etwa zwölf Tagereifen von Lhaſa.

Was nun folgt, it geradezu jchredlich zu lejen. Unter den furchtbariten Martern jchleppten die Tibetaner die drei Unglüdlichen den Weg zurüd, den fie gefommen. Mit jeinem Blute zeichnete Landor unterwegs heimlich, dort wo die Route von jeinem Hin— marjche abwich, eine Kartenſkizze des Weges, aber ficherlic) wäre er jchließlich doch zu Tode gepeinigt worden, wenn der Pombo oder Großlama (Provinzialjtatthalter), dem er in die Hände gefallen war, nicht auf den Gedanfen gefommen wäre, erjt ein Orakel ein= zubholen, ob man den Fremdling tödten oder am Leben lajjen jolle, Dazu brauchte er einen Fingernagel des Gefangenen und als die Singer an Yandors gebundenen Händen gejpreizt wurden, um Dies Erfordernig zu bejchaffen, geriethen die Tibetaner wiederum in Dies jelbe eritaunte Aufgeregtheit, wie früher in dem Kloſter am See Manjarowar. Das hochnothpeinliche Berfahren wurde jofort ein= geitellt, und der Pombo befahl, nachdem er Yandors Hände gleich: falls bejichtigt hatte, daß er noch am jelben Tage, wenn auc) ge: fejjelt, die Rückreiſe nach der indischen Grenze antreten und jammt jeinen Dienern freundlich behandelt werden jolle. Erjt nach jeiner Befreiung erfuhr Landor den Grund diejer Seltjamfeit: jeine Finger jind etwas höher hinauf zujammengewachjen, als es bei den meiſten

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Menjchen der Fall ift, und die Tibetaner glauben, wer jolche Finger befigt, dejjen Leben jei durch Zauber gefeit; was man auch mit ihm anjtelle, ihm fönne fein Leid gejchehen! Thatjächlidy hatte Landor jchon geradezu Unbegreifliches zum Erjtaunen jeiner Quäl— geifter ausgehalten. Faſt das Schlimmjte waren die Tortur durch das Ungeziefer, das fich in den zerlumpten von Blut und Schweik durchtränften Kleidern majjenhaft anfammelte. Nur einmal durften die Gefangenen, als fie auf dem Nüdtransport an den Manjarowar: See famen, baden. An derjelben Stelle, wo er im Frühjahr die Grenze zwiſchen Indien und Tibet überjchritten hatte, wäre Yandor ichlieglich doc) noch um ein Haar einem fichern Tode ausgeliefert worden: der Statthalter weigerte jich, ihn direft über die Grenze zu entlafjen, und wollte ihn zwingen, einen Umweg von jechzehn Tagereifen über einen unwegjamen Paß nad, Indien zu machen, damit er unterwegs vor Hunger und Schnee umfäme, ohne da man direft Hand an ihn zu legen brauchte. Jetzt waren die Drei Männer aber nicht mehr gefejjelt; in ihrer Verzweiflung, da fie jowiejo den fichern Tod vor Augen glaubten, griffen fie ihre aus zahlreichen Soldaten und Offizieren zu Fuß und zu Pferde be: itehende Esforte mit aufgelejenen Steinen an und die ganze Wache riß aus. Als halbe Leichen gelangten fie, nachdem fie noch einige aufregende Zwiſchenfälle bejtanden hatten, glüdlid nad Taflafot, unter deſſen Mauern jie ſich befanden, hinein, denn Yandor hatte erfahren, daß der Doktor Wilfon und ein eingeborener Agent der indijchen Regierung in der Stadt jeien. Sie waren über die Grenze gefommen, um von dem tibetanijchen Gouverneur Gewißheit über Yandors Schikjal zu erlangen. Wilfon und der Anent hatten mit ihrer Begleitung ein bejonderes Lager in der Stadt aufgejchlagen. Als Landor in das Zelt des Doktors trat, jah er in einer Ede eine Quantität Kandiszuder liegen; er war jo verhungert, daß er jofort große Stüde davon verjchlang. Dann wurde er gebadet, verbunden und gepflegt, ebenjo die beiden Diener, die nicht weniger erlitten hatten, al8 ihr Herr. In den nächiten Tagen gelang es, von den tibetanifchen Behörden einen großen Theil von dem fonfiszirten Gepäd Landors, darunter jein Tagebuch jammt Karten und Skizzen, zurüdzuerlangen, und mehrere Monate jpäter wurden noch über vierhundert photographijche Negative durch Bermittlung der indischen Regierung an ihn ausgeliefert. Etwas eigenthümlich berührt e8 und wäre wohl bejjer unter: blieben, daß Yandor am Schluß jeines Buches ein ausführliches

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ärztliches Atteit des Doktor Wilfon über die vielen jchredlichen Wunden abdrudt, die jein Körper bei der Befreiung zeigte, und ein gewijjes Kopfjchütteln wird der Lejer auch nicht unterdrüden fönnen, wenn er auf Seite 481 eine Scene photographirt fieht, wie Landor ſich nad) jeiner Befreiung von Tichanden-Sing, während er mit bloßen Füßen auf dem Schnee jteht, bei elf Grad Froſt eine Schale Eiswajjer über den nadten Rüden gießen läßt. Landor jchreibt, daß er diefe Szene wiedergebe, um zu zeigen, was er troß jeines gejchwächten Zuſtandes noch zu ertragen im Stande war. Aehnliches fommt öfter in dem Buche vor, und der Ber: fajjer unterläßt auch nicht, darauf hinzuweiſen, daß er auf jeiner ganzen Reiſe fajt nie eine andere Kopfbedeckung gebraucht habe, als einen Strohhut oder ein Feines Müschen.

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Ich hoffe, durch dieje theilweife recht ausführliche Auswahl ous dem reichen Inhalt der beiden großen Neijewerfe, die der Brodhausjche Verlag feinen Traditionen getreu in mufterhafter Ausjtattung und zu einem verhältnigmäßig geringen Preiſe dem deutjchen Publiftum vorgelegt hat, bei dem Lejer den Wunjch er: wedt zu haben, die Bände möglichit bald vor fich zu jehen. Won Hedin haben wir allerdings noch eine bejondere Publikation über die jtreng wijjenjchaftliche Musbeute jeiner Reife zu erwarten, worüber ich voraussichtlich ihrer Zeit den Freunden dieſer Jahrbücher werde berichten fönnen. Alsdann, wenn der geniale jchwedijche Forjcher den letzten und tiefiten Ergebnifjen jeiner Arbeit jelbjt die end— gültige, für die Deffentlichkeit bejtimmte Form gegeben hat, wird es auch an der Zeit jein, näher auf Die jpeziell erdfundlichen Details und neuen Einfichten in die geologiiche Entwidlungs- gejchichte Innerafiens einzugehen, die uns Hedin voraussichtlich mittheilen wird. Cinjtweilen iſt die bloße Wiedererzählung der vorzüglichiten Erlebnifje für ihn wie für Landor der bejte Tribut, den man den Xeijtungen und dem Muthe beider Männer zu zollen im Stande iſt.

Hedin ift übrigens jchon vor einigen Monaten wieder nad) Tibet aufgebrochen. Islam Bai begleitet ihn wieder und die ruffiiche Regierung hat ihm eine geradezu unjchägbare Unterjtügung gewährt: eine Esforte von drei Kofafen, die er überall hin mit: nehmen darf. Beſſere Begleiter, als Dieje Leute, die europäijche Dipziplin und Entjchlofjenheit mit aſiatiſcher Bedürfnißlofigfeit

506 Sven Hedins und Landors Reifen in Innerafien.

und Widerjtandsfähigfeit gegen phyfijche Unbilden verbinden, kann jich ein ?Forjcher in jenen Gegenden garnicht denken.

Wie es heißt, haben fich Hedin bei der Bearbeitung jeiner gewonnenen Schäße unerwartet jo wichtige Nefultate, an die ſich neue ragen fnüpften, ergeben, daß er jich ganz plößlich zur aber: maligen Reiſe entjchloß, die wieder auf nicht weniger als Drei Sahre projektirt if. Auch Nanjens „Tram“ ift ſchon wieder draußen. Es find doch jchneidige Menfchen, diefe Nordländer!

Notizen und Beiprechungen.

Literariſches.

Willibald Beyſchlag, Zur deutſch-chriſtlichen Bildung. Halle a. ©., Eugen Strien. Preis: Broc. 5.00, eleg. gebd. 6,00 Mt.

„Zur deutjchschriftlichen Bildung“, „populärstheologische Vorträge“, jo benennt jich das neuejte Werk von Willibald Beyichlag, das fein bewährter und verdienjtvoller Verleger Eugen Strien joeben auf den Büchermarkt bringt. Wie der Verfaffer in einem kurzen Vorwort und mittheilt, fündet fi) diefe Sammlung als zweite Auflage eines im Jahre 1880 erjchienenen Buches an, ift aber in Wirklichkeit ein zu zwei Dritteln neues Bud. in welches nur fünf von früheren Vorträgen aufgenommen find, während zehn Vorträge ganz neu find.

Vorträge aljo find ed, um die es ſich in diefem Buche handelt, Vor— träge über Fragen chriſtlicher Bildung und firchlicher Zeitbewegung, weldye der Berfafjer während jeines fajt vierzigjährigen Lehramted in kirchlichen Vereinen umd Stonferenzen gehalten hat. Wenn der Berfafjer ed als einen tiefgreifenden Mißſtand unjerer deutjch-proteftantifchen Zuftände empfindet, daß unjere allgemeine Bildung und unjere Theologie jo wenig Fühlung mit einander haben, jo wird ihm wohl jeder der Sache näher Stehende von ganzem Herzen zujtimmen. Und wenn er nun auf die Fragen chrüjtlicher Bildung und kirchlicher Beitbewegung mit bejonderer Sorgfalt eingeht und jeine Anſichten hierüber in einer Sammlung geijtreiher Vorträge und Eſſays einem größeren Leſerkreiſe darbietet, jo kann ihm diejed, fofern es diefen bewegenden Fragen nicht gleichgiltig gegenüberjteht, nur Dant dafür willen.

Zu einer Anbahnung näherer Fühlung unferer allgemeinen Bildung und unjere Theologie erjcheint faum ein Anderer jo berufen, wie gerade Willibald Beyſchlag. Der Mann, der fich in jeiner alademijch langjährigen Laufbahn und in einer Reihe ernjt wifjenichaftlicher Werke auf dem Gebiete der ſyſtematiſchen und eregetiichen Theologie als ein Gelehrter im jtrengiten

508 Notizen und Beiprehungen.

Sinne des Wortes hinlänglich dofumentirt hat, der dann in feinen Selbit- biographien und mehr noch in dem nach meiner Meinung Bejten, das er je geſchrieben: in dem „Leben eines Frühvollendeten“ durch alle hiſtoriſchen und wifjenichaftlirhen Erörterungen dad warm pulfirende Blut, das reiche Gemüth des Poeten hindurch bliden läßt, der ſchließlich in feinen Gedichten und jeinem Märchen „Godofred“, aller wifjenjchaftlichen Strenge entkleidet, nur al3 Dichter zu uns fpricht, diefer Mann hat nicht nur den immerhin jhwierigen Kompromiß des Gelehrten mit dem Poeten in einer für beide erjprießlihen Weiſe geichlojjen er fann ihn in feiner vermittelnden Stellung nun aud mit Erfolg übertragen auf das Gebiet wifjenjchaitlicher Forſchung und allgemein literarifcher, ja dichteriicher Bildung. So ent— halten die hier gejammelten Vorträge eine Reihe wechſelnder Bilder. Die eriten „Jeſus und das alte Teſtament“, „Die Idee und Thatſache der Berföhnung“, „Die Offenbarung Johannis“ juchen theologische Fragen und Probleme in allgemein veritändlicher Weife zu löſen unter den fol- genden, die literariichen Inhalts find, ift der neuejte und zeitgemäßeite: „PBrotejtantijches in Goethe“. Der Verfafjer geißelt hier mit gutem Rechte die DVerunglimpfungen von Goethed Charakter, wie fie aus Anlaß des Straßburger Denktmaldunternehmens von der ultramontanen Seite auf das Plumpite erhoben worden jind. Er nimmt Goethe gegen fie in Schuß und hebt al3 tiefiten Grundzug ſeines Wejend die Wahrhaftigkeit hervor und die Herzensgüte; er verhüllt aber auch nicht die peinlihe Schattenjeite in jeinem Charakter: den Mangel an Selbitzuht in feinem Verhältniß zu Frauen. „Es iſt da nichtö zu vertujchen oder zu bejchönigen. Die Tragif jeine8 Lebens verräth die ganze Größe diejer fittlihen Schwäche. Diejelbe hat ihn um das Glüd und den Segen einer edlen Häußlichfeit, einer eben— bürtigen Ehe gebracht“ (©. 139).

Näher geht der Berfafjer dann auf das Verhältniß Goethes zum Ehrijtentyum ein. Die Preußiſchen Jahrbücher haben erjt vor Kurzem einen größeren Aufſatz über Goethes Verhältniß zur Religion aus berufener Feder gebracht. In diejem ift die viel umitrittene Frage unſeres größten Dichters zum Chriſtenthum jo eingehend behandelt und nad) meiner Meinung jo glücklich gelöjt worden, mandjes Duntel ift hier jojcharf beleuchtet worden, daß ich an diejer Stelle nicht nody einmal auf den Gegenitand eingehen würde, wenn es jeßt nicht um jo interefjanter wäre, auch Beyſchlags Anſichten über ihn. fennen zu lernen und wenn diejfe Anfichten nicht ein jpezielleres Merkmal trügen: fie behandeln nämlich mit liebevoller Vertiefung die be— jondere Stellung Goethes zur reinjten Ausprägung des Chriftenthums : zum Protejtantismus.

Für das Verhältnig Goethe zum Chriſtenthum als ſolchem muß es auch Beyichlag für die jüngere Periode Goethes bei der geltenden Anficht bewenden lajjen, daß Goethe wohl ein frommer Menſch gewejen, daß jeine Frömmigkeit jedoch in feiner jüngeren Periode feine jpezifiich chrijtlichen

Rotizen und Beiprehungen. 509

Züge trägt. Ganz anders aber jtellt fi) Beyichlag zu der älteren Periode im Leben Goethes; überzeugend weiſt er nad), wie der Dichter, je mehr er an Alter und Erfahrung wuchs, je mehr Schwankungen und Wechſelfälle eines längeren Lebens hinter ihm lagen. um jo näher der chriftlihen Religion trat. Seine Iphigenie, die ethiſch Zarteſte jeiner Schöpfungen, jpiegelt ahnungsvoll das tiefite Geheimniß des Chriſtenthums wieder, daß der Fluch) eines jchuldvollen Geſchlechts durch die Liebe einer reinen Seele gelöjt werden fann. Sein Fauft vollendd ruht auf dem Gedanken, daß der Menſch, irrend jo lange er jtrebt, gerade in diefem unermüdlihen Streben erlöjungsjähig bleibe. Und nicht nur erlöjungsfähig, jondern erlöft, denn die Liebe von oben nimmt Theil an ihm und ftredt ihm verjühnt die ret- tenden Gnadenhände entgegen.

Als Chriſt aber ift Goethe von Haus aus ein Find des deutjchen Pro— teſtantismus gemejen, geboren und erzogen im Schooße der evangelifch- lutheriſchen Kirche. Der Verfaſſer zeigt, wie feine geijtige Entwidelung in eine Zeit fällt, in welcher die Bervegung und Erhebung de3 deutichen Geiſtes ausſchließlich auf protejtantiihem Boden wurzelt, denn von Gottſched und Gellert an bis zu Goethe und Schiller findet ſich in der ganzen Literatur: geichichte auch nicht ein einziger Fatholiicher Namen und während ein Klop— jtod, Zejfing, Herder, lauter Söhne deutjcher Reformation, dem deutjchen Geiſte den Aufihwung bahnen zu einem in feiner Weije einzigartigen und welt- geichichtlichen Höhepunkt, liegt der katholiiche Volkstheil, nad) den Greueln der Gegenreformation den Jeſuiten ald Grabeswächtern überantivortet, im tiefen Todesichlaf. Die VBorbedingungen zur Entfaltung des Goethejchen Genius wären hier jchlechterdingd nicht vorhanden geweſen“ (S. 147). Und Niemand ijt fich dieſes Kindesverhältnifies zur deutichen Reformation jo dankbar bewußt gewejen wie Goethe. Das jpricht jo recht aus einer Yeußerung über Shafejpeare: „Der größte Lebensvortheil, den ein Dichter wie Shafejpeare hat genießen können“, jagt er, „it gewejen, daß er als Protejtant geboren und erzogen wurde. ben daher erjcheint er als Menſch mit dem Meenichlichen volllommen vertraut, ohne daß er ald Dichter jemald die PVerlegenheit gefühlt, das Abfurde vergöttern zu müſſen. (A. v. Dettingen, Vorleſ. über Goethes Faujt I S. 55). „Luther“, jagt er an einer anderen Stelle, „war ein Benie jehr bedeutender Art, er wirft nun ſchon manchen guten Tag, und die Zahl der Tage, wo er in fernen Sahrhunderten aufhören wird, produktiv zu jein, iſt nicht abzujehen“ (Edermann Il ©. 229). Bor Allem betrachtet Goethe die Reformation gerne als eigenthümliche That des deutjchen Geijtes, ald Durchbruch des der germanijchen Art eigenen Freiheitstriebes:

„Sie lagen nur in halbem Schlaf,

Als Luther die Bibel verdeutiht jo brav; Sanft Paulus, wie ein Ritter derb, Erſchien den Rittern minder herb.

510 Notizen und Beiprehungen.

Freiheit erwacht in jeder Bruſt, Wir protejtiren Alle mit Luſt.“

Bekannt ijt ed, mit welcher Liebe und Verehrung Goethe lebenslang das greifbarite Segenerbe der Reformation, die Bibel, umfaßt hat. Sie it die liebjte Nahrung feines kindlichen Geiſtes geweſen er hat das alte wie das neue Tejtament in den Grundſprachen gelejen, er hat fich bei fortjchreitender Bildung auch der aufflärenden Bibelkritif nicht entzogen, aber dieje Kritik hat ihm den göttlichen Kern nicht zerjeßt. ihm nicht, mie den ungläubigen Ratholiten Voltaire, zum Spott herausgefordert. „Ic für mein Theil“, jagt er in Wahrheit und Dichtung, „halte fie (die Bibel) lieb und werth, denn jajt ihr allein war ich meine jittlihe Bildung ſchuldig.“

Kühler und zurückhaltender freilich als zur Bibel ſtand Goethe zur proteſtantiſchen Kirche als ſolcher vor Allem fand er den proteſtantiſchen Kultus arm und dürftig, und in Wahrheit und Dichtung räth er der pro: tejtantifchen Kirche, nicht nur ihren Kultus zu bereichern und zu verjchönern, jondern vor Allem das ganze Leben reichlicher mit kirchlichen Weiheakten auszujtatten und die zwei Saframente nad dem Borbilde der katholiſchen Kirche auf fieben zu erhöhen. Reformatoriſch aber joll die Kirche dabei unter allen Umjtänden bleiben:

Dreihundert Jahre find vorbei, Werden auch nicht wiederfommen. Sie haben Böjes franf und frei —, Auch Gutes mitgenommen.

Und doc von beidem ijt auch euch Die Fülle genug geblieben.

Entzieht euch dem verjtorbnen Zeug. Lebendiges laßt uns lieben.

„Und nun“, fragt Beyichlag, „wie fteht dieſer tiefblidende, vor: urtheilsfreie Protejtant zum Katholizismus, den er in befchränftem Umfang in jeiner Vaterjtadt, dann auf der italienifchen Reife in defjen Mutterland und nicht am wenigjten durch Geſchichtsſtudien und Welterfahrung kennen gelernt hat?“ Wenn Beyichlag hierauf (S. 150) antwortet: „Man meint vielleiht, der phantafievolle, kunſt- und ſymbolfrohe Dichter habe von der Schönheit und Poeſie des Fatholiichen Kultus geblendet werden miüjjen, aber er überläßt das den geijtigen Schwächlingen jeiner und unjerer Zeit“, jo möchte ich dieſe Antwort nicht ohne Ein: ihränfung gelten laſſen. Daß Goethe von dem katholiſchen Kultus als joldem eingenommen, ja bis zu einer gewijjen Weife geblendet war, er: ſcheint mir fraglos. Beyſchlag jelber giebt das zu: „Wohl kennt er die ergreifende Macht des altfirchlichen Kultus, wie das der Oftermorgen im

Rotizen und Beſprechungen. 511

Fauſt, und die Kirchenſzene mit dem dies irae bezeichnen, und jener Vor— ſchlag, ſich evangeliſcherſeits die ſieben Sakramente anzueignen, zeigt ein liebevolles Sichhineindenken in Fremdes“ (S. 151). Aber ſollte das nicht oft mehr ſein als „evangeliſirter Ideallatholizismus aus alter Zeit?“ Hat ſich Goethe nicht zum Mindeſten äſthetiſch als Künſtler für den fatholiichen Kultus enthuftasmirt? Und wäre das ein Unrecht gewejen? Kann man nicht ein guter, mehr noch ein jtrenger, ein ausgejprochen anti= fatholiicher Protejtant fein und doch von der Macht und Schönheit natürlich nicht in fittliher Beziefung des katholiſchen Kultus berührt werden? Ic habe das in gewiſſer Beziehung am eigenen Leibe erfahren, und zwar erjt in dieſem Sommer auf einer Reiſe nad) Italien. An einem Eonntag war ed in Mailand. Schon in dem Aeußeren des Domes mit jeinen Skulpturen und Statuen, feiner herrlihen Faſſade, geſchmückt mit üppigen Ornamenten in den zierlichjten Blumens und Fruchtgewinden, mit feinem unermeßlichen, von fajt jechdtaujend jteinernen Heiligen und Engeln bevölferten Wald von Thürmen, auf den man vom Hauptthurm herabblidt, ſchon in‘ diefem Weußeren offenbarte ji) eine ganze Welt von Er— habenheit und Poeſie und anziehendem geheimnigvollen Myſtizismus. Und nun gar das Innere nun gar die große Mefje, der ich dort bei- wohnte. Nie ijt mir die auf die Sinne jpefulirende, alle leicht empfäng- fihen Triebe des Menſchen willenlo8 in ihren Feſſeln jchlagende Macht des fatholiichen Kultus jo zum Bewußtſein gefommen, als bei diefer Mejje im Mailänder Dom nie ijt meine Anficht, daß die Stärke des römischen Katholizismus vielmehr in feinem die Sinne beraufchenden Kultus als in feiner Obrenbeichte und feinem mujtergiltigen bierarchiichen Syitem beiteht, treffender beftätigt worden, ald durch dieſen großartigen Gottesdienjt in jenen bläulich ſchimmernden, weihrauchdufterfüllten Marmormafien, deren riejige Verhältnifje das raffinirte Halbdunkel zur Unendlichkeit geitalten. Dazu die unbejchreibliche Pracht, die man in dieſem Kultus entwidelt, diefe imponirende Prozejjion, die fich, von bald bußzerfnirjcht bebenden, bald jiegesjauchzend zum Himmel ftürmenden Gejängen begleitet, feierlich und dem Gedächtnifje unentreißbar durch die gewaltige Kirche bewegte. Ein unermeßlicher Zug! In feiner Mitte unter herrlihem Baldadin von purpurrother, von den Stalienern jo geliebten Farbe, der höchjte geijtliche Wiürdenträger in blendendem Gemwande, fein Baldahin getragen von den reichten Mailänder Bürgern, die Diefe Ehre um hohe Summen für die Kirche erfaufen. Und nun, wo die Prozeſſion beendet iſt und die Mefje beginnt, durchzittert ein Geſang die gewaltigen Hallen, wie ich nie einen Slirchendyor habe fingen hören. Die weichen Klänge der unvergleichlihen Orgel jchmiegen ſich dieſem Gejange an, als wollten jie ihn auf Engelsfittigen zum Himmel tragen dann athemloje Stille! Ich jehe die Menge auf den Knien liegen id) denke an die liturgijche Aus— gejtaltung in fo vielen unjerer evangelifchen Kirchen ein unbejchreibliches

512 Rotizen und Beiprehungen

Gefühl überfommt mid. Man muß jold) einem Gottesdienft im Mailänder Dom beimohnen, um zu wifjen, was die Menjchen jo gewaltig zur Fatho- liſchen Kirche zieht.

Eins aber vermag auch der großartigfte Kultus nicht : den denfenden Menſchen hinwegzutäuſchen über die Leere und Lächerlichleit deſſen, was er in gleißend übertünchten Gemwande verhült ja, je pomphafter und be= raujchender diefe Zeremonien find, um jo mehr fommt Einem in dem erjten nüchternen Augenblid zum Bewußtjein, daß fie nicht3 Anderes find, als die verjchwenderisch und raffinirt gejchmüdten Gräber, die unter jich nichts bergen, als den leeren, falten, verwejenden Tod.

Und treffend weift nun Beyichlag nad) und hierin befinde ich mic mit ihm ganz in Uebereinjtimmung —, daß Goethe, mag ihn der katholiſche Kultus auch hier und da geblendet haben, doc) nie von ihm verblendet ijt. „Heute ward ich aufgeregt“, jchreibt Goethe, kurz bevor er Rom betritt, „etwas auszubilden, was garnicht an der Zeit it. Dem Mittelpunft des Katholizismus mic nähernd, von Katholifen umgeben, mit einem Priejter in eine Sedia eingejpannt, indem ich mit ernitem Sinne die wahrhafte Natur und die edle Kunſt aufzufaſſen trachtete, trat mir jo lebhaft vor die Seele, daß vom uriprünglichen Chriſtenthum jede Spur verlojchen iſt. Wenn ich es mir in feiner Reinheit vergegenwärtige, jo wie wir e3 in der Apoitel- geihichte jehen, jo mußte mir fchaudern, was nun auf jenen gemüthlichen Anfängen für ein unförmliches, je barodes Heidenthum lajtet.“ Und jelbit jene großen Beremonien, die ihn äjthetiich oft in Banden jchlngen, ver- mögen dieſes Urtheil nicht zu inildern. „ES war auf Allerjeelen in der päpstlichen Hausfapelle auf dem Quirinal,” erzählt Goethe, „die Funktion war Ihon angegangen, Papſt und Kardinäle ſchon in der Kirche. Der h. Vater die Schönste würdigſte Männergejtalt. Mic ergriff ein wunderbares Ber: langen, das Oberhaupt der Kirche möge den goldenen Mund aufthun und von dem unausiprechlihen Heil der feligen Seelen mit Entzüden jprechend uns in Entzüden jegen. Da ich ihn aber vor dem Altar nur fi) hin und her bewegen ſah, bald nad) diejer, bald nach jener Seite fich wendend, ſich wie eine gemeiner Pfaffe geberdend und murmelnd, da regte jich die prote— Itantiiche Erbfünde und mir wollte das befannte Meßopfer hier keineswegs gefallen. Hat doch Chriſtus jchon als Knabe durch mündliche Auslegung der heiligen Schrift und in jeinem Jünglingsleben gewiß nicht jchweigend gelehrt und gewirkt. Was würde er jagen, dachte ich, wenn er hereinträte und fein Ebenbild auf Erden jummend und hin und wieder wanfend anträfe. Das „Venio iterum erueifigi* fiel mir ein." Mag aljo Goethe aud etwas größere Sympathie für den Kultus der Tatholifchen Kirche in äſthe— tiiher Beziehung gehabt haben, als Beyſchlag ed wahr haben will mag er vereinzelten Elementen in der fatholiichen Kirche jogar den Vorzug vor denen der evangelischen Kirche gegeben haben (ct. die Saframentzlehre), in der Hauptiache behaupten die geijtreichen Ausführungen Beyſchlags ihr Reit:

Notizen und Beiprehungen. 513

Alle dieje Aeußerungen ändern nicht das Geringite an der Schärfe des Goetheſchen Urtheil3 über den Katholizismus als ſolchen. Ueberall erblidt er in ihm ein Syſtem, das mit Natur, Vernunft und Wahrheit in jchneiden- dem Widerfpruch fteht. Der Mönch und der Priejter find ihm tyyviſch abjtoßende Gejtalten. Seinem ernjten Wahrheitsfinn und Wahrheitsglauben widerjtrebt auf das Aeußerſte „ein Obſkurantismus, der auf der einen Seite die Ausbreitung des Wahren, Klaren, Nüplichen hindert, auf der andern da3 Faliche in Kurs bringt.“

Und gerade auf der italienischen Reife, wo Goethe den Katholizismus im Großen mit Augen zu fchauen befommt, erreicht jein fittlidher Pro— teftantenzorn einem hohlen Papſtthum und leeren pomphaiten Zeremonien gegenüber feine Höhe. Viele noch wenig befannte Beugnifje Goethes wider den Katholizismus und für den Protejtantismus führt Beyfchlag ©. 152-159 an. „Wir wiſſen garnicht“, jagt er zu Gdermann, „was wir Quthern und der Reformation im Allgemeinen Alles zu verdanten haben. Wir find frei geworden von den Feſſeln geiftiger Bornirtheit, wir find in Folge unjerer fortwachjenden Kultur fähig geworden, zur Duelle zurüczufehren und das Chriſtenthum in feirer Reinheit zu fafjen.... Se tüchtiger aber wir Protejtanten in edler Entwidelung voranfchreiten, um fo jchneller werden die Katholiken folgen.“ (Edermann Ill ©. 371—73.)

Sch habe bei diefem Vortrage länger vermweilt, weil er gerade für unjere Tage von bejonderem Interejje iſt. Die anderen Vorträge jtehen ihm nicht nad). Sehr geiſtreich iſt die bereit3 länger bekannte Ausführung über „Leifings Nathan den Weifen und das pojitive Chriſtenthum“, wenns gleich hier die Dichtung nicht immer aus der Tichtung heraus erklärt iſt. Beyichlagd Gedanke über das jungdeutiche naturalijtiiche Drama werden auch den anregen, der ihnen nıcht rüdhaltlos zujtimmt.

Das Bud) ift Allen warm zu empfehlen, die im Gewoge des Tages und im Einerlei des Berufsleben: nad) edler und veredelnder Lektüre fuchen, die eingeführt werden wollen in die Bahnen chrijtlicyer Bildung und kirchlicher Zeitbewegung; möchte der Wunſch des Berfaljerd in Er— füllung gehen, daß dieſes Buch ein wenig dazu beitrage, „den tiejen Frieden, welcher zwiſchen dem echten Chrijtenglauben und echter Bildung beiteht und den nothwendigen Krieg, den wir zur Behauptung unjeres deutjchsevangelifchen Geifteserbes zu führen haben, ind Licht zu ſtellen“.

Arthur Braujemwetter.

Goethe-Literatur.

Goethe-Fahrbud. Herausgegeben von Ludwig Geiger. Bwanzigiter Band. Mit dem vierzehnten Zahresbericht der Goethe-Geſellſchaft. Frank— furt a. M., Lit. Anſtalt Rütten & Löning. 1899. 319 ©. groß Dktad, ©. 320—331 Perſonen-Regiſter zu Bd. XX. ©. 332—337 Preußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 3. 38

514 Nothzen und Beſprechungen.

Regiſter über Goethes Werke und Leben. Darauf folgt mit beſonderer Paginirung Erich Schmidts am 27. Mai d. J. bei Gelegenheit der 14. Generalverfammlung der Goethe-Gejellichaft in Weimar gehaltener Feitvortrag: „Goethe Prometheus“, 20 S. Sodann der Jahresbericht 12 ©. und dad Mitgliederverzeichniß, S. 15—63.

(Dem Vorwort voran war die betrübende Mittheilung von dem am 2. Mai zu Berlin erfolgten Ableben des erjten Präjidenten der Goethe: Gejellichaft, de3 wirft. Geh. Rathes Dr. Eduard von Simjon zu geben, wie 1897 von dem der edlen Erbauerin des Goethe: und Schiller: Archivs, der Großherzogin Sophie (geb. 8. 4. 1824, get. 23. 3. 1897).

Goethes Leipziger Studentenjahre Ein Bilderbudy zu Dichtung und Wahrheit als Feitgabe zum 150. Geburtötage des Dichter von Dr. Julius Bogel, Kuſtos am Städtiichen Mufeum der bildenden Künjte zu Leipzig. Leipzig, Karl Meyerd Graphiiches Injtitut, 1899. 87 ©. Doppelquart, elegant gebunden 4 Marf.

Goethe. Bon Richard M. Meyer. BPreisgefrönte Arbeit. Zweite Auflage. (Als Band 13—15 der Anton Bettelheimjchen „Geifteshelden“. Berlin, Ernjt Hofmann & Co. Preis 7 Mi. 20 Pf. 712 ©. Text, ©. 7183—722 Ueberſicht der Goethe-Literatur, S. 723—747 Berjonen: und Sachverzeichniß.

Wenn dad Freie Deutſche Hoditift in Frankfurt und die Goethe: Gejellihaft, die nah Simjong Tode den Geh. Hofrat Dr. E. Ruland, den Verwalter des Goethe-Haujes in Weimar, des jogenannten Nationals Mufeums, zu deſſen Nachfolger als ihren Präfidenten gewählt bat, eine bibliographiiche Ueberjicht der jämmtlichen literariihen Darbringungen in Form von Büchern, Sournalartikeln, BZeitungsberichten und Feuilletons oder als Erzeugnijje der graphiichen und plaftischen Künjte geben wollte, die aus Anlaß der gemeinschaftlich in Frankfurt begangenen Feſte diejes Jahres in Deutjchland und in der ganzen gejitteten Welt zu Tage ge fommen find, jo würde jie allein wie der Katalog einer ftattlihen Bıblio- thel wirlen müfjen und beredjam die für unjer Volk hocherfreuliche That: jache predigen, daß die Liebe und Verehrung und dad Verſtändniß ſeines Lebenswerkes in den legten fünjzig Jahren in ganz außerordentlihem Make zugenommen haben, daß und und aller Welt die Größe dieſes Einzigen unermeßlich jichtbarer geworden ijt. Die Mitgliederzahl der Goethe-Gejellichaft ijt natürlich nicht ald einziger Gradmeſſer für jenes gewaltige Wachſen zu betrachten, denn fie betrug am 31. 12. 1898 nur 2606 und der beflagenswerthe Abgang ift nicht eingeholt worden. Wären wir Engländer oder Amerikaner, jo würde es ſich für jeden einigermaßen wohl fituirten gebildeten Menjchen als nationale Ehrenjache von jelber verjtehen, einem jo Große und in jedem Sinne Bedeutende darbietenden Vereine, der auf viele Jahre hinaus noch aus den Schäßen des Goethe—

Rotizen und Beſprechungen. 515

Archivs jchöpfen darf, anzugehören, und damit auch den Neichthum der ihm für den geringen Sahresbeitrag von 10 Mark zugehenden Publi— Fationen, des Jahrbuch und je eines jtattlihen Bandes der Schriften der Goethe:-Gejellichaft (wir erwarten eben den 2. Band der immer interefjanter und wichtiger werdenden Briefe der Romantifer an Goethe und defjen köſtlicher Antworten), wejentlich zu erhöhen. Wir find ja wohl im Allge— meinen ärmer, als unjere englijchen freunde, Die recht eigentlich die ganze Erde ald ihre „Speiſe“ betrachten, und fich al die von ihrem Brahma ernannten „Efjer“, aber follte man nicht denken, die Mitgliederzahl müſſe ſich leiht auf das Doppelte oder Dreifache erheben, wenn 3. B. nur allgemein gewußt würde, daß das diesjährige Goethe-Jahrbuch (Bd. XX) auf ©. 37-75 die Weijeberihte Goethes von 1813 aud Naumburg, Dresden, Tepliß an jeine Hausehre, Chrijtiane, mit eingehendem Kommentar (S. 75—94) bietet? Hätten wir auch gewünjcht, daß Bern- bard Suphan in feiner geiltvollen Weije diefe Anmerkungen ganz ges jchrieben hätte, ftatt fie dem Herausgeber zu überlafjen, jo fann man doch für dieſe köſtlichen Beugnifje, für Die Reinheit jenes jo vielfach beihmußten Verhältniſſes, das Goethe vom erjten Tage an als eine jefte, unverbrüchlide Che angejehen Hatte, nur von Herzen dankbar fein. Wie rührend ift doch die verjchämte Mittheilung an jeine „liebe Kleine“*) auf S. 71: „Den 12. Juli habe ich bei einem großen Saftmahl im Stillen gejegnet.“ Wa iſts denn mit dieſem 12. Zuli? Nun ed war der Tag der jilbernen Hodzeit. Man hat in diejen legten Felttagen in Weimar auch nad) dem vernachläjjigten Grabe Chriſtianens gefragt, dad ein Berliner Feuilleton in der Fürſtengruft gejehen haben will, da es auf dem alten Kirchhofe iſt, der jegige noch gar nicht eriftirte. Wäre es nicht eine Ehrenpflicht Weimars, dejjen Läjter- mäuler die gute Frau bis heute verfolgen, in goldenen Buchitaben die Worte Goethes nachträglich dort zu befejtigen, die er nad) ihrem Tode ſchrieb: Gatte der Gattin. 6. Juni 1816.

Du verſuchſt, o Sonne, vergebens

Durch die düftren Wolfen zu jcheinen!

Der ganze Gewinn meines Lebens

Sit, ihren Verlujt zu beweinen.

Der Lejer müßte ſich dann doc wohl jelber jagen, eine Frau, Die Goethen jo lieb war, ihm fo hoc) jtand, muß doch wohl ſittliche Quali—

*) Wenn er fie anredet (S. 73 Nr. 21) „mein allerliebftes Kind“, jo diktirt er das nicht, wie er ſonſt in diefen Jahren pflegte. John war ihm eben erkrankt nnd er hatte ihn nad Karlsbad geihidt, aud ein rührender Zug des Alten, da er ihn ja recht gern los fein wollte.

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516 Notizen und Beiprehungen.

täten anderer Art gehabt haben, als ihr Caroline Herder e tutte quante anzudichten bemüht waren. *)

Eine höchſt willlommene Erweiterung unferer Stenntniß der Be— ziehungen Goethes zu Byron, deren wir gelegentlid der Heineren Schriften Mich. Bernays zu gedenken hatten, giebt hier gleich der erite feinfinnige Aufjag A. Brandls (S. 8—37).

Es fann aber nicht meine Abſicht fein, den ſehr reichen Inhalt des Buches hier im Einzelnen vorzuführen, da wohl anzunehmen jteht, daß der größere Theil unjerer Leſer längit der Goethe-Geſellſchaft angehört und folg- lich genau weiß, daß die ftattlihe Reihe ihrer Jahrbücher und „Schriften“ ein unentbehrliche® Material der Goethe-Wiſſenſchaft und wie man fait auch jagen fünnte, der Goethe-Religion bedeutet.

Der Heraudgeber, Ludwig Geiger, fand fi, ich glaube mit Recht, beengt durch den vielen Raum, den allemal die Bibliographie im Jahrbuch in Anspruch nahm, als er fie jedoch fortlafjen wollte, erhob fich lebhafte Nachfrage grade nad) ihr. Gewiß hätte manche wiſſenſchaftliche Erörterung an anderen Orten gedrudt werden fünnen oder als jelbjtändige Schrift auf den Markt gelangen, aber der Charakter des Jahrbuch als eines Nepertorium der gefammten Goethe-Wiſſenſchaft hätte darunter gelitten und nicht das allein, das nöthige Material wäre dem Forſcher mwejentlich vertheuert worden. Ließe fich nicht etwa jo der Noth fteuern, daß man fich entjchlöfje, ein etwa halbmonatlic) zu Lieferndes Korreſpondenzblatt des Goethe-Vereins herauszugeben, das zunächſt die Bedürfnifje der an der Forſchung interejfirten Kreife ins Auge fahte, vor Allem aljo Fragen jtellen dürfte und die Antworten jammelte? Hier ließe jih u. U. ein er: heblicher Theil dejjen bemeijtern, wa3 der von Herm. Grimm ausge mworfene Gedanke eines Goethe-Wörterbuches eigentlich Wollte. Hier wäre auch der Ort, immer frijch die fort und fort nachſprudelnde Bibliographie vorzulegen, auf die man nicht mehr ein volles Jahr zu warten braudte. Und wie vielfältige Anregungen nad) den verjchiedenjten Richtungen bin, Berichtigungen irriger Annahmen nur ohne gehäſſige Polemit und vielleicht auch Perjonalien, die den Forjcher interefjiren können, fänden bier ihren Platz. Much eine durchgängige, rein chronologijche Rubrik „Goethe— Regeſten“ wäre durchaus erwünscht, da hier Arbeitstheilung unentbehrlich it. An Kräften zur Ausführung eined ſolchen Unternehmens fehlt es nicht, ich rege den Gedanken hier nur vorläufig an, vielleicht findet er Anklang.

*) Gin an fi wenig Haffiicher, aber in dieſem Punkte offenbar ehrlichſt überzeugter und aufrichtiger Zeuge tft der junge Zacharias Berner, der am '5 4. 1808 an Goethen Schreibt (Romantikerbriefe IL, 5): „Ihrer trefflihen Gattin küſſe ih die Hände mit tiefer Rührung; was fie ıf, babe ich erjt in der legten Abjchicds-Minute erfahren: fie verdient es, die Martha meines Meisters und Herren zu ſeyn.“ Noch einmal (22. 11. 1808) preijt er fie als feine „Für- und Seeljorgerin“.

Rotizen und Beiprehungen. 517

Aus dem jonjtigen Inhalte des Jahrbuchs ſei hier nur noch erwähnt „Ein Nachſpiel zum Briefwechſel mit Schiller“ von C. Schüddekopf (S. 94-105). Es bezieht fi) auf die Empfindlichkeit, mit der der Minijter E. Fr. v. Beyme 1830 in Goethes AZueignungsichrift dieſes Briefwechjel3 an König Ludwig don Bayern einen Vorwurf „für die Fürften Deutjchlands* finden wollte, den er wenigitend von dem König von Preußen abzumenden verpflichtet je. Goethe jah ſich nicht beivogen, in der Angelegenheit dad Wort zu nehmen. „Was jollte aus den jchönen mir noch gegönnten Lebenstagen werden, jchrieb er für Niethammer an den Kanzler von Müller (21. 5. 1830), wenn id) Notiz nehmen wollte von Allem, was in dem lieben VBaterlande gegen mich und meine Nädjiten geſchieht!“ Endlich, weil ed weit gehört zu werden verdient, ein Wort des tüchtigen Charles Francois Dominique de Villers an Goethe übel 10. 8. 1803, aus dem Archiv dur Jul. Wahle mitgetheilt).

Puisse le noble esprit de la sagesse et de la poesie germanique vaincre le pernicieux demon de l’immoralite et de la superficialite francaise!

Dad ald Nummer 2 genannte Leipziger Bilderbuch wird Vielen Freude gemacht haben. Goethe jelber zwar pflegte fih im Alter vor diefer Leipziger Periode einigermaßen zu entjegen und zu befreuzen*), das darf und freilich nicht hindern, auch fie, wie ja der Dichter jelber in Dichtung und Wahrheit maßvoll gethan, ald Faktor ſeines Werdeganges ın Rechnung zu ftellen, denn was hilft der nachträglihe Seufzer: Hätt' id) jtatt dejjen in einer wirklich bedeutenden Landſchaft und geijtiger Atmojphäre gelebt?! Dabei fann ganz wohl bejtehen, wad Meyer ©. 51 betont, daß 1768 der junge Goethe ebenſo jehnjüchtig nad) Yeipzig und zwar nad) dem Dejerjchen Kreije zurücblidte, wie 1788 nad der Rückkehr aus Stalien nad) den Römischen Freunden.

Immerhin ijt das Buch interejjant genug, da e3 uns in hübjchen Zeit— bildern das damalige Klein-Parid und z. Th. auch Dresden und alle dies jenigen Perjonen vorführt, deren Goethe dankbar oder etwa auch reu— müthig gedachte. Vor Allen ijt in den etwa fiebzig zur Hälfte bisher gänzlich; unbelannt gebliebenen Abbildungen Käthchen Schönkopf und ihr Haus und ihre Familie, dann aber bejonderd der Maler Adam Friedrich Defer und feine finder berüdjichtigt. S. 62 ijt richtig erkannt, daß wir es mit dem jungen oh. Friedr. Ludwig Defer und nicht etwa mit einem Goethebildniß zu thun haben. Auch die Breitfopf jind gebührend ver: treten, von Profefjoren wohl alle von Goethe genannten. Zu dem Snterefjantejten gehören die beiden NRadirungen des jungen Goethe, an denen doc wohl Meijter Dejer das Beite wird gethan haben. Bei diejem Anlaß machen wir die Freunde Goethiſcher Kunftübung gern aufmerkjam

*) Man ſehe u. A. den Brief Gis an feinen Sohn Auguft nad) Heidelberg vom 3. 6. 1808, bei Meyer zitirt S. 472.

518 Rottizen und Beſprechungen

auf K. Kötichaus Auffap „Neue über Goethe als Radirer“ im der Beitichrift für bildende Kunft, Mai 1899 (X, 8). Schon im Februar 1893 hatte dieſe Beitichrift (mit Tert von G. Wuftmann) jene beiden NRadirungen in ehr viel fchöneren Druden gegeben, als fie bei Vogel erſcheinen.

Ueber R. M. Meyers „Goethe“ wollen wir und möglichjt kurz fafjen. Der Vermerf auf dem Titel „Preidgefrönte Arbeit“ kann für die Deurtheilung nicht in Betracht fommen, er jcheint aber manche Kritiker ver- drofjen zu haben; wenigſtens las ich in einer Berliner Zeitung (7. Sept.) unter Anderm, das Werk fei zu ſehr Blender, die anſpruchsvolle Perſon des Verfafjerd jtöre. Ich kann das nicht unterfchreiben, da ich auch nicht weiß, ob in der That Heinemanns Goethe-Bivgraphie jo vortheilhait davon abjteche.

Eine gerechte und billige Beurtheilung hat ſich doch von vornherein bewußt zu bleiben, daß die unüberjehbare Weite und Fülle eines fo reichen Lebend unmöglid von einem Menden, und wäre er ein Rieſe an Arbeitskraft und Einficht, gleichmäßig und in vorgefchriebener Allgemein: veritändlichkeit oder populär dargejtellt werden Fann. Auch daß Die An: fihten über manches Goethifche Werk, über mandyes Thun und bejonders auch Unterlafjen des einzigen Mannes, über taufende feiner offenherzigen Urtheile, weit auseinander gehen, ijt nicht zu verwundern. War ich dod jelber nah Durchleſung des IX. Kapitels „Goethes Lyrik“ (S. 146 bis 162) mit einem Iyrifchen Proteft bei der Hand, den ich getroit berjegen darf, da die paar fchlechten Neime die kritiſche Proja kaum unterbrechen.

Dankbar ehret, preijet Goethen, Aber preijet ihn bejcheiden.

Soll der Selige noch erröthen? Dürft ihr uns das Dichten leiden ? Einer fann nit Alles flöten: Friſcher Sang bei Chrijt und Heiden Bleibt troß feinen Einzigfeiten

Heut und ewig hoch von Nöthen.

Sc bemerfe aber vorweg, daß ich das ganze Buch mit lebhaften An- theil und Genuß gelejen habe und es im Ganzen für wohl gelungen und auf jehr umfangreichen und gründlichen Studien aufgebaut anerkennen muß. Wenn Goethed Leben ſelbſt „dad größte jeiner Kunftwerfe* genannt wird, fo ift das ja eine Phrafe, die man nicht zu jehr drüden fol. Sein Leben gejtaltet fi) Keiner allein und nemo sibi vivit, nemo sibi moritur jagt der Mpojtel. Die Beurtheilung des Water, „der nie recht jung gewefen zu fein fcheint“, mag ungerecht klingen und id darf dawider noch einmal das treffliche Büchlein der Frau Telicie Emwart

Rotizen und Beſprechungen 519

geltend maden. Das hat der alte Herr, der ganz allein das Werk einer jeltenen Jugendbildung an jeinem früh reifen Knaben vollendete bis zur Reife zur Univerfität, doc nicht verdient, daß man von ihm jage, er „gehöre zu jenen Männern, denen Niemand dad Necht bejtreitet, von un— getbaner Arbeit fich würdevoll auszuruhen“.

Der Verfafjer giebt jich durchaus nicht al3 unbedingten Bewunderer des Dichters. Wer dürfte das auch verlangen? Goethe hat allerdings im Alter „Süße gebaut, deren Steifheit nur der Fanatiker leugnen fann“. Es ijt ihm auch wohl eine Strophe mit durchgelaufen, deren ein= jahe Wortlonftruftion faum zu errathen it. Die „Mitjchuldigen“ zu be: wundern, weil fie von Goethe find, darf Niemand und anjinnen, aber e3 iſt fein eigentlich äjthetijches Urtheil, wenn man fie „ein wahrhaft un— ſittliches Stüd“ nennt.

Die frühejte Goethiſche Lyrik, die der Leipziger Zeit, 1768—69 wird als „janjt zweifelnde Melancholie“ gewerthet. Man möchte Hinzu jegen: doch mehr im Stile der Zeit, denn aus eigener Seelenerfahrung gequollen, was für den faum Neunzehnjährigen fein Vorwurf jein kann.

Der Abſchnitt „Straßburg“ hält jich auf dem Niveau üblicher Auf- jafjung, an der Goethe freilich die Schuld jelber trägt. Herder ſoll es gewejen jein, von dem Goethe das Gefühl der Ehrfurcht vor menschlicher und künſtleriſcher Größe erit gelernt habe. Friedrih Nietzſche einen Herdern vielfach verwandten Prediger unjerer Tage zu nennen, ijt etwas gewagt.“) Straßburg bradte und den Göß ein, darnach Wetzlar den Werther, während die Gährungsfeime zum Fauſt ji wohl auf Leipzig, Frankfurt und Straßburg vertheilen.

Den Götz kann man ja unter die Rubrik der „Unklagedramen* allen- fall3 einreihen, aber damit ift nicht viel gejagt, mit den Ibſenſchen Stüden der Berf. nennt die „Stüßen der Gejellichaft“ gleichjam als Paradigma (a posteriori) hat dieſes BZeitgemälde doc) wenig gemein, eher Schillers aufregendes Stück „Luije Millerin“, wie denn Lefjings „Emilia Galotti* auf Goethen feine nachweisbare Verführung ausgeübt hat. Wir haben feinen Dichter gehabt, der jo früh über alle Tendenz- poefie hinaus war und, müfjen wir binzujegen, der jo jümmerlich als Dichter jcheiterte, ald er denn doch einmal fi) auf dieſes eigentlich publiziftiiche Gebiet begab.

Baterlandsliebe, wenn damit der heute gepriejene Baradepatriotismus gemeint it, hat Goethe ſicherlich gering geihäßt. Der Verf. findet das nur zu begreiflih. Wer hätte aber den Muth, möchten wir hinzufügen. heute den Mann darum zu jchelten, der nach der Anficht Viktor Hehns den vollen Gehalt alles deſſen erjt jeit begründet hat, was wir zu lieben

*) Bol. noch S. 547, wo neben Rochefoucauld und Lichtenberg, Ar. Nietziche als der eigentliche Klafliter des Aphorismus gepriefen wird.

520 Notizen und Beiprehungen.

und vielleicht noch lange mit aller Kraft zu vertheiden haben, der aljo der Bismarckſchen Schöpfung ihren Werth im Voraus geliehen hatte?

Mit dem Götz von Berlichingen trat Goethe jogleid an die Spitze der neuen Bewegung. Diejer Erfolg jtempelte ihn für immer zum Dichter, und drängte die doch nie gänzlich; aufgegebenen Belleitäten zurüc, fi) der bildenden Kunſt zu widmen. Hat Goethe jelbit gejtanden, dag die Wirkung Straßburgd (und vielleiht noch mehr der Einfluß Herders) eine Abkehr von franzöſiſcher Kunſt und entichiedene Belehrung zu der heimifchen für ihn bedeute, jo läßt ſich ja hieraus zwar ganz wohl der Widerwille Friedrich3 des Großen gegen ſolche Irokeſen-Poeſie begreifen, aber allzu ernit braucht man jein dilettantijche8 Urtheil nicht zu nehmen. Mit dem Werther gründete der junge Titane feine europäiſche Berühmtheit.

„Goethe,“ jagt der Verfafjer, „war einmal Werther, aber er war es nicht mehr, als er den Roman ſchrieb.“ „Das Herzendleben der modernen Menſchen war der Poejie gewonnen.“ Alles Romanhafte gemeint it Alles, was man bisher dafür anſah war zuerjt hier entfernt.

Bon dem fogenannten „Spinozismus* Goethes macht aud Ric. M. Meyer, fcheint mir, zu viel Aufhebend. Schon die unjerm Dichter immer widerwärtige mathematifch fonitruirende Methode feiner Daritellung wird - ihn abgejchredt haben, und erweislich ijt wohl nicht viel mehr, als daß der Artikel Spinoza in Bayles Dictionnaire historique et critique, allerdings eine infame pfäffiiche Anklageichrift, den Straßburger Studenten mit tiefer Indignation und damit auch mit Reſpekt vor dem jo Behandelten erfüllt hat. Später hat ihm dann Freund Frib Jacobi allerlei krauſes Zeug vorgegaulelt. Wir wiſſen ja, daß noch jpäter Herder, indem er zwei Fliegen mit einer Klappe jchlug, der Charlotte von Stein zum Geburts tage und ihrem Freunde und unferm 1784 einen Spinoza gejchenkt bat, daß Goethe ihn auch gelegentlich „unjern Heiligen* genannt bat, allein an wirkliches Studium und nun gar in jchönen Abendftunden mit der Freundin gemeinfam, glaube wer mag. Goethen wird genügt haben. was Herder ibm davon vorzupredigen mußte, aber fein Pantheismus war doch etwas Anderes, als die Abjtraktionen Spinozas, er war auf das Geift- jehen in der Natur, voraus der organiſchen, gerichtet. Es gehört aber zum guten Ton, von Goethes Spinozismus zu orafeln.

Mit Meyer (S. 144 fgd.) meinen wir, daß freilid Merd mit dem befannten Urtheil über den Clavigo im Rechte war. „Gewiß, heißt es. wir hätten an Goethe (der bedauert hat, daß er nicht damals ein Dutzend Stüde der Art geichrieben) einen deutichen Zope de Vega gewonnen (wenigſtens einen etwas geijtvolleren Kotzebue) ... . Wir hätten vielleicht zwanzig Clavigos; aber wären fie den einen Taſſo werth?“ Das ijt jebr richtig, aber die Goethefreunde erinnern fich der kurioſen Bewerthung der Goethiſchen Dramen, die Paul Heyſe in Weimar zum Bejten gab. Wer

Rotizen und Beſprechungen. 521

ſchüttelte damals nicht den Kopf, einen Mann, der jelber tief in das poetijche Metier eingeweiht ijt, jo oberflächlich die Partei der Clavigos nehmen zu jehen? So verwüſtet die moderne Theaterfererei das literarische Urtheil. Als 0b auf die Gefchäftdunternehmungen der Sudermann, Lindau, L'Arronge, Blumenthal und Kadelburg etwas anfäme!

Wir ſprachen ſchon davon, das wichtige Kapitel von Goethes Lyrik möchten wir nicht durchaus unterjchreiben. Alles wurzelt hier, und ohne Zweifel it Goethe hier der typische Dichter. Man muß jedoch nicht Alles an ihm meſſen wollen, Goethe darf feine Schranfe werden. Es giebt feine abjolute Lyrik, jede Zeit, die nicht ganz gottverlaffen wäre, hat die ihr angemefjenen Formen oder Töne der Lyrik zu finden und, um an Meyer anzufnüpfen, Storms Gediht „Mondlicht“, das gar nicht den Anspruch erhebt mit Goethes berühmtejten „An den Mond“ zu wett— eifern, iſt nicht deshalb ſchon als „erfältend“ zu jchelten, weil es in die rührende Bitte an die Geliebte ausklingt:

Wie bin ich joldhen Friedens Seit lange nicht gewohnt! Sei du in meinem Leben Der liebevolle Mond!

Uber fein ift die Bemerkung, Goethe ſei, wie die Alten, Meijter in der lyriſchen Darjtellung der Erijtenz, nicht des Effelts. Goethes Lyrik eben Alles und Jedes als unerreihbare Einzigfeit anzurechnen, lehnen wir aljo entſchieden ab, wie er jelber in feiner genialen Bejcheidenheit that. Nein! jo armfelig ift die nachgoethiche Dichtung und aud) die allerjüngjte denn doch nicht, daß fie einfach einpaden müßte.

In dem Kapitel „Stella* (X) iſt von Stella eigentlich nicht die Rede, dafür von der Schweizerreife und der Einladung nad) Weimar. Wir fommen aljo zu dem fchikjalvolliten Abjchnitte dieſes Lebensbildes. Im Ganzen folgt man der Darjtellung mit Genuß. Bezeichnend für unjern Goetheforſcher und viele feiner Genofjen ijt dabei, daß ihnen troß aller Berehrung Goethes doc eigentlih Leſſing der unerreichte Lehrer ift. Der Gedankfengang der „Seheimnifje*, den wir doc recht undeutlich in dem Fragment nur ahnen, ſoll beherricht fein von den Ideen, die Leſſings Erziehung des Menjchengejchlecht3 gelehrt hat. Man kann da8 auf ſich beruhen lafjen, zumal der damalige Einfluß Herderd in jedem Sinne näher liegt. Mit den Folgen der italienischen Reife ift der Biograph nicht jo durchaus einverjtanden und wer wäre es heute nod) außer einigen ganz verjtodten Klaſſiziſten? ©. 234: „Wenn der Autor des „Götz“ den Dichter der „Hermannſchlacht“ mit graufamer Strenge zurückwies und fange aud) gegen den der „Räuber“ sich in Abwehr hielt wenn der einjtige Ruhmredner Erwins für das fühne Streben eined Cornelius weniger al3 für manirirte Bilderchen aus Hajfjischen Bezirken Anerkennung

22 Notizen und Beſprechungen.

bat, jo gehört auch dies zu dem Folgen...“ Gewiß. und wenn aud mit einer gewiljen Berechtigung gejagt werden konnte, ed gebe nur drei große Erlebniffe für Goethe: Straßburg, die Berufung nad Weimar und die italienische Reife, fo läßt fich doch, falld man nicht darauf einge: ſchworen ift, auf Weimar abjolut nichts fommen zu lafjen, bei aller Be- wunderung deijen, was er Weimar gegeben, gar wohl auch einmal fragen, was es ihm aber auch als Menſchen und Dichter gekoſtet hat.

Einverftanden find wir mit dem, was über „Egmont“ und „Iphigenie* ausgeführt wird. Es ijt nicht eben neu. Weniger jedoch, wenn von .Nauſikaa“ gejagt ift, „ihr Verhängniß hätte fein jollen, daß jie ſich un— widerruflih in den Augen der Ihrigen fompromittirt, wie Goethe ſich ausdrückt.“ Das verjtehen wir jo faum, und follte es jo gemeint fein wie Meyer will, jo hätten wir wohl nicht einmal Grund zu bedauern, dat aus dem Ding nichts wurde. Iphigenie ift Manchem, und war dem alten Goethe jelber zu modern, das wäre dann wohl zu antik geworden. Sch glaube nicht, daß Goethe, als er in Sizilien das herrliche tragische Idyll als dramatiihen Vorwurf ind Auge fahte, jolde Spipfindigkeiten im Sinne gehabt haben kann.

Im Taſſſo ftedt, wie in fait allen Goethiſchen Dichtungen, natür- fi; auch viel perſönlich Erlebtes, aber jo eigentlih als „große Beichte* und al3 jolhe dem Werther und Fauſt parallel zu jtellen iſt er dod faum. Was hätte denn Goethe jo groß zu beichten gehabt? Daß er fih an die Stein verjchwendet hatte, der er gutherzig genug jeine welt: männifche Erziehung verdanken mochte, wen ging denn das in Weimar etwad an? Daß er jih im hundert Nichtigfeiten zum Amüſement des Hofes verzettelt hatte, hat er wohl jpäter beklagt; aber davon jteht im Taſſo fein Wort. Im Gegentheil, Weimar durfte ſich in dem dargeitellten Glanze Ferrarad wie in einem allerdings verichönernden Spiegel erbliden. An den Unjinn, der einigen Goetheforjchern nicht auszureden iſt, die ganz richtig als pathologiſch dargejtellte Leidenjchaft Taſſos zur Herzogin babe einmal in Weimarifchen Erlebnifjen ein Gegenbild gehabt, denkt doc der neue Biograph nicht etwa auch? Man prefje und quetjche doch nicht ewig an dem Ausdrud Beichte oder Generalbeihte! Goethe meint damit gar nicht3 Anderes, als Selbjtoffenbarung, das Fundament freilid aller feiner dichterifchen Schöpfungen. Am Ende jchnüffelt man auch noch dad arme Gretchen auf, das der jchlimme Goethe-Fauſt verführt und im Elend habe jigen lafjen, dafür er denn von Rechts wegen vom Teufel hätte müjjen geholt werden.

Was Italien für den Dichter geworden und wejentlich durch ihn dem gebildeten Deutichen bleibt, wifjen wir Alle. Das ewige Heimmeh nad dem jchönen Lande, dad er nun empfand, hatte auch rein klimatiſche Urjaden, denn über die unfreieren gejellichaftlihen Lebensarten jegte er ji refolut hinweg und jchuf fi, zum ewigen Verdruß des jo keuſchen

Rottzen und Beiprehungen. 523

Weimars, ein jtilles häusliches Glüd. Wenn hier, wie jo oft wieder vorgebradt wird, Charlotte von Stein die verlafjene Dido war, „die einzige Geliebte Goethes, die ihm mehr gab, al3 fie von ihm empfing,“ jo braudt jtatt alle8 Proteſtes bloß auf die Briefe Goethes an fie vermiejen zu werben, die fürzlih Dr. Jul. Wahle zum dritten Male (nah Ad. Schöll und Wild. Fielig) forgfältigit herausgegeben hat. Dean frage nur richtig empfindende Frauen, mit welchem Wehgefühl fie Diejer einfeitigen Verſchwendung des Ueberreichen zujehen. Ihr Glück ift’3 noch im Gedächtniß der Menfchen, daß jie jo Hug war, ihre Briefe zurüdzuerlangen, um fie zu vernichten. Ganz wenige find zufällig erhalten (I. jetzt auch Goethe = Kahrbuh XX, 105— 115). Woher wollen wir wijjen, daß die Rückkehr Goethes nad Frankfurt, woran wohl einmal ernitlih gedacht war, geradezu „ein nationale Unglück für Deutjchland“ geworden wäre?

Ueber die einzige Verbindung Goethes mit Schiller (Kap. XVII) ließ ſich nicht bejonderd Neued erwarten. Das iſt längit erjchöpfend behandelt, und unjere Zejer, denen wir O. Harnad3 „Schiller“ und Bellermannd Ausgabe warm empfehlen konnten, brauchten deßhalb das Buch nicht zu kaufen. Aber ich darf hier nicht verjchweigen, daß N. M. Meyer mit gutem Fuge eine fommentirte Ausgabe des Bricf- wechſels fordert, ein anjtändiges Stüd Arbeit, das das Zuſammenwirken mancher frifchen Kraft nöthig machte.

Don Glück mag jagen, wem es gelänge, in Goethes großem Er- ziehungsroman, dem Wilhelm Meijter, dem Schmerzensfinde fo vieler Jahre, den leitenden Faden oder meinetwegen die dee zu finden. Es läßt jich hören, es klingt ganz geiftreih, wenn hier von dem „Roman de3 Dilettantiömud“ geredet wird. Hamlet jei daher Wilhelms Held, der „Dilettant ded Heroismus“. Wäre Hamlet das nad) Goethes Meinung, er hätte ji wahrlich nicht jo viel mit dem problematifchen Kerl be= jchäftigt. Dder hätte gar Goethe fich jelber und jeine abgejchlofjene AJugendperiode al3 dilettirend aufgefaßt? Nimmermehr! Als Werdenden jtet3, als Dilettanten, d. i. den gewordenen Unfertigen, nie. Per alte Goethe hat ji) mit der Firirung des Dilettantismus unendlich, man fann jagen, abgequält, es war jeine letzte kritiſche Inſtanz, und Alles, was ihm hinderlich und antipathiſch war, mußte fich dieſes Stigma ge— fallen laſſen. Aber bereits den Roman als eine beabjichtigt geweſene „Belegiammlung zu dem (jo viel jpäteren) Aufja über den Pilettantis- mus“ anzujehen, das heißt uns zu viel zumuthen. Ein „Meifterwert funftvoller Arbeit“ ift der Roman eben nicht, ald Ganzes nämlich; dazu fehlt nicht mehr als Alles, Gejchlojjenheit und Klarheit der Fabel und Einheitlichleit des Stils, beides verjchuldet durch die langen Pauſen der Arbeit daran, durch das Hineinpacken disparater, inzwiſchen aus ganz anderen Gegenden dem Dichter zugeflogener Epijoden, die fich ald bequemes

524 Rotizen und Beiprehungen.

Bülljel boten, nur um fie doch nicht verderben zu laſſen. Es ijt Daher gar nicht zufällig, daß gerade diefer Roman, der nicht fowohl der Roman des Dilettantismus iſt, als vielmehr im Sinne des älteren Goethe jelber dilettantiſch, das Modellbuh des vagirenden Romantizismus, der künſtleriſchen Zerfahrenheit und Stillojigteit, werden fonnte.e So viel vermag ein wirklicher Dichter jelbjt da, wo er die Poefie zu fommandiren ganz ohnmächtig geblieben war!

Das find böje Kegereien, ich fühl ed wohl, aber, da fie einmal aus der Feder find, jo mag auch noch gejagt fein, Goethe ift wirklich der rec;te Vater der Romantif, und wenn ihm jpäter davor graute und er in den Klaſſizismus, ja bid zu den myjtiichen „Müttern“ flüchtete, die Geijter, die er gerufen, ward er nicht mehr log. Was der Roman nad) feinem Plane hat werden jollen, geht die Literaturgejchichte nicht3 an, facta loquuntur.

Ueber Hermann und Dorothea hat V. Hehn Beljeres gejagt.

Was von den Kenien als einer nothwendigen Abrechnung mit der Mittelmäßigkeit, und was über die neue Blüthe der Balladen gejagt ift, al3 deren Krone die „Braut von Korinth“ gilt (neben dem „Gott und der Bajadere*) wird man als wohlbegründer gelten laſſen. Die „natürliche Tochter“ wird jehr eingehend behandelt, jie gehöre „der ſinkenden Hälfte ſeines Schaffens“ an, aber doch lejen wir ©. 408 die jchönen Worte:

„Nicht Jedem ift ed gegeben, den grenzenlojen Schmerz des Vaters im dritten Alt kalt zu finden oder jelbjt kalt dabei zu bleiben :

Unjel’ge8 Licht! du rufjt mich auf zum Leben u. j. w.

Bei Gelegenheit des „Fauſt“ (S. 418 fgd.) hören wir das gewöhn— liche, mit Verlaub, dumme Zeug über Goethe Che und Ehrijtianen. Was drängen wir uns denn in die allerperfönlichiten Familien und Herzens: angelegenheiten des edlen, herrlihen Mannes und in weſſen nterefie ? Was gehen uns denn die „Goethen geijtig ebenbürtigen Weimarijchen Damen“ an? Da hatte jeine alte Mutter einen gejunderen Sinn.

Fauft. „Gretchen war jchon durd das Fauftbuch gegeben“. So? Wo denn ? Soll etwa Goethes Gretchen in der „ziemlich jchönen, doch armen Dirne* jteden, „die vom Land herein in die Stadt fommen und fi in Dienjte begeben bey einem Kramer“ und die Fauſt ob ihrer Ehrenhajtigkeit zu „ehelichen“ gedacht hatte? (j. Widmann, 21. Kap. ©. 511 des Abdruds im 146. Bd. der Schriften des Lit. Vereins). Hier wird ihm zur Ent- jhädigung die ſchöne Helena aus Grecia als succubus, als Teufelin zu Theil. Uebrigens dachte Goethe jelbit von feinem Mephiftopheles, der eın guter Theil feines eigenen Selbjt war, jehr viel rejpeftvoller, als jein neuejter Biograph. Beiläufig will ich bemerken, die Szene „Wald und Höhle“ deutet Har auf die Anſchauung des Veſuvs dur den Dichter, fie fann aljo nicht jchon vorher in Rom in der Villa Borgheje konzipirt fein. Freilich, es wird der Menſchheit eine Tages ebenjo gleichgiltig jein, warın und wo und unter welchen unmittelbar perjönlichen Antrieben dieſes oder

Rotigen und Beiprehungen. 525

jenes Goethiſche Gedicht, dieſe oder jene Szene geboren ijt, wie e3 uns bei Sophokles und felbjt bei Shafejpeare jein muß. Dann wird es zwar vielleiht Goethephilologie auch noch geben, aber fie wird entlajtet fein von der widerwärtigen Durchichnüffelung aller rein perjönlichen Dinge, ohne deren archivaliiche Aufjpeiherung und gleichfam prozefjualifche Behandlung im fontradiktorifchen Verfahren man ihn nicht zu verftehen ich einbildet.

Sehr geringihäßig wird über die Sonette gehandelt. Den tiefen Klang zitternder Leidenjchaft darin zu vernehmen, ift wohl nicht Jedem ge— geben. Dagegen ift „Pandora“ ein Wunderbares.

Die „Wahlverwandtichaften“ heißen recht gut der dritte Stein des Anjtoßes für die Moralijten neben „Stella“ und den „Römiſchen Elegien.“ Für eine leere Phantafie halte ich die Bemerkung, daß Dttilie auch Züge von Bettinen empfangen habe; juchte man darnad), jo war wohl eher auf Lucianen zu weiſen. Bettinen, wie jie ſich nach Goethes Tode in dem Briefwechjel mit einem finde gab, mag man ja als den „leibhaftigen Genius der Goetheverehrung” allenfall3 gelten lafjen.

Ueber Goethes Selbitbiographie ein abjchließended Wort zu jagen, iſt ganz bejonders gewagt und Schwierig. Der einfache Menjchenverjtand genießt das lehrreihe Buch ohne Anſtoß und grübelt nicht viel über die „Prinzi— pien feiner Technik“ (S. 497). Daß die „Folgerichtigkeit“ in diejes Frag: ment einer doc durchaus idealilirten Lebensgejchichte das wollte ja der Titel bezeugen erit nachträglich hHineingetragen ward, entgeht feinem Aufmerkſamen. Wir bejigen, um an die glatte Folgerichtigfeit dieſes an— geblich jo glüdlichen Lebensganges zu glauben, in Briefen und Gejprächen des älteren und ganz alten Goethe gar zu viele Beugnifje für das viele Störende, Unzwednäßige, Folge bindernde, das ihm im Leben und nicht am wenigiten in Weimar begegnete und ihn oft genug fait zur Verzweiflung bradte. Auch unjer alter Bismard würde wohl bereitwillig bezeugt haben: man glaube ja nicht, daß es ein Vergnügen ift, in Deutjichland ein großer Mann zu jein.*)

Ras Meyer von der Aufnahme des Werkes, zu dem er die Stalienijche Neije hätte Hinzurechnen können, vorträgt, iſt vortrefflidh und das köſtliche

*) Hier ſei nur an die ewigen Berfuche erinnert, die der alte Dichter beklagte (f. Diwan, Buch des Unmutbs 6, Weim. Ausg. 6, 283) „Mid nach- und vmjubilden, mißzubılden, Berfuchten fie ſeit vollen funfzig Jahren . .“ Das Gedichtchen iſt, was man nicht bemerft zu haben fcheint, ein Stüd Sonctt und gehör frmit offenbar in die Jenager Zeit der „Sonctten- wuth“ des Jahres 1807. Uriprünglih hieß es (ſ. ın den Lesarten a. a. D.) „feit vollen vierzig Jahren“. Das flimmt genau auf 1807, wenn man an die Zeit dee Eintritts in Yeipzig und 3. B. an die Frau Hofrätbin Böhme und etwa an Gellerts Stiluitifum denkt. Da Goethe das unfertig gebliebene Sonett für den Tivan bei Eeite legte (in den es erſt 1537 aus dem Nachlaß Auinabme fand), zehn Jahre ipäter denke ih, 1517, jo änderte er die 40 in ?O Jahre und es ſtimmte noch immer, das Herumbefjern an feiner Exiſtenz rig eben nicht ab. 1827 hätte er 60 gejagt.

526 Rotizen und Beiprehungen.

Bitat deö alten Kirchenhiftoriferd Karl Hafe werden auch unſere Leſer mit ihrem „Sa, ja!“ bejtätigen (S. 506):

„Wunderlihe Leute. Als große und grobe Sünder befennen fie ich alle unbedenklich, da8 gehört zu ihrer NRechtgläubigfeit: wenn aber, wenig: jtend von Einen, der nicht ihre Farbe trägt, etwas Menjchliches an den Tag kommt, erheben fie jelbitzufrieden den Stein gegen jein Andenken.“ „Der moralifhe Egoilt Goethe war fertig.“

Die Bedeutung der Divan-Gedichte, ihr ganz wunderbar frijcher Iyriicher Leidenſchaftsgehalt ift m. E. nicht genügend gewürdigt, mag man aud) Manchem zuftimmen, was über den Aitersitil gejagt wird. Gebührend, nach des feinfinnigen, fenntnifreihen Rommentatord G. v. Löpers Bor- gange, find die „Sprüde in Proſa“ gepriefen. Man kann jagen, aud) ſolche Sächelchen, auc wo fie bloßes Zitat find, bedeuten ein Stüd Selbit: offenbarung. Wa3 war doch Goethe auch für ein gewaltiger Leſer! „Wir Deutjchen,“ heißt es S. 547, „wären nicht, was wir find, wenn Goethe uns diejen unjcäßbaren Reichthum an Scheidemünze der Weisheit nicht gejchentt hätte“. Daß Goethe u. A. das Treffendite auch über Purismus oder Sprachreinheit gejagt hat, fehe man ©. 551, 552. (1818 „Deutjche Spracde* in Anlehnung an ein Büchlein des Schweizerd Ruckſtuhl.)

Der Kritik der Wanderjahre können wir zujtimmen, wenn wir aud die Gleihung Melanie-Ottilie-Minna Herzlieb für ein Hirngeſpinſt halten. Uns fehlt das Organ für den myſtiſch-ſymboliſchen Tiefjinn, wie uns denn bei den legten Akten des zweiten Fauſt einfach die Luft ausgeht. Iſt ed abjolut geboten, auch darin erhabenjte Offenbarungen, größte Errungenjchaften des Goethiſchen Geijted zu bejtaunen, jo müßten wir uns getrölten, etwa in einer bejjeren Welt mit den dazu nöthigen Organen audgeitattet zu werden. Für Unfinn halten wir fein Wort Goethes, aber manches mit ihm jelber für „Dalbunjinn“.

Am 31. 7. 1831 hatte Goethe das Lebenswerk, den Fauſt, abge— ichlojjen und eingeſiegelt. Was hat man ſich bemüht und müht ſich fort und fort, die Einheit ded Planes in dem Labyrinth zu finden! Der Goethegläubige nimmt und wohl gar übel, mit dem guten Fr. Viſcher über jo Manches zu lächeln. Darf man nicht der Wahrheit gemäß konſta— tiren, daß nur ein Heiner, befangener Theil der heutigen deutſchen Bildungs- welt mit voller Ueberzeugung dem dod am Ende unhiſtoriſchen Klaſſizismus de3 alternden Dichterd noch anhängt, der wunderlichen Myſtik und Sym— bolit*) des Greijes aber faum nocd ein Unbejangener?**)

*) An einem Briefe an Schelling 29. 11. 18.3 (ſ. Romantiferbriefe 1, 236) „Können Sie ihm [dem Maler Martin Wagner] den Unterſchied zwiſchen allegorifher und jymbolifher Behandlung begreiflihd machen, jo find Sie jein Wohlthäter, weıl fih um diefe Achſe jo viel dreht." Hat aber Goethe felber der öden Allegorie fi) dauernd enthalten ?

Der verehrte Herr Mitarbeiter geſtatte mır an diefer Stelle, nicht jomobl als Redalteur, fondern als Leer, der wie jeder ganze Deutſche feine

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Notizen und Beiprehungen. 527

Kann man nicht jogar felber ein Bißchen Goethe-Philolog jein, was ja ohne Zweifel verdienjtvoll ijt und bleibt, wie jede Wiſſenſchaft, und dod) fi von der fonventionellen Pflicht entbunden fühlen, aus feinem Herzen eine Mördergrube zu mahen? Soll Goethe nit fort und fort Die AJugend anführen als xpwroxommn;, jo wäre er reif für den langen Mus mienjaal der Literaturgeſchichte. Wanderjahre und der letzte Faujt mag man ja als Parallelwerke in formaler Hinfiht betrachten. Einen Haupt> geſichtspunkt aber vergefje man nicht: Goethe hat mit diejen legten Alters— produften auf die Mitlebenden nicht mehr einwirfen wollen noch fönnen ; fie find Appell an die Kommenden, find Vermächtniß. Und gewiß, als jolches und eines foldhen Geijtes, unſchätzbar, aber gleihwohl auf Die eigentliche Abficht aller lebendigen Kunſt verzichtend. Kunſt ijt nun einmal Jugend und Gegenwart, das Hinüberahnen in ferne Gejchlechter iſt und bleibt jenil. Wollte man es zur allgemeinen Marime machen, das „denket an die Nachwelt !*, wir fürchten, außer wenigen vom Größenwahn: finn Gepadten würfen die Maler ihren PBinjel, die Bildner ihren Spatel, Dichter und Schriftjteller die Feder in die fernjte Ede und würden lieber Bierwirthe oder was jonjt feinen Mann ernähren mag.

Die geehrte Nachwelt wicd ſich ganz ohne unjer Gebet und Zuthun ausjuchen und aneignen, was fie brauchen fann. Für den Wirkenden ift Gegenwart Alles.

Der Verfafjer beklagt, daß der „reis der wahren Goethe-Gemeinde* täglid) enger werde. Darin irrt er gewiß. Nur, wenn er an Menden denkt, die ihr ganzes Leben auf nichts Anderes wenden mögen, als auf die Erforjchung dieſes Einen, mag er Recht haben.

Nun bin ich doch leider geichwägiger geworden, als ich gewollt hatte. Noch Manches bleibe in petto. Nur noch zu guter Lebe (nicht zu guter Legt !): Rich. M. Meyers „Goethe“ ijt ein gutes, leſenswerthes, an— regendes, geiitvolles Bud), das bejtens zu empfehlen bleibt.

Weimar, Anfang Oktober 1899. Franz Sandvoß

(Xanthippus.)

perſönliche Stellung zu Goethe hat, hier eine Anmerkung zu machen. Ic denle über den zweiten Theil des Fauſt und feine Symbolik ganz anders. Ich glaube, daß der innere Zuſammenhang und der Gedanken gang feineswegs fo ſehr ſchwer zu verjtehen ift, wie das Dito Harnad einmal in diefen Jahrbüchern (Bd. 68) ausgeführt hat und daß, nachdem man den Faden einmal gefunden, die Symbolik des Einzelnen wie des Ganzen voll der ticffinnigiten Offenbarung if. Ich babe der Auf führung, die vor etwa 15 Jahren Devrient in Berlin veranftaltete, jo oft ich konnte, beigewohnt und war jedesmal ganz überwältigt von dem Eindrud. Delbrüd.

528 Rotizen und Beſprechungen.

Volkskundliches.

Allgemeine Sammlung niederdeutſcher Rätſel. Herausgegeben von Rudolf Eckart. Zweite völlig neu bearbeitete Auflage. Göttingen, Verlag von Franz Wunder. 148 ©. Fl. 80.

Volksthümliches aus dem Königreich Sachſen auf der Thomasjchule gejammelt von Dr. Oskar Dähnhardt. Leipzig, B. G. Teubner. 1898. Erjtes Heft VII und 102 S. Zweites Heft 156 ©. 8°.

Unjere Pflanzen. Ihre Namenderklärung und ihre Stellung in der Mythologie und im Bolfsaberglauben. Bon Dr. Franz Söhns. Zweite Auflage. Leipzig, B. ©. Teubner. 134 ©. geh. 90 Pf., geb. 1,15.

Das deutjhe Volkslied. Ueber Weſen und Werden des deutſchen Bolkögelanges von Dr. 3. W. Bruinier. Geh. 90 Pf., geichmadvoll geb. 1,15 ME.

Anthologie au der ajiatijhen Volk3literatur, herausgegeben von U. Seidel. Weimar, Emil Felber 1898. 395 ©. gr. 8%. (7. Bd. der Beiträge zur Volks- und Völkerkunde.

Rudolf Edart, auf dem Gebiete niederdeutiher Sprachforſchung längit als unermüdlich emjiger und forgjamer Forjcher befannt, 3. B. durch die große Sammlung niederdeuticher Sprihmwörter und volksthüm— liher Redensarten (Braunfchweig bei Appelhans und Pfenningstorff 1893), bietet uns jeßt in feinem Heinen Büchlein doch wohl jo ziemlich den ge— jammten Umfang und Inhalt der volksthümlichen Räthjeldichtung, zu dem ſich allerdings noch vielfahd Varianten werden nadtragen laſſen. Der allgemeine Charakter iſt wohl Einfachheit und Derbheit, auf urſprünglich poetijcher, oft wahrhaft genialer Anjchauung oder Nalurempfindung bes rubend, nicht auf Klügelei, manchmal dem Natürlich-Gejchlechtlichen jo wenig ängſtlich ausweichend, daß vielmehr auch darin ein wejentlicyer Be- Itandtheil des Bauerwitzes beruht, wohl einmal zotig, doch nicht lüſtern und pridelnd. In vielen ijt die Pointe überrajchend witzig. Manche, voraus die luſtigen Räthjelfragen, find uralt, wie das Räthſel der Sphinz, das Dedipus zu löſen hatte. So wird 3. B. gefragt, „Warum jind es ohne die heilige Urjula grade 11000 Jungfrauen?“ Die nedijche Antwort muß man gelten lafjen: weil es ja bloß 10499 wären, wenn eine davon geheirathet hätte. Das mag der Logiker einen circulus vitiosus oder eine petitio prineipii jchelten: es find 11000, weil es eben 11000 find, das Volk hat feinen Spaß daran. ch Habe ja nicht nach der Zahl gefragt, kann der Fragende jagen, jondern nad der Jungfräulichkeit der 11000, und die beiteht doch darin, dab fie ehelos blieben. Wie geiftreich it die verblüffende Frage, was ijt das Klügſte und was das Dümmijte im Haufe? Jenes das Sieb, das den Staub fallen läßt und

Notizen und Beiprehungen. 529

das Korn behält, dieſes das Seihetuch, das die Milch durchlaufen läßt und den Schmuß behält. Kaum als Näthjel, vielmehr als wunderbar feine pſychologiſche Beobachtung der Bauernatur wird man betrachten: „Was iſt des Bauerd letztes Wort?“ ©. 115 giebt ed in platideutfcher Form: „Lat’t wejen (läß nur fein), Mudder, ick heww mi jo ümmer flitig tau Kerk un Gottd Wort hollen.“ Wenn man fidy nicht auf Niederdeutjichland beichränkte, die älteren Schwankbücher und die lebende Volkstradition, Süd- und Südweſtdeutſchland heranzöge, aber auch jtreng das bloß Literariihe und den Zotenwitz der Städte, der fich eindrängt, das bewußt Erflügelte ausſchlöſſe, ſo füme man auf ein erweitertes gemeindeutjches Räthſelbuch, wie e8 bereits Simrod gegeben hatte. Unſer Büchlein vers dankt jehr Vieled der von uns früher bejprochenen Sammlung Woſſidlos: Volksthümliches aus Medlenburg.

Die Dähnhardtſche Sammlung von Kinderliedern, Kinderreimen und -Geſchichten, Aus der Schule, Verkehr mit der Natur, Spott- und Nedreime, Auszählen, Bettelreime, Spiele, Das heilige Jahr und dergl. (wir heben nur Einiges heraus) bietet und, wie der Verfaſſer mit Stolz betont, nur ganz Unverfälichtes. Um das zu fünnen, dazu bedarf es großer Hebung und Sicherheit im Erfajjen des Bollsthümlich-Echten, in unjerm Falle dazu noch bejonderd pädagogischen Tafted, injofern er die eigenen Schüler zur Mittheilung ihrer Erfahrungen veranlaßte. Da Dähnhardt, der jeine Sammlung im Dienfte des Vereins für Sächſiſche Volkskunde unternahm, ein Schüler und Freund des trefflihen Rudolf Hildebrand (geb. 13. 3. 1824 in Leipzig, geit. 28. 10. 1894 dafelbit) war, jo wurden ihm die wichtigen Nachlaßpapiere des auf diefem Gebiete hervorragend Bewanderten zugänglid), und er fonnte und die jchönjte Bugabe II, 95— 156 „Bollsthümliches aus dem Nachlaſſe R. Hildebrands* bieten.

Unverfäljcht volksthümlich, das it doch bälder gejagt als geleijtet, wenn die Quellen jo ganz modern und nicht bloß der Singemund der Land— finder, ſondern auch jchon die najeweile Verquatichungslujt ded große ftädtifhen Knaben fein muß. So findet fih Hier 1, Nr. 140 zwar die ganz gejunde und nützliche Abweiſung der Ueberhebung des Städterd® in dem befannten Neime: „Meine Mutter Hat gejagt“, nämlid):

Aus der Stadt, da mag ich fene, Die hamm alle frumme Bene, Die finn Alle liederlich,

Laſſ'n de Arbeit hinter ſich.

aber doc unmittelbar davor (Nr. 139) der halb hebräiſch Elingende Rath:

Nimm dir Ene aus der Stadt, Die e paar 1000 Thaler hat.

Preußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIIL Heft 3. 34

530 Notizen und Beſprechungen

Die erjtgenannte Mutter hatte e3 bloß auf äußere Nettigleit abgeieben („die gewichite Stiebeln hat“). Eine Rubrik „Reiterlieder” ift injofern nicht richtig, ald es fi) um bloße Variationen de einen kindlichen Reiter: liedchens Handelt.

Auch dieſe Verschen, wie die Volksräthſel, von denen wir eben jprachen, muß man nicht in ihrer lofalen Bereinzelung belafjen, jondern das Ver— wandte in anderen Landesgebieten daran jtellen. So haben die Freunde vom Verein für niederdeutjche Spradjorihung das fogenannte Ver— wunderungslied (auch Ligenlied genannt) mit dem Refrain „Wunder über Wunder“ durd viele Landichaften verfolgt. So dürfte, ja jollte man es mit Vielem thun, ich erinnere bier an den Wundjegen, mit dem weinende Kinder nad) einer Verlegung beruhigt, hypnotifirt werden. Zu Nr. 33

Heile, heile Segen, Drei Tage Regen, Drei Tage Schnee, Nun thuts Schon nicht mehr weh.

ließen ſich leicht Dußende von Parallelen jtellen, bejonderd auch jolchen, worin die Heilkraft in der Erregung angenehmer Vorftellungen in der Phantafie des Kindes gefunden wird, das Kätzchen auf (oder unter) der Stegen, das Mäuslein auf dem Dad oder im Loche fehlt dann nicht leiht. Sogar der „richtige Berliner“ kennt noch jein „Heele, Kätzken, heele!“

Bei den Spielliedchen brauchen wir den Kundigen doch nicht vor der großen Gefahr erſt zu warnen, welche aus den rationaliſtiſch unkindlichen Faſeleien der Fröbelſchen Kindergärtnerei entſtehen muß. Räthſel giebt es hier im J. Hefte S. 61 ganzer vier, im II. S. 48 auch noch vier! Das iſt doch auffallend wenig. Die kleinen Thomasſchüler wiſſen ſicherlich ihrer viel mehr:

II. Nr. 241 fährt der „Eäne Amor“ ganz hochmodern „Ber Velozipet“ (=hätt').

Interejjant ift dem Germanijten in jpradlider und mythologiicher Hinficht viel mehr in diejen trümmerhaften Ueberlieferungen, al3 bier an: zudeuten, geichtweige zu verfolgen wäre. Wenn ich den „Hammer“ in I. Nr. 219 und Nr. 224 (hier wie ſchon 174 und 225 geht man mit Doktor Quther recht gröblich um!), den blanfen Hammer in der dunfeln Kammer*) zu Thor Donard Gewitterhummer jtelle, jo dürfte das nicht allzugewagt fein, wenn ich aud im Allgemeinen nicht dazu rathe, jich auf Grund folher Trümmer in Kindermund in allerlei Bhantajtereien der Heinen Mythologie allzueifrig einzulafjen. Es wird de Guten darin grade genug gethan, und ſelbſt ein jo ernjter und bejonnener Forjcher wie Rud.

*) Nr. 225 ift dann feine Mutter, die den Donnerhammer gegen Boltor X. bandhabt, offenbar des „Teufels Großmutter“,

Rotizgen und Beſprechungen. 531

Dildebrand it nicht immer von der Sucht frei, zu tiefen Sinn im Eindjchen Spiel zu ſuchen. 1, 85 bei Gelegenheit des jehr merkwürdigen Gebetes der Mädchen an den heiligen Andreas, der jeinem Namen gemäß der Patron der männlihen QTüchtigfeit (vöpeiz, virtus) jein muß (in der Nacht zum 30. 11.) wird offenbar irrig der Tert:

Ic bitte dich, du wolleft mir laſſen erjcheinen Den Herzallerliebjten meinen

In feiner Gejtalt, in feiner Gemalt,

In feinem beiten Habit ...

geändert zu „in meiner Gewalt“, weil er ja dann nicht unter den Pantoffel käme. Das kann aud nicht die Abficht der gläubig Betenden fein, wenigjtend würde fie dem Heiligen nicht mit jo unheiligem Anliegen fommen. ber in jeiner ganzen männlichen Herrlichkeit will jie fein Bild jehen.

Das Erbeblichite des II. Heftes bieten in der That die Mittheilungen aus Hildebrands Nachlaß. Recht nüglich für junge (und ältere) Poeten fönnte 3. B. des Meijterd Belehrung über unjere natürliche alte Metrik und Rhythmik jein (S. 100 fgd.). Die hat freilich mit den Trogäen und Jamben der Schulmetrif nicht gemein und zu zweifeln ift nicht, „daß in dem poetijchen Leben der Kinder eben weil es Tradition ift auch in fo äußerlihen Dingen Fäden aus der Urzeit her bis in die Gegenwart fich fortipinnen.“ *)

Auch das ijt richtig, was Hildebrand ausführt: der Sinn der Kinder— reime, jo luftig fie im Spiele fein mögen, gebt oft wohl ganz in die Brüche, aber es bleibt doch auch bie und da ein unverſtandenes Trumm des Ur— jprünglichen darin haften. Wir erinnerten jchon an Thors Gewitter: hammer. Cine ganze Reihe ſolcher Kinderjpiele find Dornröschen-Spiele und Dornröschen ijt feine Andere als die alte Walküre Brunhilde (vgl. S. 117 fgd.). „Ringel, Ringel, Dorne, Wer fißt in unjerm Korne?“ (in diejem Korn). Das S. 118 (Ortsangabe fehlt) gegebene Liedchen: „Kling, Eang gloria! Wer jißt in diefem Thurm“ hört ich 1856 in Halle fingen. Hier ift der Thurm wichtig, denn auch vorher ift das Korn an die Stelle des unverjtandenen „wer figt in diefem Torne* ges treten. Daß das Keſſellied aber ein Hochzeitölied fein joll, leuchtet nicht ein. Dffenbar wird der Keſſel nicht gebaut, allenfall3 eingemauert, und für „Bauer, baue Keſſel“, das Hildebrand als Herdgründung faßt, möchte man vermuthen: „Braue, braue, Kejjel!* Aber wie, wenn Keſſel gar fein Mefjel wäre, in den die „weiße Taube“ fällt, jondern der Name des

*) Iſt es nicht ein noch ungelöftes Räthiel, wie eine im Ganzen für höchſt gebildet geltende Nation im Zheater den fogenannten fünffübigen Jambus vier Stunden lang ertragen kann? Möglich ijt es vielleicht nur dadurd, daß unfere Schaufpieler den Vers Bers fein laſſen und lediglich eine rhythmiſche Proſa ſprechen.

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532 Rotizen und Beiprehungen

Bauerd, den man tröften will: „Morgen wird es befjer“, aljo Geßler d. i. Gifelher? Dazu itimmt ©. 108 Nr. 6.

Da heißt e8: „Wer fit drinne? De alte Kejjelrinne” Natürlich it das dann die alte Geßlerin, (Hild. fragte „eig. Keßlerin?““ Die Variante „Eine große Spinne” würde ſich als die böfe Mutter des Bauers Geßler ergeben. Das Einfallen des ganzen Keſſels ließe jich wieder auf eine ganz andere PVorjtellung beziehen. Man redet vom Cinfallen des Badojens, wenn das Kind geboren ijt und ©. 109 heißt e& in Osmaritz bei Jena: „Wer figt drinne? Der Kaijer (Geißler?) mit dem Rinde.“ Dan fieht mwenigjtend, auch wenn es nicht gleich gelingt, dem Unfinn des kindlichen Spieles jeinen Sinn abzufragen, es muß ihn urjprünglih ge- habt haben und jchon das ift ein wichtige Ergebniß wifjenjchaftlicher Be— ihäftigung mit diejen Dingen, in die oft ein bloßer Zufall, dad Belannt- werden einer Variante, plößliches Licht bringen mag. ©. 112 iſt die „goldene Brücke“ jicherlih richtig al8® die himmlische Regenbogenbrüde Bifröſt gedeutet. An dem Spielliede auch dieſes hört’ ich oft im Halle „Wir treten auf die Kette“ verzweifelte Hildebrand. ©. 129 oben find die „drei weißen Mädchen“ mythologiſch als die drei Nornen zu fafjen (fie haufen no) in mandjem „Jungfernholz“).

Die Dritte jchließt den Himmel auf Da gudt die Mutter Maria (oder die liebe Sonne) "raus.

Zu ©. 146 (S. 209 Schwandfedern bekommen) bemerfe ich, daß bei der Nedensart an den Vogel, den Schwan, dod nur jo weit zu denken iſt, ald die Volldetymologie des Worte® „mir ſchwant“ es wohl thut, die aber nicht zu wiljen braucht, daß es ſich um „zufammengewachjenes „es wänet mir“ handelt. „Unjer Jahrhundert darf nicht fchließen, ohne das eine wirklihe eingehende Kenntniß des Volkes in den weitejten Kreijen wenigiten® angebahnt wäre”. Diejes Wort Elard Hugo Meyers. das Dähnhardt fih zum Motto gewählt bat, wird nod auf lange hinaus rüjtige Arbeit erfordern.

Das hübſche Büchlein „Unjere Pflanzen“ liegt bereits in zweiter Auflage vor. Die Tendenz der Arbeit, die Kenntni der alten deutichen Namen unjerer Flora wieder zu Ehren zu bringen, fann der Schule nur höchſt willfommen fein, denn eigentlich e3 ijt doch eine unfinnige Zumuthung an deutjche Kinder, daß fie den oft recht zujammengequälten wifjenjchaftlich- internationalen Namen (man tauft ja Pflanzen wie die Nennpferde und Nafjehunde) allein erfahren jollen, und ihnen der jchöne poejievolle heimijche, der. auch wo er unverjtanden bliebe, die Phantafie und das Sprachgewiſſen anregt, verborgen bleibt. Daher war zunächſt die Schule anzuregen, ihr der tiefe Bezug darzulegen, der zwijchen Pflanzennamen und religiöjen Vorſtellungen, ſowohl uralt heidnijchen, als jpäter chriftlichen, der alten Bolfsheiltunde und vielfältigem Aberglauben, das ijt eben

Rotizen und Beſprechungen. 533

Glauben ded Volkes, beſteht. Dad Buch bedarf nicht mehr unjerer Empfehlung, jo friih und anregend iſt e3 gejchrieben, der guten Sache aber würde e3 förderlich fein, wenn die deutichen Schul- und Kirchenräthe, zu Deutſch Minijterien des Kultus u. j. w. die Lehrerbildungsanitalten anweiſen wollten, diejen vernünftigen und leider jo lange jchmählich ver— nachläſſigten Weg endlidy zu betreten. Es kommt garnidyt darauf an, daß man gleich überall eine unwiderſprechliche Erklärung der alten bdeutjchen Wörter vor ſich habe, die fehlt uns ja auch zunächſt bei unjeren eigenen PBerjonennamen und wie jteht es denn mit Hunderten, ja Taujenden der tagtäglich gebrauchten Wörter unjerer lieben Mutterfpracdhe überhaupt? Das erite Erforderniß ift Kenntniß des thatſächlichen Beſtandes, dann Weckung des Sprachgewiſſens, das in dieſem Falle zu einer ſchönen Einführung in die Phantaſiethätigkeit des Volles wird. Wer aber eine gründliche Kenntniß der deutſchen Volksart erſtrebt, darf, auch ohne Botaniker zu ſein, an dieſem bedeutſamen Wortſchatze nicht achtlos vorübergehen. Selber der Goethephilolog wird hier (S. 6) Goethen als beſonderen Verehrer des Veilchens und Verbreiter der Vorliebe für es kennen lernen, der nach Pindars Vorgang ſein geliebtes Im —Athen, iostéphanos, die „veilchen— umkränzte“ Stadt der Muſen, benannte.*)

Für den Fall einer dritten und hoffentlich fernerer Auflagen möchten wir dem Verfaſſer rathen, ſich mit einem ernjten Germanijten in Ver: bindung zu jeßen, damit er nicht weiter die ältejten etymologiichen Märchen verbreite.

Auh 3. W. Bruiniers begeijterte und kenntnißreiche Einführung in das deutjche Volkslied ift als ein höchit wackeres Büchlein zu begrüßen. Der Berfajler erkennt jehr richtig, dag leider! Gott jei’3 geklagt! an der Ermwürgung guter alter deutjcher Volksart und Sitte, die in der „Spinnjtubengejelligfeit“ einen jicheren Port für die Pflege des Volks— geſangs beſaß, nicht ſowohl die wirthichajtliche Entwidelung die Schuld trägt, als die löblichen Ort3behörden und da3 verehrlide Pfarramt. „Kampf gegen die Brutftätten der Unzucht“, hieß ed. Was jchon der wider den „Aberglauben“ wüthende Rationalismus und der poejiefeindliche Hoch— mutb der bürgerlichen „Bildung“ an unjerm Volke, dad num Pöbel ge- jcholten ward, gejündigt hatte, das jeßen noch immer Amtsvorſteher und Gendarmen fort, nachdem der Herr Pfarrer längjt eingejehen, daß jeine Vorgänger auf dem Holziwege gewejen waren, daß vielmehr zu hegen und zu pflegen wäre, was jene unterdrüden wollten. Nur der ım Wirthshaus efiende und der haufirende Menſch flößt dem Staate noch Ehrfurcht ein,

*) Nebenbei bemerkt, den Namen „Goethe-Veilchen“ hab ich bier in Beimar nie nennen gehört. Er gehört wohl in die Legendenpoefie. Ob das altgriehifche :ov das heutige Veilchen war, ift jehr fraglich, wenn aud die ſprachliche Gleihung nicht anzujehten if. Man denfe nur an die Levkoje, die ja das weiße Veilchen fein müßte (Azuzöwv).

534 Rotizen und Beiprehungen.

die Tingeltangel der Großftädte und ihre Tanzböden find feine „Brut- jtätten der Unzucht“.

Eine jtrenge Scheidung von Volkspoeſie und volfthümlicher Kunſt— poefie bejteht in der That nicht, und wie heute Goethe, Ubland, Eichendorff, Hauff, W. Müller, Scheffel allgemein gefungen werden, denn Lied ijt nur, was fingbar ift, jo war e8 auch fchon in alter Zeit. Das Volk als Kollektivum dichtet natürlich nicht, immer nur ein Indi— biduum, nur kommt e3 auf feinen Namen nicht an. Auch der frühere höfiſche Kunftdichter ftand weit ab vom Sänger, er war aber ein Schreiber.

Der Verfaſſer erweijt ſich als guten Kenner aller Reſte mytholo- gijcher Ueberlieferungen, ein Schüler Salob Grimms und Müllenhoffs, einer heute ungebührlic) vernadhläffigten Wifjenihaft.*) Mit Bilmar, der große Verdienjte um den Volksgeſang hat, iſt Bruinier doc nicht durchaus einverjtanden; ihm gilt als Hauptfriterium, daß ein Lied als wirklicher Gejang, und zwar Chorgejang, im Volke lebe. Dabei fällt mit Vielen Opih ganz aus, der dod) „Arien“ genug gedichtet hat**), und jelbjt Schiller jcheint nicht einmal volfsthümlih, da Schule und Theater hier wenig ind Gewicht fallen. Und ohne Zweifel fteht Goethe jeinem ganzen Weſen nah dem Volksthum viel näher. Der Volkston, immer auf ernjthaftem und wahrem Empfinden beruhend, hat mit Bänfeljänger: thum, mider dad die Polizei nicht3 einzuwenden hat, denn die Bahrenden jind ja Steuerzahler und „Artiften“ gar nichts gemein (. ©. 46).

Die an der Hand R. Kögels gegebene Entwidelungsgefchichte des deutichen Volksgeſangs ijt furz und Har. Als einzig erhaltenes Beijpiel für das Lied des Stop oder Skof (Schoph) muß das jchon recht „zer: jungene* Hildebrand3lied gelten. Die jpäteren Spielleute find nicht mehr, wie der alte Stop, jelbitichaffende Dichter, jondern nur noch wieder: holende Sänger. Nach der langfamen Verſumpfung bricht mit der Re— formation auch auf diefem Boden ein herrlicher neuer Frühling hervor, „es geht ein friiher Sommer daher.“ Dagegen bleibt das politifche Lied des jechzehnten Jahrhunderts gereimte Leitartifelproja.

©. 108 fgd. wird von der Ballade oder Märe gehandelt. Woher weiß der Verfaſſer, daß die Todtenrittmäre (Leonore) in ferndeutjchen Gauen niemald jei gejungen worden? Ich glaube auch nicht, da das Volk eben nur „Schickſale von Durchſchnittsmenſchen“ wolle (118). Nein, dad Wunderbarjte und Poetiſchſte geichieht eben und geſchieht alle Tage noch, und gejchäh’ es eined® Tages nicht mehr, dann verfiegte allerding®

*) Dafür bat fie fi bei den jprachvergleihenden Linguiften zu bedanten, die ſich aller Biftorifhen Zeugniſſe zu entſchlagen gewohnt find.

**) Doch verdiente, menigftens in Studentenkreifen, 3. B. das hübſche „Ich empfinde faft ein Grauen“ (ſ. Poet. Wälder; Biertes Bud, Nr. XVII) Beadhtung.

Notizen und Beſprechungen. 535

der Quell der Poejie. Abweiſen muß ich daher die jeltiame Meinung (124) „Sobald da3 Volk zu fühlen beginnt, daß, was es befingt, frembdartig ijt, wendet e3 ſich davon ab. Es liebt ſich jtet3 die vollen frijchen Wangen. Und da unjere Zeit natürlich und Gott fei dank (NB!) nur noch wenig Märenjtoff bieten kann, ıjt neues Leben für diefe Lied» gattung nicht wahrſcheinlich.“

Merkwürdig ungünjtig läßt der Verfaſſer fih aud über Walther von der Vogelweide aus, der ihm zu höfiſch- unvollsmäßig it. ©. bei. S. 151. Die vielverbreitete Form des „Morgenliedes* findet auch wenig Gnade, und gegen die jogenannten Neidharde iſt er entichieden ungerecht, wenn er fie ald Sanhagellied abthut.

Die „Aſiatiſche Anthologie” von U. Seidel, dem Herausgeber der Zeitſchrift für afrifanijhe und ozeaniiche Sprachen, führt und zwar weit von dem heimischen Volksboden fort, verbleibt aber im reife des Volksthums, und zeigt und auch in weitejter Ferne ganz überrajchend Verwandtes. Died gilt nit nur von gewifjen Märchen und Novellen= ſtoffen, die in der That etwas Internationaled oder Allgemein-Menjchliches find, jondern noch mehr von vielfältiger Spruchweisheit. Die früher allgemein angenommene Anficht, daß folches Literarijche® Gut, wie nad) V. Hehn Pflanzen und Hausthiere, in jahrhundertelangen Wanderungen langjam von Aſien (Indien, Perſien zumeijt) in die europäiſche Kultur: welt jei hinübergepflanzt worden, hat man neuerding® zum Theil wohl aufgeben müfjen, da jich nachweijen ließ, daß griechiiche ganz individuelle Dichtererfindung umgekehrt nad) Arabien und Indien gelangt war. Wer will jagen, wo zuerjt das befannte Bismardmwort jei geprägt worden: „Wir Deutiche fürchten Gott und fonjt nichts in der Welt“? ine Lebens beichreibung Aleranders ded Großen, die auf altgriehiihe Quellen zurück— geht, giebt es jchon den imdifchen Gymnoſophiſten, den Fakirs, in den Mund. Und in gauz derielben Weiſe antwortete der jpätere König Philippus V. von Macedonien dem Römer Flaminius auf die Frage, was er denn fürchte: „Fürchten? Niemand außer die Götter.“ Biel älter, als Erommell und alle die Modernen, bei denen man das Wort nad)- träglich aufgejtöbert hat, war aud die lateinische Form: Tutissima res timere nihil praeter Deum, die Gruterus (1610) aus dem Publilius Syrus oder den Sentenzen des Seneca jo gab. Wundern wir uns aljo noch, in der Aſiatiſchen Anthologie S. 18 als turkeſtaniſch zu finden: „Wer Gott fürchtet, wird die Leute nicht fürdten*? Heinrich Theodor von Schön (f. Preuß. Jahrb. 5, 11) Hatte zum Wahlſpruch ermählt:

Thue dad Gute und wirfs ins Meer, Siehts nicht der Fiſch, ſieht es der Herr.

Nah ©. 342 unjered Buches wär’ es perſiſch: „Thue Gutes und wirf es ind Meer.“ Aber ſchon ©. 121 lejen wir ed (nach Bämbery,

536 Rotizen und Beiprehungen.

der wohl eigentlih Bamberger heißt), ald özbegiſch: „Thue Gute und wirt e8 in den Fluß, der Fiſch fieht es jchon; und follte der Fiſch e3 nicht finden, Gott fieht es ſchon.“ Wer vermag und zu jagen, mo zuerjt jo ein Wort mag gejproßt fein, wie ©. 87 das türkiſche: „Man hat den Eifel zur Hochzeit geladen; ohne Zweifel hat man Waſſer oder Holz nöthig.“ Es war und Deutichen längft gäng und gäbe (ſ. 3. B. Agricola (1529) „man ruft den Eſel nit zu Hofe, dann er Säcke tragen ſoll“. |

Wenn dad Wort „Die Mauer hat Ohren“ özbegiſch ijt, jo mußte doch auch der alte Mimograph Publ. Syrus bereit: Nullum putaveris esse Jocum sine teste, das Reinmar von Zweter bereit3 wie ein deutjches Sprichwort verwendet: „walt hät ören, velt hät gesiht.“ So jpäter Agricola 748: „Der waldt hat oren vnd das feldt augen“, dazu das lateinifche: Rure valent oculi, densis in saltibus aures, was natürlich bloß nenmodiſche ſchiefe Ueberjegung iſt. Der treffliche Heniſch (1618) bietet dad hübſche alliterirende Wort (nad) Bebel) „Die windel und wäld haben ohren“.

Bekanntlich verbittet ji) Walther v. d. ®. die unverjchämte Zu: muthung, zu „harpfen in der Mühl“. ©. 225 erfährt man, daß auch der Ehinefe jagt: „Er bringt eine Guitarre in die Mühle und fpielt dem Ochſen etwas vor (mo, nebenbei bemerkt, die Gloſſe ded Herausgebers „Perlen vor die Säue“, höchſtens auf den Zuſatz pafjen würde, der eine jelbjtändige fprichwörtliche Redensart ift, wie „den Fiſchen predigen“ oder „jein Leid dem Steine Hagen“). In vielen Fällen wäre cber, auch für allerlei afiatifche8 Volk, gradezu die Bibel, die reihen Sprudjammlungen, die auf Salomond Namen gehen (Proverbia, Ecelesiastes, Sapientia) und Jeſus Sirach ald wahrfcheinliche Duelle zu bezeichnen gewejen, z. B. mas über die Gewalt der Zunge überall zu klagen war, das brauchte man nicht erjt bei den Neugriechen zu juchen, wie Anm 49. 50. geſchieht. Herr A. Seidel hätte das Wort auch bei unjerem Freidant (164, 17) finden fönnen (nad) Ecclef. 28, 21):

Din zunge diu enhät kein bein, und brichet doch bein unde stein.

Welches Volk hätte nicht das auch bibliihe Wort von der Grube, in die der falle, der fie dem Andern gegraben? Oder wo wäre nicht aud) befannt, daß eine Schwalbe noch feinen Frühling oder Sommer madit, daß die Nofen eben auf den Dornen jtehn? Das ift Samenzumehung von Hunderten von Pflänzlein, deren Urheimath der Botaniker lange ſuchen jol. Man kann ſolche Dinge getroſt Weltwiß nennen. Es wird darauf ankommen. welches Kulturvolk das Meijte von dieſem köſtlichen Erfahrungs: itoffe der Welt zu jammeln, aber auch zu verdauen und neu zu prägen und auszugeben verjtehen wird.

Rotizen und Beiprehungen. 537

Aufgefallen ift mir bei dem Sammler, der in diefem Fall der Ver: faſſer des Abſchnitts jelber ijt, die Unfreundlichkeit, mit der er die Perſer behandelt. Ic ſollte meinen, man habe e8 hier doch nicht ſowohl mit den Lebendarten der heutigen Perjer zu thun, als mit einer doch immerhin höchſt reipektablen uralten Kultur, deren ethiiher Gehalt ja nicht allemal dem Fremden in lebendigen Paradigmen begegnen mag. ES fehlt bier ſcheint mir, jeder Reſpekt vor dem religiöjen Boden, auf dem die jo bitter gloffirten Marimen ded Volkes doch ruhen, z. B. wenn der jchöne Rath, ſich durch Almojen eine Anwartſchaft auf den Himmel zu erwerben, als gemeinpfiffige Eelbjtverfiherung verläjtert wird, aud der oben erwähnte Sat jogar von der Wohlthat, die man ind Meer werfen jolle. Was haben die Perjer Herru Seidel gethan?

Daß auf Grund jo vieler, an Werth freilich jehr ungleicher Reiſe— werfe und wifjenjchaftlicher Behandlung der mannigfachen afiatijchen Lites raturen ein buntes Wllerlei entjteht, das lehrreich und interefjant ift, braucht faum gejagt zu werden. Semiten, die Nord: und Südkaufafischen Stämme, Kurden, Armenier, Griechen, Perſer, Ajghanen, Inder; die übrigen Stämme Indiens, Malayen, Mongolen, die nordafiatijihen Kultur— und Naturvölfer ziehen in bunten Bildern an und vorüber.

Die Genauigkeit der MUebertragungen in all diejen Sprach-Probe— jtüden zu prüfen, find wir durchaus unzulänglic und dad Meijte wird der Sammler jelber auf guten Glauben übernommen haben. In den poetiihen Stüden hätten wir jedoch eine etwas forgfamere Behandlung unjerer eigenen Sprade gemwünjcht. Lieber jchlichte wortgetreue Proſa als ſolche Verſe. Wohin ift die jprachgewaltige Aneignungsfraft Rückerts oder Fr. von Schacks gelommen? Ja jelbit der poejiejchwache Bodenjtedt, er war doc och immer ein gewandter Geiltänzer der Form. ©. 225 lejen wir 3. B.:

R „In der Liebe Netz gefafjen Irr' ich wire im Kreis herum, Soll ic) lieben, joll ich haſſen“ u. ſ. w. Der Nachdichter flektirt aljo das gute Verbum „fallen“ nach Unulogie des reduplizirenden „lajjen“: „ich falle, fieß, gefaſſen“!! Es fchmerzt, zu erfahren, daß dieſe Birmanischen Lieder S. 221-230 dem Werke Bajtians über Birma entnommen find.

Weimar, Anfang Oftober 1899. Franz Sandvoß (Xanthippug).

538 Rottzen und Beiprehungen.

Die neueſte Shaffpere-Literatur. Bon Hermann Conrad (Groß,vLichterfelde).

1. Umfajjende Werte.

Die hervorragendite Beröffentlihung der legten Zeit it Sidney Lees Shafjpere:-Biographie*. Lee hat jeinen jehr umfangreichen, auf zwanzigjährigen Studien beruhenden Artikel über Shafipere in dem von ihm herausgegebenen „Dictionary of National Biography“ mit einer Reihe von Erweiterungen al3 Buch erjcheinen lajjen. Bortrefflich informirt, wie er über den Gang der englijchen leider nicht der deutjchen Shakſpere— Forſchung ift, giebt er in einem mäßig itarfen Bande zugleich eine An— ihauung von den Quellen feiner Information und jchafft auf diefe Weile ein Werk, das jedem Shalſpere-Forſcher der Zukunft eine dauernde Stüte fein muß.

Wenn indejjen auch der Gejammtcarakter des Buches der eines zus jammenfafjenden Referates ift, jo ift der Verfaſſer darum vor jelbitändigen Studien nicht zurücdgeichredt, und die neuen Beiträge zur Shaljpere-Bio- graphie, die dad Buch enthält, jind für die Kritif das Weſentliche. Die Hauptmafje jeiner eigenen Arbeit bezieht fih auf die Sonett: frage Er hat die Elifabethanijche**) und die gleichzeitige franzöfiiche Sonett-Literatur durchforjcht und gefunden, daß der Charakter Ddiejer Lyrik ein vorwiegend fonventioneller it. Das iſt für Deutjchland nicht? Neues; der Schreiber diejer Zeilen hat jchon vor einundzwanzig Jahren ***) aus einer großen Maſſe von Parallelismen der engliichen und italienijchen Sonett-Lyrif nachgewieſen, daß die petrarkiihe Konvention dieſen Literaturzweig beherrſchte. Neu dagegen ijt der Schluß, den Lee auß dieſer Thatjache zieht: daß die fonven- tionell geformten Sonette Shakſperes einen autobiographiihen Gehalt nicht haben könnten. Aljo weil der jugendliche Shakipere und nur der jugendiihe thut das jeine Liebſte in der landläufigen italianifirenden Form befingt, darum joll diefe Geliebte und diejes keineswegs Tonventionelle, jondern auffallend eigenartige Liebesverhältniß nicht eriftirt haben? Der Schluß it offenkundig falſch; ich habe mir in der oben genannten Arbeit erlaubt, die nachgewiejenen Geliebten englifcher und italienijcher Sonettijten zufammenzujtellen, die noch viel fonventioneller bejungen wurden, als Shaf- ſperes jchwarze Schöne. Und Lee entzieht jeiner Theorie jelbit den Boden, indem er nicht umhin fann, ein paar Liebesjonette dennoch für autobiv- graphiic zu erklären.

*) A Life of W. Shakespeare by Sidney Lee. 2d Ed. (Die 1. war wenige Monate früher erfhienen.) London, Smith, Elder & Go. 1598, **) Gin mwerthvolles Kapitel des Appendig giebt über dieſe eingehende Auskunft. ”*) In „Herrigs Arhiv“ und fpäter im 17. Bande des Shalipere-Jabr- buches (1832).

Rotizen und Beſprechungen. 539

Vortrefflih gelungen ift ihm die Widerlegung der Theorie Tylers, nach der der Graf von Pembrofe der Freund und Mrd. Mary Fitton, eine leichtfinnige Hofdame der Elifabeth, die Geliebte der Sonette fein Jollte. Freilich ift e8 nicht jchwer, den logischen Widerjinn der Argumen- tation dieje3 von feiner vorgejaßten Hypotheſe ganz verblendeten Mannes zu erfennen. Hinfällig dagegen iſt Lees Schluß, daß Southampton der Freund jei, weil Shafjpere ihm jeine zwei Epen gewidmet habe. Dieje Widmung beweiſt für Shalfpere ebenfo wenig ein intimed Verhältnig mit Dem Mdrefjaten, wie für die Hunderte anderer demüthiger Literaten, die einflußreihen Gönnern ihre Werfe zujchrieben. Intereſſant ijt die Dar— Ttellung der Lebensverhältnifje des räuberifchen Veröffentlicher8 der Shak— ſperiſchen Sonette (1609), Thomas Thorpe, die und gleichzeitig deſſen Literariichen Raubgenofjen William Hall als den räthielhaften „Mr. W. H.“ der Sonett-Widmung wahricheinlich madıt.

Hinfällig ijt ferner die Verneinung der Frage, ob Shakſpere in Italien war, ohne die Kenntniß von Theodor Elzes Schrift „Italienische Skizzen, aus der ſich das Gegentheil ald eine faum bejtreitbare Thatjache ergiebt. Ganz unhaltbar find die fittlih höchſt unvortheilhaften Folgerungen, die Lee Hinfichtlih des Charakterd des jungen Dichters aus der einen auf feine Verheirathung bezüglichen Urkunde zieht; daß bei diejer Verheirathung. die allem Anjchein nad) ohne Wiſſen des alten Shafjpere und wahrjcheinlich gegen jeinen Willen vor fi ging, nicht Alles in Ordnung war, iſt ziemlich ficher; ganz; fiher dagegen, daß eine etwaige Schuld nidyt auf Seiten des achtzehnjährigen Knaben, jondern der reifen, jech3undzwanzigjährigen Bauern- dirne lag.

Neu und jehr interefjant und komijch wirkſam ift die Enthüllung, auf Grund weſſen und wie Shakſpere nach einem Wappen jtrebte und durch weten Hilfe er e3 endlich befam; des Dichters Stellung zu Jakob J., die Berechnung feiner Einnahmen, die jchließlich dem Gehalte des deutjchen Reichskanzlers gleichlamen, find ebenfalls von Lee aufgeklärte Gebiete.

Beigegeben ijt dem Bande ein Stich von dem 1892 entdedten Oel— Porträt Shakſperes, in dem Lee mit Recht das Original des mißrathenen Bildes der eriten Folio-Ausgabe (1623) fieht. Es wäre wünjchenswerth, daß die deutjchen Stunjtverleger recht bald auf dieſes einzige authentijche Porträt Shakſperes aufmerfjam würden und aus unferen Büchern und Stuben jenen ſchwächlichen Chandos-Kopf verjchwinden ließen, der Paul Heyſe viel ähnlicher fieht als dem britifchen Geijtesriejen.

Ueber Heinrich Bulthaupt3 jet in jechiter Auflage erjchienened Buch über Shakſpere“) eine eingehende Rezenfion zu fchreiben, ijt überflüjjig, troßdem es „neu bearbeitet“ iſt. Mit jeinem frifchen, geiftreichen Stil,

*) In der „Dramaturgie der Klaffiter“. Oldenburg und Leipzig, Schulzeihe Hofbuhhandlung (A. Schwarz). 1899.

540 Rotizen und Beiprehungen.

mit feiner piychologiich feinen Durchdringung der Shafejperifchen Menjchen- ihöpfungen, mit feiner unbefangenen, vom Weihrauchnebel unverdunfelten, jelbjtändigen Auffafjung des Dichterd hat ed ſich in der Achtung der literariihen Gejellichaft eine nicht leicht zu erſchütternde Stellung erworben. Wenn aljo nad) feiner Seite ein Bedürfniß vorliegt, auf die einzelnen Vorzüge des Buches, auf die befonderd gelungenen und zum Theil herr: lihen Darjtellungen, wie die von „Heinrich IV.“ und „Macbeth,“ aufmerfjam zu machen, jo dürfte es vielleicht im Intereſſe des für ein langes Daſein bejtimmten Werfed jein, einigen Ausjtellungen Ausdrud zu geben, zu denen eine erneuerte Lektüre mir Anlaß giebt.

Sch berühre eine Lebensfrage des Buches, wenn ich von der Methode jeiner Darjtellung ſpreche. Bulthaupt fonnte in der Beurtheilung der Shafejperijchen Dramen uns ausschließlich jeine Anficht geben, unbeſchwert von Seitenbliden auf die Anjichten Anderer und von der Polemik gegen ſie. Er hat diefen Weg nicht gewählt, fondern bejchäftigt fich oft genug mit der Widerlegung von ihm faljch erjcheinenden Auffafjungen. Wenn er aber ein jolches literarhijtoriich-fritifche8 Verfahren verfolgt, ſo er: wächſt für ihn die Nöthigung, in jeder Neuauflage jeines Buches jich mit den neuejten Erjcheinungen der äjthetiichen Kritik auseinanderzufegen, wenn er nicht in die Lage kommen will, 3. B. im Jahre 1899 eine Anjicht zu befämpfen, die vor dreißig Jahren einmal lebendig, jet ſchon längere Beit im Grabe ruht. Dieſer Nöthigung hat Bulthaupt in den neueiten Auflagen nicht Hinreichend Rechnung getragen, er kennt die allerneueite Shakjpere-Titeratur zu wenig und geitattet ſich dennoch Urtheile über deren augenblidlihen Stand. So Iejen wir auf Eeite 291: „Ich glaube nicht, daß heutzutage noch Jemand ernitlid daran denfen kann, die ganze zerrifjene und jchwermüthige Stimmung Hamlets erjt von ſeines Vaters Tode herzuleiten, vielleicht mit einziger Ausnahme von Hermann Conrad.“ Diejer Ausipruh ift geradezu verblüffend: alſo fennt Bulthaupt die Harmlet-Literatur der beiden legten Jahrzehnte nicht ?*) auch nicht einmal Kuno Fiſchers Bud (j. ©. 277 ff.)? Der kritijche Theil des Shafjpere- Jahrbuches allein hätte ihn über die Verfehltheit einer jolhen Behauptung aufklären fönnen. Und warum jollte denn der Tod des VBaterd und mas damit zufammenhängt, Hamlet nicht zu einem anderen Menjchen gemadt haben? Weil ein folder Wechjel nicht im Laufe weniger Tage, ſondern nur in langer Zeit jich vollziehen könne. Wiederum unglaublich bei diejem jonjt jo feinen Menfchentenner: das Gegentheil ijt wahr. Hat Bultbaupt es wirklich) nie erfahren, daß gerade der unerjegliche Verluſt Heißgeliebter Angehöriger frifche, frohe Menſchen ganz plöglich zu verbitterten Peſſimiſten. ja geiftig Gejunde wahnfinnig machen kann? Die thatjächlihe Ent:

*) Man vergleihe nur die allerneueften Hamlet-Auffaffungen im zweiten Theile dieſes Artikels.

Rotizen und Beiprechungen. 541

widelung der Hamlet-Kritik jeit den Sechzigern ift eine derartige, daß Bulthaupt jegt nahezu allein fteht mit feiner Anfiht von dem „phleg- matifchen, melandolifchen*, grübleriichen, thaticheuen und doch todes— veradhtend tapferen Hamlet, der ein Schwädling und ein föniglicher Held zugleich ift. Und fie hat ſich jo entwideln müfjen: denn der Widerfinn fann ſich für die Dauer nicht Halten, weder diejer, noch die daraus ſich ergebende contradictio in adjecto, wie fie in der Vorftellung einer „Tragik der Schwäche“ Liegt. Bulthaupt würde ſomit gut thun, uns in fpäteren Auflagen nur feine Anficht zu geben; Die ift aud ohne Berüdjichtigung der ShakiperesLiteratur werthvoll genug.

Eine ähnlich veraltete Anjchauung liegt in der Meinung, daß die bisherige literarhiftorijche Shalfpere-Forfhung den fommenden Geſchlechtern faum noch etwa zu thun übrig gelafjen habe Im Gegen theil: die Reihenfolge der Dichtungen Shakſperes jteht noch bei Weiten nicht feft. Der Sport. nah äußeren Indizien, Anjpielungen zc., ſowie nad) einem trugvollen rhythmiſchen oder Stilgefühl das Alter der ein- zelnen Dichtungen zu bejtimmen, der troß ſeines zweihundertjährigen Alters nicht verjtändiger geworden iſt, hat bekanntlich die bedeutenditen Gelehrten zu den umvereinbarjten Ulteröbejtimmungen geführt. Und fo hat man denn erjt in den legten Jahrzehnten den jolideren Weg der inneren In— dizien bejchritten, den Weg einer gründlichen metrijhen und jtiliftifchen Forſchung, der freilich jehr mühevoll und noch wenig begangen ijt, aber fchließlich einmal zu verläßlichen Rejultaten führen wird. Dagegen iſt die Erledigung der Bacon= Theorie, die nad) Bulthaupt die Zukunft bringen joll, für die wirflihen Fachleute ſchon zur Beit ihrer Entjtehung erfolgt; wenn dieje noch jebt hin und wieder ein Wort über jenen nur von der Unmifjenheit aufrecht zu erhaltenden Wahn verlieren, jo geichieht da3 nur aus Nüdjicht auf die Laien. Auch wird Bulthaupt unter jenen wmenige Theilnehmer an feiner Anficht finden, daß dad Bormannſche Bnch dieje Theorie am leöbarjten und Ffonjequentejten vertritt; mir perfjönlich iſt es unleöbar vorgefommen wegen der ganz abnormen Qualität feines logifchen Gehalts. \

Bu dem, was jpätere Ausgaben entbehren können, dürfte aucd die Lanze gehören, die Bulthaupt für Rümelind Buch über Shakſpere bricht, da3 jo ſpurlos im Schlunde der gefräßigen Beit verſchwunden ift, mie jede bloß jenjationelle Schöpfung. Don Quixote jand wenigſtens fompafte Windmühlenflügel vor, gegen die er kämpfen fonnte; Nümelin jchuf ſich da8 Ungeheuer, das er erlegen wollte, erit in feiner Phantaſie. Wo in aller Welt hat denn der Drachen „Shafiperomanie* feinen Schlupfwintel? Etwa im reife der engeren Shakipere-Gemeinte? Das Shakſpere-Jahr— buch jpricht ebenfo unbefangene Urtheile über den Dichter aus, wie wir jie bei Bulthaupt finden. Gewiß giebt es einzelne Shafjperomanen, wie e3 allerhand andere Manen giebt; aber die haben nirgendwo dad Heft in

TEE —.

542 Notizen und Beiprehungen,

Händen. Daß Rümelin ohne zureichende literarhijtorische Kenntniſſe über Shakſpere fchrieb, mußte ihm wohl Hingehen; das wirkliche VBerwerfliche war, daß er mit feinem naiven Kunftverjtande ſich an die Beurtheilung ded größten: Dichterd wagte. So jchuf er ein geiltreich-oberflächliches Bud), das ein wahrer Hohn auf unfere nationale Runftbildung war, und deſſen Bernichter nicht die Shakjperomanen, jondern Männer von ge— läutertem Gejchmad, wie Bulthaupt, waren.

Zu den ®Beralteten rechne ih aud) die Erklärung der beiden Lieb- ihaften Romeos durch die Berliebtheit ſeines Weſens, für weiches die leichter zu erobernde Geliebte die begehrenswerthere gewejen je. Die An nahme, welche Bulthaupt vertritt, daß Nojalinde von Romeo ebenjo heiß geliebt worden wäre wie Julia, wenn.fie weniger jpröde gewejen wäre, it für die Wirkung des Stückes eine recht ungünitige. Wenn wir nicht mehr an einen ummiderjtehlichen Zug der beiderjeitigen Naturen glauben jollen, der eine Schickſalsbeſtimmung die herrlichen Gejtalten plötzlich und unauflößfich zueinander reißt, dann bleibt von dieſer verzehrenden Liebe nicht3 weiter übrig als ein Strohfeuer der Sinnengluth, dann ijt ihr die Seelentiefe mit der Kraft der Dauer genommen. Die jo prätentiös auftretende nnd fo jchnell verrauchte Leidenjchaft für Roſalinde erklärt ſich würdiger durch die italienischen Xiebestheorien, denen der jugendliche Shakſpere ganz hingegeben war. Dieje jpätplatonijche Liebespbilojophie, über die man jich leicht unterrichten kann in Simpjond „Philosophy of Shakespeare’s Sonnets*, nahm drei Stufen der geichlechtlihen Liebe an; Romeo befindet ſich Rojalinde gegenüber auf der zmeiten, im Zus jtande der „Fancy“, in dem das Herz für die Aufnahme der wahren Liebe erjt bereitet und die Phantaſie von jeder reizvollen Weiblich: feit erregt wird. Das Charakteriftiiche diefer Stufe ift die Unbeitändia- feit der Neigung, die erjt aufhört auf der dritten Stufe, nachdem zu der Erregung der Sinne durch äußere Reize der tiefinnere Zug der beiden nad Ergänzung jtrebenden Seelen getreten it. Es liegt aljo nicht der geringjte Grund vor, Romeo ald Charakter oder Shakſpere ald Charakter: zeichner herabzujeßen.

Gern entbehren würden wir in einer neuen Auflage das Kapitel über „Heinrich VI.“ Wenn man Shakſperes Kunſt daraus entwideln will, hat man die Verpflichtung. ſich aus den englijchen Arbeiten über dieſes Drama zu informiren, welche Theile von Shakſpere jind. Es als „höchſt wahrſcheinlich“ hinzujtellen, daß Shakſpere das ganze Drama, aud) die lähherlid) rohen Partien des erjten Theiles, gedichtet habe, ijt zwar bequem, aber jehr unbillig gegen den Dichter. Nach jahrelangen ftiliftifchen Studien, die jich auch jpeziell auf „Heinrich VI.“ erſtreckt haben, habe ich nicht den geringjten Bmweifel, daß große Theile aus einer urjprünglichen unfähigen Bearbeitung des Stoffed von einem anderen Dichter beibehalten find. Dagegen ijt e8 in hohem Grade bedauerlich, daß Bulthaupt ſich nicht ent=

Notizen und Beiprehungen. 548

ichließen fann, „Antonius und Kleopatra“, dad Meijterwerf des tiefjten Seelentenners, zu behandeln.

Bon den Schwächen Shakjperes, die Bulthaupt in der Einleitung aus— einanderjegt, müjjen wir manche anerfennen, 3. B. die Entwidlungslofigfeit der Arditektonif feiner Dramen; dagegen ijt eine Entwidlung in der Eharafterzeihnung, die Bulthaupt bejtreitet, entjchieden vorhanden. Der plößliche und unmotivirte Gefinnungswechjel gehört z. B. nur den jugend= lihen Dramen an: bei Leonted und Woljey, die Bulthaupt als Beijpiele anführt, ijt er nicht vorhanden. Bei Oliver in „Wie e3 euch gefällt“ fommt er unzweifelhaft vor: und Bulthaupt hätte noch Claudio in „Viel Lärm um nicht3“ und den Herzog in „Was ihr wollt“ hinzufügen können. Aber die Annahme, daß dieje Dichtungen gegen das Ende des Jahrhunderts geſchaffen jein jollen, it durch die ſtiliſtiſche Forſchung als Hinfällig erwiejen worden: die beiden erjten und das Liebesjpiel in „Was ihr wollt“ gehören nad ihren jtiliftischen Kennzeichen in die erjte Hälfte der Neunziger.

In dem Klafjiker » Verlage des Leipziger Bibliographiichen Inſtituts iſt eine neue Ausgabe der Schlegel: Tiedjhen Ueberjegung von dem Profejjor an der Berliner Univerjität Alois Brandl erjchienen*). Vielleicht ift e8 dem Herausgeber ebenjo gegangen, wie dem Schreiber diejer Zeilen, daß er ſich in feinen Jugendjahren im Schlegelichen Shatjpere wurzelfeft gelejen, daß er viele Stellen in Schlegelicher Fafjung feinem geiftigen Beſitzthum einverleibt hatte und dann in den legten Jahrzehnten von den verichiedenen Ausgaben diejer klaſſiſchen Ueber: jegung immer mehr enttäufcht um nicht zu fagen: abgejtoßen wurde durch die „Verbejjerungen“, die gar zu philologische VBerehrer mit dem Terte vorzunehmen für ihre Gewifjenspflicht hielten. Ach, es waren nicht viel weniger Berjchlehterungen der Dichteriichen Diktion, als es Be— richtigungen von Ueberjegungsfehlern waren. Die Grotejche Ausgabe von Tſchiſchwitz ijt eine vortreffliche Yeiftung: aber wer fann darin zum Beilpiel „Hamlet“ leſen, ohne fortgejegt geftört und befäjtigt zu werden durch die Aenderungen eines jchönen Textes, den wir zum großen Theil auswendig wiſſen. Noch jchlimmer jteht es in diejer Hinfiht um den arg abgefeilten Text der Eottafchen Ausgabe von Mar Koch. Die Ueber— jegung der Shakſpere-Geſellſchaft, an der zum Theil Kräfte erjten Ranges, wie Alexander Schmidt und Hergberg, betheiligt waren, ent— fernt fi) noch viel weiter von dem Original; fie enthält neun volljtändige Nenüberjepungen und hat jogar Leijtungen aufgenommen, die gar feine Ueberjegungen find. Leos fogenannte Macbeth = Ueberjegung iſt weiter nicht al3 eine mehr oder weniger freie Bearbeitung, in der der Verfafjer oft genug mit einer fomijchen UWeberihäßung ſeines Vermögens jeine

*) 1897 1899. Das Titelblatt enthält unverftändlider Weiſe keine Jahreszahl.

544 Notizen und Beiprehungen.

eigene jtatt Shakſperes poetijcher Aber fließen läßt. Die von Bodenitedt herauögegebene Ueberjegung ift zum Theil ganz unabhängig von Sclegel- Tied, und fie faßt eine Anzahl von meilterhaften Leiftungen in jich: aber den alten, lieben Text finden wir in ihr leider nit. Man denke fich, ein neuer Herausgeber Schiller „verbeſſerte“ Tells großen Monolog oder die herrlichen Chöre der „Braut von Meſſina“! Man denfe ji, wir follten die alten, jchönen Bolfölieder, die und unfere Mutter lehrte, im Alter umlernen! Etwa Uehnliched verlangen von uns die „verbefjerten“ Ausgaben der Schlegelichen Ueberjegung.

Darum danken wir viele Taujende! dem Herausgeber, daß er und in der handlichen, gut ausgejtatteten und billigen Leipziger Aus— gabe den alten, unverfälichten Tert wiedergegeben hat und auf die nicht feltenen ımd zum Theil recht jtörenden Fehler taftvoll in einer An— merfung aufmerkfjam macht, während er mit Bezug auf die bedeutfamjten der dunfeln Stellen und die Korrektur offenkundiger Drudfehler am Ende jede Bandes eine Kleine Anzahl von Bemerkungen zujammenjtellt. Dieje generelle Zuſtimmung jchließt die Frage nicht aus, ob nicht einzelne be- ſonders unzulängliche Ueberjegungen von Dorothea Tied und Baudiſſin ich denfe bejonderd an „Macbeth“ und „Antonius und Kleopatra“ für immer au&gemerzt und durch die ausgezeichneten Arbeiten von Bodenitedt und Paul Heyie erjegt werden jollen.

Die facherklärenden Anmerkungen, ebenfal3 unter dem Texte, müßten nach meiner Empfindung mindejtend verdoppelt werden. Auch fcheint es mir im Intereſſe einer Volldausgabe zu liegen, daß die vorwiegend literarhiftoriichen Einleitungen um eine eingehendere äjthetifche Würdigung erweitert würden. Die Lepteren find für die unmifjenichaftliche Meberzahl der Leſer viel wichtiger ald die erjteren, und ihr Fehlen jtellt ein un— zweifelhafte® Manko gegenüber der Ausgabe von Gojhe und Tſchiſchwitz und der von Bodenitedt dar. j

Die Einleitung enthält ein kurzes Leben Shakjperes, ein Kapitel über das Nachleben Shakipered in England und ein anderes über den Beginn der Shakjpereverehrung in Deutichland. Die Eintheilung der Dramen nad) begrifflihen und jtofflichen Geſichtspunkten wird man im jeder Einzelheit nicht billigen können. Ganz unverjtändlid ift, warum „Eym: beline*, „Wintermärchen“ und „Sturm“ von den romantischen Dramen ausgefondert werden unter der Bezeichnung „Romanzen“, „d. h. Stüde mit berben Motiven, die fi) durch munderbare Fügungen noch in Glüd auflöfen“ (2). Romanzen waren bisher Iyrifchepifche Gedichte, die, gleich- viel ob der Grundcharakter der Handlung traurig, glänzend oder fröhlich war, die ritterliche Empfindungswelt darjtellten. Und nun joll plöglich ein Trama eine Romanze fein?

Sehr werthvoll find die eingehende, auf authentiicher Forſchung be= rubende Darjtellung der Entjtehung der Schlegel-Tiedjchen Ueberjegung

Notizen und Beiprehungen. 545

und die Schilderung des Shakſperiſchen Theaterd, auf dejjen arditektonifche Beichaffenheit eine Reihe von fompofitionellen Bejonderheiten feiner Dramen zurüdzuführen find. Gegen eine der Grundvorausjeßungen Brandl muß ich einen entichiedenen Zweifel ausſprechen. Ich glaube nicht, daß in der Abbildung, die und vom „Swan“-Theater aus dem Jahre 1596 (ſ. das Bild ©. 26) zufällig erhalten it, das Muſter der Shakjperifchen Bühne überhaupt zu jehen ift. Das auf zwei Säulen ruhende jchräge Dad), das von der Wand ded Garderoben: Haujes ſich über die hintere Hälfte der Bühne, das heißt, des bis in die Mitte des Parterres hervortretenden oblongen Podiums, Hinabneigte, war offenbar nur ein Notbehelf für die Sommer- theater, deren Parterre die Erde, deren Dad) der Himmel war. Es diente dazu, die fojtbaren Koſtüme der Echaufpieler vor dem Regen zu jchügen. Daß dieje fich für gewöhnlich nur auf der unbededten Vorderbühne auf: halten konnten, erjcjeint mir darum jelbjtverjtändlich, weil die unter dem Dach agierenden Schaufpieler vom zweiten und dritten Range aus gar nicht gejehen werden fonnten.

Für die gededten Theater, „Blackfriars“ und die „private theatres“, die im Winter doch wohl allein verwendbar waren, hätte das Dad über der Bühne feinen Zweck gehabt und nur zur Beläftigung der Zufchauer, zur Beſchränkung ihres Geficht3felded gedient. Für fie dürfen wir das viel jpätere Bild vom „Red Bull*-Theater (1662) als maßgebend be= trachten, defjen Bühnen-Einridhtung zweifellos volltommener ald die des „Swan“:Theaterd iſt. An Stelle der zwei ungejchlachten Doppelthore, die hier von der Bühne ind Garderobenhaus führen, giebt es dort nur einen Ausgang in der Mitte; er ijt durch einen Borhang verdedt, hinter welchem fi der und von Alters her befannte erhöhte Alkoven befand, der die Bühne auf der Bühne („Hamlet“) oder einen abgejchlojjenen Raum, wie Die Schlafkammer der Desdemona, darjtellte.

Die auf der Bühne aufgehängte Tafel, die den Ort der Handlung nannte, fann ich nicht mit Brandl al® „fabel*haft auffaſſen. Wenn Brandl in der befannten Stelle der „Spanish Tragedy“, wo ein Schaujpiel im Schanſpiel eingeleitet wird mit den Worien „Hang up the title“, das Wort „title“ als „Thenterzettel“ faßt, jo weiß ich nicht, worauf er ſich bei diejer Deutung jtügt. „Title“ heißt „Aufſchrift“, und da die folgenden Worte lauten: „Unſere Szene ift Rhodus“, jo kann e3 ſich wohl nur um die Aufichrift des Lofald handeln. In einer andern befannten Stelle aus Sidneys „Apology of Poetry“, die Brandl nicht berüdjichtigt. heißt es, daß „auf ein altes Thor (im Hintergrunde der Bühne) mit großen Bud ftaben ‚Theben‘ gejchrieben“ jei. Wie hätte denn auc anders als auf folhe äußerliche, mechanische Weife das Lofal der Handlung angedeutet werden fönnen, da ed Kuliffen und Hinterwände nicht gab? Aktprologe, wie in „Heinrich V.“, waren, zumal in jpäterer Zeit, nur jelten.

Die Annahme, daß die Theater: Konftruktion zu Shakſperes Zeit die

Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 3. 35

546 Notizen und Beipredhungen.

mit einer Gallerie verjehenen Wirthhaushöfe, in denen berumziehende Schauſpieler öfter ihre Borjtellungen gaben, fich zum Mufter genommen hätte, it nach dem Erjcheinen des Buches von Ordijh über „Die eriten Londoner Theater“*) nicht mehr haltbar. Ordiſh weit nad, daß die Amphitheater (Zirkuffe) zu Scauftellungen der verjchiedenjten Art in England uralt find. In einem ſolchen Amphitheater im alten London zu Glertenwell wurden Moralitäten aufgeführt; die beiden ältejten Theater in Zondon, „The Theatre“ und „The Curtain* waren ebenfall3 rund, und e3 jteht feit, daß dieje keineswegs bloß zu theatralifchen Vorſtellungen. jondern zu ähnlichen Yweden verwandt wurden, wie die beiden Amphi— theater, die auf Bankjide (jet Southwarf, Süd-London) jtanden, ehe das erite Sommer-Theater dort gebaut wurde, und von denen dad eine vorwiegend, wenn auch nicht ausſchließlich zu Bären-, das andere zu Stierbegen verwandt wurde. Auf einem Plane von London von Braun und Hoggenberg aus dem Jahre 1572 ſtehen beide nebeneinander; in Norden? Karte von London aus dem Jahre 1593 iſt eines gefallen; Dafür jteht in der Nähe ein Schaufpielhaus; dieſe Gebäude find in ihrer äußeren Geſtalt ebenjo wenig zu unterjcheiden, wie die alten zwei Amphitheater. Dad „Hope*sTheater wurde nach dem vorhandenen Bau-Kontrakt ſowohl für ſzeniſche Boritellungen al3 für Stier- und Bärenhegen eingerichtet; daher mußte die Bühne entfernbar gemacht werden. Daraus ergiebt jich, daß urjvrünglih für Heben, Preiöfechten, Ringen u. ſ. w. und für theatralifche Boritellungen diejelbe Gattung von Gebäuden errichtet wurde, nämlich) Amphitheater. Die Spielhäufer aber nahmen jpäter aus naheliegenden Gründen um die Zufchauer näher an die Bühne zu bringen ſtatt der runden eine länglidhe, oftogonale Gejtalt an, eine _Gejtalt, die mit der Form eines Wirthshauſes nichts zu thun hat.

2. Hamlet=Literatur.

Bu den werthvolleren Büchern der beiden letzten Jahre gehört die Schrift „Darftellung krankhafter Geiftedzuftände in Shakſperes Dramen“ von Dr. Hand Laehr**. Der bei Weitem größte Theil des Buches wird von einer Schilderung Hamlets eingenommen, die einerjeits offenkundig auf der neuejten Hamlet Literatur aufgebaut ijt, andererierts aber ihre eigenen Wege geht. Laehr ftellt feit, daß die natürliche Per: jönlichfeit Hamlet3 feine anbere fein kann als die, die und Opheliad und des Fortinbras Worte jo deutlich zeichnen eine vielfeitig große, helden— hafte. Dieje eigentlich jelbitverjtändliche Anficht jcheint nun endlich nach hundert Jahren, in denen die Kritik ein Phantafiegeichöpf an Stelle de3 wirklichen Hamlet zu jeben pflegte, durchzudringen. Das Werth—

*) T. Fairman Ordish: Early London Theatres. London, Elliot Stod. 2d Ed. 1899 (1. Ausg. 1894). **) Stuttgart, Baul Neff. 1898.

Notizen und Beiprehungen. 547

vollite an dieſer Darjtellung ift, daß hier ein Piychiater verfichert, daß ein herrlich gejundes Wejen durch furchtbares Unglüf mit einem Schlage ſich in fein Gegentheil verkehren kann. Hamlet ift nach Laehr nicht etwa wahnjinnig; er befindet ſich nad) der Erſcheinung des Geiſtes nur im Zuftande der Nervenüberreizung, hervorgerufen durch lange Gemüths- aufregung vor der Enthüllung des Geiſtes und durch die ihr folgende Schlaf und Appetitlofigkeit. In dieſem Zuſtande kann Hamlet nicht mehr thun, was er will (an jeinem Wollen zweifelt Laehr nicht) und was er jonjt jeiner Natur nad) wohl gelonnt hätte. Da nun Hamlet? naheliegende Gewiſſensbedenken und die großen Schwierigfeiten, die in jeiner Situation liegen, nicht berüdjichtigt werden, jo haben wir ed mit einer reinen Srankheitögejchichte zu thun, die doch, wie Laehr ſelbſt zugiebt, Sbhakſpere nicht hat jchreiben wollen. Die anderen Schilderungen von König Lear, Ophelia, Lady Macbeth meijen die vollflommene Ueber— einjtimmung der Srankheit3äußerungen bei Shafjpere mit des Verfaſſers eigenen Erfahrungen nad; bei Lear begeht der Verfajjer den Fehler, im Gegenſatz zu Hamlet eine natürliche krankhafte Dispofition vorauszujegen. Werthvoll ijt die Auseinanderjegung über die „ärztlichen Anfichten des Zeit Shakſperes“ und die Zufammenjtellung der Literatur diejed Jahr— hundert3 über Shakſperes Seelenkranke nicht weniger als 36 Schriften und Bücher. Das Buch ijt übrigens gut gejchrieben.

Mit dem über Laehrs Hamlet-Auffafjung Gejagten ijt nahezu das Urtheil geſprochen über dad forgfältig ygearbeitete Buch von Gujtad Sriedrih über „Hamlet und feine Gemüthdfrankheit.*) Der Verfaffer geht von dem nämlichen Ausgangspunfte aus wie Laehr: von Natur iſt Hamlet ein willensjtarfer und geijtesfräftiger Menſch. Der Gram aber, der ihn nad) der Enthüllung des Geiſtes erfaßt, macht ihn nervenfrant und verjegt ihn in einen Zuſtand der „Entjchließungs- unfähigkeit“, die Friedrich ald „Willenshemmung* bezeichnen möchte. Hamlet fann nicht nur nicht thun, was er doc will wie bei Laehr fondern er kann überhaupt nicht wollen. Das Eigenthümliche dieſer nod nicht genügend erforjchten Seelen- oder Willenskrankheit ift, daß „ſie als jolhe gar nicht ind Bemwußtjein tritt, vielmehr dem Kranken ſich jtet3 in Gejtalt eines meift jcharffinnig erdachten Motiv gegen die momentane Ausführung der beabjichtigten That darſtellt.“ Darauf beruht das Tragijche des Schickſals Hamlets: er wird ſich felbjt zum Näthjel. Er erkennt die Nothiwendigkeit der zu vollziehenden Handlung, er weiß, daß er die Mittel des Vollzuges in Händen hat, will fie daher vollziehen und fann es nicht. Sobald er zur Ausführung des Mordes jchreiten will, jchiebt ſich ein uns bewußter innerer Widerjtand vor die That. Am vollfommenjten fenn= zeichnet Hamlet diefe ihm unbewußte Krankheit im Monolog des zweiten Aktes.

*) Heidelberg, &. Weiß. 1899.

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Das ijt ſehr fein erdacdht, und ich zweifle ebenfowenig wie der Ver: faffer an der Möglichkeit einer ſolchen Willenserkrankung. Woran id) aber zweifle, ijt, daß der geſunde Shakſpere die Abſicht hätte faſſen fönnen, und einen Krankheitsprozeß als tragiſches Objekt vorzuführen. Erkrankung ift ein Schidjal, aber fein tragiſches. Das moderne tragijche Schidjal entipringt nit aus der Feindichaft der Götter, fondern aus den Charakteren der Menſchen: aus den Handlungen, in denen fich ihre Charaktere projiziren, und aus den BZujtänden, die ihre Handlungen ſchaffen.

Profeſſor Albert H. Tolman (von der Univerſität zu Chicago) ent— wickelt ſeine „Auffaſſung der Auffaſſungen Hamlets“*), die in dem zweiten Bande der Rieſen-Ausgabe des Dramas don Furness zuſammen— geitellt find. Dieſes allerdings reiche Material, dad die verjchiedenen Anfichten vermitteljt umfangreicher Zitate aus den betreffenden Schriften darstellt, reicht indejjen nur bi8 Baumgart, dejlen Buh „Die Hamlet: Tragödie und ihre Kritik“ 1876 erjchien. Die mafjenhaften Schriften, die feitdem in Deutichland erjchienen find, die englijchen fallen weniger ins Gewicht find daher, mit der einen Ausnahme Loenings, garnicht ver: merthet. Die Pointe der Schrift iſt die Meinung, daß die einzelnen Seiten im Charakter Hamlets, auf welche die verjchiedenen Interpreten ihr bejondered Gewicht legen, Sich keineswegs immer widerjprechen und einige von ihnen in Gemeinjchaft vorhanden jein mögen. So erflärt fich die Unthätigfeit Hamlets nad) des Verfaſſers Anficht jowohl aus einer Neigung zur Neflerion, als auch aus Willensſchwäche und Melancholie; welche von diefen Eigenichaften das Hauptagens jei, könne nicht entjchieden werden. Ebenjo mögen ihn auch jeine Gewiſſensbedenken hinſichtlich der Blutrache und jein Abjchen vor dem Morden zurüdgehalten haben. Dagegen kann der Verfaſſer praftiiche Hindernifje, die in der Aufgabe ſelbſt liegen, nicht anerfennen ; das heißt freilich, vor der ganz realen furchtbaren Schickſals— verfettung die Augen jchließen.

Auch Hält er e8 mit Kenny, March u. 9. für nicht unmöglich, dab zwei unvereinbare Urbeitsihichten in dem Drama aufeinander lägen, Die Urſchicht eines alten, verloren gegangenen „Hamlet“, in dem der Prinz handelte, und eine jpätere Sicht von Shakſperes Hand, die einen reflef: tirenden Helden darjtellte. Aber die Annahme eines „Urhamlet“, der von Kyd war und nit von Shakſpere (Sarrazin), ijt eine müßige, weil durch nicht zu jtüßende Hypotheſe. Und die Ungereimtheit, eine Schöpfung wie „Hamlet“ Hinfichtlic) ihres Kompofitiondmwerthes mit „Zimon* gleichzujtellen, kennzeichnet ebenjo deutlich die Stufe des Kunſt— verjtanded jener Autoren, wie die Verzweiflung, aus den mannigjadhen

) A View of the Views about Hamlet. Baltimore, 1898. (The Modern Language Association.)

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Lebensäußerungen de3 Helden ein einheitliched Weſen herauszulejen, von der Schwäche ihrer pſychologiſchen Ertenntniß zeugt.

Biel bedeutender it Hugo Traut3 „Hamlet Kontroverje“*) troß der offenfundigen Jugendlichkeit des Verfaſſers. Es iſt wahr, er flanirt zu viel auf den ferner und fernjtgelegenen Gebieten feiner Lektüre umher: nicht bloß Sophofles, Gutzkow, Wildenbrud, Hauptmann werden zur Durdleuchtung der Hamlet-Frage herangezogen, jondern auch Knigge, Sader Maſoch, Lechleitner, Reinhold Ortmann, Robert Miſch u. A. Auch verdeden ihm Titel und Nanıen häufig noch die literarische Sndividualität, die er jpäter einmal jicher erfennen wird; es ift 3. B. nicht nothwendig, daß ein Bud, welches ein Profejjor der Philofophie über „Hamlet“ jchreibt, bedeutend jein müßte. Es ijt das Traurige, daß jo viele von den Hamletsfritifern geglaubt haben, fie könnten eine reine Kunjtfrage mit dem bloßen Berjtande löjen, während die Kräfte einer lebhaft und jiher jchaffenden Phantajie, einer tiefen und zarten Empfindung ebenjo unerläßli jind zur Haren Anſchauung, wie zur Erzeugung eined Kunft= werfed. So ijt 5. B. Dörings „Hamlet“ troß allen redlichen Bemühens eine wirklich unbedeutende Leiftung, weil dieſem Philofophen jene Kräfte abgehen; und der jugendliche Traut ijt viel bejjer befähigt zu einem Ur: theil über Hamlet, weil er jene rezeptiv Eünjtlerifche Beanlagung, ohne die ein echter Kunſtkritiker nicht denkbar iſt, beſitzt. Er ijt ein hoffnungsvoller Schriftiteller, der außerdem zu feiner Aufgabe die Kenntniß der neuejten HamletsLiteratur mitbringt.

Seine Auffaffung Hamlet3 ift eine moderne: defjen Thatlofigfeit ijt nicht die Folge jämmerlicher Eigenjchaften feiner Natur, welche ald eine in jedem Sinne große, aljo auch heidenhafte erjcheint, fondern der jchwierigen Situation, in der er jich nach der Enthüllung des Geijtes befindet. Traut vertritt Werder gegen Baumgart. Das ausjchliegliche Gewicht, daS der Leptere auf die humane Lebensanjchauung, die hohe Bildung Hamlets legt, erfennt er al3 einjeitig an. Dagegen jieht er nicht, daß die Aufgabe, die der um Hamlet jo hochverdiente Werder dem Helden jtellt das verlegte Recht vor den Augen der Welt wiederherzuftellen und Rıchter, nicht Rächer zu ſein nit bloß aus feiner Zeile des Stückes herauszulejen, jondern abjolut unmöglich ift, da der Hauptzeuge für eine jolche Rechtshandlung aus der andern Welt jich nicht zitiren läßt. Auch find die Betäubung des Geiſtes, die tiefe Verftimmung der Seele, welche die natürlihe Folge eined jo umerhörten Schickſalsſchlages find, nicht genügend in Rechnung gezogen.

Dur die Leltüre der Trautichen Schrift bin ich auf eine andere aufmerkſam geworden, die, in einer Fachzeitſchrift verjtecdt, mir entgangen war. Sie rührt von dem bekannten Moliereforscher Humbert ber und

*) Leipzig, Seele und Co. 1898.

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gehört zu dem Allerbejten, was über „Hamlet“ gejchrieben ijt. Der Titel: „Hamlet oder die hriftlich-jittlihen Jdeale und das Leben“*) deutet die Tendenz des Verfafjerd an: die Tragödie foll „den Schmerz des Spealijten über den Widerfpruch zwiſchen den chriftlich = fittlichen Idealen und dem Leben darjtellen.” Nach einem reichhaltigen Ueberblid über die Auffafjungen feiner Vorgänger entwidelt Humbert an der Hand der Handlung die Bedeutung der einzelnen Reden und Thaten Hamlets in ruhiger, tief einficht3voller Weife und kommt dabei zu folgenden Rejultaten.

Hamlet ift, wie Ophelia und Fortinbras ihn fchildern; auch jeine Selbitichilderung Roſenkranz und Güldenjtern gegenüber zeigt uns, daß er vor dem Tode jeined Vaters das Gegentheil von einem melancholiſchen, thatiheuen Grübler war. Er ijt eine tiefreligiöje Natur; feine Ueber: zeugungen jind die der fatholiichen Kirche, aber in jeinem freien Denken zeigt er zugleich einen protejtantifhen Zug. Daher feine Vorliebe für Wittenberg; denn Wittenberg iſt Quther. Hamlet liebt eben die Geiſtes— helden. die das Schwert des Worted furdhtlos und wirkſam zu führen wiſſen; er ijt jelbjt ein jolder. Zu feinem freien Denken, feinem fcharfen Verſtande gejellt fich eine tiefe Fünftlerifche Begabung. Als überzeugter Chriſt ijt er fittlicher Sdealift, und die Verftimmung feiner Seele hat nur in jeinem enttäujchten Idealismus ihren Grund. Aber Hamlet iit nicht nur ein Geiftesheld, jondern auch ein Held der That, und Shakſpere fennzeichnet ihn als foldyen auf die nachdrüdlichite Weile. Seine Freude an der Waffenführung bejtätigt ihm fein Oheim ſelbſt. Wenn er nadı den höchſten Nepräjentanten der Menjchheit jucht, jo find dies ihm die Männer der That, Alerander und Cäſar. Sein fürjtlich kriegeriſcher Sinn duldet feine Verlepung, ja, feine Bejchränkung feiner Perſon: das zeigt er bei vielen Anläfjen, beim Berjchwinden des Geiſtes jeinen Freunden gegenüber, bei der Tödtung des Polonius, im Gefecht mit den Seeräubern, im zweimaligen Kampfe mit Laerted, und nachdem er den König als jeinen und feiner Mutter Mörder erkannt hat. Er verhält fih das ganze Stüd hindurch offenfiv gegen alle jeine Widerjaher. Er weiß die richtige Gelegenheit, jobald fie jich zeigt, ſofort praltiſch zu ver- werthen, wie die eriten Worte nad der Verkündigung der Ankunft der Schaujpieler zeigen; und ſelbſt in der tiefiten Erregung, wie nad dem Verſchwinden des Geijtes, ift er im Stande, einen momentanen Entſchluß über das, was zunächſt gejchehen muß, zu fallen, wie er überhaupt in den Augenblicken ver leidenjchaftlichiten Empfindung nie ohne Selbſt— beherrichung iſt. Je näher er der Nachethat tritt, dejto ruhiger wird er; jo nachdem er die Gelegenheit gefunden hat, des Königs Gewiſſen zu prüfen, und nachdem er auf der Seereife die fiherften Beweiſe von der

*) N. Jahrb. für Phil. und Päd. 2. Abtbeilung, Het 3—5 (1896).

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Schurkerei des Königs in Händen hat. Von einer Schuld iſt bei ihm feine Rede; der Tod iſt ihm nicht Strafe, ſondern Erlöſung.

Man kann Humbert faſt in jedem Punkte beiſtimmen, nur nicht in der Auffaſſung Ophelias, die er zu tief unter den Helden ſtellt. Auch über ſie giebt uns Shakſpere ſein unzweideutiges Urtheil ab in der Stellung, die er ihr zuweiſt, zunächſt dem Herzen ſeines Helden und in den Worten der ſündigen Königin, die ſie ihr mit den Blumen in das Grab nachſendet: „Der Süßen Süßes.“ Es iſt faſt verwunderlich, daß ein Mann von fo feiner Empfindung, wie Humbert, dieſe reizvolle Frauen— geſtalt nicht als das erkannt hat, was ſie iſt: eine zarte, ſcheue Mimoſe, oder, wie Mrs. Jameſon jo ſchön jagt, ein weißes Täubchen, das wider: ſtandslos vom Schickſalsſturme mitgerifjen wird.

Die Lektüre dieſer tief dDurchdachten und gefühldwarmen Schrift macht einen berzerfreuenden Eindrud gegenüber den zahlreihen Verletzungen, die der bloße, beichränfte Verſtand dem herrlichſten aller dichterijchen Geihöpfe, der großartigften Tragödie der Weltliteratur fort und fort zufügt.

Auch die Freude an der Änterpretation diejed Kunſtwerkes nimmt niht ab. So iſt in diefem Sahre Schlegeld „Hamlet“ erläutert erichienen von Eduard CEoßmann*), defjen zahlreiche Anmerkungen Manches berichtigen und aufflären, was Schlegel falſch oder jchief aufgefaßt hat. In einer Anzahl von Fällen irrt der Verfaſſer, aber in der Mehrzahl behält er Schlegel gegenüber Recht, und die Aenderungen, die er vorjchlägt, find meijt wohlbegründet und ſprachlich fein formulirt.

(Uebernomm. m. einigen Kürzungen aus dem „Ritterarifhen Echo“, II. Jahrg, Heft 4 und 5 [15. Nov. u. 1. Dez. 1899)).

Buhdramen.

Unter einigen Dramen, die alle das gleich jtarfe aber noch unerfüllte Berlangen nach dem Licht der Nampen gemeinfam haben, ſeien zunächit zwei öjterreichijche genannt: „Familie Wawroch“ von Franz Adamus**) und „Michel Gaiszmayr“ von Franz Sranewitter.***)

Adamus wandelt gelegentlich in Zolas, öfter in Hauptmanns Spuren. Jene Szene, in der die wild gewordenen Weiber Nahe an dem profit- gierigen Wirth nehmen wollen, findet fich in ähnlicher Weife im „Germinal“. Die fchlefischen Weber Hauptmanns find bei Adamus durch czechijche Grubenarbeiter erjeßt. Selbit das Weberlied findet jeine übrigens durch—

) Baris, Firmin Didot & Eie. (D. 9%.) *) Verlag von Albert Langen, Münden. **) Berlag von ©. Fiſcher, Berlin.

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ans nicht unwirkſame Parallele. Endlich greift aud hier zum Schluß das Militär ein, jedoch von vornherein mit Erfolg. Mit diejer Aufzählung von Mehnlichkeiten, die übrigend garnicht aufgefpürt werden brauchen, fondern auf der Hand liegen, ſoll Adamus durchaus nicht von vornherein als Ihwächliher und unfelbjtändiger Nachahmer Hingejtelt werden. Man bat überall Plagiate auffpüren wollen. Bekannt ijt der Fall, in dem Leſſing die unrechtmäßige Benutzung Anderer nachgewiefen werden ſollte. Von modernen Yutoren hat man Knut Hamfun als Schuldner Doftojewätis in Anklagezuſtand verjegt, und D’Annunzio, der große Staliener, joll gar aus aller Welt und aller Zeit feine Werke zufammengejtohlen haben. Ent: ſcheidend für die Selbjtändigfeit eines Autord dürfte aber in erjter Linie faum die Erfindung der Situationen und Findung des Stoffs fein, jondern vielmehr die Selbjtändigkeit der Anſchauung und inheitlichleit der Empfindung. Das Perſönliche jollte immer jchwerer wiegen, ald das Stofflihe. So kann auch Adamus feine Eigenart gegenüber dem Dichter der Weber ruhig behaupten. Das Unterjchiedliche liegt, abgejehen von dem anders gearteten Milieu, vor Allem in der individuellen Zufpigung, die Adamus feiner Tragödie giebt. Er zeichnet nit nur dad große, graue, eintönige Mafjenelend, jondern er hebt aus der Mafje beitimmte Perjonen heraus und läßt deren Schickſal ſich vollenden. Es ift der Konflikt in der Familie Wawrod, der ſich bejonderd zwifchen Vater und Sohn bis zum Aeußerſten zujpigt. Der alte Wawroch ijt ein Trinker, Tagedieb und Wichtigthuer. Beſonders groß kommt er ſich vor in feiner Stellung als Vertrauensmann der Sozialdemokratie. Als es unter Anreizung und Leitung einiger au8 Wien gejandter Agitatoren zum Streit und Aufrubr fommt, geräth der Alte mit jeinem Sohn Robert in Konflikt. Robert hat es als jtrebjamer, fleißiger, ordnungd- und rubheliebender Mann zur Stellung eined Maſchiniſten gebracht und das ift im Verhältnig zur Lage des Grubenarbeiter8 jchon eine Art Herrenjtellung. Robert hatte als Nüngling den innigiten Wunſch, nod) weiter zu fommen, bis zum Ingenieur. Die Fähigkeiten dazu hatte er jicher, wenn nur der Vater die Mittel dazu hätte geben wollen. Der aber vertrant und vergeudete Alles, verlor jeine Stellung und lebt nun von dem, was Frau und Sohn verdienen. So ift es gefommen, daß Vater und Sohn ſich halfen. In einer Arbeiter verjammlung, in der jein Vater den Vorfig führt, jpricht Robert, von ehrlicher Ueberzeugung geleitet, gegen den ſozialdemokratiſchen Agitator: „a, Gleichheit wie im Grabe! Nur eine Meinung im ganzen Land, auf der ganzen Erde! Na natürlih! Ihr wollt ja Alles uniformiren! Der jetzige Staat is nod) barmhberzig, gnädig, verglichen mit Euch; er uniformirt nur die Soldaten, nur ein paar Leute, und nur von außen, feine Kafernen find nur für Soldaten: Ihr aber wollt auch die Gedanken, Gefühle, Wünſche. kurz Alles, Alles in eine ſchwarze Uniform fteden und die ganze Welt in eine Kajerne verwandeln!“ Dies ijt die nicht gerade tiefe, aber ehrlich ge

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meinte Weisheit dieſes Sozialiftenfeindes. Ob der Maſchiniſt für feinen Muth, den Arbeitern entgegenzutreten, Obermajdinift werden wird? Im Gegentheil. Gr erhält feine Kündigung. Und das geht jo zu. Die Arbeiter find bejonderd auf ihn empört und wollen mit ihm nicht zus fammen arbeiten. Dem Unternehmer liegt daran, möglihjt bald Ruhe zu erhalten. Statt num die materielle Forderung der Arbeiter zu bewilligen, giebt der Schlaufopf ihrer ideellen nad); er jchmeichelt ihrem Solidaritäts- gefühl und giebt den Maſchiniſten Robert preis. - Der verliert Stellung und Brod und mit ihm die Familie, deren Ernährer er war. Er, der Mann der Ordnung und Disziplin, geht wieder zu der Kompagnie in der benach— barten Stadt zurüd, in der er früher jeiner Militärpflicht genügt hatte. Die nothleidenden und aufgehepten Arbeiter beruhigen ſich nicht jo jchnell. Sie wollen alle Forderungen bewilligt erhalten. Sie ziehen in Rotten umher und zerjtören die Werte. Militär wird herbeigeholt. Die Mafje will nicht weihen. Es muß gejchofjen werden ; eine Kugel aus Roberts Flinte trifft den alten Wawrodh. Der Sohn Hat den Bater erjchofjen. Das könnte jchon ein Schluß fein, ein peſſimiſtiſcher Schluß, der da be— deutete: jo jehr it die Natur von dem, was gejellichaftliche Ordnung heißt, vergemaltigt, daß fich töten muß, was auf Innigſte zujammenjtehen jollte. Der Dichter aber hat ed noch anders beitimmt. An der Stätte, an der das Blut aufrührerifcter Bürger geflofjen ift, jeßt das nad) eingetretener Ruhe wieder froh und fromm gewordene Unternehmertum ein Kreuz, zur Sühne und Mahnung. Dieſes Kreuz wird in Anweſenheit eines hohen Regierungdvertreterd und unter Anſammlung der ehrjürdtig jtaunenden Maſſen feierlich enthüllt. Angeſichts des Kreuzes gejteht Robert, daß er jeinen Vater nicht aus Zufall erſchoſſen hat: „Aller Jammer und alles Elend, was über und gefommen is, das hab’ ich in ihm verkörpert ge= jehen, damald! Wie er damals da oben gejitanden is, beraujcht, die bejoffenen Kerle mit wilden Worten aufhegend, das Hemd aufgeriffen und immer jchreiend und mit den Händen juchtelnd jo gemein, jo pübel- haft gemein! was ich in meinem ganzen Leben erduldet hab’ von ihm umd von Anderen, aller Sammer und alle® Elend mein ganzes verpfujchtes Qeben das hab’ ich mit ein'mal in mir gejpürt lehendig und eine Erbitterung hat mid; gepadt nit ihn nein! ala müßt’ ich Gott vom Himmel herunterreißen und vor meine Kugel ftellen! Rache! Race! hat’3 in mir gejchrien Rache für mein verpfufchtes Leben! Rache fir Alles, was in mir brutal zertret'n word'n ijt! Und mein Finger hat ſich Frampfhaft um das Gewehrzüngel geichloffen und und dann wurde es mir ſchwarz vor den Augen und was weiter gejchehen id, weiß ich nich ....“ Der Dichter treibt die Dinge jtarf, jajt frampfhaft zur üäufßerjten Epige, aber ohne Einfeitigfeit. Er ergreift nicht Partei. Alle find fie jchlecht und verfommen: Arbeiter und Unternehmer, Sozialdemokratie und Regierung. Robert, der im

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Grunde der Seele ein guter Menjch ijt, muß in dieſer Gejellichaft und bei diejer Staatdordnung zu Grunde gehen, zum Verbrecher werden. Vielleicht nicht ohne fymbolifche Bedeutung ragt am Schluß das Kreuz mit dem ©efreuzigten über die Bühne, die eine jo elende Welt bedeutet. „Erlöfe und von dem Uebel“ das ift die Schlußjtimmung, die dieſe Tragödie hinterläßt. Wenn auh wie bemerkt iſt der Dichter Alles bis zur Spihe treibt, jo iſt doch zu bedenken, daß dieſe äußerite Spige ſich auf einer gut und breit angelegten Bajis erhebt. Das Milieu ift unter Verwendung von fünf Dialeften jorgfältig heraus- gearbeitet, und die einzelnen Perjonen find in ihrer Individualität genau geihaut und getreu wiedergegeben. Gerade die Bereinigung naturali: jtiiher Treue in der Gejtaltung der Perjonen und theatraliicher Be— gabung in der Herausbringung der Effekte läßt auf ein wahrhaft drama tijihed, wenn auch noch in jeiner Jugendlichfeit unausgeglichene® Talent ſchließen.

Ein ſoziales Drama ähnlichen Gehaltes, wie das eben beſprochene, iſt auch Kranewitters „Michel Gaiszmayr“. Es behandelt den Aufſtand der Tiroler Bauern und Bürger im Jahre 1625. Sie werden geknechtet von dem Fürſten, dem Edelmann und dem Pfaffen. „Dem Edelmann, die Frucht gehört ihm, die ihr ſaurer Schweiß der Erde abgetrotzt, dem Edelmann, der Zins und Geld und Rabatt fordert, um bei Wein und Weib der Luſt zu jröhnen, deren Tafel der Armen Hunger dedt. Weh diejen, drei Mal weh, wenn Himmel! Ungunjt oder Roß und Hund des Herrn, wenn jein Gejaid die Saat’n in den Bod'n jtampfte. Mit Stahl um- panzert hat er jeine Bruit, mit Eis fein Herz, und falt'n Hohn's entgegnet er dem Bau’r, der, ihn um Nachſicht bittend, fommt: Zahl oder jtirb,* und treibt ihm weg von jeiner Hütt'n. Nicht befjer treibt’3 der Pfaff. Auch ihm gilt's zu robott'n und zu zinſ'n von früh bis jpät, und was einjt Baljam war, des Herrn Wort, das ijt jegt Gift, jeitdem e3 Geißel ward in feinen Händen. Mit Ablaßkram und Bilderdienit umnachtend feiner Scäflein Heerde, ſitzt eine Rieſenſpinn' er did im Nep, der Mermiten aller Armen, der Wittwen und der Waijen Gut verzehrend. Bei Gott, wenn er geboren, muß der Landmann bledh'n, und wenn er jtirbt, jein Letztes nimmt der Pfaff. So leb'n Alle vom Bauern; armjelig, ein Lazarus, bededt mit Schwär'n und mit Wund'n jchleiht er dahin auf feiner Scholle. Mit jedem Jahr frümmt fich jein Rück'n tiefer, wird fein Fußtritt ſchwerer, bis er endlicd), jtumpf an Geift und Herz, ein Hohn des höchſten Schöpferwillen, der ihn als nächſtes Eb’nbild erihuf, darin verſinkt.“ So fieht Michel Gaiszmayr, der Führer der Bauern, die Dinge an. Anders ijt die Auffafjung des Edelmanns: Der meint, „daß das die Ordnung ift, wie fie Gott g’jegt bat. Ciner muß Herr jein und wieder einer Sinecht, und weil i einmal der Herr bin durch jeine Gnad bei Gott's Marter, will i's auch recht jein, verlang

Notizen und Beiprehungen. 855

i, was mir bührt und zulommt, nit mehr und nit weniger, nach altem, ewig feitg’jegtem Necht !* Unter Führung Michel Gaiszmayrs empören ſich die Bauern und ziehen brennend und mordend, vor Allem aber plündernd durchs Land. In diefer Gefahr greift der Statthalter Salamanka zu dem Mittel, die Aufrührer durch Berjprechungen zu beruhigen. Die dummen Bauern laſſen fich wirklich von dem fchlauer Spanier umgarnen, zerjtreuen fich und kehren heim, theilweis wenigſtens der andere, Kleinere Theil möchte weiterfämpfen. Aber jelbit Gaiszmayr hofft nichts mehr und räth zur Heimfehr. Da erhält er die Nachricht, daß fein gefangener Bruder graufam hingerichtet iſt. Auf diefe Schredendfunde hin erklärt er jich bereit zu einerı Schritt, den er früher zu thun fi) gemeigert hatte. Er will nad Venedig eilen und den äußeren Feind zur Unterjtüßung der Bauern ind Land holen. Doc dazu fommt ed nicht. Denn er wird, für vogelfrei erflärt, von einem jpaniichen Kriegsknecht meuchlingd ermordet. So endet der Tiroler Bauernaufjtand damit, daß die Willfür und Grau— famfeit der Herrichenden ſchwerer denn zuvor das gefnechtete Volk peinigen. Das Drama ijt theatraliſch wirfjam und äußert bühnengerecht aufgebaut. Eine Reihe von Szenen, in denen dad Elend des Volkes dargelegt wird, find in ihrer Knappheit und dramatiichen Steigerung jehr gut gelungen. Das Tragiiche in diefem Drama ijt darin zu erbliden, daß die Bauern im Grunde durch eigene Schuld bejiegt werden, wie es auch eine der Per— fonen offen ausſpricht: „Das ift’3 g’wei’n: Sie hab’n uns nit b’fiegt, ſelbſt hab'n wir und b'ſiegt und and Meſſer g’liefert, weil wir, jtatt z'nehmen, uns aufs VBerhandeln eing’lafj'n, weil Jeder nur auf jein Fell, auf fein’ Vortheil g’fchaut, weil wir nit einig war'n.“ Das ift das tragijche Ver: hängniß dieſer Bauern, im Elend jo jehr verfommen zu fein, daß fie, faum frei geiworden, der freiheit al& unwürdig jich erweifen. Das ijt das wahre, das tragische Unheil der Noth, daß fie nicht nur unglüdlich, fordern aud) ſchlecht macht.

Soziale Tragödien werden heutzutage in manchen Kreiſen ganz be— ſonders geſchätzt. Ich ſelber halte die ſoziale Tragik für den niedrigſten Grad des Tragiſchen. In ihr beruht das Tragiſche auf beſtimmten Ge— ſellſchaftszuſtänden, von denen die Menſchen und ihr Geſchick abhängig find. Es find das eigentlich materialijtiiche Tragödien, die den Marxſchen Saß zur Geltung bringen: „Es iſt das gejellichaftliche Sein, wodurd) das Be: wußtjein der Menjchen bejtimmt wird.“ Solche gejellichaftlihen Verhältniſſe find doc) jtet3 vorübergehender Art. Es giebt aber eine Tragif, die aus einem Zwieſpalt jtammt, der der Weltjeele und dem Leben an fich eigen ilt. Dad ijt ein ewig währender, geheimnißvoller Dualismus, der in jeinem ureigenjten Weſen nicht verftandesgemäß zu erfennen, wohl aber in taus jenderlei Gejtalten zu empfinden iſt. So halte ich denn 3. B. Hauptmanns „Friedensfeſt“ für ein tiefered Werk als dejjelben Dichters Weberdrama. Auch das individuelle, au der eigenen Seele jtammende Schidjal des Fuhr—

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manns Henjchel wirft ergreifender, als alles thurmhod) gehäufte Weberelend. Uebrigens ift im großen Ganzen die Mode der jozialen Tragödie bereits überjchritten und an die Stelle einer Tragödie der Gejellichaft die Tra— gödie der Seele wieder in vertiefter Weife zur Herrſchaft gelangt.

Als ein individualijtiiches Seelendrama it „Don Pedro“, Tragödie von Emil Strauß*), aufzufaffen. Bon einer Vertiefung babe ich aller= dings nichts finden können. Ich hatte dad Buch fchon fait zu Ende gelejen und fragte mich noch immer: Was joll dad Ganze eigentlih? Der Statthalter Don Pedro de Luna hat ein jchöned und vornehmes Mädchen, Siabella, geheirathet. Er liebt aber Donna Juana de Menezed umd findet bald nad) der Hochzeit Gelegenheit, ihr feine Liebe zu gejtehen. Sie weiſt ihn ab, da fie jchon die Verlobte des Leutnants Don Bernardo de Aguilar iſt. Den tödtet er. Pedro ijt bereit, Alled zu vernichten, was ihm hindernd in den Weg tritt und Nuanas Liebe zu erzwingen. Er überwindet in der That unglaublihe Nöthe und Gefahren und erreicht jchließlich, daß Juana erklärt, jein Weib werden zu wollen. In dem Augenblid jtirbt er, vom Ueberſchwang des Glücks ins Herz getroffen. Was joll dad nun? Was bedeutet e3, daß Pedro ohne Bedenken und Gewiſſen jein rechtmäßiges und ihn vergötternded Weib verläßt und einer anderen Liebe unter taujend Gefahren nahjagt? Don Pedro giebt gegen den Schluß ded Dramas jelber jolgenden Sinn jeined Lebend an: „Wozu hätte ich gelebt, wenn ich nicht meine ganze, ganze Sraft dazu verbraucht hätte, die Ungefügigfeit, Armuth und Schmerzhajtigfeit dieſes Lebens zu mindern, indem ich wenigitend meiner Noth Herr zu werden fuchte?

. Da wirbelt nun vor und ein Strom feindlicher Gewalten, an dem ich meine Kraft erproben, den ich durchichwimmen muß zum Ufer friedlichen, geficherten Wirkens hinüber. Wer mir im Schwimmen den Weg verlegt, den muß id; ermwürgen können, jonjt war id) die Probe nicht wert! Nur die fiegreiche Kraft ift die rechte Kraft zum Frieden und zur fortwirfenden Beglüdung. ... Auch ich habe Stunden gehabt, wo ich verjunfen dahocdte, jchaudernd in den Tiefen meines Lebens mwühlte uud mich von ihren Greueln und Lajten bejchweren lie, aber dann mußte ich wieder aufitehen und die Hände waſchen, und mic freuen über das unbegreiflihe Wunder, daß aus ſolchen Tiefen von Blut und Unrath die weißejten Lilien aufjprießen.“ Wir haben es aljo mit einer Urt des Uebermenſchen zu thun, mit einem Drama zur Ver— herrlihung der Willendfraft. Wir begreifen nun wenigſtens die Abficht des Dichters. Aber diefe Abficht ift emtichieden nicht erreicht. Der ganze Hall Liegt zu abfonderlich, phantaſtiſch, romantiih, und iſt dabei, trog des Abſonderlichen, Phantaſtiſchen und Romantiſchen, uninterefjant. Viele8 in dem Drama, die Spradhe und da3 Temperament vor Allem,

*) Berlag von ©. Fiſcher, Berlin.

Notizen und Beiprehungen. 557

verrathen den Dichter, der aber in diejer Dichtung fehlgegangen ijt! Die Tragif dieſes Dramas ijt wirkungslos, und zwar darum, weil wir aus dem abjonderlichen Einzelfall durchaus nichts allgemein Menſchliches heraus— fühlen können, das ung jelber trifft. Das Problem hat der Dichter jid allerdings zugleic, als individuelles und generelled gedacht. Denn er läßt jeinen Helden von ſich jelbjt behaupten: „Wie froh wäre ich, hätte ich meinen fHleinen Handel von jeder Berfettung löjen können! Wäre er mein eigen. Könnte ich ihn von der Allgemeinheit trennen, wie ich den Apfel, den ich ejien will, vom Baume pflüde! Aber da3 ijt Fein Kleiner Theil meines Leides, bei jeder Regung fühlen zu müfjen, wie jo unlösbar ich ins allgemeine Leben verflochten bin!“ Der Held täujcht fich über ſich jelbjt, wie und weil fih der Dichter über die Wirkung feined Dramas getäufcht hat.

Geijtreih und tief ift das Problem in dem Trauerfpiel „Filippo Lippi“ von Eberhard König.*) Es ijt ein Nenaifjancedrama und fpielt in der erjten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts unter Florentiner Künſtlern. Zwei Maler, Filippo Lippi und Pietro Borbottone jtehen ich gegenüber. Lippi erjcheint al3 Kind des Glücks. Er ijt berühmt unter den Künftlern und geliebt von allen Frauen. Eine jtrahlende, nie verjagende Heiterkeit jcheint von ihm auszugehen. Die tolliten Streiche, die ein Bocaccio ver— arbeiten könnte, werden von ihm erzählt, um jo toller, als der glücliche Freund der Mujen und der Frauen auch Klarmeliterbruder und Kaplan ift. Bu jener Beit war in Florenz unter der Herrichaft der Medicis eben Vieles möglid und erlaubt. Ihm jteht Borbottone als audgejtoßener Sohn des Unglücks gegenüber. Er bat ald Maler feine Erfolge, obwohl oder vielmehr weil jeine Bilder voll brutaler Kraft und wilder Leidenſchaft erfüllt find. Der häßliche Mann wird von den trauen verlacht und veradhtet. Und doc) jehnt fich jeine Seele nad der Sonne des Ruhms und der Liebe. Er gilt als gewifjenlojer Schurke und als neidischer Verkleinerer alles Großen. Dody der Schein trügt. Lippi ijt gar nicht jo jehr der hehre Sonnenjüngling. Er hat eine Masfe vor und wie er jelber erklärt

Geht einfam, unbelannt duch Welt und Menſchen Einfam! Sein Herz ijt einfam! Seine Belle

Im jtillen Klojter kennt ihn beſſer, glaubt nur!

Die Stunden, da er mit jich jelbit allein,

Bei Gott dem Herrn, jind wenig neidenswerth!

Da fludht er jeinem Stern, der tollen Miſchung Feindjeliger Willensfräfte in feiner Bruft,

Die ewig gären, nimmer Frieden geben,

Al wär's ein graufamsmüßiger Spaß des Schöpfers! Da ringt und betet ev und betet doc nicht,

*) Berlag von S. Fiſcher, Berlin.

558 Notizen und Beſprechungen.

Und padt fein Selbjt wie einen Widerjacher Mit unbarmherz’ger Fauſt verzweiflungsitarf Im Naden, drüdt es auf die Knie nieder, Befiehlt und fleht: „O glaube! glaub und bete!* Kajteit fein innere® Schaun: Madonnenreinheit Zu jehen, zu bannen in frommem Yarbenpjalm Sa! Erdenweibes Schönheit findet er!

Die ottgebärerin die Züge trägt fie

Der Weiber, die in jeinem Arm geruht,

Und lächelt jpöttiih. Ins Geſicht ihr jpeit er Und ringt um SHerzendeinfalt, Kinderfrieden!

So ijt er denn mit all feinem Haften und Jagen, feiner Lujt und jeiner Heiterkeit nichts als einer, „der in Aengſten ſucht das Glück“. Es ijt ihm beichieden, dieſes Glück zu finden, in Lufrezia Buti. Sie wird ihm „die Offenbarung, was ein Weib, ein echted, reined Weib dem Manne iſt. An fie flammert er ſich „mit Seelenängjten“, weil fie erlöjen ihn, entjühnen fol. Lippis höchſtes Glück wird Borbuttones tiefjtes Leid. Denn auch diefer Unglüdjelige liebt Lukrezia, der er aber nicht einmal zu nahen wagen darf. Borbottones Haß jchwillt über:

Kapbudelt Alles jeiner Herrlichkeit,

Dient Alles jeinem frechen Siegeöwillen

Ih mad) den tollen Tanz um den Gefrönten, Des Glückes Rojen in dem lod’gen Haar,

Der wie der Jiegende Junker Frühling jtrahlt Nicht mit! Er foll dran glauben!

Borbottone überfällt Lippi meuchlingd und tödtet den vermeintlichen Sohn des Glücks. Nicht gewöhnlicher Neid und Heiner Haß iſt das Motiv:

Mein Haß, mich deucht, ijt ewig wie die Welt, Naturgewollt, wie der Elemente Feindjchaft! Armſel'ge! Willſt du zwijchen Sturm und Fluth Den Hader jhüren, der ihre Seele iſt? ...

Ha wart’! Er joll mir Rede jteh’n! Vergehen Soll er vor meines Nichterblided Droh'n!

Ihn frag’ ih aus kann ich mit Gott nicht rechten: Eoll mir die Vollmacht zeigen, die er hat,

Soll mir fein Bud, fein Soll und Haben zeigen: Hier der Verdienſt und hier der Lohn: das Glüd!

So ijt in Wahrheit Borbottone eine in tiefjtem Maße tragijche Geftalt, gerade wie nur umgekehrt jein Gegner. Zum Sclufje löſt ſich der Konflikt und jteigert fi die Tragif, indem Borbottone erfennen muß, daß

Rotizen und Beiprehungen. 559

Lippi garnicht der neidenswerthe Liebling der Gottheit war. Lippi befennt jterbend:

Dir aber, Mordgejell, jet meine Rache!

Hör’: Was dich heulen mache vor Verzweiflung!

Dein Mord war Irrthum! Nie war mein das Glüd! In ineiner Seele fraß der Unruh Feuer

Wie in der deinen Schmerz war mein Grfühnen, Grimm meine Luft, Empörung mein Genießen,

Mein täglih Brot: Neue und Selbitverdammung.

Irrſal mein Dafein! Und dein Irrthum, Narr,

Log mir den Dolh ins Herz! Verzweifle dran!

Irrthum ift Alles! O wie ich's erkenne!

Nun möcht' ich ſteh'n auf einem hohen Berge

Und lehren alle Welt, was ich gelernt

Und muß nun ſierben: es giebt kein Recht auf Glück!

Borbottone bricht klagend an der Leiche zuſammen:

Ich habe meinen einz'gen Freund erſchlagen!

Nun bricht die Welt,

Die morſche, über meinem Mörderhaupt zuſammen! ... Wie biſt du ſchön! Du edles Angeſicht! ...

Ich hab' dich je und je geliebt! Jetzt fühl' ich's, Du ſüßes, herzbezwingend Liebenswürdiges!

Mein Haß war Liebe; eiſernder Sehnſucht Qual! Irrthum war Alles!

Wir haben es unzweifelhaft mit einer tief gedachten, philoſophiſchen Dichtung zu thun, deren Charaktere groß und Far gejtaltet find und deren Sprache von Kraft und Wärme erfüllt iſt. Schade nur iſt es, daß die große Mittellinie ded3 Werkes von einer Fülle von Nebenperjonen, Nebenmotiven und Nebenhandlungen verwirrt wird, jo daß mir eine Bühnenwirkung dieſes Dramas ausgeſchloſſen erjcheint.

Mar Lorenz.

Memoiren einer Idealiſtin von Malwida von Meyjenbug. Drei Bände. Bierte Auflage. Berlag von Schuſter und Löffler, Berlin und Leipzig. 1899.

Fräulein Malwida von Meyjenbug ift im Sahre 1806 ald Tochter eines hohen Beamten, der bald darauf leitender Minijter ſeines Heimathlandes wurde, in Kaſſel geboren. Sie beichließt jetzt in Rom ihren Lebensaben?. Die Zeit Napoleond und die Zeit Bismard3 ift an ihr vorübergezogen und der Strom der Zeit hat fie oft ſelbſt gepadt und mitgerifien. In

560 Rotizen und Beiprehungen.

der Zeit der Reaktion kam jie in gewiſſe Strömungen hinein, die damals als revolutionär angejehen wurden. Die Folge war, daß fie nad England ind Eril ging. Hier wandte jie fi) zunächſt an Kinkels, von denen fie mit herzlichſter Freundſchaft Hiljßbereit aufgenommen wurde. Die Lejer der „Jahrbücher“ wird nad) Kenntnignahme der im Auguſt- und Septemberbeft veröffentlihten Briefe Johanna Kinkels ficherlid folgende Schilderung interejfiren: „Sohanna Kinkel Hatte nicht3 in ihrem Aeußern von dem, wad man gewöhnlid; bei Frauen jchön oder anmuthig nennt; ihre Züge waren jtarf, faſt männlid, ihr Teint auffallend dunkel, ihre Geitalt majjiv, aber über dem Allen thronten ein Baar wunderbare dunkle Augen die von einer Welt von Geijt und Empfindung zeugten, und in den reichen Modulatıonen ihrer tiefen, vollen Stimme tönte eine Fülle des Gefühls, fo daß man unmöglich beim erjten Eindrud fagen konnte: „Wie häßlich ift dieje Frau“, jondern fagen mußte: „Welch eine bedeutende Frau! und weiches Glüd wird es fein, fie näher fennen zu lernen.“ Kinkel dagegen war, troß aller überjtandenen Leiden, in der vollen Kraft feiner männ- lihen Schönheit; fein Benehmen hatte etwas Sanftes, Feines, ja Zierliches, dad man Sohannas jchrofferem Wejen gegenüber weiblich nennen Eonnte; er war höflich bis zur Galanterie, äußerjt angeregt in der Unterhaltung und voller Wig, dem er zumeilen abfichtlich den Anſchein der Frivolität geben wollte.“ In dem Kreiſe der VBerbannten trat Fräulein von Meyſen— bug neben vielen Anderen, 3. B. Lothar Bucher, der fie in der Vollks— wirthichaft unterrichtete, bejonders Mazzini und ganz befonders deni Rujjen Alerander Herzen nahe. Ihn jchildert fie mit eingehenditer Liebe und nad) diejen Schilderungen muß er in der That ein ungewöhnlid) interejlanter Mann gewejen jein, „nicht® weniger als ein doftrinärer Nevolutionär. Er war viel zu geijtvoll, um zu glauben, daß man den lebendigen Strom der Geſchichte in dad Bett eined Syſtems, einer vorgefaßten Theorie ziwängen könne. Es mar ihm gleichgiltig, ob Monarchie oder Republik, vorausgejegt, daß dad Leben nicht jtagnire, daß die Wellen hoch gingen und das Dajein vorwärt3 trugen zu neuen Entiwidelungen.* Aus einem jeiner Briefe wird folgende Meinung mitgetheilt: „Die Zeit der revolutionären Demagogie ift vorbei. Mit jedem Tage ſehe ich klarer, daß die ganze Epoche der politijchen Revolutionen zu Ende iſt, geichloffen wie die Epoche der Rejtauration, ohne die Frage zu löſen. Iſt denn die religiöje Frage beendigt? Nein aber fie intereffirt nicht mehr. Wir gehen in eine neue Zeit, und Alles, was diefe Herren, diefe Antediluvianer, jchreiben, ift Vergangened.” Mit den Antediluvianern dürften wohl Marx und jeine Anhänger gemeint fein. Won England begab fi Fräulein von Meyſenbug nad Paris. Hier traf fie mit Wagner zujammen. Dejjen Muſik umd Scopenhauerd Philofophie find dann für ihre jchließliche Lebensauffafjung bejtimmend gewejen, ohne daß jie die individualijtifchideologiihe Grund— ftimmung der bürgerlihen Demokratie aus der Mitte ded Jahrhunderts

Notizen und Beiprehungen. 561

ganz [08 geworden wäre. Doc wir follen aus diejen „Memoiren einer Idealiſtin“ feine Philofophie lernen. Auch darauf kommt es garnicht in eriter Linie an, fie als Gejchichtsquelle auf ihre größere oder geringere Buverläffigleit zu prüfen. Ahr Reiz iſt in erjter Linie pſychologiſcher Art, indem fie zeigen, wie eine kluge, tapfere und gerade Frauenjeele zu Er: eignifjen und Perfönlichkeiten Stellung genommen hat, die fait ein Jahr: hundert auszufüllen vermochten. Ein Sahrhundert im Spiegel einer Frauenfeele da3 iſt der Sinn diefer drei Memoirenbände. Mar Lorenz.

Nationalöfonomie.

Die öffentliden Glüdsjpiele. Bon Dr. Rudolf Sieghart. Wien 1899, Manzſche Buchhandlung. VII und 411 Seiten.

Die voll3wirtbichaftlihe Behandlung der öffentlichen Glücksſpiele ift biöher, im Gegenjaß zu der reichhaltigen juriftiichen Literatur, über vereinzelte Monographien und Artikel über Spezialfragen jowie über allgemeine kritiſch— agitatoriihe Broſchüren nicht hinausgefommen. Erſt das vorliegende vor Kurzem erichienene Buch Siegharts giebt und einen volljtändige Dar— jtellung der Geſchichte ſowie ded Weſens und der Wirkungen dei ver- jchiedenen öffentlihen Glücksſpiele.

Als Kinder der Geldwirthichaft und einer an plögliche Gewinne ges wöhnten Volksſtimmung find jie gegen Ausgang des Mittelalterd in den reichen belgischen und italienischen Handelsjtädten aufgefommen, um ſich von dort bald über fait alle europäijchen Länder zit verbreiten. Früh wurden fie den finanziellen Intereſſen der Fürſten dienjtbar gemacht, die fih vielfady mit allen Mitteln bemühten, die Spielleidenjchaft ihrer Unter- thanen fünjtlich zu erregen. Eine ganz eigenartige Rolle haben die öffent- lihen Glücksſpiele in Dejterreich geipielt, wo fie als wichtige Glieder in der Kette der merfantiliftiichen Wirthichaftspolitif auftreten. Sie jollten die Rapitalbildung für große induftrielle und kommerzielle Unternehmungen befördern und zugleid; den Abſatz der Fabrikate erleichtern; daneben dienten fie natürlich auch fiskaliſchen Zwecken.

Mit der Schilderung der Entſtehungsgeſchichte der öffentlichen Glücks— ſpiele und ihrer wichtigen Rolle im Wirthſchaftsleben des ſiebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts hat Sieghart einen ſehr werthvollen und inter— eſſanten Beitrag zur Kenntniß des Merkantilſyſtems und feiner Finanz- und Wirthſchaftspolitik geliefert.

Nicht minder intereſſant, wenn auch natürlich in mancher Hinſicht ſchon Bekanntes bietend, ſind die Abſchnitte über das öſterreichiſche und italieniſche Zahlenlotto, die Lotterieanlehen, das Promeſſengeſchäft und die Klaſſen—

Preußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heſt 3. 36

562 Notizen und Beiprehungen.

(otterien der einzelnen europäifchen Staaten. Sieghart ift ein entichiedener Gegner der öffentlichen Glücksſpiele, und er verurtheilt das Zahlenlotto wie die Klafjenlotterie in gleicher Weife. In der That läßt es fi) auch bei genauerer Betrachtung der Frage kaum bejtreiten, daß ſich die Wirkung der lafjenlotterie auf die unteren Volksklaſſen von der des Lotto nicht erheblich unterjcheidet. Frappant ift der Nachweis des Verfafjerd, daß auch die Gemwinnjthoffnung bei der preußischen Klafjenlotterie nicht größer ala beim öjterreihiichen Zahlenlotto ijt.

Trogdem iſt Sieghart nicht für eine volljtändige Bejeitigung der Lotterien, da er mit Recht annimmt, daß fich der Spieltrieb des Menjchen dann in anderer, wahrjcheinlich noch jchädlicherer Weife Befriedigung ſchaffen würde. Wie unausrottbar das Spiel ijt, fieht man ja an Frankreich und England, wo an die Stelle der Lotterien die Wette, namentlich bei Wett: rennen, getreten ijt, und wo die Wettluft fi) zu einer die weitejten Volkskreiſe beherrichenden Leidenichaft ausgebildet hat. Sieghart ſchlägt deshalb ald Ausweg aus dem Dilemma eine Bereinigung von Spiel- und Spar— trieb nach Analogie der Lotterieanleihen vor: Der Staat joll unter Wer: ziht auf jede fisfalifche Ausnugung der Einrichtung eine große Sparkaſſe gründen, in der die Binjen ihrer Einlagen den einzelnen Einlegern nur zum Theil gutgejchrieben werden, während ein anderer Theil zur Bildung von Gewinnen benußgt wird, die unter den Mitgliedern der Sparkaſſe aus- gelojt werden. Eine derartige Zinjenlotterie hat übrigens ſchon Lorenz von Stein empfohlen, der jie ald eine Aufgabe, der Wifjenjchaft ebenio wiirdig wie der Verwaltung, bezeichnet.

Die Entwidlung der deutjhen Rhederei jeit Beginn dieſes Jahrhunderts. Bon Mar Beterd, Doltor der Staatswiſſen— ſchaften. Erjter Band. Jena 1899, Guſtav Fiſcher. VIII und 185 Geiten.

Eine Geſchichte der deutjchen Rhederei, wie fie der Berfafjer zu geben beabjichtigt, fehlte bisher; der Gedanke eines ſolchen Werkes mus unzweifelhaft al3 jehr zeitgemäß bezeichnet werben.

Der vorliegende I. Band, der die Entwidlung der deutjchen Rhederei bis zum Jahre 1850 jchildert, ift eine recht fleißige Arbeit, die aber, wie jo viele Erjtlingdarbeiten, häufig im ſtatiſtiſchen Detaillram jteden ge— blieben it. Der Berfafjer bat das augenscheinlich felbft gefühlt, und er ſucht deshalb in der Vorrede dad Uebermaß jtatijtiiher Daten mit der in diefem alle freilich recht deplazirten Redensart zu ent: ſchuldigen, das habe ſich nicht vermeiden lafjen, „wenn nicht an Stelle von Beweiſen umfontrolirbare Behauptungen treten follten.“ Es wäre aber im Intereſſe der Arbeit viel beijer geweſen, wenn der

Notizen und Beiprehungen. 963

Berfajjer die Zeit und Mühe, die er aufgewendet hat, um für jedes einzelne Jahr die Zahl und den Tonnengehalt der Schiffe von Wolgaft oder Barth x. genau zu regiftriren und zu fommentiren, dazu benußt hätte, einen einleitenden Ueberblid über die Entwidlung der Ahederei nad) dem dreißigjährigen Kriege zu geben, der als der tiefite Einfchnitt im deutfchen Wirthſchaftsleben überhaupt für alle neueren wirthichaftsgejchichtlichen Unterjuhungen den Ausgangspunkt bilden jollte.

Un anderen Stellen dagegen, wo detaillirte Ausführungen gerade am Plage gewejen wären, verjagt der Verfaſſer. So hujcht er 3. ©. über die Frage ded Unterjchieds zwijchen Negijtertonnen brutto und netto einfach mit der oberflächlichen Bemerkung hinweg, da3 Eingehen „auf die Einzelheiten der fomplizirten Sciffvermefjungstechnif würde zu weit führen.“ Das find aber gerade Tinge, deren Darlegung man von einem Bud über die deutjche Ahederei mit Necht erwarten kann.

Auf die Fortſetzung der Arbeit werden wir vermuthlich noch längere Zeit zu warten haben, da ihre „Weiterführung in Folge der Abreije des Berfafierd ind Ausland auf fpätere Zeit verichoben werden muß.“ Biel: leicht entſchließt fih Dr. Peterd noch zu einer gründlichen Umarbeitung und Kürzung des bis jet erjchienenen Theild, um uns eine volljtändige Geſchichte der deutichen Rhederei feit dem dreißigjährigen Kriege oder jeit dem Verfall der Hanja in einem handlichen Bande zu geben.

Bei Krupp. Eine jozialpolitiiche Neijeflizze unter bejonderer Berüd- jichtigung der Arbeiter-Wohnungsfürjorg. Bon Dr. W. Kley. Mit vielen Skizzen, graphiichen Tafeln und Tabellen. Leipzig 1899, Dunder & Humblot.

Der Verfaſſer jchildert zunächſt die Entwidlung des Kruppſchen Etablifjement3, das ſich aus den denkbar bejcheidenjten Anfängen heraus zum größten deutjchen indujtriellen Unternehmen entwicelt hat. Dann fegt er die allgemeinen Grundjäße der Kruppſchen Sozialpolitik dar, wobei er ſich leider jelbjt allzu jehr in den Gedanfengängen de3 patriarchalijchen Unternehmerthums bewegt. Zu einer ruhigen objektiven Beurtheilung der modernen Arbeiterbewegung hat er jich nicht aufzujchwingen vermocht; er behandelt fie im &egentheil in einer Tonart, die ſelbſt in den Gejchäfts- berichten von Unternehmer=Bereinigungen allmählid) jeltener wird.

Sehr injtruftiv ift dagegen die Schilderung der pofitiven Leijtungen der Kruppſchen Sozialpolitif, die ja in der That auf dem Gebiet der Urbeiterfürforge dur ihre Kranken-, Penſions-, Wittwen- und Waiſen— kaſſen, durch ihre Konfumanftalt, ihre Schulen, ihre Sparlajje etc., vor Allem aber durch ihre Wohn» und Logirhäufer ganz Hervorragendes ge= leiftet hat. Die Wohnungsfrage wird, wie ja ſchon der Titel anzeigt, mit

36*

564 Notizen und Beiprehungen.

bejonderer Ausführlichkeit behandelt, und der Verfaſſer hat überdies jeine Schilderungen durch Beigabe zahlreicher Abbildungen von Arbeiterwohne häufern anſchaulicher und lebendiger geitaltet.

Interefjant ift, daß man in Efjen mit der Ueberlafjung der Häuſer zu freiem Eigenthum der Arbeiter jehr jchlechte Erfahrungen gemacht hat, da die Arbeiter bemüht waren, ihre Häufer durd Aufnahme möglichit vieler Miether rückſichtslos auszunußen, alle mögliden Um- und Aus bauten vornahmen und fo die fanitären und jozialpolitiichen Zwede Krupps in furziihtigem Egoismus vereitelten. Was Kley über diefen Punkt mit- theilt, erinnert, wie man jieht, jehr an die Schilderungen, die Herner in jeinem Bud über die oberelſäſſiſche Baummollinduftrie von der cite ouvriere in Mülhauſen entwirjt. Deshalb ift man in Efjen im Allgemeinen zur bloßen Wermiethung der Häujer übergegangen, deren vorichriftgmäßige Benußung durd eine gründliche Wohnungsinipektion gewährleistet wird. Und in der That dürfte das Miethbhaud das ja keineswegs mit der Miethkaſerne identisch zu jein braucht das den nterefjen der großen- theil3 ſtark fluftuirenden Anduftriearbeiterichaft am meiften dienende Syſtem darjtellen.

Berlin. Paul Voigt.

Theologie.

Stopford U. Brooke, Glaube und Wiſſenſchaft. Reden und Aufſätze. In deuticher Uebertragung aus dem Englijchen von F. v. A. Mit einer Einleitung von Charlotte Broicher, Göttingen 1898.

Als ich die erjte Hälfte dieſer ſechsundzwanzig Neden und Aufſätze gelejen hatte, jtand ich unter dem peinigenden Gefühl, daß durch meine verſprochene Anzeige ein jtarfer Ton des Widerſpruchs würde bindurch- fingen müſſen. Ganz verjtummen kann er freilich im Folgenden nicht, aber er wird wejentlich übertönt und gemildert durch den Ton der Zujtimmung und der Freude. Denn je tiefer ich mich in die zweite Hälfte des Buches bineinlas, dejto mehr wuchjen in mir die leßteren Empfindungen.

Jedoch ehe ich mic dem Inhalt der Reden felbjt zumende, ein kurzes Wort über den Berfajjer und über die Entjtehung der vorliegenden Samnılung.

Eine feinfinnige Einleitung aus der Feder der Frau Charlotte Broicher unterrichtet den Lejer über Broofes Perjönlichkeit. Er ijt ein englifcher Geijtliher von urjprünglich evangelifaler Richtung der englijchen Hochlirche. Aus Gewiſſensbedenken trat er aus der Kirche aus, ohne ſich einer anderen kirchlichen Gemeinjchaft oder Partei anzujchließen. Am nädjiten fteht er den Unitariern. In einer eigenen lleinen Kapelle in London predigte er

Notizen und Beiprehungen. 565

einer feinen Gemeinde, die mit außerordentliher Treue an ihm Hing. Seit 1897 hat er krankheitshalber fein Amt niedergelegt. E83 wird deutjche Leſer, die überhaupt für religiöjed Leben etwas übrig haben, jofort für Brooke interejfiren, wenn fie hören, daß er ein Shiüler oder, wie Frau Broicher in der Einleitung jagt, ein „Ausläufer“ von Frederik William Nobertion ift. Frau Broicher Hat eingehend und treffend die Verwandt: ſchaft und die Verfchiedenheit beider Männer dargejtellt. Darauf ſei der Lejer verwiejen. Nur foviel mag gejagt fein, daß Broofe ein würdiger Schüler jeined Meijterd ift. Er hat Geijt von feinem Geiſt. Erreicht er ihn auch nicht, jo jteht er doch nicht weit hinter ihm zurüd. Wer Robertſon fennt und liebt, wird wijjen, daß damit viel gejagt iſt.

Die vorliegende Sammlung ijt eine, wohl vun der Ueberſetzerin ge: troffene, Auswahl von Reden aus den verjchiedenen Bänden der Broofe= jhen Sermons, die zum Theil in fiebzehnter Auflage vorliegen. Auch der Titel unferer Sammlung rührt wohl von der Ueberjegerin her. Die hier vereinigten Reden entſtammen ganz verjchiedenen Zeiten.

Und nun die Neden jelbft! Meinen lebhajtejten Widerſpruch muß ich erheben gegen die vierte Rede: Die Anbetung des unperjönlichen Gottes. Hier wird eine Art Frömmigkeit als chriſtlich proflamirt, gegen die wir ald gegen eine Todfeindin des echten chrijtlihen Frommjeind mit allen Mitteln anfämpfen müſſen, um jo mehr, als jie in der Gegenwart eine jtarfe und verführeriihe Macht hat: es ijt die Aeſthetiſirung der hrijtlihen Religion, ihre Auflöfung in Stimmung, Empfindung, Genuß. Das heißt aber die Religion entfittlichen und zum Gegentheil von dem machen, was jie ift. Um den Künjtler mit feinem poetiſchen Pantheismus fürd Chriſtenthum zu gewinnen, verfichert ihm Broofe, daß jein Schwelgen in der Poefie der Natur chriftliche Anbetung Gottes jei. „Am Herzen der Natur, an dem wir erivarmen, empfinden wir das Pulſiren un— endlichen Lebens und freuen und, in ihm mitzuleben und zu weben. Ein mächtiger Strom von Schönheit, Harmonie und Freude fließt in mich über. Sch öffne ihm Herz und Seele und bade mid) in feinem ewigen Thau gefund. Die Himmel neigen ſich zu mir herab, die Erde freut ſich, daß ich) über fie hinjchreite und die mächtige See iſt mein. Gie Alle und Alles, was in ihnen lebt und wechjelt, ijt die ewig gleiche Liebe, aus der ich mit reiner Freude trinke, einer Freude, die jenjeit3 des jchmerzerfüllten, jündigen, ſturmdurchwühlten, perjönlichen Lebens Liegt, für welches ich eines perjönlichen Gottes bedarf. Dede Meile, die ich weiter zurücdlege, breitet das ewig mwechjelnde Al in neuen Formen vor mir aus, das in jeinen Wurzeln Eins ift. Sch wandle mich mit den Erjcheinungen und fühle doch ihre Einheit. An fie verloren, bin ich von meinem Sonderleben ent= lajtet, befreit von dem ſelbſtbewußten Berjönlichkeitsgefühl. Jeder Wind— bauch, jeder Blumenduft, jeder vorüberziehende Woltenjchatten iſt mir erfüllt von der Schönheit und Liebe des unbegrenzten Lebens, und ijt mir

566 Notizen und Beiprehungen.

Offenbarung des unperfönlichen Gottesweſens. Ich liebe und bete fie jegt an al® unperfönlih“. Sp Brooke der Poet, der Künſtler. Und eine ähnliche „Anbetung“ muthet er dem Naturforjcher zu, der ſich ala Theil der unperfönlichen „Kraft“, die dad All durchdringt, empfindet. So ver- (odend aber diefe Stimmung gefchildert fein mag, einen jo beraufhenden Genuß diefe „Erregungen“ auch bieten mögen, eine Stimmung, in der Der Menſch darauf ausgeht, von feinem „jelbftbewußten Perſönlichkeitsgefühl befreit“, „unperjönlich“ zu werden, ein „pflanzliche“ Dafein zu führen, ift unfittlich, verwerflich, entnervend. Damit begiebt ſich der Menſch jeiner Würde. Sie aber gar Anbetung Gottes, chriftlihe Anbetung zu nennen, ift ein Schlag ind Angeficht der gefunden chrijtlichen Frömmigkeit. Denn dad gerade will die chriftliche Religion leiften und leiſtet jie, daß fie mir das perjönliche Leben dermaßen durch ihren fittlihen Gehalt jtärkt, daß ich mich aller Natur ſchlechthin als überlegen fühle, daß ich mich bewußt und ſtark von ihr unterfcheide, daß ich allem bloß naturhaften Sein einen neuen perfönlichen Inhalt entgegenfege. Dies preisgeben, heißt das Chrijten- tum preißgeben. Und ih würde vor Broofe warnen, wäre Der eben Gejcdilderte der ganze Broole. Das ijt er aber nidt. Er iſt nicht nur idealijtiicher Pantheift. Er jteht mit feinem Herzen jogar offen und ehrlich zu dem perjönlidhen Gott. „Biel herrlicher als die Vor— jtellung einer unperjönlichen ewig wirkſamen Kraft, welche die Welt bewegt und fie zufammenhält, erjcheint auch meiner Vernunft die Botichaft des Heilandd von einem perjönlihen Water aller Menſchen.“ Dennoch hat Broofe ein Zeichen, daß er ein jchlechter Theolog ift einen ganz ges brochenen Gottesbegriff: „Unſere Gottesvorjtellung muß eine perjönliche und zugleich eine unperfönliche fein. Der Pantheismus und der perjön- lihe Deismus find wahr, nur fofern fie einander ergänzen.“ Zu diejer undurchführbaren „Ergänzung“ fommt Broofe durch eine übergroße Nücdfichtnahme auf die Naturwifjenichaftler. Ihnen kann ja doch Der Glaube an einen perjönlichen Gott nicht mehr zugemuthet werden! Ich geftehe, daß mir dieſe fortgeiegten Verbeugungen vor den Naturwiſſen— ichaftlern zumider find. Damit erreiht man aucd nicht, was man will. Am Gegentheil, man verliert leicht bei ihnen die volle Achtung. Gewiß haben wir Theologen eine ernſte VBerpfiichtung, den Schwierigfeiten nad): zudenfen, mit denen ein moderner Naturforicher zu kämpfen bat, um Ehrift zu werden, gewiß haben wir die Berpflichtung, immer deutlicher und ſchärfer und verftändlicher heraugzuftellen, was Chriſtenthum iſt, aber wir thun den Naturforfhern einen jchledhten Dienjt, wenn wir ihnen goldene Brüden bauen wollen, wo fie jelbjt den alten Weg, der noch immer ins Chriſtenthum hineingeführt hat, gehen müfjen. Diejer Weg ijt und bleibt allein der, daß es emem Menjchen bange wird um einen wirklichen, echten, bleibenden Lebensinhalt, der mehr werth ijt als Kunſt, Wiſſenſchaft und Lebendgenuß. Dieſen Lebensinhalt finden wir aber nicht bei eimer

Notizen und Beiprehungen. 567

unperjönlichen Kraft oder einem unperjönlichen Al, fondern allein bei dem verjönlichen Gott, den Jeſus Ehriftus feinen Vater genannt hat und den wir durch ihn fennen. Das weiß auch Broofe und deshalb ijt eine Ver— ſöhnung mit ihm möglich.

Dennoch bin ich mit meinem Widerjpruch noch nicht zu Ende. Von jeinent Gotte3begriff aus fommt nämlich Brooke zu der Vorjtellung von der „Wiederbringung Aller.“ Den Haupteinwand dagegen, daß nämlich mit diejer Anjchauung die fittliche Freiheit alterirt ift, berüdjichtigt Broofe auch einmal, ohne ihn aber zu entkräften. Es wirft ftörend, daß dieſer wunder: liche Gedanke ji) wie ein rother Faden durd fait alle Neden hindurch— zieht und mit derjenigen Zähigkeit vertreten wird, die jich einjtellt, wenn Jemand in einen Gedanken verrannt ift und dagegen Widerjvruc erfährt. Uebrigens bat Broofe in einer Rede, jedenfall3 in einer aus früherer Zeit, die jehr richtige Bemerkung eingeichalten, daß es jich hierbei nicht um eine „teligiöje, jondern nur um eine intellektuelle Spekulation“ handle.

Ein ganz anderer Ton, al$ in den erjten zwölf, wird in den leßten Reden angeichlagen. Hier theologifirt Broofe nicht mehr, hier geht er aud) nicht auf jeine unglüdliche Verſöhnung zwiſchen Religion und Naturwifjen- ihaft aus der Titel ded Buches ift deshalb auch nur zum Theil rihtig —, hier behandelt er innerchriftlicye Fragen und da tritt denn jeine Meijterfchaft au in der jchönjten Weife zu Tage. Er iſt ein Meifter in der Schilderung ſeeliſcher Zuſtände; er hat dem Menjchen fein Geheimniß abgelaujcht. Die Schilderung der Leidenfchaft in der fünfzehnten Nede jucht ihre Gleichen in der Literatur. Unter unjeren deutichen Predigten über Luk. 9, 24: Wer fein Leben erhalten will u. j. w. werden ſich wenige finden, die an Tiefe und Gehalt und Wahrheit der Rede Broofes über diejen Text gleihfommen. Dafjelbe möchte ich von der Rede mit der Ueberjchrift: „Geduld und Ungeduld“ jagen über Röm. 12, 21: Laß dich nit das Böſe überwinden u. ſ. w. Ueberhaupt geht feine dieſer letzten Neden in alltäglichem Geleije. Jeder deutjche Prediger kann daraus lernen, veraltete, reizloje und halbwahre Gedanfengänge loszuwerden, wie jie inner= halb der deutjchen Predigtweiie und Literatur in Kurs gekommen find und gleich langweilig find für die Gemeinde wie für die Prediger jelbit.

Nicht jchweigen fann ich von der ausgezeichneten, vollen, breit dahin- fliegenden Diktion, die ſich doc gänzlich von Abjonderlichkeiten und un— gefunden Reizmitteln frei hält.

So möchte ic) dad Buch vor allem Theologen empfehlen, weniger Laien. Daß Naturwifjenichaftler dadurch gewonnen werden könnten, wie die Ein: leitung hofft, bezweifle ih. Dad Bud wiirde mit warmen Worten Allen, vor Allem den Freunden Robertjons zu empfehlen fein, wäre die Auswahl der Reden vorfichtiger und nach anderem Geſichtspunkte getroffen worden.

Jena. Drews.

568 Notizen und Beiprehungen.

Ein jtrenger Lejer ſchickt und zu den lebten Heften folgende zwei Bemerkungen ein.

I. Auf S. 15 des Oftoberheftes wird das jfeptiiche Sprücjlein erwähnt

Hic liber est in quo quaerit sua dogmata quisque Invenit quisque sua ....

Diefe Fafjung enthält in der zweiten Zeile einen groben metrifchen Fehler und auch die erjte ijt nicht richtig zitirt. Der Vers jtammt von dem PBrofefjor Samuel Werenfel3 in Bajel (gejt. 1790) und lautet nah der Neal-Enzyflopädie für Proteftantiiche Theologie 2. A. 16. 701

Hie liber est in quo quisque sua dogmata quaerit Invenit et iterum dogmata quisque sua,

Aber auch diefe Faſſung, die mit „Belanntlicdy“ eingeführt wird, iſt nicht die urfprünglihe. Nach Diejteld Gejchichte des Alten Tejtaments (S. 384) jteht dad Epigramm unter der Ueberſchrift S. Scripturae abusus in Bd. II S. 509 Nr. 60 feiner Opuscula und lautet:

Hic liber est in quo sua quaerit dogmata quisque Invenit et pariter dogmata quisque sua.

II.

Etwas von den Feldteuſeln. (Sept.Heft. Bd. 97, 534).

Sandvoß (Kanthippus) freut fid) daran, daß Luther die „Dämonen* der Vulgata mit „Feldteufel“ überjegt habe. Das fieht aus, ald ob er den alten Irrthum, Luther habe „ichlantweg aus der Bulgata überjegt“, den ich an diejer Stelle (Bd. 90, 518. 1898) ein für alle Mal glaubte aus— getrieben zu haben, wieder aufnehme. Wielleiht meint er es auch nur jo, daß er Luther damit ein bejondered Kompliment machen will, weil er einen jo plaſtiſch deutichen Ausdrud fand, wo die lateinische Ueberjegung fich mit dem ganz allgemeinen „Dämon“ begnügte. Wie dem nun aud) jei, die Sache verhält fich jo:

Die Stellen, an denen die Bulgata das griechiſche daemones und daemonia beibehalten hat, zählen nach Dußenden, aber an feiner findet ſich bei Luther der Ausdrud „Feldgeiſter“ oder „Feldteufel“ als an den vier (3. Mofe 17, 7; 2. Chr. 11, 15; Def. 13, 21; 34, 14), wo im Hebräifhen das nur viermal, eben an diejen Stellen, ſich findende Wort sair vorfommt, womit bodögejtaltige in der Wüſte haujende Kobolde oder Geiſter bezeichnet werden. Un der erjten diejer Stellen wird ausdrücdlich verboten, denjelben „auf dem Felde“ zu opfern, und dieje Beitimmung wird Luther Anlaß gegeben haben, dad dunkle hebräiiche Wort mit dem offenbar von ihm erjt geichaffenen Ausdrud „Feld—

Notizen und Beiprehungen. 569

geiiter* oder „Feldteufel“ wiederzugeben, während Hieronymus an den beiden erjten Stellen nicht3 Befjered zu tbun wußte, als da8 unbejtimmte daemones und daemonia zu wählen, und an den beiden legten nad) einer nicht ficheren Etymologie pilosi die „Haarigen“ zu jeßen; um jo weniger hat Luther jeine „Feldteufel“ dort „nad der Vulgata“ verdeutjcht, in der fie da garnicht ftehen. Luther Hat den Ausdrud noch an einer fünften Stelle (5. Moſ. 32, 17) für ein gleichfall3 ſeltenes, nur zweimal vor— fommendes hebr. Wort (sched), für das er fi) dad zweite Mal (Pi. 106, 37) mit dem einfachen „Teufel“ begnügt, Der Ausdrud „Feld: teufel* beweift aljo ftatt Luthers Abhängigkeit von der Vulgata die Treue, mit der er dem hebräifchen Text folgte, und das fprahjchöpferijche Genie, mit dem er für ein dunkles Wort einen jo treffenden Ausdrud ſchuf. Selbſt ein neuerer katholiſcher Ueberſetzer wußte nichts Beſſeres als im Anſchluß an Luther „Waldteufel“ zu ſagen (Allioli), ein anderer „Feldgötter“ (Van ER).

Laſſen wir dem Hieronymus ſeine „Haarigen“, Luther ſeine „Feld— teufel“, Zanthippus die Freude an ſeinem „nad; der Vulgata NB*!

Maulbronn. Ed. Neitle.

Theater:Korrefpondenz.

Lejjing: Theater, Verein „Freie Bühne*: Ein Frühlingsopfer. Schau- ipiel in drei Aufzügen von E. v. Keyſerling.

Oben genannte® Drama ift nicht das einzige, das ich in den legten Wochen gejehen habe, joll aber das einzige fein, von dem ich hier aus- führlicher reden will. Dieje Kürze ift darum angebracht, weil von den übrigen die Literatur feinen jonderlichen Gewinn gezogen hat. Das er: jtredt ji) zu meinem aufrichtigen Bedauern auch auf Ludwig Fuldas Märchenſtück „Schlaraffenland“, das im Königlichen Schaujpielhaufe ge- geben wurde. Es giebt Rezenjenten, und ſogar folche von Einfluß, die Fulda unter allen Umftänden tadeln werden. Denn jie haben ſich von einem dramatiichen Poeten von vornherein ein bejtimmied, übrigend garnicht jchlehtes oder flaches Bild gemacht, dem Fulda nun leider nicht entipricht. Dem gegenüber habe ich jtet3 den Standpunkt vertreten, daß der Kritiker ſich zunächjt möglichjt in die Eigenart des von ihm zu Eritijirenden Dichters zu verjenfen und diefe Eigenart mit Verſtändniß darzuftellen hat. Daß ich Das -auc Fulda gegenüber in weitgehenditem Maße verſucht habe, wird er mir jelber eingejtehen müfjen, falls er 3. B. meine früheren Ausführungen über jeinen „Herojtrat“ gelejen haben follte. Dem damals entworfenen Bilde feiner dichterischen Eigenart habe ich nichts Wejentliches hinzuzufügen. Was nun „Schlaraffenland“ betrifft, jo halte ich diefen Märchenſchwank für die ſchwächſte Dichtung, die idy von Fulda fenne. Feſtſtellen will ich aber doch, daß der Dichter nad jedem der eriten beiden At zweimal, nad) dem Schluß— akt ſogar ſechsmal von jeinem Publitum vor die Gardine gerufen ijt. Leider kann ich auch nicht in die Jubelhymnen einjtimmen, die zu Ehren von Mar Dreyerd „Brobefandidat“ angejtimmt werden. E3 ijt zweifel- [08 ein Senfationserfolg, der gewiſſen, gerade in den legten Tagen ich aufs fällig machenden orthodoren Strömungen zu danken ijt. Als freier Mann nimmt Dreyer für die Freiheit der Perjönlichkeit jcharf Partei. Das ist jehr zu billigen. Aber Dreyer ſieht die Gegenftrömungen und Wirrnifje

Theater-Korrefpondenz. 571

der Welt doc) gar zu oberflächlich an. Gewiß: der Präpofitus v. Korff und der Öymnafialdireltor Eberhard jind feine Geijteshelden. Aber der Probe— fandidat Fritz Heitmann, in dem einige einen modernen Uriel Acoſta jehen wollen, iſt doch auch nur ein großer Flachfopf. Der künftlerifche Werth des Dramas liegt in den fed bingeworfenen Karikaturen der Lehrer Störmer und Benefeldt und des verfrachten Gutsbeſitzers Malte Heitmann. Darin jtedt Leben und Wahr: heit. Es find beabfichtigte Karikaturen. Aber gerade dadurchwird der ſpezifiſche Gehalt diejer Charaktere, ich möchte jagen: ihre Idee jo recht augenjcheinlic) und dramatiich wirkſam herausgearbeitet. Die Aufführung bot durd die Leijtungen der Herren Nittner, Reinhardt, Fiſcher und Nifjen ſchlechtweg Pollkommenes; die Regie Emil Leifing ging, im dritten Akt befonders über dad Vollkommene noch Hinaus, wenn man fo fagen dürfte und es möglih wäre. Mit der von den Herren dv. Wolzogen und Dlden gemeinjam gearbeiteten Komödie „Ein Gaſtſpiel“ Hat das Deutiche Theater eine volllommene Niederlage erlitten. Kaum die drei Anjtandss aufführungen famen zu Stande, Das Stüd ijt garnicht jo ſchlecht, wie es von allen Seiten gemacht wurde. ch könnte manches Lobenswerthe daran aufzeigen. Zu einer „Rettung“ aber ift ed mir doc wiederum nicht ge— baltvoll und interefjant genug. Alſo laſſen wir es ruhig jchlafen. Diejelde Bühne hat danfenswerther Weije auch Wilbrandts3 „Meijter von Palmyra“ wieder in den Spielplan aufgenommen. Das ijt ein philo= fophijches Drama voll tiefften Gedantengehaltes, dem nur leider die künſt— leriſche Formfülle fehlt. Sch hätte wohl Luft, die Frage anzujchneiden, mas der Gedanke, die dee mit einem Kunſtwerk zu thun hat. Sehr viel mirde ic antworten und ausführlich zu begründen juchen, mit allem Nahdrud, um jo mehr, ald man das heute an manchen Stellen gern be— jtreiten möchte. Zu diefen Stellen gehört auch der umfangreiche Band, den Richard M. Meyer über „die deutiche Literatur des neunzehnten Jahre hunderts“ joeben veröffentlicht hat. (Berlag von Georg Bondi, Berlin.)

Die „Freie Bühne“ hat und zur Erinnerung an ihre Begründung vor zehn Jahren mit einem neuen Dichter beſchenkt. E. v. Keyſerling ijt fein Stürmer und Dränger, aber ein dramatischer Poet von Feinheit und Tiefe. In jeinem „Srühlingsopfer“ bringt er ein ganz neued Milieu auf die Bühne: die Welt eines littauifchflavischen Bauerndorfes. Er zeigt dieje Welt nicht nur in ihren Weußerlichkeiten, jondern mehr in ihrer geiftigen Struktur, in ihrer Atmojphäre. Diefe Atmoiphäre, die hier herrichende Seelenſtimmung ijt bedingt durch ein heidniich aufgefaßtes und verarbeitetes fatholiiches Chriſtenthum. Aus diefem Milieu heraus erleidet ihr Schickſal Orti, eine arme, gedrücte, verfümmerte Mädchenblüthe. Sie möchte doch auch ihren Antheil am Lebensglüd haben. Diejed Lebensglück bedeutet hier aber für diefe Mädchen des Dorfes die Liebe oder auch die Liebelei mit den forichen jtrammen „Jungen“ im Dorf. Auch Orti aljo möchte ihren „ungen“ haben und dann im Liebesglücd ganz vergehen. „Vergehen“, in

572 Thealer⸗Korreſpondenz.

der Liebe ſich ſelbſt verlieren, ſich opfern, das iſt ja überhaupt das Weſen der weiblichen Liebe. Die arme, verlachte und verkümmerte Orti darf keinem Manne ihr Liebesopfer bringen, weil es keiner haben will. So, in Opferſtimmung aus Liebesgram, in Sehnſucht nad Tod und Verklärung, alſo eigentlich aus Liebes— jehnjucht, bejchließt fie, jich der Kungjrau Maria zu opfern, der düjtern, furcht— baren Mutter, die in einer jagenhaften Kapelle tief im Walde verehrt wird. Verſchmäht die Erde fie, vielleiht nimmt fie der Himmel gütig an. Kurz alfo: die geichlechtlihe Sphäre wandelt fi) in eine religiöje, oder vielmehr wandelt jich nicht, jondern jchlägt mit einem Ruck um. Der myſtiſche Zufammenhang zwiſchen dem Seruellen und Religiöfen ijt ja allgemein be- fannt. Es ijt das eine der merkwürdigiten Antithejen, die in der menſch— lihen Seele zu finden find. Dieſer Umschlag wird für Orti nun wahrhaft ein salto mortale, ein Todesſprung der Seele, der ihr dad Leben Eoitet. Das alfo it das Problem. Und hat man das Problem jo begriffen, dann ijt es Har, daß Orti durchaus ein dramatiiher Charakter iſt, im tiefiten Sinne des Worted „dramatiſch“. Das hat man leider verfannt und man hat gemeint, dieſes Bühnenwerk ſei aar fein Drama, fondern unpafjender Weife auf die Bühne gebradte Lyrik. Es ijt wahr: das Ganze ift in einen gewiſſen Lyrismus getaucht. Aber das ijt doc natürlid. Wer den Volkscharakter jener Gegenden aud nur ein bischen fennt in Berlin fennt man ihn aber naturgemäß nicht der weiß, daß die Seelenregungen ſich dort Iyriich äußern, im Lied. „Dainos“ heißen dieje Littauifchen Volkslieder. Man wende nun aber nicht ein, daß dann die lyriſche Grundjtimmung naturaliftiich, weil der Wirklichkeit ent- iprechend, begründet jein mag, aber der dramatijchen Stimmung und Spannung doc ſchade. Im Gegentheil: ich bin der Ueberzeugung, daß die dramatiihe Spannung und Stimmung der Seele, aus der heraus ein Drama gedichtet wird, dem Mufikalifchen viel näher jteht als dem Epiihen. Ich empfinde das jede Mal beim Anhören einer Symphonie 3. B., durch die ich jtet3 in eine dramatilchtragiihe Stimmung verjeßt werde. Auch hiſtoriſch ijt ja das Drama, das griechiſche wenigitens, aus der Muſik herausgewachſen. Das äußere Geſchehniß, das Epiſche im Drama iſt nur das Sekundäre, an dem die dramatiiche Stimmung fi gewifjermaßen objeftivirt. Der Werth einer Tragödie, ihr spezifisches Charakteriftifum liegt nicht im Mindejten in den Geſchehniſſen auf der Bühne, jondern in einer bejtimmten Stimmung und Schwingung der Seele. So fommt es denn auch beiläufig bemerkt daß Maeterlind echt tragifche und dramatifche Stimmungen und Wirkungen erzielt.

Man hat dem Dichter des Frühlingsopferd vorgeworfen, daß er nicht originell fei, daß er nur nachempfinde. Orti ſei aus Hannele entitanden, meinten die Einen. Sa, aber Drti ijt ein liebesreife8 Mädchen. Die Vermlichkeit der Lebenslage und die Sehnſucht zum Himmel theilt fie wohl

Theater-Korrefpondenz. 973

mit Dannele, aber nicht das jeruelle Liebedempfinden. Orti ift ein Charakter, mit einem individuellen Seelenproblem vom Dichter audgejtattet, einem Problem, aus dem ihr Scidjal wächſt. Andere haben gejagt: Orti erinnert an Halbes Mädchengeitalt in der „Jugend“. Aa, aber Klärchen iſt nicht? als eine holde, naive Sinnlichkeit. Für Orti ift gerade das Umſchlagen des Seruellen ind Religiöſe ausfchlaggebend. Man könnte wohl jagen: Orti ijt eine Syntheje von Hannele und Klärchen. Darin aber läge dann fein Vorwurf mehr. Eine Syntheje ift immer etwas Neues und Lebensfähiges auf höherer Stufe. Am Uebrigen ijt es ganz ausgeſchloſſen, daß Keyierling etwa als ſcharfer Dialektifer feinen Eharalter verjtandesgemäß konftruirt hat. Dagegen ſpricht die einheitliche Grundftimmung, die dur das Ganze geht. Und diefe Stimmung jener heidnifchschriftlichen Dorfwelt Littauend ift ganz neu. Die Eigenart der Gelammtjtimmung und die Fähigkeit, ihr Ausdrud zu geben, bedingt aber im tiefiten Grunde die Originalität eines Dichter. So habe ich mid) denn ſchließlich zum Wertheidiger diejes Keyjerlingichen Erſtlingswerkes aufge— worfen. Doch meine Leſer wiſſen ed wohl längſt, daß ich mein Kritiker— amt ſo auffaſſe, wie etwa Cicero ſeinen Juriſtenberuf: mehr Vertheidiger als Ankläger. Was die Darſtellung betrifft, ſo will ich lobend hervor— heben an erſter Stelle Marie Meyer vom Leſſing-Theater, die eine alte Frau in ihrer Miſchung von Heidin und Chriſtin ſehr eindringlich gab. Al Orti wurde Gertrud Eyjoldt, die am Schiller-Theater ein bischen im Berborgenen wirkt, als Künftlerin eigentlich erjt entdedt. Sie fand mit Recht viel Anerkennung.

Berlin-Steglig, 24. November. Mar Lorenz.

Politiſche Korrefpondenz.

Die Ablehnung des Arbeitöwilligengejeßed. Sozialpolitijches, Weltmactpolitif und Sozialdemokratie.

Wie von vornherein zu erwarten war, hat die zweite Leſung des „Entwurfs eined® Geſetzes zum Schuße des gewerbliden Arbeits— verhältnifjes“ mit der vollfiändigen Verwerfung der Vorlage geendet. Sie fand gemäß dem vor der Vertagung am 22. Juni gefaßten Bejchlufje des Neichdtagd, don einer Kommilfionsberathung abzujehen, am 20. No— vember jogleicd im Plenum jtatt und wurde in einer einzigen, etwas tumul⸗ tuariſchen und an Ueberrajchungen reichen Sigung zu einem jchnellen Ende geführt. Zuerit wurde der Antrag des ?Freiheren v. Stumm auf Kom— miſſionsberathung gegen die Stimmen der Konjervativen und eines Theils der Nationalliberalen verworfen, dann die Vorlage jelbit, für die nur die beiden fonjervativen Fraktionen eintraten, ohne weitere Debatten abgelehnt; für ihre fchärfiten Bejtinnmungen (den Zuchthausparagraphen) erhob fi auch von den Konſervativen nur ein Bruchtheil, nad) Zeitungsberichten nur etwa ein Dußend Abgeordneter. Der Vermittelungdantrag Büfing und Genoſſen wurde nur von den Antragitellern jelbjt, dem rechtem (nord: deutjchen) Flügel der Nationalliberalen, unterftügt, da die große Mehrheit des Hauſes fejt entichlofjen war, mit der Vorlage vollftändig reinen Tiſch

zu machen. Wir glauben nicht, daß die Neichstagsmehrheit den Antrag Büjing

für fachlich völlig verfehlt und unannehmbar gehalten hat. Denn er war nicht viel mehr als eine etwas jchärfere Formulierung des geltenden Rechts, wie e8 im $ 153 der Gewerbeordnung fejtgelegt ift; er hätte das Koali— tionsrecht der Arbeiter unangetajtet gelafjen, im Großen und Ganzen nur wirkliche und juriſtiſch Har begrenzte Ausfchreitungen getroffen, das Straf: minimum durch Zulafjung einer Gelditrafe erniedrigt und überdies das Verbot des Inverbindungtretend politiicher Vereine bejeitigt. Wir jtimmen ihm feineswegs in allen Einzelheiten zu; er geht und mehrfach zu weit, und

Politifhe Korrefpondenz. 575

namentlic) erjcheint ung feine Formulirung der Fälle, in denen das Poſtenſtehen als jtrafbare Drohung aufzufafjen ift, nicht gerade glücdlich; aber wir glauben doch, daß der Örundgedanfe dieſes Antrags wieder aufleben wird, wenn wir über fur; oder lang zur Verleihung der Recht3fähigfeit an die Berufsvereine, zu einem bejjeren Bereinsgeje und Damit überhaupt zur Erweiterung und Sicherung des Koalitionsrechte® kommen. Dann wird fich auch darüber reden laſſen, auf welche Weiſe durch genauere Formulirung des $ 153 der Gefahr eined Mißbrauchs des erweiterten SKoalitionsrechted, der ja un— zweifelhaft vorhandenen Möglichkeit terroriftiicher Einſchüchterung und Vergewaltigung anders gelinnnter Arbeiter durch ihre Kameraden auf der einen Seite, jowie ähnlichen Verfehlungen der Unternehmer und ſachlich nicht haltbaren juriftifchen Interpretationen auf der anderen Seite wirkſam zu begegnen jei.*) Eine einjeitige Verſchärfung der Strafbejtimmungen aber, durch die dem Arbeiter die Ausübung des ohnehin ſchon durch die Ver- einögejege, die Nechtiprehung und die polizeiliche Verwaltungspraxis ſtark eingeengten Stoalitionsrechte® noch mehr erjchwert worden wäre, hat der Neihdtag mit Fug und Recht abgelehnt; er hatte feine Luſt, um die Worte ded Abgeordneten Lieber zu brauchen, das Pferd am Schwanze aufzuzäumen.

Durch die rückſichtsloſe Verwerfung der ganzen Vorlage bat die Mehrheit des Neichdtages mit aller Entjchiedenheit bekundet, daß jie unbe- dingt an dem Gedanken einer energiihen Weiterführung der Sozialreform auf dem Boden vollfommenjter Gleihberehtigung von Unter— nehmern und Arbeitern fejthält, wie fie in den kaiſerlichen Erlajjen vom 4. Februar 1890 proflamiert worden iſt; Gejeßentwürfe, die praftiich ouf eine Verkümmerung diejer Gleihberechtigung hinauslaufen würden, haben im Neichdtag auf feine Zuftimmung zu rechnen. Das haben wir bereits vor einem halben Jahre an diefer Stelle betont, als die einmüthige Ver— urtheilung des Unternehmerabjolutismug in den Reichstagsdebatten vom 4. und 5. Mai die volljtändige Iſolirung des Freiherrn dv. Stumm und jeiner Richtung deutlich gezeigt hatte; und wir haben daran damals die Hoffnung geknüpft, dab die verbündeten Regierungen in richtiger Er— fenntniß der politiihe Situation von der Einbringung der angekündigten Vorlage überhaupt abjehen und ji) und dem Reichstag die Nothwendigfeit ihrer Ablehnung eriparen würden.

Diefer Wunſch ift nicht in Erfüllung gegangen. Die Regierung hat eine Niederlage erlitten, die weit jchwerer wiegt als die Ablehnung der Ranalvorlage; der Reichstag hat jeine Verwerfung des Entwurfs überdies

*) Die einfahe Streihung des 8 158 eriheint uns im Intereſſe der Arbeiter felbjt nicht angängig; wir würden dann zu einer umfajjenden Anwendung der bärteren Beltimmungen des Strafgeſetzbuchs über Nöthigung und Drohung kommen, während man es jet gewöhnlich bei den milderen Strafen des $ 158 bewenden läßt.

576 Politiſche Korrefpondenz.

in wejentlich jchärjere Formen gekleidet als das preußiiche Abgeordneten: haus, und trogdem bleibt der Negierung nichts weiter übrig, als fi) mit würdevoller Nefignation in das Unvermeidliche zu fügen. Wir bedauern die jchroffe Form der Ablehnung, wir bedauern vor Allem im Intereſſe des Anſehens der Regierung, daß ſie ed überhaupt foweit fommen lieh. Es wäre mit Nüdjicht auf das neue Flottengejeß und die geſammte politifche Lage beſſer und klüger gewejen, wenn jie ſich zur freiwilligen Zurüdziehung der Vorlage entichloffen hätte, al3 fie ihre völlige Ausſichtsloſigkeit erfannt hatte. Thatjächlich hat auch in der Regierung eine Zeitlang die Abficht be: jtanden, die Vorlage ftillihweigend fallen zu lafjen; allerdings, wenn wir recht berichtet find, nicht durch formelle Zurüdziehung, jondern auf dem Wege des Schlufjes der Seſſion und einer neuen Eröffnung des Reichsſtages. Damit wären aber neben der Arbeitöwilligen-Borlage auch verjchiedene andere noch im Stadium der Kommiſſionsberathungen befindliche Gejeße be- jeitigt worden, darunter auch die jozialreforımerische Novelle zur Gewerbe: ordnung, jodaß man den Verziht auf Diejen Weg zur Erledigung der Borlage weiter nicht bedauern kann.

Das wichtigſte Ergebniß der ganzen Kampagne, dad wir mit Genug- thuung begrüßen, iſt die offenkundige Yeititelung der jozialpolitifchen Wandlung, die fih in den Anſchauungen des weitaus größten Theila der gebildeten und bejißenden Klafjen vollzugen Hat. Wir haben dieje Wandlung bier ſchon mehrfach fignalifirt und auch ihre Gründe bereits eingehend erörtert. Die nahezu einmüthige Verurtheilung der „Zucht: hausvorlage* hat bewiefen, daß der Umjchwung der Anfichten noch tief: gehender ijt, ald wir zu hoffen gewagt hatten. Im Zentrum und bei den Linksliberalen hat fich feinen Augenblid ein Schwanfen gezeigt. Selbit der rechte (norddeutjche) Flügel der Nationalliberalen Hat über feine un: bedingte Ablehnung der Borlage niemald einen Zweifel gelajjen: die Be- jftimmungen des Antrags Büfing find von denen der Negierungsvorlage fundamental verjchieden. Der linke (ſüddeutſche) Flügel hat ſogar von vornherein die Führung im Kampfe gegen die Vorlage gehabt, und feiner entichiedenen Haltung, dem tiefen moralischen Eindrud, den das Auftreten Bafjermanns und der großen Unternehmer v. Heyl und Nöfide auf das gebildete Bürgertum ausgeübt Hat, ijt die unbedingte Abweilung des Ent- wurfs mit in erjter Linie zu danken.

Was bier jchon nach der eriten Leſung Eonftatirt wurde, fan nad) der endgiltigen Entjcheidung nur nochmal8 wiederholt werden. Die jozial- politiihe Wandlung. die fi) in der öffentlihen Stimmung vollzieht, Hat ihre jchwerjte Probe glücklich bejtanden; jene Periode jozialpolitifcher Reaktion, die ald Nachwirkung des Sozialijtengefeged auf die hoffnungs- freudige Zeit des Anfangs der neunziger Juhre folgte und die Umſturz— vorlage, das Vereindgejep und die Arbeitswilligenvorlage gezeitigt hat, kann nunmehr als glüdlih überwunden gelten.

Politifhe Korrefpondenz. 577

In diefem Sinne, als Abſchluß einer unerfreulihen Epifode der deutſchen Politik, faßt auch ein großer Theil der Preſſe die Ablehnung der Vorlage auf. Interefjant und erfreulich ijt ed, wie leicht fich die Kreuz— zeitung“ mit dem Scheitern des Geſetzes abfindet; fie empfiehlt jetzt an feiner Stelle, al3 einen anderen Weg zum jozialen Frieden die Vers allgemeinerung jener Lohnvereinbarungen, wie fie jih im Buchdrucker— gewerbe die Organifationen der Unternehmer und Arbeiter in der Tarif: gemeinschaft geichaffen haben. Man wird danach hoffen dürfen, daß Die „Kreuzzeitung“ auc der Erweiterung des Koalitionsredyte® und der ges jeglichen Anerkennung der Berufsvereine zuftimmt, da ſtarke Arbeiter- organijationen die unumgänglic; nothwendigen Vorbedingungen für ders artige Inftitutionen find.

Wie jehr dem Reichstag neben der Zurückweiſung ungerecdhtjertigter Repreſſivmaßregeln aud) die pofitive Fortjührung der Sozialreform angelegen ift, hat er gleich in jeiner erjten Sigung anı 14. November be= wiejen; bei den Verhandlungen über zwei Petitionen um Erlaß eines Reichswohnungsgeſetzes ftimmte er mit großer Mehrheit einer Nefjolution des Abgeordneten Schrader zu, die den Reichskanzler auf: fordert, eine Kommiſſion einzujeßen, die unter der Theilnahme von Reichs— tagsmitgliedern eine Unterfuhung der beitehenden Wohnungsverhältnifje vornehmen und Borjchläge zur Bejeitigung der ermittelten Mängel machen joll.

Wir wünſchen dringend, daß dieſe Rejolution nicht einfach in den Papierkorb ded Bundesrathg wandert. Die Wohnungsfrage ijt ein ums faſſendes und jehr jchwierige8 Problem, deſſen Yöfung, joweit ſie auf dem Wege der Gejeßgebung und Verwaltung überhaupt möglich ijt, von der gemeinjamen Wirkjamfeit des Reichs, der Einzeljtaaten und der ftädtiichen Kommunen abhängt; die Wohnungsfrage berührt die ver— fchiedenften Gebiete, für Deren gejeßlihe Regelung theild das Reich (Sanitätöpolizei, Miethrecht, Hypothefenbanfen zc.), theil3 die Einzeljtaaten (Baus und Straßenpolizei, Steuerverfaflung) kompetent find, während die Mitwirkung der Gemeinden, denen überdied gegenwärtig die ort3jtatutarijche Regelung zahlreicher Einzelfragen zujteht, ſelbſtverſtändlich ebenfalls nicht zu umgehen ijt. Jedenfalls iſt auch für die gejeßgeberijche Thätigfeit des Reichs in der Wohnungdfrage ein weites Feld vorhanden; e3 iſt deßhalb durchaus zu begrüßen, daß der Neichdtag einen hoffentlich wirkfjamen Ans ftoß zur legislatorischen Behandlung der Frage gegeben und ji) nicht ein= fach auf den ablehnenden Standpunkt gejtellt hat, die Wohnungsfrage gehe dad Reich nicht3 an, fie jei lediglich Sache der Einzeljtaaten. *)

*) Hier fei auch erwähnt, daß ſich im vorigen Jahre in Frankfurt a. M. ein Verein „Reichswohnungsgeſetz“ unter dem Borfig des Dr. von Mangoldt gebildet hat, der eine rührige propagandiftiiche Thätigfeit für eine energifche und umfaffende Wohnungsreform entfaltet.

Preußiſche Jahrbücher. Bd. XCVIII. Heft 3. 37

578 Bolitifhe Korreſpondenz.

Höchſt erfreulich ift es auch, daß die Reichstagskommiſſion bei der Berathung der Novelle zur Gewerbeordnung zu verjchiedenen Ver— bejjerungen der urjprünglichen Vorlage gefommen ift, von denen die ein- ftimmig angenommene gejeßlihe Einführung des Neunuhrladenſchluſſes die wichtigjte ift, die hoffentlich aucd; vom Plenum acceptirt werden wird; wir find der Anjicht, daß man auch vor der jofortigen Einführung des Achtuhrſchluſſes nicht hätte zurüdzufchreden brauchen, da die Unſitte über: trieben langer Ladenzeit in feiner Weiſe fonjervirt werden jollte. Der Widerjtand der Regierung in dieſer Frage ift jchwer verjtändlih; ihr Vorſchlag, der nur auf Einführung einer mindeftens zehnjtündigen Ruhe— zeit ohne obligatoriichen Ladenſchluß ging, mußte von vornherein als nicht hinreichend bezeichnet werden, zumal es fich bei den Angeftellten im Handels— gewerbe großentheil3 um Mädchen in jugendlihem Alter handelt. In Berlin 3. B. wiirde fich die zehnftündige Ruhezeit jchon wegen der großen Entfernungen zwiſchen Wohnung und Geſchäft in zahlreihen Füllen auf 8 Stunden und weniger reduziren; rechnet man dann noch Die Zeit für das Abendbrot, Frühftüd. Aus- und Ankleiden ab, jo bleiben 6 bis 7 Stunden effektiver Ruhezeit übrig, die nicht einmal zur Befriedigung des phyſiſchen Schlajbedürfnifjes genügen.

Aber auch für die Regelung der großitädtiichen Wohnungsfrage iſt der Kampf gegen den durd) keinerlei vernünftige Gründe erheijchten jpäten Laden— ihluß eine dringende Nothmwendigkeit. Wie will man zu der fanitär und wirthichaftlich gebotenen weiträumigen Bebauung der Städte, zur Förderung des Wohnens in den Vororten fommen, wenn man nicht energijch gegen die Ausdehnung der Ladenzeit vorgeht? In der Londoner Eity ſchließen fajt alle Gejchäfte zwijchen 6 und 7 Uhr, in Berlin zwiſchen 8 und 11 Uhr, theilweife auch noch jpäter. In Berlin erleben wir jet das fonderbare Schaufpiel, daß ein Theil der Fabriken in die VBororte verlegt wird, während die Arbeiter meijt in der Stadt wohnen bleiben müfjen, da ihre in Berliner Ladengejchäften thätigen Töchter jeßt viel zu fpät nach Haufe fommen, als daß jie nah dem Vorort überjiedeln könnten. Was im Wrbeiter-Ber- ſicherungsweſen geglüdt ift, ein vollftändiges, lückenlos in einander greifendes Syitem zu jchaffen, muß auch auf dem Boden des Arbeiterſchutzes verjucht werden; alle die einzelnen Maßregeln in der Indujftrie, im Handel, im Handwerk, im Wohnungswejen etc., müſſen zu einem einheitlichen Ganzen ausgebaut werden,

Noch wichtiger find die auf Errichtung von Arbeit3fammern, auf eine gemeinjame Organijation von Arbeitern und Unternehmern in der Groß- industrie und auf Schaffung eined Reichsarbeitsamtes abzielenden Be— jtrebungen, die ja auch nicht mehr leere Utopien find, die jich vielmehr be- reit3 zu Anträgen des Zentrums, der Nationalliberalen und der Linfs- liberalen verdichtet haben und in die Wege formeller legislatorijcher Be- handlung geleitet jind. Kurz, wohin wir auch bliden, auf allen Gebieten

Politifche Korreipondenz. 579

der Sozialpolitif jehen wir im Reichötag, der jet im Gegenjaß zur Bismard- ſchen Zeit in allen wichtigen fozialpolitifchen Fragen die Führung hat, ernites Wollen und eifriged Streben; und ed wird nur von den verbündeten Re— gierungen abhängen, wie jchnell und in welder Form die Wünſche des Reichstags ſich in Gelege verwandeln. * * *

Wir haben im vorigen Heft der „Preußiſchen Jahrbücher“ im Anſchluß an den hannoverſchen Parteitag den vollſtändigen Wandel der theoretiſchen Örundanjchauungen der Sozialdemokratie näher beleudhtet. Die Erörterung der muthmaßlichen praftiihen Konjequenzen dieſes Umſchwungs wurde dabei aus Äußeren Gründen vertagt ; fie jol heute nachgeholt werden, da uns die vorjtehenden Betrachtungen über die jozialpolitiichen Wandlungen im Bürgertum ſowie das Auftauchen neuer Flottenpläne von jelbjt wieder auf das Thema Hinleiten, das ficherlich eins der wichtigſten Probleme unjerer inneren Politik darftellt.

Der Umſchwung der jozialdemokratiihen Anſchauungen kann nicht allein aus der fortichreitenden nationalöfonomiichen Erkenntniß, auch nicht allein aus dem Anſchluß anderer nichtproletarischer Schichten an die Partei erflärt werden; von weit größerer Bedeutung dürfte der Umſtand gewejen jein, daß die wachſende Gewerkjchaftsbewegung und die jtaatlihen Zwangsorganie jationen (Krantenfafjen, Gewerbegerichte zc.) allmählich einen ganz neuen Typus des ſozialdemokratiſchen Arbeiterd gefchaffen haben, der durch die praftifche Berwaltungsthätigfeit auf pofitive Ziele hingeleitet und den phantajtijch- revolutionären Träumen entfremdet worden ift. Dadurch iſt erjt der re volutionäre Boden gelodert und zur Aufnahme der Bernjteinichen Ideen fähig geworden. Da nun die Gewerkſchaftsbewegung (und neben ihr das Genoſſen— ſchaftsweſen) unzweifelhaft immer weiter fortjchreiten wird, da wir außerdem feinen Schritt auf dem Wege der Gozialreform vorwärt3 thun Fönnen, ohne gleichzeitig die Arbeiter zur Verwaltung ihrer Angelegenheiten ftärfer heranzuziehen, fo können wir mit Sicherheit auf ein bejtändiges Wadjen der realpolitiihen Einficht, auf eine immer jchnellere Ueberwindung des revolutionären Utopismus rechnen. Der Entwidelungsprozeß, in dem ſich die Sozialdemokratie befindet, vollzieht ſich mit innerer Nothwendigkeit, wenn er auch durch ungeſchickte Maßregeln der Regierung gehemmt, durch geichicte bejchleunigt werden kann.

Wa3 bedeutet nun dieſe Entwidelung für die Sozialdemokratie ald politifhe Partei? Das ijt die Hauptfrage, die ich natürlich nur hypo— thetijch beantworten läßt, bei der wir und darauf bejchränfen müfjen, die einzelnen Entwidelungsmöglichkeiten kurz zu jkizziren.

Zunächſt ändert ſich allmählich, wie ohne Weiteres Elar ift, die Stellung der Sozialdemokratie zu den übrigen Parteien ; jie haben ſchon jegt auf: gehört, für fie „eine einzige realtionäre Mafje“ zu jein, ebenjo wie in den „bürgerlichen“ Barteien die Scheu vor einem zeitweiligen Zujammengehen

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580 Politiſche Korreipondenz.

mit der Sozialdemokratie mehr und mehr zurüdtritt. Die Orenzmauer, die fie von den anderen Parteien trennt, erniedrigt jih nad) und nad). Das ift für die Sozialdemokratie Anfangs ein Vorteil, da ihr jo leichter Angehörige anderer Parteien zuftrömen und fie eine Reihe von Wahl: erfolgen erlangen fann. Ein bleibender Gewinn wird für fie aber kaum daraus entjpringen, da mit der Abſchwächung der Parteigegenſätze an Stelle der großen prinzipiellen Differenzen die fonfreten Spezialjragen für die jeweilige Haltung des Wählers enticheidend werden. Das empfinden auch die radikalen Elemente, namentlich der alte Liebknecht, durchaus richtig; daher ihre heftige, aber gänzlich ausficht3lofe Oppofition gegen die „Verwäſſerung“ der Bartei, die an Mafje gewinne, aber an innerer Feſtig— teit verliere.

Die Stärke der Sozialdemokratie beruhte früher darauf, daß fie ledigs [ich oder ganz überwiegend Indujtriearbeiter umfaßteund von einer einheitlichen revolutionären dee getragen wurde, die fie mit einer ungeheuren Be- geijterung und Siegeszuverſicht erfüllte. Die heutige Sozialdemokratie vereinigt neben den Sndujtriearbeitern große Schichten der übrigen ftädti- ſchen Bevölkerung, Theile des norddeutichen Landproletariats, ſüddeutſche Kleinbauern, nenerdings fogar oſtpreußiſche Rittergutöbefiger und ſchwäbiſche Paſtoren, furz die heterogeniten Elemente. Je mehr nun die dee der revolutionären fozialiftiihen Umgejtaltung der ganzen Gejellichaft verblaßt, um fo mehr wird der politiihe Radikalismus zum alleinigen Ritt der ganzen Partei.

Damit wird die Sozialdemokratie auch in ihrer inneren Struftur den übrigen Parteien immer ähnlicher, die ja auch die verjchiedenjten jozialen Klaſſen in fich vereinigen und durch das Band gemeinjamer politijcher Keen zufammenzuhalten fuchen. Mit wie geringem Erfolge, ijt befannt: gelingt es doc ſelbſt dem Zentrum, das noch über den ſtarken konfeſ— fionellen Neifen verfügt, nicht immer, die divergirenden wirthichaftlichen Intereſſen im fich auszugleichen; find doch alle übrigen Parteien in zahl« reihen Fragen gejpalten und unter der Einwirkung der verjchiedenen wirth— fchaftlihen und jozialen Strömungen eigentlich in bejtändiger Umbildung begriffen. Auch der Sozialdemokratie wird e3 nicht gelingen, heterogene wirthichaftliche Intereſſen dauernd unter einer politiihen Fahne zu ver: einigen.

Die Sozialdemokratie. hat in den legten Jahren in immer jtärferen Maße bei ihrer Agitation neben der Abwehr von Ausnahmemaßregeln gegen die Arbeiter die rein politischen GefichtSpunfte in den Vordergrund gejtellt, den Kampf gegen den „Militarigmnd und Marinismus, die Welt: macht- und Kolonialpolitif“ ſowie gegen alle neuen Steuern. Kommen die verbündeten Regierungen wie wir hoffen endlid) einmal von den ausſichts— lojen Plänen bloßer Repreffivmaßregeln zurüd, die die divergirenden Elemente der Sozialdemokratie immer wieder fejt zufammenjchließen, jo kann es nur

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eine Frage relativ furzer Zeit fein, daß die rückſichtsloſe Propaganda des politischen Radifalismus, die mehr und mehr das Lebendelement der heutigen Sozialdemokratie wird, mit den wirthichaftlichen Interefjen der Arbeiter- Hafje in Konflikt geräth.

Schon jegt zieht fi) durch die Sozialdemokratie der Gegenjaß der politiihen und gewerkjchaftlichen Bewegung, der immer jchärfer hervortreten muß, je mehr fich die gewerkichaftliche Bewegung von der geiftigen Unter— ordnung unter die politiiche emanzipirt, je mehr fie ſich auf ihre eigenen Füße jtellt und ihre Eigenart frei entfaltet. Die reine Gewerkſchaftsbe— mwegung ſucht jtet3 alle Gewerbögenofjen ohne Rückſicht auf die Partei— jtelung zu gemeinfamem Vorgehen zu vereinigen. Für fie ftehen pojitive gejeglihe Maßregeln im Vordergrund, gleichviel von wem jie durchgeführt werden; ſie jtrebt deshalb danach, ſich mit allen Parteien gut zu jtellen, von denen jie eine Förderung erwarten fann. Finden die beruflichen Intereſſen der Arbeiter bei den übrigen Parteien eine energijche Vertretung, jo fann das nicht ohne Rüdwirkung auf ihre Stellung zur Sozialdemokratie fein. Daher denn auch das injtinktive Mißtrauen, mit der die politijchen Führer von jeher die Gewerkſchaftsbewegung betrachtet haben. Daher denn auch jedenfall$ der joeben veröffentlichte jozialdemokrarijche Antrag, der auf der einen Seite nit nur allen industriellen Arbeitern, jondern auch den Sandarbeitern, Dienjtboten, Seeleuten, Beamten (!) ꝛc. ein jchranfenlojes Streif- und Roalitionsreht verleihen, auf der andern Seite aber Unter nehmer, die ſich zur Ausjperrung ihrer Arbeiter vereinigen, mit Gefängniß bejtrafen will; ein Antrag, der an Stelle eined Ausnahmegeſetzes gegen Arbeiter ein Ausnahmegeſetz gegen Unternehmer jegt, dem man jofort ansieht, daß feinen Augenblid ernjthaft auf jeine Annahme gerechnet wird, der nur dazu dienen joll, alle anderen Parteien durch die Exrtravaganz jeiner Forderungen zu übertrumpfen, um ihre Ablehnung agitatoriich aus— nugen zu fünnen. Eine radifale Partei kommt ja überhaupt jehr leicht dazu, ihre Forderungen zum Zwed der Agitation gegen andere Parteien jo extrem wie nur irgend denkbar und ohne jede Rückſicht auf die Möglichkeit ihrer Verwirklichung zu formuliven; und dies Bejtreben trıtt naturgemäß um jo jtärfer hervor, je freundlicher fi) die gegneriichen Parteien zu ge— wijjen Forderungen jtellen.

Der politiihe Radikalismus, namentlih der Kampf gegen den „Militarismus“, war für den Arbeiter etwas abjolut Selbjtverjtändliches, jolange ihn die revolutionären Ideen volljtändig beherricdhten, jolange vr im jtehenden Heer das jtärkite Bollwerk erblidte, daS den Klaſſenſtaat vor dem revolutionären Umjturz jchügte. Je mehr der Revolutionarismus verblaßt, um jo mehr verliert die prinzipielle Ablehnung des Militarismus ihre Bajis, um jo mehr treten die ruhigen militärifchetechniihen Er— wägungen über die bejte Form der Yandesvertheidigung in den Vorder— grund, aus denen heraus denn auch Schippel auf dem Hannoverichen

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Parteitag zur Bekämpfung des Milizigitemd gefommen ijt. Und es it ungemein charakteriftiich, daß es gerade Schippel ijt, der die Fahne des Aufruhrs gegen dieje Lieblingdidee des demokratischen Radikalismus zuerit erhoben hat; denn Schippel ift derjenige, der in feiner ganzen politijchen Thätigkeit jtet3 mit bejonderem Nachdruck den Standpunkt des Induſtrie— arbeiterd betont und jtet3 die „kleinbürgerlich-demokratiſche“ Richtung, den leeren politiſchen Radikalismus, aufs Schärfjte befämpft hat.

Andererfeitd wird aber die Ablehnung aller militärischen Forderungen für die Sozialdemokratie als agitatorifch-politiiche Partei immer wichtiger, je mehr das freifinnige und demofratifche Bürgertum in feinen flügeren Elementen von jeiner jchroff negirenden Haltung in militärischen Fragen zurüdtommt. Da ein Theil des Kleinbürgerthums diefen Umſchwung nicht mitmachen will, geht er zur Sozialdemokratie über, deren eigentliches Ziel immer mehr die Bildung einer großen demokratischen Partei wird; die all: mähliche Zerreibung der freifinnigen und der jüddeutichen Volkspartei iſt die Folge diejer Entwidlung.

Wir jeben aljo, die theoretiiche Abkehr vom revolutionären Sozialismus bedeutet in der praftiichen Politik die Möglichkeit eines Konflikte zwijchen den beiden Grundprinzipien der Partei, zwiſchen dem Arbeiterinterejje und dent politischen Radikalismus.

Der Gegenjaß der beiden Prinzipien ift vorläufig noch latent, da der politische Radikalismus die Anſchauungen der überwiegenden Mehrheit der Partei noch abjolut bejtimmt. Er wird fich aber bejtändig und vermutb: fi ziemlich jchnell vertiefen, fobald die Regierung endgültig von ihrer bisherigen Politik abfommt, jobald die übrigen Parteien fich die Ver— tretung der beruflichen Interejjen der Arbeiter, die Kortführung der Sozial— reform, eifrig angelegen jein lajjen.

Bon großem Einfluß auf die fernere Entwidlung der Sozialdemokratie wird jedoch außerdem die Gejtaltung unjerer Handeld- und Kolonial: politik jein, von der ja überhaupt Deutjchlands Zukunft abhängt, deren glüdlicher Fortgang eine nothwendige Vorausſetzung für die Hebung der breiten Maſſen des Volkes ijt.

E3 ijt in den „Preußiſchen Jahrbüchern“ ſchon öfter betont worden), daß die moderne Entiwidlung auf die Bildung großer geichlofiener Wirtb- jchaftsgebiete Hindränge; Rußland mit feinen aſiatiſchen Beſitzungen, die Vereinigten Staaten mit ihren neuen Kolonien, England mit jeinem folonialen Weltreih, Frankreich mit feinem ftattlichen überſeeiſchen Bejige: alle juchen fih mehr und mehr innerlich zu fonjolidiren und ſich nad) außen abzus jperren. Will Deutichland nicht völlig ind Hintertreffen gerathen und zu einer Macht zweiten Ranges herabfinten, jo muß es ebenfall3 feine wirtb- ſchaftliche Baſis durch Erwerbung von Kolonien erweitern, die den Leber:

*) Bol. befonders „Deutſchland und der Weltmarlt (Bd. 91 S. 240.)

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ihuß jeiner Bevölkerung aufnehmen, die ihm die nöthigen Nahrungsmittel und Rohſtoffe liefern können und ein ſicheres Abſatzgebiet für feine Induſtrie— produfte darjtellen. Die Schaffung ded „größeren Deutſchland“ ift die Aufgabe des zwanzigiten Jahrundert3 und eine eben ſolche Nothwendigfeit fiir unjer rwirthichaftliches Gedeihen, wie es die Herjtellung des einigen Dentjchland im neunzehnten Sahrhundert war; die Rolle, die in der Vergangenheit damals das preußische Heer jpielte, fällt in der Zukunft der deutjchen Flotte zu.

Die Nothivendigkeit kolonialen Befiged für ein großes induftrielles Land geben aud, die einfichtigeren Sozialiften zu. Bernjtein betont, daß folonialer Beſitz fi) ald Faktor der „Steigerung ded Reichthums der Nationen bewährt habe“; und er fährt fort: „Un diefer Steigerung hatten aber aud) die Arbeiter von dem Augenblick an ein nterefje, wo Koalitions— recht, wirkſame Schutzgeſetze und politiſches Wahlrecht fie in den Stand jegten, jich jteigenden Antheil an derjelben zu fichern.“

Die jozialdemofratijche Partei aber befämpft grundfäglich und mit aller Schärfe unjere Kolonialpolitit und jede Vergrößerung unferer Kriegsflotte, überwiegend aus politiihem Radikalismus, zum Theil jedoch auch noch aus der im vorigen Heft beleuchteten phantajtiichen Idee heraus, daß der Export durch die Untergrabung des inneren Marktes gejchaffen fei und daß e8 nur der jozialijtifchen Regeneration der Gejellichaft bedürfe, um alle Schwierig: feiten der modernen wirthichaftlihen Entwidlung zu befeitgen.

Ihr Widerjtand gegen die Vergrößerung der Flotte muß die* Partei zunächſt in jcharfen Gegenja gegen die im Schiffbau und feinen aus— gedehnten Hilfägewerben, (namentlich in der Metallindustrie) bejchäftigten Arbeiter bringen; jchon bei der legten Wahl hat die Sozialdrmofratie Kiel und Stettin verloren und nirgends geringere Fortichritte als im rheiniſch— weſtfäliſchen Montanrevier gemacht. Biel wichtiger aber ift, daß die In— dujtriearbeiter überhaupt nicht dauernd darüber im Unflaren bleiben können, welche furchtbaren Gefahren für das ganze deutiche Wirthichaftäleben, namentlich aber für die Induſtrie, eine Niederlage zur See und eine Blodade in ſich birgt, welche abjolute wirthichaftliche Nothwendigkeit die Ver: theidigung unjerer überjeeiichen Intereſſen und die Schaffung eined aus gedehnten Kolonialbeſitzes iſt.

Welche Gefahr der ſozialdemokratiſchen Partei von dieſer Seite droht, fühlt fie auch jelbjt ganz deutlich; ein Blid auf England, wo die dee des Imperialismus in der Urbeiterfchaft immer fiegreicher vordringt, zeigt ed ihr ja zur Genüge. Im legten Heft Nr. 7 der jozialdemofratijchen „Neuen Zeit* räumt anch Kautsky“) die Erfolge der imperialijtiichen dee offen ein; feine Ausführungen find interejjant genug, um fie in ihren wichtigiten Stellen wiederzugeben:

*) In einem Artilel „der Krieg in Südafrika.“

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„Aber neben dem Sozialismus ift aus dem Niedergang des Mancdheiter: thums noch eine andere Macht erjtanden, der Imperialismus, der, ge tragen von den Bedürfniffen der herrichenden Klaſſen, im englischen Volke noch rajchere Fortichritte gemacht hat als der Sozialismus, und der heute das vornehmjte Mittel ijt, des letzteren Fortichritte zu hemmen.

„Bu unferer jchmerzlichen Ueberrafchung zeigt uns die jegige Stimmung in England, wie sehr der Imperialismus fi) auch der Arbeiter be mächtigt hat.

„Nirgends iſt das Proletariat ftärfer, nirgends eher im Stande, eine jelbjtändige Politif zu verfolgen und nirgends zeigt es ſich abhängiger von der bürgerlihen Politik al3 in England!

Das Hat wohl feinen Grund nicht bloß in den Gewohnheiten, die es noch aus der goldenen Zeit des mancdhejterlichen Aufſchwungs bewahrt hat, jondern auch in materiellen Verhältnifien der neuejten Zeit. Mit den Rapitalijten vereinigt fühlen fi aud die Arbeiter Englands als eine bevorrechtete Klafje gegenüber der Bevöllerung der eroberten Gebiete. Dieje Gebiete fcheinen ihnen erſchloſſen niht bloß für den Unternehmungsgeift der Kapitalijten, fondern aud für den der überjhüjjigen Proletarier, deren Ubzug den heimiſchen Arbeitsmarkt entlajtet. ſie jcheinen ihnen geihaffen nit bloß um die Reihen noch reicher zu machen, jondern aub um den Armen eine Ausficht zu eröffnen reich feine befjere, al3 ein Lotterieloos reich zu werden; endlid erjcheint ihnen die Expan ſionspolitik als ein Mittel, die Induſtrie zu beleben, durd) Erweiterung nicht bloß des äußeren Marktes, fondern auch des inneren, danf den Kriegsrüſtungen und dank der Menge derer, die mit dem NRaube, den jie in den über: jeeifhen Beſitzungen zujammengerafft, heimfehren, die Schaaren der Befigenden und deren Nachfrage nad) Waaren und Dieniten zu vermehren.“

So Kar Kautsky die wirthichaftlichen Vortheile der engliichen Kolonial— politit auseinanderfegt, jo wenig begreift er ihre abjolute Nothwendigteit; er erflärt, fie fjei nur für die herrjchenden Klaſſen, nicht aber für das Proletariat efne Lebensfrage. „Ihm jtehen im SHinarbeiten auf Den Sozialismus mildere, menjchlichere und volllommnere Mittel zu Gebote, jeine Intereſſen zu wahren und die Gejellichaft weiter zu entwideln, als die kolonialen Raubzüge.“ Wie der Sozialismus den engliſchen Reichsthum aufrecht erhalten und fortentwideln will, wenn er feine Bafis, die politijche ° und fommerzielle Weltherrichaft, aufgiebt, erfahren wir leider nit. Dafür heißt es weiter:

„Se mehr der Jmperialismus das Mancheſterthum zurüddrängt und je mehr er zur Grundlage des politifchen und fozialen Syitems wird, dejto mehr hängt die Entwidlung der Gejellihaft vom Erfolg der Waffen

Politiſche Korrefponden;. 585

ab, dejto fraftvoller muß der Militarismus in die Höhe jchiehen, diejer geichworene Feind der Demokratie, deito eher droht aber auch eine Nieder: lage im Sriege zu einer öfonomijchen Katajtrophe zu führen. Man dente an die Folgen eines Weltkrieges, der für England mit dem Verluſt feines Kolonialreiches, namentlich Indiens, endete.

„Die dritiiche Demokratie zeigt uns heute ein Bild, das in vielen Punkten vergleichbar iſt dem der athenijchen Demokratie vor dem pelo— ponnejiihen Kriege. Hier wie dort eine große Macht der unteren Klaſſen im Staate, aber hier wie dort troßdem eine Ariſtokratie an der Staats— leitung, die durch ihre äußere Politif das Volk befriedigt. Dank feiner Seemadht gelang e3 Athen, fait alle Inſeln und Küſten des ägätjchen Meeres fich unterthan zu machen, und deren Tribute, jowie der dank jeiner Uebermacht mächtig aufblühende Handel lieferten die Mittel, die Ariſtokratie reich zu machen und doch gleichzeitig eine der damaligen Zeit entiprechende demofratiihe Sozialpolitit zu treiben, der Mafje des Volkes zahlreiche fleine Bortheile zu gewähren. Kaum ein anderes Zeitalter gewährt einen jo glänzenden Anblid, wie das Berikleifhe. Aber der Grimm des Unter- worfenen und Auögebeuteten auf der einen Seite, die Eiferſucht der von der reihen Beute Ausgeichlofjenen auf der anderen wuchs ſchließlich jo jtarf, daß er die Gegner Athens unter der Führung Spartad zu einem Kampfe auf Leben und Tod gegen die mächtige Seejtadt führte, die im peloponne= fiichen Kriege ihre jämmtlichen überjeeifhen Bejigungen verlor und zu völliger Nichtigkeit herabjant.

„Ein jeder hijtorische Vergleich hinkt, jo auch diejer. Die Gejchichte wiederholt jich nit. Bor Allem unterjcheidet ſich das Großbritannien von heute dadurch von dem Athen des fünften Jahrhunderts vor unjerer Zeitrechnung, daß es eine mächtige Großinduftrie und ein mächtiges induftrielles Proletariat befißt, da8 dem Zuſammenbruch des jtaatlichen und gejellichaftlihen Syſtems nit ruhig zujehen würde und das die Kraft befigt, die Nation zu regeneriren und auf eine neue gejellichaftliche Baſis zu jtellen.* (!)

Wir vermuthen, daß das engliiche Proletariat dauernd der Ueber— zeugung jein wird, daß es vor Allem darauf ankommt, durch Entfaltung der nöthigen militärischen Macht und durch Ausdehnung und innere Kon— jolidirung de3 Greater Britain den Zujammenbrud zu verhindern, daß ed dagegen zur „Jozialiftiichen Regenerirung der Gejellichaft“ nach dem großen Banferott nur geringes Vertrauen haben wird. Und wir geben und der jejten Hoffnung bin, daß auch die deutjche Arbeiterjchaft über fur; oder lang die wirthichaftliche Nothwendigkeit des größeren Deutſch— land einjehen wird. Wenn das gejchieht, wenn dag Arbeiterinterejje mit dem politiichen Radikalismus in dieſer fundamentalen Frage in offenen Konflitt geräth, muß ſich die Sozialdemokratie entiweder volljtändig innerlich umgejtalten oder fich auflöjen wie es der bürgerlichen Demokratie bei

586 Bolittyde Korrefpondenz.

der Gründung des einigen Deutjchland ergangen iſt. Denn das Eine lehrt und jedes Blatt der Gejhichte, daß nur die Regierung und die Partei ſich dauernd behauptet, die es verjteht, dad Gejammtinterefje des Gemeinweſens nah außen zu wahren und zu fördern. D.

Deutihland, Trandvaal und der Bejuh de3 Kaiſers in England. Die neue Flotten- Forderung.

Mit einer in der deutichen Geichichte unerhörten Einmüthigfeit der Gejinnung nimmt unjer Volk in dem afrikaniſchen Kriege Partei für die Buren und gegen die Engländer. Es iſt nicht nöthig zu bejchreiben, wie man die Nachrichten vom Sriegsihauplag erwartet, als ob es fh um unjer eigene Heer handelte und jeden Erfolg der Buren bejubelt, jede Siegednadhricht der Engländer mißtrauiſch und ſpöttiſch verwirft. Wir find durchdrungen davon, daß es auch unjere Sade ijt, um die heute jenſeits des Aequators gefocdhten wird. Wenn die Engländer erjt die Buren verjchlungen haben, find unſere eigenen Kolonien nur noch Enklaven am englijhen Machtgebiet und der Traum, daß das deutiche Volk theils haben werde an der Weltherrichait, it zu Ende nicht bloß für Afrika; allenthalben Hin wird das engliiche Selbitbemußtjein, der gejchwellte Ueber- muth des Siegerd ſich geltend machen und die Rivalen unterdrüden.

Eben indem das deutſche Volk ſich mit wachſender Leidenschaft in ſolche Empfindungen verjenkt, ijt der deutjche Kaifer nach England gereiit und giebt den Engländern einen eindrudsvollen Beweis jeiner freunde ihaftlihen Gejinnung. Unjere offiziöfen Blätter jagen, e8 handle ſich um einen bloßen Familienbeſuch des Enkels bei jeiner Großmutter, der längit verjprocden, nicht ohne Unhöflichkeit hätte wieder abgejagt werden können. Die engliichen Zeitungen und die öffentlide Meinung in England wiſſen ed bejjer. Mit lautejter und wirklih ganz ungeheuchelter Freude und Begeiiterung ijt der Klaifer von ihnen aufgenoinmen worden. In den überjchwenglichiten Worten wird er gefeiert und umſchmeichelt. Man weit zu jchägen, was diefer Beſuch werth iſt. Er giebt England die Gewähr, daß e3 in feinem Kampf gegen die Buren falls diejer ſich nicht gar zu fange binziehn jollte nicht gejtört werden wird. Rußland oder Frankreich mögen an irgend einer Stelle eine Bewegung machen, der England nicht gleich widerjprechen fann. Das ijt nicht das Entjcheidende; das mag es hinnehmen und ſpäter reguliven. Das einzige Mittel, England in Afrika Halt zu gebieten, jo weit es nicht die Buren jelbft bejorgen, wäre das tontinentale Bündniß zwiſchen Rußland, Deutichland und Frankreich. Dies Bündniß iſt das Einzige, was die Engländer wirklid zu fürchten haben. Ein bloßes ruſſiſch-franzöſiſches Bündniß, auch wenn dieſes vielleicht die ge—

Politifhe Korrefpondenz. 587

nügende militäriiche Macht gegen England befigt, fürchten fie nicht und brauchen fie nicht zu fürdten. Denn mit einem neutralen Deutſchland dazwiſchen fommt e3 nicht zu Stande; dad würden ſich die Franzoſen niemald ge— trauen: fie würden immer fürchten, von uns im Rüden angegriffen zu werden. Darum it der pofitive fontinentale Dreibund die einzige Kom— bination, die England (jolange ed mit den Vereinigten Staaten einig ijt) zu fürdten hat, und das ijt der ungeheure Werth dieſes Kaijerbejuches, daß er dieje Furcht verſcheucht. Es iſt ausgeſchloſſen, daß ein ſolches Bündniß zu Stande kommt, jo lange der deutſche Kaifer ſolche Familien: bejuche in England macht. Dieje private Handlung ift ein politifches Er— eigniß erjten Ranges.

Es ift nicht das erjte Mal, daß die kaiſerliche Politik fi) derart in den jchärfiten Gegenjab gegen die Volksſtimmung in Deutichland ſetzt. Mit höchſt peinlihen Empfindungen hat man ſ. 3. die gegenfeitigen Sreundichaftöbezeugungen zwijchen unjerem Kaiſer und dem Sultan beob- achtet, während diejer falten Blutes jeine chriftlihen Unterthanen zu Hunderttaufenden abſchlachten ließ. Mit Gewalt wurden damal3 die Sympathietundgebungen für die Armenier in Deutfchland unterdrüdt. Bei den heutigen Freundſchaftsbezeugungen für die Buren wäre das ganz un— möglich; aus naheliegenden Gründen jind fie noch unendlich viel jtärfer, und außerdem wäre ed handgreiflich ein Fehler, grade wie es bei den Armeniern ein Fehler geweſen ijt.

Das iſt ja grade die Eigenthümlichkeit unferer Staatöverfaflung, daß bei und auch für entgegengejegte Strömungen Raum ilt, und fie fünnen beide im Recht und beide nüßlich jein.

Die öffentliche Meinung ift im vollen Recht mit ihrer Sympathie für die Buren und ihrem Argwohn gegen die grenzenloje Herrſchſucht Englands, Aber welche pofitive Politik jollte aus folcher Gejinnung wohl hervor- gehen?

Will die öffentliche Meinung, indem fie gegen England donnert, Die fontinentale Allianz? Will fie den Krieg? Wenn beides morgen proflas mirt würde, ich glaube, jie wäre damit einverjtanden. Aber daß ein Staatdmann jo leichthin diefen Weg einjchlagen fünnte oder möchte, iſt faum anzunehmen. Das Bindnig mit Frankreich wäre vielleiht zu Stande zu bringen, aber e& zu einer völlig ficheren Grundlage der Politik, jicher auch gegen Rückſchläge, zu machen, das wäre doch noch feine ganz leichte Aufgabe. Und melde Rolle würde Deutichland heute in einem großen Seefriege fpielen, wo es nach den Liften über elf, in’Wirklichkeit aber nur über ſechs, ſage ſechs, völlig brauchbare und leiſtungsfähige Linienjchiffe verfügt? In einem Kriege des Kontinent? gegen England würde Deutſch— fand nicht mehr als die Nüdendedung für die Anderen bedeuten: eine Rolle, die und weder zufagen würde, noch vortheilhaft wäre.

Wenn aber feine fontinentale Allianz gegen England, dann kann es uns

588 Bolitiſche Korrepondenz.

auch keinen Nutzen bringen, damit zu drohen. Die Möglichkeit einer ſolchen Allianz iſt heute vorhanden. Das braucht man nicht zu verhehlen, im Gegentheil, es iſt gut, es mit aller Offenheit auszuſprechen, aber es wäre verkehrt, damit zu drohen, ſolange man ſie nicht wirklich in das Auge faßt.

Wir wollen eine Weltmacht- und Kolonialpolitik treiben im großen Stil. Das ſteht feſt. Hier giebt es keinen Schritt zurück. Die ganze Zukunft unſeres Volkes unter den großen Nationen hängt davon ab. Wir können dieſe Politik aber machen ſowohl mit England als gegen England. Mit England bedeutet in Frieden; gegen England bedeutet durch Krieg. Mit England bedeutet, daß England uns freiwillig den genügenden Spielraum neben ſich gewährt. Solange es das thut, brauchen wir ihm nicht entgegenzutreten. Der Samoa-Vertrag zeigt, daß England wenigſtens in dieſem Augenblick die Situation verſteht. Der Vertrag iſt keineswegs beſonders günſtig für uns, er iſt nicht mehr als recht und billig; auch wir haben durch Abtretungen von Land und Rechten ziemlich bedeutende Kon— zeſſionen gemacht. Es iſt ein Vertrag zwiſchen zwei Mächten, die ſich einander gleich ſchätzen. Bisher hat England das kaum gethan und brauchte ed auch nicyt, denn was jind wir auf dem Meer? Uber eine Großmacht wirft auch da, wo ihre Kanonen nicht unmittelbar hinreihen. Der Kaiſer— lihe Bejuch war den Engländern mandes Linienſchiff werth. Wahrlich, diefer Samoa-Bertrag war für England fein ſchlechtes Geſchäft.

Sollen wir aber nun die Buren zu Grunde gehen lafjen, um abzu= warten, wie die Engländer nachher mit und umgehen werden ? Eine ge- wichtige Frage. Aber find wir in der Lage, einen Krieg zu führen, um die Buren zu retten? Wenn wir die Engländer bloß bedrohten, und nicht bloß die öffentlide Meinung, jondern auch die Diplomatie jich un— freundlich zu ihnen jtellte, jo würde das den Buren wenig helfen, die politiihe Stellung Deutichlands aber in der Weltpolitik wejentlid ver— ſchlechtern. Es bleibt und nichts übrig, ald unter Wahrung der jtriften Neutralität die Buren ſich jelbjt und ihrer Tapferkeit zu überlafjen, und wenn wir für uns jelber jogar aus der bejcheidenen Stimmung, in der ſich zur Zeit die britiichen Staatdmänner befinden, gewifje Vortheile ziehen, die zur Befejtigung unferer foloniolen Weltjtellung dienen, jo iſt das fein Unrecht gegen die Buren, jondern wird in Zukunft einmal ihnen jelber zu Gute fommen. Denn jelbit wenn fie jegt unterliegen jollten, jo find jie damit noch keineswegs todt und abgethan. Das holländiiche Element in Südafrita wird nod) lange jeine Lebenskraft bewahren und auch in zus künftigen Welt-Konflikten noch einmal eine Rolle fpielen, die es wieder nad) oben führen mag. Sit es heute Deutjchland, das aus dem Kriegsmuth der Buren Gewinn zieht, jo wird einjt der Tag kommen, wo das jtarfe, jee= mächtige Deutjchland den Afrifandern Hilft.

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Bolitiihe Korrefpondenz. 989

In dem Vorſtehenden ift eigentlich bereit3 Alles enthalten, was über und für die neue Flottenvorlage, um die fich in diefem Augenblid die innere Politik Deutjchlands dreht, gejagt werden fann. Es iſt erflärt, weshalb die neue Forderung mit jolcher Plöglichkeit aufgetreten ift, nachdem erjt vor zwei Sahren ein Flotten-Serennat gejchaffen worden, das alle Theile be- friedigte. Es iſt auch erklärt, weshalb plöglic in allen Theilen des Volks das Verſtändniß für diejes nationale Bedürfniß jo Har und kräftig geworden iſt. Schon heute unterliegt es gar feinem Zweifel mehr, daß die Forderung in irgend einer annehmbaren Form vom Reichstag gut geheißen werden wird. An der Wählerichaft der opponirenden Barteien, im Zentrum, im Freifinn, bis in die Neihen der Sozialdemokratie hinein ijt eine jo ftarfe Stimmung dafür, daß die Abgeordneten garnicht im Stande fein werden, mit irgend welchen taftijchen Finefjen lange daran herumzuhantiren, und umgefehrt bei den Konjervativen, wo die agrariiche Wählerfchaft in ihrer Mißſtimmung vielleicht Schwierigkeiten machen könnte, da find die Führer, die Abgeord- neten flug genug, um zu willen, daß fie in einer ſolchen Frage feine DOppofition treiben dürfen. Man mag ja der Regierung bormwerfen, daß fie ſich mit feierlihen Worten auf jechd Jahre gebunden Habe und nun ihr Verſprechen nicht halte. Aber diefer Vorwurf ijt doch bloß ein for- maler. Gewiß zeigt ſich eine Huge Politik darin, daß fie die fommenden Dinge vorausfieht. Aber auch bei dem jcharfichtigiten Staatsmanne ijt dieje VBorausficht immer nur eine relative und beſchränkte. Zuweilen ijt die Schnelligkeit einer hiſtoriſchen Entwidelung jo rapide, daß fie jede Vorausſicht überholt, und das ijt hier der Fall. Niemand fann wilien, wohin jchon binnen einem Jahr diefer Burenkrieg die Weltgejchichte geführt haben wird. Sei ed nun, daß England jiege oder daß es unterliege, in beiden Fällen müſſen die Wirkungen unermeßlih fein. Nur wenn es noch zu einem Kompromiß, ungefähr auf dem status quo ante fommt, wird die Weltpolitit auf leidlich ebener Bahn, ohne uns mittelbare große Erichütterungen weiter rollen können. Das verfteht heute Jedermann und wirkt auf unjere ganze Bolitif zurüd. Die herzerquidende Entichlojjenheit, mit der der Reichstag dem Grafen Poſadowsky die Zucht: haus-Vorlage vor die Füße geworfen hat, hat ficherlid eine Quelle ihrer Kraft gerade in der Flotten- Bewegung: das Zentrum iſt bereits innerlic) entichlojjen, die Vorlage zu bewilligen und das gute Gewifien, hier der patriotiſchen Pflicht voll zu genügen, bejlügelte jeinen Entjchluß, in der Zuchthaus-Vorlage der Regierung nicht nur zu widerjprechen, jondern fie durch die Art der Ablehnung geradezu zu mißhandeln. So bedauerlich der Borgang dom Standpunkt des Autorität3-Prinzips iſt, jo muß die Freude doch überwiegen, indem jich die Hoffnung daran fnüpft, daß die Regierung ihn fic zur Yehre dienen lajjen und fich endlich von der unjeligen Scharfmacher-Politik, die nun jchon jeit fünf Jahren Deutjchland in Ver— wirrung jeßt, loslöjen werde.

590 Politische Korreſpondenz.

Eine befondere Luſt und Freude ift es heute nicht, in Preußen zu leben. Maßregelungen, Abjegungen und Strafverfolgungen, wo man binhört. Majejtätöbeleidigungd:Prozejie, grober Unfug, Disziplinar-Unterjuchungen, die früher für unmöglich gegolten hätten. Bei jolchem Regiment im Innern ijt es nicht leicht, die Menge zu der freudigen, opferwilligen Stimmung binzureißen, derer man für große nationale Unternehmungen bedarf. Aber wer jich frei machen will von den unangenehmen Eindrüden der Gegenwart, der werfe einen Blid in die Vergangenheit und er wird Troft finden. Siebzig Jahre iſt es her, da die hanjeatiichen Kauffahrer vergeblich bei England, Holland, Dänemark, Schweden bettelten, ihnen Schuß zu gewähren gegen die maurifchen Seeräuber, die vom Mittelmeer bis in die Nordjee jtreiften. Der deutiche Bund, Preußen und Oeſterreich waren nicht in der Lage, den deutichen Kaufmann zu ſchützen, auch wenn fie gerollt hätten. Selbjt über Tribut-Zahlungen an die Barbaredfen-Deys verhandelten die Hamburger, um frei über das Meer fahren zu dürfen. Fünfzig Jahre it es her, daß darauf die erjten deutſchen Kriegsichiffe auf dem Meere er: fchienen und Lord Palmerſton erklärte, er werde fie als Seeräuber be- handeln, denn fie gehörten feiner anerkannten Maht mit Recht: denn wer war die „Deutiche Zentralgewalt“ in Frankfurt, die diefe Schiffe aus- ſandte? Die Deutichen hatten eine Flotte, aber feinen Herrn dazu. Co fam fie unter den Hammer. Yünfunddreißig Jahre ijt es her, feit das Kleine Dänemark den beiden verbündeten deutichen Großmädten ein volles halbes Jahr Widerjtand leisten konnte, weil es ein Panzerſchiff beſaß.

E3 ift doch anderd geworden in Deutichland. E3 fehlt noch viel, daß wir nad außen und innen einen bdeutichen Staat haben, wie wir ihn wiünjchen müſſen, aber wenn es Kaiſer Wilhelm II. gelingt, eine volls werthige deutjche Kriegsflotte zu jchaffen, jo werden zukünftige Generationen rücdblidend über alle die Eleinen Wergerlichkeiten, die und heute kränken und drücen, jehr leicht binmweggehen. Dad darf man in den Kämpfen des Tages feinen Augenblid vergeſſen. Die Scharjmacherei auf der einen, die Verhetzung der Mafjen auf der anderen Seite mag ung heute verjtimmen. Der idealijtiiche Grundzug des deutichen Weſens, der der freien geijtigen Bewegung bedarf, ijt zweifellos in Gefahr. Von oben wird ein jteigender Druck geübt, von unten ijt man an der Arbeit, den Idealismus in Fanatismus oder Begehrlichkeit umzujegen. Da heißt e3, tapfer bleiben in der Oppofition nad) allen Seiten, damit das alte hehre Ziel eines zu— gleich mächtigen und freien Deutjchland, von dem uns BVerblendung und Leidenſchaft immer wieder abtreiben, doch feinen Uugenblid und den Augen verloren werde.

26. 11. 99. D.

Von neuen Erscheinungen, die der Redaktion zur Besprechung zu- gegangen, verzeichnen wir:

Liebe, Georg. Der Soldat in der deutschen Vergangenheit. Leipzig, Eugen Diederichs.

Lutz, Robert. Kuhnle-Dreyfus, 31 $, Stuttgart, R. Lutz.

Mancke, Dr. W. Der Verein Berliner Getreide- u, Produkten-Händler und seine Glaubwürdigkeit. Oktav. 15 S. Berlin, Selbstverlag, W. Wilhelmstr. 43a.

Matthaei, Prof. Dr. Adalbert. Deutsche Baukunst im Mittelalter. 155 S. Leipzig, B. G. Teubner.

Meinecke, F. Das Leben des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen. Zweiter Band. Preis geheftet 12 Mark. Stuttgart, J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nach- folger, G. m. b. H.

Meyer, H. @G. Eros und Psyche. 1108. M.4 geb. M. 8 bro. Berlin, Karl Siegismund

Mollwo, Ludwig. Hans Karl von Winterfeld. Oktav. 26885. München u, Leipzig R. Oldenbourg.

Moltkes Kriegsgeschichtliche Arbeiten. Kritische Aufsätze zur Geschichte der Feld- züge von 1809, 1859, 1864, 1866 und 1870/71. Herausgegeben vom Gr. Generalstabe, Abtheil. für Kriegsgeschichte, Oktav. 218 S. Berlin, E. 8. Mittler & Sohn.

Muser, Oskar. Flugschriften der Deutschen Volkspartei Heft 4: Demokratie und Sozialismus. Oktav. 44 Seiten 60 Pf. Frankfurt a.M., I. D. Sauerländer’s Verlag.

Pfungst, Arthur. Laskaris. 8, Aufl. 2352 S. M. 240. Berlin, Ferd. Dümmler.

Phelps-Euchler, W. Ein eigenartiges Leben im Dienste des Herrn. 4925. M. 4. Wolfenbüttel, Julius Zwissler.

Pierantoni, Dr. A. Die Fortschritte des Völkerrechts im XIX. Jahrhundert. 1328, M. 3. Berlin, Franz Vahlen.

Priester, Dr. Oskar. Die Deportation. Ein modernes Strafmittel. 1028. M. 2. Berlin 1899, Verlag von Franz Vahlen.

Salzer, Dr. Ernst. Ueber die Anfänge der Signorie in Oberitalien. Historische Studien, Heft XIV. Oktav. 308 S. Berlin, E. Eberling.

Staub, H. Der Begriff der Börsentermingeschäfte im $ 06 des Börsengesetzes. 78 5. M. 1. Berlin, 1899. Verlag von Otto Liebmann.

Stier-Somlo, Fritz. Aus der Tiefe. Gedichte. 45 S. M. 1. Berlin-Paris, Joh, Sassenbach,

Tatarinof, Eugen. Die Schlacht bei Dornach 14%, 64 S. Preis 15 Rappen. Basel, Emil Birkhäuser.

Thörsch, Dr. Berthold. Deutschnationale Politik. 88. Pf. Wien, Leopold Weiss,

Vierordt, Heinrich. Neue Balladen. 2, Aufl. 1268. M.8. Heidelberg, Karl Winter.

Wischer, F. T. Shakespeare-Vorträge I. M.9. Stuttgart, J. G. Cotta’sche Buch- handlung, Nachf.

Vorländer, Dr. Karl. Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft. 839 S, M. 3,25. Halle a. S, Otto Hendel.

Wamer, Franz. Der Polenring. Oktav. ®S. Berlin, H. Walther.

Wagmer, Wallot, Richter. Parlaments- und Ständehäuser, Militärbauten. Hand- buch IV, 7.2. U. Aufl. M, 12, Stuttgart, Arnold Bergstrüsser.

Walter, Dr. Friedrich. Archiv und Bibliothek des Grossh. Hof- und National- theaters in Mannheim 1779-1889. 2 Bände M. 10. Leipzig, Verlag v. S. Hirzel. Welschinger, Henri. La Mission seceröte de Mirabean à Berlin. Oktav. 52258. Paris,

E. Plon, Nourtit et Cie.

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Wollny, Dr. F. Zukunftsphantasien von ehedem und heute. Oktav. 29 S. Das dunkle Phönomengebiet der Magie. Oktav. 188. Die Stubenweisen unserer Zeit. Aus dem Russischen. Oktav. 21 S. Leipzig, Oswald Mutze.

Zöllner, Dr. Friedrich. Einrichtung und Verfassung der Fruchtbringenden Gesell» schaft vornehmlich unter dem Fürsten Ludwig zu Anhalt-Cöthen. Oktav. 135 Berlin, Verlag des Allg. Deutsch. Sprachvereins,. F. Berggeld.

Agostini, A. Pietro Carnesechi. Oktav. 3853 8. L. 3. Florenz, Bernardo Seeber.

Arminius, Wilh. Die beiden Reginen (erz. nach einer Koburger Chronik) 75 8, Leipzig, Theod. Dieter.

Arnold, Dr. Robert F. Geschichte der Deutschen Polenliteratur, Oktav. X, 2985, M.8. Halle a. S. Max Niemeyer,

Baasch, Dr. Ernst. Beiträge zur Geschichte des deutschen Seeschiffbaues und der Schiffbaupolitik. Oktav. V, 3518. M. 10. Hamburg 189, Lucas Gräfe & Stillem,

Bamberg, Dr. Alb. ve. Der Deutsch.-ev. Kirchenbund, Bericht des ev. Bundes am 25. Mai 1898 zu Gotha. 31 S. Berlin, Jul. Springer.

Blum, Hans. Neu-Guinea und der Bismarckarchipel. Oktav, XII, 3255, M.5, Berlin, Schoenfeldt & Co.

Bülow, Frieda Freiin von. -- Im Lande der Verheissung. 446 S, Dresden u. Leipzig, Karl Reissner,

Berdrotw, Otto. Rahel Varnhagen. Oktav. 4608. M. 7. Stuttgart, Greiner & Pfeiffer,

Bode, Br. W. Meine Religion. Mein politischer Glaube. Zwei vertrauliche Reden v. J. W. Goethe. 9 S. Berlin, E. S. Mittler & Sohn.

Chajes, Dr. HA. P. Markus-Studien. 788, M.2 Berlin, ©. A. Schwetschke & Sohn.

Cohn, Dr. 8. - Die Finanzen des Deutschen Reiches seit seiner Begründung, 209 S. Berlin, I. Guttentag.

‚Cornelius, C. A. Historische Arbeiten vornehmlich zur Reformzeit,. Oktav. IX 6283 S. M. 13. Leipzig, Duncker & Humblot.

Denkiwürdigkeiten und Erinnerungen des Generalfeldmarschalls Hermann v. Boyen. 2 Bde. 378 und 398 S. Stuttgart, Rob. Lutz.

Das deutsche Kaiserpaar im heiligen Lande im Herbst 18%. Oktav. 4225. M. 7.M. Berlin SW., E. S. Mittler & Sohn.

Eberstadt, Rudolf. Das franz, Gewerberecht und die Schaffung staatl. Gesetzgebung und Verwaltung in Frankreich v. 18. Jahrh. bis 1581, Gust. Schmoller, 'Staats- u. sozialwissenschaftl. Forschungen. 17. Bd., 2. Heft. Leipzig, Duncker & Humblot.

Einarssen, Indridi. Schwert und Krummstab. Histor. Schauspiel. Uebertr. von C. Küchler. Oktav. 146 S. Berlin, E. Ebering.

Everling, Otto, Los von Rom? 2, Aufl. 598. 60 Pfg. München, S. F. Lehmann.

Fester, Richard. Macchiavelli (Politiker und Nationalökonomen I). 204 S. M. 2.50, Stuttgart, Fr. Frommann.

Flachs, Adolf. Dragan Bratow. 819 S. Berlin, Johannes Räde,

Fleischer, Dr. Oskar. Geisteshelden, Mozart, 33. Band. M. 240. Berlin, Ernst Hofmann & Co.

Förster, F Kritischer Wegweiser durch die deutsche historische Litteratur für Studierende und Freunde der Geschichte. 64 S. Berlin, Johaunes Räde.

Gebhardt, Bruno. Wilhelm von Humboldt als Staatsmann. 2. Bd. 4645. M. 10, Stuttgart, J. G. Cotta.

Geering, Agnes. Die Figur des Kindes in der mittelhochdeutschen Dichtung. Abhandlungen herausgegeben von der Gesellschaft für deutsche Sprache in Zürich. IV, 1208. M. 240. Zürich, E. Speidel.

Geist, Dr. Hermann. Wie führt Goethe sein titanisches Faustproblem, das Bild s. eign. Lebenskampfes, vollkommen einheitl. durch? 2278. M.6. Weimar, Herm. Böhlau Nachf,

Glasenapp, Gregor von. Essays. Kosmopolitische Studien zur Poesie, Philosophie und Naturgeschichte. Oktav. 481 S. Riga, Jonck & Poliewsky.

Das Goldene Buch des deutschen Volkes an der Jahrhundertwende, Leipzig, S. J. Weber. Gossner. Das neue Bürgerliche Gesetzbuch in seiner Bedeutung für die preussischen evangelischen Landeskirchen. 35 S. 50 Pf. Berlin 1899, J. J. Heine's Verlag. ‚Guilland, Antoine. L'Allemagne nouvelle et ses historiens (Niebuhr Ranke Mommsen Sybel Treitschke). 1 vol. in-8°, ö fr. Paris, Felix Alaan &diteur.

Hanncke, Dr. BR. Pommersche Geschichtsbilder. 'Oktav. 1838. M.450. 2. Aufl. Stettin,iLeon Saunier.

Harnack, Dr. Otto. Essais und Studien zur Literaturgeschichte. Oktav. VII. 888 S, Geh. M. 6, geb. M. 7. Braunschweig 1899. Friedrich Vieweg & Sohn.

Herrmann, Prof. Dr. W. Römisch-katholisch und evangelische Sittlichkeit. 445 5 Marburg, N. G. Elwert’sche Verlagsbuchh.

Heyne, Moritz. Altdeutsch-lateinische Spielmannsgedichte. 78 S. Göttingen Franz Wunder.

Horn, Karl. Der Kampf um Südafrika. %7 S. Wien 1899, Friedrich Schalk,

Hübner’s Geographisch-statistische Tabellen für 1898 herausgegeben von Dr. Fr. von Juraschek. Frankfurt a. M., Heinrich Keller.

Huch Rudolf. Mehr Goethe. 170 S. Leipzig und Berlin, Heinrich Meyer.

Jungbrunnen. 12 Bündchen, 12 M., einzeln je 125 M. 1. Der Bärenhäuter. Die sieben Schwaben. 2. Des weyland Nürnberger Handwerkmeisters Hans Sachsens lustige Schwänke. 38. Liebe, Lied und Lenz. 25 deutsche Volkslieder. Berlin W,, Fischer & Franke.

Kaemmel, Otto. Kritische Studien zu Fürst Bismarks Gedanken und Erinnerungen. 107 8, Leipzig, Fr. Wilh. Grunow.

Kampfschulte, F. W. Johann Calvin seine Kirche und sein Staat in Genf. Oktav. 2 Bd. M.8& Leipzig, Duncker & Humblot.

Keibel, Dr. R. Die Schlacht von Hohenfiiedberg. Oktav. XIX. 482 S, mit 2 Karten. Berlin, A. Bath,

Kiener, Dr. F. Verfassungsgeschichte der Provence seit der Östgothenherrschaft bis zur Errichtung der Konsulate (510—1200). Leipzig, Dyksche Buchhandlung.

Kleinpaul, Dr. Rudolf. Wie heisst der Hund? Internationales Hundenamenbuch. 8S. M.1. Leipzig, Verlag von H. Schmidt & C. Günther.

Kulemann, W. Die Gewerkschaftsbewegung. Oktav. XXIL 78058. M.10, Jena, Gustav Fischer.

Kutzen, Prof. Dr. J. Das deutsche Land. 902 S. 8. 10 M. Breslau, Ferd. Hirt. Lettow-YVorbeck, Oscar v,„ Oberst a. D. Der Krieg von 1806 u. 1807. Erster Band, Jena u. Auerstedt. Zweite Aufiage. 449 S. 8. Berlin, E, S. Mittler u. Sohn, Leuss, Hans. Humancs Homo! Verse. (2838S.) M.3,50. Berlin, 1889. Joh. Sassenbach, Lichtenwark, Alfred, Palastfenster une Flügelthür. $, (XIL 181 S.) M. 8. Berlin.

Bruno u. Paul Cassirer.

Lindenberg, Paul. Um die Erde in Wort und Bild. I. Bd, &. (48685.) M.6, geb M.8, Berlin, Ferd. Dümmlers Verlagsbuchh.

Lloyd, J. M. Etidorhpa oder das Ende der Erde. 9. Zwei Bände, mit vielen Illustrationen. M. 8. Leipzig, Wilhelm Friedrich.

Maync, Dr. R. Der Discont. (132 S.) M. 8.50. Jena, Gustav Fischer.

Meinecke, Friedr. Das Leben des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen. 2 Bd, 600 8. 8. Stuttgart, J. G. Cetta,

Mengs, Georg. Karen. Eine Sylter Geschichte. j182 S. M. 1.50. Halle a. S. Otto Hendel.

Dem neuen Jahrhundert. Musenalmanach Berliner Studenten f. d. J. 1900. 252 8. Berlin, Herm. Walther.

Pfister, Albert. Das deutsche Vaterland im 19. Jahrh. 738 S. M.8.—. Stuttgart, Deutsche Verlags-Anstalt.

Beismann,-Grone, Dr. Die deutschen Reichshäfen und das Zollbündniss mit den Niederlanden. Flugschriften d. Alldeutschen Verbandes, Heft 12, 208, 40 Pf, München, J. F. Lehmann,

Restiro, J. Empedocle.. Il Socialismo di Stato. 410 S, Milano-Palermo, Remo Sundron.

Roloff, Dr., Gust. Die Kolonialpolitik Napoleons I. Hist. BibL, Bd. 10. 257 8. München, R, Oldenbourg.

Romanes, @. J. Gedanken über Religion. Uebers. v. Dr. E. Dennert, 8, (IV 1628,) M. 2,60. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht.

Stein, Dr. Ludwig. An der Wende des Jahrhunderts, &®. (VII 415 8.) M, 7.50, Tübingen, J. C, B. Mohr (Siebeck).

Preußifche Jahrbücher. Bd. XCVIIL Heft 3. 38

Vorbery, Dr. A. Der Zweikampf in Frankreich. (68 S.) M. 150. Leipzig, C.L Hirschfeld.

Wahle, Dr. R. Kurze Erklärung der Ethik von Spinoza und Darstellung der Defini- tiven Philosophie. 8, (2128) M. 8.— Wien. Wilh. Braumüiller.

Walcker, Dr. karl. Öesterreichs evangelische Bewegung und sein Staatsinteresse. (61 S) 60 Pf. Göttingen, Franz Wunder.

Weitbrecht, Carl. Das Deutsche Drama. (267 S.) Berlin, 1900 „Harmonie“ Verlags- gesellschaft für Literatur und Kunst.

le Se tar von. Im Goldnetz. Sahauspiel in fünf Aufzügen. Leipzig,

sw utze.

Windelband, Wilh, Platon. (Fromanns Klassiker der Philosophie IX). 10 8. M. 2 Stuttgart, Fr. Fromann.

Zenker. E.von, Die Gesellschaft. I. Band, Oktav. 282S, M.6. Berlin, Georg Reimer,

Manujfripte werden erbeten unter der Adreſſe des Heraus» geber3, Berlin- Charlottenburg, Snejebeditr. 30.

Einer vorhergehenden Anfrage bedarf es nicht, da die Entjcheidung über die Aufnahme eine Aufſatzes immer erjt auf Grund einer jachlichen Prüfung erfolgt.

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NRezenfiond-Eremplare find an die Verlagsbuchhandlung, Dorotheenftr. 72/74, einzujchiden.

Verantwortlicher Redakteur: Professor Dr. Hans Delbrück, Berlin - Charlottenburg, Knesebeckstr. 30,

Verlag von Georg Stilke, Berlin NW., Dorotheen-Strasse 72/74.

Druck von J.S.Preuss, Berlin SW., Kommandantenstr. 14.

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