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JAMES WALKER, D.D., LL.D.,

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ARCHIV

FÜR IX "

SOZIALE GESETZGEBUNG UND STATISTIK.

VIERTELJAHRESSCHRIFT ZUR ERFORSCHUNG DER GESELLSCHAFTLICHEN ZUSTÄNDE ALLER LÄNDER.

IN VERBINDUNG MIT

EINER REIHE NAMHAFTER FACHMÄNNER DES IN- UND AUSLANDES

HERAUSGEGEBEN VON

Dr. HEINRICH BRAUN.

ERSTER JAHRGANG.

TÜBINGEN, 188a.

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VERLAG DER H. LAUPP’SCHEN BUCHH ANDLIi$jj£. t.- -

LOXDOX; SAMPSOK LOW, MAKSTOX, «KAHLE A KlVISOtoX. - XE H'- YORK: TUE IXTKENATlO- ' XAL XEW» COMP. - BRUXELLES: UBKAIIIE BUBonUXBB c. MUQCAKDT. - ST. PETERS- BURG: KAUEKLICtlK UOrBUCIMAXDLUXO II. SCHMITZ UOUTK (E. HAMMEESCIIHIDT).

Abonncmentsprels pro Jahrgang oder Band von 4 Heften M. 12. __

Einzelne Hefte M. 4.

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A R C H I V

FÜR

SOZIALE GESETZGEBUNG UND STATISTIK.

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ARCHIV

FÜR

SOZIALE GESETZGEBUNG UNI) STATISTIK.

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VIERTEI .J AHRESSCI IR IFT ZUR ERFORSCHUNG DER GESELLSCHAFTLICHEN ZUSTÄNDE ALLER LÄNDER.

IN VERBINDUNG MIT

EINER REIHE NAMHAFTER FACHMÄNNER DES IN- UND AUSLANDES

HERAUSGEGEBEN VON

Pr HEINRICH BRAUN.

ERSTER BAND.

"TÜBINGEN, 1888.

VERLAG DER H. LAUPP’SCHEN BUCHHANDLUNG.

LO.VDO.V: mamemo* 1. >w, härmt, .n, »bakle a riviwotom. - .VA' U y'ORK : the i«tku\atio- VAL NEWS com'. - BRUXELLES LIBRA1K1E EUHdiEkxüE c. UUtjUAKDr. - ST. PETERS- BURG : KAISERLICHE HOrSUCIlHAVULUVU H. SCHMITEUOBPE (U. HAIUIEBMCHUIUT).

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'• Cort' 100.8

Nachdruck und Ucbersetating Vorbehalten.

Druck von H Liupp jr- in Tübingen

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INHALT DES ERSTEN BANDES.

ABHANDLUNGEN.

Seile

Baern reither, Dr. J. M., Die Statistik über Arbeitslose

in England 43

Braun, Dr. Heinrich, Zur Einführung I

Eris mann, Prof. Dr. F., Untersuchungen über die körper- liche Entwicklung der Arbeiterbevölkerung in Zentral- russland ... . . 98. 429

Fuld, Dr. L. , Der Begriff des Betriebsunfalles im Sinne

der deutschen Gesetzgebung 417

Herkner, Dr. H., Die belgische Arbeiterenquetc und ihre

sozialpolitischen Resultate 260. 388

Lamprecht, Prof. Dr. K., Zur Sozialstatistik der deutschen

Stadt im Mittelalter 485

v. Mayr, Dr. G., Arbeiterversicherung und Sozialstatistik 201

üldendorff, Dr. A. , Die Säuglingssterblichkeit in ihrer

sozialen Bedeutung 83

Platter, Prof. Dr. J., Die geplante Alters- und Invaliden- versicherung im Deutschen Reich 7

Pringsheim, Dr. O., Die Lage der arbeitenden Klassen

in Holland 69

VVright, Carroll D., Die Organisation der arbeitsstatistischen

Aemter in den Vereinigten Staaten 377

GESETZGEBUNG.

Belgien. Gesetz betr. die Regulierung der Lohnzahlung der Arbeiter . . 621

Deutsches Reich. Der Entwurf eines Gesetzes betr. die Erwerbs- und Wirt- schaftsgenossenschaften. Von Dr. L. Fuld in Mainz . . 595

Grundzüge zur Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter 142

England. Die englische Hattpflichtgesetzgebung und die beabsichtigte Re- form derselben. Von Samuel Moore . . . . 572

Gesetzvorlage betr. die Haftpflicht der Arbeitgeber 586

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VI

Inhalt.

Seite

Nietierlande. Gesetzentwurf gegen Ucberarbeitung und Verwahrlosung ju- gendlicher Personen ISS

Niederländisches Gesetz d. d. 28. funi 1881. betreffend den Kleinhandel mit geistigen Getränken und die Verhütung der öffentlichen Trunkenheit . . ^12

Oesterreich. Der Österreichische Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Trunken-

heit. Eingeleitet von Prof, Max Gruber in Wien ... . . . . 2Qt

Das österreichische Unfallversicherungsgesetz. Von Pr. W. Zeller in Darmstadt $33 Oesterreichisches Gesetz vom 2$. Dezember 1887 betr. die Unfallversicherung

der Arbeiter, (Text)

Schweiz. Das baselstädtische Gesetz betr. den Schutz der Arbeiterinnen Ein-

gelcitct von Prof. Dr. A'. Bücher in Basel . 320

Das Schweizer. Bundesgesetz vom 26. April 1887, betr. die Reform der Haft- pflicht. Eingeleitet von Dr. V. Mataja in Wien 136

Vereinigte Staaten von Amerika. Gesetz betr. die Errichtung eines

Arbcitsdepartements 618

MISZELLEN.

Hcrkncr, Dr. H.t Die englische Fabrikinspektion im Jahre 1885/86 . . 176

Knapp, Prof. Dr. G. F. , Zur Verständigung über die Bauernbefreiung in

Preussen 114

Kr ei cs i, Dr, E. R. ]., Die ungarische Fabrikinspektion im Jahre 1887 . . 336

M ata ja, Dr. V., Ratenhandel und Abzahlungsgeschäfte. Ein Beitrag zur Be- urteilung der Konsumtionsverhältmssc der unteren Klassen 157

Mise hl er, Prof. Dr. E. , Die österreichische Fabrikinspcktion im fahre 1887 624

Moore, Samuel, Das Sweating-Systcm in England 642

Na cf, E., Die Schweizerische Fabrikinspektion im Jahre 1886/87 .... 635

LITTERATUR.

Baernrcith er , J. M., Die englischen Arbeiter verbände und ihr Recht. 1 Band.

( Karl Kautsky) 343

Becker, Dr. J., Anleitung zur Bestimmung der Arbeits- und Erwerbsunfähig- keit nach Verletzungen (A. Oldendor/f ) 371

B c r t ho 1 d , Dr. G., Die Entwickelung der deutschen Arbeiterkolonien (M. Quarck) 367 Ertl, Dr. M., Das österreichische Unfallversichcrungsgeset? ( E . Kater) , . ^65

Falkner, K. P., Die Arbeit in den Gefängnissen (V. Mataja) .... 360

llilse, Dr. K«, Die Haftpflicht der Strasscnbahncn (IV. /etter) 670

Keleti, Dr. K., Die Ernährungsstatistik der Bevölkerung Ungarns auf physio- logischer Grundlage bearbeitet (W. Lexis) . . 351

Knapp, G. F., Die Bauernbefreiung und der Ursprung der I^ndarbeiter in

«len alteren Landesteilcn l'rcusscns (N. Kabluktnv) 185

Körösi, J., Die Sterblichkeit der Stadt Budapest i. d. J. 1S82/S5 und «leren

Ursachen (A. Oldendorf/) 679

Krebs. W., Organisation un«l Wirksamkeit der gewerblichen Schiedsgerichte etc.

( ’Ferd . Schmid) 355

Xorges officielle Statistik. 3 R. Nr. 64. Fatrigstatistik f Armenstatistik ^ (A. /V-

tcrsen-Studnitt) 67^

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InhaU.

VII

Seite

Oesterreichisches Städtebuch. Gesammelt und redigiert von K. Th.

Inama-Sternegg und E. Mischler (M. Nccft) . . 195

Report on the Statistics of Wag es in Manufacturing Industries (F. SchmiJ) . 647

Rubin, M., Tabellarisk Freinstilling af Beboelses- og Husleieforholdene i Sta- den Kjobenhavn ( B . Morgenstur ne) 676

Schönlank, Dr. B., die Fürtber Quecksilber-Spiegel belegen und ihre Arbeiter

(H, Braun) 681

Schüler, Dr. F. und Burckhardt. Dr. A. E., Untersuchungen über die Ge- sundheitsverhältnisse der Fabrikbevolkerung In der Schweiz (F. Erismann) 661

Statistique de la Belgique. Industrie (//. Herkner) 657

V er wa 1 tun gäbe rieh l des Rates der Stadt Leipzig fiir d. J. 1886 (£. Mischler ) 357

Wolf, R., Zur I-age der kaufmännischen Hilfsarbeiter in Oesterreich (Faul

H'agner) 362

Zeerleder, A., Die Schweizerische Haftpflichtgesetzgebung ( V. Mataja) . . 678

Eingesendete Schriften 372 u. 685

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Verzeichnis derjenigen Autoren, die zum i. Bande Beiträge

lieferten.

Baernreither, J. M., in Wien 43.

Ltraun, Heinrich, in München I. 681. Bücher, Karl, in Basel 320.

Erismann, Fr., in Moskau 98. 429. 661. Fühl, Ludwig, in Main/. 417. 595. Grober, Max, in Wien 293. lierkner, Heinrich, in Wien 176. 260. 3«8- 657.

Kablukow, Nikolai, in Moskau 185.

Kal er, Emil, in Wien 365.

Kautsky, Karl, in London 343.

Knapp, G. F., in Strassburg i. E. 334. Krejcsi, E. R. J., in Budapest 336. Laniprccht, K., in Bonn 485.

Lexis, W., in Göttingen 351,

Maiaja, V., in Wien 136. 157. 360. 678.

v Mayr, Georg, in München 201. Mischler, Emst, in Czemowitz 357. 624. Moore, Samuel, in London 572. 642. Morgenstierne, B„ in Kristiania 676. Naef, E., in Aarau 635.

Neefe, M , in Breslau 195.

Oldendorf!, A., in Berlin 83. 371. 679. Petersen-Studnitz, A., in Kopenhagen 674. Platter, J., in Zürich 7.

Fringsheim, O., in Breslau 69.

Quarck, M., in Frankfurt a. M. 367. Schmid, Ferd., in Wien 355. 647. Wagner, Paul, in Stuttgart 362.

Wright, Carroll D., in Washington 377. Zeller, W., in Dannstadt 533. 670.

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ZUR EINFÜHRUNG.

VOM

HERAUSGEBER.

Die ökonomische Umwälzung , welche durch die reissend schnelle Entfaltung unserer Produktionsweise herbeigelührt worden ist, besitzt ihren prägnantesten gesellschaftlichen Ausdruck in der modernen Lohnarbeiterklasse. So recht ein Ergebnis des tech- nisch-ökonomischen Prozesses ist die Entwicklung derselben mit ihm in gleichem Schritt gegangen. Die nach Breite und Tiefe anschwel- lende Masse des Proletariats, das stets bestimmter sich äussernde Be- wusstsein seiner Interessen-Solidarität hat in der Gegenwart eine gänzlich veränderte sozialpolitische Situation herbeigeführt, und die daraus entspringenden Konsequenzen machen sich nach allen Seiten fühlbar. Der Staat sieht sich gezwungen, auf seinem eigensten Gebiete von jener neuen Klasse immer mehr Akt zu nehmen und eine die besonderen Bedürfnisse derselben speziell berücksichtigende und behandelnde Gesetzgebung auszubilden.

Eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Ausbau der letzteren ist die wissenschaftliche Untersuchung und Feststellung der gesellschaftlichen Zustände. Ohne dieselben wird der Gesetz- geber einer festen Basis ermangeln und unsicher umhertastend den entscheidenden Punkt verfehlen, an dem seine 'l'hätigkeit er- setzen sollte. Und ebenso wird eine gesetzliche Massregel hin- sichtlich ihres beabsichtigten Zwecks, wie, ist sie einmal in’s Werk gesetzt, hinsichtlich der von ihr äusgegangenen Wirkungen nicht richtig beurteilt werden können ohne die Kenntnis der wirk- lichen Gestalt jener sozialen Verhältnisse, die von dem Gesetz betroffen werden.

Das hier beginnende Unternehmen soll seine hauptsächliche Aufgabe darin erblicken, dem bezeichneten Bedürfnis Genüge zu leisten. Erforschung und Darstellung der Lage der Gesellschaft in Hinsicht ihres thatsächlichen Zustandes und Kritik der gesetz-

Archiv für soz. Gcsctzgbg. u. Statistik. I. I

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Heinrich Braun

geberischen Massnahmen zur Besserung dieser Lage in erster Linie vom Standpunkt der Thatsachen wird vornehmlich die Arbeit dieser Zeitschrift bilden. Die Erörterung derjenigen Fragen und wissenschaftlichen Interessen, die sich mit einer solchen Auf- gabe nahe berühren, wird daneben ihren Platz finden.

Indem das Archiv sein Arbeitsfeld in dieser Weise abgrenzt, folgt es dem Prinzip der Spezialisierung, das wie es auf jedem anderen Felde sich bewährt, auch auf dem Gebiet der staats- wissenschaftlichen Zeitschriften-Litteratur seine Berechtigung be- sitzt. In der That ist der Stoff, um den es sich hier handelt, von so grossem Umfang, dass es sich von selbst versteht, wenn die vorhandenen ökonomischen und statistischen Fachorgane Angesichts ihrer das Ganze der Wissenschaft umspannenden Aufgaben , die soziale Gesetzgebung und die soziale Statistik nur gelegentlich zu behandeln vermögen. Da die wissenschaft- liche Untersuchung dieser Materien zugleich von dem bedeutend- sten und immer wichtiger sich gestaltenden theoretischen wie praktischen Interesse ist, entspricht die Schaffung einer speziellen diesem Zweck gewidmeten Zeitschrift zweifellos einer dringenden Forderung.

Die Lösung der dem Archiv gestellten Aufgabe begegnet nach ihrer sozialstatistischen Seite wegen der Beschaffenheit des Materials sehr grossen Schwierigkeiten. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Zeitschrift vorwiegend hingewiesen sein wird auf die Bearbeitung des vorhandenen zumeist amtlichen Materials, und dass die Förderung selbständiger sozialstatistischer Erhebungen in die zweite Linie rücken muss. Dieses bereits vorhandene Material aber ist mit vielen Mängeln behaftet, die zum Teil aus der dürftigen Pflege sich erklären, welche die Sozialstatistik bisher gefunden hat, eine Thatsache, die ihrerseits wiederum mit der ganzen Ent- wicklung der Statistik zusammenhängt. Diese letztere war bis in die neuere Zeit einerseits als praktische Disziplin hauptsächlich von den öffentlichen , insbesondere militärischen und fiskali- schen Interessen , auf der anderen Seite als eine Hilfswissen- schaft von der Ausbildung der Staatswissenschaften, speziell der politischen Oekonomie abhängig. Die herrschende Richtung der politischen Oekonomie aber stand bis in unsere Tage im Bann einer Anschauungsweise, welche die Volkswirtschaft vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der Produktion auffasste und dieser gegen- über die F'ragc nach den Verhältnissen der produzierenden Klasse

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/.ur Einführung.

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in den Hintergrund treten Iiess. Erst unter dem Einfluss der modernen Arbeiterbewegung, der sie begleitenden wissenschaft- lichen Litteratur und der Anfänge einer sozialen Gesetzgebung trat dringender an die Statistik die Aufgabe heran, die Lage der arbeitenden Klasse und die gesellschaftlichen Zustände überhaupt zu erforschen. Die Erfüllung dieser Forderung fand an dem Staat einen entschiedenen Widersacher. Nur mit Widerstreben unter dem Zwang der Verhältnisse und fast immer nur im Hinblick auf die augenblicklichen Bedürfnisse und Zwecke seiner Gesetz- gebung und Verwaltung gestattete er der Statistik die Lösung jener Aufgabe. Der wissenschaftliche Gesichtspunkt einer unpar- teiischen nur die Wahrheit suchenden Darstellung der sozialen Zustände des Volkes trat daher hinter die politischen Interessen zurück.

Aus diesen Umständen erklärt cs sich , dass wir , von ein- zelnen Ländern abgesehen, nirgendwo aus der Initiative des Staates hervorgehende, regelmässig wiederkehrende, methodische und zu- verlässige statistische Erhebungen auf dem Gebiet der Sozialstatistik besitzen. Wir sind bis jetzt im wesentlichen angewiesen auf die unzulänglichen Beobachtungen der Fabrikinspektion, auf die mehr gelegentlichen, zufälligen und sehr lückenhaften statistischen Er- gebnisse, die bei wirtschaftlichen Untersuchungen, z. B. gewerbe- statistischen Aufnahmen resultieren, auf die meist unter dem Drang der Umstände und in manchen Staaten nicht ohne tendentiöse Ab- sicht unternommenen Enqueten über einzelne sozialpolitische Ver- hältnisse und ähnliche offizielle oder halboffizielle Berichte übergesell- schaftliche Zustände z. B. seitens der Sanitätsorgane, der Handels- und Gewerbekammern u. A. m. Dieses Material, das natürlich in den ver- schiedenen Ländern von sehr ungleichem Wert und Umfang ist, er- fährt neuerdings erfreulicherweise bedeutsame Erweiterungen, im Gefolge der Ausführung der Kranken- und Unfallversicherungsgesetze des Deutschen Reiches ergibt sich in mannigfacher Hinsicht bedeut- sames sozialstatistisches Material. Für den Umfang, in dem die ar- beitende Klasse der Erkrankung unterworfen ist, für den Zusam- menhang des Berufes mit der Morbidität, für die sonst aufs äus- serste vernachlässigte Lohnstatistik und manche andere wichtige sozialstatistische Momente werden teilweis ausserordentlich um- fassende Nachweisungen sich ergeben, welche unter der Voraus- setzung, dass das Material nach richtigen methodischen Grund- sätzen erhoben und bearbeitet wird, von grossem Wert sein wer-

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Heinrich Braun,

den. Es kommt hinzu, dass die Arbeiterversicherung nach dem Vorgang des deutschen Reichs in anderen Ländern zum Teil schon eingefiihrt, zum Teil geplant ist. Die enge Verwandtschaft dieser Gesetzgebungen dürfte auch zu ähnlichen statistischen Er- gebnissen und damit zu einer sehr nutzbaren Vermehrung dieses Materials führen.

In einigen Staaten hat das Gefühl für die ungeheuere Trag- weite. die der Kenntnis des ^tatsächlichen Zustandes der gesell- schaftlichen Verhältnisse zukommt, zur Einrichtung von Aemtern geführt, denen als hauptsächlicher Zweck die Beobachtung und Sammlung sozialstatistischcr Thatsachen obliegt. Es sind die Schweiz, England und die Vereinigten Staaten von Amerika, welche in den letzten Jahren, die amerikanischen Arbeitsämter reichen etwas weiter zurück , Institutionen geschaffen haben, die in ihrer Organisation nicht völlig gleichartig und in ihrem Wert verschieden, ihrer wesentlichen Aufgabe nach eine Art stän- diger Untersuchungskommission fiir die regelmässige Erforschung der Verhältnisse der arbeitenden Klasse bilden und zwar im Hinblick auf eine sozialpolitische Gesetzgebung, für die, das Bewusstsein hat sich in jenen Ländern Bahn gebrochen eine gründliche Kenntnis jener Zustände unentbehrlich ist, will sie an- ders den an sie herantretenden Forderungen Genüge leisten.

Zu diesem offiziellen Material sind als eine sehr wertvolle Ergänzung, die in einzelnen Fällen ausgezeichneten Arbeiten pri- vater Statistiker hinzuzurechnen, die gegenwärtig mehr als früher dem Studium gesellschaftlicher Zustände sich widmen.

So ist der Stoff, der zur Ausnutzung vorhanden ist, mannig- faltig genug. Die teilweis rohe Gestalt, in der er vorliegt, ande- rerseits die Verschiedenheit der methodischen Gesichtspunkte, nach denen eine Bearbeitung stattfand, die vielfach tendenziöse Färbung , die ihm beigemischt wurde , und der in den meisten Fällen augenblicklichen Verwaltungszwecken angepasste Charakter der Erhebungen lässt eine unter einheitlichen wissenschaftlichen Gesichtspunkten unternommene Bearbeitung dieses Materials ebenso wünschenswert erscheinen , wie die gleichzeitige Sammlung des- selben in einem zentralen Organ , da die Zerstreutheit desselben über alle Länder und in zahllosen Publikationen eine Uebersicht fast zur Unmöglichkeit macht.

Dieser Arbeit wird das Archiv sich widmen , dabei aber fortwährend darauf bedacht sein , seinerseits auf neuem Material

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y.ur Einführung.

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beruhende statistische Untersuchungen anzuregen und nach allen Seiten hin , soweit private Mittel dies gestatten , durch exakte ziffermässige Massenbeobachtung wie durch schildernde Wortdar- stellung und durch historische Untersuchungen über unsere ge- sellschaftlichen Zustände Klarheit zu verbreiten

Die soziale Gesetzgebung verlangt nicht minder nach einer Zusammenfassung ihrer Resultate. Einmal in Fluss geraten wird sie nicht wieder zuni Stillstand kommen , im Gegenteil wird das dringende Bedürfnis nach derselben, das heute schon alle Länder ergriffen hat, nur immer grössere Gewalt gewinnen und aus ihren Anfängen heraus wird diese Gesetzgebung bald überall zum Mit- telpunkt der Staatsthätigkeit sich entwickeln.

Bei dem Umstand, dass die kapitalistische Produktionsweise alle zivilisierten Länder gleichmässig umfasst , ist die Bekannt- schaft mit den Verhältnissen des einen für jedes andere Land vom grössten praktischen Interesse , und wie bei der Unent- wickeltheit unserer eigenen sozialen Statistik d i e weiter vorge- schrittener Länder uns auch über die eigenen Zustände und ins- besondere über die Richtung ihrer Entwicklung Belehrung bieten kann, so vermögen wir nicht minder aus der Gesetzgebung anderer Staaten vielfach die Richtschnur zu gewinnen für den Ausbau der unseren, und die Vermittlung ihrer Bekanntschaft und die kritische Prüfung derselben hat daher nicht bloss ein theoretisches Interesse. So erscheint denn auch die Aufgabe, die sich das Archiv nach dieser Seite stellt, die soziale Ge- setzgebung aller Länder im Zusammenhang mit der Erforschung ihrer ^tatsächlichen Zustände einer wissenschaftlichen Behandlung zu unterziehen , wohl motiviert.

Wir sagen einer wissenschaftlichen Behandlung, und haben damit die Signatur des Archivs bezeichnet. In der That soll der Charakter der Zeitschrift ausschliesslich ein wissenschaftlicher sein, und dieser Charakter wird durch keine wie immer geartete Rück- sicht eine Einschränkung erfahren. In dem Archiv sojj für das Gebiet der sozialen Statistik und der sozialen Gesetzgebung eine Stätte freier und nach allen Seiten hin unabhängiger Forschung geschaffen werden, einer Forschung, die voraussetzungslos an ihr Objekt herantritt und nur einen einzigen Zweck verfolgt : die wissenschaftliche Wahrheit.

Jedermann , der an das Programm wissenschaftlicher Be- handlung sich zu halten gewillt ist, wird, mag er welcher Rich-

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6 Heinrich Braun, Zur Einführung.

tung immer huldigen, im Kreis der Mitarbeiter des Archivs will- kommen sein.

Das von uns entwickelte Programm dieser Zeitschrift und die Idee ihrer Begründung hat in den weitesten Kreisen sehr lebhafte Zustimmung erfahren. Mit warmem Interesse an der Sache hat die H. Laupp’sche Buchhandlung sich sogleich zum Verlag bereit erklärt und eine grosse Anzahl hervorragender Fachmänner im Deutschen Reich und im Ausland haben, indem sie das Bedürfnis der Schaffung dieses Organs anerkannten, ihre Mitarbeit an dem Archiv zugesagt. Vielleicht dürfen wir darum der Erwartung Raum geben , dass es den vereinten Kräften ge- lingen wird , die Absichten , aus denen heraus diese Zeitschrift entstanden ist, in einer glücklichen Weise zu verwirklichen , und hoffen, dass die Arbeit derselben für Wissenschaft und Leben nicht ohne ein fruchtbares Ergebnis bleiben wird.

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DIE GEPLANTE ALTERS- UND INVALIDEN- VERSICHERUNG IM DEUTSCHEN REICH.

VON

Dr. j. platter,

PROFESSOR DER STAATSWISSENSCHAFTEN IN ZÜRICH

Fast alle Staatsmänner und die meisten Gelehrten gehen in allen Angelegenheiten, weiche die Interessen der oberen Klassen betreffen, von der Frage aus : was wünschen diese oberen Klassen, die Grundbesitzer, die Fabrikanten, die Kaufleute u. s. w.f Han- delt es sich dagegen um die Interessen der unteren Klassen, so werden deren Wünsche, auch wenn sie noch so offen und deutlich ausgesprochen vorliegen, entweder gänzlich ignoriert, oder man geht mit einigen kritischen Bemerkungen über dieselben hinweg zu der Frage: was frommt diesen armen Leuten nach unserer Mei- nung? was wünschen wir von unserem Standpunkte aus für Ver- änderungen oder Verbesserungen in ihrer Lage herbeizuführen?

Im ersten Fall kommt dann regelmässig ein Gesetz, eine Massregel oder eine Theorie zu Stande , welche den Wünschen der betreffenden Bevölkerungskreise mehr oder weniger aber doch immer einigermassen entspricht. Im letzteren Falle kann es sehr leicht Vorkommen , dass für die unteren Klassen, angeb- lich in ihrem Interesse und zu ihrem Wohle, irgend etwas ver- anstaltet wird, woran sie nie gedacht, womach sie nie auch nur mit einem Wort einen Wunsch geäussert haben.

Dieses verschiedenartige Verhalten rührt davon her, dass man die oberen Klassen für mündig, die unteren noch immer für unmündig hält oder zu halten sich den Anschein gibt. Zu den ersteren sagt man daher: Ihr wisst jedenfalls am besten, was Euch gut ist; es frägt sich höchstens, ob Ihr nicht zu sehr Euer Spe-

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Platter ,

zialinteresse im Auge habt! Zu den anderen sagt man: Ihr wisst gar nicht, was Euch frommt, das verstehen wir viel besser und Eure Wünsche sind daher als solche ohne alle Bedeutung.

Ein solches Verfahren und der demselben entsprechende Standpunkt mag so lange angehen , als die betreffende Klasse wirklich ohne alle Bildung und Kenntnisse ist und spezielle Pos- tulate zur Verbesserung ihres Loses gar nicht einmal aufzustellen vermöchte. Unter solchen Verhältnissen sind aber die unteren Klassen von den oberen nicht bloss faktisch, sondern auch recht- lich — d. h. eingestandenermassen und nach der offen vorliegen- den Verfassung der Gesellschaft beherrscht und ein Wider- spruch zwischen den faktischen Zuständen und den im allgemeinen Bewusstsein herrschenden Rechtsgedanken findet nicht statt.

Ganz anders ist die Sachlage, wenn, wie in unseren Zeiten, von den oberen Klassen selbst als Prinzip der sozialen und po- litischen Ordnung der Satz ausgesprochen wird : Alle Menschen sind gleich und jeder hat daher für sich selbst zu sorgen und seine Interessen zu fordern , so gut er kann. Wenn man hier noch gewisse Klassen als mündig, andere als unmündig behan- delt, so thut man den letzteren offenbar Unrecht, indem man sich gegen ein Prinzip versündigt , das man selbst anzuerkennen vor- gibt und auch überall, wo es den eigenen Interessen nützlich ist, faktisch anerkennt.

Dass durch ein solches Vorgehen die Gegensätze der Klassen nicht versöhnt, sondern noch verschärft werden, steht selbst dann zu erwarten, wenn die einzelnen nicht gewünschten, sondern nur aufgedrungenen Massregeln den unteren Klassen irgend welchen Vorteil bringen sollten. Und der Staatsmann, der auf diesem Wege eine Versöhnung der Klassengegensätze erstrebt, befindet sich in einem verhängnisvollen Irrtum und zeigt, dass er von der wahren Sachlage , von den in der breitesten Schichte der Be- völkerung herrschenden Tendenzen nichts versteht. In Deutsch- land tritt dieser Mangel an Verständnis in der Thatsache merk- würdig klar hervor, dass man auf der einen Seite Spezialgesetze für die handarbeitende Klasse gibt und ihr also geradezu und höchst offiziell ins Gesicht sagt: deine Interessen sind, wie deine Lage, ganz besondere und von denen der übrigen Bevölkerung weit verschieden ; und auf der anderen Seite durch alle möglichen Ausnahmsgesetze und Ausnahmsmassregeln: du darfst aber diese speziellen Interessen durchaus nicht speziell vertreten, wir wollen

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Die geplante Alters- u. Invalidenversicherung im Deutschen Reich, n

das verhindern soweit wir können und auf deine bezüglichen Wünsche so wenig Rücksicht nehmen, als nur immer möglich. Deine politischen Rechte sind zwar das anerkennen wir genau so gross, wie die aller anderen Klassen; aber solange du nicht denjenigen Gebrauch davon machst, den wir wünschen und der in unserem Interesse liegt , werden wir alles thun , um die- selben faktisch nicht zur Geltung kommen zu lassen.

Die Vertreter der Arbeiter im deutschen Reichstag das sind doch die sozialdemokratischen Abgeordneten, oder wer denn sonst ? verlangten Schutz für den thätigen Arbeiter, sein Weib und seine Kinder und man gab ihnen eine Krankenversicherung. Sie verlangten Verbesserung der Arbeitsbedingungen, und man bie- tet? Der offizielle Titel lautet: »Alters- und Invalidenversicherung« !

Die kaiserliche Botschaft vom 17. November 18S1 hatte ja den Erwerbsunfähigen ein »höheres Mass staatlicher Fürsorge« in Aussicht gestellt. Allein in der Wirklichkeit handelt es sich gar nicht darum , sondern , wie das Professor Brentano in Con- rad’s Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik (1888, I. Heft) weitläufig nachgewiesen, um eine Reform der Armenpflege, ja sogar wesentlich nur um eine »Armensteuerreform«, speziell vom Standpunkt der Armensteuerpflichtigen , welche nach ihm »die dringendste realpolitische Forderung der Gegenwart* sein soll. Auch der Geh. Regierungsrat von Woedtke sagte als Regierungs- kommissär in der am 5. Dezember v. J. abgehaltenen Sitzung des preussischen Volkswirtschaftsrats: »der Arbeiter solle nicht bloss seiner selbst, sondern auch der Gesamtheit wegen ange- halten werden, für seine Zukunft zu sorgen und sich der Armen- pflege thunlichst zu entziehen.«

Es segelt also hier unter der Flagge »Sozialreform« die reinste Kontrebande, es handelt sich gar nicht darum, den Arbeitsinva- liden eine stärkere Fürsorge zu teil werden zu lassen , sondern nur darum, die Last der Armenpflege anders zu verteilen und die Organisation der Armenpflege mit einer wesentlichen Forde- rung unserer kapitalistischen Volkswirtschaft , der Freizügigkeit der Arbeiter, in Einklang zu bringen.

I laben die Arbeiter von dieser Reform einen Gewinn ? Eine Frage, die gar keinen Sinn hätte, wenn es sich wirklich um eine sozialreformatorische Massregel handelte, die aber gegenüber den »Grundzügen zur Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter« offenbar gar sehr am Platze ist.

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IO

Platter ,

Ich antworte darauf : in einem Punkte, und zwar einem wich- tigen, ganz unzweifelhaft, aber nur deshalb , weil unser »christ- licher Staat« in der Armenpflege bisher nichts weniger als christ- lich war. Wiederholt erklärt Brentano a. a. O., dass in Deutsch- land die Armenunterstützung nur unter »entehrenden Bedingungen« gewährt werde, und im Ausschuss des preussischen Volkswirt- schaftsrats erklärte Staatsminister von Boetticher: die Absicht des sozialpolitischen Gesetzgebers sei hier, die Arbeiter der »ent- ehrenden Armenpflege thunlichst zu entziehen«. Wenn die Armen- pflege wirklich bisher entehrend war, dann ist es ein grosser Vorteil für den Armen, dass sie in ihrer neuen Gestaltung dieses Epitheton verlieren wird. Allerdings wäre es, wie mir scheint, schon längst Pflicht des christlichen Staates gewesen , alles Ent- , ehrende von der Armenpflege fern zu halten. Die staatlichen Beamten werden ja auch in der Zeit der Invalidität längst von der Gesamtheit erhalten, ganz so gut wie die invaliden Arbeiter, und stets war ihre Unterstützung so eingerichtet, dass sie, die ohne solche zumeist so vollkommen arm gewesen wären, wie an- dere Arbeiter, gar nichts Entehrendes darin erblicken konnten. Hier macht also das Projekt einen grossen Fortschritt vom bis- herigen Zustande aus, denn mit dem Gelde in der Hand, das ihm die Post auszahlt, muss sich der invalide Arbeiter ebenso frei und unabhängig fühlen, als irgend ein anderer Mensch, der gleich- viel Geld per Jahr aus einer privaten Rentcnanstalt bezieht.

Mit dieser Geldform und Zahlungsweise der Unterstützung hängt von selbst auch der Vorteil zusammen, dass der invalide Arbeiter seinen Aufenthaltsort insoweit beliebig wählen kann, als er nicht, wie das bisher beim Armen vielfach der Fall war, an einem bestimmten Orte förmlich interniert sein wird. Nur ins Ausland darf er nicht gehen. So lange er nicht im Inlande wohnt, ist nach Ziffer 13 der »Grundzüge« die Zahlung der Renten einzustellen.

Unzweifelhaft unzulässig scheint mir die Anordnung Ziffer 6 der »Grundzüge«, wornach durch statutarische Bestimmung einer Gemeinde für ihren Bezirk oder eines weiteren Kommunalver- bandes für seinen Bezirk oder Teile desselben , sofern daselbst nach I lerkommen der Lohn ganz oder zum Teile in Form von Naturalleistungen gewährt wird, bestimmt werden kann, dass die Rente der in diesem Bezirk wohnenden Rentenempfänger bis zu drei Vierteilen ihres Betrags ebenfalls in Form von Naturalleis-

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Du gepinnte Alters- u. Invalidenversicherung im Deutschen Reich, n

tungen gewährt werde, deren Wert nach Durchschnittspreisen in Ansatz zu bringen sei. Dann beziehe der Kommunalverband, der die Naturalien leistet, den betreffenden Teil der Geldrente.

Hier ist ein Unterschied zwischen Arbeitern und Arbeitern in bezug auf ihre Rentenansprüche gemacht, der sich nur vom Standpunkt des Interesses der Grundbesitzer gewisser Gebiete Deutschlands, namentlich der nördlichen und östlichen, erklären lässt. Die Gemeinden, die als solche gar nichts mit der ganzen Invalidenversicherung zu thun haben, sollen darüber entscheiden, ob die inwohnenden Rentenberechtigten Geld bekommen sollen, wie ihre gleichberechtigten Genossen in anderen Gegenden und Gemeinden Deutschlands, oder ob sie für den grössten Teil der Rente Naturalien annehmen müssen, welche dasselbe Organ lie- fert, das sich in seinem eigenen Interesse für diesen Modus ent- schieden hat.

Besonders die 15 000 Grossgrundbesitzer in den Gutsbezirken des östlichen und nördlichen Preussen werden sich über diese Bestimmung keineswegs beklagen. Sie verkaufen ihre Produkte mit Profit und gegen baares Geld, und wer wird sie in ihren Lieferungen und Rechnungen genau kontrollieren? Wenn die Wahl: ob Naturalien oder Geld? den Rentenberechtigten zustiinde, dann Hesse sich gegen diese Bestimmung nichts einwenden, aber unfassbar ist das Recht der Gemeinden, darüber statutarisch zu entscheiden.

Man sieht, soweit wir bisher die Anordnungen der »Grund- züge» als vorteilhaft für die Arbeiter erklären mussten , handelt es sich nur um eine Frage des Ehrgefühls und der persönlichen Freiheit. Aber es gibt selbstverständlich noch andere Gesichts- punkte für die Beurteilung derselben.

Vor Allen diesen. Die Armenpflege wurde bisher in aller Welt als eine Aufgabe der Besitzenden angesehen und behandelt. Von jetzt an soll sich die Unterstützungspflicht verteilen auf die zu Unterstützenden selbst, so lange sie noch keiner Unterstützung bedürfen , auf ihre Arbeitgeber und auf die Gesamtheit , den Staat, zu welchem Arbeiter und Arbeitgeber ebenfalls gehören.

Darin findet Brentano nichts weiter als «eine weitgehende Entlastung der Armensteuerpflichtigen jeglicher Art.«

Wenn irgend jemand bei dieser Gelegenheit entlastet werden und andererseits die Unterstützung der Armen im Ganzen nicht ge- ringer ausfallen soll als früher, so ist die notwendige Folge die,

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Platter.

dass irgend jemand neu oder mehr als bisher belastet werden muss. Denn die Mittel zur Unterstützung müssen von irgend je- mand aufgebracht werden.

Und wer ist denn dieser geheimnisvolle Jemand? Es könnte nur der Arbeiter sein. Und wer sind denn in der That die Entlasteten ?

Ich führe zur Beantwortung dieser Frage einige Worte an, die Herr Schmidt (Elberfeld), einer von den wenigen, welche die Frage der Alters- und Invalidenversicherung auf dem ausserordent- lichen Bcrufsgenossenschaftstag, der am 17. Dezember 1887 in Berlin abgehalten wurde, mit Verständnis behandelten.

»Man hat gesagt, die Kommunen sollen entlastet werden aber es ist doch zweifellos richtig, dass die Kommunalsteuern, aus denen die Armenlasten gedeckt werden, nicht vom Arbeiter, sondern von dem besser situierten Bürger bezahlt werden. Wenn also auf diese Weise die Kommunen entlastet werden, so entlasten Sie die Besitzenden in ihrer Steuer und belasten durch den Beitrag in dieser Form , wie sie jetzt vorgeschlagen wird, den Arbeiter« (Protokoll des ausserordentlichen Berufsgenossen- schaftstages. Berlin 1888. S. 8—9). Man möchte nun glauben, dass derjenige, der das Loos der Armen verbessern will und das soll unser Staat sein und diejenigen, welche die Armen- pflege von allen Seiten und jedenfalls nicht bloss vom Gesichts- punkt der Besitzenden aus zu betrachten hätten und das sollten unsere Männer der Wissenschaft sein in dieser Ab- wälzung der Armenlast von den Besitzenden auf die Armen selbst keinen grossen Fortschritt sehen könnten. Doch es verhält sich anders. »Die Kosten der öffentlichen Armenpflege fallen gegen- wärtig beinahe ganz den Besitzenden in der Gemeinde zur Last« schreibt 1882 Franz Kretschinann, königl. preussischer Regierungs- rat, in seinem Buche über »die Altersversorgung der Arbeiter in Deutschland* (S. 8) und bezeichnet es ganz naiv als einen grossen Fortschritt, einen »recht bedeutenden Vorzug«, wenn das Gesetz die Arbeiter zwingen würde, für ihre Altersversorgung grössten- teils selbst zu sorgen.

Und Brentano stellt sogar mit wenig Worten eine national- ökonomische Theorie auf, welche triumphierend beweisen soll, dass das neue Projekt nicht etwa einen weiteren Schritt auf dem Wege des Kommunismus, sondern vielmehr »eine weitgehende Annäherung an jenes Postulat einer individualistischen Doktrin* bedeute, »dass ein jeder die Produktionskosten der Arbeit ersetzen

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solle, soweit er ihre Früchte geniesse«. Während bis jetzt die Kosten der Alters- und Invalidenunterstützung beliebigen Armen- steuerpflichtigen zugefallen seien, sollen »von nun an wenigstens zwei Drittel dieser Last den Konsumenten der hergestellten Pro- dukte zufallen, und nur der Reichszuschuss im Betrag von einem Drittel der fälligen Renten bleibt als ein Rest der früheren kom- munistischen Deckungsweise».

Brentano rechnet hier die Kosten der Alters- und Invaliden- versorgung zu den Produktionskosten der Arbeit. Das sind sie aber keineswegs ; die Erhaltung der Arbeitsunfähigen kann doch unmöglich für die Produktion von irgend welcher Bedeutung sein. Wenn jeder Arbeiter in dem Augenblick, wo er arbeitsunfähig wird, wegstürbe, so würde die nationale oder soziale Produktion sicher nicht darunter leiden.

Und wer geniesst denn die »Früchte« der Arbeit , die von derselben »hergestellten Produkte« ? Nach Brentano’s, allerdings sehr kurz gefasster, Lehre sind lediglich die Arbeiter und die Unternehmer Konsumenten der Arbeitsprodukte. Dass diese zur Invalidenversicherung je ein Drittel zahlen, ist nach ihm indivi- dualistisch, dass der Staat ein Drittel zahlt , ist kommunistisch. Aber wovon leben denn alle die Menschen, die weder Arbeiter noch Arbeitgeber im Sinne dieser »Grundzüge« sind? Ich denke, ein Unternehmer, der 100 Arbeiter hat und für diese die Prämie bezahlt, konsumiert nicht mehr Arbeitsprodukte als der Millionär und Rentier, der bloss 3—4 Dienstboten hält. Dass er nur die Arbeitsprodukte dieser Dienstboten geniesse, wird wohl Niemand behaupten wollen.

Also vom Gesichtspunkt der Produktionskosten der Arbeit ergibt sich überhaupt gar keine Alters- und Invalidenversorgung und vom Gesichtspunkt der Konsumtion der Arbeitsprodukte er- gibt sich jedenfalls nicht die projektierte.

Es ist eine seltsame, obwohl den meisten Menschen sicher- lich ganz geläufige, Schlussfolgerung zu sagen : Weil der Arbeiter alles produziert, was die ganze Gesellschaft konsumiert und von seinem Produkt so wenig erhält, dass er ohne fremde Hilfe in der Zeit seiner Arbeitsunfähigkeit verhungern müsste, so muss er gezwungen werden, doch wenigstens einen Teil dieses Bedarfs selbst aufzubringen.

So weise war man früher nicht ; aber, wie man sich auch in der Theorie ausdriieken mochte, in der Praxis gestaltete man die

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öffentliche Armenpflege häufig so, dass sie für den Unterstützten vielleicht wohl auch für den Unterstützer ? entehrend war.

Nach den »Grundziigenc werden die Arbeiter nicht bloss ein Drittel der Versicherungslast tragen, sondern erheblich mehr, in- dem auch von dem Drittel des Staats bei dem in Deutschland herrschenden Besteuerungssystem ein erheblicher Teil auf sie fällt.

Und an Kommunismus fehlt es auch diesem System der Armenpflege keineswegs, nur dass jetzt diejenigen , die selbst nichts haben, einander unterstützen müssen , während bisher die Besitzenden aljein unterstützungspflichtig waren. Der neue Kom- munismus besteht darin, »dass alle diejenigen Arbeiter und Ar- beiterinnen, welche von der Versicherung nichts haben, weil sic vor dem Eintritt der Berechtigung aus dem Arbeiterstande aus- scheiden dennoch ihre Beiträge zahlen müssen und nichts zu- rückvergütet erhalten ; dass wenig beteiligte Arbeiterkreise zur Unterstützung der stark beteiligten, die schlecht lohnende Arbeit zur Unterstützung der gut bezahlten herangezogen wird. Die arme Arbeiterin, die nach wenigen Jahren aus dem Arbeitsver- hältnis ausscheidet, zahlt mit für den besser gelohnten männlichen Arbeiter, der kleine Gewerbetreibende, der sich kümmerlich durch- schlägt, für die grossen Fabrikbesitzer. Und das nicht etwa nach seinem Können, sondern nach einem Massstabe, der dieses gar nicht berücksichtigt,« (Vgl. K. Schräder in der »Nation« vom 7. Jan. 1888.) Die später herzustellende Abstufung der Prämien nach der Invaliditätsgefahr bei den verschiedenen Berufsgenossenschaf- ten beseitigt diese Verhältnisse noch lange nicht. Denn inner- halb derselben Berufsgenossenschaft kann die Invaliditätsgefahr sehr verschiedene Grade aufweisen.

Der sog. «Kommunismus zwischen Besitz und Nichtbesitz zu Gunsten des letzteren ist also thunlichst beseitigt und ein wirk- licher Kommunismus der Armen unter sich zu Gunsten der Be- sitzenden — zur »Entlastung der Gemeinden« soll zwangs- weise eingeführt werden.

Auch in den offiziellen Vertretungen der Interessen der be- sitzenden Klassen wurden verschiedentlich Stimmen laut, die sich gegen dieses neue Prinzip der Armenpflege aussprachcn. Der schon genannte Herr Schmidt (Elberfeld) gieng wohl am weitesten in dieser Beziehung, indem er erklärte: Ein dauernder Kcichszu- schuss sei nicht nötig (Protokoll des ausserordentl. Berufsge- nosssenschaftstages S. 7), er sei ein Gegner des Staatsbeitrags auch

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Die geplante Alters- u. Invalidenversicherung im Deutschen Deich. 1 5

deshalb, weil er die Selbstverwaltung behalten wolle , und das beste wäre, wenn die Arbeitgeber allein zahlten. Dass dies von ihnen geleistet werden könne, darü- ber sei er nicht im Zweifel (S. 13).

In derselben Versammlung erklärte I lerr Kommerzienrat Ber- ding: er schrecke vor den den Unternehmern erwachsenden Mehr- ausgaben auch dann nicht zurück , wenn der Staat gar nichts dazu zahle. Die Arbeiter gehören mit zur Industrie , ihre Inva- liden müssen auch leben und das Geld, welches die Industrie für solche wohlthätige Zwecke für die Arbeiter und Invaliden aus- gebe, verwende sie wesentlich für sich und aus diesem Gesetz erwachse der Industrie ein Nutzen, welcher grösser sei als die Last, die ihr auferlegt werde (a. a. O. S. 23). Wenn der Herr Kommerzienrat trotzdem nur den Staatsbeitrag , nicht aber den Beitrag der Arbeiter beseitigt wissen will, so ist das mehr in- teressant als logisch.

Allein trotz alledem und alledem und obwohl es nichts we- niger als in der Ordnung ist , den Arbeitern von einer Sozial- reform zu sprechen und statt deren eine blosse Neuerung in der Verteilung der Armenlast vorzuschlagen, infolge welcher die Ar- men sich zum Teil selbst unterstützen sollen, kann Niemand, der die Verhältnisse unserer modernen Gesellschaft einigermassen kennt , sich dafür aussprechen , dass die Arbeiter keine Beiträge zahlen sollen. Nicht deshalb, weil es billig und gerecht ist, dass sie unter den heutigen Verhältnissen zahlen , sondern lediglich deshalb , weil die Arbeiter ohne diese Beiträge sicher auch in dieser Angelegenheit keine moralische Position einnehmen und als blosse Almosenempfänger »entehrend« behandelt würden. Noch viel besser wäre es in dieser Hinsicht allerdings, wenn die Arbeiter als Klasse ihre Invaliden allein und ohne alle fremde Beihilfe versorgen und dann natürlich auch die Verwaltung ihres Invalidenversicherungswesens ausschliesslich in ihren Händen be- halten könnten. Allein dazu würde vor allem eine wirkliche So- zialreform gehören, welche den Lohn der Arbeit mindestens für jede Zeit sicherte , womöglich erhöhte. Dazu würde aber auch noch ein anderes politisches System gehören , als das heute in Deutschland herrschende wesentlich aristokratische , also bevor- mundende, also die Selbständigkeit der unteren Klassen auf alle Weise verhindernde und zerstörende. Wären die Arbeiter gegen- wärtig im Stande, sich als Klasse selbst eine genügende Ver-

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Pia Her ,

Sicherung für Alter und Invalidität zu schäften, so würde die Re- gierung sicher dem Reichstag keinen Gesetzesentwurf vorlegen wollen, der diese Versicherung einflihren soll, sie würde viel- mehr, getrieben durch ihr innerstes Wesen, jedem solchen Versuche mit allen Mitteln entgegentreten. Man nennt ein solches Regime konservativ , ich möchte es mit Rodbertus mit einem entgegengesetzten Prädikat bezeichnen, und wer sieht, wie dasselbe die revolutionären Parteien heranzüchtet , wie flott sie unter ihm wachsen und gedeihen , der wird mir Recht geben müssen.

Die zweite gewichtige Frage, die man an die neue Armen- pflege richten muss, wird wohl die sein : in welchem Masse wer- den die Invaliden unterstützt ? Ist die Unterstützung auch ge- nügend ?

Professor Brentano berührt in .seiner weitläufigen Erörterung diese Frage gar nicht, wenigstens nicht vom Standpunkt der Ar- men aus, die hieran doch wohl ein begreifliches und last möchte ich sagen entschuldbares Interesse haben.

Die den »Grundzügen« beigegebene Denkschrift bemerkt in dieser Hinsicht mit fast verblüffender Offenheit: die invaliden Ar- beiter sollen nur soviel bekommen, als »für notdürftigen Unter- halt an billigem Orte ausreicht« und ihre Rente solle zugleich »nicht eine nur teilweise Erleichterung der öffentlichen Armen- pflege darstellen. Das heisst also zum Industriearbeiter sagen: im allgemeinen wird es , wenn du invalid geworden , notwendig sein, dass du deinen bisherigen Aufenthaltsort, die Stadt, deine gewohnte Umgebung, deine gewohnte Lebensweise, deine Ver- wandten und Freunde vcrlässst, und als alter Mann, der sich nicht mehr leicht an einem fremden Orte, unter ganz anderen Verhältnissen zurechtfindet, aufs Land ziehst, damit du dort »notdürftig« leben könnest, ln der Stadt kannst du auch das nicht, und auf weitere Unterstützung seitens der alten, noch fortbestehenden Armenpflege hat ein Rentenempfänger unter allen Umständen keinen Anspruch mehr. Die Armseligkeit der Rente »wird dazu führen« , sagt die Denkschrift mit beneidenswerter Gemütsruhe, »dass die Rentenempfänger thunlichst auf dem Lande ihre Wohnung nehmen , dadurch die Bevölkerung des platten Landes vermehren und letzterem neben dem Reste ihrer Arbeits- kraft auch vermehrten Geldumsatz zuführen«. Es ist merkwürdig, dass man den Dünger vergessen hat! Also diese armen, »not-

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dürftigen« Krüppel und Greise sollen durch ihre Armut gezwun- gen werden , der Grundrente mit dem letzten Rest ihrer Kräfte und mit ihrem armseligen Bischen Geld ein wenig zu dienen. Solche Ideen sollte man doch nicht so offen heraussagen und ein Nationalökonom sollte darin doch nicht einen Vorzug der neuen Armenpflege erblicken, wie Brentano, der hier lediglich ein Heil- mittel gegen den bisherigen »mit schweren sozialen Schäden ver- bundenen Andrang von Personen, welche der Arbeitsunfähigkeit nahe waren, nach den grossen Zentren der Bevölkerung« erblickt.

Da zeigte der Herr Kommerzienrat Berding doch noch eine humanere Gesinnung, wenn er auf dem Berufsgenossenschaftstag sagte: »Ich glaube nicht, dass ein gewerblicher Arbeiter, der bis zu seinem 65. oder 70. Jahr in einer Industriestadt gelebt hat, sich dann noch auf die Wanderschaft zu begeben geneigt sein wird. Ich glaube , er wird immer trachten , in der alten Um- gebung zu bleiben, besonders wenn ihm dort noch Angehörige zur Seite stehen, die sich seiner annehmen können. Ich möchte mir bei dieser Gelegenheit erlauben, meine Ansicht dahin auszu- sprechen, dass die Renten, wie sie in den »Grundzügen« im all- gemeinen festgestellt sind , für die industriellen Arbeiter nicht ausreichen. Bei einer Einrichtung von solcher Tragweite, zu der jeder Arbeiter von frühester Jugend an verpflichtet sein soll, Bei- träge zu leisten, kommt es doch, wenn man den Zweck erreichen will , zu allererst darauf an , dass das Gesetz sich den Anschau- ungen der Arbeiter einigermassen anschliesst. Ich glaube aber nicht, dass die Aussicht auf eine mit dem 71. Jahre beginnende Altersrente von 120 M. geeignet ist, auf die Arbeiter eine günstige Kin Wirkung auszuüben« (Protokoll des ausserordentlichen Berufs- genossenschaftstages S. 23). Herr Schmidt (Elberfeld) sagt in derselben Versammlung :

Die städtischen Arbeiter, besonders im Westen des Reichs, werden unter dem neuen Gesetz schlechter stehen als heute und beweist dies mit Zahlen (a. a. O. S. 8).

Herr von Pfister sagt ebenda: Eine Rente von 120 M. reiche in Deutschland nicht zur notdürftigen Lebenshaltung am billigsten Orte aus (S. 24).

Auch der Referent Herr l loltz sagt endlich : »das was ge- geben werden soll, reicht nicht aus oder ist nicht genug, ich gebe es zu aber lassen Sie uns nicht über den Vorschlag der Regierung hinausgehen (a. a. O. S. 25).

Archiv fiir *oz. Gctetxgeb. u. Statistik. I. 2

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Diese Art von Logik erinnert lebhaft an die Aussprüche, die Staatsminister von Bötticher in der Reichstagssitzung vom 23. Januar d. J. bezüglich der Altersversicherung that. Er sagte, in einfaches bürgerliches Deutsch übersetzt, etwa folgendes : Ja, es ist wahr, wir haben thatsächlich keine Altersversicherung, denn die Arbeiter werden selten oder fast nie über 70 alt; aber wir hatten »gebundene Marschroute«, d. h. die kaiserliche Botschaft sprach einst von Altersversorgung, und so mussten wir auch da- von sprechen in unseren Grundzügen , sowohl auf dem Titel als im Text, obwohl wir thatsächlich bloss gegen Invalidität ver- sichern.

In der Ausschusssitzung des Zentralverbandes Deutscher In- dustrieller vom 23. Novemb. 1887 sagt der Geheime Finanzrat Jencke (Referent) : »Das ist ja nicht zu leugnen, dass eine Rente in dem Be- trage, wie sie vorgesehen ist, in den meisten Teilen Deutsch- lands den betreffenden Rentenbezugsberechtigten einen vollen und auskömmlichen Unterhalt nicht sichert. Im Westen ist je- mand, der 120 oder 200 M. bezieht, noch sehr auf die Hülfe seiner Familienangehörigen oder sonst andere Hülfe angewiesen« ; im Osten allerdings könne Einer, der 120, 150 oder 200 M. be- ziehe, »unter Umständen ein wohlhabender Mann« sein.

Das letztere, glaube ich, ist doch ein wenig aufgeschnitten. Der Redner weist darauf hin , dass es in hochentwickelten In- dustriebezirken Deutschlands F'abrikpensionskassen gibt , welche Pensionen von 300 600 M. gewähren (Verhandlungen, Mittei- lungen und Berichte des Centralverbandes Deutscher Industriel- ler. Nr. 38. S. 78 f. Berlin , 1887) , in der Eisen und Stahlin- dustrie sogar 750 M. und darüber (a. a. O. S. 147). Auch in der Sitzung des Volkswirtschaftsrats vom 5. Dezember 1887 er- klärt ein Redner: bei einer Rente von 120 M. könnten die Ar- beiter auf andere Unterstützung nicht verzichten (a. a. O. S. 135). Nichts ist sicherer als das; aber selbst mit dem Höchstbetrage der Invalidenrente, mit 250 M., kann im grössten Teile von Deutschland ein Mensch ohne die schwersten Entbehrungen, ohne auf eine gesunde Wohnung, eine irgend genügende Kleidung und ausreichende Nahrung zu verzichten, sicherlich nicht leben.

Wer 10 OCX) M. jährliches Einkommen hat, der mag freilich sagen, so viel sei nicht notwendig, man könne auch mit weniger auskommen. Aber wenn er gleich soweit geht zu behaupten, man könne auch mit dem 40. Teile seines Einkommens noch er-

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träglich leben, so ist das eine blosse Leichtfertigkeit. Und wie soll es denn in Zukunft werden , wenn der Invalide unmündige Kinder hat und seine Frau nichts verdienen kann ? Der Invalide mit 250 M. wird allerdings keine unmündigen Kinder haben, aber der mit 120 M., und das macht die Sache nicht besser. Hat auch ein solcher keinen Anspruch mehr auf Armenpflege, stellt die Rente auch für ihn »nicht eine nur teilweise Erleichterung der öffentlichen Armenpflege oder ein Taschengeld« darf Wie leicht ist es doch dem Satten, nicht zu begreifen , wie ein An- derer Hunger haben kann ! Wie leicht ist es doch in der Bel- Etage zu sagen : man könne auch im Keller recht hübsch und bequem wohnen!

Wenn ich oben behauptet habe, dass auch der Maximalbe- trag der Invalidenrente im Allgemeinen nicht ausreiche, so habe ich da von einer Rentenhöhe gesprochen, die in der Wirklichkeit kaum Vorkommen wird. Es ist nicht anzunehmen , dass unter tausend Arbeitern ein Einziger 250 M. erhalten wird.

Die Invalidenrente beträgt für Männer 120 M. jährlich und steigt nach Ablauf der ersten 15 Beitragsjahre für jedes vollendete weitere Beitragsjahr um je 4 M. jährlich bis zum Höchstbetrage von jährlich 250 M. Der Höchstbetrag der Rente wird somit nach Ablauf von 48 Beitragsjahren erreicht, also bei Personen, welche mit dem Beginn des 19. Lebensjahres in eine die Ver- sicherungspflicht begründende Beschäftigung eingetreten sind, nach Ablauf von 18 + 48 66 Lebensjahren. Ein Anspruch

auf die volle Rente besteht aber nur, sofern seit dem Eintritt in eine die Versicherungspflicht begründende Beschäftigung bis zum Eintritt der Invalidität in jedem Kalenderjahre Beiträge für min- destens 3c» Arbeitstage für ein Beitragsjahr geleistet sind. Bloss Krankheit und Militärdienst entbindet von der Beitragspflicht. Wer aus anderen Gründen für weniger als 300 Arbeitstage oder gar keine Beiträge geleistet hat, dem ist die Rente bei ihrer demnächstigen Feststellung nur nach dem Werte der thatsäch- lich geleisteten Beiträge zu gewähren und zu diesem Zweck nach den von dem Reichsversicherungsamt hierüber aufzustellenden Tarifen um den Versicherungswert des Ausfalls an Beiträgen zu ermässigen. Diese Kürzung tritt nicht ein, wenn der Ausfall ge- deckt ist entweder durch Verrechnung der in den dem Ausfall vorangehenden Jahren für mehr als je 300 Arbeitstage geleisteten Beiträge oder durch Verrechnung derartiger Mehrbeiträge in

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späteren Jahren, soweit durch diese auch die Zinsen und Zinses- zinsen des Ausfalls von dem Ablaufe desjenigen Kalenderjahres ab, in welchem der Ausfall eingetreten ist, gedeckt werden, oder endlich durch freiwillige Nachzahlung der ausgefallenen Beiträge samt Zinsen und Zinseszinsen wie oben, einschliesslich des auf den Arbeitgeber entfallenden Anteils derselben.

So bestimmen die »Grundzüge«. In jedem Fall also, wo ein Arbeiter von dem Zeitpunkt seines Eintritts in eine versicherungs- pflichtige Beschäftigung bis zum Eintritt der Invalidität eine Zeit der Arbeitslosigkeit durchzumachen hat und nachher nicht irn Stande ist, das Doppelte seines gewöhnlichen Beitrags samt Zin- sen und Zinseszinsen für die Zeitdauer der Arbeitslosigkeit nach- zuzahlen, erlangt er, selbst wenn er noch so alt wird, nicht den Höchstbetrag der Rente. Dass ein Arbeiter 48 Jahre lang ununter- brochen 300 Tage per Jahr beschäftigt war, kommt überhaupt gar nicht vor. Sehr viele Arbeiter sind nicht ein einziges Jahr ihres Lebens so viel Tage beschäftigt, geschweige denn 48. Die Beschäftigung des Arbeiters hängt nicht von seinem, auch nicht vom Willen des Arbeitgebers, sondern in den meisten Branchen von der Konjunktur des Weltmarkts ab. Die Konjunktur aber wechselt nach der Natur unserer hochentwickelten Geldwirtschaft ziemlich rasch , die Zahl der Arbeiter reicht auch für die gün- stigste aus und so muss es bald in dieser, bald in jener, bald in allen möglichen Branchen mehr oder weniger unbeschäftigte Ar- beiter fast zu jeder Zeit geben. Hat aber der Arbeiter keine Beschäftigung, so verbraucht er im günstigsten Fall seine Ersparnisse. Diese reichen nicht weit, in sehr vielen Fällen sind keine vorhanden und auch kaum möglich und dann muss ent- weder das Bischen Fahrhabe verpfändet oder verkauft oder es müssen sogleich oder alsbald Schulden gemacht werden. Diese muss dann der Arbeiter , wenn er wieder Beschäftigung erhält, vor allem abzahlen, was ihm zumeist schwer genug werden wird ; hat er sein Mobiliar verpfändet oder verkauft , so muss er es auslösen oder neu anschaffen, was ebenfalls kein Spass ist. Und nun soll er in der Lage sein , auch noch die ausgefallenen Dop- pelbeiträge mit Zins und Zinseszins nachzuzahlcn ? Dazu gehört in den meisten Fällen, d. h. in der breiten Schicht der Arbeiter, welche auch wahrend der Zeit ihrer Beschäftigung nur das not- dürftigste Einkommen beziehen , eine Selbstüberwindung , eine Kraft der Entsagung, eine Voraussicht und Wirtschaftlichkeit, wie

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sie in keiner Klasse der Bevölkerung vorkommt und vom Ar- beiter der gewöhnlichsten Art , der keine Bildung genossen hat und gewohnt ist, von der Hand in den Mund zu leben, unmög- lich erwartet werden kann.

Hier ist einer der Punkte, wo die Invalidenversicherung möglicher Weise sogar zur Verschlechterung der Lage des aktiven Arbeiters beitragen kann, wenn dieselbe nicht durch andere Mittel gehoben wird. Man weiss heutzutage ziemlich klar, was man von den Ar- beitseinstellungen zu halten hat. Sie sind ein verzweifeltes, mit grossen Nachteilen verbundenes, aber in unserer Gesellschaft doch manchmal notwendiges Mittel zur Verbesserung der Arbeitsbe- dingungen oder zur Abwehr ihrer Verschlechterung. Strikes müssen durch die Invalidenversicherung unzweifelhaft erschwert werden , wenn der Arbeiter an seine Rente denkt. Denkt er nicht daran , so werden auch die Strikes speziell dahin wirken, dass der Höchstbetrag der Rente seltener erreicht wird.

Sieht man aber auch von all’ diesen Schwierigkeiten gänzlich ab, nimmt man an, dass der Arbeiter ununterbrochen jährlich 300 Tage beschäftigt sei oder für die Unterbrechungen in jedem Fall volle Nach- zahlung leiste, nimmt man ferner an, dass er bereits mit beginnen- dem 17. Lebensjahre in eine versicherungspflichtige Beschäftigung eintrete , so muss er erst noch eine weitere Bedingung zur Er- langung der vollen Rente erfüllen , er muss sein 64. Lebensjahr vollenden. In diesem allergünstigsten , ausserordentlich seltenen Falle wird er endlich 250 Mark Rente beziehen, wenn er nämlich vollkommen invalid ist, und dann wird er diese Rente sicher nur eine ganz kurze Zeit gemessen und das wird auch kein Unglück für ihn sein. Denn ein so alter, invalider Mann, der Pflege braucht und Kartoffel und trockenes Schwarzbrod schwer verdaut , wird auch an den bekannten billigen Orten keine beneidenswerte Exi- stenz geniessen.

Die allermeisten Arbeiter aber , alle diejenigen , die schon früher invalid werden , die nicht 48 Jahre lang ununterbrochen Beiträge leisteten , denen die Rente »nur nach dem Werte der thatsächlich geleisteten Beiträge* gewährt wird , werden weniger bekommen und werden also noch mehr Not leiden, und werden in denjenigen Gegenden, wo der Arbeiter am meisten Intelligenz und Bildung besitzt, in den grösseren Städten, im Westen, in der Industrie überhaupt , am meisten Not leiden und um so erbit- terter über den neuen Zustand der Dinge sein , als der frühere

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fiir sie besser war, als sie früher, wo sie nichts beizutragen und nachzuzahlen hatten, eine grössere Unterstützung erhielten.

Man hat bis jetzt in allen wissenschaftlichen Untersuchungen über die Armenpflege vor allem betont , dass dieselbe nicht schablonenhaft sein dürfe. Nun, etwas Schablonenhafteres, als diese neue Armenpflege, die in Berlin und Frankfurt genau eben so viel Geld gibt, wie in Hinterpommern und Ostpreussen, lässt sich kaum denken. »Das öffentliche Interesse, welches den Bei- trittszwang rechtfertigte, sagt die Denkschrift zu den »Grund- zügen« , »ist nur insoweit beteiligt , als sämtlichen Arbeitern die Möglichkeit einer bescheidenen Lebenshaltung nach Fortfall ihrer Arbeitslosigkeit zu sichern ist«. Das heisst doch wohl in an- deren Worten : nicht um das Interesse der Arbeiter selbst han- delt es sich bei der ganzen Angelegenheit , dieses würde ja unzweifelhaft eine höhere Rente fordern nicht in ihrem eigenen Interesse werden die Arbeiter von nun an gezwungen, zur Armen- pflege , die früher von den Besitzenden geleistet werden musste, beizutragen, sondern im »öffentlichen Interesse«, welches ein ganz anderes ist, als das jenes kleinen Kreises von 12 Millionen Men- schen samt Angehörigen, die gegen die F'olgen der Invalidität versichert werden sollen. Dieses öffentliche Interesse ist, wie uns Brentano belehrt , das der bisherigen Armensteuerpflichtigen , es handelt sich um »Entlastung der Gemeinden«, und diese werden ja auch entlastet, wenn der Arbeitsinvalide bei 120 Mark Rente verhungern oder betteln muss. Denn an die alte Armenpflege der Gemeinden hat er keinen Anspruch mehr. »Die Möglich- keit einer bescheidenen Lebenshaltung« ist ihm ja geboten, er kann mit 70 Jahren von Elberfeld nach Oletzko oder an die Memel ziehen , und dort vielleicht bescheiden , sehr bescheiden leben. Warum ist denn das Interesse der Arbeiter kein öffent- liches, das der bisherigen Armensteuerpflichtigen aber ein öffent- liches ? Warum ist ein Beitrittszwang nur zulässig, um den Ar- men im Elend zu erhalten, aber nicht, um ihn davon zu befreien ? Warum stellt denn ein Staat, der seine Minister und Geheimräte doch mit ganz anderen Pensionen bedenkt als seine Grenzjäger und Nachtwächter, den Grundsatz offiziell auf, dass es bei der Pensionierung von Arbeitern , die 48 Jahre lang ununterbrochen der Gesellschaft dienten, ganz gleichgültig sei, ob sie früher 2000 oder 500 Mark jährlich verdienten ? Solche Grundsätze sollte man nicht so ohne Bedenken bloss im augenblicklichen Interesse

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aufstellen : denn Grundsätze haben Konsequenzen, und wer diese nicht will, soll sich auch mit jenen nicht befassen.

Auch dadurch sucht die Denkschrift die Armseligkeit der Alters- und Invalidenrente zu rechtfertigen , dass Alter und Ab- nutzung der Kräfte in der menschlichen Natur begründet seien und früher oder später Jedem bevorstehen. Also deswegen, weil wir alle mit der Zeit alt und invalid werden, brauchen die Arbeiter im Alter und in der Invalidität nur ein erbärmliches Einkommen, von dem man nicht leben kann? Deswegen weil der Mensch ohnedies schon in einem Zustand sich befindet , der unser Er- barmen herausfordert, soll nichts daran liegen, wenn er nun auch noch mit der grössten materiellen Not zu kämpfen hat? Ich er- kläre mich für unfähig, dieser Logik eines speziell christlichen Staates zu folgen.

Was wir hier besprochen und kritisiert haben, sind nur die Feststellungen, Intentionen und Moralgrundsätze der projektierten Alters- und Invalidenversicherung und ihrer offiziellen Erklärung. Es ist möglich , dass sich die Sache in der Wirklichkeit nach einiger Zeit besser macht , dass zwar nicht das Los der ak- tiven Arbeiter, denn um diese scheint sich die Sozialreform gar nicht zu kümmern, wohl aber das Los der Invaliden der Ar- beit sich glücklicher gestaltet, als es hier vorgesehen ist.

Die Denkschrift bemerkt schon, dass »eine spätere Erhöhung der Rentensätze , sobald eine solche ohne Gefährdung anderer wichtiger Interessen ausführbar erscheint, nicht ausgeschlossen* sei. Und der Minister von Bötticher sagte in der Ausschusssitzung des preussischen Volkswirtschaftsrats (Verhandlungen u. s. w. des Centralverbandes D. J. S. 147) : Es sei in der Presse vielfach der Vorwurf gemacht worden, dass zu geringe Rentenbeträge ange- nommen seien; allein man wisse nicht, welche Wirkung eine höhere Belastung auf die Industrie haben werde. Komme man später zu dem Resultat, dass die beteiligten Faktoren eine höhere Belas- tungertragen können, dann könne man die Renten ruhig erhöhen.

Wir wissen nicht, ob diese Worte gegenwärtig mehr bedeuten, als eine handliche Entschuldigung für die Armseligkeit der neuen Armenunterstützung, und ob nicht andere Interessen als »öffent- liche« denen der Arbeiter im Sinne der gegenwärtigen Staats- männer stets präponderierend gegenüberstehen. Aber die Zeiten wechseln und ein anderes Geschlecht von Staatsmännern kann jedenfalls hier leicht eine Besserung eintreten lassen, und es ist

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durchaus nicht unmöglich, dass selbst unter Beibehaltung der fiir jetzt festgesetzten Beiträge höhere als die in den »Grundzügen« an- gesetzten Renten nach kurzer Zeit ausgezahlt werden können. Verschiedentlich wurde diese Ansicht schon ausgesprochen und es wäre ein Glück, wenn sie sich als richtig erwiese. Dass die Berechnungen, auf welchen die Ansätze der »Grundzüge« beruhen, falsch und ihre Resultate zu ungünstig seien, wurde bereits von den Vertretern der Regierung selbst zugestanden. Neue Zahlen sind aber noch nicht vorgelegt und so kann über diesen I’unkt nicht entschieden werden.

Haben wir nach dem Obigen zugeben müssen , dass die Renten nach den Ansätzen der »Grundzüge« nach jedem möglichen an sie anzulegendcn Massstabe zu gering sind, so sind damit die den Arbeitern ungünstigen Bestimmungen derselben leider noch nicht erschöpft.

ln der Generalbesprechung der »Grundziigc« im Schosse des preussischen Volkswirtschaftsrates erklärte das einzige Mitglied, welches prinzipiellen Widerspruch gegen das Gesetz erhob : die Arbeiter würden in eine ausserordentliche Abhängigkeit von den Arbeitgebern wie von der regierenden Macht gebracht werden. Der jetzt schon unzulängliche Spartrieb werde vermindert, der Arbeiter begehrlicher gemacht und damit den Reihen der Sozial- demokratie zugetrieben werden. In entschiedener Weise wies er das Quittungsbuch zurück, weil dasselbe sich bald in ein obligatorisches Arbeitsbuch verwandeln werde (Verhandlungen u. s. w. S. 125 f.).

Diese Einwürfe gegen das Projekt macht zum Teil auch Schräder in der »Nation« (vom 7. Jan. 1888) : »Die Arbeiter kommen in grös- sere Abhängigkeit von den Arbeitgebern. Deren Vereinigungen die Berufsgenossenschaften, erhallen eine viel grössere Macht. Das Quittungsbuch stellt den Arbeiter unter eine scharfe Kon- trolle und die Möglichkeit, dass es in weitem Umfange ordnungs- widrig gebraucht wird, ist nicht fern.«

Die Besorgnis, dass die Quittungsbücher zu Arbeitsbüchern werden könnten, ist übrigens von vielen Seiten ausgesprochen und nicht widerlegt worden.

Auf dem Berufsgenossenschaftstage war es Schmidt (Elber- feld), der dieses Bedenken hauptsächlich hervorhob und erzählte, wie nach dem Bericht des Eabrikinspektors Osthucs von Dort- mund die dortigen Arbeitgeber ganz offen und frei eine Vereini- gung gebildet hätten, wonach sie bei der Entlassung dem Mann

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entweder in’s Buch schrieben »er ist ordnungsmässig entlassen« oder bloss »er ist entlassen«. Im zweiten Fall fand der Mann in dem ganzen Kreise keine Arbeit mehr (Protokoll S. 8).

In der Ausschusssitzung des Zentralverbands deutscher In- dustrieller anerkennt der Geheime Finanzrat Jencke als Referent, »dass ein solches Quittungsbuch, wenn es voll ist, fortlaufend er- kennen lässt, wo, innerhalb welcher Berufsgenossenschaft , resp. in welcher Kategorie von Arbeit und resp. wie lange der be- treffende Arbeiter gearbeitet hat« (Verhandlungen u. s. w. S. 71 f.).

Das ist nun doch sicher schon ein Arbeitsbuch, auch ohne Kritik des Verhaltens des betreffenden Arbeiters , welche in- des durch kluge Abmachungen unter den Arbeitgebern sehr leicht hineingeschmuggelt werden kann, trotz des in den »Grund- zügen« enthaltenen Verbotes.

Daher stellte auch Herr Zander im Ausschuss des preussi- schen Volkswirtschaftsrates (a. a. O. S. 185) den Antrag: »Die Ent- wertung der Marken darf nicht in einer Weise erfolgen, dass aus derselben die Dauer des jedesmaligen Arbeitsverhältnisses durch Eintragung von Daten oder des Namens des Arbeitgebers er- sichtlich wird.«

Der Antrag wurde, nachdem man gegen denselben den fast komischen Einwand gemacht, dass zur Verhütung der Fälsch- ungen der Name des Arbeitgebers bei Entwertung der Marken nicht entbehrt werden könne, abgelehnt.

Auch die Kommission des Zentralverbands deutscher In- dustrieller erklärte sich in der Sitzung vom 3. Dezember v. J. fast einstimmig für Beibehaltung des in den »Grundzügen« vor- geschlagenen Systems (a. a. ü. S. 1 18).

Man sagte kurz: es ist die einfachste Lösung der schwierigen Frage, wie die notwendige Kontrolle ausgeübt werden könne , ob die Arbeiter damit zufrieden sein können oder nicht , ob sie nicht lieber auf die ganze Versicherung verzichten, als das Arbeits- buch mit in den Kauf nehmen, das schien eine vollständige Neben- sache. Die bequeme Kontrolle ist doch wahrlich kein Prinzip, und man kann doch kaum sagen, dass diejenigen für das Wohl der Singvögel sorgen, die sie in den Käfig sperren und dann füttern. Das Wohl des Vogels muss man doch ein wenig von seinem Standpunkte aus auffassen, und das Wohl des Arbeiters ebenfalls.

Sogar ein »freisinniger« Landrat, Dr, Baumbach, erklärte in

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der Reichstagssitzung vom 23. Januar d. J., dass man über einen so wichtigen Gegenstand, wie die Invalidenversorgung, doch vor allen Dingen die Arbeiter selbst hören sollte, und erzählt von einem Aufruf aus Arbeiterkreisen, der da sagt, dass man nicht für eine ganz unerhebliche und ungenügende Alters- und Inva- lidenversorgung, die 19/20 von den Arbeitern nie benützen werden, ein Arbeitsbuch eintauschen solle. Man habe , fügt Baumbach hinzu, »bekanntlich diese Alters- und Invalidenversorgung mit einer Art obligatorischen Arbeitsbuchs verquickt* und Jedermann wisse, wie ausserordentlich zuwider dieses Buch den Arbeitern sei.

Und in derselben Sitzung erzählt der sozialdemokratische Ab- geordnete Grillenberger: diejenigen Arbeiterversammlungen, die in der Lage waren, sich mit dieser Frage zu beschäftigen, haben auf das positivste erklärt, dass, wenn man dieses Quittungsbuch bcibehalten würde, sie lieber auf die ganze Altersversorgung ver- zichten.

Der Staatsminister von Bötticher erklärte gegen Baumbach : »Ich weiss auch, dass die Arbeiter sich gegen das sogenannte Quittungsbuch erklärt haben. Diese Gegnerschaft beruht auf einer übertriebenen Besorgnis. Ich will mich in diesen Gegenstand hier nicht vertiefen aber ich möchte schon jetzt nicht die Gelegen- heit vorübergehen lassen, auszusprechen, dass die Absicht, dem Quittungsbuch den Charakter eines Arbeitsbuches zu geben, uns durchaus ferne gelegen hat, und dass wir jede Garantie da- für, die nur einigermassen mit dem Zwecke der Vorlage über- haupt verträglich ist, geben wollen, dass das Quittungsbuch nicht zum Arbeitsbuch werde.«

Und gegen Grillenberger erklärte er, dass das Reich doch nicht jährlich 50 Millionen zahlen werde, bloss um ein Arbeitsbuch zu erlangen ; das könnte man viel leichter und bequemer haben.

Was soll aber dies Alles sagen? Gewiss wird die pro- jektierte Versicherung nicht in's Leben gerufen werden, um ein Arbeitsbuch cinzuführen; wir wollen auch annehmen, dass die Regierung gar nicht mit Absicht diese Gelegenheit er- griff, um jenes Resultat nebenbei zu erreichen; wir wollen selbst glauben , dass von Seite der Regierung alles geschehen wird , um einen offenbaren , nachweisbaren Missbrauch des Quittungsbuches zu verhüten : aber das alles hindert doch nicht, dass dieses Quittungsbuch seiner Natur nach, ganz selbstverständ- lich und ohne weiteres ein obligatorisches Arbeitsbuch darstellt,

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selbst wenn was wahrscheinlich unmöglich ist eine Kritik des Verhaltens des Arbeiters darin nicht angebracht werden kann. Wenn jeder Arbeitgeber genau ersehen kann, wo, bei wem, wie lange, in welcher Branche der Arbeiter, der bei ihm Beschäfti- gung sucht, vorher beschäftigt war, so ist das eine Art von Kon- trolle, die wenig zu wünschen übrig lässt von Seite des Arbeit- gebers. Mag der Herr Staatsminister mit seinen witzigen Bemerk- ungen auch die Lacher auf der rechten Seite des Hauses für sich haben, die Arbeiter hat er nicht überzeugt, dass ihnen da nicht etwas bevorstehe , wovor sie einen ausserordentlichen Abscheu haben.

Dass also durch diese Quittungsbücher die Abhängigkeit der Arbeiter von den Arbeitgebern vermehrt werden würde, ist sicher. Ob die projektierte Alters- und Invalidenversicherung auch sonst noch in dieser Richtung wirken wird, wie Einige behaupten, das muss noch erörtert werden. Dass der Arbeiter von nun an auch noch wegen seiner Versicherungsprämien und Rentenhoffnungen die Arbeitslosigkeit und also die Entlassung seitens des einzelnen Arbeitgebers zu scheuen habe, lässt sich nicht leugnen. Allein diese Wirkung der Versicherung kann bei keiner in Betracht kommenden Organisation derselben in unserer Volkswirtschaft vermieden werden: sie würde eintreten, auch wenn der Arbeiter allein oder der Arbeitgeber allein die Prämien zu zahlen hätte. Nur wenn der Staat die ganze Last auf sich nähme und die Prämien fortzahlte, auch wenn der Arbeiter beschäftigungslos wäre , würde sie ver- mieden werden.

Allein die ganze Sache hat keine praktische Bedeutung, d. h. es wird nie Vorkommen, dass der Arbeitgeber den Arbeiter bloss deshalb entlässt, um ihn wegen der Versicherungsprämie chika- nieren zu können, und es wird nie Vorkommen, dass der Arbeiter bloss deshalb sich dem Willen eines Arbeitgebers fügt, um nicht wegen der Prämie in Verlegenheit und Nachteil gesetzt zu wer- den. Diese Prämie kommt nur als ein winziges Interesse zu einem sehr grossen hinzu und folgt als Teilchen jedesmal dem Ganzen. Der Punkt ist also irrelevant.

Aber ein anderes Bedenken darf wohl hier ausgesprochen werden, obwohl sich heute kaum Jemand über dessen Tragweite klar sein dürfte.

Wird ein schwächlicher, von Hause aus kränklicher Mensch nicht infolge der Invalidenversicherung schwerer Arbeit finden,

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Platter,

als bisher? und werden alternde Arbeiter, deren Leistung und Lohn in ein ungünstigeres Verhältnis zu der vom Arbeitgeber zu zahlenden Prämie gerät, nicht öfter aus der Arbeit entlassen werden und schwerer neue Arbeit finden, als bisher? Der ein- zelne Arbeitgeber wird sich mehr oder weniger verpflichtet fühlen, seiner Berufsgenossenschaft möglichst wenig Last und Risiko auf- zubiirden , auch wenn er seine persönlichen Interessen ausser Acht lässt.

Man könnte hier vielleicht einen Einwand anbringen wollen und sagen: Es ist wahr, dass die stets absolut gleich grosse Prämie relativ um so grösser wird, als der Lohn und mithin die Leistung abnehmen. Allein dies gilt nicht nur bei kränklichen und alten Arbeitern, sondern auch bei sehr jungen. Man wird also weniger ganz junge Leute anstellen und dies wird auf die Arbeiter als Klasse vorteilhaft wirken. Doch der Einwand gilt nicht, denn die jungen Arbeiter sind in der Regel so billig zu haben, dass das ungünstigere Verhältnis der Prämie zum Lohn gar nicht in Betracht kommt.

Eine weitere hieher gehörige Frage ist die: sind die Unfall- berufsgenossenschaften im Interesse der Arbeiter geeignete Träger der Invalidenversicherung oder nicht ?

Die verschiedenen offiziellen Versammlungen der Arbeitgeber haben diese Frage natürlich kaum berührt, für sie handelt es sich wesentlich nur darum, ob die Berufsgenossenschaften bei der Uebernahme der neuen Last ihre eigenen Interessen verletzen oder fördern.

Der Referent in der Ausschusssitzung des Zentralverbandes deutscher Industrieller ist gegen die Uebernahme. Er sagt : der Bestand der Berufsgenossenschaften und der ihnen angehörigen Arbeiter sei kein stabiler, daher falle für die Berufsgenossen- schaft das Interesse an den Leuten und für den Gesetzgeber der Grund hinweg, um gerade die Berufsgenossenschaften zur Uebernahme der Versicherung heranzuziehen. Diejenigen Arbeiter, welche nicht unter die Berufsgenossenschaften fallen, seien ohne- dies in kommunalen Verbänden zu versichern und deshalb solle man letztere überhaupt zu Trägern dieser Versicherung machen (a. a. O. S. 86 f.). ln der Sitzung der Kommission des Zentralver- bandes erklärt derselbe Redner (Jencke) , dass in sehr vielen Fällen der häufige Wechsel der Arbeitsstelle mit einem Wechsel der Berufsgenossenschaft Zusammenhänge. So sei für den Monat

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November 1887 festgestellt, dass von 450 bei Krupp neuange- nommenen Arbeitern nur 34 aus der rheinisch-westphälischen Hütten- und Walzwerks-Berufsgenossenschaft und 41 aus verwandten Berufsgenossenschaften übernommen seien , dass dagegen der ganze Rest auf die verschiedenartigsten fremden Berufe, wie Maurer, Anstreicher, Zimmerleute, Schuhmacher, Metzger, Fuhrleute, Schmiede, Bäcker, Schreiner, Schlosser, Bergleute, Weber, Klempner, Ackerknechte sich verteile (a. a. O. S. m). Das ist gut und charakteristisch für die Bedeutung der Berufs- genossenschaften in bezug auf die Interessen der Arbeiter. Gibt es denn heutzutage einen Beruf l Der einzige Beruf für die Be- sitzenden ist, mehr Geld zu machen , für die Arbeiter, irgendwo und irgendwie einen Unterhalt zu suchen. Der Besitzende gibt seinen »Beruf« auf und ergreift einen anderen , wenn er in dem- selben mehr Aussicht hat, reich zu werden. Der Arbeiter ist zu- meist genötigt, jede Arbeit, die sich ihm bietet, anzunehmen und so kommt der Bäcker und der Ackerknecht zu Krupp nach Essen des Essens wegen 1 Berufsgenossenschaften ohne Be- ruf! Zusammenfassung der Berufsgenossen, die gar keinen Beruf haben ! Nur die ganz grossen Geschäfte erfreuen sich einer er- heblichen Dauerhaftigkeit und die Berufsgenossenschaft muss hier- nach zumeist ein Organismus sein, in welchem die grossen Herren, die dauerhaften, das grosse Wort führen. Die Beziehung eines solchen Organismus zum Arbeiter kann in den meisten Fällen nur eine sehr lose, vorübergehende sein und es ist daher nicht abzusehen, warum die Berufsgenossenschaften die Träger einer Institution sein sollen, welche ganz wesentlich nur Interessen der Arbeiter betrifft, zu deren Förderung die Berufsgenossenschaften nicht mehr beitragen, als der Staat und die Arbeiter selbst. Im neuesten Heft der Fachzeitschrift »Stahl und Eisen« ist der Ge- danke ausgesprochen, dass diese Genossenschaften überhaupt eine verfehlte Idee seien , auch in bezug auf die Unfallversicherung, und dass die Regierung ihnen nur deshalb die Invalidenversiche- rung übertragen wolle, weil sie einen begangenen Fehler dadurch ausmerzen möchte, dass sie einen neuen begehe, d. h. die Schaff- ung der Genossenschaften , die sich ihrer bisherigen leichteren Aufgabe nicht gewachsen zeigen, dadurch rechtfertigen wolle, dass sie ihnen eine neue und viel schwierigere übertrage. Die Kommission des Zentralverbands deutscher Industriellen entschied sich bei der Abstimmung denn auch für die Errichtung einer

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Platter,

Reichs-Versicherungsanstalt in der Weise, dass dieser Anstalt das gesamte Rechnungswesen und die Finanzierung der in Rede stehen- den Versicherung zufallt, und dass die Berufsgenossenschaften nur in bezug auf die materielle Mitwirkung als Organe für die Alters- und Invalidenversicherung erscheinen, indem sie zur Feststellung der Invalidität , Einziehung der Beiträge und zur Ueberwachung der Rentenempfänger in Anspruch genommen werden (a. a. O.

S. 113).

Im Volkswirtschaftsrat wurde ebenfalls nachgewiesen, dass ein grosser Wechsel der Arbeiter zwischen den Betrieben der verschiedensten Industrien und anderen Berufsarten stattfinde, und dass deshalb grössere Kommunalverbände an die Stelle der Berufsgenossenschaften als Träger der Versicherung gesetzt wer- den könnten. Noch mehr aber würde es sich empfehlen , eine Reichsversicherungsanstalt zum Träger der Versicherung zu machen, weil dadurch die Verrechnung der Renten, d. h. die Umlegung auf mehrere Genossenschaften oder Kommunalverbände (die der Wechsel der Beschäftigung und des Aufenthaltsorts sonst not- wendig machen würde) wcgfiele.

Die Prüfung von Anträgen auf Gewährung von Renten und die Feststellung derselben, sowie die Einziehung der Beiträge und die Kontrolle der Rentenempfänger könnte dabei immer noch Sache der Berufsgenossenschaften bleiben (a. a. O. S. 127 f.).

Gegen das Reichs- Versicherungsamt erklärte sich im Aus- schüsse des Volkswirtschafts- Rats der Regierungs- Kommissär von Woedtke hauptsächlich aus dem Grunde, weil dasselbe »eine zahllose Menge von Beamten und damit ausserordentlich hohe Kosten verlange«, die man Niemanden aufbiirden könne (a. a. C). S. 155). Gegen die territorialen Verbände führt er an, dass der Wechsel von Ort zu Ort nicht geringer sei , als derjenige von Beruf zu Beruf. Dasselbe behauptete auch Jencke im Volks- wirtschaftsrat (a. a. O. S. 229). Der Minister von Bötticher er- klärte ebendaselbst : er persönlich könnte vielleicht einer Reichs- anstalt das Wort reden. Es sei auch möglich , dass dann die Verwaltung billiger werden könne. Allein der Vorschlag einer Reichsversicherungsanstalt würde bei den Bundesstaaten auf Wi- derspruch stossen (a. a. O. S. 232).

Auf dem Berufsgenosscnschaftstag machte Herr Schmidt, der die Frage am weitläufigsten erörterte , folgende Bemerkungen : Die Kosten der Unfallversicherung tragen die Arbeitgeber allein ;

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da ist die Berechtigung zur Selbstverwaltung klar. Zur Invaliden- versicherung aber zahlt der Staat mit, daher wird er verpflichtet, in unsere Verwaltung einzugreifen. Wenn ein Mann verunglückt, so beurteilen wir, ob er mehr oder weniger an seiner Erwerbs- fähigkeit eingebüsst hat. Ueber die Invalidität hingegen wird schliesslich der Arzt entscheiden, und wir haben bloss zu rechnen und zu verwalten. Allein trotzdem wird die neue Geschäftslast für die Genossenschaften eine kolossale sein, und diese Ueber- lastung wird die Selbstverwaltung beeinträchtigen , die jetztige Selbständigkeit aufheben, die ganze Sache wird in staatliche Ver- waltung kommen müssen (Protokoll S. 6 f.). Dagegen wendet sich der Referent Herr I loltz mit der Bemerkung : man habe die Erfahrung gemacht , dass die Behörden in ihren Entscheid- ungen oft sehr geneigt seien, zu Gunsten der Arbeiter eine L i- beralität zu üben , die die Industrie Uber Gebühr belaste. Schon aus diesem Grunde scheine es ihm geboten, an der Selbstverwaltung der Berufsgenossenschaf- ten festzuhalten und sich nicht lediglich alles von den Or- ganen des Staats vorschreiben zu lassen (Protokoll S. 13). Der Genossenschaftstag beschloss dann auch, sich damit einverstanden zu erklären, dass die Berufsgenossenschaften die Träger der Aus- führung des in Aussicht stehenden Gesetzes werden.

Der Volkswirtschaftsrat hingegen beschloss wie sein Aus- schuss: es sei eine Reichsvcrsicherungsanstalt in der Weise zu errichten , dass derselben das gesamte Rechnungswesen und die Finanzierung zufallc und dass die Berufsgenossenschaften nur zur Feststellung der Invalidität, Einziehung der Beiträge und Ueber- wachung der Rentenempfänger in Anspruch genommen werden sollten (a. a. O. S. 234 und 113).

Auch die Norddeutsche Allgemeine Zeitung vom 7. Dezem- ber v. J. sprach sich in diesem Sinne aus. Erstens falle dann die Repartition der Rente unter die vielen Genossenschaften, denen der Arbeiter nach und nach angehöre, hinweg ; zweitens ginge die Thätigkeit, die den Genossenschaften zugewiesen wer- den soll, über ihre Leistungsfähigkeit hinaus es sei hie und da jetzt schon schwer, geeignete Personen zur Uebernahme der eh- renamtlichen Stellungen zu bewegen ; drittens sei zu erwägen, dass für eine so umfassende und andauernde Verpflichtung das Reich allein ausreichende Garantien zu bieten im Stande sei ; viertens dürfte eine schnelle und praktische Durchführung nur zu

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Platter ,

erreichen sein, wenn zum Träger der Versicherung eine Reichs- anstalt als Zentralbehörde errichtet werde.

Die Berufsgenossenschaften sollten ungefähr in dem Masse zur Mitwirkung herangezogen werden, wie der Volkswirtschaftsrat cs wünschte.

Was aus alledem hervorzugehen scheint, ist dies, dass die Berufsgenossenschaften nach Ansicht der Gegner der betreffenden Bestimmungen der Grundzüge gern soweit mitwirken wollen , als es gilt , die Höhe der Ausgaben zu bestimmen , von denen die Unternehmer einen Teil tragen sollen, dass sie aber jede weitere Auslage, jede weitergehende finanzielle Haftbarkeit, Gefahr und Belastung gern los sein möchten. Und das ist vom Standpunkt der Unternehmer aus sehr begreiflich.. Die Arbeiter aber haben nicht das geringste Interesse an der Mitwirkung der Berufsge- nossenschaften , sie haben in solchen Angelegenheiten viel mehr Zutrauen zu den Staatsbehörden, sie wünschen auch für die Un- fallversicherung die Errichtung einer Reichsanstalt und müssen dies umsomehr für die Invalidenversicherung wünschen.

Die Organisation, welche die »Grundzüge« skizzieren, lässt an Buntheit und Verwickelung nichts zu wünschen übrig. Die Ver- sicherung soll durchgeführt werden zum Teil durch die Berufs- genossenschaften, zum Teil durch das Reich, zum Teil durch die Bundesstaaten, zum Teil durch Kommunalverbände oder andere öffentliche Verbände alles auf Grund der Unfallversicherungs- gesetze, die doch mit der Alters- und Invalidenversicherung gar nichts zu thun haben. Für diejenigen Arbeiter, die der Unfall- versicherung bisher nicht unterliegen, sollen »weitere Kommunal- verbände nach näherer Bestimmung der Landesgesetze« einge- richtet werden etc. Die Berufsgenossenschaften müssen beson- dere Invaliden-Versicherungsanstalten errichten. Das Reich, die Bundesstaaten , die Kommunalverbände brauchen das nicht zu thun, sondern die Versicherung der Invaliden erfolgt hier durch die Ausführungsbehörden, wie die Unfallversicherung. Die Zen- tralbehörden geben die Ausführungsvorschriften.

Den Arbeitern ist eine gewisse Beteiligung an der Verwal- tung der Versicherungsanstalt zugesichert. Sofern es sich um eine territoriale Organisation der Versicherung und um lokale Aufgaben handelt, wird diese Beteiligung gewiss wünschenswert und auch von Erfolg sein. In den Genossenschaftsversammlungen hingegen werden die Arbeiter, wenn sie an denselben überhaupt

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ohne Nachteil für ihr Fortkommen teilzunehmen vermögen, immer eine untergeordnete Rolle spielen und keine erheblichen Erfolge erzielen können.

Den Industriellen, den Berufsgenossenschaften , dem Volks- wirtschaftsrate, also immer den Arbeitgebern, wurde Gelegenheit gegeben, sich über die Organisation der neuen Versicherung und ihre Beteiligung an der Durchführung derselben weitläufig aus- zusprechen. Hat man auch nur einen Versuch gemacht, die An- sichten und Wünsche der Arbeiter in dieser Beziehung kennen zu lernen ? Wenn man ernstlich daran denkt, sie an der Durch- führung dieser für sie in erster Linie wichtigen Angelegenheit wirklichen Anteil nehmen zu lassen, so ist es doch gewiss , dass sie am besten uns sagen können, wie dieser Gedanke durchge- führt werden kann ? Sie allein würden z. B. nicht bloss wissen, sondern auch offen darlegen können, welche Rolle ihre Vertreter in der Sache spielen würden, wenn die Bestimmungen der »Grund- züge« in bezug auf die Berufsgenossenschaften durchgefuhrt wür- den. Wir sind vorläufig der Ansicht, dass für die Vertreter der Arbeiter nur solche Funktionen passen , die in loco und in den arbeitsfreien Stunden vollzogen werden können. Ihre Thätigkeit kann keine sehr umfangreiche sein , das liegt in ihrer sozialen Stellung ; sie muss dafür eine sehr wichtige sein, wenn die ganze Idee der Arbeitervertretung nicht auf einen blossen Schein hin- auskommen soll.

»Die Leute können nicht einfach verreisen und tagelang aus der Arbeit gehen. Bei einer kommunalen Organisation dagegen können die Sitzungen des Abends nach der Arbeit stattfinden, da können die Arbeiter hingehen und mitwirken ; wenn sie aber erst reisen, wenn sie erst Zeit versäumen sollen, dann geht es den Leuten so , wie Herrn Eduard Christ , dem Arbeitermitglied des Reichsversicherungsamts, dem, als er auf das Drängen des Reichsamts nach Berlin kam und im Reichsversicherungsamt ar- beitete, sein Arbeitgeber, wie ich annehmen will, notgedrungen, schrieb, er habe seine Stelle anderweitig vergeben. Will man eine Arbeiterbeteiligung haben, muss man sie neben einer freien direkten Wahl so machen , dass der Arbeiter auch thatsächlich hinkommen und mitwirken kann , und das ist nur bei kleineren Bezirken möglich , nicht aber bei Berufsgenossenschaften, welche das ganze Reich umfassen , auch nicht einmal bei Abgrenzung auf eine Provinz« (Protokoll S. 7). Das Finanzwesen aber müsste

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Plotter,

unbedingt konzentriert sein in einer Reichsanstalt, so gut wie heutzutage der Staatshaushalt. Nur darin liegt volle Garantie steter Zahlungsfähigkeit und nur dadurch wird die unendliche Verwicklung des Rechnungs- und Zahlungswesens, welche aus dem häufigen Berufs- und Ortswechsel der Arbeiter bei der jetzt geplanten Organisation entstünde, vermieden.

Was endlich die Frage betrifft, ob Kapitaldeckung oder Um- lage , so legen wir derselben kein übergrosses Gewicht bei und wollen nur kurz auf die Stellung hinweisen, welche diejenigen an der Sache beteiligten Parteien, die ihre Ansichten äussern durften, dieser Frage gegenüber einnahmen.

Die Regierung erklärt in der Denkschrift : für die Arbeiter sei deshalb das Umlageverfahren nicht anwendbar, weil dann spä- tere Arbeiter zu Gunsten der gegenwärtigen belastet würden. Fin Staat hingegen decke in der Regel nur die in jedem Jahre thatsächlich erwachsenen Ausgaben, ohne die Kräfte der Steuerzahler für künftige Ausgaben vorweg in Anspruch zu nehmen.

1 liegegen ist doch Eines anzuführen: wenn der künftige Ar- beiter nicht zu Gunsten des gegenwärtigen überlastet werden soll, so hat auch der künftige Steuerzahler ein Recht darauf, nicht zu Gunsten des gegenwärtigen überlastet zu werden. Warum soll das Prinzip, das für den Einen gilt, für den Anderen nicht gel- ten f umsomehr , da beide ja grossenteils eine und dieselbe Per- son sind 1 Der zukünftige Arbeiter als Arbeiter soll berücksich- tigt werden, der zukünftige Arbeiter als Steuerzahler aber nicht, ln seinem Schuldcnwesen befolgt der Staat genau dasselbe Prin- zip , das er hier für die Arbeiter aufstellt , für sich refusiert : um die gegenwärtigen Burger nicht übermässig zu belasten, zieht er die künftigen zur Last mit heran und bringt nicht Jahr für Jahr durch Beiträge seiner Bürger auf, was er Jahr für Jahr braucht.

Sodann erklärt die Denkschrift : der Ansammlung von jähr- lich etwa 52 Millionen Mark und ihrer Zinsen stehe das finanz- politische Bedenken entgegen , dass die Anlegung so beträcht- licher Summen den Kurs der Wertpapiere steigern und den Zins- fuss in bedenklicher Weise herabdrücken würde. Auch die Ge- fahr von Kapitalverlusten , welche dann wieder durch ausseror- dentliche Mittel ersetzt werden müssten, wäre nicht ausgeschlos- sen (»Grundzüge« etc. Berlin, C. Heymann, S. 42 f.).

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Wenn dies bei 52 Millionen der Fall ist, was wird dann bei den 104 Millionen geschehen, die von den beiden anderen Par- teien aufgebracht werden sollen ? Wenn der Zinsfuss dadurch gedrückt wird, so trifft das zwar nicht den Arbeiter als solchen, wohl aber den Arbeiter als Versicherten. Er hat seihst durch seine Beiträge dazu mitgewirkt , dass das Kapital , aus dessen Zinsen seine künftige Rente teilweise bestritten werden soll, einen geringeren Ertrag abwirft.

(Ich verstehe, nebenbei bemerkt, auch die hier in der Denk- schrift angeführten Ziffern nicht. A. a. O. S. 41 heisst es : die Kosten betragen für den Jahresdurchschnitt 156 Millionen Mark. Da der Staat nur ’/.n der jeweilen fälligen Renten zahlt, so hat er erst nach 20 Jahren ebensoviel per Jahr beizusteuern, wie die beiden anderen Parteien von Anfang an, nämlich 52 Mill. Nach 70 Jahren aber werde er jährlich 104 Mill. beisteuern müssen. Dies ist doch wohl gerechnet unter der Voraussetzung, dass sich die Bevölkerung Deutschlands in 70 Jahren verdoppele. Wenn aber dies der Fall ist, dann zahlen auch die Arbeiter noch so viel Beiträge als jetzt, d. h. jährlich 104 Millionen. Was soll dann aber mit den inzwischen aufgehäuften Kapitalien und ihren Zinsen geschehen ? Diese sind dann vollkommen überflüssig und der Jahresbeitrag deckt vollkommen die fälligen Renten.)

Natürlich fanden sich auch im Volkswirtschaftsrat Gegner dieser übermässigen Kapitalansammlung und -Festlegung. Diesen erklärte der Geheime Regierungsrat von Woedtke: nach den an- gestellten Berechnungen werde bei dem Prämienverfahren im Be- harrungszustande — nämlich im 82. Jahre etwa eine Milliarde festliegen oder einiges mehr. Eine Milliarde sei »nicht so schwer- wiegend*. Hiegegen ist zu bemerken : erstens , eine Milliarde würde in 82 Jahren einen so kleinen Teil des Bedarts mit ihren Zinsen decken, dass man da unmöglich von einer Kapitaldeckung sprechen könnte , selbst wenn man einen sicheren Zinsfuss von 4 °/o für jene ferne Zeit annehmen dürfte ; und sodann wenn eine Milliarde unbedenklich ist, dann ist auch gegen i'/s Milliarden nichts Sonderliches einzuwenden und es kann nicht gerechtfertigt erscheinen , aus dem in der Denkschrift angeführten Bedenken den Staat anders zu behandeln als Arbeiter oder Arbeitgeber.

Ziffer it der »Grundzüge sagt ausdrücklich: durch die Bei- träge sollen die Verwaltungskosten, die erforderlichen Rücklagen zum Reservefonds j und zwei Drittel des Kapital Werts

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der der Rentenanstalt durch Renten voraussichtlich entstehenden Lasten gedeckt werden.

Wie passt dies zur Milliarde des Herrn Woedtke ? Und wie passt dies ferner zur Erklärung des Herrn Ministers von Boet- ticher im preussischen Volkswirtschaftsrat (a. a. O. S. 223): die Vorlage habe keineswegs das Ueckungsverfahren , sondern nur das Prämienverfahren in Aussicht genommen; nicht jede einzelne Rente solle durch Ansammlung ihres Kapitalwerts sicher gestellt, sondern nur dafür Fürsorge getroffen werden , dass die Beiträge zur Deckung der Renten ausreichend seien?

Dass für die ganze Rente Kapitaldcckung beschafft werden soll , hat Niemand behauptet ; diese Ansicht kann daher der Mi- nister auch nicht widerlegen wollen, da sie nicht existiert. Die Grundzüge sagen: Zwei Drittel und der Minister? Alles und Nichts.

Der Volkswirtschaftsrat beschloss trotz vielfacher Opposition doch im Sinne der Regierung, nämlich Kapitaldeckung für a/s der Renten.

In der Kommission des Zentralverbandes Deutscher In- dustrieller empfiehlt der Referent (Geh. Finanzrat Jencke) ein kombiniertes Umlageverfahren in dem Sinne, dass, wegen der in den ersten Jahren auf den Kopf entfallenden sehr geringen Bei- träge, schon anfangs ein Mehrfaches der Beitragseinheit erhoben werde , um so die Beitragsverpflichtung auch dem Arbeiter von vornherein zum Bewusstsein zu bringen und zugleich für die Bil- dung eines Reservefonds Sorge zu tragen , ohne doch ausseror- dentliche Kapitalien anzusammeln und in unproduktiver Weise festzulegen. Die Beiträge seien dann in bestimmten Fristen zu erhöhen (a. a. O. S. 107 f.). Die meisten Redner sprachen sich gegen die Kapitaldeckung aus, und als Einer gegen das Umlage- verfahren einwarf, man wäre dabei nicht in der Lage, im voraus fixierte Beiträge von den Arbeitern und Arbeitgebern einzuziehen, wurde ihm erwidert , dass die Schwierigkeit, die Höhe der Beiträge im voraus zu bestimmen, beim Prä- miensystem genau so zutreffe, wie beim Um- lageverfahren.

Auch der Ausschuss des Volkswirtschaftsrats hatte sich für das Umlageverfahren entschieden. Auf dem Genossenschaftstage machte Herr Direktor Bartz (Berlin) den Vorschlag : die Mittel sollen bei den Beiträgen der Arbeiter durch das Kapitaldeckungs-

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verfahren und bei den Beiträgen der Arbeitgeber durch das Um- lageverfahren aufgebracht werden. Der Herr Antragsteller beruft sich hiebei auf die Begründung der Gesetzesvorlage, dass spätere Arbeiter sonst in ungerechtfertigter Weise belastet würden. Was nach diesem Prinzip die »späteren« Unternehmer treffen müsste, verschweigt er weise. Für den Arbeitgeber hingegen beansprucht er »dasselbe Recht, das das Reich für sich fordert.« Deutlicher kann man nicht sprechen. Wer in diesem Falle mit Kapitaldeckung belastet wird, der wird eben schwerer belastet, als wer nur die jährlich fälligen Renten aufzubringen hat und diese schwerere Belastung will das Reich den Arbeitern und Ar- beitgebern, Herr Bartz will sie den Arbeitern allein , überlassen und für die wohlhabenden Leute das »Recht« auf geringere Be- lastung in Anspruch nehmen. Warum? Angeblich weil die Ar- beiter nicht die Bürgschaft für die Zukunft geben, dass sie ihre schuldigen Beiträge aufbringen werden , die Arbeitgeber aber »eher dazu im Stande« sind. Auch werden dann nicht «kolos- sale Summen« dem Geldmarkt entzogen, sondern »nur dasjenige, was gerade notwendig ist.« »Wir wollen nicht nutzlos uns un- serer Kapitalien entschlagen.« Diese Weisheit drang aber nicht durch, sondern die Versammlung nahm den Antrag Kettner an: »Die Aufbringung der Mittel erfolgt in den ersten 5 oder 10 Jahren durch Erhebung von festen Prämien (etwa I Pfg. oder Vs Pfg. für den Arbeitstag), so dass nicht die volle Deckung, sondern nur eine Teildeckung erzielt wird. Nach Ablauf von 5 oder 10 Jahren hat das Gesetz zu bestimmen, ob eine höhere Prämie erhoben werden soll.«

Der Antragsteller spricht den Grundsatz aus: »dass man

Niemanden mehr entziehen soll als absolut notwendig ist , am allerwenigsten dem Arbeiter.«

Die Regierung meinte: dem Arbeiter und Arbeitgeber dürfe man schon mehr entziehen, nur nicht dem Steuerzahler, als ob jene Zwei keine Steuern zahlten ! Dass der Arbeiter dann später mehr zahlen muss als jetzt, gibt Herr Kommerzienrat Kettner zu, aber er frägt, wie die Regierung, in bezug auf das Reich : »Wes- halb ihm das gleich entziehen , wozu er später herangezogen werden soll und muss?«

Auch die Norddeutsche Allgemeine Zeitung vom 8. Dezember 1887 beruft sich auf die Grundsätze, welche die Denkschrift auf- stellt, um für den Reichsbeitrag das Umlageverfahren zu recht-

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fertigen und findet, dass diese Grundsätze ganz ebenso für die übrigen Beteiligten gelten. »Denn was für das Staatswesen in Anspruch genommen wird, muss nur noch höhere Geltung haben für die Nation.*

Resümieren wir: Die Regierung hat mit der projektierten Alters- und Invalidcnversorgung angeblich einen sozialpolitischen Zweck im Auge, cs soll Zufriedenheit unter den Arbeitern bewirkt werden (»Grundzüge etc.« S. 39) und die Massregel wurde früher in der That als »Krönung des Gebäudes« hingestellt. In der Wirklichkeit ist von einer Altersversorgung überhaupt nur zum Schein die Rede, bloss der kaiserlichen Botschaft von 1881 halber, und die Invalidenversorgung soll nichts weiteres sein oder ist wenigstens nichts weiteres als Armenpflege in Gestalt von Versicherung.

Durch diese neue Form der Armenpflege ist es ermöglicht, einerseits die Arbeiter zu Lasten heranzuziehen, die früher von den Besitzenden allein getragen wurden, andererseits die Unter- stützung in einer Form zu verteilen und auf eine Weise auszu- zahlcn, dass das Entehrende der früheren Armenpflege vermieden und die Freizügigkeit des Arbeiters, die im Interesse der Be- sitzenden liegt, gewahrt ist. Die Höhe der Unterstützung aber ist so normiert, dass der Arbeiter, der durch dieselbe alle An- sprüche auf weitere Versorgung aus öffentlichen Mitteln verliert, davon in den meisten Teilen Deutschlands nicht leben kann. Die vom Gesetzentwurf selbst ihm gemachte Zumutung, er solle als Invalide die billigsten Orte aufsuchen, ist im höchsten Grade inhuman und es wird in weiten Gebieten des Deutschen Reichs auch beim besten Willen unmöglich sein , derselben Folge zu geben. Der Arbeiter hat durch diese neue Armenpflege vielfach positiv eingebüsst, er bekommt weniger als früher, obwohl er jetzt die Last mit tragen muss. Indessen ist die Hoffnung berechtigt, dass, auch ohne Erhöhung der projektierten Beiträge, die Ren- ten reichlicher bemessen werden können, und dass im Laufe der Zeit eine Erhöhung der Beiträge sich als durchführbar erwei- sen wird.

Irgend ein Gefühl der Befriedigung kann durch das , was gegenwärtig durch die »Grundzüge« geboten wird , unter den Arbeitern kaum erzeugt werden und die unter ihnen verbreitete und wohl begründete Besorgnis, dass die projektirten (Juittungs-

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bücher sich praktisch als vollkommene Arbeitsbücher erweisen würden, muss in ihren Augen der ganzen Massregel einen arbeiter- feindlichen Charakter verleihen. Hoffentlich lässt sich dieser Klagegrund leicht beseitigen.

Dass die arbeitende Klasse in Deutschland gegen alles, was von oben kommt, misstrauisch ist, lässt sich leider nur zu leicht begreifen und die Aussichten auf eine Besserung der Verhält- nisse, auf Herstellung des sozialen Friedens sind, wenn wir den Schlussbemerkungen Brentano’s (a. a. O. S. 38 ff.) glauben dürfen, recht trübe. Er erklärt uns, dass die Regierung den Gedanken einer Alters- und Invalidenversicherung, welche den Ersatz der bisherigen Armenunterstützung überschreiten würde, in den Grund- zügen fallen gelassen hat, und dass nun vielleicht die meisten ge- neigt sein dürften, auf alle weitergehenden Postulate zu verzichten. Auch er würde einer solchen Beurteilung »unzweifelhaft* zustim- men, wenn es keine Sozialdemokratie gäbe.

Das heisst also m. a. W. : ohne Sozialdemokratie hätten die deutschen Arbeiter nichts weiter zu erwarten und müssten sich mit dieser armseligen Fürsorge für einige invalide Mitglieder ihrer Klasse, als dem Höchsten was überhaupt gewährt werden könne, für immer zufrieden geben.

Und dieser Sozialdemokratie, die also nach Obigem geradezu der einzige Hoffnungsanker der arbeitenden Klasse ist , sucht die Regierung, wie von Brentano einige Zeilen später zugestanden wird, mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln zu Leibe zu gehen, um sie wegen ihrer staats- und gesellschaftsfeindlichen Tendenzen zu zerstören. Das sei das vornehmste Ziel der deutschen Sozial- politik.

Wir glaubten bisher : heutzutage sei das Ziel jeder Sozial- politik hauptsächlich die Verbesserung der Lage der unteren Klassen, die besonders in Staaten mit allgemeinem Stimmrecht geradezu ein Gebot der konservativsten Interessen-Politik der Herrschenden sein muss.

Und nun heisst es: ohne Sozialdemokratie kein Fortschritt für die unteren Klassen, daher muss die Sozialpolitik, die diesen Fortschritt geradezu bezwecken muss, die Sozialdemokratie zerstören !

Sind die Sozialdemokraten wirklich staatsfeindlich ? ge- sellschaftsfeindlich ist doch wohl überhaupt kein geselliges Wesen, also auch kein Mensch, ausser Timon. Dass einige von

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Platter ,

ihnen bei verschiedenen Gelegenheiten über den Staat, das Recht, die Familie etc. dummes Zeug gesagt haben, ist gewiss. Aber welche Partei hätte nicht Mitglieder, die sich Abgeschmacktheiten zu Schulden kommen lassen? Dass sie das gegenwärtige Regime nicht lieben, ist allerdings nicht zu leugnen, aber das gegenwär- tige Regime bemüht sich auch wohl nicht um ihre Liebe. Aber ein Regime lieben und einen Staat lieben sind manchmal zwei verschiedene Dinge, besonders wenn inan nicht bloss von heute auf morgen denkt. Wer hat z. B. im Jahre 1776 Frankreich mehr geliebt: Turgot oder die Königin Marie Antoinette? Nun wir wollen die Sozialdemokraten nicht geradezu mit dem Reform- minister Louis XVI. vergleichen, aber ihre »Staatsfeindlichkeit« hält jedenfalls den Vergleich aus mit der der alten deutschen Liberalen, die jetzt vielfach in Amt und Würden sitzen.

Mag man aber darüber denken wie man will , Eines ist sicher: die ungeheure Masse der deutschen Arbeiter wird nie glauben, dass die Herrschenden ihr wohlwollend gestimmt seien, so lange diese jeden Versuch, ihre Wünsche öffentlich kund zu geben und ihre Interessen durch Vereinigung und Organisation zu fördern, auf eine möglichst feindselige Weise zu unterdrücken suchen. Der soziale Friede wird nicht allein von unten, er wird auch von oben gestört. Ist es nicht eine Störung des sozialen Friedens, wenn man den Arbeitern gesetzlich garantierte Rechte vorenthält, deren Ausübung polizeilich verhindert und be- straft? Der § 152 der deutschen Gewerbeordnung lautet: »Alle Verbote und Strafbestimmungen gegen Gewerbetreibende, ge- werbliche Gehilfen , Gesellen und Fabrikarbeiter wegen Verab- redungen und Vereinigungen zum Behufe der Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen, insbesondere mittelst Einstellung der Arbeit oder Entlassung der Arbeiter, werden aufgehoben.« Trotz dieser gesetzlichen Bestimmung besteht, wie Brentano (a. a. O. S. 43) hervorhebt, infolge der »zahllosen Erschwerungen der Vereine und Versammlungen, um vom Sozialistengesetz und sei- nen auffallenden Anwendungen gar nicht zu reden, die Koalitions- freiheit in Deutschland thatsächlich nicht.« Wer den andern auf die denkbar feindseligste Weise behandelt , kann der hoffen oder gar verlangen, dass der andere ihn liebe und von ihm Gutes erwarte oder für die von ihm aufgedrungenen Gaben dankbar sei ?

Das Gesetz sagt : Koalitionsfreiheit ; die Regierung sagt :

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Die geplante Alters- n. Invalidenversicherung im Deutschen Reich. 4 [

keine Koalitionsfreiheit. Es ist nun höchst bezeichnend für den Geist, der heutzutage in den oberen Klassen Deutschlands herrscht, dass Brentano hieraus einfach schliesst : an eine wirkliche Koa- litionsfreiheit ist also nicht zu denken, das »beweisen« die Aussprüche und Thaten der Leiter der deutschen Sozialpolitik. 1 )ie Logik ist einfach : wenn die Regierung dich an der Aus- übung eines gesetzlich dir zustehenden Rechtes hindert, so ist das ein Beweis dafür, dass an dieses Recht gar nicht zu denken ist. Ware noch ein Funken von Rechtsbewusstsein vorhanden, nicht ein blosses Knechtsbewusstsein, so würde die Logik zu dem Schlüsse führen : Ergo muss man die Regierung zu zwingen suchen, gesetzliche Rechte wirklich anzuerkennen.

Ist das vielleicht schon radikal? dann wehe uns! dann sind wir zu einer Schafherde geworden.

Unter solchen Umständen ist jede wirkliche Sozialreform von vornherein unmöglich. Brentano selbst gesteht offen, dass »die hauptsächlichsten Uebelstände, unter denen die Ar- beiter als solche leiden, durch das neue Gesetz ebensowenig wie durch die vorausgegangenen Versicherungsgesetze b e r üh rt, ja selbst die Uebelstände, welche sie auf dem Gebiete der Ar- beiterversicherung bedrücken, dadurch nicht beseitigt werden« (a. a. O. S. 40).

Und dennoch erwartet er, ohne dass im Sinn und Geist der Herrschenden irgend eine Veränderung vorzugehen brauchte (siehe die Bemerkung über die Koalitionsfreiheit) das Heil für die ar- beitenden Klassen immer wieder von oben !

Und was erwartet er von oben? Seine Hoffnung knüpft sich an die Berufsgenossenschaften , welche in der Fachzeitschrift »Stahl und Eisen« ein ungeheuerlicher Apparat genannt werden, mit dem man gründlich aufräumen müsse.

Er meint: diesen sog. Genossenschaften, die doch als reine Unternehmerverbände bloss für den Zweck der Unfallversicherung von Staatswegen gegründet wurden und heute schon vielfach als eine ziemlich plumpe und unzeitgemässe Erfindung betrachtet werden, müsse die Regelung der Arbeitsbedingungen und die Annahme und Entlassung der Arbeiter übertragen werden, dann hätte der Arbeiter endlich »ein Recht auf die vorhandene Arbeit etc.« Wir bemerken hiegegen nur : ein Recht auf die vorhandene Arbeit hatten die Arbeiter als Klasse nie nötig und werden es auch nie nötig haben ; denn die vorhandene Arbeit

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42 Platter, Die geplante Alters- u. Invalidenvers. im Deutschen Reich.

fiel ihnen immer ganz von selbst zu. Wenn heutzutage eine Fabrik ihre Arbeiter entlässt, so ist eben keine Arbeit »vorhan- den« nach dem Gesichtspunkt des Unternehmerinteresses. Und ein individuelles Recht auf vorhandene Arbeit kann auch die Be- rufsgenossenschaft nicht zu Stande bringen : d. h. wenn für 20 Arbeit vorhanden ist, kann sie nicht 100 anstellen. Dagegen stehen die immanenten Gesetze der Geldwirtschaft.

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DIE STATISTIK ÜBER ARBEITSLOSE IN ENGLAND

VON

Dr. j. m. baernreither.

Friedrich Harrison hat den Ausspruch gethan , jener Tag sei ein übel angebrachter, an dem man durch sein Nachdenken nicht zur Lösung des Problems beigetragen habe, wie die Lage der Armen verbessert werden könnte. Die Londoner Ereignisse dieses und des vergangenen Winters haben dem englischen Volk dieses Nachdenken sehr nahegelegt. Seit dem Tage als Feargus O'Connor, der Chartistenrührer, seine in Kennington-Common ge- sammelten Schaaren nach Westminster zu führen drohte und seit dem kleineren Anlass, den die Explosion in Clerkenwell im Jahre 1867 gab , hat die Hauptstadt Englands am Ende des vorigen Jahres nach langer Pause die altenglische Uebung des Einschwö- rens von ,spedal Constables zur Aufrechthaltung der öffentlichen Ordnung wieder auflebcn gesehen. Vieles hat sich seit 40 Jahren in England zu Gunsten der arbeitenden Klasse geändert und wir glauben nicht, dass die heutige Bewegung Gefahren in demselben Umfange in sich schliesst wie einst die Chartistenzeit , aber es haben sich doch in den letzten Jahren Umstände vereinigt, welche nicht nur die Gedanken jener erfüllen, die sich mit den öffent- lichen Angelegenheiten in England beschäftigen, sondern die Be- sorgnis und Beunruhigung in weite Kreise getragen haben.

Zunächst ist es der schlechte Geschäftsgang in vielen Zwei- gen der Industrie und des Handels , der eine grosse Zahl von Arbeitern brotlos gemacht hat. Die landwirtschaftliche Krise, die mit jedem Jahre hoffnungsloser wird, treibt wie man berech- net hat jährlich 50000 60000 Menschen vom Lande in die Städte. Dazu kommt eine fast ausschliesslich nach London ge- richtete steigende Einwanderung fremder, armer, ungebildeter, grossenteils demoralisierter Individuen, die um jeden Preis Erwerb

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Baernreither ,

suchen. Während der Bezirk Whitechapel im Ostende Londons 1880 eine Fremdenbevölkerung von ’/e der Gesamtbevölkerung besass, war sie 1886 auf ’/« gestiegen. In allen Teilen des Lan- des, wenn auch nicht in allen Industrien ist das Arbeitsangebot grösser als der Bedarf, in der Hauptstadt ist das Missverhältnis ein bedeutendes. Lebhaft, eingehend und ernst, wie in England alle gesellschaftlichen Probleme erörtert werden , hat sich die Diskussion dieses Gegenstandes bemächtigt und wir nehmen kein Zeitungsblatt in die Hand ohne auf die Rubrik jthe un- employed zu stossen. Eine Flut von positiven Daten , statisti- schen Angaben, Ratschlägen, Beschlüssen von Vereinen, Körper- schaften, Versammlungen und W’ohlthätigkeitsanstalten kommen zur Veröffentlichung, die uns hier nicht beschäftigen können, doch hat sich schon vor Monaten das Urteil dahin vereinigt, dass es vor Allem notwendig sei , Umfang und Ursache der Notlage, unter der gewisse Arbeiterkreise leiden , so genau als möglich festzustellen.

Soweit dies bereits geschehen ist , bieten die gewonnenen Resultate ein allgemeines Interesse, denn die Schwierigkeiten, die England zu bekämpfen hat, sind mit dem heutigen Industrie- und Produktionssystem so eng verknüpft , dass es nur eines Zusam- mentreffens von unglücklichen Umständen bedarf, um sie auch anderwärts entstehen zu sehen.

Wir wollen deswegen einige statistische Arbeiten besprechen, welche in den letzten Monaten als offizielle Parlamentspapiere er- schienen sind und die herrschende Arbeitslosigkeit zum Gegen- stände haben.

Wir beginnen mit einer Publikation , die zwar über dieses Thema weit hinausreicht, aber zugleich beweist, dass man sich wohl bewusst ist es nicht nur mit einer vereinzelten Frage zu thun zu haben, sondern mit einem Komplex von Fragen, die sich auf die schwierigsten Gebiete der Gesellschaftswissenschaft be- ziehen.

Im März 1886 fasste das Unterhaus eine Resolution , welche die Sammlung und Veröffentlichung eines genauen und umfassen- den statistischen Materials über Arbeiterverhältnisse verlangte. Im August desselben Jahres teilte das Handelsamt, in dessen Ressort diese Angelegenheit fällt , dem Parlamente ein von Ro- bert Gißen verfasstes Memoire mit, worin der Plan skizziert ist, nach dem die statistische Abteilung des Handelsamtcs den in

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Die Statistik über Arbeitslose in England. 45

der Resolution ausgedrückten Wunsch zur Ausführung zu bringen gedenkt. Darnach ist in Aussicht genommen:

1) die Sammlung und Sichtung des gesamten auf die Lohn- statistik bezüglichen Materials, welches sich seit 60 Jahren in den verschiedenen Parlamentsberichten (Blaubüchern) angesammclt hat unter gleichzeitiger Benützung der nichtoffiziellen Publika- tionen, um auf diese Weise ein möglichst vollständiges Bild der Lohnbewegung innerhalb dieses Zeitraums zu gewinnen

2) eine analoge Arbeit bezüglich der ausländischen Lohn- statistik, soweit dieselbe aus den Berichten der englischen Diplo- maten und Konsuln , sowie aus offiziellen und nicht offiziellen Veröffentlichungen der betreffenden Länder sich zusammenstellen lässt

3) eine Statistik der Ersparnisse sowie anderer Thatsachen, an denen die breiten Schichten des Volkes ein Interesse haben

4) für die Zukunft die zuverlässige und vollständige Erhebung der Lohnhöhe, der Arbeitszeit , der überschüssigen Arbeitskraft, der Arbeitslosen

5) eine Statistik der Preise, der Produktion, der Kosten des Lebensunterhaltes u. z. sowohl im Inland als auch im Ausland als Korrelat zu den Erhebungen über die Geldlöhne , um den thatsächlichen Wert des Lohnes berechnen zu können.

Ueberblickt man dieses weite Programm , so kann man mit Recht darauf gespannt sein, wieviel davon in den nächsten Jahren ausgeführt werden wird. Ein Anfang ist gemacht. Das Handels- amt errichtete ein Jabottr bureau‘ unter der Oberaufsicht des Vorstandes der statistischen Abteilung, R. Giffen. Um jedoch die statistischen Erhebungen nicht wie bisher nur durch die Handelskammern und die Unternehmer pflegen zu müssen, son- dern auch mit den Arbeiterkreisen in unmittelbare Fühlung zu treten, wurde der bisherige Sekretär des mächtigen und einfluss- reichen Gewerkvereins der vereinigten Maschinenbauer J. Burnett in dieser Abteilung als ,laboitr correspondenV bleibend angestellt. Diese Anstellung allein wirft auf Ziel und Tendenz der getroffenen Einleitungen hinlängliches Licht.

Zunächst wurden in Ausführung des vierten Programmpunktes die Erhebungen vorbereitet und zu diesem Zwecke 60000 Frage- bogen ausgesendet. Leider musste der Unterstaatssekretär des Handelsamtes über eine an ihn im Parlamente (Sommer 1887) gerichtete Anfrage erklären, dass nur 6000 von diesen Frage-

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liaernreith er ,

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bogen gehörig ausgefüllt zurückgelangt seien und er knüpfte daran die Bemerkung, dass es voraussichtlich notwendig werden würde, das Amt mit einer Zwangsgewalt bezüglich der Einforde- rung statistischer Daten auszustatten, wenn man den angestrebten Zweck wird erreichen wollen. Während man demnach in dieser Richtung über Vorbereitungen nicht hinausgekommen ist, hat die Anstellung Burnett's doch einige Früchte getragen , die ebenso interessant als bedeutsam sind. Derselbe hat zunächst eine sta- tistische Arbeit über 18 Trade- Unions (Gewerkvereine) geliefert, welche sich auf die Mitgliedzahl , Versicherungswesen , Einnah- men, Ausgaben, Lohn und Arbeitsverhältnisse dieser Verbände erstreckt, auf eine längere Reihe von Jahren (bei einzelnen Unions bis auf 36 Jahre) zurückgehend. In seinem einleitenden Bericht erklärt er mit einem für die bureaukratischen Verhältnisse Eng- lands charakteristischen Freimut: »Ich bitte mir zu gestatten, mit Rücksicht auf meine frühere Stellung , die ich in den Trade- Unions eingenommen habe, meine persönliche Meinung mit grosser Freiheit auszusprechen, mag dies mit der Amtsetiquette verein- barlich sein oder nicht. Es wäre aber für mich nicht passend meine persönlichen Sympatien gegenüber den Zielen der Trade- Unions zu verbergen oder in einer andern Weise zu schreiben als wie ein Repräsentant dieser Klasse.«

Dieser Bericht (Statistical tables and report ott Trade- Unions, C 5 104, 1887) wird von den sachverständigen Beurteilern als sorgfältig und kritisch zusammengestellt, sowie als umsichtig und überlegt verfasst bezeichnet und auch wir können aus eigener Erfahrung diese Meinung nur bestätigen. Die Times drückt (4. August 1887) das allgemeine Urteil über diese Arbeit richtig dahin aus : »dass ein solcher Beamte überhaupt in einem Regie- rungsbureau installiert wurde , ist allein schon ein Zeichen der Zeit ; dass aber ein Mann, der ein Arbeiter gewesen ist, imstande war eine solche Aufgabe zu lösen, ist ein glänzendes Zeugnis für die Fähigkeiten der höchsten Klasse unserer Arbeiter.«

Es liegt ausserhalb des Rahmens dieses Aufsatzes auf die verschiedenen statistischen Zusammenstellungen und Resultate dieses Berichtes einzugehen , was übrigens ohnehin nur möglich wäre in Verbindung mit einem genaueren Eingehen auf die Stel- lung, welche die englischen Gewerkvereine in der Arbeiterfrage heute einnehmen. Wir müssen uns darauf beschränken, aus den gebotenen Ziffern jene hervorzu heben , welche über die Arbeits-

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Die Statistik Hier Arbeitslose in England.

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losen unter den Mitgliedern der Trade- Unions sprechen. Doch auch bezüglich dieser Ziffern müssen wir eine allgemeine Bemer- kung vorausschicken. Dass sich die Untersuchungen nur auf 18 Gewerkvereine erstrecken, ist zwar im Berichte nirgends erklärt, jedoch keineswegs zufällig. Die Absicht war auf eine viel um- fassendere Darstellung gerichtet. Manche Gewerkvereinc wider- strebten der offiziellen Aufforderung aus jener eigentümlichen Abneigung gegen jede behördliche Ingerenz , die wir bei eng- lischen Arbeiterverbänden so häufig finden. Wichtiger ist aber für die Beurteilung der Ziffern , die wir mitteilen wollen , dass eine Zahl Gewerkvereine und darunter mächtige und weitver- zweigte Verbände es unter den heutigen Umständen, welche auf ihre Verhältnisse sehr ungünstig einwirken, nicht für geraten fan- den, ihr statistisches Material für die Veröffentlichung zur Verfügung zu stellen. Wir müssen uns daher von vornherein bewusst sein, dass wir es in dem erwähnten Farlamentsbericht nicht nur mit jenen Verbänden zu thun haben, welche überhaupt die Elite der englischen Arbeiter ausmachen , sondern aus dieser Elite mit jenen Vereinen, welche in den heutigen ungünstigen Zeiten der englischen Industrie verhältnismässig noch weniger gelitten haben.

Unter dieser allgemeinen Einschränkung wollen wir nun auf die Betrachtung der Ziffern übergehen.

Die nachstehende Tabelle, die wir aus dem Bericht für sieben Gewerkvereine zusammengestellt haben , gibt uns für jeden Ver- ein und jedes Jahr seit 1866 jenen Prozentsatz der Mitglieder an, welche während des Jahres im Bezug der Unterstützung für Ar- beitslose gestanden sind. (Tabelle s. S. 6.)

Diese Ziffern sind der Reflex der Fluktuationen, welche die englische Industrie in den letzten zwanzig Jahren durchgemacht hat. Das Lustrum , welches mit dem Jahre 1866 beginnt , war eine Zeit der Depression in vielen Zweigen der Produktion und die Prozentsätze der Arbeitslosen drücken dies aus. Die Jahre 1871 1874 waren die Zeit eines riesigen Aufschwunges und cs erklärt sich daraus der niedrige Stand der industriellen »Reserve- armee*. Vom Jahre 1875 angefangen verschlechtern sich die Ver- hältnisse wieder und erreichen im Jahre 1879 einen sehr ungün- stigen Stand, der sich in durchaus hohen Ziffern der Arbeitslosen ausdrückt. Die Jahre 1880 1883 weisen abermals eine Besserung auf, die seither wieder schwindet, so dass das Jahr 1886 die un- günstigen Ziffern von 1879 noch übertrifft.

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Im einzelnen fallt vor allem auf, dass die Londoner Setzer einen konstant hohen Stand von Arbeitslosen aufweisen, der seit 20 Jahren nur in wenigen Jahren unter io°/o der Mitgliederzahl sinkt. Der Erklärungsgrund liegt darin, dass zu dieser Beschäf- tigung seit langer Zeit ein übermässiger Andrang herrscht ; die seit 1884 andauernde schwere Krise im Schiffbauwesen ist die Ursache , dass im Gewerkverein der Kesselschmiede und Schiff- bauer [ dotier makers and iron ship-builders) seit jenem Jahre eine grosse Zahl der Mitglieder ausser Arbeit gesetzt sind.

Wir wollen nun eine zweite Tabelle mitteilen, welche dieselbe Frage von einer andern Seite beleuchtet. Die folgende Zusam- menstellung zeigt die Opfer, welche die Gewerkvereine bringen, die Not unter ihren arbeitslosen Mitgliedern zu lindern.

Es mag hier die auch fiir die vorangegangene Zusammen- stellung gültige Bemerkung gemacht werden, dass die Arbeitsein- stellungen welche ebenfalls Beitragsleistungen von Seite der Ge-

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Die Statistik über Arbeitslose in England. 40

werkvereinc für die strikenden Mitglieder verursachen, die Durch- schnittsziffern denn doch nur in geringem Masse beeinflussen und dass die folgende Zusammenstellung wie die vorhergegangene im grossen ganzen der richtige Ausdruck dafür sind , in welchem Masse die Mitglieder der betreffenden Trade- Union wegen der Gunst oder Ungunst der l’roduktions- und Handelsverhältnisse Beschäftigung gefunden haben oder nicht.

Die nachfolgende Tabelle erstreckt sich auf dieselben Ge- werkvereine und denselben Zeitraum. Sie enthält die Beiträge, welche jedes Mitglied des betreffenden Gewerkvereins für seine arbeitslosen Genossen in dem betreffenden Jahre eingezahlt hat.

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Auch in diesen Ziffern spiegelt sich die Aufeinanderfolge der günstigen und ungünstigen Arbeitsverhältnissc. Es wird zum Ver-

Archiv für sor. Gesctzgbg u. Statistik. I. 4

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So

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ständnis dieser Zusammenstellung beitragen, wenn wir einige An- gaben über die Art und Weise machen, wie diese Unterstützungen statutenmässig festgesetzt sind und gehandhabt werden.

Nicht alle Trade- Unions gewahren ihren arbeitslosen Mit- gliedern eine Unterstützung ; es begreift sich, dass nur die gros- sem weitverzweigten Verbände eine derartige Last auf sich zu nehmen imstande sind. Die Höhe der geleisteten Unterstützungen ist verschieden. In der Kegel wird in den ersten Wochen der Arbeitslosigkeit ein höherer Betrag gezahlt, der mit der Zeit ab- nimmt und nach Ablauf einer gewissen Zeit gewöhnlich ganz ein- gestellt wird. So zahlen die Maschinenbauer in den ersten 14 Wochen IO sh per Woche , in den darauffolgenden 30 Wochen 7 sh und weiter noch durch 60 Wochen 6 sh, länger nur in Aus- nahmsfällen. Keine der übrigen Trade-Unions erreicht diese Sätze. Die Tischler und Zimmerleute zahlen durch 12 Wochen 10 sh per Woche, durch w'eitere 12 Wochen 6 sh; das Mitglied muss dann mindestens wieder durch 4 Wochen in Arbeit gestanden sein, um neuerlich bezugsberechtigt zu werden. Die Eisengiesser unter- stützen nur dann ein arbeitsloses Mitglied, wenn es sich ausweisen kann, als solches mindestens schon 2 Jahre in regelmässiger Ar- beit gestanden zu sein; sie zahlen dann durch 13 Wochen 9 sh per Woche, durch die nächsten 13 Wochen 8 sh, durch 26 Wo- chen 6 sh, dann nur mehr 1 sh per Woche. Die Kesselschmiede und Schiffbauer zahlen durch 14 Wochen 7 sh per Woche, dann nur 3 sh , die Dampfmaschinenarbeiter durch 12 Wochen 10 sh per Woche, durch die folgenden 14 Wochen 5 sh.

Natürlich unterliegt die Bewilligung und der Fortbezug der Unterstützung einer genauen Prüfung des Falles von Seite des Vereins. Es wird nicht nur die Ursache der Arbeitslosigkeit strenge untersucht , sondern der Gewerkverein überwacht die unterstützten Mitglieder unausgesetzt. Jedes derselben hat , in der Regel täglich, seinen Namen in das ,vacant book‘ einzutragen, sämtliche arbeitslose Mitglieder der Zweigvereine werden in ge- nauer Evidenz gehalten und durch Veröffentlichung zur Kennt- nis sämtlicher Mitglieder gebracht. Findet der Verein für ein arbeitsloses Mitglied an einem andern Orte eine passende Be- schäftigung und zahlt die Eisenbahnfahrt dahin , so ist der Be- treffende verpflichtet, die Arbeit dort zu übernehmen. Die Ucber- wachung der unterstützten Mitglieder geht daher mit den Ver- suchen parallel für dieselben Arbeit zu finden. »Die Unter-

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Die Statistik Uder Arbeitslast in England. 5 t

Stützung der Arbeitslosen* , sagt Burnett in seinem Berichte, »ist nicht nur ein bestimmter und spezieller Vorteil , den die Mit- glieder dieser Verbände gemessen und ein Vorteil für die Ge- samtheit, indem eine Hülfe gewährt wird , die sonst der Staat oder ein lokaler Körper gewähren musste, sondern sie wirkt auch als ein Mittel für die Arbeitslosen Arbeit zu finden. Die grosse finan- zielle Last, welche durch diese Art der Unterstützung den Ver- bänden auferlegt wird, macht sie für jedes Mitglied zu einer sehr wichtigen Sache. Wenn man also auch von genossenschaftlichen Gefühlen ganz absieht, so liegt es schon im Interesse jedes Mit- glieds, das in Arbeit steht, für seinen weniger glücklichen Bruder ein Unterkommen zu finden.«

Die Gesamtsummen, welche einzelne Trade- Unions auf diese Weise autbringen sind daher beträchtlich. Um einen Begriff davon zu geben, wie hoch sich diese Gesamtsummen belaufen, ergänzen wir die beiden vorangegangenen Tabellen durch eine dritte, welche die Mitgliedzahl der sieben beobachteten 'Trade- Unions gibt.

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3819

8 994

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1590

187 1

37 79°

9764

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10 019

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1872

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1877

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1878

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1884

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12 415

28730

6175

2653

1885

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25 781

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12 376

28 212

6435

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1886

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24 979

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12 037

26 776

6585

209I

4*

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Baern reithtr.

Bringen wir diese Ziffern in Verbindung mit den jährlichen Beitragsleistungen jedes einzelnen Mitgliedes, wie es die vorher- gehende Tabelle ausweist, so ergibt sich u. A. für das Jahr 1886, dass die Maschinenbauer im ganzen über 83 000 £, die Tischler und Zimmerleute an 40000^, die Dampfmaschinenbauer über 5700 £, die Eisengiesser über 20000 £, die Kesselschmiede und Schiffbauer 37000 £ für ihre arbeitslosen Mitglieder aufgebracht haben.

Wir brauchen unsere Leser nicht darauf aufmerksam zu ma- chen, dass es sich in den vorstehenden statistischen Untersuch- ungen um die höchsten Schichten der englischen Arbeiter han- delt. Seit fast einem halben Jahrhundert schreiten die Verbände, von denen. wir bisher sprachen, in ihrer Konsolidierung fort, sie haben rechtlich , politisch , sowie gegenüber den Unternehmern eine gefestigte Stellung und ihre finanziellen Kräfte sind bedeu- tend. Die »Arbeitslosenc dieser Verbände sind nicht Besucher sozialistischer Versammlungen, sie gehören nicht jenen an, die sich am Trafalgar Square der Polizei gewaltthätig entgegenstellen, sie sind trotz allem Missgeschick heute noch selbstvertrauend und Aufreizungen unzugänglich. Gerade deswegen sind aber die Ziffern, die wir zusammengestellt haben, bedeutsam ; denn wenn die Ungunst der Zeit und die Mängel unserer heutigen Produk- tionsweise schon auf diese Verbände so tief einwirken, wie muss es mit der Lage der zusammenhangsloseren, schlechterentlohnten, ungebildeteren und daher hilflosem Arbeiterschichten bestellt sein ?

Leider gibt uns die Statistik über diese Frage keine genügende Antwort. Sollte es dem Jabour bureau des Handelsamtes gelingen, das aufgestellte Programm durchzuführen, können wir in der Zu- kunft über Umfang und Wirkung der Arbeitslosigkeit allerdings wichtige Aufschlüsse erwarten , heute müsste man statistisches Material über die ausserhalb der Arbeiterverbände befindlichen Schichten aus einer Unzahl zersplitterter Publikationen sammeln, was ein Werk für sich wäre und doch nur unvollständig gelingen würde.

Im Rahmen unseres Aufsatzes wollen wir uns darauf be- schränken über ein offizielles Blaubuch etwas eingehender zu sprechen , das in jüngster Zeit über Auftrag des Local Govern- ment Board verfasst und dem Parlamente vorgelegt wurde. Die Anregung zu dieser Arbeit ist wohl auf eine Versammlung zurück-

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Zufuhren, die anfangs des Jahres 1887 bei Lord Cowper statt- fand, an der Mitglieder beider Häuser des Parlaments ohne Unter- schied der politischen Parteistellung, Bischöfe, Geistliche und eine grosse Zahl von Repräsentanten der Trade- Unions teilnahmen und die einberufen worden war, um über die Lage der Arbeits- losen zu beraten. Die Mitglieder der Gcw'erkvereine schilderten den Einfluss der Krisis auf die Arbeitsverhältnisse als tiefgehend, der Bischof von Bedford sagte , er sei mit den Sozialdemo- kraten darin einverstanden , dass der heutige Zustand unhaltbar sei , wenn er auch die von ihnen vorgeschlagenen Mittel nicht billigen könne , und Lord Compton gab der in der Versamm- lung herrschenden Meinung den stärksten Ausdruck, indem er erklärte , dass der Zustand der Arbeitslosigkeit, die jetzt schon so lange herrsche, die Leute zur Verzweiflung treibe und zu sy- stematischen Racheakten führen könne ; er sprach die Ueber- zeugung aus, dass in London eine Leidenschaft glimme, die durch einen Funken in helle Flammen ausschlagen könne und dass man Massregeln ergreifen müsse, um einen Ausbruch zu verhindern. Schliesslich wurde eine Resolution angenommen, welche die Regierung dringend zur Mitwirkung aufforderte , um den Umfang, Charakter und die Ursachen der in London herr- schenden Not in einer verlässlichen Weise untersuchen, und dien- liche Mittel zu ihrer Behandlung ausfindig machen zu können.

Leider fand sich die Regierung, wiewohl sie im Parlamente nachdrücklich erinnert wurde, nur sehr unvollkommen mit dieser Aufforderung ab, indem sie sich darauf beschränkte, einige Daten über die Lage der arbeitenden Klassen in gewissen Arbeiter- quartieren Londons sammeln zu lassen, welche nur ein beschränk- tes Resultat zu Tage förderten. Dieselben sind in einem Blau- buch verarbeitet, welches den Titel fiihrt : Tabulation of the State- ments made by men living in certain selectcd districts of London in March 1887 (C 5228).

Die Erhebungen wurden mittelst eines Fragebogens einge- leitet, der bestimmt war, die sozialen Verhältnisse der Unter- suchten fcstzustellen und sich auf folgende Umstände erstreckte : Name, Geburt, Beschäftigung, Alter, ob verheiratet oder ledig, wie lange schon in London , mit wem im Haushalte zusammen lebend, Wohnungsräume und ihr Mietpreis, Gesundheit, Einkom- men , Arbeitslosigkeit , Unterstützungen seitens des Kirchspiels, freier Vereine oder mildthätiger Anstalten. Alle diese Vcrhält-

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Racrn reither ,

nisse sollten für März 1887 und ausserdem festgestellt werden, wie lange der Betreffende im verflossenen Halbjahr , also von Oktober 1886 bis März 1887 arbeitslos war. Zur Untersuchung wurden vier Distrikte Londons aufgesucht , welche als typisch angenommen wurden , nämlich im Osten der Bezirk St. George in the East, im Westen Teile von Battersea, im Norden Teile von Hackney, im Süden Teile von Deptford. Eine grosse Zahl von ,collectors‘ wurde damit betraut , mit dem Fragebogen von Haus zu Haus zu gehen. Jeder erhielt eine Strasse zugewiesen und die Instruktion, jeden Wohnraum, der Arbeitern zum Auf- enthalte dient, zu besuchen, um von den Insassen die Beantwor- tung der Fragen zp erlangen. Irgend eine Zwangsgewalt stand nicht zu Gebote. Auf diese Weise wurden 31635 Fragebogen gesammelt, wovon 2 184 als unbrauchbar ausser Betracht gestellt und die übrigbleibenden 29 451 statistisch verarbeitet wurden. Sie beziehen sich einschliesslich der Frauen und Kinder auf eine Arbeiterbevölkerung von 125 313 Individuen. Es wurden 35 Grup- pen gebildet , nach den Beschäftigungen der Befragten geordnet und die erhobenen Thatsachen für diese Beschäftigungsgruppen nach gewissen Gesichtspunkten verarbeitet.

Bevor wir auf die Resultate dieser Enquete eingehen, müssen wir ein Wort über ihre Zuverlässigkeit sagen. Die Thatsachen, nach denen gefragt wurde , wurden aufgenommen , wie sie von den Befragten mitgeteilt wurden, bieten also kein kritisch über- prüftes und gesichtetes Material. »Man kann kaum erwarten,« sagt der Bericht, »dass Arbeiter, mehr oder weniger in schlech- ten Verhältnissen lebend, und oft sogar von harter Not bedrückt, so weit über jede menschliche Schwäche erhaben wären, als dass sie nicht, befragt um ihre Hilfsquellen und Ausgaben, der Ver- suchung unterliegen sollten , die ersteren zu unter- und die letz- teren zu überschätzen und zwar im Glauben , dass je trauriger das Bild ihrer Lage ausfällt, desto wahrscheinlicher eine Hilfs- aktion zu ihren Gunsten eingeleitet wird. Dass solche Gedanken nicht ohne erheblichen Einfluss auf die gegebenen Antworten ge- wesen sind, wird sich wohl jedem aufdrängen, der diese Zusam- menstellungen mit einiger Sorgfalt durchstudiert .... Andrer- seits darf man nicht allzu voreilig urteilen , als seien alle sicht- lichen Ungereimtheiten in diesen Zusammenstellungen Beweis und Folge absichtlicher Entstellung der Thatsachen. Man muss be- denken, dass die meisten, welche die Antworten abgaben und

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bis zu einem gewissen Grad selbst jene, welche die Frage stellten, Leute von sehr unvollkommener Erziehung waren , und einige offenbare Widersprüche können ohne weiteres dem Umstande zugeschrieben werden, dass die richtige Absicht der Frage nicht verstanden wurde.«

Diese Umstände veranlassen denn auch den Verfasser des einbegleitenden Berichts William Ogle zu der Schlussbemer- kung, dass er den statistischen Wert der Arbeit gering anschlage. Auch wir können kein anderes Urteil fallen, erblicken aber einen gewissen Wert dieses ersten Anfangs darin, dass man wenn auch erst in unvollkommener Form endlich begonnen hat, nach der Methode individueller Erhebung die sozialen Verhältnisse der durch Arbeit , aber auch durch Not und Zufall zusammengewür- felten Bevölkerung einer grossen Stadt zu untersuchen. Es lässt dies hoffen , dass dieser Versuch nicht nur in England in voll- kommener Weise fortgesetzt , sondern anderwärts auch nachge- ahmt werden wird.

Wir wollen nun die Ziffern selbst betrachten, welche diese Enquete zu Tage gefördert hat. Bei gewissen Angaben ein- facher Natur bestand weder die Gefahr , dass die Frage miss- verstanden wurde , noch dass der Befragte irgend einen Grund gehabt hätte, andere als die richtigen Angaben zu machen. Da- hin gehört u. a. die Frage nach dem Geburtsort, sowie nach der Zeit , die der Betreffende bereits in London wohnt. In ersterer Hinsicht ergab sich alle folgenden Prozentsätze , die wir an- geben, sind immer auf die Gesamtzahl der untersuchten, selb- ständigen Arbeiter zu beziehen dass 95 °/o im vereinigten Kö- nigreich geboren und nur 5 °/o Ausländer waren, so dass die be- züglich des Ostens von London beobachtete Thatsache, als werde die einheimische Arbeit von der ausländischen verdrängt, keine allgemeine Giltigkeit zu haben scheint. Nur unter Zuckerbäckern und Schneidern sind mehr Ausländer als Inländer, nämlich 63 °/o beziehungsweise 58%. Bezüglich der Anwesenheit in London ergab sich, dass 97°/o schon länger als ein Jahr daselbst wohnen, 9ic/o sogar im selben Bezirk, eine Thatsache, die geeignet ist, auf die Annahme , als sei die Arbeiterbevölkerung dieser Lon- doner Distrikte wenig sesshaft modifizierend einzuwirken.

Sehr wichtig wäre es , wenn den Resultaten bezüglich der Arbeitslosigkeit volle Richtigkeit beigemessen werden könnte. Dies ist natürlich aus den oben angegebenen Gründen nicht der

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B a er n reither ,

Fall, aber wenn die Angaben auch von der Wahrheit abweichen, so muss man doch annehmen, dass diese Abweichungen in allen 35 Beschäftigungsgruppen wohl in gleichem Masse Vorkommen, dass wir es also mit einem gleichmässig wirkenden Beobachtungs- fehler zu thun haben, der es zulässt, dass bei einer Vergleichung dieser 35 Gruppen Resultate erhältlich sind , die wenigstens ein richtiges Verhältnis zu einander aufweisen.

Unter dieser Voraussetzung haben wir aus dem Blaubuch eine Zusammenstellung der verschiedenen Beschäftigungsgruppen gemacht und nach der Höhe des Prozentsatzes geordnet welche jede Gruppe an Arbeitslosen , nach den Angaben zur Zeit der gemachten Erhebung (März 1887) aufweist. Darnach waren arbeitslos :

bis 5°/o Eisenbahnkondukteure, Postboten, Briefsortierer.

5 10% Zuckerbäcker, Polizeileute, Eisenbahnbedienstete, Auf- seher.

10 15 °/o Handlungsgehilfen, Uhrmacher, Drucker, Wagner, Lo- komotivführer.

15 20°/o Kutscher, Auflader, Ladendiener, Schuster, Mechaniker, Maler, Glaser, Kunsttischler.

20 25°/o Dienstboten, Schneider, Schmiede, Kürschner.

25 30% Bäcker, Fleischer, Tischler und Zimmerleute, Küfer, Cigarrenarbeiter, Hausierer,

30—35% Matrosen und Bootsleute.

35 40% Maurer, gewöhnliche Tagarbeiter.

45— 50°/o

5 o 5 5 °/o Dockarbeiter.

Im Verlaufe des den Erhebungen vorangegangenen Halbjahrs waren von denselben Individuen arbeitslos : bis 10% Eisenbahnkonduktcure , Eisenbahnbedienstete , Post- boten, Briefsortierer, Polizeilcute. io 20 % Zuckerbäcker.

20—30% Handlungsgehilfen, Ladendiener, Drucker, Lokomotiv- führer, Aufseher.

30 40% Kutscher, Auflader, Dienstboten, Uhrmacher, Mecha- niker, Wagner.

40—50% Bäcker, Fleischer, Schmiede, Küfer, Kürschner.

50 60% Tischler und Zimmerleute, Cigarrenarbeiter, Matrosen und Bootsleute, Hausierer.

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Die Statistik über Arbeitslose in England. 57

60— 70°/o Schneider, Schuster, Schiffsbauer, Kunsttischler, ge- wöhnliche Tagarbeiter.

70 80% Maurer, Maler, Glaser.

80— 90°/o Dockarbeiter.

Bei der Betrachtung dieser Tabelle fallt sofort auf, dass, mag man den oben angegebenen Beobachtungsfehlcr auch hoch an- schlagen , bei diesen Beschäftigungsgruppen die Arbeitslosigkeit doch gewiss einen viel höheren Grad erreicht , als bei den Mit- gliedern der Trade- Unions. Wir haben es hier mit einer bunt zusammengewürfelten Bevölkerung zu thun, ein Gemisch von ge- lernten Arbeitern und Tagarbeitern , von solchen , die aus ver- schuldeter oder unverschuldeter Not aus besseren Verhältnissen herabgesunken sind , aus solchen , die sich bisher aus einem Leben , das rein vom Zufall abhängt , nicht erhoben haben, aus solchen, welche bis an die Grenze des Verbrechens ge- drängt wurden und solchen , welche diese Grenze vielleicht schon überschritten haben. Wir dürfen also vor allem nicht ver- gessen, dass während wir es bei den Trade- Unions gewiss fast ausschliesslich mit unverschuldeter Arbeitslosigkeit zu thun hatten, hier alle Ursachen einer schwachen Willenskraft, schlechten Um- gangs, verdorbene Sitten, Trunksucht und Verkommenheit mit- wirken und die angegebenen Prozentsätze in einer Höhe beein- flussen , welche zu beurteilen uns die gemachten Erhebungen allerdings in keiner Weise gestatten. Erst wenn künftige stati- stische Untersuchungen auch diese Umstände zu untersuchen und festzustellen versuchen werden, wird sich das Bild, welches man zu gewinnen trachtet, vervollständigen.

Einiges lässt sich aber immerhin aus den beiden zuletzt mit- geteilten Tabellen herauslesen. Relativ am wenigsten leiden unter Arbeitslosigkeit jene Gruppen, deren Verwendung eine grössere Vertrauenswürdigkeit voraussetzt , also Eisenbahnkondukteure, Postboten, Polizeileute, Briefsortierer u. s. w. Am meisten leiden die ungelernten Arbeiter, welche im Bericht als gewöhnliche Tag- arbeiter klassiffiziert sind, Maurer und Dockarbeiter. Der grossen Depression im Schiffbauwesen, von der wir oben sahen, dass sie auch die Trade- Union der Kesselschmiede und Schiffsbauer so stark berührt hat, ist es zuzuschreiben, dass auch hier die Schiff- bauer unter jenen Vorkommen, die von der Arbeitslosigkeit am meisten leiden. Von den Dockarbeitern braucht wohl nicht ge- sagt zu werden, dass sie den Typus der Arbeitslosen in London

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B aer nreithcr,

ausmachen. An den Thoren der grossen Docks im Ostende von London werden aus einer Schaar bis zum äussersten Mangel ge- triebener Individuen am frühen Morgen die gerade für den Tag notwendige Zahl von Arbeitern durch die Dockbeamten ausge- sucht. So horrend hoch die Prozentsätze in den beiden Tabellen bezüglich dieser Gruppe angegeben sind , scheinen mir gerade diese Ziffern keineswegs gegen die Wahrscheinlichkeit zu streiten.

Wir wollen endlich noch einige Ziffern angeben, die der Be- richt bezüglich des Einkommens und der Wohnungsmiete ent- hält. Einerseits muss man im Auge behalten , dass die letztere vielfach zu hoch, ersteres zu niedrig angegeben worden sein mag, andererseits aber auch in Rechnung ziehen, dass das Einkommen eben kein regelmässiges ist und einem Wochen verdienst manchmal mehrere Wochen Arbeitslosigkeit entgegensteht.

Als allgemeiner Durchschnitt des Wochenlohns für alle 35 Gruppen ergibt sich der Betrag von 24 sh 7 d , der Wochen- miethe von 6 sh 2 d. Natürlich variieren die Ziffern zwischen den einzelnen Gruppen sehr beträchtlich. Die Wochenmiete bil- det überall zwischen 0.2 und 0.3 des Wochenverdienstes. Die nachstehende Tabelle zeigt, wie sich die Wochenlöhne der ein- zelnen Gruppen für jene Mitglieder derselben stellen, die beschäf- tigt sind.

Ueber 30 sh Mechaniker , Maurer , Tischler und Zimmerleute, Wochenlohn Schiffbauer, Wagner.

zwischen Drucker, Schmiede, Handlungsgehilfen, Polizeileute,

28 30 sh Aufseher, Lokomotivführer, Maler, Glaser, Uhr-

macher.

25 28 sh Küfer, Ladendiener, Bäcker, Fleischer, Eisenbahn-

bedienstete , Matrosen und Bootsleute , Postbe- dienstete.

20— 25 sh Kunsttischler, Kürschner, Kutscher, Dienstboten, Zuckerbäcker, Schuster, Cigarrenarbeiter, Schneider, Taglöhner.

20 15 sh Hausierer, Dockarbeiter.

Gerade die Frage nach dem Einkommen zeigt , wie unvoll- kommen der statistische Versuch ist, über den wir unsern Le- sern berichten. Vor allem müsste für einen längern Zeitabschnitt konstatiert werden, in welchem Verhältnis die Arbeits- also Ver- diensttage zu den arbeitslosen Tagen stehen , ferner müssten ge- naue Daten darüber vorliegen, was für andere Einnahmen (Kirch-

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spieluntcrstützungcn, Unterstützungen von Seite freier Vereine, öffentliche Mildthätigkeit, Arbeitsverdienst der Frauen und Kinder) diesen verschiedenen Gruppen noch zufliessen. In ersterer Hin. sicht ist in der uns vorliegenden Arbeit nicht einmal der Anfang gemacht ; was die den Arbeitslohn ergänzenden Einnahmen be- trifft, sind zwar Erhebungen gepflogen worden, doch sind die- selben so unzuverlässig, dass der Bericht die betreffenden Daten mit Recht für wertlos erklärt und wir aus demselben Grund davon absehen, näher darauf einzugehen.

Die Resultate der Untersuchung , von der wir in den vor- stehenden Zeilen eine kurze Analyse gegeben haben , konnten nicht befriedigen, am wenigsten jenen Kreis von Männern, welche die oben erwähnte Versammlung in der Absicht abgehalten hatten, praktisch verwertbares Material ans Tageslicht zu fördern. Eine neuerliche, Ende des Jahres 1887 stattgefundene Konferenz der- selben Männer , bei der auch Kardinal Manning , der an der früheren Versammlung teilzunehmen nur zufällig verhindert war, anwesend war, konstatierte nicht nur die Fortdauer, sondern eine Steigerung der Arbeitslosigkeit. Der Vorsitzende Lord Hcrschel, der im Kabinet Gladstone’s Lord Kanzler gewesen ist , musste trotz der Mässigung , die er sich in seinem Urteile auferlegte, aussprechen, dass wenn auch absolut genommen, in der Gegen- wart mehr Personen Arbeit finden , als vor einigen Jahren , die Gelegenheit sein Brot zu verdienen mit dem Anwachsen der arbeitenden Klasse nicht Schritt gehalten habe , und dass des- wegen heute mehr Menschen , die willig wären eine Arbeit zu übernehmen, brotlos seien als je; Kardinal Manning sprach die Meinung aus , dass wenn die von der Regierung veranstalteten Erhebungen auch unvollkommen seien, durch dieselben doch der grosse Umfang der Arbeitslosigkeit erwiesen sei und er teilte u. a. die Beobachtung mit, dass zu keiner Zeit die Sammlung laufen- der Beiträge zu Zwecken der Hilfskassen grossem Schwierigkeiten begegnet habe als jetzt. Die verschiedenen Sprecher gingen wohl in dem, was sie als Mittel gegen den herrschenden Zustand für möglich und empfehlenswert hielten, weit auseinander, nicht aber in der Beurteilung dieses Zustandes selbst.

An dem Blaubuch der Regierung wurde eine strenge Kritik geübt. Es wurde nicht nur gerügt , dass die Erhebungen ohne die notwendige Kontrolle angenommen worden seien , sondern

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B aernrcithcr ,

dass sie auch extensiv viel umfassender hätten sein müssen, um ein treues Bild der arbeitslosen Klasse zu gewähren.

Uns interessieren die weitern Phasen dieser Aktion, über die wir hier einiges nur deswegen eingeflochten haben, um zu zeigen, wie in England bei jeder Gelegenheit das soziale Bewusstsein in allen Schichten der Bevölkerung erwacht und politische wie religiöse Gegner zusammenführt , nicht weiter. Wir möchten aber zur Kritik des Blaubuchs noch eine Bemerkung machen. Sollen derlei Erhebungen einen praktischen Nutzen haben , so müssen die thatsächlichen Zustände noch viel eingehender ge- prüft werden. Hier genügen nicht nur , auch noch so kor- rekte Zahlen , denn auch Zahlen sind nur der Ausdruck le- bendiger Verhältnisse, die bis in Verzweigungen blossgelegt wer- den müssen , die sich in Tabellen nicht mehr darstellen lassen. Statt diese unsere Ansicht in allgemeinen Worten auszuführen, gehen wir an die Besprechung der dritten offiziellen Publika- tion , mit der wir den Leser bekannt machen möchten , weil in dieser Arbeit , wenigstens für einen kleinen Kreis von Arbei- tern des Ostendes von London die Arbeitsverhältnisse in einer Weise untersucht und dargcstellt sind, wie es als Muster für an- dere Teile derselben Aufgabe dienen kann.

Wir verdanken diese Untersuchung ebenfalls dem neueinge- richteten Labour bureau des Handelsamtes, beziehungsweise dem Labour correspondent desselben , John Burnett. Sie erstreckt sich auf das Schneidergewerbe, wie es im Ostende Londons unter dem sog. ,sweating System' beschrieben wird. ( Report to the Board of Trade on the sweating System at the East End of London by the Labour correspondent of the Board, 331). Die schreienden Missstände dieses »Systemsc sind nicht nur seit langem bekannt, sondern bildeten bereits oft den Gegenstand von Erörterungen, jedoch ist der Bericht deswegen von neuem Interesse , weil er die heutige Phase der Sache eingehend schildert, die ganze Unter- suchung unter Berücksichtigung der gerade jetzt herrschenden ungünstigen Arbeitsverhältnisse angestellt ist und ebenso gewissen- haft als vorurteilsfrei vorgenommen wurde.

Wir wollen diesen Bericht so viel als möglich selbst spre- chend anführen.

Schon vor fünfzig Jahren war es im Schneidergewerbe Ue- bung, den Arbeitern die zu verfertigenden Stücke nach Hause zu geben und nach Stück zu entlohnen. Der betreffende Arbeiter

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war aber immer noch ein gelernter Schneider, der nebenbei viel- leicht auch unmittelbar Kunden befriedigte. Das Anwachsen der Bevölkerung, die Verbilligung der Stoffe, die Einführung von Ma- schinen, insbesonders aber die Entwicklung des Kleidercxports im Grossen hat dieses Verhältnis geändert, indem überall wenn man die Geschäfte für die feinsten Kleidergattungen ausnimmt Mittelsmänner, contractors , aufkamen, welche die Arbeit von den grossen Kleidcrexportcuren oder Händlern übernehmen und weiter- vergeben, wobei eine grosse Arbeitsteilung Platz greift.

Eine ähnliche Praxis hat sich auch an manchen Orten des Kontinents ausgebildet , nirgends ist sie aber so auf die Spitze getrieben, wie im Ostende Londons. Der Bericht gibt von dem Vorgang eine eingehende Schilderung in der folgenden Weise:

»Unter dem sweating System wird die Arbeit auf folgende Art vergeben. Bei dem Handel mit billigen Kleidern ist die Zahl der zu vergebenden Stücke so gross , dass es in der frühem Weise nicht mehr geht, denn entweder müsste der Kleiderfabri- kant eine grosse Fabrik bauen oder seine Stücke einer unüber- sehbaren Menge von Arbeitern vergeben , weswegen er es vor- zieht , sich eines Mittelmannes zu bedienen , der die Arbeit zu Einheitspreisen übernimmt. Diese Mittelsleute oder contrac- tors vergeben die Arbeit dann wieder an Subunternehmer , so dass sich eine ganze Kette bildet von dem Kleiderfabrikanten oder Hauptunternehmer bis zu den eigentlichen Arbeitern. Alle diese Zwischenhände, die weder selbst arbeiten noch Arbeiter unmittelbar beschäftigen, werden nicht su’catcr genannt, sondern nur jene, die unmittelbar Männer , Weiber und Kinder im Lohn haben , um die Arbeit auszufuhren und die hoffen , aus deren Schweiss ( by sweating) einen Gewinn herauszuschlagen. Da der stveater den grössten Gewinn zu machen sucht, so ist die unver- meidliche Tendenz eines solchen Systems den Arbeiter auf den allerniedrigsten Lohn herabzudrücken. Den ganzen Vorgang kann man am besten veranschaulichen , wenn man die Näherei eines kleinen sweater betrachtet , der eben beginnt , auf seine eigene Rechnung zu arbeiten und der aller Wahrscheinlichkeit nach früher selbst Arbeiter in einem ähnlichen Geschäft gewesen ist. Zuerst handelt cs sich um einen Arbeitsraum. Dazu dient das Zimmer, in dem er und seine Familie wohnt. Er schafft sich eine Nähmaschine an auf Raten , was 2 sh 6 d per Woche aus- macht und damit ist er in der Lage, Arbeit entweder unmittel-

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Ö2

Ft a er tir either ,

bar vom Kleiderhändler oder von einem Subunternehmer zu über- nehmen. Als Sicherheitsleistung genügt in der Regel die Bürg- schaft eines Mannes , der dem Hauptunternehmer bekannt ist. Der sxveater erhält die Stücke bereits zugeschnitten. Kann er sie selbst zusammenheften , so thut er es, wo nicht bedarf er eines »Hefters*, ln der Regel sind dies Männer, doch auch manchmal Frauen. Weiters braucht er einen »Maschinennäher* ; auch diese Arbeit wird vorwiegend von Männern ausgeführt. Auch ein »Büg- ler« ist notwendig. Es ist das die schwerste Arbeit im Geschäft und liegt stets Männern ob. Ausserdem braucht der sweater immer zwei oder drei Frauen , um Knopflöcher zu machen, Ge- schäftsgänge zu besorgen u. s. w. Manchmal hört man die Be- hauptung, dass die sweater unter einer Bevölkerung, wie sie im Ost- ende Londons angesammelt ist, eine Art Notwendigkeit seien, weil sie doch die Arbeit jener organisieren, die sich selbst über- lassen keine Arbeit finden würden, und dass ihnen deswegen der Gewinn den sie machen auch gebühre. Es ist aber klar, dass diese »Organisation der Arbeit* keine grosse Sache und weder Geschicklichkeit noch Kapital dazu nötig ist. Im Gegenteil wäre es viel besser, wenn diese »Organisation« gar nicht bestände und wenn die Arbeiter in grossen Fabriken untergebracht wären, die von den Hauptunternehmern unmittelbar errichtet würden, wie dies an andern Orten des Landes im grossen Massstabe in der That geschieht. Die Leichtigkeit , mit der man ein sweater werden kann, vermehrt das Uebel der Sache um viel. Jeder, der unter einem sweater arbeitet, hat nur den Wunsch, selbständig zu wer- den und andere im Schweisse für sich arbeiten zu lassen, so' dass sich die Zahl dieser Schwitzhöhlen in erstaunlicher Weise ver- mehrt. Es gibt einige Strassen in Whitechapel und im Bezirk von St. George's- in-the-East wo fast in jedem Haus ein solches Geschäft etabliert ist mit der Folge , dass die su'eater unterein- ander in bittere Konkurrenz treten und dass die Preise, um welche die Arbeit vergeben wird, fallen. Dies wissend, spielen die Unter- nehmer und die contractors einen sweater gegen den andern aus und erreichen auf geschickte Weise ein Herabdrücken der Preise. Das Angebot an billiger Arbeit war in den letzten Jahren enorm, und wo sich die leiseste Schwierigkeit zeigte, Arbeiter zu einem gewissen Preise zu bekommen , war keine Schwierigkeit , neues Arbeitermaterial aus der Fremde zu beziehen.

Damit ist der Umfang eines kleinen Geschäftes dieser Art

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Die Statistik Uber Arbeitslose in England.

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beschrieben, doch bleiben diese, was die Arbeitsteilung anbelangt, weit hinter den grossen Etablissements zurück, die sechs bis acht- mal mehr Arbeiter verwenden. In einem grossen ssveating Ge- schäft, wo für jede besondere Verrichtung mehrere Personen be- stellt sind, ist es schwer zwei in gleicher Verwendung stehende Personen zu finden, welche dieselben Lohnsätze erhalten. Mit Ausnahme des Knopflochmachens wird jede Arbeit tageweise ge- zahlt und jeder Arbeiter wird vom ssveater genau darnach bezahlt, was er in einem Tage fertig bringt. So genau weiss der sieeater die produktive Geschicklichkeit seines Arbeiters abzuschätzen, dass ein gewisser Lohn immer eine bestimmte Menge gelei- steter Arbeit bedeutet. Auf diese Art wird die Arbeitsteilung bis an die äusserste Grenze der Möglickeit getrieben. Die best- bezahlten und geschicktesten Hände werden nur zu der Arbeit verwendet, welche die sorgfältigste Ausführung erheischt, während weniger wichtige Verrichtungen stufenweise den weniger ge- schickten Arbeitern zugeteilt sind. So ist also nicht nur die Arbeit an dem einzelnen Stück geteilt, sondern jede Kategorie dieser verschiedenen Arbeiten ist wieder unter verschiedene Hände geteilt um, soweit menschliche Findigkeit überhaupt reichen kann, ein Maximum von Arbeit für ein Minimum von Lohn zu erhalten. Eine andere Komplikation dieses Systems ist, dass für die der Qualität nach verschiedenen Kleidungsstücke die Einheitspreise sowie die Arbeitslöhne verschieden sind. In der Kegel gehen die besten Sachen in gewisse Nähereien, die mindern in andere, wo- durch eine fast unabsehbare Abstufung in den Lohnverhältnissen und auch eine grosse Verschiedenheit in der gesellschaftlichen Stellung der sweater entsteht. Der kleine sweater, der alle not- wendigen Verrichtung seiner Näherei nur mit je einem Arbeiter besetzt hat, arbeitet ebenso hart, vielleicht härter als irgend eine von ihm bezahlte Hand. Manchmal ist er auch sein eigener Bügler. In den kleineren Geschäften sitzt der sweater mitten unter seinen Leuten und die Beziehungen zu ihnen sind dann in der Regel freundliche. Die Prinzen des sweating Systems aber, die 40 50 Personen beschäftigen, sind nicht mehr genötigt mitzu- arbeiten und nehmen es leicht. Sie haben in der Regel unausgesetzt Beschäftigung für ihre Leute, erhalten gute Preise, wissen sich bil- lige Arbeitskräfte zu verschaffen und machen grosse Gewinne.«

Die Zahl der unter diesem System arbeitenden Individuen hat sich und zwar besonders im Ostende Londons in den letzten

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Baer n r either ,

Jahren stark vermehrt. Vor fünf Jahren gab .die Trade- Union der Amalgamated Society of Tailors die Gesamtzahl der in Lon- don im Schneidergewerbe verwendeten Personen auf 20000 an, wovon 15000 unter dem sweating System. Der jüdische Board of Guardians (der sich für diese Frage lebhaft interessiert, weil die weitaus grösste Zahl sowohl der siveater selbst als der von ihnen in Lohn genommenen Personen aus eingewanderten Juden bestehen) schätzt dermal, dass 18000 20 000 Personen im Ost- ende von London auf diese Weise ihr Leben zu verdienen trachten.

»Die Folge von der Leichtigkeit, in dem Gewerbe unterzu- kommen«, sagt der Bericht, »ist eine enorme Ueberfüllung des Arbeitsmarktes und daher eine heftige Konkurrenz unter den Ar- beitern, die mit allen Uebeln eines solchen Zustandes behaftet ist. Dieser Stand der Dinge wäre unter allen Umständen für die mei- sten Beteiligten ein Zustand des Elends, aber die Verhältnisse haben sich während der letzten Jahre für die einheimischen Ar- beiter durch das Herbeiströmen von ausländischen Paupers noch unendlich schlimmer gestaltet. Diese Fremden bestehen meistens aus deutschen und russischen Juden , und dieselben haben das Ostende von London mit einem so niedrigen Arbeitsangebot über- schwemmt, dass hiedurch tausende von einheimischen Arbeitern an den Rand des Verkommens gebracht wurden. Die spezielle Ursache dieses Zustandes bedarf keiner weitern Untersuchung, aber das Uebel selbst ist so schlimm geworden, dass es notwen- dig ist, den Ruf nach einer besondern Behandlung desselben zu erheben. Die frühere Lebensweise dieser unglücklichen Fremden, die hieher strömen , ist eine derartige , dass sie mit viel weniger leben können , als unsere englischen Arbeiter. Sie kommen in einem Zustand des äussersten Mangels an und sind genötigt, die leichteste Arbeit um den schlechtesten Lohn zu übernehmen. Auf diese Weise ist unter uns ein Arbeitssystem herangewachsen, so schlecht an sich und so voll Uebelständen, dass nicht nur unter den Arbeitern selbst grosse Not und Elend herrscht, sondern in der öffentlichen Meinung sich die bange Sorge wegen des Hcran- nahens einer öffentlichen Gefahr kundgibt.«

Es kann nicht Wunder nehmen, dass unter diesen Verhält- nissen sich Zustände herausbilden , die an jene seinerzeit vom Fabriksinspektor Horner geschilderten erinnern, welche bekannt- lich Marx zur Begründung seiner Theorie so geschickt zu ver- werten wusste.

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Die Statistik über Arbeitslose in England.

65

Eine übermässige Arbeitszeit wechselt mit Zeiten gänzlicher Unthätigkcit oder geringer Beschäftigung. Während der Saison, durch 3 4 Monate sind Männer, für die in England ein gesetz- licher Normalarbeitstag nicht besteht, in den sweating Nähereien oft 16 18 Stunden des Tages beschäftigt, die nur durch die not- wendigsten Intervalle für die Malzeiten unterbrochen sind. Die durchschnittliche Arbeitszeit beträgt nicht unter 14 Stunden effek- tiver Arbeit. Ueberzeit wird nicht besonders entlohnt, Halbtags- arbeit wird zu 8 Stunden gerechnet. Frauen , jugendliche Per- sonen und Kinder stehen unter dem Fabrikgesetz, aber die Hand- habung war bisher gegenüber diesen Zuständen nicht durchgrei- fend. Seit Jahren richten zwar die Fabrikinspektoren ihre Auf- merksamkeit auf die Uebelstände des sweating Systems , aber ihre Zahl ist zu gering und die Schwierigkeiten der Inspektion sehr gross. Sobald sich ein Inspektor in der Strasse zeigt , ver- breitet sich die Nachricht von seiner Anwesenheit wie ein Lauf- feuer, und selten gelingt es ihm, mehr als ein bis zwei solche Nähereien wirklich zu überraschen. In den Jahren 1885— 1886 hat ins- besonders der Inspektor Lakeman eine relativ grössere Zahl von Fällen der Uebertretung des Fabrikgesetzes durch die sweater vor die Gerichte gebracht und Verurteilungen zu mitunter hohen Geldstrafen erzielt, doch versteht sich , dass bei allem Eifer und aller Aufopferung einzelner Beamten auf diese Weise eine radi- kale Abhilfe nicht erzielt werden kann. »Frauen und jugendliche Personen stehen allerdings unter dem Fabriksgesetz, welches die Dauer ihrer Arbeit auf 12 Stunden des Tags mit der Unterbrech- ung einer Stunde für das Mittagmahl und einer halben Stunde, um Nachmittag den Thee zu nehmen , begrenzt. Samstag soll zudem ein kürzerer Arbeitstag sein, doch dürfen Personen is- raelitischer Konfession statt am Samstag am Sonntag bis 4 Uhr Nachmittags arbeiten. Dies gibt jedoch Anlass, dass die Vor- schriften des Fabrikgesetzes stets und systematisch übertreten werden. Die gewöhnlichen Arbeitsstunden für Frauen sind von 8 Uhr früh bis 8 Uhr Abends mit den erwähnten Unterbrechungen. In der Regel wird die Mittagspause cingehalten , aber die Thee- zeit wird in den meisten Fällen nicht gewährt. Würde eine Ar- beiterin darauf bestehen, würde man sie heissen ihres Weges gehen. Thee oder Kaffee wird für die Arbeiter bereitet oder sie dürfen ihn sich im Arbeitszimmer so gut es geht selbst bereiten, doch wird deswegen eine Unterbrechung der Arbeit nicht ge-

Archiv für so*. üescUgbg u. Statistik. I. s

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B a er nrcith er ,

stattet, und sie müssen sehen, wie sie es fertig bringen, zwischen einem Nadelstich und dem andern etwas zu sich zu nehmen.«

Lieber die Höhe des Lohnes in diesen Nähereien sind zifiermäs- sige Daten sehr schwer zu geben , denn , wie bemerkt wurde, sind die Abstufungen in der Bezahlung sehr verschieden, und es ist ausserdem sehr schwer , zuverlässige Auskunft zu erhalten. Die sweaters selbst sind nicht geneigt sic zu geben und ihre Ar- beiter wagen es nicht. Burnett , der eine Anzahl von Nähe- reien besuchte, fand grosse Schwierigkeiten, exakte Angaben zu sammeln und macht die Bemerkung , dass ihm überall höhere Löhne und kürzere Arbeitszeit angegeben wurde, als richtig gewesen sein mag. Am wenigsten verdienen die Frauen , welche haupt- sächlich beim Knopflochnähen verwendet werden. Sie erhalten Vm d für ein Knopfloch, oft aber darunter, I d für drei Knopflöcher oder 3 d für 8 Knopflöcher, verdienen also, da sie im Durch- schnitt nicht mehr als 6o Knopflöcher nähen können, i sh 6 d bis 2 sh 6 d im Tag. Die Bügler erhalten von z sh bis 6 sh im Tag, die Maschinennäher 3 sh bis 7 sh im Tag. »Man muss dabei aber bedenken«, sagt der Bericht mit Recht, »dass die Arbeit des Ma- schinennähers und Büglers eine sehr schwere ist. In vielen Fällen wird dem letztem seine Arbeitszeit erst zu rechnen angefangen, wenn er das Feuer im Ofen gemacht und sein Bügeleisen erhitzt hat. Diese Eisen sind 7 18 Pfund schwer, er arbeitet ununter- brochen in unmittelbarer Nähe des heissen Ofens in einer Dampf- atmosphäre und muss täglich eine bestimmte Anzahl von Stücken fertig bringen, manchmal bis fünfzig Röcke. In 8 10 Jahren sind die stärksten Männer , die als Bügler oder Maschinennäher ar- beiten, erschöpft und untauglich. Zwei Guineas (42 sh) als Wo- chenlohn, welche die Bestbezahlten dieser Leute verdienen können, klingt freilich nicht gering, aber diese Gelegenheit haben sie nur während der hohen Saison, die 3 Monate dauert, während, wenn auch für die ganze übrige Zeit des Jahres die halbe Beschäftigung gerechnet wird, der Lohn im Durchschnitt für die geschicktesten Männer I £ 5 sh 10 d die Woche beträgt, wobei aber Zeiten von Krankheit, Feiertage oder andere Verhinderungen nicht abge- rechnet sind. Wie aber die Lage jener beschaffen ist, welche die niedrigst Bezahlten sind , kann man sich leicht vorstellen.«

Ebenso schlimm sieht es mit den übrigen Arbeitsbeding- ungen aus.

»Die Art der Arbeitsräume oder der Orte , die als solche

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Die Statistik über Arbeitslast in F.ng/anti.

67

dienen müssen, ist sehr verschieden. Die kleinern sweater ver- wenden, wie bereits bemerkt wurde, Teile ihrer Wohnung, und in den meisten Fällen wird die Arbeit in einer im höchsten Grad schmutzigen und gesundheitswidrigen Umgebung verrichtet. In kleinen Zimmern, die 9 oder 10 Kuss breit sind, heiss durch einen Coksofen , der für die Erhitzung der Bügeleisen notwendig ist, des Abends erleuchtet durch flammendes Gaslicht, sind sechs, acht , zehn , vielleicht ein Dutzend Arbeiter zusammengepfercht. Die Vorschriften der Gesundhcits- und Fabrikgesetze werden ignoriert und das heutige System der Fabrikinspektion ist machtlos , die Durchführung dieser Gesetze zu erzwingen , selbst wenn die geteilte Kompetenz nicht jede Aktion schwächen würde. Nach einer mässigen Schätzung muss cs im Ostende von London wenigstens 2000 su’eaters geben und von diesen kann nicht ein Drittteil den Inspektoren bekannt sein , weil sie ihre Geschäfts- lokalitätcn unter dem Dach und in Hinterhäusern der schlimm- sten Ansiedelungen im Ostende untergebracht haben. Eine bes- sere Klasse von Arbeitsräumen sind jene , die auf die Höfe hin- ausgehen und die, wenn auch nicht reinlich und angenehm, doch geräumiger und besser ventiliert sind ; aber selbst viele Räume dieser Kategorie bieten nur einen elenden Aufenthalt, wo Männer und Weiber zusammengepfercht sind ohne Rücksicht auf Ge- sundheit oder Scham.«

Der Gewinn , den die sweater selbst herausbringen , ist sehr verschieden. Die niedrigste Klasse derselben, welche die ge- wöhnlichste Arbeit liefern und infolge dessen auch die geringsten Einheitspreise bekommen , zahlen geringe Löhne und erwerben für sich nicht mehr als ihre bestgezahlten Arbeiter. Die Mittel- klasse der sweater verdient etwa 15 sh per Tag, der Besitzer eines grossen Etablissements natürlich viel mehr.

Der Bericht fasst das Urteil über dieses Arbeitssystem dahin zusammen , dass es zerstörend auf den physischen , sozialen und moralischen Zustand seiner Opfer wirke und deshalb eine phy- sische , soziale und moralische Gefahr für die Gesellschaft be- deute. Besonders wird betont , dass , wenn dieses Uebel nicht durch die Gesetzgebung oder auf andere Weise eingedämmt wer- den würde, die Einwanderung jener fremden Elemente fortdauern, die Emigration, welche jährlich Tausende iiber den Ocean führt, nutzlos gemacht , die einheimische Arbeit demoralisiert und der Grund zum Racenhass mit allen seinen Folgen gelegt würde.

5*

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68 B aer nreither , Die Statistik über Arbeitslose in England.

Wir brechen hiemit unsere Berichterstattung über die Sta- tistik der Arbeitslosen in England ab. Die Erörterung der Mittel, die vorgeschlagen werden , um in den geschilderten Zuständen bessernd einzugreifen, würde uns weit über das Thema hinaus- fuhren, welches wir uns umgrenzt haben. Ueberdies haben sich aus allem, was darüber gesagt und geschrieben wuide, feste, prak- tisch greifbare Vorschläge noch nicht entwickelt.

Eine Nutzanwendung , die sich uns jedoch für die Methode der Behandlung solcher statistischen und gesellschaftlichen Unter- suchungen ergibt, möchten wir noch aussprechen. Die Statistik, welche bestimmt ist, gesellschaftliche Zustände zu erforschen, steht vor einer schwierigen Aufgabe. Ohne die leitende Thätigkeit eines Regierungsapparates kann auf diesem Felde etwas vollständiges nicht geleistet werden, aber wir müssen daran die Ansicht knüpfen, dass die Mitwirkung weiterer Kreise unerlässlich scheint, weil der Stoff so schwer zu behandeln ist, dass er von den verschieden- sten Gesichtspunkten aus und nach den verschiedensten Rich- tungen durchgearbeitet werden muss und weil er in allen Teilen der Ergänzung und Spezialisierung bedarf. Eine selbstthätige, partei- und vorurteilslose Mitwirkung jener Elemente eines Volkes, welche verpflichtet sind, sich mit diesen Angelegenheiten zu be- fassen, schärft aber auch ihren Blick, um aus der Menge oft ver- wirrender Thatsachen jene herauslesen zu lernen, welche für die Beurteilung unseres gesellschaftlichen Zustandes die entschei- denden sind.

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DIE LAGE DER ARBEITENDEN KLASSEN IN HOLLAND.

VON

Dr. OTTO P RINGSHEIM.

In Holland hat bekanntlich die Arbeiterbewegung während der letzten Jahre eine unerwartete Ausdehnung angenommen. In fast dramatischer Steigerung folgten auf einander die grossen Demonstrationen für das allgemeine Stimmrecht im Herbst 1885, die Arbeitslosigkeit vieler Tausender im strengen Winter des- selben Jahres, endlich die Amsterdamer Strassenunruhen vom 26. Juli 1886. Woher dieser Sturm in dem kleinen, friedlichen, handeltreibenden Lande ?

Die Antwort auf diese Frage lässt sich erst heute vollständig geben.

Noch unter dem lebendigen Eindruck der Amsterdamer Er- eignisse wurde am 13. August 1886 in der zweiten Kammer der Gencralstaaten ein Antrag auf Untersuchung der Lage der ar- beitenden Klassen gestellt, der unter dem 13. Oktober 1886 zum Beschluss erhoben wurde. Die parlamentarische Untersuchungs- kommission aus 9 Kammermitgliedern, darunter einem Arbeiter dem frühem Möbelschreiner Heidt - zusammengesetzt, hatte mit vielen Hindernissen zu kämpfen , um ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Zunächst mit der von der Kammer vorgesehenen Be- stimmung, dass die Enquete bis zum 1. Juni 1887 beendet sein sollte, dann mit der Schwierigkeit, Zeugen aus Arbeiterkreisen zu erhalten. In diesen bestand nämlich ganz allgemein die cha- rakteristische Befürchtung, dass den Prinzipalen unliebsame Aus- sagen Entlassung aus dem Arbeitsverhältnis zur Folge haben würden. Da endlich während der parlamentarischen Session, die vom Februar 1887 bis zum Hochsommer sich ununterbrochen

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;o

Pringtheim,

ausdehnte, die Arbeiten der Kommission ruhten, so konnten diese nicht vollständig zu Ende geführt werden. Die Protokolle der Zeugenverhöre ‘) beziehen sich nur auf einen Teil der niederlän- dischen Industrie und die Untersuchungskommission musste sich begnügen, unter dem 27. Juli 1887 ihren Auftraggebern einen vor- läufigen Bericht *) zu erstatten. Unvollständig, wie diese Enquete ist , behaftet mit allen Mängeln , die derartigen Untersuchungen stets eigen sind, bleibt sie doch das erste und einzige Quellen- werk über die Lage der arbeitenden Klassen in Holland.

Bevor wir diese an der Hand der Zeugenaussagen schildern, wollen wir einen Blick auf den Umfang und die Entwicklung der niederländischen Industrie werfen. Bei dem Mangel einer Ge- werbe- und Berufsstatistik gewährt noch das beste Bild die Dampf- kessel- und Maschinenstatistik, die leider nur bis zum Jahre 1883 fortgefuhrt worden ist s>.

Dampfkessel und Dampfmaschinen in der holländischen Industrie.

(Zahl der mit

Jahr

Dampf arbei- tenden Fa-

Dainpikessei

Heizfläche Meter

Dampfma-

schinen

Pferdekraft

nominell

briken

1877

2^59

2952

72263

2775

3' 451

1880

2546

3339

80439

3 «47

36 621

1881

2732

3544

85 242

3335

38 365

1882

2831

3664

89 27s

342 5

39 633

1883

2929

3763

92 434

35*9

44 603

Man

sieht aus

diesen Zahlen, dass Holland noch

vorwiegend

ein Land der Mittel- und Kleinindustrie ist (durchschnittlich be- trägt die Heizfläche eines Kessels 24 D Meter, dagegen in Preussen bereits 1877/78 40,17 O Meter, die Durchschnittspferdekraft der Dampfmaschinen 12,7 HP, dagegen in Preussen 1878 30,43 HP), dass aber die Entwicklung der Grossindustrie, wenn auch in lang- sameren Tempo, als in andern Ländern (prozentuale Vermehrung der Dampfkessel in Preussen 1879 86 4,65n/o, in Holland 1877 83 3,85 °/o) stetig fortschreitet. Nicht begünstigt durch den Besitz von Kohlen und Rohstoffen , nicht beschützt durch hohe Zoll-

1) Enquite betreffende werking en uitbreiding der wet van 19. September 1874 (Staatsblad Nr. 130) en naar den toestand van fabricken en wcrkplaatsen.

2} Enqudte etc. Verslag der Commissic Nr. 5. Im folgenden beziehen sich die Zitate ohne weitere Angabe auf das Zeugenverhör. Der Bericht ist mit »Verslag, angezogen.

3) Statistkk van het stoomwezen in Nederland. Haag, 1880 f.

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Die Lage der arbeitenden Klassen in Holland. 71

schranken , bleibt den holländischen Fabrikanten ein Vorsprung billige Arbeitskraft.

Schon die ersten Eindrücke , die der fremde Beobachter in Holland empfängt, können ihn belehren, dass der Arbeitstag ein sehr ausgedehnter ist. Die Erhebungen der Untersuchungskom- mission bestätigen überreichlich diese Thatsache. Beginnen wir mit einigen Belegen, die auf Kleinbetriebe Bezug haben.

Die Bäckerei hat in Amsterdam und den meisten übrigen holländischen Städten mit der Konkurrenz grosser zum Teil mit Dampf betriebener Brotfabriken zu kämpfen. Die Arbeitszeit in den letzteren beträgt durchschnittlich 12 14 Stunden. Dagegen arbeiten die Bäckergesellen beim kleinen Meister von 6 Uhr Abends bis 10 Uhr Morgens, also volle 16 Stunden. So geht es die ganze Woche hindurch. »Am Freitag dagegen*, erklärt ein vernommener Bäcker, »sind wir von 6 Uhr Abends an der Arbeit und wir gehen erst Sonnabend um 8 oder 9 Uhr nach Haus. Wir haben dann 26 Stunden gearbeitet« l 2 3).

Die Zahl der Schneider in Amsterdam beträgt etwa 5000, die kleinen Meister eingerechnet. Fast alle arbeiten zu Haus. Die Firma van der Waal, die angeblich die Hälfte des Geschäftes (in Damenkonfektion) macht , hat allein wirklichen Grossbetrieb in diese Branche eingeführt und beschäftigt 200 Mädchen und Frauen , die an mit Dampf betriebenen Nähmaschinen arbeiten Daneben macht sich die ausländische Konkurrenz sehr fühlbar. Um ihr zu begegnen, sucht das in seiner Existenz bedrohte Klein- gewerbe in der furchtbarsten Ueberarbeitung seiner meistens ju- gendlichen Arbeitskräfte seine Rettung. Da sitzt die ganze Fa- milie bis 11 und 12 Uhr in der Nacht, Mann, Frau und Kinder. Zwischen Ostern und Pfingsten wird volle 24 Stunden, ja manch- mal 2 X 24 Stunden gearbeitet. Allerdings muss man in Be- tracht ziehen, dass die Saison, die Mitte März beginnt, nur 3 Monate währt , und dass in dieser Zeit verdient werden muss, was der übrige Teil des Jahres beansprucht *).

Die Diamantschleifer gehören zu den bestbezahltesten Ar- beitern in Amsterdam a). Ihr Wocheneinkommen beträgt 30,

1) I p. 177 Nr. 3327, 28. 3345—49: »In keinem Fach verdient ein Arbeiter

weniger per Stunde und wird mehr per Stunde verlangt,« schreibt ein Hücker. Ueber ähnliche Verhältnisse bei den Bäckern in Haarlem vgl. Sociaal Weckblad Nr. 53, 1887.

2) L 86 Nr. 1571, 1572.

3) Die Zahl der Diamantschleifer beträgt über 5000, grossenteils Juden.

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72

Prtngsheim ,

45 50 ja 55 und mehr fl. Nichtsdestoweniger ist ihre Arbeits- zeit eine verhältnismässig lange. Sie beginnt im Sommer um 6 Uhr, im Winter um 7 Uhr und währt bis Abends 6, resp. 7 Uhr und zwar ohne Pause. Im Winter wird sogar bei Daniels und in einer andern Diamantschleiferei 15 Stunden hintereinander ge- arbeitet ‘). Da ist es kein Wunder, dass ein grosser Teil dieser Arbeiter in seiner intellektuellen Entwicklung zurück ist und kaum lesen und schreiben kann ’).

Das charakteristische Kennzeichen der Grossindustrie, von Sei- ten des Arbeitsprozesses, ist der kontinuierliche Betrieb, Tag- und Nachtarbeit. Wir begegnen derselben in den holländischen Brot- fabriken , Dampfmiihlcn, Brauereien, Essigfabriken , Zuckeraffinc- rien, Gasanstalten, Kerzenfabriken, Kaffeesortieranstalten, in Glas- bläsereien, in keramischen Fabriken für das Zerkleinern der Roh- stoffe, in der Zinkweissfabrikation für die Ofenarbeiter, in Papier- fabriken für Heizer, Papiermaschinenführer und Holländermüller. Der Betrieb erfolgt gewöhnlich in doppelter Schicht, so dass jeder Mann in der einen Woche der Tagesschicht, in der andern der Nacht- schicht angehört. An und für sich ist cs klar, wie diese Doppel- schicht die Mehrarbeit begünstigt. Bleibt ein Mann der Nacht- kolonne aus, so muss ein Ersatzmann aus der Tagkolonne für ihn eintreten. Auf diese Weise werden Schichten von 18, 24, ja 36 Stunden gemacht. Abgesehen davon wird Mehrarbeit durch den Wechsel der Schichten veranlasst. Wird Sonntags nicht ge- arbeitet, so erfreuen sich die Arbeiter einer 24- resp. 48stündigen Ruhepause. Findet jedoch am Sonntag der Schichtenwechsel statt, so fällt auf die Arbeiter der »langen Schicht« eine Arbeits- last von 18 und mehr Stunden. Dies ist beispielsweise der Fall bei den Heizern und Schmelzern (am Glasofen) in der kerami- schen Fabrik P. Regout u. Co. in Maastricht. Die Heizer haben auch nicht einen Tag im Jahre frei. Wird ein doppelschich- tiger in einen einschichtigen Betrieb verwandelt , so bedeutet die Verringerung des Personals meist eine sehr bedeutende Ver- längerung des Arbeitstages für die in Beschäftigung bleibenden Leute. Die Buchdruckerei von EUerman Harms u. Co. in Am- sterdam arbeitete früher mit Tag - und Nachtschicht von 10 resp. 8 Stunden, mit Mehrbezahlung für die Nachtschicht. Die-

1) 100 Nr. 1659, 1662, 1667.

2) I. 99 Nr. 1686.

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Die Lage der arbeitenden Klassen in Holland. 73

selbe wurde abgeschafft und die Arbeitszeit dauert jetzt von 7 Uhr Morgens bis 6 Uhr Abends , um nach 2 Stunden Unter- brechung erst um 12 Uhr Nachts , oft erst 5 Uhr Morgens zu enden.

Die Statistik der Arbeitszeit liegt bekanntlich überall noch sehr im argen. Der Kommissionsbericht ') bemerkt hierüber : »Man muss diese Aufstellungen über Arbeitszeit meistens auf Grund der Angaben der Patrone machen und bei der Enquete zeigte sich mehrmals , dass diese Mitteilungen , obwohl in gutem Glauben gethan, nicht immer mit der Wirklichkeit übereinstimmten. Oft nennt der eine Ueberzeit , was der andere als gewöhnliche Arbeit betrachtet.« Eine andere Fehlerquelle liegt in dem Um- stande , dass nur die in der Werkstatt geleistete Arbeitszeit in Rechnung gestellt wird, während die Hausarbeit nach Feierabend ausser Acht bleibt. Die letztere beträgt z. B. bei den Cigarren- machern in Amsterdam nach iostündiger Fabrikarbeit noch 3 Stunden an den meisten Tagen der Woche. Berücksichtigt man diesen und andere Nebenumstände , so gelangt man zum Resul- tat, dass in den meisten holländischen Industriezweigen, abge- sehen von den Betrieben mit Tag- und Nachtarbeit , ein 13 14- stündiger Arbeitstag üblich ist.

Betrachten wir jetzt die Frauen- und Kinderarbeit *). Ueber den Umfang derselben hat die Kommission nur für die Provinz Limburg statistische Daten erhalten *). Danach wurden dort in in 1940 (Fabrik- und Handwerks-)Betriebcn 11 156 Arbeiter und zwar 7011 Männer, 240 verheiratete Frauen, 733 unverheiratete Frauen, 365 Mädchen von 16 18 Jahren , 614 Mädchen von

1) p. 11.

2) »Die in Deutschland vielfach übliche,... Ueberarbeit ist der Grtuid, weshalb die Zusammenstellungen über die täglichen Arbeitszeiten', die sich in den Berichten der Fabrikinspektoren vorfinden, kein getreues Bild von den thatsächlichen Verhält- nissen geben, denn die Ueberstunden sind dabei meistens ausser Acht gelassen.* Ri- chard Rösicke, Arbeiterschutz. Dessau 1887. p. 30.

3) Die industrielle Frauen- und Kinderarbeit datiert in Holland, wo sich die Ma- nufaktur früher, als in den meisten andern Ländern entwickelt, weit zurück. Schon Pieter de la Court und andere Schriftsteller des 17. Jahrhunderts sind voll von Berichten über diesen Gegenstand. Ende des vorigen Jahrhunderts fand Eversmann Kinder von 7 und 8 Jahren u. a. in der Pfeifenfabrikation zu Gouda beschäftigt. Vgl. Eversmannn, Technologische Bemerkungen auf einer Reise durch Holland. Frey- berg 1792. p. 141

4) Verslag p. 22.

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74

Pr ing s tu im ,

12 16 Jahren, 986 Jungen von 16—18 Jahren 1207 Jungen von 12 16 Jahren beschäftigt. Die Kinder und jungen Personen machen also 39 % der Gesamtarbeiterzahl aus. Es genügt ver- gleichsweise anzuführen, dass das entsprechende prozentuale Ver- hältnis in der Schweiz 1880 ') nur 14^/0 betrug.

Die Beschäftigung von Frauen und jugendlichen Personen ist in den meisten Branchen in stetiger Zunahme begriffen. Das Gesetz vom 19. September 1874 *), das einzige Arbeitsgesetz in der niederländischen Gesetzsammlung, hat zwar die Fabrikarbeit von Kindern unter 12 Jahren verboten , allein da für genügende In- spektion nicht Sorge getragen wird, so konnten zahlreiche Ueber- tretungen der Gesetzesbestimmungen konstatiert werden.

Die Leistung der Kinder bleibt nicht allzusehr hinter der der Erwachsenen zurück. Dafür sorgt die Arbeitszeit, die ohne Rück- sicht auf das Alter der Arbeitenden bemessen, in einzelnen Fällen sogar für die jugendlichen Arbeiter ausgedehnter ist, als für die Erwachsenen. Wir begegnen der Kinderarbeit in den verschie- densten Beschäftigungen, darunter sehr schweren und ungesunden z. B. in Eisengiessereien , Glasbläsereien , Schriftgiessereien etc. lieber die Jungen , die von 7 Uhr abends bis 7 Uhr morgens beim Glasblasen verwandt werden ’), bemerkt ein Arzt : »Die Jungen sind des morgens so herunter, dass sie sich nicht auf den Beinen halten können. Sie müssen geweckt werden , um zu essen und zu trinken; sie sehen so mager und miserabel aus, dass es ekel- haft ist, sie anzusehen«4). Eine andere Arbeit, zu der Jungen in der Glasindustrie angehalten werden , ist das Herausholen der Flaschen aus den Kühlöfen. Die Temperatur ist so hoch, dass nicht selten die Jungen bewusstlos aus dem Ofen getragen werden •). Jungen von 12 18 Jahren sind es auch , die das Reinigen der Dampfkessel zu besorgen haben. Es ist darum eine so unangenehme Arbeit, weil der Kessel noch heiss ist und die Arbeit binnen wenigen Tagen gethan sein muss. 6 8 Jungen kriechen in einen Kessel, aus Furcht wagen sie sich nicht tiefer hinein, wo es weniger warm ist, und müssen eilends wieder her- aus, wenn sie sich nicht Brandwunden zuziehen wollen *).

1) Bericht der Schweizer Fabrikinspektoren 1880 p. 64.

2) Abgednickt bei Lohmann, Fabrikgesetzgebungen.

3) Vor dem Gesetz von 1874 wurden 9jährige Kinder hierzu gebraucht.

4) II. p. 18. Nr. 5522.

5) III. p. 9. Nr 9517.

6) 1. p. 255. Nr. 4875 f.

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Die Lage der arbeitenden Klassen in Holland. 75

»Was hat ihr Mann für einen Beruf ? fragt der Vorsitzende der Untersuchungskommission eine Arbeiterin. Er ist Maler. Ist er gesund und kräftig ? Ja, aber er läuft herum, ohne etwas zu verdienen ; er passt nun auf die Kinder auf und ich gehe aus, um zu arbeiten. Sie arbeiten also . . . und er sitzt bei den Kin- dern; kann er denn nirgends Arbeit in seinem Fach finden? Nein. Kann ihr Mann nicht mit Schneeschaufeln oder dergl. etwas verdienen ? Bleibt er nur auf seiner Stube sitzen, um die Kinder zu warten? Ja, weil ich des morgens zeitig weg muss; will ich die Kinder anderwärts in Pflege geben , so kostet das meinen ganzen Wochenlohn und das geht nicht« ä). Da haben wir die Frauenarbeit und die sie begleitende Auflösung des Fa- milienlebens in ihrer klassischen Form! Die Pflege der Kin- der leidet übrigens in jedem Fall, gleichviel, ob der Vater Hausfrau spielt oder nicht. Die Kindersterblichkeit betrug in Holland im Durchschnitt der Jahre 1880 85 , 18,88% , dagegen in den Fabrikstädten: Maastricht 21%, Eindhoven 30 °/o und Gouda 33 °lo.

Noch fühlbarer sind die Folgen der Frauen- und Kinder- arbeit auf dem Gebiet der Erziehung *). 1874 konnten in Maastricht 12*/# der Kinder im Alter von 12 Jahren weder lesen, noch schrei- ben, während jetzt, dank dem Verbot der Kinderarbeit bis zum zwölften Jahr, das Verhältnis auf 3“/* gesunken ist , wozu noch 5®/o kommen, die eben nur notdürftig lesen können. In Amster- dam besuchten 4606 Kinder im Alter von 6—12 Jahren über- haupt nicht die Schule. Der niedrige Bildungszustand der Volks- masse im allgemeinen findet seinen beredtesten Ausdruck in der Analphabetenstatistik, der wir zum Vergleich einige auf Preusscn bezügliche Zahlen beifügen :

1) I. p. 144. Nr 2544-46.

2) Artikel 82 des Gesetzes über den Elementarunterricht vom Jahr 1S7S gibt den Gemeindebehörden die Befugnis durch Ortsstatul jede Arbeit von Kindern unter 12 Jahren (auch Feldarbeit, persönliche üienstel zu verbieten. Jedoch wurde nur in wenigen Gemeinden eine diesbezügliche Verordnung erlassen und nur sehr la* durch- geführt.

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Pr ingsheim,

Rekruten, welche weder lesen noch schreiben können.

Provinzen

oo der Ausge-

Jahr

Provinzen

®fo der

Ausge-

hobenen

1883 84

hobenen

Nordbrabant

I7.7

Posen

8.89

Limburg

16.2

Westpreussen

738

Drenthe

14.7

Ostpreussen

6.58

Overijsel

11.4

Schlesien

1.70

Seeland

11.4

Pommern

0.39

Gelderland

9.6

Hessen-Nassau

0.29

Utrecht

9.6

Rheinland

0.23

Friesland

7-4

Sachsen

0.17

Groningen

7.2

Hannover

0.13

Südholland

6.7

Brandenburg

0.13

Nordholland

5-9

Schleswig-Holstein

O.I I

Königreich der

Königreich

Niederlande

9.9

Preussen

1.97

Wie die Dinge einmal liegen, sind alle diese Erscheinungen organische Notwendigkeit. Wie aus dem Anfangsglied einer De- terminante alle übrigen Glieder der Reihe sich ableiten , so sind mit dem langen Arbeitstag Ueberfiillung des Arbeitsmarktes, nie- drige Löhne und damit die Notwendigkeit der Frauen- und Kin- derarbeit gegeben. Eine Konsequenz der letzteren sind früh- zeitige Ehen, begünstigt durch das Zusammenarbeiten beider Ge- schlechter ‘). So entstehen grosse Familien *) bei geringem Ein- kommen. Zum Beleg der letzteren Thatsache ist es noch not- wendig, einige auf die Lohnsätze bezügliche Zahlen anzuführen. Die erste holländische Lohnstatistik wurde in den »Bijdragen van het statistisch instituut 1886 Nr. 2* veröffentlicht. Dieselbe ist jedoch zu unvollständig, um hier berücksichtigt zu werden. Mehr Vertrauen verdienen die allerdings nicht sehr zahlreichen Angaben, die von verschiedenen Zeugen vor der Untersuchungskommission über Lohnsätze ihrer Branche gemacht wurden. Da in vielen

1) Die meisten holländischen Arbeiter heiraten allerdings erst im 24. Lebensjahr, nach Ableistung ihrer Militärpflicht, aber sie bringen dann schon 2, 3 und mehr Kinder in die Ehe.

2) Verschiedene Zeugen klagen über den neuerdings sich bemerkbar machenden Einlluss der neumalthusianisclien Lehren auf die Bevölkerung. Von einer Brochurc des ncumalthusianischen Bundes wurden 30 000 Exemplare verkauft. »Die Menschen« , erklärt ein Geistlicher, »werden über gewisse Dinge so sehr unterrichtet und erhalten so viele Bücher »contra naturam«, dass es traurig ist.«

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Die Lage der arbeitenden Klassen in Holland.

77

Geschäftszweigen der Stundenlohn eingeführt ist, so schien es pas- send alle Angaben über Zeit- und Akkordlöhne auf Stundenlohn zu reduzieren. Danach ergeben sich folgende Zahlen :

Arbeiter

Arbeiterinnen jujjcmll. Arb.

Zeitlohn

Stücklohn

Zeitlohn S.,u.ck- 1 lohn

Ort und Branche

auf Stundcnlohn

auf Stundcnlohn

reduziert

reduziert

cents

cents

Cents cents Cents

Flachsindustrie

IO

max 13.7 max 1 3

7 f 37» 5

Wollwaarenindustrie Tilburg

IO

—15

5-8 3-7

Tabaksspiner Maastricht . .

1 1.6

2 Vs— 3

Wolldeckenfabrikation Maastricht Zinkweissfabrikation Maastricht

12. 1

a) Ofenarbeiter

b) Handlanger

IO

*3-7

1

I 1

Bäcker Amsterdam

IO

5

Bäcker Amsterdam (Brotfabrik) Papierfabrikation Maastricht

l6

I2-5

5.9

|

Kerzenfabrikation Amsterdam

a) Kistenmacher

IO

I i

b) Stearinpresser

c) Handlanger

d) Arbeiterin in der Giesserei

IO

12

6 9

Zuckerraffinerie Amsterdam . .

>5

Schiffsbau Rotterdam ....

l6

Häusermaler Amsterdam . . .

•7

|

Zimmermann Amsterdam . .

17 - 18

Schriftgiesser Amsterdam . .

.8

4-5 '/s

Schriftsetzer Amsterdam . .

18

3 5

Keramische Industrie Maastricht

0 0

Porzellanmaler

Porzellandrucker

Glasbläser

Schleifer

Former

2 I *2 1 £

30

30—35

25

Graveur

40

Diamantschleifer Amsterdam

40

Die angeführten Ziffern werden ausreichen , um zu zeigen, dass 16 cents (26 pf.) per Stunde wohl das Maximum ist, auf das ein holländischer Arbeiter mit Ausnahme weniger bevorzugter Kategorien zu rechnen hat. Bei Annahme eines lostündigen Ar- beitstages und dauernder Beschäftigung ergibt sich ein Jahres- einkommen von ca. 750 Mk., das Existenzminimum des deutschen Krankenkassengesetzes. Ueber die Bewegung der Löhne er- klärt ein Fabrikant, dass die Steigerung derselben nicht Schritt

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Pringsheim ,

gehalten mit den wachsenden Miethen ') und Lebensmittelpreisen und dass die gezahlten Löhne weit hinter den Sätzen des Aus- lands Zurückbleiben. Zur Beantwortung der Frage, welche Lebens- bedürfnisse ein holländischer Arbeiter mit dem erwähnten Einkom- men decken kann , mag das folgende Haushaltungsbudget einer nach Zahl und Einkommen etwa den Durchschnitt repräsentieren- den Familie cj'encn *)■

Haushaltungsbudget einer Arbeiterfamilie.

I. Gemeinde: Amsterdam. 2. Zeitraum: März Oktober 1886. 3. Stärke der Familie : Mann, Krau 2 Kinder von 13 und 10 Jahren 4. Bemf des Mannes: Kupferschmied ; der Frau ; der Kinder .

Einnahmen per Woche fl. c. Ausgaben per Woche fl. c.

1. Des Mannes . . .

Ab für Unkosten Saldo

2. Der Frau . . .

3. Der Kinder . .

4. Anderweitiger Ver- dienst ....

5. Unterstützung . -

7 A. Wohnung und Kleidung

1 1. Miethe

$ 2. Steuer

3. Kleidung u. Schuhwerk

4 Beleuchtung u. Heizung

5. Reinigung

1. 50 B. Nahrung

7 co' Weizenbrot

'' 5 1 7. Roggenbrot . . . .

! 8. Erdäpfel u. Salz . . .

9. Kaffee, Thee, Milch

10. Butter, Zucker, Tabak .

11. Fleisch, Fisch, Fett . .

,C. Versicherung

D. Ausgaben für Bildungs- zwecke

I 12. Schule

1 13. Bücher, Zeitung . . . iE. Andere Ausgaben . . .

F. Bier und Branntwein . .

| *•

Geschenk o. 70 o. 20

' 3- 40

75

o. 17

' o- 75 o. 72 o. 30

3- 69

o. 06

1

O. 20 O. 12

0. 03

7-

7-

1) Geber die WohnungsverhäUnisse der Arbeiterbcvölkerung gibt Aufschluss das Buch von Hel. Mercier: Over arbeiderswoningen. Haarlem, Tjcenk Willink. Wer einmal das Jordaanquartier in Amsterdam gesehen hat , wird von den Schilderungen der Schrift nicht überrascht sein.

2) Entnommen einer Sammlung von auf Veranlassung des Prof. Beaujon aufge- nommenen Budgets.

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Die Lage der arbeitenden Klassen in Holland. 7 g

Man sieht, dass in diesem Fall das Lohneinkommen des Mannes noch nicht einmal zur Bestreitung der bescheidensten Bedürfnisse ausreicht und dass wie hier Privatwohlthätigkeit , in zahlreichen andern Fällen Frauen- und Kinderarbeit das Defizit decken müssen.

Ueber das Kassen und Unterstützungswesen ist nicht viel zu sagen. Es bestehen eine Anzahl Fabrikkrankenkassen mit und ohne Beiträge der Besitzer. Die von den Arbeitern ins Leben gerufenen Kassen sind meistens klein an Mitgliederzahl und schlecht fundiert. Bei einigen derselben wird sogar jeweilig am Jahres- schluss das angesammelte Vermögen unter die Mitglieder ver- teilt. — Zufolge den dynamometrischen Untersuchungen von Dementjew nimmt die Handkraft des Arbeiters schon vom 35sten Jahr ab, während die Rückenkraft noch einige Jahre länger vor- hält '). Aus den Zeugenaussagen gewinnt man den Eindruck, dass auch für die holländischen Arbeiter der Beginn des Alterns ziem- lich frühzeitig anzusetzen ist. Die Eisenbahnwerkstatt in Tilburg nimmt Arbeiter, die älter als 35 Jahre, nicht an. Ein Schrift- . gicsser erklärt, dass 50 Jahre in seinem Fach ein hohes Alter sei und wünscht Pensionierung bereits vom 4Ssten Jahre ab. In allen Branchen wird die Mehrzahl der Arbeiter nicht länger als bis zum 55sten Jahre beschäftigt. Obwohl also das Bedürfnis nach Altersversorgung sehr ausgesprochen ist , ist bisher nicht das geringste zur Befriedigung desselben geschehen. Eine Pen- sionskasse , nach Art der deutschen Knappschaftskassen organi- siert, besteht für die Bergleute in Kerkrade (Limburg), die ein- zige im ganzen Lande 1

Wenn es im Interesse der Industrie und ihrer Konkurrenz fähigkeit läge, möglichst wenig sich durch arbeitsgesetzliche Be- stimmungen in ihrer Entfaltung gehemmt zu sehen , so müsste die niederländische Industrie in höchster Blüte stehen. In Wirk- lichkeit hören wir Klagen über Klagen über die traurige Lage des Geschäfts, über die Schwierigkeit, dem Ansturm der fremden Konkurrenz zu begegnen. Die Gründe, weshalb die Industrie unter Produktionsbedingungen , die die höchste Verwertung des Kapitals zu garantieren scheinen, nicht minder leidet, als die Ar- beiter, sind klar. Die Möglichkeit, billige Arbeitskraft ergiebig

1) Etwas abweichende Resultate älterer Untersuchungen führt Topinard : Anthro- pologie, deutsch von Neuhauss p. 401 an. Für die Frage der Altersversorgung wäre eine erneuerte Prüfung von grosser Bedeutung.

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8o

P r in gs heim ,

auszunutzen, fuhrt naturgemäs zur Vernachlässigung des techni- schen Fortschritts. Ein Beispiel aus der Flachsindustrie. »Wird gegenwärtig noch mit der Handbreche gearbeitet oder geht alles mit der Maschine f Die alte Handbreche wird noch immer angewandt. Die alte amerikanische Handbreche ? Nein , die alte holländische Handbreche. - - Ich dachte , die wäre längst verschwunden. Nein, sie ist wieder zum Vorschein gekommen und die Maschinen werden vielleicht noch eher verschwinden als die Handbrechen * '). In dieser Industrie werden Kinder be- schäftigt vom I2ten Jahre ab, die 2.50 3 n. per Woche er- halten. — Noch mehr leidet bei einer Arbeitsweise, die, um einen Ausdruck von Robert Owen zu gebrauchen , das Rohma- terial von Holz und Eisen mehr schont, als das Rohmaterial des Geistes und Körpers, die Leistungsfähigkeit und Geschicklichkeit der Arbeiter. »Ein wallonischer Zigarrenarbeiter macht in der- selben Zeit ’/» mehr, als ein holländischer.! Ein Besitzer von Tuchfabriken in Frankreich und Holland fand, dass die Franzosen in 12 Stunden mehr arbeiten, als die Holländer in 15 *). Ein Am- sterdamer Maschinenfabrikant bemerkt über denselben Punkt : »Die Engländer arbeiten mehr »steady« , als die Holländer; wir arbeiten nicht so durch* *). Dass umgekehrt Verkürzung der Arbeitszeit mit gesteigerter Arbeitsfälligkeit und Arbeitsleistung Hand in Hand geht, diese anderwärts längst gemachte Erfahrung hat man auch in Holland erprobt. Die Eisenbahnreparaturwerk- statt in Tilburg lässt jetzt an Stelle von 12 nur 10 Stunden ar- beiten , da sich die längere Schicht als unvorteilhaft für die Ge- sellschaft herausstellte 4). Laut Aussage eines Wollwarenfabri- kanten liefern seine Arbeiter in 12 Stunden ebenso viel Gewebe, wie früher in 14 6).

1) III. p. 23. Nr. 9784.

2) IV. p. 57. Nr. 11026.

3) I. p. 254. Nr. 4866.

4) IV. p. 68. Nr. 11628.

5) Wohl das schlagendste Beispiel für die Thatsache, dass Verkürzung des Arbeits- tages nicht nur nicht Abnahme, sondern Steigerung des Mehrprodukts zur Folge hat, führte vor kurzem der bekannte Industrielle Sir Jacob Behrens von Bradford an: »Die Firma Molden & Co. ist Besitzerin der grössten Wollkämmereien der Welt, die fast Vs der auf den Londoner Markt kommenden australischen Wolle verarbeiten und hat Eta- blissements in Bradford, Croix bei Roubaix und Rheims. Sie arbeitet mit denselben Maschinen und Bclriebscinrichtungen in Frankreich und England. Die Arbeitszeit

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Die Lage der arbeitenden Klassen in Holland. 8 t

Hier zeigt sich wieder einmal deutlich , dass die gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit etc. , die zunächst als eine Mass- regel zu gunsten der Arbeiter erscheint, auf einer gewissen Stufe der ökonomischen Entwicklung industrielle Notwendigkeit wird. Daher und daher allein erklärbar jener Umschlag der Stimmung, dem wir so oft in der Geschichte der Arbeiterschutzgesetzgebung bei den interessierten Kreisen begegnen. 1874 behaupteten die holländischen Fabrikanten, das Gesetz über die Kinderarbeit ver- setze der Industrie den Todesstoss, heute nennen sie es ein un- bedeutendes Gesetzchen. So interessant dieser Stimmungs- wechsel in symptomatischer Hinsicht , so wenig hat er vorerst praktische Bedeutung. Folgende Vorschläge macht die Unter- suchungskommission auf grund des gesammelten Thatsachenma- terials :

1) Einführung des Fabrikinspektorats.

2) Verschärfte Redaktion des Gesetzes über die Kinderarbeit.

3) Verbot der Sonntags- und Nachtarbeit für Frauen und ju- gendliche Arbeiter.

4) Sicherung von ausreichenden Ruhepausen für die gleichen Kategorien.

5) Verbot der Frauenarbeit innerhalb eines Monats nach der Entbindung.

Unter dem 19. Dezember 1887 hat die holländische Regie- rung den Kammern einen Gesetzentwurf vorgelegt , der in einigen Punkten über diese nach dem Urteil eines Kommissions- mitglieds wenig durchgreifenden Bestimmungen ') hinausgeht, in allen übrigen noch hinter denselben zurückbleibt. Nur die

dagegen beträgt in England 56 V* St., in Frankreich 72 St. und die Lohnsätze sind in Frankreich geringer , als in England. Ausserdem lässt die französische Gesetz- gebung die in England untersagte Nachtarbeit von Frauen zu. Nichtsdestoweniger können Holden & Co. die Wolle in England zu Preisen kämmen , die einen Nutzen lassen, während sie in Frankreich kaum die Unkosten decken. Dies Resultat bei fast automatischen Maschinen, bei welchen die Geschicklichkeit des einzelnen Arbei- ters nicht von erheblicher Bedeutung , ist eine erstaunliche Thatsache . . . Infolge dieses Umstandes haben Holden & Co. ihre Etablissements in England bedeutend erweitert, während ihr Geschäft in Frankreich nur den alten Umfang behielt.* (Royal Commission appointed to inquire into the depression of trade and industry. II. report Nr. 6754, 6850—51.)

1) Der Verfasser des Kommissionsberichtes, Deputierter Veegens erkannte das unzureichende seiner Vorschläge selbst an , indem er sich als »Opportunist aus Not- wendigkeit« bezeichnete. (Werkmansbode 9. März 1887.)

Archiv für »Ot. Gcsctzgbg u. Statistik I. 6

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82 Pr ings h eim , Die Lage der ar heilenden Klassen in Holland.

Kinderarbeit wird geregelt , die Lösung aller andern Fragen wird dilatorisch der Zukunft überwiesen. Ob diese auf dem Gebiete des Arbeiterschutzes eine reichere Entwicklung zeigen wird, muss dahingestellt bleiben. Noch mehr ist fraglich, ob, falls derselbe in ähnlicher Weise durchgcfiihrt wird, wie in den meisten Ländern des Kontinents, das Bild der holländischen Arbeiterzustände in wesentlichen Zügen sich ändern wird. Gelangt man doch bei einem Vergleich der deutschen und holländischen Verhältnisse zu einem für die Vertreter der weitverbreiteten Anschauung, dass der juristische Fortschritt gleichbedeutend sei mit dem ökonomi- schen und sozialen, sehr lehrreichen Resultat. Trotz der statt- lichen Paragraphenzahl unserer sozialpolitischen Gesetzgebung haben wir in Deutschland kaum erheblich andere Erscheinungen in bezug auf Kinderarbeit , lange Arbeitszeit etc. aufzuweisen , als Holland mit seiner in den ersten Anfängen stehenden Arbeits- gesetzgebung uns zeigte.

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DIE SÄUGLINGSSTERBLICHKEIT IN IHRER SOZIALEN BEDEUTUNG.

VON

Dr A. OLDENDORFF IN BERLIN.

KGL SANITATSRAT

Bei den komplizierten Verhältnissen des gesellschaftlichen Lebens , welche den Ausbau der Soziologie in so hohem Grade erschwerten , verdienen diejenigen Erscheinungen eine ganz be- sondere Beachtung, die in Folge ihrer Eigenart hervorragen, leichter zugänglich sind und hierdurch gleichsam einen Lichtstrahl in das verwickelte soziale Getriebe werfen und uns einen Einblick

in dasselbe gestatten.

Zu diesen Erscheinungen gehört unstreitig auch die Säuglings- sterblichkeit, da sich begreiflicherweise gerade im Kindcsalter bei der naturgemässen geringen Widerstandsfähigkeit desselben , die sozialen Einflüsse ganz besonders bemerkbar machen müssen.

Der Gegenstand gewinnt noch eine um so grössere Bedeu- tung, als bekanntlich die Höhe der Gesamtsterblichkeit von der

der Säuglinge geradezu beherrscht wird. Nach G. Mayr *) beträgt im Königreich Bayern die allgemeine Sterbeziffer 31.4 , bei Aus- schluss der einzigen Altersklasse des ersten Lebensjahres sinkt dieselbe auf 18.6. Noch lehrreicher ist die Veränderung, welche sich

hierbei in der Rangfolge der

Allgemeine Sterblichkeitsziffer :

Oberfranken

24.9

Pfalz ....

26.2

Unterfranken

29. 1

Niederbayern .

31-8

Mittelfranken

32.0

Oberpfalz . . .

32.8

Oberbayern . .

35- 1

Schwaben . .

37 5

nzelnen Regierungsbezirke

ergibt :

Sterblichkeitsfiffer der über dem Lebensjahre Stehenden :

ersten

Niederbayern .

174

Oberfranken . . .

17-5

Pfalz

. 18.2

Oberbayern . . .

18.4

Oberpfalz ....

, 18.6

Mittelfranken . . .

19-4

Schwaben ....

195

Unterfranken . . .

. 20.2

I) G. Mayr, Die Gesetzmässigkeit im Gesellschaftsleben.

München 1877. 6*

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84

Oläendor ff.

Desgleichen haben die jüngst im kaiserlichen Gesundheitsamt angesteliten Untersuchungen ') ergeben , dass die Höhe der Ge- samtsterblichkeit im Reich Hand in Hand geht mit der Höhe der Säuglingssterblichkeit und zwar so, dass diese sich von überwie- gendem Einfluss erweist auf die Gestaltung der niedrigeren (bis zu 22.5°/oo) und höheren Verhältnisziffern (über 27.5) der Gesamtsterb- lichkeit, die Sterblichkeit der über ein Jahr alten Personen hingegen auf diejenige der mittleren Gesamtsterblichkeit (22.5 bis 27.5

In der That hat denn auch die grosse Zahl von Opfern, welche die Kindheit und namentlich das erste Lebensjahr fordern, seit geraumer Zeit die Aufmerksamkeit nicht nur der Aerzte und Hygieniker, sondern auch der Staatsmänner, Nationalökonomen und aller derer auf sich gezogen , welche den das Gemeinwohl berührenden Fragen ein regeres Interesse entgegenbringen.

In Europa sterben gegenwärtig durchschnittlich etwa V10 aller lebend geborenen Kinder bereits innerhalb des ersten Monats, '/ 1 vor Ablauf des ersten Lebensjahres , etwa V> im Laufe der ersten 5 Lebensjahre und kaum 7 von 10 erreichen ihr sechstes Lebensjahr. Die einzelnen Länder und die verschiedenen Gebiete eines und desselben Landes zeigen aber sehr erhebliche Unter- schiede:

Säuglingssterblichkeit in verschiedenen Ländern nach Bodio '). (1865 1878.)

f indrT

VoniooLebcndgchorcncn starben

Von 100 Todesfällen überhaupt

in der Altersklasse von o— i Jahr

fallen auf die Alter'kl. o 11

Italien . . .

21.44

2643

Frankreich

16.62

18.79

England . .

>525

24.76

Schottland . .

I 2 46

19.46

Irland . . .

9.48

'4-35

Preussen . .

21.77

32.20

Bayern . . .

31.62

40.74

Sachsen . .

2763

30.84

\V ürttemberg .

32.36

44.48

Thüringen . .

22.08

3227

Baden . .

27. 16

38.28

Oesterreich

25.77

3' -8o

Slavonten . .

24.65

27.07

Schweiz . .

I9-83

26.21

Belgien . .

«7-35

20.15

Schweden . .

«3-69

21.54

Norwegen . .

10.74

18.21

Europ. Russland

26.54

36-21

Im Mittel . .

20.79

23.80

1) A. Würzburg, lieber die Bevölkerungsvorgänge in deutschen Städten mit 15000 und mehr Kinwohncm im Jahre 1884. Arbeiten aus dem kaiserlichen Gesundheitsamte Bd. 1.

2) Bodio, Movimento dello stato civile anni 1862 —1878. Rom 1880.

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Die Säuglingssterblichkeit in ihrer sozialen Redrutung.

85

Hiernach schwankt in den europäischen Staaten die Säuglings- sterblichkeit zwischen 9 und 32°/o der Lebendgeborenen und zwi- schen 14 und 44°/o der Gesamtsterblichkeit.

Was speziell Deutschland betrifft, so erweist sich daselbst, nach den neuesten Untersuchungen des kais. Gesundheitsamtes *), die Säuglingssterblichkeit in hohem Grade abhängig von der geo- graphischen Lage der einzelnen Teile des Reichs. Im allgemeinen nimmt sie in der Richtung von Nordwesten nach Südosten zu.

Unbeschadet dieses allgemeinen Verhaltens kann man drei Gebiete mit vergleichsweise höherer und höchster Säuglingssterb- lichkeit unterscheiden , ein südliches (Bayern, Württemberg), ein südöstliches (sächsisch- und schlesisch-böhmische Grenze) und ein drittes weiter nördlich in Brandenburg. Diese Gebiete werden als Zentren von einer Reihe Zonen umgeben , deren Säuglings- sterblichkeit im grossen und ganzen um so mehr abnimmt , je weiter peripher dieselben gelegen sind. Die längs der Ostsee, durch ganz Mittel- und Westdeutschland bis zur äussersten Grenze des Reichs in teils grösserer , teils geringerer Mächtigkeit sich hinziehende Zone mit einer Säuglingssterblichkeit von 15.01 bis 20.oo°/o der Lebendgeborenen und die weiter nordwestlich, zu- meist in Schleswig, Oldenburg, Hannover und Westfalen gelegene mit einer Säuglingssterblichkeit bis zu 15,0% können als äusserste periphere Schichten aller drei Zentren mit hoher Säuglingssterb- lichkeit angesehen werden

In den einzelnen preussischen Provinzen erreicht die Säug- lingssterblichkeit eine ähnliche Höhe, wie in den ihnen benachbar- ten deutschen Staaten. Sie beträgt für das ganze Königreich 21.8 und in den einzelnen Provinzen in aufsteigender Reihe in : Schles- wig-Holstein [4.9, Hannover 15.0, Westfalen 15.2, Hessen-Nassau 16.8, Rheinprovinz 17.6, Pommern 19.8, Ostpreussen 21.2, Sachsen 21.3, Posen 21.5, Westpreussen 22.9, Schlesien 25.0, Brandenburg 26.4 und Hohenzollern 33.0.

In Süddeutschland findet sich, worauf G. Mayr J) bereits 1870 hingewiesen , das Maximum der Säuglingssterblichkeit im Fluss- gebiete der Donau, dringt in einem breiten Strich auf das linke Donauufer über den schwäbischen und fränkischen Jura hinaus

1) A. Würzburg, Die Säuglingssterblichkeit im Deutschen Reiche während der Jahre 1875 1877. Arbeiten aus dem kaiserl. Gesundheitsamte Bd. II.

2) G. Mayr, Die Sterblichkeit der Kinder während des ersten Lebensjahres in Süddeutschland. Zcitschr. des kgl. bayr, stat. Bur. 18. Jahrg. 1878.

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86

Ol demtorff ,

bis zum bayerischen Wald vor; der von Südwest nach Nordost fortschreitenden Erweiterung setzen die Gebirgszuge der Alpen und des Böhmerwaldes eine konvergierende Grenze. Innerhalb dieses Rayons gibt es Gebiete, wo, wie in der Gegend zwischen Eichstädt, Ingolstadt und Regensburg die Säuglingssterblichkeit sogar 50 °/o der lebendgeborenen Kinder übersteigt.

Schon diese bedeutenden Unterschiede weisen daraufhin, dass hier ganz bestimmte Ursachen walten müssen, und geht man auf dieselben näher ein, so zeigt sich, dass die Höhe der Säuglings- sterblichkeit in erster Reihe von den sozialen Verhältnissen beein- flusst wird und in der Hauptsache von der Art der Ernährung und Pflege der Kinder abhängig ist.

Hierfür spricht an erster Stelle die allgemein konstatierte That- sache, dass das Leben unehelicher Kinder ungleich mehr bedroht ist, als das der ehelich geborenen.

Die Wahrscheinlichkeit nach der Geburt im ersten Lebensjahre zu sterben ist nach den Ergebnissen in Mecklenburg ') für erstcre i.ymal so gross, als für letztere.

Von den oben erwähnten Zentren hoher Säuglingssterblich- keit in Deutschland betrifft die hohe Sterblichkeit im branden- burgischcn und sächsisch-schlesischen in der Hauptsache, in dem östlichen und westlichen Zentrum sogar ausschliesslich die ausscr- ehclichen Säuglinge , während allerdings im südlichen Zentrum sowohl eheliche als aussereheliche Säuglinge, die letzteren jedoch in noch weit höherem Masse, zahlreich einem frühzeitigen Tode verfallen. In den Bezirken mit geringer Säuglingssterblichkeit kommen höhere Sterbeziffern nur bei ausserehelichen Säug- lingen vor.

Sehr eingehend hat diese Materie u. A. v. Fircks *) in bezug auf das Königreich Preussen behandelt : Nach diesem Autor be- trägt zur Zeit der Geburt die wahrscheinliche fernere Lebensdauer ehelicher Knaben 39.26 Jahre, ehelicher Mädchen 43.7# Jahre, bei unehelichen Kindern dagegen nur 15,2 Jahre für Knaben und 25.0 Jahre für Mädchen. Die eheliche Geburt erhöht mithin die Lebenserwartung eines Knaben um 24 und eines Mädchens um 188/« Jahre. Die ungünstigsten Zustände in bezug auf Wartung

1) Die Sterblichkeit der Kinder während des ersten Lebensjahres im Grossherzog- tum Mecklenburg-Schwerin, Beiträge zur Statistik Mecklenburgs Bd. X. Heft 3

2) v. Fircks, Die Zeit der Gehurten und die Sterblichkeit der Kinder während des ersten Lebensjahres. Zeitschr, des kgl. preuss Statist. Bur. 1885.

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Die Säuglingssterblichkeit m ihrer sozialen Iledcutung.

87

und Pflege unehelicher Kinder bestehen innerhalb des Königreichs Preussen im Landkreise Köln , wo von 1000 Geborenen 695 vor Vollendung des ersten Lebensjahres sterben, demnächst im Stadtkreise Aachen , in welchem die hohe Sterbeziffer der unehelichen Kinder von 59.4°/o durch die Erwerbsthätigkeit eines Teiles der weiblichen Bevölkerung in Spiegel- und Nadelfabriken einigermassen erklärt wird. Sodann folgen die Kreise Stadt Char- lottenburg, Stadt Posen, Teltow, Stadt Elbing, Kulm, Landshut, Marienburg in Westpreussen , Thorn , Harburg, Stadt Liegnitz, Strasburg in Westpreussen und Gnesen. ln allen Landesteilen, deren Bevölkerung neben Deutschen auch Slaven in namhafter Zahl enthält, sowie im ganzen niederschlesischen Industriebezirke ist die Sterblichkeit unehelicher Kinder höher als durchschnittlich im Staate.

Ein weiterer Beleg für den Einfluss sozialer Verhältnisse auf die Höhe der Säuglingssterblichkeit ist die überaus grosse Zahl von Säuglingen , welche infolge unzweckmässiger Ernährung den Verdauungskrankheiten zum Opfer fallen. Die Statistik der Todesursachen der Säuglinge ist wegen der vielen Mängel, welche gerade in dieser Beziehung die Todtenscheine aufweisen, zwar im grossen und ganzen noch wenig zuverlässig ; man wird aber schwerlich fehl gehen, wenn man mit Pfeiffer ') annimmt, dass etwa 40 70 °/o aller im ersten Lebensjahre sterbenden Kinder an Verdauungsstörungen zu gründe gehen.

Das grösste Kontingent hierzu stellen bekanntlich die sog. Päppelkinder: Von 708 im Jahre 1880 in Berlin verstorbenen

Pflegekindern waren nicht weniger als 415 58.6°/o den Durch- fallskrankheiten erlegen 1

In seiner sehr eingehenden dem VI. internationalen Kongress für Hygiene und Demographie zu Wien vorgelegten Arbeit über den einschlägigen Gegenstand berechnet R. Böckh *), dass pro mille der im gleichen Alter lebenden im ersten Lebensalter starben :

1) L. Pfeiffer, Die proletarische und kriminelle Säuglingssterblichkeit. Jahrh. für Nationalökonomie u. Statistik. N. F. Bd. IV. Jena 1882.

2) R. Böckh, Die statistische Messung des Einflusses der Ernährungsweise der kleinen Kinder auf die Sterblichkeit derselben. VI. internat. Kongress für Hygiene und Demographie zu Wien, 1887, Heft XXVIII.

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88

Oldendo rff.

eheliche Kinder

unehcl. Kinder

mit Muttermilch ernährt

7-4

II .O

mit Ammenmilch »

7-7

mit Tiermilch »

42. 1

63.2

mit Tiermilch und Milchsurrogaten 125.7

128.9

Die oben erwähnte günstige Säuglingssterblichkeit in Nor- wegen und Schweden ist zum grossen Teil dadurch herbeigeführt, dass dort fast alle Mütter ihre Kinder selbst nähren , die ungün- stige in Bayern vorzugsweise dadurch, dass dies nicht der Fall ist.

Interessant ist in dieser Beziehung die von Bergmann ’) ge- machte Beobachtung, dass, während sein Physikatsbezirk (Dinkels- bühl in Bayern) von 20000 Einw nach einem 15jährigen Durch- schnitt die hohe Säuglingssterblichkeit von 38°/o aufweist, die- selbe in einem Dorfe desselben Bezirks (in Schopfloch) mit 1900 nur gering bemittelten Einwohnern , grösstenteils kleinen Hand- werkern, bei welchen ausnahmsweise die Sitte herrscht, dass fast jede Mutter ihr Kind 10 12 Monate an der Brust nährt, dagegen nur 24 °/<> beträgt.

Nach Monot ’) betrug im Arrondissement Chateau Chinon, in dem eine ausgedehnte Ammenindustrie herrscht , die Säug- lingssterblichkeit im Durchschnitt der zwölf Jahre 1858 1869: 33°/o , während der Belagerung von Paris , wo die Ammen zu Hause bleiben mussten und ihre Kinder selbst stillten, nur 17%; von den aus Paris heraus in jenes Arrondissement während der 12 Jahre geschickten und daselbst zur Pflege gegebenen Kindern, welche alle künstlich aufgefüttert und nicht überwacht wurden, starben 71 %> im ersten Lebensjahre, von den vom Departement de la Seine unterhaltenen , aber zugleich einer dreimaligen Kon- trolle unterworfenen Kindern nur 26 °/o und bei den unter dauern- der Ueberwachung stehenden Kindern des Kinderschutzvereins sogar nur 12 °/o 1

Aus der erwähnten, überaus eingehenden Arbeit Böckh’s geht auch hervor, dass nicht nur die Muttermilchkinder in Ansehung der Slcrblichkeitsverhältnissc vor den anders ernährten ungemein be- vorzugt sind, sondern auch, dass dieser Vorzug wesentlich in dieser Ernährungsweise selbst seinen Grund hat. »Mögen die

1) Bergmann, Ueber Kindersterblichkeit und KinderemShrung. Bayer. -irrtl. In- telligenzbl. 1878. Nr. 35.

2) Monot, De la morlaliic exccssivc des enfants. Gekrönte Preisschrift des Kin- dcrschutzvereins. Paris 1S74.

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Die Säuglingssterblichkeit in ihrer sozialen Bedeutung.

89

heilsamen Bestrebungen fortgesetzt und erweitert werden, welche die Untersuchung und Kontrolle der zum Verkauf gebrachten Milch, der Beschaffenheit des Wassers, eine Kontrolle der Milch- surrogate zum Zwecke haben; am nützlichsten würde es doch sein, wenn in möglichst grossem Umfange die Muttermilchnahrung selbst wieder an die Stelle künstlicher Ernährung gesetzt werden könnte, wenn also die Hindernisse sozialer, physischer, moralischer Art, welche dem entgegenstehen, beseitigt werden könnten, soziale, insofern die Arbeitsverhältnisse der Frau ihr das Selbstnähren schwer und unter Umständen unmöglich machen , physische, in- dem die ungünstigen Lebensverhältnisse eines Teils der Stadt- bevölkerung die Frauen zum Nähren untüchtig machen, morali- sche, insofern auf die natürliche Ernährung des Kindes nicht der gebührende Wert gelegt wird.« Diese letzteren treten beson- ders gerade in den besitzenden Klassen, die doch mit gutem Beispiel vorangehen sollten , hervor ; oft genug ist es uns in der Praxis vorgekommen, dass die Erfüllung dieser ersten aller Mutterpflichten nicht selten aus geradezu frivolen Gründen abgelehnt wurde ! Hier ist eine gründliche Aenderung der Sitten der höheren Stände geboten I

Nach dem Gesagten ist es leicht verständlich, dass auch bei den Vermögensverhältnissen, dem Stande und der Beschäftigung der Eltern der eminente Einfluss der sozialen Schichtung der Bevöl- kerung auf die Säuglingssterblichkeit statistisch zum Ausdruck gelangt.

Nach den Untersuchungen Wolffs ') beträgt in Erfurt die Säuglingssterblichkeit im Arbeiterstande 30.5°/o, im Mittelstände dagegen 17.3 °/o und bei den hohem Ständen nur 8.9%.

In Braunschweig starben nach Reck *) 1864- 1873 von 1000 ehelich geborenen Kindern im ersten Lebensjahr:

in Familien mit einer jährl. Einnahme von

innere Stadt

äussere S

bis 500

Mark

219

500-800

Mark

169

über 800

Mark

162

bis 5000

Mark-

192

5000 8000

Mark

"3

über 8000

Mark

131

1) A. Wolff, Untersuchungen über die Kindersterblichkeit. Erfurt 1874.

2) Westergaard, Die Lehre von der Mortalität und Morbilität. Kapitel V. Jena 1882.

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90

Oldendorf/ ,

Zu ähnlichen Ergebnissen gelangten Geigel für Würzburg, Wcstergaard für Breslau, und hierauf sind auch die Unterschiede zurückzuführen, welche die industriellen Bezirke den ackerbautrei- benden gegenüber aufweisen. So berechnete u. A. Engel l) für Sachsen die Kindersterblichkeit in vorwiegend industriellen und kommerziellen Gebieten mit 40.0 °/o in vorwiegend ackerbautrei- benden dagegen nur mit 33.4 °/o der Gesamtsterblichkeit. Be- sondere Beachtung verdient in dieser Beziehung namentlich die industrielle Beschäftigung der Frauen. Einzelne Gewerbe wirken besonders nachteilig , so die Beschäftigung mit Giften , Queck- silber und dergl. *) , namentlich auch die Textilgewerbe, wenn sie als Hausindustrie betrieben werden , sodann der wechselnde Lohnerwerb , auch der Bergbau , wo, wie im Waldenburg'schen Kohlenverein, die Frauen der Bergleute im Bereiche der Textil- industrie arbeiten und deshalb die Kinder einen grossen Teil des Tages hindurch ohne Aufsicht und Pflege bleiben (v. Fircks 1. c.). In Mühlhausen starben früher, nach Villerme’s Untersuchungen *), fast die Hälfte der Kinder der Weber und Spinner innerhalb der ersten 15 Monate. Als aber auf seinen Vorschlag der Fabri- kant Dollfuss den Wöchnerinnen gestattete , bei Fortbezug des Lohnes sechs Wochen zu Hause zu bleiben, wurde die Säug- lingssterblichkeit sofort um 25°/o herabgedrückt, ein Fingerzeig, dass hier durch gesetzlichen Schutz der Arbeiterinnen viel zu er- reichen istl

Neben dieser hauptsächlichsten Ursache kommen in der Säug- lingssterblichkeit noch mannigfache andere Faktoren in Betracht, die aber gleichfalls sämtlich mit sozialen Einflüssen mehr oder weniger in Zusammenhang stehen. Hierher gehören der Einfluss des Wohnsitzes, des Klimas, der geographischen Lage, der Witterung der Rassenverschiedenheit.

Die Untersuchungen über den Einfluss des Wohnsitzes der Eltern auf die Säuglingssterblichkeit haben ergeben, dass dieselbe

1) Engel, Die Bewegung der Bevölkerung im Königreich Sachsen (1834—1850). Dresden 1854.

2) Hirt, Die gewerbliche ThMigkeit der Frauen vom hygienischen Standpunkte aus. Breslau 1873.

3) Villerm£, Rapport sur l'^tat phys. et moral des ouvrieis employös dans les fabriques de soie, de lainc ct de coton. Möm. de l'Acatl, des Sciences morales et polit. 2. Serie, U.

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Die Säuglingssterblichkeit in ihrer sozialen Bedeutung. 91

im allgemeinen beträchtlicher ist bei der städtischen, als bei der ländlichen Bevölkerung.

Nach den Beobachtungen in Preusscn (v. Firck's 1. c.) starben in sämtlichen Städten des Königreichs von 100 überhaupt Gebo- renen (incl. Totgeborenen) vor Vollendung des ersten Lebensjahres 25.2 eheliche und 44.9 uneheliche Kinder, auf dem Lande hin- gegen 21.9 resp. 36.2. Die Ziffer ist am höchsten in den Gross- städten, demnächst in Mittel- und Kleinstädten und am niedrig- sten auf dem platten Lande ; aber es finden viele Ausnahmen statt , und selbst einige Grossstädte , wie z. B. Hannover und Frankfurt a. Main, zeigen günstige Verhältnisse.

Nach der oben zitierten Publikation des kais. Gesundheits- amtes starben im Reich im ersten Lebensjahr von 100 ehelich bezw. ausserehelich und insgesamt Lebendgeborenen

ehelicher außerehelicher Abkunft

insgesamt

in Grossstädten

26.85

41 .92

28.73

in Stadtgemeinden

22.85

3329

24.47

in Landgemeinden

21.23

33-94

22.22

Da die Gesamtziffern sich aber aus sehr ungleichartigen Be- standteilen zusammensetzen, so sind dieselben, wie mit Recht her- vorgehoben wird, für die vorliegende Frage nicht beweiskräftig. In der That zeigen sich auch hier wieder zahlreiche Ausnahmen. So ist in einzelnen Regierungsbezirken Preussens: in Hannover, Wiesbaden , Köln, Trier , Sigmaringen , in den Provinzen Ober- und Rheinhessen , in einzelnen Gebieten Bayerns und anderer Staaten abweichend von der Regel die Sterblichkeit der ehe- lichen oder ausserehelichen Kinder höher auf dem Lande als in den Städten.

Man erhält deshalb auch ein anderes Bild, wenn man, wie in folgender Uebersicht, den Unterschied der Säuglingssterblichkeit in den Stadt- und Landgemeinden eines grösseren Bezirks ver- gleicht mit dem Anteil der Städte an dem Gesamtumfange des- selben grösseren Bezirks: (Tabelle s. S. 92.)

Hiernach hatte der an stadtartigen VV'ohnplätzen überhaupt und an grösseren Städten insbesondere reiche Regierungsbezirk Düsseldorf gleichwohl nur eine um etwa ebensoviel grössere Säuglingssterblichkeit in den Städten als der gerade die entgegen- gesetzten Verhältnisse darbietende Regierungsbezirk Gumbinnen.

Alles dies weist darauf hin , dass der erörterte Einfluss des

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92

Olden dar ff ,

Regierungs- bezirke |

Bei der Volkszählung vom 1. Dczcmb. 187$

Im Durchschnitt der Jahre i87S 77 starben in städtischen Gemeinden mehr Säuglinge als in ländlichen

kam x Wohnplatz von aooo u. mehr Einwohnern auf q -Kilometer

lebten von je 100 Pers. der ortsan- wesenden Bev. in Wobnplatxen von aooo und mehr Einwohn.

eheliche

aussereheliche

insgesamt

Düsseldorf

35

I “~“-j

839

i 2 23

| 5-86

2-45

Arnsberg

69

6l. I

«■95

5-29

2.04

Aachen

90

54-o

3-57

*5-75

3-99

Minden

«59

32.0

I.69

3-9«

1.88

Hildesheim

204

3 1 -7

«■52

2.87

1.69

Koblenz

230

23-4

1.54

7.48

«•99

Aurich

3««

*7-5

4 57

3-«4

4-56

Königsberg

459

27.8

4.26

«4 99

6-37

Gumbinnen

882

12.9

«•«3

5-94

1.89

Lüneburg

960

21. 1

3-5«

4.69

4.18

Wohnsitzes auf die Säuglingssterblichkeit weniger von der Ocrt- lichkeit an sich, als von der Verschiedenheit der Lebensverhält- nisse der städtischen und ländlichen Bevölkerung in materieller und sittlicher Beziehung abhängig ist. Es machen sich hier un- streitig dieselben Faktoren bemerkbar, wie sie u. A. Finkelnburg ') überhaupt für den hygienischen Gegensatz von Stadt und Land so überzeugend nachgewiesen. Wo gleiche Schäden wie in den Städten bei der Landbevölkerung vorhanden sind, da findet sich auch bei dieser eine hohe Sterbeziffer. Wie sehr beispiels- weise an einem und demselben Orte die Säuglingssterblichkeit durch das soziale Moment beeinflusst werden kann, zeigt sich u. a. bei den aus den Mitteln der reichen Stiftung des wohlthätigen Humanisten Peabody erbauten allen sanitären Forderungen Rech- nung tragenden Wohnhäusern in London. Während 1876 die Säuglingssterblichkeit in den Bezirken Londons, in denen sich jene Wohnungen befinden, 1 5 -9°/o, in den ärmeren Quartieren so- gar 30% betrug, hatten die Peabody-Häuser nur eine Sterblich- keit von i4.5°/o. (The Brit. med. Journ. 1877 Nr. 845).

Dasselbe gilt im wesentlichen auch bezüglich der Einflüsse des Klima’s, der geographischen Lage, der Rassenverschiedenheiten : ln der kalten und heissen Zone gehen */» resp. aller Ge- borenen bereits im ersten Lebensjahre, zumeist an Konvulsionen wieder zu gründe. Welche gewichtige Rolle aber hierbei Lebensver- hältnisse, Kulturzustände, Kinderpflege u. dgl. spielen, geht u. A.

l) Finkelnburg, lieber den hygienischen Gegensatz von Stadt und Land , insbe- sondere in der Rheinprovinz. Centralbl. f. allgem. Gesundheitspfl. 1. Jahrg. Bonn 1882 .

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Die Säuglingssterblichkeit in ihrer sozialen Bedeutung.

93

daraus hervor, dass auf der Insel Westermannöe bei Island nach Errichtung einer Gebär- und Kinderpflegeanstalt die enorme Sterb- lichkeit in den ersten 14 Lebenstagen von 62 °/o der Geborenen auf 28% herabging1).

Unter den topographischen Momenten ist namentlich der Elevation über dem Meeresspiegel eine gewisse Bedeutung beige- legt worden.

Escherich *) stellt auf Grund seiner Untersuchungen über die Säuglingssterblichkeit in Süddeutschland u. A. den Satz auf : Je höher gelegen der Wohnort, desto grössere Sterblichkeit bei den Neugeborenen.

PIoss s) berechnete die Säuglingssterblichkeit im Königreich Sachsen für eine Höhe über dem Meere von :

bei Knaben bei Mädchen

1000 1800 Fuss mit i9°/o 16% der Gesamtsterblichkeit

700 1000 » » i8°/o i4'/o »

400 700 » » 16% 13 “/o >

PIoss gibt indessen selbst zu , dass diese mit der Elevation des Wohnorts wechselnde Säuglingssterblichkeit zu einem grossen Teile sich aus einer Differenz in der Ernährungsweise erklären lässt.

Auch die oben erörterte hohe Abhängigkeit der Säuglings- sterblichkeit in Deutschland von der geographischen Lage der einzelnen Teile des Reichs dürfte sich in der Hauptsache auf der- artige Einflüsse zurückführen lassen.

Säuglingssterblichkeit und Höhenlage stehen nicht überall in geradem Verhältnis ; in demselben Gebiete zeigen oft gleich hoch gelegene Bezirke erhebliche Unterschiede und überall, auch in den hoch gelegenen Gebirgsgegenden treten die Krankheiten der Atmungsorgane hinter die der Verdauung bedeutend zurück.

Einen unverkennbaren Einfluss üben auf die Säuglingssterb- lichkeit die Jahreszeiten aus. Während in Deutschland , wie in der gemässigten Zone Europas überhaupt, das Maximum der Ge- samtsterblichkeit gegen Ende des Winters , das Minimum gegen Ende des Sommers fällt, fordert unter den Säuglingen umgekehrt

1) Oesterlen, Handbuch der mcd. Statist. Tübingen 1865 pag. 147.

2) Escherich, Die Sterblichkeit der Kinder itn ersten Lebensjahre in Süddcutsch- land. Bayer, arztl. Intelligenebl. 1860.

3) PIoss, Die Kindersterblichkeit in ihrer Beziehung zur Elevation des Bodens. Archiv Tür Wissenschaft! Heilkunde 1S61, VI.

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94

Oldendorf/,

der Sommer die grössten Opfer. In Berlin und vielen anderen Städten ist diese Sommersterblichkeit der Säuglinge so gross in Berlin treffen auf das Sommerquartal nahezu zwei Drittel des jährlichen Sterblichkeitskontingentes der Säuglinge , dass sie die zeitliche Verteilung der gesamten Sterbefälle geradezu beherrscht und sie gestaltet sich um so grösser, je heisser und trockener der Sommer ist (cf. Petersen ') und Böckh 1. c.). Herbeigeführt wird sie vorzugsweise durch Krankheiten der Verdauungsorgane, die so gefürchteten Sommerdiarrhöen und Brechdurchfälle, die im Juli und August vor allem unter den Kindern unserer ärmeren Bevölkerung in den entlegenen Stadtteilen so erschreckliche Ver- heerungen anrichten. Die ätiologischen Momente dieser Ver- dauungsstörungen sind noch nicht hinreichend aufgeklärt. Neben diätetischen Schädlichkeiten scheinen hierbei , worauf namentlich Finkelnburg s) hingewiesen , Ueberhitzung des kindlichen Orga- nismus, wie sie sich leicht in den engen, überfüllten, schlecht ge- lüfteten Wohnräumen der armen Bevölkcrungsklassen vollzieht, und Einflüsse infektiöser Art eine Rolle zu spielen.

Auch die Winterkälte ist dem zarten Kindesalter gefährlich und fordert namentlich in den ersten Lebenswochen infolge der durch sie begünstigten entzündlichen Afifektionen der Atmungs- organe zahlreiche Opfer.

Dass aber die Wirkung dieser atmosphärischen Einflüsse wiederum in hohem Grade abhängig ist von den sozialen Ver- hältnissen liegt auf der Hand.

In Hinsicht des Einflusses von Rasseneigentümlichkeiten wird meist auf die überaus günstige Säuglingssterblichkeit bei den Juden hingewiesen :

Bereits Hoffmann 3) hat hierauf aufmerksam gemacht. Er fand, dass in Preussen die Christen vor Ablauf des 5. Lebens- jahres fast 'k aller ehelich Geborenen (incl. Totgeborenen) , die Juden hingegen von ihren sämtlich Geborenen, ehelichen und un- ehelichen nur wenig übers/n verloren. Seitdem hat diese Beob- achtung vielfach Bestätigung gefunden. So fand v. Fircks (1. c.),

1) Petersen, Die Geburts- und Sterblichkeitsverhältnisse der Stadt Berlin in den Jahren 1861—1878. Correspondenzbl. des niedeiTh. Vereins für öffentl. Gesundheitspfl. 1879. VIII.

2) Finkelnburg, lieber die Sterblichkeitsverhältnisse Berlins. Eulenberg's Viertel- jahrsschr. f. ger. Medizin etc. N. F. XXX, 1.

3) Hoffmann, .Sammlung kleiner Schriften u. s. f. Berlin I843 unt* *847.

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Die Säuglingssterblichkeit in ihrer sozialen Bedeutung.

95

dass von je 1000 ehelich Geborenen vor Ablauf des ersten Lebens- jahres starben bei evangelischen Eltern 229, bei katholischen 223,

bei jüdischen Eltern

nur 172 ,

ferner A. Glatter '), dass von ioo

Geborenen starben bei

Juden

Christen

(Serben, Deutschen, Slaven, Ungarn)

im 1. Monat

8-3

l6. 1

im 2. 5. Jahr

15.0

17.7

im 3 —5- Jahr

44.6

52.8

Nach A. Legoyt

5) kamen

in der Stadt Algier im Jahre 1840

je ein Todesfall auf 22.5 Europäer und auf je 35.8 Juden.

Hierher gehört auch die von Schweig5) gemachte Beobach- tung, dass im badischen Schwarzwalde die von vorherrschend germanischem Stamme bevölkerten Bezirke eine erheblich höhere Sterblichkeit aufweisen, als die von überwiegend keltischem und baskischem Stamme bevölkerten westlichen.

Man wird indessen schwerlich fehl gehen , wenn man alle diese Unterschiede gleichfalls mehr mit den verschiedenartigen sozialen Lebensverhältnissen , fehlerhaften Gewohnheiten in der Pflege und Ernährung der Kinder in Verbindung bringt. Hierauf weist schon der Umstand hin, dass, ganz abgesehen von dem Zurücktreten des Rassenelementes in Folge der vielfachen Ver- mischungen, bei den Juden ein sehr erheblicher Unterschied be- steht in der Sterblichkeit ihrer ehelichen und unehelichen Kinder. Während die der ersteren , wie oben gezeigt , sich so überaus günstig gestaltet, sind nach v. Fircks die unehelichen Kinder jü- discher Mütter beträchtlich mehr gefährdet. Denn es überlebten das erste Jahr unter je 1000 von evangelischen Müttern unehe- lich Geborenen 624 , von katholischen 603 , von jüdischen nur 592. Desgleichen bemerkt Glatter , dass die Judenkinder zwar am günstigsten gestellt sind in dem Säuglingsjahre , dass aber später bei den nicht wohlhabenden Juden, deren Kinder schon in den Entwickelungsjahren auf Erwerb ausgehen, die Sterblich- keit grösser ist als bei den Christen.

1) A. Glatter, Ueber die Lebenschancen bei den Israeliten etc. Wetzlar, 1856, und : das Rassenelement in seinem Einfluss auf biotische Zustande. Oesterr. Rev, Wien 1863.

2) Legoy t, De la vital it6 de la race juive. Journ. de la socict6 de »tat. de Paris. 1865. VL

3) Schweig, Beiträge zur Medizinalstatist. Erlangen 1878. Heft I.

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O Id en do rff ,

96

Es erübrigt schliesslich noch mit einigen Worten auf die Be- deutung der hauptsächlichsten Todesursachen der Säuglinge ein- zugehen. Von den Verdauungskrankheiten und den Krankheiten der Atmungsorgane ist bereits die Rede gewesen; es kommen hier nur noch in Betracht die Totgeburten , die Infektionskrank- heiten, die Lebensschwäche und die angeborenen Krankheiten.

Die Ziffer der Totgeburten stellt sich in Europa im Mittel auf 3.8% der Geburten und 4.7°/o aller Todesfälle. Sie wird aber, wie die Säuglingssterblichkeit selbst, gleichfalls von den sozialen Verhält- nissen wesentlich beeinflusst. Sie ist viel grösser bei unehelichen als bei ehelichen Kindern (nach den Erfahrungen in Preussen im Verhältnis von 54: 38), grösser in den Städten als auf dem Lande (43.0°/oo gegen 39.6°/oo) , grösser in Gegenden , in denen viele ■Frauen in der Textilindustrie u. s. w. erwerbthätig sind , als in denjenigen Bezirken, in denen vorherrschend Bergbau und Eisen- industrie oder gar lediglich Ackerbau betrieben werden. Unter den verschiedenen Berufszweigen hatten in Preussen 1877 : Dienst- boten und Gesinde eineTotgeburtszifier von 57.76°/oo, Fabrikarbeiter 45.93°/oo, städtische Arbeiter und Tagelöhner 44.7Ö%o, dagegen der Lehrstand 28.59°/oo, die künstlerischen Betriebe nur 24.87 der Geborenen u. s. w.

Unter den Infektionskrankheiten nehmen in der Säuglings- sterblichkeit die Blattern den ersten Platz ein ; ihre verheerende Wirkung tritt namentlich in Bevölkerungen, die des Impfzwanges entbehren und in Zeiten von Pockenepidemien hervor ; es ist hin- reichend bekannt , welch ein hohes Kontingent die niederen Be- völkerungsschichten alsdann zu den dieser schrecklichen Seuche erliegenden Opfern stellt. Die übrigen Krankheiten dieser Gruppe und speziell die Ausschlagsfieber, Scharlach, Masern, treten aber in der Regel erst vom zweiten Lebensjahre an in den Vorder- grund.

An angeborener Lebensschwäche gehen endlich, nach den in England und Deutschland gemachten Beobachtungen, durchschnitt- lich etwa 4.5"/« und mehr der Neugeborenen bald nach der Ge- burt wieder zugrunde. Aber auch dieses gewissermassen natür- liche Moment hängt ebenso wie die frühzeitigen Todesfälle infolge ererbter konstitutioneller Krankheiten (Syphilis u. dgl.) zu einem Teil gleichfalls mit den sozialen Zuständen der Bevölkerung zu- sammen. Hierher gehören die auf den mütterlichen Organismus direkt einwirkenden Schädlichkeiten , wie schwere Fabrik- und

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97

Landarbeit, das die Gesundheit untergrabende materielle und sitt- liche Elend , Ausschweifungen aller Art und ihre Folgen , unter denen namentlich der Alkoholismus eine grosse Rolle spielt.

Liegt es nun im Bereich der Möglichkeit , diese Ursachen abzuschwächen und hierdurch den vom allgemein menschlichen wie nationalökonomischen Standpunkte aus beklagenswerten Ver- lust so vieler entwickelungsfahiger Menschenleben einzuschränken ? Die Frage ist begreiflicherweise vielfach diskutiert worden. So sind u. A. von der Academie de m^decine in Paris ') und in Deutschland von der Sektion für öffentliche Gesundheitspflege der Naturforscherversammlung in Innsbruck s) die Massnahmen näher präzisiert worden , welche zur erfolgreichen Bekämpfung der ex- cessiven Säuglingssterblichkeit erforderlich sind.

Oeffentliche und private Gesundheitspflege. Bekämpfung von Vorurteilen in der Ernährung und Pflege der Säuglinge, Hebung der allgemeinen Bildung sind sicherlich im stände, hier nützlich zu wirken, im wesentlichen fällt aber nach dem obigen Resum6 der einschlägigen Thatsachen die Bekämpfung der excessiven Säug- lingssterblichkeit mit den Aufgaben zusammen, welche die Hebung allgemeiner Wohlfahrt und Gesittung bezwecken. Daher hat die Sozialpolitik auf diesem Gebiete den ersten Platz zu beanspruchen, und wir zweifeln nicht, dass die in Deutschland nach dieser Richtung hin in Angriff genommenen Massnahmen mit ihrer weiteren Entwickelung auch eine Verminderung der Säuglings- sterblichkeit zur Folge haben werden.

1) R. Virchow, Ueber die Sterblichkeitsverhältnisse Berlins. Berl. klin. Wochen- schr. 1872. Nr. 50. General bericht über die Arbeiten der Berliner städtischen ge- mischten Deputation für die Untersuchung der auf die Kanalisation und Abfuhr be- züglichen Fragen.

2) Deutsche Vierteljahrsschr. f. ölTentl. Gesundheitspfl. 1879, I.

Archiv Air so*. GescUgbg u. Statistik- I.

7

UNTERSUCHUNGEN ÜBER DIE KÖRPERLICHE ENTWICKLUNG DER ARBEITERBEVÖLKER- UNG IN ZENTRALRUSSLAND.

VON

Dr. F. ERISMANN,

O. Ö. PROFESSOR DER HYGIENE AN DER MOSKAUER UNIVERSITÄT.

Im Jahre 1878 fasste die Landschaftsversammlung des Mos- kauer Gouvernements, auf Antrag der landschaftlichen Sanitäts- kommission, den Beschluss bei der Regierung ein Gesuch einzu- reichen, sie möchte eine Untersuchung der hygienischen Zustände in den zahlreichen Fabriketablissements des Gouvernements von Seite der Landschaft (Semstwo) gestatten. Als dann im Früh- jahre 1879 vom Minister des Innern, im Einverständnisse mit dem Finanzminister, in dessen Ressort sich die Fabriken befinden, die nachgesuchte Erlaubnis erteilt wurde, beauftragte die Landschafts- Verwaltung mit der Ausführung dieser Untersuchungen den Autor dieser Zeilen, in Gemeinschaft mit Dr. A. 1’ogoschefF; zwei Jahre später gesellte sich uns noch Dr. E. Dementjefif hinzu. Die En- quete begann im 1 lerbst 1879 und nahm volle 6 Jahre in An- spruch. Die Resultate derselben sind schon beinahe vollständig im Drucke erschienen (14 Bände, zu denen sich im I^aufe dieses Jahres noch etwa 3 Bände hinzugesellen werden). Das Programm der Untersuchung war vorläufig von der Aerzteversammlung der Landschaft, unter Mitwirkung einiger Statistiker, ausgearbeitet und sodann von uns dem praktischen Bedürfnisse angepasst worden. Dasselbe war sehr reichhaltig, umfasste allseitig sowohl die Ein- richtung der Fabriken und die Technik der Produktion (soweit sie vom hygienischen Standpunkte aus Beachtung verdient), als auch die Lebensverhältnisse der Arbeiter, und enthielt unter an- derem auch Fragen, die sich auf die körperliche Entwicklung der Arbeiter bezogen. Bei der Ausführung dieses Teiles des Pro-

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Vntersuchungm Uber die körperliche Fjiht'ieklung der Arbeiter etc. cycy

grammes wurde nun, im Interesse möglichster Objektivität, nicht nur eine allgemeine Schilderung des Gesundheitszustandes der Arbeiter angestrebt, sondern es wurden auch systematische Mes- sungen der Körperlänge und des Brustumfanges ausgeführt. Ausser- dem unternahm Dr. Dementjeff noch Bestimmungen des Körper- gewichtes und der Muskelkraft gewisser Arbeitergruppen.

Es leuchtet ein, dass gerade durch diese anthropometrischen Untersuchungen, die sehr viel Zeit in Anspruch nahmen, der Gang der Enquete wesentlich verzögert wurde ; aber wir waren der Ansicht, dass dieser Uebelstand durch die Resultate, die wir uns von ‘derartigen Messungen versprachen, reichlich aufgewogen werde , und wir glauben uns in diesen Erwartungen nicht ge- täuscht zu haben. Ich fuge hinzu, dass wir die Gelegenheit be- nutzten, um bei Anlass dieser Messungen auch das Lebensalter, die Herkunft (Gouvernement) und die spezielle Beschäftigung der einzelnen Arbeiter zu notieren ; ausserdem wurde jeder Arbeiter darüber gefragt, ob er ledig oder verheiratet sei, ob er lesen und schreiben könne und wie lange er auf Fabriken arbeite; endlich wurden auch etwaige körperliche Gebrechen oder Folgezustände von Krankheiten genau verzeichnet. Wo sich, wie dies in einigen grösseren Fabriken der Fall ist, die ärztliche Hilfe als mehr oder weniger gut organisiert erwies (eigenes Krankenhaus, Fabriksarzt u. s. w.), wurde das Material der Krankenbücher in weitgehender Weise verwertet und dürfte die Bearbeitung desselben , Hand in Hand mit den Resultaten anthropometrischer Untersuchungen, sehr wertvolle Aufschlüsse über die sanitäre Bedeutung der ein- zelnen Industriezweige geben können.

Die folgenden Ausführungen enthalten nun die Resultate einer teilweisen Bearbeitung des bei den eben erwähnten Mes- sungen gewonnenen Materiales. Sie möchten um so mehr der Beachtung (und zwar sowohl von Seiten der Acrzte als auch von Seiten der Statistiker) wert sein, als in der einschlägigen Litte- ratur nicht selten darauf hingedeutet wird, dass die Fabrikarbeit mit zahlreichen und mannigfaltigen Gesundheitsschädlichkeiten für die Arbeiter verbunden sei, dass, im Vergleich zur übrigen Bevölkerung, die Krankenzahl unter den Fabrikarbeitern sehr gross sei , namentlich der jugendliche Organismus unter diesen Schädlichkeiten leide , und die Folgen des Fabrikeinflusses nicht nur für den Einzelnen , unmittelbar Beteiligten , sondern auch für das Gemeinwesen sehr schwerwiegende seien , weil die kör-

7*

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t oo Erismann,

perliche Entwicklung ganzer Generationen durch die mit der professionellen Beschäftigung verbundenen Schädlichkeiten hin- tangehalten werde. So berichtete unlängst Dr. Schüler in sei- nem ausgezeichneten, dem VI. internationalen Kongress für Hy- giene und Demographie in Wien vorgelegten Referate Uber Fabrikhygiene und Fabrikgesetzgebung, dass in der Schweiz, in industriereichen Gegenden, durchschnittlich [9.7 23.3% Militär- pflichtiger wegen mangelhafter Körperentwicklung für 1 2 Jahre zurückgewiesen werden müssen, während in fabrikarmen Bezirken die Zahl der Zurückgesetzten nur 14.3 18.9 °/o beträgt. Hier haben wir es also vorzugsweise mit einer verspäteten Körper- entwicklung der Fabrikarbeiter zu thun. »Aber auch als eine dauernd hinter der andern Bevölkerung an Kraft und Gesund- heit zurückstehende fahrt Dr. Schüler fort stellte sich die männliche Fabrikbevölkerung dar : während z. B. von sämtlichen 16040 Rekruten eines ostschweizerischen Kreises n.3 °/o wegen mangelhafter Entwicklung definitiv entlassen werden mussten, waren es bei den Stickern 14.5 °/o, bei allen andern Fabrikarbei- tern 19.3 #/o. Alles dies stimmt mit einer Wahrnehmung überein, welche der oberflächlichste Beobachter machen kann mit dem in der Regel viel schlechteren Aussehen der Fabrikkinder*.

Derartige Beobachtungen, die sich gewiss auch in andern Ländern wiederholen, sind zweifellos äusserst wichtig , weil sie unsere Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand von grosser Be- deutung lenken; aber sie sind, ihrer Allgemeinheit wegen, nicht imstande den Einfluss der Fabrikarbeit auf die körperliche Ent- wicklung des Menschen hinlänglich zu beleuchten. Dasselbe gilt auch von den zur Zeit vorhandenen anthropomctrischen Unter- suchungen, die an Individuen verschiedener Stände und Profes- sionen und teilweise auch an Fabrikarbeitern angestellt worden sind, sie dürfen nur mit äusserster Vorsicht benutzt werden und Topinard ') hat gewiss Recht zu sagen, dass »sie alle rasch unter den Händen schmelzen, sobald man an sie etwas strengere wissenschaftliche Forderungen stellt«, sie sind entweder nicht zahlreich und nicht vollständig genug, oder haben andere Mängel, welche uns nicht erlauben endgiltige Schlüsse aus ihnen zu ziehen. Und wenn man dies von den vorhandenen anthropometrischen Untersuchungen im Allgemeinen sagen muss, so gilt es um

l) Topinnrrl, Elements irantlirnpologie g^n^rale. 1885. paß. 446.

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Untersuchungen über die körperliche Entwicklung der Arbeiter eie. ioi

so mehr von denjenigen, wenig zahlreichen Beobachtungen , die sich mehr oder weniger speziell auf Körpermessungen an Per- sonen aus der arbeitenden Klasse, im Vergleich mit den Ver- tretern anderer Stände, beziehen. So sind z. B. die ersten von Quctelet *) citierten Untersuchungen dieser Art , die von Cowell einerseits an Fabrikkindern, andererseits an nicht in Fabriken be- schäftigten Individuen gleichen Alters angestellt worden sind, durchaus nicht zu gebrauchen , denn erstens wurden die Mes- sungen der Körperlänge ohne Beseitigung des Schuhwerkes an- gcstellt und zweitens ist die Zahl der untersuchten Kinder eine so geringe, dass die Resultate in hohem Masse von Zufälligkeiten beeinflusst werden mussten. Ich würde es aus diesen Gründen für nicht erlaubt halten aus den Zahlen Cowell's den Schluss zu ziehen, dass die Fabrikarbeit das Längenwachstum des Körpers hintanhält oder auch nur verzögert.

Dasselbe bezieht sich in gewissem Grade auch auf die von Roberts“) zusammengestellten Untersuchungen, die in England an Personen verschiedener gesellschaftlicher Stellung und ver- schiedener Professionen vorgenommen worden sind. Trotz ihrer bedeutenden Zahl sind sie zu exakten Schlüssen wenig geeig- net, einmal weil sie in Beziehung auf manche Altersperioden be- deutende Lücken darbieten , sodann weil die einzelnen Grup- pen allzu verschiedene Elemente einschliessen , und endlich, weil die Rasseneinflüsse, die hier jedenfalls eine bedeutende Rolle spielen, nicht eliminiert sind. Die Statistik Roberts gibt uns also nur Zahlen, die in gewissem Sinne unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, die aber zu einer wissenschaftlichen Analyse und zu Vergleichungen wenig geeignet sind.

Aus den angeführten Gründen wird man es mir verzeihen, wenn ich im folgenden mich wesentlich auf die Resultate eige- ner Untersuchungen beschränken und keine weitgehenden Ver- gleichungen mit den Beobachtungen Anderer anstellen werde. Ich halte vielmehr dafür, dass das Material, über welches ich ver- füge, seiner bedeutenden Grösse halber , in vielen Beziehungen als Basis künftiger Vergleichungen dienen kann. Uebrigens will ich gleich hier bemerken , dass dasselbe noch durchaus nicht in allen Richtungen bearbeitet und mit dem in diesem Aufsatze

1) Physique sociale. II. pag. 22 u. folgde.

2) Sl. George's Hospital Report. 1877, VIII. Siehe auch Topinard, a. a. O. S. 446 u. folgde.

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102

Er ismann,

Enthaltenen noch keineswegs erschöpft ist; wir hoffen imstande zu sein, bei weiterer Verwertung desselben noch einige Fragen gründlicher zu beleuchten, die im folgenden entweder ganz um- gangen sind oder nur leichthin berührt werden konnten.

Die Zahl der von uns im Gouvernement Moskau (mit Aus- schluss der Stadt) untersuchten Fabriketablissements beläuft sich auf 1229, mit einer Arbeiterzahl von 95 000 (Minimum) 147 500 (Maximum); zur Zeit der Untersuchung, die mit einer nicht unbe- deutenden Krisis in den hauptsächlichsten Industriezweigen des Gouvernements zusammenfiel, betrug die Zahl der Arbeiter ca. 1 15 500, wozu noch 4000 5000 nur in den Sommermonaten be- schäftigter Ziegelarbeiter gerechnet werden müssen.

Der Grösse nach variieren die untersuchten Etablissements in sehr weiten Grenzen: wir finden hier kleine Gerbereien, We- bereien, chemische Gewerbebetriebe u. dgl. mit 10 20 Arbei- tern, eine sehr grosse Zahl von Fabriken aller Art mit 100 500 Arbeitern, zahlreiche Textilfabriken mit je 500 2000 Arbeitern und treffen endlich einzelne Etablissements von enormem Umfange und einer bis an 8000 reichenden Arbeiterzahl.

Was nun die Art der Produktion anbelangt, so sind die untersuchten Fabriksbetriebe ziemlich mannigfaltig; doch ist die Textilindustrie (Verarbeitung von Baumwolle und Wolle) so- wohl in bezug auf die Anzahl der Betriebe, als auch in bezug auf die Menge der in denselben beschäftigten Arbeiter bei wei- tem vorherrschend : in der Baumwollindustrie allein ist etwa die Hälfte aller Fabrikarbeiter des Gouvernements beschäftigt.

In der folgenden Tabelle habe ich die einzelnen Industrie- zweige, der leichteren Uebersicht halber, in einige grössere Grup- pen zusammengestellt.

Zahl der Zahl der Etablissements. Arbeiter.

I. Textilindustrie (Spinnereien und Webereien in Baumwolle, Seide und Hanf, Bleichereien, Färbereien, Drucke- reien u. s. w.) 737 99131

II. Industrie der Steine und E r den (Glas- und Porzellanfabriken, Töpfe- reien , Ziegclbrcnnereien , Cementfa- briken u. dgl.) 69 6301

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Untersuchungen über die körperliche Enhvicklung der Arbeiter etc. 103

Zahl der Zahl der Etablissements. Arbeiter.

III. Metallverarbeitung (Maschinen-

fabriken, Eisengiessereien, Nägel- und Drahtfabriken, Fabrikation von Messing- waren u. s. f.)

IV. Chemische Industrie (Chemische Materialien, Kerzen- und Seifenfabri- kation, Wachsbleichereien, Zündholz- u. Spiegelfabriken, Siegellackindustrie)

V. Lederindustrie

VI. Papierindustrie

VII. Möbel- und Holzindustrie . .

VIII. Lebensmittelindustrie (Mühlen,

Konditoreien, Bierbrauereien, Zucker- fabriken u. dgl.)

IX. Buchdruckereien

Die Zahl derjenigen Arbeiter, deren Alter eruiert wurde, beläuft sich auf 101 241, darunter 65041 (64.24 °/o) Männer und 36 200 (35.76 °/o) Frauen. Dieselben verteilen sich in folgender Weise auf die einzelnen Altersgruppen :

Lebensalter

Männer

Frauen

Gesamtzahl

Prozent

Unter 12 Jahren

1342

960

2302

2.28

12 14 Jahre

5380

3948

9323

9*21

15—17 »

7641

7394

15035

14-85

18—60 »

49304

23715

73019

72.12

Ueber 60 *

>374

>83

1557

JJ4_

Summa

65041

36200

101241

100.00

Wir haben also, in abgerundeter^ Ziffern 11.5 % Kinder, 15 °/o junge Leute, 72 °/o Erwachsene und 1.5 % Greise. Gegenwärtig, nachdem seit 1884 das im Jahre 1882 dekretierte Kinderschutz- gesetz in kraft getreten ist, werden Kinder unter 12 Jahren in den Fabriken nur ausnahmsweise noch angetrofifen ; aber auch die Zahl der Kinder von 12 15 Jahren, deren Arbeitszeit durch das Gesetz beschränkt ist, scheint nach den Berichten der Fabrik- inspektoren abgenommen zu haben , da in manchen Fabrikbe- trieben die Kinder durch junge Leute und Frauen teilweise er- setzt worden sind.

Von 35890 Arbeiterinnen, deren Familienstand in Er- fahrung gebracht wurde, waren 14449 (40.26 °/o) verheiratet, 18752 (52.25 °/o) unverheiratet und 2689 (7.49%) Witwen.

79

4876

96

1296

67

1154

>7

862

119

783

44

1034

1

37

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104

Er isma nn,

Was die Herkunft der Arbeiter auf den untersuchten Fa- briken anbelangt, so stammen dieselben fast ausschliesslich aus Zentralrussland d. h. aus dem Moskauer Gouvernement selbst und aus den dasselbe unmittelbar umgebenden Gouvernements : Tula, Kjäsan, Kaluga, Wladimir, Ssmolensk und Twcr; 103 17 5 Arbeiter beiderlei Geschlechts, deren Herkunft notiert wurde, verteilen sich auf die einzelnen Gouvernements folgendermassen :

Gouv.

Moskau

66038

64.OI °/o

»

Tula

8725

=

8.46 »

»

Rjäsan

8186

=

7-93 »

>

Kaluga

7821

=

7.58 »

»

Wladimir

4996

=

4.84 »

>

Ssmolensk

4993

4.84 »

»

Twer

1315

1.27 »

Alle übrigen Gouv.

IIOI

-

1.07 »

Summa

^03175

=

100.00 */ 1

Wir können also mit Recht sagen (was für die Beurteilung des folgenden nicht unwichtig ist) , dass wir eine im e t n o- graphischcn Sinne in hohem Grade einförmige Be- völkerung vor uns haben, und dass fast alle untersuchten Arbeiter ihrer Abstammung nach Grossrussen sind. Es ist wahr, die Bevölkerung des Gouvernement Ssmolensk besteht teil- weise aus Weissrussen, doch dürfte dieser Thatsachc in bezug auf die aus unseren Untersuchungen zu ziehenden Folgerungen keine wesentliche Bedeutung beizumessen sein , da erstens die Verschmelzung der Weissrussen und Grossrussen im Gouverne- ment Ssmolensk eine sehr innige zu sein scheint, und da zweitens die Zahl der Arbeiter aus diesem Gouvernement überhaupt keine sehr bedeutende ist.

Die Zahl der anthropometrisch untersuchten Individuen be- lauft sich auf mehr als 100 000 Personen beiderlei Geschlechts (64 820 Männer und 36 102 Frauen) und jeglichen Alters zwischen 8 und 80 Jahren. Hierunter befinden sich, ausser den eigent- lichen Fabrikarbeitern, auch diejenigen Handwerker (Schlosser, Schmiede, Schreiner, Tischler u. dgl.) und Taglöh- ner, die auf jeder grösseren Fabrik immer in mehr oder weniger bedeutender Anzahl vorhanden sind. Diese beiden Kategorien von Arbeitern nun, die nicht wohl zur ständigen und spezifischen Fabrikbevölkerung zu rechnen sind, befinden sich durchwegs in anderen, hygienisch grösstenteils weit günstigeren Verhältnissen

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Untersuchungen iibei die körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. 105

als die eigentlichen Fabrikarbeiter ; namentlich stehen die Tag- löhner der Landbevölkerung viel näher als dem industriellen Ar- beiter. Dieser Umstand gab uns, wie weiter »inten ersichtlich sein wird , Gelegenheit zu nicht uninteressanten Vergleichen, die den verhängnisvollen Einfluss der ständigen Beschäftigung innerhalb der Fabriken auf die körperliche Entwicklung der Ar- beiter grell beleuchten.

Was die Technik der Untersuchung anbetrifft, so wurde die Messung der Körpcrlänge in gewöhnlicher Weise und nach Be- seitigung jeglicher Fussbekleidung vorgenommen. Der Brustum- fang wurde, im grossen und ganzen in Uebereinstimmung mit den Vorschlägen Toldt’s *) , in der Höhe des 8. Brustwirbels (hinten) und der 4. 5. Rippe (vorn) gemessen ; als Leitungspunkte dienten hiebei einerseits die unteren Winkel der Schulterblätter, anderseits die Brustwarzen, in deren Höhe das Messband ange- legt wurde. Die Ablesung geschah bei gewöhnlichem, ruhigem Atmen, im Momente der Atempause; verschiedene, an den zu Untersuchenden gerichtete Fragen, oder ein einfaches Gespräch mit ihm, dienten dazu seine Aufmerksamkeit von der Messung abzulenken und möglichst ruhige und regelmässige Atembeweg- ungen seinerseits hervorzurufen. Um eine erhebliche Verschiebung der Brustwarzen und Schulterblätter möglichst zu vermeiden, wurde das nicht selten übliche vertikale Emporheben der Hände während der Messung nicht angewendet und dem Oberarm nur eine horizontale Stellung gegeben, die sich auf einfache Weise dadurch erzielen liess, dass der zu Untersuchende angewiesen wurde, das Hemd in die Höhe zu heben. Einige Schwierigkeiten bot die Messung des Brustumfanges bei erwachsenen Mädchen und Frauen; doch erreichten dieselben nur selten einen höheren Grad, Dank der bei unseren Arbeiterinnen allgemein üblichen Art der Kleidung (Ssaraphan), bei welcher die Brust unmittelbar oberhalb der Brustdrusen leicht umgürtet ist und jede künstliche Hebung der Brüste vermieden wird; hiebei ist es meist nicht sehr schwer, auch über der Kleidung das Messband an der rich- tigen Stelle anzulegen, ohne dass die Brüste ein Hindernis hiefiir bilden würden ; auf Rechnung der Kleidung, die an der betreffen- den Stelle eigentlich nur aus dem Hemde besteht, wurde, ent- sprechend mehrfachen Kontrollbestimmungen, 0.5 I cm von der

1) Toldt, Studien über die Anatomie der menschlichen Itrustgegend etc. 1875.

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IOÖ Erismann,

am Messbande abgelesenen Grösse subtrahiert. Immerhin muss natürlich zugegeben werden, dass die Messung des Brustumfanges bei den älteren Mädchen und bei den Frauen nicht auf diejenige Genauigkeit Anspruch machen kann, die bei den männlichen Ar- beitern zu erreichen war.

Indem ich nach diesen einleitenden Bemerkungen zur Schil- derung der Resultate unserer Untersuchungen übergehe, bringe ich zuerst eine Tabelle, die, sowie auch die entsprechenden Dia- gramme (I und II), einfach ein Bild geben von dem Wachstum der Körperlänge und des Brustumfanges bei der in Fabriken arbei- tenden Bevölkerung Zentralrusslands. Die Tabelle beginnt mit dem 8. Lebensjahre ; bis zum 30. Jahre sind die Resultate der Messungen nach den einzelnen Lebensjahren zusammengcstellt, von da an aber nach fünfjährigen Altersgruppen geordnet.

Tabelle I.

Körperlänge und Brust umfang aller untersuchten Arbeiter nach den Altersjahren.

A. Männer.

Differenz* rwi-

Lebensalter

Zahl der unter- suchten Indivi-

Mittlere Kör-

Mittlerer Brust-

sehen Brust- umfang und

duen

pcrlänge in cm

umfang in cm

halber Körper-

länge in cm

8

36

120.11

62.12

+ 2.0 7

9

109

122.36

61.94

+ 0.76

IO

411

126.26

63.16

+ 0.03

II

770

129.89

64.55

0.39

12

1398

134.40

66.19

I.OI

13

1673

137-73

67.45

1.4 1

14

2299

141.21

69.2 1

1-39

'5

2559

146.66

71.87

1.46

16

2537

153-19

75.07

- i-52

17

252s

158.57

78.55

0-73

18

2671

161.76

8 1.26

+ 0.38

•9

2567

163.56

83-43

+ 1.65

20

2730

164.36

83.91

+ 1 73

21

1747

164.41

8403

+ 1.83

22

1894

164.62

84.50

+ 2.19

23

1885

165.24

84.8 1

+ 2.19

24

1518

164.95

85.14

+ 2.67

25

1918

165.06

»5-35

4- 2.82

26

1711

164.90

85.51

+ 3°6

27

1961

16534

85.88

+ 3-2 1

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Untersuchungen übet die körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. 107

28

'999

165.01

86. 14

+ 3-64

29

148 1

165-35

86.09

+ 3-42

30—34

7126

165.06

86.38

+ 3-«5

35—39

63'5

165.20

86.73

+ 4- '3

40—44

43 '4

165.15

86.84

+ 4-27

45- 49

3401

165.20

87.01

+ 4-4'

50—54

2352

164-73

87. 14

4 4-68

55—59

1531

165.01

87.20

+ 4-7°

60 64

959

164.98

»7-53

+ 5-04

65—69

299

164.80

87.77

4 5-37

70—79

104

164.42

87.40

+ 4-9»

80 u. mehr

7

»63.57

87.28

4 5-49

B. Frauen.

8

18

1 18.81

59-83

+ 0.43

9

97

123.04

59.87

- 1.65

10

268

'29-53

61.6 1

3-09

11

564

130.98

62.91

- 2.58

12

947

'35-49

64.92

2.82

i3

12 12

13989

67.32

2.62

'4

1778

143-45

70. 12

1.60

'5

2401

148.17

73-72

0.36

* 16

2597

150.98

76.91

+ 1.42

'7

2384

'52-35

78.73

+ 2.56

18

2116

152.75

79-75

+ 3-38

'9

1668

153-32

80.36

+ 370

20

'938

153-00

80.18

t 3.68

2 1

916

'53-14

80.35

+ 3-78

22

1125

'53-3'

80.13

+ 348

23

1 122

'53-24

79.90

+ 3-28

24

800

'53-54

80.28

+ 3-5'

25

1296

152.88

80.08

+ 3-64

26

856

153-14

79.89

+ 3-32

27

947

'53"

79.81

+ 3-26

28

834

153-12

79.82

+ 3-26

29

447

153-37

80.2 1

+ 3-53

30—34

3020

'53-29

79.91

4 3-27

35—39

2613

15361

80. 11

4 3-3 »

40 44

1756

»53- 14

79.62

4 3-05

45—49

"'3

152.94

79.42

4 2.95

50—54

749

152.59

79-03

4 2.74

55-59

323

'53-33

79.09

+ 2.43

60 64

132

151.81

79- '7

4 3-2 7

65 u. mehr

47

150.43

78.55

4 3-33

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io8

Erismann,

Bevor ich auf die Detail-Analyse dieser Zahlenreihen ein- gehe, möchte ich im Allgemeinen auf die Gesetzmässigkeit aufmerksam machen, die sich in denselben ausspricht und die wir ohne Zweifel den zu unserer Verfügung stehenden grossen Zahlen zu verdanken haben. Kleine Schwankungen, die jedoch l 2 Millimeter selten überschreiten, kommen allerdings zuweilen auch da noch vor, wo sie eigentlich nicht sein sollten, und ich kann deshalb nicht behaupten , dass der Einfluss von Zufällig- keiten hier absolut ausgeschlossen sei; noch grössere Zahlen müssten vermutlich auch diese letzten Spuren zufälliger Einflüsse verschwinden lassen. Aber wenn auch das Absolute nicht er- reicht ist, so sind wir jedenfalls seiner Grenze sehr nahe gekom- men und können deshalb wohl mit Recht annehmen , dass die Zahlen der obenstehenden Tabelle wirklich sehr annähernd den normalen Wachstumsgang der aus so mannigfaltigen Ele- menten bestehenden Fabrikbevölkerung in Zentralrussland aus- drücken. Dass eine noch grössere Zahl der Untersuchten auch die letzten kleinen, von Zufälligkeiten abhängigen Unregelmässig- keiten verschwinden lassen würde, kann ich leicht dadurch zeigen, dass ich an Hand des obenstehender Tabelle zu Grunde liegen- den Materiales grössere Altersgruppen , die nun eine bedeuten- dere Anzahl von Fällen einschliessen, bilde. Im folgenden habe ich zu diesem Zwecke in der die Männer betreffenden Zahlen- reihe zwischen dem 20. und 30. Jahre je 2 Lebensjahre vereinigt und vom 30. Jahre an, statt fünfjährige Gruppen, zehnjährige ge- bildet.

Männer.

Lebensjahre

Körperlänge in nun

Zahl der unter- suchten Individuen

20 U. 21

1643.8

4477

22 U. 23

■649- 3

3779

24U.25

1649.6

3436

2ÖU.27

1651.3

3672

28 U.29

1651.5

3480

30—39

1651.3

13441

40-49

1651.7

77 1 5

50—59

1648.4

3883

60—69

16493

1 258

70—79

1644.2

104

80 u. mehr

1635.7

7

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Untersuchungen über die körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. 109

Eine grössere Regelmässigkeit, als diejenige die sich hier äussert, kann auch der strengste Richter kaum erwarten : wir sehen vom 20. Jahre an noch ein langsames aber stetiges Wachstum , wel- ches bis zum 26. Jahre andauert; von hier an bis zum 50. Le- bensjahre hält sich dann die Körpcrlänge auf wunderbar gleicher Höhe, mit Schwankungen von höchstens 0.4 mm ; mit dem 6. Jahrzehnte aber beginnt ein allmähliches Zusammensinken des Körpers, das vom 70. Jahre an besonders auffallend wird.

Dasselbe Verschwinden der durch Zufälligkeiten hervorge- rufenen Schwankungen bei Vermehrung der Individuenzahl in den einzelnen Gruppen, das wir soeben bei den Männern erreicht haben, können wir auch bei den A rb e i t e r in n e n konstatieren ; nur sind wir hier, da bei den Frauen der Stillstand des Wachs- tums früher eintritt als bei den Männern, genötigt die Zusammen- stellung der einzelnen Lebensjahre zu Gruppen schon mit dem 18. Altersjahre zu beginnen.

Frauen.

Lebensjahre

Körperlänge in mm

Zahl der unter- suchten Individuen

18 u. 19

1530.0

37«4

201). 21

1530.4

2854

22 U. 23

1532 0

2247

24 u. 25

'53'-3

2096

26 U. 27

'531-2

1803

2811.29

1532.0

1281

30—39

'534-4

5633

40—49

1530.7

2878

50—59

1528. 1

1072

60 u. mehr

1514.5

'79

Auch hier sehen wir, dass nach beendetem Längenwachstum bis zum Beginn des senilen Zusammensinkens des Organismus im 5. Jahrzehnt, die Schwankungen der Körperlänge, mit einer einzigen Ausnahme, nur kleine Bruchteile eines Millimeters be- tragen.

Um die Analyse der Grundtabelle I zu erleichtern, will ich hier noch eine Zahlenreihe einschalten, welche aus dieser Tabelle abgeleitet ist und die jährliche Wachstumszunahme vom 9. Lebensjahre an bis zum vollendeten Wachstum ausdrückt (siehe auch Diagramm I und II).

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iio

Erismann,

Tabelle 11.

Jährliche absol

ute Wachst

u in s z u n a h m e

der K ö r-

perlänge und des Brustumfanges in den

v e r s c h i e-

denen Altersstufen (in cm).

Männer.

Frauen.

Lebens-

jahre

Körperlänge

Brustumfang

Körperlänge

Hrti&Iunifang

8-9

2.25

4-23

,

9 IO

390

1.22

6.49

1 1.80

10 1 1

363

'■39

* 45

1.26

1 1 12

4.51

1.64

4-5 '

2.01

12—13

3 33

1.26

4.40

2.4O

13—14

348

1.76

3-56

12.80

14—15

5-45

2.66

1 4.72

3.60

1 5 16

6-53

3.20

2.8 1

13- «y

16 17

15-38

3-48

1-47

; 1.82

| .0.40 j 1.02

(o. 15 (in 2 J. 0.29(10.24 (in 2 J. 0.48)

20—23 *)]o. 19 (in 3 J. 0.57) 0.25 (in 3 J. 0.74) 0.08 (in 2 J. 0.16)0

23 27 0.05 (in 4 J. 0.20) 0.26 (in 4 J. 1 .05) o

27 35 O ,o. io(in 8 J. 0.85I

35—45 o [0.04 (in 10 J. 0.36)

Wir haben nun alle diejenigen Daten, welche notwendig sind um das Wachstum unserer Arbeiterbevölkerung zu charakterisieren und, wenn ich mich so ausdrücken darf, das »W7 ac hst u m s g e- sctz* derselben zu konstruieren.

Beginnen wir mit den Männern. Hier sehen wir nun in erster Linie (Diagramm I), dass in der Altersperiode von 10 18 Jahren das Längenwachstum des Körpers durchaus kein gleich- mässiges ist, sondern dass diese Periode, in Bezug auf die Grösse der jährlichen Wachstumszunahme, in drei sehr charakteristische Abschnitte zerfällt: im ersten Abschnitt, der bis zum 14. Lebens- jahre dauert, läuft die Wachstumskurve von Jahr zu Jahr ziem- lich gleichmässig fort und beträgt hier die mittlere Jahreszunahme 3.74 cm. Der zweite Abschnitt beginnt mit dem 15. Lebens- jahre d. h. mit dem Anfänge der Pupertätszeit : mit dieser Pe- riode tritt ein rasches und bedeutendes Anschwellen der Wachs- tumskurve ein, dieselbe erreicht ihre Akme im 16. Lebens-

l) Von hier an sind der Berechnung die den betreffenden Altersgruppen zu- gehörigen Grössen zu Grunde gelegt.

17— 18 3.19 2.71

18— 19 1.80 2.17

19 20 o.So 0.48

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Untersuchungtn'l'übcr^dic kur falte he Entwicklung der Arbeiter etc. m

jahre , hält sich aber auch im 17. Jahre noch auf bedeutender Höhe und beginnt erst im 18. Jahre merklich zu sinken; im Mittel beläuft sich die Jahreszunahme in dieser 3 Jahre umfas- senden Periode des gesteigerten Wachstums auf 5.79 cm. Der dritte Abschnitt nimmt seinen Anfang, wie gesagt 7 mit dem 18. Lebensjahre, zu dieser Zeit nimmt die Jahrcszunahme der Körperlänge stetig und ziemlich rasch ab, so dass es sich im Alter von 20 23 Jahren nur noch um eine Zunahme von 2 mm. im Jahre handelt.

Es ist noch nicht lange her, seit man diesen charakteristischen Verlauf der Wachstumskurve bei den Jünglingen entdeckt hat.

So wurden z. B. von Quetelet die soeben bezeichneten Schwank- ungen derselben nicht hervorgehoben; dieser Forscher gibt im Gegenteile an, dass für die männliche Bevölkerung in Brüssel das Jahreswachstum im Alter von 5 16 Jahren ein sehr gleich- mässiges sei: es soll während dieser Zeit im Mittel 5.6 cm. be- tragen, im 17. Jahre jedoch sich schon nur auf 4 cm. belaufen und in den folgenden zwei Lebensjahren auf 2.5 cm. sinken '). Dieser Angabe entsprechend, hätte also die Wachstumskurve (Juetelet’s eine ganz andere Gestalt als die unsrige.

Es ist wahr, man bemerkt schon in den Untersuchungen Zeising's a) ein beschleunigtes Wachstum im Alter von 13 16 Jahren ; aber die Zahlen Zeising's beruhen auf Messungen von je nur 10 Individuen jeder Altersklasse und sind deshalb nicht frei von erheblichen, durch zufällige Einflüsse hervorgerufenen Schwankungen, die den Wert seiner Angaben bedeutend herab- setzen. *

So wurde denn, unseres Wissens zum erstenmale, die That- sache des rascheren Wachstums während der Pubertätsperiode, an hinlänglich reichhaltigem Materiale, konstatiert durch Bow- ditsch1 2 3), dessen auf etwa 24 000 Messungen (13691 Knaben und 10 904 Mädchen) beruhenden Zahlenreihen und Diagramme wirk- lich keinen Zweifel daran lassen, dass die Bostoner Schulkinder im 14. Lebensjahre auf einmal rascher zu wachsen beginnen und

1) l’hysiquc sociale. II. pag. 27.

2) Verhandlungen der kais. Leopold-Carolinischen Akademie der Naturforscher. Bd. 26. 1858.

3) Eight Annual Report of the State Board of Health of Massachusetts. January 1877. pag. 275 11 folgdc. Siehe auch Topinard , a. a. O. S. 420, oder Ger- hardt's Handbuch der Kinderkrankheiten I. t. Hälfte, 2. Aufl. 1881. S. 261.

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112

Erismann,

dass dieses beschleunigte Wachstum anhält bis zum 17. Jahre, von wo an sich dann eine raschere Abnahme des Jahresw'achs- tums bemerkbar macht. Zu demselben Resultate wie liow- ditsch, und ungefähr zu derselben Zeit , obgleich an weit be- schränkterem Materiale , gelangte auch Kotelmann ’) bei seinen an den Gelehrtenschtilern des Johanncums in Hamburg ausge- geführten Untersuchungen : es stellt sich aus seinen Ziffern deut- lich heraus, dass das Längenwachstum der Hamburger Gymna- siasten im 14. Lebensjahre plötzlich zunimmt, und dass die Zunahme, die ihren Höhepunkt im 16. Lebensjahre mit der eintretenden Geschlechtsreife erreicht, bis zum 18. Jahre fortdauert, wo dann ein rascher Abfall eintritt. An sehr bedeutendem Mate- riale, das durch Messungen von 18432 Personen in England ge- wonnen wurde, konstatiert dieselbe Eigentümlichkeit des Längen- wachstums auch Roberts s). Des grossen Interesses halber, das diese Erscheinung sowohl vom biologischen, als auch vom sanitären Standpunkte aus verdient, erlaube ich mir hier nicht nur die von Bowditsch für das Jahreswachstum im Alter von 9 20 Jahren erhaltenen Grössen, sondern auch die Zahlen von Kotelmann und Roberts den ineinigen an die Seite zu stellen : Jahreswachstum bei den Knaben.

l Lebensalter.

Erismann.

Bowditsch.

Kotelmann.

Robert«.

9 IO

390

4.90

2.17

6.6

IO II

3-63

5.10

431

51

II— 12

4.51

4.10

00

01

3-4

12

3-33

4.60

3.18

4.0

I3—I4

3-4«

5-3o

5-79

5-4

14-15

5-45

6.80

S-31

15 16

6.53

6.10

7.46

56

16 17

5-38

6.90

5-25

6.7

17 18

3*9

2.10

1.49

3-9

18 19

1.80

1.60

'■9

19 20

0.80

1.40

1.8

Es ist nicht schwer, sich von dem vollständigen Parallelis- mus dieser 4 Reihen zu überzeugen. Der einzige wesentliche Unterschied zwischen ihnen besteht darin , dass die Zahlen des Jahreswachstums, bei Bowditsch durchwegs, bei Kotelmann

1) Zeitschrift des k. preussischen Stat. Bureau’s. 1879.

2) St. George's Hospital Reports. 1S77. VIII. pag. 1 u. folgde. Ich citicre im Texte nach einem Referate im »Kricgs-Militärischcn Journal« (ross.) Not. 1877.

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Untersuchungen über die körperliche Enhvicklung der Arbeiter etc. 1 1 3

und Roberts teilweise, etwas grösser sind als bei uns; dieser Um- stand ändert jedoch an dem Charakter der Wachstuniskurve durchaus nichts, er deutet nur darauf hin , dass die amerika- nische Jugend überhaupt schneller wächst und bei gleichem Alter eine grössere Körperlänge besitzt als die Kinder unseres Arbeiter- standes. Ausserdem will ich bemerken , dass die Periode des beschleunigten Wachstums bei unseren Kindern um ein Jahr später beginnt als bei den Amerikanern, Engländern und Ham- burger Gymnasiasten.

Es würde mich hier nun zu weit führen , wollte ich die im Laufe des letzten Jahrzehnts erschienenen Arbeiten aller derje- nigen Autoren erwähnen, die auf Grund mehr oder weniger aus- gedehnter Untersuchungen die Richtigkeit des soeben erwähnten Wachstumsgesetzes zu bezeugen vermochten. Es genügt hier zu konstatieren, dass der schon vor to Jahren von Vierordt ') aus- gesprochene, bei ihm offenbar durch die Arbeit Zeisings hervor- gerufene Wunsch, es möchten Beginn und Zeitdauer des starkem Längenwachstums genauer festgestellt werden , unzweifelhaft in Erfüllung gegangen ist : wir wissen jetzt , dass die Periode des beschleunigten Wachstums bei den K naben mit dem 14. oder 15. Lebensjahre d. h. mit demBe- ginn der Geschlechtsreife eintritt und nach Er- reichen des 18. Lebensjahres ihren Abschluss nimm t. Nur hat sich Vierordt darin geirrt, dass er die Lösung dieser Frage von der individualisierenden Methode er- wartete, während in der That nur die generalisierende (statistische) Methode befähigt war das Material zu ihrer Ent- scheidung zu liefern.

Nach dem Gesagten braucht es kaum noch eines weiteren Beweises für die Behauptung , dass das Bestreben einen mathe- matischen Ausdruck für das Wachstumsgesetz des Menschen zu finden (Quetelet, l.iharzik , Zeising) kaum von Erfolg begleitet sein kann und dass diejenige Gesetzmässigkeit , die hier beob- achtet wird, sich schwerlich in eine für alle Fälle passende F'or- mel einkleiden lassen wird.

Indem wir nun die Entwicklung unseres Arbeiters weiter verfolgen , finden wir , dass derselbe auch nach Vol- lendung des 20. Lebensjahres noch fortfährt zu

1) Gerhardt, Handbuch der Kinderkrankheiten, t. 1S77. pag. 7a.

Archiv für sor, Gesetrghg u Statistik. I. 8

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"4

Er ism a ,

wachsen, wenn auch in sehr geringem Masse : vom 20. bis zum 23. Jahre nimmt das Längenwachstum im ganzen um 0.57 cm. (0.19 cm. jährlich), vom 23. bis zum 27. Jahre nur um O.20 cm. (0.05 cm. jährlich) zu. Mit dem 27. Jahre ist das Längenwachstum des männlichen Organismus vollendet, nachdem die Körperlänge in der Periode vom 20. bis zum 27. Jahre nicht mehr als um 0.80 cm. zugenommen hat.

Schon yuetelet ’) hatte darauf aufmerksam gemacht, dass das Längenwachstum des jungen Mannes zu der Zeit, wo der- selbe in den Militärdienst eintritt, noch nicht beendet ist, und dass die Körperlänge sogar nach dem 25. Jahre noch etwas zu- zunehmen scheint. Doch gibt Quetelet hiebei den Zeitpunkt der Vollendung des Längenwachstums nicht genau an, er zeigt nur, an der Hand offizieller Messungen von 900 Individuen in Brüssel, dass vom 25. bis zum 30. Jahre diese Individuen im Mittel noch von 167.50 cm. auf 168.4t cm. d. h. um 9.1 mm. ge- wachsen sind. Nach unseren Untersuchungen ist diese Zunahme ver- mutlich zu hoch um als Norm betrachtet werden zu können und dürfte, der verhältnismässig geringen Zahl der ihr zugrunde lie- genden Messungen wegen, von zufälligen Umständen beeinflusst worden sein. Im Ganzen betrug die Wachstumszunahme der 900 Individuen aus Brüssel vom 19. bis zum 30. Lebensjahre 1.93 cm. ; bei unserer Arbeiterbevölkerung erhalten wir für die- selbe Altersperiode (streng genommen nur vom 19. bis zum 27. Altersjahre) nicht mehr als 1.57 cm. Später äusserte sich (Juetelet über den Zeitpunkt des vollendeten Längenwachstums folgendermassen : »Man kann das Wachstum als vollkommen ab-

geschlossen betrachten mit dem 30. Jahre ; doch ist die Zunahme, die dasselbe nach dem 23. bis 25. Lebensjahre erfährt, schon kaum bemerkbar«.

Dafür, dass der Abschluss des Längenwachstums im allge- meinen auf eine spätere, als die von uns für die Arbeiterbevöl- kerung Zentralrusslands eruierte, Altersperiodc falle, scheinen auch die bekannten Angaben von Baxter und Gould ’) über die Resultate der während des amerikanischen Sezessionskrieges vor- genommenen Messungen zu sprechen : bei Baxter wird das Ma- ximum der Körperlänge im Alter von 34 und 35 Jahren erreicht,

1) Anthropom<trie. 1874. päg. 178.

i) Ciliert nach Topinard. a. a. O. S. 418 u. 431,

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Vntersuchungen Über die körperliche Etihvicklung der Arbeiter etc. 115

und die Wachstumszunahme vom 20. bis zum 35. Jahre betragt 2.5 cm. ; bei Gould finden sich Maximalzahlen im Alter von 29 und 31 34 Jahren, aber die Wachstumszunahme vom 20. bis zum 29. oder 31. Jahre beträgt nur 0.9 I cm. Auf den ersten Blick verdienen die Angaben von Baxter und Gould in bezug auf die hier uns interessierende Frage um so mehr Beachtung, als die Messungen, auf welchen sie beruhen, an hunderttausenden von Individuen der verschiedensten Herkunft und Abstammung im Alter von 17 35 Jahren und darüber angestellt worden sind. Aber gerade dieser Umstand , der in mancher Hinsicht den ge- nannten Arbeiten wirklich einen besondern Wert verleiht , setzt, wie ich glaube , ihre Bedeutung in bezug auf die Frage nach dem Zeitpunkte der Vollendung des Wachstums wesentlich herab. Es ist nämlich klar, dass das Wachstumsgesetz, das einerseits ohne Zweifel mit den Rasseneigentümlichkeiten in engem Zu- sammenhänge steht, andrerseits vermutlich durch gewisse kon- stante Lebensverhältnisse in gewissem Grade modifiziert werden kann, am reinsten in die Erscheinung treten muss , wenn es an einer durch gemeinschaftliche Abstammung und Lebensumstände gekennzeichneten Bevölkerungsgruppe studiert wird, während an- drerseits ein in seinen Elementen so verschiedenartiges Material, wie es Baxter und Gould zur Verfügung stand, schwerlich dazu geeignet ist, das Wachstumsgesetz in voller Reinheit erscheinen zu lassen. Wir können uns deshalb auch nicht damit einver- standen erklären, wenn Topinard (a. a. O. S. 420) auf Grund der amerikanischen Messungen annimmt, dass der definitive Ab- schluss des Längenwachstums erst zwischen 30 und 35 Jahren oder sogar in einem noch vorgerückteren Alter eintrete.

Die mittlere Körperlänge unseres erwachsenen Ar- beiters, nach vollem Abschluss des Wachstums, beträgt 165.13 cm. Diese Zahl kann ich, was Russland anbetrifft, nur mit der- jenigen Grösse vergleichen, welche Dr. Fesskofi' ‘) bei Messungen erhielt, die von ihm bei Gelegenheit der Untersuchung zahlreicher Fabriken in der Stadt Moskau angestellt wurden. Das übrige anthropometrische Material, über welches wir verfügen , ist ent-

l) Pesskoff, Zur Krage über den Einfluss der Fabrikarbeit auf die Gesundheit der Arbeiter (russ,), Arbeiten der VI. Versammlung der Landschaftsarzte des Moskauer Gouvernements. 1882.

8 *

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i6

Erismann,

weder zu unbedeutend in bezug auf die Zahl der untersuchten Individuen, oder betrifft nur militärpflichtige Personen im Alter von 20 und 21 Jahren, wo, wie wir soeben gesehen haben , von einem definitiven Abschluss des Längenwachstums noch nicht die Rede sein kann.

Pesskoff untersuchte 9 418 Arbeiter männlichen Geschlechts im Alter von 9 60 Jahren und darüber; der Abschluss des Wachstums erfolgt, nach seiner Tabelle, im Alter von 25—26 Jahren und die mittlere Körperlänge der erwachsenen Arbeiter, im Alter von 25 55 Jahren, beläuft sich auf 165.59 cm., also um beinahe 0.5 cm. mehr als bei den von uns untersuchten In- dividuen. Ich muss überhaupt sagen, dass alle Massangaben Pesskoffs um ein klein weniges höher sind als die unsrigen, sonst aber mit den letzteren sehr gut übereinstimmen. Es wäre ja wohl möglich, dass der unbedeutende Unterschied zu gunsten der Arbeiter in den städtischen Fabriken dem Einflüsse des Stadt- lebens überhaupt zu verdanken wäre, der sich, wie es scheint, auch anderweitig in dieser Richtung geltend macht.

Im Vergleiche mit den entsprechenden Angaben aus an- deren Ländern, ist das oben angeführte Normalmass unseres er- wachsenen Arbeiters etwas niedrig. Für die Belgier gibt Que- telet ') als mittlere Körperlänge 168.6 cm. an. Bei den während des Sezessionskrieges gemessenen Amerikanern verschiedener Herkunft wurde, nach den Angaben Gould’s, im Alter von 31—34 Jahren folgende mittlere Körperlänge gefunden ’) :

Aechte Amerikaner 173-6 cm. Irländer 171.1 cm.

Südstaaten 175.0 » Franzosen 169.1 »

Brittischcs Amerika 173.0 » Deutsche 169.6 »

Engländer 170.1 » Skandinavier 171.8 »

Schottländer 171-3 » Spanier 168.4 *

Wir haben übrigens Anhaltspunkte zu glauben , dass die meisten der soeben angeführten Nationalitäten in ihrer Heimat keinen so hohen Wuchs erreichen als in Amerika. So z. B. gibt Topinard als die mittlere definitive Körperlänge der Franzosen 165.9 cm. an; die Engländer erreichen in ihrer Heimat, nach Beddoe, einen mittleren Wuchs von 169.0 cm. ; die mittlere Kör- perlänge der Italiäner schwankt, je nach den Provinzen, zwischen 161 und 166 cm. (Topinard).

1 AnthroponiArie. S. 177.

2) Topinard, a. a. O. S, 429.

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Untersuchungen über die körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. 117

Auf der einmal erreichten Höhe hält sich nun die Köperlänge unserer Arbeiter während etwa 25 Jahren d. h. bis zum Anfang des 6. Jahrzehnts. Zu dieser Zeit beginnt, wenn auch anfangs in sehr geringem, kaum merk- lichem Grade , das senile Zusammensinken des Orga- nismus. Dasselbe beträgt in der That zwischen 50 und 70 Jahren nicht mehr als 2.4 mm. und tritt erst in höherem Alter deutlicher hervor. Uebrigens vermindert sich die Körperlänge selbst vom 70. bis zum 80. Jahre nur um 5.1 mm. und erst nach dem 80. Jahre sinkt der Körper in auffallender Weise zusammen, zu dieser Zeit beträgt die Verminderung des Wuchses beinahe I cm.; i m ganzen aber beläuft sie sich, vom 50. Jahre an gerechnet, auf i.6 cm.

Bei Quetelet finden wir über das senile Zusammensinken des Organismus zwei Angaben, die eine in seiner »Physique so- ciale« (II. pag. 32), die andere in der später erschienenen »An- thropomütrie« (pag. 177). Hienach beträgt bei der männlichen Bevölkerung Belgiens die Verminderung der Körperlängc

I. II.

von

40 50 Jahren

IO

mm.

0

mm.

50—60 »

35

»

IO

»

»

60 70 »

16

»

16

>

>

70 80 >

IO

»

24

»

>

80 90 »

0

»

26

»

Im Ganzen

~7*

mm.

76

mm.

Quetelet fand also ein viel bedeutenderes seniles Zusammen- sinken, als wir es bei unsrer Arbeiterbevölkerung konstatieren konnten. Es ist uns, da weiteres brauchbares Material über diesen Gegenstand nicht vorliegt, unmöglich eine genügende Er- klärung für diese Verschiedenheit der Angaben zu finden. Leider sagt Quetelet nichts über die Zahl der von ihm in den einzelnen Altersklassen untersuchten Greise; cs wäre ja möglich, dass bei geringerer Anzahl derselben das Resultat wesentlich von zufäl- ligen Einflüssen bestimmt worden wäre. Andrerseits könnte man auf den Gedanken verfallen , dass unsere Ziffern nicht ganz der Wirklichkeit entsprechen, weil ja vermutlich im allgemeinen nur die bestentwickelten, kräftigsten Individuen ein so hohes Alter erreichen und dabei ihre Stelle in der Arbeiterwelt be- haupten können ; mit anderen Worten , es liegt die Möglichkeit vor, dass wir es hier mit einer Art natürlicher Sortierung der

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liS

Er is mir nn.

Arbeiter zu thun haben und dass, wenn man wirklich die ge- samte Greisenwelt einer gewissen Gegend der Messung unter- werfen könnte, das senile Zusammensinken des Organismus sich deutlicher aussprechen würde als dies in unseren Zahlenreihen der Fall ist. Auf den Gedanken an eine natürliche Sortierung der Arbeiter in höherem Alter werden wir übrigens weiter unten noch zurückkommen.

Ucber das Längenwachstum unserer weiblichen Fabrik- bevölkerung können wir uns kürzer fassen. Wir sehen auch hier (Tabelle II) pn erster Linie, dass die Längenentwick- lung desKörpers im Alter von IO 18 Jahren keine gleich nt ässige ist, sondern eine Kurve bildet, deren Form sich allerdings weniger charakteristisch gestaltet als beim männ- lichen Geschlecht. Die bedeutende Höhe dieser Kurve (Dia- gramm I) im io. Lebensjahre, und ihren jähen Abfall im n. Jahre, bin ich geneigt dem F.influsse zufälliger Umstände zuzuschreiben, da die Anzahl der untersuchten Mädchen in dieser Altersperiode eine verhältnismässig geringe ist. Das nun folgende Aufsteigen der Kurve jedoch muss , trotz einiger Unregelmässigkeiten , als normale Erscheinung betrachtet werden und ich möchte so- gar diese scheinbaren Unregelmässigkeiten als den Ausdruck einer gewissen Gesetzmässigkeit betrachten als eine natürliche Folge gewisser Lebensverhältnisse. Die Kurve zeigt nämlich während der Altersperiode von n 15 Jahren zwei durch eine kleine Senkung getrennte maximale Hebungen, von denen die eine auf das 12. und 13., die andere auf das 15. Lebensjahr fällt. Diese Hebungen sind der Ausdruck eines beschleunigten Wachs- tums, das mit dem 12. Lebensjahre beginnt und im 15. Jahre einen letzten bedeutenden Anlauf nimmt. Charakteristisch für das Längenwachstum der Mädchen, im Vergleich mit demjenigen der Knaben, ist namentlich der Umstand, d a s s das beschleu- nigte Wachstum bei den ersteren um wenigstens zweiJahre früher beginnt als bei den letzteren; sodann ist es im allgemeinen weniger intensiv, hat eine etwas protrahiertere Form und hört endlich schon zu einer Zeit auf, wo die Jahreszunahme bei den Knaben noch sehr bedeutend ist. Das beschleunigte Längenwachstum beginnt also bei unseren Mäd- chen nicht etwa mit dem Eintritte der Pubertät , sondern um 1 2 Jahre fr u h e r eine Erscheinung, auf welche übrigens

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Untersuchungen über die körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. 119

schon Pagliani ') aufmerksam gemacht hat und welche auch in den Untersuchungen von Bow-ditsch und Roberts zu Tage tritt. Seltsam, dass wir bei Quetelet auch in seiner letzten Publikation über diesen Gegenstand, in der er sich, nach eigener Aussage, auf erneute und genaue Messungen stützt *), nichts derartiges wahr- nehmen ; wir sehen hier , im Gegenteil , eine beständige Ab- nahme der jährlichen Wachstumsgrösse, sowohl während der der Geschlechtsreife vorausgehenden Zeit , als auch im Laufe der Pubertätsentwicklung selbst. Alle übrigen Autoren, die sich mit Messungen an Mädchen beschäftigt haben, verfügen über zu be- schränktes Material, als dass es zur Eruierung des Wachstums- gesetzes benutzt werden könnte. Aus diesem Grunde will ich im folgenden unseren Untersuchungen nur die Angaben von Pag- liani, Bowditsch und Quetelet zur Seite stellen ;

Jahres Wachstum bei den Mädchen.

Lebensalter.

Erismann.

Pagliani.

Bowditsch.

Quetelet.

9 IO

6.49

5.0

5-3

IO— II

•-45

3-i

5-3

5.2

II 12

4-5i

5-9

6.2

5-i

12—13

4.40

7.0

5-8

4.8

•3—14

356

7-5

4.6

4.6

14— iS

4.7a

2.0

2.9

4.2

15 16

2.81

1.2

1.2

3-3

16 17

•■47

0.8

2.5

17 18

0.40

0. i

•-9

Eine Vergleichung der Angaben von Pagliani und Bowditsch mit den unsrigen lässt offenbar keinen Zweifel daran übrig, dass während der Pubertätszeit das Wachstum der von den genannten Forschern untersuchten Mädchen rascher fortschreitet als bei den Mädchen unseres Arbeiterstandes, mit andern Worten , dass bei den letzteren die körperliche Entwicklung etwas zurückge- halten erscheint. Es wäre wohl -möglich, dass sich dieser Um- stand durch die speziellen, jedenfalls relativ ungünstigen Lebens- verhältnisse unserer Fabrikarbeiterinnen erklären Hesse und dass andrerseits die Mädchen von Pagliani und Bowditsch ihre ra- schere Entwicklung den besseren Umständen, in welchen sie offen-

1) Moleschott's Untersuchungen zur Naturlchrc der Menschen und der Tiere. XII. 1878. S. 89 u. folgde.

2) Anthropomdtrie. S. 176 u. folgde.

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120 Erismann,

bar leben , zu verdanken haben (Schulkinder und Mädchen in Pensionaten).

Eine biologisch nicht uninteressante Thatsache ergiebt sich auch aus der Vergleichung der Wachstumsordnung bei unseren Knaben einerseits und den Mädchen andererseits. Wir sehen nämlich (Tabelle I, Diagramm I), dass vom i o. Leb ensj ahr e an die Mädchen an Grösse die Knaben übertreffen. Im Grossen und Ganzen beträgt das Plus auf Seite der Mädchen I 2 cm, und nur zwischen io und n Jahren steigt dasselbe auf 4.7 cm eine Erscheinung, die übrigens, wenigstens teilweise, auf Zufälligkeiten beruhen muss. Durch volle 7 Jahre hindurch bleiben nun die Mädchen höher an Wuchs als ihre männlichen Altersgenossen, und erst mit 16 Jahren , also zu einer Zeit, wo das beschleunigte Wachstum bei den Mädchen schon aufgehört hat, bei den Knaben aber noch in vollem Gange ist, bekommen die letzteren plötzlich wieder das Uebergewicht und erscheinen um ungefähr 2.5 cm höher als die Mädchen; von da an wird nun selbstverständlich der Unterschied in der Körperlänge, zu Gunsten der Knaben , immer grösser und grösser und erreicht schon im 20. Jahre mehr als 10 cm.

Seltsamerweise bemerken wir nichts der Art bei Quetelct, nach dessen Untersuchungen das weibliche Geschlecht in allen Alterspcrioden niedriger an Wuchs ist als das männliche, und zwar wächst bei Quetclet die Differenz zu Gunsten der Knaben und jungen Männer ungemein regelmässig bis zum Alter von 30 Jahren , wo sie ihren Höhepunkt erreicht ; während der Puber- tätsperiode und in den derselben unmittelbar vorausgehenden Jahren beträgt sie 24 30 mm. Anders verhält sich die Sache bei Bowditsch, dessen Tabellen und Diagramme uns davon über- zeugen, dass auch hier im Alter von u 15 Jahren die Knaben an Körperlänge von den Mädchen übertroflen werden; besonders gross ist hier die Differenz zu Gunsten der Knaben im Alter von 12 und 13 Jahren, wo sie 2 cm und mehr beträgt ; mit 15 Jahren (also um ein Jahr früher als bei uns) tritt der Umschwung ein, und von nun an bleibt die Körperlänge der Mädchen hinter der- jenigen der Knaben immer mehr und mehr zurück.

Vom 17. Altersjahre an ist bei unseren Mädchen das Wachs- tum nur noch sehr gering: mit 17 18 Jahren beträgt es nur 4 mm, vom 18. bis zum 20. Jahre nicht mehr als 3 nun, und nach zurückgelegtem 20. Lebensjahre wächst unsere Arbeiterin

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int<iumwi<;tcwiitiitcw.a«;g.teg.nii[«iB.inuininm:tiinitt|(»itni j“i,r»-in

Zu pag. ja».

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Entwicklung des Brustumfanges bei Männern und Frauen.

Untersuchungen Uber die körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. 12 1

höchstens noch um 1.6 mm; mit dem Alter von 23 Jahren ist ihr Wachstum absolut vollendet. Während also der Mann nach Zurücklegung des 18. Alterjahres noch 33 nun an Körpcrlänge gewinnt und bis zum 27. Jahre, wenn auch äusscrst langsam, zu wachsen fortfährt, nimmt die Frau vom 18. Jahre an nur noch um 4.5 mm an Grösse zu und erreicht schon mit 22 bis 23 Jahren das Maximum ihres Wuchses, welches bei un- seren Arbeiterinnen 153.20 cm beträgt, also um 11.93 cm nied- riger ist als die mittlere Grösse des erwachsenen Arbeiters. Auch ist unsere Arbeiterfrau, nach vollendetem Wachstum, bedeutend kleiner als die Belgierin , die nach den Angaben Quetclet's eine mittlere Körperlänge von 158.0 cm erreicht. Das Zusammen- sinken des Körpers beginnt bei unseren Frauen bedeutend früher als bei den Männern : schon im Alter von 40 50 Jahren verliert die Frau etwa 1.5 cm, und 60jährige Frauen haben schon beinahe 2 cm von ihrem früheren Mittelwuchse cingebüsst.

Betrachten wir nun die Entwickelung der Brust, so weit sich dieselbe an den Tabellen I und II, welche die Masse des absoluten Brustumfanges und die jährliche Wachstumszunahme desselben ausdrücken, verfolgen lässt. Indem wir uns zuerst wie- derum den Männern zuwenden, sehen wir (Tabelle I und II, Diagramm II) eine derart konstante und durch keine in die Augen fallenden Schwankungen unterbrochene Zunahme des Brust- umfanges mit zunehmendem Alter, dass sich uns auch hier unwillkürlich der Gedanke aufdrängt, es sei das unseren Zahlen zugrunde liegende Material gross genug, um die wohl keinem Zweifel unterliegende Gesetzmässigkeit in der Entwick- lung des Brustkorbes unserer Fabrikarbeiter deutlich hervortreten zu lassen. Und in der That bemerken wir beim Blick auf Ta- belle II und Diagramm II eine Erscheinung, die wir als unmittel- baren Ausdruck des Wachstumsgesetzes der Brust aufzufassen genötigt sind. Es wiederholt sich nämlich im Grossen und Ganzen dasselbe, was wir schon bei Besprechung des Längenwachstums betonen mussten wir sehen , dass die jährliche Zu- nahme des Brustumfanges während der Alters- periode von 1 O 20 Jahren durchaus keine gleich- massige ist, sondern dass sie im Anfänge der genannten Pe- riode eitle allmähliche Anschwellung zeigt, auf welche , nach er- reichtem Maximum, eine ziemlich rasche Abschwellung folgt. Ein

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122

Eris mann.

wesentlicher Unterschied zwischen dem Wachstumscharakter der Körperlänge und des Brustumfanges besteht nur darin, dass das Maximum der Jahreszunahme bei der Brust um ein Jahr später eintritt als bei der Körper- länge, und dass die ersterenoch in reger Ent- wicklung b e griffen istzu ei nerZeit (i 8 1 9 J a h r e), wo das Längenwachstum schon eine sehr be- deutende Reduktion erfahren hat. Um das Ver- hältnis des Wachstums der Brust zum Längenwachstum des Körpers in diesem, für die gesamte Entwicklung des Menschen so wichtigen Lebensabschnitte noch besser zu charakterisieren, habe ich im Folgenden das Jahreswachstum des Brustumfanges in den einzelnen Altersjahrcn gleich 1 gesetzt und die Jahreszu- nahme der Körperlange auf diese Einheit reduziert; die Zahlen besagen also, umwievicl mal die Jahreszunahme der Körpcrlängc die Zunahme des Brustumfanges während derselben Periode übertrifft :

Lebens- Jahreszunahroe der KörperlSnge auf die Zunahme

alter. des Brustumfanges als Einheit reduziert

9—IO 3.2

IO II 2.6

1 1 I 2 2.7

12 13 2.6

13— H

2.0

14— 15 2.0

15 16 2.0

16— 17 1.6

17 18 1.2

18 19 0.8

Wir sehen hieraus, dass während derjenigen Jahre , welche dem Eintritte der Pubertätszeit vorausgehen , die Wachstumszu- nahme der Körperlänge die jährliche Erweiterung des Brustum- fanges um das 2.5 3 fache übertrifft mit anderen Worten, dass die Knaben zu dieser Zeit, die sich im Ganzen durch ein mässiges Wachstum charakterisiert, sich im Verhältnis zum Brei- tenwachstum bedeutend in die Länge strecken. Es muss also diese Periode als eine für die Entwicklung des Brustkorbes un- günstige bezeichnet werden. Nach zurückgelegtem 13. Lebens- jahre tritt, wie die obige Tabelle zeigt, eine Wendung zum Bes- sern ein : im Laufe von drei Jahren vollzieht sich das Langen-

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Untersuchungen Uber die körperliche Entwicklung der Arbeiter eh. 123

Wachstum nur doppelt so rasch als das Wachstum des Thorax- uinfanges ; mit anderen Worten , während der Pubertätsperiode, obgleich sich dieselbe durch bedeutendes »in die Höhe schies- sen« des jugendlichen Organismus auszeichnet, gestaltet sich doch die Entwicklung des Brustkorbes günstiger als während der ihr vorausgegangenen Jahre das Breitenwachstum , insoweit es sich in der Vergrösserung des Brustumfanges äussert, nimmt in dieser Periode rascher zu als das Längenwachstum. Noch günstiger gestaltet sich das Verhältnis für die Entwicklung der Brust in den der Pubertätsperiode unmittelbar folgenden Jahren, und zwischen dem 18. und 19. Jahre übertrifft sogar das absolute Wachstum des Brustumfanges dasjenige der Körperlänge.

Um zu zeigen , dass die soeben geschilderte Art der Ent- wicklung des Brustkorbes in der That eine gesetzmässige Erscheinung ist, will ich den Resultaten unserer Untersuchungen die entsprechenden Angaben von Quetelet, Kotelmann, Roberts und Pesskoff zur Seite stellen. Demgemäss drücken die folgen- den Zahlen die Jahreszunahme des Brustperimeters im Alter von 10 20 Jahren nach den Untersuchungen der genannten Au- toren aus :

J a h re s z u n a h m e d e s B r u s t u m f a n g e s bei den

Knaben.

Lebens-

alter.

Erismann.

QueteleL

Roberts.

Kotelmann.

Pesskoff.

9 TO

1.22

1.4

I.27

i-7*

0.82

IO— 1 1

1-39

1.9

I.42

1.42

1.65

I I 12

1.64

2.0

1.22

i-93

1.66

12—13

1.26

i-9

3-78

i-34

1.97

13— H

1.76

2.2

4-77

3-94

.58

14- 15

2.66

2.2

3.86

4 13

2.68

15 16

3-20

2.4

3-79

3.ig

3.3g

16— 17

3 48

2.8

4.08

3-75

2.8g

17—18

2.71

2.1

3.23

1 49

2.44

18 19

2.17

2.1

1.82

1.04

1.84

1,-20

0.48

'•5

0.94

1.03

1.08

Man sieht, dass der Charakter dieser Reihen im allgemeinen, sogar die Zahlen Ouetelets nicht ausgenommen, wirklich ein- und derselbe ist. Der einzige wesentliche Unterschied, der übrigens an der Sache selbst nichts ändert , beruht darin , dass die Be- schleunigung der Wachstuniszunahme des Brustumfanges nicht

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124

Erismann,

überall im nämlichen Altersjahre beginnt. Bemerkenswert ist je- denfalls die fast völlige Identität der Zahlen PesskofT s mit den unsrigen.

Es ist hier nicht meine Aufgabe die Frage zu erörtern, welche Bedeutung dem Verhältnis zwischen Brustumfang und halber Korperlänge für die Beurteilung der körperlichen Entwicklung des Menschen zuzuschreiben sei, und ich darf es wohl als ein allgemein anerkanntes Postulat annehmen, dass bei einem gut entwickelten Individuum einem gewissem Wüchse ein gewisses minimales Brustmass entsprechen müsse. Sodann möchte ich daran erin- nern, dass unter gewöhnlichen Verhältnissen beim Neugeborenen der Brustumfang um mehrere (7 10) cm. die Hälfte des Wuchses übertrifTt, dass aber in der Folge, da das Breitenwachstum des Kindes hinter dem Höhenwachstum zurückbleibt, das Verhältnis zwischen Brustumfang und halber Körperlänge immer ungünstiger wird, so dass schliesslich , im Alter von 9 oder 10 Jahren , das Uebergewicht des Brustperimeters über die halbe Korperlänge vollständig verschwindet und einem Minus Platz macht. In diesem Uebergangsstadium treffen wir nun unsere Fabrikknaben in Tabelle I ; im 8. und 9. Jahre übertrifTt das Brustmass noch die halbe Körperlänge; bei den 10 jährigen Knaben sind beide Masse ungefähr gleich , aber schon die n jährigen weisen ein Minus auf Seite des Brustmasses auf. Dieses Minus steigt lang- sam aber stetig bis zum Alter von 16 Jahren , erreicht hier sein Maximum mit 1.5 cm, sinkt im folgenden Jahre bis auf die Hälfte und macht sodann bei den 18jährigen jungen Männern wieder einem geringen Plus Platz , das dann seinerseits ziemlich rasch wächst und schon im Alter von 20 Jahren die Grösse von bei- nahe 2 cm erreicht.

Wenn wir nun die Entwicklung des Brustkorbes weiter ver- folgen, so stossen wir in erster Linie auf die Thatsachc, dass eine Wachstumsgrenze, wie sie in bezug auf die Körperlänge vorhan- den ist, hier nicht in die Erscheinung tritt. Unsere Zahlen geben uns in der That keine Berechtigung zu sagen , dass in diesem oder jenem Alter die Entwicklung des Brustkorbes abgeschlossen sei; im Gegenteil, wir sehen, dass der Brustumfang auch dann noch zu wachsen fortfährt , nachdem in be/.ug auf das Längen- wachstum des Körpers schon längst Stillstand cingetreten ist. So nimmt z. B. der Thoraxumfang vom 27. bis zum 40. Jahre noch beinahe um 1 cm und vom 40. bis zum 70. Jahre aber-

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Untersuchungen über die körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. 125

mals ungefähr um I cm zu ; erst im hohen Grcisenaiter geht das Brustmass um eine Kleinigkeit zurück.

Bevor ich nun den Versuch mache, die eben erwähnte, auf den ersten Blick seltsame Erscheinung zu erklären , möchte ich, wenigstens für grössere Altersgruppen, und zwar vom 20. Lebens- jahre an, die von Fesskoff ebenfalls an umfangreichem Material gefundenen absoluten Brustmasse mit den unsrigen zusam- menstellen; leider ist die Vergleichung mit den Angaben an- derer Forscher , der Unvollständigkeit der einschlägigen Unter- suchungen halber , absolut unmöglich.

Absoluter Brustumfang (Männer)

.ebensalter

Erisniann

Fesskoff

20

83.91

84.92

21

84.03

85.91

20 24

84.41

85.46

25—29

8579

86.94

30—39

86.54

87.49

40—49

86.90

88.03

50—59

87. 16

88.22

60 69

87.58

88.81

Wir sehen hier bei Untersuchungen , die völlig unabhängig von den unsrigen, aber ebenfalls an der Arbeiterbevölkerung Zen- tralrusslands ausgeführt wurden, die soeben besprochene Erschei- nung sich wiederholen : auch hier existiert für den Brustumfang keine Wachstumsgrenze ; derselbe vergrössert sich auch nach Ab- schluss des Längenwachstums mit einer Stetigkeit, die keinen Zweifel an der Richtigkeit der Thatsache aufkommen lässt. Der einzige Unterschied zwischen den Zahlen PesskofTs und den uns- rigen besteht darin, dass bei den von Fesskoff untersuchten Ar- beitern der absolute Brustumfang in allen Altersstufen etwas grösser gefunden wurde, als bei den unsrigen.

Wenn wir nun noch einen Blick auf das Verhältnis zwischen Brustumfang und halber Körperlänge vom 20. Lebensjahre a n werfen , so bemerken wir in erster Linie , dass sich dieses Verhältnis mit vorrückendem Alter immer günstiger gestaltet, was die natürliche Folge des fortwährenden Wachstums des Brustmasses nach Abschluss des Längenwachstums ist. Im mi- litärpflichtigen Alter von 20 und 21 Jahren übertrifft der Brust- umfang die halbe Körperlänge um ca. 1.8 cm; im Alter von 25 Jahren erreicht das Flus auf Seite des Brustumfanges schon

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12 6

fi.rismann

2.82 cm; zwischen 30 und 40 Jahren steigt es auf ca. 4 cm, und bei den 60 70jährigen Greisen erhebt es sich , unter fort- währender Zunahme, auf mehr als 5 cm, auf welcher Höhe es sich auch in vorgerückterem Alter noch erhält.

Es entsteht nun die sehr interessante Frage, wie wir uns diese fortwährende Zunahme des Brustumfanges mit steigendem Alter, nach Abschluss des Län- genwachstums, zu erklären haben. Rührt sie wirk- lich davon her, dass sich der Brustkorb auch zu dieser Zeit noch weiter entwickelt, oder ist sie wesentlich durch andere Umstände bedingt ?

Ich kann natürlich keinen Anspruch auf eine kategorische Entscheidung dieser ziemlich verwickelten Frage machen und das folgende soll jedenfalls nur als ein mehr oder weniger be- rechtigter Versuch zur Lösung derselben betrachtet werden. In erster Linie können wir uns schwerlich vorstellen, dass unter denjenigen Verhältnissen, unter welchen die von uns untersuch- ten Individuen leben , bis in’s hohe Alter hinein eine im Sinne fortgesetzten Wachstums aufzufassende und also vom sanitären Standpunkte aus unbedingt günstig zu beurteilende Erweiterung des Brustkorbes möglich sei. Wir wissen zwar, dass infolge sy- stematischer gymnastischer Uebungcn auch bei erwachsenen Men- schen eine deutliche Vergrösserung des Brustumfanges beobachtet wird ; aber erstens handelt es sich hiebei doch immer um jün- gere Individuen , und zweitens kann die Arbeit in der Fabrik, mit Ausnahme vielleicht der Beschäftigung der Tagelöhner und einiger Gruppen von Handwerkern, doch schwerlich als eine ge- sunde Gymnastik betrachtet und in ihren Konsequenzen für die Entwicklung des Organismus mit der letzteren auf eine Stufe ge- stellt werden. Wir sind also der Ansicht, dass die von uns beobachtete, mit der Alterszunahme parallel gehende Vergrösserung des Brustmasscs nicht als eine eigentliche Wachstumserscheinung aufzufassen sei, sondern anders gedeutet wer- den müsse.

Man könnte nun daran denken, dass diese Erweiterung des Thorax im höheren Alter , teilweise wenigstens , als eine Folge von Lungenemphysem aufzufassen sei. Und in der Tliat ist diese Erklärung für eine grosse Anzahl von Fällen nicht von der Hand zu weisen, denn chronische Bronchialkatarrhe und Emphysem

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Untersuchungen über die körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. 127

der Lungen sind eine bei unseren Arbeitern, namentlich in höherem Alter, durchaus nicht seltene Erscheinung und finden sich häufig unter den Notizen , welche wir uns bei Gelegenheit der Messungen über den Allgemeinzustand der Arbeiter machten. Ein zweiter Grund für die mit dem Alter zunehmende Ver- grösserung des Brustmasses bei den erwachsenen Arbeitern dürfte darin liegen , dass gerade unter den älteren Arbeitern sich eine nicht unbedeutende Anzahl besser gestellter oder überhaupt aus diesen oder jenen Gründen besser genährter , mit einem mehr entwickelten paniculus adiposus versehener Individuen befindet ; und dieser Umstand kann nicht ganz ohne Einfluss auf das Re- sultat der Messung bleiben, da es auch bei sehr sorgfältiger Aus- führung der letzteren unvermeidlich ist, dass eine auch nur halb- wegs bedeutende Fettablagerung im Unterhautbindegewebe den Brustumfang grösser erscheinen lässt, als man ihn bei demselben Individuum , wenn dasselbe kein Fettpolster besässe , erhalten würde. Ein dritter und vermutlich sehr wesentlicher Grund für die zu betrachtende Erscheinung dürfte, wie schon weiter oben angedeutet wurde, darin liegen, dass innerhalb des Kontingentes der Fabrikarbeiter fortwährend auf natürlichem Wege eine Sor- tierung vor sich geht, durch welche die schlechter entwickelten, schwächeren Individuen ausgeschieden werden , bevor sie ein höheres Alter erreichen, während die physisch besser ausgestat- teten , also widerstandsfähigeren Elemente, keinen Grund haben aus den Reihen der Fabrikarbeiter auszutreten.

Vermutlich ist es nun nicht eines der genannten Momente allein, w'elchem die auffallende Zunahme des Brustmasses in den höheren Altcrsjahren ihre Entstehung verdankt. Höchst wahrscheinlich ist dieselbe das Resultat der Konkurrenz aller soeben besprochenen Umstände, wobei es unentschieden bleibt, wie viel im gegebenen Falle der eine oder andere derselben zu diesem Resultate beiträgt. Weiter können w'ir offenbar in der Erklärung des letzteren gegenwärtig nicht gehen.

Es drängt sich nun noch die Frage auf, ob überhaupt die gefundene Grösse des Brustmasses unserer erwachsenen Arbeiter und das Verhältnis des- selben zur Körperlänge als günstige auf zufassen seien oder nicht. Diese Frage kann natürlich nur auf dem Wege des statistischen Vergleiches gelöst werden, und hiezu liegt leider genügendes Material nicht vor. Das einzige , was

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128

F.rismn n n,

gegenwärtig in dieser Richtung geschehen kann , bestellt darin, dass man diejenigen Messungen, die bei den Rekrutenaushebun- gen gemacht werden, zum Vergleiche heranzieht und somit die an 20 2ijährigen Individuen erhaltenen Resultate zusammcnstellt. Aber auch ein solcher Vergleich ist aus leicht begreiflichen Gründen (Abwesenheit systematisch , nach einheitlichem Plane gesammelten und in geeigneter Weise verarbeiteten Materials) nur in sehr beschranktem Massstabe möglich. Ausserdem kom- men, wenn man den Vergleich auf verschiedene Nationalitäten ausdehnt, RasscneigenUimlichkeiten in Betracht, die das Bild um- somehr verwirren, als sie selbst noch äusserst wenig analysiert sind. Jedenfalls muss man bei solchen Vergleichungen fortwäh- rend im Auge haben , dass die Körpcrlängc selbst nicht ohne Einfluss auf den Brustumfang ist und dass, wie wohl allgemein anerkannt sein dürfte, bei hohem Wüchse das Verhältnis des Brustumfanges zur halben Körperlänge immer ungünstiger ist als bei mittlerem und niedrigem Wüchse , d. h., dass bei grösserer Körperlänge der Brustumfang nicht proportional stärker ist, oder dass Individuen von höherem Wüchse einen relativ weniger um- fangreichen Thorax besitzen als Personen von nicdrigeremWuchse1). Aus diesem Grunde habe ich in der folgenden Tabelle, in wel- cher die Resultate einiger fremder Forschungen zum Vergleiche herangezogen sind, mich nicht auf Verhältniszahlen beschrankt, sondern auch die absoluten Angaben über Körperlänge und Brustumfang aufgenommen. Um übrigens die Sache nicht un- nötig zu komplizieren, benütze ich nur die Resultate von Unter- suchungen, die in Russland selbst gemacht worden sind; das reichhaltige, in Amerika gesammelte Material kann deshalb hier nicht verwertet werden, weil cs sich auf Individuen im Alter von iS 45 Jahren bezieht, während unser Vergleich ausschliesslich Per- sonen im militärpflichtigen Alter von 20 21 Jahren im Auge hat. Ausserdem mache ich darauf aufmerksam , dass die folgenden Angaben sich nicht auf Individuen beziehen , welche im Mo- mente der Untersuchung schon in den Militärdienst aufgenommen waren (ein Vergleich mit solchen Personen wäre hier nicht zu- lässig), sondern die Gesamtheit derjenigen umfassen, die sich zum Militärdienst gestellt hatten, ohne Rücksicht darauf, ob sic angenommen wurden oder nicht.

i) Siehe hierüber besonders die Arbeit von A. Chatclanat in der Zeitschrift für Schweiz. Statistik. 1875. 4* Quartal-Heft. Seite 293 u. folgde.

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Unter suehungrv über die körperliche F.tthcicklung der Arbeiter ete. 129

Angaben über die körperliche Entwicklung im militärpflichtigen Alter.

Zahl der Unter- suchten

Körper-

länge

Brust um- fang

Differenz zwi- schen halber Körpcrlänge u. Brustumfang.

U nsere F abrikarbeiter

von 20 und 21 Jahren

4477

164.38

84.OO

+

1.81

Bevölkerung des Bezirks Klin

(Gouv. Moskau) ’) . . .

1074

165.18

85.60

4

3.01

_ t Handarbeiter .

Darunter <

572

164.85

86.18

4-

3-76

l Fabrikarbeiter .

320

164.74

84.95

+

2.58

Bevölkerung des t Stadt . .

1052

166.0

«3-4

+

O.4O

Bezirks Tula’) ( Land . .

1 161

163.9

85.9

4-

4.00

Bevölkerung des Gouvcrnc-

ments Ssamara ’)....

'9 735

163.8

85.6

+

370

, Russen . . . .

12613

164.3

87.O

X

4.80

1 Kleinrussen . .

680

166.9

88.3

+

4.80

Darunter \ Deutsche . . .

'773

165.6

86.5

+

3-8o

/ Tataren u. Basch-

' kiren . . .

2 386

160.2

83-9

+

3.80

Bevölkerung von 10 Gouv. des

Königreichs Polen 4) . . .

30 333

162.9

84.8

+

3-30

Der Vergleich ergibt, dass im militärpflichtigen Alter

unsere

Fabrikbevöikerung in bezug auf den Wuchs eine Mittelstellung cinnimmt, dass sie dagegen hinsichtlich ihres Brustumfanges nur der Stadtbevölkerung von Tula den Rang abläuft, sonst aber hinter allen anderen hier zum Vergleiche heran- gezogenen Bevölkerungsgruppen zurücksteht. Es ist wahr, bei den Tataren und Baschkiren finden wir ein ab- solut ebenso kleines Brustmass wie bei unscrn Arbeitern ; aber ein Blick auf die Tabelle lehrt uns, dass die Tataren und Basch- kiren bedeutend kleiner von W'uchs sind als unsere Arbeiter, so dass ein Brustmass, welches bei den letzteren auf ungünstige Verhältnisse in der körperlichen Entwicklung hindeutet, bei den

1) Erismann, Repertorium der Moskauer Landschaft Abtlg. Sanitnlsstatislik III. I. (russ.).

2) Dr. Ssmidowitsch, »Gesundheit« (russ.). 1879. Nr. 121.

3) Ucke, Deutsche med. Wochenschrift. 1879. Nr. 45.

4) Ssnigireff, Militär-Med. Journal (russ.). 1878,

Archiv fiir soi. Getezgbg. u. Statistik t, Q

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Er is mann.

ersteren ein erkleckliches Plus in der Differenz zwischen Brust- umfang und halber Körperlänge ergibt und somit eine gute kör- perliche Entwicklung beurkundet. Im allgemeinen also fällt die Vergleichung nicht zu gunsten unserer Fabrikbevölkerung aus.

Es kann uns nun schliesslich an diesem Orte noch die Frage interessieren , ob zwischen den einzelnen Kompo- nenten unserer Fabrikbevölkerung, je nach ihrer Herkunft aus diesem oder jenemGouvernement, in bezug auf die körperliche Entwicklung ein wesentlicher Unterschied bestehe. Um hierüber Aufklärung zu bekommen , habe ich im folgenden Körperlänge und Brustumfang aller erwachsenen Männer im Alter von 25 60 'Jahren aus denjenigen Gouvernements Zcntralrusslands zusammen- gestellt, deren Bevölkerung sich am meisten an der Arbeit in den Moskauer Fabriken beteiligt.

K ö r p e r 1 i

i c h e Entwicklung

der Arbeiter aus ver-

s c h i e

d e n c n

Gouvernem

ents, im

Alter von

25 60 J a h

r e n.

Gouvernement

Zahl Her Körper-

Untersuchten länge

Brust-

umfang

Differenz zwischen Brustumfang und halber Körpcrlänge.

Tula

2732

164.82

87.58

+ 5- *7

Rjäsan

2 400

164.98

87.51

+ 5.02

Ssmolensk

1 498

164.77

86.58

+ 4.20

Wladimir

1828

165.36

86.76

+ 4.08

Kaluga

2 539

164.45

86. 16

+ 3-93

Moskau

19 648

165.44

86.21

+ 3-49

Wir sehen, dass sich die Arbeiter aus den Gouvernements Moskau und Wladimir durch hohen Wuchs auszeichnen : die Körperlänge derselben ist grösser als das allgemeine Mittel, das wir für unsere erwachsenen Arbeiter konstatiert haben (1652 mm.) und übertrifft diejenige der Arbeiter aus den Gouvernements Ssmolensk und Kaluga um 6—10 mm. ; Tula und Kjäsan nehmen eine Mittelstellung ein.

Ganz anders gruppieren sich die Gouvernements nach dem Brustumfänge der Arbeiter: am grössten ist derselbe bei den Leuten aus Tula und Kjäsan , am geringsten bei den Arbeitern, die aus den Gouvernements Kaluga und Moskau stammen ; der Unterschied beträgt 13 14 mm.

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Untersuchungen »her i/ie körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. T 3 T

Beinahe gerade so wie nach dem absoluten Brustniasse, ran- gieren sich die Gouvernements auch nach dem Verhältnisse zwi- schen Brustumfang und halber Körperlänge, das sich weitaus am günstigsten gestaltet für die Leute aus Tula und Kjäsan und am ungünstigsten für die Arbeiter aus Moskau ; auch Wladimir, Ssmolensk und Kaluga stehen übrigens bedeutend hinter Tula und Rjäsan zurück. Demgemäss müssen wir die Arbeiter aus den zuletzt genannten Gouvernements als die körperlich am besten entwickelten erklären ; die Leute aus den Gouvernements Ssmo- lensk , Wladimir und Kaluga zeigen weniger günstige Verhält- nisse, und am schlechtesten entwickelt ist unstrei- tig die Bevölkerung des Moskauer Gouverne- ments. Ich will aus diesen Thatsachen vorderhand keine wei- teren Schlüsse ziehen , möchte nur darauf aufmerksam machen, dass die Arbeiter aus den Gouvernements, in welchen die Fa- brikindustrie weitaus am meisten entwickelt ist ich meine Moskau und Wladimir sich gerade unter denjenigen befinden, deren körperliche Entwicklung am niedrigsten steht , und dass gerade diese Arbeiter den höchsten Wuchs zeigen. Man könnte vielleicht daran denken , dass das Leben in grösseren Fabrik- zentren denselben beschleunigenden Einfluss auf das Längen- wachstum ausübt , den der beständige Aufenthalt in Städten in dieser Hinsicht zu haben scheint.

Es wäre nun schliesslich noch möglich, dass auch die Art der Beschäftigung, der sich die Angehörigen verschiedener Gouvernements vorzugsweise widmen, einen Einfluss auf das Re- sultat unserer Messungen ausgeübt hätte. So liegt es z. B. ziem- lich nahe, anzunehmen , dass bei einem relativ grossen Prozent- satz von Individuen, die mit der eigentlichen Fabrikarbeit nichts zu thun haben (Handwerker, Tagelöhner u. dgl.), die Arbeiter aus dem betreffenden Gouvernement, ganz abgesehen von ihrer 1 lerkunft, im Mittel besser entwickelt erscheinen müssten, als die Arbeiter eines anderen Gouvernements , die vorzugsweise in der Textilindustrie beschäftigt sind. Um einen Begriff von der Be- deutung dieses Umstandes zu bekommen , habe ich die erwach- senen Arbeiter (im Alter von 25 60 Jahren) aus den oben ge- nannten 6 Gouvernements in 2 grosse Gruppen eingetcilt, wobei in die eine Gruppe alle Fabrikarbeiter, in die andere dagegen alle Handwerker, Tagelöhner, Wächter, Fuhrleute u. dgl. aufge- nommen sind. Hiebei ergibt sich folgendes :

9*

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132

Er is mann ,

Gouvernement Fabrikarbeiter Handwerker, Tagelöhner u. dgl.

Rjäsan 1383 = 57-63 */* 1017 = 42-37 °/»

Wladimir 1125 = 61.54 » 703 = 38.46 »

Tula 1797 = 65.77 » 935 =* 34-23 »

Ssmolensk 989 = 66.03 » 5°9 = 33-97 »

Kaluga 1723 = 67.86 » 816 = 32.14 »

Moskau 13992 = 71.21 » 5656 = 28.79 »

Reim Vergleiche dieser Tabelle mit der vorausgegangenen lässt sich wohl ein gewisser Zusammenhang zwischen denselben erkennen. Wir sehen z. B. dass unter den Arbeitern aus Rjäsan, die in Bezug auf ihre körperliche Entwicklung, nächst den Leu- ten aus Tula, in erster Linie stehen, sich relativ viele Handwer- ker und Tagelöhner (unter anderem eine nicht unbedeutende Zahl von Arbeitern auf Ziegelbrennereien) befinden; andererseits kann es uns nicht entgehen, dass gerade unter den Angehörigen des Moskauer Gouvernements, deren physische Entwicklung am meisten zu wünschen übrig lässt , diese Gruppe von Arbeitern am wenigsten zahlreich vertreten ist. Bei den übrigen Gouver- nements, die in Bezug auf die Verteilung der Arbeiter nach den zwei oben angeführten Gruppen eine Mittelstellung einnehmen, tritt allerdings die in Rede stehende Erscheinung weniger deut- lich hervor.

Ueber die Entwicklung des Thorax bei den Mädchen und Frauen kann ich mich kurz fassen. Während der Wachstums- periode sehen wir hier dasselbe Bild wie beim männlichen Ge- schlechte , d. h. in einem gewissen Alter beginnt die Jahres zunah me des Brustumfanges anzu- schwellen, erreicht ein deutliches Maximum und nimmt dann verhältnismässig rasch wieder a b (Tabelle II, Diagramm II). Nur ist hier diese an- und ab- schwellende Bewegung der Jahreszunahme, den Männern gegen- über , der Zeit nach etwas verschoben : sie beginnt nicht erst nach zurückgelegtem 13. Lebensjahre wie bei den Knaben, son- dern macht sich bemerkbar in einem bedeutend früheren Alter, nämlich schon beiden njährigen Mädchen ; ihr Maximum erreicht sie ebenfalls früher als beim männlichen Geschlecht d. h. schon bei den 14 und 15jährigen Mädchen; endlich zeigt sie schon bei den 16jährigen ein Zurückgehen , welches , wenigstens in diesem Grade, bei den jungen Männern erst im Alter von 18 Jahren ein-

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Unkt suc/tungen über die kor per in he Entwicklung der Arbeiter etc. 133

tritt. Diese Verschiebung um 1 2 Jahre ausgenommen , ist die Form der Kurve, wie gesagt, ganz dieselbe.

Ebenso bleibt bei den Mädchen in den der Pubertätszeit vorausgehenden Jahren das Breitenwachstum hinter dem Längen- wachstum in ähnlicher Weise zurück wie bei den Knaben. Des- halb finden wir bei Vergleichung des Brustumfanges mit der hal- ben Körperlänge auch hier schon bei den 9jährigen ein ziemlich bedeutendes Defizit auf Seite des Brustumfanges. Und da, wie wir weiter oben gesehen haben , zu dieser Zeit die Mädchen rascher in die Höhe wachsen als die Knaben , so darf es uns auch nicht überraschen , wenn das Minus des Brustmasses im Vergleich zur halben Körperlänge bei den Ersteren grössere Di- mensionen erreicht als bei den Letzteren (bis zu 3 cm). Ebenso aber ist aus dem soeben besprochenen früheren Auftreten der beschleunigten Wachstumszunahme bei den Mädchen leicht ver- ständlich , dass das Defizit des Brustmasses bei denselben in einem früheren Alter wieder verschwindet als bei den Knaben. In der That finden wir hier schon bei den iöjäh- rigen Mädchen, also um 2 volle Jahre früher als bei den Knaben, ein Plus aufSeite des Brust- masses, und zwar schwillt dasselbe, wie aus der e n t s p r e c h e n d e n T a b e 1 1 e e r s i c h 1 1 i c h ist, rasch zu einer bedeutenden Höhe an.

Es könnte nun der Verdacht entstehen, dass die soeben ge- schilderten, im Grossen und Ganzen mit der Entwicklung der Ge- schlechtsreife zusammenfallcnden Veränderungen im Brustmasse der Mädchen nur zu einem geringen Teile durch die Entwicklung des Thorax selbst bedingt seien , sondern wesentlich von der Entwicklung der Brustdrüsen abhängen und also nicht als Aus- druck des Wachstumsgesetzes des Skeletts und der inneren Brust- organe aufgefasst werden können. Ich gebe nun wohl zu , dass in einer gewissen Anzahl der Fälle, bei 15 16jährigen Mädchen, eine genaue Messung des eigentlichen Thoraxumfanges in der von uns angenommenen Höhe Schwierigkeiten bereitete, und dass überhaupt die Brustmessungen bei allen älteren Mädchen und auch bei den Frauen, schon der Kleidung halber, etwas unge- nauer ausfallen mussten als bei den Knaben und Männern ; aber die Zahlenreihen der Tabellen I und II geben mir, wie ich glaube, das Recht zu sagen , dass im Grossen und Ganzen weder die Entwicklung der Brustdrüse , noch die Kleidung (siehe hierüber

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>34

Er ii m ann,

die einleitenden Bemerkungen) das Resultat der Messung so sehr beeinflussen konnten, dass der physiologische Gang des Wachs- tums dadurch verwischt worden wäre.

Was nun speziell den von uns geschilderten Charakter der Brustentwicklung zur Zeit der Pubertätsperiode und in den ihr unmittelbar vorausgehenden Jahren anbelangt , so sprechen ver- schiedene Umstände dafür , dass wir in unseren Zahlen in ziem- lich reiner Form den Ausdruck der Thoraxentwicklung vor uns haben. Einmal beginnt die beschleunigte Zunahme des Brust- perimeters schon in einem Alter, in welchem, wenigstens bei den Mädchen des russischen Bauernstandes, bei denen im Allgemei- nen die Zeichen der Pubertät erst nach erreichtem 14. Lebens- jahre auftreten , von einer Anschwellung der Brustdrüsen noch keine Rede sein kann, nämlich zwischen 11 und 12 Jahren. Sodann fällt unser Maximum der Jahrcszunahme durchaus nicht mit der Zeit der raschesten und intensivsten Entwicklung der Brustdrüsen zusammen, denn unsere 14- und 15jährigen Fabrik- mädchen zeigten in den meisten Fällen noch eine ziemlich flache Brust. Mit einem Worte, wenn die Resultate unserer Messungen in irgendwie erheblichem Grade durch die Entwicklung der Brust- drusen beeinflusst wären , so müsste der ganze Gang der jähr- lichen Wachstumszunahme sich anders gestalten und speziell die Zeit des Auftretens ihrer Beschleunigung eine ganz andere sein.

Seine vollständige Entwicklung erreicht der Brustkorb unserer Mädchen im Alter von 19 bis 20 Jahren, in welchem, bei einem Brustumfänge von 80.3 cm, voller Stillstand des Wachstums eintritt; in diesem Alter steigt die Differenz zwischen Brustperipherie und halber Körper- längc auf +■ 3.7 cm. Wenn wir nun die einschlägigen Zahlen der Tabelle 1 weiter verfolgen , so stossen wir auf einen Um- stand, welcher das weiter oben Gesagte über den geringen Ein- fluss der Brustdrüsenentwicklung auf die Resultate unserer Mess- ungen noch bekräftigt. Wir bemerken nämlich, dass etwa im 24. Jahre eine leichte Abnahme des Brustmasses eintritt, dass aber sodann, bis gegen das 45. Jahr hin, der Brustumfang sich konstant auf derselben, dem mit 20 Jahren erreichten Maximum etwas nachstehenden Höhe erhält; erst vom 45. Lebensjahre an, zu einer Zeit, wo überhaupt bei unseren Fabrikarbeiterinnen die senile Rückbildung des Organismus in die Erscheinung tritt, be- ginnt auch eine fortschreitende Abnahme des Brustumfanges.

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Unter sut hungert Ubtr die körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. 135

Ich glaube nun, dass die sehr unbedeutende, nach dem 24. Jahre eintretende und bis zum 45. Jahre konstant bleibende Vermin- derung des Brustumfanges durch das Schlaffer werden der Brustdrüsen bedingt ist, und dass also die kleine Differenz , die sich zwischen dem Maximum des Brustmasses im Alter von 19 24 Jahren einerseits, und dem Brustumfang bei Frauen von 24 25 Jahren andererseits, bemerkbar macht, durch- aus nicht etwa durch ein Zusammensinken des Thorax bedingt ist, sondern geradezu derjenigen Grösse entspricht , um welche, unter dem Einflüsse der prallen Brüste jüngerer Personen , un- sere Messresultate bei den Letzteren zu hoch ausgefallen sind. Diese Grösse ist nun leicht zu bestimmen : wir finden nämlich, dass der mittlere Brustumfang unserer Arbeiterinnen im Alter von 19 24 Jahren 80.20 cm beträgt, zwischen 25 und 45 Jahren aber auf 79.92 cm herabsinkt; der durch die Entwicklung der Brüste veranlasste Fehler in unseren Zahlen beläuft sich also auf weniger als 3 mm.

Dem Gesagten entsprechend bin ich der Ansicht , dass un- sere Zahlen in der That als ein ziemlich richtiger Ausdruck des Entwicklungsganges des Brustkorbes bei den in Fabriken be- schäftigten Mädchen und Frauen Zentralrusslands gelten können, und dass es vollkommen möglich ist, dieselben in Zukunft als Grundlage von Vergleichungen zu benutzen. Leider kann ich selbst derartige Vergleichungen nicht anstellen, da die in der mir bekannten Litteratur verzeichneten Angaben über zahlreichere Brustmessungen an Personen weiblichen Geschlechts sich nur auf Schulkinder von 7 13 oder 14 Jahren beziehen. Es wäre sehr wünschenswert , dass diese Lücke in unserer Kenntnis des kör- perlichen Entwicklungsganges der weiblichen Jugend bald mög- lichst ausgefüllt würde. Unsere Untersuchungen sind als ein kleiner Beitrag in dieser Richtung zu betrachten , der durchaus keinen Anspruch darauf macht die Sache vollständig zu ent- scheiden, da unter verschiedenen Verhältnissen mannigfaltige Mo- difikationen des obencntwickelten Wachstumsgesetzes möglich sind.

Im Weiteren werde ich einige kurze Bemerkungen über das Körpergewicht und die Muskelkraft unserer Arbeiter einflechten und sodann dazu übergehen den Einfluss der Be- schäftigungsweise auf die physische Entwicklung derselben zu schildern. Hierin liegt natürlich, für sanitäre und sozial- politische Betrachtungen, der Schwerpunkt unserer Untersuchungen.

(Schluss folgt.)

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GESETZGEBUNG.

DAS SCHWEIZER BUNDESGESETZ VOM 26. APRIL 1887, BETREFFEND DIE REFORM DER HAFTPFLICHT.

EINGELEITET VON

Dk. VICTOR MAT AJA (WIEN).

Trotz der Kürze der Zeit, wahrend welcher das schweize- rische Haftpflichtgesetz vom 25. Juni 1S81 in Kraft steht, äusserte sich allgemein das Bedürfnis nach einer Reform desselben. An- lass zu Klagen gab insbesondere der Umstand, dass es dem Ar- beiter sowohl infolge seiner Stellung zum Arbeitgeber, als auch vermöge der Abhängigkeit seines Anspruches in letzter Linie von der I furchfuhrung eines Prozesses, der immer mehr oder weniger mit Schwierigkeiten und Weitläufigkeiten verbunden ist , häufig unmöglich war , selbst sein bestbegründetes Recht zur Geltung zu bringen , wozu überdies oftmals noch die Unkenntnis des eigenen Rechtes kam, sowie eine engherzige oder sachunkundige Thätigkeit der Behörden bei Feststellung des Thatbestandes. Un- ter solchen Umständen kam eine grosse Zahl von Vergleichen über Entschädigungsansprüche zu Stande, bei welchen die Rechte des Arbeiters nur in höchst fragwürdiger Weise gewahrt erschienen.

In den Berichten der Kantonsregierungen und Fabrikinspek- toren sind hielur reichlich Belege zu finden, ebenso in einer vom Schweizerischen Handels- und Landwirtschafts-Departement her- ausgegebenen Materialien-Sammlung (unter dem Titel : * Avant-pro jet de loi snr Ui rrsponsabilite des fabricants cn cas tfaccidenis <>n dt- maladies *, 102 S.) , namentlich in dem sehr eingehenden, da- selbst (auf S. 26—36) abgedruckten Berichte des F'abrikinspek- tors Schüler. Endlich stellt sich auch die Ausdehnung des Haft- pflichtssystems auf andere , dem F’abrikgcsetze nicht unterstellte Unternehmungen als eine gebieterische Forderung dar, lässt doch die schweizerische Unfallstatistik die Fabriken keineswegs als die

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Das Schweizerische Bundesgesetz vom 26. April iSSj etc.

>37

gefährlichsten Betriebe erscheinen. Es entfielen nämlich tötliche Verunglückungen 15- und mehr jähriger Männer während 1879/83 auf je 10.000 Berufsangehörige :

Textilindustrie 5.2

Chemische Industrie 8.0

Erzeugung von Maschinen und Werkzeugen 7.8

Transportwesen 23.7

Bergbau, Steinbriichc etc. 34.7

Landwirtschaft 9.7

Forstwirtschaft 26.4

Jagd und Fischfang 13.2

Baugewerbe, Wohnungseinrichtung .... 14.4

Persönliche Dienstleistungen 28.0

Die hohen Ziffern fiir Bergbau , Forstwirtschaft etc. deuten auf ausgedehnte Berufsgefahren hin , was ja bekanntlich auch durch die statistischen Aufnahmen anderer Länder bestätigt wird.

Dieser Sachlage entsprechend nahm der Nationalrat am 25. März 1885 die Motion Klein an, welche I) eine Ausdehnung der Haftpflicht und eine Erleichterung in der Geltendmachung der Entschädigungsansprüche, sowie 2) eine Untersuchung der Frage verlangt , ob nicht eine allgemeine obligatorische Arbeiterunfall- versicherung anzustreben sei.

Mit der Botschaft vom 7. Juni 1886 kam der Bundesrat die- ser Einladung wenigstens zum Teile nach.

Der Bundesrat gibt darin die Einleitung der gewünschten Studien in grossem Umfange bekannt, bemerkt jedoch, dass für die Einführung der obligatorischen Versicherung eine Revision der Bundesverfassung unvermeidlich wäre. Alles zusammenge- nommen könne in der Versicherungsfrage in nächster Zeit keine Entscheidung getroffen werden. Der Bundesrat will sich daher darauf beschränken, eine Ausdehnung der Haftpflicht, dann die Ergänzung des bestehenden Haftpflichtgesctzes im Sinne der Sicherung einer korrekteren Ausführung desselben herbeizuführen. Mit dieser Anschauung ist der Bundesrat auch durchgedrungen und beruht das neue Bundesgesetz vom 26. April 1887 , betref- fend die Ausdehnung der Haftpflicht und die Ergänzung des Bundesgesetzes vom 25. Juni 1881, im wesentlichen auf dem bun- desrätlichen Entwürfe.

Dem Wunsche nach Ausdehnung der Haftpflicht ist zwar Rech- nung getragen durch Art. 1 (Art 3 und 4) des neuen Bundes

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13«

Gesetzgtfrung.

gesetzes; insbesondere aus Opportunitätsrücksichten hat man je- doch darauf verzichtet, das Prinzip der Haftpflicht in vollem Um- fang durchzuführen.

Komplizierter zu lösen war die zweite Aufgabe. Der Bundes- rat selbst erwähnt als Hauptübelstände, die zu bekämpfen wären :

1) die vorgeschriebenen Unfallsanzeigen (Art. 4 des Fabriken- gesetzes) werden oft entweder gar nicht oder verspätet und un- vollständig gemacht ;

2) in amtlichen Berichten über die Unfälle wird nicht der Grundsatz der Objektivität bewahrt ;

3) die Haftpflicht wird im Wege der Krankenkassen oder durch Einforderung ungehöriger Versicherungsprämien teilweise auf die Arbeiter abgewälzt ;

4) die Entschädigung findet gar nicht oder nur sehr ungenü- gend statt, weil sich der Arbeiter mit der gebotenen Summe be- gnügt aus Furcht, seine Stelle zu verlieren, aus Mangel an Mitteln, um auf dem Prozesswege zu seinem Rechte zu gelangen etc.

Das Gesetz verfügt nun :

a) die Gewährung unentgeltlichen Rechtsbeistandes und Er- lassung von Kautionen etc. an bedürftige Personen (in Uebcrein- stimmung mit den bereits in den weitaus meisten Kantonen be- stehenden Vorschriften über Armenrecht : der Bundesrat wollte diese Begünstigung sogar allen Personen, die klagen, auf Ver- langen einräumen) Art. 6, Ziff. 1 und Art. 7 ;

b) die thunlichst rasche Erledigung der Haftpflichtprozesse Art. 6, Ziff. 2 ;

c) staatliche Kontrolle der gewährten Entschädigungen, indem

1) dieselben den Behörden und Kabrikinspektoren bekannt zu geben sind Art. 8

2) und falls sich die Abmachungen als unbillig darstellen, darüber behördliche Erhebungen stattzufinden haben , deren Re- sultat den Interessenten mitzuteilen ist; Verträge, denen zufolge eine offenbar unzulängliche Entschädigung dem Beschädigten oder dessen Rechtsnachfolger zugekommen ist, sind anfechtbar Art. 9.

Mit dem Kreisschreiben des Bundesrates an die eidgenössi- schen Stände vom 25. Oktober 1887 wurde die energische Durch- führung des Gesetzes eingeschärft, als erheblich im Sinne des Art. 8 jeder Unfall erklärt, welcher eine Arbeitsunfähigkeit von mehr als sechs Tagen zur Folge hat, und anderes die Vollziehung Betreffende verfügt.

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Das Schweizerische Bundesgesetz vom 26 April 1 SS ^ etc. 139

Damit ist die Gesetzgebung jedoch keinesfalls zu einem de- finitiven Abschlüsse gelangt ; zum mindesten eine weitere Aus- dehnung der Haftpflicht wird nicht abzuweisen sein. Die Er- hebungen über die Erspriesslichkeit einer obligatorischen Arbeiter- versicherung werden ferner bald die Frage neuerlich auf die Ta- gesordnung bringen ; schon der Gewerkschafts-Kongress zu Bern im Mai 1885 hat sich für die Arbeiter-Unfallversicherung ausge- sprochen und soll einer solchen die Stimmung überhaupt günstig sein, worüber bald die sehr umfassende Enquete des Schweizerischen Handels- und Industrievereines Aufschluss geben dürfte, deren Veröffentlichung im Frühjahre erwartet wird. Zu den vorberei- tenden Arbeiten für den Ausbau der Fürsorge für die im Berufe verunglückten Arbeiter gehört ferner die geplante Unfallsstatistik (im Sinne der zur Zeit , als diese Zeilen zum Druck gelangen, noch nicht erledigten Botschaft des Bundesrates vom 5. Dezem- ber 1887, betreffend die Aufnahme und statistische Verwertung der in der Schweiz vorkommenden Unfälle : der Bundesrat spricht darin die Ermächtigung an , für die ihm erforderlich scheinende Zeitdauer die in der Schweiz vorkommenden Unfälle, welche Per- sonen von mehr als 14 Altcrsjahren betreffen und den Tod oder eine Erwerbsunfähigkeit von mehr als sechs Tagen herbeiführen, behufs statistischer Verwertung durch eigene Zählbeamte ein- gehend erheben lassen zu dürfen, für 1888 ist zur Bedeckung der Kosten ein Kredit von 50000 Franken in Anspruch genommen), zu deren Ergänzung die t888 vorzunehmende Volkszählung, Spezial- erhebungen der Fabrikinspektoren über die Zahl der in den Fa- briken beschäftigten Arbeiter, Erhebungen des Arbeitersekretariats über die in den Bereich der Krankenkassen fallenden Unfälle und eine von demselben mit Unterstützung der Fabrikinspektoren aufzunehmende Lohnstatistik weiteres Material bieten sollen.

Es folgt nunmehr der Text des

Gesetzes vom 26. April 1887, betreffend die Ausdehnung der Haftpflicht und die Ergänzung des Gesetzes vom 25. Juni i88x.

Die Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft , nach Einsicht einer Botschaft des Bundesrates vom 7. Juni 1886, heschliesst :

Art. I. Die im Bundesgesetz vom 25. Juni 1881 für den Betrieb der Fabriken (Art. 1 und 2) und der in Art. 3 desselben bezeichneten Industrien festgesetzte Haft- pflicht findet nach Massgabe der übrigen Bestimmungen jenes Gesetzes ihre Anwen- dung auch auf :

1) alle Gewerbe , in welchen cxplodicrbare Stoffe gewerbsmässig erzeugt oder ver- wendet werden ;

2) die nachstehend verzeichnten Gewerbe, Unternehmungen und Arbeiten, soweit sie

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Gesetzgebung.

nicht schon unter vorstehende Ziffer i fallen, wenn die betreffenden Arbeitgeber während der Betriebszeit durchschnittlich mehr als 5 Arbeiter beschäftigen:

a. das Baugewerbe; inbegriffen sind hiebei alle mit dem Baugewerbe in Zusammen- hang stehenden Arbeiten und Verrichtungen, gleichviel ob dieselben in Werkstätten, auf Werkplätzen, am Bauwerke selbst, oder beim bezüglichen Transport vorgenom- men werden j

b. die Fuhrhalterci, den Schiffsverkehr und die Flösserei ; auf die Dampfschiffahrt findet gegenwärtiges Gesetz mit Vorbehalt von Artikel 4, 6 und 7 desselben keine Anwendung ;

c. die Aufstellung und Reparatur von Telephon- und Telegraphenleitungen , die Aufstellung und den Abbruch von Maschinen und die Ausführung von Installationen technischer Natur ;

d. den Eisenbahn-, Tunnel-, Strassen-, Brücken-, Wasser- und Brunnenbau, die Erstel- lung von Leitungen, sowie die Ausbeutung von Bergwerken, Steinbrüchen und Gruben.

Art. 2. Haftbar ist, in den Fällen von Artikel 1, Ziffer 1 und 2, der Inhaber des betreffenden Gewrerbes , beziehungsweise bei Ziffer 2 , litt, c und d , der Unter- nehmer der betreffenden Arbeiten, auch dann , wenn er die Arbeiten einem Dritten zur Ausführung übertragen hat.

Werden einzelne der in Art. 1 bezeichneten Arbeiten in Regie ausgeführt, so wird die Haftpflicht von der betreffenden Staats-, Bezirks-, Gemeinde- oder Korporations- verw'altung getragen, immerhin unter der Voraussetzung, dass für diese Arbeiten gleich- zeitig mehr als 5 Arbeiter verwendet werden.

Für die beim Eisenbahnbau vorkommenden Haftpflichtfälle bleibt, bezüglich der Haftbarkeit der konzessionierten Unternehmung und des Umfangs des 2u leistenden Schadenersatzes, Artikel 1 des Gesetzes vom 1. Juli 1875 Vorbehalten.

Art. 3. Dem Bundesgesetz vom 25. Juni 1881 werden auch die mittelbar mit dem Fabrikbetriebe in Zusammenhang stehenden Dienst Verrichtungen unterstellt, auch wxnn dieselben nicht in den geschlossenen Raumen der Fabrik vorgenommen werden.

Art. 4. Dem vorerwähnten Bundesgesetze werden im weitern unterstellt die in Artikel 2 des Bundesgesetzes vom 1. Juli 1875 und in Artikel 2 desjenigen! vom 25 Juni 1881 unter dem Ausdruck »Betrieb« nicht inbegriffenen, aber mit letzterem in einem Zusammenhang stehenden Hülfsarbeiten.

Art. 5. Die Artikel 2, letzter Satz, 4 und 19, des Bundesgesetzes vom 23. März 1877 sind auf die in Artikel 2 des gegenwärtigen Gesetzes erwähnten Inhaber von Gewerben, beziehungsweise Unternehmer von Arbeiten gleichfalls anwendbar.

Art. 6. Die Kantone haben auf dem Gcsetzgebungs- oder Verordnungswege da- für zu sorgen, dass :

1) den bedürftigen Personen, welche nach Massgabc des gegenwärtigen Gesetzes oder derjenigen vom 1. Juli 1875 und 25. Juni 1881 Klage erheben, auf ihr Verlangen, wenn die Klage nach vorläufiger Prüfung des Falles sich nicht zum Voraus als unbe- gründet herausstellt, die Wohlthat des unentgeltlichen Rechtsbeistandes gewährt und Kautionen, Expertenkosten, Gerichtsgebühren und Stempeltaxen erlassen werden ;

2) Streitigkeiten dieser Art durch einen möglichst raschen Prozessweg erledigt wer- den können.

Art. 7. In Haftpflichtffcllen, welche zum Entscheid des Bundesgerichtes gelangen, ist der Kläger , wenn er dem Gerichte als bedürftig erscheint und die Klage nach vorläufiger Prüfung des Falles sich nicht zum Voraus als unbegründet hcrausstellt, von Erlegung der Gerichlsgebühren und jeder in Artikel 26 des Bundesgesctzes vom

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Das Schweizerische Rundesgcsclz vom 26. April 1SS7 etc. 141

13. Juli 1855 vorgesehenen Sicherheitsleistung zu entbinden. In solchen Fallen sind zugleich die gemäss Artikel 23 desselben Gesetzes dem Kläger obliegenden Kosten- vorschüsse, sowie allfällige Zeugen- und Kanzleigebühren jeder Art aus der Gerichts- kasse zu bestreiten.

Art. 8. Die Inhaber von Gewerben, beziehungsweise die Unternehmer von Ar- beiten, auf welche sich das gegenwärtige und das Gesetz vom 25. Juni 18S1 bezieht, haben ein Verzeichnis der bei ihrem Geschäftsbetrieb vorgekommenen erheblichen Unfälle nach einem vom Bundesrate aufzustellenden Formulare zu fuhren, aus wel- chem ausser dem Tage und dem Ausgange des Unfalles zu entnehmen ist:

1) wann die vorgeschriebene Anzeige bei der zuständigen Behörde gemacht,

2) welche Entschädigungen nach Massgabe von Artikel 6 des Gesetzes vom 25. Juni 1881 ausgerichtet worden, und

3) aus welcher Quelle diese geflossen sind.

Diese Angaben sind spätestens drei Monate vor Ablauf der Verjährungsfrist (Art. 12 und 13 des Bundesgesetzes vom 25. Juni 1881) der kantonalen Behörde einzu- senden und von dieser auch dem Fabrikinspektor des betreffenden Kreises mitzuteilen.

Zuwiderhandlungen gegen die Bestimmungen dieses Artikels sind mit einer Busse von 5 100 Fr. und im Wiederholungsfälle bis 200 Fr. zu belegen, welche nach Mass- gabe der kantonalen Gesetze ausgesprochen wird und dem betreffenden Kanton zufällt.

Der Betriebsunternehmer ist im Falle der Unterlassung der Mitteilung zur nach- träglichen Anzeige anzuhalten. Bei der verspäteten Anzeige läuft die Verjährungsfrist erst drei Monate nach Eingang der Anzeige ab.

Art. 9. Wenn die eidgenössischen oder kantonalen Aufsichtsorgane in Erfahrung bringen , dass der von einem Unfall oder einer Krankheit, wofür Haftpflicht besteht, betroffene Arbeiter oder Angestellte oder dessen Rechtsnachfolger eine im Sinne des gegenwärtigen oder des Gesetzes vom 25. Juni 1881 ihm zustchende billige Entschä- digung auf aussergerichtlichcm Wege nicht erhalten hat , so haben sie sofort der Kantonsregierung Bericht zu erstatten. Diese wird eine Untersuchung anordnen und vom Resultat den Interessenten Mitteilung machen.

Verträge , denen zufolge einem Geschädigten oder dessen Rechtsnachfolger eine offenbar unzulängliche Entschädigung zukommt oder zugekommen ist, sind anfechtbar.

Art. 10. Die Bestimmungen des Artikels 14 des Gesetzes vom 25. Juni 1881 sind analog auf diejenigen Fälle anwendbar, in welchen Zweifel entstehen, ob eine Unter- nehmung unter die Vorschriften des gegenwärtigen Gesetzes falle.

Art. II. Die Kantonsregierungen sind beauftragt, für die Vollziehung der gegen- wärtigen Vorschriften besorgt zu sein.

Der Rundesrat übt die Kontrolle über diese Vollziehung aus.

Art 12. Der Bundesrat ist beauftragt, auf Grundlage der Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 17. Juni 1874, betreffend die Volksabstimmung über Bundesge- setze und Bundesbeschlüsse , das gegenwärtige Gesetz bekannt zu macheu und den Zeitpunkt seines Inkraftretcns zu bestimmen.

Der schweizerische Bundesrat beschlie.sst :

Das vorstehende, unterm 4. Juni 1SS7 öffentlich bekannt gemachte Bundesgesetz ') wird hiemit gemäss Art. 89 der Bundesverfassung in Kraft und mit dem 1. November 1887 vollziehbar erklärt.

Bern, den 20. September 1887.

l) Siehe Bundesblatt vom Jahr 1X87, Band III, Seite 1,

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DEUTSCHES REICH.

GRUNDZÜGE ZUR ALTERS- UND INVALIDENVER- SICHERUNG DER ARBEITER.

I. Umfang und Gegenstand der Versicherung.

1. Gegen die Erwerbsunfähigkeit, welche infolge von Alter, Krankheit oder von nicht durch reichsgesetzliche Unfallversicherung gedeckten Unfällen eintritt , werden nach Massgabe der nachfolgenden Bestimmungen versichert:

a) Personen, welche als Arbeiter, Gehülfen, Gesellen, Lehrlinge oder Dienstboten gegen Lohn oder Gehalt beschäftigt werden;

b) Betriebsbeamte sowie Mandl ungsgehiilfcn und Lehrlinge einschliesslich «1er Gehülfen und Lehrlinge in Apotheken, deren durchschnittlicher Jahresarbeitsverdienst an Lohn oder Gehalt 2000 M. nicht übersteigt, sowie

c) die gegen Lohn oder Gehalt beschäftigten Personen der Schi ffsbesatznng deutscher Seefahrzeuge.

Durch Beschluss des Bundesrats kann die Bestimmung des Absatzes 1 auch auf selbständige Gewerbetreibende der Hausindustrie erstreckt werden. Durch Beschluss des Bundesrats kann ferner bestimmt werden, dass und inwieweit diejenigen Gewerl»e- treibenden, in deren Auftrag und für deren Rechnung von Hausgewerbetreibenden gearbeitet wird, als beitragspflichtige Arbeitgeber der letzteren und ihrer Gehilfen, Gesellen und Lehrlinge gelten sollen.

2. Auf Beamte des Reichs und der Bundesstaaten, sowie auf die mit Pensions- berechtigung angestellten Beamten von Kommunalverbänden finden diese Bestim- mungen keine Anwendung. Dasselbe gilt von solchen Personen , welche vom Reich, einem Bundesstaate oder einem Kommunalverbande Pensionen oder Warte- gclder im Betrage von jährlich 120 M. oder mehr beziehen, oder welchen auf Grund der reichsgesetzlichen Unfallversicherung der Bezug einer jährlichen Rente von min- destens demselben Betrage zusteht. Jedoch bleiben denjenigen Beamten (Absatz l), welche vor ihrer Anstellung nach den Vorschriften der Ziffer 1 der Versicherungs- pflicht unterworfen waren, die aus diesem Verhältnisse sich ergebenden Ansprüche auf Alters- und Invalidenversorgung solange Vorbehalten, bis sic entweder einen ge- setzlichen Anspruch auf Pension erlangt haben, oder bis ihnen eine Pension im Mindestbetrage der Invalidenrente von der zuständigen Dienstbehörde bewilligt ist.

3. Andere als die unter Ziffer 2 erwähnten Personen , welche in Betrieben des Reichs, eines Bundesstaates oder eines Kommunalverbandes beschäftigt werden , sind von der Versiehe« ungspflicht befreit, sofern denselben durch besondere für diese Be- triebe errichtete Einrichtungen für den Fall des Alters oder der Erwerbsunfähigkeit

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Grundziige zur Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter. 143

eine den nachstehenden Vorschriften mindestens glcichkommende Fürsorge gesichert ist und bei diesen Einrichtungen folgende Voraussetzungen zutreffen:

a) Die Beiträge der Versicherten dürfen, soweit sie für die Alters- und Invaliden- versicherung entrichtet werden, den dritten Teil des für dieselbe rechnungsmässig er- forderlichen Gesamtbedarfs, sowie die Hälfte der Verwallungskosten und der Rück- lagen zum Reservefonds nicht übersteigen.

b) Diejenige Zeit, während welcher die bei solchen Einrichtungen beteiligten Personen vor dem Eintritt ihrer Beteiligung eine nach Ziffer I die Versicherungs- pflicht begründende anderweite Beschäftigung ausgeübt haben, ist denselben bei Be- rechnung der Rente in Anrechnung zu bringen, sofern die Hohe der Rente von der Zeitdauer der Beschäftigung abhängig ist.

c) lieber den Anspruch der einzelnen Beteiligten auf Gewährung von Alters- und Inval idenversorgung muss ein schiedsgerichtliches Verfahren unter Mitwirkung von Vertretern der Versicherten zugelassen sein.

Durch Beschluss des Bundesrats ist festzusetzen, welche Einrichtungen ( Pensions-, Alters-, Invalidenkassen) den vorstehenden Anforderungen entsprechen. Den vom Bundesrat anerkannten Einrichtungen dieser Art wird ein Drittcil der von ihnen zu gewahrenden Alters- und Invalidenrenten, soweit sie den Betrag der reichsgesetzlich zu zahlenden Renten nicht übersteigen, aus Reichsmitteln vergütet (Ziffer io).

Denjenigen Personen, welche aus der die Beteiligung bei solchen Einrichtungen begründenden Beschäftigung ausschciden und in eine andere die Versicherungspflicht nach Ziffer I bedingende Beschäftigung übertreten , ist bei Berechnung der reichsge- setzlichen Alters- und Invalidenrente die Dauer ihrer Beteiligung bei solchen Einrich- tungen unter Belastung der letzteren mit der anteiligen Rente in Anrechnung zu bringen.

4. Durch Beschluss des Bundesrats kann bestimmt werden, dass und inwieweit die Bestimmungen der Ziffer 2 Absatz i auf Beamte, welche von anderen öffentlichen Verbänden mit Pensionsberechtigung angestellt sind , sowie die Bestimmungen der Ziffer 3 auf Mitglieder anderer Kasseneinrichtungen, welche die Alters- und Invaliden- versorgung zum Gegenstand haben, Anwendung finden sollen.

5. Die Alters- sowie die In val idenversorgung besteht in der Gewährung jähr- licher Renten.

Altersversorgung erhält ohne Rücksicht auf seine Erwerbsfähigkeit derjenige, welcher das 70. Lebensjahr vollendet hat.

Invaliden Versorgung erhält ohne Rücksicht auf das Lebensalter derjenige, welcher nachweislich dauernd völlig erwerbsunfähig ist.

Völlig erwerbsunlähig ist derjenige , welcher infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes weder im stände ist , die gewöhnlichen Arbeiten , welche seine bisherige Berufsthätigkeit mit sich bringt, regelmässig zu verrichten, noch durch an- dere, seinen Kräften, Fähigkeiten und der vorhandenen Arbeitsgelegenheit entspre- chende Arbeiten den Mindeslbetrag der Invalidenrente zu erwerben.

6. Durch statutarische Bestimmung einer Gemeinde für ihren Bezirk oder eines weiteren Kommunal verbandes für seinen Bezirk oder Teile desselben kann, sofern da- selbst nach Herkommen der Lohn ganz oder zum Teil in Form von Naturalleistungen gewährt wird, bestimmt werden, dass die Rente der in diesem Bezirk wohnenden Rentenempfänger bis zu drei Vierteilen ihres Betrages ebenfalls in Form von Natural- leistungen gewährt werde. Der Wert der letzteren ist nach Durchschnittspreisen in Ansatz zu bringen. Die statutarische Bestimmung bedarf der Genehmigung der höheren V erwallungsbeltordc.

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Gesetz? finnig.

Sofern eine solche Bestimmung getroffen winl, geht der Anspruch auf die Rente zu demjenigen Betrage, in welchem Naturalleistungen zu gewähren sind, 3uf den Kommunalverband über, wogegen diesem die Leistung der Naturalien obliegt. Streitig- keiten, welche hieraus entstehen, werden von der Komrhunalaufsichtsbehörde ent- schieden ; gegen den Bescheid derselben finden binnen zwei Wochen nach der Zu- stellung das Verwaltungsstreitverfahren, oder wo ein solches nicht besteht, der Rechts- weg mittelst Erhebung der Klage statt.

Von dem Uebcrgang des Anspruchs auf die Rente ist die mit der Auszahlung beauftragte Postanstalt durch Vermittelung der unteren Verwaltungsbehörde rechtzeitig in Kenntnis zu setzen.

7. Versicherten, welche erweislich sich die Arbeitsunfähigkeit vorsätzlich oder durch schuldhafte Beteiligung bei Schlägereien oder Raufhändeln oder durch ge- schlechtliche Ausschweifungen zugezogen haben, steht ein Anspruch auf Invaliden- rente nicht zu. Es kann ihnen jedoch, sofern sie mindestens zehn Beitragsjahre hin- durch Beiträge entrichtet haben, aus Billigkeitsgründen ein Teil der Rente vorüber- gehend oder dauernd bewilligt werden.

Im üebrigen ist zur Erlangung eines Anspruchs auf Alters- und Invalidenver- sorgung, abgesehen von dem nach Ziffer 6 beizubringenden Nachweise des gesetzlich vorgesehenen Alters oder der Erwerbsunfähigkeit, erforderlich:

a) die Zurücklegung der vorgeschriebenen Wartezeit (Ziffer 8 und 9»,

b) die Leistung von Beiträgen (Ziffer 10 bis 12).

8. Die Wartezeit (Ziffer 7) beträgt:

1. beider Altersrente 30 Beitragsjahre (Ziffer 9);

2. bei der Invalidenrente 5 Beitragsjahre.

Der Zurücklegung einer Wartezeit bedarf es nicht, wenn die Erwerbsunfähigkeit erweislich Folge einer Krankheit ist, welche der Versicherte bei der Arbeit oder aus Veranlassung derselben sich zugezogen hat.

Solchen Personen, welche vor Ablauf der Wartezeit aus einer anderen als der vorstehend angegebenen Ursache erwerbsunfähig werden, kann auf ihren Antrag aus Billigkeitsgründen eine Rente bis zur Hälfte des Mindestbetrages der Invalidenrente gewährt werden, sofern sie die gesetzlichen Beiträge während mindestens eines Bei- tragsjahres geleistet haben Eine solche Bewilligung ist jedoch unstatthaft, insofern der Erwerbsunfähige erst zu einer Zeit, in welcher seine Erwerbsunfähigkeit bereits beschränkt war, in eine die Versicherungspflicht begründende Beschäftigung cinge- treten ist, und Thatsachen vorliegen, welche die Annahme rechtfertigen, dass dies in der Absicht geschehen sei, um den Anspruch auf Rente zu erwerben.

9. Als Beitragsjahr (Ziffer 8) gilt ein Zeitraum von 300 Arbeitstagen Die inner- halb eines Kalenderjahres mehr geleisteten Arbeitstage werden bei Berechnung der Wartezeit auf das nächstfolgende Beitragsjahr in Anrechnung gebracht.

Solchen Personen, welche, nachdem sie in eine die Versichcrungspflicht begrün- dende regelmässige Beschäftigung eingetreten waren, wegen bescheinigter Krankheit verhindert gewesen sind, diese Beschäftigung auszuüben, oder welche behufs Erfüllung der Militärpflicht in Friedens-, Mobilmachung«- oder Kriegszciten zum Heere oder zur Flotte eingezogen gewesen sind, oder in Mobilmachungs- oder Kriegszeiten frei- willig militärische Dienstleistungen verrichtet haben , werden diese Zeiten , soweit es sich um die Erfüllung der Wartezeit handelt, als Arbeitszeiten in Anrechnung gebracht.

10. Die Mittel zur Gewährung der Alters- und Invalidenrenten werden vom Reich, den Arbeitgebern und den Versicherten zu je einem Drittel aufgebracht.

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Grundziige zur Alters- und Imwlidenver Sicherung der Arbeiter. 145

Die Aufbringung erfolgt seitens des Reichs durch Uebemahme von einem Drittel derjenigen Gesamtbeträge, welche an Renten in jedem Jahre thatsächlich zu zahlen sind, seitens der Arbeitgeber und der Versicherten durch Entrichtung laufender Beiträge.

11. Die Beiträge sind flir jeden Arbeitstag einer versicherungspflichtigen Person bei jeder regelmässigen Lohnzahlung vom Arbeitgeber zu entrichten. Bruchpfennige sind für die Lohnzahlungsperiode auf volle Pfennige nach oben abzurunden. Die Arbeitgeber haben jeder von ihnen beschäftigten versicherungspflichtigen Person die Hälfte des fiir dieselbe eingezahlten Betrages bei jeder regelmässigen Lohnzahlung in Abzug zu bringen, soweit jener Betrag auf diese Lohnzahlungsperiode anteilsweise entfällt.

Fiir Bruchteile von Arbeitstagen sind die vollen Beiträge, jedoch für jeden vollen Tag nur einmal zu entrichten Im Zweifel ist zur Entrichtung der Beiträge derjenige Arbeitgeber verpflichtet, welcher den Versicherungspflichtigen während der ersten Stunden des Arbeitstages beschäftigt hat. Bei Personen, deren Gehalt oder Lohn nach Wochen oder längeren Perioden fixiert ist, werden für jede Woche sechs Arbeitstage in Anrechnung gebracht.

Die Höhe der für den Arbeitstag zu entrichtenden Beiträge ist für jede Ver- sicherungsanstalt etc. (Ziffer 21) derart im Voraus festzustellen, dass durch die Bei- träge die Verwaltungskosten, die erforderlichen Rücklagen zum Reservefonds und zwei Drittel des Kapitalwerts der der Versicherungsanstalt durch Renten voraussichtlich entstehenden Belastung gedeckt werden. Die Feststellung des Beitrags erfolgt ein- heitlich für alle im Bezirk der Versicherungsanstalt beschäftigten versicherungspflich- tigen männlichen beziehungsweise weiblichen Personen derart, dass die Beiträge der letzteren auf zwei Drittel der Beiträge der ersteren zu bemessen sind.

12. Ein Anspruch auf die volle Rente besteht nur, sofern seit dem Eintritt in eine die Versicherungspflicht begründende Beschäftigung bis zum Eintritt der Inva- lidität in jedem Kalenderjahre Beiträge für mindestens 300 Arbeitstage (für ein Bei- tragsjahr) geleistet sind. Zeiten bescheinigter, mit Erwerbsunfähigkeit verbundener Krankheit gelten, wenn sie nach dem Beginn einer regelmässigen, die Versicherungs- pflicht begründenden Beschäftigung eingetreten sind, als Arbeitstage. Wahrend der- selben sind Beiträge nicht zu entrichten.

Denjenigen Personen, für welche im Laufe eines Kalenderjahres aus anderen Gründen Beiträge für weniger als 300 Arbeitstage oder gar keine Beiträge geleistet sind, ist die Rente bei ihrer demnächstigen Feststellung nur nach dem Werte der thatsächlich geleisteten Beiträge zu gewähren und zu diesem Zweck nach den von dem Reichs- Versichcrungsamt hierüber aufzustellenden Tarifen um den Versicherungs- wert des Ausfalls an Beiträgen zu ermässigen. Hierbei werden die Beiträge derjenigen Versicherungsanstalt, an welche die letzten Beiträge vor dem Ausfall entrichtet sind, zu gnmde gelegt Diese Kürzung tritt nicht ein, soweit der Ausfall anderweit ge- deckt wird. Letzteres geschieht :

a) durch Verrechnung der in dem Ausfall vorangehenden Jahren für mehr als je 300 Arbeitstage geleisteten Beiträge ;

b) durch Vermehrung derartiger, in späteren Jahren geleisteter Mehrbeiträge, so- weit durch diese auch die Zinsen und Zinscszinscn des Ausfalls von dem Ablaufe desjenigen Kalenderjahres ab, in welchem der Ausfall eingetreten war, gedeckt wer- den ; den Zinsfuss bestimmt der Bundesrat ;

c) durch freiwillige Nachzahlung der ausgefallenen Beiträge in dem unter b be-

Archiv für so*. Gesetxgbg u. Statistik I. IQ

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146 Gesetzgebung.

zeichneten Umfange einschliesslich des auf den Arbeitgeber entfallenden Anteils derselben.

Ausfälle an Beiträgen, welche nach Beginn einer regelmässigen, die Versiche- rungspflicht begründenden Beschäftigung durch Erfüllung der Militärpflicht in Friedens-, Mobilmachung»- oder Kriegszeiten, oder durch freiwillige militärische Dienstleistungen in Mobilmachung»- oder Kriegszeiten verursacht worden sind, haben eine Kürzung der Rente nicht zur Folge. Denjenigen Betrag der Rente , um welchen die letztere wegen solcher Ausfälle rechnungsmäßig würde gekürzt werden müssen , übernimmt das Reich.

13. Die Renten werden für Kalenderjahre berechnet.

Die Invalidenrente beträgt bei Männern 120 M. jährlich und steigt nach Ablauf der ersten 15 Beitragsjahrc für jedes vollendete weitere Beitragsjahr um je 4 M jähr- lich bis zum Höchstbetrage von jährlich 250 M. ').

Die Altersrente beträgt jährlich 120 M. Die Altersrente kommt in Fortfall, so- bald dem Empfänger Invalidenrente gewährt wird.

Weibliche Personen erhalten */.i des Betrages dieser Renten.

Solange der Berechtigte nicht im Inlande wohnt, ist die Zahlung der Renten einzustellen.

Ist der Berechtigte ein Ausländer, so kann ihn die Versicherungsanstalt für seinen Anspruch mit dem dreifachen Betrage der Jahresrente abflnden.

Die Altersrente beginnt mit dem ersten Tage des 71. Lebensjahres, die Invaliden- rente mit dem Tage, an welchem der Verlust der Erwerbsfähigkeit eingetreten ist. Dieser Zeitpunkt ist in der Entscheidung über die Invalidisierung festzusetzen ; sofern eine solche Festsetzung nicht getroffen ist, gilt als Anfangstermin der Invalidenrente der Tag, an welchem der Anspruch auf Anerkennung der Erwerbsunfähigkeit bei der unteren Verwaltungsbehörde gestellt worden ist.

14. Tritt in den Verhältnissen eines Empfängers von Invalidenrenten eine Ver- änderung ein, welche ihn nicht mehr als dauernd völlig erwerbsunfähig (Ziffer 6) er- scheinen lässt, so kann demselben in dem für die Feststellung der Rente vorgeschric- benen Verfahren die Rente entzogen werden.

15. Entschädigungsansprüche, welche den zum Empfang von Invalidenrenten be- rechtigten Personen gegen Dritte, welche die Invalidität vorsätzlich oder durch Ver- schulden herbeigeführt haben, zustehen, sowie die Schadenersatzansprüche derselben gegen Eisenbahnverwallungen auf Grund des § 1 des Haftpflichtgesetzes vom 7. Juni 1871 (Reichs -Gesetzbl. S. 207), gehen in Höhe der geleisteten Renten auf die Versicherungsanstalten über.

Soweit von Gemeinden oder Armenverbänden an hilfsbedürftige Personen Unter- stützungen für einen Zeitraum geleistet sind, für welchen diesen Personen ein Anspruch auf Alters- oder Invalidenrente zustand, geht dieser Anspruch im Betrage der ge- leisteten Unterstützung auf die betreffende Gemeinde oder den Armenverband über. Das gleiche gilt für Betriebsuntemehmer und Kassen, welche die den Gemeinden oder Armenverbänden obliegende Verpflichtung zur Unterstützung Hilfsbedürftiger auf Grund gesetzlicher Vorschrift erfüllt haben.

Im Uebrigen bleiben gesetzliche, statutarische oder auf Vertrag beruhende Ver-

1) Der Höchstbetrag der Rente wird somit nach Ablauf von 48 Beitragsjahren erreicht, also bei Personen, welche mit dem Beginn des 19. Lebensjahres in eine die Veriichcrungspliicht be- gründende Beschäftigung cingctrctcn sind, nach Ablauf von 18 f 48 = 66 Lebensjahren.

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Grundztigr zur Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter. 147

Pachtungen zur Fürsorge für alle, kranke, erwerbsunfähige o<ler hilfsbedürftige Per- sonen dergestalt unberührt, dass die Alters- und Invalidenrenten neben den aus jenen Verpflichtungen sich ergebenden Zahlungen zu gewähren sind. Jedoch finden bei Unfällen auf die gesetzlichen Entschädigungsansprüche derjenigen zum Bezüge von Invalidenrenten berechtigten Personen, welche der Unfallversicherung noch nicht unter- liegen, die Bestimmungen der §§ 95 bis 98 des Unfallversicherungsgesetzes entspre- chende Anwendung.

16. Die Rente kann mit rechtlicher Wirkung weder verpfändet, noch übertragen, noch für andere als die im § 749 Absatz 4 der Zivilprozessordnung bezeichnten Forderungen der Ehefrau und ehelichen Kinder und die des ersatzberechtigten Armen- verbandes gepfändet werden.

17. Die Renten sind in monatlichen Raten im Voraus zu zahlen. Dieselben werden auf volle fünf Pfennige für den Monat nach oben abgerundet.

18. Die Auszahlung der Kenten erfolgt auf Anweisung der Anstnltsvorständc etc. (Ziffer 21, 22) vorschussweise durch die Postanstalten.

11. Organisation.

19. Die Alters- und Invalidenversicherung erfolgt durch die zur Durchführung der Unfallversicherung errichteten Berufsgenossenschaften beziehungsweise durch das Reich, die Bundesstaaten, Kommunalvcrhüudc oder andere öffentlichen Verbände, welche auf Grund der Unfall Versicherungsgesetze an die Stelle von Berufsgenossen- schaften getreten sind. Jedem dieser Träger der Alters- und Invalidenversicherung liegt die letztere bezüglich derjenigen Personen ob, für welche er Träger der Unfall- versicherung ist, dem Reich und den Bundesstaaten auch bezüglich derjenigen unter Ziffer 1 fallenden Personen, welche in Verwaltungen des Reichs beziehungsweise «1er Bundesstaaten beschäftigt werden, ohne der Unfallversicherung zu unterliegen.

Soweit es sich dagegen um andere unter Ziffer 1 fallende, der Unfallversicherung nicht unterliegende Personen handelt, treten für die Alters- und Invalidenversicherung an die Stelle der Berufsgenossenschaft weitere Kommutialvcrbände nach näherer Be- stimmung der Landesgesetze, in solchen Bundesstaaten aber, in welchen weitere Kom- munal verbände nicht bestehen, oder in welchen durch die I^andesgesetzgcbung be- stimmt wird, dass der Staat hinsichtlich der Alters- und Invalidenversicherung an die Stelle der weiteren Kommunal verbände treten soll, der Bundesstaat. Durch die I^milesgesetzgebung kann angeordnet werden, dass mehrere weitere Kommunal ver- bände zur gemeinsamen Uebernahme der Alters- und Invalidenversicherung , soweit ihnen dieselbe nach den vorstehenden Bestimmungen obliegt, vereinigt werden.

20. Mehrere Berufsgenossenschaften , Kommunal- oder andere öffentliche Ver- bände können durch übereinstimmende Beschlüsse der Gcuossenschaftsvcrsammlungcn beziehungsweise der zuständigen Vertretungen vereinbaren, die ihnen obliegende Alters- und Invalidenversicherung ganz oder zum Teil gemeinsam zu tragen. Ebenso sind die Regierungen der einzelnen Bundesstaaten berechtigt, mit einander oder mit Berufs- genossenschaften, Kommunal- oder anderen öffentlichen Verbänden gleichartige Verein- barungen rücksichtlich der ihnen obliegenden Alters- und Invalidenversicherung zu treffen. Derartige Vereinbarungen bedürfen der Genehmigung des Reichsvcrsicherungs- amts, sofern aber die Vereinbarung zwischen Bundesstaaten geschlossen werden soll, der Zustimmung des Bundesrats.

Nach Anhörung der Genossenschaftsversammlungen beziehungsweise Vertretungen

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Gesetzgebung.

der beteiligten Berufsgenossenschaften beziehungsweise Kommunal- oder anderen öffent- lichen Verbände können Vereinigungen derselben zur gemeinschaftlichen Uebernahme der Alters- und Invalidenversicherung auch durch Beschluss des Bundesrats angeordnet werden. Auch kann der Bundesrat auf Antrag der Regierung eines Bundesstaates dessen Vereinigung mit anderen Bundesstaaten nach Anhörung der Regierungen der letzteren zu dem angegebenen Zweck beschlossen.

Derartige Vereinbarungen beziehungsweise Anordnungen müssen die zur Durch- führung derselben erforderlichen Bestimmungen, insbesondere über die Verwaltung der gemeinsamen Angelegenheiten und über die Verteilung der gemeinsam zu tragenden I<ast unter die beteiligten Verbände, Genossenschaften oder Staaten enthalten.

21. In jeder Berufsgenossenschaft Ist für die Zwecke der Alters- und Invaliden- versicherung eine ln validen Versicherungsanstalt zu errichten. Dasselbe gilt für die Bezirke der sonstigen Verbände rücksichtlich der Alters- und Invalidenversicherung der der Unfallversicherung noch nicht unterliegenden Personen (Ziffer 19 Absatz 2).

Die Versicherungsanstalten dürfen andere als die vorstehend bczeichneter. Ver- sicherungen nicht übernehmen. Das Vermögen sowie die Einnahmen und Ausgaben dieser Anstalten sind gesondert zu verwalten.

Für das Reich, die Bundesstaaten, Kommunal verbände und andere öffentliche Korporationen, welche auf Grund der Unfallversicherungsgesetze an die Stelle der Berufsgenossenschaften getreten sind, werden zur Durchführung der Alters- und In- validenversicherung besondere Versicherungsanstalten nicht errichtet. Die Alters- und Invalidenversicherung erfolgt vielmehr durch Ausfiihrungsbehörden in ähnlicher Weise, wie in 5j§ 2 bis 10 des Gesetzes vom 28. Mai 1885 (Reichs-Gcset/bl. S. 159) für die Unfallversicherung vorgeschrieben worden Ist. Die Angelegenheiten der Alters- und Invalidenversicherung können denselben Ausführungsbehörden übertragen werden, welche für die Angelegenheiten der Unfallversicherung bestimmt worden sind.

22. Die Verwaltung und die Geschäftsordnung der für die Bcrtifsgcnosscnschaften errichteten Versicherungsanstalten wird durch Nebenstatuten geregelt. Die letzteren sowie deren etwaige Abänderungen bedürfen der Genehmigung des Reichs- (bezw. Landes-) Versicherungsamts. Im Falle der Versagung dieser Genehmigung findet die Beschwerde an den Bundesrat statt.

Die Organe der Berufsgenossenschaft fungieren auch für die Versicherungsanstalt ; dies gilt auch von der Einteilung in Sektionen, vom Schiedsgericht und von der Vertretung der Arbeiter.

Für die Verwaltung der Anstalt können jedoch besondere Organe errichtet werden.

Die Verwaltung der für die weiteren Kommunalverbände errichteten (subsidiären) Versicherungsanstalten wird durch die Landesgesetzgebung geregelt. Für diese Ver- sicherungsanstalten sind Schiedsgerichte zu errichten und Vertreter der Arbeiter zu berufen.

Für das Reich, die Bundesstaaten, Kommunalverbiinde und andere öffentliche Korporationen, welche auf Grund der Unfallversicherungsgesetze an die Stelle der Berufsgenossenschaften getreten sind, wird die Verwaltung der Alters- und Invaliden- versicherung durch Ausführungsvorschriften der Zentralbehörden geregelt. Die Er- richtung von Schiedsgerichten und die Berufung von Vertretern der Arbeiter erfolgt in Anlehnung an die betreffenden Bestimmungen des Gesetzes vom 28. Mai 1885 (Reichs-Gesctzbl. S. 159).

23. Die für die Berufsgenossenschaft (beziehungsweise den Bezirk der Aus- führungshehördc) bestellten Vertreter der Arbeiter sind ausser am Schiedsgericht

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Grundzlige zur Aller s- und Invalidenversicherung der Ar heiler. 149

(Ziffer 22) auch an der Verwaltung der Versicherungsanstalt beteiligt, und zwar in folgender Weise :

a) durch Teilnahme an den Verhandlungen und Beschlüssen der Genossenschafts - beziehungsweise Sektionsversammlung, soweit es sich um Angelegenheiten der Ver- sicherungsanstalt handelt. Die Vertreter haben volles Stimmrecht ; ihre Abstimmung ist besonders zu protokollieren. Widersprechen den Beschlüssen drei Viertel der er- schienenen Arbeitervertretcr, so steht denselben die Beschwerde an das Reichs- (Lan- des-) Versicherungsamt zu;

b) durch Wahl von mindestens je einem Versicherten, welcher den Genossen- schafts- oder Sektionsvorständen, «1er Ausführungsbehörde, beziehungsweise denjenigen besonderen Organen, welche die Verwaltung der Versicherungsanstalt führen, soweit es sich um Angelegenheiten der letzteren handelt, zugeordnet wird.

Durch das Nebenstatut (die Ausführungsvorschriften) kann bestimmt werden, dass statt eines mehrere Versicherte den Vorständen etc. hinzutreten , und dass bei Ab- stimmungen die anwesenden Vertreter der Arbeiter mehr als eine Stimme führen sollen oder ein entsprechender Teil der anwesenden Vertreter der Arbeitgeber sich der Stimme enthalten soll. Die Vermehrung der Vertreter der Arbeiter kann auch durch den Bundesrat angeordnet werden.

24. Ausserdem werden für den Bezirk je einer oder mehrerer Gemeinden oder weiterer Kommunalverbände (worüber die Landes-Zentralbehörde Bestimmung trifft) aus der Zahl der in ihrem Bezirk dauernd wohnenden Versicherten Vertrauensmänner der Arbeiter bestellt, welche berufen sind, für sämtliche in ihren Bezirken beschäftigte oder wohnhafte versicherte Personen

a) über Anträge auf Invalidisierung ein Gutachten abzugeben ;

b) neben den etwaigen Vertrauensmännern oder Beauftragten der Berufsgenossen- schaften etc. die Rentenempfänger zu überwachen (vergl. Ziffer 14);

c) die Versicherungsanstalt in der Kontrolle der Quittungsbücher zu unterstützen.

Durch die Landes-Zentralbehörde im Einvernehmen mit dem Reichs- (Landes-)

Versicherungsamt können diesen Vertrauensmännern der Arbeiter weitere Funktionen übertragen werden.

Die Abgrenzung der Bezirke und der Erlass einer Geschäftsordnung für diese Vertrauensmänner der Arbeiter bleibt der Landes-Zentralbehörde oder der von dieser zu bestimmenden anderen Behörde überlassen. Den Vertrauensmännern Ist von den Versicherungsanstalten eine mässige Vergütung für den durch Wahrnehmung ihrer Geschäfte ihnen erwachsenden Zeitverlust zu gewähren. Die Höhe dieser Vergütung und die Verteilung derselben auf die Versicherungsanstalten etc. wird von dem Reichs- Versicherungsamt im Einvernehmen mit den Landes-Zentralbehörden nach für alle gleichen Grundsätzen bestimmt. Die Auszahlung erfolgt vorschussweise durch die Post Verwaltungen.

25. Die Bestellung dieser Vertrauensmänner erfolgt für diejenigen Gemeinden beziehungsweise weiteren Kommunalverbände , in deren Bezirken Orts-, Betriebs- Fabrik-), Innungs- oder Bau- Krankenkassen und Knappschaftskassen ihren Sitz haben, durch Wahl der dem Arbeiterstamm angehörenden Mitglieder der Vorstände dieser Kassen; für diejenigen Bezirke, in welchen solche Kassen nicht domiziliert sind, durch die Verwaltungen der Gemeinde-Krankenversicherung. Die näheren Bestimmungen erlässt die Landes-Zentralbehörde.

26. Das Reich ist befugt, durch besondere Kommissarien von der Verwaltung der Versicherungsanstalten Kenntnis zu nehmen und an den Beratungen und Be-

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Gesetzgebung.

Schlüssen ihrer Organe sich zu beteiligen. Diese Kommissarien müssen auf Verlangen jederzeit gehört werden. Sie sind berechtigt, Beschlüsse, sofern dieselben die Inter- essen tles Reichs beeinträchtigen, mit aufschicbender Wirkung zu beanstanden. Be- anstandete Beschlüsse sind von dem Vorsitzenden des betreffenden Organs dem Reichs - Versicherungsamt zur Prüfung ihrer rechtlichen Zulässigkeit und ihrer Angemessenheit vorzulegen. Schliesst sich das Reichs- Versicherungsamt der Beanstandung an, so gilt der beanstandete Beschluss als nicht gefasst.

III. Verfahren.

t

27. Die Invaliditätscrklärung und die Feststellung der Renten erfolgt von Amts- wegen oder auf Antrag nach Anhörung des örtlich zuständigen Vertrauensmannes der Arbeiter (Ziffer 24) durch die Organe derjenigen Versicherungsanstalt, zu welcher von dem Versorgungsberechtigten ausweislich seines Quittungsbuchs (Ziffer 35) zuletzt Bei- träge geleistet worden sind. Diesen Organen bleibt überlassen , über die Invalidität ein ärztliches Gutachten cinzuholen. Die Kosten desselben fallen der Anstalt zur Last, können jedoch von dem Versorgungsberechtigten wieder eingezogen werden, sofern das ärztliche Gutachten in Ucbcreinstimmung mit dem Gutachten des Ver- trauensmannes das Vorhandensein der Invalidität verneint und der Antragsteller auf Mitteilung hiervon den Antrag auf Gewährung einer Rente nicht zurückzicht.

28. Gegen den Bescheid, durch welchen die Gewährung der Rente versagt, oder durch welchen die Rente festgcstellt wird, steht dem Versicherten die Berufung an das Schiedsgericht der Versicherungsanstalt (Ziffer 22) zu. Gegen den Bescheid des Schiedsgerichts ist beiden Teilen der Rekurs an das Reichs- (Landes-) Versicherungs- amt gestaltet, aber nur, sofern cs sich um Verletzungen des geltenden Rechts (vergl. §§ 511 ff. der Zivilprozessordnung), nicht sofern es sich um Thatfragcn handelt. Die Rechtsmittel haben keine aufschiebende Wirkung.

29 Uebcr die Höhe der Rente hat der Vorstand derjenigen Anstalt, welche die Fest setzungs Verhandlungen zu führen hatte, dem Empfangsberechtigen einen Bc- rechtigungsausweis zu erteilen und die Zahlungen auf die Zentral-Postbehörde an- zuweisen.

30. Demnächst ist in denjenigen Fällen, in welchen der Rentenempfänger Bei- träge zu verschiedenen Versicherungsanstalten geleistet hatte, eine Verrechnung da- rüber herbeizuführen, welcher Betrag der Rente auf die einzelnen Versicherungsan- stalten, an welche die Beiträge entrichtet worden sind, entfällt. F'ür die Verrechnung ist der Versicherungswert der an die einzelnen Anstalten entrichteten Beiträge massgebend.

31. Zu diesem Zweck wird in dem Reichs- Versichcrungsamt ein aus Reichsbe- amten bestehendes Rechnungsbüreau eingerichtet. Dasselbe stellt fest , mit welchem Betrage die einzelnen Versicherungsanstalten beziehungsweise das Reich, die Bundes- staaten etc. durch die Renten belastet werden. Das Reichs- Versicherungsaint teilt diese Feststellung den beteiligten Anstalten etc. sowie den Zentral-Postbchördcn mit, worauf letztere die beteiligten Versicherungsanstalten etc. anteilig belasten. Bis zur Verrechnung der Rente bleibt diejenige Versicherungsanstalt , welche die Verhand- lungen über Festsetzung der Rente geführt hatte, vorbehaltlich dcmnächstiger antei- liger Erstattung und unbeschadet des Reichszuschusses (Ziffer 10) mit der Rente allein belastet

32. Nach Ablauf eines jeden Rechnungsjahres haben die Zeutral-Poslbehorden

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Grundzüge zur Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter. 151

den einzelnen Versicherungsanstalten denjenigen Betrag mitzuteilen, mit welchem die- selben auf Grund der Zahlungsanweisungen (Ziffer 29) und der Verrechnungen (Ziffer 30) belastet sind. Die Versicherungsanstalten haben diesen Betrag aus ihren Be- standen alsbald an die ihnen bezeichneten Stellen abzuführen. Bei nicht rechtzeitiger Abführung ist durch das Reichs^ Landes-) Versicherungsamt die Zwangsvollstreckung gegen die säumigen Anstalten zu veranlassen.

Ein Drittel des für Renten verauslagten Betrages sowie diejenigen Beträge, mit welchen das Reich auf Grand der Bestimmung der Ziffer 12 Absatz 3 zu belasten ist, liquidieren die Zentral- Postbehörden bei der Rcichs-Hauptkassc zur Erstattung.

33. Innerhalb 10 Jahren nach dem Inkrafttreten des Gesetzes ist für jede Ver- sicherungsanstalt etc. von dem Reichs-(Landes-)Versicherungsamt die Höhe derjenigen Beiträge festzustellen, welche für die in der Versicherungsanstalt beschäftigten ver- sicherten Personen für den Kopf und Arbeitstag zu entrichten sind. Diese Feststel- lungen sind zu veröffentlichen. Das Reichs-(Landes-)Versicherungsamt bestimmt! mit welchem Zeitpunkt dieselben in Kraft treten sollen. Die Feststellungen sind in be- stimmten Zeiträumen, mindestens aber von 10 zu 10 Jahren zu revidieren.

Bis zur Feststellung eines anderen Beitrages hat jede Versicherungsanstalt etc. für den Kopf und Arbeitstag, bei versicherten männlichen Arbeitern vier Pfennige, bei versicherten weiblichen Arbeitern 1 2/s dieses Betrages an Beiträgen zu erheben ') Bruchteile sind für die Löhnungsperiode auf volle Pfennige nach oben abzurunden.

34. Jede Versicherungsanstalt gibt Marken aus. Aus denselben muss er- sichtlich sein :

a) der Name und die Ordnungsnummer der Versicherungsanstalt;

b) der Betrag des Geldwertes, welchen die Marke darstellt.

Grösse, Farbe und Appoints werden vom Reichs- Versicherungsamt festgestellt und veröffentlicht

Jede Versicherungsanstalt hat Marken Verkäufer zu bestellen, von welchen die Marken käuflich zu erwerben sind *).

35. Jeder Versorgungsberechtigte erhält bei dem Eintritt in die Beschäftigung ein Quittungsbuch, auf dessen Titelblatt der Name und Wohnort, sowie der Ge- burtsort und das Geburtsjahr des Inhabers verzeichnet ist. Das Formular für das Quittungsbuch hat das Reichs-Versicherungsamt festzustellen.

36. Die Quittungsbücher sind öffentliche Urlfunden. Eintragungen oder Be- zeichnungen, welche ein Urteil über die Führung oder Arbeitsleistung des Inhabers oder anderer Personen enthalten, sind unstatthaft. Quittungsbücher, in welchen der- artige Eintragungen oder Bezeichnungen sich vorfinden, sind von jeder Behörde, wel- cher sie zugehen, einzubehalten. Die Behörde hat die Ersetzung derselben durch neue Bücher, in^wclchen der zulässige Inhalt der ersteren nach Massgabe der Be- stimmungen der Ziffer 37 zu übernehmen ist, zu veranlassen

37. In das Quittungsbuch hat der Arbeitgeber bei jeder Lohnzahlung den ent- sprechenden Betrag von Marken derjenigen Versicherungsanstalt, zu welcher der Be- trieb gehört, cinzukleben und die Hälfte dieses Betrages von der Lohnzahlung zu kürzen. Die eingeklebten Marken sind zu entwerten.

Quittungsbücher, welche zu den erforderlichen Eintragungen keinen Raum mehr

1) So dass bei männlichen Arbeitern für den Kopf und Tag a Pfennige vom Arbeitgeber, a Pfennige vom Arbeiter entrichtet werden.

2) Analog dem Verkauf von Postbricfraarkeu.

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152

Gesetzgebung.

gewähren, sind von der Gemeindebehörde des derzeitigen Arbeitsorts oder nach Be- stimmung der I^andes-Zcntralbchörde von den Organen der Krankenkassen oder an- deren Behörden derart aufzurcchnen, dass ersichtlich wird, für wieviel Arbeitstage der Inhaber des Quittungsbuchs im Laufe der einzelnen Kalenderjahre zu jeder Versiche- rungsanstalt Beiträge entrichtet hat, und wieviel Zeit er infolge bescheinigter Krank- heit oder aus Anlass des Militärdienstes unbeschäftigt gewesen Ist. Die letzteren Ein- tragungen erfolgen auf Grund vom Inhaber vorzulegcnder Bescheinigungen. Dem Inhaber wird sodann ein neues Quittungsbuch ausgehändigt, in welches die Endzahlen des früheren Quittungsbuchs in beglaubigter Form vorgetragen sind. Das bisherige Quittungsbuch ist, nachdem sämtliche Eintragungen durchstrichen sind, am Schluss der letzten Seite von der betreffenden Behörde unter Beidrückung des Dienstsiegels mit Datum und Unterschrift zu schliessen. Die geschlossenen Quittungsbücher sind an die Gemeindebehörde des Herkunftsorts, sofern derselbe im Inlandc belegen i»t, zu übersenden. Diese Behörde oder, sofern der Herkunftsort im Auslände belegen ist, die zur Regulierung der Quittungsbücher zuständige Behörde, hat das Quittungs- buch aufzubewahren und nach Ablauf einer im Gesetz festzusetzenden Frist zu vernichten.

Die Einziehung des Quittungsbuchs und die Aushändigung des neuen Buchs soll thunlichst Zug um Zug erfolgen ; keinenfalls darf die Aushändigung des neuen Buchs länger als drei Tage ausgesetzt bleiben. Die Einziehung und Aushändigung erfolgt durch Vermittelung des Arbeitgebers.

38. Bei Personen des Seemannsstandes erfolgt die Entwertung der Marken und die Regulierung der Quittungsbücher nach näherer Bestimmung der I-andes-Zenlral- behörden.

39. Die Versicherungsanstalten sind befugt, mit Genehmigung des Reichs- Ver- sicherungsamts zum Zweck der Rechnungsführung und Kontrolle Vorschriften zu er- lassen, durch welche die Arbeitgeber zur Aufstellung und Einreichung von Nach- weisungen über die Zahl der unter Ziffer 1 fallenden beschäftigten Personen und über die Dauer ihrer Beschäftigung, oder über andere Gegenstände verpflichtet werden. Sie sind ferner befugt, die Arbeitgeber zur rechtzeitigen Erfüllung dieser Vorschriften durch Geldstrafen bis zum Betrage von je einhundert Mark anzuhalten. Das Reichs- Vcrsicherungsaint kann den Erlass derartiger Vorschriften anordnen und dieselben, sofern solche Anordnung nicht befolgt wird, selbst erlassen.

Die Betriebsunternchmcr sind verpflichtet, den Organen der Versicherungsanstalt und anderen mit der Kontrolle beauftragten Behörden oder Beamten auf Verlangen Auskunft über die Zahl der von den enteren beschäftigten Personen und über die Dauer ihrer Beschäftigung zu erteilen und denselben diejenigen Geschäftsbücher oder Listen, aus welchen jene Thatsachen hervorgehen, zur Einsicht während der Betriebs- zeit an Ort und Stelle vorzulegen. Zu einer gleichen Auskunft über Ort und Dauer ihrer Beschäftigung sind die Versicherten verpflichtet. Die Betriebsunternehmer und die Versicherten sind ferner verbunden , den bezeichnctcn Organen , Behörden und Beamten auf Erfordern die Quittungsbücher behufs Ausübung der Kontrolle und Vor- nahme der etwa erforderlichen Berechtigungen auszuhändigen. Sic können hierzu von der unteren Verwaltungsbehörde durch Geldstrafen bis zum Betrage von je einhundert Mark angehalten werden.

40. Die Versicherungsanstalten sind befugt, nach Analogie der §§ 78 ff. des Unfall Versicherungsgesetzes Vorschriften zur Verhütung von Krankheiten zu erlassen.

41. Die Durchführung der Alters- und Invalidenversorgung erfolgt durch Ver-

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G rundsiige zur Alters - und Inveilidenvers.eherung der Arbeiter. 153

mittelung und unter Aufsicht des Reichs- Versicherungsamts beziehungsweise der Land es- Versi cherungsämtcr.

IV. Straf- und Uebergangsbestimmungen.

42. Retricbsunternehmer und andere Arbeitgeber , welche in die von ihnen auf Grund gesetzlicher oder von der Versicherungsanstalt erlassener Bestimmung aufzu- stel lenden Nachweisungen oder Anzeigen Eintragungen aufnehmen oder aufnehmen lassen, deren Unrichtigkeit ihnen bekannt war , oder bei gehöriger Aufmerksamkeit nicht entgehen konnte, können von dem Vorstande der Versicherungsanstalt mit Geldstrafen bis zu fünfhundert Mark belegt werden.

43. Betriebsunternehmer und andere Arbeitgeber, welche cs unterlassen, für die von ihnen beschäftigten, dem Versicherungszwangc unterliegenden Personen die für den Arbeitstag vorgeschriebenen Beitragsmarken rechtzeitig zu verwenden oder ver- wenden zu lassen, können unbeschadet ihrer Verpflichtung zur nachträglichen Bei- bringung der fehlenden Marken von dem Vorstände der Versicherungsanstalt mit Geldbusse bis zu dreihundert Mark belegt werden.

44 Gegen die auf Grund dieses Gesetzes oder der Nebenstatuten von den Ver- sicherungsanstalten festgesetzten Strafen findet binnen zwei Wochen nach der Zu- stellung des dieselben aussprechenden Beschlusses die Beschwerde an das Reichs- (Landes-)Versicherungsamt statt.

Die Strafen werden in derselben Weise beigetrieben wie Gemeindeabgaben, und flicssen, soweit nicht in diesem Gesetze abweichende Bestimmungen getroffen sind, in die Kasse der Versicherungsanstalt.

45. Den Betriebsuntemehmem und sonstigen Arbeitgebern ist untersagt, die An- wendung der Bestimmungen dieses Gesetzes zum Nachteil der Versicherten durch Verträge (mittelst Reglements oder besonderer Uebereinkunft) auszusch Hessen oder zu beschränken. Vertragsbestimmungen, welche diesem Verbote zuwiderlaufen, haben keine rechtliche Wirkung.

Bctriebsuntemehmer oder Arbeitgeber, welche derartige Verträge geschlossen haben oder wissentlich durch ihre Angestellten haben abschliessen lassen , werden, sofern nicht nach anderen gesetzlichen Vorschriften eine härtere Strafe eintritt , mit Geldstrafe bis zu dreihundert Mark oder mit Haft bis zu sechs Wochen bestraft.

46. Die Strafbestimmung der Ziffer 44 findet auf Betriebsunternehmer und sonstige Arbeitgeber Anwendung, welche den von ihnen beschäftigten , dem Versicherungs- zwange unterliegenden Personen wissentlich mehr als die Hälfte des für die einzelnen Arbeitstage verwendeten Betrages an Marken bei der Lohnzahlung in Anrechnung bringen oder durch ihre Angestellten in Abzug bringen lassen, sowie auf Angestellte, welche einen solchen grösseren Abzug wissentlich bewirken.

Das Gleiche gilt von den nach Ziffer 36 verbotenen Eintragungen in die Quiltungsbiichcr.

47. Arbeitgeber, welche wissentlich Marken einer anderen als der zuständigen Versicherungsanstalt verwenden oder durch ihre Angestellten verwenden lassen, sowie Angestellte und Versicherte, welche wissentlich eine solche unrichtige Verwendung bewirken, werden, sofern nicht die Bestimmungen des § 263 des Strafgesetzbuchs An- wendung finden, mit Geldstrafe nicht unter einhundert Mark oder mit Gefängnis nicht unter einer Woche bestraft. Sind mildernde Umstände vorhanden, so kann die Strafe bis auf zwanzig Mark oder drei Tage Haft ennässigt werden.

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K4 Gesetzgebung . GrundzUge zur Alters - /*. Invalidcnvers . der Arbeiter.

48. Die Strafbestimmungen der Ziffern 41, 42, 44, 45, 46 finden auch auf die gesetzlichen Vertreter handlungsunfähiger Betriebsunternehmer, desgleichen gegen die Mitglieder des Vorstandes einer Aktiengesellschaft, Innung oder eingetragenen Ge- nossenschaft, sowie gegen die Liquidatoren einer Handelsgesellschaft, Innung oder eingetragenen Genossenschaft Anwendung.

49. Wer unbefugt Beitragsmarken einer Versicherungsanstalt in der Absicht an- fertigt, sie als echt zu verwenden, oder echte Beitragsmarken in der Absicht ver- fälscht, sie zu einem höheren Werte zu verwenden, oder wissentlich von falschen oder gefälschten Beitragsmarken Gebrauch macht, wird mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft.

50. Auf Personen, welche zur Zeit des Inkrafttretens dieses Gesetzes das 40. Lebens- jahr vollendet und mindestens während der letzten drei Jahre an je 300 Arbeitstagen in einer die Versicherungspflicht begründenden Beschäftigung gestanden haben, findet die Vorschrift, dass Altersrenten erst nach Ablauf von dreissig Beitragsjahren zu ge- währen sind (Ziffer S), keine Anwendung.

Solche Personen erhalten vielmehr nach zurückgclegtem 70. Lebensjahre Alters- rente auch dann, wenn sic nachweislich während derjenigen Zeit, welche an der Er- füllung der dreissig Beitragsjahre fehlt, thatsächlich in einer Beschäftigung gestanden haben, welche nach diesem Gesetze die Versicherungspflicht begründen würde. Bei vcrsicherungspflichtigen Personen, welche zur Zeit des Inkrafttretens dieses Gesetzes das 60. I^ebensjahr vollendet haben, bedarf es des vorbezcichneten Nachweises nur für die Dauer von zehn Jahren.

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NIEDERLANDE.

GESETZENTWURF GEGEN ÜBERARBEITUNG UND VERWAHRLOSUNG JUGENDLICHER PERSONEN.

(Eingebracht auf Grund königl. Botschaft vom 12. April 1887 in der II. Kammer der Gencralstaalen.)

Art. 1. Unter Arbeit im Sinne dieses Gesetzes wird jede Thätigkeit für einen Betrieb verstanden.

Unter Feldarbeit wird jede Thätigkeit im Freien, die im oder für den Acker- bau, Gartenbau, Viehzucht und Moorkultur aufgeübt wird, verstanden.

Art. 2. Die Arbeit von Kindern unter 12 Jahren ist verboten.

In Betreff der Feldarbeit von Kindern über 10 Jahren kann durch Verbot für jede Gemeinde, wo und wann die Interessen der Landwirtschaft es erfordern , auf Ansuchen des Gemeinderats durch einen jedesmal für ein Jahr gellenden Beschluss der deputierten Staaten (Provinziallandtag) aufgehoben werden. Jedoch darf die Zeit, während welcher das Verbot ausser Kraft tritt 8 Wochen für jede Gemeinde nicht übersteigen.

Ira Fall, dass der Beschluss der deputierten Staaten durch uns annulliert wird, tritt das V erbot am vierten Tage nach der Ausgabe der »Staatskourant«, in der unser Beschluss veröffentlicht wird, in Kraft. Falls die »Staatskourant« mehr, als einen Datum trägt, am vierten Tag nach der ersten Datierung.

Art. 3. Die Arbeit ypn Kindern im Alter zwischen 12 und 13 Jahren ist mit Ausnahme der Feldarbeit verboten.

Für bestimmte Betriebe kann durch Regierungsverordnung Dispensation von diesem Verbot unter solchen Bedingungen, als notwendig scheinen wird, erteilt werden.

Art. 4. Durch Regierungsverordnung kann ein Verbot der Arbeit von Kindern unter 16 Jahren bei gewissen Verrichtungen ausgesprochen werden, die im allgemeinen oder bei ausser Achtlassung gewisser Bedingungen durch die Art der verarbeitenden Stoffe* oder durch die Art der Arbeit Gefahr für Leben oder Gesundheit bieten.

Art. 5. Die Arbeitszeit von Kindern unter 16 Jahren darf IO Stunden am Tage nicht überschreiten. Ausgenommen von dieser Bestimmung ist die Feldarbeit.

Für bestimmte Betriebe kann durch Regierungsverordnung Dispensation unter »len Bedingungen, die sich als notwendig herausstcllen werden, erteilt werden.

Art. 6. Die Arbeit eines Kindes unter 16 Jahren darf in der Zeit vom 1. April bis 30. September nicht vor 5 Uhr Morgens beginnen und darf nicht länger, als bis 7 Uhr Abends währen. Für die übrige Zeit des Jahres sind die entsprechenden Stunden 7 Uhr Morgens und 7 Uhr Abends.

Für bestimmte Betriebe kann Dispensation hiervon durch Regierungsverordnung unter den Bedingungen, die sich als notwendig herausstellen werden, erteilt werden.

. Art. 7. Die Arbeit von Personen unter 18 Jahren am Sonntag in Fabriken,

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156 Gesetzgebung. Gesetzentivurf gegen Uebcrarbatungu. Verzvahriosung etc.

Trafieken und Werkstätten ist verboten. Das Verbot findet auf die Arbeit von Israeliten keine Anwendung.

Art. 8. Die Art. 5, 6 und 7 finden keine Anwendung auf Arbeit, die an Bord von Fahrzeugen im oder für das Schiffergewerbe , sowie in oder für die Seefischerei verrichtet wird.

Art. 9. Wenn eine Person unter 18 Jahren ausserhalb der Arbeitspausen in einem geschlossenen Lokal, wo Arbeit verrichtet wird, angetroffen wird, so gilt die Annahme, dass sie dort arbeite, falls nicht das Gegenteil bewiesen.

Art. 10. Ucbertrelung einer der Bestimmungen dieses Gesetzes, abgesehen von Art. 13, wird mit Haft bis zu 14 Tagen oder Geldbusse bis zu 75 Gulden bestraft. Falls zur Zeit der Begehung der strafbaren Handlung noch nicht 2 Jahre verflossen sind, seitdem eine frühere Verurteilung des Schuldigen wegen derselben oder einer andern Ucbertretung dieses Gesetzes rechtskräftig geworden ist, können die Strafen verdoppelt werden,

Art. 11. Die Ermittlung der Uebertretungen dieses Gesetzes, ist abgesehen von den Art. 8 der Strafprozessordnung bezeichneten Personen , Sache der Mareehaussee, aller Beamten der Staats- und Gemeindepolizei und der Beamten der staatlichen Sanitätsinspektion.

Art. 12. Die durch Art. II bezeichneten Beamten haben jeder Zeit Zutritt zu allen Fabriken, Trafieken, Werkstätten, Fahrzeugen und Grundstücken.

Wird denselben der Zutritt verweigert, so verschaffen sic sich denselben nötigen- falls durch Anrufung der bewaffneten Macht. Fabriken, Trafieken, Werkstätten oder Fahrzeuge die zugleich Wohnungen sind und Fabriken, Trafieken, Werkstätten oder Grundstücke, die nur durch eine Wohnung zugänglich sind, betreten sie nur auf schriftlichen Befehl des Bürgermeisters oder des Kantonrichters; über ihren Besuch nehmen sie ein Protokoll auf, das binnen zweimal 24 Stunden dem Inhaber der be- tretenen Wohnung abschriftlich mitgeteilt wird.

Art. 13. Die in Art. 11 bezeichneten Beamten sind zur Geheimhaltung der Wahrnehmungen, die sie beim Besuch von Fabriken etc. in betreff des dort betrie- benen Gewerbes machen, verpflichtet, soweit dem nicht die Bestimmungen dieses Ge- setzes entgegenstehen.

Wer vorsätzlich die durch das vorige Alinea bestimmte Geheimhaltung Übertritt, wird mit Gefängnis bis zu 6 Monaten oder Geldbusse bis 600 Gulden bestraft. Auch kann auf Verlust der Fähigkeit, öffentliche Aemter zu bekleiden erkannt werden.

Eine Strafverfolgung erfolgt nur auf Antrag des Inhabers oder Leiters der be- treffenden Unternehmung.

Art. 14. Die durch dieses Gesetz für strafbar erklärten Handlungen werden als Uebertretungen angesehen, abgesehen von der durch Art. 13 Al. 2 strafbar erklärten Handlung, die als Verbrechen gilt.

Art. 15. Dieses Gesetz findet keine Anwendung auf Arbeit in Handwerk- und Fachschulen, die staatlichen Erziehungsanstalten, Arbeitshäuser und Gefängnisse, so- wie auf Verrichtungen des Militärdienstes.

Art. 16 Die Zeit des in Krafttretcns dieses Gesetzes wird durch ein weiteres Gesetz bestimmt. Zur selben Zeit treten ausser Kraft das Gesetz vom 19 September 1874 (Staatsblad Nr. 130) und das erste Alinea des Gesetzes vom 17. August 1878 (Staatsblad Nr. 127).

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MISZELLEN.

RATENHANDEL UND ABZAHLUNGSGESCHÄFTE.

EIN BEITRAG ZUR BEURTEILUNG DER KONSUMTIONSVER- HÄLTNISSE DER UNTEREN KLASSEN.

VON

Dr VICTOR MATAJA (WIEN).

Zu den eigenartigen Geschäftsbetrieben , welche die Neuzeit her- vorgerufen oder grossgezogen hat , gehört auch das »Abzahlungs- Geschäft«, der gewerbsmässige Ratenhandel.

Wir können dabei zwei Haupttypen unterscheiden. Die einfachere heute noch in Oesterreich herrschende Form ist die, dass ein Händler Gegenstände seiner Branche eben auch gegen Ratenzahlung absetzt und vielleicht hierin sein Hauptgeschäft sucht und findet; die fortge- schrittenere Form, die in Deutschland schon vielfach anzutreffen ist, besteht darin, dass der betreffende Händler die verschiedenartigsten Gegenstände führt oder selbst nur auf Bestellung besorgt und sodann gegen Raten abgibt. Das einigende Band zwischen den einzelnen Handelsgeschäften bddet dann nicht mehr die Beschaffenheit und Zu- sammengehörigkeit der zum Absätze gelangenden Waaren , sondern lediglich die Zahlungsweise.

In beiden Reichen ertönen in neuerer Zeit reichlich Klagen über die durch die Abzahlungsgeschäfte bewirkte Uebervorteilung des Publi- kums. über die Ausnützung des Leichtsinnes und die Bewucherung der Not. Da diese jedoch zumeist aus Handelskreisen entstammen und das Publikum begreiflicherweise nur ganz vereinzelt zu Worte kommt, könnte man etwa meinen, dass hier manches zu schwarz aufgetragen wird, ja, dass die Interessen der Käufer nur angerufen werden, nicht um eine unredliche, sondern bloss unliebsame Konkurrenz zu bekämpfen und schliesslich bei Seite zu schaffen.

Die Aeusserung eines unparteiischen Zeugen über die Natur und Mittel der Abzahlungsgeschäfte wird unter solchen Umständen zur un- zweideutigen Klärung des Sachverhaltes von hohem Werte sein ; wir wollen daher einen solchen hier zu Worte kommen lassen.

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l5«

Misztlltn.

I.

Wie so viele andere Vertretungskörper von Mandel und Industrie hat sich auch die Wiener Handels- und Gewerbckammer mit dem Raten- handel zu befassen begonnen und, um für die Verhandlungen eine feste Grundlage zu schaffen , eine Enquete veranstaltet , bei welcher nicht nur eine Reihe von Gewerbe-Genossenschaften (Innungen') , son- dern auch die niederösterreichischen Gerichte über ihre Wahrneh- mungen hinsichtlich des Ratengeschäftes gehört wurden. Die Aeusse- rungen der letzteren sollen uns im nachstehenden beschäftigen.

Im ganzen liegen Gutachten von 27 Gerichten vor (von 14 städtisch- delegierten Bezirksgerichten in den zehn Bezirken von Wien Innere Stadt, Leopoldstadt, Landstrasse, Wieden, Margarethen, Mariahilf, Neu- bau, Josefstadt, Alsergrund, Favoriten und anderen Städten, wie Komeuburg, Krems etc., von 12 Bezirksgerichten •) und dem Bagatell- gericht in Handelssachen). Es ist hier nicht notwendig auf die öster- reichische Gerichtsverfassung einzugehen ; es genügt die Bemerkung, dass dies eben jene Gerichte sind, die wohl ausnahmslos in Raten- klagen zur Rechtssprechung in erster Instanz berufen sind. Das regel- mässige Verfahren ist das mündliche sogenannte Bagatellverfahren, welches stattfindet, sobald der Wert des Streitgegenstandes 50 Gulden nicht übersteigt oder die Parteien bei Ansprüchen bis 500 Gulden sich demselben freiwillig unterwerfen.

Wir geben im folgenden einen zumeist wörtlichen Auszug aus der betreffenden Veröffentlichung der Wiener Handelskammer (Mai 1887) und verspüren uns den Gebrauch der Anführungszeichen, um die eigenen Worte der Gerichte alS solche zu kennzeichnen, indem wir darauf Wert legen, nach jeder Richtung hin die Quellen möglichst getreu selbst rücksichtlich der Ausdrucks weise wiederzugeben.

Die Klagen aus Ratengeschäften konzentrieren sich bei den Ge- richten in Wien und den Gemeinden nächst Wien, während die von Wien ferner gelegenen Gerichte mit Ratengeschäften nichts oder doch nur wenig zu thun haben. Der Grund davon wird aber nicht darin erblickt, dass aufs flache Land hinaus keine Ratengeschäfte gemacht werden, sondern dass allgemein in den Ratenhriefen (Lieferscheinen) eine Klausel aufgenommen erscheint, wonach sich die Abnehmer dem Gerichtsstände des Lieferanten (als forum contractus, d. i. als Gerichts- stand des vereinbarten Erfüllungsortes) unterwerfen.

Diese Gepflogenheit scheint, wie im Berichte bemerkt wird, nach

l) Darunter üie Bezirksgerichte von Hernals, Hietzing, Ottakring, Sechshaus, l'nter-Mciüling und Währing, welche Gemeinden zu den sogenannten Vororten ge- hören und auch in den Wiener Polizei-Rayon einbezogen sind.

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AI ata ja, Ratenhandel und Abzahlungsgeschäfte. I59

zahlreichen Gutachten für die beteiligte Bevölkerung von schwerwiegen- den, für die Ratenhändler von vorteilhaften Folgen begleitet zu sein. So erwähnt das Bezirksgericht Neubau, »dass es mit Rücksicht auf die meist weite Entfernung der Parteien vom Gerichtsorte und der durch die Mittellosigkeit derselben herbeigeführten Unmöglichkeit, einen Vertreter in Wien zu bestellen, sowie im Hinblick darauf, dass ihre schriftlichen Einwendungen nach tj. 28 des Gesetzes über das ßagatell- verfahren zurückgewiesen werden müssen , nur einem geringen Teile der Geklagten überhaupt gelingen kann, sich auf die gesetzliche Weise zu verteidigen. Dieser Umstand bietet denn auch den Ratengeschäfts- inhabern die Gelegenheit, die übrigen in ihre Netze geratenen Personen kampflos verurteilen zu lassen und gegen dieselben dann unerbittlich die oftmals mit unverhältnismässig hohen Kosten verbundenen Exeku- tionen durchzuführen.« Das Bezirksgericht Hernals spricht von dem Missbrauche, dass »Ratenhändler in den bezüglichen Ratenbriefen ent- weder in ganz unauffälliger Weise eine diesbezügliche den Käufern in ihrer Wirkung zumeist unverständliche Bestimmung aufnehmen oder auch ohne jede Vereinbarung eine solche in der Klage behaupten, es den Geklagten überlassend, ihre Einwendungen dagegen zu ma- chen , und besonders bei auswärtigen Parteien, welche wegen der zu- meist geringfügigen Beträge weder selbst noch durch einen Bevoll. mächtigten erscheinen, den beabsichtigten Zweck erreichen, ohne dass von Seite des Gerichtes gegen ein derartiges Vorgehen selbständig eine Remedur geschaffen werden könnte.«

Im Zusammenhänge bringt der Bericht damit die Zahl der durch Kontumazurteil erledigten Ratenklagen, die allerdings eine sehr erheb- liche genannt werden muss. »Die Zuhl der Bagatellklagen ist«, schreibt das Bezirksgericht Josefstadt, »infolge der sich seit einigen Jahren fortwährend häufenden Klagen aus Ratengeschäften von 1864 im Jahre 1883 auf 2964 im Jahre 1884 und auf 3575 im Jahre 1885 gestiegen und befinden sich darunter im Jahre 1883 382, im Jahre

1884 1519, im Jahre 1885 1985 Klagen wider von Wien abwesende Parteien, wovon etwa ein Drittteil kontumaziert wurde.» Das Be- zirksgericht Alsergrund erwähnt eine Wiener Firma, welche ausschliess- lich Oclfarbendruckbilder nach Ungarn und dessen Nebenländer ver- kauft und jährlich ai.f Grund des forum contractus mindestens 1500 Klagen bei diesem Gerichte überreicht.

Beim Bezirksgerichte Unter-Meidling wurden im Laufe des Jahres

1885 circa 1500 Bagatellklagen eingebracht, von denen mindestens 50 */• aus Ratengeschäften herstammten. Ebenso sind beim Bezirks- gerichte Hernals die Ratengeschäfte mit 50I an den Bagatellklagen beteiligt. Beim Bezirksgerichte Sechshaus werden circa 2500 Klagen aus Ratengeschäften im Jahre eingebracht; beim Bezirksgerichte Ottak- ring machen sie zwei Drittel, beim Bezirksgerichte Innere Stadt

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Miszellen.

160

gar 80 °/o der überhaupt einlangenden Klagen aus. Weitere Zahlen- angaben fehlen.

Da die Kammer den Gerichten eine Reihe von Fragen gestellt hat und die Aeusserungen der Gerichte in gleicher Ordnung wiedergegeben erscheinen, wird diese F.inteilung auch hier beibehalten.

Erste Frage. Welchen Gewerbszweigen gehören die Kläger in Prozessen , welche aus Ratengeschäften entspringen , vorzugsweise an, beziehungsweise bei welchen Handelsartikeln entstehen aus deren Ver- kaufe gegen Ratenzahlungen die meisten Klagen?

Wie angegeben wird, erscheinen nach den in diesem Punkt ziem- lich übereinstimmenden Mitteilungen als Hauptartikel des Ratenhandels Nähmaschinen. Möbel, Bilder und sonstige Wohnungseinrichtungsgegen- stände , Uhren und Pretiosen, Manufakturwaren, Kleider. Vereinzelt werden auch als gangbare Artikel erwähnt: lithographische Erzeugnisse überhaupt, Lehrmittel, Bücher, insbesondere Lehrbücher, Möbelstoffe; endlich wird (durch das Bezirksgericht Margarethen) darauf hinge- wiesen, »dass auch das Annoncierungsgeschäft und Inseratengeschäft durch auf Ratenzahlungen lautende Bestellzettel zum grossen Teile be- trieben und dass das Agentur- und Vermittlungsgeschäft in dieser und hervorragend in dieser oft zur Klage führenden Weise gehandhabt wird.«

Zweite Frage. Gegen welche Bevölkerungskreise werden diese Klagen vorzugsweise angestrengt?

Uebereinstimmend werden hier nach dem Berichte Angehörige der unteren oder doch minder gut ökonomisch situierten Bevölkerungs- schichten angeführt, als Arbeiter, Taglöhner, Dienstboten, kleinere Ge- werbsleute, kleinere Beamte und Lehrer etc.

Das Bezirksgericht Innere Satdt bemerkt hiezu, »dass gerade die ärmeren Leute unter ihnen durch die Aussicht, den Kaufpreis in Raten zahlen zu können, verleitet werden, solche Artikel , welche mit Rücksicht auf ihre Stellung und Erwerbsverhältnisse als blosse Luxus- gegenstände anzusehen sind, einzukaufen, ohne hiebei zu bedenken, dass die gekaufte Ware, selbst wenn die bezüglich der Zahlung ge- botene Erleichterung in Anschlag gebracht wird , mit sehr wenigen Ausnahmen in keinem Verhältnisse zu dem für dieselbe zu zahlenden Preise steht.«

Nicht immer dienen jedoch die gegen Raten erworbenen Gegen- stände zum eigenen Gebrauche des Käufers, sondern werden auch ge- kauft zum Zwecke des Verpfandens bei einer Pfandleihanstalt. So erwähnt das Bezirksgericht Alsergrund, dass nach den dortigen Er- hebungen »auch ziemlich häufig Personen Ratengeschäfte kontrahieren, welche sich zwar der Differenz zwischen Preis und Wert der Waren vollkommen bewusst sind, welche jedoch, weil ihr anderweitiger Kredit schon erschöpft ist , den Umstand , dass die Ratenhändler verhältnis- mässig leicht Kredit geben, benützen, um sich durch sofortige Ver-

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Mat a ja , Ratenhandtl und Abzahtungsgesrhäftt. 161

pfändung der auf Raten genommenen Waren momentan Geld zu ver- schaffen.«

Ausserdem wird hier noch folgender Bemerkung des Bezirksgerichtes Neubau gedacht : »Diese Klagen (sc. aus Ratengeschäften) werden ausschliesslich gegen die ärmsten Klassen der Bevölkerung angestrengt, so gegen die Arbeiterbevölkerung Wiens und der Vororte, zu über- wiegendem Teile aber gegen den ärmsten Teil der Landbevölkerung in den verschiedensten Teilen des Reiches, und zwar hievon in erster Linie gegen die Bevölkerung der weitab vom grossen Verkehre liegen- den Gegenden , welohe infolge ihrer Unerfahrenheit und Geschäfts- unkenntnis ein willfähriges Opfer der Verführungskünste der von den Ratenhändlern in alle Richtungen der Windrose ausgesendeten Agenten zu bilden geeignet sind.«

Das Bezirksgericht Alsergrund urteilt, »dass die Ratengeschäfte zum weitaus überwiegenden Teile geschlossen werden mit Personen, welche wegen ihrer wirtschaftlichen Unerfahrenheit nicht die in den meisten Fällen bei Ratengeschäften eintretende enorme Bewuche- rung einzusehen vermögen, oder nicht die moralische Kraft haben, um der durch Inserate in der Tagespresse und durch die zudringlichen Anpreisungen der Agenten herbeigeführten Verlockung zu widerstehen.«

Dritte Frage. Zeigt die Erfahrung, dass schon die ersten Raten nicht bezahlt werden und dann sofort die Einklagung geschieht, oder wird der Klageweg erst betreten, nachdem bereits ein grosserer Teil der Schuld bezahlt wurde und der Kläger Raten freiwillig gestun- det hat ?

Nach der Mehrzahl (aber nicht der Gesamtheit) der Gutachten dürfte jener Fall der häufigere sein, dass bereits eine Reihe von Raten- zahlungen geleistet wurde, wenn das Gericht angerufen wird; ferner wird fast allgemein zugestanden, dass die Ratenhändler regelmässig nicht sofort nach Fälligkeit der Rate den Klageweg beschreiten, son- dern noch durch einige Zeit zuwarten.

Bei dieser Nachsicht hinsichtlich der Zahlungsfristen scheinen in- dessen nach dem Berichte mancherlei Motive mehr oder minder be- denklicher Natur ins Spiel zu kommen.

Das Bezirksgericht Neubau sagt hierüber: »Die Erfahrung zeigt, dass die ersten Raten in der Regel bezahlt werden und dass die Ge- klagten erst dann die weiteren Ratenzahlungen verweigern, bis sie zur Einsicht gelangen, dass sie übervorteilt worden sind; jedoch auch dann unterlassen es die Kläger, welche zu guten Grund haben, einer ein- gehenden gerichtlichen Erörterung der von ihnen abgeschlossenen Ge- schäfte aus dem Wege zu gehen, vorerst noch den Klageweg zu be- treten, indem sie es versuchen , sich im gütlichen Wege mit den Par- teien, denen sie weitere Fristen gewähren, auseinanderzusetzen. Erst dann, wenn dies zu keinem Ziele führt, wird die Klage angestrengt.«

Archiv für so*. Gcseugbg u. Statistik I. II

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Miszellen.

Das Bezirksgericht Hietzing führt aus : »Nach den hiergerichtlichen Erfahrungen legen die Ratenfirmen keine Eile bei der gerichtlichen Eintreibung ihrer Forderungen an den Tag, im Gegenteile hat es häufig den Anschein, als ob das Verstreichen der im §. 933 a. b. G.B. ') fest- gesetzten sechsmonatlichen Verjährungsfrist der Gewährleistung ge- flissentlich abgewartet wird, um der fast immer gemachten Einwendung gegen die schlechte Qualität des Kaufobjektes zu begegnen.!

Vierte Frage. In welcher Richtung bewegen sich zumeist die Einreden der Geklagten r Wenden sie sich gegen den im Verhält- nis zur Qualität der Ware zu hohen Gesamtkaufpreis oder gegen die im Ratenbrief fixierten Bedingungen oder gegen ungebührliche Ver- lockung zum Kaufe?

Aus den hierüber abgegebenen Aeusserungen geht nach dem Kam- merberichte unzweideutig hervor, dass die Ueberhaltung beim Kaufpreis und das unsolide Treiben der Agenten den Hauptinhalt der Beschwer- den und der Einwendungen der Geklagten abgeben. Aber auch der Umstand, dass der oft unerfahrene und rechtsunkundige Käufer absicht- lich in Irrtum oder Unklarheit über die einzelnen Bedingungen des Geschäftes geführt wird, spielt darnach eine grosse Rolle.

Die Häufigkeit der von den Geklagten erhobenen Einwendung, dass der Preis verhältnismässig viel zu hoch sei, erhellt ganz allgemein aus den bezirksgerichtlichen Aeusserungen, und wird die in den Raten- briefen so häufig wiederkehrende Bestimmung, dass auf die Einwendung wegen Verkürzung über die Hälfte (laesio enormis) verzichtet wird, im Bericht mit dem Bestreben der Verkäufer in Zusammenhang gebracht, derlei Beschwerden von vornherein zu begegnen. Nach dem Bezirks- gerichte Landstrasse konstatieren die Sachverständigenbefunde fast aus- nahmslos einen im Verhältnis zur Qualität der Ware exorbitanten Preis.

Das Bezirksgericht Leopoldstadt erwähnt auch , dass in einer nicht unbedeutenden Zahl von Fällen nach Angabe der Käufer der Ware die vom Agenten hervorgehobenen Qualitäten mangeln und der Käufer erst später zu dieser Wahrnehmung gelangte. Das Bezirksge- richt Favoriten sagt: »Die Einwendungen sind gewöhnlich gegen den zu hohen Gesamtkaufpreis, wenige gegen die Qualität mit Aus- nahme der Bilder dann gegen die Zahlungsbedingungen, am häufig- sten aber gegen die ungebührliche Verlockung zum Kaufe gerichtet.*

l) .Wenn Jemand eine Sache auf entgeltliche Art einem andern überlasst , so leistet er Gewähr, dass sie die ausdrücklich bedungenen oder gewöhnlich dabei vor- ausgesetzten Eigenschaften habe und dass sie der Natur des Geschäftes oder der ge- troffenen Verabredung gemäss benützt und verwendet werden könne.« (§. 922 a. b. G.B.) »Wer die Gewährleistung fordern will, muss sein Recht, wenn es unbeweg- liche Sachen betrifft, binnen drei Jahren, betrifft es aber bewegliche, binnen sechs Monaten geltend machen, sonst ist das Recht erloschen. (§. 933. a. b. G.B.).

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Mataja, Ratenham/cl um/ Abzahlungsgeschäfte.

Das Bezirksgericht Innere Stadt bemerkt, dass jene Falle, wo die Qualität der Ware, respektive der hiefiir vereinbarte Kaufpreis an- gelochten wird, weniger häufig sind, was nach Ansicht dieses Gerichtes nur darin seinen Grund hat, dass die Käufer in vielen Fällen die ge- kauften Waren nicht mehr besitzen und daher eine Geltendmachung dieser Einwendung mit vielen Schwierigkeiten verbunden wäre. Das- selbe Gericht bemerkt ferner : »Wie einträglich aber trotz der hohen Agentenprovision und ungeachtet der so gering bemessenen Gerichts- kosten, welche hiergerichts bei Ratenhändlern für Verfassung der Klage und die Verrichtung einer Tagfahrt im Bagatellverfahren ausser den baren Auslagen in der Regel nur mit io 20 kr. bestimmt werden, dieses Geschäft ist, zeigt die von Jahr zu Jahr zunehmende Anzahl der aus Ratengeschäften entspringenden Klagen, welche hiergerichts allein ungefähr 80 “/o aller Klagen überhaupt ausmachen dürften , sowie der den Umfang dieser Geschäfte bezeichnende Umstand, dass ein einzelner Ratenhändler oft an einem Tage 100 bis 150 Klagen überreicht.«

Aus den zahlreichen Bemerkungen über den Missbrauch, vermittelst der Ratenbriefe (Bestellscheine etc ) dem Publikum Vertragsbedingungen zu unterschieben, in die es bei wirklicher Kenntnis der Sachlage nicht eingegangen wäre, heben wir, um Wiederholungen zu vermeiden, nur einiges hierher Gehörige aus dem Kammerberichte hervor.

Das Bezirksgericht Innere Stadt sagt: » es ist eine

ebenso feststehende Thatsache, dass der Agent dem Käufer in der Regel ein gedrucktes und bereits ausgefülltes Formular eines Bestell- scheines oder einer ähnlichen Bescheinigung über den mündlich abge- schlossenen Kauf zur Unterschrift vorlegt. Diese Urkunde enthält vor- zugsweise nur die Verbindlichkeiten des Käufers und insbesondere vor- zugsweise die Zahlungsverpflichtung über die Höhe und die Termine der einzelnen Kaufschillingsraten, den Ort , wo die Zahlung geleistet werden soll, dann auch Verzichtleistungen auf Einwendungen und über- haupt dem Geklagten ungünstige Bestimmungen, welche entweder über- haupt nicht vereinbart werden oder der getroffenen Vereinbarung aus- drücklich entgegen sind. Die häufig der ärmeren Klasse angehörigen, gänzlich rechtsunkundigen Käufer unterfertigen diese Urkunde in der Meinung, dass sie dem Vertrage entspreche, ohne sie überhaupt oder genau gelesen zu haben, oder die Käufer lassen sich in dem Falle, als sie gegen den Inhalt Bedenken erhehen , durch die Reden des Agenten, dass es mit dieser Urkunde nicht so genau gehalten werde, dass das Formular schon vorgedruckt sei etc., zur Fertigung überreden. In Folge dieses unredlichen Gebahrens der Agenten entstehen zwischen den Kontrahenten die meisten Rechtsstreitigkeiten, welche der richter- lichen Entscheidung unterzogen werden.«

In ähnlicher Weise, konstatiert der Bericht, wird auch in anderen Aeusserungen hervorgehoben, dass die im Bestellscheine enthaltenen

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Vertragsbestimmungen dem Käufer gar nicht zur Kenntnis gebracht oder der Bestellschein ohne genauere Durchsicht in der Meinung unterschrieben wurde, es sei darin nur das mit den Agenten mündlich Ausgemachte enthalten, so insbesondere nach der Bemerkung des Bezirksgerichtes Leopoldstadt der im Bestellschein vorkommende Verzicht auf die Einwendung der Verletzung über die Hälfte, die (manchmal nur als Randglossen) vorgedruckten Textstellen, wie: »Ent- gegenstehende mündliche Vereinbarungen mit dem Agenten haben keine Giltigkeit,« oder »Zahlbar in Wien.« Das Bezirksgericht Landstrasse verweist noch darauf, dass die Geklagten nicht selten des Lesens und Schreibens grösstenteils unkundig sind. Das Bezirksgericht Marga- rethen hebt als Einwendung der Geklagten unter anderem hervor : »dass ihnen der die Bestellungen vermittelnde Agent gewisse münd- liche Zusagen gemacht habe, welche, wie sich dann bei der Verhand- lung herausstellt, im Bestellscheine nicht enthalten sind, mit denselben nicht übereinstimmen und daher gewöhnlich nach §. 887. a. b. G.B. ') nicht berücksichtigt werden können.«

Ebenso häufig sind nach dem Berichte die Klagen über unge- bührliche Verlockung zum Kaufe durch die Agenten.

Das Bezirksgericht Margarethen erwähnt diesbezüglich : »mit be- sonderem Nachdrucke muss aber hervorgehoben werden , dass fast sämtliche Geklagte mit geringer Ausnahme in allererster Linie und in herbster Weise über die grosse Zudringlichkeit der Agenten Beschwerde anbringen zu können trachten, und unter anderem angeben, dass viele Agenten die Ware geradezu aufzwingen, und dass die Agenten bitten, die Ware nur vorläufig wenigstens zur Aufbewahrung zu übernehmen, das Weitere werde sich schon finden, dass die Agenten die Ware ein- fach ins Haus, resp. in die Wohnung stellen.« Als eine eigentümliche Art der Verlockung erwähnt das Bezirksgericht F avo rite n , »dass die vor dem Gewölbe der Kleider- und Schuhwarenhändler auf der Strasse aufgestellten Diener alle Passanten, die der äusseren Erscheinung nach oder infolge des Verweilet» vor der Auslage als Kauflustige sich be- merkbar machen, ansprechen, zum Ankauf der Ware überreden und, wenn es gelingt, in das Verkaufsgewölbe geleiten ; einmal in dem Macht- bereich des Händlers ist ein Widerstand unmöglich und das Resultat der Abschluss eines Ratengeschäftes.« Ebenso bestätigt das Bezirks- gericht Hernals , dass sich die Einwendungen der Geklagten sehr häufig gegen ungebührliche Verlockung durch die Agenten richten, »welche, abgesehen von Ueberredung durch alle möglichen, nicht selten

1) »Wenn über einen Vertrag eine Urkunde errichtet worden ist, so ist auf vor- geschützte mündliche Verabredungen , welche zugleich geschehen sein sollen , aber mit der Urkunde nicht übercinstmimcn oder neue Zusätze enthalten, kein Bedacht zu nehmen.« §. 887 a. b. G.B.

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Mataja, Ratenhandel und Abzahlungsgeschäfte. 165

sogar be tr üge risc h e Mittel, als da sind: Vorspiegelung, dass ausser dem Angelde nichts gezahlt zu werden brauche und der Käufer sofort die Waren versetzen und dem Verkäufer den Versatzschein zurückgeben könne u. dgl. , die armen , zumeist auf einer sehr niederen Bildungs- stufe stehenden Leute zur Eingehung des Ratengeschäftes veranlassen, wobei zumeist die Weiber in Abwesenheit ihres Gatten zur Eingehung derartiger Ratengeschäfte gedrängt werden.«

Eingehend behandelt der Bericht den Umstand, dass sich die Agenten mit besonderer Vorliebe an Frauen, als minder widerstandsfähig, wenden. So teilt (abgesehen von der vor- stehenden Bemerkung des Bezirksgerichtes Hernalsl das Bezirksgericht Marahilf mit : »Die Händler pflegen Agenten auszusenden, welche sich mit Vorliebe unter tags an die allein zu Hause befindlichen Weiber wenden und ihnen, wie die Geklagten sagen , so lange Zureden , bis diese kaufen oder doch gestatten , dass ein Bild oder ein paar Bilder dort belassen werden, um sie dem Ehemann zu zeigen ; dabei lässt sich der Agent jedoch schon den Bestellschein unterschreiben, vor- geblich um eine Bestätigung über die Deponierung zu haben , dann lässt er sich nicht mehr sehen.« Das Bezirksgericht Alsergrund sagt: »Sehr häufig wiederkehrend sind die Klagen über die besondere Zu- dringlichkeit der Agenten der Ratenhändler, und haben wiederholt alleinstehende Frauenspersonen bei Gericht deponiert, dass sie sich dieser Agenten gar nicht anders envehren, dieselben aus ihrer Woh- nung nicht anders entfernen konnten , als dadurch , dass sie sich zur Unterschrift eines Bestellscheines auf Waren herbeiliessen, die zu kaufen sie eigentlich gar nicht beabsichtigten.« Das Bezirksgericht Unter- Meidling schreibt über die Agenten unter anderem: »So lange diese redegewandten Herren aber für ein solches Ratengeschäft agentieren, lassen sie es an Verlockungen nicht fehlen , um die Parteien und ins- besondere die Frauen, welche dafür empfänglicher sind, zu Bestellungen zu verleiten. Als Beleg zu dem vorstehend Angeführten erlaubt sich das Bezirksgericht zu erwähnen , dass vor nicht geraumer Zeit an einem Tage von einem Ratengeschäftsinhaber 13 Bagatellklagen, und zwar grösstenteils gegen Frauen des Arbeiterstandes eingebracht wurden auf Zahlung schuldiger Restbeträge von 1 fl. bis 3 fl. für gelieferte Haus- segen.« Das Bezirksgericht Hietzing hebt als bemerkenswert hervor, dass die Warenausträger die Geschäfte fast stets mit Frauenspersonen, selten mit Männern abschliessen.

Ueber die Art des Abschlusses der Ratengeschäfte und das Ver- halten der Agenten entnimmt der Bericht endlich noch die folgenden Aufschlüsse aus den bezirksgerichtlichen Gutachten.

Das Bezirksgericht Mariahilf erwähnt insbesonders rücksichtlich des Bilderhandels , dass die Bestellzettel die Bestätigung des richtigen Empfanges des Bildes, die Zufriedenheit mit der Qualität, die Verpflich-

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tung zur Zahlung der meist geringen Wochenraten (20 oder 30 kr.) bei Terminsverlust und den Passus gedruckt enthalten, es werde zur Kennt- nis genommen, dass der Agent nur zur Uebernahme des Angeldes und der ersten Rate und keineswegs zu weiteren Abmachungen, namentlich Zusicherung späteren Bilderumtausches u. dgl. ermächtigt sei ; diese Scheine würden jedoch den mitunter des Lesens nicht kundigen Käu- fern nur in einzelnen Punkten vorgelesen, mündlich werde noch even- tuell Umtausch und die Abholung der Raten durch Kassiere zuge- sichert. Das Gutachten fährt nun fort: »Die Kassiere wechseln häufig, werden wohl auch wegen Veruntreuung entlassen, die Parteien wechseln die Wohnung und die Zahlungen hören auf, die Chefs selbst wechseln, indem einer dem andern das Geschäft samt Forderungen verkauft, die Agenten sind dann meist nicht mehr zu eruieren. Dann oft nach Jahren klagt der Händler massenweise ein ; einer hat durch etwa zwei Jahre und je zweimal des Jahres über 1000 Klagen (auf zwei bis drei und mehr Jahre zurückgreifend) eingereicht (Bagatellklagen), so dass er durch einige Zeit stets 30 60 per Tag überreichte. Die mitunter ge- radezu betrügerische Irreführung der Käufer bleibt den unauffindbaren Agenten aufgelastet, die sie wohl auch thatsächlich verschuldet haben mochten, die Gewährleistungseinwendung ist verjährte Das Bezirks- gericht Unter-Meidling bemerkt , dass die Einwendung der Geklagten zumeist Beschwerden wegen Ucbervorteilung durch Lieferung schlechter und nicht masshältiger Ware bei enorm hohen Preisen und Klagen über die Zudringlichkeit der Agenten sind. Das Bezirksgericht fügt dem hinzu: »Häufig ergeben sich Differenzen auch daraus, dass die

Agenten bei der Uebergabe der Ware, wenn solche von den Parteien beanstandet wird, Preisnachlässe gewähren, diese Nachlässe auch mit Bleistift auf der von der Firma geschriebenen Rechnung ersichtlich, dem Geschäftsinhaber jedoch keine Mitteilung hievon machen, um ihre Provision nicht zu schmälern. So kommt es, dass mehr eingeklagt wird , als die Geklagten schuldig zu sein bekennen. Soll dann ein solcher Agent als Zeuge vernommen werden, so ist derselbe in vielen Fällen nicht mehr beim Kläger in Verwendung und deshalb oder auch aus andern sehr durchsichtigen Gründen nicht mehr zu finden.« Das Bezirksgericht Landstrasse teilt mit: »Nicht selten sind Agenten, wenn das Gericht deren Vernehmung für notwendig findet, unbekannten Auf- enthaltes und bieten die Erschienenen zum Teile das Bild verkom- mener, in der Wahl der Mittel zu ihrem Unterhalte keineswegs wähle- rischer Individuen.«

Was schliesslich die im Berichte geschilderten Vorgänge bei Lei- stung der Raten betrifft, so kommt es nach dem Bezirksgerichte Mar- garethen vor, dass der Besteller behauptet, mehr Raten gezahlt zu haben, als der Kläger zugibt. Das Bezirksgericht Hernals bemerkt: »Die Einwendungen der Geklagten richten sich teils gegen die unpünkt-

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liehe Abschreibung der gezahlten Raten , welche zumeist dadurch her- beigeführt wird , dass die Kassiere den Parteien entweder nicht die vorgeschriebenen Empfangsbestätigungen ausfolgen oder die Parteien mit der Empfangsbestätigung auf das »Nächstemal« vertrösten, dann aber den Dienst beim Verkäufer aufgeben, ohne die auf diese Weise eingehobenen Beträge verrechnet zu haben, teils gegen das Misverhäl- nis der Qualität der Ware zum Kaufpreise etc.«

Fünfte Frage. Führen diese Klagen häufig zur Rückgängigmachung des Kaufes unter Rückstellung der Ware gegen Verlust von Raten und Ersatz der Kosten oder bestehen die Kläger meist auf der Ein- haltung des Vertrages und bei welchen Handelsartikeln geschieht dies oder jenes vorzugsweise ?

Allgemein wird nach dem Berichte bemerkt, dass die Rückgängig- machung des Kaufes nur sehr selten stattfindet und die Kläger regel- mässig auf Erfüllung des Vertrages bestehen; häufig wird dem hinzu- gefügt, dass die Kläger leicht die weitere Abzahlung in Form von Raten wie früher zugestehen. Das Bezirksgericht Margarethen teilt mit, dass die Kläger nur in einzelnen Fällen geneigt sind, das Geschäft rückgängig zu machen, »falls sie nämlich bemerken , dass die Gegen- seite ganz zahlungsunfähig ist, oder wenn dieselben besonderen Unan- nehmlichkeiten ausweichen zu wollen scheinen; in eine Rückgabe be- reits erhaltener Raten lassen sich aber solche Kläger meist nicht ein, und wurde eben diese Wahrnehmung bei sämtlichen Handelsartikeln gemacht.« Die Rückgängigmachung des Kaufes ohne Verzichtleistung des Käufers auf die bereits gezahlten Raten ist nach Ansicht des Be- zirksgerichtes Innere Stadt schon aus dem Grunde nicht zu erreichen, weil der Kläger dann die seinem Agenten bezahlte oft 5 bis 10 %> des Kaufschillings betragende Provision einbüssen würde. Da die Bestellscheine regelmässig den Verzicht auf die meisten Einwendungen enthalten , ist es nach Ansicht des Bezirksgerichtes Neubau dem Kläger, selbst wenn die vorgebrachten Einwendungen stichhältig sind, leicht, auf der Einhaltung des Vertrages zu bestehen ; das gelte gleich- mässig von den verschiedenen Geschäftskategorien. Das Bezirksgericht Josefstadt erblickt als Motiv, warum die Kläger zumeist auf Einhal- tung des Vertrages bestehen, wie vorzugsweise bei Bildern, Uhren und Schmuckgegenständen darin, dass die Ratenbriefe häufig die Ver- zichtleistung der Geklagten auf das Rechtsmittel wegen Verletzung über die Hälfte enthalten und oft auch von einem oder mehreren Bürgen mit Solidarverbindlichkeit gefertigt erscheinen, daher sich der Kläger die Einhaltung des Vertrages und Einbringung der Kaufsumme und Spesen in fast allen Fällen hinlänglich gesichert hat.

Umgekehrt verhält es sich jedoch nach dem Berichte mit den Käufern, von denen behauptet wird , dass sie sich in viel grösserem Masse zur Rückgängigmachung des Kaufes verstehen würden. So sagt

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das Bezirksgericht Alsergrund: »In einer überaus grossen Anzahl von Fällen intendieren zwar die Käufer die Rückgängigmachung der Käufe, bestehen jedoch die Verkäufer auf Einhaltung des Vertrages.« Das Bezirksgericht Sechshaus erwähnt: »In den weitaus meisten Fällen bestehen die Kläger auf der Einhaltung des Vertrages und gehen auf die oft vorkommenden Propositionen der Geklagten auf Rückgängig- machung des Kaufobjektes gegen Verlust von Raten und Kosten fast niemals ein.«

Sechste Frage. Endigen verhältnismässig viele Verhandlungen durch gerichtlichen Vergleich und in welcher Richtung gewähren da- bei die Kläger Nachlässe?

Nach den Aeusserungen der meisten Bezirksgerichte werden, wie aus dem Berichte zu entnehmen, die Klagen regelmässig durch Ver- gleich beendet, wobei die Kläger nur selten Preisnachlässe und dann in unbedeutendem Umfang gewähren, wohl aber die Entrichtung des restlichen Kaufschillings in weiteren Raten zugestehen, ausgenommen die, wie es scheint, überall auch zahlreichen Fälle, in denen gegen den Geklagten wegen Nichterscheinens ein Kontumazurteil zu erlangen ist. (Ueber die Häufigkeit der Kontumazurteile vergl. oben).

Ueber die Beschaffenheit der nach dem Vorstehenden so überaus häufigen Vergleiche und die Gründe für ihre Abschliessung ist aus dem Berichte noch folgendes zu entnehmen.

Das Bezirksgericht Neubau sagt: »Von den überhaupt zur Ver- handlung gelangenden Rechtssachen endigt die überwiegende Mehrzahl (etwa neun Zehntel) durch gerichtlichen Vergleich, da die Kläger ja doch, wenn auch die Einwendungen der Geklagten meistens nicht be- rücksichtigt werden können, vermeiden wollen, dass eine eingehendere Erörterung des nur zu oft auf höchst zweifelhafte Weise zu Stande ge- kommenen Geschäftes slattfindet; da ferner die Erfüllung der Verbind- lichkeiten binnen der urteilsmässigen Frist bei der Mittellosigkeit der Geklagten ohnedies ausgeschlossen ist und da ja auch die Kläger durch die bereits geleisteten Ratenzahlungen in der Regel schon einen nicht unerheblichen Gewinn erzielt haben dürften.«

Das Bezirksgericht Favoriten bemerkt: »Manchmal wird der Ehe- gatte , obwohl dieser den Bestellschein nicht unterfertigt hat oder bei dem Kaufe nicht anwesend war, in der Klage als Mitgeklagter in der Absicht aufgefuhrt, um bei der Tagsatzung dem Vergleiche als Zahler beizutreten. Der Erfolg ist auf Seite des Klägers; denn ge- wöhnlich sind cs Wachmänner, Briefträger oder solche Personen, die wenig Zeit haben , bei Gericht länger zu verweilen. Um die Sache zum Abschlüsse zu bringen, fügen sie sich in den Willen des Klägers.«

Das Bezirksgericht Unter-Meidling führt an : »Die weitaus grösste Zahl dieser Rechtssachen endet mit Vergleich bei Terminsverlust und Exekution. Dadurch wird das Recht des Klägers in keiner

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Weise gefährdet. Es wird der höhere Urteilsstempel erspart, dessen Einbringung doch nicht immer ganz sicher ist, die Fristen zur Zahlung der ersten Rate kurz bemessen, der bedungene Terminsverlust garan- tiert die Exekution des ganzen Betrages, und werden die Raten wirk- lich pünktlich zugehalten, so hat der Kläger das erreicht, was er wollte, ein einträgliches Geschäft. Von freiwilligen Nachlässen bei der Tag- fahrt ist nicht die Rede . . .*

Im übrigen wird zu diesem Fragepunkt noch einzelnes bemerkt, aus dem wir nur die Aeusserung des Bezirksgerichtes Mariahilf er- wähnen, »dass Exekutionen nur in verhältnismässiger Anzahl, bei Bilder- geschäften aber sogar äusserst selten geführt werden, und Kläger sich wohl um deren Kosten, da diese gegenüber den regelmässig armen Ge- klagten kaum damit einzubringen wären, zu sparen mit den Raten, die dann die Geklagten unter dem moralischen Drucke des Vergleiches oder Urteiles freiwillig abtragen, begnügt.«

Nur wenige Aeusserungen der Gerichte enthalten auch Bemerkungen, wie dieUebelstände beim Ratenhandel zu bekämpfen wären. Hervorhebenswert scheinen uns folgende Ausführungen des Bezirksgerichtes Ottakring : »Die Ratengeschäfte müssen daher vom

nationalökonomischen und wirtschaftlichen Standpunkte und im Inter- esse der Erstarkung des Rechtsbewusstseins im Volke als ein Uebel- stand bezeichnet werden , welchen die Ueberproduktion an minder- wertiger Ware hervorgerufen hat, und für welche ein Absatzgebiet nicht durch die naturmässige Nachfrage, sondern nur durch die Ausbeutung der Beschränktheit und des Leichtsinnes der unwissenden , oft nicht schreibenskundigen Bevölkerung infolge der Ueberredung provisionierter Agenten geschaffen wird Der Umfang, den diese Geschäfte genommen haben, ist ein bedeutender , nachdem zwei Drittel der überhaupt ein- langenden Klagen Ratengeschäfte zum Gegenstände haben. Die Ge- setzgebung könnte diesem Uebelstande nur dann wirksam begegnen,

1) wenn der Gerichtsstand des Vertrages, das forum contractus, welches mit dem Grundsätze einer jeden Justizpflege : audiatur et altera pars unvereinbar ist , bei Bagatellklagen ausgeschlossen wird , denn dem Ratenhändler wird es leichter dort, wo seine Agenten die Ver- käufe besorgten und wo sie die Raten einkassieren , das ist dort , wo die Käufer wohnen, den Klageweg zu betreten und die Tagfahrt zu verrichten , als umgekehrt es den Käufern möglich ist , an einen oft sehr entfernten fremden Ort dem richterlichen Rufe zu folgen. Allein das ist eben eine Eigenheit der Ratengeschäfte, dass nicht derjenige, welcher das Geschäft machte , sondern ein dritter nicht beteiligter Buchhalter den selbst unsichtbaren Ratenhändler bei Gericht zu ver- treten hat, und

2) wenn die Regierungsvorlage über die Ausschliessung der Haupt-

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Miszellen.

bestandteilc der Wohnungseinrichtung von der Exekution als Gesetz in Wirkung tritt.«

II.

Als charakteristische Verschiedenheit der Zustände in Oesterreich von denen im deutschen Reiche sei der sogenannte Eigenturasvor- behalt (die Abmachung , dass die Gegenstände bis zur gänzlichen Abtragung der Kaufsumme Eigentum des Verkäufers bleiben, der sie beim Stocken der Zahlungen wieder zurücknehmen kann , ohne die bereits erhaltenen Raten zurückerstatten zu müssen, hervorgehoben, der in Deutschland wenigstens bei gewissen Warenkategorien, regel- mässig stattfindet und dort den Mittelpunkt der Beschwerden gegen die Ratengeschäfte abgibt. Solche Vorbehalte finden sich übrigens in verschiedener Art vor. Nach den vom Rechtsschutzverein der Mün- chener Teilzahlungsgeschäftsinhaber in der Generalversammlung am 5. November 1887 festgestellten »Kaufsbedingungen« z. B. besteht dieser darin, dass sich der Verkäufer das Recht vorbehält, die abgegebenen Waren vor deren vollständigen Abzahlung und ohne Rückvergütung der bereits entrichteten Ratenbeträge sofort zurückzunehmen: 1) Wenn sich der Käufer der ihm auf Kredit überlassenen Waren widerrechtlich entäussert. 2) Im Falle sich der Käufer mit seinen Zahlungen im Rückstände befindet. 3) Wenn durch einen Dritten in zuverlässiger Weise die schleunige Abreise des Kunden und daher die Verlustge- fahr dargethan wird. (Jedoch bleiben in allen diesen drei Fällen die zurückgenommenen Waren dem Käufer durch sechs Monate gegen Nachzählung der verfallenen Raten bez. Stellung eines genügenden Bürgen reserviert.)

Anderwärts mögen diese Bedingungen auch in höherem oder min- derem Masse ungünstig für den Käufer gefasst sein '). Gegen sie richten sich zumeist die Klagen, wie denn auch von vielen Seiten die gesetzliche llngiltigerklärung derartiger Klauseln verlangt wird. Da- gegen wird jedoch wiederum auf die dadurch bewirkte Erschwerung des rationellen Abzahlungsgeschäftes , dann auf die Möglichkeit ver- wiesen, die Ungiltigkeit des Warenverkaufes unter Eigentumsvorbehalt einfach durch eine andere Vertragsform, etwa durch einen Mietvertrag zu umgehen, was in der That z. B. in Württemberg, wo derlei Vor-

1) Nicht unerwähnt will ich lassen , dass nach einer Zeitungsmitteilung (Dort- munder »Geschäftsfreund« Nr. U2, Jahrgang 1884) in einem Falle, wo der Kaufver- trag die Maske eines Mietvertrages bis zur Abzahlung angenommen hatte, wörtlich ausbedungen war, dass bei Aufhebung des Mietvertrages wegen Unpünktlichkeit bei den Zahlungen der Vermieter zu jeder Tageszeit mit so vielen I .Olten , als zum Transport der vermieteten Gegenstände erforderlich sind, in der Wohnung des Mieters erscheinen und sich so lange solle authalten dürfen , als es die Zurücknahme erheischt , und dass Mieter ausdrücklich anerkenne , hierin eine Verletzung seines llausrechts oder eine andere strafbare Handlung nicht erkennen zu wollen.

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Mataja, Rattnhamtel und Abzahlungsgeschäfte. 171

behalte zur Sicherung des Kaufpreises rechtlich unzulässig sind, bereits Platz gegriffen habe *). In Oesterreich, wo diese Vorbehalte gleichfalls rechtlichen Hindernissen begegnen ’), ist die Klausel des Termin- verlustes bei Nichteinhaltung der Fristen sehr üblich; doch wird da- von , wie auch bereits aus den bezirksgerichtlichen Gutachten (dritte Krage) hervorgeht und meine eigenen Beobachtungen bestätigen, kein strenger Gebrauch gemacht mir sind im Gegenteil Fälle bekannt, die von einer grossen Coulanz zeugen , indem , sobald nur einige Aussicht war, dass die Raten später eingehen würden, bereitwillig Stun- dung und Herabsetzung der Ratenbeträge gewährt wurde. Eine ähn- liche Coulanz behaupten auch die deutschen Abzahlungsgeschäftsinhaber von sich ').

Diese Bemerkungen führen uns gleichzeitig zur Frage, wie den reichlich vorhandenen Misständen im Ratenhandel vorgebeugt werden könnte. Unbedingt wäre dabei jedoch stets festzuhalten, dass es sich nur um eine Regelung , höchstens Eindämmung derartiger Betriebe, nicht um eine Ausrottung des Ratengeschäftes handeln kann. Der Ratcnhandel entspricht wichtigen volkswirtschaftlichen Bedürfnissen : wie mancher Existenz z. B. der Arbeiterin, die eine Nähmaschine bedarf, um Brot zu erwerben, der Witwe, welche ein paar Zimmer mit dem überzähligen Hausrat aus besseren Zeiten möblieren und vermieten will, aber doch einiges zur Ergänzung nötig hat u. s. w. ist durch die Möglichkeit, gleich gegen allmähliche Abzahlung in den Besitz des erforderlichen Gegenstandes gelangen zu können , schon geholfen worden, wie mancher hat auf diesem Weg ein wertvolles Be- sitzstück und damit eine Reserve für spätere Not erworben , der an- dernfalls niemals die Ausdauer des Sparens gehabt hätte. Die Zeiten sind ernst geworden und wir dürfen kein Mittel leichtfertig von uns weisen, das gerade den ärmeren Leuten den Kampf ums Dasein er- leichtern kann. Eben deshalb sind auch m. E. Vorschläge, wie z. B. der Einführung einer hohen Kommunalbesteuerung der Abzahlungsge- schäfte, nicht empfehlenswert, da sie auch den Betrieb des berech- tigten Ratenhandels, der ohnehin mit belangreichen Spesen verbun- den ist, noch weiter verteuern und damit die Abnehmer schädigen müsste *). .

1) Jahresberichte der Handels- und Gewerbekammer in Württemberg für das Jahr 18S6. S. 20. Vgl. über die rechtliche Behandlung des Eigentnmsvorbehaltes und die in demselben gelegenen fraus legis. Sc hem her in den Annalen der badischen Gerichte, LI1I. S. 12 fg.

2) Siche allg. bürg. G.B. §§. 367, 456, 1063.

3) Vgl. z. B. die Eingabe des schon genannten Münchener Vereins an die ober- baierische Handels- und Gewerbekammer vom 6. November 1887.

4) Vgl. den von der Handels- und Gewerbekammer in Zittau angenommenen Bericht (Silzungsprotokoll vom 30. November 1887), woselbst auch andere Vorschläge

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Miszelltn.

Was nun die Vorschläge des Bezirksgerichtes Ottakring (S. 169) betrifft , so ist zu bemerken , dass die dort erwähnte Exekutions- novelle inzwischen Gesetz (vom 11. Juni 1887. R.G.B1. Nr. 59) ge- worden ist und dadurch in Oesterreich hinsichtlich der Befreiung be- stimmter Gegenstände von der Exekutionsführung ein ähnlicher Rechts- zustand geschaffen wurde, wie er im Deutschen Reiche bereits seit der Reichszivilprozessordnung (§. 715) allgemein besteht. Da jedoch im Deutschen Reiche gerade in jüngster Zeit die Bewegung gegen die Ab- zahlungsgeschäfte lebhaft wurde, kann ein ausreichender Schutz auf diesem Wege nicht erwartet werden.

Die Ausführungen der Gerichte über die Mängel des Prozess- verfahrens sind gewiss sehr berücksichtigungswert und verdienen wohl auch im Deutschen Reiche Beachtung, da angesichts der Aehnlich- keit der hierbei in Betracht zu ziehenden Rechtsvorschriften nicht abzusehen ist, warum im Deutschen Reiche nicht auch ähnliche Miss- bräuche Vorkommen sollten, wie sie die österreichischen Gerichte über- zeugend schildern.

Häufig taucht das Verlangen nach einer irgendwie gearteten b e- hördlichen Einflussnahme auf denBetrieb auf. So äussert beispielsweise eine Gewerbegenossenschaft bei der Wiener Enquete den Wunsch, dass das öffentliche Kreditanbieten gegen Ratenzahlungen dem Erfordernis einer Konzession unterliegen solle, welche nur an unbe- scholtene österreichische Staatsbürger zum Selbstbetriebe auszufolgen wäre; die Handelskammern der Provinz Hannover1) empfehlen, die Abzahlungsgeschäfte nach Analogie der Rückkaufsgeschäfte ’) unter obrigkeitliche Kontrolle zu stellen.

Derartige Vorschläge sind m. E. nach viel zu vag, als dass sie dem Gesetzgeber eine Hülfe gewähren könnten ; es müsste eben auch gesagt werden , worauf sich die behördliche Kontrolle zu erstrecken hätte.

Wir glauben nun, dass in der That eine obrigkeitliche Kontrolle sehr angezeigt wäre und in ähnlicher Weise, wie in Oesterreich bereits die Tarife und Geschäftsbedingungen der Pfandleihgeschäfte der be-

der sächsischen Kammern besprochen werden , sodann den für die Abzahlungsge- schäfte günstig gehaltenen eingehenden Bericht der Handelskammer in Mannheim (Jahresbericht für 1887 , II. S. 120 fg.) woselbst freilich auch Beispiele sich vor- finden, dass Waren um 3 Mark eingekauft, um 30 Mark veräusscrt wurden u. A.

1) Jahresbericht der Handelskammer zu Hannover für das Jahr 1886. S. 17.

2) § 34 der Reichsgewerbeordnung. (»Als Pfandleihgcwerbe gilt auch der ge- werbsmässige Ankauf beweglicher Sachen mit Gewährung des Rückkaufrechtes«), §. 38 1. c., Zirk. Erlass des Ministers des Innern vom 21. September 1879 « Reichs- Straf-G.B. §. 360 , Ziffer 12 , Gesetz v. 17. März 1881 f betreffend das Pfandleihge- werbe.

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Mataja, Rattnhandel und Abzahlungsgeschäfte. 173

hördlichen Genehmigung unterliegen ') , insbesondere der Inhalt des Ratenbriefes die behördliche Billigung zu erfahren hätte, wobei der Gebrauch nicht genehmigter Formulare oder die nachgewiesene Umgehung der Vorschriften entsprechenden Strafen , insbesondere der Gewerbsentziehung unterstellt werden könnte. Selbstverständlich stunde dem nichts im Wege, dass das Gesetz selbst bereits einige allgemeine Direktiven den Behörden gäbe. Als wünschenswert bezeichnen wir dabei , dass der Verkauf offenbarer Luxusgegenstände oder Sachen, deren Erwerbung regelmässig keine Notwendigkeit bildet (Pretiosen, Bilder u. a.), gegen Ratenzahlungen nur bei einer belangreichen An- zahlung statthaft sei mindestens 25 % der Kaufsumme : ich sehe darin das wirksamste Mittel, gänzlich unbedachten Anschaffungen vor- zubeugen, da nichts so sehr den Leichtsinn und Schwachheit fördert als der Umstand, dass im Anfang so viel wie gar nichts baar auszulegen ist. Verzichte auf Einwendungen aus der Qualität der Ware wären grundsätzlich auszuschliessen, ebenso wären nach Bedarf noch andere Punkte (Eigentumsvorbehalt etc.) zu regeln.

Eine andere Frage betrifft die Verantwortlichkeit des Geschäfts- inhabers für das Gebahren der Agenten . Einkassierer etc. Unzweifel- haft muss diese viel schärfer ausgeprägt werden , als es nach den grundsätzlichen Normen des heutigen Privatrechtes der Fall ist mit der Haftung für Culpa in eligendo u. dgl. wird man hier nie- mand wehe thun. Wegen des Zusammenhanges mit Fragen von allgemeiner prinzipieller Tragweite wird dieser Punkt freilich sehr schwer einer baldigen befriedigenden Lösung zuzuführen sein. Einige Abhülfe vermag allerdings schon die behördliche Genehmigung des Textes der Ratenbriefe zu gewähren.

Dann noch Eines, was die Strafrechtspflege berührt. Die Erwei- terung des Wucherbegriffes , das Aufgeben der Beschränkung auf den Geld Wucher und Einbeziehung des W a r e n wuchers scheint mir eine logische Notwendigkeit zu sein ; wir dürfen uns freilich keinen sangui- nischen Anschauungen über die Wirksamkeit der modernen Wucher- gesetze hingeben, wir würden aber wohl im Unrecht sein, wenn wir diese ganz und gar leugnen wollten ').

Zu allen diesen Punkten, ist noch folgendes hinzuzufügen. Die staatliche Einflussnahme auf den Betrieb der Warenabzahlungsgeschäfte wird dadurch ungemein erleichtert, dass diese Geschäfte naturgemäss nicht im Stillen arbeiten können : nicht leicht macht sich irgendwo

1) Gesetz vom 23. Marz 1885. (R.G.Bl. Nr. 48) §.7, dazu §. 4 der Ausführungs- verordnung vom 24. April 1885 (R.G Bl. Nr. 49). Vgl. übrigens auch §. 38 Keichs- gewerbeordnung.

2) Vgl. den Aufsatz von Ehcbcrg »Die Wucherfrage in Theorie und Praxis seit 1880« in Schmoller's Jahrbuch , VIII. (1884) S. 824 fg. , sowie Band 35 der Schriften des Vereins für Sozialpolitik: »Der Wucher auf dem Lande«, pass.

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•74

MiszelUn.

die Reklame aller Art so breit wie hier, nirgends ist die Ausnützung des Inseratenwesens, der Gebrauch marktschreierischer Schilder etc. intensiver. Der Geldwucherer arbeitet mit Vorliebe im Versteckten, ein paar Kunden oder ein bestimmter unter sich bekannter Personenkreis (z. B. die Offiziere der Garnison) kann ihm genügen, er vermag darauf zu warten, bis er aufgesucht wird, endlich darf er sich gewöhnlich auf die Verschwiegenheit, insbesondere bei den rentabelsten Kunden fest verlassen. Aehnlich ergeht es mit manchen anderen Beschäftigungs- zweigen , welche der Staat zu kontrollieren unternimmt. Das Waren- abzahlungsgeschäft muss hingegen mit allen Mitteln darnach streben, bekannt zu werden ; nicht auf die Höhe einzelner Transaktionen, son- dern auf die Zahl derselben kommt es bei der Grösse und Rentabilität des Betriebes an; das Publikum soll demnach erfahren, dass hier auf Raten abgegeben wird, die Kauflust soll angeregt werden durch die Mitteilung alles dessen, was man ohne sofortige Barzahlung erhalten kann. Der Ratenschein ist eine notwendige Begleitung jedes Geschäftes, der Verkäufer muss ein Schriftstück in Händen haben, welches das Rechtsverhältnis erkennen lässt und seine Ansprüche bescheinigt. Der Kreditbedürftige wird vielleicht eine Empfangsbestätigung über ioooMark ausstellen , obgleich er nur 500 bekommen hat ; hingegen wird sich kaum Jemand dazu verstehen, sich als Empfänger zweier Nähmaschinen zu bekennen, wenn er nur eine erhalten hat. Der Durchschnittsabneh- mer des Abzahlungsgeschäftes scheut sich auch nicht die Hülfe der Behörde anzurufen, wenn er nur Schutz zu erwarten hat ; die gelieferte Ware kann dem Gerichte vorgewiesen werden , der Identitätsnachweis stösst kaum auf Hindernisse kurz, alles spricht dafür, dass eine Ver- heimlichung oder eine Bemäntelung des Thatbestandes beim Ratenge- schäft viel weniger zu erwarten ist als zumeist anderwärts. Hieraus ergibt sich aber die weitere Konsequenz , dass eine gesetzgeberische Regelung des gewerbsmässigen Ratenhandels bei weitem nicht mit jenen Schwierigkeiten zu kämpfen hätte, wie die Bekämpfung des Geld- wuchers, der Kurpfuscherei u. A.

Endlich sei noch der Bemerkung in dem schon genannten Jahres- berichte der württembergischen Handels- und Gewerbekammem ge- dacht, dass in ähnlicher Weise, wie es, bereits auf dem Lande gegen den Viehwucher stattfindet , auch auf unserem Gebiete flagrante Fälle veröffentlicht , öffentliche Warnungen erlassen , die Geschäftsmaniptda- tionen immer wieder in der Presse und in Versammlungen aufgedeckt, vor allem aber wie gemeinnützige Pfandleihanstalten so gemein- nützige Raten- und Abzahlungsgeschäfte errichtet werden mögen , um die Anschaffung von Einrichtungs- und Haushaltungsgegenständen zu erleichtern. Man kann diese Wünsche verzeichnen , ohne sich über deren Realisierungen grossen Erwartungen hinzugeben ’).

1) Anmerkungsweise wollen wir hier zum Schlüsse erwähnen, dass das österr.

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Mataja, Ratenhandel und Abzahlungsgeschäfte. I75

In dem Schutz des Publikums ist auch gleichzeitig der Schutz der Gewerbetreibenden gegen unlautere Konkurrenz gelegen ; das bedarf keiner Erörterung.

Die grosse Ausdehnung des Ratengeschäftes weit grösser als es der Unkundige voraussetzt und hinlänglich gekennzeichnet durch den Umstand , dass man sich sowohl im Norden wie im Süden Deutsch- lands zu amtlichen Erhebungen darüber veranlasst sieht mag als Entschuldigung dafür dienen, wenn dasselbe hier eine vergleichsweise eingehende Darstellung erfahren hat. Auch in der Frage: muss der Arme immer weit theurer und schlechter einkaufen als der Reiche ? steckt eine dankenswerte weitverzweigte Aufgabe sozialpolitischer Rc- trachtung.

Gesetz vom 30 Juni 1878, R.G.B1. Nr. 90, die Veräusserung von GewinnsthofTnungen von Staats- und anderen Losen gegen Kalenzahlungen verbietet und die gewerbsmässig betriebene Veräusserung von Losen selbst gegen Ratenzahlung nur den Inhabern pro- tokollierter Firmen unter gewissen Bedingungen gestaltet. Der Anfang mit der ge- setzgeberischen Regelung des Ratenhandels ist also schon gemacht. Eine Justizmini- sterialverordnung vom 26. April 1887 befasst sich mit dem Warenhandel durch Raten- geschäftsi nhaber ; sie trägt aber im wesentlichen den Gerichten nur auf , Wahrneh- mungen über die Uebertretung gewerbepolizeilicher Vorschriften (z. B Mitfuhren von Waren statt blosser Muster etc.) sofort zur Anzeige zu bringen.

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DIE ENGLISCHE FABRIKINSPEKTION IM JAHRE

1885/86 ').

VON

Dr. HEINRICH HERKNER.

Bekanntlich untersteht die englische Fabrikinspektion dem Home Departement (Ministerium d. Innern), und der Leiter desselben erscheint in letzter Linie für dieselbe verantwortlich. An ihn wird daher auch jährlich von dem Chief Inspector, dem obersten Beamten der Inspek- tion, in dessen Händen die ganze Einrichtung zentralisiert worden ist, ein Bericht über die Thätigkeit der Fabrikinspektoren erstattet und als Blaubuch überdies beiden Häusern des Parlamentes vorgelegt.

Im grellen Gegensätze zu den meisten übrigen Verwaltungseinrich- tungen Englands ist sein Fabrikinspektorat , wie eben bemerkt , straff zentralisiert worden: der einzelne Inspektor steht in allen wichtigeren Angelegenheiten seiner Berufsthätigkeit in voller Abhängigkeit von den Anordnungen des Chief Inspector. Höher als andere Rücksichten gilt eine möglichst einheitliche und gleichmässige Anwendung der in das gewerbliche Leben so tief eingreifenden Gesetze; nur dann, wenn die Produktionsbedingungen der Konkurrenten in durchaus gleicher Weise von den gesetzlichen Bestimmungen beeinflusst werden, bleiben letztere noch erträglich.

Begreiflicherweise gelangt der erwähnte Charakter des Instituts auch in dem Jahresberichte getreu zum Ausdrucke. Einmal ist das Blaubuch durchaus das Werk des Chief Inspector. Nur, wenn dieser Citate aus den an sich nicht für die Oeffentlichkeit bestimmten Berichten der untergebenen Aufsichtsbeamten anführt, kommen letztere zum Worte. Ferner werden in jedem Jahre von dem Chief Inspector einige Fragen hervorgehoben, auf deren Beantwortung die Inspektoren vor allem ihr

1) Report of the Chief Inspector of Factorics and Workshops to Her Majesty’s Principal Secretary of State for the Home Departement, for the year ending 31. Oc- tober 1886. London 1887. Price 3 s. S. 178.

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/I rr in fr , Dir fnglischt Fahrikinsptktion rtf.

'77

Augenmerk zu richten haben. Es erhellt, dass mit der Verschiedenheit der ausgewählten Gesichtspunkte auch der Inhalt des Berichtes von Jahr zu Jahr ein sehr verschiedenartiger werden muss. Einen ständigen Platz behaupten in denselben nur die Aufzählung der wegen Ueber- tretung der gesetzlichen Vorschriften eingeleiteten Anklagen und Ver- urteilungen sowie die Statistik der Unfälle.

Vorteile und Mängel einer solchen Organisation an dieser Stelle im einzelnen auszufiihren, ist nicht unsere Aufgabe. Ueberdies ergeben sie sich bei einigem Nachdenken leicht von selbst. Wer aber über die gegenwärtige Organisation der englischen Fabrikinspektion im all- gemeinen noch eingehender unterrichtet zu sein wünscht, den möchten wir auf die ausgezeichnete Abhandlung von Dr. V. Adler in den Jahr- büchern f. Nationalökonomie und Statistik N. F. Bd. VIII. aufmerk- sam gemacht haben.

Doch nun zu dem oben citierten Berichte selbst.

Wir werden uns nach den vorausgeschickten Bemerkungen über den ungemein freien und beweglichen Charakter des Jahresberichtes nicht wundern, wenn derselbe einigermassen die Tagesfragen des eng lischen politischen Lebens wiederspiegelt.

Nachdem Parlament, Presse und Wissenschaft sich so lange Zeit hindurch auf das Lebhafteste mit der Ergründung des vermeintlichen Niederganges der englischen Industrie befasst haben, fügt es sich von selbst, dass auch die ersten Seiten des Berichtes gewissermassen ein Nachtrag zu den Untersuchungen der kgl. Kommission zur Erforschung der »depression of trade« geworden sind. Ohne besondere Rücksicht- nahme auf Arbeiterverhältnisse oder die Durchführung der Fabrik- und Werkstättengesetzgebung wird nämlich die allgemeine Lage der einzelnen Gewerbe beleuchtet. Dieses Vorgehen wird man ganz besonders gerechtfertigt finden, wenn man bedenkt, dass von manchen Seiten auch die strenge englische Fabrikgesetzgebung als Ursache des angeblichen Niederganges des britischen Nationalwohlstandes aufgeführt wurde. Der Chief Inspector geht nun zwar nicht direkt auf die Wider- legung dieses Angriffes ein. Dieselbe ergibt sich aber ohne weiteres aus den Worten, mit welchen er die Skizze über die allgemeine wirt- schaftliche Lage einleiten kann :

»Während des vergangenen Jahres, insbesondere während der zwei- ten Hälfte desselben, hat in fast allen Industriezweigen eine Zunahme des Vertrauens platz gegriffen. In einzelnen Gebieten , beispielsweise in dem Kammgarnbezirk von Bradford, herrschte sogar eine sehr aus- gesprochene Geschäftigkeit mit den Symptomen einer nicht nur krampf- artigen, sondern nachhaltigen Besserung. Der Schiffbau auf dem Clyde wies mehrere hoftnungerweckende Zeichen des Fortschrittes auf, und im allgemeinen ist der verzagende Ton, welcher die Industriebezirke sonst kennzeichnete, einer zuversichtlicheren Stimmung gewichen.«

Archiv Air sox. Gesetxgbg. u. Statistik- I, 12

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AfiszrlUn.

Auch die Baumwollspinnerei floriert wieder.

Man beachte, dass gerade die Textilindustrie, welche den schärfsten gesetzlichen Bestimmungen unterworfen ist, allenthalben wieder zu neuem, kräftigen Leben erwacht.

Allerdings gibt es auch einige Industrien, welche noch Not leiden. Daran trägt aber keineswegs die Arbeiterschutzgesetzgebung die Schuld. So liegt z. B. die Thonwarenerzeugung von Staffordshire darnieder wegen der zu geringen fachgewerblichen Ausbildung ihrer Handarbeiter.

»Die sich mehrende auswärtige Konkurrenz, besonders jene von Deutschland, hat die Töpfer von Staffordshire auf die Wichtigkeit einer fachgewci blichen Ausbildung der Handarbeiter aufmerksam gemacht; es ist nun in Vorschlag gebracht worden, ein Gewerbe- und Handels- museum in dem Zentrum des Töpfereibezirkes zu errichten und, wenn irgend thunlich, auch eine Fachschule. Wahrscheinlich gibt es kein Gewerbe, in welchem derartige Hilfsmittel einen grösseren Nutzen stiften würden als hier.«

Mit peinlicher Sorgfalt werden sodann , unverkennbar in engem Zusammenhänge mit den Fragen der Tagespolitik, auch die wirt- schaftlichen Verhältnisse Irlands beleuchtet. Da ist es vor allem eine grössere Ausbreitung des Flachsbaues, von welcher man be- deutsame wirtschaftliche Förderung gewärtigt. Zur Zeit wird nämlich ein grosser Teil des in Irland verarbeiteten Flachses aus Russland, Frankreich, Belgien etc. bezogen. Warum soll nicht der ganze Bedarf von dem irischen Pächter, diesem Schmerzenskinde der englischen Po- litik, produziert werden, da Irland seiner natürlichen Beschaffenheit nach sich vortrefflich für den Anbau jenes wichtigen Handelsgewächses eignet? Zudem wurde jüngst eine äusserst praktische Maschine zum Schwingen des Flachses erfunden, welche, wie man hofft, eine günstige Wirkung auf die Vermehrung der Flachskultur ausüben wird. Die Be- schreibung und das Lob dieser .scutching machine' füllen mehrere Seiten des Berichtes. Ihre Hauptvorzüge bestehen einmal darin, dass sie eine weit vollkommenere Verwertung des Rohmateriales, als sie bisher möglich war, gestattet , und zweitens , dass nun zum Schwin- gen des Flachses keine gelernte Arbeit mehr erforderlich ist. »Und dies ist umsomehr bemerkenswert , da bei der alten Manier des Flachsschwingens das Resultat grossenteils von der Geschicklichkeit des Arbeiters abhing.« Es bleibt auffallend, wie den referierenden Inspektor die Bewunderung und Freude an dem technischen Fort- schritte ganz vergessen lässt, dass letzterer für die nun entbehrlich gewordenen gelernten Arbeiter unverkennbar zu einer sozialen Beein- trächtigung ausschlägt.

So arbeitet denn die moderne Technik noch immer rastlos weiter an der Ersetzung des gelernten Arbeiters durch die Maschine. Dieser Prozess hat noch lange nicht seinen Abschluss erreicht. Es liegt aber

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Der kne r , Die englische Fabrikinspehtion etc. 179

unter diesen Umständen auf der Hand, wie geringe Aussichten für die Zukunft Organisationen beschieden sein müssen, deren Kern und Wesen der gelernte Arbeiter ausmacht.

Grosse Bedeutung wird ferner von der Regierung der Ausbreitung fachgewerblichen Unterrichtes in Irland zuerkannt. Durch denselben soll die noch zum grossen Teil von dem wenig lohnenden Ackerbau lebende irische Bevölkerung der rentableren Industrie zugeführt wer- den. »Dies ist ein im Lande allenthalben dringend gefühltes Bedürf- nis, und wenn ihm durchaus und in praktischer Weise genügt wird, kann es in den ärmeren Klassen in Irland nur zum grossen Nutzen gereichen, mit fremden Ländern in der Industrie zu konkurrieren.«

Wir können es uns nicht versagen, hier auch eine Stelle über die Lage der irischen Hausweber wiederzugeben. Man ist auf dem Kontinente bereits so gewohnt, Grossbritannien durchaus als Fa- brikland anzusehen, dass es nicht schaden kann, zu zeigen, wie auch in dem Inselreiche der Kampf zwischen Handstuhl und Maschinenstuhl noch immer nicht beendet worden ist. Und das gilt nicht nur von dem zurückgebliebenen Irland, auch in Lancashire findet sich noch immer eine beträchtliche Zahl von Hauswebern. Man vergleiche dar- über die Aussagen in der Enquete, welche 1878 die Wirkung der Fabrik- gesetzgebung zu ergründen hatte. Ueber die irischen Leinenweber nun berichtet der Inspektor:

»Seit März 1885 habe ich 785 Handstuhlweber in ihren eigenen Häusern besucht. Sie alle fallen unter die Wirksamkeit des .Domestic Worshop Act' von 1878, da sie alle Mitglieder einer in ihrem eigenen Heim arbeitenden Familie sind. In den Grafschaften Down und Ar- magh sind sie sehr zahlreich, und ich bedaure lebhaft, berichten zu müssen, dass diese Industrie, besonders die Erzeugung von Cambrik- batisttüchern , in einem sehr gedrückten Zustande sich befindet. Ich habe einen Brief von einem der grössten Verleger, in dem er mir mit- teilt, dass Männer, denen er Garn zum verweben ausgibt, bei nstün- diger Arbeit in der Woche durchschnittlich nur 5 s. 6 d. verdienen. Hiebei ist schon der Lohn für die Arbeit der Kinder des Webers inbegriffen , welche ihm das Garn zum Verweben vorbereiten. Des ferneren hat der Weber aus eigenem die Kosten für Schlichte, Werkzeuge und Beleuchtung zu bestreiten , letzteres ein bedeutsames Item in den Wintermonaten. Fast alle Weber beschäftigen ihre Kin- der in einem Alter von 6 Jahren aufwärts. Die Waren , welche von den Handstuhlwebern gefertigt werden , sind namentlich die hoch- feinen Leinentücher, die irischen Cambrikbatisttücher, Tischtücher u. s. w. Ich finde , dass die Zahl der Weber durch Auswanderung allmählich abnimmt. Jene, welche zur Zeit in dem Gewerbe beschäftigt sind, er- ziehen ihre Kinder nicht mehr für dasselbe. Ich habe immer bemerkt, dass die Weber sehr tleissige und hart arbeitende Männer sind ; nie-

12 *

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l8o Sfiszelltn.

mals sah ich einen bei meinen Besuchen müssig, obwohl sie unter keines Meisters Auge arbeiten. Ich finde, dass sie insgesamt ausser- ordentlich darauf bedacht sind, ihre Kinder zur Schule zu schicken: gleichwohl würde es bei solchem Verdienst fast unmöglich erscheinen, wenn alle nach dieser Richtung mit den Vorschriften des Fabrik- und Werkstättengesetzes sich in vollem Einklänge befinden sollten. Das Schulgeld beträgt einen Penny die Woche, und in den höheren Klassen steigt es sogar auf i ' * bis 2 Pence. In jenen Familien nun, in denen der Vater 5 s. 6 d. in der Woche verdient und noch 1 s. bis 1 s. 6 d. Rente zu bezahlen hat, dürften kaum noch Mittel für geistige Nahrung zu Gebote stehen, nachdem für die körperliche gesorgt worden. Dessen- ungeachtet findet sich, dass eine grosse Zahl von Webern ihre Kinder zur Schule schickt, da sie auf deren Erziehung grosses Gewicht legen. Die Weber bilden einen sehr beträchtlichen Teil der Grafschaften Down und Armagh, und es ist einigermassen auffallend, dass man nicht über Mittel beraten hat, wodurch sie in den Stand gesetzt würden, äussersten Falles freien Unterricht zu gemessen.«

Wir glauben dieser rührenden Skizze nichts weiter hinzufügen zu sollen.

Das Hauptaugenmerk des vorliegenden Berichtes erstreckt sich aber auf die Frage der Unfallverhütung und Gewerbehygiene über- haupt. Wenn die Zahl der Unfälle im letzten Jahre auch nicht zu- genommen hat, so ist sie doch immer noch eine erschreckend hohe.

»Die Voraussage , welche ich in meinem letzten Berichte auszu- sprechen wagte, dass die Zahl der Unfälle in den Fabriken ihr Maxi- mum erreicht haben würde, von dem wir nun eine stufenweise Vermin- derung erhoffen dürften, hat sich verwirklicht. Die Gesamtzahl der mir im vergangenen Jahre berichteten Unfälle betrug 6656 gegen 7623 im Vorjahre, also eine Verminderung von 967 oder ungefähr i3"/n. Die Abnahme hat sich auf jede Gattung von Unfällen erstreckt; bei denen mit tötlichem Ausgange hat sogar eine Abnahme von 17 ”/i> stattgefunden.« Doch muss der Berichterstatter hinzufügen: »Ein Teil der Verminde- rung ist aber sonder Zweifel zurückzuführen auf den Stillstand in Handel und Gewerbe, während dessen ein Teil der Fabriken ganz geschlossen war, ein anderer aber mit kurzer Stundenzahl arbeitete ; aber immerhin glaube ich, dass die sehr grosse Aufmerksamkeit, welche die Inspek- toren der Verhütung von Unfällen zuwandten, ferner die gesteigerte Notwendigkeit, gefährliche Maschinen einzuhegen, wie es in dem Fabrik- gesetze von 1878 geboten worden, und die heilsame Wirkung der Be- stimmungen des Haftpflichtgesetzes (Employer's Liability Act), dass alle diese Momente, jeder in seiner Weise, einen beträchtlichen Einfluss auf die Verminderung der abwendbaren Unfälle ausgeübt haben.«

Namentlich mag wohl die Verschärfung der Haftpflicht segens- reiche Folgen aufzuweisen haben. Die englischen Unternehmer scheinen

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H e r k ner , Die englische Fabrikinspektion etc. 181

jetzt ein grosses Interesse für Vorsichtsmassregeln zu hegen, und daher auch die Enquete, welche der Chief Inspector in dem vorliegenden Berichte über die zweckmässigsten Schutzvorrichtungen veranlasst hat. Die Inspektoren werden nämlich häufig von den Unternehmern über die Art und Weise befragt, in welcher die beanstandeten Mängel be- seitigt werden könnten. Um die Beamten nun in den Stand zu setzen, richtige Ratschläge zu erteilen, werden in dem Berichte die einzelnen Apparate, welche zur Sicherung des Lebens und der Gesundheit der Arbeiter an den Maschinen und in den Fabriken anzubringen sind, ge- nau beschrieben , durch instruktive Zeichnungen veranschaulicht und auch nach den Kosten, die sie verursachen, beurteilt. Auf diese rein technischen Fragen können wir uns selbstredend nicht weiter einlassen.

Der Anzeigepflicht, welche bezüglich der L'nfalle besteht, wird im allgemeinen zur Zufriedenheit genügt. Nur in den Steinbrüchen er- folgen häufig schwere Verletzungen, von denen die Behörde nicht unter- richtet wird. Der Grund liegt darin, dass die Steinbriiche nur wenn bei ihnen Dampf- oder Wasserkraft verwendet oder geschützte Per- sonen beschäftigt werden, unter das Gesetz fallen. Hier hätte also eine legislative Reform einzugreifen.

Folgendes ist für das Berichtsjahr die Statistik der tötlichen Unfälle und jener, die durch Maschinen verursacht wurden :

Art der Verletzung

Erwachsene

Jung. Personen

Kinder

Zusammen

Männl.

1 .

1 £ 1 0 £

3

a

s

Wcibl.

1 IS 1 I

«■

a

Weibl.

1

3

s

*

1

fl

Tätlich

267

2

38

4

4 j

t

309

7

3>6

Amputation der rechten

Hand oder Armes

*3

2

14

I

1

38

3

4>

Amputation der linken

1

Hand oder Armes

22

3

8

3

2

32

6

38

Amputation eines Teiles

der rechten Hand

208

>39

67

25

9

372

126

498

Amputation eines Teiles

der linken Hand

205

49

»3

44

16

3

334

96

43»

Amputation eines Teiles

1

des Beines oder Fusses

3< I

2 i

8

39

2

41

Bruch eines Gliedes oder

1

eines Rumpfknochens

176

27

85

24

9 i

I

270

5*

322

Bruch von Hand oderFuss

"3

1 24

! 59

»7

, >5

3

.s?

54

241

Verletzungen an Kopf

1

oder Gesicht

398

93

100

42

>9

IO

5 >7

>45

662

Diverse Verletzungen

2044

435

1 1048

358

132

3224

843

4067

Summe

3487

687

i 1612

570

223

77

5322

>334

6656

Leider lässt diese statistische Zusammenstellung ungemein viel zu wünschen übrig. Man erfährt vor allem nicht, wie gross die Zahl der Arbeiter ist, auf welche sie sich bezieht, noch welchen Gewerben sie

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182

Mistellen.

angehören; nicht, wie lange die durch die Unfälle verursachte Arbeits- unfähigkeit währte, in welchen Fällen der Unternehmer zu Schadens- ersätze verpflichtet wurde, wie viel Fälle gütlich , wie viele gerichtlich geschlichtet werden mussten u. s. w.

Wie auch aus den Darlegungen ßaernreither’s (Die englischen Arbeiterverbände und ihr Recht) hervorgeht, steckt die Frage der Un- fallversicherung in England noch in den Kinderschuhen. Leicht erklär- lich, dass deshalb auch die Unfallstatistik trotz der Anzeigepflicht noch einen derartig mangelhaften Charakter trägt, einen Charakter, der selbst Schlüsse, ob thatsächliche Fortschritte in der Vermeidung von Unfällen eingetreten sind, als gewagt erscheinen lassen muss.

Einen anderen . dunklen Punkt des Berichtes bilden die Ausfüh- rungen über das Trucksystem. Trotz der Truckakte ist es immer noch nicht gelungen , das Trucksystem unter den hausindustriellen Ketten- und Nagelschmieden von Staflordshire, Warwickshire und War- cestershire auszurotten. Der Inspektor jener Gegenden schreibt über die Art und Weise, in der es ausgefuhrt wird, folgendes;

»Der Arbeiter geht zum Verleger und fragt, ob es für ihn Arbeit gibt. Der Unternehmer sagt: Ich habe einen Auftrag hier: vermutlich bedürft Ihr einer Ladung Kohlen r Verneint der Arbeiter, so erhält er zwar noch diesen Auftrag, aber keinen mehr in Zukunft.«

»Ein Kettenschmied erzählte mir in dieser Woche, dass er seinem Verleger 15 sh für Kohlen bezahlen müsse, welche er nur für 7 s ver- kaufen könne. Der ungeheure Gewinn, welche von den L^nternehntern dergestalt erzielt wird, befähigt sie, die Ketten beinahe zu den Selbst- kostenpreisen zu verkaufen. So wirkt das System in einem zwiefachen Sinne schädigend gegen den Arbeiter, der überdies noch, wenn ein Kettenglied auch nur den geringsten Fehler aufweist, Geldstrafen zu bezahlen hat.«

»Arbeiter, welche solche Mitteilungen machen, pflegen hinzuzufügen: »Doch verraten Sie nicht, dass ich etwas gesagt habe; wenn Sie es thun, bin ich ruiniert. <<

Dergestalt erweisen sich Gesetz und Inspektion gegenüber dem Uebel machtlos. Der einzige Weg, den Verlegern beizukommen, läge noch in einer strammen Organisation der Arbeitnehmer. Anläufe dazu werden, wie der Inspektor mitteilt, eben unternommen.

Die bekannte Thatsache , dass in Grossbritannien wohl die Fa- brikgesetze jim engeren Sinne) , nicht aber das Werkstätten- und Hausindustriegesetz streng durchgeführt worden, wird auch in dem vorliegenden Berichte wiederum bestätigt. Noch immer werden im Kleingewerbe die Lehrlinge weit über die zulässige Stundenanzahl hinaus beschäftigt. In den l.ehrlingsverträgcn wird den Meistern nämlich in der Regel zugestanden , dass sie sich der Lehrlinge nicht nur zu den Arbeiten des Faches, sondern auch noch zu allen

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Iltrkner, Die englische Fabrikinspektion etc. 183

möglichen anderen Beschäftigungen und Besorgungen bedienen dürfen. »Diese Abmachungen , zuweilen aus einem vergilbten Gesetzbuche von einem Dorfschreiber abgeschrieben , sind in der That verhäng- nisvoll in ihrer Wirkung. Bei tyrannischen oder übelwollenden Mei- stern bieten sie nur, zu oft die Handhabe zu einer grossen Grau- samkeit , von deren Bestände die meisten Leute heutzutage kaum eine Ahnung haben.« Namentlich wird dadurch aber jede Kontrolle über die thatsächlich von den Lehrlingen geleistete Arbeitszeit illu- sorisch.

Einen der grössten Vorzüge der englischen Berichte bildet wohl die vollständige Mitteilung der von den Inspektoren eingeleiteten Anklagen und der daraufhin erfolgten Verurteilungen. In dem Ap- pendix Nr. 1 werden nicht nur die Namen der die Untersuchung einleitenden Inspektoren , der kontravenierenden Unternehmer und der aburteilenden Behörden, sondern auch die Natur der Uebertretung und die Höhe des Strafmasses aufgeführt. Im ganzen wurden im Berichtsjahre 1635 Anzeigen erstattet; in 1432 Fällen fand eine Ver- urteilung statt, in 172 nur eine solche in die Kosten des Verfahrens; 31 Anzeigen wurden als unbegründet zurückgewiesen; 372 Verurtei- lungen ergingen wegen Beschäftigung geschützter Personen vor oder nach der vom Gesetze bestimmten Zeit ; 357 wegen Beschäftigung während der für Mahlzeiten vorgeschriebenen Frist ; 238 wegen Be- schäftigung an gesetzlichen Feier- oder Halbfeiertagen; in 234 Fällen wurden Kinder oder junge Personen unter 16 Jahren ohne das vorge- schriebene ärztliche Tauglichkeitszeugnis beschäftigt ; 47 Verurteilungen ergingen wegen Fehlens der vorgeschriebenen Arbeiterverzeichnisse. Andere Uebertretungen der Arbeiterschutzgesetze kamen nur verein- zelt vor.

Wie ersichtlich, mangelt es dem vorliegenden Berichte keineswegs an einer Menge höchst interessanter Materien. Wer aber mit seiner Hilfe sich ein vollständiges und klares Bild von der gegenwärtigen Lage der arbeitenden Klasse in England entwerfen wollte, dem würde er nur zu oft Enttäuschungen bereiten. Und dennoch, soll der soziale Organismus in seiner Wirklichkeit scharf erfasst werden , müssen uns fortlaufende . systematisch angelegte Berichte über die sozialen und ökonomischen Zustände des Volkes zu Gebote stehen. Wenn auch in England dank seiner meist vortrefflichen Enqueten das authentische Material darüber noch am reichlichsten fliesst, so entspricht es doch noch lange nicht selbst sehr billigen Anforderungen der Wissenschaft und Praxis. Es liegt uns ferne, der englischen Fabrikinspektion deswegen einen Vorwurf zu machen. Ihre Aufgabe ist es in erster Linie die Durchführung der Arbeiterschutzgesetzgebung zu gewährleisten , und dieser Aufgabe sucht sie nach besten Kräften gerecht zu werden. Würde ihr eine grössere arbeits-statistische Thätigkeit zugewiesen, so

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184

Misulien.

müsste notwendig die erstgenannte Aufgabe darunter leiden. Dieser Umstand kann uns aber nicht zu einem Verzichte auf die oben ange- führten Postulate bewegen, sondern lässt uns die Notwendigkeit einer I’tlege der Arbeitsstatistik durch neu zu schaffende Verwaltungsbehörden nur um so lebhafter betonen. Es bleibt eben auch in England noch unendlich viel zu thun übrig.

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LITTERATUR.

Knapp, Georg Friedrich, Die Bauern- Befreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den älteren Teilen Preussens. Erster Teil: Ueber- blick der Entwicklung. Zweiter Teil: Die Regulierung der gutsherrlich- bäuerlichen Verhältnisse von 1706 1857, nach den Akten. Leipzig, Verlag von Duncker und Humblot, 1887. 8“, 352 S. u. 473 S.

»Die Geschichte der Bauernbefreiung ist die Geschichte der sozialen Frage des 18. Jahrhunderts«, sagt der Verfasser in seiner Vorrede. Für die soziale Frage des 19. Jahrhunderts hält er natürlich die Arbeiter- frage. Den Zusammenhang der sozialen Frage des 18. Jahrhunderts und der ländlichen Arbeiterfrage klarzustellen, gehört mit zur Aufgabe seiner Untersuchung. Schon aus dieser kurzen und allgemeinen In- haltsangabe obiger Arbeit kann man sehen, welches hohe Interesse die- selbe für jeden haben muss, der den Entstehungsbedingungen der heu- tigen Gesellschaftsordnung seine Aufmerksamkeit widmet. Von diesem Gesichtspunkt betrachtet denn auch der Verfasser ausdrücklich sein Thema. »Unser Gegenstand, sagt er, ist nicht die Landeskulturgesetz- gebung in dem Sinne, wie dies Wort in Preussen gebraucht wird, um eine Gruppe von Gesetzen seit 1807 zusammenzufassen. . . Die Landes- kulturgesetzgebung ist ihrem Wesen nach hauptsächlich dahin gerichtet, Hindernisse aus dem Wege zu räumen, durch welche die Landwirtschaft beengt war. Hier aber handelt es sich nicht um die Landwirtschaft sondern um die in derselben beschäftigten Menschen, um die ländliche Verfassung, um die Beziehungen der gesellschaftlichen Klassen zu ein- ander, um die Stellung des Staates zu diesen Klassen. Indem wir die Befreiung der Bauern und den Ursprung der Landarbeiter erforschen, beschäftigen wir uns mit der sozialpolitischen Geschichte der länd- lichen Bevölkerung.« Gemäss dieser Aufgabe verfolgt der Verfasser, wie er selbst in der Vorrede erklärt, das ausgesprochene Ziel: »die sozialpolitische Seite der Entwicklung möglichst scharf hervortreten zu lassen.« In der That wird diese Seite der Entwicklung allenthalben vom Verfasser sehr plastisch dargestellt. Auch in der Skizze der Ge- schichte der Bauern in den bezeichneten Provinzen, die den Inhalt der Einleitung bildet, legt der Verfasser sehr deutlich die politischen und

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staatlichen Erwägungen klar, die den Bauernschutz sowie die Sorge um die Erhaltung und möglichste Ausbreitung dieses Standes veran- lassten. Unter dem Einfluss solcher Erwägungen entstand auch am Anfang des 18. Jahrhunderts der erste Gedanke der Bauernbefreiung, als eine Auswanderung von Bauern in das benachbarte Polen zu be- merken war; auf diese Weise machte die Zuweisung des Besitzrechts an die Bauern der Staatsdomänen es möglich, aus letztem eine nicht unwichtige finanzielle Einnahme zu erhalten. Ferner schildert der Verfasser im ersten Kapitel stufenweise die verschiedenen Phasen in der Geschichte der Befreiung der Domänenbauern und gibt eine Dar- stellung der Bedingungen, unter denen diese Befreiung vor sich gieng. Und man muss anerkennen, dass obwohl die geschichtliche Darstellung der Frage auch bezeugt, dass bei ihrer Lösung nicht so sehr die In- teressen der Befreiten in Betracht kamen, als die angeführten sozial- politischen Erwägungen, doch im gegebenen Fall beide Momente so glücklich zusammentrafen, dass die Befreiung der Domänenbauern unter verhältnismässig günstigen Bedingungen für die letztem vor sich gieng. »Der Domänenbauer*, sagt der Verfasser, »wurde persönlich frei, die auf seinem Besitze ruhenden Lasten, besonders die dem herrschaftlichen Gute zu leistenden Frohndienste verschwanden, und sein Besitzrecht hat sich stufenweise bis zum Eigentum verbessert*.

Nicht so ging die Befreiung der Privatbauern vor sich, deren Ge- schichte die folgenden vier Kapitel des ersten Teils gewidmet sind. Hier hatte man es mit Konzessionen an die Gutsherrn zu thun, die ihre Interessen sehr kräftig verteidigten; von einem Zusammenfallen ihrer Interessen mit den Interessen der Bauern konnte keine Rede sein. Die Interessen der Gutsherrn verlangten, dass das Land ihnen verblieb, dass sie auch die Verfügung über die Arbeitskraft der Bauern behielten, und dass selbst das Recht auf Freiheit ihnen von den Bauern abge- kauft wurde. Die Interessen der Bauern waren in allem diametral ent- gegengesetzt. Die Interessen des Staats verlangten die Erhaltung des Bauernstandes, fielen also in diesem Punkt nicht mit den Interessen der Gutsherrn, sondern mit denen der Bauern zusammen. Alles dies verzögerte erstens das ins Lebentreten der Reform , und zweitens rief sie dieselbe in einer Art ins Leben, dass die Interessen der Gutsherrn ein so bedeutendes Uebergewicht erlangten, dass es gar nicht mehr fraglich bleibt, wer einen gTössern materiellen Vorteil bei der Befrei- ung der Bauern erzielte diese oder die Gutsherrn. Die Bestreb- ungen der letztem treten besonders plastisch hervor in einer ganzen Reihe von Eingaben, die der Verfasser im zweiten Teil seiner Arbeit anführt. Hieraus sehen wir, dass in dem Augenblick, wo die heilige Fahne des Eigentums aufgepflanzt wurde, im Namen desselben der Anspruch auf das ganze Bauernland erhoben wurde, dass die Befürch- tung ausgesprochen wurde, dass die Gutsherrn ohne Arbeiter bleiben

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würden, nach denen das Bedürfnis wachse, da die Gutsherrn sich jetzt auch mit Bearbeitung des Landes befassen müssten , das , bisher den Bauern gehörig, in ihren Besitz jetzt übergehe. Wir begnügen uns mit dem Hinweis hierauf, ohne Auszüge aus den vom Verfasser beigc- brachten Originaldokumenten anzuführen, da der Charakter der in ihnen ausgesprochenen Bestrebungen überall derselbe ist, und sie anführen, hiesse einen bedeutenden Teil der Arbeit Knapp ’s zum Abdruck bringen. Eine natürliche Folge dieser Bestrebungen war bei dem politischen Uebergewicht der Interessen der Gutsherrn, dass »sowohl bei der Re- gulierung 1816, als bei der Ablösung der Reallasten 1821, nur die spannfähigen Bauern und was die Regulierung betrifft, nicht einmal alle spannfahigen davon Gebrauch machen durften.« Später im Jahr 1850, als man den früheren Fehler gulmachen wollte, war es schon zu spät im Hinblick auf die bereits faktisch eingetretenen Verände- rungen: »insbesondere waren die spannlosen Lassbesitzer die nun auch hätten Eigentümer werden können nicht mehr vollzählig da, sie hatten sich grossenteils in Tagelöhner verwandelt.« Die weiter Kapitel VI § 2 angeführte Statistik des Befreiungswerks lässt, so un- vollständig sie ist, doch vollkommen den Schluss zu, dass nicht ent- fernt die Masse der spannfähigen Bauern geschweige die übrigen der Regulierung teilhaftig wurden. Was die Folgen der Befreiung für die Wirtschaft betriftt, so waren sie auch nicht glänzend für die Bauern- schaft, wohl aber oft für die Gutsherrn. Am Beginn des ihrer Schilde- rung gewidmeten Kapitels (VI) sagt auch der Verfasser: »Nicht überall sind die Ergebnisse der Neuordnung sofort segensreich gewesen.« Selbst die Domänenbauern waren mit Abgaben verschiedener Art be- lastet und viele sind dadurch untergegangen ; die Lage der Privatbauern war noch trauriger. Was die Gutsherrn betrifft, so war, obwohl wir auch Zeichen begegnen, dass vielen das erhaltene Land zur Last fiel, doch diese Schwierigkeit nicht derart, um die Gutsherrn zu veranlassen, auf die Einnahmen zu verzichten, welche sie durch Verpachtung, durch die Gemeinheitsteilung, durch Anwendung von Lohnarbeit, überhaupt durch Ausbeutung des Bodens nach den Prinzipien der Geldwirtschaft an Stelle der früheren Naturalwirtschaft, deren Existenz nicht mehr dem geänderten ökonomischen Verhältnis entsprach und auch die Aufhebung der Unterthänigkeit forderte, erlangten.

Besonders günstig im Sinn der Interessen der Gutsherrn wurde die Reform in Schlesien ausgeführt. Die Folge davon war, dass »schon im Dezember 1848 die Aufregung unter den beweglichen Schlesiern so hoch gestiegen (war), dass an vielen Orten die Dienste und übrigen Leistungen der Bauern und kleinen Leute einfach verweigert wurden: rohe Auftritte, Bedrohung des Lebens und des Eigentums der Grund- herrn kamen vor, und man wagte nicht mehr die gesetzlichen Mittel zur Erzwingung der bäuerlichen Dienste in Anspruch zu nehmen.«

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Im letzten Kapitel des ersten Teils gibt der Verfasser eine Dar- stellung, auf welche Weise die Bauernbefreiung zur unmittelbaren Folge die Bildung einer Klasse von Landarbeitern hatte, deren Lage der Ver- fasser zum Teil auch dort schildert. Aus dem früher Gesagten ist schon ersichtlich, dass die den Interessen der Gutsherrn bewiesene Bevorzugung dazu führen musste. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass bei weitem nicht alle spannfahigen Bauern reguliert wurden, geschweige denn die spannlosen Bauern. Auf diese Weise mussten sie alle der Klasse der Bevölkerung verfallen, die ausschliess- lich von der Verwendung ihrer Arbeitskraft auf fremdem Boden lebt. Viele von ihnen waren dazu sozusagen befestigt an ihrem Aufenthalts- ort, da sie eine Hofstatte besassen ; dieser Umstand brachte sie schliess- lich in die Gewalt der benachbarten Gutsherrn und erlaubte eine er- giebigere Ausbeutung ihrer Arbeitskraft.

Auf diese Weise wird durch die Untersuchung des Verfassers voll- kommen klar gestellt , worin der Ursprung einer eigenen Klasse von Landarbeitern, die nach der Beobachtung aller Forscher die am tief- stehendste Klasse der gesamten Arbeiterbevölkerung bildet, zu finden ist. Unter diesen Umstanden ist es desto sonderbarer, dass der Ver- fasser im Schlusskapitel, das ein Resümee der ganzen Untersuchung bildet, wo er die Mängel der Reform bezeichnet, die nicht auf Grund späterer Erfahrung, sondern im Moment der Einführung der Reform auf Grund des bereits für die Domänenbauern geleisteten, hätten wahr- genommen und beseitigt werden können, hinsichtlich der Bildung einer Arbeitsklasse sagt :

»Dass die Inhaber spannloser Stellen, sowohl bei den Domänen- gütern in den meisten , als bei den Privatgütern in allen Provinzen von der Regulierung t8i6 und von der Ablösung 1821 ausgeschlossen wurden ist nicht so streng zu beurteilen: da einmal die grossen Güter bestehen blieben, konnten ihnen die Handdienste nicht auf einmal ent- zogen werden. Ferner hat die damalige Zeit eigentlich nur die wirk- lichen Bauern beachtet ; was tiefer, als diese, stand, bildete noch keinen Gegenstand der Aufmerksamkeit, und es fragt sich, ob die Grundsätze der Entschädigung, die für die eigentlichen Bauern schon hart genug waren, für die kleinen Leute überhaupt gepasst hätten« (S. 317 318). So sehen wir hier im graden Gegensatz zu seiner ganzen Untersuchung den Verfasser in der Rolle eines Verteidigers der von den Gutsherrn verfolgten Interessen. Um die Unhaltbarkeit des ersten Arguments des Verfassers zu zeigen, ist es nicht nötig, Thatsachen und Erwägungen in Betracht zu ziehen, die ausserhalb des Rahmens seiner Arbeit liegen, sondern es genügt ein Blick auf S. 318, wo der Verfasser bei Verglei- chung der Bauernbefreiung in Preussen und Schleswig- Holstein darauf hinweist, dass in letzterem Lande die Gutsherrn ihre Besitzungen nutz- bar machten, indem sie sie parzellenweise an die Bauern verpachteten,

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wodurch die Zahl der kleinen Bauernwirtschaften vergrüssert wurde, und darauf hinzufügt : »Dies ist in Preussen nicht geschehen, der grosse Outsbetrieb bestand weiter, wodurch die Unregulierbarkeit der kleinen Stellen, später die Entstehung einer grossen Zahl landloser Arbeiter gegeben war«. Hieraus ist nicht schwer zu erkennen, dass nicht die Interessen der Landwirtschaft, sondern nur die Interessen des Gross- grundbesitzes die Bildung einer Klasse von Landarbeitern bewirkten, und es ist völlig unbegreiflich, wesshalb hierzu eine andere Stellung geboten ist, als zu sonstigen Mängeln der Reform. Es ist gewiss auch schwer, der Behauptung zuzustinimen, dass damals im allgemeinen nur die Bauern in Betracht kamen, schwer nicht nur, weil grade dies der Reform zum Vorwurf gereicht, sondern auch weil die Gutsherrn aus- drücklich die Arbeiter im Auge hatten und gerade dabei interessiert waren, eine Klasse derselben für ihre Besitzungen zu schaffen. Das Schicksal und die Lage einer solchen Klasse zu übersehen , war unter diesen Umstanden nicht möglich, und folglich kann man gerade die absichtliche Ignorierung ihrer Interessen voraussetzen , was auch der Verfasser gleich darauf bestätigt. »Für sie zu sorgen, hätte die Auf- gabe der Gesetzgebung vom Jahr 1848 an bilden sollen; es geschah aber nicht, und die Reformgesetzgebung liess die Arbeiterverhältnisse nach Aufhebung der Unterlhänigkeit unberührt«. Es ist klar, dass hier dieselben sozialpolitischen Einwirkungen thätig waren , welche im all- gemeinen auf die Mängel der Reform von Einfluss waren, und deren Einfluss auch heute noch fortwirkt sowohl in Bezug auf die Lage der Landarbeiter als in Bezug auf die heutige deutsche Gesetzgebung, die die Kornzölle einfuhrt und erhöht. Auch 1848 hätte man den Landar- beitern Beachtung schenken müssen, da es nicht möglich war, sich nur auf die Lage der Bauern zu beschränken, allein es geschah nicht.

Was die letzte Erwägung betreffs der Schwere der Entschädigung anlangt , die die kleinen Leute zu zahlen gehabt hätten , so bildet sie in Wirklichkeit nur einen Widerspruch gegen die Bestimmung des Res- kripts vom 2. Oktober 1818, gemäss welchem »unter allen Umständen die Gutsherrn das Recht haben, für die bisherigen Leistungen der Bauern und ihre sonstigen aus den Bauernhöfen bezogenen Vorteile vollständige Entschädigung zu fordern«. So waren auf Seite der Bauern alle Opfer; sogar die Freiheit, welche der Staat ihnen zu geben für notwendig erachtete, da er es für undenkbar hielt, die Unfreiheit zu belassen, mussten die Bauern erkaufen. Das Recht der Gutsherrn, die bäuerlichen Dienste umsonst zu erhalten, wurde im Prinzip aufge- geben, aber gleichzeitig musste der Bauer das Recht, diese Dienste nicht zu leisten, erkaufen. Nichts kann deutlicher sein zur Beurteilung, in wessen Interesse die Reform zu Stande gebracht wurde, und wer dabei profitierte.

Wir erwähnten schon , dass das Schlusskapitel ein Resümee der

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ganzen Arbeit bildet; wir benutzten es auch in vorliegender Auseinan- dersetzung zur kurzen Charakteristik der einen oder andern Seite der Reform. Aber es versteht sich von selbst, dass dieses Resümee und ebenso auch unsere Auseinandersetzung nur ein schwaches Bild dessen gewährt, was man aus der Lektüre der ganzen Arbeit gewinnt. Die- selbe gewährt die Möglichkeit, Schritt für Schritt den Anfang der Re- form, ihre Entwicklung und die Veränderungen zu verfolgen, die in ihr vor sich gingen unter dem Einfluss des Eindringens der durch das Re- formwerk berührten Gutsherminteressen. Die an und für sich klare und genaue Schilderung der Thatsachen seitens des Verfassers erhält eine noch grössere Durchsichtigkeit, wenn man neben der Lektüre des ersten Bandes sich zugleich mit den Quellen bekannt macht, die der ganzen Darstellung des Verfassers zur Grundlage dienen und den zweiten Teil seiner Arbeit ausfüllen. Das ganze Werk liest man von Anfang bis zu Ende mit ungeschwächtem Interesse, und man sieht sich unauf- hörlich aufgefordert zur Vergleichung mit den Entstehungsbedingungen, der Existenz und der Art der Veränderungen des bäuerlichen Rechts in andern Ländern. Das gemeinsame , was das Bauernrecht in sich haben muss und wirklich in sich hat, selbst in solchen Ländern , die wie Russland und Preussen offenbar völlig verschieden in historischer und politischer Hinsicht sind, drängt sich unwillkürlich beim Lesen der Arbeit von Knapp auf. Die Allgemeinheit und Gleichmässigkeit in der Bildung und Entwicklung der gesellschaftlichen Lebensformen bleibt augenscheinlich, und eine solche Aufhellung der Thatsachen bildet unzweifelhaft ein Verdienst des Buches. Der Verfasser selbst nimmt eine solche Vergleichung und Zusammenstellung mit dem Ent- wicklungsgang der Aufhebung der Leibeigenschaft in andern Ländern nur sehr kurz im Schlusskapitel des ersten Teils vor. Dabei zieht der Verfasser bei Erwähnung der Aufhebung der Leibeigenschaft in Russ- land keine Parallele zwischen letzterem und Preussen, indem er findet, dass »Russland, von uns aus gesehen, zu fremdartig ist«. Er schildert dann auf einigen Zeilen die Umstände der Aufhebung der Leibeigen- schaft in Russland, ohne den Unterschied zwischen ihnen und der Be- freiung in Preussen zu bemerken und ohne auf das gemeinsame, das sich hier und dort vorfindet, hinzuweisen. Am Schluss des über Russ- land gesagten schreibt der Verfasser : »Auch ist klar, dass neue Arbeiter- klassen entstehen mussten, für die nichts vorgesehen ist*. Die letzte Behauptung weist auf eine Aehnlichkeit des Resultats der Reform in Preussen und Russland hin, aber in einem Punkt wo sie in Wirklichkeit nicht vorhanden ist, während völlig unbemerkt bleibt, was thatsächlich hier und dort mit gleicher Kraft sich geltend machte , und was vom Standpunkt des Verfassers, der hauptsächlich die sozialpolitische Seite im Auge hatte, besondere Aufmerksamkeit verdient.

Die Sache liegt so, dass in Preussen, wie dies glänzend durch die

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ganze Untersuchung bewiesen wird, gleichzeitig mit der Aufhebung der Unterthänigkeit die Bildung einer eigenen Klasse von Landarbeitern vor sich ging; in Russland geschah nichts Aehnliches und hat sich so- gar bis heute, nach Verlauf von mehr als 25 Jahren nach der Reform eine besondere Klasse von Landarbeitern nicht gebildet, und zwar weil die Entstehung einer solchen Bevblkerungsklasse von vornherein in das Auge gefasst und dieser Gefahr durch die prinzipielle Gestalt des Reformwerks entgegengetreten wurde. Die entscheidende Grund- bestimmung lautet: Befreiung der Bauern und als beste Garantie für die Sicherung des Landes in den Händen der Bauern : Erhaltung des Gemeindebesitzes. Einige Schriftsteller freilich erblicken gerade einen Mangel der Reform in Russland darin, dass nichts für die Schöpfung einer Klasse von Landarbeitern gethan wurde. »Man wollte«, schreibt Dr. I. Engelmann, »nichts davon wissen, dass ein Volk nur prosperieren könne, wenn es einen Kern bäuerlicher Landwirte gebe, und um diese die übrigen als Handwerker und Arbeiter sich gruppieren müssen, dass es stets Arme und Reiche, stets in grosser Anzahl Arbeiter geben werde, die nur auf ihrer Hände Arbeit angewiesen sind, dass die Not- wendigkeit,'nur durch eigene Arbeit fortzukommen, ein mächtiger An- trieb zu gedeihlicher Thätigkeit sei, dass besonders eine aus der Lei b- eigenschaft zu entlassende Bauernschaft solcher Antriebe bedürfe« '). Andere Schriftsteller verhalten sich aber vollkommen anders zu jenem Resultat der Reform und, weit entfernt die schwachen Seiten der letz- teren aus dem Auge zu verlieren bezeugen sie doch , dass durch die- selbe eine besondere Arbeiterklasse nicht geschaffen wurde '). Die ganze Geschichte der Reform in Russland beweist, dass sobald auf Seite der Gutsbesitzer tias Bestreben sich zeigte , das Reformwerk in der Art zu leiten , dass den grossen Gütern Landarbeiter gesichert blieben, seitens der Regierungskommissionen dagegen als Hauptgrund- satz aufgestellt wurde: Befreiung der Bauern, um die Bildung einer herumziehenden Arbeiterklasse zu hindern. Sogar für die Schichten der leibeigenen Bevölkerung, welche nicht Landwirte, sondern in Fab- riken und Werkstätten beschäftigt waren, wurde die Möglichkeit zuge- lassen, durch Ansiedlung auf den Krondomänen sich mit Land zu ver- sehen, und die Uebersiedlung dorthin wurde auch den Bauern derjenigen Güter gestattet, wo sie infolge der geringfügigen Grösse jener Güter mit Land nicht bedacht werden konnten. Auch die Taglöhner der

1) Die Leibeigenschaft in Russland. F.ine rechtshistorische Studie von I)r J Engcl- mann, ord. Professor des russischen Rechts an der Universität Dorpat. Dorpat 1SS4 S. 310 311.

2) Prof. Jwnnjukow, Der Fall der Leibeigenschaft in Russland. St. Petersburg 1882 Vgl. auch Prof. J. K. Janson : Versuch einer statistischen Untersuchung über die Landanteile und Steuenahlung der Hauern 1881.

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Inflandschen Kreise ries Gouvernement Witebsk hatten hierauf Anspruch. Diese Aufzählung der Kategorien von Personen, die das Hecht der Ansiedlung auf den Krondomänen hatten , weist darauf hin, wie folge- richtig in der Reform der Gedanke, allen aus der Leibeigenschaft Be- freiten Land zuzuteilen, durchgefiihrt wurde. Auf diese' Weise war mit den Berlingungen rler Aufhebung der Leibeigenschaft in Russland nicht die Grundlage für die Schöpfung einer besondern Arbeiterklasse ge- geben, und was speziell die Landarbeiter betrifft, so hat sich eine solche Bevölkerungsklasse in Russland auch bis auf den heutigen Tag nicht gebildet. Die ganze Bearbeitung des Landes der Privatbesitzer wird von Bauern entweder aus den benachbarten üorfschaften oder auch aus entfernten Gegenden besorgt, sie bilden aber nicht eine be- sondere Bevölkerungsklasse, die dauernd die sozialökonomische Funktion rler Bearbeitung fremden Bodens erfüllte. Der Bestand dieser Arbeiter ist ein wechselnder; es sinrl Bauern, die Land besitzen, aber in einem Jahre seine Bearbeitung aufgegeben, weil ihre Familie, die sie zu Hause gelassen, das besorgt; im nächsten Jahr kann an Stelle des betreffenden Arbeiters ein anderes Familienglied treten ; es kann aber auch ge- schehen, dass überhaupt niemand auf Arbeit ausgeht. Um es kurz zu sagen, es handelt sich dabei nicht um eine Bevölkerung, die des Grundbesitzes entbehrt oder nur eine Hofstätte und dazu ein kleines Stück Land besitzt, sondern es sind durchwegs Bauern.

Sogar die Fabrikarbeiter, unter welchen schon «1er Kern einer wirklichen Arbeiterklasse besteht, die keine Flxistenzmittel ausser der eigenen Arbeitskraft besitzt, sind im beträchtlichen Umfang Bauern, die zeitweilig die Landwirtschaft aufgegeben haben, und zwar so, dass z. B. im Gouvernement Moskau in den letzten Jahren der Fabrikkrisis viele Fabrikarbeiter sich wiedeT «ier Landwirtschaft zuwandten, indem sie wieder in den Besitz ihres Landes eintraten, dessen Bebauung in der Zwischenzeit die Gemeinde oder einzelne Mitglieder derselben besorgt hatten. Aber auch diese Kategorie von Fabrikarbeitern, die man als eine besondere Klasse ansehen kann, entstand lange vor der Reform von 1861. So liegt denn gerade der Hauptvorzug der Aufhebung «ier Leibeigenschaft in Russland in der Befreiung der ganzen Masse der Bauernschaft, während das Beispiel Preussens und anderer westeuro- päischer Staaten jederzeit für die an der Reformarbeit Thätigen als Warnung diente vor den F’olgen einer Befreiung der Bauern, die sie nicht gleichzeitig mit Land ausstattete, und konsequent wurden auch alle Anstrengungen dahin gerichtet, um solche Folgen zu vermeiden. In dieser Richtung waren Presse und Gesellschaft thätig, mit Ausnahme des Teils der letztem, der sein Spezialorgan im »Journal der Gutsbe- besitzer» hatte und Bestrebungen kundgab, die völlig mit denen der preussischen Gutsbesitzer übereinstimmten. Schliesslich blieben diese Bestrebungen auf die Resultate der Reform nicht ohne Einfluss. Der

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letztere sprach sich darin aus, dass der ursprünglich festgesetzte Mas- stab der Landverteilung allmählich etwas verkürzt, und dass das Los- kaufsgeld etwas erhöht wurde, was schädlich auf die materielle Lage der Bauernschaft wirken musste. Zugleich hiermit führten die Bemühungen der Gutsbesitzer sozusagen im letzten Moment vor Be- » endigung der Arbeiten dazu, dass die Möglichkeit zugelassen wurde, Land umsonst, ohne jede Entschädigung der Bauern an die Gutsbe- sitzer zuzuteilen, aber der Masstab dieser Zuteilung wurde auf XU des normalen beschrankt und war daher nicht hinreichend für eine Bauern- wirtschaft.

Die Annahme einer solchen Gratiszuteilung war nicht obligatorisch für die Bauern und blieb der Akt eines freiwilligen Uebereinkommens mit den Gutsbesitzern, aber zuletzt führte die Möglichkeit, diesen Anteil umsonst zu erhalten bei dem Umstande, dass die Bodenpreise nicht hoch und ausser den Bauern keine andere Pächter waren, dahin, dass es den Gutsbesitzern nicht schwer wurde, die Bauern zu einer freiwilligen Liebereinkunft betreffs der Gratiszuteilung zu bestimmen.

Als Resultat ergab sich, dass in fruchtbaren Gegenden, wo die Boden- preise zweifellos steigen mussten und wo es folglich für die Gutsbe- sitzer nicht vorteilhaft war, den Loskauf für dieses Land zu den 1861 festgesetzten Preisen vorzunehmen, ein bedeutender Teil der Bauern auf die Gratiszuteilung einging und in die Lage von gezwungenen Pächtern des Landes geriet, das früher von ihnen bebaut worden. In den nördlichen und Zentralgouvernements wog die volle Landzuteilung für die Loskaufsummen vor. Schliesslich blieb hier, wie dort, ein ge- ringeres Areal den Bauern zur Benutzung, als es vor der Reform vom 19. Februar 1861 gewesen; aber obgleich all’ dies schädlich auf den materiellen Wohlstand der Bauern zuruckwirkte und die Erhebung ihres Niveaus hinderte, war es doch bis auf den heutigen Tag nicht im Stande, eine besondere Klasse von Landarbeitern hervorzurufen. Ausser Zweifel ist es, dass die Bildung einer solchen Klasse in bedeutendem Grade durch die Erhaltung des Gemeindebesitzes gehindert wurde, und dass der letztere eine Grundbesitzform bildete, in der die Grossgrund- besitzer ein Hindernis für die erfolgreiche Entwicklung der Lohnarbeit auf ihren Gütern erblicken. Das Verhalten der Gutsbesitzer zum Ge- meindebesitz dient, bei dem Umstand dass die Klasseninteressen mit grosser Schärfe hervortreten, seinerseits zum Beweis, eine wie wichtige Bedeutung für die Sicherstellung der Bauernwirtschaft die Erhaltung des Gemeindebesitzes besass und besitzt.

Auf diese Weise liegt das Gemeinsame des Reformwerks in Russ- land und Preussen in der Gleichförmigkeit der Bestrebungen, die hier und dort die Gutsbesitzer vertraten, in der auffallenden Uebereinstim- mung ihrer Eingaben und Klagen, aber der Unterschied liegt darin, dass diese Interessen in Russland nicht ein solches Liebergewicht er-

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langten, und dass in der ganzen Reform zwei Prinzipien streng und folgerichtig verfolgt wurden: t) Die Persönlichkeit des Bauern und seine Zwangsarbeit bedürfen keines Doskaufs, 2) den Bauern wird zur Sicher- stellung ihrer Existenz und behufs Erfüllung ihrer Verpflichtungen gegen die Regierung ein bestimmtes Areal Land zugevfriesen. Auf diese Weise brauchten die Bauern nur für das Land zu bezahlen, ohne ihre Arbeit loszukaufen, und dies geschah, nicht weil die Interessen und Bestreb- ungen der russischen Gutsbesitzer sich von denen der preussischen unterschieden, sondern es war ein Resultat der nur schwachen politi- schen Bedeutung der russischen Gutsbesitzer. Diese Schwache spricht sich in der Bemerkung eines der Schöpfer der Reform, Ssolnwjew, aus: sDie Regierung hatte zugelassen, dass die ersten Ratschläge für die Bauernreform durch die Komitees entworfen würden, welche fast ausschliesslich von adligen Gutsbesitzern gewählt waren, sie konnte nicht weiter gehen. Sie konnte sich nicht beengen lassen durch eine so umfangreiche Beteiligung der einen der interessierten Parteien an der Bauernsache, ohne einen Nachteil für den andern Teil befürchten zu müssen der Bauern, welche zur Teilnahme nicht berufen waren und nicht berufen werden konnten ‘).<

So war das Verhalten der Regierung zur Frage der Teilnahme des Adels am Reformwerk. Abgesehen von der geringen politischen Bedeutung desselben , welcher darum auch keinen grossen Einfluss gewinnen konnte, war noch sehr massgebend der Umstand, dass alle Kraft des Staates, alle seine Macht, die ganze Grundlage der rus- sischen politischen Ordnung und schliesslich alle Einnahmequellen des Staats in der Bauernschaft wurzelt, ein Gedanke der auch in der Haupt- bestimmung der Reform hervortritt, wornach den Bauern Land in dem Umfang zugewiesen wird , in dem es zur Sicherung ihrer Existenz und zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen gegen die Regierung erforderlich. Demgemäss haben die Ursachen, weshalb der Staat die Erhaltung der Interessen der Bauernschaft im Auge hatte, viel Gemeinsames mit dem, wras in Preussen geschah. Und ebenso wie in Preussen spricht sich dies in der bessern Ordnung des Verhältnisses der Domänenbauem aus, im Vergleich mit jener der Privatbauern, bei denen man schon mit den Interessen der Gutsbesitzer zu rechnen hatte. Es bleibt noch übrig, hinzuzufügen, dass dieses Hinzutreten der Interessen der Gutsbesitzer in Russland ihnen kaum grossen Nutzen brachte. Sie waren nicht so stark, um eine Klasse der für sie notwendigen Arbeiter zu schaffen , aber doch beharrlich genug , um eine Bauernschaft zu schaffen, die, ohne gutes Arbeitsvieh und Inventar, nicht im Stande ist die Bebauung sowohl des eigenen als des Landes der benachbarten Gutsbesitzer, w'ie es sich gehört zu besorgen. Hieraus kann man unter

1) Engelmann. a. a. O. S. 315.

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anderem sehen, dass die sozialpolitischen Verhältnisse in Russland einen viel verwickelteren Einfluss ausühten und in einer grössern Kom- pliziertheit der sozialpolitischen Ordnung sich aussprachen als in Preussen.

Zum Schluss unserer Ausführungen über Knapp's Arbeit be- merken wir, dass diejenigen Teile derselben, denen wir einen Wider- spruch entgegensetzen mussten, ganz unbedeutende Spezialitäten be- treffen und nicht zur Hauptaufgabe der Arbeit gehören ; darum können sie auch nicht irgend welchen Vorwurf gegen das Verdienst derselben bilden. Hervorgehoben sei ausserdem noch , dass man aus dem Werk von Knapp eine mehr oder minder klare Vorstellung auch über die Seiten der Reform erhält, deren Behandlung er offenbar nicht zu sei- nen Aufgaben rechnete. So untersucht er nicht direkt die Frage nach den ökonomischen Ursachen, welche die Aufhebung der Leibeigen- schaft verlangten. Indes eine genauere Lektüre des Buches gewährt dennoch die Möglichkeit, auch auf diese Frage Antwort zu erlangen, was nicht unwichtig ist, weil diese XTsachen für die Erklärung der Kntstehungsbedingungen der kapitalistischen Produktionsweise eine grosse Bedeutung haben. Es ist ausser Zweifel, dass die Existenz der Leibeigenschaft, die den Boden und den Arbeiter in Fesseln hielt, ein Hindernis für die Entwicklung der kapitalistischen Ordnung bildete. Darum war es nötig, die letzten Fäden der Naturalwirtschaft zu zer- reissen, den Boden in Kapital und den auf ihm sitzenden Menschen in einen von den Produktionsmitteln völlig abgetrennten modernen Lohnarbeiter zu verwandeln und damit die Bedingungen für die Ent- faltung der kapitalistischen Produktionsweise herzustellen. Und hier zeigt uns das Buch Knapp's, wie dieser Prozess vor sich ging, und dort, wo der Verfasser »handelt über die in der Landwirtschaft be- schäftigten Menschen«, ist es deutlich zu erkennen, dass die Interessen dieser Leute am wenigsten bei ihrer Befreiung in Betracht kamen, und dass nicht für sie die Reform in Szene gesetzt wurde. Das ist das Schlussergebnis, zu dem das Studium der Arbeit von Knapp nötigt.

Moskau. N. KABI.UKOW.

ÖES TF.RREI Cf US CH ES STÄDTEBUCH. Statistische Berichte der grösseren österreichischen Städte aus Anlass des IV. internationalen demographischen Kongresses gesammelt und redigiert unter der Lei- tung des Präsidenten der k. k. statistischen Central-Commission D r. Karl Theodor von Tn am a- Sternegg von Dr. Ernst Misch- ler, Privatdocent an der Universität und Hofkoncipist der k. k. statisti- schen Central-Commission in Wien. Mitunterstützung der k. k. statist. Centralcommission. Wien, Verlag von Karl Gerold's Sohn 1887. LXXX1X und 755 SS. sowie 5 graph. Tafeln.

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In dem erstmalig erschienenen Werke sind 37 ihrem Umfange und teilweise auch ihrem Inhalte nach ungleiche Berichte über (zus. 46) 5 grössere, 32 mittlere und 9 kleinere österreichische Städte, einschliess- lich der Vororte von Wien und Prag, meist in Tabellenformen ent- halten. Die Aufstellung der Tabellen ist an der Hand von nicht naher beschriebenen Entwürfen erfolgt, welche der Präsident der k. k. sta- tistischen Zentral kommission an alle Städte und Gemeinden Oester- reichs mit über 15 000 Einw. nebst Einladung zur Beteiligung an einer Berichterstattung über ihre demographischen Verhältnisse im November 1886 hatte gelangen lassen. Da Oesterreich nach der Zählung von 1880 54 solche Gemeinden hatte, unterblieb die Beteiligung wohl in- folge der kurzen Frist von nahezu '/j »1er Städte, sie erfolgte in erster Reihe von denen, welche bereits gemeindestatistische Organe oder we- nigstens bezügliche Vorarbeiten besassen. Hervorzuheben sind die Beiträge der statistischen Aemter der Städte Wien und Prag mit je 4'/* Druckbogen: sie repräsentieren übersichtliche Auszüge ihrer wert- vollen Publikationen und in bezug auf die historischen Tabellen Original- arbeiten von Bedeutung. Verschiedene Tabellen sind für diese und andere Stä»lte in so grosser Spezialität mitgeteilt, wie sie in einem solchen, doch immerhin allgemeinen Sammelwerke nicht gesucht werden, während wieder andere zur Charakterisierung der demographischen und hygienischen Verhältnisse notwendigen Daten fehlen. Wenig umfang- reiche Beiträge liegen über die Gemeinden Penzing (2 SS.), Ober- dübling (4 SS.), Wieliczka (5 SS.), Pilsen (6 SS.), Marburg (8 SS.) vor, welche gleichwohl noch ausreichend zu den vergleichenden Zusammen- stellungen gewesen sind, die Dr. Mischler in der 41 SS. umfassenden textlichen Einleitung mit gewisser Gewandtheit übersichtlich bearbeitet hat. Er gibt nach einigen das Vorwort (von Inama) ergänzenden Mit- teilungen über die Entstehung des Buchs eine allgemeine Charakte- ristik der betr. Städte und gruppiert dieselben in die wenigen grossen Städte mit je über 100000 Einw. (exkl. Lemberg), die an Wien und Prag sich anschliessenden Vororte, eine Anzahl böhmischer Städte mit einer verhältnismassig starken Arbeiterbevölkerung und schliesslich jene Städte, welche als Landeshaupt- oder wohlhabendere Städte eine reich- lichere Lebenshaltung den Bewohnern gewähren. Die Angaben über Stand und Bewegung der Bevölkerung erstrecken sich auf die Zivilbe- völkerung. Von den in der allgemeinen Uebersicht für 1886 berück- sichtigten 45 Städten ist für 35 die Bevölkerung pro 1886 berechnet, für 10 Städte ist die Bevölkerung von 1880 bezw. 1884/85 eingestellt. F.ine zusammenfassende Betrachtung über die Bevölkerung auf grund der letzten Zählung nach Geschlecht, Alter, Familienstand , Religion. Beruf ist nicht versucht. Dagegen sind einzelne Abschnitte aus dem Gebiete »1er Bevölkerungsbewegung kursorisch behandelt. Die Ehe- schliessungen sind nach Kalendermonaten, die Ehcschliessenden nach

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Ocsta reichischts Städtebuch.

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Alter, Familienstand, Konfession, Zuständigkeit und Gebiirtigkeit für ein Jahr zusammengestellt und relative Zahlen berechnet. Die Lehend- und Totgeborenen i. J. 1886 sind nach Ehelichkeit und Geschlecht, die Mehrgeburten und legitimierten unehelichen Kinder in je einer Nachweisung enthalten. Hie Prozentanteile der Geborenen nach Ka- lendermonaten sind in nicht weniger als 7 Tabellen berechnet. Die Geburtsziffer schwankte in den einzelnen Städten erheblich, zwischen 19 (Innsbruck) und 50 (Aussig) auf 1000 Kinw. Unter 100 Geborenen befanden sich: Totgeborene in Karlsbad 7.45, in Czernowitz nur 1 .5 1 ; Uneheliche in Klagenfurt (mit 2200 aktiven Militärpersonen) 73 (!), in Trient 4. Die Zahl der Sterbfalle ermangelt noch der erforderlichen Uebereinstimmung, da sie von verschiedenen Behörden nachgewiesen werden. Die Tabellen über Geschlecht, Familienstand, Gebiirtigkeit etc. sowie die monatsweise Bewegung beruhen meist auf den Pfarrbüchern, diejenigen über Todesursachen, Alter, Ernährung, Wohnverhältnisse der Verstorbenen auf den Physikatsberichten. Die Totgeborenen werden von vielen Städten zu den Gestorbenen gezählt, von anderen nicht. Einzelne Angaben sind auch insofern unvergleichbar, als nicht gleich- mässig von der Zivil- sondern von der Gesamtbevölkerung ausgegangen ist. Diese und andere von Mischler mit Recht hervorgehobenen Mangel bedürfen der Abstellung. Falls dies mit der Zeit gelingen sollte, woran wir bei fernerer Mitwirkung von Mitgliedern der Zentral- kommission nicht zweifeln, würde die Herausgabe des Städtebuchs eine grosse Mission für die Kommunalstatistik Oesterreichs erfüllen. Abgesehen von den (seit vielen Jahren auch in den kirchlichen Jahres- berichten der preussischen Diözesen berücksichtigten) Konfessionsände- rungen, welchen bei der mangelnden Zuverlässigkeit und Vollständig- keit der Angaben eine zu grosse Bedeutung beigemessen worden ist, bleibt noch auf den Abschnitt des Buches, betr. die Wohnverhält- nisse hinzuweisen, welcher in sozialstatistischer Beziehung die meiste Beachtung verdient. Es wurden hierzu (mit Ausnahme von Hernals) besondere Erhebungen nicht veranstaltet, sondern die bei den Steuer- behörden vorfindlichen Häuserbeschreibungen und Mietzinsfassionen pro 1886 exzerpiert. In den von der Redaktion des Städtebuchs selbst veranlassten Tabellen sind fast ausschliesslich nur die Wohnungsge- bäude angegeben, jene Gebäude also, welche der Mietzinssteuer unter- liegen, die verschiedenen Arten öffentlicher bezw. steuerfreier Gebäude fehlen. Da die Häuserbeschreibungen mehr auf die bauliche Anlage des Hauses passen, so entsprechen verschiedene derselben entnommene Angaben nicht den thatsächlichen Verhältnissen. Auch die Mietpreise, welche auf den Mietzinsfassionen beruhen, sind teilweise zu niedrig. Bei einer Fortsetzung der Tabellen dürfte sich die in den Städten des deutschen Reichs, wie auch in Wien, Prag und Budapest bewährte Erhebungs- Methode gelegentlich der Volkszählung mehr empfehlen.

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198

LitUratur.

In den betr,, für 37 Gemeinden ausgefiillten Tabellen, welche die Zahl der selbstbewohnten (ausschliesslich vom Eigentümer bewohnten) und die vermieteten Häuser, die Häuser nach der Zahl der Stockwerke, die Wohnungen mit und ohne Küche, mit und ohne Gewerbetrieb, nach der Stockwerklage, nach der Zahl der Wohnräume und nach (7) Miet- preisstufen unterscheiden, fehlt jegliche Gruppierung nach der Be- völkerung in den Wohnungen. Von den aus der konzentrierten Ueber- sicht gezogenen Schlüssen heben wir folgende hervor. Je geringer die Anzahl der selbstbewohnten Gebäude ist, desto grösser ist der Anteil der mehrere Stockwerke zählenden gegenüber den Parterre- und ein- stöckigen Häusern. Das Hauptgewicht der Häuser in den österreichi- schen Städten wird (infolge Berücksichtigung vieler kleineren und mitt- leren Städte) durch die einstöckigen gebildet, indem von 37 Städten 20 in diesen Gruppen relativ die meisten Häuser zählen. Aus dem ver- hältnismässig grossen Anteil der küchenlosen Wohnungen lässt sich nicht ohne weiteres ein ungünstiger Schluss auf die Wohnsituation der arbeitenden Klassen ziehen. Wenn wir auch in hygienischer Beziehung den Vorteil einer besonderen Küche nicht unterschätzen, so ist doch der Arbeiter in einer Wohnung, deren Zimmerofen mit Kocheinrich- tung versehen ist, in der Lage viel Feuerung im Winter zu sparen. Der Anteil Wohnungen mit Gewerbebetrieb ist in einigen Städten be- fremdlich hoch, so in Reichenberg (73 '/•) und Klagenfurt (76 “/•), wah- rend er sich in der Hälfte der Städte zwischen 10 20 hält. Aus der Verteilung der Wohnungen nach der Anzahl der Zimmer (ein-, zwei- dreizimmerige etc.) geht hervor, dass der grösstfc Teil der Be- völkerung in den österreichischen Arbeiter- und Vorstädten unter dem notwendigsten Standard lebt, bezw. wohnt. Den Anteil der Wohnungen, welche auf dem notwendigsten Standard stehen, ist fast durchwegs kleiner und nur selten ebenso stark wie derjenige der unter demselben befindlichen. Die grösste Masse der Arbeiter zahlt eine Mietsumme, mit welcher es nach den gegenwärtigen Preisverhältnissen unmöglich ist, das Wohnbedurfnis so .zu befriedigen, wie es für eine Familie not- wendig wäre; etwa bis 65% der Bevölkerung zahlen jährlich höchstens 100 11. für eine Wohnung. Von den 25 in Betracht gezogenen Städten (exd. Innsbruck) schwankt der Anteil dieser niedrigsten Wohnungsklasse zwischen 79.6 % in Aussig und 13.7 " . in Wien. Zu einer Kombination der Daten über Preise und über Zimmerzahl der Wohnungen behufs ge- nauerer Reduktion der Mietpreise fehlen Angaben. Gleichwohl sind Mietpreise per Zimmer substituiert und Schlüsse gezogen worden, welche wohl im Allgemeinen zutreffen mögen, aber aus den angeführten That- saehen nicht »unumstösslich« erhärtet werden. F.s ist erklärlich, dass kleine Wohnungen relativ teurer sind als grosse, weil Abnutzung und Unterhaltungskosten bei dem notorisch häufigeren Wohnungswechsel der ersteren viel grösser sind, und der Hausbesitzer die mangelhafte

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Oesterreichisches Städtebuch.

T99

Zahlungsfähigkeit mancher kleinen Mieter in Rechnung ziehen muss. Zudem entfallt da, wo in der Miete die Entschädigung für Wasser, Treppenbeleuchtung, Abfuhr etc. enthalten ist auf die kleine Wohnung per Zimmer berechnet eine grössere Quote als in grossen Wohnungen. Aber noch ein anderer, in der Beschaffenheit der Zahlen selbst liegen- der, Grund erscheint wichtig genug, in den der Mietstatistik der Stadt Leipzig von 1880 entlehnten Resultaten seine vollkommene und wohl definitive Bestätigung« des Satzes: »dass das Wohnbediirfnis am schwer- sten zu befriedigen ist, je kleiner die Wohnung«, bezw. dass »mit der Klein- heit der Wohnung der Preis relativ wächst«, nicht zu erblicken. Wir wiederholen die genannte Zahlenreihe (mit Weglassung der Pfennige) und fügen die bezüglichen Ergebnisse für Leipzig und Breslau nach der Erhebung von 1885 bei. Die einjährige Miete je eines heizbaren Zimmers beträgt:

in Wohnungen

in 1.

eipzig

Breslau

mit

1880

1885

1885

M.

M.

M.

1 heizb.

Zimmer

i

l

0

m

*)

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j. 181

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181

189

222

6 >

»

200

206

237

7

>

202

214

250

8 etc. »

»

218

250

244

Wäre vorstehende Reduktion nach Zimmern überhaupt, anstatt nur nach heizbaren Zimmern vorgenommen, so würden die beiden ersten Kategorien andere, die Steigung des Preises mit der Grösse der Woh- nung weniger unterbrechende Quotienten aufweisen, da die kleineren bezw. kleinsten Wohnungen eine verhältnismässig grössere Zahl unheiz- barer Zimmer besitzen als die grossen, wie folgende Beispiele zeigen.

Von 100 Zimmern waren nicht heizbar

in Wohnungen

Berlin

Breslau

mit

i. J. 1880

i. J. 1880

I

heizbaren Zimmer(n)

22.6

20.2

2

>

>

9.0

8-3

3

»

»

8.6

7.0

4

>

»

8.4

6.9

s

»

1

6-5

5.8

1) o ~ ohne nicht heizbare (S) Zimmern, m =s mit nicht heizbarem (n) Zimmer (n).

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200

Liiteratur,

in Wohnungen

Berlin

Breslau

mit

i. J. 1880

i. J. 1880

6 heizbaren Zimmern

6.4

6.3

7 » »

5-6

5-7

8 > >

4-5

4.8

9 * »

4.8

4.8

Os »

4.8

2.9

Schliesslich mochte für die Fortsetzung des Werkes noch folgendes der Erwägung wert erscheinen. L)a die bisherigen Veröffentlichungen der einzelnen Städte, insbesondere die Verwaltungs- und Sanitätsbe- richte, die statistischen Jahr- und Handbücher seitens der grösseren Städte auch in Zukunft veröffentlicht werden, halten wir es für ratsam, die Einleitung derartig zu erweitern und systematisch zu vervollkommnen, dass die wesentlichsten Ergebnisse nicht nur der Bevölkerungs- und Wohnungsstatistik, sondern auch der einzelnen Verwaltungszweige der Städte in absoluten und einigen wesentlichen relativen Zahlen syno- ptisch zusammengestellt und die Berichte der einzelnen Städte ferner nicht beigefügt werden. Die damit verbundene Mehrarbeit w-ird den äusseren Umfang und die Druckkosten des Werkes mindern, die Brauch- barkeit aber desto mehr erhöhen.

Breslau. M. NEEKE.

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ARBEITERVERSICHERUNG UND SOZIAL- STATISTIK.

VON

L)r. GEORG VON MAYR,

KAISER'.. UNTERSTAATSSEKRETÄR Z. D.

Knapp vor dem Zusammentritt des im Herbst 1887 in Wien abgehaltenen vierten demographischen Kongresses gab mir die Einladung des verehrten Präsidenten des genannten Kongresses, des k. k. Hofrates Herrn Dr. Th. v. Inama-Stcrnegg Anlass, in einem kürzeren Referat ') auf die sozialstatistische Bedeutung der allge- meinen obligatorischen Arbeiterversicherung hinzuweisen. Nach dem Namen, welchen das vorliegende Archiv trägt und nach den zur Einführung von dem I lerrn Herausgeber demselben vorange- schickten Worten bedarf es wohl keiner besonderen Rechtfer- tigung, wenn ich nun hier den Versuch mache, an den haupt- sächlichsten Ergebnissen der bis jetzt im Deutschen Reiche vor- liegenden Statistik der Arbeiterversicherung in greifbarer Weise zu zeigen, was durch dieselbe für die Erweiterung unserer sozial- statistischen Kenntnisse geleistet wird und noch wird geleistet werden können. In dieser Erstreckung mag diese Darlegung für den I.eser zugleich ein nicht unerwünschtes Gegengewicht zu dem im ersten Hefte des Archivs befindlichen Artikel des Herrn Professor Platter bilden; denn dieser Artikel steht mit dem Uebermass verkleinernden Misstrauens, welches er der Weiter- führung der deutschen Sozialreform entgegenbringt , meines Er- achtens doch sehr im Widerspruch mit der Bedeutung, welche

l) VI. internationaler Kongress Tür Hygiene un<l Demographie zu Wien 1887. Heft Nr. XXIV. Arbeiten der demographischen Sektion (IV. demographischer Kon- greß) 3. Thema. Die (Grundlagen für die Statistik der industriellen Arbeiter mit be- sonderer Berücksichtigung der beim II ilfskasscn wesen getroffenen Einrichtungen. Be- richt erstattet von Dr. v. Mayr, Wien 1887. Verlag der Organisationskommission des Kongresses.

Archiv für »oi, üesetrgbg u. Statistik I l.|

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202

v. Mayr,

eine unbefangene wissenschaftliche _ Prüfung dem Gesamtwerke der deutschen Arbeiterversicherung zugestehen muss ’). I leute, da die Kranken- und die Unfallversicherung in der Hauptsache zum Abschlüsse gebracht sind , müssen wir zumal wenn wir uns danach umsehen, was anderwärts in Jahrzehnten die freie Selbsthilfe auf den gleichen Gebieten geleistet oder nicht geleistet hat anerkennen, dass in wenig Jahren die ganze deutsche Ar- beiterwelt gegen die Not, welche ihr aus Krankheit und Unfällen erwachsen könnte, doch in ganz anderer Weise gesichert worden ist als die Arbeiterwelt irgend einer anderen Nation auf der Erde. Dem Krankenversicherungsgesetze vom 15. Juni 1883 folgte am 6. Juli 1884 das (industrielle) Unfallversicherungsgesetz , welches durch Gesetz vom 25. Mai 1885 auf die grossen Transportbetriebe des Binnenlandes, sowie die Betriebe des Heeres und der Ma- rine , der Speicherei , Kellerei u. s. w. ausgedehnt wurde. Die Erstreckung der Unfallfürsorge für Beamte und Personen des Soldatenstandcs erfolgte durch Gesetz vom 15. März 1886. Der 5. Mai 1886 brachte sodann das wichtige Gesetz betreffend die Unfall- und Krankenversicherung der in lai.d- und forstwirtschaft- lichen Betrieben beschäftigten Personen. Eine besondere Rege- lung erfuhr sodann durch Gesetz vom n. Juli 1887 die Unfallver Sicherung der bei Bauten beschäftigten Personen , während ein Gesetz vom 13. Juli 18S7 eingehende Bestimmungen über die Un- fallversicherung der Seeleute und anderer bei der Seeschifffahrt beteiligten Personen traf.

Alle diese Gesetze haben eine Klarlegung sozialpolitisch be- deutsamer Zustände und Erscheinungen in grossem Umfange zur Folge; die künftige Durchführung der Invaliditäts-, Alters- und I linterbliebenen- Versorgung wird weitere Aufschlüsse ähnlicher Art bringen. Mit voller Klarheit lässt sich die sozialpolitische und insbesondere die sozialstatistische Ausbeute, welche der Vollzug der angeführten Gesetzgebung bietet, zunächst nur bei dem älteren Teile derselben feststcllen, da die Art der zum Ge- il Es sei gestattet, im Anschluss an die Ausführungen des Herrn Verfassers dieser Abhandlung ru betonen, dass die Redaktion des Archivs prinzipiell den Vertretern verschiedener Auffassungen in derselben Frage bereitwillig das Wort erteilt und auf dem Standpunkt steht, dass fUr die wissenschaftliche Arbeit nichts fruchtbarer sein kann als die Auseinandersetzung zwischen entgegengesetzten Ansichten. Einer in den Grenzen sachlicher Erörterung sich bewegenden Polemik soll darum ein berechtigter Spielraum gewährt werden. Die Red.

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Arbeiterversicherung und Sniaistatistik. 203

setzesvollzug und zur Rechenschaftsablage über denselben ge- troffenen Einrichtungen von wesentlichem Einflüsse auf den Ge- winn ist , welcher der Wissenschaft zufallt. Es wird deshalb Billigung finden, wenn ich die Untersuchung darüber, inwieweit die Versicherungsgesetzgebung eine Reaktion auf sozialstatistisch Bedeutsames zeigt, auf das Krankenversicherungsgesetz und das erste (industrielle) Unfallversicherungsgesetz (mit Einschluss des Ausdehnungsgesetzes von 1885) beschranke. Die land- und forst- wirtschaftliche Unfallversicherung eröffnet überdies ein so grosses neues wegen stärkeren Eingreifens der Landesgesetzgebung auch für sich mannigfacher gestaltetes Forschungsgebiet, dass darüber seinerzeit eine gesonderte Betrachtung vom Standpunkt der Sozialstatistik durchaus nötig ist. Ein dauernd fliessender (Juell sozialstatistischer Erkenntnis ist durch diese einzelnen Ge- setze, welche die allgemeine obligatorische Arbeiterversicherung im Deutschen Reich begründet haben, erschlossen. In welchem Umfange dies bezüglich jener Gesetze der Fall ist, welche auf dem Gebiete der Krankenversicherung und der Unfallversicherung schon seit einiger Zeit in Geltung sind , soll im nachstehenden erörtert und dabei zugleich einiges von den bereits vorliegenden statistischen Ergebnissen dargelegt werden.

1. Krankenversicherung.

Die erste Folge der zwangsweisen staatlich überwachten Krankenversicherung der Arbeiter ist die sichere Konstatierung einer jeden diesem Versicherungszweig dienenden Kasse. Die Krankenversicherung ist aus praktischen Gründen nicht in der Weise einheitlich berufsgenossenschaftlich organisiert wie die Un- fallversicherung. Es konkurriert eine Mehrheit von Kassen, indem nach S 4 des Krankenversicherungsgesetzes vom 15. Juni 1883 die Gemeinde-Krankenversicherung für alle versicherungspflichtigen Personen eintritt, welche nicht einer ( )rtskrankenkasse, einer Be- triebs- (Fabrik)-Krankenkasse , einer Bau - Krankenkasse , einer Innungskrankenkasse, einer Knappschaftskasse, einer eingeschrie- benen oder auf Grund landesrechtlicher Vorschriften errichteten 1 lilfskasse (sofern diese in ihren Leistungen mindestens der Ge- meinde - Krankenversicherung gleich kommt) angehören. Einer dieser Kassenarten muss jeder versicherungspflichtige Arbeiter an- gehören ; welcher er thatsächlich beitritt, hängt teils von seiner Wahl, teils aber auch davon ab, in welcher Richtung die Organisation

14*

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204 *'• Mayr,

der Kassen seitens der Staats- und Gemeindebehörden vorzugs- weise gefördert ist.

Die amtliche Statistik für 1885 ’) und 1886 J) ergibt über die Zahl und Art der Kassen Nachstehendes :

Kassen am Schluss des Jahres

1885

1886

Gemeindekrankenversicherung

7024

7170

Ortskrankenkassen

3693

373«

Betriebskrankenkassen

5473

5615

Baukrankenkassen

83

105

Innungskrankenkassen

224

288

Eingeschriebene Hilfskassen

1805

1843

Landesrechtliche I Iilfskassen

474

479

Zusammen

18776

19238

Wie verschiedenartig die Organisation in

den einzelnen deut-

sehen Staaten sich gestaltet hat, mögen folgende Beispiele zeigen :

Zahl der

Kassen am

Schluss des Jahres 1886

Preussen

Bayern

Sachsen

Württemberg.

Gemeindekrankenversicherung I 528

3821

586

IO

Ortskrankenkassen 2793

•7

382

137

Betriebskrankenkassen 31 57

360

767

215

Baukrankenkassen 64

5

14

5

Innungskrankenkassen 157

40

1

Eingeschriebene Hilfskassen 773

33

320

86

Landesrechtliche Hilfskassen 57

35

79

2

Zusammen 8529

4271

2188

456

ln Bayern, wo die gemeindliche

Fürsorge

für erkrankte Gc-

werbsgehilfen, Fabrikarbeiter und Dienstboten

seit lange gut or-

ganisiert war, hat sich auch die moderne Krankenversicherung, abgesehen von den Spezialkassen des Grossbetriebes (Betriebs- krankenkassen). fast ausschliesslich in der Richtung der Gemeinde- krankenversicherung, welche reichsgesetzlich nur als aushilfsweise eintretend gedacht war, entwickelt. Im benachbarten Württemberg war der Entwickelungsgang der Kassenbildung ein ganz anderer. Sozialpolitisch ist, abgesehen von der Frage wie weit die Hilfs- kassen fortzubestehen vermögen, die vorbczeichnete Gliederung

1) Statistik des Deutschen Reiches. Herausgegeben vom kais. Statist. Amt. Neue Folge. Band 24. Statistik der Krankenversicherung der Arbeiter im Jahre 1SS5. Berlin 1887.

2) Monatshefte zur Statistik des Deutschen Reiches. Jahrgang 1888. Januarheft.

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ArbeiUtTcr Sicherung und SoziaistaHstik.

205

der Kassenarten von geringerem Interesse. Wie sich bei Erörte- rung des Kreises der versicherungspflichtigen Personen zeigen wird, sind in der Gemeindekrankenversicherung Personen der ver- schiedensten Berufe zusammengedrängt; Gleiches gilt von den Hilfskassen. In den Ortskrankenkassen hätten allerdings nach dem Grundgedanken der Einrichtung Personen gleicher oder verwandter Berufszweige vereinigt werden sollen. Diese Regel ist aber , wie das statistische Amt bei Veröffentlichung der Krankenversicherungsstatistik für 1885 hervorhebt, schon durch das Gesetz selbst und, vielleicht mehr als vorauszusehen war, durch die Praxis durchbrochen worden. Abgesehen von den Innungs- krankenkassen bleiben hienach in der Hauptsache nur die Betriebs- krankenkassen als solche übrig, bei welchen in je einer Kasse in der Regel thatsächlich nur Arbeiter gleicher oder doch verwandter Berufsthätigkeit sich finden.

Diese Kassen machen nach ihrer Zahl und der Gesamtsumme ihrer Mitglieder nicht ganz ein Drittel aller Krankenversicherungs- kassen aus. Das Fortbestehen vorhandener gemeinschaftlicher Fabrikkrankenkassen mehrerer Unternehmer, die auch verschie- denen Berufszweigen angehören können , ist zwar nicht ausge- schlossen, aber für die Zukunft ist die Gründung solcher gemein- samen Kassen verwehrt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen handelt es sich hienach bei diesen Kassen des Grossbetriebes in der That um Spezialkassen eines einzelnen Produktionszweiges.

Sozialpolitisch wäre es nun sehr wichtig alle Krankenkassen, welche ein berufseinheitliches Personal umfassen für sich und zwar in der Untergliederung nach Berufszweigen betrachten zu können. Eine erste Frage der Reform der Krankenversicherungs- statistik wird es deshalb sein, ob es nicht geboten ist, dass bei dem statistischen Amt die einzelnen von jeder Kasse ja schon jetzt eingehenden Nachweisungen nicht nur nach den offiziellen Kategorien des Krankenversicherungsgesetzes sondern nach dem hier angegebenen Gesichtspunkte gruppiert werden. Die Nach- weise für jene Kassen, welche wegen Zugehörigkeit der Ver- sicherten zu verschiedenartigen Berufszweigen, einer bestimmten Berufsgruppe nicht zugeteilt werden könnten , wären bei dieser Sonderbetrachtung ausser Berücksichtigung zu lassen. Immerhin könnte für eine ansehnliche Zahl von Arbeitern in dieser Art am einfachsten eine Untersuchung der Erkrankungsgefahr nach dem Beruf ermöglicht werden. Allerdings bedürfte dazu die von der

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v. Mayr,

Kasse aufzustellende Jahresnaclnveisung einen Vermerk darüber, ob Berufscinheitlichkeit oder Berufsmannigfaltigkeit der Ver- sicherten vorliegt und hiezu im ersten Falle die Bezeichnung des einschlägigen Berufszweiges eine sehr einfache Ergänzung, welche bei der ohnedies schon vorgeschriebenen Bezeichnung der »Art* der Krankenkasse sehr leicht ihre Stelle finden könnte. Ich brauche in diesen Blättern den Wert einer solchen Gruppie- rung der Nachweisungen nicht näher zu begründen ; ich möchte aber doch namentlich auf die Bedeutung hinweisen, welche eine solche Gruppierung im Zusammenhalt mit der berufsgenossen- schaftlichen Gruppierung der Unfallstatistik erhält. Sollen wir uns auf die Dauer damit begnügen die Unfallgefahr nach Berufs- gruppen zu kennen , von der Erkrankungsgefahr nach Berufs- gruppen aber gar nichts zu wissen ?

Der Vollständigkeit wegen muss ich zu den oben mitge- teilten Zahlen über die Vertretung der verschiedenen Kassenarten noch bemerken, dass die Knappschaftskassen dabei nicht ange- geben sind, obwohl auf deren Mitglieder, wie aus der mitgeteilten gesetzlichen Bestimmung sich ergibt, der Versicherungszwang sich gleichfalls erstreckt. In der Reichsstatistik der Krankenversiche- rung sind diese Kassen wegen der für sie getroffenen besonderen gesetzlichen Bestimmungen 74 des Krankenversicherungsge- setzes) nicht berücksichtigt. Die landesgesetzlichen Vorschriften über die Knappschaftskassen bleiben im Allgemeinen unberührt; nur mussten die statulenmässigen Leistungen dieser Kassen in Krankheitsfällen, sofern sie den Betrag der für die Betriebs- (Fabrik-)Krankenkassen vorgeschriebenen Mindestleistungen nicht erreichten, spätestens bis zum Ablauf des Jahres 1886 für sämt- liche Mitglieder auf diesen Betrag erhöht werden. Sonst ist eine Aenderung an der landesrechtlich geordneten Einrichtung der Knappschaftskassen durch das Krankenversicherungsgesetz nicht vorgenommen ; dieselben umfassen daher nach wie vor die ver- schiedenen Arten der Versicherung Kranken-, Sterbe-, Pen- sions -Invalidenkassen zugleich. Auf Grund dieser Sonder- stellung sind die Knappschaftskassen in die allgemeine Statistik der Krankenkassen nicht einbezogen. Das statistische Amt ver- anschlagt die Mitglieder der Knappschaftskassen für 1885 auf »mindestens 371745« (Preussen 66 Vereine 331609 Mitglieder, Bayern 40 Vereine 5653 Mitglieder, Sachsen 86 Knappschafts-

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Arbeiterver Sicherung und Sozuustatistik.

207

(Kranken-)Kasscn 30676 Mitglieder, Württemberg 5 Vereine 2188 Mitglieder, Messen 18 Vereine, 1619 Mitglieder).

Der Kreis der versicherten Personen ist insofern kein fest umschriebener, als ausser den gesetzlich Versicherten unter den Mitgliedern der Krankenkassen sich auch noch solche befinden, welche erst durch statutarische Bestimmung 2) ver- sicherungspflichtig geworden sind, sowie freiwillig Beigetretene, für welche ein Versicherungszwang überhaupt nicht bestand.

Das Gesetz vom 15. Juni 1883 § I ordnet die Zwangsversiche- rung an für Personen, welche gegen Gehalt oder Lohn be- schäftigt sind :

1. In Bergwerken (grösstenteils zu den Knappschaftskassen gehörig), Salinen, Aufbereitungsanstalten, Brüchen und Gruben, in Fabriken und Hüttenwerken, beim Eisenbahn- und Binnen- dampfschifffahrts-Betriebe, auf Werften und bei Bauten ;

2. im Handwerk und in sonstigen stehenden Gewerbebetrieben ;

3. in Betrieben, in denen Dampfkessel oder durch elemen- tare Kraft bewegte Triebwerke zur Verwendung kommen, sofern diese Verwendung nicht ausschliesslich in vorübergehender Be- nutzung einer nicht zur Betriebsanlage gehörigen Kraftmaschine besteht, mit Ausnahme der im § 2 unter Ziffer 2 bis 6 aufge- führten Personen , soferne nicht die Beschäftigung ihrer Natur nach eine vorübergehende oder durch den Arbeitsvertrag im Voraus auf einen Zeitraum von weniger als einer Woche be- schränkt ist. Betriebsbeamte unterliegen der Versicherungspflicht nur, wenn ihr Arbeitsverdienst an Lohn oder Gehalt 6 */s Mark für den Arbeitstag nicht übersteigt. Als Gehalt oder Lohn gelten auch Tantiemen und Naturalbezüge.

Durch statutarische Bestimmung § 2 (welche der Genehmigung der höheren Verwaltungsbehörde bedarf) einer Gemeinde für ihren Bezirk oder eines weiteren Kommunalverbandes für seinen Bezirk oder Teile desselben kann die Zwangsversicherung erstreckt werden :

1. auf die Personen, deren Beschäftigung ihrer Natur nach eine vorübergehende oder durch den Arbeitsvertrag im Voraus auf einen Zeitraum von weniger als einer Woche beschränkt ist;

2. auf Handlungsgehilfen und Lehrlinge, Gehilfen und Lehr- linge in Apotheken;

3. auf Personen, welche in anderen als den in § 1 bczeich- ncten Transportgewerben beschäftigt werden ;

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v. Mayr,

4. auf Personen , welche von Gewerbtreibenden ausserhalb ihrer Betriebsstätten beschäftigt werden ;

5. auf selbständige Gewerbtreibende, welche in eigenen Be- triebsstätten im Aufträge und für Rechnung anderer Gewerb- treibender mit der Herstellung oder Bearbeitung gewerblicher Erzeugnisse beschäftigt werden (Hausindustrie).

6. auf die in der Land- und Forstwissenschaft beschäftigten Arbeiter.

Weiter ist dann bestimmt, dass Personen der vorbezeichnetcn Art , welche der Versicherungspflicht nicht unterliegen sowie Dienstboten berechtigt sind der Gemeindekrankenversicherung beizutreten; ebenso wurde das Recht des freiwilligen Beitritts derselben zur Versicherung auch bei Ortskrankenkassen und Be- triebskrankenkassen festgestellt.

Das Gesetz vom 15. Juni 1883, welchem vorstehende Be- stimmungen entnommen sind, trat mit dem I. Dezember 1884 in Kraft. Durch das Gesetz über die Ausdehnung der Unfall- und Krankenversicherung vom 28. Mai 1S85 ist die Versicherungs- Organisation erstreckt worden auf:

1. den gesamten Betrieb der Post-, Telegraphen und Eisen- bahnverwaltungen, sowie sämtliche Betriebe der Marine- und 1 leeresverwaltu ngen ;

2. den Baggereibetrieb;

3. den gewerbsmässigen Fuhrwerks-, Binnenschifffahrts-, Flös- serei-, Prahm- und Fährbetrieb, sowie den Gewerbebetrieb des Schiflfziehcns;

4. den gewerbsmässigen Speditions-, Speicher- und Kellerei- betrieb ;

5. den Gewerbebetrieb der Güterpacker, Güterlader, Schaffer, Bracker, Wäger, Messer, Schauer und Stauer.

Dieses Gesetz ist zu I am 1. Oktober 1885, zu 2 bis 5 am 1. Juli 1886 in Kraft getreten.

Das Gesetz tiber die (allgemeine obligatorische) Unfall- und Krankenversicherung der in land- und forstwirtschaftlichen Betrieben beschäftigten Personen kommt hier wie bereits oben erwähnt nicht weiter in Betracht ; es tritt erst im Laufe des gegenwärtigen Jahres und zwar in den einzelnen Staaten nicht gleichzeitig in Kraft, und berührt die Statistik von 1885 und 1886 gar nicht.

Diese Krankenversicherungsstatistik für 1885 und 1886 ergibt fol- gende I lauptzahlen über die Gesamtzahl der Versicherten mit Unter- scheidung derKassenarten (unter Ausschi, der Knappschaftskassen) :

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Ar bcitervcr Sicherung und Sozialstatistik.

20Q

Zahl der Versicherten

am Jahresschluss

1885

1886

Gemeindekrankenversicherung

586 584

629069

< )rtskrankenkassen

1 534888

1 701 305

Betriebskrankenkassen

1 26 1 200

I 3 14 2l6

Baukrankenkassen

1 2 11 5

1 2 897

Innungskrankenkassen

24879

32 013

Eingeschriebene Hilfskassen

730 722

731943

Landesrechtliche Hilfskassen

143 78 5

I48 644

Zusammen

4294173

4570087

Rechnet man hiezu die runde Mindestzahl von 370 OCX) in Knappschaftskassen Versicherten , so findet man auf Grund des Krankenversicherungsgesetzes am Schluss des Jahres 1886 im deutschen Reich 4940000 Personen versichert. Nimmt man die Bevölkerung des Deutschen Reiches zu Ende 1886 mit 47350000 Seelen an, so machen die in die allgemeine Krankenversicherung Einbezogenen mehr als IO °lo der gesamten Bevölkerung aus. Er- wägt man weiter , dass allein die Kinder bis zu 10 Jahren ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmachen, so findet man, dass die Versicherten von der über 10 Jahre alten Bevölkerung reich- lich 13 */a % betragen.

Zwei Gedanken drängen sich angesichts dieser Zahlen auf : erstens, wie umfassend sich die heilsame Wirkung des Kranken- versicherungsgesetzes in kurzer Frist gestaltet hat, zweitens, wie bedeutend das Menschenmaterial ist, auf welches Dank der obli- gatorischen Versicherung gleichartig gestaltete sozialstatistische Studien gegründet werden können. Dass schon vor der inzwischen erfolgten Erstreckung der obligatorischen Versicherung auf die land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter nicht weniger als nahezu 5 Millionen (augenblicklich ist diese Zahl jedenfalls schon über- schritten) Arbeiter, vorzugsweise aus dem Gebiete der Industrie, das Bewusstsein in sich tragen , im Falle der Erkrankung der sicheren auf Rechtsanspruch sich gründenden Beihilfe der Organe der öffentlich rechtlichen Versicherung entgegensehen zu dürfen, und keinen beängstigenden Zweifel über Leistungsfähigkeit einer Hilfskasse oder was noch schlimmer war keine Furcht vor der entehrenden Hilfe der allgemeinen Armenpflege im 1 lerzen tragen zu müssen, das ist ein Erfolg der deutschen Sozialge- setzgebung, dem gegenüber einzelne kleine Unzuträglichkeiten, die beim Einleben in solch neue Sphären sich naturgemäss er-

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210

v. Mayr,

geben, in den Hintergrund treten müssen, so sehr auch grund- sätzliche Gegner des Werks bemüht sein mögen , von solchen untergeordneten Einzelheiten aus die Verkleinerung desselben zu versuchen.

Wünschenswert wäre es gewesen, im Anschluss an die oben mitgeteilten Bestimmungen des Krankenversicherungsgesetzes die Versicherten nach den drei Kategorien: gesetzlich, statutarisch, freiwillig Versicherte zu unterscheiden. In dem ursprünglichen für 1885 benützten Erhebungsformular ist auch diese Unterschei- dung enthalten. Das kaiserl. statistische Amt bemerkt aber, dass die damit beabsichtigte Unterscheidung nur sehr unvollkommen erreicht worden sei. Das, wie gesagt, unzuverlässige Ergebnis für 1885 war: 3675838 gesetzlich, 287540 statutarisch, 330795 frei- willig Versicherte. In dem vom Bundesrat am 23. Juni 1887 ge- nehmigten neuen Formular ist diese ganze Unterscheidung weg- gelassen. Dagegen ist nach anderer Richtung eine für die sozial- statistischen Betrachtungen recht wichtige Erweiterung der Nach- weise über die Mitglicderzahl beschlossen worden, welche zuerst für das Jahr 1888 zu liefern sein wird. Bisher weist jede Kasse nur nach die Zahl der Mitglieder bei Beginn des Jahres, die Zahl der im Laufe des Jahres cingetretenen Mitglieder, die Zahl der im Laufe des Jahres ausgeschiedenen Mitglieder a) im Ganzen, b) die Zahl der Gestorbenen insbesondere , die Zahl der Mitglieder am Schlüsse des Jahres. Hieraus war die für die meisten Berechnungen erforderliche mittlere Mitgliederzahl des Jahres in befriedigender Weise nicht zu ermitteln. Künftig wird die Mitgliederzahl am Jahres- anfänge (1. Jan.), am 1. jedes weiteren Kalcndermonats und am 1. Januar des folgenden Jahres, ausserdem die Zahl der Sterbefälle nachgewiesen werden. Inzwischen muss man sich mit der Aus- hilfe begnügen, welche das statistische Amt in der Berechnung gefunden hat, welche sich auf die Angaben über die Beiträge, die Krankheitstage, das Krankengeld und die Vcrpflegungskosten und über das Verhältnis der Beiträge zum Lohne stützt. Es wurde dabei in folgender Weise vorgegangen : Aus den im Laufe des Jahres eingezahlten Beiträgen war mit Hilfe der Angabe über das Prozentverhältnis der Beiträge zum Lohne das Lohneinkommen aller Mitglieder für die Zeit ihrer Mitgliedschaft während des Jahres zu berechnen ; dann konnte man mit Hilfe der Faktoren Krankengeld und Krankheitstage das durchschnittliche Jahres- Lohneinkommen eines Mitglieds ermitteln, und so aus der Teilung

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Arbeitervcrsichcrung und Sozialstatistik.

211

des erstgewonnenen Betrages durch den letztbezeichneten die durchschnittliche Mitgliederzahl während des Jahres hersteilen.

An Personalangaben über die Mitglieder enthält die bisherige und auch die vom Bundesrat neugeregelte Statistik lediglich die Unterscheidung des Geschlechts. Die Ergebnisse dieser Unter- scheidung sind für 1885 folgende :

Mitglieder

Auf 100 männliche

männliche

weibliche

kommen weibliche

Gemeindekrankenversicherung

462 05 1

1 24 533

27.0

Ortskrankenkassen

1 2603 12

274576

2 1.8

Betriebskrankenkassen

980853

280347

28. s

Baukrankenkassen

0978

37

1.1

Innungskrankenkassen

2427;

602

2.6

Eingeschriebene Hilfskassen

661057

69665

10.5

Landesrechtiiche Hilfskassen

' 14747

29038

25.S

Zusammen

3515-75

778898

22.2

Nur das Geschlecht der Kasscnmitglieder statistisch festzuhalten ist recht wenig. Das statistische Amt lässt dies selbst durchfiihlen, indem es die bezüglichen Mitteilungen mit dem Satze einleitet, von den die Leistungsfähigkeit bedingenden persönlichen Eigen- schaften der Mitglieder, soweit sie statistisch erfassbar seien, Be- ruf, Alter und Geschlecht, sei in der Statistik (von 1885) das letztere berücksichtigt. Auch für die Zukunft ist nach den neuen Vorschriften zunächst nichts weiter zu erwarten ; doch enthalten diese in der Schaffung der Grundlage, welche später einmal die Erweiterung der Personalangaben möglich machen wird , einen wichtigen Schritt. Das Gesetz selbst regelt zwar die Anmelde- pflicht, enthält aber keine einheitliche Bestimmung darüber, dass und wie ein Mitgliederverzeichnis welches für den Sozialsta- tistiker selbstverständlich ein wichtiges Urmaterial ist zu führen sei. Durch Bundesratsbeschluss vom 23. Juni 1887 sind nunmehr Vorschriften über Art und Form der Rechnungsführung der Orts- Betriebs- Bau- und der Innungs-Krankenkassen festgestelll und die Bundesregierungen ersucht worden , dafür zu sorgen 1) dass von den höheren Verwaltungsbehörden diese Vorschriften erlassen und mit dem ersten Januar 1888 in Kraft gesetzt werden 2* dass für die Rechnungsführung der Gemeindekrankenversicherung von demselben Zeitpunkt ab gleiche Vorschriften in Kraft gesetzt werden. Diese Vorschriften enthalten Bestimmungen über das Mitgliederverzeichnis. Die Mitglieder sind getrennt nach männ-

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212

v. Mayr,

liehen und weiblichen in dasselbe einzutragen und es muss für jedes Mitglied ergeben : i) den Tag des Eintritts , 2) den Tag des Ausscheidens, 3) ob das Ausscheiden durch den Tod des Mitglieds erfolgt ist. Von Alter und Beruf ist dabei nicht die Rede. Es ist wohl auch nicht zu erwarten , dass diese gewiss wohl überlegte Formulierung des einfachen Inhalts des Mitglieder- verzcichnisses sehr bald wird geändert werden. Auch die gegen- wärtige Zeit, in welcher die allgemeine Krankenversicherung sich erst noch einleben muss und in welcher neue Erweiterung dieser Einrichtung bezüglich der forst- und landwirtschaftlichen Arbeiter im Gange ist, erscheint recht ungeeignet zu neuen weitgehenden Anfor- derungen in bezug auf Sammlung und Verarbeitung statistischen Materials. Dass die Berücksichtigung von Alter, Civilstand und Beruf ein Postulat der Zukunft seitens der Wissenschaft der Sozialstatistik bilden muss, ist klar. Die praktischen Schwierigkeiten aber halte ich für den Augenblick für sehr gross, minder schliesslich in be- treff der Sammlung des Urmateriales in den Mitgliederverzeich- nissen als hinsichtlich der daran zu reihenden Ausbeutung. Die ganze Statistik der Krankenversicherung ist, zur Zeit wenigstens, dezentralisiert eingerichtet, d. h. jede Kasse schickt eine abschlies- sende Nachweisung ein, welche Ausbeutung des statistischen Ur- matcrials, im vorliegenden Fall des Mitgliederverzeichnisses, bei der Kasse selbst voraussetzt. Die Ausbeutung nach dem Ge- schlecht ist höchst einfach, die nach Zivilstand wäre schon etwas, die nach dem Alter bedeutend umständlicher. Was den Beruf anlangt, so wäre die Sache bei berufseinheitlichen Kassen sehr leicht, bei Kassen mit sehr gemischten Berufen sehr schwer. Auch vom Standpunkt der statistischen Technik wäre gegen die dezen- tralisierte Ausbeutung Vieles vorzubringen, namentlich wenn Be- rufsgruppierungen in Frage kommen. Man müsste deshalb einen Schritt weiter gehen und den Kassen zumuten, dass sie für jedes Mitglied Zählkarten, die allerdings sehr einfach eingerichtet werden könnten , ausfüllen und diese behufs zentralisierter Bearbeitung an das statistische Amt einsenden. Eine solche oder eine ähn- liche Einrichtung ist in absehbarer Zeit überhaupt nicht durch- zusetzen. Ich möchte deshalb , damit doch nicht gar zu lange die Sammlung wichtigen Materiales gänzlich vernachlässigt wird, einen Vermittlungsvorschlag machen. Lassen wir die Berufsan- gabe, deren statistische Verwertung immer umständlich ist, fallen, und begnügen wir uns mit dem oben von mir bereits vorgcschla-

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Arheiurversicherung und Sozials/alistik.

213

genen einstweiligen Auskunftsmittei gesonderter Behandlung der berufseinheitlichen Kassen und Gruppierung derselben nach Be- rufszweigen. Lassen wir ebenso die Unterscheidung nach dem Zivilstand, welche ohnedies bezüglich der genauen Verfolgung der darin eingetretenen Aenderungen Schwierigkeiten bietet, bei Seite. Treten wir aber dafür uni so entschiedener für die Berücksich- tigung des Alters in der Art ein, dass das Kalenderjahr der Ge- burt in die Anmeldungen und das Mitgliederverzeichnis aufge- nommen wird. Dafür können wir den Praktikern gegenüber meines Erachtens mit Recht geltend machen, dass die Altersan- gabc schon deshalb geboten ist, weil sie bei Gleichnamigkeit ein sehr zweckmässiges Unterscheidungsmerkmal bietet und über- haupt zur Bestimmung der Identität von Wichtigkeit ist. Wie es dann mit der Ausbeutung dieser in den Mitgliederverzeichnissen enthaltenen Altersangaben zu halten ist, bleibt vielleicht besser späterer Ueberlegung Vorbehalten. Es können ganz gut mehrere Jahre zusammen bearbeitet werden ; es sind dann weniger Zähl- karten auszufüllen, als wenn solche jedes Jahr einzusenden sind, und die Dauer der Kassenzugehörigkeit ist in befriedigender Weise aus dem Vermerk des Mitglicderverzeichnisses über den Tag des Ein- und Austritts zu entnehmen, welcher auch auf der Zählkarte vorzutragen ist. Sozialstatistisch wie hygienisch wäre mit dieser bescheidenen Erweiterung des Mitgliederverzeichnisses die auch auf die Hilfskassen zu erstrecken wäre viel an- gebahnt.

Selbstverständlich wäre , um dies gleich vorweg zu nehmen, dieselbe Angabe des Kalenderjahres der Geburt in das von den Kassen zu führende Krankenbuch aufzunehmen, da die Personal- angaben für die Erkrankten mindestens dieselben wie in dem Mitgliederverzeichnisse sein müssen. Dass ausserdem die Angabe der Krankheitsform sehr wünschenswert ist, liegt auf der Hand; doch rate ich auch davon aus praktischen Gründen vorerst noch abzusehen. Zur besonderen Vorsicht bei allen diesen Vorschlägen mahnt der Umstand , dass bei den meisten Kassen ein sehr be- deutender Mitgliederwechsel stattfindet , so dass die Grösse der durch Schreiberei entstehenden Mühewaltung nicht nach der Durch- schnittszahl der Mitglieder sondern viel höher veranschlagt werden muss. Nach der Statistik von 1885 findet der Umfang des Mit- gliedcrwechsels darin seinen Ausdruck, dass auf einen Durch- schnittsbestand von too Mitgliedern im Laufe des Jahres bei den

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Kassen, welche während des ganzen Jahres in Thätigkeit waren

eintraten

austraten

der Gemeindekrankenversicherung

145

«37

den Ortskrankenkassen

117

IOI

den Betriebskrankenkassen

47

47

den Baukrankenkassen

37 1

393

den Innungskrankenkassen

161

1 62

den eingeschriebenen I lilfskassen

35

30

den landesrechtlichen Hilfskassen

20

«5

Im Ganzen 84

76

Was die Durchschnittsgrösse der Kassen betrifft , so ergibt sich im Gesamtdurchschnitt für das Reich, dass am grössten die Ortskrankenkassen mit 416 Mitgliedern sind; diesen stehen die eingeschriebenen Hilfskassen mit 405 Mitgliedern nahe; dann folgen die landesrechtlichen Hilfskassen mit 303 und die Be- triebskrankenkassen mit 230 Mitgliedern ; die Baukrankenkassen haben 146, die Innungskrankenkassen m Mitglieder im Durch- schnitt , für die Gemeindekrankenversicherung ergeben sich 84.

Um die richtige Erfassung der Erkrankungen und ihrer Dauer zu sichern, ist für die Zukunft das oben bereits erwähnte Kranken- buch zu führen. In demselben ist eine Angabe weggelassen, welche bisher gefordert, und für welche auch ein guter innerer Grund anzufuhren war, nämlich der Sondernachweis über die Er- krankungsfälle und Krankheitstagc, welche als Folge von Betriebs- unfällen sich darstellen. Das statistische Amt bemerkte schon bei der Bearbeitung der Statistik von 1885, die Eintragungen in die bezüglichen Spalten böten zwar äusserlich zu Beanstandungen keinen Anlass, es sei jedoch fraglich, ob hier wirklich nur die- jenigen Erkrankungen und Krankheitsfälle gezählt seien , welche der Unfallversicherung unterliegende Mitglieder betrafen und die Folge von Unfällen waren , die in den unter das Unfallversiche- rungsgesetz fallenden Betrieben sich ereigneten, weil die Kranken- kassen erst dann genötigt waren, bezügliche Ermittlungen anzu- stellen , wenn Abrechnungen mit Unfall-Berufsgenossenschaften in Frage kamen.

Nach der bisherigen Einrichtung der Statistik kann die Er- krankungshäufigkeit nicht einmal nach dem Geschlecht unterschie- den werden, weil bisher die mittlere Mitgliederzahl nur summarisch berechnet werden konnte. Für die Kassen, welche während des ganzen Jahres 18S5 in Thätigkeit waren, ergibt sich für das Reich

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Arbeiterversicherung und Soziaistalislik.

215

und im Einzelnen für Preussen, Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden und EIsass-Lothringcn folgende Erkrankungshäufigkeit auf IOO Mitglieder:

Kassenarten

Reich

Preus-

sen

Bayern

Sach-

sen

VVürt-

tem-

Ba-

den

El.-

Ix>th-

borg

ringen

Gemeindekrankenversich.

37»

26.9

56.6

30.*

44.6

40.5

Ortskrankenkassen

40.1

41.1

36.0

30

56.8

37»

34»

Betriebskrankenkassen

52.4

53«

56.8

51.8

59.3

44.8

45-e

Baukrankenkassen

56.3

57.8

30.7

65.0

54.0

Innungskrankenkassen

60. e

49.,

44 »

Eingeschrieb. Hilfskassen

39»

37*

56.S

33-i

34-o

36.3

25.8

Landesrecht!. Hilfskassen

29.9

2 1.9

37-»

28.7

28.5

3 '•»

29.7

Im Ganzen

43»

43-*

54.8

36.6

51.3

4 t.s

40.9

Dass diese grossen

Durchschnittszahlen

schon deshalb,

weil

sie auf das Alter keine Rücksicht nehmen, nicht als Ausdruck für die grössere oder geringere Widerstandskraft der Arbeiterbevöl- kerung gegen Krankheiten angesehen werden können , liegt auf der Hand. Doch regen sie immerhin zu weiteren Forschungen in dieser Richtung an ; nur bedarf es dazu eines weiteren Ein- gehens in das geographische Detail als es hier möglich ist und der vorgängigen Fortsetzung der Erhebungen für mehrere Jahre. Besonders auffällige Ergebnisse einzelner Landesteile werden da- bei noch eine besondere Erkundigung an Ort und Stelle nötig machen. Was an obigen Hauptzahlen etwa besonders zum Nach- denken auffordert, ist die überall hervortretende grosse Erkran- kungshäufigkeit bei den Betriebskrankenkassen, den eigentlichen Vertretern der Krankenversicherung der Grossindustrie , sodann weiter die im Ganzen auffällig hohe Erkrankungshäufigkeit in Süd- deutschland. Dass auch das Mass des im Krankheitsfall zu Er-

wartenden wohl nicht ohne Einfluss auf die Erkrankungshäufigkeit ist, darf vielleicht aus den Zahlenangaben für die Gemeindekran- kenversicherung, zumal für jene Länder, in denen sie thatsächlich nur subsidiär Platz greift, hcrausgclescn werden. I Joch bin ich weit entfernt, auf das Ergebnis eines und am wenigsten des ersten Jahres dieser Statistik bestimmte Schlussfolgerungen gründen zu wollen ; es kommt mir nur darauf an, ungefähr anzudeuten, welche weite Aussicht für neue sozialstatistische Forschung sich auch hier eröffnet.

Zur Ergänzung der Nachweise über die Häufigkeit der Er- krankungen mögen, und zwar in derselben Gruppierung die Angaben

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2l6 v. Mayr,

über die durchschnittliche Dauer eines Krankheitsfalles nach der Statistik von 1885 dienen:

Durchschnittliche Dauer eines Krankheitsfalles in Tagen

Kassenarten

Reich

Preus-

sen

Bayern

Sach-

sen

VVürt-

tem-

Ba-

den

El.-

Loth-

berg

ringen

Gemeindekrankenversich.

12. S

■3-«

II. s

II.9

9.«

12.6

Ortskrankenkassen

14»

14.1

18. i

17.6

II .7

15.0

>5-»

Betriebskrankenkassen

12. &

12. s

12.6

12. 1

10.6

13.6

14.0

Baukrankenkassen

I4.7

14.0

7.»

19.0

l6.o

Innungskrankenkassen

8.8

10.6

12.1

Eingeschrieb. I Iilfskassen

17.6

18.7

l6.i

18.0

l6.0

17.6

20.«

Landesrecht!. Hilfskassen

23.6

28.0

22.1

24.1

IÖ.6

22.4

20.S

Im Ganzen

14a

13»

12.«

15.4

12.9

14.2

15.0

Im grossen Durchschnitt

dauert

hienach ein Krankheitsfall

14 Tage und die Abweichungen, welche die Durchschnitte für die einzelnen grösseren Staaten zeigen, sind nicht bedeutend. Beach- tenswert ist, dass für Bayern und Württemberg, wo die Erkran- kungshäufigkeit grösser ist, die Krankheitsdauer um zwei Tage geringer erscheint, was gleichfalls dafür spricht, dass dort häufiger auch in leichteren Fällen die Krankenkassen in Anspruch genom- men werden. Für hygienische Betrachtungen sind übrigens die vor- stehenden Zahlen nicht ohne Weiteres verwendbar ; einerseits sind sie zu hoch, andererseits sind sie zu niedrig. Nach den für die Auf- stellung der Nachweisungen massgebenden Vorschriften sind näm- lich als Erkrankungsfälle und Krankentage nur diejenigen zu zählen, für welche die Kasse Aufwendungen gemacht hat an : Kranken- geld, Verpflegungskosten an Krankenanstalten, Ersatzleistungen an Dritte für gewährte Krankenunterstützung. Die Tage, für welche nur ärztliche Behandlung und Arzneiverabreichung ein- tritt , sowie überhaupt die Fälle , in welchen es dabei sein Be- wenden hat, kommen nicht in Betracht. Es scheiden deshalb die leichten Erkrankungsfälle, die nicht mit Erwerbsunfähigkeit ver- bunden sind, ganz aus, und ist demgemäss die Durchschnitts- dauer der verbleibenden (schweren) Erkrankungen etwas grösser als sie bei Berücksichtigung aller hygienisch als solcher sich darstellenden Erkrankungen wäre. Da aber schliesslich die öko- nomische Bedeutung einer Erkrankung sichtbar erst mit dem Eintritt der Erwerbsunfähigkeit hervortritt und allzu subtile Unterscheidungen hier nicht durchführbar sind, kann man mit der Statistik der so etwas enger umschriebenen Erkrankungen

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Arbettervcrsuhrrung und Sotialstalistik.

21 7

wohl zufrieden sein. Aber berücksichtigen muss man dabei noch, dass nach den Bestimmungen über die Aufstellung der Nachweise auch bei diesen Erkrankungen die Tage, welche innerhalb der Karenzzeit liegen, unberücksichtigt bleiben. Für die Gemeinde- krankenversicherung ist bestimmt, dass das Krankengeld erst vom dritten Tage an gezahlt wird ; die übrigen Kassen haben dasselbe mindestens von diesem Tage an zu zahlen , sie werden aber that- sächlich vielfach keine oder eine kürzere Karenzzeit haben. Bei der Gemeindekrankenversicherung sind hienach, wenn der Erkran- kungstag selbst nicht gerechnet wird, zwei volle Tage zuzusetzen. Wie es bei den übrigen Kassen gehalten werden muss, lässt sich ohne Sondererhebung der statutenmässigen Bestimmungen nicht sagen ; diese Erhebung kann übrigens ohne Belästigung mit der Jahresnachweisung (die nur eine kurze Notiz über die Karenzzeit zu enthalten braucht) verbunden werden. Etwas schlimmer steht es zur Bereinigung der Erkrankungsstatistik mit der richtigen Fest- stellung und Festhaltung des Endpunkts der Erkrankungsdauer. Zunächst kommt das Uebergreifen der Krankheitsdauer in das folgende Kalenderjahr in Frage. Richtig wäre, die Krankheits- dauer ausschliesslich der in einem Kalenderjahr angefallcnen Er- krankungen, diese aber auch in ihrer Erstreckung auf das fol- gende Kalenderjahr zu erfassen. Das ist aber praktisch nicht zu erreichen, man muss sich also mit der Kompensation begnügen, welche in der Mitzählung der Krankheitstage vorjähriger Erkran- kungsfalle gegenüber der Weglassung nächstjähriger Krankheits- tage diesjähriger Erkrankungsfälle eintritt. Es leuchtet ein, dass im allgemeinen im Stadium der Entwickelung und Erweiterung der Versicherung, ganz besonders aber in den Anfangsnachwei- sungen die Krankheitsdauer kürzer erscheint als sie wirklich ist, weil weniger Krankheitstagc aus dem Vorjahr übernommen als au( das Nachjahr abgeschoben werden.

Schlimmer steht es mit der weiteren statistischen Verkürzung der Krankheitsdauer, welche darin ihren Grund hat, dass zahl- reiche Kassen nur für das gesetzliche Minimum von 13 Wochen Unterstützung gewähren , in welchem Falle die späteren Krank- heitstagc für die Statistik offiziell keine solchen sind. Im Jahre 1885 haben von den 18942 Kassen, welche im Laufe des Jahres überhaupt in Thätigkeit waren, 15249, darunter die 7125 Kassen der Gemeindekrankenversicherung nur für 13 Wochen Unter- stützung gewährt , weitere 2476 Kassen über 13 bis 26 Wochen,

Archiv für soz Gcsctzgbg u Statistik I. IC

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218

v. Mayr,

1049 Kassen über 26 bis 52 , und endlich 168 Kassen über 52 Wochen. Man könnte nun daran denken, sich durch eine Sonder- behandlung der hier erwähnten Kassengruppen zu helfen, allein es bleibt immer noch der weitere Uebelstand, dass bei den durch Un- fällen verursachten langwierigen Krankheiten die Berufsgenossen- schaften befugt aber nicht verpflichtet sind, der Krankenkasse gegen Erstattung die Fürsorge für den Verletzten auch nach der 13. W'oche zu überlassen. Thun sie dies , so zählen die Krankentage nach der 13. Woche, andernfalls nicht. Unter diesen verwickelten Um- ständen wird man sich wohl vorläufig mit dem wissenschaftlichen Vorbehalt begnügen müssen, dass die statistisch nachgewiesene Krankheitsdauer der Fälle , welche Erwerbsunfähigkeit zur Folge haben , zu klein erscheint. Späterhin , wenn für die Kranken- kassen einmal eine ruhigere Zeit kommt und Zählkarten mit An- gabe der Krankheit bezw. Verletzungsart ausgefiillt und einer zentralen statistischen Bearbeitung unterzogen werden können, wird auch die Erkrankungshäufigkeit und Erkrankungsdauer in vollkommen befriedigender Weise dargestellt werden können. In- zwischen möchte es sich empfehlen, wenigstens die Altersstatistik der Erkrankten sofort in Vollzug zu setzen und zu diesem Iichuf wie bereits oben erwähnt, die erforderlichen Ergänzungen im Schema des Krankenbuches vorzunehmen.

Aus der bezüglich der Krankheitsdauer schon jetzt durch- führbaren Unterscheidung des Geschlechts der Erkrankten er- geben sich sehr beachtenswerte Regelmässigkeiten. Für die Ge- samtheit der Kassen im ganzen Deutschen Reich ist kein Unter- schied in der Dauer der Erkrankung männlicher und weiblicher Mitglieder, sie ist für beide Kategorien zu 14.1 Tagen nachgewiesen. Dass im Süden die Männer, im Norden die Weiber ein klein wenig länger krank seien, könnte man vielleicht aus den Sonder- ergebnissen nach Landesteilen herauslesen , doch zeigen sich im einzelnen genug Ausnahmen , und ist gewiss der Zeitraum eines Jahres für solche Beobachtungen nicht ausreichend. Später, wenn einmal reichlicheres Material vorliegt , mag mit Aussicht auf in- teressante Ergebnisse eine derartige Studie über die Erkrankungs- dauer angestellt werden ; dabei wird man den Ausgang der Krank- heit, ob Heilung oder Tod aber vor allem noch unterscheiden müssen.

Für 1885 ergibt sich im Durchschnitt aller Kassenarten für die nachbezeichneten Länder folgendes Resultat :

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Arbtitervtrsuhn ung und Sozrais/a/is/it. 219

Durchschnittliche Dauer (in Tagen) eines Krankheitsfalles der

männlichen

Mitglieder

weiblic

Preussen

13.6

14-3

Bayern

12.8

1 1.«

Sachsen

<5**

l6. 1

Württemberg

12. 3

1 1.»

Baden

>3-9

15.1

Hessen

191

18.8

Eisass- Lothringen

I5.J

14.3.

Kinen umfangreichen Teil der Nachweisungen, welche von den Kassen nach gesetzlicher Bestimmung jährlich den Aufsichts- behörden einzureichen sind , bilden die Rechnungsabschlüsse, welche mit den Einnahmen, den Ausgaben und dem Vermögen der Kassen sich beschäftigen. Diese nach der Natur der Sache ziem- lich vielgliedrigen Nachweise enthalten wertvolles sozialstatistisches Material; daneben allerdings auch manches Detail, das mehr ver- waltungsstatistischer Natur ist. Nach beiden Richtungen bedeut- sam ist vor allem die Nach Weisung über Leistung und Gegen- leistung bei der Versicherung.

Im allgemeinen ist es recht schwierig, aus solchen von ein- zelnen Kassenverwaltungen gefertigten Abschlüssen , wenn sie ohne Unterlagen an die statistische Zentralstelle gelangen, befrie- digende Zusammenzüge herzustellen. Ich kann davon aus eigener Erfahrung als früherer Vorstand des Kgl. bayer. statistischen Bureau's erzählen. Ganz besonders ist dies aber dann der Fall, wenn grundlegende Bestimmungen über eine gleichhcitliche Buch- führung fehlen. In dieser Lage war bisher das statistische Amt bezüglich der Abschlüsse der Krankenkassen. Nach dem Kranken- versicherungsgesetz ist die Befugnis zu Anordnungen über Art und Form der Rechnungsführung den höheren Verwaltungsbe- hörden überlassen. Erst für die Zukunft ist durch den mehr- fach erwähnten Bundesratsbeschluss vom 23. Juni 1887 Wandel geschaffen , indem durch diesen für die Rechnungsführung der Krankenkassen allgemein gütige Vorschriften getroffen worden sind. Die bereits erwähnten Anordnungen über das Mitglieder- verzeichnis und das Krankenbuch bilden einen Bestandteil der- selben ; ausserdem sind spezielle Vorschriften über die Führung des Einnahme- und Ausgabebuches sowie über die Einrichtung der Vermögensrechnung gegeben. Diese neue Buchführung ist mit dem 1. Januar 1888 in Kraft getreten. Bei dieser Sachlage

15*

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220

v. Mayr,

ist es erklärlich , dass das statistische Amt bei der erstmaligen Zusammenstellung der Rechnungsabschlüsse grosse Schwierig- keiten fand , welche nur zum Teil beseitigt werden konnten und dass deshalb auch dieser Teil der Statistik vom Amte selbst »nur als ein Versuch zur Verwertung des gesammelten Materials bezeichnet und zum Schluss der einleitenden Erörterung noch- mals ausdrücklich betont wird, »dass die vorliegende Statistik noch zu sehr den Charakter eines ersten Versuches trägt, als dass auf sie schon ein sicheres Urteil über die neue Organisation ge- gründet werden könnte«.

Hiernach wird es der Leser gewiss billigen, wenn ich in das Detail der Rechnungsabschlüsse nicht zu tief eindringe, sondern mich auf die Hervorhebung der wichtigsten Punkte beschränke.

Betrachten wir zunächst die Leistungen , welche von den Mitgliedern bezw. für dieselben in Form von Eintrittsgeldern und Beiträgen im Jahre 1885 bei den überhaupt thätig gewesenen Kassen gemacht worden sind, so finden wir folgendes :

Einnahmen.

Kasscnarten Eintrittsgelder Beiträge Zusammen

Mark Mark Mark

Gemeindekrankenversicherung 394 ') 4009854 4010248

Ortskrankenkassen 661057 18420172 19081229

Betriebskrankenkassen 1 51 174 20297049 20448223

Baukrankenkassen 2529 365079 367608

Innungskrankenkassen 6029 269674 275703

Eingeschriebene Hilfskassen 339062 9748825 100878S7

Landesrechtlichc Hilfskassen 47281 1 816901 1864182

Zusammen 1207526 54927554 56135080

Die Beiträge sind zu Lasten teils der Arbeitgeber teils der Arbeitnehmer. Bei den Zwangskassen (wenn ich so die Ge- meindekrankcnversichcrung , Ortskrankenkassen , Betriebskranken- kassen und Baukrankenkassen im Gegensätze zu den Innungs- krankenkassen und den I lilfskassen kurzweg bezeichnen darf) haben die Arbeitgeher die Gesamtheit der Beiträge für die von ihnen be- schäftigten versicherungspflichtigen Personen einzuzahlen und ein Drittel derselben aus eigenen Mitteln zu leisten. Durch statutarische Regelung kann bestimmt werden , dass Arbeit- geber, in deren Betrieben Dampfkessel oder durch elementare

') Bei der Ciemeindekrankenversicherung sind Eintrittsgelder unzulässig ; dass doch ein kleiner Betrag hier nachgewiesen, rührt nach Ansicht des statistischen Amts von anfänglicher unzutreffender Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen her.

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Arbeiterversicherung und Sozialstatistik.

221

Kraft bewegte Triebwerke nicht verwendet und mehr als zwei dem Krankenversicherungszwange unterliegende Personen nicht beschäftigt werden , von der Verpflichtung zur Leistung von Beiträgen aus eigenen Mitteln befreit sind. Für freiwillig Bei- getretene haben die Arbeitgeber nichts zu leisten. Wie gross hienach der Betrag ist , welcher effektiv zu Lasten der Arbeit- geber und Arbeitnehmer bleibt, lässt sich um so weniger be- stimmen, als auch jene Fälle, in welchen die Arbeitgeber den Arbeitnehmern bei der Lohnzahlung weniger als zwei Drittel der Beiträge in Abzug bringen, nicht zur Erscheinung kommen. Es ist wohl auch nicht zu erwarten, dass dieses ökonomisch wie so- zialpolitisch allerdings recht wichtige Faktum in absehbarer Zeit durch genaue statistische Beobachtung wird kontrolliert werden können; sogar der bisherige einfache Versuch, die von den Ar- beitgebern und von den Arbeitnehmern »eingezahlten« Beiträge zu unterscheiden, ist missglückt und im neuen Formulare aufgegeben worden. Man wird sich also bis auf weiteres mit Schätzungen be- gnügen müssen. Lässt man die Innungs- und Hilfskassen, die hiebei nicht in Betracht kommen, ausser Rechnung, so verbleiben an Beiträgen rund 43100000 Mark. Nimmt man an, dass die Fälle, in welchen die Arbeitgeber mehr als ein Drittel tragen, die unter dieser Summe enthaltenen Beiträge freiwillig Beigetretener (zwei ganz unbekannte Grössen) kompensieren, so verbliebe zu unmit- telbaren Lasten der Arbeitgeber der Betrag von 14.« Millionen Mark. Gegner der deutschen Sozialgesetzgebung haben weg- werfend darauf hingewiesen, dass dieser Betrag die ganze Lei- stung der Arbeitgeber sei ; merkwürdigerweise kommt dieser ' Vorwurf gerade aus den Reihen derjenigen, welche alles von freier Entwickelung der Selbsthilfe bei den Arbeitern , also von einetfi System erwarten, das den Arbeitgeber zu gar nichts verpflichtet und ihn überhaupt mit der ganzen Fürsorge für Krankheit gar nicht beschäftigen will. Der Widerspruch der hierin liegt , ist klar; im übrigen will mir scheinen, dass die Drittelsleistung der Arbeitgeber in ihrer materiellen Bedeutung für das Maass der Krankenfürsorge doch nicht zu unterschätzen ist : denn diese vollen 14 Millionen für 1885 sind bei einer Gesamtausgabe für Kranken- koslen von 47 Mill. in diesem Jahre denn doch keine Kleinigkeit.

Auch kommt weiter in Betracht, dass bei der Organisation der Krankenversicherung dem Arbeitgeber durch das Gesetz noch mehrere andere für die glatte Abwickelung der Geschäfte sehr

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222

v. Mayr,

wichtige Zumutungen ausser der bereits erwähnten Verpflich- tung zur Einzahlung der Beiträge gemacht sind.

Bei den Betriebs- und Baukrankenkassen, zu deren Errichtung der Unternehmer unter gewissen Voraussetzungen gezwungen wer- den kann, ist derselbe verpflichtet, die erforderlichen Vorschüsse zu leisten, falls die Bestände der Kasse nicht ausreichen, um die laufenden Ausgaben derselben zu decken 64). Ferrer hat der Unternehmer (dies gilt auch für die Innungskrankenkassen), wenn die gesetzlichen Mindestleistungen der Kasse durch die Bei- träge, nachdem diese für die Versicherten drei Prozent der durch- schnittlichen Tagelöhnc oder des Arbeitsverdienstes erreicht haben, nicht gedeckt werden, die zur Deckung derselben erforderlichen Zuschüsse aus eigenen Mitteln zu leisten 65).

Nach den Tabellen für 1885 stellen sich diese Vorschüsse und Zuschüsse der Unternehmer folgendermassen :

Vorschüsse

Zuschüsse

Mark

Mark

Betriebskrankenkassen

36t 916

60917

Baukrankenkassen

7064

3267

Innungskrankenkassen

44

Zusammen

368979

64228

Das sind allerdings keine grossen Summen; man darf aber nicht vergessen, dass sie in anormalen Jahren, z. B. bei grossen Epidemien sehr bedeutend anschwellen können.

Vergleicht man bei jenen Kassen, welche während des ganzen Jahres in Thätigkcit waren, die Leistungen mit der Mitgliederzahl, so ergibt sich folgendes:

Auf ein Mitglied treffen an Beiträgen und Eintrittsgeld zusammen

. Mark

Gemeindekrankenversicherung 7.»

Ortskrankenkassen 12.8

Betriebskrankenkassen 16.6

Baukrankenkassen 20.8

Innungskrankenkassen I 1.»

Eingeschriebene Hilfskassen 14.«

Andere freie Hilfskassen I 3.5

Zusammen 1 3.4

Die geringeren Betrage bei der Gemeindekrankenversicherung erklären sich aus der Bestimmung des Gesetzes 9 und § 10), nach welcher bei dieser die Beiträge in der Regel I '/»"/o des

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Arbeitender Sicherung und Sozialstatistik. 223

ortsüblichen Taglohns nicht übersteigen und nur dann bis zu 2 °/o desselben erhöht werden dürfen , wenn sich aus den Jahresab- schlüssen ergibt , dass dieselben zur Deckung der gesetzlichen Krankenunterstützungen nicht ausreichen. Für die übrigen Zwangs- kassen dagegen ist folgendes 31) bestimmt : bei der F.rrichtung der Kasse dürfen die Beiträge soweit sie den Kasscnmitgliedern selbst zur Last fallen, nicht über zwei Prozent des durchschnitt- lichen Tagelohns festgesetzt werden, sofern solches nicht zur Deckung der Mindestleistungen der Kasse erforderlich ist; eine spätere Erhöhung der Beiträge über diesen Betrag, welche nicht zur Deckung der Mindestleistungen erforderlich wird, ist nur bis zur Höhe von drei Prozent des durchschnittlichen Tagelohns und nur dann zulässig, wenn dieselbe sowohl von der Vertretung der zu Beiträgen verpflichteten Arbeitgeber als von derjenigen der Kassenmitglieder beschlossen wird.

Die Gegenleistung der Kassen an Bestreitung von Krank- heitskosten aller Art (für ärztliche Behandlung , Arznei und son- stige Heilmittel, Krankengelder an Mitglieder und an Angehörige, Unterstützungen an Wöchnerinnen, Sterbegelder, Verpflegungs- kosten an Krankenanstalten, stellt sich im Ganzen bei den über- haupt thätig gewesenen Kassen, und bei Reduzierung auf ein Mit- glied und einen Fall bei den während des ganzen Jahres thätigen Kassen, folgendermassen :

Krankheitskosten

Ueberhaupt auf ein Mitglied auf einen Fall

Mark

Mark

Mark

Gemeindekrankenversicherung

3900343

7-»

I 9.8

Ortskrankenkassen

14 739 500

9.7

24.9

Betriebskrankenkassen

17 493 597

14.»

27.9

Baukrankenkassen

284 006

16.9

28.9

Innungskrankenkassen

2 n 2 17

9.9

15.1

Eingeschriebene Hilfskassen

8 990 433

'3-1

33-i

Landesrechtliche Hilfskassen

1 691 025

12.1

40.6

Im Ganzen

47 400 1 2 1

1 1.<

26.4

Dieser mittlere Betrag der von den Krankenkassen gemachten Aufwendungen ist auch schon von den Gegnern der deutschen Arbeiterversicherung gewissermassen als armselig bezeichnet und dem gegenüber die Höhe des durchschnittlichen Aufwands an Armenunterstützungen in Grossstädten hervorgehoben worden. Dass man die besonderen Verhältnisse einer Grossstadt nicht mit Durchschnittsverhältnissen für das ganze Reich vergleichen darf,

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224

v. Mayr ,

ist klar. Das ist aber im vorliegenden Falle gar nicht die Haupt- sache ; diese liegt vielmehr, abgesehen von dem Umstande dass in einem Anfangsjahr wie die Krankheitsdauer so auch der Auf- wand dafür sich statistisch kleiner als in Wirklichkeit herausstellt, im Folgenden. Eine Hauptlast bei der Armenunterstützung bildet die Unterhaltung der dauernd unterstützungsbedürftigen nicht er- werbsfähigen Personen. Bei der Krankenversicherung handelt cs sich um die gerade entgegengesetzte Kategorie von Personen, um erwerbsfähige Arbeiter, welche nur ausnahmsweise durch Krank- heit — in der Regel nur für kurze Zeit erwerbsunfähig werden. Dass man für einen 365 Tage lang Erwerbsunfähigen ganz andere Opfer zu bringen hat als für einen nur 14 Tage Erwerbsunfähigen ist klar; die Aufwendungen im einen und im andern Fall sind deshalb in dem Sinne, wie die Manchestermänner cs thun , gar nicht vergleichbar.

Die Verteilung der Gesamtsumme der Krankenkosten auf die oben angegebenen Bestandteile derselben ist schon deshalb von Interesse, weil sie ersehen lässt, wie sich die Gesamtleistung der Kasse auf Naturalleistung und Geldleistung verteilt. Es ergibt

sich hiebei Folgendes:

Mark

Ausgaben für ärztliche Behandlung 9060945

» » Arznei und sonstige Heilmittel . . 7072016

. .. kan Mitglieder 23717376

(an Angehörige der Mitglieder . 24 1 547

Unterstützungen an Wöchnerinnen 659054

Sterbegelder 2 I 8S 448

Verpflegungskosten an Krankenanstalten .... 4460735

Die Rubrik »Verwaltungsausgaben« gehört wohl zu jenen, bei welchen die mangelnde gleichartige Buchführung sichere Vergleiche ausschliesst ; man wird deshalb gut thun noch wei- tere Rechnungscrgebnissc abzuwarten, zumal am Anfänge einer ganz neuen Einrichtung die Jahreskosten der Verwaltung sehr wohl als anormal sich darstellen können. Immerhin aber geben die Nachweise für 1885 Anlass zum Nachdenken über die hohen Kosten dieser Art bei den Orlskrankenkassen und den Hülfs- kassen. Es sind nämlich angegeben die Verwaltungskosten zu

Mark

bei der Gemeindekrankenversicherung 17 704

» den Ortskrankenkassen 2136719

» Betriebskrankenkassen 2 18 89 1

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Arbtitervtrsicha ung und Soiinls/atistik.

225

Mark

bei Baukrankenkassen 5 242

» Innungskrankenkassen 28675

» den eingeschriebenen llilfskassen 821522

» den landesrechtlichen Hillskassen 1 5 5 783

Im Ganzen . . 3 384 536

Sozialstatistisch sehr wertvolle Nachweise fallen schliesslich infolge der gesetzlichen Bestimmungen über die Krankenver- sicherung noch auf dem Gebiete der Lohnstatistik an. Für die Gemeindekrankenvcrsichcrung bildet der »ortsübliche Taglohn gewöhnlicher Tagarbeiter* die Grundlage zur Bemessung sowohl der Beitrüge als der Krankengelder, die ersteren sollen in der Regel i'/s %, die letzteren die Hälfte dieses ortsüblichen Tag- lohns gewöhnlicher Tagarbeiter bilden. Für Beiträge und Kranken- gelder der übrigen Zwangskassen bildet der »durchschnittliche Tagelohn der Versicherten«, soweit er drei Mark für den Arbeits- tag nicht überschreitet, die Grundlage zur Bemessung der Bei- träge wie des Krankengeldes; dabei kann die Feststellung des durchschnittlichen Tagelohnes auch unter Berücksichtigung der zwischen den Kassenmitgliedern hinsichtlich der Lohnhöhe be- stehenden Verschiedenheiten klassenweise erfolgen. Der durch- schnittliche Tagelohn einer Klasse darf in diesem Falle nicht über den Betrag von vier Mark und nicht unter den Betrag des ortsüblichen Taglohns festgestellt werden. Bei den Betriebs- und Baukrankenkassen können durch Bestimmung des Statuts die Beiträge und Unterstützungen statt nach durchschnittlichen Tage- löhnen in Prozenten des wirklichen Arbeitsverdienstes der ein- zelnen Versicherten festgesetzt werden, soweit dieser vier Mark für den Tag nicht übersteigt.

Wir haben also verantwortungsvolle Frage und Antwort in einer Angelegenheit, welche Volkswirte und Statistiker schon seit langem beschäftigt.

Was zunächst den ortsüblichen Taglohn gewöhnlicher Tage- arbeiter betrifft, so wird nach § 8 des Gesetzes der Betrag des- selben von der höheren Verwaltungsbehörde nach Anhörung der Gemeindebehörden festgesetzt. Die Festsetzung findet für männ- liche und weibliche, für jugendliche und erwachsene Arbeiter be- sonders statt. Für Lehrlinge gilt die liir jugendliche Arbeiter getroffene Feststellung, Bei der Beratung des Gesetzentwurfs war angeregt worden, die Festsetzung des ortsüblichen Taglohns den

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p. Mayr,

Gemeinden zu überlassen. Dagegen wurde aber mit Erfolg gel- tend gemacht , dass die Gemeindebehörden gewissermassen in eigener Sache sprechen würden und , um nicht eventuell hohe Summen aus Gemeindemitteln vorschiessen zu müssen , ein Inter- esse hätten, die Normalsätze möglichst niedrig festzustellen ; auch sei zu befürchten, dass bei Festsetzung durch die Gemeinden sich zwischen verschiedenen Orten desselben Bezirks ungerechtfertigte Abweichungen ergeben würden.

Die höheren Verwaltungsbehörden haben eingedenk der grossen Verantwortung , welche auf ihnen lastete , gewiss mit grösster Sorgfalt ihre Festsetzungen getroffen. Meistens sind die Festsetzungen für 10 Jahre erfolgt, doch sind Abänderungen auch in früherer Zeit statthaft und einzelne bereits erfolgt. Eine Zusam- menstellung der einschlägigen Veröffentlichungen sämmtlicher höherer Verwaltungsbehörden des Deutschen Reiches ist enthalten in der Schrift : »Uebersicht der für die sämmtlichen deutschen Bundesstaaten in Gemässheit des § 8 u. s. w. festgestellten orts- üblichen Tagelöhne gewöhnlicher Tagearbeiter. Zusammengestellt von J. Schmitz, Redakteur der »Arbeiterversorgungc , Zentral- organ für das Arbeiterversicherungswesen.c Berlin und Neuwied 1888. Diese reiche Sammlung schätzbaren Urmateriales zur Lohn- statistik hier auch nur einigermassen ausbeuten zu wollen, wurde zu weit fuhren ; es ist dies im Zusammenhang mit der gleichen Verwertung der weiteren aus der Krankenversicherung sow'ie der aus der Unfallversicherung sich ergebenden lohnstatistischen Nach- weise besser Gegenstand einer besonderen sozialstatistischen Arbeit.

Was nun die weiteren auf den Durchschnittstaglohn der Ver- sicherten bezüglichen Nachweise anlangt, so habe ich bereits oben Gelegenheit gehabt, darauf hinzuweisen wie das statistische Amt diese benützt hat, um zur Schätzung des mittleren Standes der Mitgliedschaft der Kassen zu kommen. Das statistische Amt nimmt an, dass aus den Beiträgen zu 54.» Millionen Mark sich ein versicherungspflichtiges Einkommen von 2* 4 Milliarden Mark er- geben würde, wenn man den Satz von 2 °/o als durchschnittliches Verhältnis der Beiträge zum Lohn annehme; dies letztere dürfte zulässig sein, da der niedrigste Satz von I ’/a °/o soweit man den Satz überhaupt nachweisen könne, was bei den freien Hilfs- kassen nicht der Fall sei nur bei der Gemeindekrankenver- sicherung die Regel bilde. Dabei stützt sich das Amt auf eine summarische nur die Kassenzahl berücksichtigende Zusammen-

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Arbeiter-Versicherung und Sozialstatistik. 227

Stellung, welche bei Weglassung der Unterscheidung der ver- schiedenen Kassenarten folgendes l'.rgebnis liefert.

Zahl der Kassen, welche

im Jahre 1885 überhaupt in Thätigkcit waren 16629

| unter 1.5 755

darunter: 1 i.» 8180

mit einem Prozentverhältnisse mehr als 1.6 bis unter 2 . 660

der Beiträge zum Lohn (von '2 2702

Arbeitern und Arbeitgebern J mehr als 2 bis unter 3 . 1533

zusammen) von 13 2671

mehr als 3 128

Für eine erstmalige summarische Schätzung mag eine der- artige Zusammenstellung genügen. Für die Zukunft aber wird eine viel genauere Ausbeutung der Angaben über das Prozent- verhältnis der Beiträge zum Lohn nötig sein. Der erforderliche Vermerk darüber ist im Urmatcrial, d. i. in den von den Kassen aufzustellenden Jahresnachweisungen beibehalten und durch den weiteren Vermerk über das Prozentverhältnis des Krankengeldes zum Lohn für die Zukunft ergänzt. Es darf auch nach der Fas- sung des betreffenden Vermerks im Formular angenommen wer- den, dass bei den Betriebs- und Baukrankenkassen zum Ausdruck kommen wird, ob der durchschnittliche Tagelohn oder der wirk- liche Arbeitsverdienst in Frage ist. Es steht also nichts im Wege, in Zukunft zunächst die Kassen nach allen überhaupt vorkom- menden Abstufungen der Lohnprozente zu sortieren und für jede Gruppe durch Kombination mit der Summe der geleisteten Bei- träge den Betrag der versicherungspflichtigen Lohnsumme be- sonders zu ermitteln.

Dann kommt allerdings noch die weitere Frage, ob das »ver- sicherungspflichtige« Lohneinkommen mit dem Lohneinkommen überhaupt zusammenfällt. Diese Frage ist ohne weiteres zu ver- neinen; der Leser wolle sich nur an die oben mitgeteilten Ge- setzesbestimmungen erinnern, nach welchen Durchschnittslöhne über 3 Mark, in gewissen Fällen erst solche über 4 Mark unbe- rücksichtigt bleiben. Durch eine Extrabefragung diese vom Ge- setz ausser Berücksichtigung gesetzten Lohnsummen in Erfahrung zu bringen , vermag ich nicht zu empfehlen. Dagegen wird es sehr zweckmässig und für die Brauchbarkeit der lohnstatistischen Daten sehr wichtig sein, über die mutmassliche Tragweite der erwähnten Gesetzesbestimmung dadurch in's Reine zu kommen,

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228

zi. Mayr,

dass man von jeder Kasse nicht bloss den Nachweis über das Prozentverhältnis der Beiträge zu den Löhnen, sondern auch die Angaben über die Festsetzung der Durchschnittslöhne verlangt. Sind dabei keine Klassen gebildet, so genügt der kurze Vermerk einer einzigen Zahl; aber auch in dem Fall, dass Klassen ge- bildet sind, kann die vormerkungsweise Angabe so wichtiger jedem Kassenverwalter jederzeit vorschwebender Grundlagen der Bei- tragspflicht nicht die geringste Schwierigkeit bieten ; nötigenfalls kann wie dies schon jetzt für’s Lohnprozent vorgesehen ist die Angabe von der Aufsichtsbehörde gemacht werden. Diese Ergänzung des Formulars ist dringend zu empfehlen ; es wird sich dann zeigen, ob bei vielen Kassen der Durchschnitts-Maxi- malsatz von 3 bezw. 4 Mark überhaupt erreicht ist. Weiter in der Krfragung der Lohnverhältnisse bei der Krankenversicherungs- statistik zu gehen , widerrate ich um so mehr . als auch die Un- fallversicherung sehr schätzbares lohnstatistischcs Material in der sozialstatistisch viel wertvolleren durchgreifenden berufsgenossen- schafllichen Gliederung bietet, und deshalb im Zweifel die feinere Durcharbeitung dieser Seite der Lohnstatistik sich empfiehlt.

II. Unfallversicherung.

Es liegt im Wesen der obligatorischen Unfallversicherung der Arbeiter und ihrer im Deutschen Reiche durchgeführten be- rufsgenossenschaftlichen Gliederung insbesondere , dass aus den zahlenmässigen Ermittelungen und Rechenschaftsberichten, welche das Walten dieses Versicherungsapparates zu Tage fördert, für die Sozialpolitik eine grosse Bereicherung sich ergibt, wenn auch bei den Anordnungen , die das Zahlenmaterial geschaffen haben, ganz andere Erwägungen als statistische Neugierde massgebend waren.

Schon die Inangriffnahme und die Weiterfuhrung der ganzen Organisation bedingt eine Untersuchung und Feststellung von Thatsachen, an welchen der Sozialstatistiker in Gemeinschaft mit seinem Kollegen, dem Wirtschaftsstatistiker, das höchste Interesse hat. Ich habe dabei die Ermittelung der versicherungspflichtigen Betriebe und deren berufsgenossenschaftliche Gruppierung im Sinne. Nicht um eine einmalige verantwortungslose Befragung wie bei einer Gewerbestatistik handelt es sich, sondern um eine Reihenfolge sehr ernster mit der schützenden Waffe der Straf- und Verwaltungsgesetzgebung ausgerüsteter Massnahmen, welche

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Arbtiterrtrsichtrung und Soziahlalistik.

22 9

alle darauf abzielen, die Versicherungspflichtigen Betriebe festzu- stellen, sie, soweit cs der Versicherungszweck erheischt, gcwisser- massen zu photographieren, deren richtige Einreihung in die Be- rufsgenossenschaften zu gewährleisten und dann auch weiterhin dafür zu sorgen, dass alle im Laufe der Zeit eintretenden Verän- derungen zum richtigen Ausdruck kommen.

Die Grundlage für die ganze Reihenfolge dieser Feststellungen ist im § 11 des Unfallversicherungsgesetzes (vom 6. Juli 1884) ge- geben, welcher Bestimmungen enthält, aus denen der Zusammen- hang dieser ersten Ermittelungen mit der auf berufsstatistische Gliederung der Betriebe gerichteten Thätigkeit sofort hervorgeht. Das Gesetz bestimmt nämlich in dem erwähnten Paragraphen fol- gendes. Jeder Unternehmer eines versicherungspflichtigen Betriebes hat diesen unter Angabe des Gegenstandes und der Art desselben, sowie der Zahl der durchschnittlich darin versicherten Personen bei der unteren Verwaltungsbehörde anzumelden. Für die nicht angemeldeten Betriebe hat die untere Verwaltungsbehörde die Angaben nach ihrer Kenntnis der Verhältnisse zu ergänzen. Die- selbe ist befugt, die Unternehmer nicht angemeldcter Betriebe zu einer Auskunft darüber innerhalb einer zu bestimmenden Frist durch Geldstrafen im Betrag bis zu 100 Mark anzuhalten. Die untere Verwaltungsbehörde hat ein nach den Gruppen , Klassen und Ordnungen der Reichsberufsstatistik geordnetes Verzeichnis sämtlicher Betriebe ihres Bezirks unter Angabe des Gegenstandes und der Art des Betriebes, sowie der Anzahl der darin beschäf- tigten Personen aufzustellen. Das Verzeichnis ist der höheren Verwaltungsbehörde einzureichen und von dieser erforderlichen- falls hinsichtlich der Einreihung der Betriebe in die Gruppen, Klassen und Ordnungen der Reichsberufsstatistik zu berichtigen. Die höhere Verwaltungsbehörde hat ein gleiches Verzeichnis sämt- licher Versicherungspflichtigen Betriebe ihres Bezirks dem Reichs- versicherungsamt einzureichen.

Ich habe die vorstehenden gesetzlichen Bestimmungen des- halb so ausführlich wiedergegeben, weil mir die Anlehnung, welche die erste Verwaltungsthätigkeit zu Unfallversicherungszwecken an die Vorleistungen der Reichsberufsstatistik genommen hat, von besonderem Interesse zu sein scheint.

Die von eingehenden statistischen Nachweisen begleiteten Mitteilungen des Reichsversicherungsamts über den Erfolg der hier angeführten Gesetzesbestimmung (in dessen »Amtlichen Nach-

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230

v. Afayr,

richten« Jahrgang i8i>5 Nr. 4 und 5) sind sehr lesenswert. Das Reichsversicherungsamt hatte zur Ausführung des angeführten § 11 eine ausführliche Instruktion veröffentlicht , welche insbeson- dere die Frage der Versicherungspflichtigkeit der betriebe er- örterte, und ein Formular für die Anmeldungen festgesetzt. Durch die Bestimmungen des § 11 sollte, wie das Reichsversicherungs- amt ausfuhrt, ein dreifacher Zweck erreicht werden : einmal han- delte es sich darum, das für die Bildung und vorläufige Abgren- zung der Berufsgenossenschaften erforderliche Material zu er- langen, sodann galt es in dem letzteren die unentbehrliche Grund- lage für die von den Genossenschaftsvorständen demnächst auf- zustellenden Genossenschaftskataster zu gewinnen , endlich sollte das Anmeldungsverfahren die Beteiligten auf die neue gesetzliche Regelung unmittelbar hinweisen und sie veranlassen, Anträge zur freiwilligen Bildung von Berufsgenossenschaflen vorzubereiten. Um den Krfolg des Anmeldungsverfahrens besser zu sichern, hatte das Reichsversicherungsamt alle ihm bekannt gewordenen namhafteren industriellen Vereine und Korporationen um ihre Mit- wirkung angegangen. Der Erfolg dieser ersten Anmeldungen war ein günstiger. Das Reichsversicherungsamt nahm an , dass das Resultat der Anmeldungen , soweit die eigentliche Fabrik- und sonstige Industrie in Frage kam, den thatsächlichen Verhältnissen im grossen und ganzen entsprach, während das Ergebnis bei den Baugewerben allerdings weit hinter der Wahrheit zurückgeblieben sei. Angemeldet waren 2776891 Arbeiter; das Reichsversiche rungsamt nahm an, dass die Zahl der Bauarbeiter zu verdoppeln und hienach die Gesamtzahl der Personen , welche der Wohl- thaten des Gesetzes würden teilhaftig w'crden, auf rund 3110000 zu veranschlagen sei.

Es würde den für diese Ausfuhrungen gebotenen Rahmen überschreiten, wollte ich den ganzen Prozess der Genossenschafts- bildung im einzelnen verfolgen , welcher sich historisch zwischen das erste aus den Anmeldungen gewonnene Verzeichnis der Be- triebe und die spätere Herstellung des Genossenschaftskatasters einschiebt. Es genügt, darauf hinzuweisen, dass die Bildung der Berufsgenossenschaften auf dem Wege der Vereinbarung der Be- triebsunternehmer unter Zustimmung des Bundesrates erfolgte, und dass Mitglied einer so gebildeten Genossenschaft von Rechtswegen (ohne Rücksicht auf vorgängige Anmeldung oder Nichtanmeldung) jeder Unternehmer eines im Bezirk derselben belegenen Betriebes

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Ar beilen'er Sicherung und Sozialstatistik.

231

derjenigen Industriezweige ist, fiir welche die Genossenschaft er- richtet ist. Demgemäss setzt das Gesetz in § 35 eine eventuelle weitere Anmeldungspflicht für diejenigen Betriebsunternehmer fest, welche ihren Betrieb nicht bereits nach § it angemeldet haben.

Die Anmeldung hat bei der unteren Verwaltungsbehörde zu erfolgen, welche sie dem betreffenden Genossenschaftsvorstande überweist.

Auf Grund dieser Ueberweisungen und des ursprünglichen Verzeichnisses der versicherungspflichtigen Betriebe ist der Ge- nossenschaftskataster hergestellt ; die Aufnahme der einzelnen Genossen in dem Kataster erfolgt nach vorgängiger Prüfung ihrer Zugehörigkeit zur Genossenschaft. Auch weiterhin sind Veran- staltungen getroffen, dass der Kataster jederzeit den thatsächlichen Verhältnissen möglichst entspricht. Das Gesetz trifft Bestimmungen über die Wahrung der Betriebsveränderungen, und das Reichs- versicherungsamt greift stetig in wirksamster Weise in die Re- gelung der Genossenschaftszugehörigkeit durch Entscheidung zahl- reicher Katasterbeschwerden ein. In dem jüngsten Geschäfts- bericht für 1887 (Amtliche Nachrichten [888 , Nro. 5) bemerkt das Amt, dass die Abzweigung des Kreises der zur Berufsge- genossenschaft gehörenden Unternehmer wiederum die Thätigkeit desselben in hohem Masse in Anspruch genommen habe, wie schon daraus erhelle, dass im ganzen 2700 Katasterbeschwerden (meist gegen die Aufnahme, zum Teil aber auch gegen die Ab- lehnung der Aufnahme gerichtet) bezw. Vorlagen der unteren Verwaltungsbehörden infolge Ablehnung der Aufnahme von Be- trieben, zu bearbeiten gewesen seien. Zur Erleichterung der Ge- nossenschaften in der Erfüllung ihrer Obliegenheiten hinsichtlich der Katasterfiihrung hat das Reichsversicherungsamt im September 1885 ein ganz ins Einzelne gehendes für die statistische Glie- derung der Gewerbsthätigkeit sehr wichtiges alphabetisches Verzeichnis der Gewerbszweigc mit Angabe der Berufsgenossen schaft, welcher sie zugehören, veröffentlicht.

Man sieht hienach sofort ein , dass der Genossenschaftska- taster nach seiner Entstehung und seinem Zweck ganz dazu an- gethan ist, ein sehr wuchtiges statistisches Urmaterial zu sein. Ueber die endgiltige Beschaffenheit des Katasters in dieser Hin- sicht entscheidet die Ausgestaltung, welche derselbe in der Praxis findet, da im Gesetze selbst das Detail des Inhalts des Genossen- schaftskatasters nicht festgestellt ist.

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v. Mayr,

Die Feststellung des Formulars des Genossenschaftskatasters ist zunächst Sache der Genossenschaft. Das Reichsversicherungs- amt war deshalb , obwohl es von mehreren Seiten um Ueber- mittlung von Formularen für den Kataster gebeten wurde, nicht in der Lage eine bindende Form vorzuschreiben. Es hat des- halb in einem (im Juli 1885 veröffentlichten) Formular »nur die- jenigen Spalten zusammengestellt, welche nach der Ansicht des Reichsversicherungsamts in einem Genossenschaftskataster nicht zu entbehren sein werden, wenn derselbe den im Gesetz vorge- sehenen Zwecken genügen soll«. Das Formular enthält nur folgende Spalten: Laufende No.; des Betriebes: Name, Gegen- stand (Hauptbetrieb eventuell zu unterstreichen) Art (Dampf-, Wasser-, Wind , Handbetrieb), Sitz; Beginn der Mitgliedschaft, Betriebsveränderungen, Bemerkungen. Hiebei ist, wie das Reichs- versicherungsamt bemerkt, namentlich eine Einschränkung in so ferne für zweckmässig erachtet worden , als alle Angaben fern gehalten sind, welche, wie die Zahl der beschäftigten Arbeiter, die Stimmenzahl und dgl. häufigen Schwankungen unterworfen sind. Derartige Eintragungen würden nach Ansicht des Amtes nicht sowohl in den Kataster selbst, welcher ein auf längere Jahre berechnetes Urkundenbuch darstellc, aufzunehmen sein, als viel- mehr in die auch aus anderen Gründen nicht wohl zu entbeh- renden Nebenlisten oder für die einzelnen Betriebe zu führenden Beiakten gehören ; es bleibe indessen jeder Genossenschaft völlig freie Hand, die ihr geeignet erscheinenden weiteren Eintragungen in Bezug auf die Arbeiter und Stimmenzahl, auf den Wohnort des Unternehmers, die Besitzverhältnisse (Eigentum, Pacht, Niess- brauch) und dgl. in den Kataster aufzunehmen, auch besondere Spalten für den Hinweis auf Nebenlisten etc. zu bestimmen.

Auch in der Beschränkung auf das vom Reichsversicherungs- amt empfohlene Minimum ist der Kataster immerhin ein gewerbe- statistisches Urmaterial von grosser Sicherheit und hohem Wert. Er gewährleistet die sichere jederzeitige Erfassung der Betriebe, während allerdings über das, was in weiteren gewerbe- und so- zialstatistischen Beziehungen über die Betriebe etwa ausgesagt werden kann, in der Hauptsache die fakultativen Erweiterungen <Jes Formulars oder die »Nebenlisten« und »Beiakten* in Betracht gezogen werden müssen. Jedenfalls aber hat hienach jede Ge- nossenschaft in ihrem Kataster und dem was dazu gehört, ein sehr wertvolles gcwcrbcstatistischcs Urmaterial. Eine andere

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Arbeiierver Sicherung und Sozialstatis/ik. 233

Frage ist es freilich , ob man an eine volle Ausbeutung dieses Materials überhaupt und insbesondere schon jetzt denken darf. Ich glaube, dass an eine dauernde oder auch an eine jährlich nur einmal einsetzende Ausnutzung des Materials in gewerbestatis- tischer Richtung nicht zu denken ist. Dagegen steht es wohl ausser Zweifel, dass künftig, wenn wieder das statistische Be- dürfnis einer Gewerbeaufnahme sich zeigt , die Genossenschafts- kataster dafür nicht nur Anhalt sondern auch Stoff liefern werden. Durch die Art der Ausbeutung kann dafür gesorgt werden, dass alle Rücksichten geschäftlicher Diskretion peinlich gewahrt werden.

Dass bei Veröffentlichungen, welche eine Aufführung der Einzelbetriebe enthalten, die Einfügung von Angaben über die Art und den Umfang des Betriebes (Betriebseinrichtungen , Mo- toren, Arbeiterzahl) für unzulässig zu erachten sei, hat das Reichs- versichcrungsamt aus Anlass der Empfehlung eines Formulares für das Mitgliederverzeichnis ausgesprochen. Vom Gesetz ist vorgesehen, dass die Genossenschaftsvorstände jährlich dem Reichs- versicherungsamt, den höheren Verwaltungsbehörden sowie jedem Mitgliede ein Verzeichnis der zur . Genossenschaft gehörenden Mitglieder mitteilen; doch sieht das Gesetz auch weiter die Ent- bindung von dieser Vorschrift vor, welche das Reichsversicherungs- amt mit Rücksicht auf die grosse Geschäftslast der Genossen- schaften bisher auch stets erteilt hat.

Alles dies spricht dafür, an eine gewerbestatistische Ausbeutung des Materiales der Kataster jetzt noch nicht zu denken, und nament- lich die Genossenschaften auch nur mit dem Gedanken daran nicht zu erschrecken. Wenn einmal eine ruhigere Zeit für die Ge- nossenschaften kommt, wird sich über die Sache wieder reden und eine Methode vereinbaren lassen , welche die Genossen- schaften möglichst wenig belastet. Daraus , dass in den jähr- lichen Mitgliederverzeichnissen über die Betriebsausdehnung nichts gesagt wird was man, obwohl es an Vorsicht sehr weit geht, doch billigen kann folgt aber durchaus nicht, dass auch eine statistische Ausbeutung, bei welchen ja die Individualitäten der Unternehmer verschwinden , sich auch solche Grenzen stecken müsse. Kataster und Nebenverzeichnisse mit den Individualan- gaben für die einzelnen Betriebe abzudrucken wäre unzulässig, geradeso wie es unzulässig gewesen wäre, den bei der gewerbe- statistischen Aufnahme von den einzelnen Betrieben beantworteten Fragebogen abzudrucken. Das schliesst aber im einen wie im andern Archiv für soi. Gcicrgbg u Statirtik. I 1(3

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v. Mayr,

Fall eine eingehende statistische Ausbeutung des Materiales und Ver- öffentlichung der so gewonnenen Gesamtresultate durchaus nicht aus.

Ein Minimum von jährlicher statistischer Ausbeute der auf die wenn ich so sagen darf persönlichen Verhältnisse der versicherten Betriebe bezüglichen Angaben von Kataster, Neben- listen oder Beiakten enthält übrigens immerhin die Jahresstatistik, welche das Reichsversicherungsamt aus Anlass der Nachweisung über die Rechnungsergebnisse der Berufsgenossenschaften (welche dem Reichstag vorzulegen ist) aufmacht. Ich möchte zunächst die bezüglichen Schlussergebnisse für das Jahr 1886 ') dem Leser vorfuhren und daran einige Bemerkungen knüpfen ; auf die Er- gebnisse des letzten Quartals 1885, welche in der ersten Veröffent- lichung des Reichsversichcrungsamtes enthalten waren , zuriick- zugehen, würde zu weit führen.

Berufsge-

nossenschaften

Reichs u. Staats- betriebe

Zusammen

Zahl der Betriebe

Zahl der versicherten Personen :

269 1 74

a) Unternehmer

b) durchschnittlich beschäftigte

2686

Betriebsbeamte u. Arbeiter

3 46 7 6 19

25 1 878

3719497

c) Sonstige

3 130

3 130

d) Zusammen

3 473 43S

25 1 878

3725 3 »3

Vergegenwärtigen wir uns zunächst in Erinnerung an die im Eingang dieser Arbeit enthaltenen Mitteilungen über die allmäh- liche gesetzliche Durchführung der Unfallversicherung der deut- schen Arbeiter, dass die vorliegende Statistik die durch das Un- fallversichcrungsgesetz vom 6. Juli 1884 und das Ausdehnungs- gesetz vom 28. Mai 1885 ergriffenen Arbeitergruppen betrifft. Im grossen und ganzen handelt es sich dabei um die »industriellen* Arbeiter, nämlich um die Arbeiter 1) in Bergwerken, Salinen, Aufbereitungsanstalten, Steinbrüchen, Gräbereien, aufWerften und Bauhöfen sowie in Fabriken und Hüttenwerken, 2) in denjenigen handwerksmässigen Betrieben, in welchen Dampfkessel oder durch elementare Kraft bewegte Triebwerke zur dauernden Verwendung kommen, 3) in den Baugewerben. Versichert sind Arbeiter und Betriebsbeamte, letztere sofern ihr Jahresarbeitsverdienst an Lohn oder Gehalt 2000 Mark nicht übersteigt. Durch statutarische Be-

l) Verhandlungen des Deutschen Reichstages. 7. l.egis1atur|>eriode. II. Session 1887/88. Anlageband, Nr. 70.

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Arbcilcrvcr Sicherung und Sosialstatislik. 235

Stimmung kann die Versicherungspflicht auf Betriebsbeamte mit höherem Jahresarbeitsverdienst erstreckt werden ; ferner kann durch Statut bestimmt werden, dass und unter welchen Beding- ungen Unternehmer der versicherungspflichtigen Betriebe be- rechtigt sind, sich selbst oder andere nicht versicherungspflichtige Personen gegen die Folgen von Unfällen zu versichern. Zu dieser Gestattung fakultativer Unternehmerversicherung hatte die Er- streckung des Versicherungszwangs auf die kleineren Betriebe Anlass gegeben.

Zu diesen Kategorieen der Versicherten treten infolge des Ausdehnungsgesetzes vom 28. Mai 1885 die bei dem Betriebe der Marine- und Heeresverwaltungen, der Post-, Telegraphen- und Eisenbahnverwaltungen , den sonstigen Transportgewerben und gewissen mit Unfallgefahr verbundenen Hilfsgewerben des Handels Beschäftigten.

Wenn wir hienach einen Blick auf die oben mitgeteilte Ta- belle werfen , können wir annehmen , dass durch diese beiden ersten Gesetzgebungsakte auf dem Gebiete der Unfallversicherung bereits über 3 ’/i Millionen Arbeiter der Unsicherheit des Ge- schicks, welches die frühere Gesetzgebung bei eintretendem Un- fall über sie verhängte, für alle Zeit entrückt sind ’), eine Er- rungenschaft, deren sozialpolitische Bedeutung jedem, der sehen will , klar vor Augen stehen muss. Nicht vergessen darf aber werden , dass die Ausgleichung der Gefahr durch die allgemeine Versicherung und die Gewissheit, widerwärtigen Prozessen mit den eigenen Arbeitern entrückt zu sein, auch für die industriellen Unternehmer trotz der Belastung, welche die Versicherungsein- richtung ihnen bringt, als wertvolle Errungenschaft sich darstellt.

Nach der Zahl der versicherten Personen erscheinen folgende zwölf Berufsgenossenschaften als die grössten

Zahl der

Knappschafts-Berufsgenossenschaft

Betriebe

165S

versicherten Personen

343 707

Ziegelei-Berufsgenossenschaft

'0135

174995

Zucker-Berufsgenossenschaft

455

1 27200

Sächsische Baugewerks-Berufsgenoss.

7272

1 16987

Sächsische Textil-Berufsgenossenschaft

2721

1 16007

l) Der Geschäftsbericht des Reichsversichcrungsamts Tür 1887 (Amtliche Nach- richten 1888, Nr. 5) erwähnt 64 Berufsgenossenschaften mit 274 560 Betrieben und 3551819 Arbeitern, dazu 47 Reichs- und Staatsausführungsbehörden für die Reichs- und Staatsbetriebe mit 251878 Arbeitern, zusammen 3803697 Arbeitern.

16 *

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v. Mayr,

Zahl der

Betriebe versicherten Personen

Norddeutsche Textil-Berufsgenossens. 2096 104942

Rheinisch-Westfälische Textil-Bcrufsg. 1 590 92 324

Tabak-Berufsgenossenschaft 3 641 89 467

Müllerei-Berufsgenossenschaft 38 429 83 006

Norddeutsche Holz-Berufsgcnossens. 4808 82620

Bekleidungsindustrie-Berufsgenossens. 2 593 82 609

Steinbruchs-Berufsgenossenschaft 1 1 832 82 585

Die kleinsten Berufsgenossenschaften und zwar jene , welche unter 20000 versicherte Personen zählen, sind folgende

Zahl der

Betriebe versicherten Personen

Berufsgenossenschaft der Schornstein- fegermeister des Deutschen Reichs 3 044 5 452

Westdeutsche Binnenschiffahrts-Berufsg. 2839 ”935

Bayerische Holzindustrie-Berufsgenossen. 1855 13420

Sächsische llolz-Bcrufsgenossenschaft 1031 >3943

Berufsgenossenschaft der Musikin-

strumentenindustrie 634 14 389

Württembergische Baugewerks-Berufsg. 4507 1 5 >46

Südwestdeutsche Holz-Berufsgenossensch. t 97 1 >6997

Elbschiffahrt-Berufsgenossenschaft 4053 >7 304

Thüringische Baugewerk-Berufsgenossen. 3 536 18 491

Berufsgenossenschaft der Gas- und

Wasserwerke 1001 18907

Vorstehende Beispiele mögen dem Leser ein Bild von den grössten und geringsten Vergenossenschaftungen der deutschen Industrie zum Zweck der gegenseitigen Versicherung gegen die Folgen der Betriebsunfälle geben. Sehr erwünscht wäre es, wenn bei den künftigen Veröffentlichungen der Jahresstatistik die Nach- weise nicht bloss für die Berufsgenossenschaften im ganzen, son- dern auch nach Sektionen, wo solche bestehen, geliefert würden. Da die Aufstellung der Nachweise nach Sektionen erfolgt, kann diese Erweiterung der Jahresstatistik keine Schwierigkeiten bieten. Im Jahre 1886 bestanden 62 Berufsgenossenschaften mit 366 Sek- tionen ; da die Sektionen nach dem Gesetz örtlich abgegrenzt sein müssen, würde die Gliederung der Nachweisungen nach Sektionen eine sehr wesentliche Erweiterung des geographischen Details über alles, was mit der Unfallstatistik zusammenhängt, zur Folge haben.

Bevor wir jedoch in der Betrachtung der statistischen Nach-

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Arbcitcrvcrsichcrung und Soziats/alislik.

237

weise , welche das Reichsversicherungsamt in so übersichtlicher Weise und mit so dankenswerter Raschheit liefert, weiter gehen, müssen wir doch bei der hervorragenden Bedeutung des Begriffs der versicherten Person und des versicherten Arbeiters insbeson- dere noch fragen , in welcher Weise die Zahlennachweise über die versicherten Personen , deren Schlusssummcn ich oben mit- geteilt habe, gefunden sind. Aus der vom Reichsversicherungs- amt erlassenen (in Nr. 13 der Amtlichen Nachrichten, Jahrgang 1886) veröffentlichten Anleitung zur Ausfüllung der Tabellenfor- mulare ist darüber folgendes zu entnehmen: »Der Begriff: durch- schnittlich beschäftigte Betriebsbeamte und Arbeiter* ist nach dem in gewerblichen Kreisen üblichen Sprachgebrauche aufzu- fassen. Es kommt nicht darauf an, nach dem Mehr oder Weniger der während des Rechnungsjahres thatsächlich über und unter der Zahl der regelmässig in einem Betriebe beschäftigten ver- sicherten Betriebsbeamten und Arbeiter ein genaues Mittel auszu- rechnen, sondern auf die Angabe derjenigen Zahl der bezüglichen Personen , welche der Betrieb bei voller oder laufender Thätig- keit in dem betreffenden Rechnungsjahre beschäftigt hat. Eine Spinnerei z. B., welche bald mehr, bald weniger, in der Regel aber 200 beschäftigte versicherte Betriebsbeamte und Arbeiter täglich bei Erzeugung der für das Rechnungsjahr als laufend an- zusehenden Tagesproduktion nötig gehabt hat, wird mit »200« Per- sonen in Rücksicht zu ziehen sein; es kommt dabei ferner nicht in Betracht, wenn in dem gedachten Betriebe zu Folge des Wechsels der arbeitnehmenden Personen vielleicht 400 und mehr verschiedene Personen im Rechnungsjahr überhaupt beschäftigt gewesen sind. Bei Betrieben , welche regelmässig nur eine bestimmte Zeit des Jahres arbeiten (z. B. Zuckerfabriken, Ziegeleien, Brauereien, Bren- nereien, Baubetriebe etc.) ist als »durchschnittliche« Zahl der be- schäftigten versicherten Betriebsbeamten und Arbeiter diejenige aufzufassen, welche sich für die Zeit des regelmässigen vollen Be- triebes (also z. B. für Zuckerfabriken und Brennereien im Winter, für das Maurergewerbe im Sommer) ergibt.«

Ich vermag es vollkommen zu würdigen , dass die Rück- sichten auf die dermalige Geschäftslage bei den Berufsgenossen- schaften es ratsam erscheinen Hessen , bei den erstmaligen stati- stischen Ermittelungen ein derartiges summarisches Verfahren einzuschlagen. Dabei darf es aber nicht bleiben ; es muss viel- mehr baldigst dazu übergegangen werden, in der Spalte »durch-

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23«

v. Mayr,

schnittlich beschäftigte Betriebsbeamte und Arbeiter« Nachweise zu liefern, welche wirklich noch mit gutem Gewissen als * Durchschnitte« und nicht wie dies nach obiger Instruktion der Fall ist in man- chen Fällen geradezu als deren Gegenteil anzusprechen sind. Fis ist keine statistische Spielerei, wenn hier nach möglichst richtigen Durchschnittsergebnissen gefahndet wird; denn die genaue Kennt- nis des Bestands an versicherten Personen ist von so grosser Wich- tigkeit fiir das Versicherungsgeschäft als solches, dass in der That die weiter damit verbundenen sozialstatistischen Interessen erst in zweiter Linie stehen. Nur wenn man den im Lauf des Jahres durch- schnittlich dem Unfall ausgesetzten Bestand von Arbeitern richtig kennt, kann man aus den Ergebnissen der Unfallstatistik im engeren Sinne Schlüsse auf die Gefährlichkeit der Betriebe ziehen. Die Be- rufsgenossenschaften müssen sich deshalb, wenn sie ihre Gefahren- tarifc prüfen und revidieren wollen, die möglichst korrekte Berech- nung des Durchschnittsbestands an Versicherten doch machen; dann können sie auch die korrekten Nachweise dem Reichsversicher- ungsamtc liefern. Die Versuche, wie sie für kombinierte Betriebe ein in Nr. 7 der Amtlichen Nachrichten von 1888 veröffentlichtes Rundschreiben des Rcichsversicherungsamtes enthält, nur die Lohn- summen ohne Rücksicht auf den Arbeiterbestand in Betracht zu ziehen, können meines Erachtens zu einem befriedigenden Resultate nicht führen, doch würde die nähere Erörterung dieser Spezialfrage zu weit führen. Es leuchtet ein, dass cs die erste und wesentlichste Aufgabe der Unfallversicherungsstatistik ist, zu zeigen, wie die Un- fallhäufigkcit sich in gewerblicher, zeitlicher und räumlicher Glie- derung gestaltet , und um dies zu zeigen , muss der mittlere Be- stand der in dieser Gliederung der Gefahr Ausgesetzten vor allem nachgewiesen werden. Nach der oben mitgeteilten Anweisung des Reichsversicherungsamtes würde für die Betriebe mit unregel- mässigem Arbeiterbestand die Unfallgefahr notwendig zu klein erscheinen, da diese Anweisung in vielen Fällen zur Angabe von Maximalzahlen statt von Mittelzahlen führt. Wenn der § 71 des Gesetzes vorschreibt , dass jedes Mitglied der Genossenschaft binnen sechs Wochen nach Ablauf des Rechnungsjahres dem Ge- nossenschaftsvorstand eine Nachweisung vorzulegen hat , welche u. A. enthält: »Die während des abgelaufenen Jahres im Betriebe beschäftigten versicherten Personen und die von denselben ver- dienten Löhne und Gehälter», so ist damit im Gegensatz zu der mehr summarischen Angabe bei der Betriebsanmeldung offenbar ein

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Arbcitcrvcr Sicherung und Sozialstatistik. 239

genauer Nachweis Uber die Arbeiterverwendung und Arbeiterbe- zahlung verlangt, welcher gerade in der Kombination mit den Lohnsummen nur dann einen richtigen Sinn hat, wenn daraus eine richtige Gegenüberstellung der geleisteten Arbeit und des dafür gezahlten Lohnes möglich ist. Andernfalls wäre ja in der That bei der blossen Anmeldung des Betriebes in dem Verlangen der Angabe der durchschnittlich beschäftigten Personen etwas viel Zutreffenderes verlangt, als in der Bestimmung des § 71 des Gesetzes, welche das verantwortliche Material für das Umlage- verfahren und weiterhin für die Beurteilung des gesamten Ver- sicherungsbetriebs und die eventuelle Revision der Grundlagen desselben sicher zu stellen hat.

Es fragt sich nun, wie aus den Nachweisungen der Mitglieder der Durchschnittsbestand an Versicherten richtig darzulegen, bzw. wie diese Nachweisungen selbst zu gestalten sind, um solches zu ermöglichen. Diese ganze Frage, so wichtig sie auch für die ganze Unfallversicherungsstatistik ist, hier zu erörtern, wäre wohl nicht am Platze. Darum nur wenige Worte. Aus gut geführten Lohnlisten ist die Zeit, während welcher die einzelnen Arbeiter thätig waren, unschwer zu entnehmen ; hat man dies , so ergibt sich die Ermittlung des wahren, nicht eines fiktiven, Durch- schnittsbestandes sehr leicht. Sollten aber die Berufsgenossen- schaften für die nächste Zeit davor noch zurückschrecken , dann empfehle ich als Uebergangsmassregel dasselbe Verfahren, wie es der Bundesrat für die Krankenversicherung bereits angeordnet hat, nämlich Ermittlung des Arbeiterbestandes je am ersten eines jeden Kalendermonats zum Zwecke der Berechnung des Jahres- durchschnitts, welcher dann zwar noch nicht ganz zutreffende, aber doch ungefähr richtige und vor Allem was jetzt ganz fehlt vergleichbare Grössen ergeben wird.

Wie wichtig diese unabweisbare Reform der Unfallversichcr- ungsstatistik ist, zeigt sich auch, wenn wir nun in der Betrachtung des sozialstatistischen Urmateriales, welches diese liefert, weiter- gehen und demgemäss zunächst die Nachweise über die Lohn- beträge in Betracht ziehen.

Nach § 10 des Gesetzes sind die Mittel zur Deckung der von den Berufsgenossenschaften zu leistenden Entschädigungs- beträge und der Verwaltungskosten durch Beiträge aufzubringen, welche von den Mitgliedern nach Massgabe der in ihren Betrieben von den Versicherten verdienten Löhne und Gehälter bezw. des

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v. Mayr,

Jahresarbeitsverdienstes jugendlicher und nicht ausgebildeter Ar- beiter (des 300 fachen des ortsüblichen Tagelohns gewöhnlicher Tagearbeiter) sowie der statutenmässigen Gefahrentarife jährlich umgelegt werden. Löhne und Gehälter, welche während der Beitragsperiode durchschnittlich den Satz von vier Mark täglich ubersteigen, kommen mit dem vier Mark übersteigenden Betrage nur zu einem Drittel in Anrechnung.

ln dieser Bestimmung des Gesetzes liegt eine bedeutende statistische Errungenschaft ; denn sie gewährleistet die fortdauernde Massenbeobachtung von Lohnsummen, welche in der Industrie zur Zahlung kommen. Nach der angeführten Bestimmung dient allerdings nicht ohne weiteres der Gesamtbetrag der wirklich ge- zahlten Löhne zur Berechnung der Umlegung der Beiträge, allein das Gesetz, bestimmt weiter 71) dass die Mitglieder der Ge- nossenschaft in der von ihnen einzureichenden Nachweisung nicht bloss die in Anrechnung zu bringenden Gehälter und Löhne sondern auch die wirklich verdienten Löhne und Gehälter anzu- geben haben. Das Urmaterial für eine verlässige fortdauernd erhobene und kontrollierte Lohnstatistik ist also vorhanden. Bis- her wird dasselbe allerdings noch nicht ausgebeutet, indem das Reichsversicherungsamt von den Berufsgenossenschaften die An- gabe nur der in Anrechnung zu bringenden Beträge verlangt. Ls ist dringend zu wünschen, dass zunächst einmal probe- weise für ein Jahr der ohne alle Schwierigkeit zu liefernde Nachweis auch der wirklich gezahlten Gehälter und Löhne ver- langt wird. Vermutlich wird sich dabei heraussteilen , dass der Unterschied der beiden Lohnsummen gering ist, weil bei den anrechnungsfähigen Betrieben der Minderansatz der höheren Löhne und der Mehransatz bei den Löhnen jugendlicher und nicht aus- gebildeter Arbeiter sich vielfach kompensieren ; die von mir be- fürwortete Probestatistik könnte deshalb vielleicht überhaupt zu einer Vereinfachung des Gesetzes, d. h. zum Ersatz der jetzt etwas komplizierten fiktiven Lohnsummen durch die wirklichen Lohnsummen fuhren, was auch von anderer Seite bereits angeregt ist und ein schätzenswerter Beitrag zu der so wünschenswerten Vereinfachung der Verwaltungsgeschäfte bei den Berufsgenossen- schaften wäre.

Ein weiteres berechtigtes Verlangen, welchem die Berufs- genossenschaften auch gewiss sich nicht widersetzen werden, be- zieht sich auf die Trennung der Gehalts- und Lohnbeträge nach

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Arbcitcrvcrsic/ierung und Soiialstalistik.

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den drei Kategorien der versicherten Personen : Unternehmer, Betriebsbeamte, Arbeiter. Ist die Statistik so reformiert , dann haben wir eine vortreffliche ganz unanfechtbare Grundlage für die Lohnstatistik. Bei dieser liegt das Wesentliche in dem gut kontrollierten Nachweis wirklich gezahlter Lohnsummen , aus welchen erst in zweiter Linie Durchschnittslöhne zu entwickeln sind. Die direkte Frage nach Durchschnittslöhnen, mit welchen die ältere Lohnstatistik sich viel geplagt hat, ist sehr bedenklich.

Ist nun auch die vorliegende Statistik für 1886 noch nicht in der angedeuteten Weise verfeinert, so bietet doch auch der summarische Nachweis der von den Genossenschaften angemel- deten Summen anrechnungsfähiger Lohnbeträge grosses Interesse.

In den sämtlichen 62 Berufsgenossenschaften (für die Reichs- und Staatsbetriebe liegt dieser Nachweis überhaupt nicht vor) sind für das Jahr 1886 anrechnungsfähige Lohnbeträge in der Gesamt- summe von 2 228 338 866 Mark nachgewiesen. Auf den Kopf der Versicherten ergäbe sich hienach der Betrag von 642 Mark ; doch dürfte dieser thatsächlich höher sein, einerseits wegen der immer- hin unvollständigen Berücksichtigung der höheren Löhne ande- rerseits" aber und hauptsächlich wegen des in Rechnung ge- brachten zu hohen Bestands an Versicherten. Der störende Ein- fluss der summarischen den Durchschnittsbestand nicht er- gebenden — Ermittlung des Bestands der Versicherten macht sich um so mehr geltend, je mehr man ins Einzelne geht und naturgemäss ganz besonders bei jenen Berufsgenossenschaften, bei welchen nach der Jahreskonjunktur oder überhaupt nach der Natur der Beschäftigung erhebliche Schwankungen der Arbeiter- bestände eingetreten sind. Von einer Verwertung der Lohn- summen zur Ermittlung der Durchschnittslöhne muss ich deshalb, solange nicht eine richtigere Bestandsermittlung der Versicherten eingefiihrt ist, entschieden abraten. Offenbar ist bei der sum- marischen Ermittlung dieses Bestandes sehr verschiedenartig und insbesondere nicht einmal überall nach der Anweisung des Reichs- versicherungsamtes verfahren worden. Daraus mag es sich z. B. erklären, dass beispielsweise bei der süddeutschen Eisen- und Stahlberufsgenossenschaft der Durchschnittslohn auf 1040 M., bei der schlesischen Eisen- und Stahlberufsgenossenschaft dagegen nur auf 570 M. pro Jahr sich stellt. Recht deutlich tritt die ganz verschiedenartige Ermittlung des Bestandes an Versicherten bei den Baugewerks-Berufsgenossenschaften hervor. Bei diesen

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v. Mayr,

ergeben sich nämlich Jahresdurchschnittslöhne von nur 384 M. (Sächsische Genossenschaft) bis 1026 Mark (Hainburgische Ge- nossenschaft.)

Man muss sich deshalb vorläufig an die absoluten Zahlen der Lohnsummen halten. Immerhin ist es auch in dieser Begrenzung eine wesentliche Bereicherung unseres ökonomischen Wissens, wenn wir erfahren, dass in den versicherungspflichtigen Betrieben aller Berufsgenossenschaften für das Jahr 1886 als anrechnungs- fähige Löhne nachgewiesen sind : 2 228 Mill. Mk. und im Einzelnen : in der Knappschafts-Berufsgenossenschaft . 250.« Millionen M.

» » Steinbruchs- » » . 53. b »

» » Berufsgenosscnsch. der Feinmechanik 29.» »

> » 8 Eisen- und Stahl-Berufsgenossen-

schaften ........ 354-‘ *

» den beiden Edel- . und Unedelmetallberufs- genossenschaften 63.3 »

> der Berufsgenossenschaft der Musikinstru-

mentenindustrie 12.8 »

» » Glasberufsgenossenschaft 27.8 »

» » Töpferei- » 29.7 »

» » Ziegelei- » 68. s »

» » Berufsgenossenschaft der chemischen

Industrie 60.1 »

» » Berufsgenossenschaft der Gas- und

Wasserwerke 22.« »

» » Leinenberufsgenossenschaft .... 16.« »

» den 6 Textil-Berufsgenossenschaften . . 273.» >

der Seidenberufsgenossenschaft .... 19.8 »

» » Papiermacher-Berufsgenossenschaft . 33.8 »

» > Papierverarbeitungs - Berufsgenossen- schaft 37.1 »

> » I.ederindustricberufsgenossenschaft . 35.7 »

» den 4 Holzberufsgenossenschaften . . . 82.0 »

» der Müllereiberufsgenossenschaft ... 55.0 »

» » Nahrungsmittelindustrie-Berufsgen. . 2 i.e »

» » Zuckerberufsgenossenschaft .... 33.3 »

» » Brennereiberufsgenossenschaft . . . 23.0 >

» » Brauerei und Mälzereiberufsgen. . . 44.6 »

» » Tabakberufsgenossenschaft .... 51.8 »

» > Bekleidungsindustriegenossenschaft . 47.0

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Arbtitcrvcrsichtrung und Sosialstatistik.

243

in

der Berufsgen. der Schornsteinfegennstr.

3-»

Millionen

*

den 12 Baugewerksberufsgenosscnschaftcn

344-1

»

>

der Buchdruckerberufsgenossenschaft .

49“

»

•»

» Privatbahnberufsgenossenschaft . .

19.9

»

>

» Strassenbahnberufsgenossenschaft .

1 1.»

»

»

» Speditions- Speicherei- und Kellerei-

berufsgenossenschaft ....

1 8.0

»

»

» Fuhrwerksberufsgenossenschaft . . .

1 8.s

>

»

den 3 Binnenschiffahrtsberufsgen. . . .

17.0

»

Was die Statistik der Unfälle selbst anlangt, für welche na- turgemäss durch die Unfallversicherung eine wichtige Grundlage gewonnen ist, so muss dabei vor Allem die Statistik der ent- schädigungspflichtigen und jene der übrigen Unfälle unterschieden werden. Für die Unfälle der ersten Art liegt eingehendes sta- tistisches Material vor, für die Unfälle der zweiten Art besitzen wir bis jetzt nur summarische Nachweise. Entscheidend für die Unterscheidung der beiden Gattungen von Unfällen ist der Um- stand, ob eine Verletzung mit vorübergehender Erwerbsunfähig- keit von weniger als 13 Wochen oder ein schwererer Unfall vor- liegt. Nach der deutschen Gesetzgebung ist die Fürsorge für die durch Unfälle Verletzten während der ersten dreizehn Wochen den Krankenkassen überlassen; tritt innerhalb dieses Zeitraums die Erwerbsfähigkeit wieder ein, so liegt ein entschädigungspflich- tiger Fall nicht vor.

Die Mitteilung der Unfälle an die Berufsgenossenschaften, seitens der Betriebsunternehmer beruht wie das Reichsver- sicherungsamt zur Statistik von 1886 bemerkt auf statutarischen Bestimmungen der Berufsgenossenschaften. Bis auf eine Berufs- genossenschaft, die Privatbahnberufsgenossenschaft , welche sich nur die entschädigungspnichtigen Fälle melden lässt , haben alle Berufsgenossenschaften, jedoch nur zum Teil unter Strafandrohung die Anordnung getroffen, dass die Unternehmer von jeder der Ortspolizeibehörde erstatteten Unfallanzeige an den Genossen- schaftsvorstand oder ein sonst bezeichnetes Organ der Berufs- genossenschaft eine Abschrift einzusenden haben. Die Anzahl der gemeldeten nicht entschädigungspflichtigen Unfälle kann daher nur als annähernd zutreffend erachtet werden; es ist anzunehmen, dass die wirkliche Zahl solcher Unfälle etwas grösser ist.

Für 1886 ist die Zahl der Unfälle letztgenannter Art im ganzen zu 89 619 angegeben ; diesen stehen 10 540 entschädigungspflichtige

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v. Mayr,

Fälle (und zwar solche , in welchen für verletzte Personen im I.aufe des Rechnungsjahres Entschädigungen festgestellt worden sind) gegenüber. Ueber die 89619 leichteren Fälle fehlt eine weitere sachliche Gliederung der statistischen Nachweise, nur die Beteiligung der Berufsgenossenschaften bzw. der Staats- und Reichsbetriebe an dieser Gesamtzahl ist ersichtlich.

Eingehenderes Detail ist für die im Laufe des Jahres ent- schädigten Fälle von den Berufsgenossenschaften, die ja hierüber alles erforderliche Material besitzen , erfordert und bekanntge- geben; dabei ging das Reichsversicherungsamt von der Auffassung aus, dass den Genossenschaften noch ein weiter Spielraum bleibe, ankniipfend an die vom Reichsversicherungsamt vorgeschriebenen Spalten, eine eingehendere für ihre Zwecke unmittelbar verwert- bare Statistik einzurichten.

Die Statistik der entschädigten Fälle für 1886 beschäftigt sich zuerst mit Zahl, Alter und Geschlecht der Verletzten, wobei sich folgendes Gesamtergebnis herausstellt.

Erwachsene

Jugendliche

Verletzte:

t männlich \ weiblich ^ männlich

Berufsge-

Staats-

Zusammen

nossensc haften

betriebe

9IO4

814

9918

332

3

335

244

244

43

43

9723

817

IO 540

(unter 16 Jahren) ( weiblich Zusammen

Das Reichs versicherungsamt berechnet hieraus unter Zugrunde- legung des (oben näher kritisierten, sogenannten) Durchschnitts- standes der Versicherten die Häufigkeit der entschädigungspflich- ligen Unfälle für die einzelnen Berufsgenossenschaften und Staats- betriebe. Die einschlägigen Zahlen sind nur unter grössten Vorbehalten benützbar. Im Ganzen ergeben sich nicht ganz 3 (2.8«) solcher schweren Fälle auf 1000 Versicherte. Die Bcrufs- genossenschaften, für welche das Reichsversicherungsamt mehr als 5 schwere Unfälle (ich darf wohl die entschädigungspflich- tigen kurzweg so nennen) auf tooo Versicherte berechnet, sind die Knappschaftsberufsgenossenschaft mit 6 17 auf 1000 Versicherte

> Steinbruchsberufsgenossenschaft z 6.1 4 » > »

» Rheinisch-Westfälische Hütten und

Walz Werksberufsgenossenschaft > 5. ja » » »

» Bayerische Holzindustrieberufsgen. » 7.97 » » >

> Brauerei- und Mälzereiberufsgen. » 6.70 » s »

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Arbriterversicherung und Sozialstatistik.

245

Weniger als I auf 1000 zeigen folgende Berufsgenossen- schaften :

die Berufsgenossenschaft der Feinmechanik 0.9» auf iooo Versicherte » Süddeutsche Edel- und Unedelmetall-

berufsgenossenschaft ....

. . O.I>7 » »

»

»

Berufsgenossenschaft der Musikinstru-

mentenindustrie

. . 0.81 > >

»

»

Töpferci-Berufsgenossenschaft

. . 0,73 » »

»

>

Seiden-Berufsgenossenschaft . .

. . 0.13 » »

>

»

Tabak-Berufsgenossenschaft .

. .0.11 » »

Bekleidungsindustrieberufsgen. .

. . 0.39 » »

»

V

Buchdruckerberufsgenosscnschaft

. .0.93 » >

»

Strassenbahnberufsgenossenschaft

. 0.»4 » »

»

>

Fuhrwerksberufsgenossenschaft .

. . 0.38 » »

»

Zu allen diesen Zahlen erinnere

ich nochmals an

meine

führungen über die Mangelhaftigkeit der bisherigen Ermittlung des sog. Durchschnittsstandes der Versicherten, infolge deren die Zahlen, je mehr ins Detail der einzelnen Berufsgenossenschaften gegangen wird, um so unzuverlässiger und namentlich in vielen Fällen entschieden zu niedrig erscheinen.

Die Veranlassung und Art der Unglücksfalle wird für 1886 in folgender Unterscheidung ') nachgewiesen :

. Apparate unter Druck von Dämpfen Ex- | und Gasen (Dampfkessel etc.

plosion 1 Explosion und feuergefährliche Stoffe I (Pulver, Benzin, Petroleum etc.)

Glühende Metallmassen, heisse ätzende Flüssig- keiten, giftige Gase, Dämpfe etc

Bewegte Maschinenteile (Motoren, Transmissio- nen, Arbeitsmaschinen etc.)

Zusammenbruch, Einsturz, Herabfallen von Ge- genständen

Fall von Leitern und Treppen, Gallerien, in Ver- tiefungen, in Bassins etc

Berufs- Staats- Zu- genossen- be- sam-

schäften

triebe men

44

15

59

285

24

309

488

13

501

2301

55

2356

2206

52

2258

1820

102

1922

l) Für 1888 ist eine Erweiterung des Schemas zur »Veranlassung und Art der Unfälle«, dagegen der Wegfall der Nachweise iiher die »Art der Verletzungen« in den von «len Berufsgenossenschaften zu liefernden Jahresnachweisen in Erwägung ge- nommen.

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v. Mayr,

Berufs-

genossen

schäften

Staats*

betrieb

Zu-

sam-

men

Fahrzeuge, Beförderung von I .asten, Auf- und

Abladen 17 17 483 2200

Sonstige (Gebrauch von einfachem Handwerks- zeug etc.) 862 73 935

Ueber die Art der Verletzungen erfahren wir folgendes :

Berufs- Staats- Zu- genosse nsch betriebe, sammen

j Kopf und Gesicht (Augen) 1283 92 1375

Ver- 1 Armen und Händen (Fingern) 2915 134 3049

letzung Beinen und Füssen 2490 273 2763

von I anderen oder mehreren Kör-

( perteilen zugleich .... 2163 269 2432

Erstickt 231 2 233

Ertrunken 78 2 80

Sonstige Verletzungen 563 45 608

Ueber die Folge der Verletzungen endlich ist nachstehender Nachweis gegeben :

Berufs- Staats- Zu- genossensch. betriebe sammen

Vorübergehende Erwerbsunfähigkeit von

mehr als 13 Wochen bis

zu 6 Monaten

'973

1 12

2085

Länger als 6 Monate dauernde t teilweise

3/80

181

396i

Erwerbsunfähigkeit

jl völlige

1548

230

CO

K.

Tod

2422

294

2716

Zahl der entschädigungs- 1

Wittwen . .

1567

235

1802

berechtigten Hinter- \

Kinder . .

348i

468

3949

bliebcuen der Getöd- ,

Aszendenten

'73

I I

184

teten f

Zusammen

522 1

7'4

5935

Die vorstehende Unfallstatistik bietet, wenn man sie in die Einzelheiten der verschiedenen Berufsgenossenschaften verfolgt was hier zu weit führen würde noch manches Interessante. Andererseits aber ist auch klar, dass sie bei weitem den Anfor- derungen nicht entspricht, welche sowohl die wissenschaftliche Statistik als deren praktische Verwertung für Fragen der Unfall- verhütung zu stellen hat. Hiezu ist eine viel reichhaltigere Kom- bination der Nachweise erforderlich. Auf dem Wege, den das Reichsversicherungsamt im Jahre 1886 bei der Mitteilung der Nachweisungsformulare an die Berufsgenossenschaften angedeutet hatte, d. i. durch weitere Ausbildung der Unfallstatistik bei den

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Ar bcUervcr Sicherung und Sozialsta/istiM.

247

einzelnen Berufsgenossenschaften , war eine baldige allgemeine Erweiterung dieses wichtigen Zweiges in einer den Anforderungen der Vollständigkeit und Vergleichbarkeit entsprechenden Weise wohl nicht zu erwarten. Um so erfreulicher ist es, dass das Reichsversicherungsamt mit Rundschreiben an die Berufsgenossen- schaftsvorstände vom 4. Juni 1887 (Amtliche Nachrichten No. 12) die Unfallstatistik, zunächst für das Jahr 1887 auf eine ganz an- dere Grundlage gestellt hat, indem es die zentralisierte statistische Bearbeitung des Unfallmateriales , soweit sich dasselbe auf die entschädigten Unfälle bezieht, selbst in die Hand genommen hat. Die Berufsgenossenschaften hatten sich fast einstimmig für eine derartige Bearbeitung des Unfallmateriales durch das Reichsver- sicherungsamt ausgesprochen, und ihre Bereitwilligkeit zu erkennen gegeben, die für diesen Zweck von dem genannten Amte ent- worfene Unfallzählkarte für jeden einzelnen entschädigten Fall auszufüllen. Das Reichsversicherungsamt hat infolge dessen be- schlossen, zu einer einheitlichen Bearbeitung der »entschädigten« Unfälle auf Grund von Zählkarten überzugehen und daneben es den Berufsgenossenschaften zu überlassen '), alle Unfälle ein- schliesslich der nicht entschädigungspflichtigen Fälle, nach eigenem Ermessen zu bearbeiten. Ob seitens des Amts auch zu einer einheitlichen Bearbeitung »aller« Unfälle , der entschädigten wie der nichtentschädigten, wie dieses von mehreren Berufsgenossen- schaften als erwünscht bezeichnet ist , auf Grund der bei den Berufsgenossenschaften eingehenden Duplikat-Unfallanzeige 42 des Normalstatuts) oder der bei den Ortspolizeibehörden be- ruhenden Original-Unfallanzeigen der Betriebsunternehmer in der Folge zu schreiten sein wird, bleibt wie in dem Rundschreiben vom 4. Juni 1887 mitgeteilt wird weiterer Erwägung Vorbe- halten.

1) Wenn die zunächst für 1887 zur Durchführung gebrachte zentralisierte Bear- beitung der Unfallstatistik, wie zu hoffen ist, auch fernerhin beibehaltcn wird , dann wird davon Abstand zu nehmen sein von den Berufsgenossenschaften eine reduzierte Verarbeitung des unfallstatistischen Materiales, wie solche die bisherige Tabelle III der Jahresnachwcisung enthält, noch zu verlangen. Die Befragung der Berufsge- nossenschaften über Thatsachen, deren Kenntnis dem Reichsversicherungsamt durch die Zählarten viel genauer vermittelt wird, wäre nicht wohl zu rechtfertigen. Die Arbeit, welche hienach bei den Berufsgenossenschaften in Zukunft (soweit es sich um statistische Konzentrationen handelt) wird erspart werden können , dürfte am besten auf Verwirklichung einzelner Verbesserungen auf anderen Gebieten der Unfallver- sicherungsstatistik, wie solche in gegenwärtiger Arbeit angedeutet sind, zu verwenden sein.

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v. Mayr,

Vom Standpunkte der Wissenschaft kann nur dem Wunsche Ausdruck gegeben werden , dass die Erwägung recht bald zu einem bejahenden Ergebnisse führen möge. Inzwischen ist we- nigstens für die schweren Fälle durch die Unfall-Zählkarten und deren zentralisierte Ausbeutung eine wichtige Reform bereits ge- schaffen, von welcher für Wissenschaft und Praxis wesentlicher Gewinn erhofft werden darf. Wenn auch, wie das Reichsver- sicherungsamt mitteilt, auf manche recht beachtenswerte Vor- schläge zur Erweiterung der Statistik (Absterbeordnung der In- validen, Prozentsatz der Maschinen , welche zu Unfällen Anlass gaben, zu der Gesamtzahl der vorhandenen gleichen Maschinen u. s. w,) nicht eingegangen wurde, um die Anforderungen an die Ausfüllung der Zählkarte nicht zu erhöhen, so bietet doch der Inhalt der Zählkarte immerhin noch ein reiches Feld für die sta- tistische Kombination. Die Zählkarte zerfällt in folgende neun Abschnitte : 1) Betrieb, in welchem sich der Unfall ereignet hat (Firma, Betriebsabteilung, Art des Betriebs); 2) Verletzte oder getödtete Person (Vor- und Zunahme; im Betrieb beschäftigt als .... ; Lebensalter (ungefähre Angabe genügend) . . . Jahr ; 3) Verletzung (möglichst genaue Angabe der beschädigten Kör- perteile, bzw. der Todesart; 4) Zeit des Unfalls (Datum, Tages- zeit, Stunde); 5) Maschine, Vorgang oder Arbeitsverrichtung, wobei der Unfall sich zutrug; 6) Folge der Verletzung (Vorüber- gehende Erwerbsunfähigkeit von mehr als 13 Wochen bis zu 6 Monaten ; länger als 6 Monate dauernde Erwerbsunfähigkeit : teilweise, völlige, Tod); 7) Entschädigungsberechtigte Hinter- bliebene der Getödteten ; 8) Veranlassung und Hergang des Un- falls (möglichst erschöpfende Schilderung); y) Ursache des Un- falls (7 Ursachen aufgeführt, von welchen die zutreffende zu unterstreichen).

Eine vollständige Kritik des Zählkartenformulars würde hier zu weit führen; bei der grossen Bedeutung desselben für die Ge- staltung unserer ganzen Unfallstatistik bitte ich aber doch zwei kurze Bemerkungen machen zu dürfen.

In Ziffer 2 ist meines Erachtens die gar keine Schwierigkeit bietende Angabe des Zivilstandes mit Unrecht weggeblieben, und durch das Verlangen einer nur ungefähren Angabe des Alters eine bedauerliche Vermehrung der Fehlerquellen bezüglich der Altersstalistik herbeigeführt. Man sollte durchweg bei allen Al- tersnachfragen grundsätzlich das Kalenderjahr der Geburt erfragen.

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■\rbtittrvtr$ichti unK und Smialstatistik.

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Gelegentliche nur »ungefähre« Angaben kommen leider von selbst, man braucht nicht auch noch förmlich dazu aufzufordern.

In Ziffer 6 ist durch Ucbernahme der bisher eng begrenzten Spalten des Konzentrationsformulars in das Detail der Fragestel- lung eine ganz unnötige Beschränkung der Kenntnisnahme von den wirklich vorkommenden zeitlichen Abstufungen der Erwerbs- unfähigkeit von vornherein gegeben. In jeder Zählkarte war ein- fach die individuell eingetretene Erwerbsunfähigkeit festzustellen, dann hatte man freie Hand für weit reichhaltigere Gestaltung des Konzentrationsformulars. Das jetzige ist ungenügend.

Zu beiden Punkten möchte ich auf die auch sonst sehr be- achtenswerte neue schweizerische Unfallzählkarte verweisen ').

Das letzte, und zwar ein wichtiges und umfangreiches, Kapitel der Unfallversicherungsstatistik bildet der Nachweis der Leistungen der Versicherung, zu welchen eingetretene Unfälle Anlass gegeben haben, sowie der Aufbringung der hiezu erforderlichen Mittel. Da bei der deutschen Unfallversicherung das Prinzip nicht der Kapital- sondern der Rentenentschädigung und ferner das Prinzip nicht des Kapitaldeckungs- sondern des Umlageverfahrens durch- gefuhrt ist, können die Rechnungsausweise nicht die einfache Rilanz von Leistung und Gegenleistung ergeben, wie da, wo Ka- pitalentschädigung geleistet oder die aus den Unfällen des Jahres erwachsenen gesamten Rentenverpflichtungen von verschiedenster, mutmasslicher Zeitdauer auf den Jetztwert diskontiert werden.

Nach der Einrichtung der deutschen Unfallversicherung kann man nur verlangen : erstens den einfachen rechnerischen Nach- weis der im Laufe des Jahres mit verschiedenen Fälligkeitster- minen erwachsenen Zahlungen, insbesondere an Renten ; zweitens einen besonderen Nachweis der jährlich bei den Entschädigungs- feststellungen angewiesenen Renten; drittens den Nachweis der durch das Umlageverfahren aufgebrachten Summen. Als not- wendiger Anhang ergeben sich dann gewissermassen viertens die weiteren Nachweise über sonstige, insbesondere Verwaltungsaus- gaben und sonstige Einnahmen. Bevor wir jedoch zu diesen ver- schiedenen Gruppen statistischer Nachweise übergehen , müssen wir noch einen kurzen Blick auf die Absicht des Gesetzgebers in bezug auf das Mass der zu gewährenden Entschädigung werfen. Dass die Fürsorge für die durch Unfälle Verletzten während der

*) Vgl- hierüber Dr. Morir Ertl, Schweizerische Unfallstatistik (Oesterr. Statist. Monatsschrift. XIV. Jahrgang, 4. Heft).

Archiv für cor. Gcsctzgbg u. Statistik I. \J

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v. Mayr,

250

ersten dreizehn Wochen nicht der Unfallversicherung zufallt und demgemäss jene, welche vor diesem Zeitraum die volle Erwerbs- fähigkeit wieder erlangen, eine »Unfallentschädigung« irgend welcher Art überhaupt nicht erhalten, ist schon erörtert worden. Das Unfallversicherungsgcsetz unterscheidet den Fall der Verletzung und der Tötung. Im Fall der Verletzung wird von der vier- zehnten Woche an ausser den Kosten des Heilverfahrens für die Dauer der Erwerbsunfähigkeit eine Rente gewährt ; berechnet wird die Rente nach dem durchschnittlichen Arbeitsverdienst, wobei der Betrag über 4 Mark nur mit ein Drittel in Rechnung kommt, andererseits aber die Höhe des ortsüblichen Taglohns gewöhn- licher Tagarbeiter das Minimum bildet ; die Rente beträgt im F'alle völliger Erwerbsunfähigkeit für die Dauer derselben zwei Drittel des Arbeitsverdienstes, bei teilweiser Erwerbsunfähigkeit einen Bruchteil dieses Betrages , welcher nach dem Maasse der verbliebenen Erwerbsfähigkeit zu bemessen ist. Ein Unterschied zwischen verschuldeten und unverschuldeten Unglücksfällen wird hiebei im allgemeinen nicht gemacht, worin eine der wichtigsten sozialpolitischen Errungenschaften des Gesetzes liegt; nur dann, wenn der Verletzte den Betriebsunfall vorsätzlich herbcigefuhrt hat, steht ihm und seinen Hinterbliebenen ein Anspruch nicht zu. Im Falle der Tötung ist als Schadenersatz ausserdem zu leisten :

1. als Ersatz der Beerdigungskosten das Zwanzigfache des für den Arbeitstag ermittelten Verdienstes, jedoch mindestens 30 Mark;

2. eine den Hinterbliebenen des Getöteten vom Todestage an zu gewährende Rente. Die Rente beträgt für die Witwe des Ge- töteten bis zu deren Tode oder Wiederverheiratung 20 Prozent, für jedes hinterbliebene vaterlose Kind bis zu dessen zurückge- legtem 15. Lebensjahre 15 Prozent, und, wenn das Kind auch mutterlos ist oder wird, 20 Prozent des Arbeitsverdienstes. Die Renten der Witwen und der Kinder dürfen zusammen 60 Prozent des Arbeitsverdienstes nicht übersteigen ; ergibt sich ein höherer Betrag, so werden die einzelnen Renten in gleichem Verhältnisse gekürzt. Im F'alle der Wiederverheiratung erhält die Witwe den dreifachen Betrag ihrer Jahresrente als Abfindung. Der Anspruch der Witwe ist ausgeschlossen, wenn die Ivhe erst nach dem Un- fall geschlossen ist F'ür Aszendenten des Verstorbenen, wenn dieser ihr einziger Ernährer war , beträgt die Rente für die Zeit bis zu ihrem Tode oder bis zum Wegfall der Bedürftigkeit 20 Pro- zent des Arbeitsverdienstes. An Stelle der für den Fall der Ver-

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Arbtiterversühtrung und Sozialstatistik. 251

letzung vorgeschriebenen Leistungen kann bis zum beendigten Heil- verfahren freie Kur und Verpflegung in einem Krankenhause ge- währt werden und zwar für Verunglückte, welche verheiratet sind oder bei einem Mitgliede ihrer Familie wohnen, nur mit ihrer Zu- stimmung oder unabhängig von derselben, wenn die Art der Ver- letzung Anforderungen an die Behandlung oder Verpflegung stellt, denen in der Familie nicht genügt werden kann. Für die Zeit sol- cher Verpflegung des Verunglückten in dem Krankenhause steht den Angehörigen desselben die Rente in so weit zu, als sie auf die- selbe im Falle des Todes des Verletzten Anspruch haben würden. Ausländer, welche dauernd das Reichsgebiet verlassen, kann die Genossenschaft durch eine Kapitalzahlung für ihren Fintschädigungs- anspruch abfinden.

Der gesetzliche Anstoss zu der vom Reichsversicherungsamte bearbeiteten Jahresstatistik der Unfallversicherung ist im § 77 des Unfallversicherungsgesetzes gegeben , welcher bestimmt: »Ueber die gesamten Rechnungsergebnisse eines Rechnungsjahres ist nach Abschluss desselben alljährlich dem Reichstag eine vom Reichsver- sicherungsamte aufzustellende Nachweisung vorzulegen.« Nach dieser Gesetzesbestimmung ist es nur folgerichtig, wenn der Nach- weis der I.eistungen der Unfallversicherung im Sinne der oben erst- erwähnten Gruppe hieher gehöriger statistischer Nachweise erfolgt. Die einschlägigen Tabellen der Statistik sagen uns nur, was an I.eistungen, sei es in Renten- sei es in anderer Form, im Laufe des Jahres bethätigt worden ist. Was insbesondere die Rentenzah- lungen anlangt, so werden alle im Laufe des Jahres verausgabten Rentenbeträge mögen sie für das ganze Jahr oder nur für einen Teil desselben gezahlt worden sein nachgewiesen, welche den Berufgenossenschaften, nicht bloss aus den im Laufe des Jahres , sondern überhaupt seit dem Inkrafttreten der Unfallver- sicherung entschädigten Unfällen für das in Frage stehende Jahr erwachsen sind. Ebenso umfasst die Zahl der beteiligten Em- pfänger die Gesamtheit der Rentenempfänger, ohne Rücksicht auf das Jahr des Unfalls.

Betrachten wir unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte die statistischen Ergebnisse , so möchte in der I lauptsachc fol- gendes zu bemerken sein.

Die nachgewiesenen Kosten des Heilverfahrens bezw. die an Krankenhäuser gezahlten Kur- und Verpflegungskosten beziehen sich nur auf die Zeit vom Beginn der 14. Woche nach dem Ein-

17 *

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v. Afayr,

tritt des Unfalles bis zur Beendigung des Heilverfahrens, soferne dieselben im Laufe des betreffenden Rechnungsjahres gezahlt worden sind. Erstreckt sich die Zahlung in ein weiteres Rech- nungsjahr, so erscheint sie dort als neuer Ansatz und die betei- ligte Person wird wieder neu aufgeführt. Der ganze Nachweis hat deshalb in der That nur eine rechnerische Bedeutung, nämlich zu zeigen, wie viel Ausgaben den Berufsgenossenschaften aus diesem Zweig ihrer Verpflichtungen erwachsen sind. Weiter zu gehen und durch Vergleich von Personenzahl und Geldsummen die durchschnittlichen Kurkosten finden zu wollen, wäre verfehlt, der Betrag würde scheinbar kleiner sein , als er wirklich ist (für 1886 bei den Kosten des Heilverfahrens nur 42 Mark, bei den an Krankenhäusern gezahlten Kur- und Verpflegungskosten 80 M. im grossen Durchschnitt aller Berufsgenossenschaften und Staats- betriebe).

Die absoluten Zahlen sind folgende:

Beraftgc- Staats- Zu-

nossenschaften betriebe sammen

Mark Mark Mark

Kosten des Heilverfahrens 103903 16200 117103

l (§5 des Gesetzes)

Aus- 1 im Falle der Unterbringung gaben I im Krankenhaus 7) an I dieses gezahlte Kur- und

Verpflegungskosten 101 794 7700 109494

Was nun weiter den Nachweis über die im Kall der Ver- letzung und cingctretenen Erwerbsunfähigkeit an die Verletzten gezahlten Renten betrifft, so ist nach dem oben Gesagten voll- kommen klar, dass aus der Vergleichung der beteiligten Personen und der empfangenen Beträge, zumal in der ersten Zeit der Gel- tung des Gesetzes, irgend ein Schluss auf die durchschnittliche Höhe der Renten nicht gezogen werden kann. Anders wird die Sache in der allerdings noch fernen Zeit eingetretenen Beharrungs- zustandes, wenn Zu- und Abgänge sich ungefähr decken, gelagert sein. Dann wird man aus einer einfachen Vergleichung der Zahl der Rentner und der gezahlten Renten auf die durchschnittliche 1 lohe dieser Renten schliessen können, aber auch dann wird man weiter noch den Wunsch nach Trennung der Rentner und Renten der völligen und der teilweisen Erwerbsunfähigkeit sowie eine ent- sprechende Gruppenunterscheidung der letzteren wünschen. Für ein Anfangsjahr wie 1886 es ist, gibt es im ganzen Jahr nur Zu-

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Arbeiterversicherung und Sozialstes tistik.

253

gang und nur ausnahmsweise einen Abgang; die Rentenzahlungen, welche die Periode des ganzen Jahres umfassen, sind daher noch in der Minorität. Man braucht nur das folgende Jahr 1887 zu betrachten , das doch auch noch zu den Anfangsjahren gehört und man bemerkt sofort den grossen Unterschied. Nach der vor- läufigen Mitteilung des Reichsversicherungsamtes sind im Jahr 1887 bereits 5829226 Mark gegen 1915366 Mark an Entschädi- gungsbeträgen aller Art ausgezahlt worden. Wenn wir also in der Statistik für 1886 lesen , dass im ganzen an 7 132 Personen (Berufsgenossenschaften 6633, Staatsbetriebe 449) 1044316 Mark Renten an Verletzte (941 600 Mark bei den Berufsgenossen- schaften, 102716 Mark bei den Staatsbetrieben) gezahlt worden sind, so dürfen wir daraus nicht etwa folgern, die Jahresrenten der Verletzten hätten im Durchschnitt nur 146 Mark betragen.

Günstiger sind wir mit unseren statistischen Berechnungen bei der nächstfolgenden Ausgabe, nämlich jener des Ersatzes der Beerdigungskosten daran. Hier handelt es sich um eine einmalige Ausgabe, und sind darum die Geld- und Personenbeträge ohne wei- teres in Beziehung zu bringen, Das Schlussergebnis der ein- schlägigen Nachweise für 1886 ist folgendes:

Beerdigungskosten

Zahl der Personen

Betrag

Demnach auf eine Person

Mark

Mark

Mark

Berufsgenossenschaften

2329

1*3675

49

Reichs- und Staatsbetriebe

289

12 203

42

Zusammen

2618

125 878

48

Von den Renten an

die Witwen

Getöteter

gilt dasselbe

wie von den Renten der Verletzten ; es hat deshalb vorläufig nur die Bedeutung einer rechnerischen Thatsache, dass im Jahre 1886 an 1869 Witwen Rentenzahlungen verschiedener Zeitdauer von im Ganzen 178 163 Mark erfolgt sind. (Berufsgenossenschaften 1622 Witwen, 153873 Mark; Staatsbetriebe 247 Witwen, 24290 Mark.)

Wieder anders liegt die Sache bei den Abfindungen an Wit- wen im Falle der Wiederverheiratung; auch hier handelt es sich wie bei den Beerdigungskosten um einmalige Zahlungen ; Personen und Geldbeträge sind hienach vergleichbar. Ausserdem wissen wir aus der oben mitgeteilten Gesetzesbestimmung , dass die der Witwe gezahlte Abfindungssumme das Dreifache ihrer Jahresrente ist. Auf einem Umwege können wir also etwas über die effektive Höhe der Witwenrenten , allerdings nur in so weit

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v. Mayr,

erfahren , als Wiederverheiratungen von Witwen erfolgen. Die Zahl solcher Witwen ist begreiflicherweise in einem Anfangsjahr noch klein , und daher ein irgend brauchbarer Mittelwert daraus nicht abzuleiten, Im ganzen sind im Jahre ]886 18 Witwen im Falle der Wiederverheiratung abgefunden worden und zwar mit einer Gesamtsumme von 8753 Mark, oder 486 Mark per Witwe. Die Jahresrenten dieser Witwen hatten hienach im Mittel 162 M. betragen (Berufsgenossenschaften 17 Witwen mit 8359 Mark, Staatsbetriebe I Witwe mit 394 Mark Abfindungssumme).

Von allen weiteren Rentenzahlungen, sowohl von jenen an die Kinder und Aszendenten Getöteter als an die Angehörigen von im Krankenhaus untergebrachten Verletzten gilt das über die Kenten der Verletzten und die Witwenrenten Bemerkte. Ich trage deshalb die bezüglichen absoluten Zahlen des summarischen Ab- schlusses nur zur Vollständigkeit der rechnungsmässigen An- gaben hier vor

Berufsge- Staats- nosscnsch. betriebe

Renten an Kinder Getöteter

Renten an Aszendenten Getöteter

Unter- bring- ung im Kran- ken- haus

Renten an Khefrauen

» » Kinder

» » Aszenden-

ten

^Personen

(Mark

^Personen

(•Mark

! Personen Mark U’ersonen (Mark ^Personen (Mark

3504 2-J3 53» '43 12 537 757 18 132 1742 30816

24

772

474 33 063

'5

'473

66

1963

'33

2679

4

142

Zo-

sammen

397 s 265601 .58 14009 823 20095 1875 33496 28 914

F.ndlich sind noch die an Ausländer gezahlten Abfindungssum- men zu erwähnen, für welche im Gesetz (im Gegensatz zum Gesetz- entwurf) ein bestimmtes Verhältnis zur Jahresrente nicht bestimmt ist. Es haben im Jahre 1886 9 solche Abfindungen stattgefunden mit zusammen 6544 Mark, oder 727 Mark pro Fall. (Genossen- schaften 8 Fälle mit 5702 Mark; Staatsbetriebe I Fall mit 842 M.)

Nach der vorstehenden Darlegung der Bedeutung des rech- nungsmässigen Nachweises über die jährlichen Zahlungen an Renten aller Art ist gewiss der Wunsch begründet noch einen weiteren Nachweis über die Höhe der jährlich angewiesenen Kenten zu haben. Aus dem eigentlichen Rechnungsmaterial der

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Arbeiieri’ersicherung und Sozials/atistik.

255

Berufsgenossenschaften kann dieser Nachweis allerdings nicht entnommen werden, wohl aber aus dem Aktenmaterial derselben über die stattfindenden Entschädigungs-Feststellungen. Ausser- dem sind die erforderlichen Angaben in den Zahlungsanweisungen enthalten, welche seitens der Genossenschaftsvorstände an die Postbehörden eingesendet werden, und deren Urschriften bei den Akten des Genossenschaftsvorstandes zurückbehalten werden. (Vgl. Geschäftsanweisung für die Vorstände der Berufsgenossen- schaften, betr. die Auszahlungen durch die Post vom 27. Sept. 1SS5 ; Amtl. Nachr. des Reichsv.-Amtes, Nro. 22.) Das statistische Urma- terial ist also vorhanden. Es ist aber nicht zu verkennen, dass dessen Ausbeutung eine sehr umfangreiche Arbeit ist. Mit dem Zusam- menwerfen aller Rentensummen der verschiedenen Kategorien wäre es nicht gethan ; es wäre eine reiche geographische und sachliche Gliederung nötig. Auch bedürfte das wichtigste For- mular (Renten der Verletzten selbst) zum Zwecke dieser sta- tistischen Verarbeitung noch einer (allerdings kurz vorzumerkenden) Ergänzung aus den Akten darüber, ob volle Rente oder nur teil- weise (wegen teilweise verbliebener Erwerbsfähigkeit) und in welchem Prozentverhältnis der vollen Rente, vorliegt; denn ge- rade die statistische Sonderbehandlung der vollen Renten und der verschiedenen Gruppen der teilweisen Renten wäre erforderlich. Ferner müsste zur Ergänzung dieser an sich schon umfangreichen Statistik wohl auch dafür gesorgt werden, dass ihr, gewissertnassen als Anhang, ein Nachweis der Veränderungen beigegeben würde, welche gemäss § 65 des Gesetzes an den ursprünglichen Rente- feststellungen eintreten. (»Tritt in den Verhältnissen, welche für die Feststellung der Entschädigung massgebend gewesen sind, eine wesentliche Veränderung ein, so kann eine anderweite Fest- stellung derselben auf Antrag oder von Amtswegen erfolgen.«)

Alle diese Erwägungen lassen es nicht ratsam erscheinen den Berufsgenossenschaften eine fortlaufende jährliche Statistik der festgesetzten Renten anzusinnen ; wohl aber empfiehlt es sich, von Zeit zu Zeit das Material eines Jahres einer einmaligen sta- tistischen Sonderbearbeitung am besten in zentralisierter Weise unterziehen zu lassen. Alles spricht dafür, dass hiemit bald der Anfang gemacht werde; denn je weiter man noch vom Be- harrungszustande entfernt ist, um so nötiger ist die Arbeit. Dazu kommt, dass zur richtigen Würdigung der Vorschläge über die Höhe der Invaliden- und Altersrente eine auf verlässiger sta-

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256 v. Mayr,

tistischer Grundlage beruhende Kenntnis der auf Grund des Un- fallgesetzes zugestandenen Renten durchaus erwünscht ist.

Da grundsätzlich bei der deutschen Unfallversicherung nicht das Kapitaldeckungs- sondern das Umlageverfahren angenommen ist, so wäre auch für die Anfangsjahre eine ungefähre Gleichheit der Einnahmen und der Ausgaben bei den Berufsgenossenschaften zu erwarten.

Verausgabt sind in 1886 von den Berufsgenossenschaften an Entschädigungsbeträgen aller Art .... I 7 1 1 70D Mark an Kosten der Unfalluntersuchungen und der

Feststellung der Entschädigungen 86 587 »

an Schiedsgerichtskosten 120 727 »

an Unfallverhütungskosten 69 933 »

an allgemeinen ^ Kosten der ersten Einrichtung 590133 »

Verwaltungskosten ( Laufende Verwaltungskosten 2324295 »

Zusammen 4 903 375 »

Ausserdem sind jedoch nur als rechnerischer Posten noch vorgetragen 5 401 878 M. Einlagen in den Reservefond, welche materiell keine Verausgabung des Jahres 1886 darstellen.

An Einnahmen dagegen sind vorgetragen 12381958 Mark, davon 12 231 318 M. aus »Umlagen nach § 71 des Unfallver- sicherungsgesetzes«, welche ausschliesslich zu Lasten der Betriebs- unternehmer sind. Dass bei einer materiellen Verausgabung von nicht ganz 5 Mill. Mark ein Betrag von mehr als 12 Mill. Mark als Umlagen-Einnahme trotz des »Umlageprinzips« nachge- wiesen ist , hat in zwei Umständen seinen Grund. Nach dem Gesetz 10) können die Berufsgenossenschaften von den Mit- gliedern für das erste Jahr behufs Beschaffung der zur Bestreitung der Verwaltungskosten erforderlichen Mittel einen Beitrag im Voraus erheben. Der in dieser Weise beschaffte Betriebsfond im Gesamtbeträge von 4 221 528 M. ist unter den oben ange- führten Einnahmen aus Umlagen enthalten. Weiter kommt in Betracht, dass das Prinzip des blossen Umlageverfahrens in so ferne doch nicht vollständig durchgeführt ist , als für die ersten Jahre Mehrerhebungen über den Bedarf behufs Ansammlung eines Reservefonds stattfinden. An Zuschlägen zur Bildung desselben sind bei der erstmaligen Umlegung der Entschädigungsbeträge 300 Proz., bei der zweiten 200, bei der dritten 150, bei der vierten 100, bei der fünften 80, bei der sechsten 60 und von da an bis zur elften Umlegung jedesmal IO Proz. weniger als Zuschlag zu

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Arbeiterversicherung und Sozialstatistik.

257

den Entschädigungsbeträgen zu erheben 18). Hienach ist er- klärlich, dass trotz des Umlageverfahrens sich für 1886 ein solcher Ueberschuss der Einnahmen ergibt ; hiezu ist noch zu bemerken, dass nach einer Bemerkung zur Statistik von 1886 die am I. Sep- tember rückständigen Umlagebeträge für das Jahr 1886 nach den Mitteilungen der Berufsgenossenschaften zusammen I 896 963 Mark erst in der nächstmaligen Nachweisung der Rechnungs- ergebnisse zur Verrechnung gelangen werden ; dasselbe gelte für die Einlagen in den Reservefond deren Bestand mit Hilfe dieser Rückstände auf 5*714 600 M. anwachsen solle.

Die Einnahmen der Berufsgenossenschaften ausser den Um- lagen waren im Einzelnen folgende :

Strafgelder 18 87 I M.

Einnahmen aus Polizen 96 461 M.

Zinsen 23 663 M.

Sonstige Einnahmen 1 1 645 M.

Für die Staats- und Reichsbetriebe kommen Einnahmen über- haupt nicht in Frage, die bei denselben erwachsenden Ausgaben fallen einfach dem Staat bzw. dem Reich zur Last.

Im Einzelnen gestalten sich die Hauptgruppen der Ausgaben bei den Reichs- und Staatsbetrieben für 1886 folgendermassen :

Entschädigungsbeträge aller Art 203 666 M.

Kosten der Unfalluntersuchungen und der Feststel- lung der Entschädigungen 470 »

Schiedsgerichtskosten 5 985 »

Unfallverhütungskosten 19 »

Allgemeine Ver- t Kosten der ersten Einrichtung . 31 »

waltungskosten ( Laufende Verwaltungskosten . 1959 *

Zusammen 212 130 M.

Für die technische und wirtschaftliche Beurteilung des Unfall- versicherungswesens ist die weitere Untersuchung des hier nur flüchtig berührten Details der Ausgaben der Berufsgenossen- schaften von grösster Wichtigkeit. Bezüglich der Verwaltungs- kosten ist dies allgemein bekannt und betont ; das Reichsver- sicherungsamt hat es auch selbst empfunden , indem es in der Denkschrift zur Statistik von 1886 gerade mit vergleichenden Betrachtungen der laufenden Verwaltungskosten auf den Kopf der versicherten Personen und auf je 1000 Mark anrechnungs- fähiger Löhne sich eingehend beschäftigt. Dass die Zahlener- gebnisse des ersten Jahres in gar keiner Weise das Normalver-

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25«

v. Mayr,

hältnis von Leistung und Kosten der Unfallversicherung darstellen können, ist klar ; es ist daher auch hier kein Anlass auf die ver- fehlten Versuche tendenziöser Kritik näher einzugehen, welche glaubt aus diesen Zahlenverhältnissen die Kostspieligkeit und Un- zweckmässigkeit der berufsgenossenschaftlichen Organisation der Unfallversicherung ableitcn zu können. Abwarten ist hier die erste Mahnung, welche eine nüchterne wissenschaftliche Beur- teilung erheben muss ; die neuen Organisationen müssen sich einleben, Alle, die damit zu thun haben, müssen ihre Lehrzeit durchmachen ; ist die Maschine gut im Gan£ , dann wird sie billiger arbeiten. Andererseits gibt natürlich ein Anfangsjahr nur ein ganz schwaches Bild der wahren Leistungen der Versicherung für die Verunglückten ; nähern sich diese einmal der Norm, dann kommt auch erst ein Normalverhältnis von Leistung und Kosten zu Stande. Gewiss haben auch alle diese Einzelfragen einen so- zialpolitischen Hintergrund ; so unmittelbar mit sozialstatistischen Problemen, wie die meisten der bisher erörterten Fragen hängen sie aber doch nicht zusammen. Gleiches gilt von der besonderen durch die Nachweise über Unfallverhütungskosten angeregten Frage der wertvollen Leistung der berufsgenossenschaftlichen Organisation auf dem Gebiete der Unfallverhütung, die zur Ent- schädigung im Verunglückungsfall wie die Hygiene zur Heilkunde sich verhält. So verlockend demnach auch ein weiteres Ein- gehen auf diese Einzelfragen wäre, wird der Leser es doch bil- ligen, wenn ich der Ueberschrift dieses Artikels treu bleibend, mir dies versage.

ln der am Eingang dieses Artikels erwähnten Berichterstat- tung an den demographischen Kongress habe ich den von der Versammlung allseitig gebilligten Antrag gestellt, dass die Ent- wicklung der Statistik der Arbeiterversicherung zunächst den einzelnen Staatsverwaltungen überlassen und von Aufstellung eines internationalen Programmes der demographischen Anforderungen an diese Statistik zur Zeit abgesehen werde. Diesem Programm denke ich auch in der vorstehenden Arbeit treu geblieben zu sein ; ich habe versucht, einem weiteren Leserkreise das vorzu- führen, was heute die Statistik der deutschen Arbeiterversicherung leistet, und habe an diese Darlegung des Gebotenen da und dort Anregungen einer Erweiterung und Verbesserung der Nachweise geknüpft. Dabei steht mir überall nicht theoretisch-statistisches Interesse sondern die Erwägung praktischer Bedürfnisse des Ver-

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Arbeitender Sicherung und Sozialstatistik. 259

Sicherungswesens selbst in erster I.inie. Gerne betone ich darum zum Schlüsse nochmals ausdrücklich die Notwendigkeit, die sta- tische Neugierde durch nüchternste Rücksichtnahme auf das, was nach der Sachlage von den beteiligten Organen billiger Weise gefordert werden kann, zu zügeln, die Führung in der Gestaltung der Versicherungsstatistik der Zentralverwaltung dieser grossar- tigen Einrichtung zu überlassen, und alle auf Erweiterung der statistischen Nachweise gerichteten Anregungen, wie ich schon in meinem Wiener Programm hervorgehoben habe, im Rahmen des geschäftlich Durchführbaren zu halten.

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DIE BELGISCHE ARBEITERENQUETE UND IHRE SOZIALPOLITISCHEN RESULTATE1)

VON

J)r. H. H ERKNER.

I.

Bereits im frühen Mittelalter galten die Landstriche, welche heutzutage das Königreich Belgien bilden, als Sitz einer hohen städtischen Kultur. Gewerbfleiss und Handel hatten hier eine an die wirtschaftliche Entwickelung der lombardischen und tos- kanischen Städte erinnernde Bedeutung gewonnen. Die aus- nehmend vorteilhafte Lage, der rührige, thatkräftige Sinn der Be- wohner, die glückliche Vereinigung deutscher, französischer und englischer Einflüsse und so manche Elemente antiker Kultur, welche über die stürmischen Zeiten der Völkerwanderung hinaus sich erhalten hatten , dürften die frühe wirtschaftliche Blüte des Landes zur Genüge erklären.

Vor allem war es die Tuchmanufaktur, welche in den flan- drischen und brabantischen Städten des XIII. Jahrhunderts eine solche Ausdehnung gewonnen hatte, dass sie selbst die zünftige Ordnung der Zeit in tiefeinschneidender Weise umzugestalten be- gann. Hier gab es zuerst grosse Massen von Weberknechten, die ihr ganzes Leben hindurch unselbständig verblieben, die keine Aussicht besassen, jemals zu Meistern empor zu steigen , und in denen sich daher auch ein besonderes Klassenbewusstsein ent- wickelte. Hier wurde gewissermassen der moderne Arbeiter ge- boren.

i) Es lagen dem Verfasser vor: Commission du Travail instilul ]>ar Arrrte royal du 15. Avril 1886. Reponses au Questionnaire concernant le travail industriel. Vo- lume I. Bruxelles 1887. Proces-vcrbaux des Slances d’Enqulte concernant le tra- vail industriel. Volume II. 1887. Rapports. Propositions des Sections et Conclusions. Volume III. Bruxelles 1887.

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Herkner , Die belgische Arbeiterenquete u. ihre sazia/polit. Resultate. 261

Es beschleicht einen ein Gefühl stiller Bewunderung für jenes frische, jugendkräftige Zeitalter, wenn man verfolgt, wie cs nicht nur die Arbeiterfrage ins Leben rief, sondern sie auch einer ver- gleichsweise vollkommenen Lösung zuzuführen verstand.

In äusserst widerstandsfähigen Verbindungen organisiert, wuss- ten die Weberknechte ihren Standesinteressen so nachdrücklich Geltung zu verschaffen, dass zwei von den vier Vorstehern der Zunft ihnen entnommen wurden, dass Abgeordnete der Gesellen an der Aufsicht und den das Gewerbe regelnden Verordnungen teilnahmen ; ja in Brügge erfreuten sie sich sogar einer Löhnungs- art , die ihnen am Gewinne einen bestimmten Anteil zusicherte.

Allein es ist nicht unsere Sache , hier den grossen , freiheit- lichen Geist, welcher einst in dem belgischen Städtewesen lebte, zu schildern ; wir wollen nicht farbenprächtige Bilder von dem intensiven Landbau Flanderns und dem grossartigen Handel Brügge’s und Antwerpens entwerfen, noch auf die Hand in Hand mit der glänzenden wirtschaftlichen Entfaltung mächtig empor- strebenden Künste und Wissenschaften verweisen.

Es ist genugsam bekannt, wie unselige politische und reli- giöse Wirren die Existenzbedingungen jener blütereichen Kultur am Beginne der Neuzeit unterbanden , und wie erst im vorigen Jahrhundert, unter dem Zepter der grossen Maria Theresia, sich neuerdings ein ökonomischer Aufschwung des Landes anbahnte, der in stetem Fortgange bis auf die Gegenwart herabreicht. Zum grossen Teil lebten nur alte, schon seit Jahrhunderten im Lande heimisch gewesene Industriezweige neu auf. Aber ihre wirtschaft- liche Verfassung hatte sich verändert. An die Stelle der zünf- tigen Ordnung, innerhalb welcher, wie erwähnt, die gewerblichen Arbeiter in früheren Zeiten sich eine so vorteilhafte Stellung zu erringen verstanden hatten, traten hausindustrielle Betriebsformen, unter deren Herrschaft sich ein ausgebreitetes Truckwesen ent- wickelte. Die Lage des Arbeiters wurde im grellen Gegensätze zu der seiner Vorfahren allmählich so misslich, dass selbst die höchst energischen Massregeln des Bischofs von Lüttich oder Maria Theresias zu seinem Schutze nur einen äusserst gering- fügigen Erfolg erzielten. Es half wenig, dass immer und immer wieder den Lohnherren aufs strengste verboten wurde, die Ar- beiter in Waren zu entlohnen, dass die grosse Kaiserin sogar den Arbeitern untersagte , den Lohn anders als in barem Gelde an- zunehmen, und jenen Arbeitern, welche infolge dieser Weigerung

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2Ö2

Her kner ,

entlassen werden wurden, einen rechtlichen Anspruch auf Unter- halt gegen ihren früheren Arbeitgeber ausdrücklich zugestand; es half in dem frommen Lande auch nichts, dass man den Truck- unfug als gleichbedeutend mit der himmelschreienden Sünde des vorenthaltenen Liedlohnes erklärte. Doch fand die arbeitende Klasse immer noch einen moralischen Rückhalt an den landes- fürstlichen Behörden, indem diese auch auf die Höhe der Lohne durch Aufstellung der obrigkeitlichen Tarife einen den Arbeitern vorteilhaften Einfluss zu nehmen trachteten.

Was aus alter Zeit etwa noch an arbeiterfreundlichen Ein- richtungen bestand , was die fürsorgliche Regierung der letzten Habsburgerin neu geschaffen hatte, all’ das verschwand spurlos, nachdem die siegreichen Franzosen einige Gebiete des Landes Frankreich cinverleibt, aus den übrig gebliebenen aber eine Schwe- sterrepublik geschaffen hatten. Die »Freiheit der Arbeit« wurde cingefiihrt und damit der modernen grossindustriellen Entwicke- lung freie Bahn eröffnet.

An dieser »Freiheit der Arbeit« gingen die politischen, reli- ligiösen und nationalen Bewegungen, deren Schauplatz im laufe unseres Jahrhunderts das Land wurde, ohne Wirkung vorüber. Ihr wurde und wird zum Teil noch heute mit einem Fanatismus und einer Verblendung gehuldigt wie in keinem anderen Staate der Welt. Belgien ist das relativ industriereichste Land. Seine grossindustrielle Entfaltung hat dieselben tief bedauernswerten Folgen für die Lage der arbeitenden Klassen nach sich gezogen wie in den übrigen europäischen Kulturstaaten. Zu wiederholten Malen, im Laufe der vierziger und Ende der sechziger Jahre, sind die entsetzlichen sozialen Zustände sogar durch besondere Untersuchungskommissionen ermittelt worden. Gleichwohl ent- behrt das Land auch heute noch der elementarsten staatlichen Vorkehrungen , ich will nicht sagen zu einer Abhilfe, sondern auch nur zu einer Linderung des Massenelends. Das wirtschaft- lich fast auf gleicher Stufe mit England stehende Belgien reicht in sozialer Hinsicht nur an das England der vierziger Jahre heran ; Zeiten, in denen die Königin über zwei Nationen herrschte, »zwischen denen kein Verkehr und keine Sympathie bestand, die einander in ihrem Wollen, Denken und Fühlen so wenig wie die Bewohner verschiedener Zonen und verschiedener Planeten ver- standen, die durch eine verschiedene Erziehung gebildet und eine

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Die belgische Arbeiterem/uete und ihre sozialpolitischen Resultate. 263

verschiedene Nahrung ernährt wurden, die sich nach verschiedener Sitte richteten, und über welche nicht dieselben Gesetze geboten.«

Man vermag sich der Frage nach dem Grunde dieser Er- scheinung kaum zu entschlagen, und es möge gestattet sein, mit einigen Worten ihre Beantwortung zu versuchen.

Belgien war und ist ein durchaus bürgerliches Land. Weder über noch unter dem Bürgertume gibt es eine politisch erheb- liche Macht. Der grundbesitzenden Aristokratie , deren Macht schon frühzeitig durch die hohe städtische Kultur gebrochen wurde, kommt, sofern überhaupt noch eine solche vorhanden ist, ebenso wenig eine ernstere Bedeutung zu wie dem jungen König- tume, das keine andere Tradition besitzt, als sich dem Willen des Bürgertumes mit Anstand zu beugen. Nach unten hat die bürger- liche Gesellschaft sich durch einen hohen Wahlzensus von den arbeitenden Klassen abgeschlossen. Gewährt ja die belgische Verfassung das Wahlrecht nur jenen, welche jährlich 42 fres. an direkten Steuern entrichten. Sie ist überhaupt der vollkommenste politische Ausdruck für die Herrschaft des Bürgertumes, und, wie bekannt , hat sie stets den liberal-bürgerlichen Parteien anderer Länder als unerreichbares Ideal gegolten. Grössere Kämpfe zwischen agrarischen und industriellen Klassen konnten unter sol- chen Umständen in Belgien nicht entstehen, und der belgische Ar- beiterstand vermochte für seine politische und soziale Emanzipation somit aus ihnen auch nicht jene Vorteile zu ziehen, die für seine englischen Kameraden aus dem Gegensätze der Whigs und Tories entsprangen. Der Streit zwischen vlämischen Katholiken und französischen Liberalen, wie er das politische Leben des Landes beherrscht, verschaffte den Arbeitern schon deswegen keine ein- flussreiche politische Stellung, weil beide streitende Parteien ihrem wirtschaftlichen Ursprünge nach identisch waren und daher auch, wenn sie zur Regierung gelangten, den Arbeitern gegenüber die- selbe ablehnende Haltung bewahrten.

So drückend auch die Lage der Arbeiter sein mochte, jeder * intellektuellen Bildung ermangelnd und ohne politische Stütze, ertrugen sie bis in die sechziger Jahren in dumpfem Schweigen ihr hartes Loos.

Freilich hatte die Februarrevolution mit ihren grossartigen Kämpfen des Pariser Proletariats auf die Stimmung der belgi- schen Arbeiter einen gewissen Einfluss geübt. Indessen er ent- behrte einer nachhaltigeren Wirkung umso mehr, als bald darauf

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264

Her kn er ,

eine der ökonomisch glanzvollsten Epochen anbrach , die natur- gemäss auch die I.age der Arbeiter in mancher Beziehung ver- besserte.

Erst als die »Internationale Arbeiter-Assoziation« begründet worden war, kam es unter den belgischen Arbeitern zu einer ernsteren Bewegung. Und in der That, Belgien bot wie kein anderes I.and für jene den fruchtbarsten Boden. War der belgische Arbeiter auch von dem Wahlrechte ausgeschlossen, so besass er doch eine weitgehende Press-, Vereins- und Versammlungs- freiheit, so dass die sozialistische Propaganda wenige politische I lindernisse zu überwinden hatte. In sozialer Beziehung aber waren durch die missbräuchliche Anwendung und Ausdehnung der Kinder- und Frauenarbeit, welche namentlich in den Kohlen- distrikten eine unglaubliche physische und moralische Entartung nach sich gezogen hatten , Zustände geschaffen worden , unter deren Herrschaft kein Wort der Agitation wirkungslos verhallen konnte. Es geriet eine Bewegung in Fluss , welche das allge- meine Stimmrecht als Mittel zu einer Umgestaltung der bestehen- den Verhältnisse im Sinne der arbeitenden Klassen und eine Fa- brikgesetzgebung nach dem Muster der englischen auf ihr Pro- gramm schrieb. Diese Agitation im Vereine mit einer geschäftlichen Krise hatte mehrere grosse Arbeitseinstellungen, namentlich in den Kohlenbassins, zur Folge, bei welchen es zu blutigen Zusammen- stössen mit dem Militär kam. So fasste der Klassenhass immer tiefer Wurzel.

Die liberale und die klerikale Partei stand den Forderungen des arbeitenden Volkes gleich Verständnis- und thatenlos gegen- über. Im Namen der ersteren, zu jener Zeit herrschenden Partei erklärte Herr Frere-Orban als Finanzminister eine Beschränkung der Kinder- und Frauenarbeit in den Kohlengruben »dir eine Form der Knechtschaft und nichts anderes. Wenn diese Reglemen- tierung der Arbeit unbeschränkt ist, so ist das Sklaverei; wenn sie nur teilweise besteht, so ist das Unfreiheit und Dienstbarkeit. Wenn diese Reglementierung dahin kommt, dass sie der Frei- heit der Menschen nur mehr ein wenig Raum gibt , so ist das Korporations-, Zunft , Meisterwesen, und bis jetzt hatte ich ge- glaubt. dass es ein immenser Fortschritt für die Menschheit ge- wesen, sich allmählich von Sklaverei, Hörigkeit und Dienstbar- keit, Innungs-, Zunft- und Meisterwesen befreit zu haben, um end- lich bei der vollständigen Befreiung des Menschen anzukommen,

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indem sie die Freiheit der Arbeit proklamiert. Die Freiheit der Arbeit ist das geheiligteste, das unverjährbarste Eigentum.«

Und gegenüber dem erdrückenden Thatsachenmateriale, das eben eine medizinische Untersuchungskommission über die phy- sische Wirkung der Arbeit in den Kohlengruben auf Mädchen und Frauen zu Tage gefördert hatte, besass der Minister des Innern die Stirne, zu erklären: cs läge nur vor »beaucoup de theorie, mais de faits point«.

Für Leser, welche Zola’s Germinal kennen, mag bemerkt werden , dass die grässlichsten und grellsten Bilder jenes Ro- rnancs unschwer durch Citate aus dem Berichte der Untersuch- ungskommission belegt werden könnten.

So finden wir also die ödeste, geistloseste Manchesterdoktrin auf der einen, eine unqualifizierbare Verleugnung des thatsäch- lichen Sachverhaltes auf der anderen Seite bei der Regierung.

Welchen Standpunkt nahmen nun aber die Klerikalen diesen Fragen gegenüber ein ?

Die Katholiken unterschieden sich und unterscheiden sich von den Liberalen zunächst dadurch, dass sie das Vorhandensein schwerer sozialer Gebrechen unumwunden zugestehen. F'reilich erblicken sic die Ursache derselben nicht in der industriellen Entwicklung, sondern in der zunehmenden religiösen Indifferenz. Nur wenn bei Arbeitgebern und Arbeitern eine moralische Wieder- geburt erfolgt, werden die Härten der gegenwärtigen wirtschaft- lichen Ordnung sich mildern. Hiezu ist eine sittliche Erziehung der herrschenden Klassen sowohl wie der Arbeiter durch den Klerus er- forderlich. Sofern aber die herrschende Klasse schon eine grössere sittliche Vollkommenheit besitzt , kann sie auch direkt selbst in der Form des Patronates auf die Arbeiter einwirken. Mit we- nigen Worten klar zu sagen, was man unter Patronat zu verstehen hat, ist nicht so leicht, da die bezüglichen Ausführungen der ka- tholischen Schriftsteller Belgiens zwar eine Flut süsslicher Phrasen, aber sehr wenige scharfe und bestimmte Gedanken enthalten. Am ehesten bekommt man noch von dem Patronate eine treffende Vorstellung, wenn man hört, wozu eine missbräuchliche An- wendung desselben führen müsste. Hierüber belehrt uns nun Prof. Perin, das geistige Haupt dieser Richtung in Belgien, mit dankenswerter Offenheit :

»Ohne den Geist der Entsagung wäre das Patronat für die Arbeitgeber nur ein Mittel, die Arbeiter schneller und vollstän-

Archiv für 10z. Gesetigbg. u. Statistik. I. Io

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Her kner.

diger zu unterjochen. Allerdings stösst man heutzutage unter den Gewohnheiten des Industrialismus auf Anzeichen, welche zu der Behauptung berechtigen, dass diese Gefahr kein blosses Hirn- gespinst sei*.

Lässt sich ein System wohl härter verurteilen, kann man seine Gefährlichkeit überzeugender nachweisen, als wenn man als seine Grundlage den »Geist der Entsagung« einer sozialen Gruppe bezeichnet ? In einer sozialen Gruppe als solcher ist alles andere, nur nicht der Geist der Entsagung möglich. Es soll mit Nichten geleugnet werden, dass einzelne Arbeitgeber, in Belgien so gut wie anderwärts, sich infolge einer besonders humanen Bildung und Gesinnung bis zu einem gewissen Grade über die unbedingte und rücksichtslose Verfolgung ihrer materiellen Interessen erheben mögen, und dass das »Patronat* solcher Männer unter Umständen den Arbeitern manchen Segen bringen kann. Nie aber wird uns jemand, weder a priori noch a posteriori, den Beweis erbringen, dass eine soziale Gruppe als solche zu einer so selbstlosen Hand- lungsweise erzogen werden kann, am wenigsten durch jene Mittel, an die, da man die religiöse Gesinnung, wie es scheint, nicht für ausreichend erachtete, in Belgien gedacht wurde, nämlich: »Kommerzienratstitel, Orden und Prämien«. Wir halten übrigens keineswegs bloss die soziale Gruppe der industriellen Arbeitgeber des Geistes der Entsagung für unfähig. Unsere Behauptung ist ganz allgemeiner Natur, und es liegt uns nichts ferner, als auf die letzterwähnte Gruppe einen Stein werfen zu wollen. Sie wird ja fast naturgesetzlich durch die gegenwärtige Wirtschaftsordnung zu der rücksichtslosesten Stellungnahme gegen die Arbeiter ge- zwungen. Aber gerade staatliche Massnahmen, welche die Herr- schaft der freien Konkurrenz allmählich brechen könnten, wer- den auch von den belgischen Klerikalen und das unter- scheidet sie von jenen anderer Länder entschieden abgelehnt. Höchstens, dass man den Wunsch nach einer staatlich gewähr- leisteten Sonntagsruhe ausspricht. Im übrigen wagte man auf den katholischen Kongressen von 1864 und 1867, obwohl man vollständig die Missbrauche des geltenden Systemes anerkannte, nicht einen bestimmten Antrag zu gunsten der Reglementierung zu formulieren.

Angesichts dieser Sachlage wird man es nur zu begreiflich finden, dass die Kluft zwischen den arbeitenden Klassen einer- seits und dem liberalen oder klerikalen Bürgertume andererseits

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sich immer tiefer, breiter und unüberbrückbarer gestaltete. Je gründlicher den Arbeitern von der herrschenden Klasse die Aus- sicht auf ernstliche Reformen benommen wurde , desto mehr wurden sic auch zu einem sozialen Pessimismus gedrängt , wie er in den anarchistischen Lehren seinen Ausdruck gefunden hatte. Als in der »Internationalen« der Streit zwischen K. Marx und ßakunin ausbrach, traten die belgischen Delegierten auf des letzteren Seite.

Unter der Arbeiterschaft aber wirkte diese Spaltung im Schoosse der »Internationalen« so entmutigend, ja geradezu ver- nichtend, dass ein genauer Kenner der Verhältnisse berichten musste : »ganze Sektionen verschwanden , ohne dass auch nur ein Mann geblieben wäre; einst thätige, eifrige, ja unruhige Orte wie Lüttich, Seraing, die grossen Industriedörfer von Char- leroi und Borinage, schienen, wenn nicht für jede Arbeiterorga- nisation, so doch für die »Internationale« , selbst für die allge- meine Sache des Sozialismus tot zu sein. Man konnte eine Zeit lang glauben, dass die sozialistische Bewegung thatsächlich bei uns erloschen sei«.

Damals wäre für die bürgerliche Gesellschaft der geeignete Moment gekommen gewesen, die in Verwirrung geratenen Ar- beitermassen durch loyale Reformen den Lehren der Revolution abspenstig zu machen. Wie immer, blieb sie auch diesmal un- thätig, und die Arbeiterbewegung erwachte nach wenigen Jahren nur in widerstandsfähigerer, zielbewussterer Form.

Am 13. und 14. April 1879 fand in Brüssel ein Kongress von Delegierten verschiedener Arbeitergruppen statt, welchem die Konstituierung der »belgischen sozialistischen Arbeiterpartei« gelang.

Seit jener Zeit ist die belgische Bewegung in langsamem, aber ununterbrochenem Fortschreiten begriffen.

Das die belgischen Arbeiterorganisationen vereinigende Pro- gramm ist mit jenem der deutschen Sozialdemokratie der Haupt- sache nach gleichlautend. Im Gegensätze zu den deutschen Arbei- tern wird indessen den belgischen durch die grössere Press-, Vereins- und Versammlungsfreiheit in erhöhtcrem Masse Gelegenheit zu posi- tivem Schaffen geboten. So hat die sozialistische Agitation eine rege genossenschaftliche Bewegung ins Leben gerufen, die ihrer- seits wieder kräftigend und fördernd auf die erstere zurückwirkt.

Abgesehen von Unterstützungskassen und Gewerkvereinen

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Her kntr ,

legt man einen grossen Nachdruck auf die Gründung von Kon- sumvereinen, die zum Teil mit Produktivgesellschaften in engster Fühlung stehen. Auf diesem Wege wird nicht nur der verteu- ernde Einfluss des kleinen Zwischenhandels untergraben, sondern auch der Widerstand so mancher klerikalen Arbeiterfrau gegen die Bewegung gebrochen, da sie als Leiterin der Ausgabewirt- schaft naturgemäss für die kleinen pekuniären Vorteile, welche jene Vereinigungen ihren Mitgliedern bieten, eine grosse Empfäng- lichkeit besitzt. Ferner dienen die Genossenschaftslokale auch zu den notwendigen Zusammenkünften. Vor allem aber werden die Mittel für die Agitation aus den Einkünften jener Konsum- tion- und Produktionsgesellschaften bestritten. Schon haben sich auch die einzelnen Kooperativgesellschaften zu einem höheren Ganzen vereinigt, um einen Warenaustausch zwischen den ver- schiedenen Verbindungen des Landes und ein gemeinsames Vor- gehen beim Einkäufe des Rohmateriales und der Werkzeuge zu erzielen, ln Erwägung des äusserst glücklichen Fortganges der- artiger Bestrebungen nimmt es nicht Wunder, dass die Entwürfe der belgischen Arbeiter einen immer höheren Flug annehmen. In gewissen Kreisen denkt man bereits an nichts Geringeres als eine allgemeine Arbeitseinstellung. In ganz Belgien soll von einem gegebenen Zeitpunkte an alle Arbeit ruhen. Durch die Vereinigung der Kooperativgesellschaften hoffen die Arbeiter sich die ihnen zum Unterhalte für die Zeit dieses grossartigen Boy- cottens nötigen Vorräte anzusammeln. Auf diesem Wege soll das allgemeine Stimmrecht und mit ihm die Klinke der Gesetz- gebung den arbeitenden Klassen zu Teil werden.

Bekanntlich tauchte schon während der Chartistenbewegung in England der eben ausgesprochene Gedanke eines allgemeinen Strikcs als äussersten Mittels, den Forderungen der Arbeiter Geltung zu verschaffen, auf, und auch nach dieser Richtung bietet also das heutige Belgien eine merkwürdige Analogie zu den eng- lischen Zuständen vor 1847.

Wie ernsthaft die Idee des allgemeinen Strikes unter den belgischen Arbeitern bereits erwogen wird, geht zur Genüge schon daraus hervor, dass der Zwiespalt der Meinung, der in Bezug darauf bei ihnen zur Zeit besteht, auch zu einer Spaltung der Parteiorganisation geführt hat.

Während der Generalrat unter allgemeinem Strike das Nieder- legen der Arbeit in allen Gewerben versteht und für diese Mass-

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regel den Zeitpunkt als noch nicht gekommen erachtet, agitiert der berüchtigte Defuisseaux nur für den sogenannten »schwarzen Strikec, die Arbeitseinstellung in allen Kohlengruben, welche schon jetzt zu den erwünschten Zielen führen können soll. Die An- hänger des Verfassers des »Catechisme du peuple« sind aus- schliesslich Minenarbeiter aus dem Hennegau, welche infolge des Elendes, das sie ausgestanden haben, mit ihrer Geduld bereits zu Ende gekommen sind. Sie folgen jedem, der ihnen eine Ver- besserung ihrer Lage verspricht, der ihnen von Barrikaden, Re- volution und Revanche erzählt.

Auf dem Kongresse von Charleroi nun, der am IO. und It. April 1887 stattfand, wurde allerdings noch mit ansehnlicher Ma- jorität das Vorgehen des Advokaten Defuisseaux verurteilt und dessen Ausschluss aus der Partei gebilligt.

üb die Zukunft der gemässigten Partei oder der anarchis- tischen Gruppe mit Defuisseaux an der Spitze gehören wird, dürfte vorwiegend von dem Verhalten der herrschenden Klassen abhängig sein.

Die erste Forderung der belgischen Arbeiterpartei ist das allgemeine Stimmrecht. Schon haben die liberalen Parteien in der Kammer einen Antrag auf Einführung desselben gestellt. Er wurde zwar von der klerikalen Majorität abgelehnt und entbehrte somit eines praktischen Erfolges. Indessen hat sich damit doch die liberale Partei verpflichtet, diese Forderung der Arbeiter zu erfüllen, sobald sie einmal an die Regierung kommen sollte.

Huldigen auch die tiefer blickenden Elemente der belgischen Arbeiterschaft keineswegs der Ansicht, dass mit der Einführung des allgemeinen Stimmrechtes schon alles erreicht wäre, so würde der moralische Eindruck der Verleihung desselben an die arbei- tenden Klassen auf diese doch ein ganz überwältigender sein. Es würde ihnen damit wenigstens ein legaler Boden für ihre Be- strebungen eingeräumt und die politische Degradation der Ar- beiter zu Staatsbürgern zweiter Klasse beseitigt werden.

So erfreulich nun auch der Umschwung in der politischen Haltung der liberalen Partei erscheinen mag, ungleich höher noch dürfte die Wandelung in dem sozialen Programm der herrschenden Klassen anzuschlagen sein , welche in dem Werke der durch die kgl. Verordnung vom 15. April 1886 eingesetzten Arbeiterkommission zum Ausdruck gelangt ist, einem Werk, das uns in der Folge eingehender beschäftigen soll.

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Hcrkntr,

Im Vorangegangenen wurde versucht, von der sozialen Ent- wicklung Belgiens mit wenigen, groben Strichen ein Bild zu ent- werfen. Auf diesem Wege sollten die Voraussetzungen geschaffen werden, mit welchen man u. E. an das Werk der Arbeiterkom- mission herangehen muss , wenn man zu einer objektiven und gerechten Würdigung desselben gelangen will. Nicht vom Stand- punkte der heutigen englischen Entwicklung, oder jenem der deutschen Sozialwissenschaft, sondern erst nach Berücksichtigung der politischen und sozialen Strömungen Belgiens meinen wir, uns dem bezeichneten Ziele nähern zu können.

Mancher Leser wird die Erwähnung der Ereignisse vom März 1886 vermisst haben, welche einst ganz Europa in Bestürzung versetzten. Sie sind allerdings die unmittelbare äussere Veran- lassung zur Einsetzung der Untersuchungskommission gewesen. So mächtig auch der Eindruck jener bedauerlichen, von hungern- den und durch gewissenlose Demagogen aufgehetzten Proleta- riern begangenen, übrigens arg übertriebenen Exzesse allenthalben gewesen sein mag, sie allein könnten unseres Erachtens den sich zur Zeit in Belgien vollziehenden Umschwung in der Haltung der herrschenden Klassen nicht vollständig aufklären. Aehnliclie Ereignisse hat Belgien auch schon in früheren Jahren erlebt. Auch früher schon wurden Gewehrsalven auf drohende Arbeiter- massen abgegeben. Ja K. Marx konnte einst in einem Rund- schreiben des Generalrates der internationalen Arbeiter-Assoziation über die belgischen Zustände den Satz wagen : >I)ie Erde vollendet ihre jährliche Umwälzung nicht sicherer als die belgische Re- gierung ihre jährliche Arbeitermetzelei«, ein Satz, der bei näherem Zusehen weniger rhetorische und agitatorische Uebertreibung ent- hält, als man anfangs glaubt.

Wir meinen deshalb nicht zu irren , wenn wir die tieferen Gründe für die Einsetzung und die Art der Durchführung der belgischen Enquete, sowie für die aus dem Schoosse der Kommission hervorgegangenen sozialpolitischen Entwürfe in der immer wach- senden, sich befestigenden und zielbewusster auftretender Orga- nisation der belgischen Arbeiterschaft zu erblicken geneigt sind. Und auch deshalb hielten wir eine, w-enn auch knappe Skizze der belgischen Bewegung für geboten.

II.

Je mehr sich während der letzten Jahrzehnte in Deutschland die Auffassung Bahn gebrochen hat, dass die Aufgabe der Na-

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tionalökonomie in der Feststellung wirtschaftlicher Thatsachen und der Erklärung des sie beherrschenden Kausalzusammen- hanges bestehe, ein desto lebhafteres Augenmerk wurde von den deutschen Gelehrten auch dem Enquetewesen, als dem vor- nehmsten Hilfsmittel zur Erreichung des genannten Zieles, ge- widmet. Welche Anforderungen nach dieser Hinsicht vom Stand- punkte der Wissenschaft zu stellen sind , wenn ein brauchbares Ergebnis zu Tage gefördert werden soll, wurde mehrfach er- örtert und im allgemeinen dürfte wohl über folgende Grund- sätze eine gewisse Uebereinstimmung erreicht worden sein.

Die Ermittelung von Thatsachen kann naturgemäss auf dop- peltem Wege erfolgen. Entweder man versendet an die betei- ligten Personen Fragebögen, die, nachdem sie schriftlich beant- wortet worden, wieder gesammelt werden, oder es werden sach- verständige Zeugen mündlich vernommen.

Die erstgenannte Art des Vorgehens eignet sich in hervor- ragender Weise für alle rein statistischen Erhebungen, wird aber unzulänglich, sobald sich die Fragen auf mehr als eine bloss quanti- tative Erfassung wirtschaftlicher oder sozialer Erscheinungen, die ihrer Natur nach bereits bekannt sind, zu richten haben : wenn es sich nämlich in erster Linie darum handelt, festzustellen, welche Erscheinungen überhaupt Vorkommen, und in welchem ursäch- lichen Verhältnisse sie zu einander stehen. Da lässt es sich schon in Anbetracht der grossen Mannigfaltigkeit der Erschei- nungen durchaus nicht vorhersehen , welche Fragen überhaupt gestellt werden müssen. Das feste, starre Schema eines Frage- bogens kann verwickeltercn Zuständen keineswegs Rechnung tragen. Oft mag sogar durch die blosse Form der Fragestellung schon auf die Antwort ein gewisser Einfluss geübt werden, und da überdies eine entsprechende Prüfung der schriftlich mitge- teilten Antworten meist sehr schwierig, wenn nicht gar unmög- lich ist, tritt der Hauptzweck einer Enquete, über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit einzelner Thatsachen ein bedingungslos sicheres Urteil zu gewinnen, leicht völlig in den Hintergrund.

Gilt es aber, die Zustände der sozial tiefer stehenden Schichten der Gesellschaft wahrheitsgetreu zu ermitteln, so muss eine schrift- liche Umfrage schon deshalb ihre Ziele gänzlich verfehlen , weil zu einer angemessenen Berichterstattung in diesem Falle eben einfach die intellektuellen Voraussetzungen fehlen.

Mag man aber auch vom Standpunkte der Theorie sich über

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die Minderwertigkeit derartiger schriftlichen Enqueten vollkommen im klaren sein, die Praxis wird sich ihnen trotzdem immer mit grosser Vorliebe zuwenden, denn sie erfordern unendlich weniger Mühe, Zeit und Kosten als die mündlichen Erhebungen. Ja, es kann sogar Verhältnisse geben, unter denen das schriftliche Ver- fahren auch noch aus andern Gründen das einzig praktisch mög- liche ist. So waren Privatpersonen oder private Gesellschaften oft nur auf diesem Wege vorzugehen im stände, da ihnen die Autorität mangelte, Zeugen vorzuladen, zwischen ihnen Kreuz- verhöre zu veranstalten u. s. w. Zuweilen musste auch die That- sache, dass eine Untersuchung bestimmter Verhältnisse vorge- nommen wurde, geheim gehalten werden , wenn sich ihr nicht unübersteigliche Hindernisse in den Weg stellen sollten. Es han- delte sich da einfach um die Frage, ob eine schriftliche, und somit unvollkommenere, aber leichter geheim bleibende Unter- suchung, nicht immer noch besser sei als gar keine.

Im allgemeinen wird aber freilich eine mündliche Enquete noch keineswegs durch die blosse Mündlichkeit die bessere, son- dern es ist dabei eine Reihe von Grundsätzen zu beobachten, von denen kaum einer, ohne dass eine schwere Schädigung des ganzen Werkes herbeigeführt würde, übersehen werden darf.

1) Es ist keineswegs zweckmässig, wenn eine Untersuchungs- kommission lediglich aus Staatsbeamten zusammengesetzt wird, sondern es müssen auch Personen, welche durch besondere Sach- verständigkeit und Unabhängigkeit der Gesinnung hervorragen, hiezu berufen werden. Wo aber verschiedene Interessen sich gegenüberstehen, ist es erforderlich, dass in der Kommission auch jeder Interessentenkreis seine entprechende Vertretung findet.

2) Will man sich eines brauchbaren Ergebnisses versichern, so gilt es vor allem, den Gegenstand genau zu umschreiben und ihn möglichst zu spezialisieren. Nicht darauf kommt es an, eine grosse Menge von subjektiven Meinungen, Stimmungen, unkon- trollierbaren und zweifelhaften Thatsachen zu sammeln , sondern die Sphäre subjektiver Auffassung soll eben dadurch , dass eine möglichst grosse Zahl von strittigen Thatsachen dem Streite der Parteien durch absolut sichere Erhebung entzogen wird, auf ein möglichst enges Gebiet beschränkt werden.

3) Damit allenthalben ein durchaus einheitlicher Massstab an die zu untersuchenden Zustände gelegt werde, ist es auch

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wünschenswert, die ganze Untersuchung in der Hand einer einzigen Kommission zu zentralisieren.

4) Aeusserst verfehlt aber ist es, wenn die Kommission an ein Fragenschema gebunden wird. Es liegt dann nahe, dass Zeugen auch über Dinge befragt werden, in Betreff deren sie keine eigene Erfahrung besitzen. Ein Abschweifen der Zeugen über den Kreis ihrer Sachkenntnis hinaus muss überhaupt von dem Präsidenten der Kommission sorgsam hintangehalten werden. Von der Lösung oder Nichtlösung dieser ungemein schwierigen Aufgabe hängt die Brauchbarkeit der Ergebnisse in ganz erheblichem Masse ab.

5) Dass die zur Vernehmung berufenen Personen den man- nigfachsten Lebensstellungen, Interessen und Parteien angehören sollen , dass niemand ausgeschlossen werden darf, der zur Auf- klärung der fraglichen Thatsachen etwas beitragen kann , dass unter Umständen ein förmliches Kreuzverhör zwischen den sich gegenüberstehenden Interessenten vorgenommen werden muss, das erscheint vom Standpunkte der Theorie aus so selbstver- ständlich, und man möchte fast vergessen, es ausdrücklich her- vorzuheben, wenn die Praxis nicht immer und immer wieder aus sehr nahe liegenden Gründen dagegen verstossen würde.

6) Ausser den eben erwähnten Momenten liegt noch in der unbedingten Oeffentlichkeit der Erhebung eine unschätzbare Kon- trolle der einzelnen Aussagen. Die Vernehmung der Zeugen soll öffentlich vor sich gehen. Jedermann muss der Zutritt gestattet sein. Entweder müssen die Protokolle sofort in Druck gelegt, oder es muss wenigstens der Tagespresse gestattet werden, ein- gehend über die Zeugenvernehmung zu berichten , damit auch solche Personen, welche aus den verschiedensten Gründen der Untersuchung nicht beiwohnen können, sofort Gelegenheit be- kommen, sich über deren Ergebnisse auf dem Laufenden zu erhalten. Finden sie in den Aussagen eine Unrichtigkeit, so steht es ihnen dann frei, durch eigene Aussagen oder Zuschriften an das Se- kretariat der Kommission eine Berichtigung ergehen zu lassen.

7) Endlich genügt es nicht, eine Unzahl von Antworten in ungeheuren Folianten zu veröffentlichen ; die wichtigsten sicheren Ergebnisse der Enquete müssen auch noch in einem übersicht- lichen Berichte zusammengefasst werden, so dass selbst Personen, die weder Zeit noch Beruf besitzen, sich durch mehrere tausend kleingedruckter Quartsciten durchzuarbeiten , eine klare Vorstel- lung von dem Werke erhalten können. Für die Zeugenaussagen

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Herkner,

sind überdies entsprechende Personal- und Sachregister auszu- arbeiten.

Wenn wir nun diesen absoluten Massstab an das Werk der belgischen Untersuchungskommission legen , so unterliegt es keinem Zweifel , dass dasselbe in allen Punkten , in denen es diesen höchsten Anforderungen entspricht, volles Lob verdient. In wie weit aber gegen Abweichungen von der eben entworfenen Idealenquete ein begründeter Vorwurf erhoben werden kann, das lässt sich nur unter voller Berücksichtigung der besonderen bel- gischen Verhältnisse beurteilen. So hoffen wir durch Anwendung eines absoluten und eines relativen Massstabes Ueberschätzung und Unterschätzung des uns vorliegenden Werkes gleich sicher vermeiden zu können.

Was die in erster Linie zu berücksichtigende Frage der Mündlichkeit oder Schriftlichkeit der Untersuchung anlangt, so hat sich die belgische Kommission für das Betreten beider Wege entschieden. Man könnte dieses Vorgehen gewiss nur billigen, wenn es sich bei der schriftlichen Enquete nur um jene rein statistischen Erhebungen handeln würde , für welche das schrift- liche Verfahren nach den früheren Ausführungen allein geeignet erscheint. Das ist jedoch nicht der Fall. Auch die schriftliche Enquete erstreckt sich auf dasselbe unendlich weite Gebiet der gesamten Arbeiterverhältnisse, wie die mündliche Untersuchung. Obwohl dieses Vorgehen keineswegs mit den von uns klar for- mulierten Anforderungen sich in Einklang bringen lässt, da die einge- räumten Entschuldigungsgründe nicht vorhanden waren, so müssen wir doch der belgischen Kommission dankbar sein, nicht gerade für die Ergebnisse, welche sie durch die schriftliche Umfrage zu tage förderte, sondern vor allem dafür, dass durch ihren mit der grössten Sorgfalt unternommenen, aber dennoch missglückten Ver- such die Unzulänglichkeit der schriftlichen Erhebungen neuerdings auf das schlagendste dargethan wurde.

Um der ungeheueren Mannigfaltigkeit der wirtschaftlichen und sozialen Erscheinungen gerecht zu werden, hatte die Kommis- sion ein 100 Fragen enthaltendes Questionnaire ausgearbeitet. Man ging dabei mit einer Subtilität und einer Systematik vor, man wusste seine Wissbegierde in so viele Kapitel, Unterabteilungen, Fragen, Unter- und Nebenfragen zu zerspalten, dass der Frage- bogen nicht weniger als io Folioseiten umfasste.

Wir geben herzlich gern zu, dass nicht mehr gefragt werden

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konnte, glauben damit aber auch schon das schärfste Urteil über dieses Vorgehen abgegeben zu haben.

Wollte man schon der schriftlichen Umfrage nicht entraten, dann musste man notgedrungen auf alle feineren ursächlichen Zu- sammenhänge, alle besonderen, eingehenderen Fragen verzichten und einige elementare, leicht verständliche und somit auch leichter beantwortbare Gesichtspunkte auswählen. Nur dann konnte man darauf rechnen, dass der Mann aus dem Volke an der Enquete sich würde beteiligen können, dass auch die rauhe Hand des Ar- beiters zur Feder greifen würde.

Es dürfte zweckmässig erscheinen, sofort eine einzelne Frage herauszugreifen und an ihr das Verfehlte des ganzen Versuches nachzuweisen. Z. B. Frage 31.

»Haben in Ihrer Industrie im Laufe der letzten 20 Jahre Ar- beitseinstellungen stattgefunden ?

a) Welches waren die Ursachen? I. Hatten sie eine Lohn- erhöhung zum Zwecke oder den Widerstand gegen eine Lohn- herabsetzung ? 2. Beabsichtigte man eine Verringerung der Ar-

beitszeit oder einen Widerstand gegen eine Erhöhung derselben? 3. Wollte man eine neue Fabrikordnung oder widersetzte man sich einer neueingefuhrten? 4. Brachen Arbeitseinstellungen aus wegen Verletzung alter Gebräuche? 5. bei Gelegenheit der Einführung neuer Maschinen oder neuer Vorgänge in der Fabrikation ? 6. wegen Läden, in denen sich die Arbeiter versorgen ? b) Haben sie einen allgemeinen oder lokalen Charakter besessen? c) Welches war die Bedeutung und Dauer der Arbeitseinstellung? d) Von wem wurden sie organisiert, unterstützt und geführt? e) Welches waren ihre Wirkungen I. auf die Produktion? 2. auf die Arbeit- geber (welche Verluste haben sie infolge des Strikes erlitten?) 3. auf die Arbeiter (welche Verluste haben sie infolge dessen er- litten?) 4. Wurden Arbeiter entlassen, weil sie an dem Strike oder an der Arbeiterbewegung teilgenommen hatten? Wie viele? Hat man Arbeitern die Aufnahme versagt , weil sie von an- deren Arbeitgebern wegen Beteiligung an einer Arbeitseinstel- lung oder einer Arbeiterbewegung entlassen wurden ? 6. Wurden die Unternehmungen in Verruf gethan wegen den von dem Chef derselben ergriffenen Massnahmen ? 7. Worin hatte dieser Ver-

ruf bestanden ? 8. Können Sie uns, wenn möglich, sagen, welches die Arbeitseinstellungen seit 1870 sind, die ihr Ziel erreicht haben? 9. I laben die Arbeitgeber infolge von Strikes die Arbeit aus-

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Herkner ,

wärts ausführen lassen? io. Ist es vorgekommen, dass infolge einer Arbeitseinstellung eine Industrie ihren Standort verlassen oder dass die auswärtige Konkurrenz sich des Absatzmarktes der betreffenden Industrie bemächtigt hat

Nach unserer Auffassung dürfte diese Frage , oder besser dieses Heer von Fragen, ja selbst schon die Unterfrage nach den Wirkungen der Arbeitseinstellungen, bei gründlicher Behandlung eine Enquete für sich allein beanspruchen.

Immerhin wurde die Frage noch relativ gut beantwortet. Es liefen 82 Antworten ein : 6 von mehr oder minder unab- hängigen und unbeteiligten Persönlichkeiten, 68 von seiten der Arbeitgeber der verschiedensten Industriezweige, 7 von Arbeitern, I anonym.

Indessen nur ca. 16 Antworten gehen auf die Frage mit einiger Sorgfalt ein. Die Mehrzahl der Antworten besteht in nichts als einigen unbestimmten Bemerkungen, oft in einem ein- fachen »Nein«. Von den brauchbaren Antworten gehören 2 Unbeteiligten, 12 den Arbeitgebern und 2 den Arbeitern an. Von letztem berichtet eine Typographen-Gesellschaft über ihren Strike in Gent, und ein Maschinenbauer über die Arbeitseinstellung seiner Kameraden im Jahre 1870 zu Molenbeck.

So hat also die grosse schriftliche Enquete über die wich- tige, ja brennende Frage der Arbeitseinstellungen und ihrer Wir- kungen von Seiten der Arbeiterschaft nur zwei einigermassen brauchbare Antworten, übrigens höchst beschränkten und ver- gleichweise unbedeutenden Inhaltes, erzielt I

Besser, wenigstens in formeller Hinsicht, sind die Antworten der Arbeitgeber namentlich da, wo sie nicht von einzelnen Per- sonen, sondern Arbeitgeberverbindungen ausgehen, wie überhaupt das schriftliche Verfahren weit grössere Chancen besitzt, wenn die Interessenten beiderseits einer festen Organisation sich erfreuen.

Wenn wir im folgenden die beste Antwort, die der »Ver- einigung belgischer Glasindustrieller zu Charleroi» in extenso mitteilen , so geschieht das wohl in erster Reihe zwecks der Kritik des schriftlichen Verfahrens. Indessen dürfte der Inhalt gerade dieser Antwort auch in rein sachlicher Hinsicht manches Interessante bieten. Die Antwort lautet:

»Vor 1884 gab es in der Glasindustrie keine Arbeitseinstel- lungen. Die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitern waren von jeher so väterliche, dass diese niemals daran dachten,

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ihren Pflichten, ja selbst nur mündlichen Verabredungen untreu zu werden.

Mitte März jenes Jahres aber bewerkstelligten die Glasbläser nebst ihren jugendlichen Hilfsarbeitern, ungeachtet ihrer schrift- lichen Verpflichtungen, eine Arbeitseinstellung unter dem Ein- flüsse des Gewerkvereines der Glasarbeiter.

a) Die Ursache bestand in der Weigerung der Arbeitgeber, Aenderungen in der Arbeitsweise, welche der genannte Gewerk- verein aufbrachte, anzunehmen.

Sie bezweckten :

r. Künstlich das Arbeitsangebot zu beschränken und einer Lohnherabsetzung, die durch die wirtschaftliche Lage geboten war, sich zu widersetzen.

2. Eine Herabsetzung der Arbeitszeit dadurch zu bewirken dass sie ihre Arbeit mit einem Genossen ihrer Wahl teilten.

3. Eine Arbeitsweise, >Zwei für Einen« genannt, einzuführen, durch welche, da sie mehr Arbeiter beschäftigt, das Arbeitsan- gebot vermindert und so die bisherige Lohnhöhe zum mindesten aufrecht erhalten, wenn nicht erhöht worden wäre.

4. Da die Arbeitgeber diese Neuerung, welche mit den bis- herigen Bräuchen und Verabredungen, sowie mit dem traurigen Gange der Geschäfte in Widerspruch stand , nicht zuliessen , so stellten jene Bläser und ihre Hilfsarbeiter, welche der Glasarbeiter- gewerkschaft angehörten, die Arbeit ein und suchten auch die Arbeiter anderer Kategorien in ihren Widerstand zu verwickeln.

5. Neue Prozesse in der Fabrikation haben zum Vorwände der Ereignisse vom März 1886 gedient.

Die Vervollkommnungen, welche infolge der fremden Kon- kurrenz auch in Belgien eingeführt werden mussten, wurden irrigerweise von den Anführern als den Interessen der Arbeiter besonders nachteilige hingestellt und haben für die unseligen Er- eignisse in der Glashütte Baudoux zum Vorwände gedient.

6. Nein.

b) Sie haben einen allgemeinen Charakter in dem Sinne be- sessen, als sie als die Fortsetzung von Bewegungen im Becken von Lüttich erschienen und dann von dem unserigen sich nach jenem von Mons erstreckten.

c) Einen Monat ungefähr im Jahre 1884.

Acht Tage im Jahre 1886, eine Periode, in welcher alle Glas- hütten des Beckens von Charleroi feierten.

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Her k ntr ,

d) Im Jahre 1884 ist der Strikc durch den Gewerkverein der Glasarbeiter organisiert, geführt und durch dessen Fonds unter- stützt worden. Letztere werden einerseits durch die monatlichen F.inzahlungen per I Fr., welche alle Mitglieder zu leisten hatten, und insbesondere durch die Zuschüsse gebildet, welche der ameri- kanische Gewerkverein der Glasarbeiter gewährte, mit dem der von Charleroi föderiert ist, und der hier einen ständigen Vertreter hält.

e) Die Wirkungen der Beweguug waren :

1. Verminderung der Produktion, Beschränkung der Qualität und des Arbeitswertes, den der seinen Verpflichtungen treu ge- bliebene Arbeiter erzielte, da er ohne Sicherheit unter den be- ständigen Drohungen der Strikenden arbeitete.

2. Empfindliche Verluste, welche das Auslöschen der Schmelz- öfen, deren Campagne noch nicht beendet war, hervorrief, Ver- luste in Qualität und Quantität auf Seiten der weiter arbeitenden Arbeiter, erhöhte Gencralspesen etc. ; eine erhöhte Schwierigkeit gegen die Konkurrenz fremder Staaten , insbesondere der Ver- einigten Staaten, aufzukommen.

3. Die Strikenden haben, ausser dem Verluste ihres Lohnes, den Schaden bezahlen müssen, wozu sie vom Gerichte wegen Kontrakt- bruches und Angriffes auf die Freiheit der Arbeit verurteilt wurden.

4. Nach Beendigung des Strikes wurden die Rädelsführer, auch jene, welche die grösste Schuld trugen , wieder in jenen Werken aufgenommen, welche sie verlassen hatten.

5. Keinen.

6. Der Gewerkverein der Glasarbeiter hatte jene Fabriken in Verruf gethan, welche seinen Ansprüchen, selbst in ihnen die Arbeit zu regeln, entgegengetreten waren.

7. Dieser Verruf bestand darin, dass ungeachtet der frei ein- gegangenen Verträge in ihnen die Arbeit verlassen werden musste und den Mitgliedern der Gewerkschaft verboten wurde, in den auf den Index gesetzten Unternehmungen Arbeit anzunehmen.

8. Die Arbeitseinstellung hat ihr Ziel nicht erreicht. Sie hat nur ein trauriges Ergebnis gehabt, nämlich das gegenseitige Ver- trauen, welches immer zwischen Arbeitgebern und Arbeitern be- standen hatte, zu trüben.

9. Nein, aber im Jahre 1886 hat der Käufer seine Bestel- lungen im Auslande gemacht, ein Umstand, welcher durch mehrere Monate die Thätigkeit der Glasindustrie hemmte, da sie für lange Zeit als leistungsunfahig galt.

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Die belgische Arbeiterenquete und ihre sozialpolitischen Resultate. 279

10. Der auswärtige Handel hat von den Märzereignissen grossen Gewinn gezogen.

Das Bild der Zerstörungen wurde dermassen übertrieben, (sic!) besonders in den Vereinigten Staaten, dass die Käufer dieses Landes im Glauben, sie würden lange Zeit hindurch sich nicht in Belgien versorgen können , im Auslande ihre Bestel- lungen machten.

ln Belgien haben die Käufer für den Export ihre Aufträge nach Frankreich und England gesandt.

Aus dieser Verschiebung ergab sich ein zwangsweises Feiern, dessen Folgen die Glasindustrie noch in diesem Augenblicke schwer empfindet.«

Aehnlich, wenn auch minder genau und sachlich ungleich weniger interessant, erweisen sich die übrigen Antworten der Arbeitgeber. Alle tragen das Zeichen ihres Ursprungs unver- kennbar an der Stirne. Die Aussagen werden eben lediglich vom Standpunkte der Arbeitgeber aus abgegeben. Und das kann man ihnen keineswegs verdenken. Sache der Unternehmungs- kommission wäre es aber gewesen , auch die andere Partei zum Worte zu bringen. In der schriftlichen Enquete jedoch fehlt eine Darstellung der von den Arbeitgebern berichteten Arbeitsein- stellungen vom Gesichtspunkte der Arbeiter aus ganz und gar.

Ein Gegeneinanderhalten der Berichte beider Parteien zwecks einer Ermittelung des objektiven Thatbestandes ist daher inner- halb der schriftlichen Enquete unmöglich. Nur über den in der citierten Antwort berührten Strike findet sich wenigstens in der mündlichen Enquete ein Bericht des mehrfach genannten Gewerk- vereines der Glasarbeiter. Durch Vergleichung beider Darstel- lungen kann man eine recht deutliche Vorstellung davon ge- winnen, wie, ohne dass gerade eine Thatsache gefälscht wäre, dennoch derselbe Sachverhalt einfach dadurch, dass er von der Zinne der Partei aus berichtet wird, in ein ganz verschiedenes Licht gerückt werden kann. Wir werden die bezeichnendsten Stellen aus dem Berichte des Gewerkvereines als Anhang mit- tcilcn, damit hier der Gang der Untersuchung nicht allzusehr unterbrochen -wird.

Der Mangel, dass die Antworten der Arbeitgeber und Ar- beiter innerhalb der schriftlichen Enquete nur ausnahmsweise eine gegenseitige Kontrolle gestatten, weil eben die beiderseitigen Berichte, abgesehen davon, dass sie auch quantitativ höchst un-

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He r k nt r ,

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gleich erscheinen, sich fast nie auf denselben Thatbestand be- ziehen, dieser Mangel macht sich nicht nur bei der hervorge- hobenen Frage fühlbar, sondern trifft die ganze schriftliche Fn- quete überhaupt. Es soll der schriftlichen Untersuchung keines- wegs das Verdienst bestritten werden, dass sie einzelne in ihrer Art vortreffliche Auseinandersetzungen von Seite der grösseren Fir- men oder Arbeitgeberverbindungen, wie etwa der Societc Cockerill, der Vereinigung der Grubenbesitzer von Charleroi , der bereits erwähnten Vereinigung belgischer Glasindustrieller ebenfalls zu Charleroi u. a. m. erzielt hat. Ebenso sind auch manche schätzens- werte Angaben mehr statistischer Natur z. B. über die Zahl der beschäftigten Kinder, Frauen und Männer, über deren Lohnhohe, über Arbeiterbudgets u. dgl. gesammelt worden, die wir als eine dankenswerte Ergänzung der mündlichen Enquete auffassen.

Lassen wTir aber selbst den Umstand , dass in der schrift- lichen Enquete in erster Linie nur der Standpunkt der Arbeit- geber zum Ausdrucke gelangte, ganz ausser Acht, so finden sich doch noch viele Fehler, w'elche die Unzweckmässigkeit des schriftlichen Verfahrens auch nach anderer Hinsicht, ganz ausser Zweifel setzen.

Wie oft wurden die gestellten Fragen überhaupt gar nicht verstanden ! So werden bei der Frage nach den Produktivasso- ziationen meist die Verhältnisse der Konsumvereine dargelegt Manche wieder scheinen die ihnen gestellten Fragen gewisser- massen als ein Examen betrachtet zu haben, das sie in den Dok- trinen der manchcsterlichen Nationalökonomie abzulegen hätten, und beantworten die Frage nach den Ursachen der Lohnschwank- ungen ganz schulgerecht mit dem Hinweis auf Angebot und Nachfrage. Häufig sind die Antworten geradezu sinnlos. Oder was soll man sich denken, wenn z. B. die Frage nach den Folgen der Abnahme der Zahl der Arbeiter mit einem »Ja« beantwortet wird ? Weite Abschweifungen auf die unglaublichsten Themata sind allenthalben anzutreffen. Man lese z. B. die Antwort eines wackeren pensionierten Steuereinnehmers auf die Frage nach der Art der Entlohnung (Vol. I. No. 1342). Nicht nur, dass bei dieser Gelegenheit der Entwurf eines Fabrikgesetzes, Gedanken über die Bekämpfung der Trunksucht und die Folgen der Testier- freiheit zum Besten gegeben werden, auch das Unterrichtswesen, Volksbibliotheken, Armenpflege und Krankenkassen werden mit gleicher Liebe behandelt.

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Bedenkt man einerseits, wie gross das Gebiet war, auf das sich die Fragen überhaupt erstreckten, nämlich auf die gesamten gewerblichen Arbeiterverhältnissc , dass ferner nicht weniger als 100 zum Teil sehr umfassende Fragen gestellt w'urden, und zieht man andererseits die erhebliche Summe von unverständ- lichen, parteiisch gefärbten, unkontrollierbaren und unzulänglichen Antworten in Erwägung, so wird man es keineswegs wunderbar finden, wenn man sich nach der schriftlichen Enquete allein, trotzdem 5757 schriftliche Antworten eingelaufen sind, doch nicht über einen einzigen Gegenstand ein objektives Urteil bil- den kann.

Es ist uns deshalb unmöglich, die schriftliche Erhebung als einen mit der mündlichen gleichwertigen und gleichberechtigten Teil der Enquete gelten zu lassen. Sie bietet in mancher Hin- sicht höchstens eine willkommene Ergänzung der mündlichen Zeugenvernehmung. Ausserdem gewinnt in ihr der Standpunkt der Arbeitgeber allerdings eine ausgedehnte Vertretung, und wem der letztere als solcher besonderes Interesse einflösst, dem wird die schriftliche Erhebung gewiss ein reiches Material bieten. Hieftir mögen schliesslich noch einige schlagende Zahlen ange- führt werden.

Wie bemerkt wurde, liefen auf die Fragebögen im Ganzen 5757 Antworten ein. Davon stammten 1228 von relativ unbe- teiligten , aber auch nicht besonders sachkundigen Persönlich- keiten, 3663 Antworten aber gingen von seiten der Arbeitgeber und nur 866 von seiten der Arbeiter aus. Hiebei sehen wir überdies noch die als anonym angegebenen Antworten als solche, welche von Arbeitern herrühren, an.

So betrug die Beteiligung der Arbeitgeber 63.6 °/o, die der Arbeiter nur 15.0 °/o !

Diese schon quantitativ höchst ungleiche Beteiligung der gegenüberstehenden Interessen; ferner der Umstand, dass die Meinung der Arbeitgeber ohnedies im öffentlichen Leben, in Par- lament und Presse, hinreichend vertreten wird und eine fast aus- schliessliche Ermittelung derselben somit keineswegs geboten schien ; endlich die mässige Qualität der schriftlichen Antworten über- haupt, in bezug auf welche ein Mitglied der Kommission den Vers: »Sunt bona, sunt quaedam mediocria, sunt mala plura« an- führt: all’ diese Erwägungen dürften es gerechtfertigt erscheinen lassen, wenn wir nunmehr die Besprechung der schriftlichen En-

Archiv für soz. Gesetzgbg. u. Statistik. I. IQ

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Htrkntr,

quete beendigen und unser Augenmerk fortan auf die münd- liche richten.

Unter den im Eingänge aufgestellten Grundsätzen, deren Be- folgung ein brauchbares Ergebnis sichert, nahm jener über die Zusammensetzung der Untersuchungskommission die erste Stelle ein.

Die belgische Kommission wurde durch eine königliche Ver Ordnung vom 15. April 1886 eingesetzt und zählte 30 Mitglieder. Bei der Ernennung derselben aber suchte man nicht den Ge- danken einer möglichst gleichmässigen Vertretung der in Unter- suchung .stehenden Interessen zu verwirklichen, sondern man strebte danach, Männer auszuwählen, die zwar mit dem politischen und sozialen Leben des Landes eng vertraut waren, aber Ar- beitern und Arbeitgebern gegenüber als unabhängig und unpar- teiisch angesehen werden konnten. So ernannte man Mitglieder der Kammern, Universitätsprofessoren, Ingenieure und Publizisten, vermied es aber Arbeitgeber und Arbeiter aufzunehmen. In Eng- land hingegen geschah letzteres bekanntlich zu wiederholten Malen, und, wie wir glauben, mit Recht. Es wird immer leichter sein, einen Mann als Parteimann zu erkennen , als ein sicheres Urteil darüber zu fällen, ob eine bestimmte Person in der That als vollkommen vorurteilslos und uninteressiert, und dennoch sachverständig gelten kann.

Wollte man auch annehmen, es seien bei der Auswahl der Mitglieder keine Missgriffe vorgekommen, so musste doch schon der Umstand, dass die Kommission immerhin lediglich der bür- gerlichen Gesellschaft entnommen wurde, in Arbeiterkreisen ver- stimmen. Daher verbot auch der Generalrat der Arbeiterpartei anfänglich die Beteiligung der Arbeiter; ein Verbot, das aber sobald man sich von den loyalen Absichten der Kommission überzeugt hatte, wieder aufgehoben wurde.

In glücklichster Weise wurden nämlich die etwa bei der Zu- sammensetzung der Kommission begangenen Fehler dadurch wettgemacht, dass bei den einzelnen mündlichen Verhandlungen stets Vertreter der sich entgegenstehenden Interessen, von seiten der Arbeiter meist Vertreter von Arbeitergesellschaften, in das Bureau Aufnahme fanden. Diese erhielten dann ebenso wie die ordentlichen Mitglieder das Recht, Fragen zu stellen und in die Debatte einzugreifen, ferner konnten sie die Aussagen ihrer Standesgenossen vervollständigen oder, wenn es geboten war, berichtigen.

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Kin anderer Punkt, der hier zur Sprache gebracht werden muss, ist der, dass die Mitglieder der Kommission laut eines in der ersten Sitzung gefassten Beschlusses ihr Mandat vollkommen unentgeltlich übernahmen. Weder Reisespesen noch Vergütungen für Zeitverluste wurden angenommen. Selbst die Sekretariats- und Stenographendienste verursachten keinerlei Kosten, da sich an dem Orte der Vernehmung stets junge Leute zur unentgelt- lichen Uebernahme derselben bereit finden Hessen. Gern lassen wir der hochherzigen und aufopferungsvollen Gesinnung jener Männer, welche den erwähnten Beschluss fassten , volle Gerech- tigkeit und Anerkennung widerfahren. Indessen glauben wir be- tonen zu sollen, dass nicht in einem möglichst geringen Kosten- aufwande, sondern in einem brauchbaren Ergebnisse der Schwer- punkt einer Enquete ruht. Ob nun die unentgeltliche Ausübung des Mandates dem Hauptzwecke der Enquete zuweilen hemmend entgegengetreten sein mag, ob nicht vielleicht die grössere Kosten- erfordernde mündliche Enquete aus diesem Grunde etwas beein- trächtigt wurde, ist freilich schwer zu sagen. Jedenfalls aber verdient es uneingeschränktes Lob, dass man die Arbeiter für jene Zeit- und Arbeitsverluste, welche durch ihre Beteiligung an dem Werke der Untersuchung bedingt wurden, schadlos hielt.

Wir forderten in zweiter Linie die Spezialisierung der Unter- suchung auf einige bestimmte Gegenstände. Sie soll nicht in die Breite, sondern in die Tiefe sich erstrecken. Leider ist ge- rade dieser ungemein wichtige Grundsatz bei der ganzen belgischen Enquete, bei der schriftlichen wie bei der mündlichen , auf das Aergste vernachlässigt worden.

Wir stehen nicht an , hierin den Hauptfehler des ganzen Werkes zu erblicken.

Während das in Enqueten geübte England schon für jede einzelne gesetzliche Massregel eine besondere Untersuchung vor- zunehmen pflegt, hat man in Belgien, wo nach dieser Richtung noch jede Tradition fehlte, nicht mehr und nicht weniger als eine Ermittelung der gesamten Verhältnisse der gewerblichen Arbeiter des Landes überhaupt vornehmen wollen. So galt die Untersuchung der Kinder- und Frauenarbeit, dem Truckunfug, den Schieds- und Einigungskammern, den Gewerkvereinen, dem Versicherungswesen , der Wohnungsfrage , den Konsumvereinen, den Produktivassoziationen, dem Alkoholismus, dem gewerblichen Bildungswesen u. s. w.

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Her kner.

Hatte man sich wenigstens auf die Arbeiter der Grossindustrie beschrankt. Aber nein. Grossindustrie und Kleingewerbe, Berg- bau, Hausindustrie und Transportwesen, einfach alles sollte be- rücksichtigt werden. Nach Jahrzehnte langer Unthätigkeit auf sozialem Gebiete geberdete man sich plötzlich, als ob man eine radikale Umgestaltung der ganzen bestehenden Ordnung vor- nehmen wollte. Und doch darf man nicht alles auf einmal wollen, wenn man mehr als wollen will I

Vor allem musste nun die mangelnde Spezialisierung aus den bereits entwickelten Gründen für die schriftliche Umfrage verhängnisvoll werden. Minder schädlich erwies sie sich in der mündlichen Enquete. Hier sorgte zum Teil der Takt der Prä- sidenten, zum Teil der Umstand, dass die Zeugen doch immer am eingehendsten von dem, was ihnen unmittelbar am Herzen lag, zu sprechen pflegten, in glücklicher Weise dafür, dass sich die Vernehmung mehr auf die einer Reform zunächst bedürftigen Zustände, die Kinder- und Frauenarbeit, den Trunkunfug und das Arbeiterkassenwesen, konzentrierte.

Der Grundsatz, dass die Untersuchung überall von derselben Kommission ausgeführt werden soll, fand in Belgien keine Ver- wirklichung. Die Kommission spaltete sich nämlich in sechs Ab- teilungen, von denen jede für sich, nachdem das Land ebenfalls in sechs Sektionen eingeteilt worden war, in je einer die Unter- suchung vornahm. Da aber andererseits die Kommission zu wiederholten Malen in gemeinsamer Sitzung sich vereinigte und die bei der Enquete zu befolgenden Grundsätze gemeinsam fest- stellte , so möchten wir auf diese Abweichung kein allzugrosses Gewicht gelegt wissen.

Voll und ganz aber wurde der Forderung genügt, dass bei der Untersuchung alle Interessen zur Vernehmung gelangen sollen.

Wie bereits früher bemerkt wurde , erhielten die Arbeiter, welche durch ihre Beteiligung an der Enquete Arbeitszeit ver- loren, ihren Verlust ersetzt , so dass ihre Aussagen nicht durch materielle Opfer erschwert wurden. Je nach Wunsch der Arbeiter wurden ihre Mitteilungen in geschlossener oder öffentlicher Sitz- ung entgegengenommen. Oft wurde auf ersteres von seiten der Arbeiter grosser Wert gelegt , weil sie sonst wegen ihrer Aus- sagen der Rache ihrer Arbeitgeber zu verfallen fürchteten, ln der That ist es auch öfters vorgekommen , dass Arbeiter wegen

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ihrer Teilnahme an der Enquete entlassen wurden, ja dass ihnen dieselbe schon von vornherein geradezu untersagt worden war.

Die Vernehmung der beiden sich gegenüberstehenden Inte- ressenten wurde meist in der Weise vorgenommen, dass an be- stimmten Tagen nur die Arbeiter, an anderen Tagen nur die Ar- beitgeber zum Worte gelangten. Zuweilen wurden die Be- schwerden der Arbeiter den letzteren durch eine Rede des Präsi- denten mitgeteilt, welche sie in den Stand setzte, eventuelle Un- richtigkeiten sofort klarzulegen.

Bei der grossen Verbitterung, welche in Belgien zwischen Arbeitern und Arbeitgebern herrscht, mag es ganz zweckmässig gewesen sein , nicht beide Parteien einander persönlich gegen- überzustellcn. Jedenfalls hätte die Gefahr, dass anstatt sachlicher Mitteilungen persönliche Gehässigkeiten zum Ausdrucke gelangt wären, nahe genug gelegen.

Abgesehen von jener oben erwähnten, im Interesse der Arbeiter gelegenen Beschränkung der Oeflentlichkeit liess das Vorgehen der Kommission nach dieser Hinsicht aber nichts zu wünschen übrig.

Die Zeitungen pflegten ihren Lesern eingehende Berichte über die Resultate der Erhebungen zu erstatten. Stets wohnte den Sitzungen ein zahlreiches Publikum bei, das den oft von einem dramatischen Schwung getragenen Verhandlungen mit dem gröss- ten Interesse folgte. Wie lebhaft namentlich die Beteiligung der Arbeiter war, und wie sehr man von seiten der Kommission eine möglichst weitgehende OefTentlichkeit der Verhandlungen an- strebte, mag folgende Episode im einzelnen beleuchten. Sie er- folgte zu Auvelais. Das Protokoll berichtet:

»In diesem Augenblicke wird die Menge im Gemeindesaalc so gross, in dessen Hintergründe aufrecht und zusammengekauert dicht gedrängte Gruppen von Kohlenarbeitern sich befinden, dass man den Bürgermeister auf die Gefahr eines Einsturzes aufmerk- sam macht. Herr Ingenieur Lagasse begibt sich in das Erdge- schoss , stellt fest, dass die Gefahr eine ernste ist, und schlägt vor, auf offenem Marktplatze vor dem Gemeinilehause die Sitzung abzuhalten , da ein entsprechend grosser geschlossener Raum fehlt. Die Kommission entscheidet sich dafür, und die Sitzung wird unter freiem Himmel, allein unter dem Schutze eines Flur- wächters, wieder aufgenommen , inmitten von mehr als 1500 Ar- beitern, die den Anstand voll bewahren, wenn sie sich auch ein wenig hin- und herdrängen, um die Aussagen besser zu hören.«

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II er kn er,

Der Verkehr der Arbeiter mit den Kommissionsmitgiiedern war überhaupt in den meisten Fällen ein beide Teile vollkommen zufriedenstellender. Und in Gent, dem Vororte der belgischen Arbeiterpartei , beglückwünschte sich Anseele , einer der hervor- ragendsten Arbeiterführer , zu den ausgezeichneten Beziehungen, welche zwischen der Kommission und den Delegierten der Ar- beiter während der langen Sitzungen bestanden hatten.

Ereignete es sich hie und da auch einmal , dass Arbeiter mehr deklamierten, als Thatsachen mitteilten, dass ihre Genossen im Publikum bei der Kundgebung ihres Beifalles oder des Gegen- teiles allzu stürmisch wurden , so genügten doch stets einige ruhige Worte des Vorsitzenden oder eines der im Bureau befind- lichen Arbeiterdelegierten, um sie in jene Schranken zurückzu- führen, welche die Zwecke der Untersuchung erheischten. Indessen das kam, wie bemerkt, nur selten vor. Zumeist zeichneten sich die Antworten der Arbeiter durch einen ruhigen, ernsten, sach- lichen, nur von dem reinsten Streben nach Wahrhaftigkeit er- füllten Ton aus. Uebrigens wird man es den Arbeitern uin so weniger verübeln können, dass sie ausnahmsweise den Boden der Thatsachen verliessen, dass sich bittere Vorwürfe ihrer Brust ent- rangen, wenn man bedenkt, dass auch die Arbeitgeber das Werk der Kommission nur zu oft durch manchesterliche Tiraden , für die ihnen die schriftliche Enquete ja schon reichliche Gelegenheit geboten hatte, in erheblichem Masse beeinträchtigten.

Die beste Gewähr für die Richtigkeit der abgegebenen Aus- sagen liegt jedenfalls in der unbedingten Üeffentlichkeit des Ver- fahrens. Nachdem die Kommission diesem Postulatc in ausgie- bigster Weise Rechnung trug, kann es wohl kaum als Mangel gelten, dass sie das Recht der Zeugenvereidigung entbehrte.

Jederzeit war auch die Kommission mündlichen und schrift- lichen Berichtigungen zugänglich. Letztere finden sich in grosser Zahl als Anhang zu den Protokollen vollständig abgedruckt und bieten ein oft sehr wertvolles Material.

Mit der Haltung englischer Commissioners verglichen, ergibt sich freilich, dass die belgischen es nicht immer hinreichend ver- standen, scharf, zähe und hartnäckig bestimmte Thatsachen zu packen und ungeachtet aller Ausflüchte der Parteien nicht eher zu ruhen , als bis sie vollständig klargestellt worden. Dieses letztere für Untersuchungszwecke höchst förderliche Vorgehen mag aber ebenso sehr in dem Nationalcharakter der Engländer

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als in ihrer grossen Erfahrung auf dem fraglichen Gebiete be- gründet sein, und es kann den Belgiern billigerweise nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass sie dessen entbehren.

Sehr zu bedauern aber ist es , dass die Kommission die wichtigsten Ergebnisse der mündlichen Untersuchung nicht in einem übersichtlichen Berichte zusammengefasst hat. Freilich hätte derselbe bei der Mannigfaltigkeit des Stoffes eine grosse Schwierigkeit geboten, wäre aber eben aus diesem Grunde nur um so wünschenswerter gewesen. Um den Einblick in die Er- gebnisse des Werkes etwas leichter zu gestalten, hat man aller- dings Register ausgearbeitet: für die schriftliche Enquete ein Personen-, für die mündliche ein Sachregister. Doch sind bei ersterem keineswegs, wie es oft in England geschah, die Aus- sagen resümiert.

Mochten nun auch die Ergebnisse der beiden Enqueten schon von vornherein infolge der gänzlich verschiedenen Grund- sätze, die bei ihrer Vornahme massgebend waren , sehr wenig vergleichbar und gegenseitig kontrollierbar sein , so hätte sich dieser Fehler doch einigermassen dadurch Ausgleichen lassen, dass man wenigstens bei der Anlegung der Register einheitlich vorgegangen wäre, d. h. dass man für beide Enqueten Personen-, Sach- und Ortsregister ausgearbeitet hätte.

Die »Rapports«, welche der dritte Band des Werkes ent- hält, beruhen nur in den seltensten Fällen auf den Ergebnissen der Untersuchung. Nicht den Zeugenaussagen , sondern der wissenschaftlichen Litteratur sind die Belegstellen entnommen. Sie bilden in der Regel eine Darstellung der bisherigen Behand- lung der betreffenden Frage in Wissenschaft und Gesetzgebung. Desgleichen ist auch zwischen den im Anschlüsse daran ent- worfenen Gesetzesvorschlägen und den Ergebnissen der Unter- suchung nur ein sehr loser Zusammenhang zu entdecken.

Ein einziger Berichterstatter, Herr Morisseaux, hat, bevor er daran ging, in der eben skizzierten Weise das Truckwesen zu behandeln, eine Darstellung der gegenwärtigen Verbreitung des- selben in Belgien vorangeschickt.

Im grossen und ganzen aber fehlt es zwischen schriftlicher und mündlicher Enquete und zwischen dieser und den »Rap- ports« an jedem geistigen Bande. Unvermittelt, ohne innere Be- ziehungen, stehen sie nebeneinander.

Wir haben das Werk der belgischen Arbeiterkommission an

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Herkntr,

dem höchsten Massstabe, jenem, den die deutsche Wissenschaft von dem englischen Verfahren abstrahiert hat, gemessen. Wir haben manche nicht unerhebliche, zum Teil sogar sehr beklagenswerte Ab- weichungen feststellen müssen. Aber wir haben das Werk mit diesem Massstabe nur gemessen , wir wollen es nicht danach beurteilen.

Weder Deutschland noch Oesterreich oder Frankreich ver- mögen eine ähnliche Publikation aufzuweisen. Und stellen wir uns gar auf den Boden der belgischen Verhältnisse, so müssen wir in der Enquete eine wahrhaft grosse That erblicken. Die Arbeiter, über welche durch Jahrzehnte höchstens einmal, wenn sie einen Strike unternommen hatten, in den Kammern die Kede ging, sind nun zum ersten male um ihre Beschwerden selbst be- fragt worden. Um das Werk der Untersuchung zu ermöglichen, hat es in gleicher Weise der Hingebung und des Beistandes der Arbeiter, vieler uninteressierter Personen und auch der Arbeit- geber bedurft.

So schroff sich auch in Belgien bereits die sozialen Gegen- sätze entwickelt haben, der Gedanke der Reform hat auch die extremsten Widersacher noch zu einem Werke zu vereinigen vermocht. In grössere Kreise der herrschenden Klassen ist mit der besseren Kenntnis der gegenwärtigen Zustände auch die Ucberzeugung von deren Unhaltbarkeit eingedrungen. Man wagt die Politik des bedingungslosen »laisser-faire« nicht mehr zu be- haupten. Das ist vielleicht vom allgemeinen Standpunkte aus wenig, von dem Belgiens aber, wo wie in keinem anderen Staate der Molochphrase von der »Freiheit der Arbeit« gehuldigt wurde, ist es viel, sehr viel.

Anhang.

Ueber jenen Strike, dessen in der S. 276 zitierten schriftlichen Beantwortung der Frage No. 31 von Seite der Vereinigung bel- gischer Glasindustriellen zu Charleroi gedacht wurde, findet sich in der mündlichen Enquete folgender, von einem Delegierten des Gewerkvereines der Glasarbeiter verfasster und vorgelescner Be- richt. Wir glauben aus demselben um so eher die bezeichnendsten Stellen wieder geben zu dürfen , als er nicht nur die Einseitig- keit der Arbeitgeberaussagen und die Unzulänglichkeit der schrift- lichen Erhebungsform überhaupt illustriert, sondern auch interes- sante Streiflichter auf die modernen Lohnkämpfe wirft.

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(Commission du Travail. Proces-verbaux. vol. II. Section re- gionale E. No. 1557. p. 110 u. in.)

>Im Laufe dieses letzten Jahres, nämlich 1884, brach unter den Glasarbeitern ein Strike aus.

Im Januar desselben Jahres fassten die Arbeitgeber den Be- schluss, 40 Oefen, in denen der Schmelzprozess noch im Gange war, auszulöschen. Denjenigen aber, welche eine gewisse Zahl von Wochen hindurch mehr Oefen, als sie verpflichtet wären, ausser Betrieb lassen würden, sollte eine Prämie von 1000 Frcs. pro Ofen gewährt werden, während jene Unternehmer, welche eine grössere Zahl von Oefen, als ihnen zukam , brennen lassen würden, 1000 P'cs. pro Ofen an Strafe entrichten sollten.

Infolge dieses Beschlusses wurden mindestens 240 Bläser, 240 »ceuilleurs« , 120 Strecker, 120 Abschneider, 120 Schürer und eine entsprechende Zahl von Tagarbeitern auf das Pflaster geworfen.

Angesichts dieser schrecklichen Krise , welche neuerdings die Klasse der Glasarbeiter in unserem Bassin betraf und an jene von 1879 erinnerte, war der erste Gedanke des Publikums, dar- über zu schreien, dass die Nachfrage nicht mehr der Produktion entspreche , und dass man wegen dieses Ueberschusses noch lange zu leiden haben werde.

Aber im Gegensätze zu dieser Voraussicht erklärte und be- wies der Gewerkverein der belgischen Glasarbeiter, dass die Zu- kunft nicht so drohend war, als die Arbeitgeber es glauben machen wollten, dass der Glasmarkt fest war, und dass, wenn die Arbeitgeber diesen Beschluss gerade zu dieser Zeit gefasst hatten, es nicht nur geschah, um den Verkauf ihrer Vorräte zu erleichtern, sondern auch den Lohn der Arbeiter um die Hälfte herabzudrücken; in der That, man bemerkte damals, wie die Arbeitgeber Arbeiter, deren Schmelzöfen ausser Betrieb gesetzt worden waren, rufen Hessen und vergebliche Bemühungen an- stellten, um sie dazu zu bewegen, mit geringerem Lohne an die Stelle von anderen zu treten, die zu entlassen sie sich verpflich- teten. Nachdem diese Mittel fehlgeschlagen waren, versuchten sie es bei jenen, die noch in Arbeit standen, und sagten ihnen, dass sie, wenn sie sich nicht eine Herabsetzung gefallen lassen würden, entlassen werden müssten, da andere Arbeiter zu bil- ligeren Bedingungen zu Gebote stünden.

Auch diese neuen Versuche hatten keinen Erfolg. Der Ge-

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werkverein, welcher erkannt hatte, dass es auf die Löhne abge- sehen war, und in der Voraussicht, dass die Arbeitgeber für das Gelingen ihrer Absicht grosse Chancen besiissen , wenn er nicht auf der Stelle wirksame Schritte anordnete, entschied , dass alle Arbeiter, welche durch das Auslöschen jener 40 Oefen auf das Pflaster geworfen worden , von ihren Genossen , deren Oefen im Gange geblieben waren, als Mitarbeiter angenommen werden sollten ; diese Arbeiter überliessen ihren Kameraden 50 % ihres Lohnes und gaben damit den grössten Beweis der Solidarität, dessen der Mensch je fähig gewesen.

Sie sagten sich : da es die Ueberproduktion ist, welche uns schadet, so wollen wir nur die Hälfte produzieren, aber wir wer- den alle beschäftigt sein und so unsere Löhne für die Zukunft unversehrt erhalten, welche, nebenbei bemerkt, günstig erschien.

Wir bemerken, dass ungeachtet dieses Strikes das Jahr 1884 eines von jenen war, in welchem die meisten Scheibengläser in Belgien hergestellt wurden, und die Fabrikanten den grössten Ge- winn zogen.

Ob zwar schon früher zu gewissen Zeiten die Arbeitsweise »Zwei für Linen« organisiert worden war, ohne auf die Missbilligung der Arbeitgeber zu stossen, welche anerkannten, dass die Arbeit »Zwei für Einen« einen befriedigenderen Zustand darstellte als jene des Bläsers allein, und welche dies noch jetzt anerkennen, so hatten diesmal die Arbeiter doch ihre Rechnung ohne den Wirt ge- macht, indem die Arbeitgeber, nur die Lohnherabsetzung im Auge behaltend, nunmehr diese Arbeitsweise zurückwiesen.

Man sieht daraus, welche Absichten ihr I landein bestimmten ; sie waren nun demaskiert; da wurde die Parole ausgegeben: überall und überall verweigerten die Arbeitgeber' diese Arbeits- weise.

Angesichts dieser Lage musste der Gewerkverein der Glas- arbeiter seine Entschliessung treffen. Nachdem jene Handlungs- weise ein altes Herkommen darstellte, das jedes Jahr in kraft getreten war, erklärten die Arbeiter , dass sie, wenn die Ar- beitgeber nicht die Arbeit »Zwei für Einen« annehmen sollten, alle ihren Platz verlassen würden und die Arbeit nicht früher, als bis sie Satisfaktion erlangt, wieder aufnehmen wollten.

Nun erschienen sie mit ihren Mitarbeitern bei der Arbeit, bei deren Auswahl sie darauf gesehen hatten , dass sie von einer ihnen gleichkommenden Stärke waren.

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Die belgische Arbeitcren<]uete und ihre sozialpolitischen Resultate. 29!

Die Arbeitgeber aber verboten wirklich den Mitarbeitern den Zutritt zu den Arbeitsräumen. Nun verliessen auch die Arbeiter ihre Arbeit. Binnen wenigen Tage wurden auf diese Weise die meisten Glashütten geschlossen. Der Strike drohte sich auf alle Werke zu erstrecken. Da erfuhr man, dass mehrere Mitglieder des Gewerkvereins sich mit ihren Arbeitgebern auseinanderge- setzt hatten, die Arbeit wieder aufzunehmen und ihnen so und so viel an Schadenersatz zu bezahlen , da sie mit gerichtlichen Klagen bedroht worden waren. Man sagt, dass dergestalt mehrere Mitglieder Tausende von Franken an ihre Arbeitgeber bezahlt haben.

Die schmählichen Mittel , deren sich die Arbeitgeber be- dient hatten, um einige Mitglieder den Ehrenverpflichtungen gegen ihre Genossen untreu zu machen , entmutigten die letz- tem, welche für die Aufrechterhaltung ihres Lohnes , ihrer Exi- stenz kämpften, und bald nachher wurde allenthalben in grösserer Ausdehnung als je die Arbeit wieder aufgenommen. Die Ar- beiter, deren Löhne infolge der Arbeitseinstellung nicht hatten herabgesetzt werden können, sahen mit Freuden jetzt sogar Er- höhungen eintreten.

Andererseits aber strengten die koalierten Fabrikanten alle zu gleicher Zeit bei dem Gerichtshöfe erster Instanz zu Charleroi eine Klage auf Schadensersatz gegen die Leitung des Strikes an.

Nebenbei bemerken wir, dass sie zuvor die Löhne aller Ar- beiter, welche die Arbeit eingestellt, mit Beschlag belegt hatten und ebenso die Depots , welche ihnen von letzteren gelassen worden waren, und welche diese am Finde der Campagne er- halten sollten.

Diese beschlagnahmten Löhne und Depots beliefen sich auf 19027 Fr. 17 C., ganz abgesehen von den Summen, welche von den Arbeitern, die sich mit den Arbeitgebern auscinandergesetzt hatten, bezahlt worden waren.

Angesichts dieser Klage beschloss der Gewerkverein in einer Generalversammlung für die Verluste der treugebliebenen Mit- glieder solidarisch einzutreten und beauftragte Herrn Destree mit der Verteidigung.

Nach langen Verhandlungen und nachdem das Verlangen der Arbeiter nach einer Untersuchung, dass jener Gebrauch immer bestanden habe, abgeschlagen worden war, wurden sie solidarisch zu einer Summe von 33350 F'r. u C. Gcrichtskosten und Schadens-

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292 11 e r kn er. Die belgische Arbeiterenquete u. ihre sotialpolit. Resultate.

ersatz verurteilt. Zieht mau von derselben die der beschlag- nahmten Löhne ab, so bleiben noch 14422 Fr. 94 C., eine Summe, welche von dem belgischen Gewerkvereine bezahlt wurde. Zur selben Zeit machte er noch den Arbeitern , deren Löhne be- schlagnahmt worden, Vorschüsse auf die letzteren und zur Stunde ist die ganze Schuld bezahlt.

Aber damit ging der Angriff der Arbeitgeber noch nicht zu Ende. Um den Gewerkverein, den sie weder leiden konnten, noch jetzt leiden mögen, noch besser zu treffen , teilten sie sich die Namen der Arbeiter, welche die grösste Entschlossenheit in diesem Strike gezeigt hatten, mit und beschlossen, dieselben nicht mehr zu beschäftigen. Sie fielen dem Vereine zur I-ast und hätten ihn schliesslich erschöpft. Allein die Aufträge strömten zu jener Zeit so massenhaft zu, dass die Arbeitgeber bald den Verruf, in welchen sie jene Arbeiter gethan hatten, wieder Zurück- nahmen.

Gegen Ende desselben Jahres verliessen die Abschneider (ouv- riers coupcurs) alle zusammen ein Werk, weil ihnen der Direktor nicht eine Reform zugestehen wollte, welche sic verlangten, und welche ihnen versprochen worden war. Die Liste ihrer Vor- und Zu- namen wurde an alle Glasindustriellen versendet, welche alles aufboten, damit jene Arbeiter ohne Arbeit blieben ; so fielen sie denn dem Vereine zur Last, welcher trotzdem widerstand und aufrecht erhalten blieb.

Im Jahre 1885 kam eine neue Krise. Sofort machten die Arbeitgeber sich dieselbe zu Nutze und bedienten sich der un- beschäftigten Arbeiter, um die Löhne herabzudrücken.

Der Gewerkverein beschloss neuerdings seinen Mitgliedern Beistand zu leisten, ordnete die Arbeit »Zwei für Einen« in jenen Unternehmungen an, in denen es gestattet würde, und erhob eine Abgabe von 5 °/o des Lohnes derer, welche im Januar, Februar und März arbeiten würden.

Abgesehen von der Summe, welche jene opferten die Mit- arbeiter annahmen, wurden durch die Abgabe mehr als 25000 F'r. erhoben und im Lauf des April und Mai an die bedürftigen und arbeitslosen Mitglieder verteilt.

Nebenbei bemerken wir, dass niemals ein Arbeitgeber etwas zur Unterstützung der Unglücklichen beigetragen hat.

Ungeachtet all' dieser Schläge blieb der Gewerkverein zum grossen Missvergnügen der Arbeitgeber bestehen.«

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GESETZGEBUNG.

DER ÖSTERREICHISCHE GESETZENTWURF ZUR BEKÄMPFUNG DER TRUNKENHEIT.

EINGELEITET VON PROF. MAX GRUBER (WIEN).

Bekanntlich wird in Oesterreich-Ungarn in nächster Zeit ein Gesetz in Kraft treten, durch welches der Branntwein einer aus- giebigen Besteuerung unterworfen wird.

Es dürfte kein Zufall sein, dass kurz vor diesem Stcuergc- setzentwurfe dem Reichsrate der Entwurf eines Gesetzes zur Hintanhaltung der Trunkenheit vorgelegt wurde. Offenbar wollte die österreichische Regierung von vornherein den Argwohn bannen, dass sic von nun an, aus fiskalischen Rücksichten, das Brannt- weintrinken fördern werde.

Der Alkohol ist ein sehr gefährliches Gift; sein sich immer mehr ausbreitender Verbrauch , insbesondere in seiner gefähr- lichsten Gestalt, im Branntwein ein so furchtbares wirtschaftliches, sittliches und gesundheitliches Uebel, dass jede Massregel , die auch nur im geringsten geeignet ist, ihn einzuschränken, mit Freude begriisst werden muss.

Der vorliegende Gesetzentwurf enthält präventive und repres- sive Bestimmungen. Die Prävention richtet sich ausschliesslich gegen den Branntwein. Es hat dies eine gewisse Berechtigung, da der Schnaps ohne Zweifel die übrigen Alkoholika an Ge- fährlichkeit weit übertrifft und seiner relativen Billigkeit halber am leichtesten zum Massenverbrauch gelangt.

Die Vorlage geht von der richtigen Ueberlegung aus, dass der Verbrauch des Schnapses ceteris paribus um so grösser sein werde, je reichlicher und bequemer die Gelegenheit geboten ist, sich ihn zu verschaffen.

Sie versucht demnach, den Anbot von Branntwein einzu- schränken, durch Verringerung der Zahl der Schankstellen und

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G ruber,

durch Verkürzung der Schankzeit. Zu diesen Präventivmassregeln treten eine Reihe von Strafbestimmungen gegen offenbare Trunken- heit, Verabreichung von Branntwein an Unmündige u. s. w.

Wir wollen zunächst prüfen, inwieweit die Bestimmungen des Entwurfes dem Zwecke Einschränkung des Schnaps-Anbotes entsprechen, und dann erörtern , welche Bedeutung der Ein- schränkung des Angebotes im Kampfe gegen den Alkoholismus zukommt.

Der Gesetzentwurf knüpft in seinem präventiven Teile an das Gesetz vom 23. Juni 1881 »betreffend den Handel mit gebrannten geistigen Getränken, den Ausschank und den Kleinverschleiss derselben«, beziehungsweise an das Gesetz vom 15. März 1883 »betreffend Abänderungen und Ergänzung der Gewerbeordnung« an. Mit diesen Gesetzen war bereits eine Einschränkung des Branntweinausschankes versucht worden. Ihre für uns wichtigsten Bestimmungen sind die folgenden : Der Handel mit gebrannten geistigen Getränken in verschlossenen Flaschen und in beliebigen Mengen ist ein freies Gewerbe. Ausschank und Kleinverschleiss derselben bedürfen einer Konzession. Die Konzession zum Ausschanke berechtigt zur Verabreichung der Getränke an Gäste und über die Gasse in unverschlossenen Gefässen in den kleinsten Mengen, die Konzession zum Klein versch leis sc zum Verkaufe derselben in unverschlossenen Gefässen, jedoch nur in Mengen von mindestens '/» Liter und mit der Beschränkung, dass der Kleinverschleisser den Genuss der verabreichten Ge- tränke in den, ihm zur Verfügung stellenden Räumlichkeiten nicht gestatten darf. Bei der Erteilung der Konzession ist auf Ver- lässlichkeit und Unbescholtenheit des Bewerbers, auf das Be- dürfnis der Bevölkerung, auf Eignung des Lokales u. s. w. zu achten. Eine und dieselbe Person darf in ein und derselben Ortschaft nur eine Konzession erwerben , verpachten oder als Stellvertreter übernehmen. Gast- und Schankgewerbe zerfallen in eine Reihe von Konzessionen, deren jede gesondert und stets ausdrücklich erteilt werden muss (Beherbergung von Fremden, Verabreichung von Speisen, Ausschank von Bier, Wein und Obstwein, Ausschank und Kleinverschleiss von gebrannten, geis- tigen Getränken u. s. w.) [Gesetz vom 15. März 1883] Ausschank, Kleinverschleiss und Handel mit gebrannten, geistigen Getränken in verschlossenen Gefässen von nur 1 Liter und darunter unter- liegen einer besonderen Abgabe für jede Ausschankstätte be-

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trägt die Abgabe halbjährig im vorhinein 5 50 fl (je nach der Bevblkerungszahl der Ortschaft); für jede Kieinvcrschleissstätte sind nur */s dieser Sätze zu entrichten ; für jede Stätte, in der der Handel mit den oben bezeichncten Mengen als Hauptge- schäft betrieben wird '/« ; für Gastgewerbe, Zucker- und Mando- lettibäckergewerbe und Handelsgcwerbe, in denen Ausschank und Kleinhandel nur nebenbei betrieben werden V», für die letzteren mit der Beschränkung dass die Abgabe nicht mehr als der auf das Gewerbe entfallenden Erwerbssteucr im < )rdinarium be- tragen darf.

Das Unzureichende dieser Bestimmungen liegt auf der Hand. Der Handel mit gebrannten geistigen Getränken auch in kleinsten Mengen ist frei, wenn nur die Gefässe »handelsüblich« verschlossen (Flaschen versiegelt) sind. Die Abgabe für diesen Kleinhandel beträgt nur 1 lt derjenigen für den Ausschank. Der Kleinver- schleisser, der bis zu •/ b Liter in unverschlossenen Gefässen ver- kaufen darf, zahlt nur */» der Abgabe für Ausschank. Werden Ausschank, Kleinverschleiss und Kleinhandel nur nebenbei aus- geiibt, so tragen sie gar nur '/» der Abgabe. Es ist begreiflich, dass nach Erlass dieses Gesetzes zwar die Zahl der Schankstätten abnahm, dafür aber der Kleinverschleiss und insbesondere der freie Kleinhandel sich ausbreiteten, ganz abgesehen davon , dass notorisch viele, nur zum Kleinhandel Berechtigte , thatsächlich doch Schänker sind.

Diesen Mängeln sucht der neue Gesetzentwurf, der sich viel- fach das niederländische Gesetz vom 28. Juni 1881, »betreffend den Kleinhandel mit geistigen Getränken und die Verhütung der öffentlichen Trunkenheit« zum Muster nimmt, abzuhelfen. (Siehe den Text.)

§ 1 unterwirft auch den Handel mit gebrannten, geistigen Getränken in verschlossenen Gefässen in Mengen unter 5 Litern einer Konzession. Die Erteilung dieser Konzession unterliegt denselben Bedingungen , wie sic durch das frühere Gesetz für Ausschank und Kleinverschleiss festgesetzt wurden.

Das niederländische Gesetz gibt den Handel mit Mengen bis zu mindestens 2 Liter frei. Dem gegenüber ist die Bestimmung des § 1 gewiss vorzuziehen. Aber auch die Menge von 5 Liter ist noch viel zu niedrig angenommen, wenn man verhindern will, dass die Bevölkerung sich Vorräte des verderblichen Stoffes nach Hause schafft. Auch sehr Bedürftige werden die Mittel aufbringen, die

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G ruber.

zur Anschaffung von 5 Litern Schnaps erforderlich sind , den weitesten Kreisen der Bevölkerung wurde dies jedoch unmöglich gemacht, wenn das Minimalquantum, mit dem gehandelt werden darf, auf 50 oder 40 Liter (wie in Norwegen) festgesetzt wurde. Vom Standpunkte der Verhütung des Alkoholismus muss unbe- dingt eine beträchtliche Erhöhung der Minimalzahl gefordert werden.

§ 2, der die Ausübung anderer Gewerbe neben Ausschank und Kleinverschleiss von Branntwein im selben Lokale ver- bietet, wird ohne Zweifel sehr wohlthätig wirken. Wird doch jetzt, wie auch der Motivenbericht des Entwurfes hervorhebt, in vielen Geschäften (Gemischtwaarenhändler, Fragner etc.) durch Verabreichung von Schnäpsen an Dienstboten und Kinder der Alkoholismus geradezu gezüchtet. Wir würden nur eine weitere Verschärfung wünschen, dahingehend dass Lokale, in denen Ausschank oder Kleinverschleiss von Branntwein ausgeübt wird, mit keinem anderen Verkaufsgewerbslokalc in innerer häuslicher Verbindung stehen dürfen. Die Absicht dieses Paragraphen würde sonst zu leicht unerfüllt bleiben und Personen , die sich scheuen, von der Strasse aus die Schänke zu betreten , würden den Umweg durch das benachbarte, unverdächtige Geschäft nur zu bald finden.

§ 3 setzt nach dem Vorgänge des niederländischen Gesetzes, Maximalzahlen für die Ausschank- und Kleinverschleiss- Konzes- sionen im Verhältnisse zur Bevölkerungszahl fest. In Gemeinden bis zu 500 Einwohnern ist nur eine Ausschank-Konzession zu er- teilen, in grösseren Gemeinden auf je volle 500 Einwohner eine. Auf je 1000 Einwohner kann eine Kleinverschleiss-Konzession er- teilt werden. Erloschene und zurückgelegte Konzessionen dürfen nicht wieder verliehen werden, solange die Maximalzahl über- schritten ist. Diese Bestimmung ist radikaler als jene des hol- ländischen Gesetzes, das je nach der Grösse der Gemeinden, auf je 250 (in den kleinsten Gemeinden) 500 Einwohner eine Be- willigung gestattet. Im I. Semester 1887 bestanden (laut Mo- tivenbericht) in Oesterreich 45637 Branntweinschenken, 52177 Gastgewerbe, Kaffeehäuser und Zuckerbäckereien mit Ausschank gebrannter geistiger Getränke, 7437 Kleinverschleisse, 13 125 Klein- handclsstättcn, zusammen 118 376 Stätten, in denen Branntwein geschenkt oder in kleinen Quantitäten bis zu V* Liter herab ver- kauft wird. Sehen wir von den 13 125 Kleinhandelbetrieben, deren Zahl sich unter dem Einflüsse der §§ 1 und 2 bedeutend ver-

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Der österr. Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Trunkenheit. 297

ringern muss, ganz ab, so verbleiben demnach 105251 Betriebe (97814 Schankstellen und 7437 Kleinverschleisse), auf welche § 3 Anwendung findet. Würde er strenge durchgefuhrt, so wür- den in Zukunft (bei der heutigen Bevölkerungsziffer) nur 44 300 Schankstellen und 22150 Kleinverschleisse in Summa 66450 solcher Gewerbe bestehen können. Leider wird sich der Erfolg keines- wegs so günstig gestalten. § 4 bestimmt, dass das »Propina- tionsrecht« (d. h. das grundherrliche Ausschankprivilegium, wie es hauptsächlich in Galizien und Bukowina besteht) durch die §§ 1 und 3 nicht berührt wird. Die ca. 18 000 Propinations- schenken Galiziens werden also bis Ende des Jahrhunderts un- vermindert weiter bestehen und Verderben aussäen. Es wird dann ferner in § 3 ausgesprochen, dass an Orten mit lebhaftem Fremdenverkehr, Gastgewerbe, Garküchen, Kaffehäuser, in denen der Ausschank nur nebenbei betrieben wird, ausser Berechnung bleiben. Viel bedenklicher als diese Bestimmung ist die folgende : dass die politische Landesbehörde »bei besonders berücksichtig- ungswürdigen Verhältnissen» die Maximalziffer der Ausschank- konzessionen überschreiten darf. Worauf dabei besonders Rück- sicht zu nehmen sei, wird nicht gesagt. Wir fürchten aber, die besonders berücksichtigungswürdigen Verhältnisse werden recht häufig vorhanden sein: sehr grosser Durst auf der einen Seite, noch grösseres Bedürfnis möglichst viel Branntwein zu verkaufen auf der anderen. Wenn man schon solche Ausnahmen zulassen will, dann muss wenigstens angeordnet werden , dass die politische Behörde zunächst die Vertretung der betreffenden Gemeinde zu hören hat, und dass jede Erteilung einer die Maximalzahl über- schreitenden Konzession im Amtsblatte mit Darlegung der Gründe zu publizieren ist.

Auch die Bestimmung bezüglich der Kleinverschleisse ist be- denklich. Wie ersichtlich, kann sich auf Grund des Gesetzes die Zahl der Kleinverschleisse von 7437 auf 22150 erhöhen. Und sie wird sich erhöhen, denn darüber darf man sich nicht täuschen die meisten dieser Kleinverschleisse werden verkappte Schank- steilen sein. Soll dies verhindert werden, dann muss das Schank- steuergesetz verändert und die Abgabe fiir Kleinverschleisse auf die der Ausschankstätten erhöht werden. Man wird aber ein- wenden, dass dann die Zahl der Kleinverschleisse zu sehr einge- schränkt würde, um den Bedürfnissen der Bevölkerung zu ge- nügen, die ja gebrannte, geistige Flüssigkeiten, »Spiritus,« nicht

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Gest/zgebung.

allein zum Trinken, sondern zu vielen häuslichen und gewerb- lichen Verrichtungen verwendet. Dieses Bedenken ist auch ohne Zweifel gerechtfertigt, und wir sind überzeugt, dass die 44000 Schank- und auch die 66 000 Schank- und Kleinverschleissstellen die 118 000 heutigen Kleinverkaufsstellen in dieser Richtung nicht ganz ersetzen werden, und wir fürchten, dass dies einen Hauptanlass abgeben wird, um die gesetzliche Maximalziffer im Verordnungs- wege wieder zu überschreiten. Diesen Bedürfnissen aber durch eine mildere Maximalzahl zu entsprechen, wäre zu gefährlich und ist auch nicht notwendig. Allen Forderungen lässt sich genügen, wenn man mit den strengsten Strafbestimmungen und Kontroll- massregeln sicher stellt, dass zu gewerblichen und häuslichen Zwecken nur »denaturierter«, z. B. mit Holzgeist versetzter Spi- ritus in Handel gebracht wird und dass man den Handel mit solchem, zum Genuss untauglichen, Branntwein frei gibt. Unter dieser Bedingung Hesse sich die Zahl der Schankstellen und Klein- verschleisse unbedenklich noch weiter einschränken.

§ 5. Der erste Absatz dieses Paragraphen ist vortrefflich. Die Gefahr des Alkoholmissbrauches seitens der arbeitenden Be- völkerung ist an den Ruhetagen am grössten und der Schluss aller Schankstellen und Kleinverschleis.se von 5 Uhr Nachmittags des Sonn- und Feiertagen vorhergehenden Tages bis 5 Uhr Mor- gens des nächstfolgenden Werktages würde ausserordentlich viel zur Einschränkung des Alkoholismus beitragen ’). Aber die dem Ersten folgenden Absätze verringern den Wert dieser Be- stimmung ganz ungemein. Auch hier wieder wird der politi- schen Landesbehörde die Ermächtigung erteilt, das Verbot für bestimmte Orte und Zeiten aufzuheben, z. B. (wie der Mo- tivenbericht sagt), in Orten, wohin die Landbevölkerung nur an Sonn- und Feiertagen zu kommen und ihre Einkäufe zu machen pflegt ! Man staunt. Also gerade dann , wenn das Verbot am allernotwendigsten und wohithätigsten wäre, soll es aufgehoben werden ! Das entspricht wohl nicht dem Geiste des Gesetzes. Auch soll die Bestimmung dieses Paragraphen auf Gastgewerbe, Zuckerbäckereien, Kaffeehäuser, Mandolettibäckereien, in welchen nebenbei Branntwein geschenkt wird, keine Anwendung finden. Wird diese Bestimmung nicht geradezu dahin führen, dass die Schnapsschänker künftighin als Zuckerbäcker und Kaffeesieder

1) Bisher schon ist für alle Schänken und Kleinverschleis.se die Polizeistunde IO Uhr abends festgesetzt.

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Der Österr. Gesetzentwurf zur Bekämpfung <ier Trunkenheit. 299

auftreten werden? Wir halten diese Begünstigung für durchaus ungerechtfertigt. Jene Gastwirte, Kaffeeschänker u. s. w., die an Sonn- und Feiertagen ihre Geschäfte offen halten wollen, sollen ihre Konzession zum Ausschank gebrannter , geistiger Getränke zurücklegen. Nur zu oft sind heute schon Kaffeehäuser, Zucker- bäckereien und dergl. Schnapsbuden schlimmster Sorte. Es wäre eine wahre Wohlthat, wenn diese Auswüchse gehörig beschnitten würden. Die Berechtigung, an Sonn- und Feiertagen ihr Gewerbe betreiben zu dürfen, würde die auf den Ausschank des Brannt- weins verzichtenden Geschäftsleute reichlich entschädigen gegen- über ihren Genossen, die zwar vielleicht unter der Woche des Schnapses halber stärkeren Zulauf hätten, aber am Sonntage ge- schlossen halten müssten.

Die §§ 1 S incl. umfassen die präventiven Massregeln ; die folgenden treffen Strafbestimmungen : § 6 bestraft mit Arrest bis zu einem Monate oder an Geld bis zu 50 fl. den, der sich in Gast- und Schankräumlichkeiten, in I.okalen für Ausschank, Klein- verschleiss oder 1 landel mit Branntwein, auf der Strasse oder an anderen öffentlichen Orten im Zustande offenbarer Trunkenheit befindet oder an solchen Orten einen anderen absichtlich in Trunkenheit versetzt. Dieselbe Strafe trifft Wirte, Schanker u. s. w., welche an Betrunkene oder an offenbar Unmündige, die nicht in Begleitung älterer Personen erscheinen, geistige Getränke verabreichen oder verabreichen lassen.

§ 7 erklärt Forderungen aus Zechsclnilden und Forderungen aus dem Handel mit gebrannten, geistigen Getränken in Mengen von nur 5 Liter und darunter als nicht klagbar, wenn der Kredit- nehmer zur Zeit der Verabreichung eine frühere Schuld gleicher Art an denselben Gläubiger noch nicht bezahlt hat.

§ 8 erklärt Pfand- und Bürgschaftsverträge, welche sich auf die in § 7 bezeichneten Forderungen beziehen, als ungiltig. Die tj 7 und 8 finden nach >; 9 keine Anwendung auf Forderungen an in Gasthäusern beherbergte Fremde.

§ 10 bestraft Scheingeschäfte zur Umgehung der 7 und 8 mit Arrest von einer Woche bis zu 2 Monaten oder an Geld bis zu 200 fl.

§ 11 verhängt über solche, welche während eines Jahres drei- mal wegen Trunkenheit bestraft worden sind, Verbot des Be- suches der Gast- und Schankräumlichkeiten ihres Wohnsitzes und seiner Umgebung bei Strafe mit Arrest bis zu einem Monate oder an Geld bis zu 50 fl.

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Gesttzgcbung.

§ 12 bestimmt, dass Gast- und Schankwirten etc. , welche wiederholt wegen Uebertretungen der §§ 5, 6 und 10 abgestraft worden sind, die Berechtigung zum Betriebe ihres Gewerbes für eine bestimmte Zeit oder für immer entzogen werden kann.

§ 13 ermächtigt die politische Landesbehörde zur Anordnung, dass der Wortlaut der §§ 6 bis einschliesslich 12 in den Gast- und Schankräumlichkeiten bestimmter Orte und Bezirke anzu- schlagen ist.

Nach § 14 werden Uebertretungen der §§ 1 und 2 nach der Gewerbeordnung bestraft; Uebertretungen der übrigen §§ durch die Bezirksgerichte.

Die §§ 15 und 16 betreffen Vollzugsbestimmungen.

Die Strafbestimmungen des vorliegenden Entwurfes (§§ 6 bis 12) sind mit geringen Abänderungen aus dem für Galizien und Bukowina erlassenen Ausnahmegesetze zur Bekämpfung der Trunk- sucht vom 19. Juli 1877 herübergenommen, ln Galizien und der Bu- kowina, wo das Ausnahmsgesetz schon seit mehr als 10 Jahren be- steht, behauptet man mit seiner Wirksamkeit zufrieden zu sein. Bestimmte Angaben über seine Wirkungen, aus denen man sich selbst ein Urteil bilden könnte, wurden aber bisher nicht gemacht. Die Zahl der Bestrafungen wegen Trunkenheit hat bis in die jüngste Zeit zugenommen. Man weiss aber nicht, ob dies auf Ausbreitung der Trunksucht oder auf strengere Handhabung des Gesetzes zu beziehen ist. Von vornherein wird man von diesen Bestimmungen nicht allzuviel erwarten, wenn man auch vollkommen damit einverstanden sein muss , dass sie erlassen werden. Trotz der §§ 7 IO wird der schlaue Schänker oder Händler seine Opfer aussaugen, wenn ihm auch sein Handwerk etwas erschwert ist. Der zweite Absatz des § 6 wird dem Schänker zwar gewisse Schranken in der Verabreichung der Al- koholika ziehen, ihn aber doch nicht abhalten, Jedem soviel Alkohol beizubringen, als möglich ist, ohne dass seine Trunkenheit allzu »offenbar« wird. Sein Eigennutz wird alle Bedenken besiegen. Die Bestrafung der offenbaren Trunkenheit wird häufig recht Unschuldige hart treffen, den aller sittlichen Empfindungen und allen Ehrgefühls baaren Trunkenbold wenig schrecken. Sie kann nur indirekt wirken, wenn sie weiten Bevölkerungskreisen das Unsittliche, sozial Verdammenswerte des Alkoholmissbrauchs zum Bewusstsein bringt. Die Exilierung aus allen Gast- und Schank- lokalen (§ 1 1) wäre für den Trunksüchtigen jedenfalls schmerz-

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Der österr. Gesetzenhuurf zur Bekämpfung der Trunkenheit. 301

licher, wird aber, in grösseren Ortschaften wenigstens, schwerlich aufrecht zu halten sein.

Mit grossem Bedauern vermissen wir dagegen Anordnungen über die Errichtung von Trinker-Asylen von Seite des Staates und über zwangsweises Unterbringen der Gewohnheits- trinker in denselben auf Grund richterlichen Spruches. Wenn irgendwie, dann ist es nur auf diesem Wege möglich zugleich die Gesellschaft zu schützen und den Gewohnheitstrinker zu retten. Die Erfolge, die damit in Nordamerika und anderwärts erreicht worden sind, raten dringend dazu, diesen Weg zu betreten. An den Mitteln würde es nicht fehlen. Was wäre gerechtfertigter, als einen Teil des Ertrages, den der Alkohol selbst dem Staate liefert, zur Beseitigung der durch ihn hervorgerufenen Schäden zu verwenden.

Wir würden überhaupt viel beruhigter darüber sein, dass die Staatsverwaltung zukünftig kein Interesse daran nehmen wird, dass der Branntweinkonsum mindestens nicht sinkt , wenn von vornherein eine bestimmte Summe aus dem Branntweinsteuer- ertrage — sagen wir 25 oder 30 von den zu erwartenden 35 Millionen fixiert worden wäre, die zu beliebigen Zwecken des Staatshaushaltes verwendet werden darf, der ganze Ueberschuss des Ertrages Uber diese Summe hinaus aber zur Bekämpfung des Alkoholismus und seiner Folgen, also für Trinkerasyle, Irren- häuser, Krankenanstalten, Versorgungshäuser u. dergl. verwendet werden müsste. Dann hätte der Staat von Jahr zu Jahr sein sicheres bestimmtes Einkommen aus dem Branntweine und eine Abnahme des Konsums könnte ihm auf Jahre hinaus gleichgiltig sein, denn in dem Masse als der Alkoholismus sinken würde, würde auch der Bedarf zur Bekämpfung seiner Folgen abnehmen.

Unentbehrlich ist eine andere Massregel, die durch den vor- liegenden Gesetzentwurf nicht angeordnet wird : die Bestimmung, dass nur fuselfrci gebrannte, geistige Getränke in Verkehr ge- bracht werden dürfen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass der Branntwein seine ausserordentliche Verderblichkeit neben seinem hohen Alkoholgehalte dem Gehalte an höher zusammengesetzten Alkoholen, eben dem Fuselöle, verdankt. Die Gefahr für die Gesundheit ist um's Vielfache geringer, wenn reiner Aethylalkohol genossen wird. Andererseits ist der Destillationsprozess heute so vervollkommnet, dass sich völlig fuselfreie Produkte hersteilen lassen, und die Untersuchungsmethoden ausreichend, um minimale

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Gesetzgebung.

Fuselbeimischungen zu erkennen. Das Verbot fuselhaltigen Brannt- weins ist also durchführbar und muss daher erlassen werden. Der Motivenbericht verspricht auch Bezügliches. Leider wurde aber bei Beratung des Branntweinsteuergesetzes in der Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 2. Juni (J. J. die zweckmässigste Form, dieses Verbot zu erlassen, nämlich die vom Abg. Dr. Menger beantragte Bestimmung, dass nur fuselfreier Spiritus in den Handel gebracht werden darf, abgelehnt. Man wird also wahrscheinlich die Kontrolle darüber, dass nur fuselfreier Brannt- wein ausgeschenkt wird, bei der Durchführung des Nahrungs- mittelgesetzes zu erreichen suchen. Man darf sich aber nicht verhehlen, dass die Ueberwachung der Schänken in dieser Be- ziehung die allerschwierigste ist. Auf keinem Gebiete des Ge- werbes mit Nahrungs- und Genussmitteln wird die l’antschere; in ausgedehnterem Masse betrieben, als bei der Herstellung der Trinkbranntweine und Liqueure auf sog. kaltem Wege. Spiritus, Wasser und die verschiedensten Extrakte und Mixturen, zum Teil die gefährlichsten Stoffe enthaltend, werden da zusammen- gegossen. Die Zusammensetzung wechselt von Tag zu Tag, unt den Geschmack der Kunden immer aufs Neue zu reizen und im Konkurrenzkämpfe einander mit immer stärker wirkenden Erzeugnissen zu übertreffen. Wie ausgedehnt müsste die Kon- trolle sein , um diesem Unwesen beizukommen. Diese Erzeu- gung auf kaltem Wege, die jeder vornehmen kann und heute von den Unwissendsten und Gewissenlosesten ohne jede Kon- trolle betrieben wird, lässt sich nur beseitigen, wenn der Brannt- weinausschank als Privatgeschäft abgeschafft wird. Welche Be- deutung es für die Einschränkung des Konsumes hat, wenn der Branntweinverkäufer nicht mehr seinen Vorteil darin suchen muss, möglichst viel Branntwein an Mann zu bringen, lehren die Erfolge des »Gothenburger Systems« in Schweden und Norwegen. Wir dürfen es wohl als in seinen Hauptzügen bekannt voraus- setzen. Dort beziehen die Verkäufer in den den Schank-Ge- sellschaften gehörigen Schenken festes Gehalt, keine Tantiemen vom Erlöse, schenken dagegen auf eigene Rechnung Bier und leichte Weine.

Wir bedauern aufs Lebhafteste, dass der Gesetzentwurf auf die Bildung von Schankgesellschaften nach Gothenburger System gar keine Rücksicht nimmt und hoffen, dass er noch zweckent- sprechend abgeändert werden wird. Es müsste zu dem Behüte

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das Gewerbegesetz dahin abgeändert werden, dass Konzessionen für Ausschank und Kleinverschleiss von gebrannten, geistigen Getränken an Einzelpersonen nur auf Zeit gewährt werden z. B. immer nur auf ein oder zwei Jahre, wie es in Holland der Fall ist, dass dagegen gemeinnützigen Gesellschaften das Ausschank- recht in einer Ortschaft oder Gemeinde ausschliesslich erteilt werden kann, und dass zur Durchführung eines solchen lokalen Monopols Expropriation der bisherigen Konzessionen auf Lebens- zeit zulässig ist.

Darüber, welchen Erfolg ein dem vorliegenden Entwurf ent- sprechendes Gesetz haben könnte, geben die Erfahrungen in Holland Anhaltspunkte. Die Zahl der Kranntweinverkaufsstellen ist dort von 43 OCX) im Jahre 1881 allmählich auf 27975 'm Jahre 1885 ge- sunken ; der Konsum, der bis 1881 stetig bis auf 9.80 Liter 50 °/o Alkohol pro Kopf gestiegen war, ist auf 8.50 Liter im Jahre 1886 gefallen, pro Kopf also um 1.3 Liter, also um 13.5%, ein nicht zu verachtendes Ergebnis wenn man bedenkt, dass in den meisten europäischen Ländern der Konsum dauernd im Steigen ist. AehnUches wäre also auch bei uns zu hoffen, wenn die administra- tiven Abschwächungen aus dem Gesetze entfernt oder wenigstens nicht zu freigebig benutzt würden.

Immerhin wird es vor Illusionen bewahren, wenn tinan sieht, dass in Holland die Abnahme der Schänken um rund35°/o den Konsum bisher nur um 13.5 °/o vermindert hat. Das Uebel ist zu tief eingewurzelt, zu eng mit unseren gesamten sozialen Zu- ständen verwachsen , als dass es so leicht ausgerottet werden könnte.

Grosse und mächtige Gesellschaftsklassen haben bedeutende Kapitalien in Spiritusbrennereien investiert, ein grosser Teil des Landbaues dient der Branntweinproduktion , die Existenz von Tausenden von Branntweinschänkern hängt daran, dass das Gift der Bevölkerung in ungeschwächtem Strome eingeflösst wird. Alle diese Kreise würden ihren ganzen Einfluss dagegen auf- bieten, wenn es mit der Einschränkung des Verbrauches ernst würde. Die Gefahr, dass auch die Staatsverwaltung als Teil- nehmer am Gewinne wenig Eifer zeigen könnte, ihn zu schmälern, wurde schon angedeutet.

Dem Interesse dieser Kreise kommt die wirtschaftliche Lage des grössten Teiles der Bevölkerung fördernd entgegen. Sehen wir ganz davon ab, welche Verlockung für mit allen Muhsalcn

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Gesetzgebung.

des Lebens beladene Menschen, denen keine Zukunft winkt, darin liegt, ein Mittel zu gebrauchen, das sie wenigstens auf Stunden alle Sorgen vergessen macht, ihnen einen , wenn auch kurzen Kausch des Behagens und der Lebensfreude verschafft ; sehen wir ganz davon ab, wie das Bedürfnis des geselligen Verkehrs Leute, die keine menschenwürdige Wohnung daher auch kein Familienleben, keine Häuslichkeit haben, fast mit Notwendigkeit in’s Wirtshaus und, wenn sie zu den Aermsten gehören, in die Schnapsschänke treibt. Sehen wir von all dem ab, so bleibt noch ein 1 lauptantrieb zum Alkoholgenusse übrig, der wohl am meisten zur Ausbreitung des Alkoholismus in unserer heutigen Gesell- schaft beiträgt. Es ist der Umstand, dass der Alkohol, so zer- störend seine Wirkungen auf die Gesundheit sind , als Nährstoff wirkt und in gewissem Sinne wenigstens für einige Zeit eine Ver- besserung der Kost oder zum mindesten eine Erleichterung der Ernährung der vermögenslosen Bevölkerung bedeutet. Leider muss man sagen unterscheidet sich der Alkohol von allen anderen Genussmitteln dadurch, dass er Nährwert besitzt.

Das Leben ist mit einem fortwährenden Verbrauch an Energie verbunden ; beständig wird im lebenden Organismus Spannkraft in lebendige Kraft verwandelt. Die erforderliche Spannkraft liefert die Verbrennung der organischen Substanzen im Leibe, der Stoff- wechsel. Eine der Aufgaben der Ernährung ist , beständig und in ausreichendem Masse neue verbrennliche Substanzen der Lebensflamme zuzuführen. Dieser Bedingung muss sie unter allen Umständen genügen, wenn das Eeuer nicht erlöschen, das Leben nicht Stillstehen soll. Aber die Erfüllung dieser Bedingung ge- nügt noch nicht, um eine Kost zur zweckmässigen Ernährung zu stempeln. Sie soll , um von anderen Erfordernissen nicht zu sprechen, leicht verdaulich sein, schmackhaft, abwechselungsreich, nicht zu umfangreich , um die Verdauungswerkzeuge nicht zu schwer zu belasten u. s. w. Prüfen wir nun die Kost der armen Klassen, insbesondere der vermögenslosen Stadtbewohner, so finden wir, dass sie den hygienischen Anforderungen durchaus nicht entspricht. Sie ist durchgehends zu einförmig, zu volu- minös , zu schwer verdaulich, verlockt zu wenig zum Genuss, fordert zu viel Arbeit zur Assimilation. Alle Haushaltungsbudgets dieser Klassen, die ermittelt worden sind, lehren zusammenge- halten mit dem Preise der Nahrungsmittel und da muss man die Preise des Detailhandels mit kleinsten Mengen in Betracht

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ziehen , dass diese Klassen in der That nicht über die Geld- mittel verfügen, sich eine rationelle Kost zu verschaffen.

Da bietet sich nun der Alkohol an. Er verbrennt, wie heute als sichergestellt angesehen werden kann , zum allergrössten Teile im Körper und liefert ihm dabei seinen reichen Spannkraft- vorrat. In kleinem Volumen liefert er viel Energie. Ihn zu ver- zehren gewährt Genuss. Seine Aufnahme in die Säfte des Kör- pers erfolgt leicht und rasch. Statt zu beschweren , täuscht er uns, noch weit über das Mass seiner wirklichen Leistung hinaus Erleichterung, Wärme, Kraft vor. Ein arbeitender Mann , der nur V10 Liter 50% Alkohol verzehrt (Preis heute in Wien im Detailhandel ca. 2.4 Kr.) deckt damit etwa V10 seines gesamten täglichen Spannkraftbedarfs und fuhrt darin seinem Leibe eben- soviel Spannkraft zu, wie in 35 gr Speck (3.5 Kr.), 71.6 gr Mais, 119 gr gekochtem Weizenmehl (1.7 Kr.), 122 gr Roggenbrot (1.5 Kr.), 288 gr Kartoffel (1.4 Kr.), 334 gr gekochtem Reis (2.2 Kr.), 405 gr Milch (6 Kr.) u. s. w. Welches Verhängnis, dass ein in dieser Hinsicht so wertvoller Stoff, furchtbare Giftwirkungen entfaltet, dass er daher trotzdem den Ehrennamen »Nahrungsstoff« nicht verdient und unbedingt von der Ernährung ausgeschlossen werden muss. Seine Aufnahme ist nie und nirgends notwendig und un- entbehrlich, sie ist immer schädlich '). Der Vorteil der erleichterten Nahrungsaufnahme wird auch bei mässigem Genüsse bei weitem überwogen durch die Nachteile: die Ueberreizung des Zentral- nervensystems, durch die darauf folgenden Lähmungserscheinungen. Aber man begreift, warum man sich so schwer seiner entwöhnt, warum gerade von Seite der unbemittelten Klassen ein so hohes, für viele fast unaufbringbares Mass von sittlicher Kraft und Aus- dauer dazu gehört, ihm zu entsagen. Es scheint nicht viel zu sein, wenn man durch die Aufnahme von */i 0 Liter Schnaps sich das Verzehren von 122 gr Roggenbrot oder von 288 gr Kartoffel erspart. Man versuche aber Tag für Tag 1000 gr Schwarzbrod oder 2000 gr Kartoffel und darüber zu verzehren und man wird sich überzeugen, als welche Wohlthat es empfunden wird, mehr als ein Zehntel dieser Masse durch eine scharf und reizend schmeckende Flüssigkeit ersetzen zu können.

Alkoholika zu trinken, ist für Niemanden eine Notwendigkeit,

l) Alle gegenteiligen Behauptungen sind unrichtig. Siehe insbesondere die Er- fahrungen in der englischen Armee und Flotte, in Skandinavien und anderwärts.

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Gesetzgebung.

aber man begreift, wenn es die Meisten thun, man versteht, warum der Alkohol immer mehr zum ständigen Bestandteile der Volkskost wird. Die gesamte wirtschaftliche Lage treibt die Besitzlosen dem Alkohol in die Wiirgarme. Nur mit dem letzten Aufgebote ihrer Intelligenz, ihres Willens, nur unter Aufopferung last des letzten Restes von sinnlichem Behagen können sie sich vor ihm retten. Stürzt er sie auch in die letzten Tiefen des Un- glücks, so erscheint er ihnen doch als Palliativ der Leiden , als Elixir der Freuden. Ein gewisses Mass von Lustempfindung ist zum Leben unentbehrlich ; wenn nicht anderes , muss es der Alkohol verschaffen. Hat man es genossen, dann trägt man auch das Unerträgliche eine Spanne weiter. Erwägt man dies, dann kommt man zu einem aufs tiefste beschämenden, erschütternden Schlüsse. Mag man die idealen Güter, die auch dem Aermsten unverlierbar sind und ihm das Leben erträglich machen können, so hoch anschlagen als man immer will, man wird sich der Wahrheit nicht verschliessen können, dass der Alkohol mit ein Fundament unserer heutigen Gesellschaftsordnung ist. Ohne ihn wäre sie für den leidenden Teil schon längst unerträglich geworden.

Der Staat, das Ziel und Werkzeug der höchsten Bestreb- ungen des Menschen, muss den Kampf mit dem Alkohol, diesem Vernichter von Allem, was gut und tüchtig ist in uns, mit allem Ernste aufnehmen. Seine oberste, unausweichliche Aufgabe da- bei ist die Sorge für Verbesserung der wirtschaftlichen und so- zialen Lage der Besitzlosen.

Wir haben mit unseren Erörterungen den bescheidenen Rahmen, innerhalb dessen sich der österreichische Gesetzentw urf hält, weit überschritten. Wir haben darzulegen gesucht, dass der Staat bei seiner Gesetzgebung das Umsichgreifen des Alkoho- lismus als Teil und Symptom des sozialen Problems aufzufassen und zu behandeln habe.

Wir können aber das Thema nicht verlassen , ohne unserer Ueberzeugung Ausdruck zu geben, dass es durchaus irrig wäre, den Alkoholismus lediglich als Folge der wirtschaftlichen Not- lage weiter Bevölkerungskreise anzusehen und auch von der weitestgehenden sozialen Umgestaltung zu erhoffen, dass sie a n sich ausreichen würde, den Alkoholismus auszurotten.

Dass die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht das allein Ent- scheidende dabei sind, beweist schon das erschreckende Umsich- greifen der Trunksucht auch in den wohlhabenden Ständen;

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das beweist der, weit über das oben besprochene physiologisch erklärliche Mass hinausgehendc, verschwenderische Verbrauch der Alkoholika seitens weiter Kreise der arbeitenden Klasse.

So gross die durch die wirtschaftliche Notlage geschaffene Versuchung zum Alkoholgenusse für die Besitzlosen ist, es wäre pessimistisches Verkennen der menschlichen Dinge, den Alko- holismus als unausweisliche, unabänderliche Folge der heutigen sozialen Lage zu betrachten. Ebensowenig als dies zu- trifft, ist es ausgemacht, dass selbst im geträumten Ideal-Staate der Sozialisten die Temperenz herrschen würde.

Der Alkoholismus ist eben viel tiefer in den Fehlern der menschlichen Natur begründet, Fehlern, die ganz unabhängig von jeder wirtschaftlichen Lage sich geltend machen , aber deshalb auch unabhängig von der wirtschaftlichen Lage bekämpft werden können und sollen.

Eine der hervorstechendsten Eigenschaften des natürlichen Menschen ist die Faulheit; der müheloseste Genuss ist ihm der liebste. Und welcher wäre müheloser als der, der im Grunde des Bechers winkt.

An Leid und Kummer wird es im Einzellcben niemals fehlen. Wir können uns, wenigstens für Zeiten , davon befreien , indem wir uns über das Einzelgeschick zur Teilnahme an allgemein menschlichen Dingen erheben. Aber diese glückliche Erhebung gelingt nicht ohne intellektuelle und sittliche Anstrengung. Wie viel bequemer und wohlfeiler ist es, sich die Sorgen und Schmerzen dadurch vom Leib zu schaffen, dass man Hirn und Herz belaubt! Der Alkohol wird also immer gesucht werden. Auch die herr- lichste Wirtschaftsordnung wird daran nichts ändern; dies ver- mag nur die sittliche Erziehung.

Der Alkohol wird stets der Versucher bleiben ; weit we- niger gefährlich als heute aber stark genug, uns zu verlocken, wenn wir nicht von innen heraus , durch bewusstes Wollen gegen ihn gewappnet und gestählt sind. Heute, wie in aller Zukunft, bleibt der schwerste Teil des Kampfes gegen ihn also uns selbst, jedem Ein- zelnen.

Weit schwerer zwar als unter einer besseren, aber auch unter der heutigen Gesellschaftsordnung, auch im heutigen wirtschaft- lichen Leben könnten die arbeitenden Klassen den F'luch des Alkoholismus durch einen starken sittlichen Aufschwung ab-

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Gesetzgebung.

schütteln, und wir wüssten keinen wichtigeren , keinen gebiete- rischer geforderten, eigenen Schritt zu ihrer Emanzipation , den zu thun sie niemand hindern kann I

Wir haben kein Recht, zu behaupten, und es ist nicht wahr, dass wir, in allem unseren Sein und Thun unabänderlich bedingte Produkte der wirtschaftlichen Lage sind. Nicht etwa deshalb, weil nicht auch im Menschenleben alles mit strengster Notwendig- keit vor sich ginge, sondern weil es sich hier um Vorgänge so mannigreichster Bedingtheit handelt, dass auf diesem Gebiete der Versuch, von einer begrenzten Regelmässigkeit wie von einem ausnahmslosen Gesetze des Geschehens zu sprechen , noch weit lächerlicher ist, als wenn er auf dem Gebiete der unbelebten Natur gemacht wird, ln den Tiefen der Motivation ruhen Kräfte, deren Wirkungswert auch nur annäherungsweise abzuschätzen, wir ausser Stande sind, wenn wir nicht den Versuch gemacht haben, sie zu erwecken.

Nichts Gefährlicheres als der Doktrinarismus, der sich cin- bildet, uns wie ein Rechenexempel analysieren zu können. I}cnn er wird selbst zum Motiv. Indem er uns einredet, wir und unsere Lage seien durch die und die allgemeinen Umstände unabänder- lich bedingt, indem er jedes individuelle Streben dagegen von vornherein als erfolglos bezeichnet , lähmt er unsere Thatkraft, wenn wir sie aufs Aeusserste anspannen sollten.

Dem Alkoholismus wird nur Einhalt gethan werden durch bewusste, überzeugte Entsagung der Massen selbst ')■ und auch heute lässt sich ihm dadurch Einhalt gebieten. Dies ist nicht eine sanguinische Behauptung, sondern eine Thatsache der Er- fahrung. Norwegen wo doch unseres Wissens auch die »ka- pitalistische Produktionsweisec herrscht weist heute unter allen europäischen Staaten den niedersten Branntweinverbrauch auf (3 Liter 50% Alkohol pro Kopf und Jahr). Vor noch nicht 30 Jahren hatte es fast den höchsten, 17 Liter pro Kopf und Jahr. Diesen Erfolg verdankt es sicherlich in erster Linie der Tempe- renzbewegung, welche es dahin gebracht hat , dass heute schon mehr als 5 °/o der Nation dem Alkohol völlig abgeschworen haben (unter einer Bevölkerung von ca. 2 Millionen zählt man mehr als 100 000 Mitglieder der Temperenzvereine, »Totalisten-

l) Die Entsagung müsste, wenigstens in bezug auf Branntwein, eine vollständige sein, denn der erste Schluck führt nur zu leicht zur Unmassigkeit.

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Der österr. Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Trunkenheit. 309

verein«, »Good Templarc und »Blaues Band« ein Beispiel, das natürlich auf alle wirkt.

Nichts von allem, was zur Bekämpfung des Alkoholismus bisher versucht worden ist, hat sich wirksamer erwiesen, als die Auf- klärung der Volksmassen über die Folgen des Alkoholgenusses, als die Aufrüttelung ihres Willens durch die begeisterte Agitation für Enthaltsamkeit.

Was den Besitzlosen in Norwegen möglich ist, kann ihnen auch anderwärts nicht prinzipiell unmöglich sein.

Auch bei uns in Oesterreich müsste die Agitation für Tem- perenz in Angriff genommen werden. Sie wäre bei uns aussichts- voller als anderwärts, da der Branntweinverbrauch, wenigstens im Durchschnitte des Staates , noch bei weitem nicht die Ausdeh- nung erlangt hat, wie in anderen Ländern. Freilich bleibt es fraglich, ob eine Bevölkerung, deren Erziehung zum Denken und zu sittlicher Selbstthätigkeit , also zur Freiheit, kaum begonnen hat, bereits jenes Mass von Ernst und Ausdauer besitzt, das zu einer dauernden Enthaltsamkeit erforderlich ist.

Wir lassen nunmehr die besprochene österreichische Ge- setzesvorlage im Wortlaut folgen und schliessen zur Vergleichung an dieselbe den Text des entsprechenden niederländischen Ge- setzes an.

Gesetz vom womit Bestimmungen zur Hintanhaltung

der Trunkenheit getroffen werden.

Mit Zustimmung «1er beiden Häuser des Reichsrathes finde ich anzuordnen, wie folgt :

§ t. Der Handel mit gebrannten geistigen Getränken (Gesetz vom 23. Juni 1881, R.G.B1. Nr. 62) in verschlossenen Gebissen in Mengen von mindestens fünf I.iter ist ein freies Gewerbe; der Handel mit derlei Flüssigkeiten in verschlossenen Gefässen in Mengen unter fünf Liter unterliegt einer Konzession.

lliese Konzession kann nur von solchen Gewerbeinhabem erlangt und betrieben werden, in deren Gewertisumfnnge nach den bestellenden Vorschriften der Handel mit gebrannten geistigen Getränken gelegen ist.

Bewerber um eine solehe Konzession halten überdies die zur Krlangung eines jeden konzessionierten Gewerbes vorgezeichneten Bedingungen zu erfüllen (§§ 22 und 23 des Gesetzes vom 15. März 1882, R.G.ÜI. Nr. 39); auch ist bei der Verleihung solcher Konzessionen auf die im Schluss-Alinea des Ij 23 des eben citierten t lesetzes enthal- tenen Bestimmungen Bedacht zu nehmen.

Wenn die Konzession zum Handel mit gebrannten geistigen Getränken oder zum Kleinverschieisse derselben an Gewerbsleute erteilt wurde, welche dieselbe im Vereine

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Gesetzgebung.

mit anderen Gewerbsunlernchmungen betreiben, erlischt sie zugleich mit diesen Ge- werbsberechtigungen und es kann in einem solchen Falle der Handel oder Kleinver- schleiss für Rechnung der Wittwe oder der minderjährigen Erben 56, Alinea 4 de> Gesetzes vom 15. März 1883, R.G.B1. Nr. 39) auf Grundlage der alten Konzession nicht fortgeführt werden.

Die Schank- und Kleinverschleisskonzession berechtigt ohne weiteres zum Handel mit gebrannten geistigen (.Jetränken in beliebigen Mengen.

§ 2. In Lokalen, welche zur Ausübung des Ausschankes oder Kleinvcrschleisses von gebrannten geistigen Getränken dienen, darf gleichzeitig kein anderes Gewerbe ausgeübt werden.

Die Ausübung des Ausschankes von gebrannten geistigen Getränken in den zur Ausübung der im § 16 lit. a, 1», c und f der Gewerbeordnung aufgezählten Gast- und Schankgewerbeberechtigungen bestimmten 1-okalitäten, dann in den Verkaufslokalitätcn der Zuckerbäcker und Mandolettibäcker durch denselben Gewerbsinhaber wird durch diese Bestimmung nicht berührt.

§ 3. Die Anzahl der verliehenen Konzessionen zum Ausschanke und zum Klein- verschleisse von gebrannten geistigen Getränken ist beschränkt.

In Gemeinden bis zu 500 Einwohnern darf nur eine Konzession zum Ausschanke von gebrannten geistigen Getränken verliehen werden; in grösseren Gemeinden kann auf je volle 500 Einwohner je eine solche Konzession verliehen werden.

Bei der Ermittlung der bezüglichen Verhältniszahl sind die auf Propinations- und auf Realrechten beruhenden Gewerbe, in welchen der Ausschank von gebrannten gei- stigen (Jetränken betrieben wird, mit in Anschlag zu bringen, so dass die Verleihung einer Konzession zum Ausschanke von derlei Getränken nur dann erfolgen kann, wenn bei Einrechnung der i’ropinations- und der Realgewerbe zu den konzessionsmassig be- stehenden derlei Gewerben das Verhältnis zur Einwohnerzahl in der Gemeinde einge- halten wird.

Dagegen sind in Orten, welche einen lebhaften Fremdenverkehr haben, Gastge- werbe zur Beherbergung von Fremden, zur Verabreichung von SpeLcn und von Kaffee, in welchen der Ausschank von gebrannten geistigen Getränken nur nel>enbei betrieben wird, bei der Ermittlung der vorstehend vorgezeichneten Verhältniszahl ausser Anschlag zu belassen.

Erloschene oder zurückgelegtc Konzessionen zum Ausschanke gebrannter geistiger Getränke dürfen nicht wieder verliehen werden, solange die für die Gemeinde mass- gebende Verhältniszahl nn derlei Gewerben üherscluilten ist.

Ausnahmsweise kann bei besonders berücksichtigungswürdigen Verhältnissen die politische Landesbehörde derlei Ausschankskonzessionen über die für die Gemeinde massgebende Verhältniszahl verleihen.

Auf je 1000 Einwohner kann auch je eine Konzession zum Klcinvcrschieisse von gebrannten geistigen Getränken erteilt werden.

§ 4. Durch die Bestimmungen der §§ 1 und 3 dieses Gesetzes wird das Propi- nationsrecht in jenen I -ändern, in welchen dasselbe besteht, nicht berührt.

§ 5. Das Oflfenhalten von I-okalen , in welchen der Ausschank odeT Kletnver- schlciss von gebrannten geistigen Getränken betrieben wird, ist von 5 Uhr nachmittags des Sonn- und Feiertagen vorhergehenden Tages bis 5 Uhr morgens des nächstfol- genden Werktages untersagt.

Die politischen Landcshehördcn sind ermächtigt, dieses Verbot für bestimmte Be- zirke otler Urte, für bestimmte 'Lage oder Stunden, ausser Wirksamkeit zu setzen.

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Der oster r. Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Trunkenheit. 311

Wer dem bestehenden Verluste zuwider das Ix>kal offen hält oder zur verbotenen Zeit gebrannte geistige Getränke verabreicht oder verabreichen lässt, wird mit Arrest bis zu einem Monat oder an Geld bis zu 50 fl. bestraft.

l>ic Bestimmung dieses Paragraphen findet keine Anwendung auf Gast- und Schankgewerbe, welchen die Bewilligung zum Ausschanke gebrannter geistiger Getränke in Verbindung mit anderen im § 16 lit. a, b, c, f des Gesetzes vom 15. März 1883, R.G.B1. Nr. 39, bezeichnten Berechtigungen verliehen worden ist, auf Zuckerbäcker- und Mandoletti-Bäckergew'erbe , soferne in den oben benannten Geschäften der Aus- schank solcher Getränke nur nebenbei betrieben wird.

$ 6. Wer sich in Gast- oder Schankräumlichkeiten, in Lokalen, in welchen «1er Ausschank oder Kleinverschleiss oder Handel mit gebrannten geistigen Getränken be- trieben w'ird, auf der Strasse oder an sonstigen öffentlichen Orten im Zustande offen- barer Trunkenheit befindet, oder wer an solchen Orten einen anderen absichtlich in den Zustand «1er Trunkenheit versetzt, wird mit Arrest bis zu einem Monate oder an < leid bis zu 50 fl. bestraft.

Dieselbe Strafe trifft Inhaber von Gast- otler Schankräumlichkeiten oder von Lo- kalen, in welchen der Ausschank oder Kleinverschleiss oder Handel mit gebrannten geistigen Getränken betrieben wird, otler deren Stellvertreter oder Pächter oder Be- auftragte, welche an Personen, «lie betrunken and, otler ausser dem Falle des Be- dürfnisses an offenbar Unmündige, die nicht in Begleitung älterer Personen erscheinen, geistige Getränke verabreichen otler verabreichen lassen.

Die nach den Gewerbegeset/en, beziehungsweise nach dem Gesetze vom 23. Juni 1881, R.G.BL N. 62, betreffend den Handel mit gebrannten geistigen Getränken, den Ausschank und Kleinverschleiss derselben, eintretenden Folgen werden hiedurch nicht berührt.

$ 7. Forderungen für die Verabreichung geistiger Getränke in Gast- otler Schank- räumlichkeiten oder für die Verabreichung von gebrannten geistigen Getränken in Lo- kaliläten, welche zum Ausschanke otler Klcinverschlcisse derselben bestimmt sind, so- wie überhaupt Forderungen aus dem Handel mit gebrannten geistigen Getränken in Mengen von nur 5 I jter und darunter sind nicht klagbar, wenn der Kreditnehmer zur Zeit «ler Verabreichung eine frühere Schuld gleicher Art an denselben G laubiger noch nicht bezahlt hat.

Solche Fortleningen eignen sich auch nicht zur Kompensation mit anderen Forde- ningen des Kreditnehmers.

Jj 8. Pfand- und Bürgschaftsverträge, welche zur Befestigung von Forderungen abgeschlossen werden, denen im vorhergehenden Paragraph das Klagerecht entzogen ist, sintl ungiltig.

§ 9. Auf Forderungen an in Gasthäusern beherbergte Fremde finden die Be- stimmungen der 7 und 8 dieses Gesetzes keine Anwentlung.

§ 10. Wer die Bestimmung «ler §§ 7 und 8 dieses Gesetzes durch ein Schein- geschäft oder dadurch zu hintergehen sucht, dass er sich eine Urkunde, insbesondere eine Wechsclerklärung, ausstellen lässt, wird mit Arrest von einer Woche bis zu zwei Monaten oder an Geltl bis zu 200 ff. bestraft.

§ II. Wer während eines Jahres dreimal wegen Trunkenheit gestraft wird, dem kann von der politischen Bezirksbehörde bis zur Dauer eines Jahres der Besuch der Gast- oder Schatikrüumlichkeilcn seines Wohnsitzes und «ler nächsten Umgebung unter- sagt werden.

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Gesetzgebung.

Die Uebertretung dieses Verbotes wird mit Arrest bis zu einem Monate oder an Gehl bis zu 50 fl. bestraft.

§ 12. Inhabern von Gast- und Schankräumlichkeiten, von Lokalen, in welchen der Ausschank oder Kleinverschleiss oder Handel mit gebrannten geistigen Getränken betrieben wird, Stellvertretern oder Pächtern, bei denen sich vorausgegangene wieder- holte Abstrafungen wegen der im zweiten Absätze des § 6 und in den §$ 5 und 10 bezeichneten Uebertrctungen als fruchtlos erwiesen haben, kann die Berechtigung zum Betriebe eines Gast- oder Schankgewerbes, des gewerbsmässigen Ausschankes und Klein verschleisses von gebrannten geistigen Getränken und der Handel mit denselben, beziehungsweise zur Stellvertretung, Pachtung, von der politischen Bezirksbehörde für eine bestimmte Zeit oder auch für immer entzogen werden.

§ 13. Die politische I^andesbehÖrde kann die Anordnung treffen, dass der Wort- laut der 6 bis inklusive 12 dieses Gesetzes in den Gast- oder Schankräumlichkeiten bestimmter Orte oder Bezirke an einer in die Augen fallenden, jedermann zugänglichen Stelle in den landesüblichen Sprachen anzuschlagen und in leserlichem Stande zu er- halten ist.

Die Uebertretung dieser Anordnung ist an dem Inhaber der Räumlichkeit an Geld bis zu 50 fl. zu bestrafen.

§ 14. Uebertret ungen der §§ I und 2 dieses Gesetzes sind als Uebertretungeo der Gewerbeordnung anzusehen und nach der Gewerbeordnung zu ahnden.

Die Untersuchung und Bestrafung der sonstigen Uebertrctungen dieses Gesetzes kommt den Bezirksgerichten zu.

§ 15. Mit dem Tage der Wirksamkeit dieses Gesetzes tritt in den Königreichen Galizien und Lodoinerien samt dem GrossheTrogtume Krakau und in dem Herzogt mne Bukowina das Gesetz vom 19. Juli 1877, R.G.B1. Nr. 67, ausser Kraft.

Dieses letztere bleibt jedoch in diesen ländern in Anwendung rücksichtlich der Handlungen und Rechtsgeschäfte, welche vor Beginn der Wirksamkeit des neuen Ge- setzes vorgenommen worden sind

§ 16. Mit dem Vollzüge dieses Gesetzes sind Meine Minister des Innern , der Justiz und des Handels beauftragt.

Niederländisches Gesetz dd. 28. Juni 1881, betreffend den Kleinhandel mit geistigen Getränken und die Verhütung der öffentlichen Trunkenheit.

(Staatsblatt Nr. 118 dd. 18S5.)

Artikel I. Derjenige, welcher geistige Getränke ’) im Kleinen verkaufen will, sucht, ausgenommen in den sub Artikel 15 erwähnten Fällen, hiezu zuerst die Be- willigung des Bürgermeisters und des Fxekutivausschusses des Gemeinderates der Ge- meinde an, in welcher er das Geschäft aus/uüben wünscht.

Unter Kleinverkauf versteht sich der Verkauf in Mengen von weniger als 2 Liter.

Das Ansuchen um Bewilligung enthält eine genaue Angabe der Lokalitäten, in welchen man geistige Getränke im Kleinen zu verkaufen wünscht. Ferner den Na- men, Vornamen, Handwerk, Beruf oder Beschäftigung, sowohl des Ansuchenden als derjenigen, die das Haus, in welchem die Lokalitäten sich befinden, oder zu welchem sic gehören, bewohnen, und die das 16. Jahr überschritten haben.

Die Bewilligung wird nur in den gesetzlich bestimmten Fällen verweigert.

•) NB Unter „geistigen Getränken“ versteht das gegenwärtige Gesetz, wie sich aus Art. 3, Alinea 8, desselben ergibt, nur Branntwein (Liqucure aller Art), nicht aber Wein und Bier.

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Das niederländische Gesetz v. 28. Juni 1881 betr. d. Kleinhandel etc . 313

Artikel 2. Die Anzahl der verliehenen Bewilligungen darf nicht mehr betragen als :

ln Gemeinden mit mehr als 50000 Seelen eine auf 500 Einwohner;

in Gemeinden mit mehr als 20 000 Seelen und höchstens 50 000 Seelen eine auf 400 Einwohner;

in Gemeinden mit mehr als 10 000 und höchstens 20 000 Seelen eine auf 300 Einwohner;

in den übrigen Gemeinden eine auf 250 Einwohner;

alles dieses mit dem Vorbehalte, dass eine Bevölkerungszunahme keine Herab- setzung des Maximums mit sich bringt.

Durch königlichen Beschluss, nach Anhörung des Provinzialausschusscs und auf Vorschlag des bezüglichen Gemeinderates kann mit Rücksicht auf besondere Um- stände eine Herabsetzung oder Erhöhung des Maximums der laut ersten Absatzes dieses Artikels in einer Gemeinde zu verleihenden Bewilligungen festgesetzt werden. Diese Feststellung geschieht für einen bestimmten Terrain und kann, wenn verlangt, auf gleiche Weise verlängert werden.

Bewilligungen über das festgestellte Maximum können in besonderen Fällen durch den Bürgermeister und den Gcmeindeausschuss der Gemeinde, nach Ermächtigung des Provinzialausschusses, unter Angabe des Grundes, welcher in das Staatshlatt aufzu- nehmen ist, verliehen werden. Selbe werden bei sich darbietender Gelegenheit inner- halb der Maximalgrenze zurückgebracht.

Durch Lokalverordnung kann der Geraeinderat , ohne Uebersclireitung seiner Kompetenz, kraft Artikel 135 des Gemeindegesetzes

1. Ortsviertel, Bezirke oder Strassen bestimmen, wo geistige Getränke im Kleinen nicht, oder nur unter gewissen Bedingungen verkauft werden dürfen;

2. anordnen, in welchen Lokalitäten der Klein verkauf von geistigen Getränken geschehen darf.

Artikel 3. Die in Artikel 1 erwähnte Bewilligung wird verweigert:

1. Wenn durch Verleihen der Bewilligung den Bestimmungen des Artikel 2 oder einer darin erwähnten örtlichen Verordnung entgegengehandelt würde;

2. wenn die Bewilligung für eine I>okalität verlangt wird , welche zum öffent- lichen Dienste gebraucht wird, oder welche mit einer solchen Lokalität innerhalb des Hauses Verbindung hat;

3. wenn der Bewerber zu einer Freiheitsf Gefängnisstrafe eines Jahres oder zu einer schärferen Strafe rechtskräftig verurteilt ist und seit Abbüssung der Strafe noch nicht 5 Jahre verstrichen sind ;

4. wenn der Bewerber während «1er letzten 2 Jahre zweimal wegen Uebertretung einer mit Strafe drohenden Bestimmung dieses Gesetzes, ausgenommen jene sub Artikel 23, rechtskräftig verurteilt worden ist, oder wenn er infolge des letzten Absatzes vom Artikel 19 von der Ausübung seines Gewerbes suspendiert wurde, so lange dies dauert ;

5. wenn der Bewerber den Genuss seiner bürgerlichen oder bürgcrschaftlichen Rechte kraft eines rechtskräftigen Straferkenntnisses ganz oder teilweise verloren hat, so lange dies dauert ;

6 wenn das Ansuchen sich auf Getränke verkauf in Bordellen bezieht ;

7. wenn innerhalb der letzten 5 Jahre eine frühere Bewilligung, welche «lern Bewerber verliehen war, kraft Artikel 19, Nr. 3 cingezogen würde;

8. wenn die Bewilligung für eine Lokalität angesucht wi*d, in welcher ein an- «lercs Verkaufsgewerbe ausgetibt oder niederländische Staatslotterielose verkauft werden, oder welches mit derlei Ix»kalitäten innere häusliche Verbindung hat.

Archiv für soz. üesczgbg. u. Statistik. 1. 21

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Gtsc/zgeburtg.

Unter anderen Verkaufsgewerben wird nicht verstanden der Betrieb des Ver- schleisses von Wein, Bier, dann die Lokale der Restaurateure, Gesellschaften, Bil- lards, »Ballen«, Kegelbahnen, der öffentlichen Speisehäuser, Kaffeehäuser, Wein- und Bierhäuser ;

9. wenn der Bewerber oder ein Bewohner des Hauses, in welchem der Klein- verkauf geistiger Getränke beabsichtigt wird , Zoll- oder Brückenaufseher , Brücken- oder Schleussenwiichter, Schleussenmeister oder Schleussenknecht ist, oder wenn der Bewerber irgend ein öffentliches Amt bekleidet;

10. wenn der Bewerber die Mittelsperson von jemand ist, der sich in einem der sub Nr. 3, 4, 5, 7 und 9 erwähnten Fälle befindet.

Artikel 4. Von dem erwähnten Verbote im Artikel 3, Nr. 2, kann eine Aus- nahme durch königliche Entschliessung bewilligt werden, sofern es für den Reichs- oder Provinzialdienst gebrauchte Gebäude betrifft; und durch die Provinzialausschüsse wenn die Gebäude für einen anderen öffentlichen Dienst verwendet werden.

Für die zum öffentlichen Dienste der Gemeinde verwendeten Lokalitäten wird keine Ausnahme zugestanden.

Auf Vorschlag des Bürgermeisters und Gemeindeausschusses kann durch den Provinzialausschuss von dem Verbote laut Art. 3, Nr. 8, eine Ausnahme bewilligt werden für Bewohner von Dörfern, für Weiler oder abseits gelegene Ortsteile, in welchen auf nicht mehr als zwei Plätzen geistige Getränke im Kleinen verkauft werden.

Vom Verbote laut Artikel 3, Nr. 9, kann eine Ausnahme bewilligt werden und zwar sofern sie Reichsämter und Stellen betrifft, durch königliche Entschliessung, be- züglich anderer Aemter und Stellen durch die Provinzialausschüsse, in beiden Fällen nach Anhörung des Bürgermeisters und Gemcindeausschusses.

Artikel 5. Das im Art. 1 erwähnte Ansuchen um Bewilligung wird nach seinem Einlangen durch den Bürgermeister und Gemeindeausschuss auf die in der Gemeinde gebräuchliche Art öffentlich bekannt gemacht.

Innerhalb eines Monates, nachdem diese Bekanntmachung geschehen ist , wird über das Ansuchen schriftlich verfügt.

Artikel 6. Vorbehaltlich der Bestimmungen des Gesetzes vom 21. Mai 1819 Staatsblatt Nr. 34) hat die Bewilligung laut Artikel l keine Kraft vor Bezahlung der durch den Gemeinderat festzustellenden Geincinde-Konzessionsgebühr.

Als Basis zur Berechnung der Konzessionsgebühr wird der jährlich zu erhebende Zinswert angenommen, welchen die Lokalität in Verbindung mit dem Umfange des konzessionierten Betriebes zu besitzen erachtet werden kann.

Die Konzessionsgebühr darf nicht unter 5 Gulden und nicht über 12 Gulden 50 Cents für jede 50 Gulden Zinswert oder Teil desselben betragen, und zwar darf die Gebühr für eine Konzession bis 30. April 1890 nicht unter 15 Gulden, vom l. Mai 1890 bis 30. April 1895 n‘cbt unter 20 Gulden und weiter nicht unter *5 Gulden betragen.

Die Gebühr wird um 25 von 100 herabgesetzt für Lokalitäten, in welchen zwischen Samstag abends 6 Uhr und Montag früh 6 Uhr keine geistigen Getränke verkauft werden.

Diese Regelung der Konzessionsgebühr geschieht mit Rücksicht auf Artikel 2 32 bis 236 des Gesetzes vom 29. Juni 1851 (Staatsblatt Nr. 85).

Artikel 7. Die Konzession wird erteilt auf ein Jahr, gerechnet vom 1. Mai bis 30. April. Sie kann auch in der Zwischenzeit erteilt werden; dann läuft der erste

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Das niederländische Gesetz v. 28. Juni 1881 betr. d. Kleinhandel etc. 315

Termin bis nächsten 30. April ; für diese Zeit wird die Konzessionsgebühr nach Quar- talen berechnet und wird ein Teil für ein ganzes Quartal angenommen.

Die Bewilligung wird des Weiteren als auf ein Jahr verlängert betrachtet, wenn vor Ende des Termins die fällige Konzessionsgebühr für den folgenden Termin be- zahlt ist und Bürgermeister und Gemeindeausschuss den Artikel 9 dieses Gesetzes nicht in Anwendung brachten.

Artikel 8. Die Bewilligung gilt ausschliesslich nur für die darin bezeichneten Lokalitäten. Sie gilt, salvo die Ausnahme laut zweiten Absatzes dieses Artikels, aus- schliesslich nur für die Person des Bewerbers.

Bei Ableben oder zeitlicher Unbefugtheit oder Verhinderung des zur Ausübung des Betriebes Berechtigten kann das Geschäft während des Konzessionsjahres ohne weitere Bewilligung fortgesetzt werden, im ersten Falle durch die Erben oder einen derselben, im zweiten Falle durch jenen, der nach dem Gesetze oder infolge Auf- trages des Berechtigten dazu ermächtigt ist.

Artikel 9. Die Konzession wird durch den Bürgermeister und Gemeindeausschuss

zurückgezogen :

1. Wenn Umstände eintreten, auf Grund deren, wenn sic früher vorhanden oder bekannt gewesen wären, die Konzession laut Artikel 3, Nr. 2 10, verweigert worden sein dürfte.

2. Wenn von einer erteilten Bewilligung während dreier aufeinanderfolgenden Monate absichtlich kein Gebrauch gemacht wurde.

3. Wenn sich in den Lokalitäten wegen Trunkenheit Thatsachen ereigneten, welche die Besorgnis begründen, dass die weitere Dauer der Bewilligung eine Ge- fahr für die öffentliche Ruhe und Sicherheit mit sich bringen.

Artikel io. Der abweisende Bescheid auf das Ansuchen , sowie die Einziehung der Bewilligung enthält die Begründung dieser Entscheidung und wird der bezüg- lichen Person in geschlossenem Kouvert zugesendet.

Artikel 11. Gegen die Verweigerung oder Einziehung der Konzession kann der betreffende, und gegen die Verleihung der Konzession oder die Verweigerung der Einziehung der Bürgermeister den Rekurs an den Provinzialausschuss einbringen und zwar ersterer binnen vierzehn 'l'agen, nachdem die Verfügung des Bürgermeisters und Gemeindeausschusses zu seiner Kenntnis gelangte, und letzterer (Bürgermeister) binnen vierzehn Tagen vom Datum der Konzessionserteilung oder der Verweigerung der Ein- ziehung einer solchen.

Die Entscheidung wird von dem Provinzialausschusse unter Angabe der Gründe erlassen und zwar binnen drei Monaten nach Einlangen der Berufung, es sei denn, dass selbe im voraus mit besonderem Beschlüsse vertagt werden.

Während der Termine zu dem Rekurse und der bezüglichen Behandlung bleibt die Konzession oder ihre Zurückziehung ausser Wirkung.

Wird der Beschluss des Provinzialausschusses durch königliche Entschliessung aufgehoben, so hat dieser Ausschuss, unter Beobachtung der königlichen Entschlies- sung, sich erneuert über die Sache zu äussern.

Artikel 12. Bürgermeister und Gemeindeausschuss legen jährlich dem Provinzial- ausschusse eine Nachweisung über die Anzahl der während des abgelaufenen Jahres verliehenen und zurückgezogenen Konzessionen und über den an Gebühr für selbe bezahlten Betrag, sowie über die in der Gemeinde bestehenden Lokale, in welchen auf Grund der Bewilligung geistige Getränke im Kleinen verkauft werden, vor.

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316 Gesetzgebung.

Diese Nachweisungen werden in den Provinzialbericht und in das Staatsblatt aufgenommen.

Artikel 13. In jedem Lokal, wo mit Bewilligung geistige Getränke im kleinen verkauft werden, muss eine vom Gemeindesekretär beglaubigte Konzessionsabschrift, sowie ein Exemplar der gedruckten Bestimmungen des Gesetzes zur Regelung des Kleinhandels mit geistigen Getränken und zur Ilintanhaltung von öffentlicher Trunken- heit deutlich lesbar aufgehängt sein.

Ferner muss ober oder seitwärts der Aussenthür, durch welche man in das Lokal tritt, mit deutlicher Aufschrift zu lesen sein:

1. Der Name desjenigen, dem die Konzession erteilt wurde;

2. das Wort »Vergunning« (Konzession);

3. für die Lokalitäten, welche im vierten Absätze vom Artikel 6 erwähnt sind, die Zeit, während welcher in selben keine geistigen Getränke verkauft noch ausge- schenkt werden.

Im Falle die Konzession erloschen ist oder eingezogen wurde, muss binnen acht Tagen die im ersten Absätze erwähnte Konzessionsabschrift an den Bürgermeister und Gemeindeausschuss zuruckgestellt und das Wort »Konzession« entfernt werden.

Artikel 14. Wenn ohne angesuchte Bewilligung geistige Getränke im klein« verkauft werden, so verbieten Bürgermeister und Gemeindeausschuss das Fortsetz« dieses Verkaufes und bestrafen eventuell den Schuldigen.

Artikel 15. Die Artikel 1 14 gelten nicht:

1. Für Getränkeverkauf in Logisgasthäusem an Wohngästc;

2. für Getränkeverkauf an Bord von Fahrzeugen an Mitfahrende;

3. gleichfalls, wenn der Verschleiss durch Marketender an Militärs während des Marsches und in I -agcrplätzen oder in Lokalitäten , welche der Militärverwaltung unterstehen, durch diejenigen geschieht, welche hiezu von der Militärbehörde Er- laubnis erhalten haben.

Strafbestimmungen.

Artikel 16. Vorbehaltlich der Strafen, wegen Uebertrctung des Paten tgesetr cs oder wegen Haltens eines Hazardspielhauses, wird mit einem bis einundzwanzig Tagen Gefängnis oder mit einer Geldbusse von fünfzig Cents bis hundert Gulden bestraft

1. Wer ohne angesuchte Bewilligung geistige Getränke im kleinen verkauft, zun» Verkaufe anbictet, oder fiir den Verkauf in Vorrat hat;

2. wer in einer für das Publikum zugänglichen Lokalität, für welche keine Kon- zession erteilt wurde, geistige Getränke ausschenkt oder im kleinen anbietet;

3 wer in einer Lokalität, wo geistige Getränke im kleinen verkauft werden, aof was immer für eine Art mit dem Kauf von geistigen Getränken einen Glücksfall oder Gewinnst verbindet ;

4. wer eine der in den vorigen drei Absätzen besprochenen Handlungen in seiner Wohnung zulässt.

Artikel 17. Mit Gefängnis von einem bis einundzwanzig Tagen oder mit Cicld- busse von fünfzig Cents bis hundert Gulden wird bestraft:

1. Der Verkäufer von geistigen Getränken oder sein Stellvertreter, welcher in Aasübung seines Gewerbes in einer für das Publikum zugänglichen Lokalität einem Kinde unter sechszehn Jahren geistige Getränke anbietet oder verkauft ;

2. cler Verkäufer oder sein Stellvertreter, welcher gelegentlich eines öffentlichen

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Das niederländische Gesetz v. 28 . Juni /SS/ betr. d. Kleinhandel etc. 317

Verkaufes dem Käufer oder Kauflustigen unentgeltlich Getränke anbietet oder an- bielcn lässt.

Artikel 18. Die in den Artikeln 16 und 17 angedrohten Gefängnisstrafen können erhöht werden, wenn zurzeit der Uebertretung noch keine zwei Jahre verlaufen sind, seitdem der Schuldige wegen einer der in diesem oder im Artikel 19 erwähnten Handlungen rechtskräftig verurteilt wurde.

Artikel 19. Mit Gefängnis von einem Tage bis zu neun Monaten oder einer Geldbusse von fünfzig Cents bis dreihundert Gulden wird bestraft :

1. Wer ein Kind unter 16 Jahren betrunken macht;

2. wer jemand durch Gewalt oder unter Bedrohung mit Gewalt zum Gebrauche berauschender Getränke zwingt.

Wenn die Handlung eine Krankheit zur Folge hat, wird der Schuldige mit Ge- fängnis von einem Tage bis fünf Jahren bestraft.

Wenn die Handlung den Tod verursachte, wird er mit Zuchthaus von fünf bis zehn Jahren bestraft.

Wenn der Schuldige die strafbare Handlung in seinem Berufe begeht, kann ihm dessen Ausübung für einen die Gefängnisstrafe um nicht weniger als zwei, doch nicht mehr als fünf Jahre übersteigenden Zeitraum untersagt werden.

Diese Strafe beginnt mit dem Tage, an welchem das richterliche Urteil in Rechtskraft erwächst

Artikel 20. Mit Gefängnis von einem Tage bis zu neun Monaten oder Geldbusse von fünfzig Cents bis dreihundert Gulden wird derjenige bestraft, der jemand, welcher in erkennbar trunkenem Zustande sich befindet, berauschendes Getränke anbietet oder verkauft

Die drei letzten Absätze des vorigen Artikels finden auch hier Anwendung.

Artikel 21. Mit Gefängnis von einem Tage bis sechs Tagen oder Geldbusse von fünfzig Cents bis fünfundzwanzig Gulden wird derjenige bestraft , welcher , während ersieh in trunkenem Zustande befindet, den öffentlichen Verkehr hindert, die Ord- nung stört, die Sicherheit Anderer bedroht oder Handlungen unternimmt, bei welchen zur Verhütung von Gefahr für Leben und Gesundheit dritter Personen besondere Um- sicht oder Vorsorge erforderlich ist.

Wenn zurzeit der begangenen That noch kein Jahr verlaufen ist, seitdem der Schuldige wegen einer gleichen Handlung oder der im Artikel 22 erwähnten rechts- kräftig verurteilt wurde, oder wegen letzterer freiwillig Busse bezahlt hat, so wird er mit Gefängnis von einem bis zu vierzehn Tagen bestraft.

Artikel 22. Mit Geldbussc von fünfzig Cents bis fünfzehn Gulden wird jener be- straft, welcher sich in erkennbar trunkenem Zustande auf Öffentlichem Wege befindet.

Wenn zurzeit des Vorfalles noch kein Jahr vergangen ist, seit der Schuldige wegen gleicher Handlung oder wegen der im Artikel 21 erwähnten Uebertretung rechtskräftig verurteilt wurde, oder wegen der Uebertretung des ersten Absatzes frei- willig die Busse bezahlt hat, kann statt der Geldbusse Gefängnisstrafe von einem bis zu drei Tagen verhängt werden.

Bei zweiter Wiederholung innerhalb eines Jahres noch in Rechtskraft erwachsener Verurteilung wegen der ersten Wiederholung wird Gefängnisstrafe von einem bis zu vierzehn Tagen verhängt.

Bei dritter oder folgenden Wiederholungen während eines Jahres nach der in Rechtskraft erwachsenen Verurteilung wegen der zweiten oder folgenden Wiederho- lung wird Gefängnisstrafe von einem bis zwanzig Tagen aufcrlcgt und kann der

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3'»

Gesetzgebung,

Schuldige ausserdem, sobald er wieder zu arbeiten imstande ist, zur Unterbringung in ein Reichsarbeitshaus wenigstens auf drei Monate und höchstens auf ein Jahr ver- urteilt werden.

Diese Strafe beginnt mit dem Tage, an welchem die Gefängnisstrafe endigt.

Im Falle einer Wiederholung der Uebertretung , nachdem die Unterbringung in ein Reichsarbeitshaus stattgefunden, fängt der im vorhergehenden Absatz erwähnte Jahrestermin mit dem Tage an, an welchem die Entlassung aus dem Reichsarbeits- baus geschehen ist.

Artikel 23. Mit Geldbusse von fünfzig Cents bis fünfzehn Gulden wird jede Uebertretung der Bestimmungen des Artikels 13 bestraft.

Wenn die Bewilligung an eine Gesellschaft unter einer Firma oder an ein« Aktiengesellschaft, eine anständige, sittliche Körperschaft oder an deren Leitung er- teilt wird, ist für die hier erwähnten Uebertretungen jener verantwortlich, welcher mit dem Verkaufe von geistigen Getränken im kleinen betraut wurde, und in Ermanglung einer solchen Person jeder der verwaltenden Gesellschaftsmitglieder oder Leiter.

Artikel 24. Mit Gefängnis von einem Tage bis zu drei Monaten oder Geldbusse von fünfzig Cents bis sechshundert Gulden wird jener bestraft , welcher einer auf (»rund dieses Gesetzes oder der in diesem Gesetze angedeuteten lokalen Anordnungen durch ein Sicherheitsorgan an ihn gerichteten Aufforderung keine Folge leistet oder die in Ausführung dieses Gesetzes oder erwähnter Lokalverordnungen von einem solchen Angestellten unternommene Handlung verhindert oder vereitelt

Wenn zurzeit der strafbaren Handlung noch nicht zwei Jahre abgelaufcn sind, seit der Schuldige wegen des gleichen Vergehens rechtskräftig verurteilt worden, können die Strafen um ein Drittel erhöht werden.

Artikel 25. Mit dem Nachforschen nach Uebertretungen dieses Gesetzes und der in selbem erwähnten lokalen Anordnungen sind ausser den im Artikel II des Strafge- setzbuches bezcichneten Personen, die Feldwächter und alle Reichs-, sowie Gcmeinde- polizei-Angestellten beauftragt.

Die genannten Angestellten haben jederzeit freien Zugang zu allen Lokalitäten, wo geistige Getränke im kleinen verkauft werden.

Wird ihnen der Zugang verweigert, so verschaffen sie sich seihen durch Inan- spruchnahme der bewaffneten Macht.

Ist die Lokalität nur eine Wrohnung oder bloss durch eine Wohnung zugänglich, dann betreten sie diese gegen den Willen des Bewohners nicht , ausser auf schrift- lichen Befehl des Bürgermeisters.

Ueber dieses Einschreiten wird durch sie innerhalb vierundzwanzig Stunden ein Protokoll aufgenommen und dem Bewohner, dessen Wohnung betreten wurde, eine Abschrift mitgeteilt.

Uebergangsbcstimmungen.

Artikel 26. Für die Lokalitäten, in welchen mit I. Mai 1881 ohne Zuwiderhandeln gegen das Gesetz oder die Verordnungen geistige Getränke verkauft werden, kann, solange den Lokalitäten die Bestimmung, zum Verkauf von geistigen Getränken im kleinen gebraucht zu werden, wegen einer Handlung seitens des Eigentümers oder Benutzers nicht entzogen worden ist, die Bewilligung, ausser in den sub Art. 3, Nr. 2 bis 7, dann 9 und 10 erwähnten Fällen nicht verweigert werden:

a) Demjenigen, welcher zur genannten Zeit darin das Geschäft betreibt, solange er lebt;

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Das niederländische Gesetz v. 2S. Juni iSSl betr. d. Kleinhandel etc. 319

b) anderen während der ersten zwanzig Jahre nach genanntem Zeitpunkt.

Nach dem 30. April 1885 wird, wenn nicht die Konzession auf Grund einer Ausnahmsbewilligung laut zweiten Absatzes des Art. 4 erteilt worden, die Konzession für die obgenannten Lokalitäten, in welchem ein anderes Kundschaftsgewerbe aus- geübt wird, oder welche mit solcher Lokalität innerhalb des Hauses Gemeinschaft haben, bei rechtzeitiger Bezahlung der Konzessionsgebühr nur unter folgendem Vor- behalte als verlängert betrachtet :

1. Dass der Verkauf von geistigen Getränken in geschlossenen Flaschen, Kannen oder Krügen geschehe;

2. dass in den für das Publikum zugänglichen Lokalitäten keine geöffneten Fässer, Flaschen, Kannen oder Krüge mit geistigen Getränken gefüllt vorhanden sein dürfen ; und

3. dass das Trinken von geistigen Getränken in diesen I^okalitäten nicht ge- schehen darf.

Im vorigen Absatz erwähnte Konzessionen, deren Termin zwischen 1. Mai 1884 und 1. Mai 1885 abläuft, werden als unter den in diesem Absatz erwähnten Be- dingungen verlängert betrachtet, wenn die Bezahlung der Konzessionsgebühr für die Zeit bis 1 Mai 1886 vor dem 1. Juni 1885 geschieht.

Artikel 27. Die Nichtbefolgung der Bedingungen, welche im vorletzten Absätze des Artikels 26 erwähnt sind, werden mit Geldbusse von fünfzig Cents bis fünfund- zwanzig Gulden bestraft. Die Konzession desjenigen, welcher deshalb rechtskräftig verurteilt worden ist, wird eingezogen.

Artikel 28. Bis 1. Mai 1887 kann von dem Verbote laut Art. 3, Nr. 2, durch die Provinzial-Ausschüsse eine Ausnahme bewilligt werden, insofern derselbe die zum öffentlichen Dienste einer oder mehrerer Gemeinden gebrauchten Gebäude betrifft.

Artikel 29. Der Termin für alle Konzessionen, die in dem mit 1. Mai 1885 be- ginnenden Jahre verlängert werden, wird als mit 30 April 1886 abgelaufen betrachtet.

An Konzessionsgebühr für diesen Termin werden soviele Zwölftel bezahlt, als der Termin Monate hat. Ein Teil von einem Monate gilt für einen ganzen.

Artikel 30. Alle lokalen Anordnungen, welche das Einheben der Konzessions- gebühr regeln, werden in Uebereinstimmung mit diesem Gesetze vom 1 Januar 1886 revidiert, die nun geltenden bleiben nicht länger als bis 1. Mai 1886 in Wirksamkeit.

Das vorstehende Gesetz tritt mit dem Tage der Kundmachung desselben in Wirksamkeit.

(Kundgemacht am i. Mai 1885.)

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DAS BASELSTÄDTISCHE GESETZ BETR. DEN SCHUTZ DER ARBEITERINNEN.

EINGELEITET VON

prof. ür. k. Bücher.

Das schweizerische Bundesgeset/. über die Arbeit in den Fabriken vom 23. März 1877 hat seit seinem Bestehen im Aus- lande den Gegenstand der widersprechendsten Urteile gebildet Während die Einen in demselben ein- Vorbild erblickten, dem die Staaten ohne genügenden Arbeiterschutz schlechthin nachzueifem sich bestreben sollten, haben Andere mit beflissenem Eifer die Schwächen dieses Gesetzes, die Unvollkommenheiten seiner Aus- führung, die Ungleichheit seiner Handhabung seitens der kan- tonalen Behörden hervorzuheben sich bemüht. Von dieser Seite hat man das eidgenössische Fabrikgesetz als den Typus einer unpraktischen legislatorischen Massnahme darzustellen gesucht, die von einseitig abstrakten Voraussetzungen aus das vielge- staltige Leben meistern wolle; mit einer gewissen Schadenfreude hat man aus den offiziellen Berichten über die Fabrikinspek- tion die Stellen zusammengesucht , welche auf Schwierigkeiten in der Ausführung hindeuteten, und sich lür berechtigt gehalten, aus derartigen tendenziösen Zusammenstellungen den Schluss zu ziehen, das Bundesgesetz über die Fabrikarbeit sei ein toter Buchstabe geblieben. Ja selbst das Eintreten der Bundes- versammlung und die diplomatischen Schritte des Bundesrates für Verwirklichung der Idee einer internationalen Fabrikgesetz- gebung hat sich die Deutung müssen gefallen lassen, die Schweiz sei mit dem Gesetze von 1877 in eine Sackgasse geraten und suche nun den Ausweg in der Weise zu finden, dass sie die konkurrierenden Industriestaaten zu gleich weit gehenden Mass- nahmen zu veranlassen strebe.

Es kann nichts Unrichtigeres geben als die Auffassung, welche diese Darstellungen erwecken möchten.

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Das Baselstädtische Gesetz fie/r. den Schutz der Arbeiterinnen. 32 1

Allerdings, wer die schweizerischen Verhältnisse mit dem Massstabe einer zentralisierten nach unten durchgreifenden Ver- waltungsorganisation misst und den Wert eines Gesetzes nach den Mitteln beurteilt, mit welchen die Staatsgewalt den ihm ent- gegentretenden Widerstand zu brechen imstande ist, dem kann die Durchführung eines schweizerischen Bundesgesetzes nicht anders als mangelhaft erscheinen. Allein gerade auf dem Gebiete der Fabrikgesetzgebung, wo überall, und nicht am wenigsten in Deutschland, die Verwaltung von ihren Machtmitteln einen unge- mein sparsamen Gebrauch zu machen pflegt, sollte man solche Vergleiche scheuen. In der Schweiz ist wenigstens der gute Wille, das Gesetz energisch zu handhaben, sowohl bei den Bundes- behörden als auch bei den meisten Kantonsregierungen immer vorhanden gewesen. Die Fabrikinspektion ist so gut wie irgendwo sonst. Wenn sie an den Bezirks- und Gemeindebehörden, denen die unmittelbare dauernde Ueberwachung obliegt, vielfach nicht die nötige Unterstützung gefunden hat, wenn die Rechtsprechung der Gerichte, die auch bei der geringsten Zuwiderhandlung gegen das Gesetz angerufen werden muss, an Gleich mässigkeit zu wünschen lässt, so liegt dies an Verhältnissen, die auch in Ländern mit straffer bureaukratischer Beamtenorganisation nicht immer vermieden werden können. Es mag ja richtig sein, dass die soziale Stellung der Gesetzesübertreter, welche bei einem Arbeiter- schutzgesetz in Frage kommen, für den schweizerischen Wahl- beamten eine andere Bedeutung hat, als für den vom Staate er- nannten Subalternbeamten anderer Länder; bedeutungslos ist sie auch für den letzteren nicht.

Die Hauptsache bleibt immer, dass in der Schweiz die ganze Bevölkerung geistig für ein Gesetz gewonnen werden muss, bevor seine Durchführung als gesichert gelten kann. Darauf gründet sich die konservative Tenacität dieser kleinen demokratischen Republiken, die man Kantone heisst. Nun ist das eidgenössische Fabrikgesetz bei der Volksabstimmung am 21. Oktober 1877 bloss mit der verhältnismässig schwachen Mehrheit von 181 204 gegen 170857 Stimmen angenommen worden. Fis dürfte aber heute kaum ein Sachkundiger in der Schweiz zu finden sein, der nicht zugestände, dass in den verflossenen zehn Jahren, viele aus Widersachern zu Verfechtern des Gesetzes geworden sind, weil sie sich von seiner Notwendigkeit und Nützlichkeit überzeugt haben. Und mit der besseren Ueberzeugung kommt eine bessere

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Gesetzgebung.

Beobachtung und Handhabung der Vorschriften ganz von selbst. Aus Gesetzesverächtern werden ebenso viele Gesetzeswächter; wo früher von den zwei Augen der Polizei eines zugedruckt wurde, weil die demokratische Exekutive eine leicht begreifliche Scheu trug, sich mit der öffentlichen Meinung in Widerspruch zu setzen , da sehen jetzt hundert Augen und auch die Polizei wagt schärfer zuzugreifen, weil sie die öffentliche Meinung hinter sich hat.

In den ersten Jahren nach der Einführung des Gesetzes lagen die Dinge weit schwieriger. In Interessentenkreisen hatte dasselbe zahlreiche Gegner ; die anerkannt bedrängte Lage der schweize rischen Industrie, welche durch die schutzzöllnerische Handels- politik der Nachbarstaaten sich zusehends verschlimmerte, gab ihren Klagen und Beschwerden Gewicht und machte selbst manche wankend, die früher für das Gesetz eingetreten waren. Ein Teil der Presse trat für ihre Anschauungen ein ; es wurde offen Sus- pension oder Wiederaufhebung des Gesetzes verlangt. Welche Gefahren eine solche Bewegung mit sich bringt in einem Lande, wo das Volk fortwährend die Klinke der Gesetzgebung in der Hand hat, wo oft genug selbst Revisionen der Verfassung vor- genommen w'erden aus keinem andern Grunde, als weil man seit 5 oder io Jahren nichts mehr geändert hat, braucht nicht näher auseinandergesetzt zu werden. Ist doch einer solchen Miss- stimmung im Jahre 1882 das bereits eingefiihrte Bundesgesetz über die Fabrikation von Phosphorzündhölzchen zum Opfer ge- fallen. Vor einem ähnlichen Schicksal ist glücklicherweise das Fabrikgesetz bewahrt geblieben; aber das längere Schwanken der öffentlichen Meinung während der ersten Jahre nach dem Erlass desselben brachte auch in die Ausführung eine gewisse Unsicher- heit, die erst allmählich und nach längerer Zeit verschwinden konnte.

Heute hat sich die Mehrzahl der Fabrikanten mit dem Ge- setze ausgesöhnt ; selbst die Baumwollspinner, w’elche sich am hartnäckigsten gegen dasselbe gewehrt hatten, erkennen seine Vorzüge an, *) und aus der stark manchesterlichen Westschweiz berichtet der Fabrikinspektor des II. Bezirks neuerlich: la loi gagne de plus en plus les sympathies gdnerales. Allerdings ist

1) Man vergleiche den Vortrag des Spinnereidirektors Blocher über die Wir- kungen des eidgenössischen Fabrikgesetzes auf die Schweiz. Baumwollspinnerei in der Ztschr. für Schweiz. Statistik XXIV (1888), Heft 1.

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Das Basektiidtische Gtsetz be/r. den Schutz der Arbeiterinnen. 323

die Zahl der Ausnahmegestattungen von den Bestimmungen über den Normalarbeitstag in manchen Kantonen noch eine ziemlich grosse ; allein wenn man in Deutschland diesen Punkt als Beweis dafür anführt, dass das Gesetz nicht gehalten werde, so kann leicht die Statistik, welche der Fabrikinspektor des ersten Kreises in dem vor kurzem erschienenen »Berichte über die Fabrikin- spektion in der Schweiz 1886 und 1887« S. 37 f. über diese Ver- hältnisse aufgestellt hat, eines besseren belehren. Auf je 1000 im Jahre 1887 verarbeitete Stunden kamen 3 Ueberstunden, und von 66738 im ganzen beschäftigten Arbeitern wurden für 17 442 vorübergehende Verlängerungen der Arbeitszeit bewilligt. Dar- nach befanden sich fast drei Viertel aller Arbeiter dieses Kreises das ganze Jahr hindurch im vollen Genuss der elfstündigen Arbeits- zeit, während stark ein Viertel derselben sich zeitweise Ueber- stunden gefallen lassen musste. Das ist ja immer noch eine grosse Zahl, und es dürfte sich mit der Zeit die Notwendigkeit herausstcllen, die Kompetenz der Bezirks- und Ortsbehörden in diesem Punkte aufzuheben, diejenige der Kantonsregierungen auf ein Minimum zu beschränken, sowie überhaupt das Zeitmass ge- setzlich zu bestimmen, für welches unter gewissen Bedingungen höchstens Ueberzeitbewilligungen im Laufe eines Jahres erteilt werden können. Ein diesbezügliches Einschreiten der Gesetz- gebung würde zweifellos auch von vielen Fabrikanten mit Genug- thuung begrüsst werden, da es eine schreiende Ungleichheit be- seitigt und auch für die Produktion Vorzüge hat, die durch frei- willige Annahme des Normalarbeitstages seitens der ostschweize- rischen Stickerei Hausindustrie eine glänzende Anerkennung gefunden haben.

ln der richtigen Erkenntnis, dass der allgemeine Vollzug des Fabrikgesetzes eine allgemeine Kenntnis desselben voraussetzt, haben sich manche Kantonsregierungen die Verbreitung der letz- teren angelegen sein lassen und auch die Arbeitervereinigungen bemühen sich in dieser Richtung. Neuerdings hat mit zu diesem Zwecke das eidgenössische Handels- und Landwirtschaftsdepar- tement eine durch zahlreiche offizielle Erläuterungen kommentierte Ausgabe des Fabrikgesetzes ') erscheinen lassen, welche über die

I) Das Bundesgesetz betr. die Arbeit in den Fabriken vom 23. März 1S77, kom- mentiert durch seine Ausführung in den 10 ersten Jahren seines Bestehens 1877 bis 1887. Mit einem Anhang; Eidgen. Haftpflichtgesetzgebung. Bern, Schmid, Francke u. Co. 1888.

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Gesetzgebung.

Handhabung desselben in den letzten zehn Jahren allen wünschens- werten Aufschluss giebt und auch für die Fortbildung desselben von Nutzen sein dürfte. Dass man in letzterer Hinsicht keines- wegs bei dem Erreichten sich zu beruhigen gedenkt, beweist die durch Gesetz vom 26. April 1887 erfolgte Ausdehnung und Er- gänzung des Haftpflichtgesetzes, sowie eine am Schlüsse des vorigen Jahres im Nationalrat gestellte Motion auf Erweiterung des Fabrikgesetzes.

Noch wichtiger ist, dass man in den Kantonen anfängt, für eine strengere fortlaufende Ueberwachung der Fabriken zu sorgen. In Basel und in einigen Gemeinden des Kantons Appenzell A.-Rh. bestehen zu diesem Zwecke F'abrikkommissionen, welche u. A. auch verpflichtet sind, den Fabrikinspektor, wenn dieser es wünscht, bei seinen Besuchen zu begleiten und sich später durch spezielle Nachschau von der Befolgung der von ihm getroffenen Anord- nungen zu überzeugen. Anderwärts suchen die Fabrikinspekto- ren in ähnlicher Weise die Bezirks- und Gemeindebehörden mit ihren Obliegenheiten vertraut zu machen.

Am weitesten ist nach dieser Richtung neuerdings die Regie- rung des Kantons Aargau gegangen. In einer unterm 28. Dezem- ber 1887 erlassenen »Vollziehungsverordnung zu den Bundesge- setzen betreffend die Arbeit in den Fabriken und die Haftpflicht« hat dieselbe nämlich als besondere kantonale Institution eigene Fabrikaufseher für alle Gemeinden vorgesehen, in denen sich Fabriken befinden. Dieselben werden von den Gemeinderäten ernannt und aus den Gemeindekassen angemessen entschädigt. Durch fortgesetzte Besuche in den Fabriken haben sie den Voll- zug der gesetzlichen Bestimmungen über die Arbeitszeit sowie über die Frauen- und Kinderarbeit zu überwachen; sie haben sich zu vergewissern, ob das vorgeschriebene Verzeichnis der Arbeiter gehörig geführt wird und ob die genehmigte Fabrikordnung, so- wie die Ueberzeitbewilligungen in den Fabriken vorschriftsgemass angeschlagen sind. Die Verfügungen der Regierung, die Spezial- bewilligungen sind den Fabrikanten durch diesen Beamten zuzu- stellen. Bei Verletzungsfällen haben sie die gesetzlich vorge- schriebene Anzeige des Fabrikanten entgegenzunehmen und die erste Untersuchung zu machen. Mit der Vollziehungsver- ordnung hat die Regierung des Kantons Aargau in Brochiiren- form die Haftpflichtgesetze und das Fabrikgesetz vereinigt und unter die Interessenten verteilen lassen.

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Das Baselstädtische Gesetz betr. dm Schutz der Arbeiterinnen. 325

Allerdings haben diese Gemeinde - Fabrikaufseher in den Kreisen der aargauischen Fabrikanten einige Entrüstung hervor- gerufen ; aber der Bundesrat hat ihre Beschwerde abgewiesen, und da der Erlass des Regierungsrates sich auf gesetzlichem Boden bewegt, so ist zu hoffen, dass er daran festhalten wird. Die Fabrikaufseherstellen sind überall bisherigen Gemeindebe- amten, meistens Gemeinderaten und Gemeindeschreibern über- tragen worden, welche sie im Nebenamt versehen, sodass von der anfänglich gefürchteten finanziellen Belastung der Gemeinden kaum die Rede sein kann. Es wäre zu wünschen, dass in anderen Kantonen, in welchen man zur Zeit mit der Aufstellung ähnlicher Vollziehungsverordnungen zu beiden Gesetzen sich beschäftigt, das von Aargau gegebene Beispiel Nachahmung fände.

Auch der neueste Bericht der Fabrikinspektoren (S. 133) weist auf diesen Ausweg hin bei Besprechung der gesetzwidrigen Be- schäftigung von Kindern unter 14 Jahren. »Solchen Gesetzes- umgehungen«, heisst es dort, »können nur die kantonalen Auf- sichtsorgane Vorbeugen, die öfter und in kürzeren Zwischenräumen die F'abriken besuchen sollten. Der F'abrikinspektor kann in der Regel nur alle zwei Jahre einmal das gleiche Etablissement be- suchen, sodass die Leute, wenn die Inspektion vorbei ist, wieder wohlgemut weiter sündigen können, wenn die Ortsbehörden ihrer Pflicht nicht nachkommen?« Dies gilt von anderen Staaten noch in höherem Grade als von der Schweiz, und darum dürfte die aargauische Institution kommunaler Fabrikaufseher auch ander- wärts auf Beachtung rechnen können.

Noch entschiedener spricht sich der Geist, in dem man diese Dinge heute in der Schweiz auffasst, darin aus, dass man auf dem Boden der kantonalen Gesetzgebung eine F'ortbildung des eidgenössischen F'abrikgesetzes versucht hat. So hat mehrfach die durch die eidgenössische Alkoholgesetzgebung notwendig gewordene Revision der kantonalen Wirtschaftsgesetze Anlass ge- geben, den Arbeiterschutz auf das in Gastwirtschaften beschäftigte Personal (insbesondere die Kellnerinnen) auszudehnen. Das neue Wirthschaftsgesetz, des Kantons Baselstadt weist z. B. eine Be- stimmung auf, durch welche den Wirtschaftsangestellten täglich mindestens sieben Stunden als Schlafenszeit und wöchentlich mindestens sechs Stunden Freizeit an einem Nachmittag ge- sichert werden.

Derselbe Kanton hatte schon vorher den Geltungsbereich

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Gesrtzgebung.

des Fabrikgesetzes in wichtigen Funkten auf gewisse Kategorien von weiblichen Arbeitern ausgedehnt, die dem eidgenössischen Ge- setze nicht unterstellt sind, und hat das betr. kantonale Gesetz, mit dem wir uns im Folgenden naher beschäftigen wollen, neuerdings be- deutend erweitert und vervollständigt. Er steht meines Wissens in dieser 1 linsicht unter den schweizerischen Kantonen einzig da.

Am 9. Januar 1882 fasste der Grosse Rat des Kantons Basel- stadt auf den Antrag eines Fabrikanten aus seiner Mitte folgen- den Beschluss: »Der Regierungsrat wird eingeladen zu untersuchen und zu berichten, ob nicht in bezug auf Gewerbe und Geschäfte, welche Arbeiterinnen verwenden , ohne dem eidgenössischen Fabrikgesetz unterstellt zu sein, schützende Bestimmungen für deren Angestellte, namentlich in bezug auf die Arbeitszeit, erlassen werden sollten.« Es waren hauptsächlich die grösseren «Kon- fektionsgeschäfte«, welche Anlass zu diesem Beschlüsse gegeben hatten, Geschäfte, welchen in bezug auf die Zahl der beschäftig- ten Arbeiterinnen vielfach eine grössere Ausdehnung besitzen, als manche dem eidgenössischen Fabrikgesetze unterstellten Be- triebe und bei denen eine übermässige Ausdehnung der Arbeits- zeit um so leichter stattfindet, je weniger die beschäftigten Per- sonen sich unter den hier massgebenden Verhältnissen der Will- kür erwehren können.

Der Regierungsrat kam dem ihm gewordenen Aufträge durch Vorlage eines Gesetzentwurfs, betr. die Arbeitszeit der weiblichen Arbeiter, am 19. November 1883 nach. In den beigegebenen Motiven erkannte derselbe an, dass allerdings die grossen Kon- fektionsgeschäfte verschiedener Art, welche von 10 bis 40 und 50 Arbeiterinnen gleichzeitig und regelmässig in geschlossenen Räumen beschäftigen, einen fabrikähnlichen Charakter besitzen und zwar noch in höherem Grade als manche dem eidgenössi- schen F'abrikgesetze unterstellten Betriebe, z. B. als die Sticke- reien, welche demselben bereits unterworfen wurden, sobald 4 Stickmaschinen in einem Betriebe vereinigt waren. Es läge dem- nach nahe und würde sich auch am einfachsten ausführen lassen, diese Konfektionsgeschäfte, sobald sie eine Minimalzahl von Ar- beiterinnen erreichen, den sämtlichen Bestimmungen des P'abrik- gesetzes zu unterstellen. Allein bei näherer Betrachtung habe sich gezeigt, dass damit der Schutz gegen rücksichtslose Aus- beutung gerade denjenigen nicht zu gute käme, welche desselben am meisten bedürften. Denn obwohl ohne Zweifel in den

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Das Basclstiidtische Gesetz betr. den ScJ/utz der Arbeiterinnen. 327

grösseren Geschäften vielfach von den beschäftigten Arbeiter- innen in bezug auf Arbeitsleistung und Arbeitsdauer zeitweise mehr verlangt werde, als mit humanen und sanitären Grund- sätzen vereinbar sei, so fände doch gerade in mittleren und kleineren Geschäften die Ausbeutung der Arbeiterinnen und na- mentlich der Lehrlinge in höherem Grade und häufiger statt. Die Zahl der Fälle sei eine sehr grosse, in denen Schneiderinnen, Modistinnen, Näherinnen, Büglerinnen eine oder zwei bezahlte Arbeiterinnen und eine oder noch häufiger mehrere Lehrmädchen hielten, von denen erstere fiir einen sehr mässigen, letztere für gar keinen Lohn häufig halbe Nächte durch arbeiten und oft auch die nötige Sonntagsruhe entbehren müssten. Dieser Betrieb habe mit dem Fabrikbetrieb sehr wenig Aehnlichkeit, nähere sich vielmehr häufig der Hausarbeit. Fr sei deshalb weit schwerer ge- setzlich zu fassen. Trotzdem müsse die Regelung dieser Verhältnisse versucht werden, da es sich vielfach um junge, eben der Schule entwachsene Mädchen handle, welche in einem Alter, wo eine vernünftige Arbeitszeit und ein Minimum von Ruhe und Schlaf für die normale Entwickelung notwendig sei, von früh bis spät in die Nacht mit sehr kurzen Ruhepausen , oft in ungesunder Körperstellung . und in schlecht ventilierten und erleuchteten Räumen zur Arbeit angehalten würden.

Um die Grenze zwischen den Gewerbebetrieben und der eigent- lichen Hausarbeit richtig abzustecken, meinte der Regierungsvor- schlag die Merkmale der Schutzbedürftigkeit und Schutzmöglichkeit überall da als gegeben annehmen zu sollen, wo Arbeiterinnen I. ge- gen Lohn oder als Lehrlinge und 2. in Werkstätten beschäftigt werden. Unter den Begriff Werkstätten sollten alle Arbeitsräumlichkeiten der Geschäfte, in welchen mehr als drei weibliche Personen ge- werbsmässig beschäftigt würden, fallen. Der Grosse Rat nahm diese Vorschläge unverändert an, und so entstand das Gesetz vom 11. F'ebruar 1884, betr. die Arbeitszeit der weib- lichen Arbeiter. Dasselbe ist im wesentlichen nicht mehr als eine Ausdehnung des sog. Normalarbeitstages (Art. 11 des eidgen. Fabrikgesetzes) auf die oben bezeichneten Gewerbebe- triebe. Seine einzige materielle Vorschrift lautet:

■»Die Dauer der regelmässigen Arbeitszeit eines Tages für Frauenspersonen, welche gegen Lohn oder als Lehrlinge in Werkstätten beschäftigt werden, darf nicht mehr als 11 Stunden,

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328 Gesttigrhung.

an den Vorabenden von Sonn- und Festtagen nicht mehr als io Stunden betragen.

Die Arbeitszeit muss in die Stunden von 6 Uhr, bezw. in den Sommermonaten 5 Uhr morgens und 8 Uhr abends verlegt werden. Um die Mitte der Arbeitszeit soll eine Pause von wenigstens einer Stunde stattfinden.

Vorübergehende Verlängerung der Arbeitszeit kann durch das Departement des Innern erteilt werden.

Die Arbeit an den Sonntagen ist, Notfälle Vorbehalten, untersagt.«

Die gesetzgebenden Faktoren standen bei Aufstellung dieser Bestimmung unter dem Eindruck, dass es sich zunächst bloss um einen Versuch handeln könne, bei welchem man sich mit Auf- stellung eines Prinzips begnüge , während die Regierung durch spezielle Ausführungsbestimmungen dessen Anwendung zu sichern habe. Allein die letzteren sind niemals erschienen. Man verliess sich auf den moralischen Eindruck, den das Bestehen des Ge- setzes an sich machen sollte und wartete ab, bis die Bestimmungen desselben von geschädigten Arbeiterinnen zu ihren Gunsten an- gerufen würden. Allem Anscheine nach ist dies niemals geschehen.

Die Regierung trifft deshalb kein Vorwurf. Sie hat klar genug diesen Gang der Dinge in den Motiven ihres Gesetzent- wurfes vorausgesagt. »Wir verhehlen uns nicht,« heisst es dort, »dass die Beaufsichtigung der in Frage kommenden kleineren Ge- schäftsbetriebe in bezug auf die Vorschriften des Gesetzes eine schwierige sein wird, und das letztere wird vielleicht in vielen Fällen nur insoweit einen günstigen Einfluss auszuüben im stände sein, als es den Angehörigen, Eltern oder Vormündern der jugend- lichen Arbeiterinnen eine Waffe gegen die übermässige Ausbeu- tung derselben in die Hand gibt, die ihnen bis jetzt fehlte. Immerhin glauben wir hoffen zu dürfen, dass, wie dies beim Normalarbeitstag der Fabriken der Fall gewesen ist, sich auch bei dem kleinen Betrieb die Zweckmässigkeit einer den natür- lichen Verhältnissen angemessenen Arbeitszeit sowohl für den Arbeitgeber als auch für die Arbeiterinnen in so klarer Weise herausstellen wird, dass der Widerstand dagegen allmählich von selbst schwinden dürfte.«

Ob diese Wirkung cingetreten ist , darüber liegen offizielle Angaben nicht vor. Weder in den Verwaltungsberichten des Regierungsrates noch in den Berichten über die Justizverwaltung

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Das Baselstädtische Gesetz betr. den Schutz der Arbeiterinnen. 329

in den nächsten Jahren wird auf die Ausführung des Gesetzes irgend Bezug genommen. Dagegen legte die Regierung unterm 12. Dezember 1887 dem Grossen Rate einen neuen Gesetzent- wurf vor, welcher sich als eine Erweiterung des Gesetzes von 1884 darstellt, indem er neben den Bestimmungen über die Arbeits- zeit auch solche über die Kündigungsfrist, Lohnabzüge und Fabrik- ordnungen enthält. Kr ist ein Versuch, das Gesetz über die Ar- beitszeit zu einem al 1 g e m e i n e n Schutzgesetze für weib- liche Arbeiter, im Anschlüsse an das eidgen. Fabrikgesetz, auszugestaltcn.

Aus diesem Entwürfe ist das neue Gesetz vom 23. April 1888 betreffend den Schutz der Arbeiterinnen, welches hier an- hangsweise zum Abdruck gelangt, hervorgegangen. Der Grosse Rat hat die Vorlage der Regierung in wesentlichen Punkten ver- bessert, bezw. verschärft; insbesondere hat sich Herr Rudolf Sarasin, der schon 1882 zur legislatorischen Behandlung der ganzen Materie den Anstoss gegeben hatte, auch um den Text des neuen Gesetzes wesentliche Verdienste erworben. Wir begnügen uns damit, im folgenden die Hauptpunkte hervorzuheben.

Das Geltungsgebiet des Gesetzes ist gegenüber dem früheren in mehrfacher Hinsicht erweitert. Während letzteres bloss diejenigen Betriebe erfasste, welche mehr als drei Frauens- personen gewerbsmässig beschäftigen, ist jetzt bereits bei drei arbeitenden Personen die Grenze gezogen, wobei die mit- arbeitende Arbeitgeberin eingerechnet wird. Ausserdem werden ohne Rücksicht auf die Zahl der arbeitenden Personen alle Be- triebe dein Gesetze unterstellt, welche überhaupt Mädchen unter 18 Jahren beschäftigen. Dadurch sollen diejenigen Schneiderinnen und Modistinnen getroffen werden, welche zwar keine Arbeite- rinnen beschäftigen, sich aber mit dem Anlernen junger Mädchen zum Kieidermachen, Zuschneiden etc. (sog. Lehrtöchter) gewerbs- mässig abgeben und diese oft ungebührlich ausnützen. Freilich bemerken die Motive hierbei : »Wir übersehen keineswegs, dass durch diese Vorschrift eine überaus grosse Anzahl kleiner Ge- schäfte dem Gesetze unterstellt werden , deren Beaufsichtigung auf Schwierigkeiten stossen, ja vielleicht nicht immer durchführbar sein wird. Es soll aber wenigstens die Möglichkeit vorliegen, in denjenigen Fällen , welche der Behörde zur Kenntnis kommen, die vom Gesetze vorgesehene Strafanzeige zu machen.«

In den Bestimmungen über die Arbeitszeit 2) geht das

Archiv für so/, Gesctzgbg. u. Statistik. I. 22

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Gesetzgebung.

neue Gesetz erheblich über das alte hinaus. Dies zunächst inso- fern, als es die zeitlichen Grenzen, zwischen welchen die gesetz- lichen II Arbeitsstunden liegen können, um eine Morgenstunde einschränkt, sodann insofern als es an Stelle des bedingten ein absolutes Verbot der Sonntagsarbeit setzt, ferner durch die be- sonderen Bestimmungen über Schwangere und Wöchnerinnen, sowie über die spezielle Entschädigung der Ueberstunden. Der Regierungsrat hatte nicht so weit gehen wollen ; namentlich hatte er der Unsitte der Bekleidungsgcschäfte, die Samstagsarbeit über Gebühr auszudehnen und auch einen Teil des Sonntags arbeiten zu lassen, Rechnung tragen wollen. Der Grosse Rat ist ihm mit Recht auf dieses gefährliche Gebiet der Ausnahmegestattung nicht gefolgt; ja er hat sogar den früheren Feierabend der Fabriken am Samstag auch auf die Konfektionsgeschäfte ausgedehnt. Da- gegen ist er in einem anderen I’unkte sehr entschieden und ge wiss zum Vorteile der Sache von den Bestimmungen des eidge- nössischen Fabrikgesetzes abgewichen: bezüglich der Gestattung vorübergehender Verlängerung der Arbeitszeit. Das Bundesgesetz ist in diesem Punkte äusserst mangelhaft; cs be- stimmt weder, um wie viel Stunden am einzelnen Tage noch an wie viel Tagen innerhalb eines grösseren Zeitabschnittes die Arbeit auf Bewilligung der Behörden verlängert werden darf, und so kommt es, dass Ueberzeitbewilligungen bis zu drei Monaten noch als »vorübergehende Verlängerungen der Arbeitszeit« gelten und dass das gleiche Etablissement in einem Jahre mehrfach um derartige Vergünstigungen einkommen kann. Diesem Missbrauch setzt das Basler Arbeiterinnenschutzgesetz wenigstens insofern eine Grenze, als es die tägliche Verlängerung auf die Zeit bis II Uhr einschränkt und eine zu lange Fristerstreckung derselben durch die vorgeschricbene Bewilligung des Regierungsrathes er- schwert. Richtiger wäre wohl gewesen, Bewilligungen von mehr als drei Wochen nicht innerhalb zwei, sondern mindestens inner- halb sechs Monaten überhaupt nicht zuzulassen. Immerhin ist der absolute Ausschluss der Schwangeren und Minderjährigen von jeder Arbeitszcitverlangcrung schon eine grosse Kirrungenschaft.

Hinsichtlich der Kündigungsfrist und der Bussen (§3 und 4) schliesst sich das neue Gesetz ziemlich genau an das Bundesgesetz an; neu ist nur die Bestimmung, welche die L o hn- abzüge auf die Falle absichtlicher oder grob nachlässiger Arbeits- verderbnis beschränkt. Mit den fakultativen Arbeitsordnungen

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Das liaselstddtische Gesetz hetr. den Schutz der Arbeiterinnen. 331

des § 6 wird schwerlich viel gewonnen ; ein Antragsteller im Grossen Rate wollte dieselben obligatorisch machen und der Re- gierungs-Entwurf hatte die Aufstellung von Normal-Ordnungen durch die Fabrikkommission in Aussicht genommen, indem man meinte, »durch das Restehen solcher Arbeitsordnungen, welche in passenden Fällen im Arbeitslokal anzuheften seien, würden die Arbeiterinnen und Lehrtöchter Kenntnis von ihren Rechten, be- sonders in Hinsicht der Nachtarbeit erhalten und sich stets und in allen Fällen auf dieselben berufen können.« Unseres Erachtens wäre dieser Zweck viel einfacher und leichter dadurch zu er- reichen, dass man das Gesetz in Plakatform druckte und die Ge- schäftsinhaber verpflichtete, dasselbe in ihren Arbeitslokalen an- zuschlagen. Zur Aufstellung einer Arbeitsordnung dürften die meisten gar nicht im Stande sein.

Auffallend ist, dass auch diesmal das Gesetz keine positiven Restimmungen über die Durchführung seiner Vorschriften enthält. Aus der Mitte des Grossen Rates war der Vorschlag gemacht worden, zu diesem Zwecke gleich gesetzlich eine neue Beamtung zu kreieren, bezw. einen kantonalen Fabrikinspektor zu schaffen, dem neben der Reaufsichtigung der diesem Gesetze unterstellten Betriebe auch die fortlaufende Ueberwachung der unter das eid- genössische Fabrikgesetz fallenden Anlagen, ähnlich wie im Aar- gau den Gemeindefabrikaufsehern, übertragen werden könnte. Der Regierungsvertreter hat mit schwer begreiflicher Entschieden- heit diesen Antrag bekämpft und der Grosse Rat hat ihn ver- worfen. Es wird sich nun um den möglichst baldigen Erlass der nicht bloss »allfällig nötigen«, sondern unerlässlichen Ausfüh- rungsverordnung handeln, ohne welche nicht bloss der § 5, welcher die sanitären Verhältnisse der Arbeitsräume betrifft, ein toter Ruchstabe bleibt, sondern der Nutzen des ganzen Gesetzes einigermassen in Frage gestellt ist. Allem Vermuten nach dürfte bei dieser Gelegenheit die Regierung selbst sich auf die Not- wendigkeit geführt sehen, ein eignes kantonales Aufsichtsorgan zu schaffen. Die etwas schwerfällige Fabrikkommission reicht hier auf keinen Fall aus.

Das kleine Basler Spezialgesetz zum Schutz der Frauenarbeit in der Konfektionsbranche hat wohl mehr als lokale Bedeutung. Ueberall in den grösseren Städten ist gerade diese unbestrittene Domäne der weiblichen Arbeit ein Heerd himmelschreiender Missbräuche, deren Opfer sich weder direkt wehren, noch auch

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Gesetzgebung.

ihre Stimmen zu den Pforten der Ministerien und Parlamente erheben können. Und auch wenn das letztere geschähe, so ist es sehr fraglich, ob man an massgebender Stelle die Bedenklich- keiten würde überwunden können, die auf den ersten Anblick ein gesetzgeberisches Eingreifen in diese Verhältnisse widerraten. Dass es möglich ist, hat nun der kleine schweizerische Stadtkanton durch die beiden Gesetze von 1884 und 1888 gezeigt. Zugleich hat er durch diese Erweiterung des Arbeiterschutzgebietes wohl den besten Beweis dafür geliefert, dass man in der Schweiz nicht im Entferntesten mehr daran denkt , irgend eine der Errungen- schaften des Fabrikgesetzes von 1877 preiszugeben.

Es folgt nunmehr der Text des Gesetzes betreffend den Schutz der Arbeiterinnen vom 23. April 1888 :

Der Grosse Rat des Kantons Basel-Stadt, in der Absicht, diejenigen Arbeiterinnen, welche in Gewerben beschäftigt werden, die nicht unter das eidgen. Fabrikgesetr fallen, ebenfalls unter den Schutz eines Gesetzes zu stellen, beschliesst :

§ 1. Zu den Gewerben, auf welche dieses Gesetz Anwendung findet, zählen alle diejenigen, in welchen drei Frauenspersonen oder mehr gewerbsmässig arbeiten, oder in welchen überhaupt Mädchen unter 18 Jahren als Arbeiterinnen oder Lehrtöchter beschäftigt werden.

Ausgenommen von dieser Bestimmung sind die Wirtschaften und Ladengeschäfte, sofern die Inhaber der letztem ihre weiblichen Angestellten nicht zu gewerblichen Arbeiten, sondern zur Bedienung der Käufer verwenden.

§ 2. Für alle nach § I unter das Gesetz fallenden Frauenspersonen soll die Dauer der regelmässigen Arbeitszeit nicht mehr als elf Stunden, an »len Vorabende« von Sonn- und Festtagen nicht mehr als zehn Stunden betragen.

Diese Arbeitszeit muss in die Stunden von 6 Uhr morgens bis S Uhr abends verlegt werden. Um die Mitte «1er Arbeitszeit soll eine Pause von mindestens einer Stunde stattfinden:

Die Arbeit an den Sonntagen ist untersagt.

Vorübergehende Verlängerung der Arbeitszeit über die in lemma I und 2 fest- gesetzte Dauer bis spätestens elf Uhr abends kann ausnahmsweise durch das De- partement des Innern bewilligt werden.

Wenn die Arbeitsvcrlängerung für einen Zeitraum von mehr als zwei Wochen begehrt wird, so kann dieselbe nur vom Regierungsrate bewilligt werden ; ebenso wenn die erteilten Bewilligungen im Zeitraum von zwei Monaten im ganzen mehr als drei Wochen betragen.

Von dieser Bewilligung sind in allen Fällen Mädchen unter r8 Jahren und Schwangere ausgeschlossen. Dieselben dürfen nach S Uhr abends zu keinerlei Dienst- leistung in Anspruch genommen werden.

Wöchnerinnen dürfen vor und nach ihrer Niederkunft im ganzen während $ Wochen nicht in den» Gewerbe beschäftigt werden. Ihr Wiedereintritt ist an den Ausweis geknüpft, dass seit ihrer Niederkunft wenigstens 6 Wochen verflossen sind.

Frauenspersonen sind für bewilligte Arbeit nach dem gesetzlichen Feierabend be- sonders zu entschädigen und können nur mit ihrer Zustimmung dazu verwendet werden.

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Das Basclstiidtischc Gesetz betr. den Schutz der Arbeiterinnen.

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§ 3. Wo nicht durch schriftliche Uebereinkunft etwas anderes bestimmt wird, kann das Verhältnis zwischen dem Arbeitgeber und der Arbeiterin durch eine jedem 'Feile freistehende, mindestens vierzehn Tage vorher erklärte Kündigung aufgelöst werden und zwar jeweilen am Zahltage oder an einem Samstag.

Innerhalb dieser Zeit darf das Verhältnis von dem Arbeitgeber oder von der Arbeiterin einseitig nur aus wichtigen Gründen gelöst werden, über deren Vorhanden- sein der Richter nach freiem Ermessen entscheidet. (Art. 346 des Obl.-R.)

§ 4. Bussen dürfen nur ausgesprochen werden, sofern sic in einer Arbeitsord- nung angedroht sind ; sie sollen die Hälfte des Taglohnes der Gebüssten nicht über- steigen und sind im Interesse der Arbeiterinnen zu verwenden.

Lohnabzüge für verdorbene Arbeit sind nur zulässig, wenn der Schaden aus Vor- satz oder grober Nachlässigkeit entstanden ist.

§ 5. Die Räumlichkeiten, in welchen Arbeiterinnen beschäftigt sind, unterliegen in bezug auf sanitarische Verhältnisse der Aufsicht der zuständigen Behörde. 9.)

§ 6 Wenn es der Umfang oder die Natur des betreffenden Geschäftes recht- fertigen, können die unter dieses Gesetz fallenden Gewerbeinhaber durch die Fabrik- kommission ungehalten werden, über die Arbeitszeit, die Bedingungen des Ein- und Austritts und die Ausbczahlung des Lohnes eine Arbeitsordnung zu erlassen und im Arbeitslokal an sichtbarer Stelle anzuschlagen.

Diese Arbeitsordnungen unterliegen der Genehmigung des Departements des Innern. Im Falle von Anständen entscheidet der Regierungsrat.

§ 7. Zuwiderhandlungen gegen die Bestimmungen dieses Gesetzes werden nach § 37 des Polizeistrafgesetzes bestraft.

§ 8. Der Regierungsrat ist befugt, eine allfällig nötige Ausführungsverordnung zu erlassen.

§ 9. Die Durchführung dieses Gesetzes und die Vollziehung einer abfälligen Verordnung liegen dem Departement des Innern und der Fabrikkommission ob.

§ 10. Durch dieses Gesetz wird aufgehoben das Gesetz betreffend die Arbeits- zeit weiblicher Arbeiter vom 11. Februar 1884.

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MISZELLEN.

ZUR VERSTÄNDIGUNG ÜBER DIE BAUERN- BEFREIUNG IN PREUSSEN.

VON

G. F. KNAPP.

Herr N. Kablukow hat in der vorliegenden Zeitschrift (Hand I. Heft i, Seite 1S5 fg.) eine Besprechung meines Werkes über die Bauern- befreiung in Preussen (Leipzig, 1887) geliefert, die mich wegen des tiefen Eindringens in den schwierigen Gegenstand zu lebhaftem Danke verpflichtet, zumal da sie von einem Ausländer geschrieben ist.

Nur in bezug auf einen Punkt scheint mir der Beurteiler nicht ganz das Richtige getroffen zu haben.

Bekanntlich wurden die Privatbauem nach der Gesetzgebung von 1816 nur so weit zur Regulierung zugelassen, als sie spannfähig waren: die kleinen bäuerlichen Wirtschaften , welche nicht einmal Gespann hielten, verblieben in der herkömmlichen Verfassung, d. h. sie mussten nach wie vor die Dienste welche Handdienste waren für ihre Gutsherrschaft weiter leisten.

Hierüber sage ich im Rückblick: der Ausschluss der spannlosen Bauern von der Regulierung 1816 und von der Ablösung 1821 »ist nicht so streng zu beurteilen« wie andere bei der Gesetzgebung gemachte Ein- schränkungen. »Da einmal die grossen Güter bestehen blieben, konnten ihnen die Handdienste nicht auf einmal entzogen werden«. Hier liegt der Nachdruck ganz und gar auf den Worten : da einmal die grossen Güter bestehen blieben. Das Fortbestehen des herrschaftlichen Guts- betriebs ist bei den Domänenbauern und bei den Privatbauem eine Voraussetzung der Reform; nimmt man diesen Umstand als gegeben an, so folgt ohne Weiteres, dass die Gutsherrn auch Arbeitskräfte be- halten mussten. Dies wird von mir einfach festgestellt.

Nun könnte man aber sagen : warum hat man nicht damals leb- hafter an die Interessen dieser kleinen Leute gedacht: Wenn die

grossen Bauern dienstfrei werden sollten, warum nicht ebensogut die kleinen? Darauf antworte ich im Rückblick: »Die damalige Zeit hat eigentlich nur die wirklichen Bauern beachtet; was tiefer, als diese,

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Kntipß, Zur Verständigung über die Bauern- Befreiung in Preussen. 335

stand, bildete noch keinen Gegenstand der öffentlichen Aufmerksam- keit«. Der öffentlichen Aufmerksamkeit während allerdings die Gutsherrn sehr wohl wussten worum es sich handelte. Es ist eben eine höchst wichtige Thatsache , dass damals die kleinen Leute nicht im Vordergründe standen und man muss dies beachten, um nicht ungerecht zu urteilen. Erst nach 1848 ist hierin ein Umschlag ein- getreten.

Der Rückblick fährt fort: »auch fragt es sich, ob die Grundsätze der Entschädigung ... für die kleinen Leute überhaupt gepasst hätten«. Hiermit ist gemeint: ob Landabtretung, die damals hauptsächlich in Betracht kam, auch bei dem spannlosen Bauern zweckmässig gewesen wäre ; was blieb ihm von seinem geringen Besitz, wenn er einen Teil abtrat?

Aus allem Angeführten geht wohl klar hervor, dass ich nur er- klären will, wie die Sache damals lag. Es werden die Massregeln der Gesetzgebung keineswegs im Sinne gegenwärtiger Arbeiterfreundlich- keit, aber auch gewiss nicht im Geiste der gutsherrlichen Interessen beurteilt, sondern es wird versucht, die damals treibenden Kräfte und das Ergebnis ihres Zusammenwirkens klar zu stellen. Das ganze Werk ist von diesem morphologischen Gesichtspunkt beherrscht; es enthält durchaus nur Entwicklungsgeschichte.

Dies ist von Herrn Kablukow nicht genug gewürdigt. Er findet die oben mitgeteilten Urteile »sonderbar« und sagt (S. 188): »So sehen wir hier im geraden Gegensätze zu seiner ganzen Untersuchung den Verfasser in der Rolle eines Verteidigers der von den Gutsherrn ver- folgten Interessen*. Auf Seite 189 findet Herr Kablukow darin einen Widerspruch, dass ich die Nichtbeachtung der Interessen der kleinen Leute nach 1848 tadle, während ich für dieselbe Sache im Jahr 1816 kein hartes Wort finde; und nennt es »völlig unbegreiflich«, dass man zu diesem Mangel eine andere Stellung einnehmen solle, als zu andern Mängeln der Reform.

Vielleicht würde mein sonst so feinfühliger Beurteiler sich weniger hart geäussert haben, wenn er die Bedingungen einer geschichtlichen Darstellung mehr im Auge behalten hätte : jene Widersprüche sind nur für denjenigen Leser vorhanden, der die Dinge neben einander, statt hinter einander, sieht.

Aber dieser kleine Zwist verhindert mich nicht , anzuerkennen, dass Herrn Kablukows Besprechung vom Geiste der Gerechtigkeit ein- gegeben ist und dass man aus derselben besonders über russische Ver- hältnisse sehr vieles lernen kann.

Strassburg i. E. 2 2. April 1888.

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DIE UNGARISCHE FABRIKINSPEKTION IM JAHRE 1887*).

VON

Dr. E. R. J. KREJCSI.

IN BUDAPEST.

Die Fabrikinspektion in Ungarn, ist mit dem am 1. Oktober 1SS4 wirksam gewordenen Gewerbegesetz zur Einführung gelangt. Der § 121 dieses Gewerbegesetzes verpflichtet die Gewerbebehörden, die Fabriken mindestens vierteljährlich einmal durch hiezu ausgesandte Personen besichtigen zu lassen und sich über die Beobachtung der Verfügungen des Gesetzes Gewissheit zu verschaffen. Lieber das Resultat dieser Unter- suchungen ist dem Minister für Ackerbau, Gewerbe und Handel in je- dem Jahre mindestens einmal ausführlich Bericht zuerstatten und die Berichte selbst sind von der Regierung in entsprechender Form jähr- lich zu veröffentlichen. Als Beirat für jede Gewerbehörde erster In- stanz wurden, alljährlich 20 von Gewerbetreibenden zu wählende Ver- trauensmänner kreiert, welche selbst Gewerbetreibende und in der Hauptstadt nach einem Steuer-Zensus von 40 fl. eingeschätzt sein müssen. Neben vielerlei anderen Agenden wurde auch die Werk- stätten- und Fabrikinspektion den gewerbebehördlichen Vertrauens- männern überwiesen, welche den local authorities des englischen Gesetzes vom Jahre 1825 vollkommen analog sind.

Dem Einsichtigen war es sofort klar, dass der einfache Gewerbs- mann, der sein ganzes Leben im kargen Kampf ums Dasein verbringt, nie und nimmer jene Fülle von juridischen, hygienischen und tech- nischen Kenntnissen sich aneignen wird, welche zur Lösung der um- fangreichen Aufgabe des Fabrikinspcktorats erforderlich sind.

A. Matlekovics, Staatssekretär im Handelsministerium, der den gewerbebehördlichen Vertrauensmännern die Fähigkeit zuschrieb, dass »sie durch energische Geltendmachung des Gesetzes die mit der Arbeiterfrage in engem Konnex stehenden sozialistischen Bewegungen in Ungarn bannen können«, gab auch seiner Besorgnis in oberwähnter Richtung Ausdruck, meinte aber in seinem »über die Wirkungen des Gewerbegesetzes« in der ungarischen Akademie anfangs 1887 gehal-

1) Bericht über die im Jahre 18S7 durchgeführten ungarischen Fabrikinspcktioo«1 llerausgegeben vom k. »ingar. Ackerbau-, Gewerbe- und Handelsministerium. (Gn- garisch.) Budapest, 1888, 158 S.

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Krtjcsi, Die ungarische Fabrikinspcktion.

tenem Vortrage, dass »durch übermässiges auf den Schutz der Arbeiter abzielendes Eingreifen des Staates das Kapital von der industriellen Veranlagung sehr leicht abgeschreckt werden könnte; übrigens meint er weiter werden sich die Vertrauensmänner in ihre Aufgabe mit der Zeit einarbeiten, und wenn aus der Zentrale (dem Handelsmini- sterium) administrativ und technisch gebildete Beamte, vielleicht die gewerblichen Referenten mit irgend einem Professor der Technik, einem Fabrikdirektor oder mit den, wenn auch in anderer Richtung thätigen Gewerbeinspektoren die industriellen Gegenden des Landes bereisen und mit den Vertrauensmännern die Fabriken besuchen, dann können diese nicht nur entsprechende Erfahrungen sammeln und dem Ministerium genügende Berichte erstatten, sondern auch die Vertrauens- männer unterweisen, wodurch die Kontrolle für die Zukunft ins richtige Fahrwasser geleitet werden kann«.

Nachdem sich die gewerbebehördlichen Vertrauensmänner vollkom- men unfähig erwiesen hatten, ihrer Aufgabe zu entsprechen, und deren Be- richte so mangelhaft waren, dass dieselben in den Jahren 1884 1886 nicht einmal veröffentlicht werden konnten, wurden im Mai des vorigen Jahres unsere sogenannten Gewerbeinspektoren zur Fabrikinspektion delegiert.

Diesen drei Gewerbeinspektoren, welche sich bisher in einzelnen Gegenden des Landes um die Hebung des Hausfleisses (Textilarbeiten) und des gewerblichen Fachunterrichtes bemüht hatten, wurden nun Bezirke zugewiesen, so dass A. Rejtö im Gebiete der Budapester, L. Binder im Kreise der Kronstädter und Klausenburger, Z. Peterffv aber im Bezirke der Pressburger Handelskammer unter der Leitung des Ministerialrates Dr. J. Schnierer, der den Fünfkirchener und Fiumaner Kammerbezirk übernahm, die Agenden der Fabrikinspektion zu be- sorgen haben.

Um nun am Schlüsse des Jahres 1887 einen Bericht erscheinen lassen zu können, haben die Gewerbeinspektoren mit anerkennens- wertem Eifer gearbeitet und deren Publikationen bieten trotz mancher unangenehm bemerkbaren Lücken, welche aber ohne Zweifel in den Schwierigkeiten des Anfangs ihre Erklärung finden eine solche Fülle des interessantesten Materiales zur Beleuchtung der sozialen Ver- hältnisse der arbeitenden Klasse Ungarns, wie wohl kaum eine andere offizielle Publikation dieses Landes.

Die Form der Veröffentlichung ist im Allgemeinen glücklich ge- wählt; die Einzelberichte wurden vollständig abgedruckt und mit einer Einleitung des Chef-Inspektors der Oeffentlichkcit übergeben. In der Einleitung vermissen wir jedoch die kritische Bearbeitung einzelner wichtiger Punkte; die zusammenfassenden statistischen Tabellen, welche die Uebersichtlichkeit vermitteln, werden erst fürs kommende Jahr in Aussicht gestellt, und eine eingehende Bearbeitung des in den Einzeln- berichten enthaltenen Materials nach wichtigen, prinzipiellen Gesichts-

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Miszellen.

punkten fehlt gleichfalls. In dieser Einleitung wird der Zweck und die Aufgabe der Fabrikinspektion und an der Hand eines vom Ver- fasser dieser Mitteilungen im Frühjahr 1887 gehaltenen öffentlichen Vor- trags die Schwierigkeit entwickelt, welche aus der im Gewerbegesetz vollständig mangelnden Definition des Begriffes »Fabrik« und »Werk- stätte« für die praktische Ausführung der Inspektion sich ergeben. Die Inspektion wurde auf jene Industrie-Unternehmungen ausgedehnt, welche 1) mit Elementar- (Dampf-, Wasser-, Gas-, Luft-jKraft betrieben werden, oder 2) wo zwar ein Motor nicht benützt, aber wie in den Glas-, che- mischen, oder Zündholzfabriken aus der Natur der zu verarbeitenden Materialien Gefahren entstehen können, endlich 3) wo infolge der grösseren Arbeiterzahl oder des ausgedehnten Betriebes die Aufsicht des Staates wünschenswert erschien. Besucht wurden in den 5 In- spektionsbezirken während des Zeitraumes von 6 Monaten 492 Fabriks- Etablissements; in diesen waren beschäftigt 5 t 750 Arbeiter, von diesen gehörten 38172 (73.7 "/•) dem männlichen, 13578 (26.3 “/») dem weib- lichen Geschlechte an. Erwachsene waren 47148 (91.2 0 «). 367* (7.1 7») jugendliche Arbeiter von 14 16 Jahren, 860 (1.6 7o) Kinder von 12 14 Jahren, unter 12 Jahren wurden 65 (0.1 °/o) angetroffen.

Die Inspektoren wurden überall mit der grössten Zuvorkommen- heit behandelt, die Arbeiter dagegen verhielten sich reserviert, und die Fälle, in welchen diese den Fabrikinspektor mit Beschwerden auf- suchten und auf Unzukömmlichkeiten aufmerksam machten , sind sehr selten. Die Haltung der Arbeiterschaft ist für die Entwicklung dieser Institution von ungleich grösserer Wichtigkeit als jene der Unter- nehmer; wollen unsere Fabrikinspektoren das für ihre gedeihliche Wirksamkeit unerlässliche Vertrauen der Arbeiter gewinnen, dann müssen sie sich vom Einfluss und der Begleitung der Fabrikleiter bei ihren Rundgängen emanzipieren, sie müssen in ihrem Auftreten volks- tümlich sein und dem Arbeiter die Ueberzeugung beibringen, dass sie dessen Anwälte sind, welche auf jede Vorstellung bereitwillig eingehen, und dem Klageführenden selbstverständlich die Geheimhaltung des Namens zusichern.

Nach § 1 1 5 des Gewerbegesetzes dürfen Kinder unter 1 o Jahren überhaupt nicht, unter 12 Jahren nur mit Erlaubnis der Gewerbebe- hörde, Kinder mit 14 resp. 16 Jahren nur während einer gewissen Arbeitszeit und während der Nacht überhaupt nicht in den Fabriken verwendet werden. Der Bericht konstatiert, dass gegen diese Be- schränkung zumeist die Glas- und Zündhölzchen-Fabriken verstossen, und obwohl die Kinder in letzteren vornehmlich bei der Verpackung beschäftigt werden sollen, so ist dieses nur wenig tröstlich, wenn man weiss, wie leicht gerade die jugendlichen Hilfsarbeiter von einer Be- schäftigung zur andern geworfen werden können. Die Beschäftigung bei den glühenden Schmelzöfen der Glashütten, das Herausnehmen

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Kre/esi, Die ungarische Fabrikinspektion.

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der getunkten und getrockneten Zündhölzer aus dem Rahmen erregt ernste Bedenken, weil hier Gefahren für die körperliche Entwicklung, für die Gesundheit und das Leben der jugendlichen Hilfskräfte ob- walten, ohne dass jene Gefahren, durch etwaige vom Fabrikinspektor veranlasste prophylaktische Einrichtungen behoben oder wesentlich verringert werden könnten.

Die Arbeitszeit beträgt zumeist 12 13 Stunden, in welche die gesetzlich fixierten Arbeitspausen eingerechnet sind; die nachmit- tägige halbstündige Pause wird jedoch in der Hauptstadt in der Regel nicht eingehalten, weil die Arbeiter angeblich die Arbeitszeit um die- selbe abzukürzen trachten. Hier sollten die Inspektoren im Interesse der Arbeiter auf strenge Fanhaltung des Gesetzes dringen, denn die Abspannung lähmt die Aufmerksamkeit und ein, wenn auch nur durch kurze Ruhe erquickter Körper, ist geschmeidiger und bewahrt den Arbeiter besser vor Gefahren. Der kontinuierliche Betrieb der Mühlen, Spiritus-, Malz-, Papierfabriken und Bierbrauereien, welche auch Nacht- arbeit erheischen, lassen nach Meinung des Chef-Inspektors Arbeits- pausen nicht zu. Der Lohn beträgt in den oberungarischen und siebenbürgischen Komitaten durchschnittlich 40 70 Kreuzer, in der Hauptstadt schwankt derselbe zwischen 70 Kr. bis 1 11. 20 kr. Die Frauen- und Kinderarbeit wird natürlich noch geringer bezahlt. Der lahreslohn variiert sonach in der Provinz zwischen 130 und 230, in der Hauptstadt zwischen 230 und 380 Gulden ; Meister Schmalhans ist da- her ständiger Gast, und obzwar uns keine Haushaltungsbudgets zur Verfügung stehen, müssen wir trotz der rosigen Stimmung des Berichtes doch sagen, dass die ungarischen Arbeiter fortwährend mit Not, F'nt- behrung und Hunger ringen. Mit einer gewissen Genugthuung kon- statiert der Bericht, dass unmotivierte Lohnabzüge nicht vorgekommen sind. Diese Mitteilung vermögen wir nur mit Reserve aufzunehmen, da sie sich nicht auf Aussagen von Arbeitern stützt. Der Chef- Inspektor bedauert, dass die Hausbau-Verbände der Arbeiter, durch welche sie für ihr Erspartes eigene Häuser und eine gewisse Unabhängigkeit erringen könnten, nicht Wurzel zu fassen vermögen ; wir betrachten es dagegen als ein Symptom instinktiver gesunder Auffassung unserer Ar beiter, dass sie sich nicht an die Scholle fesseln und ihre Freizügig- keit und Aktionsfähigkeit dem Unternehmer gegenüber bewahren. Für die Verhütung von Unfällen scheint zu wenig zu geschehen. Die Schwung- und Zahnräder, die Transmissionen sind nur in seltenen Fällen mit genügenden Schutzvorrichtungen versehen, ebenso ist es bei den Kreissägen. Die Ventilation ist nach dem Bericht in den grösseren Fabriken entsprechend, insofern durch Fenster oder andere Oetfnungen genügend Luft zugeführt wird, in Betrieben aber, wo die Luft mit Holz-, Knochen- oder Ilornstaub geschwängert ist, zumeist Exhaustoren an- gebracht sind. Die richtig durchgefuhrte Ventilation ist eines der

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Miszellen.

schwierigsten Probleme, und bevor in dieser Richtung ein Urteil ge- sprochen wird, müssten die Fabrikinspektoren über die Luftraumver- hältnisse jedes einzelnen Fabriketablissements im Klaren sein. Eine Einsicht in den thatsächlichen Stand der Ventilation, kann nicht durch den einfachen Besuch oder mit Vermittelung des Geruchsorgans, son- dern nur dann gewonnen werden, wenn mit Zugrundelegung des Luft- minimums von 15 Kubikmetern für jede Person die Lu ft Volu- mina der Arbeitsstätte mit Abschlag des durch die in den Fab- riken aufgestellten Maschinen eingenommenen Raumes berechnet werden, abgesehen davon, dass auch der Wärme- und Feuchtig- keit sgrad der Luft beobachtet werden sollte, was bisher nicht ge- schehen ist. Die in den letzten 10 Jahren vorgekommenen Unfälle wurden, soweit dies möglich war, ermittelt und in Verzeichnissen na- mentlich angeführt; einen Teil dieser Unfälle, schreibt der Bericht jenem grenzenlosen Leichtsinne zu, mit welchem unsere Arbeiter jeder Gefahr gegenübertreten, ein weit grösserer Teil wird aber auf Rech- nung des unmässigen Genusses von Spirituosen gesetzt, welche An- nahme auch dadurch bestätigt werden soll, dass die meisten Unfälle angeblich auf den Montag fallen, an welchem Tage die Arbeiter in trunkenem Zustand an die Arbeit gehen sollen. Diese Erklärung, welche durch Thatsachen nicht begründet wird, können wir nur mit Vorbehalt aufnehmen. Die im Auslande ermittelten statistischen Daten haben erwiesen, dass die meisten Unfälle auf den Donnerstag und Freitag, also auf den Schluss der Woche fallen, die wenigsten aber am ersten Arbeitstag, am Montag, vorzukommen pflegen. Der un- mässige Alkoholgenuss hat bei den landwirtschaftlichen Arbeitern und Bauern schreckenerregende Dimensionen angenommen, aber die Trunk- sucht unserer industriellen und gewerblichen Hilfsarbeiter ist wohl eine der vielen konventionellen Unwahrheiten, welche vielleicht nirgends so sehr als bei uns üblich sind; als Beweis diene, die von der Buda- pester Allgemeinen Arbeiter - Kranken und Invalidenkasse verfasste statistische Tabelle, über die im Jahre 1886 vorgekommenen Erkrank- ungen, laut welcher von 40 000 überwiegend in industriellen Betrieben beschäftigten Mitgliedern bloss 25 d. i. 0.06 % Alkoholvergiftungen vor- gekommen sind.

Der allgemeine Zustand der arbeitenden Klasse Ungarns stellt sich nach den Berichten als ein sehr trauriger dar. In den Krön- Städter, Schässburger und Hermannstädter Textilfabriken finden sich recht eigentlich noch mittelalterliche, in die kapitalistische Produk- tionsweise hineinragende .Arbeiterverhältnisse ; dort werden meistens Szekler und Rumänische Mädchen beschäftigt, die als Dienstmägde bei ganzer Verpflegung 10 50 Gulden Jahreslohn erhalten. In noch schlimmerer Lage befinden sich die Glashüttenarbeiter ; dieselben wer- den übergeben und übernommen mit samt den an ihnen haftenden

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Krejcsi, Dir ungarische Falrikinsptktion. ^4!

Schulden, welche sich durch Reisevorschüsse und durch die vom Unter- nehmer gelieferten Werkzeuge noch bedeutend steigern, weiters werden dieselben mit Wohnung und Nahrungsmitteln versehen, endlich ist der Unternehmer auch der Besitzer des Schankregales ; all dies bereichert den Fabrikanten, zeitigt aber auch solche Zustände welche an die haarsträubenden Verhältnisse des Tommy-Systems in F.ngland erinnern.

Die desolatesten Zustände sind im Kronstädter Bezirk zu finden, hier schwankt die Lohnhöhe zwischen 10 Kreuzer und 1 11. 80 Kreuzer; Arbeiterschutz ist fast unbekannt.

Die Wo h n u ngs ve r 1 1 n iss e sind im Allgemeinen nicht be- friedigend; in der traurigsten Lage befinden sich jedoch die Arbeiter in den hauptstädtischen Spiritus-Fabriken, in welchen fast ausschliess- lich unsere billiger arbeitenden Oberländer, die Slowaken beschäftigt werden; in einem grösseren Raum werden die Bretter eines Gerüstes mit Stroh oder Strohsäcken belegt und ein grober Kotzen dient zum Zudecken , hier schlafen, hier wohnen die Arbeiter ; Bett- oder Wasch- zeug sind unbekannt und die Ventilation und Reinlichkeit dieser Räume lässt alles zu wünschen übrig.

Der Chefinspektor bezeichnet zur Behebung der Mängel vor allem die folgenden Einrichtungen als notwendig: 1) Dass bei den Verhand- lungen jeder einzelnen Fabriksbaulizenz der Fabrikinspektor ange- hört werde, im Falle aber seine Bemerkungen übergangen werden, ihm das Appellationsrecht gewahrt sei. 2) Dass der Fabrikeigentümer bei Androhung einer Geldstrafe verpflichtet sei, die in der Fabrik vor- kommenden Unfälle sofort der Polizei anzuzeigen , damit diese bei Verhandlung des Unfalles, oder mindestens nachträglich den Inspektor benachrichtigen könne.

In der Schweiz wird jeder Plan einer neuen F'abrik dem Inspektor zugesendet, der denselben begutachtet und die notwendigen Verbes- serungen vorschlägt. Der entsprechende Wunsch des Chefinspektors ist daher im Interesse der Arbeiter-Hygiene unanfechtbar. Die Meldepflicht ist gewiss auch ein unentbehrliches Moment für eine erspriessliche In- spektion, nur wünschen wir, dass der Fabrikinspektor sofort direkt und nicht im Wege der Polizei verständigt werde, da sehr oft W'ochen ja Monate vergehen können und der Inspektor dann ausser Stand ge- setzt ist, die einzelnen Umstände zu erforschen und ein fachmännisches Urteil abzugeben.

Jene beiden Forderungen können uns aber nicht ganz befriedigen. Nachdem die gewerbebehördlichen Vertrauensmänner ähnlich den eng- lischen local authorities und den preussischen Lokalkommissionen, sich vollkommen unfähig erwiesen haben, wäre es vor Allem nötig, dass die Fabrikinspektion, welche neben den Inspektoren auch heute noch von den Vertrauensmännern ausgeübt wird, zur selbständigen Institution erhoben und derselben auch die Beaufsichtigung der Werk-

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Miszellen.

Stätten zugewiesen werde, da ja in den Kleinbetrieben manche der in den Fabriken herrschenden Unzukömmlichkeiten in bedeutend schärferer Weise hervortreten.

Ferner wünschen wir, dass diesen, wir möchten sagen, mündig gewordenen Fabrikinspektoren, alle eine Förderung des Hausfleisses bezweckenden Agenden und die daraus resultierenden bureaukrati- schen Aufgaben abgenommen werden , denn die Fabriks- und Werk- stätten-Inspektion stellt grosse Anforderungen und erfordert den ganzen Mann; weiters sollten denselben, ähnlich den englischen Juniors, Hilfs- kräfte zugeteilt werden, damit diese in den Dienst eingeführt, den In- spektor in Krankheits- oder Urlaubsfällen vertreten können.

Die Berichte bezeugen, dass unsere Fabrikinspektoren mit grossem Eifer an ihre Aufgabe herangetreten sind; dennoch sind wir erst am Anfänge des Anfanges. Wird das Fabrikinspektorat in der angedeuteten Weise organisiert und weiter entwickelt, gelingt es den Fabrikinspek- toren das Vertrauen und die Mitwirkung der Arbeiterschaft zu erringen, dann werden sie über Arbeiterwohnungen, über Lohnverhältnisse, über die Dauer des Arbeitstages, über die Kinderarbeit und alle anderen sozial- ökonomischen Verhältnisse das wertvollste statistische Material zu Tage fördern, zu einer ständigen Enquete für soziale Verhältnisse werden und eine zweckentsprechende, volkstümliche soziale Gesetz- gebung vorbereiten können.

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LITTERATUR.

Bairnrtither, J. M., Die englischen ArheitenierUinde und ihr Recht, i. Bd. Tübingen, Laupp, 1886. XII u. 450 S.

Das vorliegende Buch ist ein guter Spiegel der englischen Arbei- terbewegung im letzten Jahrzehnt. Die Darstellung der Thatsachen, die es gibt, entspricht meist den wirklichen Verhältnissen. Die Raison- nements, die Baernreither daran knüpft, entsprechen dem Gedanken- gang des jetzigen englischen bürgerlichen Radikalismus. Die Wider- sprüche im Buch geben nur den Widerspruch wieder, in dem die Dok- trinen und Illusionen der liberalen Arbeiter und ihrer Freunde in F.ng- land zur Wirklichkeit stehen.

Als der Freihandel in Grossbritannien zur Herrschaft kam und dieses Land eine ganz einzige Stellung auf dem Weltmarkt erlangte, als die ärgsten Misstände des Fabriksystems durch das Zehnstundengesetz beseitigt wurden, ein grosser Teil des unzufriedenen Proletariats durch die Entdeckung der Goldfelder in Kalifornien und Australien aus Eng- land gelockt wurde, da begann in den oberen Schichten der englischen Arbeiterklasse der Groll gegen das Kapital sich zu legen ; als ihre Ge- werkschaften unter den ausnahmsweise günstigen Bedingungen wuchsen, Siege errangen und anfingen , von den Kapitalisten respektiert zu werden, um schliesslich 1871 gesetzlichen Schutz zu finden, als den besser bezahlten städtischen Arbeitern die Hoffnung winkte, das Wahl- recht zu erhalten, das ihnen schliesslich 1867 auch zu teil wurde, da begannen sich diese zu fühlen, nicht als die >Preisfechter der Arbeiter- klasse«, die sie in der Chartistenzeit gewesen, sondern als respektable Mitglieder der Gesellschaft , als Mitglieder einer privilegierten Klasse, die den andern privilegierten Klassen näher standen, als dem »Pöbelt. Diejenigen, die durch die Natur der Sache bestimmt waren, die Führer und Vorkämpfer des Proletariats zu sein, gingen zum Feind über und fraternisierten mit ihm.

Bis in die fünfziger Jahre hatte die Bourgeoisie Europas nur mit Schrecken und Abscheu auf die englischen Arbeiter, diese »Revolutionäre und Kommunisten! gesehen. Seit den sechziger Jahren, seitdem die Sozialdemokratie auf dem Kontinent immer stärker anwuchs, wurden sie ihre Musterknaben. Der Liberalismus glaubte den Beweis geliefert, dass eine dauernde Harmonie zwischen Kapital und Arbeit möglich

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l.itferatur.

sei und erklärte triumphierend , dass die Arbeiterklasse »besonnen* und »Utopien« unzugänglich werde, sobald man ihr die nötige Frei- heit und Selbstverwaltung gebe.

Diess ist auch der Standpunkt Bacrnreithers. Zu seinem Unglück kommt er mit seiner Darstellung etwas zu spät , zu einer Zeit wo die Anzeichen sich mehren, dass die »Besonnenheit« der englischen Ar- beiter nicht ein Produkt der Freiheit und der »ethischen« Auffass- ung der Arbeiterverhältnisse seitens der Bourgeoisie sondern ausnahms- weiser ökonomischer Zustände gewesen ist und mit diesen zu ver- schwinden droht. Baernreither ist aber ein guter Beobachter, er ar- beitet nicht nach der Schablone, er sieht die drohenden Anzeichen und verzeichnet sie ; um seinen Standpunkt zu retten, bleibt ihm dann nichts übrig, als sie zu unterschätzen oder falsch zu interpretieren Daher die Widersprüche, die wir Eingangs erwähnt. Sie sind in ge- wissem Sinne ein gutes Zeichen. Als Liberaler konnte er die Dinge kaum anders auffassen, als er sie auffasst; aber die Meisten hätten an seiner Stelle die unbequemen Thatsachen gar nicht gesehen oder doch nicht mitgeteilt. Dadurch wären sie den Widersprüchen entgangen, sie hätten der Kritik weniger Blossen gegeben, aber das Buch hätte für denjenigen, der lernen will, dem es um die Kenntnis der That- sachen zu thun ist und der daraus sein eigenes Urtheil bildet, an Wert entschieden verloren. Fis wäre eine liberale Agitations- schrift geworden ; in seiner jetzigen Form ist es dagegen eine aner- kennenswerte wissenschaftliche Leistung eines Liberalen, mit deren Standpunkt die Nicht-Liberalen natürlich nicht übereinstimmen, aus der aber Jeder, auf welcher Seite immer er stehen möge, Nutzen ziehen wird, sobald er nach wirklicher .Aufklärung sucht.

Wir dürfen erwarten, dass der zweite Band noch besser werden wird. Nicht nur ist dessen Thema ein viel wichtigeres die Trades Unions, indes der erste Band bloss die Friendly Societies behandelt die neuere, antiliberale, sozialistische Entwicklung der englischen Ar- beiterklasse wird auch bis zu seiner Fertigstellung so weit gediehen sein, dass über ihre Bedeutung kein Zweifel mehr möglich sein wird. Wie immer Baernreither sie mit seinem Standpunkt vereinbaren mag. unterschätzen wird er sie nicht mehr.

Der interessanteste aber auch anfechtbarste Teil des ersten Ban- des ist die Einleitung, eine kurze Übersicht der Elemente, welche die englische Arbeiterklasse zu dem gemacht haben, was sie ist. Bam- reither weist in dieser Fiinleitung selbst darauf hin, dass die »staunens- werten Fortschritte« der englischen Arbeiter in den letzten Dezennien auf deren oberste, bestbezahlte und gebildetste Schichten« beschränkt sind. Mit Recht macht er auch die Bemerkung, dass gerade die Zahl der ungelernten Arbeiter »wenigstens in einigen Gewerben relativ zu- genommen hat.« Für diese ist aber der »staunenswerte Fortschritt«

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Paernreither, Die englischen Arheiterverhände und ihr Recht. 345

der letzten Dezennien so gut wie gar nicht vorhanden. Ja, ihre Lage ist seit einigen Jahren in beständiger Verschlechterung begriffen. Unter ganz ausnahmsweise günstigen Umständen, wie sie nie wieder- kehren werden , waren weder die Freiheit und Selbstverwaltung noch die von Baernreither so viel gerühmte »ethisches Auffassung des Ver- hältnisses zwischen Arbeit und Kapital eine Auffassung , nebenbei bemerkt , die in England nur als rhetorische Phrase existiert im Stande, die Ve r eien d igu n g eines grossen, vielleicht des grössten Teils der englischen Arbeiterklasse aufzuhalten. Unter diesen Umstän- den ist es keineswegs gerechtfertigt, von der englischen Arbeiteraristo- kratie als von »den englischen Arbeitern* zu reden und ihre Errungen- schaften als Errungenschaften der Arbeiterklasse hinzustellen. Baern- reither meint freilich (p. 134 fg.), was die englische Arbeiteraristokratie für sich erlangt, komme der ganzen Arbeiterklasse zu gute; in Wirk- lichkeit war aber eines der Mittel, durch das jene sich auf eine höhere Stufe schwang, die rücksichtsloseste, ganz und gar nicht »ethische« Niedertretung ihrer schwächeren Genossen. Eines der Mittel, durch welches gerade die mächtigsten und der Bourgeoisie am freund- lichsten gesinnten Trades Unions die Lage ihrer Mitglieder verbesserten, bestand darin, dass sie ihre Gewerbe förmlich zu geschlossenen mach- ten, die Aufnahme neuer Arbeiter in dieselben möglichst beschränkten. Sie hielten die Löhne in ihren Gewerben hoch dadurch, dass sie die Massen der Arbeiter davon fern hielten und sie zwangen, ohnehin schon schlecht bezahlte Arbeitszweige zu überfüllen und die Löhne dort noch tiefer herabzudrücken.

Es ist wahr, seit einigen Jahren mehren sich die Stimmen in den Trades- Unions, die diese als Vorkämpfer der gesamten Arbeiter- klasse bezeichnen. Aber diejenigen, die darauf hinweisen, gehören gerade zu jenen Elementen, die die traditionelle Politik der Trades Unions Umstürzen und an ihre Stelle eine mehr sozialistische setzen wollen, eine Politik, gegen die Baernreither die englischen Arbeiter so gefeit glaubt. Und die Elemente , welche in den Trades Unions den Klassenstandpunkt gegenüber dem bisherigen engherzigen aristo- kratischen Standpunkt vertreten, werden um so mächtiger, je unzu- reichender sich der herkömmliche Trades Unionismus erweist, auch mir die Interessen der Arbeiteraristokratie zu wahren. Kurz, die Ar- beiterverbände nehmen den Character, den Baernreither ihnen zuschreibt, in dem Masse immer mehr an, je problematischer die Errungenschaften ■werden, derenthalben er sie preist.

Der ausnahmsweise günstige Zustand, der diese Errungenschaften allein möglich machte, das Monopol des Welthandels für England, ist eben vorbei. Baernreither sieht freilich die kommerzielle Lage Eng- lands keineswegs in düsterem Lichte; aber diess ist nur möglich, weil er die Fata morgana für reell hält, durch die so mancher englische

Archiv für tos. Gesct/gbg u. Statistik. I.

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Politiker sich zu trösten sucht: »Die ungünstigen Zeichen« des kom- merziellen Ausblicks »verschwinden«, sagt er, »wenn wir den bisher nur auf Grossbritannien gerichteten Blick auf Greater Britain lenken«, auf das grössere Britannien, das die halbe Welt umfasst, auf England mit seinem riesigen Kolonialreich. Die Kolonien sollen Englands Handel und Industrie retten, sollen Beschäftigung für seine Arbeits- losen, Märkte für seine Industrieprodukte liefern.

Indessen wird heute schon offiziell eingestanden, dass auch in den Kolonien die Arbeitslosigkeit immer mehr um sich greift; sie bieten noch ziemlich gute Aussichten für Farmer mit (mindestens) einiger, hundert Pfund Kapital, nicht aber für Lohnarbeiter, am allerwenigsten für industrielle und kommerzielle Arbeiter.

In den Kolonien werden aber die Emigranten nur zum Teil Kon- sumenten englischer Produkte, auf jeden Fall aber werden sie Produ- zenten und Konkurrenten Englands. Die Emigration aus Gross- britannien in das »grössere Britannien« hat nicht zum mindesten bei getragen , jene überseeische Lebensmittelkonkurrenz zu erzeugen, die heute die englischen Landarbeiter zu Hunderttausenden freisetzt und sie in die Städte drängt, wo sie die Reihen der ungelernten Arbeiter anschwellen , deren Löhne herabdrücken und das Elend der Arbeits- losigkeit ins Grauenhafte steigern. Von dieser Seite des »Greatei Britain« hat Baernreither merkwürdigerweise nichts gesehen.

Ebensowenig wie die Arbeitslosigkeit wird die Überpro duktion durch die Kolonien kuriert. Die Zahlen die Baernreither selbst gibt, sind nicht allzu hoffnungsreich. Kr weist freilich darauf hin, dass der Wert des Exports britischer Erzeugnisse nach sechs «1er wichtigsten Staaten des Auslands von 1.870 1883 nur um 4 7„ gestiegen

sei, dagegen der Export solcher Produkte nach den wichtigsten eng lischen Kolonien um 70 Nur Schade, dass der Höhepunkt diese» Aufschwungs am Anfang und nicht am Ende dieser Periode steht. Der Wert des Exports britischer Produkte nach Indien, Australien, Kanada. Capland uml Hongkong betrug

1870 44,450.000 4\ 1880 68,720.000 4'.

1875 64,270.000 » 1884 73,800.000 »

Die Zunahme von 1870 bis 1875 betrug 44.570, dagegen von 1875 bis 1S80 nur 7 . ; und ebensoviel von t88o bis 1884. Der Export nach

Indien und Hongkong ist in den letzten Jahren ziemlich konstant ge- blieben. Er betrug 1880 37,470.000 4'., 1884 37,160.000 4'; der nach dem Capland hat erheblich abgenommen; er betrug 1880 6,620.000 T, erreichte sein Maximum 1882 mit 7,490.000 4'. und fiel 1884 auf 4,100.0002. Die Ausfuhr nach Kanada hat sich nur wenig gehoben, und ist seit 1882 in ständigem Rückgang: 1880 7,700.000 4'., 1881 8.410.000, 1S8: g, 690.000 , 1883 9,150.000, 1884 8,650.000; somit bleibt als einziger Retter in der Not Australien. Aber auch da zeigt sich nach rapi-

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Raernreither, Die englischen Arbeiten’erhäntle und ihr Recht. 34.7

der Zunahme von 1882 an ständiger Rückgang: 1880 16,930.000 g", 1881 21,370.000, 1882 25,360.000, 1883 24,210.000, 1884 23.890.000 S.

Das ist wohl nicht sehr ermutigend. Von einem wesentlichen Fortschritt des Absatzes ist keine Rede; das »Mutterland« hat alle Mühe, das einmal gewonnene Terrain zu behaupten. Und Niemand weiss, wie lange das gelingen wird. Die Baumwollindustrie Indiens macht bereits I.ancashire in Asien ernstliche Konkurrenz, andere Ko- lonien, z. B. Victoria, haben Dank ihrer Schutzzölle bereits eine er- hebliche einheimische Industrie entwickelt, und sie zählen sich zu dem Greater Britain« nur so lange, als ihnen und nicht dem Mutterlande daraus Vorteile erwachsen. In Kanada gewinnt die Idee einer Zoll- union mit den Vereinigten Staaten immer mehr an Boden.

Die Kolonien werden also Englands Verlust des Welthandelsmo- nopols nicht wett machen.

Baernreither sieht in den englischen Arbeiterverbänden »Institu- tionen , die der arbeitenden Klasse einen steigenden Anteil an den Kulturfortschritten ihrer Zeit zu sichern bestimmt sind«. In Wirklich- keit haben diese Verbände, wie erwähnt, nicht zu Gunsten der »arbei- tenden Klasse« sondern nur eines B ru c h t e i 1 s derselben gewirkt, und sie haben den Anteil an den Kulturfortschritten, den sie diesem Bruch- teil errungen, keineswegs »gesichert«. Endlich haben aber auch keines- wegs alle englischen Arbeiterverbände in dieser Richtung gewirkt, ('■ar viele von ihnen sind für die Entwicklung bedeutungslos geblieben.

Baernreither teilt die Arbeiterverbände, welche »die Stellung der Arbeiter gegenüber dem Kapital so sehr verstärkten , dass ihr Anteil am Nationalgewinn (!) grösser ausficl als bisher«, und welche sich »zu wahren Selbstverwaltungskörpern erhoben haben«, in drei Gruppen: 1. Friendly Societies, 2. Trades Unions, und 3. Cooperative Societies. Ihr Zusammenwirken vor Allem »hat den Fortschritt der arbeitenden Klassen in England bedingt und wird ihn noch weiter bedingen.«

Wie bereits erwähnt, wird in vorliegendem Bande nur die erste Gruppe dieser Verbände behandelt, die der Friendly Societies. Wir können diesen auch nicht einmal für die Arbeiteraristokratie und auch nicht einmal fiir die Zeit des Welthandelsrnonopols Englands, geschweige denn für die gesamte Arbeiterklasse und für die Zukunft jene Bedeu- tung zumessen, die ihnen Baernreither gibt.

Die Friendly Societies sind eine Ergänzung der Armenunter- stützung, sie sind nicht Mittel, die Klassenlage der Arbeiter zu heben, sondern die Gesellschaft von ihren Verpflichtungen gegen die Arbeitsunfähigen zu entheben.

Die öffentliche Armenunterstützung Englands wird in einer so ent- ehrenden, schmachvollen Form verabreicht, dass sie dem Aufenthalt im Zuchthaus nahezu gleichkommt. Wie Baernreither d azu kommt, von einem »durch die Armen Verwaltung der Gegenwart denn doch in er-

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Litteratur.

träglicher Form gereichten Subsistenzminimum« zu sprechen, ist uns unerfindlich. Dieser »erträglichen Form« ist es wohl zuzuschreiben, dass, wie noch jüngst wiederholt konstatiert worden, ehrliche Arbeiter, die keine Beschäftigung finden, lieber verhungern oder sich umbringen, als sich der Infamie des Workhouse aussetzen.

Ist die öffentliche »VVohlthätigkeit« abschreckend, so ist die pri- vate der oberen Gesellschaftsschichten unzuverlässig, launenhaft und absolut unzureichend. Baernreither spricht mit Bewunderung von den »auf rein private Mittel angewiesenen englischen VVohlthätigkeitsan- stalten, Charities, die getragen durch die persönliche Mitwirkung der mittleren und oberen Klassen und gestützt auf bedeutende Geldmittel, trotz mancher Mängel der Verwaltung, die ihnen ankleben, ein grosses Werk christlicher Barmherzigkeit verrichten.« Schade, dass diese so zart angedeuteten »Mängel der Verwaltung« bei diesen »Werken christ- licher Barmherzigkeit« meist die Hauptsache sind. In England wie auch anderswo genügt nicht das Erbrecht, um alle Mitglieder der oberen Schichten zu versorgen. Die Kirche bietet wohl für viele jüngere Söhne der Aristokratie und ähnliche Arbeitslose ein Unter- kommen, dagegen besitzt England keine so ausgedehnte Armee und Bureaukratie wie die kontinentalen Staaten und es ist nicht jedermanns Sache, einen Posten in den Kolonien auf sich zu nehmen. Einen Aus- weg bieten da die zahlreichen, gutdotierten Verwaltungsstellen bei den wohlthätigen Stiftungen. Es ist in England allgemein bekannt, dass die Verwaltungskosten derselben den Eöwenanteil ihres Einkommens verschlingen. Die Arbeiter wissen ganz gut, dass die diversen Hos- pitäler, Erziehungsanstalten für verwahrloste Kinder und gefallene Mäd- chen etc. etc. meist wohlthätiger für die Doktoren und »Reverends« sind, die an ihrer Spitze stehen, als für die Armen, deren Leiden die Anstalten in ihren Bettelbriefen so rührend schildern.

Angesichts dessen und des Umstandes , dass in England immer grössere Schichten der Bevölkerung in eine Position herabkommen, in der sie von der Hand in den Mund leben, so dass die geringste Unter- brechung der Arbeitsfähigkeit sie der Gefahr aussetzt, ein Objekt der »christlichen Barmherzigkeit« zu werden, ist es leicht begreiflich, dass das Bedürfnis in den unteren Bevölkerungsschichten wächst, sich, so gut es geht, auf eigene Faust gegen die Folgen der Krankheit und Invalidität zu versichern. Diesem Bedürfnis verdanken die Friendly Societies ihren Ursprung. Sie sind nicht Organisationen zur Hebung der Klassenlage der Arbeiter; sie sollen bloss deren Versinken ins Lumpenproletariat verhindern: insofern sind sie wohl nicht ohne Be- deutung. In den meisten Fällen sind sie aber keineswegs reine Ar- beiterorganisationen. Ausser Arbeitern sind auch andere kleine Leute. Shopkeepers, kleine Beamte, Handlungsgehilfen u. dergl. Mitglieder. Diese Mischung allein schon verhindert, dass die Friendly Societies

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P aer nreither , Die englischen Arbeiterverbände und ihr Recht. 34g

Vertreter der besonderen Interessen der Arbeiterklasse werden. Viele dieser Vereine sind Mittel, die Arbeiter von den oberen Klassen ab- hängig zu machen; Geistliche, Fabrikanten, Lords stehen an der Spitze solcher »Arbeiterverbände«, die Baernreither als »wahre Selbstverwal- tungskörper« und Verstärker der Stellung der Arbeiter gegenüber dem Kapital bezeichnet. Noch andere Societies endlich sind geradewegs Schwindelgesellschaften, von geriebenen Finanzleuten gegründet, um die Arbeiter auszubeuten!

Aber auch die wirklich unabhängigen Friendly Societies betrachten sich bloss als Wohlthätigkeitsinstitute, als Einrichtungen, die für die Bevölkerung die Armenlast erleichtern und daher von dieser unterstützt zu werden verdienen; die grossen Orden, z. B. die Foresters scheuen sich nicht, feierliche Umzüge mit fliegenden Bannern zu veranstalten, bei denen die Mitglieder zu gunsten der Kasse betteln. Auf Er- höhung der Selbständigkeit und des Selbstbewusstseins der Arbeiter- klasse wirken diese Vereine nicht hin.

Alle diese Eigentümlichkeiten der Friendly Societies hat Baern- reither selbst zur Darstellung gebracht, wenn auch nicht immer mit genügender Deutlichkeit, oft in Anmerkungen versteckt. Wie konnte er aber angesichts dieser Thatsachen zu seiner Ueberschätzung der Societies gelangen?

Wir irren wohl nicht, wenn wir den Grund in der LJeberschätzung suchen, die die Arbeiterversicherung überhaupt im akademischen und offiziellen Deutschland seit einem Jahrzehnt erfahren. Wer in Deutsch- land von angesehenen Seiten immer und immer wieder gehört, dass die einzig praktische »Lösung der sozialen Frage«, die einzig mögliche Hebung der Arbeiterklasse darin bestehe, ihre arbeitsunfähigen Mit- glieder gegen das Versinken in das Lumpenproletariat zu versichern, und wer Zeuge gewesen, wie die winzigsten Leistungen auf diesem Gebiete bei uns als unerhörte soziale Reformthaten in den Himmel erhoben wurden, der musste dazu kommen, den Friendly Societies die grösste Bedeutung für die Hebung der Arbeiterklasse zuzuschreiben, sobald er sympathisch an sie herantrat. Denn so gering auch deren Leistungen in sozialer Beziehung sind, so überragen sie doch weit die Leistungen der bureaukratisch verkrüppelten deutschen Arbeiterver- sicherung. Was auf diesem Gebiete geleistet werden konnte, ist in England nicht aber in Deutschland geleistet worden. Wenn sich die Friendly Societies, auch die besten, als unzulänglich erwiesen haben, so liegt das nicht an der Unvollkommenheit ihrer Organisation sondern daran, dass die Versicherung der Arbeiter durch die Arbeiter selbst überhaupt ein unzulängliches Mittel zur Hebung der Arbeiterklasse ist.

Anders denkt freilich Herr Hasbach, dem eine zum Teil den Sozialisten entlehnte Kritik der englischen Friendly Societies als Basis zur Verherrlichung der deutschen Arbeiterversicherung dient. Er hat

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Littcratur.

jüngst eine »Besprechung« des Baernreither'schen Buches (in Schmollers Jahrbuch, 1888, 1. Heft, S. 159 185) geliefert, in Wirklichkeit eine An- preisung seines eigenen Buches. Dieser Herr, der in seiner Besprechung unter anderem auch eine Apologie des Strebers gibt als eines Mannes, »der grössere als landesübliche Rührigkeit aufwendet«, und deshalb den Neid des Passiven erweckt, und der als »Starker« dem »Schwachen« unsympathisch ist, kann nicht umhin, bei dieser Gelegenheit auch seine alte Behauptung zu wiederholen »dass unsere Sozialdemokratie gar keine Reformen will.« Zu dieser Behauptung gehört wohl mehr als »landesübliche« »Seelenstarke.« Herr llasbach muss sich augenblick- lich selbst Lügen strafen durch den Zusatz, der den Vordersatz als wissenschaftliche Behauptung aufhebt und nur seinen denunziatorischcti Charakter übrig lasst: »mit Ausnahme «ler Arbeiterschutzgesetzgebung.« Was bleibt von den »Reformen« noch übrig, wenn man von der Ar- beiterschutzgesetzgebung absieht? Herr Hasbaeh sagt es uns einige Zeilen später: die soziale Selbsthilfe nach englischem Muster durch Hilfskassen und Gewerkschaften. Da in Deutschland die Sozialdemo- kratie davon nichts wissen wollte, musste der Staat sie erzwingen : »Der Staat musste eingreifen, wenn wir einer Revolution entgehen wollten, er musste nicht nur die Arbeiter des fünften Standes zwingen, die auch in England ihre Lage durch die Selbsthilfe nicht verbessern werden, sondern auch diejenigen des vierten Standes, welche den Zwang ent- behren konnten, wenn die Führer dieser intelligenten und besser ge- stellten Arbeiter der Selbsthilfe zugethan wären.« Herr Hasbaeh be- hauptet also, die »Führer« der Sozialdemokratie wollen von Ge- werkschaften nichts wissen. Und doch hat Marx bereits in seinem »Elend der Philosophie«, lange bevor Herr Hasbaeh angefangen, grössere als landesübliche Rührigkeit« zu entwickeln, auf die Wich- tigkeit und Nützlichkeit der Gewerkschaften hingewiesen. In der »In- ternationale« war es eine seiner wichtigsten Bestrebungen, das eng- lische Gewerkschaftswesen nach dem Kontinent zu verpflanzen. Die Gewerkschaftsbewegung wie die Arbeiterschutzgesetzgebung haben in ihm ihren bedeutendsten und eifrigsten Verfechter gefunden, nicht minder eifrig deswegen, weil er sie nicht überschätzte und keinerlei Illusionen über Ihre Wirkungen hegte. Alles das ist so bekannt, dass selbst Herr Hasbaeh es wissen dürfte. Auf jeden Fall wird ihm aber nicht unbe- kannt sein, wer die Elemente sind, die in Deutschland jede, auch die geringste Arbeiterschutzgesetzgebung auf das hartnäckigste von sich weisen und eine kräftige Gewerkschaftsbewegung nicht auf kommen lassen, die also jeden Ansatz zu einer wirklichen Reform ersticken. Sie sind in dem Lager zu suchen, vor dem Herr Hassbach seine tiefsten Bück- linge macht.

Um Baernreither gerecht zu werden, muss man ihn mit Erscheinungen wie Herr Hasbaeh vergleichen. Gegenüber einem Standpunkt, wor-

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Batrnriither, Die englischen Arbeiterverbände und ihr Recht. 351

nach der Zwang das Kriterium der wahren »Sozialreform« sei, nicht etwa der Zwang gegenüber den Mächtigen, um die Schwachen vor ihnen zu schützen, sondern der Zwang, ausgeübt auf die »untersten und schwächsten Schichten«, um sie zu »erziehen« : Angesichts solcher Er- scheinungen wirkt es wohlthuend, einem Mann zu begegnen, der auf die Nützlichkeit und Notwendigkeit der Freiheit der Arbeiterorganisationen hinweist und deren polizeiliche Bevormundung bekämpft. Mag er auch die Tragweite der Selbständigkeit der Arbeiterorganisationen über- schätzen, mag er ihnen auch einen Einfluss zuschreiben, den sie ohne das Mitwirken anderer Faktoren, vor allem der politischen Macht der Arbeiterklasse, nicht besitzen können ; er verlangt, was für die Arbeiter- klasse eine I.ebensbedingung ist. Die Freiheit und Selbständigkeit ihrer Organisationen ist für sie notwendig, wie für den pflanzlichen und tierischen Organismus Luft und Licht. Von Luft und Licht allein kann man freilich nicht leben, aber es gehört mehr als »landesübliche Rührig- keit« dazu, daraus den Schluss zu ziehen, tlass man ohne Luft und Licht leben könne. Aus der Unzulänglichkeit der freien Arbeiterver- bände folgt nicht ihre Ueberfliissigkeit, nicht die Notwendigkeit, sie zu beseitigen und an ihre Stelle einen bureaukratisch-polizeilichen Apparat zu setzen, sondern die Notwendigkeit sie zu ergänzen.

Die englischen Arbeiter sind im Begriff, an diese Ergänzung zu schreiten und sich als selbständige politische Partei zu konstituieren. Baernreithers Werk ist auf drei Bände berechnet. Wir hoffen, dass er nach Fertigstellung des dritten noch Zeit zur Abfassung eines vierten finden wird über die englische Arbeiterpartei. An Material wird es ihm dann nicht fehlen.

London. KARL KAUTSKY.

Keleti, Dr. Karl, Chef des kgl. ungarischen Statist. Landesamtes. Die Ernährungsstatistik der Bevölkerung Ungarns auf physiologischer Grundlage bearbeitet. Uebersetzung aus den Ungarischen »Amtlichen Statistischen Mitteilungen.« Budapest 1887. 40. 183 und 363 S.

Wirft man auf die Tabellen dieses Werkes, das durch zahlreiche Farbendrucktafeln erläutert wird, einen vorläufigen Blick, so scheint hier die Lösung des Problems einer Volksernährungsstatistik in der höchsten erreichbaren Vollständigkeit und Vollkommenheit vorzu- liegen. Für jedes der 63 Komitate wird angegeben, wie viel von den 30 aufgeführten Gattungen von Nahrungsmitteln durchschnittlich im fahre auf einen Mann, eine Frau und ein Kind kommt, wie viel F.i- weiss in diesen Kopfquoten enthalten ist, wie sich der Geldwert der- selben stellt, endlich auch, wieviel von jedem Nahrungsmittel in den einzelnen Komitaten in den acht Sommermonaten, in den vier Winter- monaten und an den Sonn- und Feiertagen im ganzen verzehrt wird. Aehnliche Daten werden in einer besonderen Abteilung auch für den

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Litteratur.

Gesamtkonsuni der Bevölkerung von 144 einzelnen Städten mitgeteilt. Die 30 Arten von Nahrungsmitteln umfassen so ziemlich alles essbare: Rindfleisch, Schweinefleisch, Schaffleisch, Kalbfleisch, Geflügel, Fische. Wildpret, Würste, Speck, Fett, Butter, Milch, Hart- und Weichkäse. Eier, Obst, Weizenbrot, Halbfruchtbrot, Roggenbrot, Gersten- und Haferbrot, Weizenmehl, Halbfruchtmehl, Roggenmehl, Gerstenmehl, Maismehl, Graupen und Hirse. Kartoffeln, Hülsenfrüchte. Grünzeug, gesäuerte Speisen, (Sauerkraut etc.). Ausserdem sind entsprechende Mitteilungen über den Konsum von Wein, Bier, Branntwein, Zucker und Gewürze beigefügt.

Aber so erfreulich sich alle jene hochspezialisierten Kopfziffern mit ihren zwei Dezimalstellen ausnehmen, sie machen uns doch von vorn- herein den Eindruck, dass sie »für die Erde zu schön« sind, und wenn wir uns nach ihrer Entstehung umsehcn, so finden wir, dass sie über- haupt nicht auf zahlenmässiger Erhebung, sondern auf einer neuen und eigentümlichen Schätzungsmethode beruhen, die ohne Zweifel als solche Beachtung verdient, aber keineswegs ohne weiteres genügende Ergeb- nisse liefert. Die bisherige Methode der Kopf-Verbrauchs-Bercchnung aus der l’roduktions- und Handelsstatistik ist freilich in vielen Fallen durchaus unzulänglich. Nur für solche Konsumtionsgegenstände , die einer streng gehandhabten inneren Verbrauchssteuer unterliegen oder die im Inlande gar nicht erzeugt und bei der Einfuhr mit einem Zolle belegt sind, kann der Verbrauch des ganzen Landes mit einiger Sicher- heit festgestellt werden. Aber gerade die wichtigsten Nahrungsmittel, die verschiedenen Arten von Getreide und Fleisch, gehören nicht in diese Kategorien, und wenn man den Verbrauch derselben aus der Produktion und dem positiven oder negativen Ueberschuss der Einfuhr über die Ausfuhr berechnen will, so ist die Bestimmung des Jahres- erzeugnisses an Getreide bei dem heutigen Stande der Statistik in den meisten Ländern und desjenigen an Schlachtfleisch in allen im Grunde nur eine Schätzung; und wenn die Einfuhr bei dem Bestehen von Ge- treide- und Fleischzöllen genügend kontrolliert ist, so wird die Menge der Ausfuhr doch nur mehr oder weniger ungenau ermittelt, selbst wenn eine 'statistische Gebühr erhoben wird. Aber auch wenn auf diesem gewöhnlichen Wege der Gesamtverbrauch eines Landes an einem Nahrungsmittel mit hinlänglicher Genauigkeit fcstgestellt werden kann, so ist eine solche Zahl doch nur von geringer Fruchtbarkeit und die aus derselben berechnete Kopfquote vollends meistens eine blosse Abstraktion ohne konkrete Bedeutung für die einzelnen Klassen und Gruppen der Bevölkerung. Wenn sich z. B. ergibt, dass durchschnitt- lich 40 Kil. Fleisch auf den Kopf der Bevölkerung kommen , so stellt sich der wirkliche Fleischverbrauch vielleicht nur für einen ganz kleinen Prozentsatz desselben in die Nähe dieser Zahl, während die Kopfquote für die grosse Masse vielleicht nur 10 Kil., für die wohlhabende Minder-

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Die Ernährungssiatistik der lievolkeruug Ungarns etc.

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heit aber 100 uml mehr Kil. beträgt. Ks käme also darauf an , zu wissen, wie sich der Verbrauch in den verschiedenen Landesteilen, in den Städten und auf dem Lande, in den verschiedenen sozialen Schichten, in den verschiedenen Jahrzehnten u. s. w. gestaltet alles Fragen, deren Beantwortung nach der gewöhnlichsten Methode der Gesamt- rechnung nicht beantwortet werden können. Für Städte , die Oktroi von den wichtigsten Verzehrungsgegenständen erheben, lassen sich allerdings mehr Einzelheiten ermitteln, aber über die in sozialer Be- ziehung interessantesten Fragen kann auch die Oktroistatistik keine genügende Auskunft geben.

Es muss ohne Zw eifel als ein Verdienst Keleti’s angesehen werden, dass er mit seiner Fr ag es t e 1 1 u ng weit über das gewöhnliche Schema hinausgegangen ist. Dabei überschritt er aber auch die Grenzen der Leistungsfähigkeit der bisher üblichen Methoden, und wenn er nun zu einer neuen seine Zuflucht nahm , so wird man bei der Beurteilung derselben billigerweise berücksichtigen müssen, dass es sich um einen ersten Versuch auf einem unbebauten Boden handelt. Er hatte die originelle Idee, die Quantität der verzehrten Nahrungsmittel aus der Qualität derselben abzuleiten, indem er als Uebergangsmittel die wissenschaftlichen Feststellungen über die zur Erhaltung des Lebens nötigen Mengen von Eiweisstoffen, Fetten und Kohlenhydraten verwandte. Er benutzte die Berichtigung des ungarischen Katasters, um von den damals für die 248 Katasterbezirke bestellten Schätzungskommissarcn einen Fragebogen ausfüllen zu lassen, in dem angegeben war, welche Art Brot die Bevölkerung des Bezirks verzehre, welche Nahrungsmittel ausser Brot hauptsächlich üblich seien, wie vielmal in der Woche das Volk gekochte Speise und welche geniesse, wie vielmal in der Woche Fleisch auf den Tisch zu kommen pflege, ob die Ernährung im allge- meinen gut oder schlecht sei, wie es sich mit ihr im Winter, im Som- mer, an Feiertagen verhalte u. s. w. Auch sollte die Lebensweise ein- zelner Familien, deren Verköstigungsart als die der Mehrheit der Be- völkerung betrachtet werden könne, im allgemeinen beschrieben werden. Bei alledem wurden keinerlei quantitative Angaben verlangt, da der Verfasser von vornherein von der Ungenauigkeit derselben über- zeugt war. Er bestimmte vielmehr auf Grund der Arbeiten von Voit, Meinert, König, Fleck, Erismann u. a. wie viel Gramm an Eiweiss, Fett und Kohlenhydraten für einen erwachsenen Mann, eine Frau und ein Kind physiologisch erforderlich sei, stellte nun für alle angeführ- ten Nahrungsmittel den prozentmässigen Eiweissgehalt zusammen, nahm auch die in der deutschen und österreichischen Armee, in Gefängnissen und anderen Anstalten bestehenden Normen der Zusammensetzung der täglichen Nahrung zu Hilfe und suchte nun aus diesen Elementen zu bestimmen, wie sich die qualitativ für die einzelnen Gemeinden gege- benen Nahrungsmittel quantitativ am wahrscheinlichsten kombinieren,

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I.itteratur.

damit der physiologische Bedarf der Erwachsenen beiderlei Geschlechts und der Kinder gedeckt werde. Wie die Berechnung im einzelnen durchgefiihrt wurde, hatte wohl noch etwas genauer dargelegt werden müssen ; namentlich wäre präziser anzugeben gewesen, wie die beson- deren Tabellen für die Städte berechnet worden sind, in denen doch eine ausserordentlich grosse Mannigfaltigkeit der Ernährungsweise den zahlreichen sozialen Abstufungen entsprechend besteht, so dass nicht ersichtlich ist, wie das bloss qualitative Schema der Fragebogen hier zu brauchbaren Resultaten führen kann. Wünschenswert wäre auch gewesen, dass die Auszüge aus den Originalberichten die nur probe- weise für 26 Komitate mitgeteilt sind, in möglichster Ausführlichkeit für alle Komitate veröffentlicht worden wären. Diese Schilderungen der Lebensweise der Bevölkerung in den einzelnen Landesteilen sind jeden- falls von grossem Interesse, mag nun die Uebersetzung derselben in das Quantitative mehr oder weniger gelungen sein. Einwendungen gegen die letztere liegen ohne Zweifel sehr nahe. Zunächst kann bestenfalls doch nur der physiologisch ausreichende Bedarf an Nahrungsstoffen auf dem eingeschlagenen Wege ermittelt werden, hs wird also vor allem schon von vornherein vorausgesetzt, dass jeder- mann die notwendige Versorgung mit Nahrung wirklich erhält, was manche vielleicht als eines besonderen Nachweises bedürftig betrachten werden. Denn es könnte immerhin die Ernährung ganzer Bevülkerungs- gruppen insoweit ungenügend sein, dass sie zwar nicht verhungerten, aber verkümmerten und degenerierten. Wie lässt sich eine solche »schlechtes Ernährung ohne quantitative Erhebung einschätzen? Anderer- seits essen viele Personen der besser gestellten Klassen unzweifelhaft weit mehr vom Trinken gar nicht zu reden als zur normalen Lebenserhal- tung erforderlich ist. Wie aber kann dieses Mehr aus dem von Keleti benutzten Material taxiert werden? Was ferner die Verwertung der physiologischen Angaben betrifft, so mag sich mittels derselben das wahrscheinliche Verhältnis der Kombinierung verschiedener Nahrungs- mittel noch einigermassen schätzen lassen , wenn es sich nur um drei oder vier verschiedene Arten derselben handelt; je grösser aber die Mannigfaltigkeit der in einer Haushaltung verzehrten Nahrungsmittel wird, auf um so zahlreichere Arten kann auch der notwendige Bedarf an Eiweiss, Fett und Kohlenhydraten in der Tageskonsumtion zusammen- gesetzt werden, und der wirkliche Verbrauch der einzelnen Stoffe lasst sich unter solchen Umständen nur durch quantitative Erhebungen be- stimmen.

Im ganzen wird man den Keleti'schen Zahlen immerhin den Wert relativer Schätzungen beimessen dürfen, aus denen die v erhä 1 tnis- mässige Ernährung verschiedener Landesteile und verschiedener Be- völkerungskreise annähernd zu erkennen ist. Dass sie auch nach ihrem absoluten Wert nicht allzuweit von der Wahrheit abstehen, lässt sich

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Krebs, Organisation u. Wirksamkeit der gcioerbl. Schiedsgerichte etc. 355

daraus sehliessen, dass die täglichen Ausgaben, wie sie sich nach den geschätzten Nahrungsmengen für Männer, Frauen und Kinder auf den Kopt ergeben, der Wahrscheinlichkeit, wie sie sich aus sonstigen all- gemeinen Anhaltspunkten ergibt, annähernd entsprechen. Bemerkens- wert ist auch die Harmonie, die sich zwischen der Zahl der wegen Körperschwäche zurückgestellten WehrpHichtigen und dem auf den Kopf kommenden Kiweissgehalt der Nahrung nach den vorliegenden Schätzungen für die einzelnen Komitate herausstellt. Bei Getreide, Getränken, Zucker und Gewurzen sind übrigens auch die Ergebnisse der allgemeinen l’roduktions- und Handelsstatislik mit berücksichtigt und mit denjenigen der hier angewandten Methode verglichen. Ucberhaupt enthält das Werk viele positive thatsächliche Einzelheiten von grossem Interesse, wie es denn auch in methodologischer Beziehung, obwohl vielfach Widerspruch herausfordernd , doch nach verschiedenen Rich- tungen hin nützliche Anregungen gibt.

Göttingen. W. LEX IS.

Krebs, Werner, Sekretär des Schweizerischen Gewerbevereins, Organisation und Wirksamkeit der gewerblichen Schiedsgerichte im Aus- lände und in den Schweiz. Kantonen (Prud'hommes, Gewerbegerichte, Innungsgerichte, Fachgerichte, Einigungsämter) mit einem Anhang: Ge- setze der Kantone Genf und Neuenburg, Gesetzentwurf des Kantons Baselstadt, betreffend Organisation der Prud’hommes-Gerichte ; Zürich 1887, 67 S.

Die vorliegende Schrift, welche das 2. und 3. Heft der vom Schweizerischen Gewerbevereine herausgegebenen »Gewerblichen Zeit- fragen« bildet, gewährt eine Uebersicht über die in den verschiedenen Staaten bisher gemachten Versuche, die gewerbliche Rechtspflege in zweckentsprechender Weise zu organisieren. Unter Benützung der be- kannten Schriften Ebcrty’s u. a. werden zunächst die in Frank- reich, England, Amerika, Belgien, Deutschland und Oesterreich ge- schaffenen Institutionen, welche die gewerblichen Streitigkeiten zu schlichten bestimmt sind, kurz besprochen. Der Begriff der gewerb- lichen Schiedsgerichte wird vom Verfasser in einem sehr weiten Um- fange genommen, wornaeh hierunter alle Einrichtungen zu verstehen sind, mittels welcher Streitigkeiten zwischen Gewerbe- und Handels- t reiben den »möglichst rasch, sicher, ohne grosse Opfer an Zeit und Geld und ohne Aufbietung aller von den starren Rechtsvorschriften verlangten Formen« erledigt werden sollen. Von diesem Standpunkte aus wird einerseits der von Krebs übrigens ausdrücklich anerkannte prinzipielle Unterschied zwischen Gewerbegerichten und Eini- gungsämtern nicht immer festgehalten, andererseits die Darstellung auch aut solche Institutionen ausgedehnt, welche, wie die Chambrcs syndieales der französischen und belgischen Unternehmer und die so-

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genannten »Fachgerichte«, lediglich der Klasse der Arbeitgeber eine raschere und sachgeniässe ludikatur verschaffen sollen. Selbst das Schiedsgericht der nicderöstereichischen Handels- und Gewerbekammer findet Erwähnung.

K.s will uns scheinen, dass diese allzuweite Fassung des Begriffes der gewerblichen Schiedsgerichte nicht dazu beitrage , die erwähnten so verschiedenen Institutionen, .welche ohnedies in der Mehrzahl der Lander nur langsam Fuss zu fassen vermögen, in das jeder einzelnen derselben gebührende richtige Licht zu stellen. Doch wollen wir hier- über mit dem Verfasser nicht rechten, da es ihm in erster Linie darauf ankam, das einschlägige Material übersichtlich darzustellen, während er in eine ausführliche Erörterung prinzipieller Fragen einzugehen keine Veranlassung hatte. Eine solche würde unseres Erachtens auch eines umfassenden statistischen Materials nicht entbehren können, welches vom Verfasser nur spärlich herangezogen wurde, was freilich darin seine Entschuldigung findet, dass bedauerlicherweise, von Frankreich abge- sehen, kein Staat, welcher Gewerbegerichte besitzt, über die Wirksam- keit derselben fortlaufende und vollständige Daten publiziert. Auch im einzelnen ist die Darstellung nicht ganz frei von kleineren Versehen. So ist es nicht richtig, wenn auf S. 6 gesagt wird, «lass die französischen l’rud'hommes die Deposition von Marken entgegennehmen, da diese Befugnis durch das Gesetz vom 25. Juni 1857 entfallen ist. Bei Belgien (S. 14) wäre zu erwähnen gewesen, dass schon vor dem Gesetze vom 7. Februar 1859 auf Grund der napoleonischen Dekrete Prud’hommes- Gerichte bestanden, da der Leser sonst den Eindruck gewinnt, als seien die belgischen Prud’hommes erst durch das Gesetz vom Jahre 1859 begründet worden. Die rheinischen Prud’hommes (S. 15) sind ge- wiss nicht durch ein p re uss i sc h es Gesetz von 181 1 beibehalten worden. Irrig ist die Annahme, dass Hamburg (S. 17) unter den deutschen Städten wohl das älteste gewerbliche Schiedsgericht besitze, da die Einsetzung desselben erst durch das Gesetz vom 10. Mai 1875 erfolgte, wahrend die vorher bestandene »Vergleichskommission« nicht als Schiedsgericht im Sinne der Bundesgewerbeordnung betrachtet werden kann.

Sehr schätzenswert sind dagegen die Ausführungen des Verfassers über das gewerbliche Schiedsgerichtwesen in der Schweiz (S. 27 fg.), worüber bisher nur durch die Schrift von Huber: »Das Friedensrichter- amt und die gewerblichen Schiedsgerichte im schweizerischen Recht« (1886) einige spärliche Notizen bekannt geworden waren. Die in den Kantonen Genf und Neuenburg erfolgten Nachahmungen der französi- schen Prud’hommes werden in klarer, durch ein sehr interessantes sta- tistisches Material unterstützter Darstellung vorgeführt, woran sich eine Uebersicht über die in den übrigen schweizerischen Kantonen rege ge- wordenen Bestrebungen für die Organisierung der gewerblichen Ge- richtsbarkeit reiht. Den Abschluss dieses zweiten Teiles der Schrift

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Krebs, Organisation u. Wirksamkeit der gewerkt. Schiedsgerichte etc. 357

bildet die Mitteilung der den Genfer und Neuenburger Prud'hommes zugrunde liegenden Gesetze in deutscher Uebersetzung und des Gesetz- entwurfes betreffend die Einführung von (Kinzelrichtern und) gewerb- lichen Schiedsgerichten im Kanton Basel-Stadt. Durch diese seine Darstellung der schweizerischen Verhältnisse hat der Verfasser die, wenn wir von Frankreich absehen, nicht allzu bedeutende I.itteratur über die gewerbliche Rechtspflege in dankenswerter Weise bereichert.

Wien. FERDINAND SCHMID.

Verwaltungsbcricht des Rates der Stadt Leipzig für das Jahr 1SS6. Leipzig Duncker und Humblot 1888. 802 S.

Es ist lebhaft zu bedauern, dass die so treffliche Leipziger Kommunal- statistik, welche unleugbar zu dem besten gehört was von städtischer Sta- tistik besteht, abgesehen von Monographien, in den formalen Rahmen eines » Verwaltungsberichtes« eingezwängt ist. Es sollte doch für eine grosse Stadt nicht mehr zweifelhaft sein, dass diese Verbindung zweier ganz heterogener Dinge als bereits lange überwunden angesehen werden muss. Bei diesem Stande der Dinge darf es nicht Wunder nehmen, wenn wir neben sozialstatistisch ganz eminent wichtigen Nachrichten in der einleitenden städtischen Chronik lesen: Von schwerem Verbrechen ist ein am 26. Januar in Dähne’s Weinstube vorgekommener Raubanfall zu erwähnen. . . . Am 26. Juli brannte der Güterschuppen des bayrischen Bahnhofes ab u. s. f., und wenn dann anderseits, bei einer ganz ausgezeichneten Aufarbeitung der Volkszählung, von Geburten und Stcrbefällen so gut wie gar nichts zu erfahren ist, d. h. nur jenes, was unter die Schlagworte »Standesamt«; und »Gesundheitspflege« passt. Die Totalzahlen der Ge- burten sind zwischen die Abschnitte »Lungenschwindsucht« und »Nah- rungsmittel und Getränke« eingeschoben, wo sie zuversichtlich von Niemandem gesucht werden, der nicht den Index benützt, um diese Haupterscheinungen zu finden. Ein grosser Teil des in den Worten Enthaltenen hat überhaupt für Niemanden ausserhalb «1er städtischen Verwaltung stehenden Interesse und für denselben genügt eine hand- schriftliche Aufzeichnung vollkommen. Ein anderer Teil könnte sehr zweckmässig in «len gedruckten Rechenschaftsberichten l’latz finden oder in einem Sammelband erscheinen, und hat wieder nur für die städtische Bewohnerschaft Beileutung. Dagegen sollte der mit indivi- duellen Vorgängen gar nicht zusammenhängende statistische Teil auch als solcher gesondert werden und in die Reihe der ' kommunalstatis- tischen Veröffentlichungen eintreten, ohne dass der Leser genötigt ist, den Ballast von administrativen Dingen im wahren Wortverstande mit in den Kauf zu nehmen.

Was nun den eigentlichen statistischen Teil anbelangt, so entspricht derselbe vollkommen dem anerkannten Rufe, dessen sich Hasse'sAr-

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35*

I.itteratur.

l>eiten mit Recht erfreuen. Es ist unmöglich, an dieser Stelle auch nur annähernd eine Uebersicht iles reichen Inhaltes zu geben und sollten statt dessen nur einige gerade gegenwärtig besonders wichtige Partien herausgegriffen werden. Die hübsche Nachweisung (S. 16) dass unge- fähr ' 4 der Leipziger Bevölkerung in Landgemeinden geboren ist (wah- rend über 'h in der Stadt selbst und */* in anderen Städten) würde die notwendige Ergänzung erst dadurch erhalten, dass die Gebiirtigkeit der K h e s c h 1 i e s s e n d e n und die Zuzüge in die Stadt nach dem- selben Gesichtspunkte aufgearbeitet werden ; denn es bedeutet doch etwas ganz anderes für die Struktur der Bevölkerung, ob das eine Vier- teil der aus Landgemeinden Gebürtigen in der Stadt nur eine Zeit lang bleibt und nachher wieder in das Heimatsdorf, etwa mit den gemachten Ersparnissen, zurückkehrt, oder ob dieses Vierteil sich mit der städti- schen Bevölkerung ehelich verbindet und in diese ein neues Element hineinträgt. Bekannt sind Hasse ’s Erhebungen über Wohnungsver- hältnisse. Es wird die bereits früher konstatierte Thatsarhe neuerdings bestätigt, dass die ärmeren Volksklassen nicht erheblich öfter ihre Wohnung wechseln als die besser situierten. Dennoch dürfte es , um die Frage ganz exakt beantworten zu können , nicht überflüssig sein, auch unter die Einheit eines Jahres hinabzugehen und die Häufigkeit des Wohnungswechsels innerhalb eines Jahres, sei es nach Quartalen oder nach Monaten zu ermitteln, da ja in den Grossstädten die Wohnart in dem letztgenannten Sinne mit in betracht zu ziehen ist. Bei der Unter- suchung über »leerstehende Wohnungen« (über welche Kör ösi in einer kurzen Mitteilung in der Statistischen Monatsschrift ganz neue und wich- tige Bemerkungen gemacht hat, die insbesondere den Ausdruck »Woh- nungsmarku als nicht ganz passend erscheinen lassen) ist es vielleicht nicht ganz zutreffend, ilie zu irgend einem Zeitpunkte (z. B. zum i. No- vember) leerstehenden (411) Wohnungen als jene anzusehen, in welche die alljährlich (während eines ganzen Jahres) hinzukommenden (900! Haushaltungen »cinziehen« sollen. Die Zahl der (7000) Wohnungs- änderungen aber -- die ferner von Hasse herbeigezogen wird, um die Unzulänglichkeit der 411 leerstehenden Wohnungen zu beweisen be- sagt hiefür gar nichts, da ja mit jeder Wohnungsänderung auch das Freiwerden der früher bewohnten Wohnungen gegeben ist. Aber selbst zugegeben, dass die Annahmen des Verwaltungsberichtes zutreffend sind, ist doch zu bemerken, dass die leerstehenden Wohnungen 1.2 */.. der vorhan- denen betragen, somit für eine ganz beträchtliche Bevölkerungszunahme ausreichen würden. Dagegen scheinen die Ausführungen über den Zu- sammenhang von Miete und Einkommen (S. 195) vollkommen zu- treffend, und die neuerliche Bestätigung des Satzes : »Je grösser das Einkommen, desto kleiner die Mietcjuote« deshalb bemerkenswert, weil von Neefe bei Gelegenheit der Besprechung des »Oesterr. Städte- buehesc in dieser Zeitschrift, Heft I, S. 19s fg. gegen denselben Ein-

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Veru/aliungsbcrieht des Rates der Stadt Leipzig f. d. Jahr 1886. 359

Wendungen vorgebracht wurden. Durch die Bestätigung des von Hasse bereits früher m. E. bewiesenen und auch von mir in Anwendung auf die österreichischen Städte auf breite Grundlage gestellten Satzes, geht nun weiter hervor, dass der für die Miete auszugebende Prozent- Betrag von 1 87 5 1885 im Verhältnisse zum Einkommen leider noch gestiegen ist (von 10 auf fast 14). In den unteren Schichten dürfte nach der vorliegenden l’ntersuchung bis zu des Einkommens für die Miete verwendet werden; auf Kosten welches Postens im Hausbudget dies geschehen muss, ist leicht zu entnehmen, wenn man sich vor Augen hält, dass in einer Familie von drei erwachsenen Personen (= Mann, Krau und 2 Kinder) bei einem Einkommen von 800 1100 Mark 60 "• und bei einem solchen von 1500 Mark 52 auf die Nahrung verwendet werden sollen.

Was die übrigen Abschnitte anbelangt möchte ich nur an die Be- merkungen Dr. Taube's über die »Ziehkinderexpedition« (S. 620) einige Worte knüpfen. Es ist unerlässlich, dass mit dieser Leipziger Ein- richtung bezüglich der Verwendung der Paternitäts-Zahlungen gründlich Ordnung gemacht wird. Dagegen ist dies auch der einzige Vorteil dieser ganz auf zivilrechtlichem Boden der Paternitäts-Zahlungen stehen- den, die Atomisierung der unehelichen Progenitur und die Loslösung derselben von den wenigen Banden, welche sie noch an die Gesell- schaft knüpfen, mächtig fördernden Institution. Der Verfasser dieses Abschnittes zieht auch ausdrücklich die Konsequenzen aus seiner Auf- fassung, sowohl bezüglich der unehelichen Mutter als auch des unehe- lichen Vaters. Bezüglich der Mutter wird (und zwar mit Hinblick auf wiederholte uneheliche Geburten) gesagt (S. 624): »Einem Kinde das Leben zu geben und zu wissen, dass die geringsten Unterhaltsbedingungen fehlen, ist halber Kindsmord. Eine derartige Person ist nicht berech- tigt, die persönliche Freiheit zu bewahren (?), sie gehört in das Arbeits- haus (wie lange?) und kostet dem Staate dann weniger als eine fort- laufende Reihe von zu ernährenden Kindern.« Ganz entsprechend diesem Standpunkte wird dann gefordert, dass jene Väter, welche die Paterni- tätskosten nicht zahlen können ins Zwangsarbeitshaus kommen sollen, während die »zahlungsfähigen« einfach ihre »Raten« entrichten. Wie derVerf. meinen kann, dass wahrscheinlich eine »Herabsetzung der un- ehelichen Geburten« bei diesem System eintreten werde, ist schwer zu begreifen, da er einerseits den Kern der Institution in der besseren Verwendung der Zahlungen sieht, andererseits aber selbst bemerkt, dass es möglich ist, durch diese Einrichtung die Paternitätskosten zu er- niedrigen. Es würde als Ideal der »Expedition« hinzustcllen sein, wenn bei der Geburt eines jeden unehelichen Kindes dasselbe sofort der Generalvormundschaft übergeben wird, an welche der uneheliche Vater seine Beiträge zu leisten hat. Dass damit jeder Zusammenhang der Eltern untereinander möglichst aufgehoben, nachträgliche Ehe und

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Litteraiur.

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Legitimierung sehr verhindert und die schnellste Entfremdung der Eltern herbeigefuhrt wird, liegt zu Tage. Es scheint mir ein zu teurer Preis zu sein, ftir die Ordnung in der Verwendung der Beitrage für die Kinderernährung jedes ethische Moment bei der Auffassung der unehelichen Progenitur hinzugeben.

Czernowitz. ERNST MISCHLER.

Falkner , Roland P., Die Arbeit in den Gefängnissen. (Sammlung nat.-bkon. und statistischer Abhandlungen des staatswissensch. Seminars zu Halle a. d. S., herausg. von Conrad, V, 1, Jena, 1888).

Die vorliegende Schrift zerfällt in drei Teile. Der erste hiervon ist einer Darstellung des amerikanischen Gefangniswesens gewidmet, soweit dies mit der Verwertung der Arbeitskraft der Sträflinge in Zu- sammenhang steht ; der zweite befasst sich mit den europäischen Zu- ständen; in dem dritten endlich werden die Folgerungen für die so viel behandelte Frage des Verhältnisses der Gefangnisarbeit zu dem freien Gewerbebetriebe gezogen. Bekannt ist, dass sowohl unter den Gewerbetreibenden als auch unter den Arbeitern eine grosse Er- bitterung gegen die Strafhausarbeit herrscht, in welcher man eine für die freie Produktion höchst empfindliche Konkurrenz erblickt; der Ver- fasser spricht diesen Klagen jedoch die Berechtigung ah und hat zum mindesten nichts dagegen, wenn andere sie als völlig unvernünftig lie- zeichnen. Die Folgerung, meint er, wodurch von den niedrigen, für die Gefangenenarbeit bezahlten Löhnen auf eine schädliche Konkurrenz geschlossen wird, ist eine Schlusskette, die sich etwa also zusammen- setzt: für die Arbeit werden niedrigere Sätze gezahlt als auf dem freien Markte, daher sind die Herstellungskosten geringer, daher die Verkaufs- preise niedriger und daher wird die freie Industrie beeinträchtigt. Die erste Annahme erscheint ihm als richtig, jedoch nur in beschränktem Sinne, da die Leistungsfähigkeit der Sträflinge geringer sei. Daraus folge aber noch nicht, dass die Herstellungskosten niedriger sind , da mit der Gefangenenarbeit mancherlei Nachteile und Unannehmlichkeiten verbunden erscheinen, für welche eben durch die Venvohlfeilung der Arbeitskraft eine Entschädigung geboten werden muss. Selbst wenn aber die Erzeugungskosten sich niedriger stellten, so würde sich dieser Vorteil nicht durch eine Ermässigung der Preise, sondern durch eine Erhöhung des Untemehmergewinnes äussern. Selbst wenn aber das Angebot der Gefangniswaren zu niedrigen Preisen erfolgte, so konnte dies die Marktpreise nur dann herunterdrücken , wenn dieses Angebot imstande wäre, die gesamte Nachfrage zu decken. Die Strafhauswaren bilden jedoch einen so kleinen Prozentsatz der industriellen Produktion eines Landes, dass hier von einer ernsten Wirkung nicht die Rede sein könne. Erstreckte sich dabei die Gefangnisarbeit nicht auf viele, son-

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Falkner , Die Arbeit in den Gefängnissen.

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dem nur auf wenige Beschäftigungsarten , so hätten diejenigen, welche diese Zweige betreiben, bei der ersten Einführung der Gefängnisarbeit etwas zu leiden, was sich aber mit der Zeit ausgleichen müsste, indem der Zuwachs zum Gewerbe aufhören würde.

Es gehört einiger Mut dazu, die so einhellige Opposition gegen die Strafhausarbeit in den beteiligten Kreisen der verschiedensten I.änder für blosse Täuschung oder Unvernunft zu erklären. Bei der Bekämpfung einer derartigen, dem praktischen Leben entstammenden Bewegung darf man sich auch nicht auf die Beschwerden in ihrer üblichen Formulie- rung beschränken; denn diese ist natürlich oft schief und übertrieben. Mit ihrer Widerlegung ist daher auch noch nicht die Sache erschöpft.

Unserer Ansicht nach hat nun in der That die Gefängnisarbeit ihre bedenkliche und schädliche Seite, namentlich in der so häufig geübten Form, dass sie für Rechnung eines Privatunternehmers stattfindet. Da- rin stimmen wir freilich dem Verfasser vollkommen bei, dass die Ge- fängnisarbeit im Verhältnis zur freien nur unbedeutend ist; dies jedoch in der Weise zum Ausdruck zu bringen, wie es auch in der vorliegenden Schrift geschieht, dass man das Gesamtverhältnis zwischen Strafhaus- und freier Arbeit aufstellt, ist vollkommen unzutreffend. Die Arbeit der Strafanstalten tritt niemals in Konkurrenz mit der gesamten produk- tiven Thätigkeit, sondern nur mit einzelnen Industriezweigen, und auch da regelmässig nicht mit deren gesamtem Arbeitsgebiet, sondern nur hinsichtlich bestimmter Artikel, oft auch nur hinsichtlich bestimmter Absatzgelegenheiten. Wenn beispielsweise der Verfasser berichtet, dass in Belgien bei gleichmässiger Verteilung der Gefängnisproduktion die freien Schneider je 6 Kleidungsartikel im Jahre mehr zu machen hätten, so mag man diesen Durchschnittssatz immerhin als nicht erheblich an- sehen; da jedoch eine Reihe von Schneidern z. B. diejenigen, welche für reiche Kunden nach Mass und Angabe arbeiten, die Flickschneider u. s. w. gar nichts einbüssen und nur auf einer bestimmten Quote der Schneider die Konkurrenz lastet, so kann dies für letztere sehr em- pfindlich werden. Der zweite beachtenswerte Umstand ist der, dass normale Arbeitspreise bei der Verdingung sehr schwer zu erzielen sind. Die Konkurrenz um die Strätlingsarbeit ist von vornherein beschränkt, weil die Eigentümlichkeiten des Betriebes in einer Strafanstalt nicht jeden Unternehmer in Mitbewerb treten lassen. Der Kleinunternehmer ist so viel wie ausgeschlossen: die Strafanstalten gehen doch wohl nur Verträge mit solchen ein, welche gleichzeitig mehrere, womög- lich viele Arbeitskräfte beschäftigen können , welche imstande sind auf Lager arbeiten zu lassen, ständige Beschäftigung bieten, Kaution beizustellen vermögen etc. Nur auf diese Weise lässt es sich er- klären, warum die Strafanstalten oftmals Mühe haben, ihre Arbeits- kräfte anzubringen, andererseits so viel Klagen über die Wohlfeilheit dieser Arbeiten ertönen. Dabei ist bemerkenswert, dass in den Straf-

Archiv für tot. Ge*et*ghg u Statistik I. SzJ.

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Litteratur.

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Häusern mit Vorliebe solche Arbeiten verrichtet werden, hinsichtlich derer der Wettkampf zwischen Gross- und Kleinbetrieb im freien Er- werbsleben ausgebrochen ist; denn für Arbeiten, die beispielsweise un- bedingt grosse kostspielige Maschinenanlagen und Werksvorrichtungen erfordern oder bei denen umgekehrt der Kleinbetrieb nicht zu umgehen ist, bestehen eben grosse, beziehungsweise gar nicht zu überwindende Schwierigkeiten. Oft noch ungleichmässiger können die einzelnen Ge- schäftsinhaber von der Verwendung von Sträflingen Gebrauch machen, wo das System der Kundenarbeit besteht, wo also die Leitung der Arbeit den Strafhausbeamten zufällt, der Besteller aber nur die Roh- stoffe zu liefern und Stücklöhne zu entrichten hat. Da die Beamten begreiflicherweise nicht jede Arbeit gleichmässig verstehen, ist eine Reihe von Unternehmern von vornherein ausgeschlossen und nur ein 'I’eil zu- gelassen, welcher aus dieser Beschränkung natürlich häufig Nutzen zu ziehen imstande ist. Es entstehen somit Ungleichheiten in den Produk- tionsbedingungen, in ähnlicher Weise wie durch Refaktien hinsichtlich der Transportkosten, durch unpassende Steuerveranlagung hinsichtlich der Steuerlasten, wodurch der zurückgesetzte Produzent nicht nur un- zweifelhaft benachteiligt, sondern um so erbitterter wird, als diese Zu- rücksetzung durch staatliche . Einrichtungen hervorgerufen erscheint. Dass es auch nicht gerade die des Schutzes bedürftigsten Elemente sind, welche den Vorzug geniessen, ist wohl kaum zweifelhaft.

Vermissen wir nun in der Schrift ein gewisses, aber wie uns scheint für eine richtige Beurteilung der Sache notwendiges Eingehen auf die Details des Geschäftslehens, so erkennen wir gleichwohl gerne an, dass Falkner’s Darstellung geeignet ist, der so häufig wahrzunehmendcn Ueberschätzung des Einflusses der Gefangenenarbeit entgegenzu wirken, und dass namentlich auch die Verwertung des amerikanischen Materials eine verdienstliche Leistung in sich schliesst

Wien. * VICTOR MATAJA.

Wolf, Ab, Zur Lage der kaufmännischen LLilfsarbciter in Oester- reich. (Verbesserter und erweiterter Sonderabdruck aus dem 3. und 4. Heft 1887 der »Deutschen Worte.«) Wien 1887. Verlag der Deutschen Worte. Im Buchhandel zu beziehen durch A. Pichler’s Witwe u. Sohn.

Wie der Verf. im Eingang seiner Schrift mit Recht bemerkt, ist die soziale Lage der kaufmännischen Hilfsarbeiter noch wenig zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung gemacht worden. I>er Verf. seihst sonst auf dem Gebiete der sozialökonomischen Litteratur anscheinend nicht unbewandert, citiert im Verlaufe seiner Abhandlung als auf die Frage unmittelbar Bezug nehmend nur C. Bücher, »Die Ar- beiterfrage im Kaufmannsstande.« Ebenso sehr hat Verf. und wir haben mit ihm den Mangel statistischen Materials in der vorliegenden Frage

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Wolf, Zur Im ge der kaufmännischen Hilfsarbeiter in Oesterreich. 363

zu beklagen. Ausser der Tabelle über die Stellenvermittelungsthätigkeit des Wiener kaufmännischen Vereins (S. 23) finden wir statistische Unter- lagen für die Ausführungen des Verfassers nicht. Bemühungen des Herrn Wolf bei kaufmännischen Vereinen in der Provinz sind, wie uns die Note I, pag. 22 mitteilt, in dieser Richtung ohne Erfolg geblieben. Ob und welche behördliche oder private Unterstützung zur Erhebung statistischer Daten der Verf. sonst noch gesucht hat, geht aus der Schrift nicht hervor.

Die letztere beruht somit grösstenteils auf persönlichen Erfahrungen des Verfassers, der mit einem offenen Blick an die in betracht kom- menden Verhältnisse herantritt. Hören wir, was er uns über die soziale Lage der Handlungsgehilfen Oesterreichs mitzuteilen weiss.

Seiner Darstellung voraus schickt er eine Bezugnahme auf die be- kannte Schrift des Geheimrat Engel, »Der Wert der Menschen*, welche den Kostenwert des jungen Kaufmanns mit vollendetem 18. Lebensjahre auf 10 102 fl. öst. W. berechnet. Der Bildungsgang des angehenden Kaufmanns ist folgender. Als Knabe von 13 14 Jahren kommt derselbe in die Lehre. Die Lehrzeit ist auf 3 5 Jahre be- messen ; die praktische Ausbildung ist eine sehr mangelhafte : Diiten- drehen, Fässeirollen und ähnliche Verrichtungen bilden einen grossen Teil der Beschäftigung; die theoretische Ausbildung fallt der Gremial- Handelsschule zu. Welche Fächer dieses Institut lehrt, welche Zeit dem Handlungslehrling behufs Besuchs desselben gemeinhin gewährt wird, über etwaige Prüfungen und Prüfungsresultate dieser Schule er- fahren wir leider nichts. Wenn der Verf. darin Recht hat, dass der Kaufherr den Lehrling täglich 16 17 Stunden im Geschäft braucht (aber wohl mit Ausnahme der der Gremial-Handelsschule gewidmeten Zeit?) so dürfte allerdings dieses Institut ziemlich schlecht wegkommen.

Nach vollendeter Lehrzeit wir folgen dem Verfasser in seinen Angaben empfängt der junge Kommis in einzelnen Branchen, wie in der Spezerei-, Kolonial-, Material- und Farbenbranche eine Natural- und Geldentlohnung; erstere besteht in Kost und Bett, letztere beträgt 5 oder 7 fl. monatlich und steigt bis zu 15 oder 20 fl. In an- deren Städten, in denen nur Geld lohn entrichtet wird, beträgt der- selbe 25 30 fl. und steigt bis zu 45 50 fl.

Die Schrift vergleicht hierauf die Einnahmen und die notwendigen Ausgaben der Handlungsgehilfen mit denen der gewerblichen Arbeiter und gelangt zu einem für erstere ungünstigeren Resultat.

Der Verf. wendet sich riemnächst der Klasse der »schreibenden Hilfsarbeiter* im Kaufmannsstande zu und erörtert die Ansprüche höherer Art, welche an diese Kategorie von Handlungsgehilfen gestellt werden.

Nach Absolvierung von 5 Volksschulklassen, 4 Mittelschulklassen und eines 3jährigen Fachstudiums an einer Handelsschule hat der junge Kaufmann seine schulmässige Bildung grösstenteils vollendet und tritt

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Litteratur.

als »Volontär« oder »Praktikant* in ein Geschäft ein. Ein Jahr Prakti- zierens ist in Oesterreich das Gewöhnliche, mehrere Jahre werden »in schlimmen Fällen« bedungen. Darnach tritt ein Anfangsgehalt von 10 bis 20 tl. ein, mitunter auch hat der junge Handlungsgehilfe umsonst praktiziert, d. h. ein Engagement gegen Entlohnung von Seiten des Prinzipals erfolgt überhaupt nicht.

In den Fällen komptoiristischer Praxis, in welchen der ehemalige Volontär als Kommis engagiert wird, beträgt das Gehalt nach dem Verf. anfangs 10 20 tl. monatlich und steigt in Raten von 5 10 fl, bis es im Laufe von ca. 5 Jahren die Höhe von 40 50 fl. erreicht hat Dieses »Ersitzen* höheren Salärs durch langes Verbleiben in einem Geschäft ist nach dem Verf. österreichische Spezialität. Nach 8—10 Jahren Dienstzeit ist ein Monatsgehalt von 60 70 fl. ersessen und da- mit der durchschnittliche Höhepunkt erreicht. Qualifiziertere Komptoi- risten können es bis zu 70 100 fl. bringen, ja in Jahrzehnten langen Mühen und Ringen bis auf 150 und 200 fl. Noch höhere Salaire sind ganz seltene Ausnahmen.

Dies sind die Mitteilungen, welche die Schrift über die Gehalu- verhaltnisse der in Rede stehenden Klasse bringt.

W as die tägliche Arbeitszeit anlangt, so währt dieselbe in offenen Ladengeschäften bei Kommis und Lehrlingen an Wochentagen 16 17 Stunden, Sonntags von 5 oder 6 Uhr früh bis mittags 12 L'hr. Der Komptoirarbeiter ist an Wochentagen von früh 8 Uhr bis abends 8 l'hr, mit Ausnahme der Mittagszeit von 1 '/» 2 Stunden beschäftigt. An Sonntagen und Feiertagen wird in den meisten Branchen einige Stunden gearbeitet. Das Vorkommen von gänzlich freien Sonn- und Feiertagen, von Ferien etc. stellt der Verf. in Abrede.

Die soziale Lage der kaufmännischen Hilfsarbeiter in Oesterreich ist nach dem vorstehenden eine durchaus unbefriedigende.

Die Ursachen dieser Verhältnisse findet der Verf. in dem man- gelnden Klassenbewusstsein der Handlungsgehilfen und dem damit im Zusammenhänge stehenden weiteren Mangel jeglicher Organisation, welche geeignet wäre, die materiellen Interessen des Standes ernsthaft zu vertreten, ferner in mangelhafter Berufs-Ausbildung, in wachsender Schwierigkeit selbständiger Etablierung, Heranziehung vieler Hilfskräfte aus dem deutschen Reich und in der enormen Uebersetzung des kauf- männischen Berufs überhaupt. Letztere Ursache ist nach Ansicht des Referenten die weitaus gewichtigste. Aus ihr resultiert das grosse An- gebot unbeschäftigter Arbeitskräfte. Es sei gestattet, hier aus der Stellen- vermittelungsstatistik des kaufmännischen Vereins zu Wien einige Zahlen aus dem Jahre 1886 anzuführen. Es wurden offene Stellen angemeldet: 1314, dafür fanden sich 2428 Bewerber, es erfolgten 576 Besetzungen und darunter 271 mit Lehrlingen und Praktikanten, es wurden also im Jahre 1S86 47.03 Prozent der zur Besetzung gelangenden Stellen un-

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Ertl, Das österreichische L infattoer Sicherung- Gesetz. 365

bezahlten Hilfskräften übertragen. Gewiss ein durchaus ungesundes Verhältnis.

Den vom Verf. als Ursachen der ungünstigen Klassenlage der Handlungsgehilfen Oesterreichs erkannten Verhältnissen entsprechen seine Vorschläge zur Abhilfe: Hebung des Klassenbewusstseins und Schaffung einer wirksamen Organisation, gründlichere und um- fassendere theoretische Ausbildung als bisher, Einschränkung des Lehr- lingsunwesens, wesentliche Einschränkung der jetzigen Arbeitszeit etc. (letzteres wohl mit Hilfe der Gesetzgebung ? Ref.).

Die Schrift ist als ein dankenswerter Beitrag für die Erkenntnis der sozialen Lage der Handlungsgehilfen zu betrachten, der um so interessanter ist, als ein Beteiligter selbst die Feder geführt hat.

Stuttgart. PAUL WAGNER.

Ertl , Dr. Moriz , Das österreichische Unfallversicherungs-Gesetz. Die Genesis und die wesentlichen Bestimmungen desselben im Vergleiche mit der Unfallgesetzgebung anderer Staaten, insbesondere Deutschlands. Leipzig und Wien, Töplitz und Deuticke 1887. 94 S.

Diese Schrift ist kurz vor der parlamentarischen Erledigung des darin besprochenen Gesetzes, welches anfangs April d. J. in Kraft ge- treten ist, erschienen. Sie hat durch das letzte Beratungsstadium des Un- fallversicherungsgesetzes in beiden Häusern des österreichischen Reirhs- rates nichts an Bedeutung verloren, da zurzeit der Abfassung des Buches der Gehalt des Gesetzes, wie er endgültig aus den parlamentarischen Verhandlungen hervorgieng, bereits im wesentlichen feststand. Der Ver- fasser vergleicht das österreichische Gesetz eigentlich nur mit dem deutschen , nach dessen Vorbild die österreichische Regierung ihren Entwurf abfasste; er befindet sich mit den Grundgedanken des öster- reichischen Gesetzes in völliger Uebereinstimmung, und die Schrift selbst gewinnt an vielen Stellen den Charakter einer tendenziösen Verteidi- gungsschrift. Die eigentümliche Schärfe, mit der sich der Autor schon in dem Vorwort gegen die Juristen und gegen die Theorie überhaupt wendet, und die Entschiedenheit, mit der er seine Schrift als einen Beitrag zum Verständnis »positiver Sozialreformc hinstellt, lassen seine polemischen Absichten deutlich erkennen ; es gereicht dies dem Werte seiner Schrift so wenig zum Vorteil als die hämischen Be- merkungen, welche er gegen die liberale Opposition des Parlamentes richtet. Die Motive zur obligatorischen Versicherung der Arbeiter gegen die sozialen Wirkungen der Unfälle im Betriebe und die Not- wendigkeit einer solchen Einrichtung behandelt der Autor sehr ein- gehend und mit Sachkenntnis; er unterscheidet in der positiven Sozial- reform das Armenwesen, das gegen die soziale Not, d. h. gegen die Brachlegung der Arbeitskraft und die Erwerbslosigkeit gerichtet ist, und

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Lilteratur.

die soziale Verwaltung im engeren Sinne, die der Arbeitskraft im Kample gegen die Uebermacht des Grosskapitals helfend zur Seite stehen soll, und wozu Ertl auch das Versicherungswesen der Arbeiter rechnet Diesen letztem Teil der sozialen Reform stellt er als positiv den sozial- istischen Forderungen gegenüber, die als unfruchtbar und negativ stig- matisiert werden. Den »vollen Arbeitserträge bezeichnet er bei dieser Gelegenheit mit einem deutlichen Hinweis auf die bekannte Schrift des Wiener Rechtsgelehrten, Prof. Anton Menger, als »Professorenkategorie.« Das Versicherungswesen leitet Ertl von der Thatsache ab, dass die Arbeitskraft, das persönliche Kapital, noch kurzlebiger als das mensch- liche Individuum ist, und dass daher aus dem gesellschaftlichen Klassen- kampf die gesellschaftliche Not hervorgeht, woraus unseres Erachtens aber auch die Unhaltbarkeit der Ertl’schen Auffassung klar wird, wo- nach das Versicherungswesen von dem Armenwesen zu trennen wäre. Gerade diese Begründung zeigt klar und deutlich, dass die Arbeiter- versicherung nur eine andere Organisation des bisherigen Armenwesens ist. Wie wenig damit auf dem Gebiete der sozialen Reform geleistet wird, ist damit ebenfalls dargethan, so dass der Spott über die »Pro- fessorenkategorien«: doch ziemlich wenig begründet erscheint. Da die Arbeiterklasse ohne Kapitalbesitz ist, betrachtet der Verfasser bei «1er sozialen Versicherung derselben die Trennung von Prämie und Rente als notwendig; die ganze Gesellschaft habe die Prämien aufzubringen, nur der kapitallose, arbeitende Teil derselben die Renten zu beziehen.

In bezug auf die Unfallversicherung hebt der Verfasser mit Recht die allgemeine, mit dem modernen industriellen und Maschinenbetrieb zusammenhängende Natur der Betriebsunfälle hervor, welche es ver- bietet, dass man «las Prinzip der persönlichen Verschuldung zur Grund- lage der Entschädigung des Arbeiters macht. Aus diesen Prämissen gelangt der Verfasser notwendig zur obligatorischen Versicherung der Arbeiter, wie sie in der deutschen un«l darnach in der österreichischen Gesetzgebung durchgeführt wurde. Die Schilderung des Ganges der Gesetzgebung in Oesterreich ist, wie schon bemerkt, nicht frei von Tendenz, die Absicht ist unverkennbar die, die gegenwärtige parlamen- tarische Majorität als arbeiterfreundlich im eminenten Sinne «les Wortes hinzustellen.

Weitaus sachlicher und sehr lesenswert ist die Erörterung über «iie einzelnen Hauptbestimmungen des Gesetzes, über die parlamentarischen Streitfragen, die sich daran knüpften, und der Vergleich, der im Ver- lauf der Darstellung und insbesondere am Schlüsse mit dem deutschen Unfallversicherungsgesetze gezogen wird.

Wien. EMIL KALER.

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Bert hold, Die Entwickelung der deutschen Arheiterkolonien. 367

B e rthol d , Dr. G., Die Entwickelung der deutschen Arbeiter kolo- nien. (Schriften tles deutschen Vereins für Armenpflege und Wohl- thatigkeit, 3. Heft). Leipzig, Verlag von Puncker und Humblot, 1887. 8», 56 und XCVIII S.

Die erste deutsche Arbeiterkolonie ist bekanntlich am 17. August 1882 vom Pastor von Bodelschwingh in Wilhelmsdorf für die Provinz Westfalen eröffnet worden. Das vorliegende Buch berichtet über den Stand der deutschen Arbeiterkolonien am t. April 1886, umfasst viel- fach die ganze Zeit seit 1882 und zählt 15 Kolonien. Ergänzend sei gleich hier bemerkt, dass seit Drucklegung der Schrift zwei weitere An- stalten hinzugekommen sind (1886/87), un<l dass ‘1er Zentralvorstand deutscher Arbeiterkolonien demnächst wiederum zwei Kolonien zu eröffnen hofft (in Posen und Thüringen). Man weiss, was der Zweck der Arbeiterkolonien ist. Nach der wirtschaftlichen Krisis von 1879 war die heimatlose Schaar wandernder Arbeitsloser auch in Deutschland so gross geworden, dass sich die Besitzenden nachgerade vom Bettel der Herumziehenden belästigt fühlten. Die Gerichte hatten alle Hände voll zu thun, um die »Vagabunden« mit der im deutschen StTafgesetzbuche vorgeschriebenen Freiheitsstrafe zu belegen. Von geistlicher Seite ge- wahrte man mehr wie je den moralisch deprimierenden und verbittern- den Einfluss, welchen längere Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit auf den Proletarier macht. So ist es durch ein Zusammenwirken aller dieser Faktoren und einiger wirklichen Menschenfreunde gekommen, dass gerade anfangs der achtziger Jahre die Einrichtung der Arbeiter- kolonien ins Leben trat. Die eigentliche Unterlage und Voraussetzung der Arbeiterkolonien soll ein Netz lokaler Naturalverpflegungsstationen sein. Das Buch von Berthold kann aber nur etwa 1250 solcher Lokal- anstalten, die den durchreisenden Arbeitslosen gewöhnlich nur für eine Nacht beherbergen und dem Pennenunwesen entziehen sollen, aufzählen und sonst nichts Sozialstatistisches über dieselben angeben. Wir haben uns deshalb nur mit den eigentlichen Arbeiterkolonien zu beschäftigen, welche für grössere Bezirke und Provinzen gedacht sind und den Ar- beitslosen nicht prinzipiell bloss Nachtquartier und das dazu Gehörige bieten wollen. In der Rtaatswissenschaft werden die Arbeiterkolonien zweimal erwähnt. Zuerst an der Stelle, wo von der Ergänzung der staatlichen Armenpflege durch Vereinsthätigkeit die Rede ist. Um zu verhüten, dass wandernde Arbeitslose um milde Gaben ansprechen, dass sie zu lange unbeschäftigt sind, dass ihre Nahrung und Kleidung unzureichend werde, wovon man glaubt, dass es einen demoralisieren- den Einfluss auf dieselben ausübe, soll mit der Arbeiterkolonie eine Stätte geboten werden, in welcher einige Zeit gearbeitet, regelmässig Nahrung genossen und dauerhafte Kleidung eventuell zum Weiterwandern erworben werden kann, wenn es der Kolonie nicht gelungen ist, dem

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Littcratur.

Arbeitslosen Beschäftigung nachzuweisen. Vier Monate sollen im all- gemeinen das Maximum des Aufenthaltes bilden. Die Arbeit ist ge- wöhnlich nicht leicht, besteht oft in landwirtschaftlichen Verrichtungen, oft in Steineklopfen oder Holzhacken. Die Arbeitsvergütung ist gering. Durchschnittlich werden nach Berthold 25 Pfg. doch wohl täglich gegeben. So lange der Kolonist die von der Kolonie gelieferten Klei- dungsstücke noch nicht abverdient hat, erhält er sogar nur ein Zehntel der ihm gutgeschricbenen Arbeitsvergütung zum eigenen Gebrauch, später d. h. vor der Entlassung doch wohl nur nicht über ein Fünftel derselben. Oft hat die Hausordnung einen halbreligiösen An- strich. Pastoren und Laienbrüder überwachen die Anstalt und ihre Thätigkeit. Die Freiheit verdirbt in den Augen der Begründer von Arbeiterkolonien offenbar den Menschen. Er weiss die in derselben erlangten milden Gaben nicht wirtschaftlich genug anzulegen. Hier soll die Anstalt eingreifen. Zum zweitenmale ist in der Staats- wissenschaft von Arbeiterkolonien da die Rede, wo von der inne- ren Kolonisation gehandelt wird. Man erhofft und erwünscht, dass die Anstalten die Kräfte der Kolonisten zur Urbarmachung oder Ent- wässerung öd liegender Strecken gebrauchen möchten. Von derartigen Ergebnissen meldet Berthold nichts. Es ist wohl auch nichts wesent- liches in dieser Richtung geleistet. Sonach beschränkt sich unser In- teresse nunmehr allein auf die Beantwortung folgender Frage an der Hand des Rerthold’srhen Buches: in welcher Weise und in welchem Umfange haben die deutschen Arbeiterkolonien das Loos der armen wandernden Arbeitslosen verbessern können? Stellen wir den Umfang der Thätigkeit voraus. Nach Berthold wurden in allen 15 Kolonien seit ihrer respektiven Eröffnung bis zum 1. April 1886, also in einem Zeitraum von etwa drei Jahren, 13151 Personen aufgenommen und 1 1 668 entlassen. Die Differenz gibt die Zahl derjenigen, welche heim- lich aus den Anstalten wcggiengen ein sehr geringer Prozentsatz trotz der strengen und frömmelnden Zucht, trotz der strammen Arbeit und trotz des geringen Verdienstes. Freilich ist die Zahl der Verpfleg- ten, nämlich 13000 in etwa drei Jahren, so dass auf das Jahr circa 4000 aufgenommene Personen fallen, selbst sehr mager im Verhältnis zu den aufgewendeten Kosten man schätzt die bisherigen einmaligen Zuwendungen aus Staats- und Gemeindekassen auf rund eine Million und die jährlichen Unterstützungen aus derselben Quelle auf etwa 130000 Mark und vor allem zur wirklichen Zahl wandernder Arbeit*, loser, die bekanntlich im Sommer abnimmt, im Winter anschwillt. Eine staatliche Sozialstatistik über die industriellen Reservearmeen besitzen wir, wie so vieles auf diesem Gebiete, noch nicht. Aber einzelne Ar- beitervereinigungen haben mittels ihrer Kassenstatistik feststellen können, wie viele ihrer Berufsgenossen im Jahre arbeitslos zu sein pflegen. Die deutschen Buchdrucker allein ermittelten, dass die Beschäftigungslosen

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Her! hohl, Die Entudckehitig t/er deutschen Arbeiterkolonien. 369

ihres Gewerbes im Laufe des Jahres gewöhnlich soviel wie den neunten Teil der in den drei Jahren aufgenommenen Arbeiterkolonisten über- haupt ausmachten. Mit diesem Massstab gemessen , erscheint der Umfang der Thätigkeit der Arbeiterkolonien noch sehr klein. Die Buchdrucker sind doch nur ein einziges Gewerbe. In den andern dürfte die Zahl der Arbeitslosen teils verhältnismassig kleiner, teils noch grösser sein. Da verschwindet die Zahl der Wanderburschen, die in unseren Anstalten Aufnahme fand. Der Andrang zu den Arbeiterkolo- nien schwillt im Winter hoch über die Frequenz des Sommers, beinahe auf das doppelte, wie die Zahlen für 1886 zeigen. Ein weiterer Be- weis, dass die »Vagabunden« nicht aus Neigung »stromern«, sondern »der Not gehorchend, nicht dem eigenen Trieb«. Der Winter wirft in mannigfachen Saison-Gewerben eine Anzahl Arbeiter auf die Strasse. Merkwürdig ist angesichts dieses Umstandes auch, dass die Statistik der Kolonien noch immer nicht zu einer exakten Feststellung der »Ursache der Hilfsbedürftigkeit« gekommen ist. Ueher die Gründe der Entlas- sung aus den Kolonien wird mit sorgfältiger Spezifikation Buch geführt, sodass die Prozente der Beteiligten angegeben werden können. Bei der Erforschung der eigentlichen Wurzel aller »Vagabondage« machte man bis jetzt Halt; man beantwortete die betr. Frage »vielfach oberflächlich«, wie Berthold sagt. Wollte man die einfache Thatsache der Arbeiter- entlassung durch die Unternehmer den Ankommenden nicht glauben und sie deshalb nicht als bestimmten Grund registrieren? Der nunmehr ausser allem Zweifel stehende Charakter der Kolonisten sollte doch, da auch methodische Gründe durchaus nicht vorliegen, welche ver- böten, die Thatsache der etwaigen früheren Arbeitsentlassung mit dem Grund derselben zu registrieren , die Zuverlässigkeit einfacher An- gaben der Ankommenden bekräftigen. Die Mehrzahl der Kolonisten kehre nämlich nicht in die Anstalten ein, um bloss »Pflege zu gemessen«, wie denn durch die strenge Zucht, von der der freie Arbeiter nichts weiss und nichts zu wissen braucht, jeder »Genuss« überhaupt illusorisch ge- macht wird und werden soll. Die meisten »Vagabunden« arbeiten sich wacker ein und gewinnt selbst die Zwangsbeschäftigung mangels einer anderen lieb. Sonst würde nicht das Gros, wie eine Berthold'sche Tabelle zeigt, 6 bis 8 Wochen verweilen. Gewiss ist dies nach dem Reglement nötig, um die Kleider zu verdienen. Aber nur 2.4 ”/" ver- liessen ja auch die Kolonien heimlich; und nur 1.5 7.. schieden wegen T rtink, 1 .7 •/« wegen Arbeitsscheu aus. Renitenz und schlechtes Betragen bildete. nur bei 3.5% den F.ntlassungsgrund , wobei noch in Betracht kommt, dass der Begriff »Renitenz« ein sehr vager ist. 5.13" mussten wegen Zeitablaufs aus den Kolonien gestossen werden; die »Vagabun- den« wollten noch länger, als es den Verhältnissen der Anstalten nach möglich war, arbeiten. Berlin hat allerdings einen weit rascheren Wechsel der Kolonisten. Das kommt doch aber wohl nicht vorwie.

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370

LitUratur.

gend von der Nähe der »Pennen«, in denen die Leute nach Berthold verschwinden können, sondern offenbar von der Fülle der kleinen und grossen Beschäftigungsgelegenheiten, welche ein Arbeitsmarkt wie Berlin bietet. Warum sollen die Berliner auf einmal wieder mehr »Vagabun- den« sein* als die Arbeitslosen im Lande? Alles in der Berthold’schen Statistik weist ja darauf hin, in wie engem Zusammenhang die Ent- wickelung der »Vagabondage« mit derjenigen der maschinellen Industrie steht, die keine gelernten, sondern »Handarbeiter« schlechthin braucht und periodisch auf die Strasse wirft. Das grösste Kontingent der Kolo- nisten stellen nämlich die »Arbeiter« ohne nähere Angabe, bis zu 36 Prozent der Aufgenommenen; ausserdem ist je nach dem Ueberwiegen des einen oder des anderen Industriezweiges in einer Provinz dieser verhältnismässig stark vertreten, eine Beobachtung, welche eigentlich den Gedanken nahe legt, die betreffenden Industriellen zu den Kosten der Unterbringung Arbeitsloser mit heranzuziehen. Aber auch das ge- lehrte Proletariat, also alle Auswüchse der modernen Sozialzustände senden ihre Vertreter in die Arbeiterkolonien. Es kehrten dort ein in der kurzen Zeit des Bestehens Rechtsanwälte, Lehrer, Baumeister, Apo- theker, höhere Postbeamte u. s. w. Ein weiterer Hinweis darauf, welch' interessante Ergebnisse durch eine sorgfältige Statistik der Arbeitslosen zu erzielen wären. Die Kolonie Wilhelmsdorf, welcher Pastor von Bodelschwingh vorsteht, wird neuerdings auffällig gemieden. Das muss wohl seinen Grund in internen Verhältnissen dieser Anstalt vielleicht zu frömmelnd? haben. An der Hand dieser Thatsachen kommt Berthold selbst zu dem Resultate, dass die jetzigen Kolonien bei weitem noch nicht für das wandernde Publikum ausreichen. Der von den An- stalten versuchte Arbeitsnachweis hat ganz nichtssagende Ergebnisse aufzuweisen. Von den rund 1 1 000 entlassenen Personen konnten bis 1886 nur etwa 1400 Leute in neuen Stellungen untergebracht werden. Man sollte denken, dass der Verfasser wie die Freunde der Arbciter- kolonienbcwegung angesichts dieser Thatsachen auch bekennen würden : wir haben uns im Objekte unserer Bemühungen getäuscht. Wir glaubten eine »Vagabundenplage« vor uns zu haben, und erfuhren, dass wirt- schaftlicher Zwang die armen Wanderer auf der Strasse hält, die derart gern arbeiten möchten statt zu betteln, dass sie in unseren Kolonien unter den unfreiesten, unvorteilhaftesten Bedingungen, nur um ein not- dürftiges Unterkommen zu finden, Beschäftigung annehmen, dass wir sogar hunderte abweisen müssen (S. 2 des Buches). Leider kommen weder Berthold noch die Förderer der Arbeiterkolonien zu diesem nahe- liegenden Schlüsse, dass mit den Arbeiterkolonien eigentlich nur das Vorhandensein einer industriellen Reservearmee konstatiert ist, der gegenüber solche Palliativmittel geradezu ohnmächtig sind. Nachdem der Verfasser unseres Buches speziell an dem Beispiel von Karlshof noch festgestellt hat (S. 48), dass über ein Drittel der Kolonisten ohne

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Becker, Anleitung zur Bestimmung d. Arbeit s- u. Erwerbsunfähigkeit etc. 371

jeden Zehrgroschen trotz stellenweiser mehrmonatlicher Beschäftigung entlassen wurde, und dass wenige andere nur ganz kleine Beiträge in das Wanderleben mit hinausnahmen, gerät er ganz im Gegenteil in eine Art moralischer Entrüstung darüber, dass viele Kolonien wandernde Arbeits- lose zum zweiten oder drittenmale aufnehmen, indem er eine umständliche Aufstellung über diese wiederholten Aufnahmen mitteilt und die Worte des gefühlvollen Reg.-Präsidenten von Diest aus der Sitzung des Zentral- vorstandes deutscher Arbeiterkolonien citiert, in denen die Ruchlosen gebrandmarkt werden, welche mehreremale an die Thüren der Kolo- nien anklopfen. Der Herr Reg.-Präsident hat es schon durch eigene Umfrage erfahren: wenn die Zeit des Winters kommt und das Wan- dern nicht mehr so angenehm ist, suchen die »Verbrecher, Vagabunden und Bummler« Gefängnisse und Korrektionsanstalten, von jetzt ab auch die Arbeiterkolonien aus purer Lust am Faullenzen auf. Wer so wenig Verständnis für soziale Zustände hat, dem helfen alle Erfahrungen aus allen Arbeiterkolonien nichts. Früher hiess es, das Vagabunden- tum müsse durch die Kolonien bekämpft werden. Jetzt, da es sich zeigt , dass der obdachlose Proletarier selbst die härtesten Regle- ments und die undankbarste Beschäftigung über sich ergehen lässt, jetzt wird ein neuer Kampf geführt gegen die »Kolonienbummler«. Aus dem Vagabunden ist der Kolonienbummler geworden, und wer weiss, welches Epitheton dem wandernden Arbeitslosen, dem Mitglied der modernen industriellen Reservearmee, aus dem Munde dieser Menschenfreunde noch blüht. Berthold empfiehlt »durchgreifende Mass- regeln gegen die wiederholten Aufnahmen« und glaubt, dass nach Er- greifung derselben die dreifache Anzahl der jetzigen Plätze für Preussen allein vorhanden sein muss, um dem Bedürfnis zu genügen. Daraus, dass er hinzufügt, nur die »unverschuldet« arbeitslos Gewordenen sollten er- neute Aufnahme finden als wenn sich die Mehrzahl unserer Arbeiter aus Amüsement selbst beschäftigungslos machte! kann man schliessen, was mit den 4500 Plätzen auch in Zukunft genützt sein wird. Wer die wandernde Armut auch nur lindern will und nicht weiss, dass der rasche Wechsel auf dem modernen Arbeitsmarkte den strebsamsten Arbeiter nur allzu oft wieder beschäftigungslos durch dieselbe Gegend führen kann, der wird wenig zur Lösung der Aufgabe beitragen.

Frankfurt a. M. MAX QUARCK.

Becker , Dr. kgl. Bezirksphysikus und Stabsarzt a. D., An- leitung zur Bestimmung der Arbeite- und Erwerbsunfähigkeit muh Ver- letzungen. Berlin, 1888. Verlag von Ph. Chr. Enslin (Richard Schoetz). 8". iio S.

Verf., Vertrauensarzt der Bekleidungs Industrie-Berufsgenossenschaft, behandelt den sehr zeitgemässen Gegenstand in zwei Abschnitten; in

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Littet atur.

<len ersten allgemeinen Teil werden, nach einer kurzen Uebersicht der gesetzlichen Bestimmungen, die bei der Beurteilung der Erwerbsun- fähigkeit in betracht kommenden massgebenden Grundsätze und Be- griffsbestimmungen (Unfall bei dem Betriebe, Körperverletzung, Er- werbsunfähigkeit, völlige und teilweise, dauernde und zeitweise Erwerbs- unfähigkeit, Simulation, Kompetenz der Beurteilung, ärztliches Gut- achten) eingehend erörtert; in dem zweiten speziellen Teil geht Verf. alsdann näher auf die einzelnen Körperverletzungen ein und illustriert die hierbei in Betracht kommenden Gesichtspunkte durch eine Reihe zum Teil der eigenen Erfahrung entnommener lehrreichen Beispiele. Oie ganze Eigenart des schwierigen Gegenstandes, bei dem es sich bekanntlich darum handelt, zu begutachten, ob, bezw. in welchem Grade durch die Folgen des Unfalles die Arbeitsfähigkeit des Ver- letzten gelitten hat, und zwar ausgedrückt in Prozenten der früheren Arbeitsfähigkeit, bringt es mit sich, dass einerseits die Gutachten der Sachverständigen nicht selten weit auseinandergehen, und dass anderer- seits seitens der Laien diesen Gutachten wenig Verständnis entgegen- gebracht wird. In dieser Beziehung ist die kleine Schrift ganz ge- eignet, nicht nur den Aerzten, sondern allen bei der Arbeiterversiche- rung beteiligten und massgebenden Persönlichkeiten das Verständnis für die Beurteilung der nach Unfällen eintretenden Einbusse an Ar- beitsfähigkeit zu vermitteln und zu erleichtern.

Berlin. A. OLDENDORFF.

EINGESENDETE SCHRIFTEN.

Aargauische statistische Mitteilungen für das Jahr 1888. I. Heft : die aargauischen Kreditinstitute 1S86 bezw. 18S6/S7 mit historischen Rückblicken und kritischer Be- leuchtung vom Standpunkt der staatl. Oberaufsicht. Aarau, 1888, G. Keller. Folio. 5! S.

Adler, Dr. Georg, Dozent der Nationalökonomie und Finanzwissenscliaft an der Universität Freiburg i. B. Die Frage des internationalen Arbeiterschutzes. Nebst einer Kritik der Ansicht G. Cohns. S.-A. a. d. Annalen des Deutschen Reiches. München und Leipzig, 1886. G. Hirth. gr. S°. 113 S.

Allin s on, Edward, P. A. M. and Penrose, Boies, A. B. of the Philadelphia Bar. The City Governement of Philadelphia. A. u. d. T. Johns Hopkins Univcrsity Studies in Historical and Political Science. Herbert B. Adams, Editor. Fifth Series 1 II. Battimore, 1887, Murray, 8". 72 S.

Arbeiterbund . Jahresbericht des leitenden Ausschusses des schweizerischen Ar- beiterbundes und des schweizerischen Arbeitersekretariats für das Jahr 1887. Protokoll der Sitzung des Bundesvorstandes des schweizerischen Arbeiterbunds vom 5. Februar 1888. Zürich, 1888, Conzett. 8". 32 S.

Pelgische amtliche Statistik. Annuaire statistique de la Belgique. XVII. Anncc 1886. Bruxelles, 1887, Veuve Monnom. gr. 8". IX u. 354 S.

Chemins de fer. Postes et teltfgraphes. Marine. Compte rendu des Operation*

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Eingtsendde Schriften. 373

pendant Fannie 1886. Rapports prlsentls aux Chambrcs Legislatives. Bruxelles, 18S7, Fr. Gobbaerts.

Comptc rendu «les Opirations et de la .Situation de la caisse glnlrale d’epargnc et de retraite. Annle 1886. Lex. 8°. 54 S.

Industrie. Recensement de 1880. Public par le ministre de Finterieur et de Fin- struction publique. Tome I. Expose general. VIII u. 242 S. Tome II. Statistique ge- nerale des Industries recensees; 698 S. Tome III. Statistique detailiee des Itablisse- ments industriels, de leur personnel, de la duree du travail, du taux des salaires, et «les moteurs mecaniques. VII u. 932 S. Bruxelles, 1887. 40.

Statistique medicale de Farrale beige. Annee 1886. Bruxelles, 1887. Gob- baerts, gr. 8U. XIX u. 51 S.

Tableau general du commerce avec les pays etrangers pendant Fannie 1886, publie par le ministre des bnances. Bruxelles, 1887. XL u. 252 S. Folio.

Braun, Dr. Adolf, Zur Statistik der Hausindustrie. Eine Abhandlung. Als Ma- nuskript gedruckt. Wien, 1888, 8". IV u. 41 S.

Buchet, Prof l)r. Karl. Die Bevölkerung von Frankfurt am Main im 14. und 15. Jahrhundert. Sozialstatistische Studien. 1. Bd. Tübingen, 1886, I^aupp. 8°. XX u. 736 S.

Bücher, Prof. Dr. Karl. Frankfurter Buchbinder-Ordnungen vom XVI. bis zum XIX. Jahrhundert. Tübingen, 1888, Laupp. gr. 8". 76 S.

Cruesemattn, Eduard, Dr. jur. Solicitor. Das englische VVarenzcichengesetz von

1887. Aus dem Englischen übersetzt. Berlin, 1888. Puttkammer u. Mühlbrecht. 8°. 23 S. Deutsche Worte . Monatshefte, herausgegeben von E. Pcrncrstorfer. VIII. Jahr- gang, 1888. Heft 1—6. Wien, 1888. 8°.

Economisti, Giomale degli Diretto dal Dott. Alberto Zorli. Vol. III. Fase. I 3. Bologna, 1888. Tava e Garagnani. gr. 8°. 344 S.

Fabrikinspektion. Berichte über die Fabrikinspektion in der Schweiz 1886 u. 1887. Aarau, 1888. Sauerlander. 8W. 152 S.

Foucar, F. Theodor, Missionar in China. Der Alkohol als Betrüger und Mörder entlarvt. Ein amerikanisches Handbuch der Tempcrenz. Nach Justin Edwards D. D. Bonn, 1888. J. Schergens, kl. 8°. 71 S.

Gunton, George, Wcalth and Progress. A critical examination of the wages question and its economic relation to social reform. London, 1888. Macmillan & Co. kl. 8 '. XXIII u 381 S.

Grütliverein. Jahresbericht des schweizerischen Grütli Vereins. (1. Oktober 1886 bis 30. September 1887.) Zusammengestellt vom Zentralkomite des Vereins. St. Gallen,

1888, Wirth & Co. 4". 103 S.

Hasse, Dr. Emst Die Organisation der amtlichen Statistik. Antrittsvorlesung ge- halten zu Leipzig am 24. April 1888. Leipzig, 1S88. Duncker u. Ilumblot. gr. 8". 18 S.

Hedur, R. P. Das Monopol , ein soziales Reltungsmittcl insbesondere für die geringbemittelten Klassen des Volkes. Ein Wort zum Nachdenken. Glauchau, 18S8. Peschke 8U. 34 S.

Italienische amtliche Statistik. Annuario statistico italiano. Anno 1886. Roma, 1887. Eredi Botta, gr. 8U. CCLXXXV u. 1102 S.

Annali di Statistica. Inchiesta statistica sugli istituti dei sordomuti c «lei cicchi. Roma, 1887. Pasqualini c Zappa. 8". 73 S.

Statistica dei pensionati civili e militari «lello stato. Movimento dei pen- sionati dal agosto 1882 al 3t. dicembre 1885. Roma, 1887. Eredi Botta, 8". X und 149 S.

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374 lüngesendcte Schriften.

Hilanci comunali per l’anno 1885. Koma, 1887. Eredi Botta, gr. 8U. LXXX1 und 248 S.

Bilanci provmciali per l'anno 1885. Roma, 18S7, gr. 81’. XXXI u. 47 S.

Fopolazione. Movimento dello stato civile. Anno XXV. 1886. Introduziooe. Roma, 1887. Tipografia Elzeviriana. gr. 8°. CXXXV S.

Kisultnti dell* inchiesta Bulle condizioni igieniche c sanitaric nci com uni del regno. Roma, 1886. I. Notizie relative ai comuni capoluoghi di provincia. XV u. 1S1 S. II. Notizie date per ciascun comune. XV u. 503 S. III. Relazione generale. CCLXXII und 234 S.

Statistica delle cause di morte nei comuni capoluoghi di provincia e di circon- dario e delle morti violente avvenute in tutto il regno. Anno 1885. Roma, 1SS7. Eredi Botta, gr. 8°. I. XXIII u. 107 S.

Statistica giudi/iaria penale per l'anno 1885. Roma 1887. Eredi Botta, gT. 8*. CXX u. 663 S.

Statistica giudi/iaria civile e commcrciale per l’anno 1885. Roma, 1S87. Ereil] Botta, gr. 8°. 509 S.

Jahresbericht des Vereins der Buchdrucker und Schriftgiesser Niederösterretcfcs für 1887. Wien, 1888. Verlag des Vereins. 8°. 36 S.

Maats, Otto, Wirtschaftsgesetze der Verein. Staaten von Amerika. Vortrag. Wien. 1886, 8°. 17 S.

Marburg, Gustav. Soziale Reformen. Berlin 1888. Steinitz S°. 8 S.

Marx Aveling, Edward & Eleanor. The working-class movement in Atncria London, 1888. Swan Sonnenschein, Lowrey & Co. 12°. 212 S.

Mataja, I)r. Viktor, Privatdozent der politischen Oekonomie an der Universität Wien. Das Recht des Schadenersatzes vom nationalökonomischen Standpunkt. I^ripzig. 18S8. Duncker u Humldot. 8°. 204 S.

Mühlbrecht, Otto. Uebersicht der gesamten staats- und rcchtswissenschaftlichen Litteratur des Jahres 1887 zusammengestellt. XX. Jahrgang. Berlin, 1S88. Puttkammer u. Mühlbrecht. 8°. XXIX u. 236 S.

A’aef E. Die obligatorische Krankenversicherung für Arbeiter im Kanton Aargau. Aarau, 1886. G Keller. 8°. 62 S.

National Ökonomist: Tulsskrift, Redaktor: Aleksis Petcrsen-Studnitz. Kopenhagen 1888. Heft 1—3. 231 S.

Nee Je, M. Dr. Ermittelungen über die Lohnverhältnisse in Breslau. A. u. d. T Beiträge zur Sozialstatistik. Breslau, 1887. Morgenstern, gr 8°. too S.

Neubert, P. in Oberwinkel. Gesetzentwurf zu einer allgemeinen Alters- und In- validenversorgung im Deutschen Reich. Glauchau, 1S8S. Peschkc 8°. 15 S.

Political Science Quarterly, Edited by the faculty of political science of Colum- bia College. Newyork, 1888, 8°. Vol. III, Nr. I, 196 S.

Prise hl, F., Advokat, Advokatur und Anwaltschaft. Ihr Wesen, ihre Ziele und ihr Verhältnis zu den rationellen Grundlagen des Zivilpmzesses in vergleichender und geschichtlicher Darstellung. Berlin, 1888, Puttkammer u. Mühlbrecht ; gr. 8°. 496 S.

Kosin, Prof. Dr. Heinrich. Der Begriff des Betriebsunfalls als Grundlage des Entschädigungsanspruchs nach den Reichsgesetzen über die Unfallversicherung. S A. a. d. Archiv für öffentliches Recht. Bd. 111. Heft 2, 3. Freiburg, Mohr, 8*. S. 291 362.

Sainctelette, Ch„ Avocat, membre de la chambre des Repräsentant*», Accidents de travail. La jurisprudencc qui s’eloigne et la jurisprudence qui s’approche. Bruxelles, 1888, gr. 8°. 26 S.

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Eingesendete Schriften.

375

Pourvoi en Cassation. Vvc Desitter c. Etat Beige. Arret de Bruxelles I. Chambre, I. Juin 18187. Memoire pour Mme Vve Desitter. Bruxelles, 1888, gr. 8°. 32 S.

Scherrer, H. Fürsprech, das schweizerische Arbeitersekretariat. Akten hierüber zusammengestellt im Auftrag des Zentralkomites des Schweiz. Grütlivereins. St. Gallen, 1888. Wirth u. Co. 8W. 72 S.

Sehmid, Dr. Ferdinand. Statistische Studien über die Entwicklung der österreichi- schen Gewerbegenossenschaften mit besonderer Rücksicht auf die Wiener Genossen- schaften. S.-A. a. d. stalist. Monatsschrift. Wien, 1888. Holder, gr. 8°. 58 S.

Schönlank, Dr. Bruno. Die Fürther Quecksilber-Spiegelhelegen und ihre Arbeiter. Wirtschaftsgeschichtliche Untersuchungen. Stuttgart. 1888. J. H. W. Dietz. VIII u 256 S.

Sehtveizerische Statistik. Untersuchungen betr. die Bevölkerungsbewegung und die wirtschaftlichen Verhältnisse im Kanton Bern von 1876 1886. A. 11. d. T. Mit. teilungen des bernischen statistischen Bureaus. Jahrgang 18X7. Lief. II. Bern, 1887, 8°. 102 S.

Shaw, Albert, Ph. IX Ikaria. Ein Beitrag zur Geschichte des Kommunismus. Deutsch von M. Jakobi. Stuttgart, t886 I.utz. 8". VII u. 139 S.

Statistik, Bulletin de ('Institut international de Statislique. Tome I I. —4. livrai- son. Tome II. 1. et 2. livraison. Tome III. 1. livraison. 1887 et lS88. Rome, 1887, 188S. Botta, gT. 8°.

Trunksucht, die Hintanhaltung der und der Gesetzentwurf von 1887. Be- sprochen über Veranlassung des österr. Vereins gegen Trunksucht von einem Mit- glied desselben. Wien, 1888 Manz, 8°. 24 S.

Weyer% Otto W., Dr. der Staats Wissenschaften. Die englische Fabrikinspektion. Ein Beitrag zur Geschichte der Fabrikgesetzgebung in England. Tübingen, 1888, Laupp, 8°. XV u. 325 S. 6 M.

Wohnverhältnisse der arbeitenden Klassen in Schleswig-Holstein, die Verbesserung der. Bericht der von der Gewcrbekammer für die Provinz Schleswig-Holstein am 23. Febr. 1887 eingesetzten Kommission. Kiel, 188S. Schmidt u. Klaunig. 8". VIII und 142 S.

Workhouse . Report on the Advisability of Estahlishing a Workhotise, and on the general subject of poor-relief, 1887. New-Haven, 1X87. Tuttle, Morehouse & Tay- lor. 8*. 60 S.

Zeerleder, Dr. Alb., Prof, an der Hochschule Bern. Die schweizerische Haft- pflichtgesetzgebung. Mit besonderer Rücksicht auf das Gesetz vom 26. April 1887. Systematisch dargestellt. Bern, 188S. R. Jcnni, kl 8'\ 165 S.

Zum sozialen Ideal. Studienplan eines Gestorbenen. Dresden, 188S. Dr. A. Leh- mann 8°. 24. S.

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DIE ORGANISATION DER ARBEITSSTATISTI- SCHEN ÄMTER IN DEN VEREINIGTEN STAATEN.

VON

CARROLL 1). WRIGHT,

KOMMISSÄR DES ARBEITS-BÜREAUS DER VEREINIGTEN STAATEN IN WASHINGTON.

ln den Vereinigten Staaten von Amerika gibt cs eine Klasse blindes- wie einzelstaatlicher Aemter, die den Zweck haben, in einem sehr umfassenden Sinn alles statistische Material zu sam- meln, das sich auf die Verhältnisse der Arbeit und auf die so- ziale , moralische und erziehliche Wohlfahrt des Volkes bezieht. Uicse Aemter haben verschiedene Bezeichnungen, aber gleich- artige Aufgaben. In der folgenden tabellarischen Uebersicht sind deren Namen, die Staaten, in welchen sie sich befinden, sowie der Sitz der Bureaus, das Gründungsjahr und der Titel des ober- sten Beamten angeführt: (Siehe nächste Seite.)

Aus dieser Tabelle ist zu ersehen, dass es im Ganzen 22 Bureaus gibt, und das erste im Jahr 1869 im Staate Massachu- setts errichtet wurde. Nicht ohne Interesse ist es, zu erfahren, wie dieses Büreau entstand und was zu seiner Lrrichtung Ver- anlassung gab. Man kann sagen , dass die Agitation für eine Arbeiterschutzgesetzgebung in Massachusetts im Jahr 1845 be- gonnen hat. Allerdings finden sich bereits vor dem Jahre 1833 Bestrebungen nach einer solchen, allein dieselben bezogen sich meistens auf die Verleihung von Korporationsrechten für gewerb- liche und landwirtschaftliche Anstalten und Ähnliches. Besonders im Jahre 1832 hielten Landwirte, Handwerker und Lohnarbeiter Neu- Lnglands Zusammenkünfte und Versammlungen ab; sic erörterten ihre Notlage, Resolutionen und eine Adresse gelangten zur Annahme, welche die Lasten darlegten , unter denen die arbeitende Klasse

Archiv für >oz. Gesetzgbg. u. Statistik III. u. IV. 2 Q

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378

Wright,

Arbeitsstatistische Bureaus in den Vereinigten Staaten.

Name

Staat

Sit*

4 r.

ta

s

3 3

c .£L

Titel

des oberst» Beamten

Büreau für Arbeilsstntistik

Massachusetts

Boston

1869

Chef

Bureau für Industriotatist ik

Pennsylvania

Harrisburg

1872

Chef

Büreau für Arbeitsslatistik

Connecticut *)

Hartford

'S73

Kommssir

dto.

Ohio Columhus

1877

Kommtsür

Büreau für Arbeits- und In- dustriestatistik ....

New Jersey

Trenton

1S78

Chef

Büreau für Arbeitsstatistik u. Inspektion

M issouri

Jeflcrson City 1

1879

1

Komnussir

Büreau für Arbeitsstatistik

Illinois

Springfield

1S79

1 Sekretär

Büreau für Statistik und Geo- logie

Indiana

Imlianopolis

1 1879

Chef

Biireau für Arbeitsslatistik

New York

Albany

18S3

Komnussir

dto.

California

San Francisco

1S83

Kommiss-f

Büreau für Arbeits- und In- dustricstatistik ....

Michigan

Lansing

!

1883

1

1 Kommissar

Büreau für Arbeitsstatistik

Wisconsin

Madison

1883

Kommissar

dto.

Jowa

j Des Moines

1884

Kommissar

Büreau für Statistik der Arbeit

Maryland

Baltimore

1SS4

, Chef

Arbeits-Büreau

Verein. Staaten

Washington

1884

Kommissar

Büreau für Arbeilsstatistik

Kansas

Topeka

1885

Kommissar

Büreau für Industrie- und Ar- beitsstatistik

Maine

jAugusta

i

1887

Kommissif

Biireau für Arbeitsstatistik

Minnesota

St. Paul

1SS7

1 Komnussor

ilto.

North Carolina

Raleigh

iss?

Kommissar

dto.

Colorado

Denver

1887

Kommiss»:

dto.

Rhode Island

IProvidence

. 18S7

KommisO

Büreau für Arbeits- und In- dustriegut istik ....

Nebraska

i Lincoln

1887

1

Kommiss»:

litt oder zu leiden glaubte : die übermässige Arbeitszeit , die Schuldhaft, den Mangel eines Retentionsrechtes, den druckenden Militärdienst und andere Ursachen. Derartige Agitationen wur den mehrere Jahre hindurch fortgesetzt. 1845 wurden dem ge setzgebenden Körper von Massachusetts Petitionen überreicht, welche sich für einen elfstündigen Normaiarbeitstag aussprachen

1) Das Büreau des Staates Connecticut wurde im Jahre 1875 aufgelöst, ah« in Jahre 18S5 wieder eingerichtet.

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Die Organisation der arbeitsstalist. Aemtcr in den Verein. Staaten. 379

Indessen hatte dies keine Folge von irgend einem Belang. 1850 kam die Sache neuerdings aufs Tapet und gelangte zur Bera- tung, ein Gesetz kam abermals nicht zustande. Im Jahre 1852 wurde der Versuch gemacht, einen zehnstündigen Arbeitstag durch- zusetzen, aber auch dieser Versuch blieb ohne Wirkung. Erst im Jahre 1865 führten die so oft wiederholten Anstrengungen in dem gesetzgebenden Körper von Massachusetts zu dem vom 8. März datierten Beschluss, welcher den richterlichen Aus- schuss mit der Erwägung der Mittel beauftragte, den Arbeits- tag gesetzlich zu regulieren und auf eine bestimmte Stundenzahl einzuschränken. Dieser Beschluss wurde einer speziellen Kom- mission überwiesen, und ihr Übmann Eduard H. Rogers referierte über die gefasste Resolution, wonach die Ernennung einer unbe- soldeten, aus fünf Mitgliedern bestehenden Kommission gefordert wurde, um die Frage der Arbeitszeit zu untersuchen. Diese Re- solution wurde angenommen, und der Gouverneur ernannte eine Kommission, »um Berichte und statistische Daten über die Arbeits- zeit und die Lage der arbeitenden Klasse zu sammeln*. Dieser Kommission kann die erste Idee der Errichtung eines arbeits- statistischen Bureaus in Massachusetts zugeschrieben werden, denn sie berichtete im Jahre 1866 unter anderem, »dass Vorkehrungen getroffen werden sollten für die jährliche Sammlung zuverlässiger statistischer Daten betreffend die Lage , die Aussichten und Be- dürfnisse der arbeitenden Klasse«. Hier finden wir die erste klare und positive Aeusserung über die Notwendigkeit einer systema- tischen Sammlung arbeitsstatistischen Materials. In demselben Jahr gelangte in der Legislatur von Massachusetts folgende Re- solution zur Annahme:

»Eine Kommission von drei Personen soll von dem Gou- verneur ernannt werden mit der Machtvollkommenheit, Personen vorzuladen und Dokumente einzufordern, um die Frage der Ar- beitszeit zu untersuchen, besonders in ihrer Beziehung zu dem sozialen, erziehlichen und gesundheitlichen Zustand der arbeiten- den Klasse und zum dauernden Vorteil der Produktions-Interessen des Staates.«

Die Kommission, die in F'olge dieser Verordnung ernannt wurde, verfasste im Januar 1867 einen Bericht, in welchem sie unter anderen Gegenständen , über die sie referierte , auch em- pfahl, »dass ein statistisches Bureau errichtet werden solle zum Zweck der Sammlung und Nutzbarmachung aller Thatsachen, die

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sich auf die industrielle und soziale Wohlfahrt des Staates bezo- gen«. Das arbeitsstatistische Bureau wurde am 22. Juni 1869 errichtet.

Nachdem wir die amtlichen Vorgänge geschildert , welche dasselbe ins Leben riefen, mag die Darlegung der unmittelbarer. Veranlassungsgrunde zur Schaffung des Bureaus vielleicht uner- heblich erscheinen. Die Kommission zur Untersuchung der Ar- beitszeit vom Jahre 1866 und 1867 hatte ein arbeitsstatistisches Bureau empfohlen , aber die Angelegenheit war wahrend zwei Jahren wieder eingeschlafen. Die Legislatur widmete der Arbeits- gesetzgebung wenig Aufmerksamkeit. Zwar hatten sich viele Pe- titionen zu Gunsten eines achtstündigen Arbeitstag-- ausgesprochen, und speziell im Jahre 1869 wurden zwei Petitionen zu Gunsten eines Zehnstundengesetzes eingereicht , aber ihre Erledigung auf unbestimmte Zeit vertagt. Inzwischen wurde eine sehr einfluss- reiche Petition vorgelegt, welche den unmittelbaren Wendepunkt hinsichtlich der Errichtung des Bureaus gebildet haben durfte. E> war dies die Petition um die Verleihung des Korporationsrechtes seitens der Ritter von St. Krispin, einer grossen Schuhmacherverbin- dung. Die Petenten wurden, nachdem man ihr Anliegen angehört, entlassen. Als die Legislatur auch diese Petition verworfen hatte, begann sich hinterdrein die P'urcht geltend zu machen, dass man bei den Staatswahlen der Arbeiterstimmen verlustig gehen könnte, und einige schlaue Politiker rieten deshalb, den Arbeitern aus polib sehen Rücksichten einige Konzessionen zu gewähren. Und wirk- lich wurde nach den verschiedenen Bewegungen, welche die Pe- titionen der Kitter von St. Krispin und der Zehnstundenmanner hervorgerufen hatten, im Senat ein Gesetzentwurf zur Schaffung eines arbeitsslalistischeil Bureaus eingebracht, jedoch beim Uebcr- gang zur dritten Lesung, am 13. Juni, verworfen. Am 14. wurde diese Abstimmung nochmals in Betracht gezogen und, unter Ab- weichung von der Geschäftsordnung, gelangte die Bill zur dritten Lesung. Dieselbe wurde im Repräsentantenhaus in geringfügiger Weise amendiert , ging endlich durch und erhielt, wie bereits berichtet wurde, am 22. Juni 1869 die Bestätigung des Gouver- neurs,

Das arbeitsstatistische Bureau sollte ein ständiges Unter- suchungsamt sein; indem die Gesetzgeber dafür stimmten, ver- pflichteten sie sich aber keineswegs zur Ausführung eines spe- ziellen sozialrcfornialorischen Systems. Ohne Zweifel war nun die

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Zeit fiir ein solches Amt gekommen und die Errichtung desselben bezeichnet eine neue Aera in der statistischen Wissenschaft Ame- rikas.

Das Gesetz umschrieb die dem Amt zugewiesenen Aufgaben in einem sehr weiten Sinn ; sie wurden folgendermassen bezeich- net : »Die Pflichten dieses Bureaus sollen in der Sammlung, Zu- sammenstellung, wissenschaftlichen Ordnung und Vorlage von jährlichen an dem oder vor dem 1. März an die I.egislatur ein- zureichenden statistischen Berichten bestehen, die auf alle Arbeits- zweige im Staate und insbesondere auf die kommerzielle , in- dustrielle , soziale , erziehliche und gesundheitliche Lage der ar- beitenden Klasse, wie auf »ein dauerndes Gedeihen der Produk- tion des Staates Bezug haben, c

Der hier citierte Wortlaut wiederholt sich mit verschiedenen Modifikationen in fast allen Gesetzen, die in den Vereinigten Staa- ten derartige Bureaus ins Leben riefen, und auch in dem bundes- staatlichen Gesetz , durch welches das arbeitsstatistische Biireau der Union geschaffen wurde.

Nach der Errichtung des Bureaus von Massachusetts war Pennsylvania der erste Staat, der ein derartiges Biireau begrün- dete, was auch aus der oben angeführten Tabelle zu ersehen ist. Das geschah erst 1872, drei Jahre nach der Errichtung des Amtes von Massachusetts. Gegenwärtig unterhalten 21 Staaten derartige Aeniter. Die Kosten derselben werden überall, wo sie bestehen, auf gesetzlichem Weg gedeckt; das Budget derselben bewegt sich zwischen einem jährlichen Aufwand von £ 200 bis £ 2000 und der Gehalt des obersten Beamten schwankt von £ 200 bis £ 600.

Während fast alle zivilisierten Nationen statistische Büreaus irgend welcher Art haben , und einige unter diesen originelle Untersuchungen anstellen, ist das arbeitsstatistische Biireau seinem ganzen Charakter nach etwas spezifisch amerikanisches; während jene sich mit der Statistik nur beschäftigen, soweit sie aus of- fiziellen Quellen fliesst und auf amtlichen Angaben ruht, wie die Statistik der Geburten , Todesfälle , Steuern , Einwanderung etc., befassen sich diese amerikanischen Bureaus wesentlich mit aus selbständigen Untersuchungen und Erhebungen hergeleiteter Sta- tistik über die soziale, sittliche, erziehliche und industrielle Wohl- fahrt des Volkes.

Die Veröffentlichungen der verschiedenen Büreaus der Vcr-

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W r ig h /.

einigten Staaten sind allgemein als wertvolle Beitrage zur ökono- mischen Wissenschaft und Litteratur anerkannt, aber in der Ver- folgung ihrer Ziele stossen sie auf dieselben Schwierigkeiten wie die Aufnahme des Census: den Mangel einer Gleichartigkeit in der Fassung ihrer Resultate, die eine Vergleichung derselben auf breiter Basis leicht ermöglichte. Die Bemühungen europäischer Statistiker, um die Resultate der verschiedenen Censusaufnahmen in Einklang zu bringen und auf diesem Weg zu einer internatio- nalen Vergleichung zu gelangen, werden von Seite der Beamten der amerikanischen arbeitsstatistischen Bureaus mit grossem In- teresse verfolgt. Diese Beamten thun indessen manches auf eigenem Weg, um zu demselben Ziel zu gelangen. Sie halten jährlich eine Versammlung ab, um ihre Methoden einer verglei- chenden Erörterung zu unterziehen , geeignete Massnahmen zu besprechen und zu gleicher Zeit Vorschläge für eine immer wirk- samere und erfolgreichere Thätigkeit ihrer Aemter zu erwägen Diese Verhandlungen gewinnen von Jahr zu Jahr grösseren Wert, in dem Mass als die leitenden Beamten durch ihre Erfahrung in den Stand gesetzt werden , die Resultate experimenteller Unter- suchungen vorzulegen , und man darf hoffen, dass es ihnen ge- lingen wird, die Methoden zu vereinfachen und gleichartig zu ge- stalten, falsche Darstellungen zu vermeiden und die Arbeitssta- tistik der Vereinigten Staaten sowohl glücklicher auszubilden als auch zugleich immer volkstümlicher zu machen.

Die Methoden, die sic gegenwärtig einschlagen , sind selbst- verständlich dieselben, welche alle statistischen Aemter anwenden, die auf irgend eine Weise oder in irgend welchem Mass selbstän- dige Untersuchungen anstellen. Es gibt drei derartige Methoden erstens, die Methode sich Auskünfte zu verschaffen durch Ver- wendung von gleichförmigen Formularen oder Fragebogen , die an diejenigen Personen versendet werden , von denen man An- gaben erwartet; zweitens, die des öffentlichen Verhörs; drittens, die durch Verwendung eigener Agenten , welche Fragen in der ihnen vorgeschriebenen Form stellen, um die tabellarische Zusam- menstellung zu erleichtern und sich eine gleichinässige Auskunft zu sichern hinsichtlich des Gegenstandes , der Form des Aus- drucks etc. Die zuerst genannte Methode hat sich als wenig praktisch erwiesen. Die zweite ist diejenige , die von gesetzlich ernannten Kommissionen angewendet wird und in der Regel nur Unbedeutendes erzielt , indem sie eine Masse ungereimter Aus-

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sagen zusammenbringt, die nicht leicht klassifiziert werden kön- nen und in manchen Fällen für eine Klassifikation durchaus un- brauchbar sind. Das ist auch die Ursache, warum die Unter- suchungen parlamentarischer Kommissionen, die die Arbeiterfrage betrafen, auf umfangreiche Berichte mündlicher Aussagen hinaus- gelaufen sind , ohne dass die Kommission denselben eine ge- drungene und systematische Zusammenfassung der Ergebnisse hinzugefugt hätte. Es bleibt daher fUr die arbeitsstatistischen Bureaus nur eine praktische und zugleich fruchtbare Methode der Erhebung übrig : die Verwendung von besonderen Agenten oder Experten , die bei Denjenigen , von denen besondere Aus- künfte gewünscht werden , persönliche Erkundigungen einziehen. Die Erfahrung von neunzehn Jahren hat ergeben, dass dies die allein zuverlässige Methode ist, es sei denn, dass man offizielle Angaben aus offiziellen Quellen sammeln will , in welchem Fall ein entsprechender Fragebogen nützlich ist und gewöhnlich zum erwünschten Ziel führt.

Der Kernpunkt der arbeitsstatistischen Erhebungen bleibt immer die Feststellung der Wahrheit, und sodann dass die Re- sultate furchtlos aufgezeichnet werden ohne Rücksicht auf die theoretischen Ansichten der Leute , welche die Auskünfte sam- meln. Das richtige Verhalten, das unsere Büreaus in dieser Hin- sicht befolgen , ist in der That bemerkenswert. Die Leiter der- selben haben erkannt, dass ein arbeitsstatistisches Büreau weder soziale und industrielle Probleme lösen kann, noch dass es den Burgern direkte materielle Vorteile zu bringen vermag, sondern dass seine Wirksamkeit vielmehr einen gewissen erziehlichen Cha- rakter hat, indem es durch verständige Untersuchungen und durch furchtlose Veröffentlichung der Ergebnisse derselben die Leute in den Stand setzt , zu einem klareren und vollständigeren Ver- ständnis der sie umgebenden Verhältnisse zu gelangen. Die Schwierigkeit solche erzieherische Wirkungen zu erreichen , ist in der That sehr gross. Ansichten und Theorien stehen dem vollkommenen Gelingen sehr im Weg, aber Ansichten und Theo- rien müssen bei statistischen Arbeiten in den Hintergrund treten ; sie gehören zur besonderen und legitimen Aufgabe des National- ökonomen, aber nicht zu der des Statistikers. Als wissenschaft- liche Statistiken können nur jene gelten, welche die Wahrheit in völliger Nacktheit aussprechen , aber nicht jene , die einzig und allein unsere eigenen Theorien feststellen. Eine sorgfältige Prüfung

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W right.

der Berichte der verschiedenen arbeitsstatistischen Bureaus der Vereinigten Staaten beweist unzweifelhaft, dass die leitenden Hc amten in der Regel diese Thatsache anerkennen. Die Leute, die ihre Leistungen kritisieren, sind gewöhnlich solche, die den Re- sultaten missbilligend gegenüberstehen , und denen kein andere- Mittel zur Verfügung steht, als die Methode und die Personen, die sie anwenden , zu kritisieren. Bis jetzt hat übrigens gegen die Arbeiten der verschiedenen Biireaus kein erfolgreicher Angriff stattgefunden, und zwar darum weil die Resultate , die von den Beamten vorgeführt wurden, einfache statistische Deduktionen waren und nicht Ansichten und Theorien, sondern das Ergebnis thatsächlicher Untersuchungen, und es hat auch, wie bereits er- wähnt, keine erfolgreiche Widerlegung irgend einer statistischen Schlussfolgerung der älteren Bureaus stattgefunden, ausgenommen vielleicht in zwei oder drei Fällen , und hier haben die Bureau- selbst den Irrtum entdeckt und freimütig der Üeffentlichkeit mit- geteilt.

Diese kurze Darstellung der eigentümlichen Thätigkeit der arbeitsstatistischen Biireaus mag die Nützlichkeit derselben zur Genüge erwiesen haben. Die gesetzgebenden Körperschaften be- dienen sich ihrer, wo immer sie existieren, um spezielle Unter suchungen durchzuführen, um genaue Erhebungen an zus teilen über Gegenstände, welche zu gesetzgeberischen Massnahmen fuh- ren sollen , und so lange keine Politik in die Verwaltung dieser Bureaus eindringt und die Gouverneure das erzieherische Interesse im Auge behalten statt eines parteipolitischen , werden auch die Beamten dieser Biireaus ausserhalb der politischen Strömung blei- ben. Die jüngeren arbeitsstatistischen Biireaus leiden sehr unter einem häufigen Stellenwechsel ihrer Beamten, aber die Ansicht gewinnt glücklicherweise immer mehr Verbreitung . dass Bestän- digkeit in der Verwaltung eines statistischen Biireaus eine uner- lässliche Voraussetzung seines Erfolges ist. Indessen liefern die jüngeren Biireaus trotzdem ausgezeichnete Arbeiten, und ihr ei gentliches Feld bildet die Feststellung aller Thatsachen, die sich auf die industriellen, erziehlichen, moralischen und sozialen Ver- hältnisse des Volkes beziehen. Dass die Arbeit jener Bureaus in so vortrefflicher Weise geleistet wird trotz der beschrankten finanziellen Mittel, die ihnen gewöhnlich dafür zur Verfügung gc stellt werden, ist für diese Aemter ein sehr gutes Zeugnis. Einige der Biireaus sind gut ausgestattet, aber in der Regel haben die

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Die Organisation der arbeitsstatist. Aemter in den Verein. Staaten. 385

Aemter nicht halb so viel Geld als zu einer befriedigenden I-ösung ihrer Aufgabe nötig wäre. Im übrigen ist in dieser Hinsicht eine Besserung im Werk.

Unter den wichtigen Gegenständen, welche die Aufmerksam- keit der staatlichen Bureaus auf sich gelenkt und in Betreff deren sie selbständige Untersuchungen ausgeführt haben, seien folgende hervorgehoben : Kinderarbeit in Fabriken ; die Erziehung von Kin- dern , die in der Industrie beschäftigt werden; die Verhältnisse der Tenementhäuser und der Wohnungen niedrig gelohnter Ar- beiter in den Städten; Strikcs; Kosten des Lebensunterhalts; die Sparkassen und ihr Verhältnis zum Wohlstand des Volkes; Ar- beitszeit; Löhne und Verdienst; die Lage der Fabrikarbeiter; die moralische, wirtschaftliche und gesundheitliche Lage der weib- lichen Arbeiter; das Trucksystem; Unfälle in den Fabriken; Ge- nossenschaftswesen; Schiedsgerichte und Einigungsämter; ver- gleichende Lohn- und Preisstatistik in verschiedenen Gegenden; Armut und Verbrechen; Arbeitslosigkeit; Gefängnisarbeit; Trun- kenheit und Branntweinhandel; Verbrechen; Ehescheidung; der Gesundheitszustand in den Arbeiterwohnungen und Arbeitsstätten ; die Wirkungen bestimmter Beschäftigungszweige auf die Gesund- heit der Frauen; der Einfluss der Unmässigkeit auf Verbrechen; Profit und Einkommen; Haftpflicht der Unternehmer für Unfälle: gewerbliche Bildung; die Lage der Grubenarbeiter; Sonntags- arbeit; Gesundheitsstatistik der in weiblichen Schulen Graduierten; Profitrate; Nahrungsverbrauch und viele andere Gegenstände von grösserer oder geringerer Wichtigkeit.

Das Arbeits-Büreau der Vereinigten Staaten widmete seinen ersten Bericht der Frage des wirtschaftlichen Niedergangs, seinen zweiten der Gefängnisarbeit seinen dritten den Arbeits-Einstellungen und Aussperrungen während eines Zeitraums von sechs Jahren im ganzen Umfang der Vereinigten Staaten, den vierten der allgemeinen ökonomischen, moralischen und sozialen Lage der weiblichen Ar- beiter in den grossen Städten. Dieses Bureau ist auch auf Grund einer genauen vom Kongress erteilten Vorschrift mit einem Be- richt beschäftigt über die Ehe- und Scheidungsfrcquenz im ganzen Lande für die Periode der letzten zwanzig Jahre, in dem die Ur- sachen und alle die Scheidung unterstützenden Umstände mitge- teilt werden sollen, soweit solche aus den Scheidungsurkunden zu ermitteln sind. Auch ist es mit einer umfangreichen Untersuchung

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386 Wright,

beschäftigt, die sich auf die Arbeitsverhältnissc beim Eisenbahn- wesen bezieht.

Das Arbeits-Biireau der Vereinigten Staaten wurde im Januar 1885 in Uebereinstimmung mit dem im Juni [884 vom Kongress angenommenen Gesetz ins Leben gerufen. Im Juni 1888 ging ein Gesetz ') durch, welches das Bureau zu einem unabhängigen De- partement erhob unter der Bezeichnung Arbeitsdepartement. Dieses Departement wird die Arbeit des Bureaus fortsetzen, als ob kein Wechsel stattgefunden hätte, aber das Departement ist seitdem mit verschiedenen speziellen Aufgaben betraut worden. Eine der wichtigsten desselben ist die Festsetzung der Produktionskosten von in den Vereinigten Staaten zollpflichtigen Artikeln, und z»ar ihrer Produktionskosten in den hervorragendsten Ländern, in denen sie hergestellt werden ; dabei sind die einzelnen Preiselemente niu Einschluss der in den betreffenden Industrien gezahlten Lohne, der üblichen Arbeitszeit etc. anzugeben. Eine andere wichtige Auf- gabe desselben ist es, ein System aufzustellen, durch welches von den allgemeinen auf die Produktion bezüglichen Verhältnissen der hauptsächlichsten Industriezweige der Vereinigten Staaten in kurzen Zwischenräumen Kenntnis erlangt werden kann. Das Departe- ment hat auch die Aufgabe, sofort Bericht zu erstatten über die Ursache aller sich ereignender inländischen Strikes und Streitig- keiten, und ist ermächtigt, auch in fremden Ländern jede Erkun- digung über die ihm anvertrauten Angelegenheiten einzuziehen, so weit dies dem Departement wünschenswert erscheint. Dr- alles sind Aufgaben, die dem Arbeitsdepartement obliegen ausser den umfassenden Erhebungen, die sich auf die materielle, soziale, geistige und sittliche Wohlfahrt des Volkes beziehen.

Die bereits gegebene Aufzählung von bearbeiteten Themen, wie der Spielraum, den die organisatorischen Gesetze den ver- schiedenen arbeitsstatistischen Biireaus der Vereinigten Staaten gewähren, umfasst eine grosse Reihe von Untersuchungen, dte alle auf die Lage des Volkes Bezug haben. Aus dieser kurzen Skizze geht deutlich hervor, dass diese Bureaus einen hohen Beruf zu erfüllen haben. Ihre Redlichkeit in der Erfüllung ihrer Auf gäbe ist unangreifbar, und die von ihnen zu Tage geförderten Ergebnisse bilden eine sehr wertvolle Reihe von Beiträgen zur Sozialwissenschaft.

l) Vgl. die UcbcrtvCtzung desselben in der Rubrik Gesetzgebung.

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Die Organisation der arbeitsstatist. Aemter in den Verein. Staaten. 387

Der gemeinverständliche Unterricht der Massen in den Ele- menten der politischen und ökonomischen Wissenschaften ist die wichtigste erziehliche Aufgabe der Gegenwart. Die arbeitssta- tistischen Bureaus fördern die Erreichung dieses grossen Ziels durch zuverlässige Untersuchungen aller jener Verhältnisse, deren thatsächlichen Zustand zu kennen von Wichtigkeit ist, durch Er- grundung der Ursachen, aus denen die bestehenden traurigen Verhältnisse hervorgehen, welcher Art auch immer sie sein mö- gen, und durch die rückhaltlose Darstellung der Resultate ihrer Forschung. Der Versuch, derartige Arbeiten niedrigen Zwecken dienlich zu machen, ist ein Verbrechen, welches allerdings durch das positive Gesetz nicht leicht bestraft werden kann, wohl aber durch ein ungeschriebenes, das den Uebelthäter mit einem Urteil trifft, welches mehr als ein bloss richterliches zu fürchten ist : mit dem Wahrspruch der öffentlichen Meinung , welcher über denjenigen ergeht, der die Sache der Menschheit schändet.

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DIE BELGISCHE ARBEITERENQUETE UND IHRE SOZIALPOLITISCHEN RESULTATE.

VON

1)r. h. hkrkner.

III.

Naclulcm im Vorangegangenen das bei der Enquete befolgte Verfahren naher besprochen wurde, gilt es nunmehr, die durch die Untersuchung klargestellten Zustände und die zu deren Besse rung in Aussicht genommenen Massregeln mitzuteilen.

Mit Rücksicht auf die grosse Zahl äusserst verschiedenartiger Gegenstände, die in den Bereich der belgischen Untersuchung gezogen worden sind, und den vergleichsweise engen Raum, der sich hier zu unserer Verfügung stellt, könnten wir, sollte gewisser- massen ein Auszug, eine Uebersicht des Enquetewerkes gegeben werden, den Charakter der ermittelten Verhältnisse kaum in den allgemeinsten Umrissen andeuten. Da in dieser Weise aber dir Tagespresse sich bereits vielfach mit der Enquete befasst hat, glauben wir den Bedürfnissen der Leser besser gerecht zu werden, wenn wir das Gebiet, auf das sich die folgenden Ausführungen erstrecken sollen , enger begrenzen und die vorzuführentlen Zu stände in möglichst scharfen und bestimmten Linien wiederzu geben versuchen.

Sieht man sich einmal in die Notwendigkeit versetzt, zwischen den verschiedenen Ergebnissen der Enquete eine Auswahl zu treffen, so dürfte sich das Hauptinteresse naturgemäss auf jene Verhältnisse richten, deren Abstellung, allgemein als ganz be- sonders dringend anerkannt, zum Teil bereits durch gcscti geberische Massnahmen erfolgt ist oder demnächst zu gewärtigen steht. Es dürfte Niemanden zweifelhaft sein, dass wir hiebei den Truckunfug und jene Zustände im Auge haben, welche auch für

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Die belgische Arbeitereni/uete und ihre sozialpolitischen Resultate. 389

Belgien eine Fabrik- und Bergwerksgesetzgebung höchst wün- schenswert erscheinen lassen.

In der Einleitung verwiesen wir bereits auf die grosse Aus- dehnung, welche der Truckunfug in Belgien im vorigen Jahr- hundert gewonnen hatte. Auch erzählten wir, dass die von Seiten der Regierung dagegen unternommenen Schritte nahezu erfolglos geblieben waren.

Die Einführung der Gewerbefreiheit durch die Franzosen schloss die Aufhebung der Truckgesetze in sich, da letztere als mit der Freiheit der Arbeit in Widerspruch stehend betrachtet wurden. Die Beseitigung der Verbote im Vereine mit der bald nachher mächtig emporstrebenden grossindustriellen Entwicklung, welche vielfach die Abhängigkeit des Arbeiters vom Arbeitgeber verstärkte und somit die Existenzbedingungen des Truckwesens noch verbesserte, hatte denn auch nur die Folge, dass der Un- fug, wo er bestand, weiter erhalten blieb, und sich überdies noch in vielen neu zur Entfaltung kommenden Industriezweigen eben- falls einnistete.

Nachdem in Ländern, in denen man bereits seit Jahrzehn- ten scharfe Gesetze gegen das Truckwesen erlassen hat, dessen völlige Ausrottung trotzdem immer noch nicht gelungen ist, kann es wenig verwundern, wenn dieser Unfug in Belgien, wo ihm bis auf die jüngste Zeit herab in keiner Weise entgegengetreten wurde, auch in der grössten Blüte stand.

Die verschiedenen beklagenswerten Erscheinungen, welche wir alle mit dem Namen »Truck« zu bezeichnen pflegen, haben folgenden gemeinsamen Zug: der Arbeitergeber sucht aus der Machtstellung, welche ihm gegenüber unorganisierten Arbeitern zufällt, noch dadurch einen Gewinn zu ziehen, dass er den Lohn ganz oder teilweise nicht in barem Gelde, sondern in Waren ent- richtet. Bald entsprechen die letzteren vollständig, bald nur teil- weise oder gar nicht dem ßedarfe des Arbeiters; bald werden sie unmittelbar verabreicht, bald sehen sich die Arbeiter nur ver- anlasst, für einen gewissen Betrag des Lohnes in einem bestimm- ten Laden Waren zu kaufen, oder den Betrag derselben sich vom Lohne abrechnen zu lassen ; bald wird der Unfug vom Ar- beitgeber selbst, bald von Personen, die ihn vertreten und sich demzufolge einer der seinen ähnlichen Machtstellung gegenüber den Arbeitern erfreuen, ausgeübt. Oft sind die Ladenhalter auch nur Leute, welche mit ersterem oder letzteren im Einvcrständ-

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H er kn er.

nisse stehen. Durch all' die aufgezählten Momente gewinnt das Truckunwesen eine grosse Mannigfaltigkeit der Erscheinung. Von der rohesten Form, bei welcher dem Arbeiter statt des Lohnes Waren geboten werden, für die er keinen Bedarf besitzt und die er demzufolge meist mit grossem Schaden verkaufen muss, bis zu der angeblich väterlichen Fürsorge, mit der ein Arbeit geber für seine Arbeiter ein Magazin eröffnet, in welchem sie ihren Bedarf zu scheinbar niedrigeren, als den ortsüblichen Preisen decken können, finden sich in Belgien nach den Ermittelungen der Enquete so ziemlich alle Arten des Truckes vertreten.

Ehe wir darangehen, die Verbreitung des Truckunfuges io den einzelnen Industriezweigen zu erklären, mögen durch einige Beispiele, welche wir der Enquete entlehnen, die eben ausge sprochcnen allgemeinen Bemerkungen illustriert werden.

Im Scilergewerbe , sowie der Sackleinen- und Segeltuch- weberei zu Termonde und Zele ist der Truckunfug in einer solchen Ausdehnung anzutreffen, dass der Bürgermeister des erstgenann- ten Ortes sich zu folgender Aussage genötigt sieht:

»Es ist eine unbestreitbare Thatsache, dass in Zele in einem solchen Umfange in Waren gezahlt wird, dass die Arbeiter dieser Gemeinde sowie einiger anderer in die Stadt kommen, um die Waren, welche sic erhalten haben, in’s Leihhaus zu bringen.«

Aus St. Nicolas, dem Hauptorte des Waeslandes wird be- richtet :

»Einige Arbeitgeber bezahlen ihre Arbeiter in der Weise, dass sie ihnen Produkte ihrer Fabrik zu Preisen geben, die selten niedriger sind, als die im Detailhandel. Iss ist vorgekommen. dass der Arbeitgeber den dem Arbeiter verkauften Stoff zu einem Preise wieder zurücknahm, der bei weitem niedriger war, als er ihn beim Verkaufe gestellt hatte.«

»Hier, wie anderwärts, bestehen die »banmolens« der Arbeit geber und der Werkmeister. Es gibt Arbeitgeber, welche die Hälfte, zuweilen selbst den ganzen Betrag des Lohnes in Lebens mittein «sder Ellenwaren zahlen, die sie zu einem höheren Treis« als den ortsüblichen anrechnen, und die die Arbeiter mit Verlust wieder zu verkaufen genötigt sind, weil sie deren zu viel erhalten und sie andere Bedürfnisse befriedigen müssen.«

Für das Truckwesen in der hausindustriell betriebenen Watfenfabrikation von Lüttich und Umgebung sind folgende Aus- sagen besonders charakteristisch :

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Die belgische Arbeiterenquete um! ihre sozialpolitischen Resultate. 3yi

»Ich bin Flintenlaufmeister und Krämer. Sobald ich nicht mehr von den Lütticher WafTenfabrikanten ausgebeutet werde, kann ich meinen Laden aufgeben. Alle meine Kameraden be- finden sich in der gleichen Lage. Wir thun nichts anderes, als dass wir die Waren, die uns so viel kosten, wieder teuer ver- kaufen. Man darf nicht vergessen, dass wir keine eigentlichen Arbeitgeber sind. Wir arbeiten mit und wie unsere Arbeiter.«

»Man muss seinen Bedarf im Laden des Arbeitgebers decken und der kleinste wie der grösste Kauf wird gebucht, um zu sehen, ob man nicht wo anders hingcht.«

»Der Arbeitgeber behauptet, er verliere an seinem Flinten- laufgeschäft, und er müsse einen Laden halten, um sich für diese Kinbussen zu entschädigen.«

Lieber die bei grossindustriellen Unternehmungen am meisten verbreiteten Formen des Truckes gibt folgendes Beispiel Aufschluss :

»Im Kohlenbergwerke zu Lscouffiaux besitzt der Schwieger- sohn des Direktors eine Brauerei und eine Genievrehandlung en gros; zwei andere nahe Verwandte verkaufen Spezereien und Ellenwaren. Ebenso hält die Mutter des Unterdirektors einen Laden. All' das: der Verkauf von Bier, Genievre, Spezereien etc. wächst und gedeiht im wohlthuenden, schützenden Schatten des Bergwerkes.

Und ebenso ist es zu Hornu und Wasmes, zu I’roduits du Flenu, zu St. Hortense, zu Belle-et-Bonne und an vielen anderen Orten.«

»Nicht gerade, dass die Direktoren und Unterdirektoren einen gar zu regen Anteil an diesem Missbrauche der Autorität nehmen wurden, aber das untergeordnete Personal ist übereifrig und brennt darauf, die Gunst des Herrn sich zu erwerben.

Aehnliches wird vielfach aus den Kohlenbezirken des Bori- nage, Centre und dem Becken von Charlcroi berichtet. Die Mehr- zahl der Arbeitgeber im Hennegau hat den Angestellten aller- dings das Ladenhalten verboten. Indessen, können sic es auch nicht unmittelbar thun, ein Einverständnis mit einem Krämer lasst sich stets leicht hersteilen.

Schwer werden auch die Dockarbeiter in Gent durch Truck- unfug geschädigt.

»Warum ist ein so grosser Teil der Genter Dockarbeiter dem Trünke ergeben? Weil alle Arbeitgeber zugleich auch Wirte sind. Jedermann ist verboten, in die Lagerhäuser einzutreten, aber die

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H e r kn er.

Kellnerinnen erscheinen von Zeit zu Zeit, uni nachzusehen, ob uns nichts abgeht. Man bezahlt uns in der Schenke und wir müssen immer auf das Geld warten. Der Arbeiter, von der An- strengung ermattet, nimmt einen Tropfen, dann einen zweiten, und so gibt er sich allmählich dem Trünke hin. Man sollte den Arbeitgebern das Halten von Schenken verbieten.

M. de Ritter: Muss man etwas gemessen, bevor man die Arbeit erhält ?

Alle gegenwärtigen Arbeiter: Ja.

M. Kämmens: Was sind eigentlich Ihre Arbeitgeber?

Der Zeuge: Schenkwirte. Sie tragen ihre Dienste einem Courtier an, der ihnen Arbeit verschafft Ein Kapital von 1000 Fr. würde hinreichen, um selbst die Arbeit zu übernehmen, die Vermittler auszuschliessen, den Lohn zu erhöhen und die Trunk- sucht unter den Arbeitern mit einem Male auszutilgen.

Ein dritter Arbeiter: Ich kenne einen Arbeitgeber, der zu- gleich Schenkwirt ist und der innerhalb zweier Wochen n Tonnen Hier verkauft hat. Danach kann man auf die Menge des ver- kauften Genicvre schliesscn ! Alles fällt auf den Arbeiter zuruck Die Arbeitgeber machen sich eine ungezügelte Konkurrenz, sie übernehmen die Arbeit zu den niedrigsten Freisen und versuchen cs an dem Lohne der Arbeiter wieder herauszuschlagen. Ueber- dies ist es uns verboten, Arbeitervereinen beizutreten.«

Und dieses System, dessen verschiedene Formen durch die angeführten Beispiele nunmehr zur Genüge gekennzeichnet er- scheinen dürften, ist an manchen Urten so fest und tief einge- wurzelt, dass denjenigen, die es ausuben, sogar jedes Gefühl für die Unsittlichkeit einer solchen Ausbeutung gänzlich abhanden gekommen ist. Man sieht sie selbst als gutes Recht an.

So äussert sich der Bürgermeister von Andcnne: »Der Ver- waltungsrat meiner Fabrik ist der Ansicht gewesen, die Werk- meister zum Halten von Läden zu ermächtigen. Und zwar des- halb, weil man einen Arbeiter, der zu dieser Stellung gelangt ist und die Besitzerin eines Ladens heiratet, nicht dafür strafen kann, indem man die Frau zum Verzichte auf ihren Laden zwingt.«

ln Lokeren, einem durch Truckunfug berüchtigten Orte, gab ein Fabrikant folgende Aussage ab :

»Die Männer verdienen bei mir 15 20 Fr. in der Woche und müssen für */s des Lohnes bei meiner Tochter Einkäufe machen. Die Weiber verdienen S 10 Fr. per Woche und haben

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Die belgische Arbeiterenquete und ihre sozialpolitischen Resultate. 393

ihr für ’/« ihres Lohnes abzunehmen. Ich zwinge Niemanden bei mir zu arbeiten; ich kann Arbeiter bekommen so viele ich mag.«

Aehnlich ein Fabrikant aus Zele :

»In fast allen Fabriken zahlt man in Waren. Was mich betrifft, so begünstige ich bei meinen Arbeitern den Laden eines Gliedes meiner Familie; aber ich lege ihnen nicht die Verpflich- tung auf, ihren Bedarf dort zu decken. Sie sind frei. Wie .dem auch sein mag , ich will mit gutem Beispiele vorangehen und werde fortan meine Arbeiter in barem Gelde entlohnen. (Zu- stimmung.)«

Wenn es in erster Linie für die gesetzgeberische Technik auch dringend geboten erscheint, all' die wechselnden Formen, in denen der Truckunfug ausgeübt wird, genau kennen zu lernen, damit die Paragraphen des Gesetzes sie unentrinnbar umklammern, so kann eine wirkliche Beseitigung dieses Unwesens doch nur dann erwartet werden, wenn auch die tieferen Entstehungsursachen desselben schwinden. Bevor wir jedoch auf letztere näher ein- gehen, möge noch die sozialökonomisch äusserst wichtige Frage, nach der Höhe des den Arbeitern durch den Truck zugefügten Schadens ihre Erledigung finden. Glücklicherweise hat in bezug auf das angeregte Moment die Untersuchung einige Daten von unbestrittener Authentizität zu Tage gefordert, indem der Kom- mission von den Flintenlaufarbeitern zu Nessonvaux, Trooz, Prayon und Foret die Bücher übergeben wurden , in denen die laden- haltenden Arbeitgeber die ihnen gelieferten Waaren gebucht hat- ten. Vergleicht man die darin enthaltenen Preise mit den sonst üblichen , so ergibt sich , dass der Zucker um 27 72 °/o , die Seife 25 87 °/o , zumeist 56 °/o , das Petroleum um 25 212 °/o teurer verkauft wurde.

Obwol auch noch über viele andere Waren Angaben vor- handen sind , so scheinen die angezogenen Artikel doch beson- ders zu einem Vergleiche geeignet, weil bei ihnen der Hauptsache nach nur geringfügige Qualitätsschwankungen Vorkommen.

Herr Morisseaux, der Verfasser des Berichtes über das Truck- wesen, kommt auf Grund der verschiedenen der Kommission ge- machten Angaben zu dem Schlüsse, dass die Verpflichtung des Flintenlaufarbeiters bei seinem Arbeitgeber zu kaufen , min- destens eine Verringerung des gezahlten Lohnes um 20% be- deute, dass also der Arbeiter anstatt 3 Fr. tatsächlich nur 2.40 Fr. erhalte.

Archiv für toi. Gesetxgbg. u. Statistik. 111. u. IV.

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Herkner,

Es wäre jedoch keineswegs zutreffend, wollte man die Schä- digung, die dem Arbeiter durch den Truckunlug erwächst, nicht höher veranschlagen als die Differenz zwischen den Preisen des Truckladens und jenen gewöhnlicher Läden beträgt. Nicht nur, dass der Arbeiter im ersteren teurer kaufen muss , er sieht sich auch veranlasst, seine ganze Ausgabewirtschaft so einzurichten, wie es dem ladenhaltenden Arbeitgeber gefallt. Ist letzterer Schenkwirt , so gilt es vor allem Bier und Genievre zu verbrau- chen ; ist er Verkäufer von Ellenwaren, Spezereien etc., so muss der Arbeiter seinen Bedarf an Wäsche, Kleidung, Kaffee, Zucker und dgl. steigern. Er gewinnt von seinen Einnahmen und Aus- gaben überhaupt keine klare Vorstellung. Der Umstand, dass mit dem Trucksystem in der Regel auch sehr lange Lohnzahlungs- fristen verknüpft sind , begründet ein ausgedehntes Borgsystem und damit den Untergang jeder wirtschaftlichen Voraussicht, Der Arbeiter lebt dann eben blind in den Tag hinein. Er sieht nie Geld und denkt somit auch an keine Ersparnisse. Sein Lohn kann willkürlich und unauffällig vermindert werden : es genügt, die Preise im Truckladen etwas zu erhöhen, oder Qualität und Gewicht zu verschlechtern. Der Arbeiter ist ja »an Hand und Kuss vom Arbeitgeber gefesselt, der sein Geschick leitet, wie es ihm gefällt, der ihn bestiehlt, wenn es ihm passt, der, wie die Enquete es enthüllt hat, sich sogar nicht scheut, vom Arbeiter Waren unter ihrem Werte zurückzukaulen, die er ihm eben über ihrem Wert verkauft hat» ').

Wir deuteten bereits an , dass zu einer erfolgreichen Be- kämpfung des Truckunwesens die Erkenntnis desselben in mor- phologischer Richtung nicht genügt, sondern dass dasselbe auch in genetischer Beziehung erfasst werden muss. Dieser letzgenann- ten Seite wollen wir , bevor die gesetzgeberischen Massregeln gegen den Truck erörtert werden , noch einige Bemerkungen widmen.

Im allgemeinen entspringt der Truck zweifellos einer über- massig gesteigerten Abhängigkeit des Arbeiters vom Arbeitgeber. Alle Massregeln, welche dieser entgegenarbeiten und dem Arbei- ter beim Abschlüsse des Arbeitsvertrages und in seinem Arbeits- verhältnisse eine möglichst freie Stellung zu verschaffen suchen, werden daher auch den Truckunfug in seinen Existenzbedingungen

i) Worte des Berichterstatters.

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Die belgische Arbeiterenquete und ihre sozialpolitischen Resultate. 395

auf das Empfindlichste treffen. Je schwieriger sich die von der Gesetzgebung fälschlich vorausgesetzte Freiheit des Arbeitsver- trages verwirklichen lässt, desto geringer ist naturgemäss auch die Aussicht auf eine rasche Beseitigung des Unfugs. So z. B. bei den Arbeitern der grossen Kohlenwerke. Da steht eine grosse Aktiengesellschaft, der unter Umständen sämmtliche Werke eines weiten Bezirkes gehören, als geschlossene Macht Tausenden von Arbeitern gegenüber. Oft sind letztere noch durch Grundbesitz an die Scholle gefesselt. Und diese Macht wird durch Direk- toren, Ingenieure u. s. w., also keineswegs sozial besonders hoch- stehende Personen ausgeübt, welche der Versuchung begreiflicher- weise nur schwer wiederstehen können , ihren Einfluss auf die Arbeiterbevölkerung durch Begünstigung eines Trucksystems auch zu ihrem eigenen Vorteil auszunützen.

Wenn wir die abhängige Lage des Arbeiters als vornehmste Quelle des Truckes bezeichneten, so haben wir damit aber noch keine Formel erlangt, welche uns alle Arten des Trucks in ihrem Kerne erschliessen könnte. Spielt das Abhängigkeitsverhältnis auch natürlich immer eine ansehnliche Rolle, so gesellen sich in- des zu ihm in der Regel noch andere Momente, welche in der besonderen Organisation oder der ökonomischen Stellung ein- zelner Industriezweige wurzeln. Wie die Enquete ergeben hat, erwies sich in Belgien das Truckunwesen meist mit gewissen hausindustriell betriebenen Gewerbszweigen am innigsten verknüpft. So mit der Waffenfabrikation , der Strohflechterei , der Zigarren- industrie, der Spitzenklöppelei und Hausweberei. Und in der That, auf diesem Boden ist der Truck eigentlich entstanden und seit Jahrhunderten in Uebung gewesen.

Wie bekannt, charakterisiert sich der hausindustrielle Betrieb dadurch, dass kleine, aber selbständige Leute den Vertrieb ihrer Erzeugnisse durch einen kaufmännischen Verleger besorgen lassen, der im Laufe der Zeiten allerdings immer mehr und mehr das Ansehen eines wirklichen Arbeitgebers gewinnt. Bei dem kauf- männischen Wesen des Verlegers lag es nahe, durch ihn nicht nur die Erzeugnisse verkaufen, sondern auch das Rohmaterial, sofern es von weither zu beschaffen war, einkaufen zu lassen. Oft mag der Verleger ursprünglich Krämer gewesen sein, so dass sich der Gedanke aufdrängte, von ihm auch die übrigen Bedarfs- artikel zu nehmen. Man trat dann in ein Verhältnis mit wechsel- seitiger Abrechnung, das den Gebrauch des baaren Geldes nahezu

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Herkner,

überflüssig machte. Je höhere Ansprüche aber im Fortgange der ökonomischen Entwicklung an die kaufmännischen Eigen- schaften des Verlegers gestellt wurden, je mehr seine Stellung gegenüber jener der kleinen Meister wuchs, desto seltener wurde der letztere noch wie eine gewöhnliche Kundschaft behandelt, sondern man konnte es ruhig wagen, ihm schlechtere Waren für gleiche Preise, oder dieselben Waren für höhere Preise ab- zugeben als anderen Käufern. Der hausindustrielle Meister musste sich das gefallen lassen, wenn er die Arbeit, die nicht mehr er dem Verleger, sondern letzterer ihm gab, erhalten wollte. Die fürchterliche Konkurrenz, in welche die Hausindustrie vielfach mit dem mechanischen Fabriksbetrieb trat , und der Wettbewerb, welcher unter den Verlegern selbst sich entfaltete, bewirkten einen solchen Preisfall in den Erzeugnissen , dass der Verleger beim Verkaufe derselben Einhussen erlitt und nur deshalb denselben weiter betrieb, weil er sonst auch der erzwungenen Kundschaft seiner Arbeiter, die ihm allein noch Gewinn abwarf, verlustig ge gangen wäre !

Auf diesem Punkte nun sind viele der belgischen 1 lausindu- strien angelangt.

Achnlich liegen die Verhältnisse, wo das Trucksystem sich an ein Subunternchmerwesen anschliesst wie bei manchen Ar- beiten im Bergbau und in den Docks. Auch hier übernimmt der Wirt oder Krämer eine Arbeit nur zu dem Zwecke , um durch die Machtstellung, welche er durch die Vergebung derselben ge- winnt, sich eine ausreichende Kundschaft zu sichern.

Vielfach lehnt sich der Truckunfug auch an die Akkordloh- nung oder vielmehr an die durch dieselbe angeblich geforderten langen Lohnzahlungsfristen an. Wenn der Arbeiter erst 6 8 Wochen nach Beginn der Arbeit dafür entlohnt wird , so ist er zu einem Vorschüsse von Arbeit gezw ungen, den er nicht leisten könnte, wenn nicht auch ihm Lebensmittel für diese Zeit vor- geschossen würden. Am ehesten wird sich natürlich der Arbeit- geber. der die vorgeschossenc Arbeit erhalten, dazu verstehen können, dem Arbeiter auf seinen Lohn hin Vorschüsse zu machen Er findet es bald vorteilhaft, dieselben nicht in barem Gelde. sondern in Waren zu bewerkstelligen. Oder aber er leistet bei einem bestimmten Krämer gegen Zusicherung eines Anteiles am Gewinn Bürgschaft für den Arbeiter.

Wenn wir auch einen so grossen Nachdruck auf die Be-

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DU britische Arbeiter cmiuctc und ihre sozialpolitischen Resultate. 397

kämpfung der Ursachen des Truckes gelegt haben, so wollen wir damit keineswegs der Meinung Vorschub leisten , als ob nicht auch eine Beseitigung der Wirkungen dringend geboten wäre. Im Gegenteil. Gerade hier übt die Wirkung auch einen sehr be- deutenden Einfluss auf die Verstärkung der Ursachen aus. So wenig man zu einer vollständigen Vernichtung des Truckunfuges eines Systemes von Massnahmen entbehren kann , welche die Verwirklichung der Freiheit des Arbeitsvertrages, eine Reorgani- sation verrotteter Betriebsformen und Absatzverhältnisse bezwecken, so thöricht wäre es, wollte man auf eine direkte Bekämpfung, wie sie durch besondere Truckgesetze erfolgt, Verzicht leisten.

Von dieser Auffassung ist auch die belgische Arbeiterkom- mission ausgegangen und hat 1 lerrn Morisseaux mit dem Ent- würfe eines gesetzlichen Truckverbotes beauftragt. Die ursprüng- liche Form desselben ist äusserst interessant. Während in bezug auf die Art und Weise der Lohnauszahlung im allgemeinen das englische und deutsche Gesetz als Muster vorschwebte, enthielt der Entwurf des Herrn Morisseaux noch eine Bestimmung, welche, wenn sie durchgedrungen wäre , das ganze in Belgien ziemlich verbreitete I’atronagesystem zum Falle gebracht hätte. Leider aber brachte das Patronagesystem den Entwurf zum Falle ! Es sollte nämlich in Zukunft ein Abzug vom Lohne nur strafweise und für Zwecke der Krankenkasse , vorausgesetzt dass die Ar- beiter an deren Verwaltung teilnähmen, gestattet sein.

So wären also jene Vorschüsse des Arbeitgebers an den Ar- beiter zum Zwecke des Ankaufes eines Grundstückes, eines Häus- chens '), des Loskaufes vom Militär, Vorschüsse, welche durch Abzüge am Lohne eingezogen zu werden pflegen, ferner Abzüge für Ueberlassung von Wohnungen, für Alter- und Invalidenver- sicherung , kurz alle jene Beziehungen , welche der Arbeitgeber so gern zwischen sich und dem Arbeiter entstehen sieht, unmög- lich geworden.

I Ierr Morisseaux verfolgte die Tragweite seines Gedankens bloss in bezug auf jene Magazine, welche von Arbeitgebern er- richtet, den Arbeitern die Waren zwar zu den ortsüblichen Prei- sen überlassen , jedoch den erzielten Gewinn pro rata der Ein- käufe unter die Arbeiter verteilen oder denselben ihnen für Ver-

l) »C'cst une garantie excellente contrc les greves« wie Herr Flachet , einer der heftigsten Gegner des Trackgesetzes in der Kammer, wohl mit Recht bemerkt.

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Herkner,

sicherungszwecke gutschreiben. Er führte nun aus , dass jene Magazine, deren Zahl in Helgien sehr beträchtlich, ja keineswegs vom Gesetze getroffen würden, sofern die Verkäufe nur in barem Gelde erfolgten und die Arbeiter zu denselben nicht gezwungen würden. Uebrigens wussten die Arbeiter ihren Herren für solche Wohlthaten in der Regel wenig Dank und es sei besser , wenn sich solche Magazine in Arbeiterkonsumvereine verwandelten.

Wir teilen die Auffassung des Herrn Morisseaux vollkommen. Nicht so aber die für das Zustandekommen der Gesetze in Bel- gien massgebenden Klassen. Ein Sturm der Entrüstung erhob sich; schon in den Beratungen der Kommission wurde der Ent- wurf wesentlich abgeschwächt und musste von der Regierung noch weiter gemildert werden , um für ihn in der Kammer eine Majorität zu erringen. In der Fassung , wie er den Kammern vorgelegt und schliesslich auch zum Gesetz erhoben wurde , ist es denn auch dem Arbeitgeber wieder gestattet unter Anrech- nung am Lohne dem Arbeiter Wohnung , Genuss eines Grund- stückes, Werkzeuge, Rohstoffe und Arbeitsanzüge zu liefern, doch sollen die Preise hiefür (ausgenommen ftir Wohnung und Grund- stücke) mit den Gestehungskosten sich decken. Ferner können die Arbeitgeber berechtigt werden, den Arbeitern Kleidung, Le- bensmittel und Brennmaterial zu liefern gleichfalls unter der Be- dingung, dass die Waren zu den Gestehungskosten abgegeben werden. Während der Regierungsvorschlag aber noch einige Vorschriften enthielt, durch welche eine Prüfung, ob die Preise wirklich mit den Gestehungskosten übereinstimmten, möglich ge- worden wäre, wurden gerade diese so notwendigen Bestimmungen noch von der Kammer zurückgewiesen.

Dein Patronagesystem und leider auch allem, was unter die- ser Flagge segelt, ist somit vom Gesetze kein Härchen gekrümmt worden.

Obwohl wir keineswegs verkennen , dass die Aufrechterhal- tung der von Morisseaux vorgeschlagenen Bestimmung anfangs auch für die Arbeiterklasse manche Unannehmlichkeit, vielleicht sogar eine gewisse Schädigung herbeigeführt haben würde , mit der Zeit hätte sie doch zweifellos den segenbringendsten Einfluss auf die Hebung der Selbständigkeit der Arbeiter ausgeübt. Da unter den Arbeitern das Bedürfnis nach Vorschüssen für bestimmte Zwecke ja unbedingt vorhanden ist, so würden, wenn die Arbeit- geber gesetzlich verhindert worden wären, dasselbe zu befriedigen.

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Die belgische Arbeilereiujuele und ihre sozialpolitischen Resultate. 399

diese Funktion vermutlich Arbeiterverbindungen übernommen ha- ben. Dieser Gedanke dürfte angesichts der so kräftig sich ent- faltenden belgischen genossenschaftlichen Bewegung keineswegs zu kühn erscheinen.

So hätte dieses Truckgesetz mehr als das anderer Länder durch die mitgeteilte Bestimmung zur Förderung der Unabhängig- keit der Arbeiterklasse beitragen und den Truckunfug nicht nur in der Wirkung, sondern auch in seiner Ursache tötlich treffen können.

An das in Belgien heute bereits in Kraft getretene Gesetz ') über die Auszahlung des Arbeitslohnes (publiziert im Moniteur beige vom 21. Oktober 1887, Nr. 294) können wir diese Hoffnung leider nicht knüpfen. Wenn es zur Abstellung der allcrgröbsten Missbräuche und bei den Arbeitgebern zu einer den Grundsätzen der Sittlichkeit in höherem Grade als bisher entsprechenden An- schauung über den Truckunfug führen sollte, würden unsere Er- wartungen bereits überholt sein.

IV.

Unsere Ausführungen über das Truckwesen konnten wir mit der Besprechung eines bereits heute in Geltung stehenden Ge- setzes schliesscn. In bezug auf die Fabrik- und Bergwerksgesetz- gebung befinden wir uns leider nicht in dieser glücklichen Lage, denn noch immer entbehrt Belgien einer solchen, und wir können deshalb nur den Stand dieser Frage beleuchten.

Streng genommen ist es aber freilich nicht ganz richtig, wenn wir behaupten, Belgien besitze zur Zeit noch keine Bergwerks- gesetzgebung. Durch ein kaiserliches Dekret vom 3. Januar 1813 wurde nämlich die unterirdische Arbeit von Kindern unter 10 Jahren im Bergbaue verboten (Art. 29). An eine Durchführung dieser Bestimmung scheint aber niemand gedacht zu haben. Ausserdem bestand und besteht noch ein Gesetz über die »Eta- blissements insalubre.se, also gesundheitsschädliche Betriebe, welche durch besondere Kommissionen inspiziert werden können. Die Thätigkeit der letzteren ist jedoch, soweit die Ergebnisse der Enquete ein Urteil gestatten, eine ziemlich mangelhafte und un- zureichende gewesen. Dies war bis vor wenigen Jahren der be- stehende Rechtszustand.

Dass die Arbeiterklasse schon vor langer Zeit die Einführung

l) Vgl. die Lebersetzung desselben in der Rubrik Gesetzgebung.

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400

He r kne r ,

von Arbeiterschutzgesetzen auf ihr Programm gesetzt hat, wurde in der Einleitung von uns bereits hervorgehoben. Zur Ehre Belgiens müssen wir aber noch hinzufügen , dass , wenn auch nur vereinzelt und erfolglos, auch aus anderen Kreisen der Be- völkerung der Wunsch nach einer Fabrikgesetzgebung laut wurde. Schon im Jahre 1848 lag der Kammer ein Entwurf von Visschcrs und Ducpetiaux vor, der einen lä’/istündigen Normalarbeitstag für Erwachsene kannte und die Kinder und Frauenarbeit ent- sprechend einschränkte. Dieser Vorschlag fand aber ebensowenig wie alle späteren Entwürfe den Beifall der Gesetzgeber. Erst im Beginne der siebziger Jahre wandten sich angesichts der immer bedrohlicher werdenden Arbeiterbewegung viele Gemeinden aus den Provinzen Hennegau und Flandern, ja sogar die Gemeinde- räte von Brüssel, Mecheln, Gent und Löwen an die Regierung mit der Bitte, ein Fabrikgesetz zu erlassen. So wurde die F'rage wieder in der Kammer aufgenommen. Es währte aber noch bis zum Jahre 1878, ehe dieselbe sich mit einem Entwürfe einver- standen erklärte, welcher die unterirdische Arbeit im Becgbaue für Knaben unter 12 und Mädchen unter 13 Jahren verbot. Auch dieser Entwurf wurde nicht Gesetz, da nun der Senat ihn verwarf. Wieder ruhte die Angelegenheit, und erst im Jahre 1S84 ent- schloss sich die Regierung, über die Köpfe der gesetzgebenden Versammlungen hinweg durch königliche Verordnung das zu er- zielen, was man auf streng konstitutionellem Wege in dem kon- stitutionellen Musterstaate nicht erreichen konnte, nämlich Knaben unter 12 und Mädchen unter 14 Jahren vor den unterirdischen Arbeiten im Bergbaue zu schützen. Die Rechtskraft jener kgl. Verordnung vom 28. April 1884 aber wurde aus naheliegenden Gründen bestritten.

Unter diesen Verhältnissen war es natürlich, dass die Ar- beiterkommission sich mit der Frage der Arbeiterschutzgesetz- gebung eingehend beschäftigte. Bleibt doch auf diesem Gebiete trotz der genannten Verordnung eigentlich noch alles zu thun.

Bekanntermassen ist der Zweck einer Arbeiterschutzgesetz- gebung , Bestimmungen zum Schutze der Gesundheit und des Lebens, sowie der sittlichen und geistigen Entwicklung der Ar- beiter zu treffen. All’ das kann gefährdet werden dadurch, dass die Arbeit an und für sich schon gesundheitsschädlich ist, dass sie zu lange andauert, oder von Personen, die ihr Geschlecht und Alter hiefür gänzlich ungeeignet erscheinen lässt, ausgefuhrt wird.

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Die belguche Arbeiterciu/uete mul ihre sozialpolitischen Resultate. 401

Unter Berücksichtigung der eben angeführten Gesichtspunkte sollen zunächst, wenigstens für zwei der wichtigsten belgischen Gewerbszweige , für Kohlenbergbau und Textilindustrie '), die Missstände, wie sie die Enquete neuerdings aufgedeckt hat, ge- schildert werden. Dann erst wird uns die Frage beschäftigen, auf welchem Wege Arbeiter, Arbeitgeber, Arbeiterkommission und Regierung eine Abhilfe herbeizufiihren gedenken.

Wie sehr das Leben der Arbeiter in den Kohlengruben durch die mannigfachsten Umstände, durch schlagende Wetter, Ein- stürze infolge mangelhaften Stützwerkes oder unvorsichtiger Spreng- ungen, durch Ueberschwemmungen u. a. m. bedroht erscheint, darüber lassen die immer und immer wieder in den Zeitungs- spalten erscheinenden Nachrichten von grossen Grubenunfallcn kaum einen Zweifel aufkommen. Indes auch die Gesundheit der Arbeiter erweist sich in hohem Grade gefährdet.

»Die so peinvollen Arbeiten der Gruben veranlassen eine sehr ungleichmässige Entwickelung der verschiedenen Körperteile; die vorzugsweise angestrengten Organe verlangen eine übermässige Entwickelung, die übrigen bleiben schwach und verkrüppelt. Frust und Schultern stärken sich auf Kosten der Beine ; Verbiegungen der Wirbelsäule stellen sich ein ; die Leibesgrösse bleibt unter dem Masse ausserhalb der Gruben. Das letztere Uebel zeigt sich nur in den Gruben mit zu niedrigen Galerien, wo sich der Ar- beiter beständig gekrümmt halten muss. Die Arbeit unter Tage wirkt auf die ganze Konstitution ; oft werden die Glieder gelähmt. In einem Alter, wo sie bei einem anderen Gewerbe noch arbeits- fähig geblieben wären, verlieren sie die Muskelkraft und werden

invalide Viele Grubenarbeiter sind mit 40 Jahren Greise

und sterben w'eit früher als andere Arbeiter s).

Als der Gesundheit besonders nachteilig müssen ferner noch die plötzlichen Temperaturschwankungen und die üblen Gase, denen die Bergarbeiter ausgesetzt sind, angesehen werden.

1) Der Kohlenbergbau mit 94,757 Arbeitern steht an erster Stelle. Sodann folgt die Textilindustrie mit 91,956 Arbeitern. Die für den Bergbau in Betracht kommen- den Provinzen sind Hennegau, Lüttich und Namur. Die Textilindustrie ist, soweit sic sich auf die Verarbeitung von Baumwroile, Flachs und Hanf erstreckt, in Ost- und Westflandern, die Schafwollindustrie aber in der Provinz I.üttich (Vervicrs) heimisch. Vgl. Stalistique de la Belgique. Industrie. I. Bruxelles, 18S7.

2) Dieses Citat sowie die folgenden, die sich auf die physischen Wirkungen der Grubenarbeit beziehen, sind einer schon früher erfolgten Knquelc entnommen, welche von medizinischer Seite eigens zur Darlegung dieser Verhältnisse eingeleitel wurde.

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Hcrkncr,

Ungeachtet dieser so verderblichen Einflüsse betrug im Jahre 1880 die Arbeitszeit im Kohlenbergbau nach den Ermittelungen der belgischen Statistik für 53 843 Arbeiter 10 Stunden, für 13804 11. für 16673 sogar 12 Stunden. Diese Angaben entsprechen natür- lich nur normalen Verhältnissen. Häufen sich die Bestellungen, so kommt es auch vor, dass einzelne Arbeiterreihen bis zu 16 Stunden arbeiten müssen. Im allgemeinen ist die Arbeit unter Tag in zwei Schichten verteilt; die eine beginnt um 2, 3 oder 4 Uhr nachts und arbeitet bis zur nämlichen Stunde des Nach- mittags, wo die andere antritt und nun ihrerseits bis zur gleichen Stunde der Nacht an der Arbeit verbleibt. So muss also jede Schicht einen Teil ihrer Nachtruhe opfern. Die Arbeiter, welche über Tag beschäftigt sind, beginnen Winter und Sommer um 4 Uhr früh und arbeiten bis 5 oder 6 Uhr abends. Ihre Ar- beitszeit ist also länger als die ihrer Genossen unter Tag. Frei- lich ist ihre Arbeit auch weniger gefährlich.

Erwies sich die Konstitution des erwachsenen Mannes diesen weitgehenden Anforderungen schon nicht gewachsen, um wie viel trauriger müssen nun noch die Wirkungen der Grubenarbeit auf Kinder und weibliche Personen sein! Noch immer sind, ob- wohl die oben erwähnte kgl. Verordnung nicht ohne günstige Folgen geblieben ist, 4388 Knaben und 1958 Mädchen unter 14 Jahren, 7277 Knaben und 2816 Mädchen zwischen 14 und 16 Jahren und 6961 weibliche Personen über 16 Jahre im belgischen Kohlen- bergbau beschäftigt.

»Die Arbeit der Kinder in den Gruben hemmt ihr Wachs- tum und verspätet den Eintritt der Reife, verlängert somit das Kindesalter, kürzt wiederum das Mannesalter ab, indem sie vom Jünglingsalter ab ernstliche Erkrankung, Schwächung der Kon- stitution, Erschöpfung der Lebenskraft bedingt. Die Arbeiten übersteigen die Kräfte des Kindes, verunstalten seinen Körper und schwächen seine Geisteskräfte.«

Noch verderbenbringender ist naturgemäss die Einwirkung auf den feineren weiblichen Organismus.

»So viel steht fest, dass die Arbeit bei den schon in der Jugend in Gruben beschäftigten Frauen das Knochensystem ver- bildet, die Wirbelsäule krümmt, das Becken verengt, dass bei ihnen Fehl- und Frühgeburten sehr häufig sind, dass die Sterb- lichkeit bei der Geburt unter ihnen stärker ist, als unter den übrigen Frauen, dass, wenn die Verengerung des Beckens auch

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Die belgische Arbeiterenquete und ihre sozialpolitischen Resultate. 403

nicht immer bis zur Veranlassung von Schwergeburten sich aus- bildct, sie doch immer mehr oder weniger ausgcbildct vorhanden ist. Der Grad kann abhängen von dem Alter, in welchem das Mädchen die Grubenarbeit begonnen hat, von der Widerstands- kraft seines Körperbaues, von der gewöhnlichen Dauer seiner Arbeit.«

Und nicht minder bedauernswert als die Schädigung der Gesundheit ist endlich auch der Einfluss der Grubenarbeit in sitt- licher Beziehung, wofür die Enquete eine Fülle von Belegen bietet.

»Die Grube ist eine Schule der Unsittlichkeit für die Weiber; junge Mädchen von 14 20 Jahren kommen beständig mit Männern und Burschen in Verkehr, was zu empörenden Scenen Veran- lassung bietet. Die unsittlichen Gewohnheiten sind bei Weibern, die in Gruben gearbeitet haben, so eingewurzelt, dass es ihnen unmöglich wird, sie wieder los zu werden, auch nachdem sie sich verheiratet haben. Daher die grosse Zahl unglücklicher Ehen in diesem Lande ; die Frauen verlassen ihren Gatten, ihre Kinder, ihren Haushalt, um einem Liebhaber zu folgen, nehmen oft die kleinen Ersparnisse, die sich etwa im Hause finden, noch mit, und nachdem diese durchgebracht, werden sie von dem Lieb- haber verlassen. Dann, unglücklich und von allem entblösst, sind sic gezwungen, ihren beleidigten Gatten um Verzeihung anzugehen, um später von neuem anzufangen, denn nichts kann sie von ihren in der Jugend angenommenen unsittlichen Gewohnheiten abbringen.

»Wenn Sie die Unordnungen kennen würden , welche unten in der Grube vor sich gehen, so würden Sie sofort gesetzlich die Arbeit des Weibes neben der des Mannes in der Grube ver- bieten. Der »Germinal« enthält Uebertreibungen , aber auch Wahres. Die armen Mädchen, welche in die Gruben steigen, zählen kaum 15 Jahre und schon sind sie verloren.

Warum ist der Arbeiter im Borinage unglücklicher als ein anderer? Einfach deshalb, weil alle Mädchen im Borinage von 11 Jahren an in den Gruben arbeiten und dort bleiben bis gegen das 19. Jahr, wo sie sich verheiraten. Was sollen diese Unglück- lichen von der Hauswirtschaft verstehen ? Sie können sich da- mit nicht abgeben, wenn sie einen 12 I3stündigen Arbeitstag hinter sich haben. Sie kennen nicht den WTert des Geldes und geben 2 Fr. für eine Ware, die 80 c. wert ist.«

Und wie Frauen selbst, die noch nicht den Gefahren unter-

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Herkner,

legen sind, über diese Arbeit denken, mögen folgende Aussagen kennzeichnen.

»Auf die Aufforderung des Herrn Sabatier hin, des Präsi- denten, treten einige Weiber vor; er redet ihnen mit einigen wohlwollenden Worten zu und veranlasst sie, ihre Beschwerden ohne Furcht und Zögern vorzubringen.«

Ein junges Mädchen von 17 Jahren tritt vor. Sie sagt, dass sie um 5 Uhr hinabsteigt und bald um 9 Uhr, bald um 11 Uhr zurückkehrt. Sie beladet 60 70 Wagen im Tage . . .

Herr Denis: Sind Sie in der Schule gewesen?

Das junge Mädchen: Ja, vom 8. bis zum 12. Jahre. Ich konnte lesen, aber ich kann es nicht mehr. Sie verlangt die Beseitigung der Frauenarbeit in den Gruben.

Herr Sabatier: Aber könnten Sie anderwärts Beschäftigung finden ?

Das junge Mädchen: Ich könnte in den Dienst gehen wie die anderen. Meine Familie besteht aus 9 Personen, von denen vier arbeiten. Sie kommt auf die Beseitigung der F'rauenarbeit zurück. Sic geht gegen die Moral. Die Schönsten werden von dem Werkfiihrer begünstigt.

Fine verheiratete Frau: Sie hat sechs Kinder und ist hübsch gewesen. Es gehöre sich nicht, dass die »Weissen Häub- chen« in der Grube arbeiten; die Werkführer belästigten sie; so hätte man sie eines Tages in einen Stollen geschickt, um dort allein zu arbeiten. Sie erklärt, dass ihre Tochter nicht in der Grube arbeiten dürfte, obwohl sie sehr arm sei

Ein junges Mädchen steigt um 4 oder 5 Uhr hinab und erst um 11 Uhr wieder zurück.

Herr Morisseaux: Aber wie können Sie nur eine solche Arbeit aushalten? Ist es alle Tage so?

Das junge Mädchen: Alle Tage. Ich bin Aufladerin und verdiene 1 Fr. 80 c. bis 2 Fr. Meine Schwester arbeitet in einer anderen Grube, aber sie steigt von 5 6 Uhr empor und verdient 1 Fr. 50 c. Ich habe keinen Kaffee in meiner Feldflasche, son- dern Wasser. Ich bitte um die Beseitigung der Frauenarbeit in den Bergwerken. Da gehören die »Weissen Häubchen« nicht hin. Die Werkfiihrer sind zu unverschämt, und die Alten ebenso schlau als die Jungen.

Wir glauben, dass diese einfachen, in ihrer Schlichtheit aber gerade erschütternd wirkenden Aussagen, keiner weiteren Er-

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Die belgische Arbeiterenquete und ihre sozialpolitischen Resultate. 405

gänzung oder Erläuterung bedürfen, und gehen nunmehr zur Schilderung der Zustande in der Textilindustrie über, welche be- kanntlich als klassische Domäne der Kinder- und Frauenarbeit gilt.

Ueber Zahl, Alter und Geschlecht der im Jahre 1880 in der belgischen Textilindustrie thätigen Arbeiter möge zunächst folgende Zusammenstellung Auskunft bieten ’).

unter 14 Jahren 14— 16 Jahre über 16 Jahre

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10152 54490 10660

7 5' 64483 273'2|9'795

Wenn auch im allgemeinen die Arbeiten in der Textilindustrie nicht in demselben Masse wie jene im Kohlenbergbau schädlich auf die Gesundheit einwirken, so gibt es immerhin einzelne Pro- zesse in der Spinnerei (die Bearbeitung der Wolle durch Karden und Reisswölfe), welche durch die grosse Staubentwicklung äusserst gefährlich werden können. Auch kommt vielfach eine hohe Tem- peratur in Betracht. In der Flachsgarnspinnerei noch der Umstand, dass die Weiber bei ihrer Arbeit den ganzen Tag Uber bis an die Knie im Wasser stehen. Manchen gesundheitsschädlichen Einflüssen kann durch entsprechende Schutzvorrichtungen aller- dings begegnet werden. Welche Verhältnisse nach dieser Rich- tung aber die belgischen Fabriken aufweisen, ist trotz der Enquete schwer zu sagen. Während die Fabrikanten einstimmig sind im I.obe ihrer hygienischen Vorkehrungen wird von den Arbeitern eben so beharrlich teils deren Vorhandensein ganz in Abrede ge- stellt, teils deren Mangelhaftigkeit lebhaft hervorgehoben. Ein über die Sphäre subjektiver Auffassung hinausreichendes Urteil würde nur dann erreicht worden sein, wenn die Mitglieder der Kommission die Fabriken einer lnspektion hätten unterziehen

l) Zusammengestelit nach: Slatistique de la Relgiquc. Industrie. I. 1887 p. 75.

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Her kner.

dürfen. Die ungünstigsten Verhältnisse scheint Verviers aufzu- weisen. Lieber dieselben berichtet ein Arbeiterkreisen angehöri- ger Zeuge :

»Es ist nicht Raum genug für die Maschinen vorhanden. Die Arbeit ist sehr mühsam und überhaupt ungesund. Es gibt keine genügende Ventilation. Die Gesundheitskommission sollte ein- greifen. Es gibt Werke, in denen vortreffliche Ventilatoren vor- handen sind. Aber das ist die Ausnahme. Die Arbeiter werden bald asthmatisch.

Die Arbeitgeber wissen das wohl und verweilen nur kurze Zeit in der Fabrik. Auch die Werkmeister bleiben nur die un- bedingt notwendige Zeit darin.«

Ein Fabrikant sagt aus:

»Die Arbeit in den Kammgarnspinnereien verlangt eine grosse Hitze. Auch muss man eine gewisse Feuchtigkeit erhalten. Wir haben die Lüftung verbessert und, um die Hitze zu mindern, elek- trische an Stelle der Gasbeleuchtung eingeführt. Gestern hatten wir 290, gewöhnlich sind es 320. Der Arbeiter trägt nur eine Hose, die Weiber sind bekleidet. Es gibt einen Saal, wo Männer und Frauen zusammen arbeiten.

Die Aborte sind in den Arbeitsräumen, werden aber des- infiziert.«

Im Hinblicke auf Gent führt Prof. Du Moulin von der dortigen medizinischen Fakultät vor der Kommission aus, dass der gesundheitliche Zustand der Arbeiterbevölkerung als ein sehr ungünstiger anzusehen sei. Er erblickt die Ursache vornehmlich in dem allzu lange währenden Aufenthalte in den Fabriken, wo einzelne Arbeiten überdies der Gesundheit zuwider seien. Die Vorschriften der hygienischen Ueberwachungskommission würden nur ungenügend befolgt.

Die oben mitgeteilte Tabelle ergibt, dass in der belgischen Textilindustrie die Zahl der jugendlichen und weiblichen Arbeits- kräfte eine sehr bedeutende ist. I.eider bietet die Statistik keinen Anhalt, um die Zahl der Kinder unter 12 Jahren zu ermitteln. Nach den Erhebungen der Enquete aber scheint die Zahl der- selben namentlich in Verviers keineswegs so geringfügig zu sein, als dass die erwähnte Ausserachtsetzung derselben sich recht- fertigen Hesse. Die Mehrzahl der Kinder soll freilich erst mit Antritt oder Abschluss des 12. Lebensjahres, was in der Regel mit dem Empfang der ersten heiligen Kommunion zusammenfallt,

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Die belgische Arbeiierent/uete und ihre sozialpolitischen Resultate. 407

in den Fabriken Aufnahme finden. Vielfach werden die Eltern unrichtiger Angaben über das Alter ihrer Kinder geziehen. Auf diese Weise wird es möglich, dass Kinder unter 12 Jahren selbst in Fabriken anzutreffen sind, deren Eigentümer die Arbeit der Kinder unter 12 Jahren nicht billigen.

Im Allgemeinen wird zugegeben, dass im Laufe der Zeiten sich die Verhältnisse in bezug auf die Beschäftigung der Kinder sehr gebessert haben. Fälle, in denen Kinder von 6, 7 oder 8 Jahren in Fabriken thätig sind, gelten jetzt als Ausnahmen, wäh- rend sie früher ungemein zahlreich waren.

Die weitgehende Verwendung jugendlicher und weiblicher Arbeitskräfte in der Textilindustrie hat bekanntermassen ihren Grund darin, dass in derselben die Mehrzahl der Maschinen fast automatisch arbeitet und daher das Produkt derselben besonders in Spinnereien in weit geringerem Grade von der Tüchtigkeit der Arbeiter abhängt als in anderen Betrieben. Und da, wenigstens scheinbar, vom Arbeiter so wenig verlangt wird, glaubt man auch ungestraft die Arbeitszeit masslos verlängern zu können. Wir entnehmen der bereits erwähnten belgischen Statistik hierüber folgende Daten:

Die Zahl der Arbeiter, deren Arbeitszeit

Q Stunden io Stunden u Stunden 12 Stunden m?!)r 7 12 Stunden

beträgt, beläuft sich auf

Leinen Industrie .... 378 4058 4852 21367 2393

llanfindustrie 54 344 588 II 5 1 105

Baumwollindustrie ... 78 2717 3951 9238 670

Wollindustrie 447 3159 j 3968 \ 13322 2463

Bleicherei 12 1 149 1 378 446 47

Verfertigung von gern. Ge- weben 61 1987 1434 8403 55

Woll- und Baum Wollweberei 8 1023 545 1826 i

Summen 1038 | 13437 12716 J 55753 j 5734

Wie ersichtlich, hat die überwiegende Mehrzahl der belgischen Textilarbeiter eine I2stündige effektive Arbeitszeit. Nicht uner- heblich ist jedoch in der Woll- und Leinenindustrie auch die Zahl derer, welche länger als 12 Stunden zu arbeiten haben. Die An- gaben der Statistik beziehen sich selbstredend nur auf die durch- schnittliche Arbeitszeit.

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Herkntr.

Nachtarbeit ist besonders in Verviers, zumal zur Sommerv zeit, ungemein häufig. Rückt der Winter heran, so verabschiedet man die zur Nachtarbeit aufgenommene Schicht und diese ver- bleibt dann meist ohne Arbeit und ohne Brot. Wo regelmässig Nachtarbeit eingeführt ist, wechseln zwei Schichten in der Weise, dass die eine Woche hindurch die eine Schicht am Tage arbeite: die andere in der Nacht, in der kommenden Woche aber ersten: in der Nacht, letztere am Tage beschäftigt wird. Die Arbeits- dauer der Nachtschicht pflegt n, die der Tagesschicht 12 Stundet zu dauern. In Fällen, wo bei flottem Geschäftsgänge ein ge- nügendes Angebot zur Bildung einer Nachtschicht nicht vorhan- den ist, wird die gewöhnliche Arbeitszeit um I 2 Stunden ver- längert. Es kommt freilich auch vor, dass man eine 24stündige Arbeitsleistung verlangt, indem die Arbeiter z. B. von Samstag früh bis Sonntag früh durcharbeiten müssen. Die Enquete biete: sogar auch Belege dafür, dass von Montag früh bis Dienstag Abend ohne Unterbrechung gearbeitet wurde. Dies sind natar lieh nur Ausnahmen. Dieser ans Unglaubliche gesteigerten Ar beitszeit entspricht bei flauem Geschäftsgänge eine vollständig« Einstellung oder zum mindesten beträchtliche Verminderung der Thätigkeit.

Ein Unterschied in der Verwendung jugendlicher und weib- licher Arbeitskräfte in bezug auf die Dauer der Arbeit findet nicht statt. Auch zur Nachtarbeit wurden sie in gleicher Weise wie erwachsene Männer herangezogen.

Dass bei solchen Zuständen die Sittlichkeit der Arbeiter Schiffbruch erleiden muss, würde selbst, wenn die Enquete nicht so reich an Beweisen für dieses traurige Resultat wäre, wohl kaum geleugnet werden.

»Die Unsittlichkeit schreitet daher mit grossen Schritten vor- wärts. Man kann sagen, dass heutigentags in dieser Hinsicht di« kleinen Mädchen mehr wissen, als früher die Frauen mit 25 Jahren. <

In Verviers arbeiten Männer, Frauen, kleine Mädchen, alte durcheinander in Räumen, die in sittlicher Hinsicht noch unreiner sind als in materieller. Und die Chefs hören nichts von den Klagen über die grosse Unsittlichkeit, besonders wenn es sich wa Direktoren und Werkmeister handelt.

»Die Fabriken (Courtroi) sind die Hauptursachen für die Unsittlichkeit unter den Arbeitern. Sie sind thatsächlich öffent-

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Die belgische Arbeiterenquete und ihre sozialpolitischen Resultate.

liehe Häuser; ich, wie andere, sind in ihnen vom 15. Jahre an verdorben worden.«

Vielfach wird auch darüber geklagt, dass die Arbeiterinnen, die sich für die Arbeit umzukleiden pflegen, für diesen Zweck keinen besonderen Raum besitzen, wo sie den Blicken der Männer nicht ausgesetzt wären.

Der Textilindustrie steht an Bedeutung zunächst die Ver- arbeitung von Erzen und Metallen. Frauen und Kinder werden hiebei jedoch nur in geringem Umfange beschäftigt, so dass eine Darlegung der Zustände in diesen Industrien für unsere Zwecke kaum geboten erscheint.

Wichtiger wären noch die Zucker-, Glas- und Keramische Industrie. Auch manche eine absolut freilich nur geringe Arbeiter- anzahl beschäftigende Industrien, wie die Herstellung von Phos- phorzündhölzchen, die Spitzenklöppelei, die Zigarrenfabrikation u. a. m. kämen wegen ihrer doch relativ hohen Zahl von jugend- lichen und weiblichen Arbeitskräften in Betracht. Indessen sehen wir uns veranlasst im Hinblick auf den Umstand, dass die Verhält- nisse in den letztgenannten Gewerbszweigen immerhin nur in den Einzelheiten von den eben behandelten abweichen , jetzt mit der Schilderung der thatsächlichen Zustände abzubrechen und zur Be- antwortung der Frage überzugehen , auf welche Weise Arbeit- geber, Arbeiter, Arbeiterkommission und Regierung den Miss- bräuchen entgegenzuwirken gedenken.

Fassen wir zunächst die Haltung der Arbeitgeber ins Auge, so ist es keineswegs erstaunlich, dass dieselben an Verhältnissen, die sich ja als das Ergebnis ihrer Politik, ihres ökonomischen Systemes , ihrer Interessen darstellen , wenig auszusetzen wissen oder sie doch als unbedingt notwendige ansehen. Jedenfalls sehen sie für das Eingreifen der Staatsgewalt keine Veranlassung ge- geben. Und die Handelskammer von Verviers äussert sich: »Wir bleiben bei der Anschauung, dass das Eingreifen des Staa- tes in die gewerblichen Verhältnisse immer mehr Schaden als Nutzen hervorbringt.«

»Die philanthropischen Ideen nehmen sich auf dem Papiere ganz prächtig aus« , meint eine grosse Firma , »aber ihre Ver- wirklichung würde die Existenz der Industrie vernichten und da- mit auch die Arbeiter dem Hunger preisgeben. Man darf eben nicht vergessen, dass das gewerbliche Wissen darin besteht, von

Archiv für sor. Gctctegbg. u. Statistik. UI. u. IV. 2J

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4io

Her in er,

einem menschlichen Wesen gegen den niedrigsten Lohnsatz eint möglichst grosse Menge nützlicher Arbeit zu erlangen. Was mit den Interessen der Industrie verträglich ist , hat man bereits ge- than ; was aber der Industrie zuwider läuft, kann auch nicht durch Gesetze eingeführt werden. Sie würden verwickelt sein, ihre Ausführung schwierig, ihre Ueberwachung unmöglich, die Verletzungen derselben unzählig.«

Finden sich hie und da auch Industrielle , die weniger ent- schieden die Berechtigung staatlicher Massnahmen in Abrede stellen, so sind sie doch in dem Wunsche einig, das zu gebende Gesetz möge sich möglichst eng an die vorhandenen Zustände an- schliessen und ohne an diesen eigentlich zu rütteln , nur deren besondere Auswüchse beschneiden. Andere verstehen sich nur zur Einwilligung in eine strengere Schulgesetzgebung, durch welche der Unterricht bis zum 14. Jahre obligatorisch würde. Hiedurch erscheint ihnen die Kinderarbeit bereits hinreichend beschrank In einem späteren Alter soll man den Arbeiter beim Abschlüsse des Arbeitsvertrages selbst die Arbeitszeit bestimmen lassen, der er sich gewachsen fühlt 1

Eine nicht unbeträchtliche Zahl von Arbeitgebern gibt zwar die Reformbedürftigkeit der vorhandenen Zustände zu , huldig*, aber der Ansicht, dass auf dem fraglichen Gebiete nur durch internationale Abmachungen eine Besserung erzielt werden könne, wenn man seine eigene Industrie nicht dem Untergange preis geben wolle. Diese ziemlich verbreitete Schwärmerei für »inter- nationale Fabrikgesetzgebung« erscheint in Belgien, dem einzigen industriell entwickelten Lande , das heute noch einer Arbeiter Schutzgesetzgebung entbehrt, allerdings in einem sehr verdächtigen Lichte, da man ja zur Zeit nicht einmal beabsichtigt so weit zu gehen, als die grossen Nachbarreiche und Konkurrenten, England Deutschland und Frankreich, bereits gegangen sind.

Im Gegensätze zu dieser im allgemeinen nur ablehnenden Haltung der Arbeitgeber, sind Arbeiter, Kommission und Regie rung wenigstens in der Ucberzeugung einig, dass ein den Mass- nahmen der übrigen europäischen Länder entsprechendes Fabrik und Bergwerkgesetz nun auch in Belgien einzufuhren ist.

Gehen auch die Arbeiter in ihren Vorschlägen weiter als die Mitglieder der Untersuchungskommission und der Regierung , so dürften sie doch gegen den prinzipiellen Standpunkt der beiden letztgenannten Faktoren, wie er in den Worten des Berichterstat-

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Die belgische Arbeiterenquete und ihre sozialpolitischen Resultate. 411

ters , des Baron Arnold t' kint de Roodenbeke , zum Ausdruck gelangt, nichts einzuwenden haben :

>Die Berechtigung staatlicher Massnahmen zur Regelung der Frauen- und Kinderarbeit erscheint uns unbestreitbar. Der Staat ist der geborene Schützer aller derer, welche sich nicht selbst verteidigen können , sobald ihre natürlichen Beschützer sie ver- lassen oder ihnen fehlen , und als solcher hat er die doppelte Pflicht über das Interesse der Gesellschaft zu wachen und den Minderjährigen und Schwachen zu helfen. Das Kingreifen des Gesetzes erscheint uns auch geboten, wo es gilt, die Gesamtheit der materiellen Garantien zu bestimmen , welche man von den Arbeitgebern hinsichtlich der Gesundheit und Sicherung des Ar- beiters bei der Arbeit verlangen kann.«

Diese wenigstens teilweise Gemeinsamkeit des Bodens, auf welchem Arbeiter, Kommission und Regierung sich befinden, wird es ermöglichen, ihre Vorschläge neben einander darzustellen.

Am weitesten gehen die Ansichten wohl in der Frage des Normal arbeitstages auseinander. Die Arbeiter verlangen teils eine acht- , teils eine zehnstündige Arbeitszeit. Sie lassen sich hiebei von dem Gedanken leiten, dass eine Verminderung der Arbeitszeit nicht nur eine ansehnliche 1 lebung ihrer physi- schen und geistigen Entwicklung bedeuten würde, sondern auch einer grossen Zahl von feiernden Arbeitern lohnende Beschäftigung verschaffen könnte. Dem gegenüber verwirft die Kommission und mit ihr die Regierung eine gesetzliche Bestimmung über die Ar- beitszeit erwachsener Männer und erklärt den Staat nur ausnahms- weise, wenn Gründe streng hygienischer Natur es erfordern , für berechtigt, Gesetze zum Schutze der Gesundheit der erwachsenen Arbeiter zu erlassen.

Indessen sind es wenigstens auf Seiten des Berichterstatters nicht nur theoretische Bedenken, sondern auch praktische Rück- sichten , welche ihm die Befürwortung eines Normalarbeitstages nicht gestatten. In seinen Augen stellen sich die Erfahrungen, welche die Schweiz, Oesterreich und einige amerikanische Staa- ten nach dieser Hinsicht gemacht haben, als durchaus unbefrie- digend dar. »Die Berichte ihrer Inspektoren sind nicht danach angethan, um uns zur Nachahmung zu begeistern.«

Dass sich bei der Durchführung eines Normalarbeitstages mancherlei Schwierigkeiten ergeben , wollen wir durchaus nicht leugnen. Dass er aber möglich ist , und auch segensreich

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Uerkner,

wirkt , darüber herrscht in den beteiligten Staaten schliess- lich doch nur eine Stimme. Wir bedauern , dass der Herr Be- richterstatter die betreffenden Berichte nicht eingehender studiert hat. Er würde dann die Ueberzeugung gewonnen haben, dass sich der Normalarbeitstag, wenn auch nicht einer von 8 Stunden, wie ihn ein Teil der belgischen Arbeiter verlangt, immerhin in einem Lande allein verwirklichen lässt, und nicht nur im Wege internationaler Vereinbarungen.

Lehnt der Berichterstatter auch die gesetzliche Bestimmung der Länge der Arbeitsdauer ab , so spricht er sich doch für die Erfüllung des aus Arbeiterkreisen vielfach geäusserten Wunsches nach einer gesetzlichen Regelung der Arbeitspausen auch für Erwachsene aus.

Die Arbeiter versprechen sich nämlich von einer Verlänge- rung der Pause in der Mitte der Arbeitszeit auf i V* oder 2 Stun- den namentlich eine Hebung ihres Familienlebens, weil dann ein grosser Teil von ihnen das Mittagessen mit der Familie gemein- sam würde einnehmen können. Auch in gesundheitlicher Hinsicht würde eine längere Ruhepause nach dem Essen gewiss nur von den besten Folgen begleitet sein. Leider hat die Regierung in ihrem Entwürfe dem angedeuteten Gedanken keine Rechnung ge- tragen.

Während sich in bezug auf den staatlichen Schutz erwach- sener männlicher Personen zwischen den Arbeitern einerseits und Kommission und Regierung anderseits eine wesentliche Meinungs- verschiedenheit ergab, ist man über die Berechtigung des Staates, für den Schutz der Frauen zu wirken, durchaus einer An sicht und nur die Ausdehnung, in der eine solche Fürsorge plati greifen soll, erscheint strittig.

Die Arbeiter fordern teils gänzliche Aufhebung der Frauen- arbeit , teils nur Abschaffung derselben beim Bergbau und in besonders gesundheitsschädlichen Industrien. Ferner soll Frauen 6 8 Wochen vor und nach der Entbindung die Arbeit verboten, deren Arbeitgeber jedoch verpflichtet sein, ihnen den vollen Lohn auch für diese Zeit auszuzahlen.

Obwohl der Berichterstatter der Kommission anerkennt, dass der Staat die Aufgabe habe , über das Geschick der künftig« Generation zu wachen und der Schutz der Mutter gleichbedeu- tend mit jenem des lebenden und des zu erwartenden Kindes sei, w'agt er doch keinen bestimmten Vorschlag nach dieser Rick

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Die beigischt Arbeitercnijuetc und ihre sozialpolitischen Resultate.

tung zu machen , da er nicht weiss , wie dann der Lebensunter- halt der von der Arbeit ausgeschlossenen Frau bestritten werden soll , und er die von Seiten der Arbeiterpartei befürwortete Lö- sung für undurchführbar hält.

So spricht sich denn der Entwurf der Kommission ebenso wie jener der Regierung nur für den Ausschluss der Mädchen und Frauen von unterirdischen Arbeiten aus.

In betreff der Kinder, beziehungsweise der jugendlichen Personen wünschen die Arbeiter, dass als Altersminimum für den Antritt einer gewerblichen Beschäftigung das 12. Lebensjahr gel- ten soll. Viele aber bezeichnen erst das 14. als hiefür geeignet. Für die Personen von 12, resp. 14 16 Jahren soll ein Halbzeit- system eingerichtet werden , bei welchem sie nur eine täglich östündige Arbeit zu leisten hätten. Von dem Ausschlüsse der jüngeren Altersklassen und der Beschränkung der 12 16jährigen Personen auf eine östündige Arbeitszeit erwarten die Arbeiter, da für eine dermassen erhöhte Nachfrage kein entsprechendes Angebot sich finden würde, teils eine Erhöhung des Lohnsatzes, teils eine zunehmende Verwendung erwachsener Arbeitskräfte. Die Arbeitgeber sind aus den gleichen Gründen natürlich die ärgsten Gegner des Halbzeitsystemes.

Dieses System wird daher auch in dem Regierungsentwurfe nur für Kinder von 10 12 Jahren, deren Verwendung in einzelnen von der Regierung zu bestimmenden Industrien gestattet sein soll, vorgesehen, indem man in diesem Falle eine nur östündige Ar- beitszeit in Aussicht nimmt. Im allgemeinen aber sollen jugend- liche Personen von 12 16 Jahren innerhalb 5 Uhr Morgens und 9 Uhr Abends 12 Stunden arbeiten dürfen , in denen allerdings eine gesetzliche Pause von mindestens i'/a Stunden eingeschlossen erscheint. Diese Bestimmungen decken sich der Hauptsache nach mit den Anträgen der Kommission.

In welcher Weise die Frage der Nachtarbeit erledigt worden ist, lässt sich bereits aus den bisherigen Ausführungen entnehmen. Sie bleibt für männliche erwachsene Personen und leider auch für weibliche über 16 Jahre noch in Zukunft gestattet.

Ueber obligatorischen Unterricht der Kinder und jugendlichen Personen ist, ganz entgegen den Forderungen der Arbeiter, keine Bestimmung getroffen worden.

Auch über Sonntagsruhe glaubt man im Hinblick auf den Artikel 15 der Verfassung, welcher verbietet, jemanden zur Be-

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414 Her kner ,

obachtung der Sonntagsruhe zu zwingen, keine Vorschriften er- lassen zu dürfen.

Wie denkt man sich nun die Durchführung der in Aussicht genommenen Massnahmen zu gewährleisten ?

Die Arbeiter begehren einstimmig die Einsetzung einer Ueber- wachungs-Kommission, welche von amtswegen alle Arbeitsstätten zu inspizieren hat. Sie soll zum Teil aus hygienisch gebildeten Personen , zum Teil aus Abgeordneten des Arbeiterstandes ge- bildet und von Gemeinde , Kreis , Provinz oder Staat bezahlt werden.

Insbesondere bestehen die Bergarbeiter auf der Teilnahme der Arbeiter an der Inspektion. Es würde dann eine grosse Zah' von Grubenunfällen vermieden werden. Desgleichen sollen die Arbeiter auch bei den Erhebungen vertreten sein, welche nach Unfällen stattfinden, damit nicht nur der Standpunkt der Arbeit- geber berücksichtigt würde.

Aber nicht nur, dass diese in England zum Teil schon ver- wirklichten Postulate in dem Regierungsentwurfe trotz der Em- pfehlung des Berichterstatters keine Aufnahme fanden , auch die Vorschläge, welche von Kommission und Regierung in bezug auf Ueberwachung des Gesetzes ausgehen , sind so durchaus unge- nügend, dass man an dem guten, ernsten Willen der genannten Faktoren beinahe zweifeln könnte. Eine besondere Inspektion soll nämlich nicht ins Leben gerufen werden. Vielmehr gedenkt man für diese Zwecke bereits vorhandene Beamte zu verwenden. So die Mineninspektoren , die Brücken- und Strasseningenieure und die Beamten der statistischen Abteilung des Handelsamtes Man traut seinen Augen kaum, wenn man nach der überreichen Erfahrung , welche in dieser Hinsicht bereits zu Gebote steht, noch solchen Vorschlägen begegnet. Aber noch seltsamer als diese selbst klingt deren Begründung: »Was die Errichtung einer ernsten Kontrolle so schwierig gestaltet , ist die bedeutende Be- lastung, welche die Gehälter der Inspektoren für das Budget bil- den. In England, Deutschland und selbst Frankreich gibt nun für diesen Zweck von Jahr zu Jahr immer grössere Summen aus. Offenbar besitzt aber ein kleines Land, wie das unserige, nicht genügende Einkünfte, um sich in ein ähnliches Abenteuer zu stürzen, indem es seinen älteren Brüdern folgt.«

Das arme kleine Belgien, das für den Bau eines Justizpalastes fünfzig Millionen Franken vergeuden konnte 1

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Die belgische Arbeiterenquete und ihre sozialpolitischen Resultate. 415

Ueberblickt man die von den Arbeitern gestellten Forderungen, so wird man, abgesehen vom 8stündigen Normalarbeitstag und der völligen Abschaffung der Frauenarbeit zwei Punkte, die überdies nur von dem kleineren Teile der Arbeiterschaft begehrt werden kaum etwas finden, was das Mass des Möglichen über- schritte. Dennoch hat die Fülle äusserst beachtenswerter Be- merkungen, welche die Enquete aus Arbeiterkreisen zu Tage ge- fördert, auf den Entwurf der Regierung, der voraussichtlich ziem- lich unverändert zum Gesetze erhoben werden wird, kaum einen Einfluss geübt. Der Gesetzcsvorschlag ist eben nicht nach den durch die Enquete klargestellten Bedürfnissen , sondern lediglich nach dem Gesichtspunkte entworfen worden, dass er in der Kam- mer eine Majorität finde. Unter diesen Umständen wäre es na- türlich völlig müssig, eine weitere Kritik üben zu wollen. Es bleibt uns nichts weiter mehr zu thun übrig, als die Stufe sozial- reformatorischer Entwicklung zu bezeichnen, welche Belgien nach Annahme des vorliegenden Entwurfes erklommen haben wird. Es ist ungefähr jene, welche Frankreich mit seinem Gesetze vom 2. Juni 1874 erreichte. Immerhin unterscheidet sich das eben genannte französische Gesetz noch in mehreren Punkten sehr zu seinem Vorteile von dem belgischen Entwürfe. Verbietet erste- res doch wenigstens die Nachtarbeit der weiblichen Personen bis zum 21. Lebensjahre und schliesst ferner die Arbeit geschütz- ter Personen an Sonn- und Feiertagen aus. Ueberdies sind zu seiner Durchführung 25 Inspektoren bestellt.

Die Vorteile, welche den belgischen Arbeitern durch die Annahme des Entwurfes und was weit weniger sicher ist durch die Durchführung des Gesetzes erwachsen dürften, lassen sich wol auf folgende Momente zurückführen:

1) Die Verwendung weiblicher Arbeitskräfte zu unterirdischen Arbeiten fällt gänzlich aus.

2) Desgleichen die Verwendung von Kindern und jugend- lichen Personen zur Nachtarbeit.

3) Wahrscheinlich wird die Beschränkung der effektiven Ar- beitszeit der jugendlichen Personen auf io'/> Stunden auch eine gleiche Herabsetzung der Arbeitszeit der Erwachsenen herbei- fuhren.

Trotz dieser Errungenschaften , deren Wert wir nicht ver- kennen, trotz des grösseren Wohlwollens, welches, wie die En- quete bewiesen hat, den arbeitenden Klassen in Belgien nunmehr

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41 6 Ilerkner, DU belgische Arbeiter enqueie u. ihrt totialpolü. Resultate.

auch aus bürgerlichen Kreisen zu Teil wird, können wir unsere Ausführungen dennoch nur mit dem Wunsche schliessen : Möge die belgische Arbeiterschaft fest und unerschüttert bei der lieber- zeugung verharren , dass sie eine bessere , glücklichere Zukunft nur durch sich selbst, durch eine zielbewusste Organisation ihrer gesamten Kräfte erringen kann.

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DER BEGRIFF DES BETRIEBSUNFALLES IM SINNE DER DEUTSCHEN GESETZGEBUNG.

VON

Dr. LUDWIG FULD,

RECHTSANWALT IN MAINZ.

Der für die Anwendung der Unfallversichcrungsgesetze so über- aus wichtige und geradezu grundlegende Begriff des Betriebsunfalles ist seit Geltung der Gesetzgebung in verschiedenem Sinne aufgefasst und ausgelegt worden. Während man bezüglich der Interpretierung des Begriffes »Unfall« im Wesentlichen darin einig ist, dass man unter demselben die »körperschädigende, plötzliche und von dem Betrof- fenen unbeabsichtigte Einwirkung eines äussern Thatbestandes auf einen Menschen« versteht, wenn auch bezüglich der Formulierung desselben und der einzelnen Thatbestandsmerkmale Meinungsunter- schiede bestehen, gehen die Ansichten in betreff der Auffassung des Begriffes »Betriebsunfall« scharf auseinander '). Zwar ist weder in der Litteratur, noch in der Praxis darüber ein Zweifel vorhanden, dass der Begriff die Existenz eines ursächlichen Zu- sammenhanges zwischen dem als Grundlage der Entschädigung dienenden Unfall und dem Betriebe, in welchem derselbe sich ereignete, mit unbedingter Notwendigkeit voraussetzt, was sich ja teilweise schon aus dem Wortlaute, teilweise aus den Erläu- terungsmaterialien der Gesetze ergiebt, und es ist dies auch seitens des obersten Gerichtshofes in Unfallversicherungssachen, seitens des Reichsversicherungsamtes, wiederholt anerkannt worden. Dasselbe hat von Beginn seiner richterlichen Thätigkeit an daran

l) Rosin, Der Begriff des Betriebsunfalles als Grundlage des Entschädigungsan- spruchs nach den ReichsgeseUcen über die Unfallversicherung, Archiv f. öffentliches Recht Bd. 3 S. 291 fg. vgl. bes. S. 319.

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418 Fuld,

fcstgehalten, dass der Unfall im Sinne der Unfallversicherungs- gesetzgebung nicht nur örtlich und zeitlich, sondern auch ursäch- lich mit dem Betriebe Zusammenhängen muss; ob jedoch dieser ursächliche Zusammenhang von Unfall und Betrieb in der Weise zu verstehen ist, dass nur der mit den besonderen Gefahren des betreffenden Betriebes zusammenhängende Unfall als Betriebs- unfall im Sinne der Gesetzgebung erscheint oder auch derjenige, welcher lediglich eine Folge der allgemeinen den Menschen bedrohenden Gefahren ist, bildet den Gegenstand lebhaftesten Streites. Dass diese Meinungsverschiedenheit nicht etwa nur theoretische, sondern auch eine ausserordentliche praktische Be- deutung besitzt, ist leicht ersichtlich; die letztere Auffassung fuhrt mit Nothwendigkeit dahin, dass eine grosse Anzahl von Ent- schädigungsansprüchen, welche zu bewilligen der Billigkeit ohne Zweifel entspricht, von der Gesetzgebung ausgeschlossen bleiben und sich nach wie vor auf die Betretung des zivilrechtlichen Klageweges angewiesen sehen. Die Erörterung der Frage dart um deswillen die Aufmerksamkeit überall beanspruchen, wo für die Entwicklung der Unfallversicherung ein aufrichtiges Interesse besteht, und zwar um so mehr, als sich in der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes, das bisher konstant an der erstem Auffassung festhielt, neuerdings eine Schwenkung zu gunsten der zweiten bemerkbar zu machen scheint *).

Von seiten derjenigen, welche behaupten, dass nur der mit den besonderen Gefahren des unfallvcrsicherungspflichtigen Be triebes in ursächlichem Zusammenhang stehende Unfall als Be- triebsunfall aufgefasst werden könne, wird zunächst geltend ge- macht, dass es nahe liege, für die nähere Bestimmung des Kausal- zusammenhanges das Reichshaftpflichtgesetz ebenso heranzuziehen, wie dies geschehe, um überhaupt festzustellen, dass ein solcher Zusammenhang von dem Begriffe des Betriebsunfalles vorausgesetzt werde. Nun sei aber der dem Betriebsunfall entsprechende Be- griff ><bei dem Betrieber des Haftpflichtgesetzes, sowohl seitens der meisten Kommentatoren dieses Gesetzes, als auch seitens des Reichsoberhandelsgerichtes und später des Reichsgerichtes jedenfalls für den § I des Gesetzes stets in der Weise ausgelegt

l) Des Ausführlicheren handelt über diese Frage Rosin, in der genannten Ab- handlung S. 321 und fg.; ausser der daselbst angegebenen Litteratur \gl. nochFoR Keichsgesetr betreffend die Unfallversicherung der bei Bauten beschäftigten Personen vom II. Juli 1SS7, (Berlin, Vahlen, 1SS7) Bern, zu § I S. 18 20.

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Der Begriff des Betriebsunfalles etc.

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worden, dass darunter der Unfall verstanden wurde, der mit den besonderen Gefahren des Eisenbahnbetriebes ursächlich Zusammen- hänge. Die Rechtsprechung habe stets daran festgehalten , dass der Nachweis dieses Zusammenhanges zwischen dem Unfall und den besonderen Gefahren notwendig sei, und der analoge Nach- weis sei für das Unfallgesetz geboten. Um diese Behauptung zu rechtfertigen, weist man auf die den Unfallversichcrungsgesetzen vorhergegangenen gesetzgeberischen Bestrebungen hin, welche eine Erweiterung des Haftpflichtgesetzes, besonders des § 2 des- selben zum Gegenstand hatten und deutlich die Tendenz erkennen Hessen, nur in Ansehung der mit einer besondern Gefahr für I.eben und Gesundheit verbundenen Gewerbebetriebe die Haft- pflicht des Arbeitgebers auszudehnen ; des Weiteren wird auf die Auslegungsmaterialien, insbesondere auf eine dahingehende Aeus- serung der Begründung des Gesetzentwurfes von 1881 Bezug ge- nommen, die es als Ziel der Sozialreform bezeichnet, den Arbeitern und ihren Hinterbliebenen wenigstens in denjenigen Fällen eine Versorgung zu sichern, in denen die Erwerbsunfähigkeit oder der Tod des Arbeiters durch die mit der Berufsarbeit verbundene Unfallgefahr herbeigeführt wurde und daraus gefolgert, dass es sich bei der besonderen Unfallgefahr nicht sowohl um ein Motiv des Gesetzgebers als vielmehr um die ratio legis handle. Endlich weist man noch als auf den schlagendsten Beweisgrund, auf 4; I des Unfallvcrsichcrungsgesetzes von 1S84 hin, worin dem Bundes- rate die Ermächtigung erteilt wird, für solche, unter § 1 fallende Betriebsarten, welche mit Unfallgefahr für die darin beschäftigten Personen nicht verbunden sind, die Versicherungspflicht auszu- schliessen. Damit sei bewiesen, dass nur die Gefährlichkeit des Betriebes nach Auffassung des Gesetzes die Basis bilde, aus welcher versicherungsmässige Unfälle erwachsen, da nach Abzug der einem Betriebe eigenen Unfallgefahr Unfälle, welche in den Rahmen der Versicherung gehörten, überhaupt nicht mehr übrig blieben. 1 lieran anschliessend wird dann ausgefuhrt, dass aus der Vorschrift des !; 16, Abs. I des Gesetzes vom 5. Mai 1886, sowie aus der durch i; 35, Abs. 6 desselben Gesetzes den land- und forstwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften unter gewissen Vor- aussetzungen gestatteten Abstandnahme von der Aufstellung eines Gefahrentarifes dieselbe Absicht der Gesetzgebung mit Unzwei- deutigkeit hervorgehe ').

1) Vgl. die Argumentation bei Rosin, a. a. O. S. 323 325. Die Geset/csstelleu,

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Fulii ,

Was nun zunächst den durch eine langjährige Judikatur fest- gestellten Begriff des Unfalles »beim Betriebe« im Sinne des Haft- pflichtgesetzes anlangt, so ist zuzugeben, dass bezüglich der Haft- pflicht der Eisenbahnen lediglich die durch die besonderen Gefahren des Eisenbahnbetriebes hervorgerufenen Unfälle unter die Bestimmungen des § i gestellt wurden ; bezüglich der Unfälle, welche bei dem Betriebe einer der in § 2 des Haftpflichtgesetzes namhaft gemachten gewerblichen Unternehmungen sich ereignen, hat sich die Judikatur, wie Rosin selbst anerkennt, keineswegs mit Bestimmtheit in dieser Beziehung ausgesprochen. Schon um deswillen muss es bedenklich erscheinen, auf die Unfälle bei dem Fabrikbetriebe und dem Betriebe der übrigen unter die Unfall- versicherung fallenden Unternehmungen die Rechtsauffassung aa- zuwenden, welche lediglich bei den von der Gesetzgebung be- sonders behandelten Eisenbahnunternehmungen Beifall und An- erkennung gefunden haben. Wäre im Uebrigen auch nichts da- gegen einzuwenden, dass man die öffentlich-rechtlichen Unfallversicherungsgesetze durch die privatrechtliche Haft- pflichtgesetzgebung auslegen will, so müsste dieses Bedenken schon genügen, um den behaupteten Parallelismus zwischen Haft- pflichtgesetz und Unfallversicherungsgesetzgebung nicht schlechthin als zulässig zu bezeichnen. Indessen muss es überhaupt ent- schieden als unstatthaft erscheinen, die Auslegung des Haftpflicht- gesetzes ohne Vorbehalt bei der Anwendung der Unfallversiche- rungsgesetze zu benützen ; innerhalb gewisser Grenzen darf dies mit Vorsicht geschehen, allein der Unterschied muss stets be- achtet werden, welcher zwischen der auf dem Boden der p rivat- rechtlichen Haftpflicht des Arbeitgebers und der auf der Grundlage des öffentlichen Rechtes beruhenden Versiehe-

auf welche hierbei Bezug genommen wird, lauten § 16 Abs. I. »Durch die lindes* gesetzgebung, das Statut oder durch Beschluss der Genossenschaftversammlung, welche der Genehmigung der I-andes/entralbehörde bedarf, kann bestimmt werden , das Unternehmer solcher Betriebe , w'elche mit erheblicher Unfallgefahr nicht verband« sind, und in welchen ihres geringen Umfanges wegen Lohnarbeiter nur ausnahms- weise beschäftigt werden , von Beiträgen ganz oder teilweise befreit sein sollen, und in welcher Weise bei der Ermittelung der zu befreienden Unternehmer verfahr« werden soll. § 35, Abs. 6: »In Genossenschaften, in welchen die einzelnen Betrieb« eine erhebliche Verschiedenheit der Unfallgefahr nicht bieten, kann die Genossen* Schaftsversammlung bezw. der Vorstand oder Ausschuss beschlossen , dass von der Aufstellung eines Gefahrentarifs abzusehen ist. Der Beschluss bedarf der Genehmigung des Reichsversicherungsamtes.

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Der Begriff des Betriebsunfalles etc.

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rung der Arbeiter für alle mit dem Betriebe in Zusammenhang stehenden Unfälle besteht. Dieser Unterschied ist ein fundamen- taler und er ist dem Gesetzgeber wohlbewusst gewesen. In der allgemeinen Begründung des zweiten Entwurfes vom 8. Mai 1882 wird derselbe deutlich und mit grosser Schärfe hervorgehoben. Nachdem die Motive des Eingehenderen die zur Verbesserung des Haftpflichtgesetzes gemachten Versuche gekennzeichnet und festgestellt haben, dass dieselben stets von dem Gesichtspunkte der Verschuldung des Arbeitgebers aus eine Abänderung des geltenden Rechtes anstrebten, fahren siefort: > Während zur Zeit den in gewissen Betrieben beschäftigten Arbeitern beziehungs- weise ihren Angehörigen nur ein Anspruch auf vollständige Ent- schädigung zusteht, welcher durch die ihn bedingenden Voraus- setzungen in seiner Realisierung zu einem höchst unsichern wird, soll in Zukunft allen gewerblichen Arbeitern, welche nach der Art ihres Arbeitsverhältnisses in diese Regelung eingeschlossen werden können, eine in jedem Falle sichere Anwartschaft darauf gewährt werden, dass beim Verluste der Erwerbsfähigkeit durch Unfall ihnen selbst eine nach ihrem bisherigen Erwerbe zu be messende Versorgung oder ihren Hinterbliebenen eine gleicher- weise billig bemessene Unterstützung zu teil wird. Zu dem Ende soll die Versicherung alle bei dem Betriebe vorkommenden Un- fälle umfassen, ohne Unterschied, ob sie in einem Ver- schulden des Unternehmers oder seiner Beauftrag- ten, oder in dem eigenen Verhalten der Verunglück- ten oder in zufälligen, niemandem zur Last zu legenden Umständen ihren Grund haben... Um zu einer befriedigenden Regelung zu gelangen, müssen demnach alle Unfälle ohne Ausnahme in die Versicherung eingezogen werden.« Der Unterschied zwischen dem nur für eine Reihe von Unfällen unter der Voraussetzung des Nachweises der Verschuldung sor- genden früheren Gesetze und der neuen »alle Unfälle« ohne Aus- nahme in die Versicherung einbeziehenden Regelung ist hiernach ein grundsätzlicher, ein innerer, nicht lediglich ein äusserer, die Basis, auf welcher die Fürsorge hier und dort beruht, ist eine durchaus andere und um deswillen muss darauf verzichtet werden, bei Auslegung der neuen Normen das Haftpflichtgesetz in dem Umfange mit heranzuziehen, in welchem dies seitens Rosins und der Vertreter der gleichen Richtung erfolgt. Der wesentliche Unterschied zwischen einer Unfallfürsorge, welche auf dem Grund-

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Fuld,

satze der Haftpflicht beruht und einer auf dem Versicherung- prinzip basierenden liegt gerade darin, dass jene nur die aus den besonderen Gefahren des Betriebes entstehenden Unfälle berucv sichtigen kann , während bei dieser jene Beschränkung hinweg- fällt. Zum Beweise hierfür verweisen wir auf eine interessante Stelle aus dem Geschäftsberichte des schweizerischen Bundes gerichtes vom Jahre 1885. In demselben verteidigt sich der Ge- richtshof gegen den ihm gemachten Vorwurf: er habe durch Auslegung des Fabrikhaftpflichtgesetzes in dem Sinne, dass nur die durch die besonderen Gefahren des Fabrikbetrieb« veranlassten Unfälle unter das Gesetz fielen, zu einer Einengung der Tragweite desselben beigetragen, durch den Hinweis darauf, dass diese Auslegung dem Gesetze entspreche und fahrt dann fort: »Wir können uns also nicht versagen, darauf hinzuweisen, dass bei der Prüfung der Zweckmässigkeit einer Erweiterung der Haftpflicht des Betriebsunternehmers die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichtes sich keineswegs in dem Sinne verwerten lässt, als ob die Notwendigkeit einer Aenderung aus mangelhafter Anwendung des bestehenden Gesetzes hervorgehe« *). Dies ist ein auch für die gegenwärtige Frage wertvolles Zugeständnis, in- sofern es beweist, dass die ursächliche Verbindung eines Unfalles mit den besonderen Gefahren des betreffenden Betriebes der privatrechtlichen Haftpflichtgesetzgebung entspricht, also zur Aus- legung einer dem Haftpflichtprinzipe geradezu entgegengesetzten Regelung nicht schlechthin verwertet werden darf. Demgemäss kann aber auch der Umstand nicht zur Stütze der einengender Begriffsauslegung benützt werden, dass die Bestrebungen, welch: in den Jahren 1878 und 1879 gemacht wurden, um die- Haftbar- keit der Betriebsunternehmer zu erweitern, gleichfalls nur die durch die besondere Gefahren des Fabrikbetriebes hervorgerufenen ln fälle ins Auge fassten; denn die Anträge der Abgeordneten Dr. Hirsch, Lasker, Stauflenberg, Stephany bewegen sich ebense auf dem Boden der privatrechtlichen Haftpflichtgesetzgebung "* der des Abgeordneten Dr. v. Hertling, und die Motive betonen ausdrücklich, dass die neue Regelung der Unfallfürsorge sich an keinen dieser Anträge anschliessen könne, weil ihnen samt er: sonders gemein sei, dass sie an dem Grundsätze des allgemeinen

l) Zeitschrift tles bernischen Juristenvereins hernusgegeben von Dr. ZeerWCt B<l. 22, S. 149 (13cm 1SS6).

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Der Begriff des Betriebsunfalles etc.

423

Obligationenrechts, wonach die Verbindlichkeit zum Schaden- ersätze durch ein Verschulden begründet werde, festhielten. Es ist übrigens ersichtlich, dass zwischen denselben und der Unfall- versicherungsgesetzgebung keinerlei innerer Zusammenhang besteht und man wird ihnen daher nur insoweit Beachtung schenken dürfen, als sie die letzten Versuche bezeichnen , mittelst der privat- rechtlichen Haftpflichtgesetzgebung den Ansprüchen der Arbeiter auf Fürsorge für Unfälle gerecht zu werden.

Will man nun auf die Materialien der Unfall versichcrungs- gesetze verweisen, um die Behauptung zu rechtfertigen, dass nur der durch die besonderen Gefahren des Fabrikbetriebes hervor- gerufene Unfall ein Betriebsunfall sei , so muss auch dieser Be- weisgrund als ein wenig stichhaltiger bezeichnet werden. Wenn die Begründung des ersten Entwurfes es als Ziel der sozialpoli- tischen Gesetzgebung bezeichnete, den Arbeitern und ihren Hin- terbliebenen mindestens in denjenigen Fällen eine Versorgung zu sichern, in denen die Erwerbsunfähigkeit oder der Tod des Ar- beiters durch die mit der Berufsarbeit verbundene Unfallgefahr herbeigeführt worden sei, so geht aus dieser allgemeinen, die Richtung der neuen Gesetzgebung nur im grossen skizzierenden Bemerkung noch keineswegs hervor, dass das Gesetz zwischen den besonderen Gefahren des unfallversicherungspflichtigen Betriebes und dem Unfälle den Nachweis eines ursächlichen Zusammenhanges verlange. Ebensowenig kann aus den bei der Beratung der ver- schiedenen Gesetze gepflogenen Verhandlungen der Reichstags- kommission ein durchschlagendes Argument dafür entnommen werden ; es geht aus den gelegentlich derselben sowohl seitens der Vertreter des Bundesrates wie der Mitglieder des Reichs- tages gefallenen Aeusserungen mit Unzweideutigkeit allerdings soviel hervor, dass es der Beweggrund des Gesetzgebers bei Regelung der Unfallfursorge auf dem Boden des öffentlichen Rechtes war, die Unfälle bei den Betrieben unter dieselbe zu stellen, welche mit einer besondern Unfallgefahr verbun- den sind, allein dieser Beweggrund des Gesetzgebers hat in dem Gesetze selbst keinen Ausdruck gefunden und kann um deswillen für die Auslegung dieses nicht entscheidend sein. Uebrigens muss man doch darauf aufmerksam machen, dass die Gesetzgebung von dem Bestreben geleitet wird, nicht etwa nur die mit besonderer Unfallgefahr verbundenen Betriebe dem Kreise der versicherungspflichtigen einzuverleiben, sondern

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424

Fuld,

vielmehr alle diejenigen, bei welchen eine erhebliche Un- fallgefahr zu konstatieren ist. Indessen scheint es hierauf nicht anzukommen, da, wie bemerkt, der Gesetzgeber dem ihn leiten- den Motive keinen formellen Ausdruck verlieh.

Nun wird allerdings auf eine Anzahl gesetzlicher Vorschriften verwiesen, in welchen dieses Motiv anerkannt worden sei und zwar zunächst auf § i, Abs. 7 des Gesetzes von 1884. Diese Be- stimmung verleiht dem Bundesrat die Befugnis, für solche unter die Vorschrift des § I fallenden Betriebe durch Beschluss die Versicherungspflicht auszuschliessen, welche mit Unfallgefahr tur die darin beschäftigten Personen nicht verbunden sind. Es ist zuzugeben, dass dieser Grund der gewichtigste ist, der überhaupt angeführt werden kann; allein entscheidend ist auch er nicht; aus der Begründung dieser Vorschrift geht hervor, dass Gründe der Zweckmässigkeit und Billigkeit zu ihrer Auf- stellung geführt haben, weil es als eine Unbilligkeit gegen die Unternehmer und überflüssige Belästigung derselben, sowie als Belastung der Verwaltung erachtet wurde, Fabriken, welche mit einer Unfallgefahr überhaupt nicht verbunden sind, unter das Gesetz zu stellen. Man wollte hiernach die Betriebsarten ausscheiden, bei welchen die Gefahr nicht grösser ist, als im ge- wöhnlichen Leben überhaupt. Aus dieser besondern Hervor- hebung bestimmter Betriebe darf aber geschlossen werden, dass bei allen übrigen das Gesetz zwischen besonderer Unfallgefahr und gemeiner Gefahr keinen Unterschied macht. Es ist nicht richtig, dass nach Abzug der den Betrieben eigenen Unfallgefahr Unfälle, welche in den Rahmen der Versicherung gehörten, über- haupt nicht mehr übrig blieben ; an sich bleiben solche wohl noch übrig und lediglich aus Opportunitäts- und Billigkeitsgründen hat der Gesetzgeber gestattet, auch für diese die Unfallversicherungs- pflicht auszuschliessen. Die begriffliche Bedeutung des Betriebsunfalls wird aber hierdurch nicht alterierL Noch weniger als diese Bestimmung vermag die Vorschrift des § 16, Abs. 1 des Gesetzes vom 5. Mai 1886 die hier bekämpfte Meinung zu stützen; dieselbe hat die Möglichkeit eröffnet, die kleinen forst- und landwirtschaftlichen Besitzer, bezüglich deren eine Unfallgefahr nicht besteht, von der Pflicht zur Leistung von Beiträgen ganz oder teilweise zu befreien. Unbeschadet dieser Befreiung bleiben die betr. Besitzer aber der Unfallversicherung unterworfen und ihr Verhältnis zu dieser erleidet durch die aus

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Der Begriff des Betriebsunfalles etc. 425

praktischen Gründen beschlossene Befreiung von der Beitragsleist- ungspflicht keine Aenderung Noch weniger kann man sich darauf berufen, dass durch § 35, Abs. 6 desselben Gesetzes den Genossen- schaften, in welchen die einzelnen Betriebe eine erhebliche Ver- schiedenheit bezüglich der Unfallgefahr nicht bieten, gestattet wird, von der Aufstellung eines Gefahrentarifes abzusehen. Die Zugehörigkeit dieser Betriebe zu der Unfallversicherung wird hier- durch mitnichten berührt und die in denselben sich ereignenden Unfälle gehören nach wie vor in die Reihe der Entschädigungs- berechtigten , wenn auch mit Rücksicht auf die Gleichheit der vorhandenen Unfallgefahr von der Aufstellung des Gefahrentarifes abgesehen werden kann.

Betrachten wir nunmehr die Stellung, welche die Recht- sprechung zu der Frage einnimmt bez. bisher eingenommen hat, so kann nicht verkannt werden, dass die Urteile der Schieds- gerichte sich vielfach der hier bekämpften Auffassung ange- schlossen und hierdurch zu dem an sich sehr bedauernswerten Vorwurfe Anlass gegeben haben, dass sie in eigenem Interesse durch engherzige Auslegung des Gesetzes die Tragweite der Un- fallversicherung einzuschränken und ihre Wirkungen zu verküm- mern versuchten. Im Gegensätze hierzu hat das Reichsversiche- rungsamt bis in die jüngste Zeit die entgegengesetzte Anschau- ung mit grosser Konsequenz vertreten. Es würde zu weit führen, einen ausführlicheren Auszug aus den zahlreichen, in betreff dieser Frage ergangenen Entscheidungen des obersten Gerichts- hofes in Unfallversicherungssachen geben zu wollen ; es genügt, wenn wir auf einige der bemerkenswertesten aufmerksam machen.

Ein Arbeiter, welcher auf der Burg Hohenzollern in einem Staatsbetriebe ständig Dienste als Holzhacker zu verrichten hatte , brach ein Bein , als er nach der Mittagspause auf dem Burghofe von der daselbst befindlichen Speisewirtschaft nach dem I lolzschuppen ging, in welchem er vormittags Holz gespalten hatte und nachmittags wieder spalten sollte. Das Reichsver- sicherungsamt sprach aus, dass ein Bedenken gegen die Entschä- digung nicht daraus entnommen werden könne, dass der Unfall init der besonderen Gefährlichkeit des Betriebes nicht Zusammen- hänge, vielmehr in gleicher Weise bei jedem andern Gange hätte eintreten können ; denn in der besondern Betriebsgefahr, gegen welche sich der Arbeiter nicht selbst zu schützen wisse, sei ein Beweggrund für den Erlass der Unfallversicherungs-

Archiv für so». Gesctzgbg. u. Statistik. III u. IV. 28

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426

Fuld,

gesetze zu erkennen, während die Gesetze selbst Entschädigung für all e U nfäl 1 e gewährten '). Von der gleichen Ansicht wurde ausgegangen in dem Falle , in welchem ein Arbeiter auf dem über den Hof des Fabrikgrundstücks nach der Landstrasse füh- renden Wege bei Dunkelheit nach Schluss der Arbeit einen Fehl- tritt infolge von Glatteis gethan und sich hierdurch einen Bruch des rechten Oberschenkels zugezogen hatte *) ; jeder LTnfall , so nahm hierbei der Gerichtshof an, welcher einem Arbeiter bei der Arbeit, auf dem Wege zu und von derselben innerhalb der Gren- zen des Fabrikgrundstückes infolge mangelhafter Beschaffenheit der Maschinen, Treppen, Wege u. s. w. zukomme, müsse rege! mässig als Betriebsunfall gelten. In derselben Richtung bewegt sich eine Entscheidung , wodurch der Tod eines Kofferträgers. welcher in Ausführung seiner dienstlichen Obliegenheiten am frühen Morgen auf der Flur des ersten Stockwerks des Bahnhof- gebäudes eine Lampe ausgelöscht und durch einen Sturz von der in das Erdgeschoss führenden Treppe das Leben verloren hatte, als ein Betriebsunfall anerkannt wurde s). Eine in jüngster Zeit erlassene Entscheidung steht mit dieser Judikatur unverkennbar in Widerspruch: der Kutscher eines Spediteurs war auf der Strasse mit der Reinigung eines Wagens beschäftigt und wurde , als er sich in das Haus begeben wollte, um Wasser zu holen, noch auf der Strasse von einem Stück Holz an dem Kopf getroffen, wel- ches ein in der zweiten Etage des Hauses beschäftigter Zimmer- geselle fahrlässiger Weise auf die Strasse geworfen hatte. Das Schiedsgericht sprach aus, dass dieser Unfall durchaus nicht mi: den Gefahren Zusammenhänge, von welchen Leben und Gesund- heit der im Speditionsbetriebe beschäftigten Arbeiter bedroht sei *), und die Entscheidung wurde seitens des Reichsversicherungs- amtes mit der Erwägung gebilligt, wenn »ein Zimmergeselle aus einem Fenster ein Stück Holz auf die Strasse werfe und einen auf der letztem befindlichen Menschen verletze , so hänge das nicht mit den Gefahren zusammen , von denen Leben und Ge- sundheit der Arbeiter im Speditionsbetriebe bedroht seien.« »Den Kläger hat lediglich ein Unglücksfall betroffen , welchem an der

1) Die Arbeiterversorgung , herausgegeben von F. Schmitz. 4 Jahrg. (BeHso. Siemenroth u. Worms 1887) S. 104.

2) ArbeiteTversorgung a. a. O. S. 545.

3) Arbeiterversorgung a. a. O. S. 597.

4) Arbeiterversorgung a. a. O. S. 248 250.

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Der Begriff des Betriebsunfalles etc.

42 7

111 Rede stehenden Stelle auch jeder andere, nicht in seinem Be- triebe Beschäftigte hätte ausgesetzt sein und welcher ihm auch überall anderswo ausserhalb des Betriebes , in welchem er be schäftigt gewesen, hätte erreichen können1).« Es wird abzuwar- ten sein , ob das Reichsversicherungsamt sich auch in Zukunft dieser Anschauung anschliessen und damit zu erkennen geben wird, dass ein vollständiger Umschwung in seiner Rechtsprechung in der That eingetreten ist. Einstweilen muss dies noch als frag- lich und zweifelhaft erachtet werden. Es dürfte deshalb auch davon abgesehen werden können, auf die Auslegung des Begriffes der »besondern Unfallgefahr« des Nähern einzugehen , worüber sich die Abhandlung Rosin’s verbreitet hat und zwar in einer Weise, die, wenn man sich einmal auf den gegnerischen Stand- punkt stellt, durchaus als richtig anzusehen ist.

Wenn auch die Gründe, auf welche in Vorstehendem Bezug genommen wurde, Beachtung verdienen, so genügen sie doch nicht, um eine Interpretation zu rechtfertigen, die dazu fuhren wird, eine beträchtliche Anzahl der im gewerblichen Betriebe sich ereignen- den Unfälle von der öffentlich-rechtlichen Unfallfürsorge auszu- schlicssen, während die Absicht des Gesetzgebers ohne Zweifel dahin ging, für alle Betriebsunfälle die Unfallversicherung einzu- ftihren. Man sagt freilich, die sozialpolitische Gesetzgebung sei noch nicht abgeschlossen, und die Alters- und Invalidenversiche- rung werde auch die nicht unter die Unfallversicherungsgesetze fallenden Unfälle erfassen. Nun ist freilich in § I der Grundzüge für die Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter s) von der Versicherung gegen Unfälle die Rede, welche durch die reichs- gesetzliche Unfallversicherung nicht gedeckt sind , und in der Denkschrift, die den Grundzügen beigefügt ist, wird bemerkt, dass damit die nicht bei dem Betriebe sich ereignenden Unfälle ge- meint sind. Allein einmal bleibt es fraglich, ob dieser Ausdruck sich nicht auf die Unfälle bezieht , welche mit dem Betriebe in keiner ursächlichen Verbindung stehen, sodann wäre auch die Gewährung der so bedeutend hinter der Unfallrente zurückblei- benden Alters- und Invalidenrente mit nichten als ein genügender Schadenersatz zu betrachten. Von welch' grosser, praktischer

1) Amtliche Nachrichten des Keichsversicherungsamtes (Berlin, Ascher 11. Koni|i.) Jahrg, 4, Nr. 76.

2) Berlin, Karl Ileymann’s Verlag, 1888, S. 5.

28*

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428

Fuld, Der Begriff des Betriebsunfalles etc.

Bedeutung die vorstehend behandelte Frage ist, liegt hiernach auf der Hand und es darf ohne Uebertreibung behauptet werden, dass ihre Beantwortung die Erfolge, welche man von der Unfall- versicherung erwartet, mitbedingt. Im Interesse dieser müsste es im höchsten Masse bedauert werden , wenn die Buchstabenjuris- prudenz, die auf dem Gebiete des Privatrechtes leider eine fast unumschränkte Herrschaft ausübt , auch auf die Auslegung der sozialpolitischen Gesetzgebung Einfluss erringen , und damit die grosse Kluft kenntlich machen würde, die zwischen Buchsta- ben und Geist besteht.

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UNTERSUCHUNGEN ÜBER DIE KÖRPERLICHE ENTWICKLUNG DER ARBEITERBEVÖLKER- UNG IN ZENTRALRUSSLAND.

VON

Dr. f. erismann,

O. O. PROFESSOR DER HYGIENE AN DER MOSKAUER UNIVERSITÄT.

(Schloss.)

Bevor ich dazu schreite , den Einfluss der Beschäftigungs- weise auf die körperliche Entwicklung unserer Arbeiter zu unter- suchen, will ich noch einige Bemerkungen einschalten, die wesent- lich dazu beitragen können unsere Anschauungen über die Ge- setzmässigkeit, welche sich in den Wachstumsverhältnissen des Menschen äussert, zu erweitern.

Schon Quetelet l) hat bekanntlich darauf aufmerksam gemacht, dass, obgleich die Körperlänge der in einem und demselben Alter stehenden Individuen äusserst verschieden sein kann, so dass wir bei gleichalterigen Personen extremen Wachstumsgrössen begegnen, und obgleich auf den ersten Blick hierin der reinste Zufall zu walten scheint, dennoch auch in dieser Beziehung die Zufällig- keiten nur scheinbare sind und einem regelmässigen Gang der Erscheinung Platz machen, sobald das Gesetz der grossen Zahlen in Kraft tritt, d. h. sobald wir über hinlänglich reichhaltiges Ma- terial verfügen. So gelang es Quetelet, zu zeigen , dass , wenn man eine bedeutende Quantität gleichalteriger Personen nach ihrer Körperlänge rangiert, die einzelnen Wachstumsgruppen sich sym- metrisch um diejenige Gruppe lagern, welche der mittleren Kör- perlänge für das betreffende Alter entspricht : auf diese Gruppe

i) Physique sociale. II. 1869. pag. 38 ff. Anthropom&rie. 1874. pag,

*76 ff.

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430

Er is mann.

nämlich fällt die relativ grösste Zahl von Individuen ; dann folgen, in bezug auf die Zahl der Fälle, diejenigen Wachstumsgruppen, welche der ersten nach oben und unten am nächsten stehen, und so geht es weiter nach beiden Seiten hin , die Gruppen wer- den immer weniger und weniger zahlreich, bis schliesslich, im Gebiete des grössten und kleinsten Wuchses, jede Gruppe nur noch aus einzelnen Individuen besteht. Bei graphischer Darstel- lung seiner Untersuchungsresultate erhielt Quetelet eine Kurve von symmetrischer Gestalt , mit einem Maximum das dem mitt- leren Wüchse der gegebenen Altersstufe entspricht, und mit gleich- mässig an- und absteigenden Schenkeln. Diese Kurve ist be- kanntermassen von Quetelet die »binominale« Linie genannt wor- den, weil sie ihren mathematischen Ausdruck im Binome Newton s findet.

Um eine derartige Untersuchung an unserem Materiale an- zustellen, habe ich in erster Linie alle erwachsenen Männer und Frauen (die Männer vom 27sten, die Frauen vom 2isten Lebens- jahre an) nach ihrer Körperlänge mit Abständen von i cm geordnet und hierbei folgende Reihe erhalten.

Tabelle lila.

Verteilung der erwachsenen Männer und Frauen nach Wachstumsgruppen.

Männer. Frauen.

-perliingc in cm

Zahl der Fälle

pro Mille

Zahl der Fälle

pro Mille

129

I

0.05

130

I

0.05

'3t

1.32

3

0. 14

'33

2

009

'34

s

O.24

'35

4

0. 19

'36

4

0. 19

'37

I

0.03

'9

0-93

13»

I

0.03

'5

0-74

'39

I

0.03

37

1.8

140

61

3-0

141

2

O.OÖ

105

5-2

142

I

0.03

'5'

7-5

Digitlzed by Google)

Untersuchungen Uber die körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. 431

Männer. Frauen.

Körperlänge in cm

Zahl der Fälle

pro Mille

Zahl der Fälle

pro Mille

143

4

O. II

239

"•9

144

5

O. 14

341

1 7.0

'45

12

O.36

489

24.4

146

'5

O.44

616

30.8

'47

22

O.65

757

37-8

148

30

O.9

1044

52.2

149

5'

'•5

"35

56.7

150

85

2.5

1320

65.9

'5'

'35

4.0

1412

70.5

152

200

6.0

1550

77-4

‘53

284

8.5

1527

765

‘54

394

11.7

1503

75-i

'55

509

15.2

1336

66 .7

156

7 IO

21.2

'335

66 .7

'57

956

28.5

1047

52.3

158

1107

33-0

966

48.3

'59

'365

40.7

818

40.9

160

1529

45.6

629

3'-4

161

1856

55-3

447

22.3

162

1989

59-3

362

18. 1

163

2220

66.2

256

12.8

16p

2274

67.8

'5'

7-5

2285

6S.1

126

6.3

166

2196

63.5

67

3-3

167

2074

61.8

48

2.4

168

1845

55.0

28

'•4

169

'775

52.9

20

1.0

170

1588

47-4

'3

0.64

171

1284

38.3

7

0-34

172

1136

33-9

4

o. 19

'73

909

27.1

1

0.05

'74

681

20.3

7

0.34

175

572

17.1

t

0.05

176

434

12.9

' 77

302

9.0

1

0.05

178

234

7.0

'79

176

5-3

2

0.09

180

89

2.7

i

0.05

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432

Hr ismann,

Män ner.

Frau

en.

Kor[, erlange in cm

Zahl der Fälle

pro Mille

Zahl der Fälle

pro Mille

l8l

67

2.0

I

0.05

182

51

'•5

'83

28

0.8

184

16

0.47

.85

10

0.29

186

10

0.29

187

7

0.20

188

4

0. 1 1

__

I89

1

o.o3

190

6

0.17

'91

I

0.03

192

r

0.03

33540 _

1000

20015

1000

Aus dieser Tabelle sehen wir bereits, dass in der That der mittleren Körperlänge bei beiden Geschlechtern die grösste Zahl der Fälle entspricht, und dass von hier aus, sowohl nach ober, als nach unten, die Zahl der Individuen in den einzelnen Längen- stufen beständig und ziemlich symmetrisch abnimmt. Genau das arithmetische Mittel der Körperlänge Erwachsener besitzen aller- dings nur etwa 70 pro Mille der Männer und Frauen ; aber sehr nahe diesem Mittel, und zwar zu beiden Seiten desselben , be- gegnen wir noch ähnlichen Prozentsätzen. Sehr grosse und an- derseits abnorm kleine Leute sind verhältnismässig selten : auf 1000 Männer kommen nur 17, die das zum Eintritt in den russi sehen Militärdienst erforderliche Minimalmass von 153 cm nicht besitzen; eigentliche Riesen, d. h. Leute, deren Körperlänget Meter übertrifft , haben wir unter unseren 33540 Männern nicht zu konstatieren ; die Zahl der wirklich grossen und sehr grossen Männer (von 180 cm an aufwärts) beträgt 8.6 auf 1000. Der kleinste Mann unter den 33540 Individuen hatte 137 cm '), der grösste 192 cm, was eine Differenz von nur 55 cm ergibt. Sehr kleine Frauen (weniger als 140 cm) gibt es 4.5 auf tooo. sehr grosse (von 170 cm an aufwärts) ungefähr 2 auf 1000.

Leider ist ein direkter Vergleich der so eben angeführte» Zahlen mit anderweitigem Materiale unmöglich , da uns aus an- deren Ländern keine hinlänglich zahlreichen Messungen an voll-

l) Alle buckeligen Personen sind hier ausgeschlossen.

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Untersuchungen über die kor per liehe Entwicklung der Arbeiter etc. 433

kommen erwachsenen Personen zur Verfügung stehen. Es be- ziehen sich nämlich die in der Litteratur vorhandenen und in entsprechender Weise verarbeiteten Massen-Untersuchungcn fast ausschliesslich auf Individuen im militärpflichtigen Alter (20 und 21 Jahre), auf deren körperliche Entwicklung wir weiter unten zurückkommen werden.

Um nun die oben angedeutete Symmetrie in den Wachs- tumsverhältnissen unserer erwachsenen Arbeiterbevölkerung besser in die Erscheinung treten zu lassen, habe ich die Grundtabelle in der Weise vereinfacht, dass jede Längenstufe, statt I cm 3 cm umfasst. Bei dieser Gruppeneinteilung bin ich selbstverständlich von der mittleren Körperlänge beider Geschlechter ausgegangen ; dem entsprechend enthält die mittlere Gruppe für die Männer alle Individuen von 164 166.5 cm, die mittlere Gruppe für die Frauen alle Personen von 152 154.5 cm. Dadurch habe ich nun die Möglichkeit erhalten, das Binominalgesetz, mit Benutzung der von Quetelet gegebenen Zahlenreihen, auf unser Material an- zuwenden ’). Das Resultat dieser Zusammenstellung ist in fol- gender Tabelle verzeichnet (siehe auch Diagramm III).

Tabelle III b.

Anwendung des B i n om i n a lg e s et z es auf die Körper länge der Männer und Frauen.

Männer. Frauen.

Korperl ringe

Zahl der

pro

Nach der

Zahl der

pro

Nach der

in cm

Fälle

Mille

Formel

Fälle

Mille

Formel

134—136.5

>3

I

O

*37 '39-5

4

3

140 142.5

317

16

16

143— «45-5

21

I

O

1069

53

54

146 148.5

67

2

I

2417

121

121

149— 15 1. 5

271

8

6

3867

'93

'93

152-154.5

878

26

22

4580

2214

226

1) Zur Vergleichung benutzte ich fiir die Minner eine Formel mit 15 Gliedern : 2U = I 4 '4 4 9' 4 364 4 1001 4 2002 -f 3003 4 3432 4 3003 4 2002 4 1001 4 364 4 9' + '4 4 = 16384 ;

für die Frauen, deren Zahl geringer ist, diente eine Formel mit 13 Gliedern:

a11 = 1 4 12 4 66 4 220 4 495 4 792 4 924 4 792 4 495 4 220 4 66 4 « 4 1 = 4°96’

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434

Er ismann ,

Männer. Frauen.

Korpcrliinge

Zahl der

pro

Nach der

Zahl der

pro

Nach de:

in cm

Fälle

Mille

Formel

Fälle

Mille

Formel

155 157-5

2175

65

6l

3718

l86

•95

158 160.5

4001

120

122

24«3

121

121

161 —163.5

6065

l8l

•83

1065

53

54

164 166.5

6755

201

210

344

17

16

167 169.5

5694

170

183

96

5

3

170— 172.5

4008

120

122

24

1

0

•73— «75-5

2162

64

61

176— 178.5

970

28

22

179—181.5

332

IO

6

182 184.5

95

3

1

185—187.5

27

1

0

33521

1000

1000

19994

1000

1000

Diagramm III. Gruppierung der erwachsenen Männer und Frauen nach der Körperlänge.

In dieser Tabelle, sowie in dem entsprechenden Diagramme , erreicht nun die symmetrische Anordnung der Zahlen einen hohen Grad : sowohl bei den Männern als bei den Frauen fällt die relativ grösste Zahl der Individuen auf diejenige Gruppe, welche der mitt- leren Körperlänge entspricht; diese Gruppe bildet den Scheitel der Kurve Von da an geht es nun nach beiden Seiten hin herunter, und zwar anfangs noch ziemlich langsam, da auch die dem Mittelwuchse zunächst gelegenen Gruppen noch eine grosse Menge von Fällen einschliessen , sodann aber äusserst rasch , so dass die Schenkel der Kurve eine sehr steile Richtung

erhalten. Hiebei ist, wie man sieht, die Uebereinstimmung der

Zahlen auf beiden Seiten der Kurve eine sehr erhebliche und

stellenweise sogar überraschende : so finden wir z. B. bei den Männern im aufsteigenden Schenkel, bei 158 160.5 cm, 4001 Fälle, während die entsprechende Gruppe im absteigenden Schenkel (170 172.5 cm) 4008 Personen zählt; in den darauf folgenden

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Untersuchungen über die körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. 435

Gruppen sehen wir auf der einen Seite 2175 Individuen, auf der andern 2162, d. h. cs gibt ebensoviele Personen mit einer Körper- länge von 155 157.5 cm, als solche, deren Wuchs 173 175.5 cm beträgt. Eine womöglich noch grössere Symmetrie finden wir bei den Frauen: hier sehen wir 1.. B. im aufsteigenden Schenkel der Kurve, in der Gruppe von 146 148.5 cm 2417 Personen, und auf der andern Seite, in der entsprechenden Gruppe, deren Wuchs 158 160.5 cm beträgt, 2413 Individuen; die Gruppe von 143 bis

145.5 cm enthält 1069 Fälle, die entsprechende Gruppe von 161 bis

163.5 cm 1065 Fälle. Die Uebereinstimmung ist auffallend und jedenfalls viel bedeutender, als man es bei einer auf den ersten Blick so zufälligen Erscheinung, als welche man die Grösse der einzelnen Menschen zu betrachten gewohnt ist, erwarten konnte. Dementsprechend kommen auch die durch Beobachtung erhal- tenen Zahlen, bei Reduktion auf 1000, den nach der binominalen Formel berechneten sehr nahe und fallen stellenweise mit den- selben sogar zusammen. Es zeigt sich also hier eine wirklich wunderbare Gesetzmässigkeit, die uns die Möglichkeit und das Recht gibt mit grosser Bestimmtheit zu sagen , wie gross der- jenige Prozentsatz der erwachsenen Bevölkerung Zentralrusslands ist, der diese oder jene Körperlänge besitzt.

In Beziehung auf den Brustumfang können wir eine so voll- kommene symmetrische Anordnung der Fälle, wie wir sie soeben bezüglich der Körperlänge konstatiert haben, ohne weiteres kaum erwarten, und zwar deshalb weil der Brustumfang, wie wir weiter oben gesehen haben, auch bei erwachsenen Personen, d. h. nach Vollendung des Längenwachstums, keine stationäre Grösse ist, sondern mit dem Alter fortwährend noch etwas zunimmt. Wenn wir also hier die Gesetzmässigkeit der Erscheinung finden wollen, so sind wir genötigt, nur Personen von beiläufig ein und dem- selben Alter in den Bereich der Untersuchung zu ziehen. Aus diesem Grunde habe ich in die folgende Tabelle, neben der alle erwachsenen Männer umfassenden Zahlenreihe, noch eine Reihe aufgenommen, welche ausschliesslich die Verteilung der im Alter von 30 40 Jahren stehenden Männer nach der Grösse ihres Brust- umfanges zeigt. Ich habe gerade diese Altersperiode zum Ver- gleiche gewählt, weil sie eine bedeutendere Fettablagerung ins Unterhautzellgewebe, wodurch das Brustmass alteriert werden könnte, noch so ziemlich ausschliesst. Die Anordnung der Gruppen ist derart getroffen, dass das Brustmass um je 2 cm ansteigt.

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436

Er i sm ann ,

A nord

nung der

Männer

nach dem

Brustumfang.

Brustumfang in cm

(Jeher 26 Jahre

Zwischen 30 u

40 Jahren

Nach der Formel

Zahl tler Fälle

pro Mille

Zahl der Fälle

pro Mille

70— 71.5

6

O

4

O

72— 73-5

28

I

1 1

I

0

74— 75-5

>03

3

40

3

4

76— 77-5

33«

IO

134

10

9

78— 79-5

1059

32

43«

33

28

80 8 1.5

2305

69

911

68

67

82— 83.5

4008

119

1634

122

122

84- 85.5

5806

>73

2339

174

>74

S6— d'7.5

<S6jj

/yd'

2637

/yd

/yd

88— 89.5

5623

168

2298

17 1

>74

90— 91.5

37>3

iii

>477

1 10

122

92— 93-5

2070

62

833

62

67

94— 95-5

1078

32

417

31

28

96— 97.5

445

>3

>74

>3

9

98— 99.5

>87

6

61

5

2

100 10 1.5

68

2

>7

1

O

102 103.5

I

7

0

33 521

IOOO

>3 432

1000

IOOO

Schon bei der Gesamtheit der über 26 Jahre alten Männer ist die Symmetrie in der Anordnung, ungeachtet des oben er- wähnten Umstandes, eine sehr bedeutende: das Maximum der Individuenzahl fällt auf das mittlere Brustmass der Erwachsenen (86 87.5 cm) und stimmt bei der Berechnung auf 1000 vollkommen mit der nach der Formel zu erwartenden Grösse überein , die beiden Schenkel der Kurve entwickeln sich mit grosser Regel- mässigkeit und fallen in einzelnen Details mit den theoretisch be- rechneten Grössen vollkommen zusammen. Aber wunderbar und im höchsten Grade überraschend ist das, was wir bei den Männern von 30 40 Jahren erblicken. Man betrachte nur die Zahlen des aufsteigenden Schenkels :

Gefunden: 1 3 10 33 68 122 174 196

Nach der Formel: 02 9 28 67 122 174 196

I )ie Uebereinstimmung ist eine so grosse, dass man beinahe glauben möchte, die Zahlen seien absichtlich in gewisser Weise zusammengestellt; und doch ist es nur das Naturgesetz, das

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Vntersuchungen über die körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. 437

sich in den verhältnismässig grossen Zahlen deutlich und beredt ausspricht 1 Es wiederholt sich hier, nur prägnanter, dieselbe Ge- setzmässigkeit, die schon von Quctelet ') in bezug auf den Brust- umfang der schottischen Söldner und der Soldaten der Potomak- armee konstatiert worden ist.

Ein nicht geringes Interesse in sozialpolitischer Beziehung bietet nun speziell die körperliche Entwicklung der zum Eintritt in den Militärdienst berufenen Altersklasse, da hievon in bedeutendem Masse die Wehrfähigkeit eines Landes abhängt. Um das mir zur Verfügung stehende Material in dieser Richtung nicht ganz unbenutzt zu lassen, habe ich unter anderem die Männer von 20 und 21 Jahren, deren Zahl sich auf 4465 beläuft, nach ihrer Körperlänge zusammengestellt. Hiebei ergibt sich, dass die sehr kleinen Leute, welche das in Russland gesetzmässig für den Eintritt in die Armee festgestellte Minimalmass von 153 cm nicht erreichen, wenigstens 23 pro Mille der Gesamtzahl der Konskribierten bilden. Leute, die grösser wären als 186 cm, haben wir in dieser Alterskategorie nicht getroffen. Die Längen- stufen der folgenden Tabelle umfassen je 3 cm; der Einteilung ist der mittlere Wuchs der betreffenden Altersperiode zu Grunde gelegt.

Anordnung der 20 21jährigen Männer nach der

rp

erlange.

Körperlänge in cm

Zahl der Fälle

Pro Mille

Nach der Formel

142— 144.5

4

I

*45 »47-5

19

4

O

148 150.5

37

8

3

i5i—'S3-5

93

2 1

l6

154-156.5

245

55

54

i57—'59-5

477

107

12 I

160 162.5

830

186

193

163—165.5

940

210

226

166—168,5

778

174

193

169 17 1.5

561

126

12 1

172- 174-5

284

64

54

l) Anthropom&rie, pag. 289. Hiysique sociale. II. pag. 57 und 59.

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F.r i snt a n n ,

438

Körper länge in cm

Zahl Her Fälle

Pro Mille

Nach der Fonnel

*75 *77-5

135

30

l6

178—180.5

46

IO

3

181—183.5

12

3

0

184 -186.5

4

1

4465

1000

1000

In Anbetracht

der verhältnismässig geringen

Gesamtzahl der

Untersuchten konnte man eine grössere Symmetrie in der Ver- teilung der Fälle auf die einzelnen Wachstumsgruppen und eine grössere Uebereinstimmung des thatsächlich Gefundenen mit dem theoretisch Berechneten kaum erwarten. Die Wachstumskurvc erhält eine sehr regelmässige Form und die gefundenen Zahlen kommen den berechneten grossenteils sehr nahe. Aus der dritten Zahlenreihe sehen wir ausserdem, dass in dem zum Eintritte in den Militärdienst bestimmten Alter 57 % aller jungen Männer eine Körperlänge besitzen, die nur in den sehr engen Grenzen von 160 168.5 cm schwankt, 19.6% der Militärpflichtigen sind kleiner als 160 cm, 23.4 °/o grösser als 168.5 cm.

Wenn wir nun , um unsere Zahlen mit den von Qucteiet 'zusammengestellten Angaben über die Körperlänge der im Alter von 20—21 Jahren stehenden militärpflichtigen jungen Männer in Frankreich, Belgien und Italien vergleichen zu können, unser Material in drei Längenstufen einteilen, nämlich in solche, deren Wuchs unter 160 cm bleibt, in solche, die der Mittelgruppe von 160— 168 cm angeboren, und endlich in solche, deren Grösse 108cm ubersteigt, so erhalten wir folgende Tabelle:

Körperlänge

Russland

Frankreich

Helgien

Italien

in cm

(nach Erisinann) (nach d’Hargen- villers)

(nach Quetclet)

(nach Bodin)

unter 160

•96 °/„0

286 °/00

25 7 •/..

270 •/„

160 168

556

514

53S

573

über 168

248

208

208

157 _____

IOOO

IOOO

IOOO

IOOO

Wir ersehen hieraus , dass im dienstpflichtigen Alter der Körperwuchs der jungen Männer in Zentralrussland denjenigen der Italiener, Belgier und Franzosen nicht unbedeutend über- trifft ; am grössten ist der Unterschied zwischen Italien einerseits und Russland anderseits : unter den wehrpflichtigen Italienern

befinden sich erheblich mehr Leute von kleinem Wüchse, und be- deutend weniger Individuen von hohem Wüchse , als unter den

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tlnter suchungen über die körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. 439

Grossrussen. Dieser Unterschied zwischen unserer Bevölkerung und den Italienern spricht sich auch im Mittelwuchse der Kon- skribierten aus: nach Bodio beträgt derselbe in Italien nur 162 cm, während unsere 20 21jährigen Abeiter etwas mehr als 164 cm aufweisen.

Um mir nun Gewissheit darüber zu verschaffen, inwiefern die soeben erwähnte Gesetzmässigkeit in der Verteilung der Leute nach der Körperlänge sich nicht nur bei den 20 21jährigen Fabrikarbeitern, sondern auch bei den wirklich zum Militärdienst berufenen jungen Männern, ohne Unterschied der Beschäftigungs- Weise, bemerkbar macht, habe ich für 3 Jahre die Resultate der in den Rekrutenkommissionen des Bezirks Klin (Gouv. Moskau) vorgenommenen Messungen verarbeitet und die gemessenen Per- sonen ohne Rücksicht darauf, ob sie aufgenommen, zurückgestellt oder gänzlich abgewiesen wurden, nach Längenstufen mit je 3 cm Abstand gruppiert. Die Gesamtzahl der Untersuchten beträgt leider nur 1076 Mann. Um so grösser wird aber unser Erstaunen, wenn wir auch an diesem bescheidenen Material das Gesetz deut- lich hervortreten sehen.

Die 20 2ljährigen Männer des Bezirks Klin nach den Messungen in den Rekrutenkommissionen.

Körperlänge

Zahl der Falle

Pro Mille

Nach der Formel

146 148.5

4

4

O

149-151.5

12

11

1

152— 154.5

33

30

IO

1 55 1 57-5

95

88

44

158 160.5

106

100

117

161—163.5

200

186

205

/ö./ 166.3

207

192

246

167 169.5

187

'74

205

170-172.5

1 12

104

117

«73 «75 5

64

60

44

176—178.5

35

32

IO

179-181.5

12

1 1

1

182 184.5

9

8

0

1076

IOOO

IOOO

Der Mittelwuchs der Untersuchten beträgt hier 1651.8 mm, und wir sehen dementsprechend, dass die zahlreichste Wachstums-

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440

Er i smann ,

gruppe die diesen Mittelwuchs einschliessende von 164 166.5 cm ist. Von dieser Maximalgruppe aus geht es dann nach beiden Seiten hin abwärts und zwar ziemlich regelmässig und symme- trisch. Die Abweichungen von der theoretisch zu erwartenden Gruppierung sind hier stellenweise ziemlich bedeutend, was übrigens bei der geringen Zahl der Untersuchten leicht begreiflich ist. Ich bemerke noch, dass auf die Wachstumsgruppe von 160 16S cm hier 502 Mann von 1000 fallen ; kleiner als 160 cm sind 208 Mann, grösser als 168 cm 291 Mann. Der Unterschied, im Vergleich zu den weiter oben angeführten Zahlen, besteht also wesentlich darin, dass der Prozentsatz der Individuen von hohem Wüchse hier ein bedeutend grösserer ist, und zwar auf Kosten der mittleren W achstumsgruppe.

Bevor ich mit den Eigentümlichkeiten abschliesse, welche sich bei Verteilung der Menschen nach ihrer Körpergrösse kund- geben, will ich zum Vergleiche noch einige Zahlen bringen, die einer Quelle entnommen sind, deren Besitz ich der Liebens- würdigkeit des eidgenössischen statistischen Biireaus in Bern ver- danke. In den Berichten über die Resultate der ärztlichen Re- krutenuntersuchung, welche das genannte Büreau alljährlich ver- öffentlicht, finden sich Tabellen über die Gruppierung der unter- suchten Individuen nach ihrer Körperlänge. Für die Jahre 1884 86 beläuft sich die Gesamtzahl der Untersuchten auf 68075 Mann *). Zur Grundlage der Einteilung diente ein Grössenunter- schied von 1 cm. Ich habe nun für jede einzelne Grösse die Zahl der Leute für die genannten 3 Jahre summiert und es hat sich hiebei herausgestellt, dass die grösste Zahl der Untersuchten dem Körpermasse von 165 cm entspricht, und dass demnächst und beinahe in gleicher Höhe die Gruppe der 164 cm messen- den Leute folgt. Offenbar beträgt also das Mittelmass der Aus- zuhebenden in der Schweiz ungefähr 164.5 cm, so dass mit 20 Jahren der junge Mann daselbst um einige Millimeter höher ist, als der Bauer in Zentralrussland. Wenn man nun auf Grundlage dieser Mittelgrösse Längenstufen von je 4 cm Differenz bildet, so erhält man folgende Tabelle, in der übrigens alle Individuen, die kleiner als 139 cm und grösser als 190 cm gefunden wurden, aus- geschlossen sind, so dass die Gesamtzahl nur 67489 Mann beträgt.

l) Schweizeriache Statistik. 62. 65. u. 69. Lieferung. Resultate der ärztlichen Rekrutenuntersuchung im Herbste 18S4, 1885 u. 1886.

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C'rtfersue/iunge/1 über dir körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. 441

Anordnung

der Schweizer

Rckrute

n nach der

Körperlän

CT p h

Körpcrlängc in cm

Zahl »1er Fälle

Pro Mille

Nach tler Formel

139- 142

449

7

O

143—146

856

13

3

147-150

1696

25

l6

151— 154

3664

54

54

'55— >5»

7869

1 16

12 1

159 162

13072

'94

193

163—166

13624

231

226

167 170

•3145

'95

193

17 1— 174

7314

108

121

175-178

2823

42

54

179— 182

785

12

16

183—186

156

2

3

187—190

36

I

0

67489

IOOO

IOOO

Neben der

teilweise sehr ausgesprochenen

Symmetrie der

7. u beiden Seiten des Kurvenscheitels gelegenen Zahlen und neben der Uebereinstimmung zwischen den gefundenen und den berech- neten Grössen, soweit sich dieselben auf die Körperlängen zwi- schen 150 177 cm beziehen, bemerken wir hier eine Eigentüm- lichkeit, die bei unserer russischen Bevölkerung nicht hervortritt. 1 dieselbe beruht darin, dass derjenige Schenkel der Kurve, welcher die unter 163 cm messenden Leute enthält, bedeutend langsamer ansteigt als der andere Schenkel, welcher die Gruppierung der über 166 cm hohen Rekruten veranschaulicht. In der That zieht sich der Anfangsteil des ersteren Schenkels sehr lange hin und vermissen wir hier die Uebereinstimmung zwischen den gefun- denen und den berechneten Grössen. Diese Erscheinung hängt von der grossen Zahl sehr kleiner Männer ab, die sich bei der Rekrutenaushebung zur Untersuchung stellen. Es ist sehr wahr- scheinlich, dass in der Schweiz lokale Gründe vorliegen, welche bei einer Bevölkerung, deren Mittelwuchs hinter demjenigen der Bevölkerung Zentralrusslands in keiner Weise zurücksteht, in zahlreichen Fällen zu mangelhafter Körperentwicklung Veran- lassung geben, ln dieser Vermutung werden wir noch durch die Thatsache bestärkt, dass es in der Schweiz nicht weniger grosse (über 16S cm) Leute gibt als in Russland, und bedeutend mehr als in Frankreich, Belgien und Italien, so dass der Prozentsatz

Archiv für »ox. Gesetxgbg. u. Statistik III. u IV. 29

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442

Erisman n.

der körperlich schlecht Entwickelten auf Kosten Derjenigen wächst, die einen mittleren Wuchs aufweisen. Wir haben nämlich: Unter 1G0 cm 1773 I Personen = 26 1 °/0,

t6o 168 » 333 16 » = 489 »

Ueber 168 » 16986 > = 250 »

Unter diesen Umständen muss, wie gesagt, die Ursache des grossen Prozentsatzes kleiner Leute in besonderen örtlichen Ver- hältnissen gesucht werden. Vielleicht bleibt hier nicht ohne Ein (luss der in einzelnen Gegenden der Schweiz ziemlich häufige Kretinismus.

Ich möchte nun noch kurz das Verhältnis zwischen Brustumfang und halber Körperlänge bei Leutec von verschiedener Grösse beleuchten.

Es ist längst bekannt, und wird ja auch wohl bei den Re- krutenaushebungen darauf Rücksicht genommen, dass bei Indi- viduen von hohem Wüchse das Wachstum des Rrustunifängc- demjenigen der Körperlänge nicht parallel geht, sondern hinter demselben relativ zurückbleibt, mit anderen Worten. di'S grosse Leute im allgemeinen eine verhältnismässig weniger guten: wickelte Brust besitzen, als Personen von mittlerem oder kleinerem Wüchse. Nach den hierüber schon von Bernstein') aufge- stellten Thesen findet sich der relativ grösste Brustumfang Verhältnis zur halben Körperlänge) bei Personen mittleren Wuchst (163 171 cm), die, wie bekannt, die kräftigsten, widerstandsfähig- sten und für das Kriegshandwerk tauglichsten sind. Ist der Mensch mehr als mittelgross und übertrifft seine Körperlängt 171 cm, so hört nach Bernstein die Proportionalität in der Entwicklung des Brustumfanges auf, die Brust ist oft enger als sie sein sollte, und derartige Individuen haben eine grosse Disposition zu ernsthaften Lungenkrankheiten.

Seither ist diese Beobachtung oft bestätigt worden ; an der Thatsache ist also nicht zu zweifeln und es handelt sich geg®' wärtig nur noch darum, die Gesetzmässigkeit der Erscheinung nachzu weisen und zu zeigen, in welchem Verhältnis Brustum&t und Körperlänge bei verschiedener Grösse der letzteren stehet In dieser Beziehung nun haften den vorhandenen Beobachtungen grosse Mängel an, da das Material, an welchem sie gemacht sine, überhaupt nicht umfangreich genug, oder nur einer bestimmtet l) Prager medizinische Wochenschrift 1864. Nr. 9.

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Untersuchungen über die körperliche Enhvicklung der Arbeiter etc. 443

Altersstufe entnommen ist. Die weitaus grösste Zahl derartiger Untersuchungen betrifft Individuen, welche sich zum Eintritt in den Militärdienst stellen, also junge Männer im Alter von 20 Jahren. Wir werden hierauf später zurückkommen, vorderhand aber lasse ich eine Tabelle folgen, welche das Verhältnis des Brustumfanges zur halben Körperlänge, bei unseren vollkommen er- wachsenen, im besten Mannesalter stehenden Arbeitern (vom 27sten bis zum 50sten Lebensjahre) bei verschiedenem Wüchse zeigt. Die Zahl dieser Arbeiter beläuft sich auf 26616. Jede Längenstufe umfasst 2 cm , eine Ausnahme hievon bildet nur die erste Gruppe, welche alle Individuen von 135 145.5 cm einschliesst, sowie die beiden obersten Längenstufen, die ebenfalls eine grössere Anzahl von Centimetern umfassen.

Verhältnis des Brustumfanges zur halben Körper- länge bei erwachsenen Männern verschiedener

Grösse.

Mittlere Körper- länge

Mittlerer

Brustumfang

Verhältnis des

Körperlänge

Zahl der Fälle

Brustumfanges zur halb. Körperlänge

135—145-5

22

I44.O

8I.4

4 9-4

146—147.5

2 7

146.8

81.3

7-9

148—149.5

64

148.9

81.8

7-3

150—151-5

167

150.7

81.7

6.4

•52—153-5

37«

152.7

82.7

6-3

•54—155-5

7*4

•54-7

83.2

5-8

56—157.5

1285

156.7

83-9

S-S

58—I59-5

•949

•58.7

84.4

5-0

160 161.5

2668

161.2

85.2

4.6

162 163.5

3324

162.7

85.8

4-5

164 165.5

3635

164.4

86.4

4.2

166—167.5

339<>

166.3

86.9

3-7

o*

oc

I

&

yj\

2888

168.6

87.5

3-2

170 17 1.5

2292

170.6

88 2

2.9

•72-173-5

1627

172.6

88.9

2.6

•74 -175-5

102 1

174.6

89.4

2.1

176—177.5

601

176.5

90.0

1.8

178-179.5

329

1786

90.2

0.9

180 184.5

203

18 1.4

9M

0.7

185 192

33

.87.1

92.2

i.3

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F.r tun a n n .

Wir sehen hier ein stetiges, durch keinerlei zufäl- lige Schwankungen unterbrochenes, der Zunahme der Kbrperlänge parallel gehendes Abnehmen des Ueb erge w ic ht es des Brustumfangs iiber die halbe Körperlange. Die Erscheinung ist dermassen konstant, dass wir sie wohl mit Recht eine gesetzmässige nennen können, und wir haben also hier eine neue Seite des YVachstumsgesettes vor uns. Der Unterschied in der relativen Brustentwicklung. ;t nach der Korperlänge, ist, wie ersichtlich, ein ziemlich bedeuten der: sehr kleine Leute, unter 150 cm, weisen ein Uebergewicbt des Umfanges über die halbe Länge von 7 9.5 cm auf; dem mittleren Wüchse von 160 170 cm entspricht ein Plus auf Seite des Brustumfangs von 3-4.5001, in der Längenstufe von 170 bt 180 cm sehen wir ein Uebergewicht des Brustumfangs von 1—3 cm. und endlich bei Leuten von sehr hohem Wüchse, über 185 cm. bleibt der Brustumfang um mehr als 1 cm hinter der halben Körperlänge zurück.

Es ist nun interessant zu sehen, wie sich diese Verhältnisse bei jüngeren, noch im Wachstum begriffenen Individuen gestalte! Zu diesem Behufe habe ich zwei Gruppen gebildet, von denen die eine die jungen Männer im Alter von 20 und 21 Jahren (4453 Personen), die andere die Männer von 22- 26 Jahren (8913 Per sonen) einschliesst. Die Längenstufen sind auch hier mit Inter vallcn von je 2 cm gebildet.

Verhältnis des Brustumfanges zur halben Körper länge bei Männern von 20 21 und 22 26 Jahren in verschiedenen Längenstufen.

20—21

Jahre

22 2

6 Jahre

Körper-

Zahl

Mitt-

Mitt-

lerer

Ver-

Zahl

Min-

Mitt-

lerer

Ver-

läliRi- in cm

iler

Fälle

lerer

Wuchs

Brust-

hältnis-

wahl

der

Fälle

ierer

Wuchs

Brust-

haue- ui 1

146—149.5

32

148. 1

umfang

77.8

+ 3-8

30

I4S

umfang

79.0

f c.<*

150-15 1.5

30

1 50.6

79.2

3-9\

»5

150.7

80.8

•52—153-5

80

152.8

80.8

4.4

166

152.8

81.2

r*

154—155-5

124

•54-7

80.9

3-5 \

245

•54-7

82.4

y’

•56—157-5

23«

156.6

81.5

3-2

465

156.7

82.5

f

158—159.5

360

158-7

82.4

1

6 77

158.7

833

3

160 16 1.5

514

160.7

82.7

2-4 1

923

160.7

84 .0

162—163.5

653

162.7

«3-4

2.1 1

1 128

162.7

84.6

y -

[ ’/tfei siichunge/t ii/'cr die körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. 445

20—21 Jahre ! 22 26 Jahre

Körper-

läng«

in cm

Zahl

der

Kalle

Mitt-

lerer

Wuchs

Mitt-

lerer

Brust-

umfang

Ver- hältnis- 1 zahl

Zahl

der

Fälle

Mitt-

lerer

Wuchs

Mitt-

lerer

Brust-

umfang

Ver-

hältuis-

zahl

164— 165.5

603

164.7

84.1

/.&

1 176

164.7

84.8

2-5

1 66 167.5

562

166.7

849

15

1158

166.6

85.7

2.4

168-169.5

4-3

168,7

85.4

t.o

935

168.6

86.2

/.p

170— 171.5

354

170,6

85.8

o.$

743

170.6

86.7

1.4

I/2—I73-5

188

172.6

»5-9

0.4

518

172.6

87.2

O.t)

174— >75-5

150

<74-5

87.2

-f* 0

3 <2

174.6

87.5

0.2

'76- <77 5

81

176.6

87.5

o.S

<83

176.5

88.3

o.t

<78— <79-5

35

178.6

88.6

0.7

109

178.5

88.3

o.p

180 u. mehr

27

4453

18 1.5

89.9

o.p

60

8913’

18 1.9

90.5

—0.5

Wie die vorige, so zeigt auch diese Tabelle eine stete, ge- Selzinässige Abnahme des Uebergewichtes des Brustumfanges über die halbe Körperlängc mit zunehmender Grösse: am günstigsten gestaltet sich die Entwicklung des Brustkorbes bei Individuen von geringem Wüchse, am ungünstigsten bei den hochgewachsenen jungen Männern, trotzdem dass das absolute Mass des Brust- umfanges bei den Letzteren ein sehr bedeutendes ist und mit der Körperlänge regelmässig zunimmt. Wir können also sagen, dass die Erscheinung an und für sich, d. h. die relative Abnahme des Brustumfanges mit der Längenzunahme des Körpers bei allen drei Altersgruppen sich mit der nämlichen Gesetzmässigkeit äussert. IJ'nd doch existiert zwischen diesen 3 Gruppen, wenn wir das Verhältnis von Umfang und Länge etwas genauer betrachten, ein

wesentlicher Unterschied. Wir sehen nämlich, dass, unter- staunlicherRegelmässigkeit, das Ueberg e w i c h t des Brustumfanges über die Hälfte der Körper- lange, bei ein und demselben Wüchse, in verschie- denen Gruppen ein ungleiches ist, u n d zw a r s o , dasses mit zunehmendem Alter zusehends steigt, d. h. günstiger wird. So z. B. beträgt bei einer Körper- länge von 150 152 cm das Plus auf Seite des Brustumfanges in der I. Gruppe (20 21 Jahre) 3-9 cm' *u ^er Jahre)

- 5.4 cm und in der 111. (27-50 Jahre) - 6.3 cm; bei einer Körperlänge von 160—162 cm erhalten wir folgende Zahlen : 2.4 3.6 4.6 cm ; bei 170— 172 cm finden wir 0.5 1.4

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446

Er is mann ,

2.9 cm u. s. f. So kommt es denn, dass in der 1. Gruppe der Brustumfang hinter der halben Körperlänge schon bei einem Wüchse von 172 cm zurückbleibt, während bei derselben Körper grosse Männer von 22 26 Jahren noch ein Plus von beinahe 1 cm und vollkommen erwachsene Männer sogar ein Plus von 3 cm auf Seite des Brustumfanges aufweisen. Es unterlieg*, keinem Zweifel , dass diese Erscheinung mit der von uns früher konstatierten Thatsache zusammenhängt , dass der Brustumfang gegen das Ende der Wachstumsperiode rascher zunimmt als die Körperlänge, und dass auch nach vollendetem Längenwachstum der Brustkorb sich noch weiter entwickelt.

Zur Vergleichung mit den soeben beigebrachten Zahlen kön- nen wir die Untersuchungen von Busch ') und Jansen *) heran- ziehen. Der Einteilung Jansens folgend, nehmen wir hiezu Längen- stufen von je 5 cm an. Da die Untersuchungen der genannten Autoren ausschliesslich Rekruten betreffen, so stellen wir ihnen auch nur diejenigen unserer Zahlen gegenüber, die sich auf junge Männer von 20—21 Jahren beziehen.

Verhältnis d

cs Brustumfanges

zur

h a

Iben Kor

p erlange bei

20 2 1 j ä h r i g e n Männern

denen Ländern.

i n

ve rschit

Körperlänge

Busch

Jansen

Krismann

Weniger als 160

cm + 3.6

+

4.8

t 3-3

160—165

» + 2.4 bis 4 0.4

4

37

4 2.2

165 170

» +0 bis 1 0

+

17

+ M

170-175

» 0.4 bis 2.6

+

0.6

4 0.2

175 180

» 4.3 bis 4.5

1.8

0-7

Ueber 180

» 3.3 bis —10.0

2.8

1.0

Wir sehen überall die nämliche Erscheinung. Die vorhan- denen Unterschiede sind keine qualitativen, sondern nur quanti- tative , d. h. sic betreffen ein grösseres oder geringeres Ueber- wiegen des Brustumfanges bei einer gewissen Körperlänge , ein etwas früheres oder späteres Auftreten des Minus; aber ohne Ausnahme ist die relative Entwicklung der Brust bei höher ge- wachsenen jungen Männern schwächer als bei mittelgrossen unc

1) Busch, Grösse, Gewicht und Brustumfang von Soldaten. 1878.

2) Jansen, Ktude d’anthropom&rie mldicale au point de vue de l'aptitade u service nuhtaire. 1880.

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Untersuchungen über die körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. 447

kleinen Leuten desselben Alters. Mit Rücksicht darauf, dass die Untersuchungen Busch’s und Jansen's lauter Leute betreffen, die schon als militärtüchtig anerkannt waren , während sich unsere Messungen auf die 20 21jährigen Fabrikarbeiter beziehen, können wir wohl sagen, dass im allgemeinen die physische Entwicklung der letzteren , insoweit sie sich in den angeführten Zahlen aus- drückt, keine sehr ungünstige genannt werden kann.

Um nun das Thema über das Verhältnis des Brustumfanges zur Körperlänge zu erschöpfen , will ich noch einige Angaben über die rclativeZahl derjenigen Arbeiter verschie- dener Körperlänge machen, deren Brustumfang hin- ter dem halben Wüchse zurückbleibt. Hiebei beschränke ich mich auf die Arbeiter von 20 21 Jahren, da das in der Li- teratur vorhandene und zu Vergleichen taugliche Material sich ausschliesslich auf Leute dieser Altersperiode bezieht. Ausserdem gelang es mir aus Mangel an Zeit nur etwa die Hälfte unserer Zahlen in dieser Weise zu verarbeiten.

Wenn wir, vom Mittelwuchse der genannten Gruppe aus- gehend, Längenstufen von je 3 cm bilden und sodann berechnen, bei wieviel Leuten in jeder Längenstufe der Brustumfang hinter der halben Körperlänge zurückbleibt und bei wievielen er die- selbe übersteigt oder doch ihr gleichkommt, so erhalten wir fol- gende Tabelle:

Verteilung der 20 21jährigen Arbeiter verschie- dener Grösse nach dem Verhältnis zwischen Brustumfang und ’/a Körperlänge.

~ .. Der Brustumfang Der Brustumfang ist ebenso

1/ . ... Gesamtzahl . , .. , ,

Körper länge in cm , -,i »st geringer als die gross oder grosser als

cr a C ’/a Körperlänge die V* Körperlänge

Unter

*5»

cm

30

Absolut

6

In Proz. 20 ®/o

Absolut

24

In Proz.

80 °/o

151 bis

u.

mit

•53

46

6

13

40

87

154 »

»

»

156

128

•5

n. 7

'•3

88.3

•57 *

*

>

•59

259

48

18.6

2 1 1

8t .4

160 »

»

»

162

402

70

17.4

332

82.6

163 »

>

>

165

480

27.1

350

72.9

166 »

*

>

168

391

1 4

29.2

7.77

70.8

169 »

>

»

171

254

92

JÖ.2

162

63.8

172 »

»

»

•74

120

59

49- 1

61

50.9

•75 *

»

»

•77

65

33

5°.S

32

49.2

178 »

»

»

180

2 3

12

52-2

1 1

47.8

Ueber

180

cm

6

5

V-» 1

1

»6-7

2204

590

26.8 %

1614

73.2%

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44«

Kr ismann.

Diese Tabelle zeigt mit grosser Regelmässigkeit was wir nach dem weiter oben Gesagten von vorncherein erwarten mussten nämlich dass die relative Zahl Derjenigen , deren BrustumCug die halbe Körperlänge nicht erreicht, in den niedrigen läncin stufen eine verhältnismässig geringe ist (zwischen \2vjo und 20' , aber schon bei den Leuten mittleren Wuchses sichtbar zunimml (27 °/o > und sodann nach oben hin stetig wächst, so dass uni« den grossen Männern 50 “/o und mehr eine relativ enge Brust be- sitzen.

Zur Vergleichung benützte ich in erster Linie die bereit-* früher erwähnten, in der Rekrutenaushebungskomniission des Be- zirks Klin gemessenen jungen Männer, die zum grösseren 1 eile aus Landarbeitern, zum geringeren aus Handwerkern, l-'abrik.trbo tern und Leuten verschiedener Berufszweige bestanden

O

V e r t e i 1

u n

g d

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2 1 j ä h r i g

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K 1 i 11

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Verhält

11 i s z

\v i s c h c

n Brust-

u m 1

a n g u n

d ’/a K 0 r

perl ä n g e.

Köi | »erlange

in ein

Gesamtzahl tler Falle

Der Brustumfang ist geringer als die

I >er Brustumfang ist d*»* gross oder grösst il*

V- Kcii perlange

die 7. Koq>erhngc

Absolut

ln Pro*

Absolut

ln IW

Unter 1

51

cm

8

I

7

87.5*

15t bis

u.

mit

153

-5

5

20.0

20

80.i

154 »

»

>56

66

9

US

57

86.j

>57 »

»

>

>59

122

>4

"S

10S

88.5

160 »

»

»

162

■43

>5

/U.j

12S

89 *

163 »

>

165

206

35

/7.0

■71

83.0

166 »

>

168

218

2J.O

168

77-0

lf>j »

>

171

130

36

27-7

94

72-3

1/2 »

>

>74

87

36

4<-7

51

58.6

>75 »

»

»

77

36

•3

36.1

23

639

178 >

»

»

180

16

1 1

6S.S

5

31-

Ueber

180

cm

16

8

50.0

8

O O rv

1073

233

21.7%

840

87.3 *•*

Der Verlauf der Erscheinung, einige kleine Sprünge, die sich aus der geringen Zahl der Fälle erklären, abgerechnet, ist hier ganz derselbe wie in der vorausgehenden Tabelle. Auch fiir die Gesamtbevölkerung gilt also das nämliche, was wir in bezug auf die Fabrikarbeiter konstatieren konnten. Ein allerdings nicht unwesentlicher Unterschied beruht nur darin, dass in der Bcvölke-

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Untersuchungen ir/ur i/tc körperliche Untwieklung der ,\r heiter de. 449

rung überhaupt die l’rozcntzahl Derjenigen, bei denen der Brust- umfang die halbe Körperlänge nicht erreicht, geringer ist, als unter den Fabrikarbeitern (^1.7 ®/o gegen 2 6.8%, was sich auch deutlich in den einzelnen I .ängenstuien ausspricht ; so z. B. finden sich unter den mittelwuchsigen Fabrikarbeitern schon 27“/« solcher mit relativ enger Brust, während bei der Gcsamtbevölkerung der entsprechende Prozentsatz, auf 1 7 °/'<> heruntersinkt. Fs ist dies ein Beweis dafür, dass in der Gcsamtbevölkerung in grosserer Zahl Klcntentc mit gut entwickelter Brust enthalten sind als unter den Arbeitern a u I Fabriken.

Von anderwärts gewonnenem Materiale möchte ich zum Ver- gleiche heranziehen: erstens, die von Chatelanat ’) besproche- nen Resultate der Messungen von Brustumfang und Körpergrösse bei der Rekrutierung des österreichischen Heeres im Jahre 1872, und zweitens die Frgebnisse der ärztlichen Rekrutenuntersuch- ungen in der Schweiz

Miniere

Körper-

Iiinge

20 21 jährige Fabrik- at >eiter im Moskauer Gouvernement . . 164.38

20 21jährige Bevölke- rung des Bezirks Klin 165. 18 Kinstellungspflichtige in Oesterreich (nach Chatelanat) . . . 164. 85

19jährige Rekruten in der Schweiz (1884) . 163.5 20jährige Rekruten in der Schweiz . . . 163.7

Spinner, Weber u. an- dere Fabrikarbeiter in der Schweiz ...

Mittlerer

Brust-

umfang

l'roz. 1 >erjenigen, deren Brustumfang hinter der V? K.L. zurückblcibt

l’roz. Derjenigen, deren Brust- umfang ebenso gross o»fcr grosser ist als die '/• K L.

83.96

2Ö.S°lo

73.2 °/o

85.60

2!.?

78-5

82.96

34-4

65.6

80.6 j

26.0

74.0

85-1 1

_

jS.o

62.0

Man sieht , dass unsere Fabrikbevölkerung der Gesamt-

1) Zeitschrift für schweizerische Statistik. 1875.

2) Schweizerische Statistik. 62. und 68. Lieferung.

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450

Erismann,

bevölkerung der Schweiz in bezug auf die hier besprochenen Ver- hältnisse sehr nahe steht , dass sie aber die schweizerischen Fa- brikarbeiter in hinsicht auf die Brustentwicklung merklich uber- trilTt. Ueberhaupt besitzen offenbar die 19 20jährigen Fabrik- arbeiter in der Schweiz eine relativ enge Brust, was wohl damit Zusammenhängen mag, dass die Fabrikindustrie in einzelnen Thei- len der Schweiz schon seit langer Zeit eine sehr bedeutende Ent- wicklung erreicht hat. Bei den österreichischen Rekruten ist im allgemeinen das Verhältnis zwischen Brustumfang und halber Kor- perlänge kein sehr günstiges, und es ist kaum möglich diese Far- scheinung durch eine bedeutende Körpergrösse der sich zum Militärdienste Stellenden zu erklären, da der Mittelwuchs der letz- teren für die ganze Monarchie denjenigen unserer gleichalterigen Fabrikarbeiter nur um ein Geringes übertrifft.

Wenn wir nun den Vergleich der österreichischen und schwei- zerischen Messungen mit den unserigen auf die einzelnen Längen- stufen ausdehnen, so finden wir bei Chatelanat folgende Angaben (die von Chatelanat in Zollen gemachten Angaben der Körper- länge sind hier in cm umgewandelt) :

Körper hinge

Proz. der Individuen, geringer ist, als

158.4

27.4

1637

360

169.0

44-5

174.0

58.2

<79-5

68.0

184.8

82.7

Wie man sich leicht überzeugen kann , sind diese Verhält- nisse weit ungünstiger als das, was wir bei unseren 20 21jährigen Fabrikarbeitern finden.

I )ie Schweizer-Messungen für das Jahr 1884 gaben folgende Resultate :

Körperlängc

Weniger als 150 cm 151—155 >

156 160 » i6r 165 »

1 66 170 »

171— 175 »

176 180 »

180 und mehr cm

Itmstumfäuig kleiner als 7, tv L

3S°/o der Rekruten

28 » > »

21 » » »

23 » » »

27 » » »

36 » » »

44 » » *

61 » » >

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Untersuchungen über die Körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. 451

Diese Zahlen kommen den unscrigen sehr nahe ; nur scheint bei den Deuten kleinen Wuchses in der Schweiz die Brust weni- ger entwickelt zu sein als bei unsern Arbeitern. Dieselbe Uebcreinstimmung linden wir auch, wenn wir, dem Vorgänge des eidgenössischen statistischen Bureaus folgend , den Prozentsatz derjenigen 20 21jährigen Arbeiter berechnen, deren Brustumfang mehr als 53®/o der Körperlänge beträgt, die also eine sehr gut entwickelte Brust besitzen. Für die Schweizer-Rekruten beläuft sich der allgemeine Durchschnitt solcher Individuen, für das Jahr 1886 auf 28 °/o ; wir erhalten für unsere Arbeiter 28.95 ®/o I Man darf hiebei nur nicht vergessen, dass im allgemeinen die ersteren um 1 Jahr jünger sind, als die letzteren. Nach den einzelnen Langenstufen verteilt sich bei unseren Arbeitern der genannte Pro- zentsatz folgendermassen :

Kbrperlänge

Prozentsatz derjenigen 20— 2ljähr. Arbeiter, deren Brustumfang 53w/o der Körperlängc u mehr beträgt

Weniger als 151 cm 36.7%

151 bis u. mit 153 5^-7

154 » » » 156 40.0

157 »» » 159 37-5

160 » » » 162 32.1

163 » > » 165 29.4

166 > » » 168 27.4

169 »» » 171 19.3

172 »> » 174 12.5

175 »» » 177 10.3

178 » » » 180 8.7

Ueber 180 cm 16.7

Wir sehen auch hier , dass mit zunehmender Kör- perlänge die relative Zahl der Leute mit sehr gut entwickelter Brust regelmässig abnimmt: am höchsten (37 58 °/o) ist derselbe bei den kleinen Männern ; dem Mittelwuchse entspricht ein Prozentsatz von 29.4 °/o. Es wäre äusserst interessant diese Verhältnisse bei den verschiedenen Beschäftigungsarten zu verfolgen ; doch zwingt uns der Mangel an Zeit eine derartige Analyse der Zukunft zu überlassen.

Indem wir uns nun dem Studium des Einflusses der B e s c h ä f t i g u ng s w e i s e auf die Körperentwick-

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45-2

Krismann ,

1 u n g unserer Arbeiter zuwenden, könnte es wohl auf den ersten Klick am einfachsten erscheinen , Wenn Wir alle Unter- suchungen zunächst in zwei grosse Gruppen einteilen wurden, nämlich in solche , die in der Textilindustrie beschäftigt sind, und in solche, die in anderweitigen Fabrikszweigen ihren Er- werb finden. Kine derartige Einteilung wäre aber deshalb nicht ganz richtig, weil in vielen unzweifelhaft zur Textilbranche ge- hörigen Fabrikbetrieben zahlreiche Arbeiter vorhanden sind, dw sich in Beschäftigungsart und Lebensweise so wesentlich von den Spinnern , Webern u. dgl. unterscheiden , dass sie nicht ohne weiteres mit denselben vermischt und den Nichttextilarbeitern gegenübergestellt werden können. So ist es z. B. unstatthaft die Färber, Bleicher, Tuchwalker u. s. f. den Textilarbeitern an zureihen , wenn wir den Einfluss der Beschäftigungsart auf die physische Entwicklung studieren w-ollen. Wir haben deshalb diese Sorte von Arbeitern aus der Gesamtheit der in der Textilindustrie Beschäftigten ausgeschieden und in eine eigene Gruppe verwiesen. Auf der andern Seite haben wir dann die Arbeiter der Maschinen- fabriken, der Gerbereien, der Ziegelbrennereien , der chemischen Fabriken u. s. w., mit einem Worte alle nicht in der Textil- industrie beschäftigten Individuen, denen wir naturgemäss noch die in allen möglichen Fabriksbetrieben arbeitenden Handwerker (Schreiner, Schlosser, Heizer u. s. w.) und Tagelöhner beigescllea Auf diese Weise erhalten wir 3 grosse Gruppen, deren körper- liche Entwicklung wir einer vergleichenden Analyse unterwerfen können: 1) die Textilarbeiter im eigentlichen Sinne (Spinner, We- ber, Spuler, Kardeurs u. dgl.); 2) die Färber, Bleicher, Walker u. s. f. ; 3) die Nichttextilarbeiter, Handwerker und Tagelöhner Die folgende Tabelle enthält die Angaben über Körperlange. Brustumfang und das Verhältnis zwischen letzterem und der hal- ben Körperlange fiir die genannten drei Gruppen. Alle Indi- viduen unter 10 Jahren sind aus der Tabelle ausgeschlossen. Die erste Gruppe enthält 35180 Mann, die zweite 7144 Mann und die dritte 17050 Mann. Die Zahlen sind, wie man sieht, gross genug um gewisse Schlussfolgerungen zu erlauben.

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Untersuchungen über die körperliche RnUoiektung der Arbeiter etc. 453

Tabelle IV.

Körperentwicklung der Textilarbeiter und Nichttex tilar beiter in verschiedenen Alters- stufen.

Textilarbeiter im Färber, Llcicher Nichttextilarbeiter,

engeren Sinne u. s. w. Handwerker, Taglöhner

Lebensalter

Körper-

ürust-

Verhalt-

Körper-

ISrust-

Verhalt-

Körper-

Hrust-

Verhalt

lange

umfang

nisrahl

lange

umfang

niszahl

lange

umfang

nis/ahl

IO

I 26.0

63.2

+0.2

>254

64.2

+i-S

127-3

63-9

4- 0.J

I 1

I3°.°

64.7

0-.7

127.8

63-9

± 0

132-3

66.1

* 0

1 2

'33-6

66.0

0.8

*33-3

66.2

—0.4

>35-6

66.1

—i-7

'3

'37-3

67.2

t-5

136.6

67-5

0.8

139.6

68.1

>■7

•4

141-3

69. 1

1.6

139.8

69.4

0.5

'43-2

70.0

1.6

»5

'44-5

71-5

c V

147.8

73°

o- 9

149.2

73-'

1.5

16

>52-7

74.6

>■7

149.7

76.4

-yt.6

‘54-7

75-6

r-7

>7

158.!

77-9

i.t

158.6

80.2

0.9

160.1

79-3

0.7

18

161.4

80.2

0.5

162.4

82.4

J.2

162.7

82.1

-f o.S

>9

163.3

82.3 -t -0.6

163.9

83.8

1.8

164-5

83.6

1.4

20

164.1

83.1

1.0

164.3

84.8

2.6

165.0

84.9

2.4

21

‘43-3

«3-3

1.1

164.6

854

.1'

165.0

84.9

2.4

22

164.6

s3-9

1.6

164-3

84.9

2 -7

■655

»5-5

-•7

23

164.6

84.0

*7

163-7

85.6

3-8

i65-5

»5-9

3>

24

164.6

845

2.2

■65.0

85-6

165.8

86.2

33

25—29

165.0

85- 1

2.6

164.8

86.2

,r-J

165-5

86.8

4.1

0

1

0

rO

165.0

85-9

33

165.0

87.0

4-5

165.6

87.6

4.8

40—49

165.2

86.3

37

164.7

86.9

4-fi

164.9

87.6

S-t

5°— 59

165.0

86.5

4.0

164.6

87.2

4-9

165.2

87.9

53

60 u. mehr 164.9

86.5

4.1

164.7

87.7

5-4

164.9

88.1

5-7

Das Studium dieser Tabelle sowohl, als auch des entsprech- enden Diagramms (IV), welches das Verhältnis zwischen Brust- umfang und halber Körpcrlängc bei den 3 Gruppen und, zum Vergleiche auch bei der Gesamtzahl der Arbeiter darstellt, zeigt uns wesentliche und charakteristische Differenzen in der Körper- entwicklung der Textilarbeiter im engeren Sinne einerseits, und der Nichltextilarbeiter andererseits. Die Letzteren, und zwar nicht nur tlie Handwerker und Tagelöhner, sondern auch die Färber, Bleicher u. s. w. sind sowohl in bezug auf Körperlange, als ituch in bezug auf die Entwicklung des Brustkorbes, den eigentlichen Fabrikarbeitern (als welche wohl die Arbeiter der Textilindustrie zu bezeichnen sind) in allen Altersstufen über-

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59 «!« Z9 19 G9 65 K iS 95 55 « CS iS IS CS 6t 9t Lt ftSmtC»ii»t>!mCffiiCi9tlSt KlCtltfrl

454

Erismann.

Diagramm IV.

Verhältnis von halber Körperlänge und Brustumfang bei Textilarbeitern und Nicht-Textilarbeitern.

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Untersuchungen über die körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. 455

legen. Namentlich gilt dies für den Brustumfang, der bei den eigentlichen Textilarbeitern durchwegs um 1 3 cm geringer ist, als bei den Vertretern der andern Gruppen. Dadurch kommt es denn auch, dass, ungeachtet des höheren Wuchses der Nicht- textilarbeiter, das Verhältnis von Brustumfang und halber Kör- perlänge bei ihnen überall ein günstigeres ist, als bei den Textil- arbeitern im engeren Sinne: bei den letzteren finden wir erst im Alter von 19 Jahren ein geringes Plus auf Seite des Brustum- fanges, während bei den Handwerkern und Tagelöhnern das Plus um ein Jahr früher, bei den Färbern, Bleichern u. s. w. so- gar um 3 Jahre früher, d. h. mit 16 Jahren erscheint. Bei den 20jährigen Textilarbeitern beträgt der Ueberschuss des Brust- masses über die halbe Körperlänge nur : cm, bei den zwei anderen Arbeitergruppen dagegen 2.5 cm; bei den erwachsenen Arbeitern wiederholt sich das nämliche Bild. Sehr übersichtlich illustriert diese Verhältnisse das entsprechende Diagramm, wel- ches uns zeigt, dass während der Pubertätsperiode bei Textil- und Nichttextilarbeitcrn das Brustmass ein mehr oder weniger bedeutendes, sich durch mehrere Jahre hindurchziehendes Minus gegenüber der halben Körperlänge aufweist und dass hier die Kurve beider Arbeitergruppen so ziemlich mit der Mittellinie zusammenfällt, während im späteren Alter die Textilarbeiter wesentlich hinter dem allgemeinen Mittel Zurückbleiben, während die nicht in der Textilbranche Beschäftigten sich bedeutend über das Gesamtmittel erheben.

Wenn man nun schon auf grund des soeben Angeführten nicht ohne Berechtigung an einen Einfluss der Beschäftigung auf die körperliche Entwicklung der Arbeiter denken kann, und wenn man zugestehen muss, dass der Einfluss der Textilindustrie in dieser Beziehung ein ungünstiger zu sein scheint, so dürfte diese Vorstellung noch bekräftigt werden dadurch, dass wir die grossen Gesamtgruppen, mit denen wir bislang zu thun hatten und die immerhin nur Mittelwerte geben, differenzieren und kleinere Ar- beiterkategorien von bestimmter Beschäftigungsweise mit ein- ander vergleichen. Unter diesen Umständen können wir, falls wirklich ein Einfluss der Arbeit existiert, erwarten, bedeutend grössere Unterschiede in der körperlichen Entwicklung einzelner Gruppen zu finden ; ausnehmend günstige und ausnehmend ungünstige Verhältnisse, die sich in den grossen Gruppen mehr

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oder weniger vermischen, müssen hier in ihrer ganzen Nacktheit hervortreten.

Zu diesem Behufe habe ich die Gesamtheit unserer männ- lichen Arbeiter, der speziellen Beschäftigungsart entsprechend, in 23 Gruppen eingeteilt, von denen ich übrigens hier nur einige wenige zum Vergleiche heranziehen will, und zwar

I. die Baumwollspinner, oder vielmehr die an der Spinn- maschine beschäftigten Arbeiter [4980 Personen ')],

11. die Arbeiter an den Kardemaschinen (1780 Pcrsonem,

III. die Handwerker (7219 Personen),

IV. die Färber, Bleicher u. dgl. 6433 Mann),

V. die Tagelöhner (6242 Mann).

Wie man sieht, ist die Zahl der Individuen in den einzelnen Grup- pen so gross, dass man den Angaben der folgenden Tabelle (S. 4" - ein gewisses Vertrauen nicht versagen kann und mir das Recht m- gestehen muss, aus derselben einige Schlüsse zu ziehen. Der Kitt- fachheit halber ist überall die Körperlänge mit 1 bezeichnet, der Brustumfang mit 2 und das Verhältnis des Rrustumfangs zur halben Körperlänge mit 3. Das letztere Verhältnis ist für all« 5 Arbeitergruppen durch das Diagramm V illustriert.

Das Studium dieser Tabelle belehrt uns, dass wir cs hier mit grossen Differenzen in der physischen Entwicklung verschiedener Arbeitergruppen zu thun haben. Am ungünstigsten gestalten sich augenscheinlich die Verhältnisse für die Ba u mwoll s pinncr Dieselben sind erstens klein von Wuchs, so dass der erwachsene Arbeiter fast durchwegs um 1 2 cm hinter dem Mittelwuchs der betreffenden Altersstufe zurückbleibt. Noch schlimmer steht bei den Spinnern mit der Entwicklung des Brustkorbes, dessen Umfang hier um 3 4 cm geringer ist, als der Brustumfang nor- mal gebauter Arbeiter: so z. B. beläuft sich beim 20jährigt'-i Baumwollspinner der Brustumfang nur auf St cm, während do selbe bei den gleichaltrigen Handwerkern, Färbern u. s. w. h-1 nahe 85 cm erreicht und bei den Tagelöhnern dieses Mass noch übertrifft. So kommt es denn, dass, trotz des geringen Wuchs« dieser Arbeiterkategorie, das Verhältnis von Brustumfang uns halber Körperlänge ein sehr ungünstiges ist : mit 20 Jahren ha:

l) Alle Kinüer von weniger als 10 Jahren sind hier ausgeschlossen, ila ihre in »len einzelnen Altersstufen gering ist. /ti Zufälligkeiten Veranlassung gibt wnl ~ (iesamleinilruck mir stören kann.

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Untersuchungen über die körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. 457

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Archiv für »os. GeseUgbg. u. Statistik- 111 u. IV.

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458 Erismann.

Diagramm V.

Verhältnis von Brustumfang und halber Körperlänge bei verschiedener.

Arbeitergruppen.

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Untersuchungen über die körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. 459

\

der Baumwollspinner eine so schlecht entwickelte Brust, dass der Umfang derselben noch nicht einmal die halbe Körperlänge er- reicht ; und erst im Alter von 21 Jahren wird die letztere von der Brustperipherie um ein Kleines übertroffen, während bei den besser entwickelten Arbeitern das Plus auf Seite des Brustum- fanges schon im Alter von 17 18 Jahren (Handwerker und Tag- löhner) oder sogar von 16 Jahren (Färber etc.) zutage tritt.

Den Baumwollspinnern zunächst stehen die an den Karde- maschinen, Wölfen etc. beschäftigten Arbeiter, deren physische Entwicklung ebenfalls vieles zu wünschen übrig lässt: die Brust ist im allgemeinen eng und das Verhältnis von Brustumfang und halber Körperlänge weit weniger günstig als bei den anderen Arbeitergruppen ; das Plus auf Seite des Brustumfanges erscheint im Alter von 19 Jahren.

Einen grellen Gegensatz zu den Spinnern und Kardeurs bilden die drei letzten Gruppen unserer Tabelle die Färber, Hand- werker und Tagelöhner. Diese Arbeiter sind von höherem Wüchse und besitzen durchwegs, in allen Altersstufen, eine weit besser entwickelte Brust; diesem letzteren Umstande haben sie es zu verdanken, dass, trotz ihres höheren Wuchses, das Verhältnis zwischen Brustumfang und halber Körperlänge bei ihnen ein sehr günstiges ist: im Alter von 20 2t Jahren besitzt ihre Brust im Mittel schon ein erhebliches Uebergewicht über die halbe Länge des Körpers.

Bevor ich nun auf die Erklärung der soeben angeführten Unterschiede in der körperlichen Entwicklung verschiedener Ar- beitergruppen eingehe, will ich noch einige verwandte Daten aus der weiter oben citiertcn Arbeit PeskofTs hier kurz reproduzie- ren. Peskofif vergleicht unter anderem das Verhältnis zwischen Brustumfang und halber Körperlänge bei Zeugdruckern, Seide- webern, Baumwollwebern und Färbern und erhält hiebei folgende Resultate :

20 30 Jahre

30 40 Jahre

40 70 Jahre

Zeugdrucker

+ 2.2

+ 3-4

+ 4-1

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2.9

4.1

4.4

Baumwollweber

3-3

4.6

5.0

Färber u. dgl.

5-1

6.7

7-3

Unsere Untersuchungen stehen also nicht allein 1 Auch hier sehen wir einen sich durch alle Alterstufen hindurchziehenden wesentlichen Unterschied in der Entwicklung des Brustkorbes bei

30 *

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Er ismann ,

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verschiedenen Arbeiterkategorien, und zwar finden sich die un- günstigsten Verhältnisse bei den Zeugdruckern, die günstigsten bei den Färbern; den Druckern zunächst stehen die Seidenvveber, während die Haumwollweber eine etwas höhere Stelle einnchmen

Es ist nun, schon in anbetracht der grossen Zahlen, aus denen die soeben erwähnten Thatsachen abgeleitet sind, sodann aber auch mit Rücksicht auf die Konstanz ihrer Erscheinung und auf die Regelmässigkeit, mit welcher sie sich durch alle Alters- stufen hindurch wiederholen, kaum möglich, sie als Kind des

Zufalls zu betrachten sie müssen das Resultat von

Kräften und Umständen sein, die mit grosser Be- ständigkeit und Regelmässigkeit wirken, und es handelt sich für uns nur darum, zu konstatieren, inwieweit hier die Art der Beschäftigung und der sie begleitenden Umstande eine aktive Rolle spielt und inwieweit andere Faktoren zur Er- klärung herangezogen werden müssen.

Man könnte nun zunächst an einen bestimmenden Einfluss der Herkunft der Arbeiter in den einzelnen Kategorien denken, ln der That haben wir weiter oben gesehen, dass das den Gou- vernements Moskau und Kaluga angehörige Arbeiterkontingent eine grössere Zahl eigentlicher Fabrikarbeiter und einen geringeren Prozentsatz Handwerker und Tagelöhner einschliesst als das Kon- tingent der aus den übrigen Gouvernements stammenden Arbeiter. Ausserdem wissen wir bereits, dass gerade die den 2 soeben ge- nannten Gouvernements ungehörigen Arbeiter im allgemeinen Mittel schlechter entwickelt sind (d. h. dass ihr Brustumfang ein geringeres Uebergewicht über die halbe Körperlänge zeigt) als die Arbeiter aus Tula, Rjäsan, Sstnolensk u. s. w. Auf Grund dieser Thatsachen ist es unmöglich, von vornherein einen Ein- fluss der Herkunft der Arbeiter auf die charakteristischen Unter- schiede in der Körperentwicklung verschiedener Arbeitergruppen von der Hand zu weisen; im Gegenteil, wir dürften eher geneigt sein denselben anzuerkennen, und wir halten es demgemäss für nötig, die Grösse dieses Einflusses, soweit dies überhaupt mög- lich ist, zu bestimmen, um dann denselben eliminieren zu können.

Hiezu soll uns in erster Linie ein Vergleich dienen zwischen den ausschliesslich dem Moskauer Gouvernement ungehörigen Baum Wollspinnern ') einerseits und den Tagelöhnern aus

l) Eigentlich allen an den Spinnmaschinen überhaupt beschäftigten Arbeitern,

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Untersuchungen Uber die korberliche Entwicklung der Arbeiter etc. 461

demselben Gouvernement andrerseits. Die Zahl der F.rsteren, vom 11. Lebensjahre an, beträgt 3849, die Zahl der Letzteren vom 14. Lebensjahre an 2700 Mann.

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aus dieser Tabelle den Schl

uss ziehen, dass

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Eris mann,

Tagelöhner dagegen sind hochgewachsen, mit gut ausgebildetem Brustkorb, dessen Umfang schon im Alter von 18 Jahren ein be- deutendes Uebergcwicht über die halbe Körperlänge besitzt und beim erwachsenen Manne die letztere um 4 5.5 cm übersteigt Wir haben also hier schon einen festen Anhaltspunkt, um zu sa- gen, dass der Einfluss der Beschäftigungsart und über- haupt der mit derselben zusammenhängenden l.t- bcnsweisc ein überwiegender ist und dass, we- nigstens unter den gegebenen V er h äl t n is se n, die Herkunft eine, wenn auch nicht zu leugnende, su doch sehr untergeordnete und de r Besch äft i gungsar. gegenüber in den Hintergrund tretende Rolle spielt.

Dieser Schluss findet seine Bestätigung in den folgend« Zahlenreihen, welche das Längenwachstum und die Entwicklung der Brust bei der Gesamtheit der an Spinnmaschinen in den Baum- wollspinnereien beschäftigten Arbeiter aus den Gouvernement' Tula, Rjäsan , Ssmolensk, Wladimir und Kaluga darstellen. Die Zahl dieser Arbeiter, vom 10. bis zum 50. Lebensjahre, belauft sich auf 908 Mann.

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Untersuchungen Uber die körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. 463

Wir haben hier ganz dasselbe Bild vor uns, das uns die Baumwollspinner aus dem Moskauer Gouvernement bieten : nie- driger Wuchs, enge Brust, deren Umfang bis zum 21. Jahre hinter der halben Körperlänge zurückbleibt und auch in höherem Alter die letztere nur um eine geringe Grösse überragt. Es ist also für die körperliche Entwicklung unwesentlich, welchem Gouver- nement der Arbeiter angehöre; dieselbe wird, wenn nicht aus- schliesslich, so doch vorzugsweise, durch die Art seiner Beschäl- tigung bestimmt. Nicht davon hängt die Gestaltung seines Ske- lettes ab, ob er aus dem Gouvernement Moskau oder Tula oder Ssmolensk stammt, der Schwerpunkt liegt in den Verhält- nissen, die sein Beruf mit sich bringt. Ist er einmal von Jugend auf um die Spinnmaschine beschäftigt, so kann er sich (ich spreche natürlich vom mittleren Arbeiter) seinem Schicksale nicht entzie- hen — die Art seiner Beschäftigung drückt unab- wendbar seinem Organismus den Stempel auf.

Eine weitere Illustration zu dem soeben Gesagten liefert die folgende Zahlenreihe, in der ich das Verhältnis von Brustumfang und halber Körperlänge bei den Tagelöhnern aus ver- schiedenen Gouvernements im Alter von 20 21, 30 39 und 40—49 Jahren zusammengestellt habe.

Lebensjahre

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+ 2.1

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30- 39

4.6

54

5.8

4.2

5-6

6.7

40—49

51

5-i

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5-i

5-3

6.8

Es sind, wie

man sieht,

wohl kleine Differenzen je

nach den

einzelnen Gouvernements vorhanden, und der gleichalterige Tage- löhner scheint im Gouvernement Tula etwas kräftiger entwickelt zu sein, als z. B. in den Gouvernements Moskau oder Ssmolensk. Diese Unterschiede können ihren Grund teilweise darin haben, dass nicht in allen Gruppen die Zahl der Arbeiter eine sehr be- deutende ist, so dass Zufälligkeiten nicht absolut ausgeschlossen sind, teilweise aber können sie wirklich bestehenden Diffe- renzen in der körperlichen Entwicklung der Bevölkerung ver- schiedener Gouvernements entsprechen. Jedenfalls aber ist der Einfluss der Herkunft ein verschwindend kleiner im Vergleich zu demjenigen Einflüsse, welchen die mit der Beschäftigungsweise verknüpften Verhältnisse ausüben. Dies wird besonders einleuch- tend, wenn wir den soeben beigebrachten Zahlen diejenigen der vorausgehenden Tabelle gegenüberstellen, welche das Verhältnis

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464

Erismann,

von Brustumfang und halber Körperlänge bei den Baunwoll- spinnern aus denselben Gouvernements zeigt. Wir überzeugen uns noch einmal davon, dass nicht die Abstammung aus diesem oder jenem Gouvernement das Entschei- dende ist, sondern die mit der Berufst hätigkeit zusammenhängenden Faktoren.

Iter zweite schwerwiegende Einwand, der dagegen erhoben werden könnte, die Berufsthätigkeit oder vielmehr die spezielle Beschäftigungsart für die mangelhafte körperliche Entwicklung des Menschen unter gewissen Verhältnissen verantwortlich zu machen, ist folgender. Man könnte sagen, es sei durchaus nicht wunder- bar, dass in gewissen Zweigen der Fabrikindustrie sich eine grössere Zahl schlecht entwickelter Individuen findet, da von Natur aus schwache Organismen vorzugsweise eine ihrer Kon- stitution entsprechende Beschäftigung auswählen, während andrer- seits kräftige, gut entwickelte Leute zu Arbeiten herangezogen werden, für welche der schwächliche Mann nicht taugt. Dem- entsprechend könnte man a priori erwarten, unter den eigent- lichen Textilarbeitern, deren Aufgabe wesentlich darin besteht, den Gang der Maschine zu überwachen, und deren Arbeit an- scheinend wenig physische Kraft (richtiger gesagt keine sehr grosse Kraftanstrengung in jedem einzelnen Momente) erfordert, viele Individuen von schwacher Konstitution zu treffen, während es andrerseits ganz naturgemäss sei, dass die Mehrzahl der Tage- löhner, Handwerker, Färber u. s. w., die oft schwere Arbeit im gewöhnlichen Sinne des Wortes zu verrichten haben, aus gut entwickelten kräftigen Menschen besteht. Auf diese Weise, könnte man behaupten, gehe auf einfachem, natürlichem Wege eine ge- wisse Sortierung der Arbeiter vor sich eine derartige Grup- pierung derselben nach ihrer Körperkonstitution, dass hiedurch der Untersucher, auf Grund anthropometrischer Messungen, ver- leitet werden könnte, einen bestimmenden Einfluss der Beschat- tigungsweise auf die physische Entwicklung anzunehmen.

Man kann diesem Gedankengange eine gewisse Berechtigung nicht absprechen. Es ist unzweifelhaft, dass ein von Natur aus schwächlicher Mensch keine schwere Tagelöhnerarbeit auf sich nehmen wird, wenn er irgend welchen anderen Verdienst in Aus- sicht hat ; derselbe Mann aber wird in der Textilindustrie leicht eine Beschäftigung finden, die momentan keinen bedeutenden Kraftaufwand fordert und seiner Konstitution eher zu entsprechen

Untersuchungen Über die körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. 465

scheint. Ks muss also zugegeben werden, dass dieser Umstand, der einen gewissen Einfluss auf das Resultat authropometrischer Messungen an Arbeitern ausüben kann, die Beurteilung der Unter- suchungsresultate erschwert und uns nicht ohne weiteres erlaubt zu sagen, dass in jedem einzelnen Falle der Organismus wirklich durch die Berufstätigkeit geschädigt worden sei, oder dass über- haupt die letztere im Stande sei, dem Körperbau einer ganzen Gruppe von Arbeitern ein bestimmtes Gepräge aufzudrucken.

Glücklicherweise sind wir in der Lage, den soeben erwähn- ten Einwurf, wenn nicht gänzlich zu entkräften, so doch seine Bedeutung auf das richtige Mass zurückzuführen und unsere An- sicht über den fatalen Einfluss der Berufsthätigkeit aufrecht zu halten. Es unterliegt nämlich keinem Zweifel, dass im allge- meinen gerade diejenigen Arbeitszweige und dies gilt speziell auch von der Fabrikindustrie welche den verderblichsten Ein- fluss auf die Bildung des Skelettes und auf den allgemeinen Er- nährungszustand ausüben, wenn nicht besondere Kenntnisse, so doch besondere Fertigkeiten erfordern, die sich der erwach- sene Mann nicht ohne Mühe aneignet, während sie von Demjeni- gen leicht erworben werden, der schon in früherem Alter dem speziellen Arbeitszweige beigetreten ist. Da es nun einerseits für den Fabrikherrn von Interesse ist , in gewissen Arbeits- branchen geschulte Leute zu haben , andrerseits es aber auch dem Arbeiter Gewinn bringt, wenn er sich in früherer Jugend gewisse Fertigkeiten erworben hat, so gestaltet sich in der Wirk- lichkeit die Verteilung der Arbeit in sehr vielen Fällen durchaus ohne Rücksicht auf die körperliche Entwicklung des einzelnen Individuums. So braucht man z. B. eine gewisse Schule, um ein guter Baumwollspinner zu sein, und deshalb sehen wir es sehr häufig, dass der künftige Spinner vom Momente des Ein- trittes in die Fabrik an in dieser oder jener Weise an der Spinn- maschine beschäftigt ist, namentlich ist dies der Fall mit Kin- dern und jungen Leuten , deren Väter schon Baumwollspinner sind oder bei Lebzeiten solche waren. Um aber ein guter Tage- löhner zu sein, braucht man selten eine besondere Schule durch- zumachen, und das, was der Tagelöhner auf den Fabriken zu thim hat, kann leicht jeder Landmann, der früher niemals einer Fabrik nahe gekommen ist, in kurzer Zeit erlernen. So kommt es denn, dass es unter den Tagelöhnern auf den F'abriken sehr viele gibt, die nur zufällig und oft nur kurze Zeit, dem Kontin-

t

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466

Erismann,

gente der Fabrikarbeiter angehören, wahrend der Spinner, der Weber, der Arbeiter an der Kardenmaschine u. s. w. sozusagen in der Fabrik aufgewachsen ist. Jeder, der unsere Fabrikindustrie auch nur einigermassen kennt, wird mir dies zugeben müssen, und ich glaube, dass die genannte Erscheinung bei uns noch prägnanter hervortritt als im Auslande, weil auf allen unseren grösseren, ausserhalb der Städte gelegenen Fabriketablissements eine sehr bedeutende Zahl der Arbeiter (auf vielen Tuchfabriken alle Arbeiter ohne Ausnahme) auf der Fabrik selbst, in soge- nannten Arbeiterkasernen wohnen, weshalb das Arbeiterkind der F'abrik und ihren Einflüssen von Jugend auf sehr nahe steht.

Was soeben beispielsweise von den Baumwollspinnern und Tagelöhnern, den beiden Extremen auf der Leiter der körper- lichen Entwicklung, gesagt wurde, bezieht sich natürlich in mehr oder weniger ausgeprägter Weise auch auf die übrigen Arbeiter- gruppen: je nach dem Grade der speziellen Fertigkeiten und der Akkomodation, die diese oder jene Arbeitsbranche fordert, finden wir eine grössere oder geringere Zahl solcher Arbeiter, die schon von Jugend auf der Fabrik angehören und deren Väter schon Fabrikarbeiter waren, so dass gewisse Eigentümlichkeiten im Baue des Skelettes, oder in der physischen Entwicklung überhaupt, auf dem Wege der Vererbung auf die Kinder übergehen konnten.

Leider fehlen uns Beobachtungen darüber, ein wie grosser Prozentsatz der von uns untersuchten Arbeiter, in verschiedenen Beschäftigungszweigen, von Vätern abstammt, die selbst Fabrik- arbeiter waren ; aber Dr. Peskoff, bei seinen Untersuchungen der F’abriken in der Stadt Moskau, hat in dieser Richtung Material gesammelt und wir verdanken ihm einige äusserst interessante Mitteilungen. So z. B. hat er gefunden, dass unter den Färbern nur 17.8 °/o von Vätern abstammen, die selbst auf der F'abrik ar- beiteten, während sich bei den Webern der Prozentsatz solcher Arbeiter auf 63.5 °/o (Tuchweber) 72.1 °/o (Baumwollweber) und bei den Zeugdruckern auf 72.8 °/0 belief. Wir haben allen Grund anzunehmen, dass unter den Spinnern ein, wenn nicht höherer, so doch wenigstens ebenso hoher Prozentsatz von Vätern stammt, die selbst Fabrikarbeiter waren.

Dem Gesagten entsprechend finden wir denn auch unter den erwachsenen Tagelöhnern, Färbern, Bleichern u. dgl. sehr viele, die nur kurze Zeit erst sich auf der Fabrik befinden, während dies bei den Spinnern, Webern, Zeugdruckern u. s. w. fast nie

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Untersuchungen über die körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. 467

vorkommt. Unser eigenes Material ist in dieser Richtung noch nicht verarbeitet, aber bei Peskoff finden wir z. B. die Angabe, dass er unter den Färbern, sogar im Alter von 40—60 Jahren, noch über 4 °/u getroffen habe, die weniger als 1 Jahr auf der Fabrik arbeiteten, während er bei den Webern oder Zeugdruckern Beispiele dieser Art durchaus nicht gefunden habe. Ich wieder- hole, dass zu dieser letzteren Kategorie auch die Spinner ge- hören, die alle, sozusagen, von der Fahne auf dienen und in sehr jungen Jahren in die Fabrik eintreten.

Es ist noch vielfach die Ansicht verbreitet, es gäbe in Russ- land keinen eigentlichen Fabrikarbeiterstand (der lediglich als ein Produkt westeuropäischer Kulturverhältnisse betrachtet wird) und es hätten unsere Fabrikarbeiter den Zusammenhang mit dem Lande und der Landarbeit in keiner Weise verloren, da jeder Arbeiter etwas Land besässe, das er grossenteils selber pflege. Diese Vorstellung in ihrer Verallgemeinerung ist grundfalsch. Es ist wahr, die russische Fabrikindustrie in ihrer gegenwärtigen Ge- stalt ist noch jung : die ersten Baumwollspinnereien in Zentral- russland stammen aus den 40-er und 50-er Jahren, und erst im Laufe der letzten Jahrzehnde hat sich ein grosser Teil der Land- bevölkerung der Fabrikarbeit zugewendet. Trotzdem gab es schon im vorigen Jahrhundert, als noch zahlreiche Fabriken (na- mentlich Tuchfabriken) in den Händen der Gutsbesitzer waren, eine Kategorie von Leuten, die sich speziell mit der Arbeit auf diesen Fabriken beschäftigten, und nicht selten kam es vor, dass Gutsbesitzer, die in verschiedenen Gouvernements Ländereien und Leibeigene besassen, einen Teil der letzteren aus einem Gouver- nement in ein anderes, auf eine daselbst entstandene Fabrik über- siedelten und so die Grundlage zur Bildung eines eigentlichen Fabrikarbeiterstandes legten. Um so mehr nun ist gegenwärtig die Existenz eines solchen Standes als eine vollendete Thatsache zu betrachten.

Es ist wahr, juridisch und formell gehören unsere Fabrik- arbeiter fast durchwegs dem Bauernstände an und besitzen an ihrem I leimatsorte ein Stück Land, für welches sie Steuern ent- richten. Aeusserlich also hat auch der professionelle Fabrik- arbeiter den Zusammenhang mit dem Lande nicht verloren. Ganz anders gestaltet sich aber die Sache in Wirklichkeit. Es gibt allerdings eine gewisse Zahl von Fabrikarbeitern, die zu denjeni- gen Zeiten, wo die Landarbeit am dringendsten der »Hände«

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Eris mann ,

468

bedarf, die Fabrik auf Wochen und Monate verlassen um ihr Land zu bestellen oder wenigstens den Ihrigen bei dieser Arbeit zu helfen ; und in gewissen Industriezweigen ist , wie wir gleich sehen werden, der Prozentsatz dieser Arbeiter ein recht bedeu- tender. Im allgemeinen aber hört der Fabrikarbeiter auf Land mann zu sein, und sein persönlicher Zusammenhang mit dem Lande wird früher oder später gebrochen : entweder überlässt er die Be- arbeitung seines Landes anderen Familienmitgliedern (wenn die F'amilie gross genug ist) , oder er gibt das Land in Pacht , um wenigstens aus dem Furiose die Steuern bezahlen zu können, oder er überlässt dasselbe der Gemeinde unter der Bedingung, dass er persönlich von den darauf lastenden Steuern befreit werde. Welche von diesen Eventualitäten im gegebenen Falle eintritt, hängt von zahlreichen Umständen ab von der Grösse der Fa- milie, von den Familienverhältnissen überhaupt, von dem In- dustriezweig, welchem sich der Arbeiter selbst hingibt, von der Entfernung der F'abrik, in welcher er arbeitet, von seiner Hei- mat u. dgl. Viele jugendliche Arbeiter haben sogar ihren Hei- matsort nie gesehen, auf der Fabrik geboren, bringen sie ihr ganzes Leben auf derselben zu und sterben schliesslich auf der Fabrik, wenn sie nicht durch die Umstände genötigt werden, zur Zeit der herantretenden Arbeitsunfähigkeit dieselbe zu verlassen und die Heimat aufzusuchen, um den Ihrigen oder der Gemeinde zur Last zu fallen.

Ein grosser Unterschied im Prozentsatz der zeitweilig die F'abrik verlassenden und ihr Land bestellenden Fabrikarbeiter wird durch die spezielle Art der Beschäftigung bedingt. So z. B. in Bezirken, wo Handweberei noch üblich ist, stehen die Fabriken (darunter selbst sehr bedeutende Etablissements) im Sommer meist ganz oder teilweise still, weil die Arbeiter entweder schon im F'rühjahre, vor Ostern, oder wenigstens bei Beginn der Flrnte nach Hause gehen, um an der Landarbeit teilzunehmen, ln me- chanischen Webereien ist dies in viel geringerem Grade der Fall, und bei den Spinnern kommt es selten vor, dass sie die Fabrik auch nur auf kurze Zeit verlassen. Ich bedaure sehr , dass wir. bei Gelegenheit unserer Untersuchungen, in dieser Beziehung keine Nachforschungen angestellt haben; PeskofT gibt an, dass in der Stadt Moskau ungefähr 25°/o der Seidenweber die Fabrik niemals verlassen, während bei den Wollwebern dieser Prozentsatz auf y.2 % , bei den Baumwollwebern sogar auf 3.9 °/o herabsinkt.

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Ünter suchungen über die körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. 469

Andrerseits hat Peskoff gefunden, dass mehr als 45°/o der Zeug- drucker das ganze Jahr hindurch auf der Fabrik zubringen , da die Fabrikarbeit die einzige Quelle ihres Lebensunterhaltes ist. Diesem Umstande schreibt auch Peskoff, wenigstens teilweise, den von ihm konstatierten Unterschied in der körperlichen Entwick- lung zwischen den erwähnten Arbeiterkategorien zu (siehe weiter oben).

In anbetracht alles bisher Gesagten kommen wir also zu dem Schlüsse, dass, wenn auch zugegeben werden muss, dass erstens die Herkunft der Arbeiter nicht ganz ohne Einfluss auf die Körper- entwicklung ist und dass zweitens die Resultate unserer Unter- suchungen sich in einer gewissen Abhängigkeit von der natür- lichen Sortierung der Arbeiter nach den einzelnen Beschäftigungs- arten, gemäss ihrer Körperkonstitution, befinden können, den- noch die wesentlichste Ursache der bedeuten- den Unterschiede, die wir in der physischen Ent- wicklung der einzelnen Arbeitergruppen kon- statieren konnten, in der Beschäftigungsweise selbst und in allem was, wie man zu sagen pflegt, »darum und daran hängt« zu suchen sei. Ich spreche hier natürlich nicht nur von dem Einflüsse derjenigen Faktoren, denen der Mann bei der Arbeit selbst, im Fabrikraume, begegnet, ich spreche von der professionellen Beschäftigung im wei- testen Sinne, also mit Einschluss aller derjenigen Lebens- verhältnisse sozialer und ökonomischer Natur , welche durch die Art der Beschäftigung mehr oder weniger bedingt sind. In diesem Sinne befinde ich mich im Einklang mit dem schwei- zerischen statistischen Büreau , welches , auf Grund der bei den Rekrutenaushebungen alljährlich vorgenommenen Messungen, eben- falls der Berufsart einen wesentlichen Einfluss auf die Körpcr- maasse der jungen Männer zuschreiben zu müssen glaubt *). Dieser Schluss ist natürlich nicht nur von grossem theoretischem Interesse, sondern auch von bedeutender Tragweite in der Praxis des Staatslebens. Er ist sehr zu beherzigen von den Vertretern der öffentlichen Gesundheitspflege und von allen Denen, welchen die Sorge für das körperliche und geistige Wohlergehen der Be- völkerung und für das Gedeihen des gesamten Staatsorganismus anvertraut ist. . . .

1) Schweizerische Statistik I.XII. 1S85. |>ag. XIV.

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470 Erismann,

Zum Schlüsse will ich noch kurz auf die Entwicklung des Körpergewichtes und der Muskelkraft unserer Ar- beiter eingehen. Die betreffenden Untersuchungen sind von mei- nem Kollegen Dr. Dementjeff ausgeführt worden und sollen dem- nächst von ihm selbst in ausführlicherWeise in russischer Sprache publiziert werden.

Die Gewichtsbestimmungen betreffen im ganzen 16085 Individuen männlichen Geschlechtes, vom Uten Lebensjahre an, und sind, behufs möglichster Vermeidung von Fehlerquellen, alk am Vormittage, d. h. vor dem Mittagessen ausgeführt worden. Die Resultate sind, nach den Altersstufen geordnet, niedergelegt in der folgenden Tabelle, deren Zahlen dem Gewichte des nack- ten Körpers entsprechen. Zum Vergleiche sind, aus Mangel an geeigneterem Materiale, die von Quetelet in seiner Physique so- ciale beigebrachten und von ihm mit den nötigen Korrekturen versehenen Gewichtsangaben, die allerdings in den einzelnen Al- tersgruppen an Individuen von sehr verschiedener sozialer Stellung gewonnen wurden , in die Tabelle mit aufgenommen. Das Kör- pergewicht ist in Kilogrammen ausgedrückt.

Tabelle VI.

Das K

ö r p e

rgew

iclit u nsere r A r b e i t e r und der Be-

völkerung i-c Zahl

Belgiens in verse hie Unsere Arbeiter

Mittleres

denen Altersstufen

Die Bevölkerung Bel- giens nach Quetelet Mittleres

L.IUCU3-

alter

der

Fälle

Körper-

gewicht

Gewichtszunahme

Körper-

gewicht

Gewichtszunahme

IO

41

27-59

24-52

I I

88

29-13

»■54

27.IO

2.58

12

221

30-93

1.80

29.82

2.72

*3

360

32.72

1.79

34-38

4.56

M

641

35-»9

2.47

38.76

438

*5

795

39-35

4.16

43-62

4.86

16

655

44.04

4-69

49.67

6.05

>7

712

49-75

5-71

52.85

3-18

18

626

53-86

4.1 1

57-85

4-97

•9

625

56.00

2.14

20 U. 2 1

1252

57-4S

1.48

60.06

2.21 (in 1 J. i.i°

22 U. 23

1032

58-13

0.65 (in 1 J. 0.32)

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Untersuchungen über die körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. 47 t

Unsere Arbeiter

Die Bevölkerung Bel- giens nach Quetelet

Lebens-

alter

Zahl

der

Mittleres

Körper-

Gewichtszunahme

Mittlerei

Körper-

Gewichtszunahme

Fälle

gewicht

gewicht

24 u. 25

929

58.67

0.54 (in 1

J-

0.27)

62.93

2.87 (in 1

' J

o-57)

26 u. 27

93°

590

0.50 ( >

>

°-25)

28 u. 29

885

59-4°

0.23 ( »

>

0.12)

1

O

fO

1869

59-85

°-45 ( »

»

0.1 1)

63.65

°-72( »

I

0.14)

35—39

1575

60.13

0.28 ( >

T>

0.06)

40—49

1672

60.50

°-37 ( »

>

0.05)

63.67

0.02

5°— 59

874

60.13 —0.37 ( »

»

—0.04)

63.46 -

-0.2 I ( f

»

0.02)

[61.94 -

•-52 ( »

>

—0.15)

60 u. mehr 303

59-53 -

-0.60 (in 1

J-

0.06)

! 59-52 -

-2.42 ( »

>

—0.24)

(57-83 -

1.69 ( a

>

-0 17)

Die graphische Darstellung des Inhaltes dieser Tabelle, soweit sie sich auf unsere Arbeiter bezieht, findet sich in Diagramm VI (S. 472) , in welchem die eine Kurve den Gang des mittleren Körpergewichtes nach den Lebensjahren , die andere die jähr- liche Gewichtszunahme schildert. Sowohl die Zahlenreihen der Tabelle , als auch die entsprechenden Kurven , überzeugen uns davon , dass während der Wachstumsperiode des menschlichen Organismus die jährliche Zunahme seines Gewichtes durchaus keine gleich massige ist. Es wiederholt sich hier eine Erscheinung, der wir schon beim 1 löhenwachstum des Körpers und bei der Entwicklung der Brust begegnet sind : bis zum Eintritt der Pubertätsperiode und unmittelbar vor derselben nimmt das Köpergewicht alljährlich um eine annähernd gleiche und nicht sehr bedeutende Grösse (1.5 bis 2.0 Kilogramm) zu; aber im Alter von 14 15 Jahren ändert sich auf einmal das Bild und wir werden durch ein plötzliches und erhebliches Steigen der jährlichen Gewichtszunahme überrascht. Das Maximum der letzteren fällt, analog der Zunahme des Brust- umfanges, auf das Alter von 16 17 Jahren, tritt also um 1 Jahr später ein , als das Maximum des jährlichen Höhenwachstums. Auch im weiteren bleibt sodann der Parallelismus zwischen Ge- wichtszunahme und Entwicklung des Brustumfanges bestehen : nach erreichtem 22-sten Lebensjahre w'ird die jährliche Gewichts- zunahme sehr gering (200 300 Gramm), verschwindet aber auch beim erwachsenen Manne nicht vollständig und der Letztere fährt

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4/2

Erismann,

bis zum 40sten oder sosten Lebensjahre fort in wenn auch ge- ringem Grade an Gewicht zuzunehmen (50 100 Gramm im Jahrei In der That erreicht unser Arbeiter, im Mittel, das Maximum sei- nes Körpergewichts zwischen 40 und 50 Jahren , kommt aber auch schon im Alter von 35 40 Jahren diesem Maximum sehr nahe. Mit dem 6ten Jahrzehnt macht sich eine kleine Gewichts- abnahme geltend und dieselbe hat offenbar Neigung, in höherem Alter noch zuzunehmen.

Diagramm VI.

Körpergewicht der Arbeiter nach den Altersstufen.

Kal*

Im grossen und ganzen ist der Entwicklungsgang des Kör- pergewichts bei unseren Arbeitern und bei der belgischen Be- völkerung ein- und derselbe: auch bei den Belgiern sehen wir eine rapide Gewichtszunahme im Alter von 13 17 Jahren, sodann eine, wenn auch langsame, Vermehrung des Gewichtes noch nach

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Untersuchungen über die körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. 473

vollendetem Längenwachstum, ein Gewichtsmaximum ungefähr im Alter von 40 Jahren, und eine anfangs kaum merkliche, später bedeutender werdende Abnahme des Körpergewichtes vom 50. Jahre an. Die absolute Grösse des Körpergewichtes in den ein- zelnen Altersstufen (mit Ausnahme der 10 12jährigen Knaben) ist aber bei den Belgiern beträchtlicher als bei unsern Arbeitern und das Gewichtsmaximum des mittleren erwachsenen Belgiers (63.6’] Kilogramm) übertrifft das Gewichtsmaximum unseres er- wachsenen Arbeiters ( 60.30 Kilogramm) um 3 Kilogramm. In anbetracht der Verschiedenheit des Materials jedoch , aus wel- chem die beiden Zahlenreihen hervorgegangen sind, will ich es unterlassen, irgend welche Erklärungsversuche dieser Differenzen anzustellen; es scheint aber in der That die belgische Bevölkerung durchwegs ein etwas grösseres Körpergewicht zu besitzen, als die unserige, denn die Gewichtsangaben, die Quctelet in seiner »An- thropometrie« (pag. 346) macht, sind im allgemeinen noch höher, als die von uns der »I’hysique sociale* entnommenen und von früheren Untersuchungen herrührenden Gewichte; nach diesen neueren Angaben beläuft sich das Körpergewichtsmaximum des mittleren erwachsenen Belgiers auf 69.6 Kilogramm.

Was nun speziell die energische Zunahme des Körperge- wichtes während der Pubertätsperiode anbelangt, so scheint die- selbe ihren Grund im Wachstumsgesetz des menschlichen Orga- nismus zu haben, und deshalb eine allgemeine, sich überall wiederholende Erscheinung zu sein. Hievon überzeugt uns fol- gende Zusammenstellung, deren einzelne Zahlenreihen früher schon erwähnten Quellen entnommen sind.

Jährliche Gewichtszunahme (in Kilogramm).

Fabrikarbeiter

Belgische

Hamburger

Englische

Amerikanische

Lebensalter

des Moskauer

Bevölkerung

Gymnasiasten

Bevölkerung

Knaben

Gouvernements

(Quetelet)

(Kotelmann)

(Roberts)

(Bowditsch)

IO— II

1.54

Ln

CC

2.33

2.1 1

2.22

II 12

1.80

2.72

302

1.98

3-°S

12 13

1.79

4.56

1-77

2.94

3-6o

13—14

2.47

4-3»

4-95

3-89

4.46

14—15

4. 16

4.86

4.69

538

5.64

15—16

4.96

6.oj

5-6S

7-45

6.31

16—17

5-7*

3.18

4.70

4-63

17 18

4. 11

4-97

3-31

4. 16

18—19

2. 14

1. 10

1.42

1.92

Archiv fiir soz. Gesetzgbg. u.

Statistik. IM.

u. IV.

3'

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474

Eris mann.

Diese unter den verschiedensten Verhältnissen gewonnenen Zahlen lassen keinen Zweifel daran aufkonimen, dass wir es hier mit einer gesetzmässigen Erscheinung zu thun haben Die Regelmässigkeit derselben ist, wenn wir von einigen Schwank- ungen, die offenbar teilweise durch die Beschaffenheit des Mate- rials und die stellenweise allzu geringe Zahl der Messungen be- dingt sind, absehen, eine überraschende. Der einzige wesentliche Unterschied besteht darin, dass das Maximum der Jahreszunahme bei unseren Arbeitern auf das 17., bei allen übrigen Autoren aber auf das 16. Lebensjahr fällt. Dieser Umstand kann übrigen* auf Zufälligkeiten beruhen und ändert an der Sache gar nicht*; bei der Jahreszunahme des Brustumfanges sind wir übrigens einer ähnlichen Erscheinung begegnet.

Da es selbstverständlich ist, dass im allgemeinen Leute von hohem Wüchse ein grösseres absolutes Körpergewicht besitzen, als kleine Personen von demselben Alter, und da der Mittel- wuchs gleichaltriger Individuen in verschiedenen Ländern ein sehr verschiedener sein kann, so muss bei Vergleichungen, wenn cs sich um verschiedenartiges Material handelt, das Körpergewicht auf die Einheit der Körperlänge bezogen werden. Aus diesem Grunde habe ich für die einzelnen Altersstufen diejenigen Gewichtsgrössen berechnet, die auf I Meter Körperlänge kommen.

Die folgende Tabelle enthält die Resultate dieser Berech- nung und ausserdem entsprechende Angaben über das Mass de* Brustumfanges auf 1 Meter Körpcrlänge in verschiedenen Lebens- altern.

Auf 1 Meter K ö r p e r 1 ä n g e kommt:

Lebensalter Brustumfang in cm Körpergewicht in kgt

IO

50.02

21.85

II

49.64

22.42

12

49.25

23-01

13

48.97

23.76

14

49.01

24.92

*5

49.00

26.83

16

49.00

28.75

•7

49-54

31-37

18

50.23

33-31

>9

51 .01

34-24

21

51.08

34-97

23

51-32

35-25

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Untersuchungen über die körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. 475 Lebensalter Brustumfang in cm Körpergewicht in kgr

24 und 25 51.68 35-57

26 und 27 51.90 35-83

28 und 29 52.14 35-97

30—39 5241 36.32

40—49 52.62 36.63

50 59 52.88 36.48

Wir sehen, dass das relative, d. h. auf die Ein- heit der Länge kommende Körpergewicht mit dem Lebensalter bedeutend zunimmt, so dass es im Alter von 16 Jahren anderthalbmal, im Alter von 40 Jahren beinahe doppelt so gross ist, als beim lojührigen Knaben. Beson- ders gross ist die Zunahme des relativen Körpergewichts im Alter von 14 18 Jahren, d. h. während der Pubertätsperiode, offen- bar wächst zu dieser Zeit das Gewicht des Körpers verhältnis- mässig rascher als seine Länge, ln der That beträgt bei den 10 13jährigen Knaben die Zunahme des relativen Körpergewichtes nur 0.6 0.7 kgr im Jahre; bei den 14 18jährigen jungen Leuten steigt die Jahreszunahme auf 2 2.5 kgr, aber nach dieser Zeit fällt sie rasch und beläuft sich vom 20. Jahre an auf höchstens 0.16 kgr. Dieser Gang des relativen Körpergewichts dürfte sich im allgemeinen wohl überall, in allen Ländern und Ständen, wieder- holen, im einzelnen aber, und namentlich in den höheren Alters- stufen, wird er sich bei verschiedenen Gesellschaftsklassen ziem- lich verschieden gestalten, in Abhängigheit von der grösseren oder geringeren Zahl gutgenährter, d. h. fettleibiger Personen. Unter den Fabrikarbeitern ist Fettleibigkeit eine seltene Erschein- ung, und es beziehen sich deshalb die obigen Angaben auf magere Individuen. Mit dem Gange des relativen Brustumfanges hat derjenige des relativen Körpergewichtes durchaus keine Aehn- lichkeit. Während der letztere, dem zunehmenden Alter ent- sprechend, eine starke Progression zeigt, bildet der erstere eine in den verschiedenen Altersstufen wunderbar konstante oder mit dem Alter nur sehr schwach progressierende Grösse. Der Grund hievon liegt offenbar in der Proportionalität zwischen dem Längen- wachstum und der Entwicklung des Brustumfanges, infolge deren im allgemeinen fast immer etwa I cm Brustumfang auf 2 cm Körperlänge kommt. Eine wesentliche Unterbrechung erleidet diese Proportionalität, soviel wir wissen, namentlich in der der Pubertätszeit unmittelbar vorausgehenden Altersperiode, während

3«*

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476

Erisman n.

welcher die Entwicklung der Brust hinter dem Längenwachstum so bedeutend zurückbleibt, dass auch nach eingetretener Pubertät, bei relativ günstiger Entwicklung des Brustkorbes, der Umfang des letzteren immer noch eine geraume Zeit lang hinter der halben Körperlänge zurückbleibt.

Wie bekannt, hat Quetelet den Versuch gemacht, ein gesetz- massiges Verhältnis zwischen der Zunahme des Gewichtes und der Körperlange bei wachsenden Individuen zu finden, und er druckt sich hierüber folgcndcrmassen aus '): Wenn der Mensch in allen Dimensionen in gleicherweise zunehmen wurde, so würden sich bei Leuten verschiedenen Alters die Körpergewichte ver- halten, wie die dritten Potenzen der Längenmasse. In Wirk- lichkeit findet dies aber nicht statt: die Gewichtszunahme geht langsamer vor sich als dem genannten Verhältnisse entsprechen würde, mit Ausnahme des ersten Lebensjahres, während dessen dieses Verhältnis in der That ziemlich regelmässig beobachtet wird. Aber nach dieser Zeit, und bis gegen die Pubertätsperiode hin, wachsen die Körpergewichte wie die Quadrate der Längen. Während der Pubertätszeit wird sodann die Zunahme des Körper- gewichtes eine sehr rasche und sistiert erst ungefähr gegen das 25. Lebensjahr. Im allgemeinen wird man keinen grossen Fehler machen, wenn man annimmt, dass während der Ent-

2) Die Berechnung ist angestellt nach der Formel : X =

log. P - log P, log. h log. h,’

wobei X die gesuchte Potenz, p und p4 die Körpergewichte verschiedener Alters-

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Untersuchungen Uber die körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. 4 77

Wir sehen, dass in der That das Verhältnis zwischen dem Längenwachstum und der Zunahme des Körpergewichtes bei unseren Arbeitern den Angaben (juetelets im allgemeinen sehr gut entspricht: für die der Pubertätszeit vorausgehenden Jahre erhalten wir die Potenz 2.0, für die Pubertätsperiode selbst 2.7 (statt 2.5 nach (juetelet).

Um nun der Frage über den Einfluss der Beschäftigung auf das Körpergewicht etwas näher zu treten, habe ich die Arbeiter, deren Körpergewicht von Dr. Dementjeff bestimmt war, in 4 grosse Gruppen eingeteilt, und zwar wurde hiebei die nämliche Gruppen- einteilung beibehalten, deren ich mich auch früher bediente, als es sich um die Analyse des Einflusses der Beschäftigungsart auf die Entwicklung des Brustkorbes handelte. Die Einteilung ist eine durchaus natürliche und in meinen Augen für den gegen- wärtigen Fall passende, w-eil sie sich auf wesentliche Verschieden- heiten in der Beschäftigungs- und Lebensweise der betreffenden Arbeiter stützt. Wir haben also :

I. Gruppe : Eigentliche Textilarbeiter.

II. « Färber, Bleicher, Tuchwalker, Dekatierer u. dgl.

III. « Handwerker, Arbeiter in Werkstätten u. dgl.

IV. c Tagelöhner, Arbeiter auf Ziegelbrennereien, in

Gerbereien u. s. f.

Für alle diese Gruppen wurde das mittlere Körpergewicht nach den einzelnen Altersstufen bestimmt; jedoch enthält die folgende Tabelle die hiebei erhaltenen Resultate nur vom 14. Le- bensjahre an, da in einzelnen Gruppen die Zahl der Individuen für das 13. 14. Lebensjahr allzu gering ist.

stufen und h und h, die Körper langen derselben Altersstufen bedeuten. Es ist näm- lich p : p, = h* : h4* oder log. p log. p, = X (log. h log. h,), also X = log. p log. p, log. h log. h,

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478

Erismann,

Die Entwicklung des Körpergewichtes nach der Beschäftigungsart.

I. Gruppe

II. Gruppe

III. Gruppe

IV.

Gruppe

Lebensalter

Zahl

Mittleres

Zahl

Mittleres

Zahl

Mittleres

Zahl

Mittleres

der

Körper-

der

Körper-

der

Körper-

der

Körper-

Fälle

gewicht

Fälle

gewicht

Fälle

gewicht

Fälle

gerricbt

14

367

34-97

172

34-72

57

37-42

45

35-97

>5

438

38.53

204

39.18

108

42.40

45

40.80

16

351

4332

*43

43-37

1 1 1

46.52

45-57

»7

357

48.54

>5*

49-34

140

5*47

64

53-70

18

343

53-*4

108

54-37

128

54ö8

47

55-96

*9

318

54-36

109

56.47

*32

5s-45

66

58.26

20

3*9

56.42

146

S7-*8

148

59-33

96

59°7

21

255

56.08

124

57.78

IOI

5894

63

59-54

22

254

56.28

94

57-76

1 *3

59-5*

54

60.81

23

236

57-3»

*°5

58.66

106

60.29

70

59.5*

24

201

57-5»

63

57-Si

98

59.07

65

62.27

25

232

57-64

74

58.40

112

59-56

84

60.71

26

205

57-92

72

58.79

'°3

5942

53

61.21

27

239

58.67

88

58.98

101

59.96

69

62.26

28U.29

4li

58-27

•36

58.64

215

60.63

123

61.90

**

1

O

rO

849

5893

295

59.67

421

60.69

3°4

61.44

35— 39

697

59°*

204

60.09

337

60.98

337

61.64

40—49

636

59-48

260

59*5

352

61.90

424

61.70

5°— 59

230

58.96

*56

594'

*3*

61.39

357

60.72

60 u. mehr

_57_

6995

57-3*

48

2752

56.56

32

3046

61.19

166

2582

60.83

Diese

Tabelle lässt

keinen

1 Zweifel daran übrig,

dass

in der

That zwischen dem Körpergewicht verschiedener Arbeitergruppen erhebliche Differenzen bestehen und dass der Vergleich nicht ru Gunsten der Textilarbeiter ausfällt. Es ist nämlich in allen Altersgruppen, ohne eine einzige Ausnahme, das mittlere Körpergewicht des Textilarbeiters ge- ringer als dasjenige aller übrigen Arbeiter. Am un- bedeutendsten ist der Unterschied zwischen der Gruppe der Textilarbeiter und derjenigen der Färber, er beträgt selten mehr als 1 kgr und ist sogar oft bedeutend geringer. Weit erheblicher ist die Differenz zwischen den Textilarbeitern einerseits und den Handwerkern und Tagelöhnern andererseits. Ueberhaupt stehen

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Untersuchungen über die körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. 479

sich die letztgenannten beiden Gruppen in Beziehung auf das Körpergewicht ziemlich gleich; ein gewisses Uebergewicht findet sich allerdings meistens auf Seite der Tagelöhner. Der Unter- schied im Körpergewichte zwischen den Textilarbeitern und den Tagelöhnern beträgt für die einzelnen Altersstufen meistens 2 3 Kilogramm, steigt aber in einzelnen Jahren auf 4 5 Kilogramm. Eine Erscheinung, die sich an einer grossen Zahl von Fällen mit solcher Regelmässigkeit wiederholt , kann keine zufällige sein, sie muss als die Folge eines oder mehrerer beständig wirkender Faktoren betrachtet werden. Ich will nun nicht behaupten, dass es unter allen Umständen einzig und allein die Berufstätigkeit sei, welche das Körpergewicht des Textilarbeiters so bedeutend herabsetzt ; es wäre ja wohl denkbar, dass die zwei oben erwähn- ten Momente die I lerkunft und der Einfluss der körperlichen Entwicklung auf die Berufswahl hier eine gewisse Rolle spielen und bis zu einem gewissen Grade die Differenzen im Körper- gewichte der einzelnen Arbeitergruppen bedingen. Wir haben aber weiter oben in bezug auf die Entwicklung des Brustkorbes gezeigt, dass die Wirkung dieser Faktoren nur eine beschränkte sein kann und dass der Einfluss der Beschäftigungsart jedenfalls im Vordergründe steht. Es liegt kein Grund vor, anzunehmen, dass sich das Körpergewicht anders verhalte und dass es sich dem bestimmenden Einflüsse der Berufsthätigkeit und allen damit zusammenhängenden Lebensverhältnissen entziehe.

Es ist wahr, wenn wir diejenigen Arbeiter, deren Körper- gewicht bestimmt wurde, nach ihrer Herkunft und nach Alters- stufen gruppieren, so finden wir einige Unterschiede im Gewichte gleichaltriger Individuen ; aber diese Differenzen sind bedeutend geringer als diejenigen, welche wir zwischen den oben angeführ- ten Arbeitergruppen, in denen sich Leute verschiedener Herkunft befinden, konstatieren konnten. Dies ist ersichtlich aus folgender Tabelle, in welche ich, um sie nicht zu voluminös zu machen, nur Leute vom 25igsten Lebensjahre an aufgenommen habe.

Körpergewicht der Arbeiter verschiedener

Herkunft.

Lebensalter

Moskau

Rjäsan

Tula

Kaluga

25

58.71

59.00

58. l6

58.32

26

59-33

5839

58. 16

57-24

27

59.67

59.87

58.69

58.67

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480 Erismann,

Lebensalter

Moskau

Kjäsan

Tula

Kaluga

28 29

59-59

58.52

58.95

59.06

’t'

1

0

cO

59.98

60.66

58.98

58.24

35—39

60.23

61 .70

59-73

59. 11

40-49

60.67

60.22

60.06

59.89

50—59

60.25

59-71

60. u

59.22

Wir

überzeugen

uns hier, dass die

Differenzen

im Körper-

gewichte bei gleichaltrigen Individuen verschiedener Herkunft im allgemeinen nur sehr unbedeutend sind und in der weitaus grössten Zahl der Fälle Bruchteile eines Kilogramnies nicht über- steigen. Wo dieselben grösser sind, ist der Einfluss von Zufällig- keiten (bedingt durch die in einzelnen Gruppen relativ geringe Zahl der Fälle) nicht ausgeschlossen. Eines nur scheint aus dieser Zusammenstellung mit ziemlicher Sicherheit hervorzugehen, nämlich dass die Arbeiter aus dem Gouvernement Kaluga durch- wegs ein geringeres Körpergewicht besitzen, als diejenigen aus den übrigen Gouvernements. Am regelmässigsten ist der Gang des Körpergewichts bei den Arbeitern aus dem Gouvernement Moskau, und zwar hängt dies offenbar davon ab, dass die Zahl dieser I.cute in jeder Altersstufe sehr bedeutend ist (mehrere 1 hinderte und sogar lausende), wodurch der Einfluss zufälliger Umstände wesentlich reduziert wird, was bei den Arbeitern aus den übrigen Gouvernements nicht in dieser Weise der Fall ist. Es unterliegt keinem Zweifel, dass der Einfluss der Herkunft auch dann die von uns konstatierten Differenzen im Körpergewichte verschiedener Arbeitergruppen nicht erklären könnte, wenn jede dieser Gruppen ausschliesslich Arbeiter aus einem und demselben Gouvernement umfassen würde, d. h. wenn z. B. alle Textilarbeiter aus Kaluga, alle Handwerker aus Moskau oder Tula, alle Tage- löhner aus Kjäsan stammen würden. Es bleibt uns demnach nichts anderes übrig, als anzunehmen, dass in der That die Art der Beschäftigung an und für sich von wesent- lichem Einfluss auf das Körpergewicht seil Damit anerkennen wir aber auch, dass das Körpergewicht unter ge- wissen Umständen als ein guter Massstab der Körperentwicklung betrachtet werden könne. Namentlich gilt dies für alle diejeni- gen Fälle, wo wir es mit Leuten ohne ausgesprochene Fettleibig- keit, also mit Arbeitern, Soldaten und jüngeren Personen zu thun haben.

Die Körperkraft der Arbeiter wurde von Dr. Dementjeff

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Untersuchungen über die körperliche Entwicklung der Arbeiter etc. ^ Sl

nach zwei Richtungen gemessen, d. h. es wurde i) die Druck- kraft der Hände und 2) die Hubkraft der Arme und des Rujnpfes bestimmt. Zur Untersuchung diente ein Feder-Dynamo- meter von beiläufig elliptischer Form, dessen grosse Achse etwa 30 cm mass, während die kleine nicht mehr als 7.5 cm betrug. Behufs Bestimmung der Druckkraft wurde die Feder mit beiden I landen in der Richtung der kurzen Achse zusammengedrückt, wobei die Hände, zur Erreichung des Maximaleffektes, einander möglichst genähert wurden. Bei Bestimmung der Hubkraft be- stand die Aufgabe des zu Untersuchenden darin, die Feder in der Richtung ihrer Längsachse mit Hilfe der Arm- und Rückenmus- kulatur möglichst auszudehnen ; hiebei war das Instrument am einen Ende der Achse in der der Grösse des Arbeiters entsprech- enden Höhe über dem F'ussboden befestigt. Vor dem Beginne der Untersuchungen wurde das Dynamometer sorgfältig kalibriert und sodann von Zeit zu Zeit (beiläufig je nach 500 Untersuchungen) einer erneuten Prüfung unterworfen. Jeder Untersuchte wieder- holte sowohl das Drücken als auch das Heben dreimal nachein- ander; die erhaltenen Resultate wurden alle notiert, aber bei der Bearbeitung des Materials nur die grösste der erhaltenen Zahlen berücksichtigt; dieselbe entsprach also der maximalen Kraft- äusserung, welcher der betreffende Arbeiter fähig war. Der Untersuchung wurden nur Arbeiter von wenigstens 14 Jahren unterworfen, da für jüngere Knaben das Instrument zu gross und überhaupt nicht handlich genug war. Die Resultate dieser Unter- suchungen, deren Mitteilung ich Dr. Dementjeff verdanke, sind in der folgenden Tabelle zusammengefasst und graphisch im Dia- gramm VII dargestellt. Die Beobachtungen umfassen 4642 Mann.

Tabelle VII.

Die Körperkraft der Arbeiter (in Kilogrammen).

Lebensalter

Zahl der Fälle

Druckkraft der Hände

H u b k r a f t und des

der Arme Ru m p fes

Absolut

Zunahme

Absolut

Zunahme

14

57

32.98

-

82.00

«5

170

36.14

3.16

88.23

6.23

16

CO

00

41.14

5.00

101.29

13.06

«7

237

46.97

5-83

JJ3-J7

00

00

18

261

5409

7.12

128.14

14.91

«9

212

S7-i2

3-°3

»35-77

7 63

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482

£rismann,

Zahl der

Druckkraft der

Hubk raft

der Arme

Lebensalter

Fälle

Hände

und des

Rampfes

Absolut

Zunahme

Absolut

Zunahme

20U. 21

413

59-35

2.23

*39-94

4-i;

22 u. 23

332

61.13

1.78

*43-57

363

24U.25

3°3

62-57

I.44

146.27

2.70

26 u. 27

299

62.20

o-37

147.98

1.71

28 u. 29

300

60.80

1.40

14655

'-43

f

fO

1

0

614

62.1 1

+ ,-31

151.29

-+- 4-74

35— 39

497

60.79

1.38

150.04

1.25

40- 4g

485

58-59

2.20

*47-89

*-'5

5o—59

224

53-37

5.22

*34-44

*3-45

60 u. mehr

50

46.54

- 6.83

1 18.69

*5-57

4642

Der Entwicklungsgang der

Körperkraft im Knaben- und

Jünglingsalter besitzt, wie man

sieht, im

Allgemeinen d e n s e 1-

b e n C h a

rakter, der

auch den übrigen Seiten des Körper-

Wachstums

eigen ist, er

folgt im

grossen

und ganzen dem weiter

oben besprochenen Wachstumsgesetze, nur fällt das Maximum der Jahreszunahme hier nicht auf das 16. 17. Jahr, wie z. B. das Maximum der Zunahme des Brustumfanges und des Körperge- wichtes, sondern tritt um i Jahr später ein. Im allgemeinen findet im Alter zwischen 15 und 19 Jahren ohne Zweifel die bedeutendste Entwicklung der Körperkraft statt; vom tyten Jahre an geht cs dann langsamer und vom 2östen Jahre an bemerkt man schon Schwankungen, indem in den einzelnen Jahren bald eine kleine Abnahme , bald wieder eine geringe Zunahme der Körperkraft stattfindet; wäre die Zahl der Untersuchten eine noch grössere, so würde man wahrscheinlich in diesem Alter einen stationären Zustand der Kraft des Körpers konstatieren können. Man wird also sagen müssen, dass das Maximum der möglichen Kraftentwicklung auf die Altersperiode von 24 35 Jahren fällt, wobei indessen zwischen der Druckkraft der Hände und der Hubkraft ein kleiner Unterschied besteht in dem Sinne, dass das Maximum der letzteren etwas später eintritt und, auf der anderen Seite, etwas länger anhält als das Maximum der ersteren. Nach dem 35sten Lebensjahre beginnt schon ein konstantes, wenn auch noch geringes Sinken der Körperkraft, die sich übrigens bis zum 50sten Jahre noch auf einer bedeutenden und vom Maximum wenig abweichenden Höhe erhält; ein rasches

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484 Erismann, Untersuchungen üb. ii. kor per L EntwukL d. Arbeiter tü-

und erhebliches Sinken derselben beginnt erst nach zuruckgeieg- tem josten Lebensjahre. Im Mittel, für etwa 1500 im kräftigsten Mannesalter befindliche Arbeiter, beläuft sich das Maximum der I Jruckkraft der Hände auf 62 Kilogramm, dasjenige der Hubkraft auf etwa tjo Kilogramm. In einzelnen Fällen ist die mögliche Kraftäusserung natürlich eine bedeutend grössere.

Eine wunderbare Uebereinstimmung bemerkt man zwischen dem Körpergewichte und der Druckkraft der Hände. Beide Grösse: gehen einander fast absolut parallel und sind auch absolut in allen Altersstufen beinahe gleich gross. Der einzige Unterschied besteht darin, dass vom i8ten Jahre an die Druckkraft der Hände das Körpergewicht um 1 2 Kgr übertrifft, während bei jungem Knaben , im Alter von 14 18 Jahren , das Körpergewicht etwas grösser ist als die Druckkraft der Hände. Die Hubkraft ist in allen Altersstufen viel bedeutender als die Druckkraft der Hände; sie verhält sich zur letzteren durchwegs wie 2.5:1.

Die weitere Verarbeitung des in Hinsicht auf die Körperkran gewonnenen Materials die Erörterung der Frage über des Einfluss der Beschäftigungsweise, die Vergleichung mit den Unter suchungen anderer Autoren etc. muss ich der speziellen Ar- beit des Dr. Dementjeff überlassen. Ich will nur noch daran! hinweisen , dass Quetelet , der sich aus seiner Beschreibung w schliessen, eines ähnlichen Instrumentes bediente wie Dementjci in bezug auf die Hubkraft Resultate erhielt , die äusserst wenig von den an unseren Arbeitern gewonnenen abweichen, während die Druckkraft der Hände bei den von Quetelet untersuchten Personen erheblich grösser war. Dagegen stimmen in dieser Hinsicht die Beobachtungen DementjefTs an erwachsenen Mm- nern mit denjenigen Peron's ') sehr gut überein.

1) Physique sociale II. pag. 108.

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ZUR SOZIALSTATISTIK DER DEUTSCHEN STADT IM MITTELALTER.

VON

PRÜF. Dr. KARL LAMPRECHT

IN BONN.

Unter dem Titel tDie Bevölkerung von Frankfurt am Main im 14. und 15. Jh.« hat Karl Bücher einen ersten starken Band sozialstatistischer Studien veröffentlicht '), der die Aufmerksam- keit des praktischen Soziologen wie des Historikers in gleich starkem Grade zu fesseln geeignet ist. Dem Systematiker tritt hier zum erstenmale ein umfangreiches Material deutscher Her- kunft aus ganz andern Kulturverhältnissen als den heutigen ent- gegen ; es fordert ihn zu fortwährender Vergleichung der mittel- alterlichen städtischen Zustände mit den analogen Verhältnissen der Gegenwart auf und mag ihn auf diesem Wege nicht selten zur An- erkennung der Relativität auch solcher Seiten der modernen Ge- sellschaftsbildung drängen, welchen er von vornherein geneigt war einen absoluten, jede historische Abwandlung überdauernden Wert zuzuschreiben. Dem Historiker bietet das Buch die erste umfassende soziale Anatomie und Physiologie eines städtischen Gemeinwesens im Mittelalter, und damit die Möglichkeit einer sichern Abschätzung der bürgerlichen Gesellschaftselemente auch in ihrer politischen Bedeutung innerhalb des städtischen Ver- fassungskörpers wie ausserhalb desselben, in den Beziehungen zum Reich und den halbstaatlichen Reichsgliedem.

Der an neuen und zumeist sicheren Ergebnissen unendlich reiche Inhalt des Buches konnte nur aus der mühsamsten sta- tistischen Bearbeitung spröder mittelalterlicher Akten gewonnen werden; und volle Verständlichkeit und Beweiskraft war für ihn

1) Tübingen, Laupp, 1886, XX u. 736 SS.

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486

Lamprceht,

nur dadurch zu erreichen, dass der Verfasser sich in der statisti- schen Behandlung wie in der Erklärung aufs allerengste der Dis- position des vorhandenen Urmaterials anschloss. Dieser von einer richtigen Methode vorgeschriebene Weg ist auch von Bücher bis zu Ende verfolgt worden. B. bespricht und erläutert demgemäss in den Hauptabschnitten seines Buches, abgesehen von einer grösseren Einleitung, der Reihe nach das Frankfurter Burger- verzeichnis von 1387, dasjenige von 1440, die Bürgerbücher von 1311 1500, die Akten über den geistlichen Stand, über die Juden, über die Gesellen und über die Bevölkerung der ländlichen Um- gebung. Zweifellos ist es nur dieser Anordnung zu danken, dass eine ganze Anzahl von sonst schwerlich zu erreichenden Ergeb- nissen vorgelegt werden konnte ; und sicherlich ist durch sie jede Nachprüfung erleichtert. Eine wirkliche Uebersichtlichkei: der Resultate wie des systematischen Zusammenhangs der Dinge überhaupt ist dagegen mit dieser Anordnung an sich kaum ver- einbar. Möglich, dass der Verf. in dem zweiten und letzten Bande seiner Untersuchungen, dessen baldigem Abschluss man mit Span- nung entgegensehen darf, diesem Mangel durch ein in grossen Zügen schilderndes Schlusskapitel abhilft : vorläufig bedarf es in der That einiger Mühe, die durch 736 Seiten hin zerstreuten Re- sultate der eingehendsten Einzelforschung zu einer wirklich ab- gerundeten Vorstellung vom sozialen Leben Frankfurts im Mittel alter zusammenzufassen. Und doch wird sich dieser Aufgabe je- der unterziehen müssen, der aus dem Buche auch nur einfach re- zeptiv zu lernen vorhat ; wie viel mehr derjenige , der sich über die Untersuchungen B.'s und ihre Ergebnisse ein begründetes Urteil bilden will. Beides, zu lernen wie zu urteilen , haben wir im Folgenden im Sinne; so werden wir ohne weiteres auf den Weg einer systematischen Wiedergabe der Forschungsresui- täte B.'s gewiesen; und mit ihr wird sich ungezwungen, nicht selten allein schon in der Disposition der Darstellung, die Beur- teilung verbinden.

Die Stadt Frankfurt war für die sozialpolitischen Ziele des Verf. so geeignet, wie wohl kaum ein anderes grösseres städti- sches Zentrum des Reiches. Schon wegen des im Frankfurter Archiv lagernden besonders günstigen Materials. Dann mit Rück- sicht auf die seltene Gunst der persönlichen Konstellation. Der Verf. selbst lange Zeit in Frankfurt ansässig, bekannt mit dem modernen Leben der Stadt, für die historische Seite der Aufgabe

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7ur Sozialstatistik der deutschen Stadt im Mittelalter.

4*7

durch kleinere geschichtliche Vorarbeiten trefflich vorbereitet, da- bei im Vollbesitz soziologischer und volkswirtschaftlicher Bildung, und neben ihm , vergessen wir das nicht , in IJr. Grotefend ein Stadtarchivar von umfassenden rechtsgeschichtlichen Kennt- nissen und steter liebenswürdiger Hilfsbereitschaft. Vor allem aber die Stadt selbst I Mit Recht sagt Bücher S. 416 von ihrer Geschichte: Die Entwicklung entbehrt des grossartigen Zuschnitts, den die niederländischen Manufakturstädte, die grossen Handels- plätze an der Ostsee und im Binnenlande Nürnberg an sich tra- gen : sie bewegte sich in einem geschlossenen Kreise ungemein mannigfaltiger, aber in harmonischer Einheit zusammengehaltencr Berufsgestaltung. Es ist der gleiche Eindruck den noch heute die Stadt macht; der Eindruck seltenen Ebenmasses aller her- vorragend städtischen Erscheinungen.

Dieses Ebenmass beherrscht auch den äusseren Entwicklungs- gang der städtischen Geschichte. Ursprünglich gehörte die Stadt als ländliche Ortsanlage mit einer Reihe von Dörfern dem könig- lichen Fiskus Frankfurt an, der, wie alle andern Fisci, ein den sonstigen Hundertschaften entsprechendes Gebiet umfasste. Es ist die spätere Reichsgrafschaft zum Bornheimer Berge, genannt nach dem Galgenberg bei Bornheim, der alten Gerichtsstätte, auf welchem die Centgrafen der 19 Dorfschaften des Fiskus unter Vorsitz des Reichsschultheissen Recht fanden über Hals und 1 laupt und alles, was klagbar ist in dem Lande. Wie aber der Reichs- schultheiss, der oberste Verwaltungsbeamte des Fiskus, in diesem Gebiete zugleich die Gerichtspflichten eines Hunnen der nicht- fiskalischen Hundertschaft versah , so stand er auch in Sachen der 1 leerespflicht an Stelle eines Hunnen, ihm folgten die Mannen des Fiskus unter dem Banner des Reiches.

Es ist für unseren Zweck von keinem besonderen Werte fest- stellen zu wollen, zu welcher Zeit die Aussonderung Frankfurts aus diesem fiskalischen Hundertschaftsgebiete begonnen hat. Genug dass der überall sich wiederholende Verfall der alten hundert- schaftlichen Markgemeinde in eine Reihe lokaler Markgenossen- schaften auch' im Reichsfiskus Frankfurt stattfand , dass im Ver- laufe dieser Entwicklung Frankfurt als Einzelmarkgemeinde neben den dörflichen Markgemeinden ins Leben getreten ist , und dass mit diesem Vorgang die Vorbedingung der kommenden städti- schen Entwicklung erfüllt ward. Die städtische Entwicklung selbst aber war schon im 13. Jh. auf der ersten , wichtigsten Stufe be-

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488

Lamprtckt,

sonderen Ausbaues angelangt : um die Mitte dieses Zeitraums ist der Rat völlig organisiert , die alte Ministerialenverwaltung unter dem Schultheissen erscheint zerstört, und die Ministerialengeschlech- ter selbst sind zum grössten Teile aus der Stadt gewichen. kr ersten Viertel des 14. Jhs. fällt dann die alte königlich-herrschaft- liche Gewalt des Schultheissen völlig bis auf wenige Reste. Aus der Verwaltung wurde der Schultheiss gänzlich enfernt, als we- sentliches Recht verblieb ihm nur der Vorsitz im Schöffengericht. Zudem erwarb der Rat im J. 1329 die kaiserliche Rrmächtigung. alle veräusserten Reichsgüter und Reichsrechte in und bei Frank furt bis auf die stets chimärisch bleibende Wiedereinlösung derselben durch den Kaiser zu kaufen : und er setzte sich auf diesen Gnadenbrief hin im Laufe des 14. Jhs. in den Besitz jener Rechte, soweit sie überhaupt noch Bedeutung hatten, und ve- leibte sich damit die alten Befugnisse des Schultheissen völlig ein Seit dem 14. Jh. war Frankfurt somit ein Gemeinwesen, das wesent- lich nur der Richtung seiner eigenständigen Entwicklung folgte, es war eine thatsächlich freie Stadt. Darum setzt seit dem Be ginn des 14. Jhs. die Ueberlieferung der bürgerlichen Verwaltung von Jahrzehnt zu Jahrzehnt massenhafter ein : jene Berge tor. Archivalien häufen sich an , welche B. z. T. durchzuarbeiteo hatte: 1311 f. Bürgerlisten, 1320 f. Bedebücher , 1348 f. Rechen büchcr; 1350 erste Sammlung der Statuten, 1352 55 erste K«di fikation des Zunftrechts.

/. Die Stadt als sozialer Gesamtkörper. Es muss Bücher als besonderes Verdienst angerechnet werden, dass er über dem Neuen dieser Entfaltung, vornehmlich über der Thatsachc , dav sich seit dem 15. Jahrhundert immer mehr der territoriale oder lokale Charakter der Stadt als politischer Einheit durchbildet, cs nicht vergessen hat, dass die Grundlage der städtischen Entwick- lung wie ihr Charakter noch bis tief ins 15. Jahrhundert hinein, wenn nicht noch weiter , deutschgenossenschaftlich ist. Denn während die moderne Jurisprudenz in historischer wie ethno- graphischer Bethätigung wie die neuere Soziologie und politische Oekonomie gründlich mit der historiographischen Anwendung an geblich absoluter Begriffe von Staat , Recht , Gesellschaft u. dg', aufgeräumt hat , betrachtet man es in gewissen historischer. Kreisen noch gerne als unveräusserliches Recht , diese in den systematischen Wissenschaften längst veralteten, gänzlich unhisto- rischen Begriffe als Grundlage für die Bildung geschichtlich«

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Zur Sozialstatistik der deutschen Stadt im Mittelalter. 489

Anschauungen beizubehalten, und abweichende Lehren, wie die- jenigen Gierkes, sind einstweilen noch Predigten in der Wüste.

Bücher hat sich dem gegenüber freien Blick bewahrt. »Es ist ein Irrtum, was neuerdings behauptet worden ist, dass in der spätmittelalterlichen Stadtgemeinde die nutzbaren Genossenrechte hinter den politischen Rechten der Burger ganz zurückgetreten oder gar verschwunden seien. ... Ist doch die ganze städtische Wirtschaftsverfassung, insbesondere das Zunftwesen, nichts anderes, als eine Uebertragung der Grundgedanken der Markgenossen- schaft vom Gebiete der Landwirtschaft auf das des Gewerbe und Handels.« (S. 326 27.)

In der That : wer den mittelalterlichen Stadtkörper noch bis tief ins 15. Jh. hinein nicht als genossenschaftlichen, auf persön- licher Bindung im Sinne deutschen Korporationsrechtes beruhen- den Gesellschaftskörper auffassen will, der wird ihn nicht verstehen. Zerfallen doch die Bürger bis gegen Schluss des 14. Jh. geradezu in städtische und ausserstädtische Bürger (Ausbürger, Pfahlbürger, Edelbürger), kann man doch Bürgerrecht erwerben, verlieren und wiedererwerben, stehen doch innerhalb des städtischen Körpers im Sinne deutschen genossenschaftlichen Rechtes Einer für Alle, Alle für Einen! Denn die Stadt »verantwortet« ihre Bürger vor jedem fremden Angriff durch Gewalt oder Gericht bis zur An- erkennung ihrer Verpflichtung , gefangene Bürger loszukaufen (S. 321) ; der Bürger aber haftet mit Person und Eigentum für Handlungen und Schulden der Stadt- Dem entspricht es , wenn die Stadt auch im Innern des Körpers für das Wohlergehen aller sorgt ; so verleiht sie z. B. an arme Leute Kühe (S. 263, Note) und schafft unter Kosten, welche die Kräfte des Einzelnen über- steigen, fabrikmässige Anlagen zur Ausleihe für die Zünfte: eine Walkmühle für die Weber, eine Schleif- oder Poliermühle für die Harnischmacher und Messerschmiede, einen Kupferhammer fiir die Kupferschmiede, und eine Würzmühle für die Krämer noch im 16. Jh. : so dass schliesslich die genossenschaftliche Fürsorge des Mittelalters und das spätere merkantilistisch-herrschaftliche Interesse an der Entwicklung der Industrieen sich in einer Mass- regel verschmelzen können (S. 703 f.). Natürlich war bei einer solchen genossenschaftlichen Auffassung des Staatskörpers der Einzelne immer mit einem feile seines Wesens gleichsam Beamter. Mit Recht bemerkt Bücher S. 227: »nach der Auffassung des Mittelalters lässt sich private Erwerbsthätigkcit und städtisches

Archiv für soz. Gesctzgbg. u. Statistik. III. IV. ^ 2

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49°

La m p r echt ,

Amt oft gar nicht scheiden ; ja streng genommen stehen alä Handwerke in Amt und Pflicht der Stadt«. Einen besonders be- zeichnenden Ausdruck gewinnt dieses Verhältnis in den Halb- beamten , z. B. Weinknechten, Weinstichern , Unterkäufern wirtschaftlichen Kontrollbeamten, über weiche Bücher S. 98—1/4. 126 127, 129, 25: 254 trefflich handelt; und in gleicherweise charakteristisch ist es, dass 1440 etwa 3%> aller Bürger, ca. 6c Personen, unmittelbare Beamten der Stadt waren (S. 295; S. 29 vgl. mit S. 224).

Indes lässt sich nicht verkennen , dass der genossenschah liehe Charakter des Stadtkörpers im I.aufe des 15. Jhs. allmäiic'n verblasste. Es ist das eine Veränderung , welche B. in diese Allgemeinheit entgangen ist, wie denn überhaupt mehrere grosse Pirscheinungen, welche den Lauf gerade des 15. Jh. begleiten von ihm tiefer hätten gefasst werden können, vor allem die Ent stehung des vierten Standes. Am frühesten wird das Zurücktretet der alten ursprünglich m a rk genössischen Grundlagen angezeg. durch die Wandlungen des Vermögensausweises bei Erwerb de Bürgerschaft. Ursprünglich ward hier der Nachweis von Grund besitz in der Höhe von 10 M. [um 1250 = ca. 1650 M. nack Kaulkraft unseres Geldes, vgl. Lamprccht, Deutsches Wirtschaft' leben 2, 479 und in Conrads Jahrbb. N. F. II, 332], also aostan dige Markangesesscnheit, gefordert ; statt dessen genügt schon r der 1. Hälfte des 14. Jhs. der Nachweis voh '/« M. Rente auf Frankfurter Grundbesitz ; schliesslich kommt es seit 1373 zur blossen Forderung einer einmaligen Zahlung, die seitdem 15. Jh. immer mehr herabgemindert und oft nur in sehr nach- sichtiger Praxis cingczogen wird (S. 336 ff., 348 ff). Auf diesem Gebiete lässt sich also ein Abweichen von der alten Entwich lungsgrundlage der Markgenossenschaft schon seit der 1 Hälfte des 14. Jhs. verfolgen; und seit dem 15. Jh. fehlt jede Spur einer Erinnerung an die Zustände städtischer Frühzeit. Aber auc: der einfach genossenschaftliche Charakter des Stadl körpers tritt seit der 2. Hälfte des 14. Jhs. zurück. Seit dieser Zeit verschwinden die ausserstädtischen Biirger ; soweit die Stad: noch Personen ausserhalb des Stadtgebietes verantwortet, thu: sie es in Herrschaftsweise , d. h. vogteilich, im Sinne der seit der 1. Hälfte des 14. Jhs. aufgekommenen Leibeigenschaft. Wir: somit zunächst ein räumlicher Abschluss des alten persönlich« Körpers gewonnen, so tritt dieser Abschluss im Laufe do

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Zur Sozia tstatistik der deutschen Stadt im Mittelalter. 49t

15. Jhs. je länger je mehr vor der alten genossenschaftlichen Anschauung überhaupt in den Vordergrund. Nichts ist in dieser Hinsicht beweisender als das zunehmende Bestreben des Rates, nur noch Bürger in der Stadt zu dulden. Hatte man im 14. Jh. und auch noch in dem ersten Viertel des 15. Jhs. neben den Bürgern in der Stadt eine beträchtliche Anzahl von Ein- wohnern oder Beisassen geduldet (S. 324 ff.) , so wurde nun sichtlich die volle Kongruenz von Bürgerschaft und Einwohner- schaft erstrebt : selbst Bettler, Lahme, Blinde nahm man zu Bür- gern auf. Erreicht wurde dieses Ziel vollkommener Kongruenz, diese Verräumlichung des alten Genossenschaftskörpers im t6. Jh. ; 1525 wollte der Rat »wissentlich keinen inwoner hal- ten, der nit bürg er sic (S. 183).

In diesem ganzen Vorgang der Ablösung alter genossen- schaftlicher Verbände durch territoriale ist es unmöglich die Ana- logieen zu verkennen , welche mit dem Schicksal früherer ge- nossenschaftlicher oder wenigstens persönlich gebundener Bil- dungen bestehen. Die Hundertschaft, ursprünglich ein Genossen- schaftsverband gleicher Urteilsfindung und gemeinsamen Kriegs- auszugs auf einstmals geschlechtlicher, also persönlichster Grund- lage, war schon im 6. Jh. zur räumlich geschlossenen Markge- meinde geworden. Aus dem System der persönlichen Rechte noch des Karolingerstaates erhob sich mit der deutschen Kaiserzeit sieg- reich der Gedanke des Landrechts. Es ist mit sozialen und recht- lichen Bildungen nicht anders, wrie mit rein materiellen Errungen- schaften ; eine fortschreitende Kultur fixiert die einen wie die an- dern räumlich, die Heimat wird von Jahrhundert zu Jahrhundert mehr zum scharf abgegrenzten Sammelbecken aller wahren Er- rungenschaften volkstümlich sozialer und materieller Zivilisation. Daher wächst mit steigender Kultur auch der gesellschaftliche und wirtschaftliche Gegensatz der nationalen Staaten, und nur eine hohe geistige Bildung internationaler Natur vermag ihn zu überbrücken, indem sie die Ausgleichung von Vorzügen und Mängeln durch gegenseitige heilsame Anpassung lehrt und fördert.

2. Die Familiaihaitshaltung als soziale Zelle. Dem grossen Genossenschaftskörper der Stadt steht im Mittelalter als durch- gehende kleinste soziale Einheit die Familienhaushaltung gegen- über. Die Familienhaushaltung ist mithin die statistische Einheit für zahlenmässige Forschungen über den Bau und die Gliederung

32*

%

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492

Lamprttht,

des mittelalterlichen Stadtkörpers, ja der mittelalterlichen Gesell schaft überhaupt. Dies, wenn nicht zuerst erkannt, so doch w erst wirksam betont zu haben , ist eines der wesentlichen Ver- dienste Biicher’s.

Welcher Art und von welcher Zusammensetzung ist diese Haushaltung? B. hat sich darüber unter voller Ausnutzung seines Materials zusammenhängend nicht geäussert. Ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich diese Unterlassung als für die Stu dien B.'s in mancher Hinsicht nicht bloss fiir die Berechnung der Bevölkerungshöhe verhängnisvoll ansehe.

Am besten wird man zum Verständnis der mittelalterlich« Familienhaushaltung von der Lage der Dinge auf dem platt« Lande ausgehen. Hier gilt als Vorstand einer Familienhaushai tung jeder, der eigenen Rauch aufgehen lässt; auf den Herd und seinen Besitz sind die frühesten Steuern gelegt , welche die ha- milie als solche treffen sollen. Somit gehören zur Familie al.c etwa vorhandenen Dienstboten eines Gutes mit gemeinsam« Herd, auch alle etwa dienenden Verwandten des Herdhem. selbstverständlich auch Frau und Kinder desselben. Die Staü bietet nur das erst später geschichtlich gewordene Gegenbild a dieser Auffassung der ländlichen Familie. Wie dort die Gemein- samkeit des Herdrauches entscheidet, so hier die Gemeinsamkeit des Brotes: eine Familie bilden alle, die ein und dasselbe Brot essen. Das heisst: zur Familie gehören I) die Ehegatten unc ihre Kinder; 2) sonstige bei diesen lebende Verwandte; 3) das Gesinde: Dienstboten, Gesellen, Kaufmannsdiencr, Schreibet. Hauslehrer u. dgl.

Man wird gestehen , dass es bei dieser Zusammensetzung nicht leicht ist und für die Stadt noch schwerer wie für das platte Land sich eine sichere Kenntnis der durchschnittlicher I’ersoncnzahl der mittelalterlichen Familienhaushaltung zu ver schaffen. Und doch kommt es für bevölkerungsstatistische Be- rechnungen eben hierauf an; denn was uns die Archivalien des Mittelalters bieten, ist zumeist nichts als das Urntaterial für ;i- Statistik der Bürger bzw. Bauern, d. h. für die Statistik der Vor- stände der Familienhaushaltungen.

Die unmittelbare Möglichkeit zur Berechnung der durch- schnittlichen Kopfzahl früherer Familienhaushaltungen ergibt nt» das von Bücher bearbeitete Material vornehmlich für zwei, aller dings abseits gelegene Gruppen , für die ländliche Bevölkerung

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Zur Sozialstatistik der deutschen Stadt im Mittelalter.

493

der Frankfurter Umgegend im 17. Jh. '), und für die Frankfurter Juden im 15. und 18. Jh. Beide Gruppen sind von B. für die in Rede stehende Frage nicht ausgenutzt worden. Auf Grund- lage von Angaben bei B. S. 668 kommen 1685 in den 6 Dör- fern Bonames, Bornheim, Dortelweil, Hausen, Nieder-Erlenbach, Niederrad auf 333 Haushaltungen

Männer Weiber

Kinder*) Knechte

Mägde

Jungen Insgesamt Einwohner

267 311

7<6 35

69

19 1417 ; auf je eine

Haushaltung mithin

0.8 0.9

2.2 0.1

0.2

0.06 4.26 ; und bei un-

gebrochenem Bett

I I.l6

2.75 0.12

0.25

0.08 5.36.

Ferner bestehen nach B.

S. 563

kombiniert mit S. 570 unter

den Frankfurter Juden

Jahr

Haushaltungen

Köpfe

Köpfe in der Haushaltung

1431

H

102

7-3

'447

13

83

6.4

'473

22

146

6.6»)

1703

436

2364

5-4

Das Verhältnis zwischen den männlichen und weiblichen Per- sonen der jüdischen Bevölkerung des 15. Jhs. ist dabei wie 1: 1.4, und auf die ansässige Haushaltung kommen 1431: 2.1; 1447: 3.4; 1473: 2.7 Kinder. Fernerhin haben 60 °/o aller jüdischen Haus- haltungen Dienstboten, darunter 1431 5 Haushaltungen sogar 2 4, 1473 8 I laushaltungen 2 Dienstboten (S. 564 ff.). Endlich finden sich 1431 auf 14 jüdische Haushaltungen 5 Lehrer verzeichnet (S. 566).

Inwiefern können nun die vorgetragenen Ziffern als städtisch normal , insbesondere als für die Frankfurter Bürgerverhältnisse des 14. und 15. Jhs. anwendbar, bzw. ihnen gleichwertig gelten? Zur Gewinnung wahrscheinlicher Vermutungen in dieser Hin- sicht , um mehr kann es sich in keinem Falle handeln, gibt es zwei Wege. Einmal den allgemeiner Erwägungen. Dann den-

1) Dass die statistischen Daten über die ländliche Bevölkerung der Frankfurter Umgegend auch für die Statistik der Frankfurter Bürgerschaft im Mittelalter heran- gerogen werden können, ergibt sich aus dem noch stark ländlichen Charakter dieser Bürgerschaft, von welchem weiter unten die Rede sein wird.

2) D. h. erwachsene Söhne, Töchter und Kinder.

3) Ohne die Fremden 7.7.

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494 Lamprtiht ,

jenigen einer Vergleichung mit anderweitig bekanntem Zahlen- material.

Bewegen wir uns zunächst in der zuletzt angedeuteten Rich- tung, so stehen die bekannten, auch von Bücher, teilweise sogar als Grundlage seiner gesamten Berechnungen benutzten Daten von Nürnberg 1499 und Basel 1454 zur Verfügung. Nach der von Hegel entdeckten und zuerst kritisch benutzten Nürnberger Zäh- lung und den von Schönberg bearbeiteten (vgl. auch Bücher S. 411 Basler Steuerlisten von S. Alban und teilweise S. Leonhard kom- men auf eine Haushaltung

Ort: Männer Frauen Kinder Knechte Mägde losgruai'.

Nürnberg 1 1. 18 1.63 O.39 0.46 4.68

Basel 1 I.35 ? ') 0.39 0.23 ?

Man sieht ohne weiteres: die Nürnberger und Basler Ziffern erklären im allgemeinen unsere Frankfurter Daten weniger, als dass sie sich zu ihnen in Gegensatz stellen. Welche Ziffemgnippc ist also als die vollkommenere, massgebende zu betrachten?

Nur der angekündigte zweite Weg allgemeiner Erwägung« gestattet eine Antwort auf diese Frage. Wir finden zunächst x Basel wie bei den Frankfurter Juden einen annähernd gleich hohen Prozentsatz überwiegender weiblicher Bevölkerung. Hierzu steJt sich das Verhältnis I : t.16 in der ländlichen Bevölkerung Frankfurt nicht in Gegensatz: die jüngeren Altersklassen der weih- liehen Bevölkerung dieser Dörfer sind unter den Frankfurter Dienst boten zu suchen, ihre Auswanderung erklärt ohne weiteres den vorhandenen Ausfall. Indes die Nürnberger Ziffer! Ich vermag sie nicht anders zu erklären, als durch die Annahme, dass dk Nürnberger Zählung, welche bekanntlich innerhalb der Schreckt« einer drohenden Belagerung bzw. Eroberung erfolgte, nicht dit volle weibliche Bevölkerung mehr vorgefunden hat : gar manche Frau mag an ruhigere Orte, in Klöster u. dgl. geflüchtet worden sein. Und nun die Kinder. Hier ergeben die Frankfurter Date* eine Durchschnittsziffer von c. 2.7 Kindern für den Haushalts0' wohl der Juden im 15. Jh. wie der Landbevölkerung im 17 j1 Ihr ist eine Basler Ziffer nicht entgegenzustellen; Nürnberg & gibt die auffallend geringe Durchschnittsziffer von 1.63. Soute sie normal sein ? sollte man bei einer Zählung, deren Ergebnisse

1) Die Unter-vierzehnjährigen waren nicht schillingateuerpflichtig , feUe»

im Unnaterial.

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Zur Sozialstatistik der deutschen Stadt im Mittelalter. 495

zur Berechnung des nötigen Mundvorrats für den Fall einer Be- lagerung dienen sollten, alle Kinder, auch die kleinsten, für volle Personen gerechnet und demgemäss verzeichnet haben? Das ist sehr unwahrscheinlich : Hier wie in der Frage der Frauenbevölke- rung kann allem Anschein nach die Nürnberger Bevölkerungs- aufnahme, wie sie sich unter ungewöhnlichen Umständen vollzog, nicht als normal angesehen werden. Bleiben die Knechte und Mägde. In diesem Punkte ist eine Vergleichung des vorliegenden Materials schwierig, denn offenbar ist in den verschiedenen zur Verfügung stehenden Fällen das Gesinde sehr verschieden zusam- mengesetzt. Eine einfache und ungezwungene Erklärung ergibt sich vor allem für die Ziffern der Basler Kleinindustriellen und der um Frankfurt wohnenden landbauenden Bevölkerung : in bei- den Fällen hat je ein Haushalt c. 0.25 Mägde, dazu kommen in der kleinen Industrie 0.39 Gesellen, im Ackerbau 0.20 Knechte und Jungen. Auch die Verhältniszahlen der jüdischen Bevölkerung zu Frankfurt sind noch ziemlich leicht erklärlich. Die Knechte fehlen da nahezu oder ganz, die Dienstbotenziffer ist ausserordent- lich hoch, wie noch heutzutage bei den Juden. Die grosse Zahl der häuslichen Lehrer endlich erklärt sich einmal durch die Be- deutung der Frankfurter Synagoge die Lehrer werden an der Hohen Schule derselben I lelfer oder Anwärter gewesen sein dann durch den Umstand, dass bei Bank- und Pfandleihgeschäften des Mittelalters der Lehrer (Geistliche) des Hauses zugleich der Buchhalter war. Aber die Nürnberger Ziffern ! Die Verhältnis- zahl der Mägde (0.45) mag richtig sein : in Frankfurt hatten 1880 34.5 °/o aller Haushaltungen Dienstboten. Gewiss dagegen nicht die Zahl der Knechte mit 0.35. Finden wir in der Basler kleinen und kleinsten Industrie 0.39%, auf dem platten Lande um Frank- furt 0.20 männliches Gesinde: wie soll da eine Bevölkerung wie diejenige Nürnbergs in der einzelnen Haushaltung durchschnittlich mit 0.35 Ackerknechten, Leibdienern, Gesellen, Lehrern, Kauf- mannsdienern u. s. w. ausgekommen sein ! Freilich , in Zeiten drohender Kriegsgefahr und ihr gehört unsere Ueberlieferung an da mag die angegebene Nürnberger Ziffer durchaus der Wirklichkeit entsprochen haben, denn eben in solcher Zeit wich gewiss eine grosse Zahl von Knechten, die vielfach der fluktuieren- den Bevölkerung angehörten, von dannen.

Ich komme zum Schluss. Die Basler Ziffern scheinen mir kleinsten bürgerlich-industriellen Verhältnissen trefflich zu ent-

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Lam pr tcht.

sprechen, versagen aber in dem hier wichtigsten Punkte von all- gemeiner Bedeutung, in der Angabe der Kinderzahl. Die Nürn- berger Ziffern erscheinen anormal. Gerade sie aber hat Bü- cher seinen Berechnungen zu Grunde gelegt. Ich ziehe die Fol- gerungen aus abweichenden Ansichten in diesem Punkte nicht an den Einzelheiten der weiteren Darstellung Bücher's es wurde das viel zu weit führen : ich bemerke nur, dass auf gnrnd der hier gewonnenen Anschauungen die von Bücher (S. 66 S. 196 197) für 1387 auf c. 9600, für 1440 auf c. 8600— yocc Seelen berechnete Bevölkerungsziffer Frankfurts zu gering er- scheint. Auch sonst vermeide ich , hier auf die neuerdings viel- fach und gerade in den Besprechungen der Arbeit Bücher s mit grosser Vorliebe behandelte Frage nach der Berechnung der Ziffer der Gesamtbevölkerung weiter einzugehen ; denn die Bedeutung der Forschungen Bücher's beruht nicht in den bei gebrachten absoluten , sondern in den Verhältniszahlen. Was heisst zudem absolute Zahl , wenn Bücher auf grund derselben Reduktionsfaktoren für die I lerstellung der Bevölkerungsziffer von 1440 in acht verschiedenen Berechnungen zu acht verschiedenen Ergebnissen gelangt, deren grösster Unterschied 7082 8719=165," Personen betragt !

Ich habe nach Abweisung der allgemeinen Giltigkeit der Nürnberger und auch der Basler Daten zunächst nur die Aufgabe das unmittelbar vorliegende Thema: Grösse der sozialstatisu

sehen Einheit im Mittelalter , noch zu demjenigen Abschluss n bringen, welchen das Frankfurter Material allenfalls gestattet. D- ergab sich für die ländliche Familienhaushaltung des 17. Jhs. eia Durchschnitt von 5.36 Personen , für die jüdische Haushaltung des 15. Jhs. ein solcher von 6.76 Personen. In den T eiLzifferc dieser Durchschnittszahlen ist die Kinderzahl mit c. 2.7 Person« dieselbe: sie wird wohl auch für die bürgerliche Familienhaus haltung des 15. Jhs. in Frankfurt als zutreffend zu erachten sein. Abweichend ist in beiden Durchschnittszahlen die Quote der Frauen, liier aber wissen wir, dass die jüdische Quote in der Basler Ziffer ihre Bestätigung findet, und begreifen, warum die Quote der Frankfurter ländlichen Umgegend unter ihr bleibt. So steht nichts im Wege, auch für die Bürgerschaft Frankfurts 15. Jh. eine Quote von mindestens 1.35 anzunehmen. Wir würde* somit für die reine bürgerliche Familie , ohne Gesinde , zu der Durchschnittsziffer 5.05 gelangen. Weiterhin, für die Berechnung

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des Gesindes, versagen die Frankfurter Daten. Für die Mägde- zahl hat , wie wir sahen, die Nürnberger Ziffer 0.46, verglichen mit den sonstigen analogen Zahlen, auch für Frankfurt viel Wahr- scheinliches und nichts gegen sich, die Nürnberger Knechtezahl dagegen ist mit 0.35 zweifellos zu gering gerechnet. Wir werden der Wahrheit vermutlich näher kommen, wenn wir 0.54 anneh- men, und somit Mägde und Knechte = 1 setzen. Unter diesen Voraussetzungen würde die mittelalterliche Frankfurter bürger- liche Familienhaushaltung (einschliesslich Gesinde) aus durch- schnittlich etwa 6 Personen bestanden haben.

Nichts an den TeilzifTern dieses Durchschnitts ist verwunder- lich. Die Gesindeziffer ist äusserst mässig, wie spätere Bemerk- ungen über die unstäte Bevölkerung beweisen werden ; die Kinder- ziffer normal; die Frauenziffer erklärt sich aus dem Verbleiben unverheirateter Frauen in verwandten Häusern , wie es bei der ganz andern Familienanschauung des Mittelalters ') selbstverständ- lich war. Die Durchschnittsziffer der gesamten Haushaltung end- lich stellt sich ungezwungen zwischen die analogen Ziffern der ländlichen und der jüdischen Bevölkerung: für die besonders hohe Personenzahl in den Haushaltungen der letzteren hat Bücher die Gründe treffend entwickelt, und die niedrigere Ziffer der länd- lichen Haushaltung erklärt sich durch Abzug eines Teils der weiblichen Bevölkerung in die Stadt und durch die geringere Ausdehnung des Gesindes.

j. Die soziale Gliederung des städtischen Körpers. Den Unter- suchungen und Zusammenstellungen dieses Abschnittes schicke ich einige allgemeine Bemerkungen über Berufsverteilung und sozialen Abschluss im Mittelalter voraus. Man ist gewöhnt , die mittel- alterlichen sozialen Schichten kastenartig abgeschlossen vorzu- stellen. Es ist das eine in der rechtgeschichtlichen Forschung gross gewordene Anschauung. Sie besteht in dieser Disziplin nicht ohne Grund. Denn ist im Mittelalter ein Stand erst soweit zum sozialen Kraftgefühl entwickelt , dass er , anfangs fast stets auf genossenschaftlichem Wege, politische Bedeutung erlangt, so erhält er auch sein besonderes Recht , und er wird geschlossen, sobald dieses Recht auf grund voll durchmessener sozialer He- bung genügend allseitig entwickelt ist. Ein hervorragendes Bei-

1) S. dazu u. a. die Bezeichnung von Personen nach der Verwandtschaft, Bücher S. 75.

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Lam pr echt,

spiel für den Vorgang bietet der Ritterstand. Die Regelmässig- keit dieses Entwicklungsprozesses schliesst indes das Vorhanden- sein einer Fülle von freien Elementen, im günstigen Falle ganzer werdender , noch ungeschlossener Stände keineswegs aus : im Gegenteil, es setzt dasselbe voraus. Wir finden daher im Mittel- alter neben festen Ständen stets ungebundenste soziale Bewegung neben dem Rittertum die bäuerliche Siedlungs- und Kolonial- bcwegung, zumeist in Verbindung mit einer Richtung auf per- sönlich freie Pachtung, neben den Geschlechtern die handwerklich- freie , neben den späteren Zünften die proletarische Bewegung. Nie ist ein allseitiger sozialer Abschluss vorhanden, die sozialen Linien verfliessen vielmehr unaufhörlich ineinander,- fast nicht min- der wie heutzutage, und die wissenschaftliche Tradition von der eintönigen Vererbung der Berufe durch Generationen hindurch ist zum guten Teile ein Märchen. Auch im Frankfurter Leben des 14. und 15. Jhs. ist von einer kastenartigen Abgeschlossenheit der Berufe keine Rede. Nur da, wo im Gewerbe des Vaters an- sehnliches Kapital in eigenartigen Formen festgelegt ist, folgt der Sohn, wie noch heutzutage, regelmässig dem Vater, also im mit- telalterlichen Frankfurt im Metzger-, Bäcker-, Wollenweber-, Schiff- mannsberufe. Im übrigen treten Kinder von Zünftigen frei zur Gemeinde (S. 118), gehen Söhne von Gewerbtreibenden in eine andere Zunft, als die ihrer Väter (S. 147, 236). Charakteristisch für diese Wahlfreiheit des Berufes ist die ausserordentliche An- zahl der Doppelberufe bzw. Nebenberufe für eine Person (S. 231 f., 271, 294). Namentlich ist es die kleine Landwirtschaft, welche neben Metzgerei, Schmiede, Backerei, aber auch Schusterei, Schnei- derei, Weberei u. a. m. betrieben wird, ferner der kleine Kram neben Bäckerei , Beutlerei , Riemenschneiderei , Seidenstickerei u. a. m. Endlich aber werden auch gern Berufe , welche sich erst aus der Hauswirtschaft losringen, als Nebenberufe oder im Doppelbcruf betrieben, z. B. Seifensiederei, Kerzenguss, Bier- brauerei. Zur 1 läufigkeit gerade der Doppel- und Nebenberufe trägt ausserdem eine weitere Erscheinung bei , welche in ihrer grösseren Ausdehnung erst noch genauer zu verfolgen wäre, die Thatsache nämlich, dass infolge des geringeren Druckes im wirt- schaftlichen Wettbewerb die Virtuosität des Berufes und damit das einseitige Aufgehen in denselben geringer zu sein brauchte, als heutzutage. Diese Erscheinung macht freilich die Anwendung mehrerer sozialstatistischen Kategorieen auf die Bevölkerung der

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mittelalterlichen Stadt fast noch schwieriger, als das Vorhanden- sein von Doppelberufen : denn sie gestattet, ja bedingt nicht sel- ten die allseitigste Beschäftigung einzelner Personen , ja Stände. Mit Recht wirft Bücher S. 294 von diesem Gesichtspunkte aus die Frage auf, ob die Geschlechter denn eigentlich mehr Land- wirte, Grosshändler oder Rentner gewesen seien?

Es würde, glaube ich, dem Unternehmen B.’s zu statten ge- kommen sein, hätte er Folgerungen aus diesem Gesichtspunkte recht allseitig gezogen. Da er indes das Netz des heutigen be- rufsstatistischen Schemas über die mittelalterlichen Erscheinungen wirft, so bleibt zur Veranschaulichung seiner Hauptergebnisse nichts übrig, als ihm hierin zu folgen.

Verteilung der Berufe auf die selbständig erwer- benden Bürger Frankfurts 1440 ').

Hauptberuf

I

Zahl der fest- zustellenden Personen

2

Berechnung auf die Gesamtzahl der Bürger

3

Auf je 100 der Pos. 3 kommen

4

/. Gewerbe im engem Sinne . . . . j

992

tojo

S -Sj

2. Urproduktion '

181

JJO

rSj

a. Reine Landwirtschaft . . . . |

f

130

7-4

b. Gärtnerei, Weinbergsarbeit . . |

17

85

4-7

c Fischerei

78

80

4-4

d. Verschiedene

26

35

2.0

j. Handel, Verkehr, Gastwirtschaft

186

230

12.8

a. Kleinhandel

63

70

3-9

b. Grosshandel

?

•5

0.8

c. Gast Wirtschaft

7

«5

1 0.8

d. Transport und Verkehrswesen

27

1.7

e. Halbbcamte des Handels und Ver-

kehrs

89

IOO

5.6

4 . OefTtntliche Bedienstete

49

ÖO

jj

J. Lohnarbeit unbestimmter Art

ÖO

jj

6. Liberale Berufsarten

*9

JO

t-7

7. Ohne Beruf (Rentner , Bresthafte

u. s, w.)

jo

‘■7

S. Beckarten und Musikanten . . .

9

IO

0.6

Zusammen

>498

1800

100

l) Nach Bücher S. 295 Note. Zu

Grunde liegt (Kol. 2) die Ziffer der für das

J. 1440 t tatsächlich fest /ust eil enden 1498 Erwerbenden, vgl. dazu S. 214. In Kol. 3 ist darnach die Berechnung auf die vermutliche Gesamtzahl der Bürger (1800, s. Bü- cher S. 193) durchgeführt.

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joo

La mprecht.

Vergleicht man die Daten dieser Tabelle mit den von B. S. 147 f. begründeten Hauptziffern der Zählung von 1387, so er- geben sich etwa folgende Gegensätze. Es nahmen innerhalb der erwachsenen bürgerlichen Bevölkerung ein :

Beruf :

1387

1400

I.

Gewerbe im engern Sinn

50— 6o®/o

58%

2,

Gewerbe einschl. Gärtner und P'ischer

60 65°/«

67 */•

3-

Kleine Urproduktion, Kleinverkehr, per-

sönl. Dienstleistungen

12 IS°/o

31 '/•

4-

Landw. Vollbetrieb und Grosshandel

25 ®/o

1 1 */•

Freilich ist zur Würdigung dieser Tabelle zu bedenken, dass wir aus dem J. 1387 als Grundlage der Ermittelungen nur 1554 selbständige Gewerbtreibende, 215 Söhne und 16 Knechte = 61.4% der Gesamtzahl von 2904 über 12jährigen Personen kennen (S. 60. 146), während wir für das J. 1440 Kenntnis von 1498 Gewerb- treibenden mit 79 Söhnen und 38 Knechten = 76.5 °/o der über 14jährigen Bevölkerung besitzen (S. 214). Ferner ist zu beachten, dass die Prozentsätze nur äusserst annähernde sind, so dass die kleinen Unterschiede unter Nr. I und 2 nichts besagen können, und die Differenzen unter 3 und 4 nicht einen bestimmten Grad sondern nur die Thatsache eines Rückganges der landwirtschaft- lichen Vollbetriebe überhaupt anzudeuten im stände sind. Diese Thatsache lässt sich aber auch anderweit, und dazu viel sicherer feststellen.

Von grösserer Wichtigkeit scheint mir die Vergleichung einiger weiterer Einzelergebnisse der Zählung von 1387 und 1440, bzw. die Vergleichung dieser Ergebnisse mit heute bestehenden sozialen Thatsachen.

Vor allem die Erscheinung, dass 1387 148, 1440 sogar 191 verschiedene Berufsarten in Frankfurt vertreten waren. Dabei kehren im J. 1440 38 Berufsbezeichnungen nicht wieder, welche 1387 genannt werden; cs entschädigt aber die Zählung vomj. 1440 durch 81 neue Berufe: so dass aus 1387 und 1440 im ganzen 229 verschiedene Berufsarten bekannt sind (S. 227). Von ihnen sind industrieller Art 1387: 114 (S. 122), 1440: 170 (S. 228). Natürlich setzt eine solche Hülle der Berufsarten eine ganz andere Art der Arbeitsteilung voraus, als die moderne. In welcher Richtung, das zeigt schon die Thatsache, dass sich in der Landwirtschaft u. a. die Spezialberufc des heckers, wingarters, dreschers, worflers, stroheckers finden (S. 229 Note). Noch viel be-

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zeichnender ist das folgende Verzeichnis der Spezialberufe, welche sich nach B. S. 92 um 1387 im Schmiedehandwerk zusammen- fanden : 3 smide, 2 hufsmide, 2 nelesmide, I neller (Nadler), 2 messersmide, I messerbereider, 1 sehe- rensmid, 2 kammensmide (für Weberkämme), 5 swert- feger, 2 s 1 i f f e r, 4 sporer, 1 hubensmid (Helmschmied) 2 sarwerte, I plctner, I beinge wender, 1 spenge- ler, 4 kesseler, I koppersmid, 5 kannengiesser, 1 doppengiesser, 1 glockingiesser, 1 uwir- g 1 o c k e r (Grossuhrmacher) , 8 hults chawer (Verfertiger

eisenbeschlagener Holzschuhe), 2 plueger (Pflugmacher): 24 Sonderberufe also unter 54 Genossen !

Trefflich ist, was Bücher S. 229 zur Erklärung solcher Ar- beitsteilung bemerkt. Die moderne Arbeitsteilung ist wesentlich Arbeitszerlegung: sie läuft in der Regel darauf hinaus, dass die Zahl der Stände, welche an der Fertigstellung des gleichen Pro- duktes arbeiten, vermehrt wird. Sie bedingt also eine zunehmende Vergrösserung der einzelnen Betriebe. Die mittelalterliche Ar- beitsteilung dagegen ist Spezialisierung der Berufsteilung; sie beruht darauf, dass aus einem umfangreicheren Produktionsgebiete ein- zelne Teile ausgeschieden worden, um neue Berufsarten zu bilden. Zur Ausbildung gelangt nur die Arbeitsteilung, nicht aber die Arbeitsvereinigung : die Industrien sind noch zu jung, um aus dem Zeitraum der Spezialisierung zu der weiteren Stufe der Reinte- gration fortzuschreiten. Nur die Weberei, dieses nahezu älteste und am meisten von verschiedenen Maschinen abhängige aller fachlich betriebenen Gewerbe, erscheint schon zu einer wirklichen Arbeitsgliederung gelangt.

Der Zustand beruflicher, insbesondere gewerblicher Speziali- sierung war natürlich von den wohlthätigsten sozialen Folgen : es ergab sich eine ausserordentliche Zahl selbständiger Erwer- bender. Speziell im Frankfurter Handwerk kamen im J. 1387 auf 1000 über zwölfjährige männliche Personen 343 selbständige Ge- schäftsleiter gegen nur 80 in den entsprechenden Handwerken des modernen Frankfurts (S. 150). Und selbst dann, wenn man die modernen, im Mittelalter noch nicht bestehenden Industriezweige (s. S. 152) in Betracht zieht, stehen nach B. (S. 153) innerhalb der gesamten über zwölfjährigen Bevölkerung noch immer die mittel- alterlichen Ziffern der gewerblichen Geschäftsleiter bezw. gewerb-

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La mpr echt ,

lieh beschäftigten Personen mit 34.3, bezw. 51.4 #/o gegen 9. bezw. 44.2 °/o der Neuzeit. Freilich ist dabei zu bedenken, dass die frühe Mündigkeit im Mittelalter (in Frankfurt mit dem i> Jahre, S. 185) vielfach auch solchen Altersklassen die Selbständig keit ermöglichte, welche heute infolge höherer technischer An forderungen an die gewerbliche Gesamtleistung noch zu den Lernenden gehören.

Die zuletzt angeführten Daten beweisen im allgemeinen dir Thatsache, dass die gewerblichen Klassen innerhalb der Bevöl- kerung überwogen. Einen ziffermässigen Ausdruck gewinnt dies Uebergewicht schon in den Daten der S. 499 gegebenen Tabelle far das J. 1440; da erscheinen die Gewerbe im engeren Sinne mit

58.3 °/o der ihrer Berufstätigkeit nach festzustellenden Personen. Und im J. 1387 sind auf 1000 männliche Personen im Gewerbe beschäftigt 514, gegen nur 367 im J. 1875. Dabei sind mit Aus- nahme der Daten in der Beleuchtungsindustrie und dem Bauge werk alle mittelalterlichen Verhältniszahlen der Einzelgevrerbe höher als die modernen. Freilich muss man sich für die ganze Frage nach der Ausdehnung der gewerblichen Thätigkeit, »oh. mehr, als B. es gethan hat , vergegenwärtigen, dass ein grosse: Teil der mittelalterlichen Gewerbtreibenden Doppelberufen angc hörte, eine noch viel grössere Anzahl aber nur mit einem Fuss im Gewerbe, mit dem andern dagegen in der Landwirschaft stam-

Eben dieser letztere Umstand erklärt die verhaltnismisv. überraschend geringe eigenständige Vertretung der Urproduktion mit im J. 1387 25 °/o, im J. 1440 gar nur 11, bezw. 18.3 */• selbständigen männlichen Erwerbspersonen. Ein angeblich s wenig verbreiteter Betrieb der Landwirtschaft steht in Wide Spruch mit dem Räume , welchen die Regelung der Urprodw tionen in der städtischen Gesetzgebung einnimmt; die nebenhe: laufende landwirtschaftliche Beschäftigung zahlreicher kleiner G< werbetreibenden gelangt in diesen Ziffern mithin schwerlich n- vollem Ausdruck.

Auch sonst möchte ich den von B. aufgestellten Verhältnis zahlen für die Verteilung der Berufe auf die selbständig crM' benden Bürger eine grössere Bedeutung im einzelnen nicht vr messen. Man hat immer zu bedenken, dass sich für 138" »“r

61.4 °/o und auch für 1440 nur 76,5 % aller selbständig erwerben den Bürger berufsstatistisch charakterisieren liessen, so dass die Thatsache sehr weiter Fehlergrenzen von vornherein zugegd*3

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Zur Sozialstatistik dtr deutschen Stadt im Mittelalter. 503

werden muss. Denn wer leistet dafür Gewähr, dass die über- haupt beruflich gekennzeichneten Personen gerade in richtigem zahlenmässigen Verhältnis zur Ausdehnung ihres Berufes ver- merkt sind? Ist z. B. anzunehmen, dass die Pos. 7 der Tabelle S. 499 »Ohne Beruf (Rentner, Bresthafte u. s. w.)« pro rata der übrigen Positionen vertreten sein wird ? Sollte nicht vielmehr unter den 38.6 °/o bzw. 23.5 °/o der 1387 bzwr. 1440 gar nicht oder nicht genügend bezeichneten Personen eine verhältnismässig grosse Anzahl solcher stecken, die, eben weil »ohne Beruf«, überhaupt nicht oder nicht leicht zu charakterisieren waren ? Wir werden mithin diesen allgemeinen Angaben nichts weiter entnehmen kön- nen, als etwa die Thatsache, dass die gewerbliche Bevölkerung schon im 14., noch mehr im 15. Jh. nach Zahl und Interessen überwog, dass die Urproduktion noch ausserordentlich stark ver- treten war, dass die distributiven Berufe sehr zurücktraten, dass endlich die freien Berufsarten numerisch noch eine geringe Rolle spielten (vgl. über sie B. S. 222, 223, doch dazu S. 209!). Genauere Einblicke aber kann nur eine gesonderte Betrachtung der einzelnen Berufsarten verschaffen ; und hier wäre für B.’s Werk wohl zu wünschen gewesen, dass die soziale Schilderung die statistische Bearbeitung in noch reicherem Masse ergänzt hätte, als dies der Fall ist. Unsere Aufgabe hier kann freilich nur sein, für jeden Stand einige bezeichnende I taten des Bücher- sehen Werkes prüfend anzuführen. Wir machen uns dabei den Weg zur Untersuchung des eigentlichen Bevölkerungskerns, vor- nehmlich der Bürgerschaft frei, indem wir kurz die Betrachtung zweier, ihrer Natur nach ausserbürgerlicher Elemente vorher er- ledigen, die Geistlichkeit und die Juden.

Die Geistlichkeit war in Frankfurt in keiner ihrer Ge- nossenschaften bürgerfeindlich , wie sonst häufig in grösseren Städten ; selbst die vornehmen drei Stifter der Stadt enthielten neben Angehörigen der Geschlechter und des um Frankfurt woh- nenden Adels bürgerliche und bäuerlich-vorstädtische Elemente in starker Mischung. Durchaus überwogen die ersteren Bestand- teile, unter Vorzug Einheimischer, in den Klöstern mit männlichen Insassen; die Frauenklöster mit ihren 40 50 Insassinnen dagegen w'aren, wie auch anderswo, hauptsächlich Versorgungsanstalten für die ledig bleibenden Töchter der begüterten Klassen, zunächst der Geschlechter. Im ganzen wird man die geistlichen Leute auf höchstens 300, einschliesslich ihres Gesindes auf höchstens 500

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Lam precht.

Köpfe, gleich 3.1 bzw. 5.2 °/o der von Bücher berechneten Be- völkerung des Jahres 1387 schätzen können. Von ihnen können höchstens 50 geistliche Personen, nemlich die Angehörigen der 3 Ritterorden und die Meister der Höfe fremder Klöster in der Stadt, als Bestandteile gelten, welche den bürgerlichen Interessen nicht unmittelbar untergeordnet waren.

Die soziale Stellung der Juden, vor allem das Schwanken ihrer Personenzahl, ist nicht verständlich ohne die Grundzüge ihrer Geschichte. Judenverfolgungen hat die Stadt Frankfurt dreimal gesehen, in den Jahren 1241, 1349, 1614; jedesmal wohl, sicherlich die beiden letzten Male waren sie im wesentlichen durch die Aus- wucherung der christlichen Bevölkerung bedingt.

Vor 1241 betrug die Zahl der Juden über 2C>oPersonen; von ihrer sozialen Stellung in dieser Frühzeit kann ein zuverlässiges Bild nicht entworfen werden. Doch entspricht die Ansicht B.'s, die Juden seien schon in der deutschen Kaiserzeit allgemein und ausschliess- lich Trödler, Wucherer und Bankiers gewesen , schwerlich einer Fülle bekannter Thatsachen, vgl. Bresslau, Konrad II., Bd. 2, 390; Hoeniger in Z. f. d. Gesch. der Juden in Deutschland Bd. 1, 83 S, Lamprecht, Deutsches Wirtschaftsleben Bd. I, 849, 1446 ff. Es scheint vielmehr, dass wir sie uns je früher, je mehr auch im Warenhandel beschäftigt denken müssen.

Nach der Vertreibung des Jahres 1241 finden sich in Frankfurt Juden wiederum seit 1281, und es scheint, dass sie nunmehr auf zwei Generationen immer zuversichtlicher die Ruhe ungestörten Geschäftsbetriebes genossen. Wohl schon in diese Zeit geht ihre hohe Schule in P'rankfurt zurück (S. 531); auch werden sie bis 1349 zu voller Bürgerschaft aufgenommen, ganz in anderer Bürger Weise. Sie standen demgemäss im Genuss aller gemeinen bür- gerlichen Rechte, konnten Grundbesitz erwerben u. a. m. Ueber ihre Zahl in dieser Zeit ist wenig sicheres bekannt, da die ge- naueren — dann freilich ausserordentlich eingehenden Akten über sie erst etwa mit 1360 einsetzen. Doch nimmt B. S. 539 mit Recht um 1346 wohl mindestens 30 Haushaltungen mit etwa 200 Köpfen an. Von ihnen mussten aber schon im Jahre 1346 40 fliehen, 1349 kam es dann zur gänzlichen Vertreibung der Gemeinde.

In der Periode von 1349 bis zur letzten Vertreibung im J. 1614 erscheinen als einschneidende Ereignisse die seit 1412 eindringende Erhöhung der städtischen Steueransätze im Verein mit ausser-

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7,ur Sozialstatistik der deutschen Stadt im Mittelalter. 505

ordentlichen Geldanforderungen des Kaisers, und die Einführung des Ghettozwanges unter Aufbau der bekannten Frankfurter Juden- gasse seit 1462. Der Umschwung von 1412 war den Juden natür- lich ungünstig: hatten sich die seit 1360 wieder nachweisbaren 8 Familien (S. 535) bis zu diesem Datum wiederum auf durch- schnittlich 16.7 Steuerhaushaltungen vermehrt, so betrug von 1412 bis 1461 der Durchschnitt nur 9 Haushaltungen. Der Ghettozwang von 1462 dagegen wirkte auf den Personenstand günstig ein, hauptsächlich wohl wegen der durch die Absperrung vermehrten Sicherheit und wegen der in der Judengasse dicht nebeneinander gebotenen rituellen Bequemlichkeiten, Synagoge , Bad u. s. w., auch wohl wegen des sehr niedrigen Hauszinses : denn die Stadt machte mit dem Bau der Judengasse ein finanziell schlechtes Geschäft. Fügt man hinzu, dass um die gleiche Zeit etwa die Juden anderwärts neuer Unterdrückung anheimfielen, so begreift sich der Zuwachs der Gemeinde in der Folgezeit; von 17 Haus- haltungen ( = 131 Köpfen) in 1473 wuchs sie auf 43 Haushaltungen (ca. 220 Köpfe) in 1543, 453 Haushaltungen (ca. 2400 Köpfe) in 1613. Die Stellung der Gemeinde war damit schon im Aus- gang des Mittelalters wirkungsvoll genug und ward noch erhöht durch die Verlegung der grossen Synagoge von Nürnberg nach Frankfurt (1498); indes scheint mir B. S. 592 ihre Bedeutung dort etwas zu überschätzen. Freilich der Grund für einen künftigen Aufschwung war gelegt. Es betrug trotz der Ereignisse von 1614 die Zahl der Frankfurter Juden 1705 schon wieder 2364, 1817: 4309, 1864: 7620, 1880 machten sie mit 13856 Seelen in 2794 Haushaltungen etwa io°/o der städtischen Gesamtbevölke- rung aus.

Der Aufschwung des 17. Jhs. rührt wohl nicht zum geringsten mit daher, dass sich die Juden seit dieser Zeit ausser dem bislang betrie- benen Wucher ’) einer Reihe von Handelsgeschäften zuzuwenden begannen, welche dem Trödelgeschäfte in ihrem Betriebe ähneln oder sich mit dem Geldleihgeschäft bequem verbinden lassen, so der Handel mit Schnittwaren, Kleidern, Viktualicn, Häuten und Federn, Frucht, Wein, Pferden u. a. m., s. B. S. 588. Mit diesem wirtschaftlichen Umschwung vollzog sich zugleich ein erster

l) B. kennt aus dem späteren Mittelalter nur einen jüdischen Handwerker, es ist der Juden Jursenger der rwarzferber : ihm war als Kultusperson der Wucher ver- boten.

Archiv für soz. Gcsetzgbg. u. Statistik. III. u. IV.

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La m p r echt ,

Wechsel in der sozialen Würdigung : die Juden waren nun tuet: mehr ausschliesslich die verhassten Auswucherer der christlichen Gesellschaft.

Dass sie aber im 14. und 15. Jh. nur als solche angesehen und dementsprechend behandelt wurden, unterliegt keinem Zweitel. Schon die eine Thatsache beweist es unwiderleglich, dass sie sc« 1349 nicht mehr die Bürgerschaft erhielten (sie waren auch nicht Bürger auf Zeit, wie B. will), sondern nur die sog. Städtigkc d. h. eine vertragsmässig verschriebene und meist auf 3 Jahre be- grenzte Aufenthaltserlaubnis. Die Bedingungen dieser anfar,- von Fall zu Fall erteilten und ihrem Inhalte nach wechselnder Erlaubnis wurden zwar seit dem 15 Jh. allgemeiner gefasst und wiederholt kodifiziert (erste sog. Städtigkeit von 1424), doch ver loren sie nie den Charakter einer besonderen Konzession ausser halb des gemeinen Bürgerrechtes.

Ueber die Art des Judenberufes selbst handelt B. S. 572 ff at der Hand vornehmlich derjenigen städtischen Akten, welche sich« den Judenschuldenerlass K. Wenzels vom J. 1390 anschliessen. Es erhellt aus ihnen, abgesehen von manchen ergötzlichen Kinn heiten, dass der jüdische Wucher, soweit er in diesen Akten nur Nachweis gelangt, sich auf 51.8 °/0 Pfandschulden und 48.2 *, Briefschulden bezog (S. 581). B. zieht aus dieser Verteilung. * aus einer Fülle weiterer persönlicher Nachrichten den Schic- dass der kleine Jude in dieser Zeit im wesentlichen mit d<o Leihgeschäft auf Faustpfänder begann, um später zu Briefdarlehct und Immobiliarkredit überzugehen. So richtig diese Vermutut sein mag, so sehr bleibt doch zu erwägen, dass die von B be- nutzten Akten immerhin nur einen ausschnittweisen Einblick in & jüdische Geschäftsgebahrung des 14. und 15. Jhs. gewähren könne« sie behandeln nur diejenigen Geschäfte, welche in irgend eine Weise durch den Judenschuldenerlass des J. 1390 getroffen »e; den und durch die Auffassung, welche sich der Frankfurter R«: über den Inhalt dieses Erlasses zu eigen machte. Die grosse« internationalen und interterritorialen Geldgeschäfte der Juden di gegen gelangen in dem Inhalt der Frankfurter Akten nicht ge- nügend zur Geltung, ja werden kaum erwähnt. Es bedarf abe doch gewiss der Betonung, dass die Juden des 14. Jhs. nicht bloss den kleinen Adel und das Bürgertum ausgewuchert habe« soweit sie dessen habhaft werden konnten, sondern dass sie aud- die Finanziers der Territorialfürsten waren, in deren Dienst fc

Zur Sozialstaiistik drr deutschen Stadt im Mittelalter. 50?

grossen jüdischen Bankkonsortien gar sehr, wenn auch mit ver- werflichen Mitteln und ohne freigewolltes Verdienst, zur Befestigung der deutschen Fürstenmacht des ausgehenden Mittelalters bei- trugen. Vgl. Lamprecht, Deutsches Wirtschaftsleben I, S. 1446 ff., bes. 1468 f.

Gehen wir nunmehr zur Sozialstatistik der eigentlichen Bürger- schaft über, so ist zu bedauern, dass die landwirtschaft- lichen Berufe aus schon früher berührten Gründen zahlen- mässig nur wenig sicher zu charakterisieren sind. Ein allgemeiner Eindruck abervon der sozialen Bedeutung der Landwirtschaft über- haupt lässt sich allerdings gewinnen. Daten in dieser Hinsicht liefert zunächst die berufliche Thätigkeit einzelner Bürger. Wir finden z. B. in der Stadt 1387 4 Hirten, 6 Schützen, I Krebser, 3 Vogel- steller, 18 Wagner. Wir sehen ferner im Oktober 1440, zur Zeit der Bürgervereidigung, mehr als ein Sechstel der Bürgerschaft abwesend, vermutlich wegen der Weinlese (Bücher S. 376, vgl. Lamprecht, Wirtschaftsleben, Bd. II, S. 523). Nichts aber ge- währt einen besseren Einblick in die soziale Stellung der Urpro- duktionen, als der Vorgang der allmählichen Rodung und Parzel- lierung des Frankfurter Reichswaldes. In den J. 1374 1380 vergibt die Stadt hier 576’/« Morgen in Parzellen (S. 26b); 1389 1409 ferner 328 Vj Morgen an 147 Personen in 242 Parzellen (genaueres bei B. S. 268-271); von 1409— 1521 endlich werden weitere 343 Morgen gerodet (S. 273). Schon um 1400 sind durch diese Urbarungen vermutlich gegen 500 600 Familien, also ’/« '/s aller vorhan- denen Haushaltungen, mit Land versorgt (S. 275). Die aus diesen Daten gewonnene Anschauung weithin verbreiteten landwirtschaft- lichen Betriebes kann fernerhin durch die Thatsache gesichert und verstärkt werden, dass noch im 15. Jh. für die Herden der Stadt 8 Farren gehalten wurden (S. 281), und dass bei gutem Wetter ca. 11 1200 Mastschweine in den Wald gingen (S. 284). Grade von den Ziffern aus über Schweineaustrieb wie Viehhaltung über- haupt lässt sich auch zu einer Vorstellung von der Gliederung der landwirtschaftlichen Betriebe gelangen. Aus dem J.1481 hören wir, dass die Schweinezucht für die Altstadt verboten wurde ; wir müssen uns mithin die intensivsten Gewerbe seit dieser Zeit als frei werdend vom Anhänge eines ländlichen Betriebes vorstellen. Für die Gliederung derjenigen Betriebe dagegen, bei welchen Ur- produktion wesentliche Existenzgrundlage war, geben die Nach- richten über Pferdehaltung (Bücher S. 289) einigen Anhalt, wenn

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auch zu bedenken bleibt, dass von gar manchem Betriebe Geben als Spannvieh verwendet sein werden (vgl. Lamprecht, Wirtschafts- leben Bd. 1, 53'i). Doch ergibt sich aus dieser Thatsache ge- genüber den Angaben über Pferdehaltung insofern kein neue- Bedenken, als diese schon an sich zweifellos unvollständig sind Nehmen wir sie jedoch als für alle Betriebsgrössen gleich unvoll- ständig an in Wirklichkeit zeigen sie wohl einen verhältnis- mässig stärkeren Ausfall für die kleinen Wirtschaften , so wurden sich für die Zeit des 15. Jhs. unter den spannfähigen Wirtschaften ergeben : 38 °/o einspännige, 45 °/o 2- und 3spännige, 17 */• 4-t- spännige.

Man sieht, zu einer wirklichen statistischen Kenntnis der land- wirtschaftlichen Erwerbsarten reichen die ziffernmässigen Angaben nicht hin ; bei der bedeutsamen Stellung der Urproduktionen is das doppelt zu bedauern. Aber auch die richtige soziale War digung der landwirtschaftlichen Berufe innerhalb des gesamten Erwerbslebens der Stadt ist ungemein schwierig. B. kommt auf diesen Punkt meines Erinnerns nie eingehend zu sprechen; da* Material, welches er vereinzelt S. 82, 115, 735 f. zur Frage bietet stelle ich in der folgenden Tabelle zusammen.

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2) Mit Beutlern und Weissgerbern zusammen 12.

3) Nur in Sachsenhausen.

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’/.ur Sozialstatistik der deutschen Stadt im Mittelalter. 509

Sehen wir von den Geschlechtern ab, so ersieht man aus dieser Tabelle ohne weiteres, dass die Urproduktionen, wenn sie überhaupt eine soziale und folgerecht eine politische Stellung ein- nehmen wollten, sich der ziinftlerischen Organisation , also einer neueren, gewerblichen, ihnen zunächst gegensätzlichen Form be- dienen mussten. Und glücklich, wenn sie es überhaupt zur Zunft und gar zur politisch bedeutsamen Zunft (d. h. auf frankfurtisch zum »Handwerk«) brachten! In Frankfurt ist es nur den Gärt- nern und Fischern gelungen; die Weingärtner, an sich zahlreich genug, haben das nie, wie doch die Rebleute in vielen süddeut- schen Städten, erreicht (B. S. 260). Die beiden landwirtschaft- lichen Zünfte aber, welche in Frankfurt politisch berechtigt sind, erscheinen doch wiederum mit Rücksicht auf ihre Meisterzahl und wohl auch mit Rücksicht auf ihre militärische Kraft und ihre Wohlhabenheit keineswegs nach demselben Masse, wie die ge- werblichen Zünfte , mit Rechten und Ehren ausgestattet. Die in der Tabelle kursiv gedruckten Ziffern zeigen vielmehr im Ver- gleich mit den andern Angaben jeweils gleicher Kolumnen, dass die landwirtschaftliche Beschäftigung schon als sozial und also auch politisch weniger vorteilhaft angesehen wurde , als der ge- werbliche Beruf. Es ist das eine Thatsache , der man bei aller Ausdehnung der Urproduktionen in den mittelalterlichen Städten, wie sie ja B.’s Buch wiederum besonders betont, doch stets Rech- nung zu tragen hat.

Gewerbliche Berufe. Zur Erkenntnis der gewerblichen Berufsgliederung bedarf es einer Verständigung über Charakter und Entwicklung der Zünfte in Frankfurt. Es handelt sich dabei nicht so sehr um die äussere Zunftgeschichte, wie um das Wesen der sog. Handwerke, d. h. der bevorrechteten politischen Zünfte.

Nimmt man , wie es für Frankfurt richtig sein wird , eine wenigstens in ihren spätem Stadien freie Zunftbildung innerhalb der Stadt an, so begreift sich, dass das ganze gewerbliche Leben der Gemeinde, soweit es zahlreicher ausgeübte Gewerbe umfasste, der Zunftorganisation nahe trat. Es entstand eine Fülle freier Zünfte ohne weitere als passive (jedenfalls nicht bevorrechtende) amtliche Anerkennung, und da der nicht gewerbtreibende 'Feil der Gemeinde sich in Stuben traf, der vierte Stand aber sich in früherer Zeit und noch bis zur Wende des 14. und 15. Jhs. gleich den Urproduzenten ebenfalls ziinftlerisch organisierte, so war kaum irgend ein Bürger ohne genossenschaftliche Bindung. Es war

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Lampr cc ht.

der Zustand einer ebenmässig in freien Genossenschaften lebenden Gemeinde. 1 temgegenüber hatten sich aber die hervorragendsten der industriellen Genossenschaften offenbar friih zu gewerblichen Verwaltungsorganen der Stadt ausgebildet, und zwar vermutlich anfangs unter dem alleinigen Vorrecht des Zunftzwangs für ihr bezügliches Gewerbe. Sie waren also halbamtliche Organe ge- worden und werden als solche in einer Kodifikation des Zunft- rechts um die Mitte des 14. Jhs. ausdrücklich anerkannt. Von dieser Grundlage aus erwuchsen indes sofort auch politische Ansprüche: die Hauptzünfte, auszeichnend Handwerke genannt, wurden zu VVahlkadres für den Rat. Es ist eine Entwicklung, wie sie ähnlich in den Basler Zünften, am deutlichsten wohl in den Gaffeln des Kölner Verbundbriefes von 1396 zur Geltung ge- langt. Indem sich nun aber die Handwerke zu vornehmlich po- litischen (und militärischen) Gliederungen ausgestalteten, trat ihre ursprünglich rein gewerbliche Bedeutung immer mehr in zweite Linie ; die alte Zunft, die Gewerksgenossenschaft, bildete nur noch den Kern des Handwerks, neben ihr finden sich in demselben jetzt auch Angehörige anderer gewerblicher Berufe , ja einzelne überhaupt nicht gewerbtreibende Leute.

Es gibt mithin um die Zeit des ersten Burgerverzeichnisse? (1387) in Frankfurt: 1) offizielle politische Zünfte, Handwerke ge- nannt, mit dem Kerne einer gewerbtreibenden Zunft , aber auch ausserzünftigen Mitgliedern, 2) nicht offizielle Zünfte mit inzwischen noch gewonnenem einfachem gewerblichem Zunftzwang , 3), da die Verleihung und Aufrechterhaltung des Zunftzwangs seitens des Stadtregiments gar bald als ein Mittel zur politischen Stär- kung der Handwerker gescheut ward, auch ausserzünftige selb- ständige Gewerbetreibende . und zwar a) gleicher Beschäftigung wie die Handwerke, b) gleicher Beschäftigung wie die Zünfte, c) einem bisher weder in den Handwerken, noch in den Zünften vertretenen Berufe angehörend. Bücher weist zum J. 1387 von der Kategorie 2 S. 124 55 Personen nach, darunter 18 Wagner, 10 Scherer, 6 Maler; in gleicherweise werden von ihm namhaft gemacht: zur Kategorie 3a 89 Personen (S. 122); zur Kategorie 3c : a) 65 solche Personen , deren Beruf späterhin noch zünftig wurde, darunter 8 Krämer, 7 Pfeifer und I Trommler, 4 Gold- schmiede (S. 1281; fi) solche Personen, deren Beruf auch spater nie zünftig wurde: die liberalen Berufsarten, die landwirtschaft- lichen Erwerbsarten, der Kleinhandel, vom eigentlichen Gewerbe

Zur Sozialstatistik der deutschen Stadt im Mittelalter. 5 II

die ßankmacher, Blasbalgmacher, Goldschläger , Kerzenmacher, Handschuhmacher, die kleinen Baugewerbe u. a. m. (S. 129). Im ganzen umfassten die Kategorieen 2 und 3 im J. X3B7 ein volles Viertel aller nachweisbaren Gewerbtreibenden (S. 147).

Man sieht, diese Gliederung ist keineswegs so einfach, wie man es nach den landläufigen Vorstellungen über Gleichmässig- keit der zünftlerischen Organisation u. dgl. im Mittelalter von vorn- herein glauben mochte. Es ist ein reiches Leben, das man nicht allseitig kennen lernen kann, wenn man etwa ausschliesslich von den anerkannten Zünften, den »Handwerken«, auszugehen ver- sucht. Es bedarf vielmehr eines durchgehenden Vergleiches und einer prüfenden Ergänzung der über die Handwerke überlieferten Ziffern durch diejenigen Angaben über Beruf u. dgl., welche vor allem das Bürgerverzeichnis von 1387 enthält. Für diese Gesichts- punkte gibt die Tab. VIII bei Bücher S. 103 , ergänzt durch die Tab. auf S. 735 736, noch die befriedigendste Lösung. Ich gebe sie im folgenden (umstehend).

Die Angaben dieser Tabelle würden zur vollen Erklärung einer langen Auseinandersetzung bedürfen. Doch sind sie an sich nicht so unerklärlich, wie B. wohl meint. Für jene Frage z. B. , an welcher B. am meisten Anstoss nimmt , für die That- sache einer ausserordentlich hohen Zahl der Meister im Mittel- alter, muss man sich gegenwärtig halten, was oben zu der über- aus starken Verhältniszahl der selbständig Erwerbenden beige- bracht ist. Eine andere Gruppe von Eigentümlichkeiten, die be- sonders hervorragende Meisterzahl der Bäcker, Metzger, Schuster und Schneider betreffend, erklärt sich aus der zweifellosen That- sache durchgängigen landwirtschaftlichen Nebenbetriebs in diesen Gewerken (s. oben S. 498). Dabei ist es von Interesse , einige Vergleichszilfern zu dieser Gruppe zu wiederholen , welche B. S. 112 beigebracht hat. Es kam im späten Mittelalter je ein Bäcker in Frankfurt auf 29 (bzw. 24), in Basel auf 45 , in Breslau auf 23 Bürger;

je ein Metzger in Frankfurt auf 33 (32), in Basel auf 23 Bürger; je ein Schuster in Frankfurt auf 33 (30), in Konstanz auf 13 , in Breslau auf 32 Bürger;

je ein Schneider in Frankfurt auf 23 (18), in Konstanz auf 12, in Breslau auf 60 Bürger.

Danach zu vermuten wären die Urproduktionen im 14. und 15. Jh,

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512

Lamprecht ,

Zahl der Meister in den Frankfurter Zünften (Hand- werken).

Zünfte

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in Konstanz von noch grösserer, in Basel und Breslau von nicht viel geringerer Bedeutung gewesen, als in Frankfurt.

Andere besonders auffallende Thatsachenreihen der Tabei sind der Rückgang der Zünfte I und 15 infolge von Handels- uttc Betriebsänderungen (namentlich Aufkommen der Baumwolle, >■ B. S. 239 240), ferner das völlige Verschwinden der Zünften. 16, 19, auf deren Gründe wir bald (S. 5 14 F.) werden zu sprechet! kommen.

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Zur Sozialstatistik der deutschen Stadt im Mittelalter. 513

Distributive Berufe. Der Grosshandel ist im mittel- alterlichen Frankfurt nie von Bedeutung gewesen ; B. vermag S. 245 f. bloss von 23 mittelalterlichen Frankfurter Grosshändlern die Namen zu nennen. Was er S. 246 f. über den kaufmänni- schen Betrieb derselben ausführt, zeigt nur einen geringen Ab- klatsch der gleichzeitigen bei weitem grossartigeren Entwicklung der süddeutschen Städte, insbesondere Augsburgs. Von reicherem Interesse dagegen sind die Ausführungen B.'s über den Klein- verkehr. Es zeigt sich da gemäss dem mittelalterlichen gewerb- lichen Arbeitsrecht wie entsprechend der Bedeutung der städti- schen Urproduktion, ein nach unsern Begriffen grosser Ausfall an Händlern mit gewerblichen Produkten die vorhandenen Händ- ler sind dazu noch meist nebenbei kleine Handwerker (S. 131 132, 248 f.) dagegen eine ausserordentliche Uebersetzung des Na- turalienhandels. Eine Liste der Rosstauscher (zw. 1361 1370) ergibt 23 Namen (S. 129) , und um 1440 waren neben gewiss zahlreichen Frauen sogar 18 Männer im Hockenwerk beschäftigt (S. 249). 1387 aber sind auf eine Bevölkerung von c. 10000 See- len unter 1554 selbständigen Gewerbetreibenden t Taubenhändler, 5 Obsthändler und 6 Heuhändler beglaubigt !

Am Schluss dieser systematischen Nachweise zur Bedeutung der landwirtschaftlichen, gewerblichen, distributiven Berufe sei es gestattet, einige Fragen zur Entwicklung dieser Berufe aufzu- werfen. Sie treten bei B. etwas zurück, da seine Untersuchungen durchaus sachgemäss in der Interpretation des ihm vorliegenden, zunächst statistische Durchschnitte bietenden Materiales aufgehen.

Wir gehen dabei von der Thatsache aus , dass die mittel- alterliche Stadt, wenigstens die Stadt Frankfurt, mit ihrer Art der Arbeitsgliederung und öffentlichen Verwaltung um etwa 1400 oder nicht viel später den 1 löhepunkt der Entwicklung erreicht hatte. Das ergibt sich, bedenkt man den spezifisch genossen- schaftlichen Charakter des sozialen und öffentlichen Lebens der mittelalterlichen Stadt, schon aus der Thatsache , dass um eben diese Zeit der genossenschaftliche Habitus des städtischen Ge- samtkörpers zu schwinden beginnt , wie oben S. 490 gezeigt ist. Eine so allgemeine Umwälzung musste natürlich von allseitiger Wirkung sein. Auf sozialem Gebiete sehen wir dieselbe im Zu- rücktreten der landwirtschaftlichen Berufe, in einer überreichen Gliederung der Gewerbe, und im Aufkommen des vierten Standes.

Die Urproduktion , die eigentliche Heimat der deutschen

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Lamprecht,

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wirtschaftlichen Genossenschaft, als Trägerin der Markgemeinde zugleich die Grundlage der städtischen Entwicklung im Sinne eines genossenschaftlichen Gesamtkörpers, musste naturgemass zurücktreten, sobald die Stadtgemeinde den genossenschaftlichen Charakter abzustreifen begann. Noch in der 2. Hälfte des 14. Jhs. waren die Frankfurter Geschlechter Grossbauern gewesen, erst in der 2. Hälfte des 15. Jhs. nahmen sie Anteil am ritterlichen Tur nier, und noch 1546 konnte ihnen ein Pasquill in Erinnerung ver gangener Zeiten vorwerfen, sie seien nicht besser, »als andere Bauern umher«. Aber bereits seit Wende des 14. und 15. Jhs begannen sie sich doch von der Landwirtschaft zurückzuziehen sie wurden vorzugsweise Rentner, wenn sie nicht etwa ihr über schiessendes Kapital in das Geldgeschäft ergossen , worüber An- deutungen bei B. fehlen. Jedenfalls verlor seit dieser Zeit der landwirtschaftliche Beruf ganz die hohe soziale Würdigung von vordem; B. hat Recht, wenn er die Begründung eines besondere Bauernstandes im heutigen Sinne des Wortes dieser Zeit tu- schreibt. Denn auf dem Lande wie in der Stadt kam seitdem der landwirtschaftliche Betrieb immer mehr an kleine Leute; io Frankfurt speziell aber waren dieselben schon nach Verlauf eines Jahrhunderts offenbar eine besondere soziale und politische Mach:, wie das vorwiegend agrarische Programm der städtischen Revo- lution von 1525 darthut.

Das Schwinden der alten Berufswürdigung der Landwirt- schaft musste unmittelbar den Gewerben , d. h. den Zünften, zu gute kommen. Wie sie sich technisch differenzierten, so hoben sie sich sozial, mindestens bis in die 2. Hälfte des 15. Jhs. hinein sind sie in raschem Fortschritt begriffen. Während sie aber ?o eine höhere Stellung erstrebten , begann sich von ihnen her der vierte Stand auszusondern. Noch 1387 finden wir die Opper- knechte (Bauhandlanger), Weinknechte und Sackträger unter den Zünften vertreten , seit dem 16. Jh. fehlen die beiden ersteren gänzlich, wie die Tabelle auf S. 512 lehrt, und die Stellung der letzteren ist wenigstens zuriiekgegangen und zweifelhaft.

Wo sind diese Elemente mittlerweile hingeraten ? Sie haben sich den Kreisen der unstäten oder fluktuierenden Bevölkerung angeschlossen und diesem von B. zu wenig beachteten sozialen Untergrund der städtischen Bevölkerung unter gewisser Umwand- lung seines Wesens zu einer genügenderen Existenz verholfen als j bisher. Zum besseren Verständnis dieses Vorgangs bedarf es

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natürlich einer genaueren Kenntnis der unstäten Leute. Zahl und Zusammensetzung derselben sind aber auch für das Problem des Wesens mittelalterlicher Stadtbevölkerungen überhaupt wichtig genug, um ein näheres Eingehen zu verlohnen.

B. sieht bald in dem Gesinde, bald auch nur in den Knech- ten (Gesellen) den Grundstock der unstäten Bevölkerung (S. 604 ff„ S. 295). Thatsächlich beachtet er Gesellen, Knechte und Mägde fast allein. Wir werden gut thun, zu spezialisieren und andere Klassen nicht zu vergessen. Man kann unterscheiden,

I. eigentliche Fahrende: wie Gaukler, Hausierer, Boten, Söld- ner; 2. Arme und Bresthafte , von denen freilich einige Kate- gorien auch gern pilgernd fahren ; 3. Gesellen und landwirtschaft- liche Knechte bzw. Mägde; 4. selbständige Lohnarbeiter.

Keine von diesen Klassen ist für das mittelalterliche Frank- furt aus gleichzeitigem Material auch nur annähernd statistisch zu berechnen. Fahrende Leute werden von B. (S. 223 224) im

J. 1440 2 gezählt, dazu 5 Hausierer und 1 Söldner (in Sachsen- hausen). Dem steht beispielsweise die Praesenzliste des Fürsten- und Städtetags zu Frankfurt im J. 1397 (ed. lloehlbaum in Mitt. a. d. Stadtarch. von Köln Heft 10) gegenüber, wonach (S. 82) damals in Frankfurt waren: 500 brefdragher oder boiden mit boissen, 800 (al. 600) fistulatores oder geralde und varende lüde, 8co hueren oder meretrices drier min. Die Zahlen mögen über- trieben sein, die meisten dieser Leute waren gewiss nur auf Tage in Frankfurt: aber sollte es nicht manchem dort gut gefallen ha- ben? Zudem: derartige Gelegenheiten, wie Fürsten- und Städte- tage kehrten in Fankfurt oft wieder.

Von den Armen und Bresthaften wissen wir fast noch weni- ger, wie von den Fahrenden. Nur das Eine steht fest, ihre Zahl war nach unsem Begriffen gross. Für die Armen folgt das schon aus den Caritätsgrundsätzen der mittelalterlichen Kirche, ln Ham- burg bestand nach Laurent in den J. 1451 1538 16 24 °/o der Bevölkerung aus Armen ; Bücher S. 27 f. hält diese Prozentsätze für sehr wohl glaublich. In Augsburg gab es um 1520 angeblich 2000 Nichtshäbige. Was die Bresthaften betrifft, so lassen sich aus dem Frankfurter Bürgerverzeichnis von 1440 9 Blinde, 2 Taube, 1 Lahmer nachweisen (B. S. 209): schon aus der Zahl dieser blinden Bürger folgt die enorm hohe Verhältniszahl von 42.7 Blinden auf je 10000 Einwohner. Im Jahre 1480 gab es in Frank- furt eine Brüderschaft der Blinden und Lahmen (S. 210). Und

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gegenüber alledem erlangen nun am selben Orte von 1432 isOO nur 10 Blinde und 23 Arme und Bettler Bürgerrecht (S. 355 Noten, und werden damit in den gewöhnlichen, der statistischen Berech- nung zu Grunde liegenden Akten der Stadtverwaltung geführt.

Die Gesellen, Knechte, Mägde, Diener u. s. w. haben wir oben S. 497 bei einer Durchschnittshaushaltung von 6 Personen = 1 (Knechte 0.54, Mägde 0.46) angenommen. Es ergäbe das ba einer Bevölkerung von 10000 Seelen etwa 900 Knechte, 7S0 Mägde. Zusätzlich zu diesen Ziffern ist jetzt zunächst festzustelleo, dass die Zahl der einheimischen Lehrlinge und Gesellen sich 138" wie 1440 als, wie es scheint, unbedeutend herausstellt (S. 236'; fast nur in der Färberei, Weberei, Schiffahrt erscheinen sesshafte Elemente und bringen es hier nicht selten zur Bürgerschaft (S 420 421). Die grosse Mehrzahl aller Gesellen und Knechte da- gegen ist unstät. Andere Angaben über die Anzahl derselben ausser den bereits gemachten stehen aber nur für die Gesellen, und auch für diese nur unvollkommen, zur Verfügung. Denn die mittelalterlichen statistischen Daten sind stets an Organisationen geknüpft; organisiert aber waren die Gesellen erst seit demij.Jh., und nur in kirchlichen Brüderschaften. Zudem sind einschlägige Akten dieser Genossenschaften mit Ausnahme des Brüderschaft buchcs der Schmiede (1417 ff.) nicht bekannt. Aus dem letzter« scheint sich nun allerdings die Spur eines Anhaltes zur Berech- nung der Höhe nicht bloss der Schmiedegesellen, sondern über- haupt der Gesellen gewinnen zu lassen. B. benutzt sie S. 626. bzw. S. 607 608. Er geht von den Durchschnittszahlen der Schlossergesellen in den JJ. 1482 1524 aus und setzt dieselben zur Zahl der Meister in Verhältnis. Als Meisterzahl nimmt er dabei etwa 100 an. In diesem Falle würde die Gesamtzahl der Gesellen das Dreifache der durchschnittlichen Jahresaufnahme der Bruderschaft betragen haben, wenn jeder Meister im Durchschnitt einen Gesellen gehalten hätte. Demgemäss hatte jeder Geselle drei Jahre durchschnittlich in Frankfurt verweilen müssen, um den nötigen Bestand der Werkstätten voll zu erhalten. Dies widerspreche dem sonst bekannten Wanderdrang der Gesellen : die Zahl der Ge- sellen sei mithin jedenfalls viel geringer gewesen, als die der Meister. Nun hätte es aber (S. 608) im J. 1387, falls jeder Meister die je nach den Gewerken verschiedene zulässige Zahl von 1—3 Gesellen und Lehrlingen gehabt hätte, 2000 Knechte geben müssen. Dass diese Zahl nicht erreicht sei, beweise eben das oben mitgeteilte Zablenver-

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hältnis zwischen Gesellen und Meistern in der Schlosserei. Sehen wir hier von den Zeitunterschieden (14. Jh., und 15. 16. Jh.), der Unsicherheit der Berechnung von 1387 u. a. m. ab, so ist auch die Zahl der Meister in der Schmiedezunft mit 100 viel zu hoch angesetzt. B. entnimmt dieselbe seinen Tabb. 12 und 15 (S. 142 und 215), welche aber die Zahl aller Meister der Metallarbeiter überhaupt angeben, ln unserem Falle dagegen handelt es sich nur um die Schlossermeister, deren Höhe sich nach Tab. 15 1440 auf 14 Schlosser, 6 Sporer, 5 Messerschmiede, 4 Nagelschmiede, 12 Ilar- nischmacher, zusammen 41 Meister feststellen lasst. Indes auch abgesehen von allen diesen Fehlerquellen ist die Berechnung viel zu künstlich, als dass sich etwas anderes über sie sagen Hesse, als non liquet.

Wir haben also keine absolut sichere Möglichkeit, die Zahl der Gesellen , noch viel weniger diejenige der Gesellen, Knechte und Mägde, be/.w. des Gesindes, zu bestimmen, und müssen uns mit der oben gegebenen Ziffer von 1680 als dem wahrschein- lichen Minimum begnügen.

Nehmen wir nun F'ahrende, Arme und Bresthafte, Gesellen, Knechte und Mägde zusammen, so steht gewiss nichts im Wege, sie auf 2000 zu schätzen. Diese unstäte Bevölkerung war es, welche seit Beginn des 15. Jhs. einen etwas stärkeren Halt, und eben dadurch grössere soziale und schliesslich politische Bedeu- tung zunächst wohl durch die Tagelöhner erhielt.

Wie schon oben angegeben, waren die hervorragendsten Klassen der freien Lohnarbeiter und Taglöhncr, Opperknechte, Weinknechte, Sackträger noch gegen Schluss des 14. Jhs. in Frank- furt zünftig im Gegensatz gegen z. B. Nürnberg, wo schon 1363 derartig charakterisierte Zünfte fehlen (Hegel in Chroniken der 1). Städte 2, 507 f.). F'reilich gab es, nach B. S. 120 12t, 1387 in F'rankfurt auch schon aller Wahrscheinlichkeit nach ausser- zünftig io Säger und 6 Stangenträger (d. h. Dienstmänner). Der nicht zünftigen Lage dieser neueren Taglöhnerklassen fielen jetzt allmählich auch die genannten altzünftigen Tagelöhner anheim : die Opperknechte (S. 95 f.), 1387 noch 53 Mitglieder umlassend, 1424 noch genannt, fehlen schon 1440 (S. 243); die Weinknechte halten sich zwar noch tiefer ins 15. Jh. hinein, sind aber sicher 1530 als Zunft nicht mehr vorhanden; die Sackträger endlich fristen bis ca. 1552 noch mit 14 Meistern ein klägliches Dasein, sind aber schon in einer früheren Aufzeichnung der Zunftmeister vom

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Lamprtcht ,

J. 1530 nicht mehr beziffert. Dabei scheint der Verfall dieser Zünfte sich schon vor dem 15. Jh. langsam anzukündigen; bereits in dem Bürgerverzeichnis von 1387 erscheinen 16 Weinknechte und 4 Sackträgersöhne ausser der Zunft (S. 120, 121, 123 ,2-* Die dem Vorgang zu Grunde liegende Tendenz ergibt sich aus der Thatsache, dass im J. 1400 den Tagiöhnern und Dienstknechten, seien es Handwerksknechte oder andere, der Besitz von lrink- stuben von Rechtswegen verboten ward (S. 135): man wollte eine genossenschaftliche Organisation des sich mehrenden vierte« Standes nicht zulassen.

Gegenüber den sesshafteren Teilen desselben, insbesondere den Lohnarbeitern scheint die Absicht auch erreicht worden zu sei«; freilich nicht ohne das Opfer, dass man einer Anzahl von Ange hörigen dieser Klassen statt der Erlaubnis einer eigenen soziale« Organisation die Aufnahme in die volle Bürgerschaft unter grosser Erleichterung der Aufnahmebedingungen darbot. So werden im Jahre 1432 501 ansässige Nichtbürger, wie es scheint, nur soweit sie zugewandert waren, als Bürger eingetragen, darunter nebe« einer Mehrheit von Handwerkern Arbeiter, Taglöhner, Knechte, überhaupt Angehörige des vierten Standes, von denen 8 aus- drücklich als arm, 3 als blind, einer als blinde et pauper be- zeichnet werden (S. 187). Auch fernerhin aber sind, so scheint es, Angehörige des vierten Standes in steigendem Masse zur

Bürgerschaft aufgenommen 389. 393. 4'6 eingetragen:

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Mag man durch diese Massregel die arbeitende Klasse für befriedigt erachtet haben oder nicht, jedenfalls darf bis auf wei- teres als wahrscheinlich angenommen werden, dass sie es io 15. Jh. zu einer inneren Organisation nicht gebracht hat. Eine Ausnahme macht nur der unstäte, in sich aber sozial ebenmässigsä Bestandteil der fluktuierenden Bevölkerung, die Gesellenschalt, aber auch sie bringt es nur zu kirchlichen Brüderschaften (Schmiede oder Schlosser 1402 f., Schneider 1452 f., Schuhmacher 1453 f., Barchentweber c. 1460 f., Bäcker 1497 f. S. 609). Von diesen Gesellenbrüderschaften aber war für den sesshafteren Teil des vierten Standes um so weniger etwas zu hoffen, je mehr

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sie sich fachlich (so die Schmiede seit ca. 1460) abschlossen, und je weniger sie bei dem interurbanen Charakter ihrer Mitglieder lokalen städtischen Interessen zugänglich waren. Vgl. darüber weiter unten.

So fiel denn die soziale und politische Vertretung der Zu- kunft des vierten Standes den Taglöhnern zu, umsomehr als diese vielfach durch Berufe wie diejenigen der Hecker und Weingärtner mit der gegen Schluss des 15. Jhs. immer mehr in Gährung ge- ratenden Klasse der kleinen Landwirte zusammenhingen.

4. Der Machtkreis der Stadt. Es ist eines der vielen Ver- dienste Büchers, dass er der gang und gäben Anschauung, die Stadt als solche und ihr rechtlich gesicherter Einfluss höre mit den Stadtmauern oder wenigstens mit dem Stadtgebiet auf, wie- der einmal die andere Betrachtung entgegengestellt hat, welche, die Stadt als sozialen Gesamtkörper betonend , die Zusammen- hänge desselben mit dem gemeinen nationalen Leben nachweist. Zur erneuten Betonung und gleichzeitigen Vertiefung dieses Standpunktes, welchen schon die älteren Städtehistoriker liebten, ist B. wohl durch die moderne systematische Soziologie, vornehm- lich durch Schäffle's Werk über Bau und Leben des sozialen Körpers veranlasst worden. Ich prüfe dasjenige , was B. zum Thema zerstreut vorbringt, in folgendem in einer Anordnung, die an sich schon eine Kritik enthält.

Schon der Umstand, dass die Bürgerschaft als genossenschaft- licher Körper ursprünglich nicht räumlich geschlossen war, musste zu fortwährendem Uebergreifen der bürgerlichen Verwaltung in anderes als städtisches Gebiet führen. Zerfielen doch die Bürger selbst in städtische und ausserstädtische. B. spricht von den letzteren S. 366 f.; seine Einteilung und W'ürdigung derselben scheint mir in allen Hauptpunkten richtig. Die natürlichste und ursprünglich wohl einzige Klasse derselben waren die Aus- bürger ’), d. h. ursprünglich städtische, nur ausserhalb der Stadt wohnende Bürger. B. weist in dieser Hinsicht 25 Frankfurter in Mainz nach. Eine weitere Kategorie waren die Edelbürger, wie ich sie nach einem anderwärts gebräuchlichen Ausdruck nennen möchte, Geistliche wie weltlich-adliche Personen, deren Frank- furter Interessen, Ansässigkeit mit einem Hofe u. dgl., ihnen die

1) B. braucht dies Wort in doppeltem Sinne, für ausserstädtische Bürger über- haupt, und für die besondere hier gemeinte Kategorie. Ich nehme es, der Analogie von Ausmärker folgend, nur im letzteren Sinne.

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Lamprtchi.

Bürgerschaft wünschenswert machten (B. S. 383 f.j. Es ist eine der Zahl der Personen nach unbedeutende Kategorie, im ganzen 14. Jh. sind nur 16 Laienedelbürger zu zählen (B. S. 3841. Sie unterscheiden sich durch nichts von den Ausburgern, ausser durch die Thatsache, dass sie nicht ursprünglich in der Stadt persön- lich ansässig waren. Nicht zu verwechseln sind sie mit dem der Stadt verbundenen Adel, für dessen bisweilen nebenher stipuiierte Bürgerschaft ausschliesslich militärische Interessen massgebend waren. Neben Aus- und Edelbürgern stehen als dritte bei weitem wichtigste Kategorie der ausserstädtischen Bürger die Pfahlbürger hervorragende Angesessene des platten Landes, Schultheissen. Zentgrafen, Vögte, Pfarrer, Dorfhandwerker, reiche Bauern, welche gern in die Bürgerschaft traten, um unter die Verantwortung der Stadt zu gelangen. Bei dieser Kategorie vermischen sich als.' rein bürgerliche Interessen mit der Absicht der Machtvennehrucg einerseits, der Erlangung von Schutz andererseits, Man »irc freilich wohl kaum irre gehen, wenn man die Entstehung der Ein richtung zunächst aus den einseitigen Wünschen der Pfahlbürger heraus erklärt: in jenen Jahren der spätem deutschen Kaiserzeit. in welchen die noch selbständigen untern Klassen des platten Landes die Schutzherrlichkeit irgend eines Adlichen zu suchen pflegten, musste der besser gestellten Bevölkerung desselben. Lebenskreises daran liegen, diesem Machtzuwachs der kleinen Nachbarn ihrerseits durch die Pfahlbürgerschaft ein Gegengewicht zu geben. Doch lag es von Anbeginn auch im Interesse der Stadt, die militärischen Kräfte der Pfahlbürger zu gewinnen. Natürlich war das Eine dem Landadel und den Landesherren so wenig ar. genehm wie das Andere. Es begreift sich daher ohne weitere dass das Institut der Pfahlbürger von dieser Seite aufs heftigste angefeindet wurde. Zunächst in der W'eise, dass man Sesshafte keit der Pfahlbürger in der Stadt verlangte, also eine lokale Be- grenzung der Bürgerrechte ebenso durchzusetzen suchte, wie mar auf dem platten Lande eine Ablösung der alten genossenschalt liehen Gliederung des Volkes durch eine Reihenfolge lokaler Ver- waltungsbezirke vertrat. Seit Mitte des 13. Jhs. beginnt sich Frankfurt wie die übrigen rheinischen Städte diesen Anforderungen scheinbar gefügig zu zeigen ; das Frankfurter Stadtrecht von iJy,' verlangt den eignen I laushalt der Pfahlbürger in der Stadt vom 11. November bis 21. Februar jedes Jahres. Indes blieb diese Be- stimmung offenbar, als bei strenger Ausführung unverträglich mit

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der Einrichtung selbst, im wesentlichen auf dem Papier bestehen, bis das Pfahlbürgertum aus anderen Ursachen zu Grunde ging. Der Verfall trat wohl um die Wende des 14. und 15. Jhs. ein, nachdem noch 1311— 1350 mindestens ein Fünftel aller neuen Bürger Pfahlbürger gewesen war (S. 374, 380) und im Jahre 1346 145 Pfahlbürger aus 53 Dörfern gezählt wurden. Die Gründe des Verfalls, auf welche B. wenig zu sprechen kommt, sind in der Entwicklung sowohl der Stadt wie des platten Landes zu suchen. Es ist bezeichnend, dass die 53 Heimatsdörfer der Pfahlbürger vom Jahre 1346 zumeist in stadt- und burgenarmer Gegend liegen: das Aufkommen von kleinen festen Landstädten und von Burgen, d. h. das Aufkommen landesherrlichen Territorialschutzes, machte das Pfahlbürgertum überflüssig. Andrerseits verlor die Bürger- schaft seit Ende des 14. Jhs. ihren genossenschaftlichen Charakter und schloss sich räumlich ab, das Pfahlbürgertum wurde also stadtrechtlich unmöglich. Soweit seit dieser Zeit Teilen der länd- lichen Bevölkerung seitens der Stadt Notschutz gewährt werden mochte, konnte das nicht mehr in genossenschaftlicher, sondern nur noch in herrschaftlicher Form geschehen : die Stadt als solche musste eine Schutzherrlichkeit entfalten gleich dem Adel und dem Landesherren. Mit dieser Wendung der Dinge kommen wir auf ein anderes Gebiet städtischen Einflusses nach aussen, als das bisher betrachtete zu sprechen : auf das Gebiet rein politischen Einflusses.

Vertreten war dieser politische Einfluss im späteren Mittel- alter in dreifacher, wenn man will vierfacher Weise: durch die Ausnutzung der früheren Zugehörigkeit der Stadt zur fiskalischen Hundertschaft der Umgegend, durch thunlichste Bewahrung des sog. Burgrechts, durch die Uebernahme leibherrlichen Schutzes über kleine Leute der umliegenden Dorfschaften, und durch die Verbreitung des Frankfurter Stadtrechts. Um das zuletzt ge- nannte Moment sofort zu erledigen, so hat die Stellung Frank- furts als Oberhof gewiss das Ansehen der Stadt gekräftigt; doch ist eine unmittelbare Bedeutung derselben für die Ausdehnung des politischen Einflusses wohl nur schwer zu erweisen. Anders steht es mit den drei übrigen Momenten. Indem die Stadt sich des alten Hundertschaftsgerichts auf dem Bornheimer Berge be- mächtigte, arbeitete sie unmittelbar der Herstellung einer vor- städtischen Dorfherrschaft vor; eben dies Moment einer ursprüng- lichen Zusammengehörigkeit mit den Landgemeinden hat sich bis

Archiv Tür »oz Gcietzgbg. u. Suüaiik III. u. IV. 34

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La nt fr echt.

in unser Jh. hinein als politisch wirksam erwiesen. Es ist das einer jener Punkte, über welche B. vielleicht im 2. noch aus stehenden Bande seines Werkes Gelegenheit finden wird, genaue zu handeln. Nur bis ins 16. Jh. hinein von Bedeutung dagegen war der Burgrechtsverband, und schon im 14. Jahrhundert et scheint er im Verfall. Er beruhte darauf, dass die Landgemeir. den im weitesten Umkreis der Stadt (im Norden sogar ursprua. lieh wohl bis über die Höhe des Taunus hinaus, S. 4*3, 501 1 das Recht hatten, bei Kriegsgefahr in die Stadt zu flüchten, gegtt die Verpflichtung einer Teilnahme am Mauerbau und an den Be festigungsfrohnden überhaupt. Noch um 1350 zieht sich diese Verband in einem Radius von durchschnittlich 2 Meilen um de Stadt; 103 Orte, 74 nördlich, 2 7 südlich des Mains gehören ihn an. In der ersten Hälfte des 15. Jhs. dagegen wollen schon tiei Dörfer nicht mehr frohnden, 1438 werden 47 Ortschaften dt Burgrechtes verlustig erklärt, und völlig in die Brüche geht der alte Verband gelegentlich der Belagerung Frankfurts im J. Ij;-’ Sein Grab hat ihm zweifellos die seit Ende des 14. Jhs. immer maö tiger aufkommende Territorialhoheit zunächst des platten Linst mit ihrem Burgenbau (Lamprecht, Wirtschaftsleben 1, S. 1305 d- gegraben.

Aus gleichen Ursachen ging auch die Leibherrlichkeit ix Stadt über kleine Leute der Umgegend verloren. Begründet uac. im Anschluss wohl an die alte Wachszinsigkeit , entwickelt sie ursprünglich, vermutlich in der 2. Hälfte des 13. Jhs. oder £ der ersten Hälfte des 14. Jhs., noch von dem Reichsschultheii-*t des fiskalischen Hundertschaftsgebietes (S. 485), der sich ihr? genau wie andere Herren dieser Zeit zur Herstellung landeshc lieber Gewalt bedient haben wird '). Von ihm übernahm sie eie Stadt mit seinen sonstigen Rechten und Befugnissen; ca. 15* finden wir sie im Besitz von 510 leibeigenen Personen, in 87 Ort schäften, von denen 80 nördlich, 7 südlich des Mains liegen ? 486). Indes gelang es ihr nicht, diese Erwerbung weiter zu ent- wickeln. Im Jahre 1411 waren nur noch too angebliche eigene der Stadt aufzutreiben, von denen schliesslich nicht mehr als 8 unter dem Rat blieben ; 1437 waren bloss noch 85 ar®

l) Auf diesen wichtigen Vorgang kann hier nicht genauer eingegangro den. Man vgl. Bücher S. 47S IV. mit Lamprecht, Deutsches Wirtschaftstc!*5 1 S. 1213 ff.

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Leute verherrt, Ende 15. Jhs. 195, in der 2. Hälfte des 16. Jhs. etwa 100 (487 489).

Uebersehen wir jetzt die Gesamtentwicklung der politischen Beziehungen der Stadt nach auswärts, so ergibt sich, dass nur das älteste fiskalischhundertschaftliche Verhältnis von stichhaltiger Dauer war, alle andern Machtmittel dagegen gegen Ende des Mittelalters verloren gingen. Sie erlagen einer und derselben Macht, der Landesgewalt, ihre Geschichte führt in den Kampf der Stadt mit dem Territorium ein. Warum sie erlagen? Weil sie spezifisch territoriale und aristokratische Machtmittel waren. Das platte Land konnte bei dem weiten Auscinanderliegen der Städte auf die Dauer nur durch landesherrlichen Burgenbau ge- schützt werden ; und die Leibeigenschaft bahnte eine Herrschafts- beziehung an, deren Ausbreitung auf die Dauer nur der Adel, vornehmlich die Landesherrschaft gewachsen war. Es hätte sich wohl denken lassen, dass die städtischen Geschlechter, nicht die Stadt selbst, die Schutzherrschaft in weitem Umfang übernahmen: dann hätten sich die schutzherrschaftlichen Kreise der Patriziate nachbarlicher Städte dicht aneinander schliessen müssen ; hiezu lagen aber die einzelnen Städte zu entfernt von einander. So ist es im Grunde stets die Weiträumigkeit der deutschen Herr- schaftsverhältnisse, welche eine volle Bewältigung der ländlichen Umgegend durch die Städte des Mittelalters verhindert nicht aber etwa der ausschliesslich »geldwirtschaftlichec Charakter der Städte selbst. Gern hätten die Bürgerschaften aller mittel- alterlichen Städte sich Territorien geschaffen gleich den italieni- schen Kommunen, aber sie scheiterten an der Wahrheit des Wortes : qui trop embrasse mal etreint. Zur wirklichen Herr- schaft brachten sie es der Regel nach nur da, wo politischen Machtbeziehungen starke wirtschaftliche Einwirkungen zur Seite gingen, also in der nächsten Umgebung der Stadtmauern.

Das ist auch der Grund, warum Frankfurt aus seinen alten Fiskalbeziehungen eine territoriale Gewalt entwickelte: es hat das Fiskalgebiet und seine Grenzen zugleich auch wirtschaftlich erobert. Grade in dieser Hinsicht mögen die Pfahlbürger nicht ohne Be- deutung gewesen sein ; viele von ihnen gingen wohl allmählich im Stadtleben auf und behielten doch das Eigentum und lange Zeit auch die Bewirtschaftung ihrer ländlichen Besitzungen bei, so dass sich in der Stadt ein merklicher Anteil an den landwirt-

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Lamprecht ,

schaftüchen Vorgängen auch der weiteren Umgegend entwickelte Dazu kam dann vor Allem der grosse ländliche Besitz der ur- sprünglich eingesessenen Frankfurter Bürgerschaft selbst, vomehir; lieh der Geschlechter; kein Zweifel, dass er in grösserer Nahe der Stadt den Besitz der Pfahlbürger bei weitem uberwog. Auch diese Bürgergüter wurden noch bis tief ins 15. Jh. hinein durch ihre Eigentümer von der Stadt her bewirtschaftet ; erst mit einer erneuten Zunahme der Intensität der Bewirtschaftung im 16. Jh trat allgemein Administration ein. Wie bedeutsam dagegen m eigentlichen Mittelalter noch die direkten landwirtschaftlichen In- teressen der Stadt Frankfurt waren, ergibt sich mangels einer ausführlichen Statistik wenigstens aus einzelnen Nachrichten, z. B einer Aufzeichnung über Vieh, welches im Jahre 1373 Frankfurt« Bürgern aus 3 Dörfern geraubt wurde; es waren 141 Stück Rind- vieh, 266 Schafe und Ziegen, 23 Schweine (S. 279). Und noch 1831 befand sich in den Frankfurter Landgemeinden 47 % alle Bodens im Besitz von Frankfurter Bürgern, Frankfurter Stiften und der Stadt selbst (S. 277). Unter diesen Umständen begrert es sich, dass sich im weitern Umkreise der Stadt ein Zustand der Urproduktion und ländlich-sozialen Lebens herausarbeitcsc. der von der sonst geltenden Regel des platten Landes sehr»«: zu gunsten energischen Fortschrittes abwich. Bücher besprich: S. 657 ff. diese Entwicklung: etwas eilig, wie mir scheint, und ohne völlig homogene Verarbeitung des vorliegenden, unendlich reichen Materials. Ich muss es mir an dieser Stelle versagen, auf diese Seite der Forschungen B.’s genauer einzugehen; es bedürfte dazu längerer Auseinandersetzungen über den Fort- schritt der ländlichen Kultur während des 14. und 15. Jhs. übe: haupt.

Ausser dem durch landwirtschaftliche Interessen gebildete« Umkreis wirtschaftlichen Einflusses hatte sich aber die Stadt nock einen weiteren Gürtel, wenn auch loserer ökonomischer Anziehus; auf dem Wege des Handels geschaffen. Es ist der Kreis des Frankfurter Marktes. Und wie wir in dem landwirtschaftlich«" Kreise zwei Ringe unterscheiden können, einen engem Ring. welchem der landwirtschaftliche Einfluss zugleich gestützt ist durch alte fiskalische Zusammengehörigkeit, also einstige und noch an- dauernde politisch-rechtliche Interessen, und einen weitem Rm~- für den allein das ökonomische Interesse massgebend ist: sc lassen sich auch in dem Marktkreise zwei derartige Ringe aus«n-

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anderhalten, ein engerer, in dem die Absatz- und Nachfrage- Interessen des Handels unterstützt werden durch das wenigstens noch im 14. Jh. lebensvoll bestehende Burgrecht, und ein weiterer, für welchen nur der Charakter des Marktgebietes in Frage kommt. Zur Feststellung dieses weitern Handelsringes benutzt B. die m. E. viel zu weit tragenden Daten über den Frankfurter Messverkehr (S. 502 f.) ; eine genaue Bestimmung des Umlaufsbezirkes der F'rankfurter Münze, wie ihn die Urkunden wohl gestatten, wäre vermutlich nützlicher gewesen, um so mehr als die Frankfurter Messe doch erst im 16. Jh. zu voller Blüte gelangte.

Räumlich verhalten sich die vier genannten, im wesentlichen natürlich konzentrischen Ringe etwa so zu einander, dass die beiden landwirtschaftlichen Ringe mit dem ersten Marktring zusammen- fallen, während der zweite Marktring über das den Interessen des Handels und der Gewerbe gemeinsame Gebiet hinausgreift. Nennt man die beiden auf diese Weise abgegrenzten Gebiete die erste und die zweite Zone, so wird man der ersten Zone etwa einen Radius von durchschnittlich 2 Meilen um Frankfurt herum zu- schreiben können, doch so, dass dieser Radius südlich des Mains bedeutend kürzer, nördlich des Flusses länger zu nehmen ist. Die zweite Zone aber umfasst die durchschnittlich zwischen 2 und 10 Meilen entfernte Umgegend ; dabei ist diese Zone im Süden kaum 6 Meilen, im Norden dagegen bis zu 20 Meilen breit (S. 460 461).

Das hiemit abgegrenzte Gebiet ist zugleich das I lauptein- w'anderungsgebiet der Frankfurter Stadtbevölkerung : und so leitet dann seine Feststellung ohne weiteres zu einem letzten Abschnitte unserer Bemerkungen über.

5. Die Herkunft der städtischen Bevölkerung-. Die herkömm- liche Anschauung über die Bevölkerungsgeschichte der mittel- alterlichen Städte besagt, dass ein nennenswertes Zuströmen aus- wärtiger, vornehmlich ländlicher Volksklassen in dieselben wesent- lich nur im Zeitalter des Emporkommens der grossen Städte .stattgefunden habe. Bücher zeigt, dass ohne fortdauernden Zuzug fremder Elemente auch die spätere Blüte, ja Existenz einer mittel- alterlichen Grossstadt, wenigstens Frankfurts, undenkbar war. Der Zuwachs der F'rankfurter Bürgerschaft an männlichen Neubürgern christlichen Bekenntnisses ausschliesslich der einheimischen Bürger- söhne betrug Personen (B. S. 394):

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La tu p recht ,

für die Jahre

überhaupt

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2537

Hiermit sind im letzteren Zeitraum , für welchen allein die Ueberlieferung eine Vergleichung gestattet, 1288 neuburgerlichc Bürgersöhne zusammenzuhalten, also 25,8 im Jahresdurchschnitt Es betrug mithin der Jahreszuwachs der Frankfurter Burgerschn durch Fremde am Schluss des Mittelalters das Doppelte der Er- gänzung aus eigenen Kräften. Für die frühere Abfolge der Zu- zugsziffern erwägt Bücher S. 394 folgendes : »Nach dem Burger- verzeichnis von 1387 betrug die Zahl der überzwölfjährigen manu liehen Einwohner 2904, nach dem Bürgerverzeichnis von 1440 die Zahl der bürgerlichen männlichen Personen über 14 Jahren 2W Nun sind in den 53 zwischen beiden Aufnahmen liegenden Jahr« von 1388 1440 nicht weniger als 2205 fremdbürtige Personen a

das Bürgerrecht aufgenommen worden, d. h. mehr als am Schluss der Periode überhaupt vorhanden waren!« Dabei scheint es noci als wenn in dieser Periode nicht einmal alle bürgerfahigen ne. zugezogenen Personen rasche und regelmässige Einzeichnung a das Bürgerbuch gefunden hätten. Es erscheinen z. B. im Iah 1380 8°/o aller Steuerpflichtigen (202 Personen, darunter 96 Er werbsthätige, deren Berufsart angegeben ist) als Nichtbürger, m- von ihnen werden bis 1387 höchstens 24 als Bürger eingeschrie- ben (S. 137 138). Nun sind allerdings unter derartigen Nichtb-r gern gewiss sehr viele Bürgersöhne zu suchen ; nicht selten sch«; das aber auch ausgeschlossen , so namentlich bei einer grosser P'intragung von Nichtbürgern im Jahr 1432 : damals wurden auf einmal 501 wahrscheinlich nur eingewanderte Personen fast ca Viertel aller bürgerfahigen Einwohner zu Bürgerrecht auige nommen.

Bei einer solchen Uebermacht fremden Zuzugs über die Fort- pflanzung der Einheimischen begreift sich die rasche Veranden»; welcher der Ausbau der Stadt unterlag. Erst vom Jahr [333 s; war die Neustadt zur Altstadt zugezogen worden, und schoc 1446 finden wir (S. 197, vgl. S. 297 ff.) in derselben 19.2% Bevölkerung ansässig, daneben in Sachsenhausen 15,8 ”/«, und a der Altenstadt nur noch 65 °/o : nach B. 1600, 1300 bzw. 6100 Eia wohner. Damit steht wohl auch die unseren Anschauungen bf

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’/.ur Sozialstatistik der deutschen Stadt im Mittelaller. 527

sonders fern liegende Thatsache einer grossen Zahl wüster Hof- stätten und I läuser selbst in der Altenstadt in Zusammenhang. Im ganzen gab es solche Wüsteneien in Frankfurt 1420: 165; 1428 : 218 ; 1463 : 403 (B. S. 202).

Man kann versucht sein, die rasche Verschiebung, ja Ver- drängung der einheimischen Bevölkerung durch zahlreichen Ab- zug der alten Bürgerschaft zu erklären. Dem widersprechen aber die Thatsachen. ln den Jahren 144t 1500 leisten nur 240 Per- sonen auf ihr Bürgerrecht Verzicht darunter allerdings auch 28 alteinheimische Geschlechter, aber daneben 4 Doktoren der Rechte, 5 Miinzmeister, 3 Aerzte, 8 Krämer und Händler, 3 Vieh- händler, 52 Handwerker; 14 werden Schulden halber »rumig« und ihnen gegenüber werden in gleicher Zeit 105 Personen wie- derum ins Bürgerrecht aufgenommen (S. 358).

Nach alledem bleibt nichts übrig, als anzunehmen , dass die Bewegung der einheimischen und sesshaft gewordenen Bevölkerung weit von den entsprechenden modernen Vorgängen abwich; ver- mutlich war die Sterblichkeit in der That so gross I30 80 °/o), wie sie Schmoller, Tübinger Zs. 27, 301 ff. berechnet. Freilich sehen wir vorläufig auf diesem Gebiete noch keineswegs auch nur die Hauptthatsachen in sicherer Begrenzung, und wir nehmen das Versprechen Biicher’s, im 2ten Bande seines Werkes auf die Bewegung der Bevölkerung genauer einzugehen, besonders dank- bar an.

Ueber das Wesen des Zuwachses der Bevölkerung von aussen unterrichtet dagegen schon der vorliegende Band aufs genaueste. B. geht dabei (S. 158 ff., vgl. S. 377) von der den herkömmlichen Anschauungen widersprechenden Thatsache aus, dass die Bedeu- tung der Wanderungen im Mittelalter eine weit grössere gewesen sei, als in der Gegenwart. Es wird hier darauf ankommen, was man unter Wanderung versteht. Zweifellos ist die heutige Be- weglichkeit der Bevölkerung auch verhältnismässig viel grösser, als im Mittelalter, soweit man dabei an die Freiheit der per- sönlichen Bewegung unter Beibehaltung eines festen Wohnsitzes denkt. Im mittelalterlichen Frankfurt z. B. ging jeder seines Bürgerrechts verlustig, welcher über Jahr und Tag aus der Stadt entfernt blieb. Dagegen ist ebenso zweifellos die Beweglichkeit der Individualwirtschaft heutzutage an sich eine geringere , wie im Mittelalter, denn sie umfasst eine ungleich grössere Menge von Gütern. Es fragt sich nur, ob unser heutiges Transportwesen

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528

La m p r e c h t ,

das Mehr , welches der moderne Mensch an Wirtschaftsgepa« durchs Leben fuhrt , nicht um so viel leichter zu befördern im Stande ist, dass es doch verhältnismässig weniger lastet, als im Mittelalter. Diese Frage zu entscheiden überlassen wir andern Knüpfen wir an die oben S. 525 charakterisierten Wirtschahs Zonen an , so ergibt sich über den Zuzug in das mittelalteriine 1 Frankfurt nach Angaben 13. 's auf S. 176, 313, 454, 599, di- Folgende.

Herkunft der Einwohner nach Entfernungszonen

Von je 100 Einwohnern jeder Periode stammen aus einer Entfernung vor

Quelle und Zeit

bis

2 Meilen

2—10

Meilen

10—20

Meilen

übe

20 Mcia

L Bürgerbücher 1311 1350

54.8

35 5

6-5

3*

2. Bürgerverzeichnis 1387

, 33-a

45.6

21.2

3. Bürgerbücher 1351 1400

39-4

42.9

11. 1

6.6

4 Bürgerverzeichnis 1440

*5.8

55-3

1S.9

5. Bürgerbücher 1401 1450

22 y

54-4

12 6

j 10. 1

6. Bürgerbücher 1451 1500

23.2

51.2

"3

14-5

7 Durchsclinitt von 5. 6.

*3- >

52-7

11.9

1 123

8. Juden

*•7

45-0

22.3

30.0

9. Gesellen 1402 f.

2-4

21.1

1 19.8

1 561

Ferner kommen von je 100 zugewanderten Einwohnern nac"‘ Bücher S. 452 und 651 auf:

Herkunft

Bürger

14. Jh. 15. Jh.

Juden i5. jh.

Gesellen 15. Jh.

Städte

28.2

43-9

90.0

79-3

Flecken

8.0

8.5

45

4.0

Dörfer

63.8

47.6

5-5

16.7

Diesen Tabellen genügt es wenige Worte hinzufügen. Bürger kommen ganz überwiegend aus der ersten und zwei» Zone ; aus diesem Gebiete stammen in der I. Hälfte des 14 J1' 95°/o, und noch in der 2. Hälfte des 15. Jhs. gegen 8o°/o der Frcffi“ bürtigen (S. 461). Dabei überwiegt, wie eine genauere Betratt tung bei 13. ergibt, durchaus die Herkunft aus den hessiseh fract sehen Gebieten ; die Nordseite des Mains liefert etwa dreima soviel Zuzügler, wie die Südseite: ganz entsprechend der»« schiedenen Ausdehnung der Wirtschaftszonen südlich und norJ- lich des Flusses (s. oben S. 525). Im Uebrigen tritt im U“fe

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/.ur Sozialstatistik der deutschen Stadt im Mittelaller. 5

des 14. und 15 Jhs. eine Verschiebung insofern ein, dass je länger je mehr der Zuzug aus der äusseren Zone zu Ungunsten der näher liegenden Umgebung zunimmt (S. 464). Die Grunde hier- für sind wohl sehr verschiedener Art: fremdherrliche Leute aus nächster Umgebung vermochten schwerer in die Stadt zu ziehen, da hier die Aufsicht ihrer Herren strenger war (S. 498), zudem schützte sich die vorstädtische Bevölkerung lieber durch Ver- herrung an den Rat, als dass sie zur Stadt zog (? S. 493) , vor allem wurde diese Gegend schon derart von städtischen Interessen durchsetzt, verlief die städtische Wirtschaft so langsam ins Land, dass für die inwohnende Bevölkerung eine Reihe von Beweg- gründen wegfiel , welche sonst für den Zuzug nach der Stadt sprachen. Mit dieser Verschiebung des Zuzugs mehr auf die äussere Seite der io-Meilenzone, wie mit den steigenden Prozen- ten der Herkunft aus noch weiterer Ferne wird es Zusammen- hängen, dass der Zuwachs an Bürgern von aussen je länger je mehr aus minder wohlhabenden Leuten bestand (S. 364 f.). Denn während die Neubürger aus der Nähe vorher zumeist wohl der bäuerlichen , also nicht völlig besitzlosen Bevölkerung angehört haben mochten, ja häufig gewiss wohlhabend waren und im Ei- gentum ihres Landbesitzes blieben, gehörte der Zuzug aus weiter Ferne mehr dem gewerblichen, wenn nicht gar dem fluktuierenden Element der Bevölkerung an (S. 412 413) und war dem ent- sprechend vielfach mittellos.

In ganz andere Verhältnisse führt die Herkunft der Juden und der gewerblich unstäten Bevölkerung der Gesellen.

Die Juden, für welche 229 Fälle mit Herkunftsangaben zu Gebote stehen, sind in ihren reicheren Familien verhältnismässig stätig, schon der Bankbetrieb machte das notwendig (S. 594). Dagegen wandern die kleinen Leute stark. Ihr Zuzugskreis ist ganz allgemein ein sehr weiter; bei genauerer Prüfung ergibt sich eine Begrenzung eigentlich nur durch die deutsche Zunge unter Ausschluss des Hansagebietes an Nord- und Ostsee, in welchem Juden im 13. 16. Jh. überhaupt nur sehr vereinzelt sassen. Beson- ders tritt neben Schwaben die Rheinlinie hervor; mit Recht be- merkt Bücher S. 598 in Uebereinstimmung mit sonstigen Unter- suchungen (s. Lamprecht, Wirtschaftsleben I, 1472 ff.): »man wird fast zu der Annahme gedrängt, dass von SchafThausen bis Emme- rich das Judentum eine vielfach verbundene Gemeinschaft gebildet habe, die im regsten Personenaustausch stand.« Dabei kamen

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53°

Lamp r e cht ,

die Juden vorzugsweise aus Städten, doch auch in Dörfern sassee sie schon im 15. Jh., wie es denn noch heute ganze Judendörfer in der Pfalz gibt , und B. berechnet S. 600 die Juden in der näheren ländlichen Umgebung Frankfurts wohl nicht mit Unrecht auf 3c» 450 Seelen.

Einige Verwandtschaft mit dem Judenzuzug neben sehr cha rakteristischen Abweichungen zeigt der Zuzug der Gesellen Freilich lässt er sich nur von 1402 ab und nur im Schmiedehand werk verfolgen, doch ist dieses, in sozialer und handwerklicher Gliederung gleichsam ein Mikrokosmus der Gewerbe überhaupt, der gestellten Aufgabe günstig (S. 627). Zur Verfügung stehen 2621 Namen, bei denen B. die Herkunft ermittelt zu haben glaubt 1 Von den Trägern derselben würden nach ihm nur 99 aus Frank furt selbst stammen (S. 647). Die übrigen verteilen sich auf das gesamte alte Reich mit Ausnahme des Hansagebietes ; noch im 16. Jh. hat die Hansa trotz mancher politischer Verhandlungen (s. v. d. Ropp, Hans. Geschbl. 1886 [1888] S. 33 51t Wirtschaft lieh mit dem Reich nur geringe Fühlung. Innerhalb des Reiches selbst aber stammen Dreifünftel aller zuwandernden Gesellen von südlich des Mains , kaum Zweifünftel aus dem Norden : sehr im Gegensatz zur Herkunft der bürgerlichen Bevölkerung. Der lands- mannschaftliche Gegensatz wird durch den sozialen Unterschied noch erweitert : nur etwa 17 °/o der einlaufenden Gesellen stam- men aus ländlichen Verhältnissen, 79 °/o dagegen aus grösseren Städten. Man wird sich den Einfluss dieser Thatsache kaum gross genug vorstellen können , zumal derselbe noch durch den Umstand verstärkt wird, dass schliesslich wohl alle Gesellen eine I.ehr- oder Gesellenzeit in grösseren Städten hinter sich hatten Wenn die Gesellen dem Grundstock der Bevölkerung in der Mehrheit stammesfremd waren , so setzten sie der noch vielfach

1) Die Bedenken gegen sein Verfahren in diesem Punkte hat Stieda, Hans. GescMk 1886 [1888] , S. 185 f. schon hervorgehoben. Bei Durchführung seiner Methode ta B. gerade hier in der Entzifferung der Herkunftsnamen besondere Schwierigtc!« gefunden, da sich die Gesellen oft selbst oder jedenfalls mehrere dersellteß ca» der Ihrigen in die Listen mit schwieliger Hand und in olt unglaublicher Schrti- weise eingetragen haben. Gleichwohl ist B. der Schwierigkeiten Herr geworden be auf einen kleinen Restbestand von Namen, welchen er S. 628, Note 2 für gedoldtge Nussknacker mitteilt, Der S. 629 scharfsinnig festgestellte Hemel Ormun vom Kerlich stammt nicht aus Kehrig mhd. A7 riefte , sondern aus Kärlich mhd. AVr- lich A'erlig, vgl. Lamprecht , Deutsches Wirtschaftsleben Band 3 Namensregäin u. d. WW.

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Zur Sozialstatistik der deutschen Stadt im Mittelalter. 531

ländlichen Lebensanschauung derselben Bevölkerung auch eine andere , spezifisch grossstädtische Lebensführung und Erfahrung entgegen. Eben dieses letztere Moment erklärt es, wenn die gewerblichen Zugvögel der unstäten Bevölkerung sich so wenig mit den ländlichen Knechten und Dienstboten der Stadt zur Führung ihrer in vieler Hinsicht gemeinsamen Angelegenheiten verban- den, ebenso wie es schon aus ihrer nicht landsmännischen, nicht stammverwandten Stellung in Frankfurt folgt, dass sie nicht mit den Lohnarbeitern sympathisierten. Noch hielten sich in dieser Weise die Hauptgruppen des vierten Standes auf Grund mannig- facher Antipathieen sozial das Gleichgewicht und lebten daher gegenüber der Bürgerschaft ohne jene politische Spannung, welche notwendig eintreten musste , sobald sie sich sozial einig fühlten. Erst die wirtschaftlichen Nöte der Wende des 15. und 16. Jhs. schufen jene Einheit und brachten zugleich die sesshafteren Ele- mente des vierten Standes, Kleinbauern, Tagelöhner, einheimische Lohnarbeiter überhaupt, an die Spitze einer bis dahin unbekann- ten sozialen Bewegung.

Wir sind am Schlüsse. Es ist überflüssig, nach der soeben gegebenen kritischen Uebersicht noch den Reichtum der Ar- beit Bücher’s an neuen und gegenüber den bisherigen An- schauungen vielfach überraschenden Thatsachen zu betonen. Es bedarf nur noch der Versicherung, dass mit dem Vorstehenden zwar ein Ueberblick über die hauptsächlichsten Ergebnisse der Untersuchungen B.’s gewonnen, keineswegs aber ihr Inhalt im einzelnen erschöpft ist. Den Spezialforscher werden Episoden, wie die Darlegungen über den statistischen Sinn im Mittelalter (S. 4 f., s. auch S. 198 f., 526 f.), über die Entwicklung der Fa- miliennamen (S. 70 f.), über die wirtschaftlichen Kontrollbeamten der Stadt (S. 98 99, 126—127, 129, 251—254) nicht minder fesseln.

Mit Spannung darf man dem zweiten und letzten Bande des Werkes entgegensehen, welcher die Bearbeitung der Bedebücher und des Häuserverzeichnisses von 1438 (vgl. aber Band 1, S. 213 ff.) enthalten wird. Dürfen wir einen Wunsch für denselben aus- sprechen, so wäre es der, dass der Verf. , wie er im einzelnen eine krystallklare Sprache schreibt und durchsichtig disponiert, so auch im ganzen Wiederholungen und Unebenheiten vermeiden möchte, wie sie freilich mit der besonderen Entstchungsweise des ersten Bandes unzertrennlich verknüpft waren.

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532 Lampr tc h t, /.ur Sozialstatistik der deutschen Stadt im Mittelalter.

Zusätzliche Bemerkung. Mit den Ausführungen oben S. 488 491 schliesse ich mich , wie man ersieht, den Grundge- danken von Maurer’s über die Entwicklung der deutschen Stadt- gemeinde, wenn auch mit gewissen Modifikationen, an. Ich habe das auch schon in meinem Wirtschaftsleben Bd. 1 , 322 (Text und Anm.) unzweideutig gethan l). Wie überrascht war ich da- her, mich in der neuesten Untersuchung von Below's »Die Ent- stehung der deutschen Stadtgemeinde« (Düsseldorf 1889), welche mir soeben nach Abdruck des 32. Bogens dieser Zeitschrift zu- ging, als grundsätzlichen Gegner der Theorie von Maurer s be- handelt zu sehen und zwar mit Berufung auf die soeben ci- tierte und eine weitere überhaupt nur von ländlicher Entwicklung sprechende Stelle (I, 1015) meines Wirtschaftslebens. Ich kann in diesem Falle einmal nicht umgehen, festzustellen, in welcher Weise Herr von Below meine Ansichten wiedergibt, da es sich um die Stellungnahme in einer der wichtigsten Fragen deutscher Ver- fassungsgeschichte handelt.

1) Vgl. a. a. O. Anm.: »Mil Recht wendet sich ». Maurer, Dorfvf. 2. 72. gegee den Gedanken, die Dorfgeschworenen als direkte Nachbildung der städtischen Ree anzusehen: vielmehr sind es im ganzen und grossen dieselben, in den Dörfern am -später auftauchenden Bedürfnisse und Entwicklungstendenzen , welche hier und Atn zur Bildung eines autonomen Geschworenenkollegs geführt haben. Die Untersucbd; der Verfassungsentw icklung der kleinen Landstädte , wie sie sich durchweg , «et« mancherlei anderen Grundlagen, doch auch auf der Basis der hier dargestellten mark- genössischen Entwicklung aufbaut, liegt ausserhalb des Rahmens der hier gestellter Aufgabe.«

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GESETZGEBUNG.

DAS ÖSTERREICHISCHE UNFALLVERSICHER- UNGSGESETZ.

VON

Dr. W. ZELLER,

REGIERUNGSRAT IN DARMSTAUT.

Es ist von hohem Interesse, bei Vergleichung der für Oester- reich angebahnten sozialpolitischen Reform mit dem Prinzipe der deutschen Unfallversicherungsgesetze zu sehen, wie teils überein- stimmend, teils mit abweichenden Mitteln die Erreichung wesent- lich gleicher Ziele erstrebt wird. Die verwandten , oft sogar identischen Erscheinungen , erklären sich durch die vielfach ana- loge Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse beider Staaten. Dazu kommt das offensichtige Bestreben der österreichischen Ge- setzgebung , die Reformen , unter Benutzung der vom Nachbar- reiche gemachten Versuche zu beginnen. Die Unterschiede in den Gesetzeswerken beider Reiche sind teils durch eine abwei- chende wirtschaftliche und soziale Entwicklung, teils in politischen und nationalen Eigentümlichkeiten begründet. Die sozialpolitische Reformbewegung begann in Oesterreich zunächst auf dem Ge- biete des Gewerberechtes. An Stelle der veralteten Gewerbe- ordnung vom 20. Dezember 1859 trat die Gewerbenovelle vom 15. März 1883, ergänzt unter 8. März 1885 durch die sog. Ar- beiterordnung. Inzwischen hatte die Sozialreform in Deutschland ihr Hauptaugenmerk auf die Versicherung des persönlichen Ka- pitals der arbeitenden Klassen gerichtet. Es lag nahe, dass auch Oesterreich den gleichen Weg einschlug, da hier der Frage der Haftpflicht gewerblicher Unternehmer kaum näher getreten war. Abgesehen von dem Spezialgesetz vom 5. März 1869, welches die Haftpflicht der Eisenbahnen für die durch Betriebsunfälle her- beigeführten Körperverletzungen und Tötungen regelte, waren für die Haftpflicht des Betriebsunternehmers bei Unfällen im gewerb- lichen und industriellen Betriebe einzig und allein die Bestim-

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534

Gesetzgebung.

mungen des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches massgebend Diese lassen sich dahin zusammenfassen, dass der Unternehmer für die Folgen der in seinem Betrieb entstehenden Unfälle nur dann haftet , wenn ihn selbst ein Verschulden an dem Unfälle trifft. Er haftet aber nicht für das Verschulden seiner Gehilfen. Bediensteten, Beamten und überhaupt jener Personen, deren er sich beim Betriebe bedient, es wäre denn, dass ihm bei der Wahl , Beibehaltung oder Bestellung dieser Personen ein Ver- schulden zur Last fiele, die sog. culpa in eligendo des römischen Rechtes. Zuerst hatte man in Oesterreich die Absicht, denselben Weg zu betreten, der in Deutschland zum Haftpflichtgesetz vom 7. Juni 187t führte. Es fand sich auch in dem im Dezember 18S0 von der Regierung eingebrachten Entwürfe einer Gewerbeordnung eine Bestimmung vor, die prinzipiell dem entsprach, was in Deutsch- land rechtens war. Indessen kam man hiervon ab. Man sab ein. dass die Regelung auf diesem Wege zu juristischen Schwierig- keiten und sozialpolitischen Ungeheuerlichkeiten führe, und ein einseitiges Haftpflichtgesetz nicht genüge. »Nur durch eine all- gemeine Unfallversicherung» hiess es in den Motiven zu dem späteren Unfallversicherungsentwurfe »ist es möglich, dass allen Arbeitern, welche nach der Art ihres Arbeitsverhältnisses in diese Regelung eingeschlossen werden können , eine sichere Anwart- schaft dahin gewährt wird, dass beim Verluste der Erwerbsfähig keit durch Unfall ihnen selbst eine nach ihrem bisherigen Erwerbe billig zu bemessende Versorgung, oder ihren Hinterbliebenen eine gleicherweise billig zu bemessende Unterstützung zu teil werde.' Schon am 4. Dezember 1883 brachte die Regierung diesen Ge- setzesentwurf ein , der an den Gewerbeausschuss zur Beratung gewiesen wurde. Die am 28. Januar 1886 vorgelegte zweite Re- gierungsvorlage enthielt im wesentlichen die Aenderungen des Gewerbeausschussberichtes. Die Beratung begann im Februar und endete mit der dritten Lesung am 5. Juni 1886. Bei der Beratung im Plenum des Herrenhauses verzögerten erhebliche Differenzpunkte eine rasche Einigung , so dass die Annahme in dritter Lesung erst im Februar 1887 erfolgte. Das Publikations- datum des Gesetzes über die Unfallversicherung der Arbeiter ist der 28. Dezember 1887 (Nr. I des Reichsgesetzblattes von 18881

1) Vgl. I>r. M. Ertl, Das österreichische Unfallversicherungsgesetr. Die Ge- ncsis und die wesentlichen Bestimmungen desselben u. s. w. (Leipzig und Verlag von Deuticke, 1887), S. 18 fg.

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Das österreichische Utifalivrr Sicherungsgesetz.

535

D i e v e rsi ch eru ngsp nichtigen Betriebe sind nur annähernd die gleichen wie in dem 1884er deutschen industriellen Unfallversicherungsgesetze. Das Gesetz umfasst die Versicherung aller in Fabriken, Hüttenwerken, Werften, Stappeln, Brüchen, so- wie bei Bauausführungen (Reparaturen ausgenommen) beschäftig- ten Arbeiter und Betriebsbeamten. Zu letzteren gehören auch Lehrlinge, Volontäre, Praktikanten und alle wegen noch nicht beendeter Ausbildung ohne oder gegen niederen Lohn arbeitende Personen. Jenen Beschäftigungsbranchen sind ferner gleichgestellt die Betriebe , in welchen explodierende Stoffe bereitet oder ver- wendet werden, sowie diejenigen (auch land- und forstwirtschaft- liche) , bei welchen Dampfkessel oder durch elementare Kraft oder Tiere bewegte Triebwerke zur Anwendung kommen. Eisen- bahn- und Binnenschifffahrtsbetriebe fallen nur dann unter das Gesetz, wenn sie als integrierende Bestandteile eines versicherungs- pflichtigen Unternehmens lediglich für dieses bestimmt sind. Aus- geschlossen blieb auch die Seeschifffahrt. Der Möglichkeit, das System des Gesetzes den Wechselfallen der industriellen Erschei- nungen anzupassen und in der Praxis auftauchende Schwierigkeiten zu beseitigen , dient die dem Minister des Innern eingeräumte Befugnis, einzelne zwar versicherungspflichtige, jedoch nicht ge- fährliche Betriebe auszuschliessen , dagegen auch andere nicht vom Gesetz umfasste gefährliche , namentlich der Feuersgefahr ausgesetzte Unternehmen, dem Versicherungszwang zu unterwerfen. Seinem Umfange nach erscheint das österreichische Gesetz so- nach zunächst als eine Versicherung des industriellen Gewerbe- betriebes; ausgeschlossen ist das Kleingewerbe und die ohne Dampfkessel oder ohne durch elementare Kraft oder Tiere be- wegte Triebwerke arbeitende Land- und Forstwirtschaft. Befreit vom Versicherungszwange sind alle im Betriebe des Staates, des Landes, einer Gemeinde oder eines öffentlichen Fonds angestellte Bedienstete , sofern sie bei Unfällen die gesetzliche Unfallrente mindestens erreichende Pensionsansprüche besitzen.

Den Gegenstand der Versicherung bildet, in Nach- bildung des deutschen Rechtes, ein begrenzter, öffentlich-rechtlich gesicherter Ersatz des durch Körperverletzung oder durch Tod des Versicherten entstandenen Schadens, einerlei ob der Unfall durch Zufall oder grobes Verschulden entstand. Nur bei vor- sätzlicher Veranlassung des Verletzten selbst, cessieren seine und

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536

Gesetzgebung.

der I Unterbliebenen Ansprüche. Der Schadenersatz besteht in einer Unfallrente, welche verschieden, je nachdem Körperverletzung oder Tod die Folge des Unfalles ist. Bei Körperverletzungen wird vom Beginn der 5. Woche an (in Deutschland erst nach der 13. Woche) für die Dauer der Erwerbsunfähigkeit die Rente gewährt. Sie bildet einen Bruchteil des Arbeitsverdienstes , den der Verletzte in dem Betriebe, in dem sich der Unfall ereignet hat, während des letzten Jahres seiner Beschäftigung bezog. Für die Berechnung sind gewisse Durchschnittszahlen massgebend, die Minimalgrenze bildet der Taglohn gewöhnlicher Arbeiter ; das 300fache des durchschnittlichen Tagesverdienstes gilt als Jahres- arbeitsverdienst. Die Maximalgrenze fixiert das Gesetz auf 1200 Gulden, das Verdienst von Lehrlingen, Volontären u. s. w. ist nach dem niedrigsten Verdienst vollgelohnter Arbeiter, höchstens bis 300 Gulden zu bemessen. Die Unfallrente beträgt bei völliger Erwerbsunfähigkeit und für deren Dauer 60 °/o (in Deutschland 66 */» ) des Jahresverdienstes , bei teilweiser Invalidität ein nach dem Grad der verbliebenen Erwerbsfähigkeit bemessenen Bruch- teil, mit der Maximalgrenze von 50%. War Tod Folge des Un- falles, so erhalten die Hinterbliebenen neben den Beerdigungs- kosten (höchstens 25 Gulden) bestimmte Bezüge: die Witwe bis zum Tode oder ihrer Wiederverheiratung (hier tritt an Stelle der Rente eine Abfindung im 3fachen Betrag) , der Witwer solange er arbeitsunfähig und jedes eheliche Kind bis zum zurückgelegten [5. Lebensjahre, falls es Doppelwaise, 20% jenes Jahresverdienstes. Eheliche Kinder beziehen vor dem Tode des zweiten Elternteiles nur 15 °/o, uneheliche überhaupt nur 10%. Die Renten der Wit- wen und Kinder sind proportional zu kürzen , wenn sie in ihrer Konkurrenz 50 °l 0 übersteigen. Aszendenten steht der gleiche Rentenanspruch nur zu, wenn der Verunglückte ihr einziger Er- nährer war ; Eltern gehen Grosseltern vor.

Das österreichische Gesetz hat mit Rücksicht auf die direkte Beitragsleistung der Arbeiter (nach deutschem Rechte tragt die Berufsgenossenschaft der Unternehmer sämtliche Kosten der Unfallversicherung allein) von der 13 wöchentlichen Karenzzeit der deutschen Gesetzgebung abgesehen und 4 Wochen festgesetzt. Der Gesetz-Entwurf bestimmte, dass für die ersten vier Wochen der Unternehmer aufzukommen habe, falls nicht andere Vorsorge (z. B. durch Krankenkassen) getroffen ist. Dem Unternehmer

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Das österreichische UnfaUversicherungsgesek. 537

war indessen bezüglich der ausgelegten Kosten der Regress an die Heimatgemeinde des von dem Unfall Betroffenen Vorbehalten. Treffend machte hiergegen ein Abgeordneter geltend : »Wir

fangen also die Unfallversicherung an , indem wir das Gros der Unfälle der Armenversicherung der I leimatgemeinde zuweisen und den Unternehmer als Kassier bestellen.» Die Minorität des Gewerbeausschusses verlangte die Ausdehnung der Karenzzeit auf 6 Wochen ; wie sie im Gesetze auf vier Wochen normiert ist, be- deutet sie für die Unfallversicherung eine Beschränkung derselben auf etwa ein Fünftel aller Unfälle. So wenig dies auch erschei- nen mag, so behaupten die österreichischen Versicherungstechniker doch , dass die Fälle vorübergehender Erwerbsunfähigkeit ohne Nachteil für die Berechnung in die Unfallversicherung füglich nicht einbezogen werden können. Sie sehen die daraus ent- stehende Belastung der Krankenversicherung, welcher, wie in Deutschland, die Fürsorge während der Karenzzeit obliegt, nicht als eine dauernde Belastung der Arbeiter selbst an, da sich der Unternehmergewinn allmählich den Abzug jener Quote, welche für die soziale Fürsorge zu entrichten ist, wird gefallen lassen müssen l).

Als Oesterreich ernstlich das Unfallvcrsicherungsgesetz in Angriff nahm , lag das deutsche Gesetz fertig vor und war be- reits in Wirksamkeit getreten. Es war daher natürlich, dass dieses Vorbild benützt wurde. Leider ging man nicht überall mit dem richtigen Verständnis vor und versäumte die im Nachbarlande inzwischen gemachten Erfahrungen zu verwerten. Entschuldigend kommt allerdings in Betracht, dass eine zuverlässige Basis , ins- besondere für die technischen Unterlagen , nur eine entwickelte Unfallstatistik bieten konnte, welche den gesetzgeberischen Fak- toren fehlte. Die vom Handelsministerium veröffentlichte Statistik der österreichischen Industrie vom Jahr 1880 ist anerkannt unzuläng- lich. Eine verlässliche Unfallstatistik bestand bisher nur für die Bergwerke und die Eisenbahnen , die Generalisierung derselben erschien von vornherein ausgeschlossen. Ebenso sind die Be- obachtungsresultate der grossen Aktienversicherungsgesellschaften und der allgemeinen Arbeiter-Kranken- und Invalidenkasse wegen der Beschränkung auf kleine Kreise, nur mit Vorsicht zu ver- werten. Die detaillierten Daten der Unfallstatistik des deutschen

1) Vgl. Ertl a. a. O S. 57.

Archiv für tos. Gesetzgbg. u. Statistik- III u IV. ßCJ

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538

Gtsttzgcbung.

Reiches von 1881 sind wegen der vielfach verschiedenen Verhält- nisse nur von problematischem Werte gewesen. Nach der am Schlüsse des Jahres 1880 vorgenommenen Volkszählung gab es in Oesterreich 6442875 in ihrer Berufsart beschäftigte Arbeiter beiderlei Geschlechtes, wovon, wie aus den Beratungen des Ge- setzes hervorgeht, kaum I Million der Versicherungspflicht unter- liegt , was um so mehr bedauert werden muss , als das Unfail- versicherungsgesetz gleichzeitig die Grundlage des Umfanges de- Krankenversicherungsgesetzes bildet. Das deutsche Gesetz vom 6. Juni 1884 berücksichtigte zunächst die Arbeiter der früher schon haftpflichtigen Betriebe: Bergwerke, Steinbrüche, Gräbereien und Fabriken, und dehnt die Unfallversicherung auf die handwerb- mässigen Betriebe aus, in welchen Dampfkessel oder durch ele- mentare Kraft bewegte Triebwerke zur dauernden Verwendung kommen. Hieran reihen sich alle Maurer-, Zimmer-, Dachdecker-. Steinhauer und Brunnenarbeiter, das gesamte Baugewerbe (auch alle Reparaturen 1), weiter auf Grund der Novellen : die gesamten Betriebe der Marine und Heeresverwaltung, der Post-, Telegraphen- und Kisenbahnverwaltung , die sonstigen Transportgewerbe und gewisse mit Unfallgefahr verbundene Hilfsgewerbe des Handels, zuletzt: die Land- und Forstwirtschaft. Als Fabriken gelten nach deutschem Gesetze alle Betriebe, in welchen zur Be- und Ver- arbeitung von Gegenständen mindestens 10 Arbeiter regelmassig beschäftigt werden. Nach den ministeriellen Erläuterungen sind in Oesterreich nur Betriebe mit über 20 I lilfsarbeitern als F'abrikefl zu behandeln. Als ein schwerwiegender Mangel erscheint der Ausschluss des gesamten Kleingewerbes von der Versicherung und die unterbliebene Einbeziehung der land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter In Deutschland umfasst die industrielle Unfallversicher- ung annähernd 4 Millionen Personen, in Oesterreich kaum I Mil- lion !

Eine Folge der mangelhaften Lohnstatistik war die Annahme einer durchweg zu niedrig bemessenen Unfallrente. Nach dem deutschen Gesetze besteht der Schadenersatz bei Körperverletz- ungen in den Kosten des Heilverfahrens im weitesten Sinne und in einer bei völliger Erwerbsunfähigkeit auf 66*/s °/o des Arbeits- verdienstes fixierten Rente. Bei Tötung erhalten die Hinterblie- benen neben einem Fixum für die Beerdigungskosten Renten im Maximalbetrag von 60 °lo des Arbeitsverdienstes. Das österreichi- sche Gesetz kennt keinen Anspruch auf die Kosten des Hed-

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Das österreichische UnfaUversUherungsgesetz. 539

Verfahrens, obgleich die Versicherungs- Anstalten , da sie fiir die etwa zu verbleibende Erwerbsunfähigkeit einzustehen haben, ein erhebliches Interesse daran besitzen, dass das Heilverfahren mög- lichst gut und gründlich stattfinde und die Arbeitskraft des Ver- letzten thunlichst erhalten werde. Der Arbeiter erhält keinen Ersatz für jene meistens kostspieligen Aufwendungen, die Unfall- rente beträgt nur 60 °/o des Jahresarbeitsverdienstes, und können bei Tötung des Ernährers die Renten der Hinterbliebenen (Wit- wen und Kinder) zusammen 50 °/o des Arbeitsverdienstes nicht übersteigen, ln vielen Gegenden Oesterreichs sind trotz der herrschenden Teuerung die Löhne der Arbeiter niedriger als in Deutschland , deren Existenz ist deshalb noch eine prekärere. Trotzdem erhält der österreichische Arbeiter eine niedriger be- messene Rente , deren Unzulänglichkeit folgendes Beispiel illu- striert: Die Rente eines Ganzinvaliden beträgt bei einem Jahres- durchschnittsverdienste von 300 Gulden (1 Gulden täglich X 300 Arbeitstage) 6o°/o = 180 Gulden jährlich (15 Gulden monatlich oder 50 Kreuzer täglich). Die Gesamtrente seiner Hinterbliebenen jährlich 150 Gulden, 12 Gulden 50 monatlich oder (vorausgesetzt, dass neben der Witwe noch 2 Kinder vorhanden sind) 41 Kr. täglich, ln dem Berichte des Gewerbeausschusses ist der mitt- lere Jahreslohn der Arbeiter in Kammgarnfabriken mit 240 Gul- den angegeben ; ein solcher Arbeiter erhält bei gänzlicher Er- werbsunfähigkeit 12 Gulden monatlich , das ist 40 Kr. täglich, während bei der Tötung im Berufe seine Hinterbliebenen 10 Gul- den per Monat oder 33 Kr. täglich beziehen. Mit dieser kleinen Rente soll sich eine Witwe mit mindestens zwei oder mehr Kin- dern durchhelfen! Wenn nur ein Kind vorhanden ist, beträgt die Rente bei 3c» Gulden Jahresverdienst 8 Gulden 75 Kr. mo- natlich oder 29 Kr. täglich und bei einem Jahreslohne von 240 Gulden per Monat 7 Gulden, bez. 23 Kr. täglich. Bei den- selben Lohnsätzen bezieht die kinderlose Witwe eine Monats- rente von 5 event. 4 Gulden. Handelt es sich, wie bei den Be- ratungen fortwährend betont wurde , bei der Fürsorge für die durch Unfall Verletzten um die Erfüllung einer sozialen Pflicht, so muss die Rente wenigstens ein bestimmtes Existenzminimum erreichen. Trotz der Beitragsleistung der Arbeiter hat das Ge- setz diese Begrenzung versäumt, so dass sein ethischer Zweck, den verunglückten Arbeiter und seine Familie nicht der be- schämenden Armenpflege zu überlassen , vielfach illusorisch cr-

35 *

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540

Gesetzgebung.

scheinen wird. Als ein Beispiel des kleinlichen Geistes, welcher öfters bei den Beratungen hervortrat, diene noch die Bestimmung, welche die Rente der unehelichen Kinder niedriger fixiert, als die der ehelichen (letztere erhalten 15, wenn sie Doppelwaisen 20 % ; die unehelichen überhaupt nur IO °/o des Jaliresarbeitsver- dienstes). Uebereinstimmend mit dem deutschen Gesetze machte auch hier der österreichische Entwurf keinen Unterschied. Die Sünden der Väter an den Kindern zu strafen , erscheint als ein inhumaner Verwaltungsgrundsatz, zumal in einem sozialen Frie- densgesetze. Man hätte doch berücksichtigen sollen , dass die Arbeiterkonkubinate nicht mit den unehelichen Verbindungen von Ständen zu vergleichen sind, welche sich in der Lage befanden, jederzeit einen 1 lausstand zu gründen. Endlich vermissen wir in dem Gesetze die praktische Bestimmung, dass an Stelle der Ren- tenbeziige bis zum beendeten Heilverfahren, unter bestimmten, die Familie sichernden Voraussetzungen , freie Kur und Ver- pflegung in einem Krankenhause treten kann. Jene bietet in der Regel eine grössere Gewähr für eine zweckmässige Behandlung und Wiederherstellung, als die oft notdürftige Verpflegung in der eigenen Familie.

Als Subjekte der Versicherung erscheinen die Unter- nehmer der versicherungspflichtigen Betriebe und die in denselben beschäftigten Arbeiter und Betriebsbeamten in dem Sinne, dass sie gemeinschaftlich Mitglieder von territorialen, auf Gegenseitig- keit beruhenden Versicherungsanstalten sind. Für jedes Land soll in der 1 lauptstadt eine solche Anstalt bestehen , die Ausnahme bildet die Errichtung mehrerer Versicherungsanstalten in einem Lande oder einer für mehrere Länder. Diese Anstalten unterliegen der staatlichen Aufsicht (der politischen Landesstelle am Sitze und dem Minister des Innern), ihre besoldeten Beamten werden eidlich verpflichtet ; zur Anstellung und Entlassung des Leiters, des Versicherungstechnikers ist staatliche Genehmigung erforderlich. Ein Drittel des Vorstandes (gesamte Geschäftsfüh- rung und Vertretung der Versicherungs-Anstalt) besteht aus Ver- tretern der Unternehmer, ein Drittel aus Bevollmächtigten der Arbeiter, das letzte Drittel aus staatlichen, mit den wirtschaft- lichen Verhältnissen vertrauten Kommissären. Der Minister des Innern kann den Vorstand auflösen und die Geschäftsführung und Vertretung der Anstalt provisorisch einem Verwalter übertragen. Vier Wochen nach der Auflösung muss die Konstituierung des

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Pas östtrrtichisihe Unfath'ersü/itrungsgesetz. 541

neuen Vorstandes stattfinden. Zur Unterstützung der Oberaufsicht in allen wichtigen Fragen ist ein Beirat von Fachmännern auf dem Gebiete der Industrie, Land- und Forstwirtschaft , Technik und des Versicherungswesens berufen. Eine besondere Verord- nung vom 30. März 1888 (Reichs-Gesetzblatt Nr. 34) regelt die Errichtung und Funktion jenes Organes. Neben diesen Ver- sicherungs-Anstalten sind bei Erfüllung bestimmter Bedingungen gleichberechtigt, als Organe der Versicherung, P ri va t i n st i t ute und Berufsgenossenschaften zugelassen. Die §§ 57-59 bestimmen hierüber;

a) Wenn bei einem versicherungspflichtigen Unternehmen ein Institut besteht, durch dessen staatlich genehmigte Statuten die beschäftigten Arbeiter gegen Unfälle mindestens in gleichem Masse versichert sind , wie nach dem Gesetze und der Unternehmer Beiträge in der gesetzlichen Höhe leistet, so kann er, wenn er alle finanziellen Garantien bietet, die Ausnahme seines Unterneh- mens von der Versicherungs-Anstalt begehren.

b) Vereinigt sich eine grössere Anzahl von Unternehmern im Gebiete einer oder mehrerer Versicherungs-Anstalten zur Or- ganisation einer eignen Versicherungs- Anstalt, so kann der Mi- nister des Innnern, nach Anhörung der Versicherungs-Anstalten, die Genehmigung erteilen, wenn die Versicherten die gesetzlichen Leistungen beziehen , nicht zu höheren Beiträgen herangezogen werden, die Leistungsfähigkeit der Versicherungs-Anstalt durch Ausscheiden jener Betriebe nicht gefährdet erscheint und die Ge- nossenschaft volle Sicherheit für Erfüllung aller Verpflichtungen bietet. Beide Kategorien unterliegen der staatlichen Aufsicht und müssen beim Eintritt eines Unfalles den Kapitalwert der Renten der Versicherungs-Anstalt des Bezirkes ausfolgen, an welch letz- tere die Verpflichtung zur ferneren Auszahlung übergeht.

Man hat in Oesterreich geschickt die Klippe umschifft, an welcher in Deutschland die ersten Versuche zur Lösung der Un- fallversicherungsfrage scheiterten. Zum grossen Teile sind hier die Misserfolge darauf zurückzuführen, dass man eine Reichsver- sicherungsanstalt schaffen wollte. In Oesterreich fasste man von vornherein die Errichtung von auf dem Prinzip der Gegenseitig- keit ruhenden Versicherungs-Anstalten , in territorial abgegrenz- ten Sprengeln ins Auge. Die Ersetzung der Berufsgenossen- schaften des deutschen Systemes durch das Tcrritorialprinzip gibt der österreichischen Unfallversicherung einen wesentlich verschie-

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542

Gesetzgebung.

denen Charakter, Das Territorialsystem hat für Oesterreich mi: Rücksicht auf die weitgehenden Unterschiede der industrieller Entwicklung in den einzelnen Provinzen eine gewisse Berecht gung. Die Bedenken gegen eine territoriale Gliederung der Ver- sicherungsverbände sind nicht so gewichtige wie in einem Lande mit hoch entwickelter Industrie. Den Parteien der Majorität de- Abgeordnetenhauses mag die territoriale Organisation freilich auch deshalb vorteilhaft erschienen sein, weil sie die angestrebte Vcr länderung Oesterreichs nicht unwesentlich fördert, während das ganze Reich umfassende Berufsgenossenschaften ein neues Band für die Einheit des Reiches gebildet hätten. Das Aufgeben der Berufsgenossenschaften rechtfertigt auch die im Gegensatz zur deutschen Einrichtung in Oesterreich bestehende enge Angliede- rung der Krankenversicherung an die Unfallversicherung. E- werden nämlich die Bezirkskassenverbände von dem Vorstande der Unfallversicherung des Landes verwaltet, womit eine wesent- liche Vereinfachung erzielt ist1).

Die deutsch nationale Partei in Oesterreich trat für die Be rufsgenosscnschaften als Grundlage der Verwaltung der Unfall Versicherung ein. Der Bericht dieser Minorität betont, dass man sich frei fühle von jeder prinzipiellen Opposition. »Man wünscht gleich der Regierung und den Beschlüssen der Majorität den Versichern ngszwang und das Kapitaldeckungsverfahren, stimme dagegen nicht überein in der Frage der Organisation, welche die Majorität, wie es schien, aus politischen Gründen territorial nach den historisch überkommenen Landesteilen einzurichten beschlossen

habe. Da sei dem ursprünglichen Vorschlag der Regierung, nich:

Kronländer, sondern die Handelskammerbezirke zu Grunde m legen, denn doch noch der Vorzug zu geben u. s. w.c Zer Annahme des Tcrritorialprinzipes drängten die sprachlichen und kulturellen Verschiedenheiten der einzelnen Provinzen, obgkica die auch bei den Debatten anerkannte Gefahr nahe lag, dass eine territoriale Anstalt, bei welcher alle Berufe in eins zusammen geworfen sind, leicht zu einer bureaukratischen Verwaltung führe

Diese Befürchtung ist auch eingetreten, die Verwaltung derler sichcrungs - Anstalt findet durch deren eigentliche Träger, h Arbeitgeber und Arbeiter nicht statt ; die Initiative liegt in der

0 Vgl. den Aufsatz von M. Ertl, die soziale Versicherung in Oesterreich, Sch®4-' lcr’s Jahrbuch für Gesetzgebung etc. iSSS, 2. Heft, S. 270.

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Das österreichische Un/aUver Sicherungsgesetz. 543

Hand der Regierung, Versicherer und Versicherte sind durch das Uebergewicht des staatlichen Einflusses zurückgedrängt. Durch das Anstellungs- und Entlassungsrecht des Staates erhielten die leitenden Persönlichkeiten und Beamten der Versicherungs- An- stalten den Charakter von Staatsbeamten. Die so wichtige Sorge für die lokale Organisation in Sektionen fehlt, selbst die Bestel- lung von Vertrauensmännern durch Statut ist nicht zugelassen und es wird deshalb schliesslich nichts übrig bleiben, als die un- vermeidlichen lokalen Geschäfte ebenfalls unter Mitbenutzung der unteren staatlichen Behörden und deren Hilfsorgane besorgen zu lassen. Im Wesentlichen ist eine staatlich bureaukratische Ein- richtung geschaffen, die mit Geschäften belastet mannigfaltig in das wirtschaftliche Leben eingreift. Die Organisation stellt an die Beteiligten selbst geringe Anforderungen, obgleich dem Vor- stand nach dem Buchstaben des Gesetzes die gesamte Geschäfts- führung und Vertretung nach aussen obliegt. Der Schwerpunkt der Thätigkeit liegt in dem besoldeten , unter staatlichem Ein- flüsse stehenden Personale, eine Mitarbeit der beteiligten Kreise wird deshalb thatsächlich nur in beschränktem Masse möglich sein. Auch in der Zusammensetzung der Schiedsgerichte (s. unten), in welchen der von dem Ministerium aus der Zahl der Richter ernannte Vorsitzende das dauernde Element neben den wechseln- den gewählten Beisitzern bildet, tritt die Tendenz des Ueberge- wichtes des staatlichen Einflusses hervor. Die schwache Seite der ganzen Organisation liegt sonach in der Vernachlässigung des Lokalverbandes und in dem Bestreben die Selbstverwaltung durch die Bureaukratie zu ersetzen. Prägnant tritt diese Ten- denz auch in den Vorschriften über das Oberaufsichtsrecht her- vor, welches der Verwaltungsbehörde am Sitze der Anstalt und dem Ministerium übertragen ist. Wenn auch zu dessen Unter- stützung bei wichtigeren Fragen Fachmänner der verschiedenen Gebiete thätig eingreifen, so entscheidet doch über deren Aus- wahl lediglich das ministerielle Ermessen, ohne Rücksicht auf die Wünsche und das Vertrauen der Beteiligten; den Trägern der Versicherung ist nicht einmal ein Vorschlagsrecht zugestanden.

Mit besonderer Sorgfalt ist die Versicherungstechnik behandelt. Das Grundgesetz der Versicherungs-Anstalten bildet das Statut mit näheren Bestimmungen über das aktive und pas- sive Wahlrecht der Mitglieder, die Vertretung der Versicherten und Unternehmer, über die Beitragsperioden, die Form und den

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544

Gestt-.gebung.

Inhalt der Betriebsanmeldungen, die I.ohnbcrechnungen und Nach Weisungen u. s. w. An Stelle des deutschen Umlagepriiuipo welches für jedes Jahr nur den wirklichen Jahresbedarf erficht setzt das österreichische Gesetz das Kapitaldeckungsverfahren Dieser zweite wesentliche Unterschied vom deutschen Systeme ist eine Folge des Territorialprinzips. Sobald an Stelle des ge- nossenschaftlichen der versicherungstechnische Grundsatz in der Vordergrund trat, musste auch das versicherungstechnisch kur rekteste Verfahren für die Berechnung der Tarifsätze in Anwo düng kommen. Die Eigentümlichkeit des Deckungsvcrfahras besteht darin, dass jeder versicherungspflichtige Unfall nach den Grundsätzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf seinen Kapital wert abgeschätzt wird. Der sich hiernach in jedem einzelner Jahre ergebende Kapitalbetrag , samt den für die Verwaltung kosten und den Reservefonds nötigen Summen , ist nach ve sicherungstechnischen Grundsätzen als Prämie zu erheben. l)c jährlichen Beitrag zum obligatorischen Reservefonds der Ver- sicherungs-Anstalt, dem auch die Ueberschüsse der Geschkrj fiihrung zuzuführen sind, bestimmt der Minister des Innern. De Reservefonds darf nie mehr als 10 % des Kapitaldeckungsfoco der Anstalt betragen. Zweidrittel der gesamten Zuflusse m Reservekapital sind zum Spezialreservefonds für die Anstalt selbst ein Drittel zur Bildung eines gemeinsamen Reservefonds für al< Versicherungs-Anstalten zu verwenden. Die Reservefonds dienet zur Deckung der Abgänge, welche bei Aufstellung der jährlicher Bilanz aus der Vergleichung der Höhe der nach Versicherung^ technischen Grundsätzen berechneten Verpflichtungen der Ansti- mit den zu ihrer Deckung bestimmten Aktiven sich ergeh« Für den Abgang haltet zunächst der Spezialreservefonds, cm subsidär nach dessen Aufzehrung der als besonderer Fonds ver- waltete Reichsreservefonds.

Sämtliche Betriebe werden, indem das Durchschnittsmass der Unfallgefahr für die gefährlichsten Betriebe gleich ioo gesetr. wird, nach Prozentsätzen in Gefahrenklassen eingeteilt. JedeW- fahrenklasse umfasst einige zifternmässig unmittelbar aufeinander folgende Prozentsätze. Die Einreihung der Betriebe in die f; fahrenklassen erfolgt durch die Regierung, die Einreihung in die Prozentsätze der einzelnen Gefahrenklassen durch die Versiche- rungs-Anstalt. Dabei ist auf die Unfallgefahr der einzelnen Be- triebe, insbesondere aber auf die bei denselben bestehenden &1

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Dds österreichische Unfallversichcrungsgesetz.

545

richtungcn zur Unfallverhütung Rücksicht zu nehmen. Alle 5 Jahre findet eine Revision statt. Den Unterschied zwischen den Kosten des Deckungs- und des Umlageverfahrens stellt folgende Tabelle des Reiters der versicherungstechnischen Bureaus im österreichi- schen Ministerium, Regierungsrat J. Kaan *), dar:

Erforderliche jährliche Leistung der Betriebe dir 1 Arbeiter 1 für alle Betriebe zusammen

Für das

nach «lern System der

Kapiulsdeckung

Umlage

Kapitalsdcckting

Umlage

Gulden

ö. W.

1.

Jahr . . .

3-39

0.15

2 O34 OCX)

90000

10.

> ...

»

2.26

1 356000

17-

» ...

3-39

2 034000

20.

» ...

3-75

2 250000

30.

» ...

4-57

2 742000

40.

» ...

»

503

3 018000

50.

> ...

»

5-3 *

3 1 86000

60.

» ...

»

5-49

*

3 294000

70.

>

5.61

3 366000

80.

» ...

>

5.69

3414000

90.

» ...

*

5-75

>

3 450000

Eine verlässliche Basis ftir das Deckungsverfahren bildet u. E. nur eine zuverlässige und entwickelte Unfallstatistik , welche bisher in Oesterreich fehlte. Deshalb ist wohl die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass die Berechnungen, wonach das Deck- ungsverfahren prinzipiell richtiger und die Industrie weniger be- lastend ist, sich schliesslich als nicht ganz richtig heraussteilen könnten. Das deutsche Unfallversicherungsrecht hat erst im Un- fallversicherungsgesetze der Bauarbeiter vom 11. Juli 1887 das Um- lagesystem verlassen und das Deckungsverfahren adoptiert.

Ein Bild der beiläufigen Kosten der Unfallversicherung bietet eine 1884 von J. Kaan veröffentlichte Berechnung mangels einer amtlichen Statistik :

I) Vgl. Materialien zum Gesetzesentwurf, betr. die Unfallversicherung der Arbeiter, von J. Kaan, Wien, 1885.

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546

(iisetzgebung.

Bezeichnung des Betriebes:

Gefahrs-

Klasse : lYozente :

Prämie de Lohagolda:

Baumwollspinn- und Webereien

3

9

O.54 Kr.

Bleistift-Fabriken

4

13

0.78 »

Buchdruckereien

2

6

0.36 >

Chemische Fabriken ....

s

•7

1.02 >

Dynamit-Fabriken

12

IOO

6.00 >

Eiscngiessereien und Maschinen- F'abriken

8

38

2.28 »

Erzeugung von Theer-Derivaten

5

1 7

1.02 >

Gas-Fabriken

4

«3

0.78 >

Kammgarn-Spinnereien . . .

3

9

0.54 »

Leder-Fabriken

4

•3

0.78 »

Leuchtgas-I'abrikcn

S

•7

1.02 »

Mühlen

7

29

1.74 *

Papier- Fabriken

7

29

1.74 »

Sodawasser-Fabriken ....

5

17

1.02 »

Steinbrüche

8

38

2.28 »

Tabak-Fabriken

I

4

O.24 >

Wirkwaren-Fabriken ....

3

9

0.54 *

Wollwaren-Fabriken ....

4

>3

0.78 »

Zucker- P'abriken

7

29

1-74 >

Zündholz-F'abriken

10

63

3-7s

Zur besseren Orientierung und Charakteristik der Lohnverhalt- nisse seien hier einige Beispiele nach dem Berichte des Gewerbe- ausschusses aufgeführt :

I. Papierfabrik. Annahmen:

Anzahl der Arbeiter IOO

Mittlerer Taglohn fl. r.

Anzahl der Arbeitstage per Jahr .... 300

Lohnzahlung vierzehntägig.

Ergebnisse :

Gesamtjahreslohn fl. 30.000.

Erforderlicher Einzahlungssatz der Unfallvers. 1.74 °/o des Lohn«

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Das österreichische Uufalher Sicherungsgesetz. 547

Gesamteinzahlung per Jahr

fl. 522.

Beitrag des Fabrikanten per Jahr . . .

»

46 9. 80

Beitrag der Arbeiter per Jahr

»

52. 20

Vierzehntägiger Lohn eines Arbeiters . .

Vierzehntägiger Beitrag des Fabrikanten per

»

! 2.

Arbeiter

»

. 19

Vierzchntägiger Beitrag eines Arbeiters

»

. 02.

II. K a m in g a r n f a b r i k.

Annahmen :

Anzahl der Arbeiter

380

Mittlerer Taglohn

80 Kr.

Anzahl der Arbeitstage per Jahr . . . .

Lohnzahlung I4tägig.

300

Ergebnisse:

Gesamtjahreslohn

fl.

9T 200.

Erforderlicher Einzahlungssatz derUnfallvers.

O.540/o des Lohnes

Gesamteinzahlung per Jahr

fl.

492. 48

Beitrag des Fabrikanten per Jahr . . .

>

443- 23

» der Arbeiter » » . . .

>

49. 25

I4tägiger Lohn eines Arbeiters . . . .

»

9. 60

» Beitrag des Fabrikanten pr. Arbeiter

>

. 04.7

» » eines Arbeiters . . . .

»

*/»•

III. Maschinenfabrik. Annahmen :

Anzahl der Arbeiter 160

Mittlerer Taglohn fl. I. 50

Anzahl der Arbeitstage per Jahr .... 300

Lohnzahlung wöchentlich.

Ergebnisse :

Gesamtjahreslohn fl. 72 000

Erforderlicher Einzahlungssatz derUnfallvers. 2.28 % des Lohnes

Gesamteinzahlung per Jahr fl. 1 641. 60

Beitrag des Fabrikanten per Jahr ...» 1477. 44

» der Arbeiter per Jahr » 164. 16

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5^8 Gesetxgfbung.

Wöchentlicher Lohn eines Arbeiters . . fl. g.

> Beitrag des Fabrikanten per

Arbeiter » . 18.5

Wöchentlicher Beitrag eines Arbeiters . . > . 02.

IV. Landwirtschaftlicher Betrieb mit Anwend ung von Kraftmaschinen

(bei welchen nur eine bestimmte Anzahl von Arbeitern der an dem Maschinenbetrieb verbundenen Gefahr ausgesetzt sind und daher nur diese der Versicherungspflicht unterliegen).

Annahmen :

Anzahl der Arbeiter 40

Mittlerer Taglohn 55 Kr.

Zeitdauer d. Anwendung von Kraftmaschinen 4 Wochen Lohnzahlung wöchentlich.

Ergebnisse :

Gcsamtlohn der betreffenden Arbeiter . . fl. 528

Erforderlicher Einzahlungssatz der Unfallvers. 1 . 5 °/o des Lohne-

Gesamteinzahlung für die 4wöchentliche Be-

triebszeit

. . fl.

7-

92

hiervon entfällt ;

auf den Dienstherrn

. . fl.

6.

1 2

auf die Gesamtheit der Arbeiter

. »

.

80

Wöchentlicher Lohn eines Arbeiters .

»

3-

30

» Beitrag des Dienstherrn

per

Arbeiter

. »

.

04V1

Wöchentlicher Beitrag eines Arbeiters

. >

*/«•

Nach der Kaan’schen Berechnung stellt sich das durchsebn;;:- liehe Erfordernis der Unfallversicherung nach dem Kapitaldeckuig;

verfahren auf 1 ’/i % des Lohnes. Der niederösterreichisch; Gewerbeverein dagegen berechnete das Jahreserfordemis 2 2/OOQo fl., wovon auf Niederösterreich allein 562000 fl- fallen.

Eine genau geregelte Betriebsanzeigepflicht ennv;- licht eine sichere Feststellung aller versicherungspflichtigen L nter nehmen. Sie umfasst Gegenstand und Art des Betriebs, die Zah der beschäftigten Arbeiter und Beamten, die Summe der für Versicherung massgebenden Jahreslöhne. Ergänzend wirken d*

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Das österreichische Unfaihcr sicher ungsgesetz. 540

Kontrolle der staatlichen Lokalbehörden und die Erhebung der Organe der Versicherungsanstalten. Auf Grund dieses Materiales entscheidet dann die Versicherungs-Anstalt über die Versicherungs- pflicht, die Gefahrenklasse, den Prozentsatz und die Einreihung in den Tarifsatz. Gegen den Bescheid steht den Unternehmern und staatlichen Aufsichtsorganen der Rekurs ohne aufschiebende Wirkung an die politische Landesstelle, in zweiter Instanz an das Minsterium des Innern zu.

Die Versieh eru ngs-Frhm ien sind von den Mitgliedern der Versicherungs-Anstalten nach Massgabe des Verdienstes der Arbeiter und Betriebsbeamten zu entrichten. Binnen 14 Tagen nach Ablauf jeder statutenmässigen Beitragsperiode haben die Unternehmer, unter Beifügung einer Berechnung bei der Ver- sicherungs-Anstalt die Beiträge einzuzahlen. Sie werden in fol- gender Weise berechnet: im 1. Jahre setzt eine Verordnung, im folgenden Jahre die Versicherungs-Anstalt mit staatlicher Geneh- migung einen Tarif für den Beitragssatz fest. Für diesen Tarif sind zwei Einheiten massgebend : das Gefahrenprozent in der Ge- fahrenklasse und der Lohngulden. Nach diesem Tarife berechnet der Betriebsunternehmer den auf seinen Betrieb entfallenden Bei- trag, wobei ein über 1 200 Gulden betragender Arbeitsverdienst nur mit dem Betrage von 1200 Gulden in Anrechnung kommt. Die Versicherungs-Anstalt kann die eingereichten Berechnungen durch Beauftragte prüfen und alle Belege einsehen lassen. Gegen das Ergebnis der Richtigstellung ist das gleiche Einspruchsrecht wie bei Konstatierung der versicherungspflichtigen Betriebe ge- geben *). Oesterreich, welches durch die Teilnahme der Ar- beiter an der Verwaltung den Gedanken der gemeinsamen Mit- wirkung bei Lösung der sozialen Aufgaben zu verwirklichen sucht, musste auch zur Frage des Prämienbeitrages der Arbeiter Stel- lung nehmen. Der Gesetzesentwurf setzte fest, dass für die Ver- sicherten, deren Arbeitsverdienst im Durchschnitt für den Arbeits- tag mehr als 1 Gulden beträgt, diesem 25 °/o, dem Unternehmer 7 5 n/o der Versicherungs-Prämie zur Last fallen. Für Versicherte dagegen mit einem durchschnittlichen Arbeitsverdienste von we- niger als 1 Gulden , sollte der Unternehmer die Kosten allein tragen, ln logischer Konsequenz des in den Motiven ausge- sprochenen theoretischen Grundsatzes, »dass die Gefahren einer

I) Vgl. Ertl a. a. O. S. 71.

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55°

Gesetzgebung.

Berufsklasse aus den Kreisen gedeckt werden müssen, welchen das Resultat der Arbeit dieser Klasse zu gute kommt,« hättet; eigentlich die Unternehmer die Kosten der Versicherung allein tragen sollen, und es wäre viel richtiger gewesen diesem Grund satze vollständig zu entsprechen. Indessen geben wir gerne u. dass die ethischen und psychologischen Motive, welche die öster- reichische Regierung für die Heranziehung der Arbeiter tu des Versicherungs-Anstalten anführte , manches Berechtigte haben Man kann sich deshalb mit dem Grundsätze des Gesetzes be- freunden, wonach von den tarifmässigen Versicherungsbeiträgen den Betriebsbeamten und Arbeitern to */o, dem Unternehmer aber 90 °/o zur Last fallen. Auch der erste deutsche Entwurf nahm einen Beitrag der Arbeiter in Aussicht, er fiel mit Annahme des genossenschaftlichen Prinzips. Die Unter- nehmer müssen auch die Quote ihrer Arbeiter und Betriebsbeamte entrichten, sie sind jedoch berechtigt diese Vorlage bei den Lohn- oder Gehaltzahlungen anzurechnen und zurückzubehalten. An- rechnung und Zurückbehaltung erfolgt bei den im Laufe der statutenmässigen Beitragsperiode stattfindenden Lohnzahlungen auf Grund einer allen Arbeitern und Beamten bekannt zu gebend«

Berechnung des Unternehmers. Ueber Beschwerden gegen diese Berechnung entscheidet die erstinstanzliche Verwaltungsbehörde vorbehaltlich des Rechtswegs. Macht der Unternehmer von jene! Rechte bei einer Lohnzahlung keinen Gebrauch, so kann er cs bei späteren Lohnzahlungen für die seinerzeit nicht zunickbe- haltencn Quoten nur insofern ausüben, als seit der ersten Zah- lung nicht mehr als I Monat verfloss. Nach Ablauf dieses Zeit- raums verjährt das Forderungsrecht.

Die Versicherungs-Anstalt prüft die vom Unternehmer eilt gereichten Berechnungen über die Höhe der Beiträge für die ab- gelaufene Periode. Sie ist berechtigt die Bücher, Lohnlisten u. s.» durch auf Wahrung des Amtsgeheimnisses verpflichtete Sachvcr ständige einsehen zu lassen. Gegen den jene Beiträge festste- lenden Bescheid ist der gleiche Rekurs gegeben , wie bei Ba- reihung in die versicherungspflichtigen Betriebe. Besondere Be- achtung verdient die im Interesse der Fabrikbesitzer getroffene Bestimmung, wonach jene mit amtlichen Erhebungen beauftragt« Sachverständigen zur Geheimhaltung aller Geschäfts- und Betrieb geheimnisse verpflichtet werden müssen. Sie dürfen für iBf£ F'unktionen von keiner Seite eine Vergütung annchmen und haben

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Das österreichische Unfallversicherungsgesetz. 55t

die ihnen angebotene Gastfreundschaft abzulehnen. Bei Nicht- erfüllung oder Verspätung der Betriebsanzeigepflicht hat der Unter- nehmer die Beiträge für die abgelaufene Zeit allein zu tragen. Alle rückständigen Versicherungs-Beiträge sind ähnlich wie Ge- nieindeumlagen im Verwaltungsweg beizutreiben.

Das Interesse, welches jede Versicherungs-Anstalt an Ver- hütung von Unfällen, Verminderung der Unfallgefahr u. s. w. hat, rechtfertigt ihre Befugnis durch die staatlichen Gewerbeinspektoren die Betriebe besichtigen zu lassen. Der Gewerbeinspektor teilt das Resultat seiner Erhebungen unmittelbar der Versicherungs- Anstalt mit, letztere veranlasst dann bei der staatlichen Verwal- waltungsbehörde den Erlass von Unfallversicherungsvor- schriften. Die Kosten dieser gewerblichen Inspektion fallen unter die Verwaltungskosten der Versicherungs-Anstalten , der Gesamtbetrag wird vom Ministerium festgesetzt und nach dem Geschäftsumfang auf die einzelnen Versicherungs-Anstalten verteilt.

Die rasche und sichere Feststellung der Entschädigungs- ansprüche ermöglicht die dem deutschen Recht nachgebildete Pflicht zur Anzeige von Unfällen und das polizei- liche Ermittlungsverfahren. Der Unternehmer hat jeden mit Tötung oder Arbeitsunfähigkeit von nicht weniger als 3 Ta- gen verbundenen Unfall der lokalen Verwaltungsbehörde längstens binnen 5 Tagen schriftlich in 2 Exemplaren anzuzeigen. Letztere übersendet sofort ein Exemplar an die Versicherungs-Anstalt. Eine polizeiliche Untersuchung ist für alle Tötungen oder mit Arbeitsunfähigkeit von voraussichtlich mehr als 4 Wochen ver- bundenen Verletzung vorgeschrieben , sie bezweckt eine genaue Feststellung des objektiven Thatbestandes, des Arbeitsverdienstes der Verletzten, die Ermittelung aller Entschädigungsberechtigten. Der Versicherungs-Anstalt wird Gelegenheit gegeben , sich bei diesem Verfahren durch Beauftragte zu beteiligen, sie trägt die Kosten und erhält von dem Ergebnis Nachricht. Den Gemeinde- behörden liegt die Verpflichtung ob, bei Erhebung derjenigen Tatsachen mitzuwirken, welche für die Feststellung der Entschä- digung und deren Höhe in Betracht kommen, das ganze Ver- fahren drängt auf rasche Erledigung. Bei Tötungen muss die Anstalt sofort nach Abschluss jener Ermittelung, falls der Tod erst später eintritt, sobald sie davon Kenntnis erhält, die Unfall- renten festsetzen. Bei Körperverletzungen läuft eine 4wöchent- liche Frist, binnen welcher die Rentenhöhe für diejenigen Beschä-

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552

Gesetzgebung.

digten zu fixieren ist, welche zu dieser Zeit noch völlig oder teilweise erwerbsunfähig sind. Ist das Heilverfahren nach Ablauf von 4 Wochen noch nicht beendet, so beschränkt sich die Fest- stellung auf die einstweilen zu zahlenden Kenten. Konform mit dem deutschen Rechte gilt für alle nicht von Amtswegen fest- gestellten Ansprüche die präklusive einjährige Anmeldefrist. Den Abschluss der Verhandlungen bildet der schriftliche Bescheid, aus welchem die Höhe der zuerkannten Entschädigung und die Art ihrer Berechnung zu ersehen ist. Dieser motivierte Bescheid setzt den Rentenberechtigten in die Lage zu prüfen , ob er sich mit Aberkennung oder Zubilligung der Rente und deren Höhe einverstanden erklären oder das Schiedsgericht anrufen will. Auch die Auszahlung der Entschädigung soll eine rasche sein. Die Beerdigungskosten sind eine Woche nach der Feststellung, die Renten gegen Beibringung der Lebensbescheinigung in monat- lichen Raten vorauszubezahlen. Das Nähere bestimmt das Statut Die Berufung gegen den Feststellungsbcscheid geht an ein am Sitze jeder Versicherungs-Anstalt fungierendes Schieds- gericht. Es besteht aus einem ständigen Vorsitzenden, 4 Bei- sitzern und den nötigen Stellvertretern. Vorsitzender und sein Stellvertreter ist ein von der Regierung ernannter richterlicher Staatsbeamter. Von den Beisitzern werden 2, und zwar aus technischen Kreisen , von der Regierung kommittiert. Ein Bei- sitzer und sein Stellvertreter ist von den Betriebsuntemehmeni. der letzte gleichzeitig mit der Wahl in den Vorstand für dessen Funktionsdauer, von den Versicherten zu wählen. Das Verfahren regelt wie in Deutschland eine besondere Verordnung, die Kosten der Einrichtung und Verhandlungen trägt die Versicherungs-An- stalt; Rechtsmittel gegen die schiedsrichterlichen Entscheidungen sind ausgeschlossen, die Vollstreckung der Urteile und Vergleiche vollzieht das zuständige Gericht des Schuldners. Alle Entschä- digungsanspriiehe gegen die Versicherungs-Anstalt sind binnen Jahresfrist von Zustellung des Feststellungsbescheides an mittel» Klage vor dem Schiedsgericht zu erheben.

Wesentliche Aenderungen in den für Feststellung der Ent- schädigung massgebenden Verhältnissen können später eine ander- weitige Feststellung rechtfertigen. Das Verfahren richtet sich nach den allgemeinen Vorschriften. Tritt ein verunglückter Ar- beiter, welchem die Maximalrente von 60 % zuerkannt war , bet einem Arbeitgeber in eine seinem Zustande angemessene Be-

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Das österreichische Unfaih'er Sicherungsgesetz. 553

schäftigung, so kann mit Rücksicht auf den gewährten Lohn die zeitw eilige, gänzliche oder teilweise Einstellung der Rente erfolgen. Beträgt der Lohn mindestens 80 °/o des bei Berechnung der Rente zu Grunde gelegten Jahresverdienstes, so muss die Ver- sicherungs-Anstalt dem neuen Arbeitgeber für die Dauer des Dienstverhältnisses die Hälfte des durch die gänzliche oder teil- weise Einstellung der Rente ersparten Betrages vergüten. Ver- tragsmässige Kapitalisierung einer Unfallrente ist nur bei Zustim- mung der zur Armenversorgung des Empfängers verpflichteten Gemeinde gestattet. Hält sich ein rentenberechtigter Ausländer dauernd in seiner Heimat auf, so kann ihn die Versicherungs- Anstalt mit einem Kapitalbetrage abfinden. Die gesetzlichen Entschädigungsforderungen sind von allen exekutorischen Ein- griffen befreit, desgleichen Zessionen, Pfändungen, Uebertragungen, vertragsmässige Beschränkungen ohne rechtliche Wirkung. Neben der Sicherung der Arbeiter gegen die wirtschaftlichen Folgen von Unfällen verfolgt das deutsche Gesetz das Ziel, alle Streitig- keiten zwischen Arbeiter und Arbeitgeber zu beseitigen, und auch die nach dem bisherigen Rechtssysteme bestandenen Entschä- digungsansprüche aus Unfällen aufzuheben. Von diesem Grund- sätze besteht eine doppelte Ausnahme : bei durch strafrechtliches Urteil konstatiertem Vorsatz des Unternehmers erhalten die Be- troffenen neben den durch das Unfallversicherungsgesetz bemesse- nen Renten , die Differenz zwischen letzteren und der Entschä- digung des allgemeinen Rechtes (das etwaige Plus). Weiter ist der Betriebsunternehmer der Genossenschaft und den Kranken- kassen für alle durch den Unfall veranlassten Aufwendungen re- gresspflichtig, wenn durch strafrechtliches Urteil festgestellt wird, dass er den Unfall vorsätzlich oder aus Fahrlässigkeit, mit Ausser- achtlassung der gebührenden Aufmerksamkeit, verschuldet hat. Nach dem österreichischen Gesetze haftet der Unternehmer bei Vorsatz und grobem Verschulden der Versicherungsanstalt für alle auf Grund des Gesetzes zu leistenden Entschädigungen. Als Ersatz für die Rente kann dann die Versicherungs-Anstalt deren Kapitalwert fordern ; ihr Anspruch verjährt in 3 Jahren nach dem Unfälle. Daneben besteht eine I laftpflicht der Bevollmächtigten und Betriebsaufseher für Vorsatz und Verschulden (nicht allein grobes Verschulden) gegenüber der Renten zahlenden Versicher- ungs-Anstalt.

Archiv für sor. Gesetrgbg- u. Statistik. UI. u. IV. xG

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Gesetzgebung.

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Trotz der Mängel des österreichischen Gesetzes wäre dz- selbe als eine Anbahnung der sozialen Hilfe mit Freuden zu griissen, wenn die Aussichten auf eine sachgemässe Durchfuhruri; besser wären. Gewichtige Stimmen aus Oesterreich aber klage; darüber, dass die Verwaltung den ihr auf dem Gebiet der Soz i reform gestellten Aufgaben kaum gewachsen sei, und die Aus- führung mit bedauerlicher Langsamkeit vor sich gehe. Das Ge setz trat drei Monate nach der Publikation, am i. April 188S i: Kraft, während die Wirksamkeit der Versicherung an einem späte- zu bestimmenden Zeitpunkte beginnen soll. Eine Interpellant über den Stand der Ausführung des Gesetzes beantwortete de Ministerpräsident in selbstbewusster Weise dahin , »man köcne vor der Rechtskraft des Gesetzes keine Ausführungsverordnung;; erlassen* ! (sic.) Dass die Versicherung nicht mit einem Schi ins Leben gerufen werden kann , liegt auf der Hand. Ware aber die wichtigsten Vorarbeiten hinausgeschoben werden, te kaum einzusehen. Von den Durchführungsverordnungen erschis Ende März eine Verordnung über die Zusammensetzung desVtr sicherungsbeirats, mit dessen Ernennung die Regierung bis Eni: September zögerte. Ehe jenes Organ sein Urteil abgegeben bat können nach dem Gesetze die wichtigsten Vorarbeiten kaum n die Hand genommen werden. Anfangs April wurde die Veror: nung über die Anmeldung der Betriebe erlassen, und erst geg« Ende Oktober erschienen die ersten Vorlagen : ein Musters«- für die Bezirks- und Betriebskassen und eine Darstellung der i- rcchnungsart der Unfallprämien. Langsam und gemächlich be- ginnen jetzt die ersten Arbeiten zur Aufnahme der Versicherung- pflichtigen Betriebe, zur Bestimmung der Gefahrenklassen u. s. « und bei der Fülle des zu bewältigenden Materiales ist deshzh vorläufig kaum abzusehen , wann die Unfallversicheningsgesc gebung in volle Wirksamkeit treten wird.

Wir lassen nunmehr den Text des österreichischen l'nL gesetzes folgen.

Gesetz vom 28. Dezember 1887, Nr. 1 R.G.B. für 188S. be- treffend die Unfallversicherung der Arbeiter.

(Kundgumacht in dem am I. Jänner 1888 ausgegebenen I. Stücke des Reicto^

blattes.)

Mit Zustimmung beider Häuser des Rcichsrates finde Ich anruordnen, wi* -

Umfang der Versicherung. § 1. Alle in Fabriken und Hüttenwerken, «Bei- werken auf nicht vorbehaltene Mineralien, auf Werften, Stapeln und in Brüden. *•

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bas österreichische Unfaltversicherungsgesetz.

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wie in den zu diesen Betrieben gehörigen Anlagen beschäftigten Arbeiter und Be- triebsbeamten sind gegen die Folgen der beim Betriebe sich ereignenden Unfälle nach Massgabe der Bestimmungen dieses Gesetzes versichert.

Dasselbe gilt von Arbeitern , sowie von Betriebsbeamten , welche in Gewerbs- hetrieben, die sich auf die Ausführung von Bauarbeiten erstrecken oder sonst bei der Ausführung von Bauten beschäftigt sind. Diese Bestimmung findet keine Anwendung auf solche Arbeiter , welche , ohne in einem Gewerbsbetriebe der bezeichneten Art beschäftigt zu sein , lediglich einzelne Reparaturarbeiten an Bauten ausführen. Beim Baue ebenerdiger Wohn- und Wirtschaftsgebäude auf dem flachen Lande, sowie bei sonstigen landwirtschaftlichen Bauten findet eine Versicherungspflicht nicht statt , so- fern dabei nur der Bauherr, seine Hausgenossen oder andere Bewohner desselben Ortes, welche solche Bauführungen nicht gewerbemässig betreiben, beschäftigt sind.

Den im ersten Absätze angeführten Betrieben gelten im Sinne dieses Gesetzes gleich :

1. Jene Betriebe, in welchen explodierende Stoffe erzeugt oder verwendet werden;

2. jene gewerblichen oder land- und forstwirtschaftlichen Betriebe , bei denen Dampfkessel oder solche Triebwerke in Verwendung kommen , die durch elementare Kraft, (Wind, Wasser, Dampf, Leuchtgas, Ileissluft, Elektrizität u. s. w.) oder durch Tiere bewegt werden. Diese Bestimmung findet keine Anwendung auf solche Betriebe, für welche nur vorübergehend eine nicht zu der Betriebsanlage gehörige Kraftmaschine benützt wird.

Wird in einem versicherungspflichtigen land- oder forstwirtschaftlichen Betriebe eine zu der Betriebsanlage gehörige Kraftmaschine in solcher Weise benützt, dass nur eine bestimmte Anzahl von Arbeitern und Betriebsbeamten der mit dem gesamten Maschinenbetriebe verbundenen Gefahr ausgesetzt sind , so beschränkt sich die Ver- sicherungspflicht auf die dieser Gefahr ausgesetzten Personen.

Die Versicherung der in Bergwerken auf vorbehaltene Mineralien und den dazu gehörigen Anlagen beschäftigten Arbeiter und Betriebsbeamten gegen die Folgen der beim Betriebe sich ereignenden Unfälle wird durch ein besonderes Gesetz erfolgen.

Als Arbeiter, beziehungsweise als Betriebsbearate im Sinne dieses Gesetzes sind auch Lehrlinge , Volontäre , Praktikanten und andere Personen anzusehen , welche wegen noch nicht beendeter Ausbildung keinen oder einen niedrigeren Arbeitsverdienst beziehen.

§ 2. Auf Eisenbahn- und Binnenschiffahrts-Betriebe finden die Bestimmungen dieses Gesetzes nur dann Anwendung, wenn sie als integrierende Bestandteile eines versicherungspflichtigen Betriebes lediglich für diesen bestimmt sind. Doch bleiben jene Arbeiter und Betriebsbeamten den Bestimmungen dieses Gesetzes unterworfen, welche zwar von Eisenbahn-Unternehmungen beschäftigt werden, auf welche jedoch das Gesetz vom 5. März 1869, R.G.B. Nr. 27, mit Rücksicht auf ihre Beschäftigung ausserhalb des Verkehres keine Anwendung findet.

Auf Schiffahrtsbetriebe , welche den Seegesetzen unterliegen , finden die Bestim- mungen dieses Gesetzes keine Anwendung.

§ 3. Der Minister des Innern ist ermächtigt, für einzelne nach § 1 versicherungs- pflichtige Unternehmungen, welche mit Unfallsgefahr für die darin beschäftigten Per- sonen nicht verbunden sind, die Versicherungspflicht auszusch Messen.

Desgleichen ist der Minister des Innern berechtigt , andere als die im § 1 be- zeichneten Unternehmungen , welche mit Unfallsgefahr , namentlich mit besonderer Feuersgefahr verbunden sind, der Versicherungspilicht zu unterwerfen.

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556 G esctzgebung.

Die in beiden Richtungen getroffenen Verfügungen sind dem Reichsnte ailjbr- lieh mitzuteilen.

Dem Minister des Innern steht auch zu, erforderlichenfalls Vorschriften daribe zu erlassen, welche mechanischen Vorrichtungen als unter die im § 1, Absatz 3. er- wähnten Triebwerke gehörig anzusehen sind.

§ 4. Dieses Gesetz findet keine Anwendung auf Bedienstete, welche meiner Betriebe des Staates, eines lindes, einer Gemeinde oder eines öffentlichen Fooöes angestellt sind, sofern ihnen und ihren Angehörigen beim Eintritte eines Betricbt- unfalles der Anspruch auf eine Pension zusteht, welche die Höhe der in deü r und 7 festgesetzten Rente erreicht oder übersteigt.

Gegenstand der Versicherung , Umfang und Berechnung der Entsdü digung. § 5. Den Gegenstand der im tj 1 bczeichneten Versicherung bildet durch dieses Gesetz bestimmte Ersatz des Schadens, welcher durch eine Körper- verletzung oder durch den Tod des Versicherten entsteht.

§ 6. Im Falle einer Körperverletzung soll der Schadenersatz in einer dem Var- letzten vom Beginne der fünften Woche nach Eintritt des Unfalles angetangen Jw die Dauer der Erwerbsunfähigkeit zu gewährenden Rente bestehen.

Für die Berechnung der Rente wird zunächst der Arbeitsverdienst ermittelt, wel- chen der Verletzte während des letzten Jahres seiner Beschäftigung in dem Betrieb wo der Unfall sich ereignete, bezogen hat. War der Verletzte in dem Betriebe «fc ein volles Jahr, von dem Unfälle zuriickgerechnet, beschäftigt, so ist für die Bereg- nung der Rente jener Arbeitsverdienst massgebend, welchen während dieses Zeitraaoe Arbeiter derselben Art in demselben Betriebe oder in benachbarten gleichartig« Be- trieben durchschnittlich bezogen haben.

Findet der Betrieb seiner Natur nach nicht während des ganzen Jahres, ^oöden nur während einer gewissen Betriebszeit statt, so wird demnach bei der Berechsa^ des durchschnittlichen täglichen Arbeitslohnes nur die Zahl der Arbeitstage «ilren- der Bctriebszcit berücksichtigt.

Zufällige Betriebsunterbrechungen haben ausser Betracht zu bleiben.

Das Dreihundertfache des durchschnittlichen täglichen Arbeitsverdienstes gilt w Jahres-Arbeits verdienst.

Uebersteigt der Jahres-Arbeitsverdienst eines Arbeiters oder Betriebsbeamten ^ Summe von zwölfhundert Gulden, so bleibt der Mehrbetrag ausser Berechnung.

Der Jahres-Arbeitsverdienst von Lehrlingen , Volontären , Praktikanten and deren Personen , welche wegen noch nicht beendeter Ausbildung keinen oder 00s niedrigeren Arbeitsverdienst beziehen, ist in derselben Hohe wie der niedrigste Jahr»- Arbeitsverdienst vollgelohnter Arbeiter , beziehungsweise Betriebsbeamler jener Be- schäftigung , für welche die Ausbildung erfolgt , jedoch höchstens mit einem Betrag von dreihundert Gulden zu bemessen.

Die Rente beträgt :

a) im Falle gänzlicher Erwerbsunfähigkeit und für die Dauer derselben 60 Frctf* des Jahresarbeitsverdienstes ;

b) im Falle teilweiser Erwerbsunfähigkeit und für die Dauer derselben einen B ur- teil der unter a) festgesetzten Rente , welche nach dem Masse der verbliebene Erwerbsfähigkeit zu bemessen ist, jedoch nicht über 50 Prozent des Jahns-A*- beitsverdienstes betragen darf.

Dem Verletzten steht ein Anspruch auf Schadenersatz nicht zu , wenn er öfl Betriebsunfall vorsätzlich herbeigeführt hat.

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Das österreichische Unfalhersicherungsgesetz. 557

§ 7. Im Falle der Tod aus dem Betriebsunfälle erfolgt ist, soll der Schaden- ersatz ausser in den Leistungen , welche nach § 6 dem Verletzten für die Zeit vor dem Eintritte des Todes etwa gebühren, noch bestehen :

1. in den Beerdigungskosten , welche nach dem Gebrauche des Ortes , jedoch höchstens mit dem Betrage von 25 fl zu bemessen sind;

2. in einer den Hinterbliebenen des Getöteten vom Todestage angefangen zu gewahrenden Rente, für deren Berechnung die Bestimmungen des § 6, Absatz 2 bis 7, massgebend sind.

Diese Rente beträgt :

a) für die Witwe des Getöteten bis zu deren Tode oder Wiederverheiratung 20 Pro- zent; für den Witwer, wenn und insolange er erwerbsunfähig ist, 20 Prozent; für jedes hinterbliebene eheliche Kind bis zu dessen zurückgelegtem 15. Lebens- jahre 15 Prozent , und wenn dasselbe auch den zweiten Eltcrnteil verloren hat oder verliert, 20 Prozent des Jahresarbeitsverdienstes ; für jedes hinterbliebene uneheliche Kind bis zu dessen zurückgelegtem 15. Lebensjahre 10 Prozent des Jahresarbeitsverdienstes. Die Renten der Witwe, beziehungsweise des Witwers und der Kinder können zusammen 50 Prozent des Jahresarbeitsverdienstes nicht übersteigen ; ergibt sich aus den obigen Sätzen ein höherer Betrag , so werden die einzelnen Renten verhältnismässig gekürzt;

b) für die Aszendenten des Verstorbenen , wenn dieser ihr einziger Ernährer war, für die Zeit bis zu ihrem Tode oder bis zum Wegfalle der Bedürftigkeit 20 Pro- zent des Jahresarbeitsverdienstes. Dieser Betrag darf wegen des Vorhandenseins mehrerer Berechtigter nicht überschritten werden und gebührt in diesem Falle den Eltern der Vorzug vor den Gross-Eltern.

Im Falle der Wiederverheiratung erhält die Witwe den dreifachen Betrag ihrer Jahresrente als Abfertigung.

Hat die verletzte Person erst nach «lern Unfälle eine Ehe geschlossen, so steht nach ihrem Tode der Witwe, beziehungsweise dem Witwer und den aus einer solchen Ehe entsprossenen Kindern ein Anspruch nicht zu. Auch den unehelichen Kindern, welche erst nach dem Unfälle erzeugt wurden, sowie einem aus seinem Verschulden nicht in ehelicher Gemeinschaft lebenden Ehegatten steht ein Anspruch nicht zu.

Wenn Berechtigte der unter a bezcichncten Art mit Berechtigten Zusammentreffen, welche unter b bezeichnet sind, so steht den letzteren ein Anspruch nur insoweit zu, als für die ersteren der bezeichnete Höchstbetrag der Rente nicht in Anspruch ge- nommen wird.

§ 8. Als Gehalt oder Lohn iin Sinne dieses Gesetzes gelten auch Tantiemen und Naturalbezüge. Der Wert der letzteren ist nach den örtlichen Durchschnitts- preisen in Ansatz zu bringen.

Versicherungsanstalten. Mitglieder und Vorstand derselben. § 9. Die

im § I vorgescbricbene Versicherung erfolgt durch besondere, zu diesem Zwecke zu errichtende Versicherungsanstalten, welche auf dem Grundsätze der Gegenseitigkeit beruhen.

ln der Regel soll für jedes Land in der I^andeshauptstadt eine solche Versicher- ungsanstalt errichtet werden. Der Minister des Innern ist jedoch ermächtigt, entweder in einem und demselben Lande mehrere Versicherungsanstalten oder für mehrere be- nachbarte Länder eine Versicherungsanstalt z.u errichten. In diesen Fällen bestimmt der Minister des Innern den Sitz der Versicherungsanstalt. Vor jeder solchen Ver- fügung sind von den betreffenden I^mdes-Ausschüssen Gutachten einzuholen.

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Gesetzgebung.

Dem Minister des Innern ist ferner das Recht Vorbehalten , unter Festhalten^ der im zweiten Absätze bezeichnten territorialen Grenzen die Bezirke der in Genäs- heit dieses Gesetzes errichteten Versicherungsanstalten zu ändern, mehrere solche Aa* stallen zu einer einzigen zu vereinigen oder die Teilung einer solchen Anstalt in»- ordnen. Vor jeder solchen Verfügung sind die beteiligten Versicherungsanstalt«: e»- zuvernehmen , sowie von den betreffenden Landes- Ausschüssen Gutachten etnzoholen

Die bezeichnten Versicherungsanstalten unterliegen der staatlichen Aufsicht aad Massgabe der für andere Versicherungsanstalten geltenden und der besonderen m die- sem Gesetze enthaltenen Bestimmungen.

Die besoldeten Beamten dieser Versicherungsanstalten sind in Eid und Pflicht « nehmen. Sie unterstehen der Disciplinargewalt des Vorstandes. Zur Anstellung utk Entlassung des leitenden Beamten , ferner des Versicherungstechnikers und des Buch- halters ist die staatliche Genehmigung erforderlich.

§ io. Mitglieder der im § 9 bezeichneten Versicherungsanstalten sind die law nehmer der in dem Bezirke der Anstalt gelegenen versicherungspflichtigen Betriebe und die in denselben beschäftigten im § 1 bezeichneten Arbeiter und Betriebsbeiatcä.

§ 11. Als Unternehmer eines Versicherungspflichtigen Betriebes gilt Derjenige, fe dessen Rechnung der Betrieb erfolgt.

Für die im § 1, Absatz 2, bezeichneten Betriebe gilt als Unternehmer, soweit 0 sich um Arbeiter und Betriebsbeamte handelt, welche in Gewerbsbetrieben besduiv sind, die sich auf Ausführung von Bauarbeiten erstrecken , der betreffende Gewerbe- treibende; für sonstige bei der Ausführung eines Baues beschäftigte Personen Do- jenige, welcher die Ausführung eines Baues als Unternehmer übernommen hat, nad sofern ein solcher nicht vorhanden ist, der Bauherr.

Für die bei den im § i, Absatz 3, Ziffer 2, bezeichneten Betrieben vorübergehend benützten, nicht zu der Betriebsanlage gehörigen Kraftmaschinen gilt als Unteroehne soweit es sich um die durch diesen Maschinenbetrieb gefährdeten Arbeiter und Be triebsbeamten handelt, der Eigentümer der Kraftmaschinen.

§ 12. Der Vorstand der nach § 9 zu errichtenden Versicherungsanstalten, wdcht» die gesamte Geschäftsführung und die Vertretung der Anstalt zusteht, ist als «a Kol- legium in der Weise zu organisieren , dass derselbe aus einer durch Drei teilbar® Anzahl von Mitgliedern gebildet wird , von welchen ein Drittel aus Vertretern & Betriebsunternehmer, das zweite Drittel aus Vertretern der Versicherten und das letzte Drittel aus solchen mit den wirtschaftlichen Verhältnissen des Bezirkes vertrauten P®- sonen besteht, welche von dem Minister des Innern nach Einvernehmung des betreß»- den Landes- Ausschusses in den Vorstand berufen werden. Der Vorstand wählt ** seiner Mitte den Obmann und dessen Stellvertreter.

Der Minister des Innern ist berechtigt, den Vorstand einer Versicherung»®*1 anfzulösen und die Geschäftsführung und Vertretung derselben provisorisch einem Ver- walter zu übertragen. Jedoch ist der Minister gehalten, binnen vier Wochen w- der Auflösung die nötigen Veranlassungen behufs neuerlicher Konstituierung des Vor- standes zu treffen.

Statut der Versicherungsanstalten. § 13. Für jede Versicherungsanstalt -* nach dem Vorbilde eines im Verordnungswege zu veröffentlichenden MusteßüM® ein Statut auszuarbeiten , in welches namentlich die näheren Bestimmungen üb« du aktive und passive Wahlrecht der Mitglieder, sowie über die Wrahl der im § 12 h** zeichneten Vertreter der Betriebsunternehmer und der Versicherten, ferner üb« &

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Das österreichische Unfaiher Sicherungsgesetz. 559

Beitragsperiode aufzunehmen sind und welches , sowie alle späteren Abänderungen desselben zur Giltigkeit der staatlichen Genehmigung bedarf

Das Statut hat auch die erforderlichen Bestimmungen über die Form und den Inhalt der nach diesem Gesetze von den Betriebsunternehmern an die Versicherungs- anstalt zu erstattenden Anzeigen und derselben zu liefernden Berechnungen und Nach- weisungen, sowie darüber zu enthalten, in welcher Weise diese Anzeigen, Berech- nungen und Xachweisungen an die Versicherungsanstalt zu gelangen haben.

Gefahrenklassen. § 14. Sämtliche im Geltungsgebiete dieses Gesetzes gelege- nen versicherungspflichtigen Betriebe werden in Gefahrenklassen eingeteilt.

Das Verhältnis, in welchem die versicherungspflichtigen Betriebe hinsichtlich des Durchschoittsmasses ihrer Unfallsgefahr zu einander stehen , wird ziflermässig in der Weise festgestellt, dass das Durchschnittsinass für die gefährlichsten Betriebe gleich 100 gesetzt und darnach das Durchschnittsmass aller übrigen Betriebe in Prozentsätzen bemessen wird.

Auf Grund dieser Bemessung erfolgt die Einreihung der versicherungspflichtigen Betriebe in die einzelnen Gefahrenklassen in der Weise , dass jede Gefahrenklasse mehrere ziflermässig unmittelbar aufeinander folgende Prozentsätze umfasst.

Die Einteilung der versicherungspflichtigen Betriebe in Gefahrenklassen und die Feststellung der Prozentsätze jeder Gefahrenklasse erfolgen auf Grund der Ergebnisse der Unfallstatistik im Verordnungswege.

Die Einreihung der in eine Gefahrenklasse gehörigen Betriebe in die einzelnen Prozentsätze dieser Klasse erfolgt durch die Versicherungsanstalt nach Massgabe der Unfallsgefahr der einzelnen Betriebe und namentlich mit Rücksicht auf die bei den- selben bestehenden Einrichtungen zur Verhütung von Unfällen. Die Gefahrenklassen und die innerhalb derselben festgesetzten Prozentsätze werden mit einem Verzeichnisse der jeder Gefahrenklasse angehörenden Industriezweige und Betriebsarten öffentlich bekannt gemacht.

Die Einteilung und Gefahrenklassen und die Feststellung der Prozentsätze sind auf Grund der Erfahrungen sämtlicher im § 9 bezeichneten Versicherungsanstalten von fünf zu fünf Jahren einer Revision zu unterziehen. Diese Revision hat im fünften Jahre der betreffenden Periode in der Weise stattzufinden, dass die in Folge dersel- ben verfügten Aenderungen mit Beginn des sechsten Jahres in Wirksamkeit treten können.

Die erste Revision ist jedoch schon in einem früheren Zeitpunkte vorzunehmen, wenn die bis dahin gesammelten Erfahrungen hiezu ausreichen.

Reservefonde. § 15. Bei jeder in Gemässheit dieses Gesetzes errichteten Ver- sicherungsanstalt ist zur Bildung eines Reservekapitales jährlich ein Betrag zu ver- wenden, dessen Höhe vom Minister des Innern festgesetzt wird. Demselben Zwecke sind auch die Ueberschüssc aus der Geschäftsgebahrung der Anstalt zuzuführen.

Das Reservekapital darf in keinem Falle mehr als zehn Prozent des zur Deckung der Verpflichtungen der Versicherungsanstalt erforderlichen Fondes betragen.

Von den gesammten bei einer Versicherungsanstalt sich ergebenden Zuflüssen zum Reservckapitale sind zwei Dritteile zur Bildung eines Spezial-Reservefonds für die be- treffende Versicherungsanstalt, das letzte Dritteil zur Bildung eines gemeinsamen Re- servefonds für sämtliche im Geltungsgebiete dieses Gesetzes crrrichteten Versicherungs- anstalten zu verwenden.

Die Reservefonds sind zur Deckung der Abgänge bestimmt, welche bei der Auf- stellung der jährlichen Bilanz aus der Vergleichung der Hohe der nach versicherungs-

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Gesetzgebung.

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technischen Grundsätzen berechneten Verpflichtungen der Anstalt mit den zur Dedr; dieser Verpflichtungen bestimmten Aktiven sich ergeben. Hiebei ist in der Weist vorzugehen , dass für den bei einer Anstalt sich ergebenden Abgang runäch« de Spezial-Reservefonds der betreffenden Anstalt zu verwenden ist und erst nach Ar- zehrong desselben der gemeinsame Reservefonds in Anspruch genommen werden br

Der gemeinsame Reservefonds wird vom Staate als ein besonderer Fonds vemltrt Ueber die Verwendung desselben zu den oben bezeichncten Zwecken entsche*l« nt Fall zu Fall der Minister des Innern.

Kapitalsdeckung. Versicherungsbeiträge. § 16. Die Mittel zu de ud versicherungstechnischcn Grundsätzen zu berechnenden Deckung der von den Ver- sicherungsanstalten nach Massgabe der §§ 6 und 7 zu leistenden Ersätze nad x Vcrwaltungskosten , sowie des nach § 15 zur Bildung eines Reservekapiuls a w- wendenden Betrages werden durch Beiträge aufgebracht, welche von den Mkgliedn nach Massgabe des von den Versicherten bezogenen Arbeitsverdienstes za entreka sind (Versicherungsbeiträge). Ein Arbeitsverdienst, welcher den Betrag von > hundert Gulden für ein Jahr übersteigt , kommt nur mit diesem letzteren Betrag« > Anrechnung. Für die im § 6, Absatz 7, bezeichnetcn Personen ist der für die Höh ihrer Versicherung massgebende Arbeitsverdienst in Anrechnung zu bringen.

Die Versicherungsbeiträge werden nach einem von der Versicherungsansft - - zustellenden, staatlich zu genehmigenden Tarife bemessen. Die Aufstellung de L rifes hat auf Grund des Beitragssatzes zu erfolgen, welcher für je ein Gefahrenpro^ und einen Gulden des Arbeitsverdienstes als erforderlich ermittelt wird.

Für das erste Betriebsjahr wird der Tarif im Verordnungswege festgesttllL

Der Minister des Innern ist berechtigt auf Grund des Ergebnisses der bk* gebahrung einer Versicherungsanstalt die Erhöhung oder Herabsetzung ihres Tirs anzuordnen.

§ 17. Von den tarifmässigen Versicherungsbeiträgen fallen dem Versicherte9 Prozent , dem Unternehmer des versicherungspflichtigen Betriebes neunzig zur Last.

Die tarifmässigen Versicherungsbeiträge für jene Versicherten , welche ein«* beitsverdienst in Geld nicht beziehen , fallen «lern Unternehmer des versehe«^' pflichtigen Betriebes allein zur Last.

Feststellung der versicherungspflichtigen Betriebe und Einreibung -r selben. § 18. Die Betriebsunternehmer 11) sind verpflichtet, über jeden beszete5, den versicherungspflichtigen Betrieb binnen einer vom Minister des Innern jb ' * ordnungswege festzusetzenden Frist und über jeden nach Ablauf dieser Frist * gonnenen versicherungspflichtigen Betrieb binnen längstens vierzehn Tagen tf Versicherungsanstalt , in deren Bezirk der versicherungspflichtige Betrieb geleg*® ' eine Anzeige zu erstatten , welche den Gegenstand und die Art des Betrieb« Zahl der in demselben beschäftigten versicherungspflichtigen Personen und die der für die Versicherung dieser Personen massgebenden Jahresarbeitsvcnkeffifr >? Absatz 5, 6 und 7) angibt. Für die neu begonnenen Betriebe ist in der A®*? auch der Tag der BetriebseröfFnung bekannt zu geben.

Auch die politischen Behörden erster Instanz haben über die in ihrem Spa? bestehenden oder neu eröffneten versichcrungspflichtigen Betriebe Mittheilsng*1 die betreffende Versicherungsanstalt zu richten.

Nach Empfang einer solchen Anzeige oder Mitteilung hat der Vorstaad der

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Das österreichische i ’nfal/versichcrungsgesetz. 561

sicherungsanstalt darüber zu entscheiden , ob ein Betrieb thatsiichlich versichcrungs- pflichtig und, im bejahenden Falle, in welche Gefahrenklasse und unter welchen Prozentsatz dieser Gefahrenklasse derselbe einzureihen sei. Von dieser Entscheidung ist der Bctricbsuntcrnchmer unter Mitteilung des Tarife* zu verständigen. Derselbe ist berechtigt, binnen vierzehn Tagen nach der Zustellung gegen diese Entscheidung bei der politischen Landesbehörde Einspruch zu erheben. Diese letztere Behörde hat über den Einspruch die Versicherungsanstalt einzuvcrnchmen und die etwa sonst erforderlichen Erhebungen zu pflegen, und entscheidet hierauf unter Vorbehalt des Rechtszuges an das Ministerium des Innern.

Zur Erhebung des bezeichneten Einspruches gegen die Entscheidung der Ver- sicherungsanstalt ist auch das bei derselben bestehende Organ der Staatsaufsicht be- rechtigt.

Die Erhebung des Einspruches hat keine aufschiebende Wirkung.

§ 19. Der Betriebsuntemchmer 11) ist verpflichtet , jede Aenderung in dem Gegenstände oder in der Art des Betriebes, welche für die Versichern ngspflichtigkeit, für die Einreihung in die Gefahrenklasse oder in den Prozentsatz einer Gefahrenklasse von Bedeutung sein kann , binnen acht Tagen der Versicherungsanstalt anzuzeigen. Diese hat darüber zu entscheiden, ob in Folge der cingetretenen Aenderung das Unternehmen aufgehört hat, versichcrungspflichtig zu sein , oder ob dasselbe in eine andere Gefahrenklasse oder in einen anderen Prozentsatz derselben Gefahrenklasse einzureihen ist.

Bezüglich der Entscheidung über diese Anzeige und des Einspruches gelangen die Bestimmungen des § 18, Absatz 3, 4 und 5, zur Anwendung.

§ 20. Gelangen thatsächliche Umstände , welche für die Einreihung eines ver- sicherungspflichtigen Betriebes in eine Gefahrenklasse oder in den Prozentsatz einer Gefahrenklasse von Einfluss sind, erst nach einer der in den 18 und 19 bezeich- neten Entscheidungen zur Kenntnis der Versicherungsanstalt, so ist dieselbe berechtigt, nach Einvernehmung des Betriebsunternehmers zu entscheiden , dass der betreffende Betrieb vom Zeitpunkte dieser Entscheidung in eine andere Gefahrenklasse oder in einen anderen Prozentsatz, derselben Gefahrenklasse cingereiht werde.

Bezüglich dieser Entscheidung und des Einspruches gegen dieselbe gelangen die Bestimmungen des § iS, Absatz 3, 4 und 5, zur Anwendung.

Feststellung und Einhebung der Versicherungsbeiträge. § 21. Binnen 14 Ta- gen nach Ablauf jeder statutenmässigen Beitragsperiode haben die Betriebsunternehmer 11) die von ihnen und den von ihnen beschäftigten Personen zu leistenden Quoten des tarifmässigen Versicherungsbeitrages unter Beifügung einer Berechnung über die Hohe des Versicherungsbeitrages für die abgelaufene Beitragsperiode bei der Anstalt einzuzahlen.

§ 22. Die Betriebsunternehmer sind verpflichtet, auch die den Versicherten zur I #ast fallende Quote des Versicherungsbeitrages an die Versicherungsanstalt zu ent- richten. Sie sind jedoch berechtigt , den von ihnen beschäftigten Personen den Be- trag, welchen diese letzteren nach Massgabe des § 17 zu dem Versicherungsbeiträge zu leisten haben, bei der Lohn- oder Gehaltszahlung auf den verdienten Lohn oder Gehalt anzurechnen und von demselben zurückzubehalten. Die Anrechnung und Zu- rückbehaltung erfolgt bei dem im Laufe der statutenmässigen Beitragsperiode , für welche der Versicherungsbeitrag zu leisten ist, stattfmdenden Lohn- und Gehaltszah- lungen auf Grund einer von dem Betriebsuntemehmer zu verfassenden Berechnung,

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562 G esetzgcbung.

welche sämtlichen in dem Betriebe beschäftigten versicherten Personen bekannt zo geben ist.

lieber Beschwerden gegen diese Berechnung entscheidet die politische Behörde erster Instanz unter Vorbehalt des weiteren Rechtszuges.

Macht der Betriebsunternehmer von dem ihm zustehenden Rechte der Anrech- nung und Zurückbehaltung bei einer Lohn- oder Gehaltszahlung keinen Gebrauch, » kann er bei späteren Lohn- oder Gehaltszahlungen dieses Recht bezüglich der seiner- zeit nicht zurückbehaltenen Quote nur insofern ausüben , als seit der betreffenden Lohn- oder Gehaltszahlung nicht mehr als ein Monat verflossen ist.

Nach Ablauf dieses Zeitraumes ist auch eine anderweitige Geltendmachung de» Forderungsrechtes ausgeschlossen.

§ 23. Die Versicherungsanstalt prüft, ob die von den Betriebsuntemehroera em- gereichten Berechnungen über die Höhe der Versicherungsbeiträge für die abgclaefcne Beitragsperiode 21) richtig sind.

Zu diesem Ende ist sie berechtigt, durch Beauftragte an Ort und Stelle diejeni- gen Aufschrcibungen der Betriebsunternehmung einsehen zu lassen, welche zur Ermitt- lung der Bezüge der Versicherten nötig sind.

Die Betriebsunternehmer sind verpflichtet, den legitirairten Vertretern der Ver- sicherungsanstalt diese Aufscbreibungen zur Einsicht vorzulegen. Auf Grund der vor- genommenen Prüfung erfolgt die Feststellung der Versicherungsbeiträge für die ab- gelaufenc Beitragsperiode.

Kommt der Bctriebsuntemehmer der ihm nach § 21 obliegenden Pflicht zur Vor- lage der obigen Berechnung nicht rechtzeitig nach, so hat die Anstalt den Versicher- ungsbeitrag für die abgelaufene Beitragsperiode von Amtswegen festzustellen. Auch in diesem Falle steht ihr das Recht zur Einsicht der oben be/eiclmelen Aufscbrdb- ungen des Betriebsunternehmers zu, und obliegt dem Letzteren die entsprechende Ver- pflichtung zur Vorlage derselben.

Von dem Ergebnisse der Feststellung ist der Betriebsuntemehmcr zu verständigen. Zugleich ist die erforderliche Veranlassung wegen einer allfälligen Nachzahlung oder Rückvergütung zu treffen.

Der Betriebsunternehmer ist berechtigt, binnen 14 Tagen nach erfolgter Versün- digung gegen die Feststellung des Versicherungsbeitrages bei der politischen Lande»* behörde Einspruch zu erheben. Diese letztere Behörde hat über den Einspruch die Versicherungsanstalt einzuvernehmen und die etwa sonst erforderlichen Erhebungen rs pflegen; sie entscheidet hierauf unter Vorbehalt des Rechlszuges an das Ministenun des Innern.

Zur Erhebung des bezeichneten Einspruches gegen die Feststellung des Ver- sicherungsbeitrages ist auch das bei der Versicherungsanstalt bestehende Organ dff Staatsaufsicht berechtigt.

Die Erhebung des Einspruches hat keine aufschiebende Wirkung

§ 24. Jene Personen , welche von einer Versicherungsanstalt beauftragt werden, in Gemässheit des § 23 in die Aufscbreibungen eines Betriebsunternehmens Einsicht zu nehmen, sind in Eid und Pflicht zu nehmen und namentlich zur Geheimhaltung der zu ihrer Kenntnis gelangten Geschäfts- und Betriebsverhältnisse zu verpflichten.

Diese Personen dürfen für ihre bezüglichen Verrichtungen weder von den Be- triebsunternehmern, noch von den Versicherten eine wie immer geartete Vergütung annehmen und haben die ihnen von denselben angebotene Gastfreundschaft ah®* lehnen.

Das österreichische UnfaUversicherungsgesetz.

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Weder diese Personen, noch die Versicherungsanstalten seihst dürfen von der Finanzverwaltung nach irgend einer Richtung hin in Anspruch genommen werden.

§ 25. Wird die im § 18 vorgeschriebene Anzeige gar nicht oder nicht recht- zeitig erstattet und gelangt die Versicherungsanstalt in Folge dessen erst nachträglich zur Kenntnis von dem llestande eines versicherungspflichtigen betriebe«, so hat jeder Betriebsuntemehmer , welcher die obige Anzeige nicht oder nicht rechtzeitig erstattet hat, die Versicherungsbeiträge für die während der Dauer seines Betriebes bis zu dem Zeitpunkte, in welchem die Versicherungsanstalt von dem Bestände des betreffenden Betriebes Kenntnis erhalten hat, abgelaufenen Beitragsperioden allein zu tragen.

Bezüglich der Feststellung der rückständigen Versicherungsbeiträge und des Ein- spruches gegen diese Feststellung gelangen die Bestimmungen des § 23 , Absatz 2 bis 6, zur Anwendung.

§ 26. Rückständige Versicherungsbeiträge werden im Verwaltungswege einge- trieben.

§ 27. Wird ein versicherungspflichtiger Betrieb eingestellt, so hat der Betriebs- unternehmer (§ 11) binnen acht Tagen der Versicherungsanstalt davon Anzeige zu machen. Gleichzeitig mit der Erstattung der Anzeige ist der Versicherungsbeitrag für die Zeit seit Ablauf der letzten statutenmässigen Beitragsperiode, unter Beifügung einer Berechnung •(§ 21), bei der Anstalt cinzuzahlen.

Besichtigung der Betriebsanlagen. §. 28. Die Versicherungsanstalt ist be- rechtigt, an den zuständigen Gewerbe-Inspektor das Ersuchen zu richten, dass er den versicherungspflichtigen Betrieb an Ort und Stelle besichtige. Der Gewerbe-Inspektor hat diesem Ersuchen mit tunlichster Beschleunigung zu entsprechen.

Auf die bezeichneten Besichtigungen finden die Bestimmungen des Gesetzes vom 17. Juni 1883, R.G.B. Nr. 117, volle Anwendung. Der Betriebsunternehmer, sowie dessen Beauftragte sind verpflichtet , dem Gewerbeinspektor die gewünschten Aus- künfte insbesondere über jene Verhältnisse zu geben , welche auf die mit dem Be- triebe verbundene Unfallsgefahr von Einfluss sind

Der Gewerbe-Inspektor hat über die von ihm gemachten Wahrnehmungen un- mittelbar an die Versicherungsanstalt die entsprechenden Mitteilungen zu richten. Auf Grund dieser Mitteilungen kann die Versicherungsanstalt bei der politischen Behörde erster Instanz , in deren Sprengel der versicherungspflichtige Betrieb gelegen ist , die Erlassung von Anordnungen über die von dem Betriebsuntemehmer zur Verhütung von Unfällen in seinem Betriebe zu treffenden Einrichtungen, sowie über das zu dem- selben Zwecke von den Versicherten zu beobachtende Verhalten beantragen. Wird seitens der politischen Behörde erster Instanz dem Anträge der Versicherungsanstalt stattgegeben, so sind die erlassenen Anordnungen, gegen welche der weitere Rechts- zug offen steht, dem Betriebunternehmer zuzustellen und in der ßetriebsstätte in ge- eigneter Weise bekannt zu machen.

Die Kosten, welche durch die Uebertragung der im ersten Absätze bezeichneten Verrichtungen an die Gewerbe-Inspektoren überhaupt und namentlich durch die hie- durch als notwendig sich herausstellende Vermehrung der Gewerbe-Inspektoren ent- stehen, sind als Verwaltungskosten der Versicherungsanstalten zu behandeln. Der Gesamtbetrag dieser Kosten ist vom Handelsminister im Einvernehmen mit dem Mi- nister des Innern festzusetzen und von dem Letzteren mit Rücksicht auf den Ge- schäftsumfang der einzelnen Versicherungsanstalten auf dieselben zu verteilen.

Pflicht zur Anzeige von Unfällen. § 29. Von jedem in einem versicherungs- pflichtigen Betriebe vorkommenden Unfälle , durch welchen eine in demselben be-

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Gesetzgebung.

schäftigte Person getötet worden ist oder eine körperliche Verletzung erlitten Hai, welche den Tod oder eine Arbeitsunfähigkeit von nicht w'eniger als drei Tagen rar Folge hatte, ist von dem Betriebsunternehmer oder von Demjenigen, welcher rar Zet: des Unfalles den Betrieb zu leiten hatte, längstens binnen fünf Tagen nach dem Un- fälle die schriftliche Anzeige in zwei Exemplaren an die politische Behörde erster In- stanz zu erstatten.

Form und Inhalt dieser Anzeige wird im Verordnungswege festgesetzt-

§ 30. Die politische Behörde hat von jeder bei ihr einlangenden Unfallsanzeigc 29) ein Exemplar ungesäumt der Versicherungsanstalt zu übersenden.

Feststellung der Entschädigungsansprüche. §. 31. Gelangt ein Unfall rar Anzeige, durch welchen eine versicherte Person getötet wird oder eine Körperm- letzung erleidet, welche voraussichtlich den Tod oder eine Erwerbsunfähigkeit voo mehr als vier Wochen zur Folge haben wird , so hat die politische Behörde durch geeignete Erhebungen sobald wie möglich insbesondere festzustellcn :

1. die Veranlassung und Art des Unfalles ;

2. die getöteten oder verletzten Personen ;

3. den Arbeitsverdienst derselben;

4. die Art der vorgekommenen Verletzungen ;

5. den Aufenthalt der verletzten Personen ;

6. die Hinterbliebenen der durch den Unfall getöteten Personen, welche nach § 7 zur Erhebung eines Ersatzanspruches berechtigt sind.

Die Versicherungsanstalt kann durch einen Beauftragten an den Erhebungen sd beteiligen. Zu diesem Ende ist ihr von der Einleitung derselben rechtzeitig Kenon& zu geben. Die abfälligen Kosten der Erhebungen und namentlich jene, welche ö«rcfc die erforderlichenfalls etwa beigezogenen Sachverständigen verursacht werden, sV von der Versichemngsanstalt zu tragen Das Ergebnis der gepflogenen Erhebusgö ist der Versicherungsanstalt mitzuteilen.

§ 32. Die Gemeindebehörden sind verpflichtet, bei Erhebung derjenigen Tbu- sachen mitzuwirken, welche für die Feststellung der Entschädigungsherechtigangf^ in Betracht kommen.

§ 33- Sind versicherte Personen in Folge des Unfalles getötet, so hat dje Ver- sicherungsanstalt sofort nach Abschluss der Erhebungen 31) oder, falls der TV erst später eintritt , sobald sie von demselben Kenntnis erlangt , die Feststellung der nach § 7 zu leistenden Entschädigung vommehmen

Sind versicherte Personen in Folge des Unfalles körperlich verletzt, so ist naci Ablauf von vier Wochen, nach dem Eintritte des Unfalles, die Feststellung der naci § 6 gebührenden Rente für diejenigen verletzten Personen vorzunehmen , welche a dieser Zeit noch völlig oder teilweise erwerbsunfähig sind.

Für diejenigen verletzten Personen, welche sich nach Ablauf von vier Wocber noch in ärztlicher Behandlung behufs Heilung der erlittenen Verletzungen befinde», ist die Feststellung zunächst auf die bis zur Beendigung des Heilverfahrens zu leisten- den Rentenzahlungen zu beschränken, im Uebrigen aber die Feststellung der Rena erst nach Beendigung des Heilverfahrens vorzunehmen

§ 34. Entschädigungsansprecher , für welche die Entschädigung nicht von Amts- wegen festgestellt wurde, haben ihren Anspruch bei Vermeidung des Ausschlusses w Ablauf eines Jahres nach dem Eintritte des Unfalles bei der betreffenden Versicher- ungsanstalt anzumelden.

Wird der angemcldete Entschädigungsanspruch als begründet anerkannt, so ist

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Das österreichische C 'nfaliver Sicherungsgesetz. 565

die Höhe der Entschädigung sofort festzustellen; im entgegengesetzten Falle ist der Entschädigungsanspruch abzulehnen.

§ 35. Die Betriebsunternehmer sind verpflichtet, der Versicherungsanstalt über Aufforderung binnen acht Tagen über den Lohn und Gehalt der getöteten und ver- letzten sowie der in ihren Betrieben beschäftigten Personen jene Nachweisungen zu liefern, welche zur Berechnung des Arbeitsverdienstes nach § 6, Absatz 2 bis 7, er- forderlich sind.

§ 36. Leber die Feststellung der von Amtswegen oder über Anmeldung der Entschädigungsansprecher zuerkannten Entschädigung hat die Versicherungsanstalt dem Entschädigungsberechtigten einen schriftlichen Bescheid zu erteilen , aus welchem die Höhe der zuerkannten Entschädigung und die Art ihrer Berechnung zu ersehen ist. Bei Entschädigungen Tür erwerbsunfähig gewordene Verletzte ist namentlich anzugeben, ob gänzliche oder teilweise Erwerbsunfähigkeit und , im letzteren Falle , in welchem Masse die Erwerbsunfähigkeit angenommen wurde.

Ebenso hat die Ablehnung eines Entschädigungsanspruches durch schriftlichen Bescheid zu erfolgen.

Auszahlung der Entschädigungsbeträge. § 37. Die Kosten der Beerdigung 7, Z. 1) sind eine Woche nach ihrer Feststellung zu zahlen.

Die Renten der Verletzten und der Hinterbliebenen sind gegen Beibringung der Lebensbestätigung in monatlichen Katen im voraus zu zahlen.

Leber die Erfordernisse der Lebensbestätigung, sowie über die Art der Auszah- lung der Renten und der Beerdigungskosten hat das Statut die erforderlichen Vor- schriften zu enthalten.

Schiedsgericht. § 38. Für jede in Gemässheit dieses Gesetzes errichtete Ver- sicherungsanstalt wird an dem Sitze derselben ein Schiedsgericht errichtet , welches zur Entscheidung über die gegen die Versicherungsanstalt erhobenen, von derselben nicht anerkannten Entschädigungsansprüche ausschliesslich zuständig ist.

Das Schiedsgericht besteht aus einem ständigen Vorsitzenden, vier Beisitzern und den nötigen Stellvertretern. Der Vorsitzende und sein Stellvertreter wird vom Justiz- minister im Einvernehmen mit dem Minister des Innern aus der Zahl der richterlichen Staatsbeamten ernannt. Von den Beisitzern werden zwei , sowie ihre Stellvertreter, welche sämtlich technisch gebildete Personen sein müssen, von dem Minister des In- nern im Einvernehmen mit den beteiligten Ministern in das Schiedsgericht auf be- rufen. Ein Beisitzer und sein Stellvertreter wird von den versicherungspflichtigen Be- triebsuntemehmern , der letzte Beisitzer und sein Stellvertreter von den Versicherten gleichzeitig mit der Wahl in den Vorstand ($ 12), und zwar für die mit der Funk- tionsdauer des Letzteren zusammenfallende Zeit gewählt. Von den Mitgliedern des Schiedsgerichtes darf keines dem Vorstande der Versicherungsgesellschaft angchören oder in dem Dienste derselben stehen.

Im Lebrigen wird die Zusammensetzung des Schiedsgerichtes und das Verfahren vor demselben, sowie eine allfällige Entlohnung der Schiedsrichter im Verordnungs- wege geregelt. Die mit der Einrichtung und Gcbahrung des Schiedsgerichtes ver- bundenen Kosten sind von der Versicherungsanstalt zu tragen.

Rechtsmittel oder Klagen gegen das schiedsgerichtliche Erkenntnis sind nicht zulässig.

Zur Vollstreckung des schiedsgerichtlichen Erkenntnisses oder eines vor dem Schiedsgerichte geschlossenen Vergleiches ist das zuständige Gericht des Schuldners berufen.

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Gesetzgebung.

Entschädigungsansprüche gegen die Versicherungsanstalt sind vor Ablauf eines Jahres von der Zustellung des im § 36 bereichneten Bescheides an den Ansprtche bei Vermeidung des Ausschlusses mittelst Klage vor dem Schiedsgerichte zu erheben

Veränderungen in den Voraussetzungen des Entschädigungsanspruches. § 39. Tritt in den Verhältnissen, welche für die Feststellung der Entschädigung n bä* gehend waren, eine wesentliche Veränderung ein, so kann eine anderweitige Fetf- stellung derselben seitens der Versicherungsanstalt auf Antrag oder von Amisacgu erfolgen.

Ist der körperlich Verletzte, für welchen eine Entschädigung auf Grund des § 6 festgestellt war, in Folge der Verletzung gestorben, so muss die Anmeldung des An- spruches auf Gewährung einer Entschädigung für die Hinterbliebenen , falls dertt Feststellung nicht von Amtswegen erfolgt ist, bei Vermeidung des Ausschlusses Ablauf eines Jahres nach dem Tode des Verletzten bei der Versicherungsanstalt erfolgen.

Eine Erhöhung der festgestellten Rente kann nur für die Zeit nach AnmeMtag des höheren Anspruches gefordert werden

Eine Minderung oder Aufhebung der festgestellten Rente tritt von dem Tage in Wirksamkeit , an welchem der dieselbe aussprechendc Bescheid 36) dem Ect- schädigungs-Berechtigten zugestellt ist. Die gegen diesen Bescheid bei dem Schieds- gerichte erhobene Klage 38) hat keine aufschiebende Wirkung.

Im Uebrigen finden auf das Verfahren in den vorstehenden Fällen die §§ 32, 34, Absatz 2, 35, 36 und 38, sinngemässe Anwendung.

§ 40. Tritt ein durch einen Betriebsunfall betroffener Arbeiter oder Betriö*- beamter, welchem in Gemässheit des § 6, Absatz 8 , lit. a , eine Rente von 60 Pff- zent des Jahrcsarbcitsverdienstes zuerkannt wurde , bei seinem bisherigen oder he einem anderen Arbeitgeber wieder in eine seinem Zustande angemessene Beschaftrgvg. so kann mit Rücksicht auf den ihm hiefür gewährten Lohn oder Gehalt in Gern**- heit des § 39, Absatz 1, die zeitweilige, gänzliche oder teilweise Einstellung der ;"h» zuerkannten Rente erfolgen. Wenn in einem solchen Falle der dem betreff«»^« Arbeiter oder Betriebsbeamten gewährte I.ohn oder Gehalt mindestens So Prozent bei der Berechnung seiner Rente zu Grunde gelegten Jahresarbeitsverdienstes betritt so ist die Versicherungsanstalt verpflichtet , dem nunmehrigen Arbeitgeber für A* Dauer des neuen Dienstesverhältnisses die Hälfte des durch die gänzliche oder teil- weise Einstellung der Rente in Ersparung gekommenen Betrages zu vergüten.

Verzicht auf die Entschädigungsrente. § 41. Ein Uebereinkommen zwiscb«: der Versicherungsanstalt und einem zum Bezüge einer Rente Berechtigten , wofuefe gegen Verzichtleistung auf die Rente oder einen Teil derselben der derzeitige Rente*- wert ganz oder teilweise in Kapital ausgczahlt werden soll , ist nur dann rechtsver- bindlich, wenn diesem Uebereinkommen die zur Armenversorgung des Bezizgsbertx’-- tigten verpflichtete Gemeinde zugestimmt hat.

Ausländische Entscbädigungs-Berecbtigte. § 42. Ist der Berechtigte et Ausländer und hält sich derselbe dauernd im Auslande auf, so ist die Versichernog*- anstalt berechtigt, denselben für seinen Rentenanspruch mit einem nach den Verhält- nissen des Falles zu bemessenden Kapitalsbetrage abzufinden.

Diese Bestimmung findet auf Angehörige der Iünder der ungarischen Krone keine Anwendung, wenn in diesen lindern durch eine analoge Gesetzgebung -ik gleich günstige Behandlung Österreichischer Staatsangehöriger anerkannt wird.

Unzulässigkeit der Exekution auf Entschädigungs-Forderungen. § 43. B* dem Entschädigungs-Berechtigten auf Grund dieses Gesetzes zustehenden Forderung«1

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Das österreichische L'nfallversichcrungsgesetz.

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gegen die Versicherungsanstalt können weder in Exekution gezogen , noch durch Sicherungsmassregeln getroffen werden. Eine Ausnahme hievon besteht nur zu Gunsten der gegen den Entschädigiings-Berechtigten nach dem Gesetze bestehenden Forder- ungen zur Leistung des Unterhaltes.

Soweit Exekution und Sicherheitsmassregeln nicht zulässig sind , ist auch jede Verfügung über die dem Entschädigungsberechtigten zustehenden, oben bezeichneten Forderungen durch Zession, Anweisung, Verpfändung oder durch ein anderes Rechts- geschäft ohne rechtliche Wirkung.

Ausschluss von Vereinbarungen. § 44. Die Versicherungsanstalten sind nicht berechtigt, die Anwendung der Bestimmungen dieses Gesetzes zu ihrem Vorteile durch Verträge (Reglements) im Voraus auszuschliessen oder zu beschränken. Vertragsbe- stimmungen, welche diesem Verbote zuwiderlaufen, sind ohne rechtliche Wirkung.

Haftung der Betriebsunternehmer und dritter Personen für Unfälle. § 45. Der Betriebsuntemehmer 11) ist verpflichtet, wenn er oder im Falle seiner Handlungsunfähigkeit sein gesetzlicher Vertreter den Unfall vorsätzlich oder durch grobes Verschulden herbeigeführt hat, die Versicherungsanstalt für alle von derselben auf (»rund dieses Gesetzes zu leistenden Entschädigungen schadlos zu halten.

In gleicher Weise haftet eine Aktiengesellschaft, eine Erwerbs- und Wirtschafts- Genossenschaft oder ein anderer Verein, wenn ein Mitglied des Vorstandes oder ein Liquidator, sowie eine Handelsgesellschaft, wenn ein zur Geschäftsführung berechtigter Gesellschafter oder ein Liquidator den Unfall vorsätzlich oder durch grobes Verschul- den herbeigeführt hat.

Als Ersatz flir die Rente kann die Versicherungsanstalt in den vorstehend be- zeichneten Fällen deren Kapitalswcrt fordern, welcher nach den für die Gebahrung der Versicherungsanstalt geltenden Grundlagen zu berechnen ist.

Der Ersatzanspruch der Versicherungsanstalt verjährt in drei Jahren , vom Tage des Unfalles an gerechnet.

§ 46. Der Versicherte oder dessen Hinterbliebene sind nur in dem Falle berechtigt, gegen den Betriebsunternehmer einen Anspruch auf Schadensersatz geltend zu machen, wenn der Betriebsunfall von einer der im § 45, Absatz 1 und 2 , bezeichneten Per- sonen vorsätzlich herbeigeführt wurde.

In einem solchen Falle beschränkt sich der Anspruch auf den Betrag, um wel- chen die dem Berechtigten nach den bestehenden gesetzlichen Vorschriften gebührende Entschädigung (§§ 1325 bis 1327 des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches) diejenige übersteigt, auf welche er nach diesem Gesetze Anspruch hat.

§ 47. Die Haftung der Bevollmächtigten oder Repräsentanten des Betriebsunter- nehmers, seiner Betriebs- oder Arbeiteraufseher, sowie anderer Personen, welche den Unfall vorsätzlich herbeigeführt oder durch ein Verschulden veranlasst haben, bestimmt sich nach den bestehenden gesetzlichen Vorschriften.

Der aus dieser Haftung entspringende Entschädigungsanspruch steht jedoch inso- weit, als die Versicherungsanstalt auf Grund dieses Gesetzes zum Schadensersätze ver- pflichtet ist, allein der Versicherungsanstalt, und nur bezüglich jenes Betrages, um welchen die nach den bestehenden gesetzlichen Vorschriften gebührende Entschädi- gung dasjenige übersteigt, was nach diesem Gesetz von der Versicherungsanstalt als Schadensersatz zu leisten ist, dem Versicherten, beziehungsweise dessen Hinterblie- benen zu.

Staatliche Aufsicht. § 48. Die staatliche Aufsicht über die in Gemässheit dieses Gesetzes errichttten Versicherungsanstalten wird von der polizeilichen Lande»*

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Gesetzgebung.

behörde, in deren Verwaltungsgebiet der Sitz der betreflenden Ver$ichenmgsan«i!: gelegen ist, und dem Minister des Innern ausgeübt. Der Minister des Innern ist aoefc berufen, die staatliche Genehmigung in jenen Fällen zu erteilen, in welchen sie nuh diesem Gesetze erforderlich ist

Versicherungsbeirat. § 49. Zur Unterstützung des Ministers des Innern be der ihm nach diesem Gesetze vorbehaltenen Wirksamkeit wird ein Beirat aus Fach- männern, welche dem Gebiete der Industrie und der im § I, Absatz 3, Z. 2, bezeicb- neten land- und forstwirtschaftlichen Betriebe, der industriellen und der Versicherunjv- technik angehören, gebildet, dessen Zusammensetzung und Wirkungskreis durch cj besonderes, im Verordnungssvege zu erlassendes Reglement bestimmt wird. Die An- hörung dieses Beirates ist namentlich erforderlich:

1. vor der Festsetzung und Aenderung der Bezirke der Versicherungsanstalt«, sowie vor der Vereinigung und Teilung solcher Anstalten 9);

2. vor Erlassung der Verordnung über das Musterstatut für die Versicheren^ anstalten 13) ;

3. vor Erlassung der Verordnungen über die Einteilung der versicherung$iiikl> tigen Betriebe in Gefahrenklassen und die Feststellung der Prozentsätze innerhalb Gefahrenklassen 14) ;

4. vor jeder Verwendung aus dem gemeinsamen Reservefonds 15) ;

5. vor der Festsetzung des Tarifcs für das erste Betriebsjahr 16, Absatz 3)

6. vor der Anordnung einer Erhöhung oder Herabsetzung des Tarifes einer \o* sicherungsanstalt 16, Absatz 4).

Mitwirkung der politischen Behörden. § 50. Die politischen Behörden sa=! verpflichtet, den an sie gerichteten Ersuchen der in Gemässheit dieses Gesetzes a errichtenden Versicherungsanstalten nach Thunlichkeit zu entsprechen, diesen Awülxc ihre Unterstützung angedeihen und ihnen auch unaufgefordert alle Mitteilungen «■ kommen zu lassen , welche für den Geschäftsbetrieb derselben von Wichtigkeit können.

Die Versicherungsanstalten sind nicht berechtigt, die Vertretung durch die Finar- prokuratur in Anspruch zu nehmen.

Strafbestimmungen. § 51. Wenn die nach den §§ 18, 19 und 27 zu entla- den Anzeigen, die nach den §§ 21 und 27 der Versicherungsanstalt zu liefernden Be- rechnungen oder die nach § 35 zu liefernden Nachweisungen unwahre tbatsachlicbe Angaben enthalten, so wird der Betriebsunternehmer, welcher diese Anzeigen er*unei oder d ese Berechnungen oder Nachweisungen geliefert hat , sofern nicht der TU’- bestand einer nach den allgemeinen Strafgesetzen zu bestrafenden Handlung rorüe^t mit Geld von fünf bis fünfhundert Gulden und im Nichteinbringungsfalle mit Anti von einem Tage bis zu drei Monaten bestraft.

52. Betriebsuntemehmer, welche einer der ihnen nach den §§ iS, 19, 21- *3 27 und 35 obliegenden Verpflichtungen zur Erstattung von Anzeigen, zur Liefen^ von Berechnungen oder Nachweisungen oder zur Vorlage von Aufschreibungen meb» rechtzeitig nachgekommen sind , werden mit Geld bis 100 Gulden und im Nick* einbringungsfalle mit Arrest bis zu 20 Tagen bestraft.

Das Gleiche gilt von dem zur Erstattung der im § 29 bezeichneten Anzeige'^* pflichteten, welcher dieselbe nicht rechtzeitig erstattet hat.

§ 53 Wird ein versicherungspflichtiger Betrieb nicht von dem Betriebsunteni«- mer selbst, sondern durch einen Stellvertreter (Geschäftsführer) betrieben, so saut <1* in den §§ 51 und 52, Absatz. 1 , bezeichneten Strafen gegen den letzteren «*

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t)ot österreichischt Unfalfotrsicherungsgtstit. 569

hängen. Der Betriebsunternehmer haftet jedoch auch in diesem Falle für die ver- hängten Geldstrafen.

§. 54. Die Bestrafung der in den §§ $i und 52 bezeichnten Gesetzesübertret- ungen steht den politischen Behörden zu.

Die Geldstrafen fliessen in den Reservefond der betreffenden Versicherungsanstalt.

Rekurse. § 55 Sofern in diesem Gesetze nicht etwas Anderes vorgesehen ist, sind Rekurse gegen Entscheidungen der politischen Behörden, welche einem Rechts- zuge unterliegen, binnen 14 Tagen nach Zustellung der in Beschwerde gezogenen Ent- scheidung bei jener Behörde zu überreichen, welche in erster Instanz entschieden hat.

Gebühren- und Stempelfreiheit. § 56. Alle zur Begründung und Abwicklung der Rechtsverhältnisse zwischen den Versicherungsanstalten einerseits und den ver- sicherungspflichtigen Betriebsunternehmern oder den Versicherten andererseits erforder- lichen Verhandlungen und Urkunden sind gebühren- und stempelfrei.

Auf die nach diesem Gesetze errichteten Versicherungsanstalten finden die Be- stimmungen des Gesetzes vom 15. April 1885, R.G.B. Nr. 51, Anwendung.

Die von den Betriebsunternehmern zu entrichtenden Versicherungsbeiträge sind in die Besteuerungs-Grundlage für die betreffenden versicherungspflichtigen Betriebe nicht einzubeziehen.

Ausgenommene Betriebe. Berufsgenossenschaftliche Versicherungsanstal- ten. § 57. Wenn bei einer versicherungspflichtigen Unternehmung ein Institut be- steht, durch dessen staatlich genehmigte Statuten die in dieser Unternehmung be- schäftigten, im § I bezeichneten Personen gegen die Folgen der beim Betriebe sich ereignenden Unfälle mindestens in gleichem Masse versichert sind wie nach den Be- stimmungen dieses Gesetzes , und wenn der Betriebsunternehmer zu diesem Institute mindestens gleich hohe Beiträge leistet, als er nach diesem Gesetze zum Zwecke der Unfallversicherung zu leisten hätte, so ist derselbe berechtigt, zu begehren, dass die Unternehmung nicht in die nach § 9 zu errichtenden Versicherungsanstalten einbe- zogen werde.

Uebcr dieses Begehren entscheidet der Minister des Innern nach vorhergegangener Untersuchung des betreffenden Institutes. Das Begehren ist abzuweisen , wenn der Vermögensstand oder die Geschäftsgcbahrung des Institutes nicht volle Sicherheit für die Erfüllung der demselben gegen die Versicherten obliegenden Verpflichtungen gewähren.

§ 58. Wenn eine grössere Anzahl von Unternehmern versicherungspflichtiger Be- triebe, gleichviel ob dieselben dem Bezirke einer und derselben oder mehrerer Ver- sicherungsanstalten angehören, sich zu dem Zwecke vereinigen, um die in diesem Ge- setze vorgeschriebene Unfallversicherung durch Errichtung einer besonderen Versicher- ungsanstalt selbst zu bewirken, so kann die Bewilligung hiezu von dem Minister des Innern nach Anhörung der betreffenden Versicherungsanstalten sowie des im § 49 bezeichneten Beirates beim Eintritte nachstehender Voraussetzungen erteilt werden:

1. wenn der vorzulegende Statutenentwurf die Bestimmung enthält, dass die in den betreffenden Betrieben beschäftigten versicherungspflichtigen Personen gegen die Folgen der beim Betriebe sich ereignenden Unfälle mindestens in gleichem Masse versichert sind wie nach den Bestimmungen dieses Gesetzes und zur Beitragsleistung hiefiir nicht in höherem Masse herangezogen werden , als es nach diesem Gesetze gestattet ist;

2. wenn durch die Ausscheidung der Betriebe der Gesuchsteller aus dem Ver-

Archiv fiir so*. Gescti<bg u. Statistik Ul. u IV. 27

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570 Gesetzgebung.

bände der betreffenden Versicherungsanstalten die dauernde Leistungsfähigkeit dieser letzteren nicht gefährdet erscheint;

3. wenn die von den Gesuchstcllem zu gründende neue Versicherungsanstalt a jeder Hinsicht volle Sicherheit für die Erfüllung der ihr gegen die Versichertes ob- liegenden Verpflichtungen erwarten lässt.

Ueber die Organisation und innere Einrichtung, sowie über die GeschäftsgebiL^ einer solchen neu zu gründenden Versicherungsanstalt hat das der staatlichen Gead- migung unterliegende Statut derselben die erforderlichen Bestimmungen zu enthalte: und sind hiebei die bezüglichen Bestimmungen dieses Gesetzes zur sinngemäss«; An- wendung zu bringen. Dem Minister des Innern bleibt jedoch Vorbehalten, d«e Hinsicht die durch die besonderen Verhältnisse begründeten Abweichung« n gt* statten.

§ 59. Die im § 57 bezeichneten Institute und die in Gemässheit des § >8 ge- gründeten Versicherungsanstalten unterliegen der staatlichen Aufsicht. Ergibt skh bt einer späteren Untersuchung eines solchen in den §£. 57 und 58 bezeichnet» laß- tutes, dass es nach seinem Vermögensstande oder seiner Geschäftsgebahrung ad# mehr volle Sicherheit für die Erfüllung der demselben gegen die Versicherten «le- genden Verptlichtungen gewährt, so ist der Minister des Innern berechtigt, dk £* beziehung der betreffenden Unternehmungen in die Versicherungsanstalten des Be zirkes anzuordnen.

Beim Eintritte eines Unfalles sind die in den §§ 57 und 58 bezeichnet« la®* tute verpflichtet, den Kapitalswert der dem Versicherten oder seinen Hint erbliche** nach den Statuten gebührenden Rente der Versicherungsanstalt des Bezirkes Be- säumt auszufolgen , an welche letztere hiedurch die Verpflichtung zur ferneren Ab- zahlung dieser Rente übergeht. Für die Ausfolgung des bezeichneten Kapitalste» welcher nach den für die Versicherungsanstalt des Bezirkes geltenden GromiLigca a berechnen ist , haften die betreffenden Betriebsunternehmer als Bürgen und Zahl* Die Bestimmungen dieses Absatzes finden keine Anwendung auf solche Institute, bei einer vom Staate betriebenen versicherungspflichtigen Unternehmung besteh®

Berichte der Versicherungsanstalten. § 60. Die in Gemässheit dies© Ge- setzes errichteten Versicherungsanstalten sind verpflichtet, für jedes Kalenderjahr e*e Bericht an den Minister des Innern über die Ergebnisse der Unfallstatistik, fern« »-■* ihre gesamte Gebahrung und insbesondere über den Stand und die Anlage tre Fonde zu erstatten.

Diese Berichte, welchen ausserdem ein Ausweis über die Gebahrung, den ^ und die Anlage des gemeinsamen Reservefonds 15) anzuschliessen ist, sind zlidr- lich dem Reichsrate in entsprechender Bearbeitung mitzuteilen.

Verhältnis zu Unterstützungskassen und zu Privatversicherungsansu^ § 61. Die Ansprüche, welche den Versicherten gegen Bruderladen, Kranken-, Strbr- Invaliden- und andere Unterstützungskassen, sowie gegen andere als die in Ge®1*' heit dieses Gesetzes zu errichtenden Versicherungsanstalten zustehen, werden dieses Gesetz nicht berührt Dasselbe gilt von der Verpflichtung der Gemeind« anderer Korporationen und Stiftungen zur Armenversorgung.

Eine Ausnahme von dieser Bestimmung findet nur in Betreff solcher Votrt^ statt, welche zwischen einer Privat- Versicherungsanstalt und dem Unternehmer e®e nach diesem Gesetze versicherungspflichtigen Betriebes über die Versicherung - diesem Betriebe beschäftigten, unter § 1 fallenden Personen gegen Betriebsunfaite K dem 1. März 1SS6 abgeschlossen wurden und deren Dauer in dem Zeitpunkte, *-

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T)as 'österreichische UnfaHrersicherungsgesetz. 571

welchem Hie Wirksamkeit der im § i bezeichneten Versicherung beginnt, noch nicht abgelaufen ist. In solche Verträge tritt nämlich die nach § 9 errichtete Versicher- ungsanstalt, in deren Bezirke der betreffende Betrieb gelegen ist, beziehungsweise die nach § 58 errichtete Versicherungsanstalt, welcher der betreffende Betriebsuntemehiner beigetreten ist, an Stelle des Betriebsunternehmers und der versicherten Personen kraft des Gesetzes in der Weise ein, dass die nach diesem Gesetze errichtete Versicherungs- anstalt für die noch nicht abgelaufcne Dauer des Versicherungsvertrages die Prämie zu ihrer jeweiligen Fälligkeit an die versichernde Privatanstalt zu bezahlen hat und dafür alle jene Beträge für sich in Empfang nimmt, welche die betreffende Privat- anstalt in Folge vorkommender Betriebsunfälle laut des Versicherungsvertrages zu ent- richten verpflichtet ist.

Die Bestimmung des vorstehenden Absatzes gelangt nur dann zur Anwendung, wenn der betreffende Versicherungsvertrag von dem Betriebsunternehmer , welcher denselben abgeschlossen hat, binnen drei Monaten nach dem Eintritte der Wirksam- keit dieses Gesetzes der politischen Behörde erster Instanz, in deren Sprengel der versicherungspflichtige Betrieb gelegen ist, unter Vorlage der diesfalligen Polizze an- gezeigt wird.

Uebergangsbestimmungen. § 62 Die Staatsverwaltung wird ermächtigt , für die erste Einrichtung der nach § 9 zu errichtenden Versicherungsanstalten und fiir die Gebahrung derselben bis zum Ablaufe der ersten statutenmässigen Beitragsperiode Vorschüsse zu leisten , welche von den betreffenden Versicherungsanstalten zu er- setzen sind.

§ 63. Dieses Gesetz tritt drei Monate nach seiner Kundmachung in Wirksamkeit.

Der Zeitpunkt, mit welchem die Wirksamkeit der im § 1 bezeichneten Versicher- ung beginnt , wird jedoch erst nachträglich durch den Minister des Innern iin Ver- ordnungswege festgesetzt.

Zum Zwecke der Organisierung der im $ 9 bezeichneten Versicherungsanstalten ist der Minister des Innern berechtigt, alle erforderlichen Erhebungen zu pflegen und namentlich von den Unternehmern versicherungspflichtiger Betriebe alle dienlichen Auskünfte zu begehren.

Vollzugsklausel. § 64. Mit dem Vollzüge dieses Gesetzes sind Mein Minister des Innern und Mein Justizminister im Einvernehmen mit Meinen übrigen beteiligten Ministern betraut.

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DIE ENGLISCHE HAFTPFLICHTGESETZGEB UNG UND DEREN GEPLANTE REFORM

VON

SAMUEL MOORE,

RECHTSANWALT IN LONDON.

Der erste Versuch, den Unternehmern neben den im gen* nen Recht (Common Law) vorgesehenen Bestimmungen eine * tutarische Haftpflicht für alle von den Arbeitern im Betriet ? littenen Verletzungen aufzuerlegen, wurde durch das Gesetz wc Jahre 1880 gemacht. Die Unternehmer hatten alle Hebe! in R wegung gesetzt, um die Annahme desselben zu vereiteln;* prophezeiten den vollständigsten industriellen Ruin, die Vertret- ung des Kapitals aus dem Lande, unerhörte Rechtsstreite, das Gesetz hervorrufen und enorme Lasten , die es den Um<" nehmern aufbürden würde. Alle diese Befürchtungen habee sich als grundlos erwiesen, und »es herrscht jetzt eine allgeniÄ; Uebereinstimmung der Meinungen in betreff der Vorteile, die de Arbeiter durch das Gesetz zu teil geworden < *), Die Re®-' Streitigkeiten waren sehr bescheiden an Zahl, und der Betrag R willigter Entschädigungen merkwürdig gering. In England alle* gab es von 1881 1883 443 auf Grund des Gesetzes verbände Fälle und £ 73 337 geforderte Entschädigungen ; die bewilligtr Beträge betrugen £ 18124. *92 Fälle gelangten nicht zur'*

handlung; im ganzen waren es 635. Das Jahr 1884 ergab 1

handelte Fälle 99; geforderte Entschädigungen £ 30845; 1

willigte Beträge £ 8882; nicht zur Verhandlung gelangte Fi-

l) Report from the Select Committee on the Employers Liabitity Ad Amendement Rill. Ordered by the IIousc of C ommons to be prinled II J8** 1 ' London.

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Die englische Haftpflichtgesetzgebung etc.

573

166; im ganzen 506. Wenn wir in Betracht ziehen, dass allein in den Bergwerken von England und Wales jährlich mehr als 35 000 Unglücksfalle Vorkommen, so müssen die oben verzeich- neten Fälle als sehr mässige Ziffern erscheinen.

Bevor das Gesetz von 1880 in Kraft trat, beruhte die Haft- pflicht der Unternehmer lediglich auf dem gemeinen Recht. Ehe wir zu einer Prüfung der Wirksamkeit dieses Gesetzes und des Wertes der beabsichtigten , in der dem Parlament vorliegenden Bill enthaltenen Abänderungen übergehen, ist es notwendig, auf die gegenseitige Stellung der Unternehmer und Arbeiter im ge- meinen Recht einen kurzen Blick zu werfen.

Der Kernpunkt diüser Stellung ist der Dienstvertrag : auf der Auslegung, welche das englische Gesetz diesem Vertrag gibt, beruhen die Verpflichtungen des Unternehmers gegen seinen Arbeiter.

Welches sind nun die Verbindlichkeiten, die dem Dienstherrn und dem Arbeiter durch diesen Vertrag auferlegt werden? In erster Linie nimmt das Gesetz an, dass die vertragschliessenden Parteien in ihrem Handeln vollkommen frei sind , dass es also jeder derselben in ganz gleicher Weise frei stehe, die von dem anderen Teil dargebotenen Bedingungen anzunehmen oder zu- rückzuweisen. Diese Freiheit, ohne welche die notwendige Gegen- seitigkeit des Vertrags nicht vorhanden wäre, ist aber, sofern sie den Arbeiter betrifft, ein fictio juris; in der Wirklichkeit besteht sie in der grossen Mehrzahl der Falle nicht. Der Arbeiter muss die Bedingungen der Unternehmer annehmen oder Hunger leiden. Ohne Zweifel existiert in einigen wenigen Gewerbszweigen , wo die Arbeiter in mächtigen, oft sogar wohlhabenden Verbindungen gut organisiert sind , in günstigen Zeiten eine annähernd gleich- berechtigte Stellung derselben mit ihren Unternehmern. Indessen bilden die Arbeiter, die in einer so vorteilhaften Lage sich be- finden, eine sehr geringe Minderzahl der arbeitenden Klasse. In welcher Ausdehnung übrigens die Beschränkung des freien Han- delns von der Gesetzgebung bereits anerkannt worden ist, ergibt sich deutlich genug aus den Fabrikgesetzen, Bergwerkgesetzen, Truckgesetzen und aus dem Haftpflichtgesetz selbst. Jedoch zum Zwecke der Feststellung des gesetzlichen Standpunktes von Unternehmer und Arbeiter, sind die Gerichte gezwungen, das Vorhandensein vollständiger F'reiheit der Entschliessung auf bei- den Seiten der den Vertrag eingehenden Parteien anzunehmen.

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Gesetzgebung.

Wenn somit ein Arbeiter in den Dienst eines Unternehmen tritt, der ein mit Gefahren verbundenes Gewerbe treibt, nimm: das Gesetz an , dass der Arbeiter freiwillig allen Gefahren , die seine Beschäftigung mit sich bringen kann, sich unterworfen habe. Zu derselben gehören auch die körperlichen Verletzungen, i: durch Nachlässigkeit seitens seiner Mitarbeiter oder durch ;c- fällige Mängel am Material , an den Einrichtungen oder an de Maschinerie verschuldet sind.

Auf der andern Seite sind die dem Unternehmer auferlegt:: Pflichten, abgesehen von irgend welchen besonderen oder gegn teiligen Abmachungen, die folgenden. Sie finden sich klar un präzis gefasst in dem Werke der Herren Roberts und Wallace ' von dem ich für die Zwecke dieses Artikels freien Gebrauch ■>. macht habe :

1) Wenn der Unternehmer persönlich an der Arbeit sich be teiligt oder in dieselbe eingreift, muss er gehörige Vorsicht bc- obachten und ist für seine eigene Nachlässigkeit verantwortlxi

2) Er muss in der Auswahl und Anstellung geeigneter er: kompetenter Personen für seinen Dienst mit der nötigen Vorskfc zu Werke gehen.

3) Er muss gehörige Vorsicht üben in der Beschaffung u& Unterhaltung geeigneter Materialien , Maschinen und Gerätsdn' ten für die Arbeit , in und um welche seine Untergebenen be- schäftigt sind.

4) Er muss die richtige Vorsicht walten lassen in dem Be- trieb der Arbeit oder des Gewerbes nach einem geeigneten Sy- stem oder entsprechenden Anordnungen; und wenn infolge irgen. welcher Mängel oder Unzulänglichkeiten in dem System ode den Anordnungen, von denen er Kenntnis hat, dem Arbeiter ec Unfall zustösst, so ist der Unternehmer dafür haftbar.

Aus dieser Auffassung des Vertrags zwischen Unternehme: und Arbeiter haben die Gerichte den bekannten Rechtsbegriff dt' Arbeitsgemeinschaft (the doctrine of common employment) bei geleitet. Obgleich nun ein Unternehmer einem Mitglied des Pub- likums gegenüber für nachteilige Handlungen, die von seinen Ae- gestellten in der Ausübung ihrer Thätigkeit begangen werden

1) The Duty und Liability of Einployers, as well to the public as to K-rrc: workmen. Ky W. H. Roberts and George Wallace : Baristers at Law. 3. Ed. don, 1883.

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Die englische IJaftpflichtgesetzgebung etc.

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haftbar ist, so haben doch die Gerichte entschieden, dass der Arbeiter vom Standpunkt seines Verhältnisses zu dem Unter- nehmer es auf sich nimmt, alle gewöhnlichen Gefahren seiner Beschäftigung zu laufen, und dass hierin die Gefahr von Verletz- ungen inbegriffen ist, welche durch Verschulden eines Mitarbeiters veranlasst werden zu einer Zeit, wo der letztere in der Ausübung seiner Pflichten als Bediensteter desjenigen handelt , der der ge- meinschaftliche Brotherr ist. Der Arbeiter, sagte das Gericht, war sich beim Eingehen des Dienstverhältnisses bewusst, dass er der Gefahr von Verletzungen durch Unvorsichtigkeit seitens seiner Mitbeschäftigten ausgesetzt sein würde und es muss daher ange- nommen werden, dass er den Vertrag unter der Bedingung ge- schlossen hat, dass er dieses Risiko mit übernimmt. Zu bemer- ken ist also, dass, um den Arbeitgeber von der Haftpflicht zu befreien, die Verletzung während der Thätigkeit im Dienste des Meisters geschehen sein und von einem in demselben Dienste stehenden Arbeiter verschuldet sein muss; mit anderen Worten, der verletzte Arbeiter und derjenige, der die Verletzung ver- schuldet hat, müssen in Arbeitsgemeinschaft stehen. Dieser Rechtsbegriff der Arbeitsgemeinschaft ist also augenscheinlich die notwendige Folge des Vertrags zwischen Unternehmer und Ar- beiter, wie er von den Gerichten ausgelegt wird, und diese Auf- fassung geht natürlich wieder von der Annahme aus, dass jeder der beiden vertragschliessenden Teile vollständige Aktionsfreiheit besitzt.

Das ist der Rechtsbegriff, über welchen von den Vertretern der arbeitenden Klasse in England so viele Klagen erhoben wur- den. Es ist ausser Zweifel, dass derselbe einen harten Druck ausübte, bevor das 1 laftpflichtgesetz von 1880 zur Annahme ge- langte, und diejenigen Artikel dieses Gesetzes, die als die wich- tigsten betrachtet werden können, sind gegen jenen Rechtssatz gerichtet. Allein abgesehen davon, dass derselbe für gewisse Fälle aufgehoben oder gemildert ist, besteht dieser Rechtsbegriff noch in seiner vollen Kraft weiter.

Vor der Einführung des Gesetzes von 1880 war die Lage eines Bediensteten oder Arbeiters, der während seiner Thätigkeit im Dienst verletzt worden war, die folgende: Wenn die Verletz- ung durch eine Unvorsichtigkeit des Unternehmers, die auf irgend einen der oben erwähnten vier Fälle zurückgeführt werden konnte, verschuldet war, so stand dem Arbeiter das Recht des Ent-

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Gesetzgebung.

Schädigungsanspruchs gegen seinen Herrn zu. Zum Beispiel Wenn der Meister persönlich vron irgend einem gefährliches Mangel an einer Maschine Kenntnis hatte, dieselbe dennoch weiter arbeiten liess und irgend ein Arbeiter dadurch zu Schaden km war der Dienstherr haftpflichtig. Wenn dagegen jener Mangel zwar dem Vorarbeiter oder Geschäftsführer bekannt war, der Prinzipal aber persönlich keine Kenntnis davon hatte, so könnt-, der verletzte Arbeiter an seinen Herrn keinerlei Anspruch er heben. Wenn der Arbeitgeber, der die Verpflichtung hatte, nur geeignete Arbeiter oder Leiter anzustellen, persönlich einen nicht hinlänglich befähigten Mann aufnahm, so war er seinen Arbeitern gegenüber für dadurch verschuldete Verletzungen haftbar. Wenn aber der untüchtige Arbeiter nicht vom Prinzipal persönlich, son- dern von einem vollständig kompetenten Wcrkfuhrer angeski'. worden war und die Verletzung eines seiner Mitarbeiter dadurch herbeigeführt wurde, so war der Meister für eine solche Unvor sichtigkeit seines Werkführers nicht haftbar. Und wiederum, wenn der Unternehmer die Funktion des Geschäftsführers selbst aas übte, und infolge von mangelhaften Anordnungen und Vorschnt- ten ein Arbeiter verletzt wurde, so war er zur Schadloshaitun.' verpflichtet. Sobald er dagegen, anstatt an der Leitung der Ar- beit thätigen Anteil zu nehmen, seine Befugnisse einem Geschäfts ftihrer übertrug, welcher mangelhafte Anordnungen traf, koeme der Unternehmer im Falle von Verletzungen nicht zur Verant- wortung gezogen werden.

Ueberdies muss in allen Fällen der Rechtsbegrilf der mitwi:- kenden eigenen Unvorsichtigkeit (contributory negligencel ffl Auge behalten werden. Darnach steht fest, dass, selbst wen3 der Arbeiter infolge einer Unvorsichtigkeit des Unternehmer- verletzt worden ist, jedoch durch Anwendung genügender An- sicht und Geschicklichkeit den Unfall hätte vermeiden könner. der Unternehmer nicht verantwortlich gemacht werden kann. Ikf Arbeiter wird in diesem Falle in Anbetracht seiner eigenen Un- vorsichtigkeit als mitbeteiligt an dem Verschulden des Inklb angesehen. Die Frage der mitverschuldeten Unvorsichtigkeit & wesentlich eine thatsächliche, die in jedem einzelnen Falle nack den obwaltenden Umständen entschieden werden muss; es K aber klar, dass dadurch in vielen Fällen in der Praxis grosser Ungerechtigkeit Raum gegeben ist. ln allen Fällen also, wo « Verletzung nicht auf eine direkte Pflichtverletzung des lut0'

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nehmers selbst zurückzufilhren war, sondern lediglicli auf eine Unvorsichtigkeit irgend eines Mitarbeiters, einerlei ob eines Auf- sehers, Werkführers oder Arbeiters, stand dem zu Schaden ge- kommenen Arbeiter keinerlei Rechtsmittel gegen den Arbeitgeber zu Gebot.

Nach dieser Darlegung der gegenseitigen Stellungen des Ar- beitgebers und des Arbeiters kommen wir zur Betrachtung der durch das Haftpflicht-Gesetz vom Jahre 1880 gebotenen Abhilfe gegen diesen Zustand der Dinge.

Der erste in Betracht zu ziehende Punkt in dem Gesetz ist der, dass dasselbe nicht auf die Allgemeinheit anwendbar ist. Die einzigen Bediensteten, denen es Hilfe bringt, sind »Arbeiten, und nach Artikel 8 bedeutet die Bezeichnung »Arbeiter« Eisen- bahnbedienstete oder irgend welche Personen, auf die das Arbeits- Gesetz1) vom Jahre 1875 anwendbar ist. Dieses Gesetz aber sagt, dass in dem Ausdruck »Arbeiter« die im Hause Bediensteten und die niederen Dienstboten nicht inbegriffen sind, sondern dass darunter, unbeschadet des Obengesagten, nur Personen zu ver- stehen sind, welche als Handlanger, Feldbauarbeiter, Taglöhner, I landwerker, Handarbeiter, Bergleute oder sonstwie mit Hand- arbeit beschäftigt sind, gleichviel ob sie unter oder über 21 Jahre zählen, und einen Arbeitsvertrag mit einem Unternehmer ge- schlossen haben oder unter einem solchen arbeiten, ob nun dieser Vertrag ein ausdrücklich abgefasster oder stillschweigend verstan- dener, ein mündlicher oder ein schriftlicher, ein Dienstvertrag oder ein spezieller Vertrag zur Ausführung irgend einer besonde- ren persönlich zu verrichtenden Arbeit ist. In diesem Gesetz von 1875 ist ausdrücklich vorgesehen, dass seine Bestimmungen auf gewisse Klassen von Lehrlingen, sowie auf Seeleute nicht anwend- bar sein sollen. Es sind somit diese Personen von den Vorteilen des I laftpflichlgesetzes ausgeschlossen, und dies ist einer seiner grössten Mängel, denn Seeleute bedürfen des Schutzes in noch höherem Masse als Arbeiter auf dem Festland. Von diesen zwei Kategorien abgesehen, scheint es, dass alle Handarbeiter, welche nicht zu den häuslich Bediensteten oder gewöhnlichen Arbeitern zählen, im Gesetz inbegriffen sind. Der Ausdruck »Eisenbahn- bedienstete« liesse schliessen, dass nicht nur solche, die wirkliche Handarbeit verrichten, sondern auch die höheren Beamten einbe-

1) The Employers and Workmen Act, 1875.

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Gesetzgebung.

zogen wären. Andererseits ist wieder eine sehr grosse Klasse, bestehend aus Kommis, männlichen und weiblichen Ladendienern und anderen Angestellten, welche, wenngleich sie keine Hand- arbeit verrichten, doch häufig der Gefahr der Verletzung durch Unvorsichtigkeit ihrer Mitbediensteten ausgesetzt sind, von den Wohlthaten des Gesetzes ausgeschlossen. Dies ist gleichfalls eine bedenkliche Lücke, die dringend Abhilfe fordert.

In Art. I und 2 des Haftpflichtgesetzes sind alsdann die fünf Fälle aufgeführt, in welchen der Arbeiter nunmehr für erlittene Verletzung vom Unternehmer Entschädigung zu fordern hat. während er vor Erlass dieses Gesetzes keinen Anspruch darauf hatte. Eis ist alsdann bestimmt, dass, »wo .... körperliche Ver- letzung einem Arbeiter zugefügt wird« auf Grund irgend einer da

5 verzeichneten Ursachen, der Arbeiter, oder im Fall die

Verletzung dessen Tod herbeiführt, die gesetzlichen Rechtsnach- folger des Arbeiters oder irgend welche aus Anlass des Todes- falls dazu berechtigte Personen , dieselben Rechtsansprüche auf Entschädigung und Rechtsmittel gegen den Unternehmer habe* sollen, als wenn der Arbeiter nicht ein Arbeiter des Unterneh- mers oder nicht in seinem Dienste stehend oder in seinem Ge- werbsunternehmen angcstellt gewesen wäre.« Unter dem letz- teren Teil dieser Klausel ist nicht zu verstehen, dass der Dienst vertrag als überhaupt nicht existierend zu betrachten wäre, son- dern einfach, dass in den spezifizierten 5 Fällen nicht verstanden wird, er habe durch seinen Eintritt in den Dienst freiwillig das ihm aus der Unvorsichtigkeit seiner Mitbediensteten entstehende Risiko auf sich genommen.

Diese fünf F'älle sind, wenn die einem Arbeiter zugestossene Körperverletzung veranlasst ist:

»1) Infolge irgend eines Mangels in dem Zustand der Wege. Gerätschaften, maschinellen Anlagen oder Einrichtungen, die mit dem Gewerbebetrieb des Unternehmers in Verbindung sind, resp in demselben verwendet werden.« Aber nach Art. 2 soll kau Recht auf Schadloshaltung oder Regress bestehen, »wofern nicht jener Defekt . . . entstanden ist oder nicht entdeckt oder abge- stellt worden ist durch Vernachlässigung seitens des Unter- nehmers oder sonst einer im Dienste desselben stehenden Person, welche von ihm mit der Verpflichtung betraut worden ist. darauf zu achten, dass die Wege, Gerätschaften, maschinellen Anlag« und Einrichtungen in gutem Zustand befindlich seien*.

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Die englische Hafipflichtgcsctzgcbu ng etc.

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Die Konsequenzen der Nachlässigkeit auf Seite des Unter- nehmers selbst bleiben somit dieselben wie unter dem gemeinen Recht ; sie bleiben unbeeinflusst von dieser Klausel, aber tvas die Unvorsichtigkeit eines Mitarbeiters anbelangt, so ist der verletzte Arbeiter in die gleiche Stellung wie jemand aus dem Publikum versetzt und darf gegen seinen Arbeitgeber klagbar werden wegen der Nachlässigkeit derjenigen, von deren Wachsamkeit seine Sicherheit abhängig ist. Die obigen Bestimmungen sub r mit einer geringfügigen Erweiterung und Abänderung sind dem Art. I, Unterabteilung (a), des jetzt dem Parlament zur Beratung vor- liegenden neuen Gesetzes einverleibt worden. Der nächste Kall ist: *2) Infolge von Nachlässigkeit seitens irgend einer im Dienste des Unternehmers stehenden Person, die mit irgend einer Ober- aufsicht betraut worden ist, begangen in der Zeit, wo sie in der Ausübung solcher Oberaufsicht begriffen war«. Und nach Art. 8 ist unter »einer Person, die mit Oberaufsicht betraut ist* zu ver- stehen, »eine Person, deren einzige oder hauptsächliche Beschäf- tigung die Führung der Aufsicht ist, und die für gewöhnlich keine Handarbeit zu verrichten hat.«

Dieser Teil des Gesetzes hat zu zahlreichen Klagen Anlass gegeben und häufig Fälle von Ungerechtigkeit zur Folge gehabt; denn es muss wohl beachtet werden, dass die mit der Oberauf- sicht betraute Person in diesem Falle eine solche sein muss, die nicht für gewöhnlich in der Handarbeit beschäftigt ist ; nun kommt es aber in vielen Gewerben vor, dass ein Werkführer, der die Aufsicht über eine Gruppe von Arbeitern fuhrt, selbst auch bei der Handarbeit beteiligt ist und den unter ihm stehenden Leuten bei der Arbeit hilft, und besonders im Baufach und im Maschinen- bau ist der beste Arbeiter häufig mit der Oberaufsicht über einen Teil der Arbeit betraut, während er selbst bei der Handarbeit mit thätig ist; er ist ein arbeitender Werkführer. Wenn nun durch die Unvorsichtigkeit eines solchen Mannes einem Mit- arbeiter ein Unfall zustösst, so wäre nach diesem Gesetz dem verletzten Arbeiter jeder Rechtsanspruch benommen. Um diesen Einwand zu vermeiden, ist die Definition von Oberaufsicht in Art. 15 der Vorlage abgeändert w'orden, so dass, wo irgend eine Person, welche die Aufsicht führt, unvorsichtig ist und infolge solcher Unvorsichtigkeit ein Unfall entsteht, der Unternehmer dafür haftbar ist. Der nächste Fall ist :

»3) Infolge von Nachlässigkeit von Seiten irgend einer ttn

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Gesetzgebung.

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Dienste des Unternehmers stehenden Person, deren Befehle oder Anordnungen der Arbeiter zur Zeit des Unfalls zu befolgen ver- pflichtet war und befolgt hat, wenn die erlittene Verletzung aus dieser Befolgung der betreffenden Anordnungen entstanden ist.« Diese Bestimmung ist in der neuen Vorlage ohne jede Abän- derung beibehalten. Wohl können Streitigkeiten darüber ent- stehen, ob der verletzte Arbeiter verpflichtet oder nicht ver- pflichtet war, die Befehle des unvorsichtigen Mitarbeiters zu be- folgen, aber die Gerichte haben in betreff dieses Teils des Gesetzes eine ziemlich liberale Anschauung walten lassen und sind nicht gelinde verfahren in der Feststellung der Autorität des nach- lässigen Arbeiters, wenn es sich ergab, dass seine Autorität sonst nie in Zweifel gezogen wurde. Der nächste Fall ist, wo Verletz- ung verursacht worden ist:

4) Infolge einer Handlung oder Unterlassung des Gehorsams gegenüber unpassenden Vorschriften oder besonderen Bestimm- ungen des Unternehmers oder seines Vertreters. Diese Be- stimmung ist auch in die neue Vorlage wieder aufgenommen worden und zwar ohne wesentliche Abänderung. Nach diesem Teil des Gesetzes ist der Unternehmer verpflichtet, für irgend welche Ungehörigkeiten oder Mängel in den Vorschriften oder besonderen Instruktionen aufzukommen, gleichviel ob eine Nach- lässigkeit von seiner Seite vorliegt oder nicht. Dieser Teil des Gesetzes ist übrigens keiner von denen, die zu vielen Klagen An- lass geben werden. Der letzte der 5 Fälle ist:

5) Infolge von Nachlässigkeit seitens irgend einer im Dienste des Unternehmers stehenden Person, welcher die Kontrolle über irgend weiche Signale, Weichen, Lokomotiven oder Zuge auf Eisenbahnen übertragen ist. Dieser Artikel räumt den Eisenbahn- Bediensteten eine günstigere Stelle ein, als den Bediensteten anderer Unternehmungen; denn hier ist wohl zu beachten, dass die den Unfall verschuldende Person mit keinerlei Oberaufsicht betraut zu sein braucht ; vielmehr kann dieselbe in ihrer Stellung einen niedrigeren Grad einnehmen als der Verletzte. Ferner ge- niesst der Eisenbahn-Bedienstete obendrein noch alle Schutzmittel, die in den vorhergehenden vier Unterabteilungen gewährt sind. Der korrespondierende Paragraph der neuen Vorlage hält die Bestimmungnn der Rubrik 5 aufrecht und dehnt dieselben noch auf Pferdebahn-Bedienstete aus. Es ist wirklich kein haltbarer Grund vorhanden, warum die in der neuen Vorlage enthaltene

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t)ie englische Haftpflichtgesehgebung etc. 581

Beschränkung des Rechtsbegriffs der Arbeitsgemeinschaft zu gunsten der Eisenbahn- und Pferdebahn Bediensteten nicht auf solche jedes anderen Arbeitszweiges ausgedehnt werden sollte, in der Weise dass jedes besondere Fach oder jede Abteilung in dem Gewerbebetrieb eines Unternehmers als besonderer Be- schäftigungszweig der Arbeitsleute betrachtet und nicht die in dem einen Fache, insofern die Haftpflicht in betracht kommt, auch als Mitarbeiter der in dem anderen Fach Beschäftigten an- gesehen werden sollten. So lange wir jenen Rechtsbegriff nicht ganz aufzuheben imstande sind, könnten wir uns mit einer der- artigen Beschränkung desselben begnügen, die übrigens keiner- lei Ungerechtigkeit in sich schliesst. ln den meisten Fällen ist die sogenannte »Unvorsichtigkeit! des Arbeiters weniger einer willkürlichen Handlung, als vielmehr dem Druck des Systems zuzuschreiben, unter dem er arbeitet, und insbesondere der Stückarbeit. Die Unternehmer-Klasse geniesst den Vorteil dieses hohen Druckes und sollte auch das Risiko davon übernehmen.

Wir haben nun die 5 Fälle näher beleuchtet, in welchen der Begriff der Arbeitsgemeinschaft durch dieses Gesetz aufgehoben wird, ln jedem andern Falle aber bleibt derselbe in Kraft. Gehen wir nun zu den wuchtigen Bestimmungen des Artikels 2, Absatz 3 , über , deren Ziel es ist , dass , wenn der Arbeiter von dem im Art. 1 spezifizierten Mangel oder der Unvorsichtig- keit, durch die der Unfall herbeigeführt wurde, Kenntnis hatte, und es unterliess, seinem Arbeitgeber davon Anzeige zu machen, er keinen Rechtsanspruch gegen den letzteren hat.

Durch diese Bestimmung ist in vielen Fällen das Gesetz zur völligen Wertlosigkeit gestempelt. Ein Beschwerdeführender Ar- beiter wird immer mit Missgunst angesehen, und wenige mögen sich dem Risiko aussetzen, auf diese Weise ihre Stelle zu ver- lieren. Fs kommt hinzu, dass, w*enn der Arbeiter, nachdem er sich zur Beschwerde doch entschlossen, noch längere Zeit bei dem Unternehmer in Kenntnis von der bestehenden Gefahr und davon, dass dieselbe nicht abgestellt ist, fortarbeitet, dies auf Grund des geltenden Gesetzes von den Gerichten wahrscheinlich so gedeutet werden würde, dass der Arbeiter das Risiko als einen mit der Verrichtung der Arbeit zusammenhängenden Umstand freiwillig auf sich genommen habe. In den meisten Fällen ist aber der Unternehmer oder sein Geschäftsführer ebensogut, wenn nicht viel besser als der Arbeiter, in der Lage, von Mängeln oder Vernach-

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Gesetzgebung.

lässigungen, die zu Unfällen fuhren können, Kenntnis zu erlangen, und von den Arbeitern wird es darum dringend gefordert, dass diese Last ihnen nicht auferlegt werden soll. Einigermassen ist diesen Einwendungen in der neuen Vorlage Rechnung ge- tragen worden; es ist daselbst in Vorschrift (i) des Artikels I gesagt, dass aus der blossen Kenntnis eines Uebelstandes an sich noch nicht folgen soll, dass der Arbeiter das Risiko freiwillig auf sich genommen habe , so dass, wenn er einmal die Anzeige von dem Missstand bei seinen Vorgesetzten erstattet hat und mit Kenntnis davon in derselben Stellung weiterarbeitet, sein Regress- recht dadurch nicht beeinträchtigt wird. Vorschrift (2) des Art. I der Vorlage wiederholt die obenerwähnten Bestimmungen des Artikels 2, Absatz 3 des Gesetzes und macht zugleich dem Standpunkt des Arbeiters ein weiteres Zugeständnis, indem sie ihn seiner Rechtsansprüche für nicht verlustig erklärt , wenn er eine vernünftige Entschuldigung dafür beibringt, dass er die in jener Bestimmung verlangte Anzeige unterlassen hat. Dies darf immerhin als eine Verbesserung betrachtet werden, allein die Führer der arbeitenden Klasse sind der Meinung, dass jene Mel- dung unter keinen Umständen verlangt werden sollte. Sache des Unternehmers soll es sein, sich selbst zu schützen und das Risiko zu laufen.

Ueber all diesen Bestimmungen, und dieselben modifizierend, steht nun der Rechtsbegriff der »mitverschuldeten Unvorsichtig- keit« seitens des Arbeiters, ein Punkt, den w'ir zuvor schon er- örtert haben. Diese RechtsaufTassung bedarf eben so sehr einer Beschränkung als diejenige der »Arbeitsgemeinschaft«.

Eine weitere, sehr wichtige Frage ist diejenige der Verant- wortlichkeit des Unternehmers für die Nachlässigkeit von Mittels- männern und Subunternehmern (contractors and subcontractors), durch welche eine Verletzung ihnen unterstellter Arbeiter herbei- geführt wird. Hinsichtlich dieses Punktes sagt das gemeine Recht, dass ein Subunternehmer nicht ein Bediensteter ist, und dass daher irgend eine Bestimmung, welche den Unternehmer für unvor- sichtige Handlungen eines seiner Bediensteten oder Arbeiter ver- antwortlich macht, ihn nicht für die Handlungen einer Person haftbar machen könne, die in bezug auf ihn unabhängig und seiner Kontrolle nicht unterstellt ist.

Diese Gesetzesregel haben sich sehr viele Unternehmer im Bauwesen zu Nutzen gemacht, indem sie sofort nach der An-

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Die englische Haftpflichlgesetzgebung etc. 583

nähme des Gesetzes von 1880 anfingen, ihre Verträge als After- verträge auf Strohmänner zu übertragen ; in dieser Weise entzogen sie sich der Haftpflicht, während der zu Schaden kommende Arbeiter ohne Regress blieb, indem sein unmittelbarer Arbeitgeber keinen Schuss Pulver wert war. Art. 2 der neuen Vorlage tritt dieser Frage näher und räumt dem verletzten Arbeiter eines Sub- unternehmers einen Regress gegen den Hauptunternehmer ein in den Fällen, wo letzterer aus Nachlässigkeit mangelhafte Gerät- schaften an den Subunternehmer liefert oder es versäumt, die- selben in gutem Zustand zu erhalten. Der Paragraph räumt auch dem verletzten Arbeiter in einem solchen Falle das Recht ein, entweder gegen den Hauptunternehmer oder den Subunternehmer oder gegen beide vorzugehen. Diese Bestimmung scheint in- dessen nicht anwendbar, wenn der Subunternehmer die Baugerät- schaften gemietet hat. ln diesem Fall erscheint er allein haftbar. Dieser Paragraph der Gesetzvorlage stimmt auch mit der Empfeh- lung des Komitees des Unterhauses überein, wie aus dem ver- öffentlichten Bericht *) desselben über die Ergänzungs- Vorlage des Haftpflichtgesetzes von 1880 ersichtlich ist.

Wir kommen nun zu dem Punkt einer Vertragsschliessung, durch die der Arbeiter allen seinen Rechten und Vorteilen aus diesem Gesetz entsagen oder der Meister von der Haftpflicht be- freit und ausserhalb dieses Gesetzes gestellt werden soll. Kaum hatte das Gesetz von 1880 Annahme gefunden, als eine grosse Anzahl von Unternehmern einen Druck auf ihre Arbeiter aus- übten und sie zwangen, sich als einer Bedingung ihres Dienst- vertrags damit einverstanden zu erklären, unter keinen Umstän- den an den Unternehmer Entschädigungsansprüche für Unfälle zu erheben. Und wirklich erkannten die Gerichte in einem be- rühmten Fall, dass eine solche Vertragsschliessung gesetzliche Gültigkeit habe. Andere Unternehmer kamen mit ihren Arbeitern überein, einen Betrag in der Höhe von 25 #/o von den Bei- trägen des Arbeiters für Unterstützungs-Vereine beizusteuern. Wieder andere schlossen zwar keinen Vertrag ausserhalb des Haftpflichtgesetzes, wussten sich aber zu schützen entweder durch die Bildung gegenseitiger Versicherungsgesellschaften, oder da- durch dass sie Unfallversicherungspolicen bei Versicherungs- gesellschaften entnahmen. Das gewählte Komitee von 1886 satn-

l) London 1886.

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Gesetzgebung.

melte eine Menge Beweismaterial von Verträgen zur Umgehung des Gesetzes und über den Wert der erwähnten Versicherungen es gelangte zu dem Schlüsse, dass einem Unternehmer nicht ge- stattet sein solle, sich durch einen Vertrag von der Haftpflicht zu befreien, es sei denn wegen einer anderen Gegenleistung als der Beschäftigung des Arbeiters. Diese Auffassung des Komitees ist b den Artikeln 3 und 4 der neuen Gesetzesvorlage berücksichtig; worden. Dieselben sind zwar ausführlich, dennoch ist die Bedeu- tung einiger Teile derselben nichts weniger als klar. Die b diesen Paragraphen vorgeschlagene gesetzliche Bestimmung ist indessen im Ganzen genommen ein entschiedener Fortschritt, obgleich nach der Meinung vieler es bei weitem vorzuziehen ge- wesen wäre, jede Vertragschliessung ausserhalb des Gesetzes ab- solut zu verbieten. Die Ansicht der Mehrzahl der Arbeiter und ihrer Führer geht dahin , dass dieses Gesetz in der That ein Gesetz zur grösseren Verhütung von Unfällen und Verletzungen ist, während sie die Frage der Entschädigung als etwas Sehn däres betrachten. Sie sind daher der Meinung, dass die Ge- stattung von Vertragen ausserhalb des Gesetzes den Hauptzweck desselben zu nichte macht und dazu angethan ist, die Vorsicht* massregeln zu vermindern. Zum Beispiel fragt Sir Joseph Pease, cb Mitglied des Komitees und Besitzer eines Bergwerks, unter Nummer 106 des Reports; »Aber meinen Sie nicht, dass es eine Art und Weise geben sollte, Verträge ausserhalb des Gesetzes zu schliesscn wenn einem Manne grösserer Nutzen aus einem solchen Vertrag« erwächst, als wenn er unter dem Gesetz steht Antwort voe S. Woods, einem Vertreter der Bergleute; »Das kommt daran! an. Wenn dem Verlust von Menschenleben dadurch Vorschub geleistet wird, so würde ich sagen, dass es besser wäre, nicht ausser den Grenzen des Gesetzes zu verhandeln.« Und weiter hin sagt derselbe; »Unsere Anschauungsweise ist die, dass de ursprüngliche Zweck des Gesetzes darauf ausging, Leben uc-i Gliedmassen zu schonen; diese Wirkung wird dem Gesetz ge- nommen, wenn Vertragschliessungen ausserhalb desselben statt finden dürfen.«

Der Art. 3 des Gesetzes beschränkt die eventuelle Ent schädigungssumme auf die Höhe des Verdienstes von 3 Jahret so dass ein Arbeiter, gleichviel in welchem Grade ihn ein link zu fernerer Arbeit untauglich machen mag, wenn sein Verdi®* £ 1 per Woche betragen hat, niemals mehr als £ 156 erhalt«11

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Die englische Hafipftichtgesetzgcbung elc. 585

kann. Der Paragraph 9 der neuen Vorlage schlägt vor, die Grenze auf £ 250 zu erhöhen, in Fällen wo ein dreijähriger Verdienst diese Summe nicht erreichen sollte.

Die Verpflichtung, dem Arbeitgeber innerhalb sechs Wochen von einer erlittenen Verletzung Anzeige zu machen, ist ein wei- terer wunder Punkt, und durch die Vorlage wird dieser Zeit- raum auf 3 Monate ausgedehnt. In vielen Fällen ist der Arbeiter seiner Entschädigung verlustig gegangen, weil er versäumt hatte, von der Verletzung rechtzeitige Anzeige zu machen, manchmal aus Unwissenheit, andere Male weil der Arbeitgeber den Arbeiter in dem Glauben erhielt, dass ihm angemessene Entschädigung zu teil werden würde, sich dann aber nach Ablauf der gewährten Meldungsfrist geweigert hatte, irgend etwas zu thun. Da jeder Unternehmer ohne Schwierigkeit von jedem Unfall Kenntnis haben kann, der im Bereich seines Betriebes vorkommt, ist wirklich keinerlei Notwendigkeit für eine solche Meldung vorhanden. Man sagt, es sei ein Schutzmittel gegen falsche P'orderungen ; allein derartige Forderungen würden wohl äusserst selten und schwer zu begründen sein ; es würde also für den Unternehmer kein grosses Risiko daraus entstehen, wenn diese Bestimmung bezüg- lich der Anzeige ganz fallen gelassen würde. Die Vorlage aber, obgleich sie jene Verpflichtung zur Anzeige beibehält, schaltet die höchst notwendige Bestimmung ein, dass die unterlassene oder nicht richtig erstattete Anzeige der Geltendmachung der An- sprüche keinen Abbruch thun soll, wenn eine triftige Entschul- digung beigebracht und der Unternehmer durch die Unterlassung oder Unzulänglichkeit der Anzeige nicht geschädigt worden ist.

Die übrigen Bestimmungen des Gesetzes von 1880 beziehen sich auf das gerichtliche Verfahren und auf Einzelheiten, die hier keiner Erörterung bedürfen.

In Art. 13 der Vorlage ist beantragt, das Gesetz mit gewissen Beschränkungen auch auf Seeleute auszudehnen. Inwieweit diese Bestimmungen zum Schutze der Seeleute ausreichend sind, muss sich erst zeigen. Schon sind ernstliche Einwendungen bezüglich ihrer Unzulänglichkeit laut geworden Es ist ebensowenig ein Grund dafür zu finden, warum ein Schiffseigentümer für unvor- sichtige Handlungen seines Kapitäns oder der anderen Offiziere, auch wenn sie sich weit in den Meeren befinden, nicht ebenso verantwortlich sein soll, wie ein Bauunternehmer für Unvorsich- tigkeiten seiner Werkführcr, wenn eine seiner Unternehmungen

Archiv für sor. GcvcUgbg. u. Statistik. III. u IV. J S

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Gesetzgebung.

in einer Entfernung von IOO oder 200 Meilen von seinem Woha- sitz zur Ausführung gelangt. Wenn ein Kapitän in einem fernen Seehafen untaugliche Seeleute an Bord nimmt oder an seinem Schiffe nötig gewordene Reparaturen vernachlässigt, so sollte der Schiffseigentümer für die Konsequenzen in demselben Masse haft bar sein, als ein Unternehmer auf dem Festlande es sein wurde. Die wichtige Krage der ungenügenden Bemannung der Schilf sowie diejenige der fehlerhaften Schiffahrt, scheint ganz übersehen worden zu sein.

Die Ansicht der Gewerkvereine über die neue Gesetzvor- läge ist aus einem Beschluss ersichtlich, der in einem am 4. Sep- tember in Bradford abgehaltenen Kongress der Gewerkvereir.« gefasst worden ist. Daselbst wurde einstimmig beschlossen »Der Kongress erklärt hiermit seine lebhafte Unzufriedenheit m.t der Gesetzvorlage betreffend die Haftpflicht der Unternehmet für Verletzungen der Arbeiter in der Fassung, in welcher er von dem bestehenden Komitee gutgeheissen und darüber Bericht er stattet worden, und hofft, dass das Parlament eine Abänderung derselben in der Weise eintreten lassen wird, dass der Rechts- begriff der Arbeitsgemeinschaft aufgehoben, die Erstattung der Anzeige bei Verletzungen für unnötig erklärt, die Klausel be- züglich des Maximums der zu gewährenden Entschädigung au: gehoben, und dass der Abschluss von in irgend welcher Fonr. ausserhalb des Gesetzes stehender Verträge ausdrücklich für ge- setzwidrig erklärt wird.«

Diesem Beschluss war noch ein anderer hinzugefügt, weicht: die beschränkte Fassung des Gesetzes , insoweit dies auf Sec männer anwendbar ist, verurteilt.

Daraus geht klar hervor, dass wir, auch für den Fall, dass diese Vorlage im Parlament nicht zuletzt Schiffbruch leidet, noch weit davon entfernt sein werden, auf einer Stufe der Gesetzgebung über diesen Gegenstand angelangt zu sein, die als befriedigend fw die arbeitende Bevölkerung des Vereinigten Königreiches angesehen werden könnte.

Es folgt nunmehr der W’ortlaut der Gesetzesvorlage.

Gesetzvorlage betreffend die Haftpflicht der Arbeitgeber für Verletzungen der Arbeiter, 1888.

Art. 1. Haftpflicht des Arbeitgebers für Körperverletzung eines Arbeiters.

Art. 2, Rechtsverhältnisse eines Arbeiters bei Arbeiten , <lie in Entreprise geg*" ben sind.

T)if englische Gesetzvorlage betr. Haftpflicht der Arbeitgeber etc. 587

Art.

3-

Art.

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Art.

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Art.

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Art.

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Art.

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Art.

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Art.

IO.

Art.

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Art.

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Art.

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Art.

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Art.

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Art.

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Art.

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Art.

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Art.

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Art.

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Art.

21.

Nichtigkeit von Verträgen zur Verachtleistung auf Wohlthaten dieses Ge- setzes, ausser gegen angemessene Gegenleistung.

Bestimmungen zur Feststellung der angemessenen Höhe der Versicherung und der Beisteuer des Arbeitgel»ers dazu.

Vor der Klaganstrengung zu erstattende Anzeige.

Zeit der Anbringung der Klage.

Modus der Verhandlung.

Bestimmung wegen spezieller Verteidigung.

Beschränkung der zu beanspruchenden Kntschüdigungssumme.

Abzüge von der Entschädigungssumme.

Verteilung der Entschädigungssumme.

Aus dem gemeinen Recht hervorgehende Rechtsansprüche.

Anwendung des Gesetzes auf Seeleute.

Befugnis zur Anstellung von Personal.

Erläuterungen.

Anwendung des Gesetzes auf Schottland.

Anwendung des Gesetzes auf Irland.

Vorbehalt für bestehende Verträge.

Kurzer Titel.

Widerruf von 43 und 44 Viel. C. 42.

Inkrafttreten des Gesetzes.

Gesetzvorlage (auf Grund der Revision des ständigen Parlamentsausschusses für Rechtssachen) zur Konsolidierung und Ergänzung der Gesetzvorschriften über Haftpflicht der Arbeitgeber für Körperverletzungen ihrer Arbeiter.

Von Ihrer Majestät der Königin , durch und mit dem Rat und der Zustimmung der im gegenwärtigen Parlament versammelten geistlichen und weltlichen Ix>rds und der Gemeinen, und kraft deren Autorität wird hiermit verfügt, wie folgt:

Haftpflicht des Arbeitgebers für Körperverletzung eines Arbeiters. Art. 1. Wo nach Inkraftreten dieses Gesetzes einem Arbeiter Körperverletzung zugefügt wird

a) infolge einer Schadhaftigkeit in dem Zustand oder der Beschaffenheit von Wegen, Werkstätten, maschinellen Einrichtungen, Gerätschaften oder Inventarienstücken, Gebäuden oder Grundstücken, die mit dem Gesclmftsbetrieb des Arbeitgebers verbunden , dafür bestimmt oder dazu benützt werden und diese Schadhaftigkeit oder die nicht erfolgte Entdeckung oder Abhilfe derselben einer Nachlässigkeit des Arbeitgebers oder sonst einer Person /uzuschreiben ist, der von ihm die Ver- pflichtung auferlegt wurde, darauf zu sehen, dass dieser Zustand oder Beschaffen- heit in t )rdnung ist ; oder

b) infolge von Nachlässigkeit seitens irgend einer Person im Dienste des Arbeitgebers, welcher von letzterem die Aufsicht über die Arbeiter übertragen worden ist, wenn die Vernachlässigung stattgefunden hat , während die betreffende Person in der Ausübung solcher Beaufsichtigung begriffen war; oder

c) infolge von Nachlässigkeit seitens irgend einer Person im Dienste des Arbeitgebers, deren Befehle und Anordnungen der Arbeiter zur Zeit der Verletzung zu befolgen verpflichtet war und befolgt hat, wenn seine Verletzung durch solche Befolgung entstanden ist ; oder

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588 Gesetzgebung.

d) infolge irgend einer Handlung oder Unterlassung, die von eraer'Person im Dienst des Arbeitgebers, in Befolgung irgend einer Vorschrift oder Anordnung des Ar- beitgebers oder besonderer, vom Arbeitgeber oder irgend einer zu diesem Zweck: mit der Befugnis des Arbeitgebers ausgestatteten Person erteilten Instruknooc begangen worden ist, und solche Vorschrift, Anordnung oder Instruktion sagt- eignet oder mangelhaft war ; oder

e) infolge von Nachlässigkeit seitens irgend einer Person im Dienste des Arbeitgeber* welcher die Kontrolle irgend welcher Signale, Weichen, Lokomotiven, Maschia» oder Züge auf Eisenbahnen oder Trambahnen übertragen war;

so soll der Arbeiter oder, bei Todesfall, dessen Rechtsnachfolger, unter EinhakaL; der Bestimmungen dieses Gesetzes, dasselbe Recht auf Entschädigung und Regrsv gegen den Unternehmer haben, als ob der Arbeiter nicht ein Arbeiter des bctrd&t- den Unternehmers noch im Dienste desselben stehend, noch in der Arbeit für ilm be- schäftigt gewesen wäre.

Vorbehaltlich wie folgt :

1. In einer Rechtsverhandlung gegen einen Arbeitgeber auf Grund dieses Geseaes soll einem Arbeiter der blosse Umstand, dass er im Dienste desselben Untemehae’ weiter gearbeitet und dabei Kenntnis von der seine Verletzung herbeifuhrecis Schadhaftigkeit, Vernachlässigung, Handlung oder Unterlassung gehabt hat, des Arbeiter nicht so ausgelegt werden, als ob er freiwillig das Risiko einer Körper- verletzung auf sich genommen.

2. Ein Arbeiter soll auf Grund dieses Gesetzes zu einem Anspruch auf Eotsdad- gung oder Regress gegen seinen Arbeitgeber nicht berechtigt sein , in dem Fil wo er von der Schadhaftigkeit, Nachlässigkeit. Handlung oder Unterlassung, dad welche seine Verletzung herbeigeführt worden. Kenntnis gehabt und ohne triftigo Entschuldigungsgrund versäumt hat, rechtzeitig dem Arbeitgeber oder irgend <££ im Dienste desselben Arbeitgebers über ihm stehenden Person Anzeige ro ersuch oder die Erstattung solcher Anzeige zu veranlassen.

3. Wo eine Vorschrift oder Anordnung von einem der ersten Staatssekretäre Hrr Majestät, oder vom Handelsamt, oder von sonst einem staatlichen Verwaltung?- amt in Gemässheit oder auf Grund irgend eines Parlamentsaktes als eine nwci* massige Vorschrift oder Anordnung gutgeheissen oder anerkannt worden iS . ^ soll dieselbe, mit Bezug auf dieses Gesetz nicht als eine ungeeignete oder ci^ gelhafte Anordnung erachtet werden.

4. Ein auf Grund dieses Artikels eingeleiteler Rechtsstreit soll als gegen die Recbtv nachfolger eines verstorbenen Arbeitgebers anhängig erachtet werden. Rechtsverhältnisse eines Arbeiters bei Arbeiten die in Entreprise er- geben sind. Art. 2. Wo die Verrichtung irgend einer Arbeit unter irgend öner Verdingungsvertrag zur Ausführung gelangt, und

a) die Person, für welche diese Arbeit oder ein Teil derselben gethan wird, irgt*> welche , dem Zwecke der Ausführung der Arbeit dienende Wege , Werkstatt® maschinelle Einrichtungen , Gerätschaften oder Inventarienstiicke , Gebäude ode Grundstücke besitzt odeT dazu bereitstellt, und

b) infolge irgend welcher Schadhaftigkeit in dem Zustand oder der Beschaffoiiff solcher Wege, Werkstätten , maschinellen Einrichtungen , Gerätschaften oder fr* ventarienst ücke, Gebäude oder Grundstücke, einem von dem After- oder ir^o^ einem Sub-Unternehmer beschäftigten Arbeiter eine Körperverletzung zu$ef< wird; und

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Die englische Gesetzvorlage betr. Haftpflicht der Arbeitgeber etc . 589

c) diese Schadhaftigkeit oder die unterbliebene Entdeckung und Abstellung dieser Schadhaftigkeit einer Nachlässigkeit seitens der Person, für welche die Arbeit oder ein Teil derselben gethan wird, oder sonst einer Person zuzuschreiben ist, welche von ihm mit der Verpflichtung beauftragt war, darauf zu achten, dass dieser Zu- stand oder die Beschaffenheit in gehöriger Ordnung ist, so soll die Person, fiir welche die Arbeit oder ein Teil derselben gethan worden, zur Zahlung der Entschädigung für körperliche Verletzung ebenso verpflichtet sein, als ob der Arbeiter von ihm angestellt gewesen wäre, und soll dieselbe überhaupt als der Arbeitgeber des betreffenden Arbeiters im Sinne dieses Gesetzes angesehen werden. Mit dem Vorbehalt, dass

1. auch jeder After- oder Sub-Unternehmer für Zahlung der Entschädigung we- gen Körperverletzung gerade so haftbar ist, als ob die in diesem Artikel ent- haltene Verfügung nicht erlassen worden wäre ; derart jedoch, dass eine doppelte Entschädigung auf Grund ein und derselben Verletzung nicht erhältlich ist; und II. dass irgend welche gegenseitigen Rechte oder Pflichten zwischen der Person, für welche die Arbeit gethan wird , und dem betreffenden After- oder Sub-Untcr- nehmer unter sich von dieser Verfügung nicht beeinträchtigt werden.

Nichtigkeit von Verträgen zur Verzichtleistung auf Wohlthaten dieses Gesetzes ausser gegen angemessene Gegenleistung. Art. 3. 1. Irgend ein nach Inkraftretung dieses Gesetzes geschlossener Vertrag, in welchem sich ein Arbeiter irgend eines durch dieses Gesetz gewährten Rechtes begibt, soll ungültig sein, wofern er nicht infolge eines schriftlichen Gesuchs von Seiten jedes einzelnen Arbeiters ge- macht ist, mit dem ein solcher Vertrag geschlossen werden soll, und wofern er nicht abgeschlossen wird auf Grund der weiter unten erläuterten Verpflichtung seitens des L'nternehmers und diese Verpflichtung getreulich eingehalten wird.

2 Diese Verpflichtung soll sein, dass der Arbeitgeber, so lange der Arbeiter in seiner Stellung weiter arbeitet , einen entsprechenden Beitrag leistet zu einer nach- stehend näher erläuterten Versicherung des Arbeiters oder, im Todesfall, seiner Rechts- nachfolger gegen jeden im Laufe seiner Beschäftigung sich ereignenden Unfall , und dem Arbeiter, oder, bei Todesfall, seinem Rechtsnachfolger diejenige Summe zu zahlen übernimmt, die infolge dieser Versicherung fällig wird , aber noch nicht be- zahlt worden ist.

3. Die Versicherung soll auf solchen Betrag und auf solche Bedingungen gestellt sein, dass sie dem Arbeiter, oder, im Todesfall dessen Rechtsnachfolgern, einen mit der nach diesem Gesetz zu beanspruchenden Entschädigung gleichwertigen Nutzen gewährt.

4. Wenn irgendwie die Frage entsteht , ob eine solche von einem Unternehmer übernommene Verpflichtung den in diesem Artikel vorgesehenen Erfordernissen ent- spricht, so soll der Nachweis , dass eine ähnliche Verpflichtung von unter ähnlichen Verhältnissen und in derselben Art von Beschäftigung thätigen Personen angenommen oder nicht angenommen worden ist, zulässig sein als Beweismittel für die Zulänglich- keit oder Unzulänglichkeit solcher Verpflichtung.

5. Auf Antrag eines Arbeiters in einem Kohlenwerk oder nietallliefernden Berg- werk, in einer Fabrik oder Werkstätte, oder seines Arbeitgebers, soll einer der Ober- Staats-Sekretäre Ihrer Majestät, und auf Antrag eines Arbeiters in einem anderen Ar- beitszweige, oder seines Arbeitgebers, soll das Handelsamt erwägen und entscheiden können, ob ein geschlossener oder zu schliessender Vertrag zwischen einem Arbeiter und seinem Arbeitgeber, wodurch der Arbeiter sich irgend eines von diesem Gesetz

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Gesetzgebung.

gewährleisteten Rechtes entäussert, auf die in diesem Artikel erwähnte Gegen!«??; hin gemacht ist oder gemacht werden soll : und wenn der Staatssekretär oder i* Handelsamt entscheidet und bestätigt, dass der Vertrag in solcher Weise gemocht » r zu machen beabsichtigt ist, so soll nicht nur dieser Vertrag sondern sollen alle Ver- träge auf gleichlautender Grundlage mit anderen, von demselben Unternehmer ocr seinen Geschäflsnachfolgern in ähnlicher Beschäftigung und unter ähnlichen Wc. ntssen angestellten Arbeitern, ohne weitere Beweisführung, als der in diesen: Alt» angeführten Gegenleistung entsprechend angesehen werden.

6 Die auf Grund der Versicherung zu zahlende Entschädigung kann enivr- eine Kapitalsummc oder eine jährliche oder andere periodische Zahlung an die rr- letzte Person oder deren Rechtsnachfolger sein.

7. In diesem Artikel soll in der Bezeichnung »Arbeitgeber* jede Person ~ griffen sein, die nach dem vorhergehenden Artikel zur Zahlung von Entscha-l^- verpflichtet ist.

Bestimmungen zur Feststellung der angemessenen Höhe der Versiche- rung und der Beisteuer des Arbeitgebers dazu. Art 4. Bei Keststelii’f-C .

angemessenen Höhe der weiter oben erwähnten Versicherung und der Bo'tetic Arbeitgebers zu derselben, soll unter Anderem Rücksicht genommen werden uf. ganze Tragweite der durch die Versicherung gebotenen Entschädigung, aut drn ta- deln Gesetz zu beanspruchenden Entschädigungsbetrag , sowie auf das Veduitr- welches besteht zwischen der durchschnittlichen Zahl von Unfällen, die der Ycr> rang unterstellt sind.

Vor der Klaganstrengung zu erstattende Anzeige (Siehe 1880, Art 4 Art. 5. 1 Unter Einhaltung der näheren Bestimmungen dieses Artikels, »l1* ** Klaganstrengung auf Entschädigung nach diesem Gesetz für eine von einem Arbeit" im Verlauf seiner Beschäftigung erlittene Verletzung, gegen seinen Arbeitgeber av~ haltbar sein, wenn nicht die Anzeige, dass eine Verletzung erlitten worden Kt. 1®0' halb drei Monate von dem Eintritt des Unfalls, der die Verletzung herbere« x-. erstattet worden ist.

2. 5. enthalten nur die Dctailvorschriften über Art n 0 d ^ < st

der zu erstattenden Anzeige.

6. 1 >ie Unterlassung oder ungenügende Erstattung der in diesem Artike. schriebcnen Anzeige soll kein Hindernis in der Durchführung einer Klage ud lung einer Entschädigung für Verletzung bilden, wenn das Gericht, oder, des Appells, der die Appellation verhandelnde Gerichtshof der Ansicht ist, ^ annehmbarer Entschuldigungsgrund für die Unterlassung oder Unzulänglichkeit r Anzeige vorhanden war, und dass der Beklagte in seiner Verteidigung dadurch »• beeinträchtigt ist.

Zeit der Anbringung der Klage (Siehe 1880, Art. 4). Art. 6. Eid« gegen einen Arbeitgeber auf Entschädigung nach diesem Gesetz für eine Yerktöf die einem Arbeiter iin Verlauf seiner Beschäftigung zugestossen, soll nicht dan.fr h’ bar sein, wofern dieselbe nicht eingeleitet ist innerhalb sechs Monaten vom U - des Ereignisses, das die Verletzung herbetgeführt, oder, bei tödtlicheni A«f*^ innerhalb zwölf Monaten vom Eintritt des Todes.

Modus der Verhandlung. Art. 7. (Dieser Artikel hat nur auf die -*■ Weise des gerichtlichen Verfahrens Bezug.)

Bestimmung wegen spezieller Verteidigung. Art. 8 (Dieser Artikel b: r auf die Art und Weise des gerichtlichen Verfahrens Bezug.)

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Die englische Gesetzvorlage betr. Haftpflicht der Arbeitgeber etc . 591

Beschränkung der als Entschädigung zu beanspruchenden Summe. Art. 9. Die nach diesem Gesetz von einem Arbeitgeber für eine dem Arbeiter im Verlauf seiner Beschäftigung zugestossene Verletzung zu beanspruchende Entschädigungssumme soll weder eine Summe übersteigen , gleichbedeutend mit dem abzuschätzenden Ver- dienst einer während der , der Verletzung unmittelbar vorhergehenden drei Jahre in derselben Stufe und derselben Beschäftigung und in demselben Distrikt, beschäftigten Person , noch soll dieselbe den Betrag von zwei hundert und fünfzig Pfund über- steigen; je nachdem die eine oder andere die grössere ist (soll sie das Maximum der Entschädigung bilden).

Abzüge von der Entschädigungssumme (siehe 1880, Art. 5). Art. 10. 1. Von irgend einer, einem Arbeiter oder dessen Rechtsnachfolgern gegen seinen Arbeitgeber zugesprochenen Entschädigungssumme auf Grund einer von ihm im Verlauf seiner Beschäftigung erlittenen Verletzung, sollen in Abzug gebracht werden :

a) der auf den Beitrag des Arbeitgebers fallende Teil von irgend welchem Gelde, das an den Arbeiter oder seine Rechtsnachfolger für die Verletzung auf Grund einer Versicherung bezahlt worden ist, zu welcher der Arbeitgeber beigesteuert hat ; und

b) irgend eine Geldstrafe oder Teil einer solchen, die an den Arbeiter oder dessen Rechtsnachfolger infolge irgend eines anderen Parlaments-Aktes in Bezug auf dasselbe Klagobjekt bezahlt worden ist.

2. Wo ein gerichtliches Verfahren von einem Arbeiter oder seinen Rechtsnach- folgern auf Entschädigung für eine von ihm im Verlauf seiner Beschäftigung erlittene Verletzung eingeleitet worden ist, und keinerlei Zahlung itgend einer Geldstrafe oder Teil einer solchen auf Grund eines anderen Parlaments-Aktes aus z\nlass derselben Klagursache vorausgegangen ist, soll der Arbeiter oder seine Rechtsnachfolger berechtigt sein, nachher noch irgend eine Geldbusse oder Teil einer solchen auf Grund eines anderen Parlaments- Aktes in bezug auf dieselbe Klagsache zu erheben.

Verteilung der Entschädigungssumme. Art. 11. Wo im Falle des Todes eines Arbeiters eine Entschädigung für eine von ihm im Verlauf seiner Beschäftigung erlittene Verletzung gewährt wird , kann der zu erhebende Betrag , nach Abzug der von dem Beklagten nicht einziehbaren Kosten, wenn es der Richter so bestimmt, unter Frau, Mann, Vater, Mutter, Kinder des Verstorbenen in solchen Teilen ver- teilt werden, wie der Richter, mit oder ohne Beisitzer, oder, wo der Fall vor Ge- schworenen verhandelt wird, wie die Geschworenen bestimmen.

Aus dem gemeinen Recht hervorgehende Rechtsansprüche. Art. 12. Wo eine Körperverletzung einem Arbeiter infolge von einer unrichtigen Handlung, Vernach- lässigung oder Unterlassung seitens seines Arbeitgebers im Zusammenhang mit der Arbeit, in welcher der Arbeiter beschäftigt war, zugcfiigt wird, und dem Arbeiter, oder, bei tötlichcm Ausgang, dessen Rechtsnachfolger, unabhängig von diesem Gesetz ein Anspruch auf Entschädigung gegen den Arbeitgeber zusteht, kann die Verhandlung über solche Entschädigung bei demselben Gericht und in derselben Weise, aber in- nerhalb desselben Zeitraums und nach ähnlicher Erstattung der Anzeige, eingeleitet werden, als ob sie in Gemässheit dieses Gesetzes betrieben würde; auch soll dieselbe über- haupt nicht anders behandelt werden und kann ein und dieselbe Verhandlung sowohl einen Anspruch auf Entschädigung der vorerwähnten Art, als auch eine nach diesem Gesetz zulässige Entschädigungsforderung in sich schliessen

Anwendung des Gesetzes auf Seeleute. Art. 13. 1. Dieses Gesetz soll auch auf den Fall anwendbar sein, wo einem an Bord eines britischen Schiffes be- schäftigten Seemann im Verlauf seiner Beschäftigung eine körperliche Verletzung zu*

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Gesetzgebung.

stosst, und zwar in gleicher Weise, als wenn er ein Arbeiter im Sinne dieses G eseüe* wäre, wenn er sich die Verletzung in einem Hafen des vereinigten Königreichs rügt- zogen hat. Andernfalls sollen folgende Beschränkungen gelten :

a) Der Arbeitgeber eines Seemanns soll zur Leistung einer Entschädigung für cm? Verletzung nicht verpflichtet sein , wenn dieselbe nicht durch einen Fehler ir. der Beschaffenheit des Schiffes oder des Takelwerks, des Betriebsbedarfs, des Schiffgeräts, der Maschinerie oder der sonstigen Ausrüstung des Schiffes «ahtas- den ist, der zur Zeit existiert hat, wo dasselbe zuletzt von einem Hafen des ver- einigten Königreichs ausgefahren ist , und wenn nicht dieses Fehlen oder d.t unterbliebene Entdeckung und Abstellung desselben auf eine Nachlässigkeit tens des Arbeitgebers oder irgend einer Person zurückzuführen ist , die von ihn beauftragt war, darauf zu achten, dass das Schiff, oder das Takelwerk. Kcti.rS- bedarf, Schiffgerät, Maschinerie oder sonstige Ausrüstung desselben in sicherer, und richtigem Zustand war :

b) Die nach diesem Gesetz erforderliche Anzeige kann erstattet werden zu irgen-i einer Zeit vor Ablauf von drei Monaten von Beendigung der Reise oder de Dicnstverrichtung an gerechnet, während welcher die Verletzung erlitten wank und das Recht sverfahren kann eingeleitet werden zu irgend einer Zeit vor A> lauf von sechs Monaten, oder, im Todesfall, von zwölf Monaten von Bcetd- gung der betreffenden Reise oder Dienstverrichtung an gerechnet.

c) War das Schiff nebst Takelwerk , Betriebseinrichtung, Schiffsgerat, Mtsckee* und sonstiger Ausrüstung zur Zeit , wo dasselbe zuletzt von einem Hafen de vereinigten Königreichs aus in See gegangen, in Ucbereinstimmung mit den An- ordnungen, die vom Handelsamt von Zeit zu Zeit in solcher Hinsicht in Bens£ auf Schiffe von der Klasse zu welcher das fragliche Schiff gehört, erlasset »ff den, und wo diese Vorschriften dem Vertrag mit der Schiffsmannschaft beigefc? worden sind, so soll das Schiff, nebst Takelwerk , Betriebseinrichtung, Scbifr gerät, Maschinen und sonstiger Ausrüstung nicht als fehlerhaft im Sinne <iese Paragraphen erachtet werden.

2. Zum Zwecke der Durchführung der Bestimmungen dieses Artikels soll llandclsamt von Zeit zu Zeit die ihm zweckmässig erscheinenden Vorschriften m Be- zug auf die verschiedenen Klassen von Schiffen treffen und veröffentlichen.

3. In einem Hafen oder Ort, wo ein Aufseher des Handelsamts existiert, Us dieser Aufseher, auf Antrag eines Schiffseigentümers, eine Bescheinigung dahin stellen, dass an dem in der Bescheinigung erwähnten Datum die in diesem Aitikö erwähnten Vorschriften in bezug auf das betreffende Schiff erfüllt gewesen sind, daraufhin soll diese Bescheinigung als genügender Nachweis solcher Erfüllung Ae Vorschriften angesehen werden.

4. Nichts in diesem Gesetz soll irgend ein Recht oder einen Regress, wota^ ein Seemann unabhängig von diesem Gesetz Anspruch hat, beeinträchtigen.

Befugnis zur Anstellung von Personal. Art. 14. Zum Zwecke der Dun*" führung der Bestimmungen dieses Gesetzes soll einer der obersten Staatssekretäre Ib« Majestät, beziehentlich das I landeisamt, von Zeit zu Zeit, unter Einwilligung der Kxt- missäre des Schatzamts Ihrer Majestät bezüglich der Anzahl der Anzustellend» Be amte , Aufseher und sonstige Personen ernennen oder anstellen , je nachdem 0 des Staatssekretär, oder dem Handelsamt notwendig erscheinen mag, und sollen die « angestelltcn oder verwendeten Beamten aus dem vom Parlament dazu verfügbar I«* machten Gelde eine derartige Besoldung erhalten, wie sie der Staatssekretär, &e-

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Die englische Gesetzvorlage betr, Haftpflicht der Arbeitgeber etc . 593

ziehentlich das Handclsamt, unter Beistimmung des Schatzamts Ihrer Majestät von Zeit zu Zeit bestimmen mag.

2. In anbetracht der in Gemässheit dieses Gesetzes zu erfüllenden Dienste sollen auf Anweisung eines der obersten Staatssekretäre Ihrer Majestät, oder des Handels- amts, diejenigen Gebühren, und an diejenigen Personen und in derjenigen Weise be- zahlt werden, wie dies der Staatssekretär, beziehentlich das Handelsamt, unter Bei- stimmung der Kommissäre des Schatzamtes Ihrer Majestät von Zeit zu Zeit verfügen mögen.

Erläuterungen. Art. 15. In diesem Gesetz

1. ist in der Bezeichnung »Arbeiter* weder ein Hausbediensteter oder gewöhnlicher Dienstbote , noch ein Bureau-Angestellter oder Agent , noch , ausser soweit es dieses Gesetz anders bestimmt , ein Seemann inbegriffen , vielmehr bedeutet die- selbe, unbeschadet des Vorerwähnten, irgend eine Person, welche als Taglöhner, landwirtschaftlicher Arbeiter, Geselle, Handwerker, Handarbeiter, Grubenarbeiter oder als sonstwie in der Handarbeit beschäftigt, einen Dienstvertrag mit einem Arbeitgeber eingeht oder unter einem solchen arbeitet, gleichviel ob solcher Ver- trag ein eigens verfasster oder mit übernommener, ob es ein mündlicher oder schriftlicher, ob cs ein Dienstvertrag oder ein Vertrag über irgend eine persönlich auszuführende Arbeit ist; auch soll dieses Gesetz auf jeden Eisenbahnbediensteten und auf jede Person Anwendung haben, die in oder bei einem öffentlichen Ver- kehrsmittel zu I,and oder in oder auf einem Schiffe der inländischen Schiffahrt beschäftigt ist, als ob solche ein Arbeiter wäre.

2. Der Ausdruck »Beaufsichtigung« bedeutet diejenige gewöhnliche Aufsicht über Arbeiter, wie solche von einem Werkführer oder einer Person in gleicher Stellung w de ein Werkführer ausgeübt wird, ob solche, die Aufsicht führende Person, für gewöhnlich bei der Handarbeit mit beteiligt oder nicht.

3. Die Bezeichnung »Arbeitgeber« schlicsst auch eine mit körperschaftlichen Rechten begabte oder nicht begabte Verbindung von Personen in sich, sowie die Rechts- nachfolger eines verstorbenen Arbeitgebers und, ausser in Art. 1 dieses Gesetzes, die Person, die zur Zahlung der Entschädigung nach Art. 2 dieses Gesetzes ver- pflichtet ist.

4. Die Bezeichnung »Seemann« erstreckt sich auf jede im Dienste eines Schiffes be- schäftigte Person.

5. Die Bezeichnung »Schilf« umfasst jede Art von in See gehenden Schiffen , die nicht mittelst Ruder fortbewegt werden.

6. Die Bezeichnung »Rechtsnachfolger« bedeutet die nach dem Gesetz an seine Stelle tretenden Personen , und sollen Ausdrücke in Bezug auf Rechtsnachfolger eines verstorbenen Arbeiters die Personen umfassen, die im Todesfall zur Bean- spruchung einer Entschädigung berechtigt sind.

Anwendung des Gesetzes auf Schottland. Art. 16. (Dieser Artikel enthält nur Bestimmungen über das gerichtliche Verfahren für Schottland und ist nur von lokalem Interesse.)

Anwendung des Gesetzes auf Irland. Art. 17. ln der Anwendung dieses Ge- setzes auf Irland soll unter der Bezeichnung »Grafschafts-Gericht« das Civil-Gerichl (Civil Bill Court) zu verstehen sein.

Vorbehalt für bestehende Verträge. Art. 18. Nichts in diesem Gesetz Ent- haltenes soll einem bei Inkrafttrctung dieses Gesetzes bestehenden Vertrag zwischen einem Arbeiter und einem Arbeitgeber während der Dauer des Vertrags Abbruch

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Gesetzgebung.

thun, jedoch soll für die Zwecke dieses Gesetzes ein solcher Vertrag als nicht »c^r gültig erachtet werden, nach der Zeit, wo er abgelaufen sein würde, wenn eine Kn> digung desselben bei Beginn dieses Gesetzes erfolgt wäre.

Kurzer Titel. Art. 19. Dieses Gesetz soll als das Haftpflicht-Gesetz rot ftV benannt werden.

Widerruf (von 43 und 44 Vic. C 42). Art. 20. Das Haftpflichtgesetz ifo© gilt hiermit als vom Inkrafttreten dieses Gesetzes an widerrufen Vorbehaltlich wie folgt :

a) Die Widerrufung irgend welcher Verfügung durch dieses Gesetz soll von ko» Rückwirkung sein auf irgend etwas in Gemässheit der widerrufenen Bestimm^ Geschehenes oder Erduldetes , noch auf irgend ein in Gemässheit derselben a- wachscnes oder erworbenes Recht , und ein gesetzliches Verfahren in Bezog 1-1 irgend ein solches Recht kann eingeleitet , und ein in Gemässheit einer saldn widerrufenen Verfügung begonnenes gesetzliches Verfahren kann fortgesetzt, ver- vollständigt und zu Ende geführt werden, als ob die betreffende Verfügung » ^ widerrufen wäre.

b) Alle in Gemässheit einer hiermit widerrufenen Verfügung getroffenen Anordnuc^r: und Vorschriften sollen in Kraft bleiben, können aber abgeändert und widonfe» werden, als ob sic nach diesem Gesetze getroffen wären.

Beginn des Gesetzes. Art. 21. Dieses Gesetz soll in Wirksamkeit tretet ü ersten Tage des Januars ein tausend acht hundert neun und achzig (welches iter i diesem Gesetz unter Inkrafttretung dieses Gesetzes zu verstehende Tag ist): VV** haltlich, dass irgend welche für die Zwecke dieses Gesetzes erforderlichen Anordnung oder Vorschriften zu irgendwelcher Zeit nach der Annahme dieses Gesetzes gdrA* werden können, jedoch erst mit dem Beginn dieses Gesetzes in Wirksamkeit treta dürfen.

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DEUTSCHES REICH.

DER ENTWURF EINES GESETZES BETREF- FEND DIE ERWERBS- UND WIRTSCHAFTS- GENOSSENSCHAFTEN ').

VON

Dr. LUDWIG FUI.D,

RECHTSANWALT IN MAINZ.

Die Notwendigkeit einer durchgreifenden Revision des nun- mehr seit zwanzig Jahren in Geltung stehenden Genossenschafts- gesetz.es hat sich in den letzten Jahren immer mehr Anhänger verschafft ; in einer Reihe von Thatsachen ist die Mangelhaftig- keit des bisherigen Rechtes zum Ausdruck gekommen , und die Klage der Genossenschaften, dass das Gesetz ihren Bedürfnissen nicht in genügendem Masse Rechnung trage, wurde immer lauter. Nachdem bereits in den siebziger und zu Beginn der achtziger Jahre verschiedene Versuche zur Umformung desselben gemacht wurden , hat nunmehr die Regierung dem Reichstage einen Ent- wurf vorgelegt , welcher sich von dem geltenden Rechte durch die abweichende Regelung einer Reihe von Bestimmungen wich- tigster Art ganz bedeutsam unterscheidet und das Genossen- schaftsrecht , wenigstens zum Teile, auf völlig neue Grundlagen stellt. Im folgenden sollen die wichtigsten Bestimmungen des Ent- wurfes einer kurzen kritischen Beleuchtung unterzogen und dabei der juristische Gesichtspunkt zwar nicht gänzlich ausser acht gelassen, aber doch hinter den wirtschaftlichen wesentlich zurückgestellt werden.

Die wichtigste, grundsätzliche Neuerung, welche der Entwurf in das Genossenschaftsrecht einführt , besteht in der Zulassung von Genossenschaften mit beschränkter Haftpflicht. § 2 lautet: -Die Genossenschaften können mit unbeschränkter

I) Entwurf eines Gesetzes betr die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften nebst Begründung und Anlagen. Aratl. Ausgabe, Berlin, Vahlen, ISSS.

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GatLgclung.

I laftpfiicht errichtet werden , dergestalt , dass die einzelnen Mit- glieder (Genossen) für die Verbindlichkeiten der Genossenschjft mit ihrem ganzen Vermögen haften, oder mit beschränkter Haft pflicht dergestalt , dass diese Haftung im voraus auf eine be- stimmte Summe begrenzt ist.« Man kann wohl sagen, dass sieb die öffentliche Meinung bezüglich einer Wirtschaftsfrage selten so von Grund auf geändert hat wie in Ansehung der Zulassung von Genossenschaften mit beschränkter Haftung; bei Erlass des Ge- setzes von 1868 war die Ansicht herrschend , dass die unbe- schränkte Haftung der Genossen für das wirtschaftliche Gedeihen der Genossenschaften die unabweisliche Basis bilde und sowohl die Interessen der Gläubiger wie die der Genossen selbst gleich massig berücksichtige; heute hält man es für ausgemacht, dass die unbeschränkte Haftung die Entwicklung des Genossenschafts- wesens hemme und für ganze Gegenden unter Umständen die schwersten wirtschaftlichen Kalamitäten herbeiführe. Zwar geht man nicht so weit , dass man den gesetzlichen Ausschluss der unbeschränkten Haftung empfiehlt vereinzelt ist auch dieses System befürwortet worden sondern man verlangt nur, dass man den Genossenschaften die Wahl überlasse , ob sie sich auf dem Boden beschränkter oder unbeschränkter Haftung konsütiw ren wollen, und es ist ein Zeichen für die Macht, welche die diesem Ziele zusteuernde Strömung erlangt hat, dass selbst der Vater des deutschen Genossenschaftswesens , Schulze-Delitzsch gegen Ende seiner Wirksamkeit die Zulassung beider Arten voa Genossenschaften befürwortete , wiewohl er früher der Ansich: war, dass die Eorm der unbeschränkten Haftung doch die prah tisch bedeutsamste sei und auch bleiben werde.

Der Verfasser ist der Meinung, dass die Zulassung von Ge- nossenschaften mit beschränkter Haftung ein bedeutender Fortschritt der Gesetzgebung ist ; dass sie einen Sieg des wirtschaftlichen Bedürfnisses über die formal-juristische Ae schauung bedeutet , welche es verschuldet hat , dass noch der achtzehnte deutsche Juristentag sich im Jahre 1886 allerdings nur mit sehr geringer Stimmenmehrheit gegen die beschränkthaft«1 den Genossenschaften aussprach. Die Motive des Entwurfes fcv ren die Gründe für die Zulassung von Genossenschaften mit be- schränkter Haftung so überzeugend aus, dass jede weitere Rech fertigung derselben überflüssig erscheint. Es mag nur noch deu in der letzten Zeit öfters hervorgehobenen Ausspruch «t-

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Entwurf eines Erwerbs- um i Wirtschaftsgenossenschaftsgesetzes. 597

wiesen werden, welchen Schulze Delitzsch in seinem Nachlasswerke über diese Frage that : »Wie sehr wir auch«, sagte er, »durch die Vervollkommnung unserer Organisation und die gegenseitig strenge Kontrolle und Anforderungen an die mit uns verbundenen Vereine die Gefahren der Solidarhaft mit Erfolg zu mindern bemüht sind, so greifen doch, wenn auch nur vereinzelte Vorkommnisse, wie die neuerlichen Bankbriiche , störend in unsere Organisation ein. Regelmässig wird dann besonders in der Nachbarschaft eine An- zahl dieser wohlhabenden Mitglieder bedenklich , ohne feste Be- grenzung des Risikos auf eine bestimmte Summe in die Genossen- schaft einzutreten, resp. darin zu verbleiben. Und hier bleibt die Zulassung der beschränkten Haft das sichere Mittel, die Betreffen- den der Teilnahme an der genossenschaftlichen Bewegung zu er- halten und sie nicht zum Uebergang in Aktiengesellschaften zu drängen , wo die in sozialer Hinsicht so wertvollen Beziehungen zwischen den wohlhabenden und unbemittelten Klassen völlig zu- rücktreten. Werden doch dieselben bei den Genossenschaften mit beschränkter ebenso wie bei denen mit unbeschränkter Haft gepflegt und müssen bei beiden die wohlhabenden Mitglieder vermöge der beiden zu Grunde liegenden Solidarhaft im Falle der Insolvenz für die Unvermögenden mit einstehen, natürlich bei beschränkter Haft nur bis zur Garantiesumme.« Die Bedenken, welche hiergegen vom Standpunkte der Gläubigerinteressen gel- tend gemacht werden , sind an sich nicht unbegründet und man wird es wohl zugeben müssen, dass die Sicherheit des Gläubigers eine grössere ist, wenn er einer Genossenschaft gegenübersteht, bei welcher die Haftung nicht nur bis zu einer bestimmten Summe geht, als einer Genossenschaft, die nur beschränkt haftet ; ander- seits ist indessen zu erwägen, dass für das Interesse der Gläu- biger durch eine Reihe von Vorschriften in ausreichender Weise gesorgt werden und hierdurch wohl ein Aequivalent für die Min- derung der Sicherheit in Folge beschränkter Haftung geboten werden kann. Wenn man aber weiter gegen diese Reform ein- wendet, dass mit Rücksicht auf die Gefährdung des Gläubiger- interesses Genossenschaften mit beschränkter Haftung des Kre- dites entbehren, den die bisherigen Genossenschaften so reichlich gemessen, so übersieht man zunächst , dass zahlreiche Genossen- schaften auf grössere Inanspruchnahme des Kredites überhaupt nicht angewiesen sind und es eine durch nichts gerechtfertigte Härte wäre, wenn man der Entwicklung dieser wegen des Kre-

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Gesetzgebung.

dites der andern hemmend in den Weg treten wollte ; sodann trägt man aber dem Umstande keine Rechnung , dass auch aal dem Boden der beschränkten Haftung die Genossenschaften sich ganz, wohl eine Kreditgrundlage zu schaffen in der Lage sind welche sic kreditfähig macht. Da das System des Entwurfes den Genossenschaften die Wahl zwischen beschränkter und unbe- schränkter Haftung anheimstellt, so darf man die Erwartung he- gen, dass sie schon ihre Organisation in einer Weise vornehmen werden, welche die Befriedigung ihres Kreditbedurfnisses. über dessen Umfang sie allein ein zutreffendes Urteil haben, ausre chend gestattet.

Die zweite, nicht minder wichtige Reform des Entwurfes be- zieht sich auf die Art und Weise, in welcher die Haft pflicht geltend gemacht wird und im Zusammenhang hiermit auf die Ordnung des Nachschussverfahrcns des Einzelangriffes. Nach § 51 des gegenwärtig geltenden Gesetzes hat nach Beendigung des Konkursverfahrens jeder Giai biger das Recht, wegen des von ihm erlittenen und gehörig fest gestellten Ausfalles seiner Forderung sich an die unbeschrankt haftenden Genossenschafter zu halten , während nach «: 52 : Anfertigung der Berechnung der auf jeden Genossen behufs Bf friedigung der Konkursgläubiger entfallenden Beträge von den Vorstande erst nach Feststellung des Schlussverteilungsplanö vorzunehmen ist ; diese Bestimmungen haben sich in der Prav; j mit nichten bewährt; unter ihrer Herrschaft hat sich die Ab*ic> lung der Geschäfte verzögert, das Verfahren hat einen schlep- penden, langweiligen Karakter angenommen und das Umlage«' fahren vermochte, weil zu einem unrichtigen Zeitpunkte erst be gönnen, nicht den Zweck zu erreichen , w-elchem es dienen sft- Das Umlageverfahren ist bei Erlass des Genossenschaftsgesec* eingeführt worden, um die endlose Kette von Prozessen tu vtt hüten , welche die Geltendmachung des Ausfalles der Gläubig gegen die einzelnen Genossen zur Folge haben müsste ; der Zeit- punkt in welchem es eintritt , ist nun aber nach gegenwärtigem Rechte fast derselbe , wie der, von welchem ab die direkte In- anspruchnahme der Genossen durch die Gläubiger geltend macht werden kann. Der Entwurf bestimmt deshalb, dass die Berechnung des im Konkursverfahren sich ergebenden Fehlbttr- ges sofort vorzunchmen ist, nachdem die Bilanz über die Kon- kursmasse seitens des Konkursverwalters auf der Gerichts«!1'11

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Entwurf eines Erwerbs- und Wirtscbaftsgennssenschnfts^esetzes. 599

berei niedergelegt ist , er überträgt ferner die Anfertigung des Verteilungsplanes über diesen Betrag dem Konkursverwalter und gibt dem Vorstande der in Konkurs befindlichen Genossenschaft nur ein Recht, vor der Vollstreckbarkeitserklärung dieses Planes seitens des Gerichtes gehört zu werden ; ij 95 97. Diese Kon- struktion des Umlegungsverfahrens als Teiles des Konkursver- fahrens ist zwar juristisch vollkommen richtig, wir halten sie aber vom wirtschaftlichen Standpunkte weder für ganz einwandfrei noch unbedenklich ; die Mängel des bisherigen Rechtes beruhen nicht sowohl darauf, dass der Vorstand das Umlegungsverfahren und die Aufstellung des Verteilungsplanes unrichtig betrieb, als viel- mehr darauf, dass jenes nach dem Gesetze zu spät begonnen wurde. Es erscheint uns sehr zweifelhaft , ob der Konkursver- walter, der doch in vielen Fällen mit Nichten allen Ansprüchen, die an ihn zu stellen sind, genügt, die Berechnung des Ausfalles und seiner Umlegung mit höherer Einsicht vornehmen wird als der mit den Verhältnissen gründlichst vertraute Vorstand; den Gläubigern wird eine Einwirkung auf die Feststellung der Bei- träge der Genossen in genügendem Masse gewährt , wenn man ihnen ein Recht gibt, vor der Vollstreckbarkeitserklärung durch das Gericht mit ihren Bemerkungen gehört zu werden. Wir wür- den es deshalb vorziehen, wenn der Entwurf es insoweit bei dem bestehenden Rechte beliesse und sowohl die erste Berechnung der Verteilung des Ausfalles, die sog. Vorschussberechnung, wie die noch notwendig werdende nachträgliche, die Nachschussberech- nung dem Vorstande der Genossenschaft zuwiese.

Nach dem Entwürfe ist die unmittelbare Belangung der Ge- nossenschafter seitens der Gläubiger, der direkte Einzcl- an griff nicht beseitigt, sondern trotz der Vorschuss- und Nach- schusspflicht beibehalten worden ; nach Ablauf von zwei Monaten, beginnend mit dem Tage , an welchem die für vollstreckbar er- klärte Nachschussberechnung auf der Gerichtsschreiberei nieder- gelegt ist , können die Gläubiger für den erlittenen Ausfall sich an die einzelnen Genossen halten. Mit Recht hat sich der Ent- wurf nicht der von vielen Genossenschaften erhobenen Forderung angeschlossen, die direkte Haftpflicht zu beseitigen; vom wirt- schaftlichen Gesichtspunkte wäre die Beseitigung einerseits eine Benachteiligung der Gläubiger, an- derseits würde sie auf das Interesse, das jeder Ge- nosse an der möglichst raschen Erledigung des U m -

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Gesetzgebung.

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legungsvcrfährens hat, erlahmend ein wirken. Selbst- verständlich wird der direkt in Anspruch genommene Genoss« von der Nachschusspflicht gegenüber der Genossenschaft befrei!: der Entwurf scheint uns dies nicht deutlich genug auszuspreeben und zur Vermeidung von j-Iärten, wie sie durch eine immerhin nicht unmögliche Buchstabeninterpretation entstehen könnten, wäre eine deutliche Formulierung dieser Wahrheit erwünscht.

Der Entwurf unterwirft nicht nur die zur Zeit der Konkurs- eröffnung der Genossenschaft noch angehörigen Mitglieder der direkten Haftpflicht, sondern auch die bereits ausgeschie- denen; nach §71 haften die zur Zeit der Konkurseröffnung be- reits ausgeschiedenen Genossen den Genossenschaftsgläubigern für die bis zu dem Zeitpunkte ihres Ausscheidens eingegangener Verbindlichkeiten wie die in der Genossenschaft verbliebenen Genossen, ihre Haftpflicht erlischt in dem hier in Rede stehenden Falle erst nach zwei Jahren, beginnend mit der Niederlegung der vollstreckbaren Nachschussberechnung auf der Gerichtsschreibere:. Für die ausgeschiedenen Genossen enthält diese Vorschrift zwar eine sehr fühlbare Erschwerung ihrer Genossenschaftspflichtet und es kann nicht geleugnet werden, dass die Rücksicht aut sie von der Beteiligung bei den Genossenschaften abhalten könnte, anderseits muss aber zugegeben werden, dass die Sicherheit der Genossenschaftsgläubiger und die Kreditwürdigkeit der Genossen- schaft selbst die Aufnahme dieser Verpflichtung verlangt , da ohne dieselbe der Bestand des die reale Sicherheit der Genossenschaftsgläubiger bildenden Garantie- kapitals jederzeit durch Ausscheiden von Genossen in beliebigerWeise vermindert werden könnte. Wer einer Genossenschaft beitritt , soll eben nicht in der Lage sein, sich beliebig zu jeder Zeit der Erfüllung der ihm durch den Bei- tritt erwachsenen Verbindlichkeiten entziehen zu können; das Genossenschaftswesen ist nicht auf kurze Fristen , sondern au! längere Dauer berechnet. Die Bedenken , welche gegen diese Vorschrift erhoben werden können und auch erhoben wurdet müssen zum grössten Teile angesichts der Konstruktion, welche die direkte Haftpflicht im Entwürfe gefunden hat , schwinden: denn der Entwurf hat es verstanden, den subsidiären Ka- raktcr, den Bürgschaftskarakter der direkten Haft- pflicht, deutlich hervorzuheben. Der ausgeschiedene Genosse haftet für die bei seinem Ausscheiden bereits vorhandenen Ver-

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F.nhcurf eines Erwerbs- und Wirtschaftsgenossensehaftsgesetzes. 6or

pflichtungen nur in subsidio, nur wie ein Bürge, nemlich nur in dem Falle , wenn die Schulden durch die Beiträge der in der Genossenschaft zur Zeit der Konkurseröffnung vorhandenen Mit- glieder nicht gedeckt werden können. Berücksichtigt man diesen, wirtschaftlich ungemein bedeutsamen Umstand , zur Genüge , so kann man den im Verhältnis recht zahlreichen Angriffen, welche die Aufnahme der direkten Haftpflicht der ausgeschiedenen Ge- nossen erfahren hat, nicht beistimmen. Die Beseitigung der di- rekten Haftung der Genossen würde die Basis des ganzen Ge- nossenschaftswesens in nachhaltigster Weise erschüttern, sie würde ihrem Kredit den bedeutsamsten Eintrag thun und auch den sittlichen Gedanken, welcher demselben eigentümlich ist, schwer schädigen. Das Beispiel anderer Gesetzgebungen, welche wenigstens bei den Genossenschaften mit beschränkter Haftung an Stelle der direkten die indirekte Haftpflicht einge- führt haben, kann für den Reichsgesetzgeber deshalb kein Vor- bild abgeben.

Die ausgeschiedenen Genossen mittelst der Nachschusspflicht zur Leistung von Beiträgen heranzuziehen , wie in einer dem Reichstage vorgelegten, von einer Anzahl norddeutscher Genossen- schaften ausgehenden Petition verlangt wird, ist aus rechtlichen Gründen nicht minder unthunlich wie aus wirtschaftlichen. Die Motive führen dies vollkommen zutreffend aus. Es heisst daselbst: »Das Nachschussverfahren bietet keinen Raum für die Heran- ziehung der Ausgeschiedenen, ln demselben könnte von den ausgeschiedenen Genossen nichts weiter verlangt werden, als was die Genossenschaft selbst von ihm zu fordern berechtigt ist. Die Rechte der letztem bestimmen sich aber nach den für die Aus- einandersetzung mit dem Ausgeschiedenen geltenden Grundsätzen und für diese ist die Vermögenslage der Genossenschaft zur Zeit des Ausscheidens massgebend. Die Auseinandersetzung ergibt den Anteil an dem bilanzmässigen Ueberschuss der Aktiva oder Passiva, welchen der ausscheidende Genosse zu erhalten oder zu tragen hat. Wollte man darüber hinaus der Genossenschaft oder ihrer Konkursmasse das Recht geben , den Ausgeschiedenen zur Deckung der bis zu seinem Ausscheiden entstandenen Schulden hcranzuziehen, so bliebe unberücksichtigt, dass derselbe nicht bloss an jenen Schulden, sondern auch an den damals vorhandenen Aktiven anteilsberechtigt war und durch das unter Abzug der Passiven von den Aktiven ermittelte, der Auseinandersetzung zu

Archiv für soz. üescUgbg. u. Statistik. III u. IV.

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Gesetzgebung.

Grunde gelegte Bilanzergebnis an den damals vorhandenen Schd den zu seinem Anteile bereits beigetragen hat.«

Die viel erörterte Frage, ob die G e n os se n schatte« bezüglich des Umfanges ihres Geschäftsbetriebes einem beschränkenden Verbote zu unterstellen sind, beantwortet der Entwurf durch die Bestimmung des $ ■>. wonach die Ausdehnung des Geschäftsbetriebes der Genosser- schaft auf Nichtmitglieder nur dann statthaft ist, wenn das Statut dies ausdrücklich erlaubt; insoweit der Geschäftsbetrieb in einer den Zweck des Unternehmens bildenden Gewährung von Dar lehen besteht, ist die Ausdehnung überhaupt verboten. Für alle Genossenschaften, mit Ausnahme der Kreditgenossenschaften, be- hält es also bei dem gegenwärtigen Rechtszustande sein Bevrec- den, während diesen der Geschäftsverkehr mit Dritten, soweit er Darlehensverkehr ist, verboten wird. Die Bestimmung ist um Beifall aufzunehmen ; der bisherige Rechtszustand , welcher die Ausdehnung des Geschäftsbetriebes der Kredit- und Vorschuss- Vereine auch auf Nichtmitglieder ermöglichte, hat vielfach zu einer völligen Entartung der Genossenschaften geführt, zwischen einem rein kapitalistischen Unternehmen und einemVorschussverein.de! doch nur die Wirtschaftsthätigkeit seiner Mitglieder ergänzen soll war am letzten Ende gar kein Unterschied mehr, und es entsprach dann nur den ^tatsächlichen Verhältnissen, wenn das kapitalst! sehen Prinzipien huldigende Institut auch die äussere Verbindung mit dem Genossenschaftswesen löste und seine Umwandlung in eine Aktiengesellschaft vollzog. Jeder wahre Freund der Erhal- tung des ursprünglichen Grundgedankens des Genossenschaft wesens musste dieser Entwicklung mit Bedauern gegenubersteheo und man weiss , dass Schultze-Delitzsch von ihr nichts wenig« als erbaut war; die Vorschrift des § 8 wird den kapitalistisch« Neigungen der Kreditvereine ein Ende bereiten und sie wieder daran gewöhnen, in ihren Mitgliedern ausschliesslich den Kreis ihrer Darlehensnehmer zu erblicken. Mas wird aber noch einen Schritt weiter gehen und den Kreditgenoss« schäften auch die Ausdehnung des Geschäftsbetriebes auf -Nicht mitglieder unters agen dürfen, welcher in ander w eit iger Kreditgewährung als dem Darlehensverkehr besteht Die freie Bewegung der Genossenschaften wird durch eine der artige Erweiterung des Vorschlages des Entwurfes nicht so ein- geengt. dass davon Unzuträglichkeiten zu befürchten wären; »en«

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Entwurf eines Erwerbs- unJ Wirtschaftsgenossenschaftsgesetzes. 603

die Motive zu § 8 des Entwurfes sagen, es lasse sich unter Um- ständen nicht vermeiden, dass Geschäfte, mit welchen eine Kredit- gewährung verbunden sei, auch mit Nichtmitgliedern abgeschlossen würden, so soll gegen das Zutreffende dieser Bemerkung ein Ein- wand nicht erhoben werden, allein da nach den Ausführungen der Motive selbst von dem Verbote nicht das einzelne Geschäft als solches getroffen wird, sondern nur die Aus- dehnung des Geschäftsbetriebes, diese aber nicht notwendig in dem Abschluss eines einzelnen Geschäftes zu er- blicken ist, so bildet dies keinen Grund gegen die Erweiterung des Verbotes auf jede Kreditgewährung. Ist auch die Gefahr der Entartung eines Kreditvereines in ein kapitalistisches Unternehmen nicht mehr gross, auch wenn die Kreditgewährung mit Ausnahme der Darlehensgewährung an Nichtmitglieder ihm verstauet wird, so ist sie doch immerhin noch vorhanden, und es handelt sich jetzt, wo für die Ausbildung des Genossenschaftsrechtes im Deut- schen Reiche eine neue Aera beginnt, darum, die Grenzen zwischen dem genossenschaftlichen und kapitalis- tisch-spekulativen Geschäftsbetriebe in scharfer, unverrückbarer Weise zu ziehen. Nur so wird man dem Gedanken gerecht, den die Motive des Entwurfes in Rechtfertigung des § 1 aussprechen, dass die Kreditgewährung nur in soweit einen Gegenstand des genossenschaftlichen Geschäftsbetriebes bilden könne, als sie zur Förderung der Wirtschaft oder der Er- werbsthätigkeit der Genossen diene.

Man hat mehrfach vorgeschlagen, den Genossenschaften die Eingehung von Spekulationsgeschäften in weites- tem Umfange zu untersagen; mit Recht hat sich der Ent- wurf gegen eine Bestimmung dieses Inhaltes erklärt, welche wegen ihrer Unbestimmbarkeit auf die Entfaltung der Geschäftsthätigkeit sehr nachteilig einwirken könnte. An sich wäre dagegen nichts im Wege, den Genossenschaften den Abschluss reiner Diffe- renzgeschäfte zu untersagen; indessen dürften die bis- herigen Erfahrungen wohl kaum Anlass zu einem solchen Ver- bote geben. Werden reine Differenzgeschäfte, d. h. solche, bei welchen der Gegenstand des Geschäftes nur in der Differenz des Kurses zwischen zwei Terminen besteht, die Realleistung also nach dem Willen der vertragschliessenden Teile ausgeschlossen ist, überhaupt nur in äusserst geringem Masse abgeschlossen, so kommen sie sicherlich bei den Genossenschaften noch weit sel-

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Gesetzgebung.

tener, wenn überhaupt vor, und ein Vorgehen der Gesetzgebung in dieser Beziehung erscheint deshalb nicht angemessen.

Wie das geltende Genossenschaftsgesetz geht auch der Ent- wurf davon aus, dass das Statut über die Höhe der Ge schäftsanteile der Genossen Bestimmungen enthalten müsse, der Geschäftsanteil bildet also auch in Zukunft einet wesentlichen Bestandteil des Genossensch afts- betriebes. Im Sinne des Entwurfes ist unter dem Geschäft- anteil der Betrag der Einlagen zu verstehen, wef chen die Genossen in Gemäss heit der näheres Begrenzung durch das Statut zu machen haben, während im Gegensatz hierzu der Betrag, welchen die Einlagen der Genossen zu einer bestimmten Zeii erreichen, als Geschäftsguthaben bezeichnet wird. Der Entwurf steht nun auf dem Standpunkte, dass alle Genossen- schaften Geschäftsanteile besitzen müssen , somit auch die länd- lichen Kreditgenossenschaften, insbesondere auch die Rail- eissen' sehen Darlehenskassen, welche bekanntlich von der Bildung solcher Anteile teilweise absehen. Bevor v zu der Frage Stellung nehmen , ob dieser Standpunkt des Ent- wurfes dem Bedürfnisse der ländlichen Genossenschaften in dem für notwendig zu erachtenden Masse Rechnung trägt, ist dk Vorfrage zu erledigen, ob die gemeinsame und ein- heitliche Regelung der Verhältnisse der städti- schen oder gewerblichen Genossenschaften einer-, der ländlichen andererseits in demsel- ben Gesetze überhaupt zu wünschen ist?

In den Kreisen der ländlichen Genossenschaften ist der Wunsch nach dem Erlass einer S o n d e r g e s e t zg e b uni vielfach verbreitet, und man hofft von seiner Befriedigung eine neue und weit regere Entfaltung des Genossenschaftswesens auf dem Lande. So manches auch zugunsten der Erfüllung diese? Anspruches angeführt werden kann, so ist doch nicht zu bestreiten, dass die Verhältnisse der gewerblichen und ländlichen Genossen schallen keineswegs eine so hochgradige Verschiedenheit aut w eisen , dass eine einheitliche Regelung auf unüberwindlich Schwierigkeiten stossen würde. Hier wie dort soll die Vereinigung der Genossen den Zweck verfolgen, den individuellen Wirtschaft»- betrieb zu ergänzen, hier wie dort soll sie dem Einzelnen durch vereinte Kraft die Hilfe und Unterstützung gewähren, deren et

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Entwurf eines Erwerbs- und ll'irtsc/hiflsgenossensc/uiflsgesetzes. 605

im Kampfe des modernen Lebens bedarf, nur das Gebiet, welchem sie ihre Thätigkeit zuwendet, ist in beiden Fällen ver- schieden, es kann es wenigstens sein, wenn auch dies nicht notwendig der Fall ist, die Grundlagen aber sind beider- seits die gleichen; der Entwurf hat es deshalb mit Recht abgelehnt, ein Sondergesetz für ländliche Genossenschaften zu erlassen. Hingegen erscheint es angemessen, vielleicht sogar notwendig, bezüglich gewisser Punkte für dieselben besondere Vorschriften aufzustellen.

Was nun die Normierung der Geschäftsanteile seitens des Entwurfes anlangt, so empfiehlt es sich, den länd- lichen Darlehenskassen zu gestatten, von der Bildung derselben abzusehen. Die Gründe, die hier- für sprechen, sind von den Vertretern der Raifeissen'schen Ver- eine wiederholt hervorgehoben worden. Es ist für den kleinen Landwirt stets nachteilig, wenn er Kapital zu anderen Zwecken verwendet, als zur Landwirtschaft, bezw. zur Hebung seines Be triebes, dem Grund und Boden werden dadurch Summen ent- zogen, auf die derselbe nur zu seinem Schaden verzichten kann, und der daraus erwachsende Nachteil ist kein individueller, son- dern ein sozialer. Besteht man auf der Einzahlung von Beträgen behufs Bildung von Geschäftsanteilen, so erschwert man ausser- dem die Begründung der Genossenschaften; denn unter den heu- tigen Verhältnissen kann nur die Minderheit der kleinen Land- wirte Kapitalien aus der Bewirtschaftung des Grund und Bodens erzielen. Weiter kommt aber in Betracht, dass die Darlehens- kassen nach Raifeissen’schem Musterden Charaker der Gemein- nützigkeit in ganz hervorragendem Masse besitzen, letzterer aber durch das mit der Existenz von Geschäftsanteilen notwendig verbundene Bestreben, Dividenden zu erwer- ben und solche unter die Mitglieder zu verteilen, sehr beein- trächtigt wird. Gegenüber diesen Erwägungen erscheinen uns die von den Motiven des Gesetzentwurfes angeführten Gegen- gründe nicht beweiskräftig. Wenn man eine Gefährdung der Gläubigerinteressen von dem Mangel der Geschäftsanteile be- fürchtet, so ist darauf hinzuweisen, dass ja durch die Ansamm- lung des Geschäftsgewinnes, wenn auch erst innerhalb einer ge- wissen Frist, ein Genossenschaftsvermögen gebildet und ausser- dem durch die direkte Haftung der Genossen den Gläubigern eine volle Sicherheit geboten wird; die Motive erwähnen selbst, dass

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Gesetzgebung.

bei den Darlehenskassen die Neigung zur Konstituierung auf der Grundlage der unbeschränkten Haftung der Mitglieder vorherrsche; ist dies richtig, so ist aber das Interesse der Gläubiger, bei dem geringen Umfange, welchen der Geschäftsumsatz der Vereine vielfach besitzt, auch ohne das Vorhandensein von Geschäfts« teilen uni so eher gewahrt. Ob die Darlehenskassen auch in Zukunft bei der unbeschränkten Mitgliederhaft stehen bleiben werden, muss einstweilen dahin gestellt bleiben ; aber wenn auch diese Erwartung der Motive zutreffen sollte, so wäre trotzdem an der Befürwortung der bezeichneten Vorschrift festzuhalten, die Entziehung des dem Landwirte zu Bodenmeliorationen und verwandten Unternehmungen notwendigen Kapitals ist wirtschaft- lich ein weit grösseres Uebel , als wenn in diesem oder jenem Falle wegen des mangelnden Vermögens alsbald zu der direkten Belangung der Mitglieder geschritten werden muss. Nicht zuta spricht aber gegen die obligatorisch angeordnete Bildung 'on Geschäftsanteilen , dass die Darlehenskassen in der Folge ge nötigt sein werden, vielfach besondere und bezalte Personen zu Geschäftsführung anzustellen , während man bisher den grossen Vorteil besass, dass diese Aemtcr unentgeltlich durch von gemein- nütziger Gesinnung beseelte Personen ehrenamtlich verwaltet wurden Mit Rücksicht auf diese Momente sollte dem Statut der ländlichen Genossenschaften in dieser Hinsicht freie Hand gelassen werden.

Mit Genugthuung darf man es im Gegensätze zu der vor- stehenden Bestimmung begrüssen , dass der Entwurf den länd- lichen Genossenschaften die Möglichkeit gewährt einer andern Genossenschaft als Mitglieder beizu- treten, wie auch sich selbst zu einer eigenen Ge- nossenschaft zus ammenzuthun. Durch die Bestimmung des § 9 Absatz 2, dass, wenn die Genossenschaft ausschliesslich aus eingetragenen Genossenschaften besteht, Vorstand und Auf- sichtsrat aus den Vorstandsmitgliedern der Genossenschaften ge- bildet werden müssen , wird es den ländlichen Konsumvereinen grösserer Bezirke ermöglicht, eine Genossenschaft in’s Leben zu rufen , welche die für ihre Mitglieder erforderlichen Gegenstände natürlich mit weit grösserem Vorteile zu beziehen vermag, als jede einzelne , mitunter recht kleine Genossenschaft. Vom wirt- schaftlichen Gesichtspunkte ist deshalb dieser Vorschlag ein eminenter Fortschritt und wir zweifeln nicht, das. wenn derselbe zum Gesetze erhoben wird , sein Einfluss auf &

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Entwurf eines Erwerbs- und II irtschaßsgcnossenschaftsgeseties. 607

ländlichen Verhältnisse mit der Zeit ein sehr segensreicher sein wird. Dass die schon bisher zulässige Beteiligung einer Genos- senschaft an einer andern auch in Zukunft statthaft sein soll, eine Einrichtung, gegen welche Schulze-Delitzsch bekanntlich sich in der entschiedensten Weise erklärt, hat, war für die ländlichen Konsumvereine, für welche die Erlaubnis ja fast allein praktische Bedeutung besitzt , geradezu eine Lebensfrage ; hätte der Ent- wurf sich den Bedenken Schulze ’s angeschlossen, so wäre diesen Vereinen die Möglichkeit genommen worden, seitens der länd- lichen Darlehenskassen die zu ihrem Geschäftsbetrieb notwen- digen Vorschüsse zu erhalten. Von welchen Folgen dies für das in manchen Teilen des Reiches so blühende ländliche Konsum- vereinswesen gewesen wäre, bedarf keiner eingehenden Schil- derung.

Die durch § 7 Ziffer 4 des Entwurfes obligatorisch an- geordnete Bildung eines Reservefonds, aus welchem der aus der Bilanz sich ergebende Verlust zu decken ist, enthält für eine grosse Anzahl von Genossenschaften keine Neuerung ; fraglich kann sein , ob an der obligatorischen Anordnung auch gegenüber den ländlichen Genossenschaften festgehalten werden muss , deren Mitgliederzahl oft eine sehr geringfügige und deren Geschäftsumsatz vielfach ein sehr unbedeutender ist ? Wenn schon nicht zu verkennen ist, dass gegen die obligatorische Anordnung auch bei diesen Genossenschaften das Bedenken spricht, dass infolge derselben der Landwirtschaft unentbehrliches Kapital werde entzogen werden, so müssen doch die Vorteile, welche das Vor- handensein eines solchen Fonds mit sich bringt, als entscheidend angesehen werden. Da der Entwurf ausserdem davon Abstand genommen hat, die Höhe des Mindestbetrages dieses Fonds ein für allemal festzustellen , vielmehr diese Begrenzung dem Erlass des Statuts anheimgibt, so darf mit Sicherheit erwartet werden, dass die vorgeschriebene Bildung keinen Anlass zu unverhältnis- mässiger Aufspeicherung von Kapitalien geben werde.

So wichtig die obligatorische Einführung eines aus mindestens drei Personen bestehenden Aufsichtsrates so- wohl im Interesse der Genossenschuft selbst wie in dem der Ge- nossenschaftsgläubiger ist , so lassen sich doch die Bedenken nicht unterdrücken, ob auch für die kleinen ländlichen Genossen- schaften dieser umständliche Verwaltungsapparat unentbehrlich ist. Man nehme eine aus zehn Personen bestehende Molkereigenos-

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Gesetzgebung.

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senschaft an ; die zur Verwaltung der Geschäftsführung erforder- lichen Personen werden alsdann dieselbe Zahl erreichen, wie die tibrighleibenden Genossen. Es wird diesen kleinen Vereinigungen auch nicht sehr leicht fallen, den Aufsichtsrat zu bilden , und e> wäre deshalb wohl zu erwägen, ob das Gesetz, nicht von der ob- ligatorischen Anordnung dieses Organes bei den Genossenschaften absehen sollte, deren Mitgliederzahl weniger als fünfzehn betritt Nach § 36 Absatz 2 des Entwurfes bedarf die Kreditge- währung an Mitglieder des Vorstandes, insoweit nicht in dem Statut ein anderes bestimmt ist, der einstimmigen Genehmigung des Aufsichtsrates Diese Vorschrift geht unserer Ansicht nach nicht weit genug, eine Aendcrung der gesetzlichen Norm durch das Statut ist nicht zuzulassen , weil hierdurch die Gefahr nahegelegt wird , dass die Mitglieder des Vorstandes ihre Stellung zur Beschaffung von Vor- teilen missbrauchen. Wenn die Motive die Befürchtung au.~ sprcchen, durch die Nichtzulassung statutarischer Abweichungen könnte bei den ländlichen Genossenschaften die Auswahl geeig- neter Personen für den Vorstand allzusehr beschränkt werden, so bietet diese Bemerkung allenfalls einen Anlass , die Verhalt nisse der ländlichen und gewerblichen Genossenschaften bezüg- lich dieses Punktes nicht gleichheitlich zu ordnen. Es ist sehr bedenklich , wenn bei grossen Kreditgenossenschaften die Mit glieder des Vorstandes in der Lage sind, sich des Kredites der Genossenschaft zu Privatzwecken ohne Zustimmung des Aufsicht? rales bedienen zu können. Wenn man erwägt, dass thatsächlich das Statut vielfach von denselben Personen entworfen wird welche den Vorstand bilden, so kann die Thatsache, dass sämt- liche Mitglieder im Statut ihr Einverständnis mit der Abweichung bekundet haben, als ausreichende Kautel mit Nichten angesehen werden. Gerade der Umstand, dass manche Personen nur um deswillen nach dem Amte des Vorstandes streben, um die ihn« alsdann zustehenden Befugnisse zu eignen Zwecken zu verwenden, muss den Gesetzgeber veranlassen, eine Ausserkraftsetzung seiner Bestimmung nicht zu dulden, und die Acusserung der Motive, es sei schon ein Gewinn, dass die Genossenschaften, wenn sie es bc der gesetzlichen Bestimmung nicht bewenden lassen wollten, ge nötigt seien, die Frage bei Feststellung ihrer Statuten ausdnic- lieh zu regeln , halten wir für irrig. Die praktische Bedeutung dieses Gewinnes wäre wahrlich keine sehr erhebliche und ge-

Entwurf eines Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaftsgcsetzcs. 609

nügte gewiss nicht , um über die Bedenken hinwegzuhelfen, welche der Vorschlag des Entwurfes erwecken muss.

Bekanntlich hat es nicht an Stimmen im Laufe der letzten Jahre gefehlt , welche alle Mängel des Genossenschaftswesens in Deutschland auf die demselben gewährte freie und autonome Stellung zurückführen zu müssen glaubten. Man bemängelte es, dass dem Staat und seinen Organen auf die Geschäftsführung der Genossenschaften so gut wie keine Aufsicht eingeräumt werde und bezeichnete demgemäss als das alleinige Heilmittel die U n- terstellung derselben unter die Aufsicht des Staates oder der Gemeinden, man wollte mit andern Worten das System der Bevormundung an Stelle der freien Bewegung einführen. Der Entwurf ist diesen Stimmen nicht gefolgt , er hat lediglich dafür Sorge getragen, dass eine periodische Revision bei allen Genossen- schaften statlfinde und auch hierbei hat er der Bewegungsfreiheit derselben den weitesten Spielraum gelassen und nur subsi- diär ein Einschreiten d e r S t a a t s g c w a 1 1 vorgesehen, fails nämlich für die Revision durch die Genossenschaften nicht oder nicht in genügender Weise Sorge getragen ist. Die Art und Weise , wie dieselbe geregelt ist , gibt zu Beanstandungen kaum Anlass; es möchte nur zu erwägen sein, ob die für alle Genossenschaften gleichmässig vorgeschriebene Revisions- frist von zwei Jahren nicht für die grossen Kreditgenos- senschaften etwas zu lang bemessen ist? Bei Volksbanken, welche einen bedeutenden Geschäftsumsatz aufweisen, häuft sich während zweier Jahre eine solche Fülle von Material an , dass die sorg- fältige , materielle Revision auf beachtenswerte Schwierigkeiten und Hindernisse stösst und gerade bei diesen grossen Anstalten ist auch Gefahr vorhanden , dass Unregelmässigkeiten häufiger Vorkommen , die bei Eintritt der Revision kaum mehr in ihren Folgen beseitigt werden können ; die Kosten der Revision können auch bei Genossenschaften von solchem Umfange nicht in s Ge- wicht fallen, jedenfalls aber nicht gegenüber den grossen Vor- teilen, welche die Einführung einer Revision binnen kürzerer Frist bietet. Allerdings ist es schwierig, eine feste Grenzlinie zwischen kleinen und grossen Kreditgenossenschaften zu ziehen und dar- nach die Revisionsperiode verschieden zu normieren, allein un- möglich ist dies nicht, und cs verlohnte sich immerhin für den

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Gesetzgebung.

Gesetzgeber, den Versuch des Erlasses einer Norm im Sinne dieser Ausführungen zu machen.

Nach § 70 kann die Uebertragung des einem Ge- nossen zustehenden Guthabens an eine ausser- halb der Genossenschaft stehende Person nur unter der Bedingung geschehen, dass letztere gleichzeitig Mitglied derGenossenschaft wird Diese Vorschrift gibt dem Vorstand ein indirektes Mittel in die Hand, die Guthabeniibertragung zu verhüten ; weist derselbe die Beitrittserklärung des Dritten ungerechterweise zuruck, so wird die Uebertragung hinfällig. Der Entwurf schützt den Genossen in dieser Beziehung nicht ausreichend gegenüber einer missbräuch- lichen Handhabung der dem Vorstande verliehenen Befugnisse Die Verantwortlichkeit , welche dem Vorstande gegenüber der Generalversammlung wegen Anwendung oder Nichtanwendung der statutarischen Vorschriften Uber die Mitgliederaufnahme ob- liegt, genügt hierfür mit nichten; das Interesse des einzelnen Ge- nossen an der Begebung seines Guthabens kann bis zu der Ent- scheidung durch die Generalversammlung schon in nicht wieder gut zu machender Weise geschädigt und verletzt sein. Es empfiehlt sich daher, Fürsorge zu treffen, dass der Genosse eine Entsche düng des Richters gegen den die Aufnahme einer den statutarisch« Erfordernissen entsprechenden Person verweigernden Beschluss des Vorstandes herbeiführen kann ; ob man hierfür die Fern der Klage gegen den Vorstand oder die der Beschwerde wähl« will, halten wir für ziemlich nebensächlich, die Hauptsache ist die. dass der Genosse gegen willkürliche Verhinderung an der Aus- übung seines Uebertragungsrechtes geschützt wird.

Nach § 107 ist bei Genossenschaften mit unbe- schränkter Haftpflicht derErwerb mehrerer Ge- schäftsanteile seitens eines Genossen untersagt; in den Kreisen der Vorschussvereine, in welchen die entgegen- gesetzte Uebung in einem gewissen Umfange besteht, hat diese Vorschlag nicht durchweg Beifall gefunden , man hat darin eine Beschränkung der Bewegungsfreiheit der Genossen erblickt, welche auch für die geschäftliche Entfaltung der Genossenschaft selbst nicht ohne Nachteil sei. Hält man an dem Gedanken fest, dass es Aufgabe der Gesetzgebung ist , die Entartung der Genossen- schaften zu kapitalistischen Unternehmungen zu verhüten, so wird man die erwähnte Vorschrift nur mit ungeteilter Freude begrüsser.;

Entwurf eines Erwerbs - und 1 1 irlschnftsgenossenschnftsgesetzes. 6 II

der Erwerb mehrerer Geschäftsanteile hat einen ausgesprochen kapitalistischen Zweck, er trägt in die Genossenschaften ein ka- pitalistisch spekulatives Moment hinein, welches ihr fern zu blei- ben hat und alteriert somit ihren Charakter von Grund auf, aus einer gemeinnützigen Anstalt wird die Genossenschaft, wenn dieser Erwerb gestattet wird, zu einem kapitalistischen Spekulationsun- ternehmen, das durchaus keinen Anspruch mehr darauf besitzt, bezüglich der Erlangung körperschaftlicher Rechte in der Weise bevorrechtigt zu werden, wie dies bei den Genossenschaften der Fall ist. Ausserdem kommt das sozialpolitisch ganz besonders zu beachtende Moment in Betracht, dass es den Prinzipien eines gesunden Genossenschaftswesens keineswegs entspricht , wenn unter den Genossen übergrosse Ungleichheiten bestehen ; nur dann werden die Genossenschaften das Gefühl der Zusammenge- hörigkeit unter ihren Mitgliedern stärken, wenn bis zu einem ge- wissen Grade Gleichheit der Anteile vorhanden ist. Aus diesen Gründen kann der Erwerb mehrerer Geschäftsanteile bei den un- beschränkt haftenden Genossenschaften jedenfalls nicht gestattet werden ; ob bei den Genossenschaften mit beschränkter I laftung eine Ausnahme hiervon zu machen ist, wird alsbald geprüft wer- den, wenn wir den für diese Genossenschaften in Vorschlag ge- brachten besonderen Bestimmungen näher treten.

Die Gründe , welche für die Aufrechthaltung der direkten Haftung der Genossen neben der indirekten spre- chen, sind schon oben hervorgehoben worden ; bezüglich der Art und Weise, wie die direkte Haftbarmachung seitens der Genossen- schaftsgläubiger zu verwirklichen ist , muss nun gegen eine Be- stimmung des § iio des Entwurfes Einspruch erhoben werden. Der genannte Artikel gestattet dem Gläubiger, dessen Forderung im Konkursverfahren nicht festgestellt wurde , trotzdem gegen den Genossen Klage zu erheben und schliesst lediglich eine Verurteilung dieses vor der Feststellung aus. Hier- durch wird der Missstand hervorgerufen, dass zwei Prozesse gleichzeitig neben einander herlaufen, der gegen den Konkursverwalter, bezw. den Vorstand und der andere gegen den einzelnen Genossen. Wenn auch die Gefahr nicht vorhanden ist, dass widersprechende Urteile ergehen , so kann doch immerhin eine widersprechende Behandlung der Sache erfolgen und jeden- falls ist es eine ungerechtfertigte Belästigung des Genossen, wenn man ihn zwingt, sich wegen eines streitig gebliebenen Anspruchs

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Ci CicUgcbuHg.

den Unannehmlichkeiten eines Rechtsstreites auszusetzen. Ei ist daran festzuhalten, dass die direkte Haftpflicht des Genossen nur bezüglich solcher Ansprüche dti Genossenschaftsgläubiger existiert, w e 1 c h e ausser- halb des Streites sind. Die Ausdehnung derselben au! streitige Forderungen würde die Bedenken, die gegen sie über haupt vorhanden sind, sehr erheblich vermehren. Dass es eine ganz zwecklose Kosten-, Arbeit- und Zeitvergeudung ist, wegen desselben Anspruches zwei Rechtsstreite führen zu lassen, bedan kaum der Hervorhebuung. Wir meinen deshalb, dass § no eine Abänderung in der Richtung erhalten muss, welche nicht nur die Verurteilung, sondern auch die Klageerhebung wegen einer streitig gebliebenen Forderung verhindert.

Was nun die rechtlichen Verhältnisse der Genossen- schaften mit beschränkter Haftung anlangt , so ist zunächst der Vorschrift des § nt zu gedenken, wonach die nähere Bestimmung der Haftsumme dem Statut über- lassen wird, dieselbe aber unter allen Umständec nicht niedriger sein darf als ein Geschäftsanteil Der Entwurf behandelt Geschäftsanteil und Haftsumme völlig ge- trennt von einander und hat es abgelehnt, die auf den Geschäft.- anteil noch nicht eingezahlten Beträge mit zu letzterem zu ziehe» Dieses scharfe Auseinanderhalten von Geschäftsanteil und Hab summe mag juristisch wohl begründet sein, wirtschaftlich schein! eine Ausdehnung der Haftsumme auf die noch nicht eingezahltec Beträge des Geschäftsanteils erwünscht. Die Sicherheit , welche Hie Genossenschaft den Gläubigern bietet, wird hierdurch wesent- lich verstärkt und demgemäss ihr Kredit ganz bedeutend gehoben jeder Dritte wird unter dieser Voraussetzung den ihr gewährten Kredit erhöhen : die Motive des Entwurfes glauben dies nicht zugeben zu sollen, sic fuhren aus, die Möglichkeit, bei dem Ein- tritte des Konkurses mit dem Reste des Geschäftsanteils obiiga torisch herangezogen zu werden, werde ohne Zweifel schon wah rend des Bestehens der Genossenschaft von Anfang an dahin führen, dass der Geschäftsanteil entsprechend niedriger gehalten werde , hierdurch aber nicht bloss die auf den gleichen Betra; festgesetzte Haftsumme verringert, sondern auch der Kapital!" düng der Genossenschaft eine hemmende Schranke gezogen werden Wir halten diese Befürchtung für unzutreffend; die Genossrt- schaften werden sich nicht veranlasst sehen , mit Rücksicht aul

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Entwurf eines Erwerbs- und W'irtschaftsgenossenschaftsgesctzes. 613

die unter Umständen erfolgende Hinzurechnung der noch nicht einbezahlten Beträge des Geschäftsanteiles letzteren niedriger zu bestimmen als sie an sich fiir gut finden. Bei Festsetzung der Geschäftsanteile fasst man schwerlich schon die Möglichkeit eines Konkurses der Genossenschaft ins Auge , die Geschäftsführung wird nicht im Hinblick auf den zu befürchtenden Konkurs einge- richtet, sondern im Vertrauen auf die gedeihliche Entwickelung des Ganzen und wir halten die Bemerkung der Motive dieserhalb psychologisch für irrig. Der Vorteil, welchen die vorgeschlagene Aenderung des Entwurfes für den Kredit der Genossenschaft bietet, ist so bedeutend, dass zum Mindesten die Wahrschein- lichkeit in hohem Masse dafür spricht , er werde den allenfalls damit verbundenen Nachteilen ein vollwertiges Aequivalent bieten.

In Abweichung von der für Genossenschaften mit unbe- schränkter Haftpflicht geltenden Vorschrift gestattet § 114 den beschränkt haftenden Genossenschaften den Erwerb mehrerer Geschäftsanteile sofern das Statut eine Bestimmung dieses Inhaltes enthält. Die Gefahr der Entartung der Genossenschaft in ein kapitalisti sches Institut und des Verlustes des genossenschaftlichen Grund- prinzipes ist bei den beschränkt haftenden Genossenschaften in weit geringerem Masse vorhanden als bei den anderen: Ungleich- heiten zwischen den Genossenschaften bez. der Vermögensbe- teiligung können auch, unter der Voraussetzung der Begrenzung der Haftung, nicht so leicht in solcher Höhe sich bilden , dass die sittliche Grundlage des Genossenschaftswesens dadurch alteriert würde; wenn die Möglichkeit auch immerhin nicht ganz ausge- schlossen ist, so lassen sich doch seitens der Gesetzgebung ohne allzugrosse Schwierigkeiten Bestimmungen treffen, welche die Entstehung von Uebelständen verhüten können. Für die Zulas- sung des Erwerbs mehrerer Geschäftsanteile sprechen aber schwer- wiegende wirtschaftliche Rücksichten, die wir nicht besser wieder- gehen können, als durch die Anführung der betreffenden Bemer- kungen der Motive: »Es ist wünschenswert, dass der Umläng, in welchem die einzelnen Mitglieder für die Genossenschaftsschul- den haften , in einem richtigen Verhältnis zu der Leistungsfähig- keit derselben steht und deshalb muss auf die hierin obwaltende Verschiedenheit nicht bloss bezüglich der Einzahlungen auf den Geschäftsanteil, sondern auch für die Begrenzung der 1 Iaftpflicht die erforderliche Rücksicht genommen werden. Würde bei Be-

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Gesrtzgd'ung.

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schränkung der Beteiligung auf einen Geschäftsanteil dieser, wie oben bemerkt, so hoch normiert, dass auch den leistungsfähigeres Mitgliedern noch hinreichender Raum zu freiwilligen Einlagen bliebe , so erschiene fiir die weniger bemittelten Genossen die Haftsumme von vornherein zu hoch gegriffen und der reelle Wert des garantierten Gesamtbetrages würde hierdurch erheblich be- einträchtigt. Anderseits müsste es, wenn letzterem Gesichtspunkte Rechnung getragen und der Geschäftsanteil den Verhältnisset unbemittelterer Genossen entsprechend niedrig bestimmt wird, als ein Nachteil für die Genossenschaft und ihren Kredit erscheinen, dass die Bildung des eigenen Vermögens und die Gesamtgarantie unter dem durch die Leistungsfähigkeit der vermögenden Mit- glieder gegebenen Masse bliebe. Gerade die Zulassung von Ge- nossenschaften mit beschränkter Haftpflicht hat nicht zum wenic- sten den Zweck, die Beteiligung auch für bemitteltere Personen zu erleichtern. Um deshalb eine massige, nach der Leistungsfähigkeit der einzelnen Mitglieder sich abstufende Verschiedenheit der Be- teiligung mit Kapitaleinlagen und Garantieübernahme zu ermög- lichen, sieht der Entwurf bei den Genossenschaften mit beschrankter Haftpflicht von dem Verbot der mehrfachen Beteiligung ab und überlässt dem Statut die Zulassung des Erwerbes mehrerer Ge- schäftsanteile , von welchen alsdann jeder einzelne die Haftung um eine weitere Haftsumme erhöht.« So massgebend nun aucl diese Gründe sind, so wenig lässt sich verkennen , dass der Ge- setzgeber die Aufgabe hat, durch besondere Vorschriften der übermässigen Anhäufung von Geschäftsanteilen in einer Hane eine Grenze zu setzen; der Entwurf schreibt deshalb vor, dass das Statut die höchste Zahl der von den Genossen zu erwerben- den Geschäftsanteile zu bestimmen habe und diese Bestimmung in die Veröffentlichung des Statuts aufzunehmen ist ; ferner ist zur Vermeidung von unlautern Manövern die Beteiligung ar. einem weiteren Geschäftsanteile nicht gestattet, bevor nicht der vorhergehende erreicht ist, und endlich muss die mehrfache Be- teiligung in die bei dem Registerrichter geführte Liste der Ge nossen auf Grund einer schriftlichen Erklärung des Vorstandes eingetragen werden , dass die vorhergehenden Anteile voll er- reicht seien. Diese kautelarischen Bestimmungen sind ebenst' angemessen wie notwendig und es wäre durchaus unbegründet, wollte man sie um deswillen anfechten , weil hierdurch der Er- werb eines weiteren Geschäftsanteils verzögert und verlangsamt

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Entwurf eines Erwerbs- und Wirtsehaflsgenossenschaftsgcsetzes. 615

wird. Diese Erschwerung ist richtiger Beurteilung nach nicht nur kein Nachteil, sondern vielmehr ein Vorteil von nicht zu unterschätzendem Werte.

Wie schon erwähnt , hat der Entwurf die direkte Haft- pflicht auchbei den beschränkt haftenden Genossen- schaften festgehalten, hingegen auch bei diesen von der Heranziehung der ausgeschiedenen Genossen im N ach s c h u s s ver fa hr e n abgesehen. Trotzdem die Er- streckung der Nachschusspflicht auf die ausgeschiedenen Mitglie- der einer beschränkten Genossenschaft sehr warm empfohlen wird, müssen doch die allgemeinen , gegen die Berücksichtigung dieses Vorschlages sprechenden Gründe auch hier als durch- schlagend anerkannt werden. Hingegen möchte es sich wohl empfehlen , für die Genossenschaften mit begrenzter I laftung die Periode, während welcher eine Rescission des Ausscheidens der Genossen bethätigt werden kann, etwas zu erweitern. Nach § 69 des Entwurfes gilt das Ausscheiden eines Genossen als nicht erfolgt, wenn inner- halb 6 Monaten seit diesem Zeitpunkte die Genossenschaft auf- gelöst wird. Die Beschränkung der Haftsumme auf einen be- stimmten Betrag lässt es gerechtfertigt erscheinen, wenn man diesen Zeitraum für die begrenzt haftenden Genossenschaften auf ein Jahr erweitert. Diese Verschärfung bildet ein notwendiges Korrektiv gegen die verminderte Sicherheit, welche diese Genos- senschaften dem Gläubiger bieten und wenn auch hierdurch der Einzelne schwerer belastet und längere Zeit in einem Zustande der Ungewissheit gehalten wird als der unbeschränkt haftende Genosse, so bietet ihm dafür auch die geminderte Haftung einen für ausreichend zu erachtenden Ersatz. Schon behufs Vermeid- ung von Missständen, welche sich bei einer Gesellschaft, die nur bis zu einem bestimmten Betrage haftet, so leicht bilden können man denke an die Erfahrungen, die mit den Aktiengesellschaften verschiedentlich gemacht worden sind dürfte es nicht unange- messen sein, die Rescission des Ausscheidens hier in beträcht- licherem Umfange zuzulassen, als bei den Genossenschaften an- deren Charakters.

Wir haben im Verlaufe unserer bisherigen Darstellung vor- zugsweise die materiell-rechtlichen Bestimmungen des Entwurfes ins Auge gefasst, welche ja auch für den wirtschaft- lichen Gesichtspunkt vor Allem Bedeutung haben, möchten aber

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Gesetzgebung.

unsere Betrachtung nicht schliessen , ohne mit einigen Worten der formell-rechtlichen Verbesserungen Erwähnung zu thun , welche der Entwurf in das geltende Recht einfuhrt ; die- selben sind ebenso bedeutend wie das bisherige Recht bezüglich dieser Verhältnisse mangelhaft war und werden sicherlich den ins Auge gefassten Zweck erreichen, dass der ausserhalb der Ge- nossenschaft Stehende auch eine Sicherheit dafür besitzt, dass die in der Mitgliederliste aufgefuhrten Personen auch thatsächlich als Genossen haften und andererseits die Liste alle haftpflich- tigen Personen enthält.

Nach dem Entwürfe werden zwei Listen über die Genossen- schaftsmitglieder geführt , eine von dem Vorstande , die andere von dem Richter; jede Veränderung in dem Personalbestände der Genossenschaft ist von dem Vorstande dem Richter behufs Eintragung in die bei ihm geführte Liste mitzuteilen und die Mit- gliedschaft beginnt und endet erst mit dem Zeitpunkt des Ein- trages. Hierdurch ist jeder Dritte in der Lage, sich in vollkommen zuverlässiger Weise über die Mitgliedschaft zu unterrichten, und der Entwurf hat durch die straf- und zivilrechtliche Haltbarmach- ung des Vorstandes dafür Sorge getragen, dass diesen seinen Bestimmungen voll und ganz nachgelebt werde.

Aus dem Inhalte der vorstehenden Bemerkungen und den im Ganzen nur geringfügigen Ausstellungen, die wir gegen den Entwurf erheben zu müssen glaubten , wird man das endgültige Urteil schon entnehmen können, das wir über diese neueste Fort- bildung des Genossenschaftsrechts zu fallen für angemessen er- achten. Wir sind der Ansicht, dass der Entwurf des Genossen- schaftsgesetzes ein durchaus gelungenes, den wirtschaftlichen Be- dürfnissen und Anforderungen in vollstem Masse Rechnung tra- gendes Werk ist, wohl geeignet, der Entwickelung des deutschen Genossenschaftswesens neues Leben einzuflössen, und befähigt, die bisher hervorgetretenen Mängel und Uebelstände desselben zu besel tigen. ln glücklicher Weise hat er es verstanden, den durch die Wissenschaft und das praktische Leben je länger je entschiedener erhobenen Postulaten Rechnung zu tragen, er hat kein Bedenken getragen, mit den Traditionen der Genossenschaftsgesetzgebung, welche unserer Zeit nicht 'mehr entsprechen, zu brechen und sich durchweg bemüht , das Interesse der Genossenschaften in dem- selben Masse zu berücksichtigen wie das der Gläubiger ; ohne Ueberstiirzung hat er die unaufschiebbaren Reformen vorgenom-

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Entwurf eines Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaftsgesekes. 617

men, weder in dieser noch in jener Richtung übertriebenen An- sprüchen, an welchen es ja weder gefehlt hat noch fehlt, Gefolg- schaft geleistet und durch seine sämtlichen Vorschläge deutlich bekundet, dass er von der Richtigkeit jenes Ausspruches Montes- quieu’s überzeugt ist, der bei wirtschaftlichen Gesetzen den Ge- setzgebern nicht oft genug vorgeführt werden kann: l’esprit de moderation doit etre celui du legislateur. Die Mängel, die er auf- weist, sind im Verhältnis zu dem Guten, das er bringt, minder wichtig, und lassen sich mit Leichtigkeit und ohne Veränderung seines Grundcharakters beseitigen. Dass der Entwurf in juristisch- technischer Hinsicht vielleicht nicht das gleiche Lob verdient wie unter dem Gesichtspunkte der wirtschaftlichen Betrachtung mag zugegeben werden ; allein in dieser Beziehung lässt sich Ab- hilfe unschwer schaffen. Die Hauptsache bei der im Gange be- findlichen Reform ist darin zu suchen, dass das neue Recht dem Wirtschaftsleben entspricht und seine Entwickelung fördert; dass die Eormaljurispsudenz keine Ursache zur vollen Zufriedenheit hat, ist dem gegenüber gleichgiltig. Wir hoffen, dass die parla- mentarische Beratung den Grundcharakter des Entwurfes nicht verändert , sondern ihn nur in Einzelheiten verbessert und die Konsequenzen ausspricht, die zu ziehen man mehrfach unterlassen hat; die deutschen Genossenschaften werden alsdann Ursache haben, mit dem für sie geltenden Recht zufrieden zu sein und Deutschland wird ein Genossenschaftsrecht besitzen, das auf den ersten Platz Anspruch erheben darf.

Archiv für sor, GcfteUgbg. u. Statistik. 111. u. I V.

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VEREINIGTE STAATEN VON AMERIKA.

Gesetz betr. die Errichtung eines Arbeits-Departements.

Art. I. Von dem im Kongress versammelten Senat- und Repräsentanten-Hics da Vereinigten Staaten von Amerika wird hiermit zum Gesetz erhoben, dass am Si» öff Regierung ein Arbeits-Departement errichtet werde , dessen wesentlicher Zweck «a! dessen Pflichten darin bestehen sollen, unter der Bevölkerung der Vereinigten Stuta nützliche Erkundigungen über Verhältnisse einzuholen und zu verbreiten, die mi ie Arbeit, in dem allgemeinsten und umfassendsten Sinn dieses Wortes , in Zouec«- hang stehen, insbesondere aber in deren Beziehung zu Kapital, Arbeitszeit, Yen!*« der männlichen und weiblichen Arbeiter und den Mitteln zur Förderung der msr riellen, sozialen, geistigen und sittlichen Wohlfahrt der letzteren.

Art. 2. Das Arbeits-Departement soll der Verwaltung eines Arbeits-Koma^' unterstellt werden, welcher von dem Präsidenten mit Zurateziehung und ZasfcM»; des Senats ernannt wird; derselbe soll sein Amt, wenn er desselben nicht Kk* früher enthoben wird, vier Jahre hindurch verwalten und soll einen Gehalt voc f~ tausend Dollars per Jahr beziehen.

Art. 3. In dem Arbeits-Departement sollen durch den Arbeits-Komnussi: stellt werden . Ein Oberbeamter , mit einem Gehalt von zwei tausend fünf b andtf Dollars per Jahr; vier Beamte der Klasse vier, die alle statistische Erpertet ** sollen; fünf Beamte der Klasse drei, wovon einer Stenograph sein soll; sechs Eg^ der Klasse zwei, wovon einer Uebersetzer und einer Stenograph sein soll; acht Beis* der Klasse eins; ferner fünf Angestellte mit je tausend Dollars jährlichem ein Kassa führender Beamter, dem zugleich das Rechnungswesen Übertrag«: wri mit einem Gehalt von tausend acht hundert Dollars per Jahr, zwei Kopisten stf ' sieben hundert und zwanzig Dollars jährlichem Gehalt; ein Bote; ein Hilfsbote; 0 Wächter, zwei Hilfswächter; zwei geübte Arbeiter, zu je sechs hundert Dolbn Jahr; zwei Frauen für Hausarbeit mit je zwei hundert und vierzig Dollars per sechs Spezial-Agenten, mit je tausend sechs hundert Dollars jährlichem Gebal' ; Spezial-Agenten mit je tausend vier hundert Dollars per Jahr; vier Spezal-Aget- mit je tausend zweihundert Dollars per Jahr, und einer Vergütung an Spetial-Af®® für Reisespesen, die jedoch drei Dollars pro Tag nicht übersteigen darf, auf wo dieselben thatsächlich auf dem Lande oder ausserhalb des Distrikts von Coioak beschäftigt sind, ausser dem wirklichen Fahrgeld mit Einschluss von Schlaf***5' Gebühren ; ferner zeitweilige Experten, Gehilfen und andere Bedienstete, üb« der Kongress von Zeit zu Zeit Bestimmung treffen wird, mit der gleichen Bew^* wie sie ähnliche Angestellte in anderen Verwaltungszweigen der Regierung bc***

Art. 4. In dringenden Fällen der Abwesenheit des Kommissärs, oder wenn 4*$** eines solchen unbesetzt sein sollte, hat der oberste Beamte auf die Dauer 'Li die Funktionen des Kommissars auszuüben.

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Gesetz hetr. die Errichtung eines Arbeits-Departements. 619

Art. 5. Der Kassa führende Beamte hat , bevor er seine Stelle antritt, an den Schatzmeister der Vereinigten Staaten eine Kaution in der Höhe von zwanzig tausend Dollars zu leisten , welche Kaution dafür als Pfand dienen soll , dass der fragliche Beamte vierteljährlich an den Schatzmeister wahrheitsgetreue Kechenschaftsa Biegung über alle Kraft seines Amtes vereinnahmten Gelder und Wertobjekte erstattet mit Be- legen, die vom Anwalt des Schatzamtes geprüft, resp. gutgeheissen werden sollen. Fragliche Kaution soll in dem Bureau des ersten Kontrolleurs des Schatzamtes de- poniert und von diesem als Rechtsmittel beniitzt werden , im Fall irgend einer Ver- letzung der an dieselbe geknüpften Bedingungen.

Art. 6. Der Arbeits-Kommissär ist in dem von dem Arbeits-Departement be- nützten oder diesem zugeteilten Gebäude oder Grundstück mit der Verwaltung der Bibliothek, des Mobiliars, der Einrichtung , des Archivs und anderen demselben zugehörenden Eigentums beauftragt und soll ihm gestattet sein , für Zeitschriften und Zwecke der Bibliothek, sowie für Miete geeigneter Räumlichkeiten für die Geschäfte de* Arbeits-Departements innerhalb des Distriktes von Columbia, und für andere ge- legentliche Erfordernisse Geldbeträge zu verausgaben, über deren Höhe der Kongress von Zeit zu Zeit Bestimmung treffen wird.

Art. 7. Der Arbeits-Kommissär ist in Gemässheit der in Art. I dieses Gesetzes angeführten allgemeinen Ziele und Pflichten speziell beauftragt , so bald als möglich und so oft als industrielle Veränderungen es als wesentlich erscheinen lassen , über die Herstellungskosten der zur Zeit in den Vereinigten Staaten zollpflichtigen Artikel genaue Auskunft in den Ländern, wo diese Artikel produziert werden, cinzuholen, mit vollständig spezifizierten Einzelpunkten betreffend die Herstellung derselben und mit einer Klassifizierung , welche die verschiedenen Faktoren der Herstellungskosten oder annähernden Herstellungskosten solcher Fabrikations-Artikel nachweist, einschliess- lich der in den betreffenden Industriezweigen pro Tag. Woche, Monat oder Jahr, oder auch per Stück gezahlten Arbeitszeit, des Nutzens der Fabrikanten oder Er- zeuger solcher Artikel und der verhältnismässigen Kosten des Lebensunterhalts und auch der Lebensweise. Zur Pflicht des Kommissärs soll ferner gehören , die Einwir- kung der Zollgesetze, sowie den Einfluss des Standes der Münzwährung in den Ver- einigten Staaten auf die landwirtschaftliche Industrie festzustellen und darüber Bericht zu erstatten, insbesondere insofern als die hypothekarische Verschuldung der Land- wirte davon berührt wird, ferner was für Artikel unter der Kontrolle von Trusts oder anderen kapitalistischen, geschäftlichen oder Arbeits-Koalitionen stehen, und welche Ein- wirkung solche Trusts oder sonstige kapitalistische, geschäftliche oder Arbeits-Koalitionen auf Produktion und Preise ausüben Auch soll derselbe ein System der Berichterstattung einführen, durch welches er in Zwischenräumen von nicht weniger als zwei Jahren über die allgemeine Lage der hauptsächlichsten Industriezweige des Landes, insofern dieselbe auf die Produktion Bezug hat, berichten kann. Der Arbeits- Kommissär ist noch besonders beauftragt, Untersuchungen anzustellen über die Ursachen und näheren Umstände aller Zwistigkeiten und Streitfragen zwischen Unternehmern und Arbeitern, die Vorkommen mögen und geeignet sind , die Wohlfahrt des Volkes in den verschiedenen Staaten zu beeinträchtigen, und hat darüber an den Kongress Bericht zu erstatten. Alsdann soll der Arbeits- Kommissär über die ihm obliegenden Angelegenheiten auch bei frem- den Nationen Erkundigungen, soweit ihm dieselben als wünschenswert erscheinen, einholen, sowie ferner darüber, ob und was fiir in Strafanstalten verfertigte Waren in die Vereinigten Staaten eingeführt werden und von wo aas.

Art. 8. Der Arbeits-Kommissar soll alljährlich einen schriftlichen Bericht an

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Gtsttzgebung.

den Präsidenten und den Kongress einreichen über die von demselben $escr melten und revidierten Informationen , der zugleich Empfehlungen »on Aaori- nungen enthalten soll, die auf Förderung der Wirksamkeit des Arbeits-Pepan«^ berechnet sind. Auch ist derselbe befugt , spezielle Berichte über besondere Al*?- legenheiten zu erstatten, so oft er vom Präsidenten oder von einem der beiden Hiae des Kongresses dazu aufgefordert wird, oder wenn er glaubt, dass der seinem As> ressort angehörende Gegenstand cs erheischt. Er soll am oder vor dem fünftel Dezember eines jeden Jahres einen ausführlichen Bericht an den Kongress osueä über alle Gelder, die unter seiner Leitung im Laufe des vorhergehenden Finaat-Jitas verausgabt worden sind.

Art. 9. Es sollen alle unter dem am sieben und zwanzigsten Juni achter hundert vier und achtzig vom Kongress genehmigten Gesetz geschaffenen u das Arbeits-Bureau bezüglichen Gesetze und teilweisen Gesetze , insofern solch 1 das gegenwärtige Gesetz anwendbar sind und nicht im Widerspruch zu deosdh: stehen, in ihrer vollen Kraft und Wirkung fortbestehen, auch soll der in Gennair. jenes am sieben und zwanzigsten Juni achtzehn hundert vier und achtzig geoeht;* Gesetzes ernannte Arbeits-Kommissar, sowie alle im Arbeits-Bureau beschäftigtet! Be- amten und Bediensteten , deren Einstellung durch jenen Erlass oder durch sper' Erlasse genehmigt worden ist, in Amt und Funktiou verbleiben, ab ob s.e rü- des jetzigen Gesetzes angestellt wären, bis ein Arbeits-Kommissär, Oberbeantr Be amte und Bedienstete angestellt und qualifiziert sind, wie in gegenwärtigem gefordert und vorgesehen ; ferner soll das Arbeits-Bureau, wie es jetzt Organist s und besteht, seine Funktion als Arbeits-Departement weiterhin ausüben. bs hee Arbeits-Departement nach den Bestimmungen des jetzigen Gesetzes orgamsöt wird; die Bibliothek, das Archiv und alles sonstige, gegenwärtig im Arbeift-B^n- im Gebrauch befindliche Eigentum , wird hiermit der Obhut des hierdurch fp&' fenen Arbeits-Departements übertragen; nach erfolgter Organisierung des ArbfiD-*** partements auf der Basis des gegenwärtigen Gesetzes sollen die Funktionen des Ar- beits-Bureaus aufhören.

Art. 10. Nach Annahme dieses Gesetzes soll der Arbeits-Kommissar Kostenanschläge für den Aufwand des Arbeits-Departements für das nächste Fn- jahr vorlegen , worin die Anzahl und die Gehälter der Beamten und Bei«*** genau angegeben sein sollen.

Genehmigt am 13. Juni 1888.

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BELGIEN.

Gesetz betreffend die Regulierung der Lohnzahlungen an Arbeiter ').

Leopold II , König der Belgier entbietet den Gegenwärtigen und Zukünftigen seinen Gruss.

Von den Kammern ist Nachstehendes angenommen und von uns sanktioniert worden :

Art. i. Alle Lohne der Arbeiter müssen in klingender Münze oder in Papiergeld, das gesetzlichen Kurs hat , bezahlt werden Alle in anderer Form geleisteten Zahl- ungen sind als nichtig und nicht geschehen zu betrachten.

Art. 2. Es ist jedoch dem Arbeitgeber gestattet, seinen Arbeitern in Anrechnung auf ihren Lohn zu liefern :

1. Die Wohnung;

2. die Nutzniessung von Grund und Boden;

3 die zur Arbeit nötigen Geräte und Werkzeuge, sowie die Instandhaltung der- selben.

4. zur Arbeit nötiges Material oder Materialien , die von Arbeitern je nach dem cingeführten Gebrauch oder nach den Bedingungen ihres Vertrags zu übernehmen sind;

5. Die besondere Uniformierung oder Bekleidung, wo die Arbeiter eine solche zu tragen haben.

Die unter Nr. 3, 4 und 5 bczeichneten Gegenstände dürfen dem Arbeiter nicht höher als zum Einkaufspreis in Anrechnung gebracht werden.

1) Session von 18S6 1887.

Kammer der Abgeordneten.

Par 1 amcntarische Aktenstücke. Expos6 der Motive und Text der Gesetz- vorlage. Sitzung vom 18. Januar 1887: S. 46-48. Bericht. Sitzung vom 31. Mai: S 167 169.

Parlamentarische Annalen. Discussion. Sitzungen vom 27 Juli 1887: S. *725 1739; 28. Juli: S. 1741 1755 ; 2. April : S. 1771 1785, und 3. April : S. 1787 1798. Zweite Abstimmung und Annahme. Sitzung vom 5. August: S 1821 1826.

Senat.

Parlamentarische Aktenstücke. Bericht. Sitzung vom 10. April 1887:

s. 35—36-

Parlamentarische Annalen. Antrag zur Geschäftsordnung. Sitzung vom

10. August 1887 : S. 562 564. Diskussion und Annahme. Sitzung vom

11. August: S. 577—580,

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Gesetzgebung.

Art. 3. Die ständige Kommission kann den Arbeitgebern die Ermächtigung er- teilen, ihren Arbeitern in Anrechnung auf ihren Lohn Lebensmittel, Kleider Brennmaterial zu liefern unter der Bedingung, dass solche Lieferungen zum EaJuo preis gemacht werden.

Dieselbe bestimmt auch die weiteren Bedingungen, welchen diese Ennädtg-sg unterworfen ist.

Wenn an dem betreffenden Ort ein Industrie- und Arbeits-Rat besteht, so tui*c diese Bedingungen zuvor der Beurteilung desselben oder derjenigen der kompetc^ Sektion unterbreitet werden.

Diese Ermächtigung kann jederzeit wegen Missbrauch widerrufen wen!« . Mo- dern die Meinung des Industrie-Rates oder der Sektion darüber gehört worden *

Im Falle der Verweigerung oder des Widerrufs dieser Ermächtigung, kuo ser halb des Zeitraums von einem Monat vom Tage der Kundgabe des Beschh«* ■> ständigen Kommission an die Interessenten Berufung an den König eingelegt »er«.

Art. 4. Die Auszahlung der Löhne an die Arbeiter darf nicht in Wiitshiwr Schanklokalen, Warenlagern, Laden, noch in den an solche angrenzende» Rio! -• keiten staulinden.

Art. 5. Lohnbeträge, die 5 Fr. per Tag nicht übersteigen, müssen dem Ad* ~ mindestens zweimal im Monat und in Zwischenräumen von höchstens 16 Tag® bezahlt werden. Für zu Hause gefertigte, sowie für Stück- oder Akkordarbeitei; die teilweise oder endgültige Lohnzahlung mindestens einmal in jedem Mona!

Art. 6. Ausser den in Nr. 3, 4 und 5 des Artikels 2 vorgesehenen Fxii« s es den Arbeitgebern, sowie Direktoren, Werkführern, Steigern. Beamten einer otä- liehen oder Privatverwaltung, Leitern eines Unternehmens oder Unterhändlern re- boten, einem unter ihrer Leitung beschäftigten Arbeiter Bedingungen solcher Art *-• zuerlegen oder vertragsmäßig mit ihm zu vereinbaren, die ihn in der freien VerfäfÄ über seinen Lohn beeinträchtigen.

Dessen ungeachtet dürfen Wohnung oder Bodengenuss , wie in Nr. 1 and J ^ Artikels 2 vorgesehen, den Gegenstand von Verträgen zwischen Arbeitgebern. D-‘Ä' toren, Werkführern, Steigern, Beamten einer öffentlichen oder Privatvcrwaltaag ' tern eines Unternehmens oder Unter-Kontrahenten und den Arbeitern bilden, gesetzt dass solche Verträge aus freiem Willen geschlossen werden.

Art. 7. Von dem Lohne eines Arbeiters dürfen keinerlei Abzüge gemaefcä tr- den, ausser:

1. Auf Grund von verwirkten Geldstrafen in Gcmässheit einer internen Art*** Ordnung, die im Etablissement richtig angeschlagen sein muss.

2. Auf Grund von Beisteuern , die der Arbeiter an Hilfs- oder UntentiB^V' Kassen zu leisten hat.

3. Auf Grund von Lieferungen, die unter den Bestimmungen der Artikel 1 cad ; gemacht worden sind.

4. z\uf Grund von in baar geleisteten Vorschüssen, jedoch nur bis zur Hohe yr- cin Fünftel des Lohnes.

Als Vorschuss ist auch der Kaufpreis eines von dem Arbeitgeber an deo verkauften Bauplatzes anzusehen.

Art. 8. Ausser den Lieferungen , die auf ein von dem Arbeiter betrieb®* ^ schüft bezug haben, ist eine gerichtliche Klage von seiten des Arbeitgeber* l tors, Werkführers, Steigers, Beamten einer öffentlichen oder Privat- Verwaltung c.ncs Unternehmens oder Unter-Kontrahenten nicht zulässig, sofern dieselbe die ^

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Das belgische Gesetz betr. die Regulierung der Lohnzahlungen etc. 623

Zahlung von Lieferungen, die unter anderen als den in Artikel 2 und 3 vorgesehenen Umständen gemacht wurden, zum Gegenstand hat.

Art. 9. Bis zu beigebrachtem Gegenbeweis gilt jede von der Frau oder den Kin- dern eines Arbeitgebers, Direktors, Werkführers, Steigers, Beamten einer öffentlichen oder Privat-Verwaltung, Leiters eines Unternehmens, oder Unter-Kontrahenten ge- machte Lieferung, als ob solche von dem Arbeitgeber, Direktor, Werkfuhrer, Steiger, Beamten, Leiter oder Unter-Kontrahenten selbst gemacht worden wäre.

Ebenso ist jede an die mit einem Arbeiter zusammenlebende Frau oder Kinder desselben gemachte Lieferung als an den Arbeiter selbst gemacht zu betrachten.

Art. 10. Der Arbeitgeber, welcher selbst, oder durch seine Agenten oder Beauf- tragten eine Uebertretung einer der Bestimmungen der Artikel 1 bis einschliesslich 7 begeht oder begehen lässt, wird mit einer Geldbusse von 50 bis 2000 Fr. bestraft.

Die Direktoren, Werkfuhrer, Steiger, Beamten einer öffentlichen oder Privat- Verwaltung, Leiter von Unternehmen oder Unter-Kontrahenten, welche dieselbe Ueber- tretung begangen haben, werden mit derselben Geldbusse bestraft. Wenn solche je- doch nach den Instruktionen des Arbeitgebers oder eines Vorgesetzten , der Gewalt über sie hat , und ohne ein persönliches Interesse dabei zu haben , gehandelt haben, so sollen sie nur mit einer Busse von 26 bis 100 Fr bestraft werden, deren Einziehung auf Rechnung des Arbeitgebers betrieben werden kann, unbeschadet des Regresses des Letzteren an den Verurteilten.

Jedes Rechtsverfahren auf Grund einer in dem gegenwärtigen Gesetz vorgesehenen Uebertretungen verjährt mit Ablauf von sechs Monaten von dem Tage an, wo die Uebertretung begangen wurde.

Art. 11. Das erste Buch des Code p^nal , ohne Ausnahme des Kapitels VII und des Artikels 85, ist auf oben erwähnte Uebertretungen anwendbar.

Art. 12. Dieses Gesetz betrifft weder landwirtschaftliche Arbeiter, noch Dienst- boten, noch in allgemeiner Weise die bei ihren Arbeitgebern in Wohnung und Kost stehende Arbeiter.

Art. 13. Dieses Gesetz tritt erst am 31. Dezember 1887 in Kraft.

Wir geben hiermit gegenwärtiges Gesetz bekannt, befehlen, dass es mit dem Staatssiegel versehen und durch den Moniteur ') veröffentlicht werde.

Gegeben zu Ostende, den 16. August 1887.

Leopold.

Im Auftrag des Königs:

Der Minister des Ackerbaus, der Industrie und der öffentlichen Arbeiten, Ritter von Moreau.

Gesehen und mit dem Staatssiegel versehen: Der Minister der Justiz J. Devolder.

1) Die Veröffentlichung erfolgte in Nr. 294 des Moniteur beige vom 21. Okt. 1887.

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MISZELLEN.

DIE ÖSTERREICHISCHE FABRIKINSPEKTION IM JAHRE 1887 ‘).

VON

PROF. E. MISCHI.ER.

Die Institution der Gewerbeinspektoren hat sich in Oesterreich sei den wenigen Jahren ihres Bestandes (1883) zweifelsohne bereits eingelebt. Bei Bestellung der Inspektoren wurde nur auf Männer der Praxis, womoj lieh ehemalige Industrielle, zurückgegriffen und jedes Eindringen de Rüreaumässigen strenge vermieden. Es war das auch die Ursache, weshalb nicht ein förmlicher Inspektoren-Status mit jüngeren als N»d wuchs dienenden Kräften aufgestellt wurde, um eben dieses Amt nick: zu einem schablonenmässig erlernbaren zu machen. Infolge dieses ls Standes ist eine gewisse Ursprünglichkeit und Frische, zutreffende Be urteilung und < >riginalität in den Berichten nicht zu verkennen. Mt Rücksicht darauf muss die von den meisten Inspektoren laut gewor- dene Klage, dass das Moment der Schriftlichkeit überhandnehoe und ilie Zahl der Reise und Inspektionstage sich dadurch vermindert wenig erfreulich erscheinen und Besorgnisse für die Zukunft zulasset Doch kann das immerhin auch mit dem Mangel an Hilfskräften, da den Inspektoren empfindlich genug wird, Zusammenhängen und Hesse sich dem leicht abhelfen. Umsomehr sollte das der Fall sein, als « territoriale Ausdehnung der I nspekt io n sbezi rke eine derartige ist. dass bei mehreren eine wirksame Reisethätigkeit ganz unmöglich wird Der Staat ist in 15 Bezirke gegliedert, von denen manche ganz enorm sind. Po soll z. B. eine einzige Person ganz Galizien und die Buko- wina mit etwa 6 Millionen Menschen und 60000 km* beanfsichngcc wo die Eisenbahn-Fahrt von einer Grenze zur anderen fast 24 Standet

1) Bericht der k. k. t lewerbc-Inspektoren über ihre Amtstätigkeit im J*h»e *"<■ Wien, Ib88. Druck und Verlag der k. k. Hof- und Staats-Druckerei, gr. 8*. und 421 S,

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Mi sc hier, Die österreichische Fabrikinspektion im Jahre l88j. 625

dauert. Aehnlich ist es im Süden der Monarchie. Die Vermehrung der Inspektoren und Teilung der Bezirke wäre dringend erforderlich. Diese Organe sind jetzt, somit nach vier Jahren ihrer Amtsthätigkeit noch nicht dazu gelangt , sämtliche Etablissements ihrer Sprengel kennen zu lernen. Ihre Amtsthätigkeit ist naturgemäs gegenwärtig eine sehr angestrengte, welcher Umstand noch dem der Neuheit der Institution hinzugelugt werden muss, um die Berichte als sichtbaren Ausdruck dieser Thätigkeit richtig zu würdigen.

Dennoch zeichnen sich die österreichischen Inspektionsberichte vor- teilhaft vor andern aus. Sie sind lebensvoller und dann auch mehr indi- vidualisierend als andere, haben aber dafür den Nachteil, dass der all- gemeine Ueberblick über der Fülle lebendigen Details untergeht, da auch der einleitende Bericht des Zentralgewerbeinspektors nicht klar durchzugreifen vermag. Ueberhaupt waltet ein gewisser Antagonismus zwischen diesem G e n e ral be ri c h te und den Einzelberichten ob, der dadurch hervorgerufen wird, dass der erstere ungemein vermittelnd ist, jede präzise Schärfe der Meinung und des Ausdrucks vermeidet und sich in beruhigenden ausgleichenden Worten bewegt, während die Berichte der einzelnen Inspektoren wenigstens nicht durchwegs dieses Bestreben verraten. Es sei aus dem Generalberichte nur einiges an- geführt, um seine Grundstimmung zu charakterisieren. Der Verfasser desselben scheint zu befurchten, dass von Seite des Kapitals die In- stitution der Gewerbeinspektoren als »industriefeindlich« angesehen wer- den könne und betont deshalb ausdrücklich die Unrichtigkeit dieser Ansicht (S. 16); es erfüllt ihn >mit besonderer Genugthuung die rasch steigende Inanspruchnahme der Gewerbe-Inspektion durch die Arbeit- geber« (843 Fälle 1887 gegen 400 von 1886); er mahnt die Arbeits- herren durch den Hinweis »auf den öffentlichen Frieden« von dem Gebrauche von Schimpfworten und der Faust ab; er beruhigt sich durch die Ansicht von der Unaufhaltsamkeit des wirtschaftlichen Um- gestaltungsprozesses über die Demoralisierung, welche die leichte Migra- tionsfähigkeit in der Arbeiterbevölkerung nach jeder Richtung hervor- ruft, und welche m. F.. nicht notwendig eintreten müsste. Am deut- lichsten aber lässt sich die vermittelnde Grundstimmung des einleitenden Berichtes an den Bemerkungen erkennen, welche im Anschluss an die in den Gewerbeinspektorenbericht neu aufgenomntenen Haushaltungs- budgets von Arbeitern gemacht werden. Er zieht aus den Daten nur die folgenden seichten Konklusionen : »dass wohl in der Mehrzahl der Industrien das mittlere Einkommen des Arbeiters ihm Regelmässigkeit und Genauigkeit in der Führung des Haushaltes zur Pflicht mache, dass ferner namentlich in gewissen Industriezweigen das Mitverdienen durch die Familienglieder eine grosse Rolle spielt, endlich, dass gerade im Haushalte des Arbeiters die Tüchtigkeit und praktische Begabung, die Sparsamkeit und Umsicht der Frau in besonderem Masse in Be-

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Miszellen.

tracht kommt.« Der Verfasser der Einleitung geht eben von der öko- nomisch-harmonischen Ansicht aus, dass sich das Interesse der Arbeiter und dasjenige der Industrie selbst , soll wohl heissen der Industriel- len, »bei richtiger Auffassung der Dinget decken, von welcher viel- leicht weder die Einen noch die Anderen vollkommen überzeugt sein dürften. Hie und da stellt sich der einleitende Bericht sogar ganz auf Seite der Arbeitgeber, wie z. B. S. 19 (wo von Arbeitspausen gespro- chen wird): »es wird die Mittagspause ziemlich allgemein . . . eingeiul- ten; bezüglich der Vor- und Nachmittagspausen kommt es dagegen häufig vor, dass eine Unterbrechung nicht stattfindet, sondern den Ar- beitern lediglich gestattet wird, während der Arbeit ihr Frühstück resp. ihre Jause einzunehmen.«

Der Herr Zentral-Gewerbe-Inspektor lässt durch diese Ausführ- ungen trotz aller Vermittelungsversuche eben nur seine liberal-natio- nalökonomischen Ansichten deutlich erkennen und vermag diesel- ben auch unschwer mit dem Grundcharakter des Inspektorengeseues in Einklang zu bringen. Fern von den unmittelbaren Eindrücken, wie diese auf die Inspektoren selbst einwirken, wird er auch leicht imstande sein, sich diese Auffassung der Dinge zu erhalten.

Bedauerlicher und gleichzeitig schwerer erklärlich ist es. wenn sich in den Berichten der Inspektoren derartige schroffe kapitalistisch- nationalökonomische Anwandelungen vorfinden und es liegt dabei der Gedanke nahe, dass bei dem Umstande als die Inspektoren doch in den seltensten Fällen durch eigene theoretische Anschauungen be- einflusst werden diese Spuren entweder auf unmittelbare Einwir- kungen des Zentral-Inspektors oder auf Nachsprechen von verbreiteten, nicht weiter auf ihre Stichhaltigkeit untersuchten Ansichten zurück- zuführen sind. So knüpft ein Inspektor (S. 113) an die Mitteilung eines beim Nähen von im Gange befindlichen Transmissionsriemen entstan- denen Unfalles (sofortiger Tod) die cynische aber seinerseits wohlge- meinte Bemerkung, »dass ein Unfall für die Gewerbeunternehmung mehr Spesen (1) verursacht, als der in der Zeit des nur nach Minu- ten zählenden Stillstandes sich ergebende Arbeitsentgang.« Auch findet ein anderer Berichterstatter (S. 91) kein Wort der Verurteilung für den früheren Zustand bei Anführung der Thatsache, dass die be- sonders in der Textilindustrie sehr verbreiteten Kautionsbeträge der Arbeiter »nunmehr in den meisten Fabriken von Seite der Inhabung mit 5 7„ verzinst werden , was übrigens doch nur selbstverständlich sein sollte.

Sämtliche Berichte leiden an zwei grossen Fehlern. Der erste be- steht darin, dass es niemals möglich ist, die in diesen Einzelberichten angeführten Thatsachen in ein Ve rhäl tn i s zur Gesamtzahl der Fälle zu bringen. Die Inspektoren teilen einerseits Reihen von erfreulichen und andererseits Reihen von unerquicklichen Thatsachen

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M isc hier, Die österreichische Fabrikinspektion im Jahre t88f. 627

aus dem industriellen Leben mit; nun können beide weder auf die Gesamtzahl bezogen, noch auch eben deshalb gegen einander abge- wogen werden. Die mitgeteilten Unfälle, Beispiele von nicht ent- sprechender Unterbringung, Behandlung, Entlohnung u. s. f., und die Fälle von freundlichen Arbeiterwohnungen, hygienisch angeordneten Arbeitsräumen u. dgl. sind der Zahl und Wahl nach ganz willkürlich zusammengestellt, je nachdem wohin gerade der Weg der Inspektion führte. Dadurch aber wird die öffentliche Meinung, selbstverständlich unabsichtlich , irregeführt, indem eine grosse Anzahl erfreulicher Er- scheinungen den Glauben erwecken kann, dieselben seien überhaupt die allgemeine Signatur, während sie dem ganzen gegenüber vielleicht so gut wie gar nichts bedeuten. Der zweite Fehler ist noch tadelns- werter, weil er dem Gebote der Gerechtigkeit widerspricht. F.s werden nämlich wohl jene Etablissements oder Industriellen namentlich angeführt, von welchen irgend etwas lobenswertes zu berichten ist, da- gegen durchaus nicht jene, von welchen das Gegenteil mitgeteilt werden muss. Dabei ist schwer zu begreifen, warum sich die Inspektoren die sehr erwünschte Handhabe entgehen lassen, wenn nötig, ebenso öffent- lich jemanden an den Pranger zu stellen und dadurch kräftig auf sein Verhalten einzuwirken, als sie durch öffentliches Lob und Einwirkung auf die Eitelkeit Erfolge zu erzielen hoffen. Dieses Vorgehen erinnert sehr an die öffentlichen »Schulprüfungent der früheren Zeit, bei welchen die »Prämianten« vom Schulinspektor namentlich belobt und mit kleinen Geschenken bedacht wurden, während über die Sünder in den letzten Bänken der Mantel christlicher Nächstenliebe ausge- breitet wurde.

Noch auf einen anderen Fehler, der häufiger, wenn auch nicht so durchgreifend zu bemerken ist, sei hier aufmerksam gemacht, dass nämlich mit Vorliebe ganz besonders grosse Etablissements, etwa solche mit Weltruf inspiziert und beschrieben werden, wo bekanntlich häufig die Arbeiterschutzmassregeln , Entlohnungs-, W'ohn- und andere Ver- hältnisse ganz besonders günstig liegen, wobei jedoch nur zu bedauern ist, dass derartige Fabriken sehr vereinzelt sind. Ein Berichterstatter beschreibt z. B. die grosse Waffenfabrik in Steyer und eine ärarische Tabakfabrik und leitet aus diesen vereinzelten Fällen den Schluss ab, dass mit der Grösse des Etablissements die sanitären Vorteile wachsen, was in dieser Allgemeinheit ganz falsch ist. Die textliche Darstellung der Einzelberichte ist meist ganz zweckentsprechend; nur vereinzelt finden sich Stilblüten, welche im Interesse des Ansehens dieser Publi- kation doch zu vermeiden wären. So wird (S. 109) eine seltsame Ver- fügung der Gewerbebehörde ob richtig oder unrichtig ist schwer zu beurteilen wörtlich abgedruckt: »den mit dem Sortieren der Federn beschäftigten Personen ist von nun an und zwar für alle Zeiten das Essen und ebenso das Mitnehmen von Esswaren in den Sortier-

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628

Misztlltn.

saal strenge zu untersagen»; ebenso heiter wirkt »das strenge Verbot, ohne Schutzbrillen nicht zu meissein« (S. 114), während ich mich rer- gebens bemühte, den tiefen Sinn der (S. 1 1 1 gesperrt gedruckten) Stelle zu ergründen: »die die Unfälle veranlassenden Ursachen stehen meist ' mit der relativen Zahl dieser Unfälle im Zusammenhänge». Wenn auch von den einzelnen Berichterstattern eine Meisterschaft im Stile durch- aus nicht verlangt werden soll und ein kräftiges persönliches Auftreten viel erwünschter wäre, so sollte doch von Seite des Zentral- Inspektors die erforderliche Feile an die Berichte gelegt werden.

Aus der folgenden Tabelle ist die Zahl der während des Bericht- erstattungsjahres inspizierten Unternehmungen samt den vorgefallenea Unfällen zu entnehmen.

I ndustriegruppen

Zahl der inspizierten Etablissements

Davon

ohne

Motoren

Gesamtzahl der beschält. Arbeiter

Z aU der

Urälk

I.

Urproduktion aus dem Mineral- reiche

63

54

2 441

11.

Metall- und Metallwaren - Er- zeugung

499

156

29 970

856

in.

Erzeugung von Maschinen etc.

239

35

29038

6S6

IV.

Industrie in Steinen etc.

295

128

'7 934

57

V.

» » Holz »

456

125

'4 537

216

VI.

» Leder » . .

* 35

79

4057

VII.

Textilindustrie

868

198

8 1 997

3°9

VIII.

Bekleidungsindustrie . . .

169

120

9 620

»S

IX.

Papierindustrie

1 60

4 1

9 260

120

X.

Nahrungs- und Genussmitlel- Erzcugung

721

265

37 137

’-'fl

XI.

Chemische Industrie . .

232

99

»' 738

s;

XII.

Baugewerbe

95

90

8486

244

XIII

Polygraph, und Kunstgewerbe

I I O

64

2 705

19

XIV.

Handel

48

4S

93

-

XV.

SchifTahrtsgewerbe ....

98

,S

I 02 I

XVI.

Beherbergung etc

2

-

4190

1520

260 064

3011

Seit den vier Jahren der Thätigkeit der Inspektion sind zusammen 12028 Betriebe mit 987666 Arbeitern inspiziert worden. Die l'nfalle haben zugenommen, was aber von Seite des Zentralgewerbeinspekton auf das äussere Moment einer genauem Verzeichnung zurürkgeführt wird. Die jährlich inspizierten Arbeiter machen etwa 3 5 auf 100 aus und zeigen die Unzulänglichkeit der Kräfte sehr deutlich.

Unmittelbar segensreich wirkt die Institution durch die »von dm (iewerbeinspektoren ... getroffenen Anordnungen bezw. Empfehlungen zum Schutze des Lebens und der Gesundheit der Arbeiter in Gewerbe

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Mise hier. Die österreichische Fabrikinspektion im Jahre tSS~. 629

betrieben und in seitens der Gewerbeinhaber beigestellten Wohnräumen,« welche Seite 6 12 des Berichts in einer erfreulicherweise recht langen Liste aufgezählt werden. Dabei begegnen die Inspektoren der grossen Schwierigkeit, dass es ihnen an der notwendigen Exekutive fehlt. Sie müssen meist ebenso wie Privatpersonen ihre Eingaben bei den staat- lichen Behörden machen, welche dann erst ihre Vorerhebungen ptlegen etc., wodurch der >Rumpf«-Charakter der Institution recht zu Tage tritt. Dieser Mangel der Exekutive , der in Oesterreich ziemlich häufig auftritt und z. B. auch fast in der ganzen Selbstverwal- tung, beim Reichsgerichte und Verwaltungsgerichtshofe zu bemerken ist, drängt nach Abhilfe, und Hesse sich durch Einfügen der Inspek- toren in den Beamtenorganismus unschwer beseitigen. Es fehlen aber in Oesterreich, allerdings ebenso wie meist anderwärts auch, die nie- deren staatlichen Organe der wirtschaftlichen Verwaltung, resp. diese sind neben der allgemein politischen und gerichtlichen nur ganz rudimentär in den Forst-, Domänen- und Bergämtem, Punzirungs- und Airhämtern u. s. w. entwickelt, während sich sonst die gesamte wirt- schaftliche Verwaltung autonom wie in den Handelskammern, Genos- senschaften u. ä. vollzieht. Nun dürfte aber doch schon die Zeit ge- kommen sein, diese Elemente zusammenzufassen, daran die Gewerbe- inspektoren, die Organe für die künftigen staatlichen Versicherungen und für ähnliche Zwecke anzugliedern, und auf diese Weise dem Handels- ministerium, das unser Volkswirtschaftsministerium zumeist repräsentiert und wohl zweckmässig mit dem Ackerbauministerium zu vereinigen wäre, als gegliederten Beamtenkörper unterzustellen. Dann würden die Gewerbeinspektoren nicht nur einen festen Boden für ihr Auftreten, sondern sofort auch einen fest umschriebenen Wirkungskreis mit der notwendigen Exekutivmacht finden. Solange das nicht der Kall ist, ist ihre Thätigkeit zumeist nur anregend, beratend, anzeigend und vermittelnd. Sie finden eine l nterstützung allgemein nur bei den staatlichen Bezirksärzten, wogegen aus den besonderen Dankes- Ver- öffentlichungen an die Adresse der politischen Landes- und Bezirks- stellen hervorgeht, dass ein Entgegenkommen von dieser Seite nicht als die Regel, sondern als eine ausserordentliche Thatsache angesehen wird. Ja, S. 75 wird sogar ein Fall mitgeteilt, dass sich ein Indu- strieller den Schutz der Bezirkshauptmannschaft »gegen die Uebergriffe« des Gewerbe- Inspektors erbat. Solange den Inspektionsorganen die amtlich bewilligten Veberstunden nicht bekannt gegeben, der Zutritt in Spitäler zum Besuche verunglückter Arbeiter an besondere »Bewilli- gungen« geknüpft, Pläne zu Industriebauten erst bei der allgemeinen Kommissionsverhandlung bekannt gegeben werden und ähnliche Dinge an der Tagesordnung sind, frägt man sich wirklich, ob der Inspektor eigentlich öffentliche Befugnisse hat, und wo sein Platz in dem ad- ministrativen Systeme ist.

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630

Sfituüen.

Auch diesmal sind unter den lcgisatorischen V:rs.:a-icn iS. 31 und 321, welche die Inspektoren nach Massga'r-e :*rer Eh- rungen alljährlich machen, einige von allgemeiner und wrecrtrvgcr Bedeutung. Dahin gehört zunächst die Forderung 8 nach ehre: iz~z: tisrhen Definition der Begriffe »Taglöhner gemeinster Art* trci »H - arbeiter, welche zu untergeordneten Hilfsdiensten im Gewer'e wendet werden.« Ferner aber die höchst zutreffende Forcer-tä :i nach Ausdehnung der ex officio Vertretung der Arbeiter auf ici F- der Lohnstreitigkeiten, gleichviel ob dieselben bei den pohäiczes Bc hörden , den Gerichten oder Genossenschaften anhängig eetai— : werden. Die Forderung 9, »dass bei Wäschereien mit Hinblick Li; Bedürfnisse der Konsumenten« die Sonntagsarbeit am Vormittage je stattet sein solle, ist ein entschiedener Rückschritt, und I>ci Puait 1: d. i. bei dem Bedürfnisse nach authentischer Belehrung, ob in kect nuierlichen Betrieben eine i3Stündige Arbeitsschicht zulässig ist, £l1‘ die effektive Arbeitszeit 1 1 Stunden nicht übersteigt, wäre zu wünschet, dass die Belehrung im verneinenden Sinne ausfallen möge.

Die einzelnen Berichte sind nach den 15 Aufsichtssprengeta io- geordnet, zu welchen noch der Bericht des Schiffahrtsgewerbeinspekt:r> und der einleitende Bericht des Zentralgewerbeinspektors hinzukomme:: Sie bewegen sich nach einem fest gefügten und glücklich augeordur:« Schema, welches eine sehr erwünschte Uebereinstimmung herbeif-tr und das Studium des Berichts erleichtert, überdies die Vollständigkeit sichert und dennoch der freien Bethätigung vollständig genügender Spielraum lässt. Höchstens könnten noch einige Tabellen vorgezeichne: werden, wozu sich schon das empirische Material in genügender Menge vorfinden dürfte; insbesondere z. B. bezüglich der Lohnsätze, Bewe- gungen von Ueberstunden, Arbeitsdauer überhaupt u. ä. Dieses Schenu umfasst neben »Allgemeinen Bemerkungen« noch folgende Punkte Beschaffenheit und Einrichtung der Werkstätten und der den Arbeiten: beigestellten Wohnräume ; Unfälle und Vorkehrungen zu deren Verhü- tung; Verwendung von Arbeitern, tägliche Arbeitszeit und periodische Arbeitsunterbrechung; Arbeiterverzeichnisse, Arbeitsordnungen, Lohn- zahlungen und Arbeiterausweise; gewerbliche Ausbildung der Jugend liehen und endlich Wohlfahrtseinrichtungen.

Manche Berichte gehen über dieses meist mit reichem leben»- wahrem Detail ausgeführte Schema hinaus , und es sind gerade diese Punkte als ganz besonders wertvoll zu bezeichnen. Dazu gehört zu- nächst das vermutlich von Seite der Zentralleitung ausgehende, freudig zu begrüssende Bestreben mancher Berichte, A r be i te r budgets bei- zustellen. Allerdings ist für diesmal der Erfolg nicht nur ein ziemlich geringer, sondern insofern gerade die Einsicht trübender, als nur Budgets von offenbar besser situierten Arbeiterfamilien zur Darstellung gelangt sind. Hier einige Beispiele, die von den Inspektoren Steiet-

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Klischier, Dte österreichische Fabrikinspektion im fahre iSSf. 63I

marks (Grazer Gebiet) und Oberösterreichs (samt Salzburg) beigestellt wurden.

Ausgaben in fl.

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I|J

U

Wohnungsin iete

ioS.

79 20

89 04

96.

3 5-

Beheizung und Beleuchtung .

24-

18.—

iS. -

42

50. -

5 40

Kleidung, Wäsche etc. . . . i

6o.

?8.-

60.

50. -

90.—

5«-

Nahrung, Getränke, Tabak

294.

280.

260.

3°3-

292.

195

Kranken Versicherung . . . i

' 3- -

2 1

| 1 8. 20

Aerzte und Medikamente . ,

7. 50

1 0

Unterricht, Belehrung . . . 1

I 2. 40

IO

I 2

2. I O

Haushaltungsgegenstände

8

12

4

3

I. so

Quartier, Verpflegung und Be- kleidung des Kindes . . .

40

Summe

526. 00

528. 20,447. °4

5*5- *0

460. -

255 -

Einnahmen in (1.

Arbeitsverdienst des Mannes .

45°

36 t

300.

468.

500,

3*5-

* der Frau (re-

gelm. oder Nebenverdienst) .

36-

156.—

150.—

IO4.

Einnahmen aus Bettgeh.- Gel- dern ........

3°- -

_

Stimme 516

520. -1450- —1 572-

500. -I315.

Resultat 10. 90

] 8. 20 -j-;;. 04 -(-,16. 80

1 +4° 1 füo

Methodisch richtig sind nttr die zunächst mitgeteilten vier Budgets aus Steiermark, während diejenigen aus Oberösterreich eben leider ab- norme Verhältnisse zur Grundlage genommen haben, wie nicht nur das Fehlen der Wohnungsauslagen beweist. Daher kommt es auch, dass die beiden Berichterstatter ganz verschiedenartige Ansichten über die Lebensführung der Arbeiter haben Während der Grazer Inspektor, und wie es scheint mit Recht, eine düstere Schilderung entrollt, sieht der I.inzer Bericht alles im rosigen Lichte und, wenn es doch manch- mal nicht so ganz zusammengeht, nun so ist die Ursache leicht ge- funden. Dass ein tiefer Sinn in den Sprichwörtern liegt , ist bekannt, aber dass die Lösung der sozialen Frage in einem solchen zu finden sei, dürfte erst aus folgenden Worten des Linzer Berichtes zu entneh- men sein: »der Mensch muss sich nach seiner Decke strecken.« Es sind aber auch in den genannten vier Grazer Fällen nur ganz be- sonders günstige Budgets mit einer Einnahme von über 500 fl., resp. einem Arbeitsverdienst des Mannes von 1 fl. bis 1 fl. 40 kr., also einem Wochenlohn von 7 —10 fl. Das sind aber Löhne, welche als ganz be- sonders günstig hingestellt werden müssen, während andererseits die

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632

MtszeUtn.

Ausgaben wohl auch bei minder gut situierten Arbeitern eine Verringe- rung nicht zulassen, indem eine Familie mit weniger als 60 70 kr täglich ihre Nahrung nicht bestreiten und auch an Mietzins katur weniger als 6 7 tl. monatlich für eine entsprechende Wohnung aus- geben kann, exzeptionelle Verhältnisse unberücksichtigt gelassen. Da- durch sind gerade auch diese Beispiele wieder interessant und wert- voll, indem sie ein Schlaglicht auf alle jene Ausgabenbudgets werfen denen eine mindere Einnahme als die hier verzeichnete entgegensteht. Familien mit geringerem Lohne, grösserer Kinderzahl, sonstigen altes und armen Verwandten, kranken Familiengliedern etc. Es wäre sehr zu wünschen , dass die Berichterstatter mit der Sammlung von Bud- gets fortfahren, und zwar gewisse Einnahmekategorien z. B. von 500, 400, 500 fl. dabei zu Grunde legen möchten. Dadurch könnten wir in Oesterreich zur offiziellen Bearbeitung eines der wichtigsten Gebiete der .Sozialstatistik gelangen, das sonst nur von Privaten gepflegt, und das gerade jetzt ganz entschieden im Vordergründe der Bedeutung and des Interesses steht.

Instruktiv sind ferner die Nachweisungen des Öberösterreichischen Berichtes über die Anzahl der »Dienstjahre« recte Arbeitsjahre für eine grössere Menge von Arbeitern, welche jedoch zu lückenhaft sind, um wiedergegeben werden zu können. Die Daten sind mit glückliches) Griffe gesammelt und sollten künftig auch in den übrigen Berichten zu finden sein. Da der Verfasser sie als Zeugnis »für humane Behand- lung und hinreichende Vorsorge in hygienischer Beziehung« anfuhrt, betreffen sie wohl nur exzeptionell günstige Etablissements. Von den ca. 1450 Fällen entfallen thatsärhlich 93g auf eine staatliche Tabak- fabrik.

Der Prager Bericht bringt durchschnittliche Lohnangaben für verschiedene Industrie- und Arbeiterkategorien. Die Ansätze sind, etwa mit Ausnahme der Kupferarbeiter, sehr günstig und können als typische Lohnsätze dieser Industrie in den grossen Städten und ihren Vororten gelten. Es wäre aber sehr gefehlt, sie zu verallgemeinern und entweder auf andere Industriegruppen oder andere Orte anzuwenden Trotzdem aber würden schon viele mit solchem immerhin grossen Einkommen bedachten Haushaltungen Budgets aufweisen, welche die früher erwähnten Aufwandsmengen nicht zulassen.

Aus dem übrigen Materiale sei nur noch auf die hübsche Darstel- lung über das Alter der Arbeiter aus dem Brünner Berichte hin- gewiesen, welche die Textilindustrie (11026 Arbeiter) umfasst. Diese Daten wurden zunächst zu Versicherungszwecken angelegt, bieten aber auch an sich vom Standpunkte des Altersaufbaus der Arbeiterbevol- kerung das grösste Interesse. In dem jugendlichsten Alter bis zum 16. Jahre stehen sich beide Geschlechter gleich. Dann überwiegt dz» weibliche (die ledigen Frauenspersonen) bedeutend bis in die Mitte

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Mi schier. Die österreichische Fabrikinspektion im Jahre lSS~. 633

der 20er Jahre, insbesondere während der Militärjahre des männlichen Geschlechts, welche eine bedeutende Reduktion in der Arbeiterzahl hervorrufen. Vom 20. 30. Jahre nehmen die Arbeiterinnen infolge Begründung von Hausständen konstant ab, dann verstärkt sich ihre Zahl wieder, da viele Frauen, nachdem die Kinder einigermassen er- wachsen sind, die Arbeit wiederaufnehmen. Das männliche Geschlecht verstärkt sich nach Absolvierung der Militärjahre durch einige Jahre hindurch rasch, um dann etwa 10 Jahre schwankend auf derselben Höhe zu verbleiben und erst von der Mitte und dem Ende der 30er Jahre abzunehmen; vom 50. Lebensjahre an ist die Abnahme auffallend und rasch, ln der höchsten Altersklasse tritt die Zahl der Arbeite- rinnen gegenüber den Arbeitern meist sehr zurück. Damit korrespon- diert die bekannte Thatsache, dass in der gesamten, insbesondere der geschlossenen Armenpflege die betagten Frauen den Männern bedeutend an Zahl überlegen sind. Es stellt sich auch das durchschnittliche Lebensalter bei den Arbeiterinnen (mit 28 J. 8 M. 16 T.j weit niedri- ger als dasjenige der Männer (mit 33 J. 4 M. 21 T.) heraus. Dies ist um so bedeutungsvoller als in der Gesamtbevölkerung bekanntlich das Verhältnis umgekehrt ist.

Schon seit einigen Jahren liefern die österreichischen Inspektoren- berichte auch Beiträge zu den Bemühungen der deskriptiven National- ökonomen durch Beibringung von geschlossenen Gesamtschilde- rungen spezieller I ndust rieen oder industrieller Gegenden. Auch in dem vorliegenden Berichte begegnen wir drei ähnlichen Exkursen und zwar einer Schilderung der Kleineisenindustrie in Oberösterreich mit besonderer Rücksicht auf das bekannte Verlegerunwesen, dann der Posamenterie-Industrie im Erzgebirge und der Eisenwarenindustrie im Stubaithale. Die meist ganz bescheiden und kurz als Anhang zu den F-inzelberichlen auftretenden Beschreibungen verdienen volle Be- achtung und sollten bei der Berichterstattung überhaupt recht in Auf- nahme kommen.

Durch alle diese ausser-programmmässigen Exkurse haben die Berichte den Beweis erbracht, dass sie stellenweise das statistische Gewand sehr gut vertragen und zu einer hervorragend wichtigen Quelle der Sozialstatistik in Oesterreich um so mehr die Eignung haben und haben sollten, als es an einer solchen bisher vollkom- men fehlt.

Ehe ich diese wenigen Zeilen über eine so wichtige soziale Pub- likation ende, möchte ich nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, dass die Stellung, welche der Staat , resp. seine Militär- und Finanzverwal- tung gegenüber den sozialpolitischen Bestrebungen einnimmt, gerade keine förderliche ist. Als eine stets wiederkehrende Ursache der Be- willigungen von Sonntagsarbeit stellten sich die Anforderungen der Heeresverwaltung heraus, welche stets von grösster Dringlichkeit sind.

Archiv für sox. Geseugbg. u Statistik. III u IV. <11

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Miste Uen.

Häufig wird ferner beim Bau von Arbeiterwohnungen das Kasernen- System den Familienhäusern aus Rücksichten der Steuererspamis vor- gezogen. Am charakteristischsten ist es jedoch , dass überhaupt eir Zweifel bestehen kann, ob die Arbeitsordnungen der StempelpSiek; unterworfen sind. Es wäre noch der beste Fall, wenn all’ dies nurit Unklarheiten der Gesetzgebung seine Ursache hätte.

Diese Widersprüche zwischen den einzelnen Verwaltungsgebieter eines und desselben Staates sind nichts gerade seltenes und finden sch meist dort, wo auf einem Gebiete eine reformatorische Bewegung Plan greift. Es ist dann immer eine geraume Zeit erforderlich, ehe sich die übrigen Verwaltungszweige den neuen Anforderungen auf dem refor- mierten speziellen Gebiete anpassen, da sie nicht unmittelbar von de: betrefienden Gesetzgebung berührt, sondern erst gleichsam indirekt in Mitleidenschaft gezogen werden. Man kann eine solche Erscheinung nicht gerade benützen , um der Gesetzgebung Lückenhaftigkeit vorzu- werfen ; es sollte jedoch jeder derartige Widerspruch darauf hindrang«, die übrigen Verwaltungszweige den administrativen Neuerungen an' dem speziellen Gebiete anzupassen. Um so mehr ist aber ein sol- cher Widerstreit begreiflich , wenn es sich um den F.intritt wesentlich geänderter Verwaltungsprinzipien in irgend einem Gebiete handelt, wir es eben bei dem Eindringen sozialpolitischer Grundzüge in den liben len Rechtsstaat der Fall ist. Hier ist dann auch die Beseitigung der Widersprüche schwieriger, aber jedenfalls ebenso notwendig.

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DIE SCHWEIZERISCHE FABRIKINSPEKTION IM JAHRE 1886/87.

VON

E. NAEF,

KANTONSSTATISTIKER IN AARAU.

Das schweizerische Bundesgesetz betreffend die Arbeit in den Fa- briken hat heute ein Jahrzehnt seiner Wirksamkeit hinter sich. Bei den grossen Schwierigkeiten, welchen die Durchführung dieses Gesetzes überall begegnete, mag es von 'nicht geringem Interesse sein, zu er- fahren, welche Erfolge bis jetzt mit der Fabrikinspektion erreicht wor- den sind und welche Uebelstände sich immer noch zeigen. Die beste Grundlage für diese Untersuchungen bieten die jüngst veröffentlichten Berichte der Fabrikinspektoren ').

Die Schweiz ist in drei Inspektionskreise eingeteilt. Der erste Kreis umfasst die Urschweiz und den grössten Teil der Ostschweiz, der zweite Kreis das nicht deutsche Gebiet und der dritte Kreis den übrigen Teil. Wegen Anhäufung der Geschäfte ist in jüngster Zeit dem Inspektor des ersten Kreises, Dr. Schüler, ein Adjunkt und dem Inspektor des dritten, Nüsperli, ein Kanzleigehilfe beigegeben worden, während der Inspektor des zweiten Kreises, Etienne, die Geschäfte allein besorgt. Die drei Inspektoren sind einander beigeordnet und stehen unter dem schweizerischen Industrie- und Landwirtschaftsdepar- tement. Strafbefugnisse besitzen sie keine, sie kontrollieren und be- gutachten bloss und bringen Gesetzesübertretungen zur Anzeige. Die Durchführung des Gesetzes und der damit zusammenhängenden Bundes- Tätlichen Verordnungen und Weisungen liegt den Regierungen der Kantone ob, welche hiefür geeignete Organe zu bezeichnen haben. Die Berichte der drei Inspektoren werden einzeln veröffentlicht. Auch werden jeweilen die Berichte der Kantonsregierungen über die Aus- führung des Fabrikgesetzes publiziert.

Aus den Berichten der Inspektoren geht hervor, dass ihre Geschäfte von Jahr zu Jahr zunehmen. Es rührt dies davon her, dass einerseits

H.

1) Berichte über üie Fabrikinspektion in her Schweiz 18S6 und 1887. R. Sauerlitnder 8“. 152 S.

4t*

Aarau, 188S.

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.1 fmrUtn.

neue gewerbliche Anstalten dein Fabrikgesetz unterstellt werden und die Haftpflicht nach und nach erweitert wird, und dass anderseits sowob Arbeiter als Unternehmer den Inspektor häufiger konsultieren. Das letz tere beweist deutlich, dass das Fabrikgesetz sich immer mehr einlebt, uni dass das Bestreben vorliegt, die vorkommenden Differenzen zw ischen Ar beiter und Unternehmer auf dem Boden des C.esetzes auszugleichen. Die Arbeit der Fabrikinspektoren wurde ohne Zweifel erleichtert, wenn dir l.age der Industrie eine bessere wäre. Diese wird als eine sehr ur günstige und in bezug auf Baumwollspinnereien und Webereien 1!* geradezu bedenkliche erklärt. Die Stickerei hat ebenfalls, wenigsten- teilweise, böse Schicksale erlebt. Wenn die Lage dieser Industrie siet nicht mehr verschlimmert hat, so ist es einzig der Vereinigung der bei der Stirkerci beteiligten Arbeiter, Fabrikanten und Kaufleute r. einem Stickereiverbande zu verdanken. Eine ähnliche Vereinigung haher. die gedrückten I.öhne der Uhrenindustrie in der Westschweiz ver- anlasst. Durch die Haftpflicht für innere Krankheiten sind auch die Ziindholzfabriken des Frutigerthals gezwungen worden , sich zu eiaer Genossenschaft zu vereinigen, welche jeder Fabrik eine bestimmte Pro- duktion vorschreibt und den Verkauf besorgt. Kleinere Fabriken sin- geschlossen worden. Die Fabrikation kann nun mit grösserer Sorgfalt betrieben werden, für die Waare wird mehr gelöst und es steht dem- nach zu hoffen, dass nun auch das bisherige Trucksystem aufgehober werde. Besser wäre es allerdings, es würde das früher bestanden: Verbot der l’hosphor-Zündholzfabrikation wieder eingefuhrt

Auf Seite der Unternehmer fehlt es nicht an Stimmen, welche für die ungünstige Geschäftslage das Fabrikgesetz verantwortlich mach« wollen, indessen finden sie nicht viel Glauben, da die Hauptursacher sichtbar an anderen Umständen liegen. Indes davon ganz abgesehen, dar! die Beurteilung des Fabrikgesetzes weniger vom geschäftlichen Stand punkte aus geschehen, als nach den Folgen für das körperliche und mo- ralische Wohl der Arbeiter. Und gerade in dieser Hinsicht hat dar Gesetz unbestritten ganz erhebliche Fortschritte bewirkt.

Es ist heller geworden in vielen Fabrikräumen und die Arbeiter atmen eine gesundere l.uft ein. Man sieht jetzt häufig Ventilationsklaf.[- fenster und Glasjalousien. Der gute Einfluss der Fabrikinspektion zcif sich sogar hei Privatwohnungen. Neubauten von Fabriken werden nur bewilligt, wenn die Pläne den gestellten Anforderungen der Ge- werbehvgieine und des Arbeiterschutzes entsprechen. Allerdings kommt es, trotz der Inspektion, vor, dass Pläne gar nicht oder recht rer spätet eingereicht werden. Am schwierigsten sind die Verbesserung« in alten Lokalen; Aenderungen sind hier oft nicht möglich, oder de: Besitzer scheut die Kosten. Besseres Licht bringt dem Arbeiter jet r. die elektrische Beleuchtung, welche immer mehr die ungenügende Pe troleumbeleuchtung ersetzt. Gegen die Beschaffung besserer Luft straub:

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Na cf, Die schweizerische Fabrikinspektion im Jahre iSSölSf. 637

er sich merkwürdiger Weise oft noch mehr als der Unternehmer. Und doch gibt es noch manche Fabrikräume. wo bessere Ventilation so nötig wäre. In den Seidenwebereien und -windereien hat I)r. Schüler einen Kohlensäuregehalt von 2,21 #/oo im Mittel gefunden und als lehr- reichen Vergleich führt er an , dass eine Messung im Schweinestall der Milchfabrik Cham 2,2 '"A>» ergeben habe! Uebrigens liegt, wie In- spektor Etienne nachweist , die Gefahr nicht nur im grossen Kohlen- säuregehalt der I.uft, sondern in der ausgeatmeten Luft überhaupt, welche nach den Untersuchungen von Brown-Sequard und d’Arsonval eines der heftigsten Gifte enthält.

Recht erfreuliche Resultate weist die Thätigkeit der Fabrikinspek- tion für bessere Schutzvorrichtungen auf. Die Zahl der Unfallsanzeigen nimmt zwar zu, aber es rührt dies davon her, dass die Haftpflicht auf neue gewerbliche Betriebe ausgedehnt worden ist und infolge ver- schärfter Weisungen des Bundesrates an die Kantonsregierungen , die Unfälle genauer angezeigt werden. Alle Unfälle kommen indessen immer noch nicht zur Kenntnis der Behörde. Man wird auch sonst mit den Zahlen sehr vorsichtig umgehen müssen , da der Zufall eine grosse Rolle spielt. Immerhin lässt sich der Schluss ziehen, dass so- wohl die Zahl der Todesfälle als die Zahl der schweren Fälle und der langen Heilungszeiten abgenommen hat. Auch ist der Durchschnitt der Arbeitsunfähigkeit durch Verletzungen gesunken. Sehr konstant bleibt die Zahl der Verletzten bei der Baumwollspinnerei, der Papier- fabrikation und Holzbearbeitung, ein Beweis der vielen Gefahren in diesen Betrieben. Nach den Untersuchungen von Dr. Schüler stellt sich die Zahl der Verletzten unter 18 Jahren etwas ungünstiger als vor zwei Jahren. Diese Verschlimmerung ist wohl teilweise der genau- eren Angabe kleiner Verletzungen zuzuschreiben, aber sie mahnt doch zur Vorsicht bei der Beschäftigung und namentlich zur Vermeidung jeder Ueberanstrengung jugendlicher Arbeiter durch Ausdehnung der Arbeitszeit, welche in der Regel die Zahl der Verletzungen vermehrt. Wie aus den Zusammenstellungen der Inspektoren hervorgeht, sind am meisten die Hände, Finger und Augen den Verletzungen ausgesetzt; ein grosser Teil derselben ist aber nicht zu den gefährlichen Unfällen zu rechnen. Von den 3582 in den Jahren 1886 und 1887 zur An- zeige gebrachten Unfällen verliefen 25 mit Tod, unter diesen sind aber mehrere Fälle, in denen der Tod nicht im direkten Zusammen- hang mit dem Unfall steht, und andere hätten durch etwelche Vorsicht und Anbringen von Schutzvorrichtungen verhindert werden können.

Die Inspektoren dringen fortwährend auf Anbringung von Schutz- vorrichtungen, wo immer solche möglich sind, und führen durch Zeich- nungen den praktischen Nutzen derselben den Unternehmern vor Augen. Noch immer erfolgen viele Verletzungen an Treibriemen und Kreis- sägen, die durch einfache Vorrichtungen bedeutend reduziert werden

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Miszellen.

63S

konnten. Die Unterstellung der gewerblichen Gesundheitsschädigung durch Gifte unter die Haftpflicht hat das Gute gehabt, dass nun auch hier immer mehr Schutzvorrichtungen getroffen werden und man die giftigen Gase und die gesundheitsschädlichen Staubentwickelungen durch Ventilationseinrichtungen und durch Anbringen von Absaugeventila- toren zu entfernen sucht.

Die meisten Iietriebsunternehmer haben ihre Arbeiter gegen Un- fall v ersichert und zwar meistens für die Folgen der vollen Haftpflicht, oft aber auch gleichzeitig für nicht haftpflichtige Unfälle, Dass in letzterem Falle die Arbeiter zu Beiträgen an die Prämienzahlung bei- gezogen werden, ist nur billig ; es kommt aber auch vor , dass der Arbeitgeber bei Versicherung gegen blosse Haftpflicht die Prämie a:f die Krankenkasse teilweise oder ganz abladet, oder dem Arbeiter ;; ja selbst über 100 der Unfallsprämie von seinem Lohne abzieht. Die Inspektoren suchen nach Kräften diesem Unfug zu steuern und die Möglichkeit ist ihnen jetzt hiezu geboten, da die Betrage der ge- leisteten Entschädigungen in Haftpflichtfällen, sowie die Quellen , wo- raus sie geflossen, den Behörden mitgeteilt werden müssen.

Gesetzwidrige Lohnabzüge scheinen überhaupt häufig vorzukommen Am schlimmsten steht es in dieser Hinsicht bei den Uhrenfabriken Am Zahltag erscheinen auf dem Bureau oft Krämer, Wirte, Bäcker. Metzger, der Schneider etc., selbst der Steuereinnehmer und sogar der Gerichtsbote; ohne Vorwissen und Einwilligung des Arbeiters wird das schuldige Guthaben vom Arbeitslöhne abgezogen, so dass dem Arbeiter fast nichts mehr übrig bleibt und er die folgenden vier Wochen wieder auf Kredit leben muss. Die monatlichen Zahltage erweisen sich hier als ein Uebel.

Um allfällige Harten des nstündigen Normalarheitstages zu mil- dern, gestattet das Fabrikgesetz Ueberzeitbewilligungen. Die Zahl der- selben ist immer noch eine sehr grosse. Lebhafte Klagen erTegt dabo die ungleiche Würdigung der nämlichen Gründe durch die verschiedenen kantonalen Behörden. Es liegt darin, sagt Inspektor Dr. Schüler, eine grosse Ungerechtigkeit, die immer lebhafter, selbst bei den Industriellen, den Wunsch auftauchen lässt, es möchten beschränkende Bestiiunrunger für die Erteilungen der Ueberzeitbewilligungen aufgestellt werden, wie sie in England längst bestehen. Dabei wäre namentlich ins Auge za fassen, dass die «pressante Arbeit« nicht mehr so leicht als Bewilli gungsgrund anerkannt werde. Die allzugrosse Laxheit in dieser Be- ziehung fördert die grossen Schwankungen in der Intensität des Be- triebs Jedenfalls wird durchaus nicht mit pedantischer Strenge atr nstündigen Normalarbeitstage festgehalten, sondern man trägt allen Bedürfnissen der Industrie in zuvorkommendster Weise Rechnung, ji entspricht hie und da ungerechtfertigten, unbescheidenen Begehren mit allzugrosser Nachsicht. Es fehlt auch nicht an mehr oder weniger

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Naef, Die schiueizerische Fabrikinspektion im Jahre lSS6!8j. 639

schlauen Versuchen, das Gesetz zu umgehen, namentlich sind die Baumwollspinner in diesem Kapitel Virtuosen.

Die Vorschriften des Gesetzes über die Beschäftigung von Frauen und Wöchnerinnen werden nach den Berichten der Inspektoren besser beobachtet als früher, dagegen kommt immer noch gesetzwidrige Ver- wendung von Kindern unter 14 Jahren vor. Diese werden mit allen möglichen Mitteln einzuschmuggeln versucht. Besucht der Inspektor eine Fabrik, so wird den übrigen Fabriken in der Nachbarschaft die Ankunft desselben avisiert und die Kinderschaar rechtzeitig in sicheres Versteck gebracht.

Solchen Gesetzesumgehungen können nur die kantonalen Aufsichts- organe Vorbeugen, die öfter und in kürzeren Zwischenräumen die Fa- briken besuchen sollten. Der Fabrikinspektor kann in der Regel nur alle 2 Jahre einmal das gleiche Etablissement besuchen, so dass die Leute, wenn die Inspektion vorbei ist, wieder wohlgemut weiter sün- digen können, wenn die Ortsbehörden ihrer Pflicht nicht nachkommen.

Man hat vorgeschlagen, die Zahl der Fabrikinspektoren zu ver- mehren; allein trotz dieser Vermehrung, gegen die sich wenig ein- wenden lässt, wird doch der Vollzug des Fabrikgesetzes ein mangel- hafter sein , so lange nicht für gehörige Beaufsichtigung durch die Lokalbehörden gesorgt wird. Die Regierung des Kantons Aargau hat denVersuch machen wollen, besondere G e m e i n d e fab rikau fse he r einzuführen ; allein trotzdem der Bundesrat diese Organisation gut hiess, sah sich die Behörde infolge des Widerstands von Seite der Industri- ellen genötigt, die Beaufsichtigung nur ganz allgemein den Gemeinde- behörden zu übertragen, welche ihrerseits die ihnen auferlegten Funk- tionen Mitgliedern der Behörde oder dem Gemeindeschreiber zuweisen müssen. Diesen liegt ob, die Fabriken zu überwachen, durch öftere Besuche sich zu überzeugen, dass keine Kinder unter dem gesetzlichen Mter beschäftigt werden und dass die Arbeitszeit genau dem Gesetze entsprechend beobachtet werde. Die Aenderung besteht darin, dass l.eute zu Aufsehern gewählt werden, die schon ihres Amtes wegen vorsichtiger auftreten müssen und nicht so unabhängig sind, wie ausser- halb der Behörde gewählte Personen. Sehr bedauerlich ist es, dass der strenge Vollzug des Fabrikgesetzes gerade in eine Zeit fällt, wo die Industrie in gedrückter Lage ist und dass anderseits die Kantone mangels einer einheitlichen eidgenössischen Vollziehungsverordnung in verschiedener Weise Vorgehen, wodurch die Arbeitgeber in den ein- zelnen Kantonen ungleichmässig behandelt werden. Namentlich das letztere erschwert die Durchführung des Fabrikgesetzes ungemein.

Ganz besondere Aufmerksamkeit widmen die Inspektoren mit Recht den Krankenkassen. Die von ihnen aufgedeckten Missstände haben in jüngster Zeit den Bundesrat veranlasst, den Kantonsregie- rungen strenge Weisungen zu geben. Unter den Missständen sind na-

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Misullen.

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mentlich hervorzuheben der Ausschluss der Arbeiter von der Verwal- tung der Krankenkasse, trotzdem dieselben Beiträge leisten und zwar oft mehr als der Arbeitgeber, ferner die Anlage des Vermögens bet den Unternehmern häufig ohne Verzinsung oder doch meistens ohne Sicherstellung, so dass bei eintretender Zahlungsunfähigkeit des Unter- nehmers das Kapital sehr leicht verloren gehen kann. Da der Bundesrat glaubt, dass ihm die Kompetenz zum Einschreiten fehle, so hat er den Kan- tonen empfohlen, die Verwaltung der Fonds der Fabrikkrankenkassen staatlicher Aufsicht zu unterstellen und alljährliche Kenntnisgibe des Standes derselben an die versicherten Arbeiter, sowie vollständige Sicher- stellung des bisherigen Vermögens einzuführen. Nun fehlt aber den meisten Kantonen die gesetzliche Grundlage für ein derartiges Ein- schreiten ebenfalls, sie müssen sich dieselbe erst schaffen, statt dessen aber wäre es wohl besser, der Bund würde die Sache einheitlich ord- nen, weil sonst wieder eine die Unternehmer sehr erbitternde ungleich- massige Behandlung derselben eintritt.

Die Notwendigkeit der Regelung des Krankenkassenwesens durch den Bund ist ohnedies nur eine Zeitfrage. Mittlerweile gehen einzelne Kantone selbständig vor. Der Kanton St. Gallen hat eine obligato- rische Krankenversicherung für alle Aufenthalter seit einigen lahm eingeführt nach dem System der Gemeindekrankenkassen Im Kanto: Aargau liegt gegenwärtig ein Entwurf vor dem grossen Rat, nid welchem alle Lohnarbeiter gegen Krankheit versichert werden sollet, ebenfalls nach dem System der Gemeinde- resp. Bezirkskassen. Auch die Behörden der Kantone Zürich, Baselstadt und Genf beschäftiget sich mit ähnlichen Entwürfen.

Ziehen wir aus unseren Untersuchungen über die Wirkungen de Fabrikgesetzes nach den Berichten der Inspektoren den Schluss so geht er dahin, dass das einst vielangefochtene Gesetz sich immer mehr in unserer Bevölkerung einlebt und den Arbeitern zur gross« Wohlthat wird. Wenn der Durchführung des Gesetzes noch vielt Mängel anhaften , so werden sich mit der Zeit Mittel und Wege finden , dieselben zu beseitigen. Man wird aber beim Fabrikgeset; nicht stehen bleiben dürfen , sondern auf dem Gebiete der Ai- beiterschutzgesetzgebung vorwärts schreiten. Bereits hat der Kanton Baselstadt durch Gesetz die Wohlthaten, welche das Fabrikgesetr Arbeitern gewährt, auch auf die Frauen und Kinder ausgedehnt, die in anderen , nicht unter dem Fabrikgesetz stehenden Gewerben be- schäftigt sind Zu diesen Gewerben zählen alle diejenigen, in welch« drei Frauenspersonen oder mehr gewerbsmässig arbeiten, oder ma- chen überhaupt Mädchen unter 18 Jahren als Arbeiterinnen oder ah

1) Vgl. Bücher, Prof. Dr. K., Das Baselstädtische Gesetz betr. den Schott da Arbeiterinnen. Archiv, Bd. I, 11. 2, 8. 320 fg.

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Naef, Die schweizerische Fabrikinspektion im Jahre 1886/87. 641

Lehrtöchter beschäftigt werden. Mit dieser Bestimmung werden die vielen Modistinnen- und Schneiderinnen-Werkstätten betroffen , die keine Arbeiterinnen, sondern nur Lehrtöchter beschäftigen und die bisher oft in einer unerhörten Weise, besonders durch allzulange Arbeitszeit, Nacht- und Sonntagsarbeit ausgebeutet worden sind , was in der Rint- wickelungsperiode für die Gesundheit von besonders grossem Nach- teile ist.

Die Behörden des Kantons Aargau werden in kurzer Zeit ähnlich vorgehen müssen, da die neue Staatsverfassung, welche eine Reihe von sozialpolitischen Postulaten enthält, ausdrücklich den Grundsatz der Sonntagsruhe anerkennt und den Staat verpflichtet, schützende Be- stimmungen gegen die gesundheitsschädliche Arbeitsüberlastung zu treffen. Andere Kantone werden nachfolgen, aber auch der Bund wird nicht Zurückbleiben können, nachdem bereits die Ausdehnung des Ar- beiterschutzes auf das gesamte Gewerbe als Postulat der künftigen eid- genössischen Gewerbegesetzgebung aufgestellt wird.

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DAS SWEATING-SYSTEM IN ENGLAND.

VON

SAMUEL MOORE.

RECHTSANWALT IN LONDON.

Am 28. Februar 1888 wurde von dem Hause der I.ords ein eigenes Komitee »zur Untersuchung des Swcating-Systems im Ostende >ot London« eingesetzt. Der erste Bericht dieses Komitee s ist kurtii veröffentlicht worden '). Der Bericht selbst nimmt nicht mehr als pcc halbe Seite ein. Nachdem zunächst angeführt worden ist, dassZe-JEtr in der Schuhmacherei , Schneiderei, Möbeltischlerei, Tapeziererci er: anderen Gewerben vernommen wurden, sagt der Bericht weiter, da* sdas Komitee folgende Bemerkungen zu machen wünscht:

»1. Nach der Ansicht des Komitee's ist in den Lokalitäten, auf weift; die Untersuchung sich erstreckt hat, das Vorhandensein schwerer l eb stände in bezug auf das, was unter der Bezeichnung Sweating-Srstci bekannt ist, durch die aufgenommenen Zeugenaussagen genügend tun- gewiesen. Die Mitglieder des Komitee’s haben Grund zu glauben, dw dieselben oder ähnliche Umstände auch in anderen Teilen der Mdr> pole, sowie in grösseren und kleineren Städten vorherrschen, und (D- auch verschiedene andere noch nicht untersuchte Industriezweige '•* runter zu leiden haben; ihre Anschauung in dieser Hinsicht wird den 1 zahlreiche Resolutionen und Gesuche, die von Gesellschaften und 1 ' Einzelnen eingegangen sind, und worin um Ausdehnung der Isis- suchung gebeten wird, bestärkt. Auch scheint es, dass in den hier » Betracht gezogenen Gewerben viele I’ersonen Geschäfte in versehe denen Stadtteilen Londons und auch auf dem Lande betreiben.*

>2. Infolge dessen ist auf Grund einer Anweisung, die das Inte' suchungsgebiet auf das Ostende Londons beschränkt, eine erschöpft»“ Untersuchung nicht möglich und das Komitee empfiehlt daher ent solche Ausdehnung seiner Befugnisse, die es in den Stand setzt, sei« Untersuchungen auf das ganze Gebiet der Hauptstadt, sowie auf die-

I) First Report front the select Committee of the Iluuse of Lords on t he s*fi' ting-System , toßether with the proceedings of the Committee, Minules nf eeJrÄt and Appendix. London, 1888. 1048 .Seilen, Preis II s.

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Moore, Das Swealiug-Syslem in England. 643

jcnigen anderen Städte oder ländlichen Bezirke auszudehnen, die ihm dienlich erscheinen.«

»Auch hat das Komitee veranlasst, dass das von demselben bis jetzt aufgenommene Beweismaterial, zusammen mit einem Anhang, Euren Lordschaften vorgelegt werde.«

Das Beweismaterial allein nimmt den grössten Teil des Berichtes ein, nämlich 1016 von 1048 Seiten. Es kann die Analyse dieser Masse von Material nicht die Aufgabe einer kurzen Besprechung sein. Indes Eines ergibt sich auch für die oberflächliche Betrachtung mit grosser Sicherheit , dass das Vorhandensein all’ der Missstände, die Herr Burnett, der I.abour correspondent des Handelsamtes, in seinem Bericht vom Februar :888 geschildert, vollkommen erwiesen ist. (Vgl. Baernreither, Statistik über Arbeitslose in England im 1. Heft des Archivs, S. 60 f.). Der Bericht des Herrn Bumett befasst sich indessen nur mit dem Schneider-Gewerbe. Das Komitee dagegen hatte ein grös- seres Feld für seine Untersuchungen, und die gesammelten Thatsachen sind, wie in dem Bericht erwähnt ist, verschiedenen Gewerben ent- nommen. Das Resultat der Untersuchungen ist, dass, wenngleich in dem Schneider-Gewerbe eine der Hauptstützen jenes Systems zu finden ist, dasselbe auch in zahlreichen anderen Gewerben und besonders in der Kunsttischlerei und in der Schuhwaren-Fabrikation in ausgedehnter Weise betrieben wird.

Es ist auch noch ein anderer Gesichtspunkt, den das Beweis- material ans I.icht bringt: das ist die gänzliche H i 1 fl o s i gk e i t dieser von übermässiger Arbeit, ungenügender Nahrung und gesundheits- widrigen Zuständen niedergedrückten Leute, ihren Arbeitgebern irgend welchen Widerstand entgegenzusetzen oder Schritte zu thun, um eine kürzere Arbeitszeit oder eine Arbeiterschutz-Gesetzgebung zu erlangen. Das System der langen Arbeitszeit ist in der Schuhmacherei vielleicht schlimmer als in jedem anderen Gewerbe. Herr Arnold White schildert in seinen Zeugenaussagen (S. 40 des Berichts) die Lage dieser Leute in srr sprechender Weise, dass ein kurzer Auszug aus seinen Aufzeich- nungen von Interesse sein dürfte. Er sagt: »Der Beweis wird Euren Lordschaften vorgelegt werden, dass irgendwelche Versuche von Seiten der Arbeiter, sich zur Erreichung der drei Zwecke oder einer der drei Zwecke zu verbinden, nämlich die Verminderung «ler Arbeits- stunden , die Verbesserung der auf Zwischenverträgen beruhenden Lohnverhältnisse und die Anregung beim Parlament zur Registrierung der Werkstätten, und das ist es, was sie wollen von den Meistern mit sehr missliebigen Augen betrachtet wird und augenblickliche Entlassung der Schuldigen zur Folge haben würde. . . Verbindungen, ja selbst nur Anregungen in dieser Hinsicht werden in den meisten Fällen als Auf- lehnung betrachtet, und der Kampf ums Dasein zwingt die Leute, auf jede Bedingung einzugehen, denn wo Einer sich weigert, findet

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Miszellen.

sich ein Dutzend Anderer bereit, um den Hungerlohn zu arbeiten. Die ungeheure Länge der Stunden, die regelmässig in der jetzigen Jahres zeit von den in der Schuhmacherei Beschäftigten gearbeitet wird, is in den anderen Gewerben ohne Gleichen. So lange man Arbeit erhalt wird weitergearbeitet bis die Natur zusammenbricht. Von 6und;ltu des Morgens bis n oder 12 Uhr und noch später in die Nacht, and keine ungewöhnlichen Zeiten. Ich habe mir Mühe gegeben, dis durch eine Menge Besuche nach Mitternacht festzustellen, bei den« ich die Leute noch fest bei der Arbeit fand. Männer von 40 Jahren sind alte gebrochene Leute. Kümmerliche und gehaltlose Nahrung u:: ihre Wirkung auf das Loos auch der nächsten Generation. Das Leb« dieser im Schweiss arbeitenden Leute ist so hoffnungslos und trüb- selig, dass ihre Gefühle gegen die Ordnung der Dinge ganz natürlich, bitter und heftig sind. ... F.s ist nicht zu verwundern, dass Mensch«, die unter solchen Verhältnissen leben, das Material für die revolutio- näre Propaganda darbieten. «

Dieses traurige Bild der Zustände eines einzigen Bruchteils des Proletariats im Ostende von London darf ohne Uebertreibung als be- zeichnend für die grosse Masse jenes Proletariats gelten. Das Gebäude der Londoner Gesellschaft, dies kann in Wahrheit behauptet werder ruht auf einem schlummernden Vulkan, dessen niedergezwängte Ge*n früher oder später die Fesseln sprengen und den darüber liegende Bau hinweg fegen wird. Je länger die Explosion niedergehalten wird, desto heftiger wird sie werden.

Bemerkenswert ist in dem Bericht die Behauptung des Komitees dass das Sweating-System ausser in London auch in anderen Stadt« des Königreichs vorherrscht. Dass es in Birmingham, Manchester ucc Liverpool existiert, ist eine längst bekannte Thatsache, aber bisher iS darüber keinerlei offizielle oder sonst zuverlässige Statistik veröffent- licht worden. Seit dem Erscheinen des in Rede stehenden Bericht indessen hat das Handelsamt einen von Herrn Burnett verfassten, von 8. Juni 1888 datierten Bericht über das Sweating-System in Leeds herausgegeben Dieser Bericht ist von grossem Interesse, weil «t zeigt, welch' heilsame Wirkung durch die unmittelbare Berührung und Verbindung mit dem energischeren und besser organisierten Proletariat im Norden Englands auf die unter dem Sweating-System arbeitend« Juden in Leeds ausgeübt wird.

Vor fünfundzwanzig Jahren gab es noch nicht so viel Juden in Leeds, um eine Synagoge zu füllen. Gegenwärtig beläuft sich die Zahl derselben auf 8000, wovon viele in der Kleider- und Schuh*'«®-

1) Copy of Report to the Board of Trade on the Sweating System in beerb the Labour Correspondent of the Board. Presented to both Mooses of rarlaaeie by command of Her Majesty. London 1888. 6 Seiten, Preis I d.

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Moore , Das Sweating-System in England. 645

Fabrikation unter dem Sweating-System arbeiten. Ungefähr 3000 der- selben sind allein in der Kleiderfabrikation beschäftigt. Da Leeds der Mittelpunkt der Tuch-Industrie von Yorkshire ist, wird die Fabri- kation von Herrenkleidern in ausgedehnterWeise in grossen Fabriken betrieben, deren Besitzer auch bedeutende Aufträge an Mittelspersonen vergeben, welch letztere sowohl die männliche wie weibliche jüdische Bevölkerung in der Ausführung ihrer Verträge beschäftigen. Diese Vermittler oder »Schweisser« (sweaters) betreiben das Geschäft auf weit grösserem F'usse, als dies gewöhnlich bei derselben Klasse von Leuten in London der Fall ist. Wenn am letzteren Platze ein Schweisser mit 8 oder 10 Maschinen arbeitet, so heisst es, er mache ein grosses Ge- schäft; in Leeds dagegen wird ein solcher nur als kleiner Unternehmer angesehen. Die durchschnittliche Zahl von Maschinen, die ein Schweis- ser in Leeds besitzt, ist ungefähr 25, einige jedoch haben deren bis zu 40 und zwar mit Dampfmaschinen oder Gasmotoren zum Betrieb der- selben. Es ist ein Resultat dieser Verhältnisse, dass in Leeds die Verteilung der Arbeit eine bessere ist. Für einen einzelnen Arbeits- zweig, wie das Anfertigen von Knopflochern, oder das Aufnähen der Knöpfe, ist hier die Möglichkeit geboten, dass dies die ausschliessliche Beschäftigung eines einzelnen Arbeiters bildet. Dies ist in London nur selten der Fall. Eine andere Folge davon ist die, »dass die Arbeit in Werkstätten von angemessener Grösse, von ziemlicher Reinlichkeit und guter Ventilation, und unter der l'eberwachung der Fabrik-Inspek- toren verrichtet wird. Dadurch ist nicht nur der gesundheitliche und moralische Zustand unter den Arbeitern ein besserer, sondern auch die Arbeitszeit ist eine kürzere.«

Der wohlthätige Einfluss hiervon zeigt sich in der grösseren Ener- gie und daraus hervorgehender Organisation der Arbeiter. Vor etwa 7 oder 8 Jahren bildeten die Schneider einen Gewerk-Verein, mit zwar anfänglich schwacher Beteiligung, der jedoch schliesslich auf 1200 Mit- glieder anwuchs, und dieser Verein ist erst vor kurzem an den l.eedser Gewerkvereins-Rat (Trades-Council) angeschlossen worden. Dies hat die Leute in den Stand gesetzt, durch Androhung eines Strikes, wenn nicht durch thatsächliche Ausführung eines solchen, von ihren Arbeit- gebern günstigere Bedingungen zu erzwingen. Im Ganzen genommen ist der wöchentlich netto verdiente Arbeitslohn gegenwärtig nicht weit verschieden von dem in London verdienten, da aber die Arbeitszeit eine kürzere und ilie gesundheitlichen Verhältnisse so viel bessere sind, so ist das Los der Arbeiter unter dem Sweating-System in Leeds, wenn auch noch keineswegs ein beneidenswertes, immerhin ein Para- dies im Vergleich zu dem ihrer Londoner Kollegen. In dem Bericht des Herrn Burnett ist ein Verzeichnis der in Leeds bezahlten Arbeits- löhne enthalten, aus dem sich der Leser selbst einen Vergleich bil- den kann.

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Miszellen.

Zu bedauern ist der Umstand, dass das Komitee es nicht für ts- gemessen befunden hat, das ihm vorliegende Beweismaterial zu ist lysieren und darüber eingehend zu berichten. Wenn die Untersuchucf weiter ausgedehnt würde, dürfte es wahrscheinlich Jahre beanspruch«, bis der Schlussbericht angegeben werden kann, und wie lange man da nach wohl dann noch auf Abhilfe durch die Gesetzgebung zu »arte: haben wird, lässt sich unmöglich Vorhersagen; und das ist der Fal. trotzdem allgemein das Bewusstsein herrscht , dass die Lage diese: Arbeiter nach sofortiger und durchgreifender Gesetzgebung schreit Aber die Gesetzgeber drückt der Schuh nicht und ihre Wähler störer diese Uebelstände gleichfalls nur wenig. Daher ist ihr Motto: Eilt mit Weile.

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LITTERATUR.

Report on the Slatistics of li'ages in Manufacturing Industries ; with supplementary reports on the Average Retail Prices of Necessaries of Life, and on Trades Societies, and Strikes and Lockouts, by Jos. D. VVeeks, Special Agent. Tenth Census. Washington 1886.

Der vorliegende Bericht, welcher den XX. Band des grossen ameri- kanischen Zensuswerkes vom Jahre 1880 bildet, verdient noch jetzt trotz seines verhältnismässig späten Erscheinens schon aus dem Grunde alle Beachtung, weil er den ersten bedeutsamen Versuch darstellt, im Unterschiede von den auf einzelne Unionsstaaten beschränkten sozial- statistischen Erhebungen, wie sie bis dahin die arbeitsstatistischen Bu- reaus dieser Staaten durchgeführt hatten, einige der wichtigsten sozialen Phänomene für das Gebiet der ganzen Union statistisch zu erfassen, welche Aufgabe seit dem Jahre 1885 mit der Gründung des national bureau of labor in Washington auf dieses Amt übergegangen ist.

Wie schon aus dem Titel der Publikation ersichtlich ist, umfasst dieselbe die Ergebnisse von vier Spezialerhebungen. Der umfangreichste Teil der Arbeit ist eine Statistik der Lohne der in den hervorragen- deren Industriezweigen, im Baugewerbe und in der Bergwerksproduktion beschäftigten Arbeiter. Die Absicht war hiebei nicht auf eine voll- ständige Erfassung der Lohnverhaltnisse, wie sie in den erwähnten Produktionszweigen im Jahre 1880 bestanden, sondern vielmehr darauf gerichtet, den wechselnden Stand der Löhne der industriellen, Bau- und Bergarbeiter für eine möglichst weit zurückreichende Zeitperiode zur retrospektiven Darstellung zu bringen. Die landwirtschaftlichen Arbeiter blieben prinzipiell von der Erhebung ausgeschlossen. Im übrigen aber waren die Grenzlinien der Aufnahme, was ihre Ausdeh- nung betrifft, nur sehr lose abgesteckt. Es sollte zur Ergänzung der grossen Rechenschaftsberichte über die gesamten wirtschaftlichen Ver- hältnisse der Republik, welchen Charakter ja die amerikanischen Zen- sus^uifnahmen an sich tragen, ein weiterer Beitrag geliefert und zugleich eine Lücke der früheren Aufnahme ausgefüllt werden. Zu dem Ende glaubte man sich damit begnügen zu können, aus den verschiedenen Industriezweigen auf Grund des Gutachtens von Vertrauensmännern und sonst zugänglicher Informationen eine Anzahl besonders hervor-

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I.itleralur.

ragender Unternehmungen oder Ktablissements auszuwählen, Und dz weiters, die Ausfüllung der Lohnlisten nicht nach einheitlich festgestc ten Klassen der Lohnhöhe unter gleichzeitiger Angabe der Zahl da Individuen , welche die solcherart ausgewiesenen Lohnsätze geniesser sondern vielmehr nach den durch die Arbeitsteilung bedingten Abstj ungen der beschäftigten Arbeiter erfolgen sollte, so konnten überuic nur solche Arbeitszweige in die Aufnahme einbezogen werden, «rein: in den letzten drei Dezennien von der in Nordamerika so rasch m wärtsschreitenden Teilung der Arbeit am wenigsten berührt vorder waren.

Als Vorbild für diese Art der Durchführung des Problems diente wohl die mehrfachen Mitteilungen über englische Lohn Verhältnisse, welche in den » M iscell an eo u s Statistics of the United Kingdonu enthalten sind. Die Richtigkeit dieser Vermutung ist deshalb umso wahrscheinlicher, weil die letzteren Angaben im vorliegenden Bericht eles elfteren vergleichsweise angeführt werden. Nach der ganzen sonst gen Anlage aber ist die amerikanische Lohnaufnahme ebenso oripne; wie trotz aller Mängel, die ihr in Bezug auf die technische Durchrtr ung der Erhebungen und die Aufarbeitung ihrer Ergebnisse anhiftec - wir kommen darauf gleich zu sprechen höchst bedeutsam. Sette: dem äusseren Umfange nach ist die Arbeit die grösste Leistung, welche die administrative Statistik bis jetzt auf dem Gebiete des so uberzu- schwierigen lohnstatistischen Problems aufzuweisen hat. Nicht wenige als 627 Lohnlisten, die mit den zugehörigen Erläuterungen volle "! Seiten ausfullen, sollen uns den wechselnden Stand der Löhne 10 es 50 Industriezweigen, im Baugewerbe und in der Bergwerksproduktio: während der letzten Dezennien für das ganze Gebiet der Union nt anschaulichen. Unsere Ueberraschung ist beim ersten Anblick de Werkes 11m so grösser, je gewaltiger die räumliche Ausdehnung ■- Arbeitsfeldes war.

Wenn wir aber naher auf die .Arbeit eingehen, so kühlt sich unser: Bewunderung etwas ab. Gerade die in den räumlichen Verhältnis.-« liegenden Schwierigkeiten Hessen eine exakte Behandlung der Fragt nicht aufkommen. Es wurde darauf verzichtet, das Material durch Detailkonskription , welche unparteiische mit entsprechenden Mzd' Befugnissen ausgestattete Organe vorzunehmen gehabt hätten, zu arr mein. Man begnügte sich damit, die Aufnahme durch einen Teil ds Interessenten, d. h. die Arbeitgeber vollziehen zu lassen. Der einh- liehe Charakter der Erhebung aber sollte durch Ausgabe eines gleich förmigen Formulares gewahrt werden.

Dieses Formular war nicht wenig umfangreich. Es enthielt ® grossen und ganzen wieder sieben Teilformularien, an die sich «cd eine Zahl von Zusatzfragen anschloss.

Durch das 1. Teilformular war die Höhe der Löhne der r*

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Report on the Shitislics of Wages in Manufacturing Industries. 649

der Unternehmung beschäftigten Arbeiterkategorien für eine möglichst lange Zeitperiode nach dem näher zu bezeichnenden Zahlungsmodus (Tag-, Stücklohn u. s. w.) nachzuweisen. Es konnten ebensowol die faktisch gezahlten Löhne als auch der Durchschnittsverdienst (average earningst angegeben werden. Ausserdem wurde gefragt nach der Ent- lohnung der Ueberstunden und Feiertagsarbeit, nach den Naturalnutz- ungen, Lohnabzügen u. s. w.

Das 2. Teilformular sollte zur Erhebung der Lohnzahlungs- fristen dienen. Dieselben waren wo möglich vom Jahre 1830 ange- fangen für je fünf Jahre nachzuweisen. Anhangsweise war der Umfang des allenfalls noch herrschenden Trucksystems anzugeben.

Für die Erhebung der Arbeitszeit war das 3. Teilformular be- stimmt. Es sollte dadurch die Zahl der üblichen Arbeitsstunden gleich- falls für je fünfjährige Durchschnitte ermittelt werden. Im Anschlüsse hieran wurde zu allgemeinen Auskünften über die Ab- und Zunahme der Länge der Arbeitszeit , ihren Zusammenhang mit der Produktion, ihren Einfluss auf die Gesundheit der Arbeiter u. s. w. aufgefordert.

Von den vier übrigen Teilformularien bezog sich eines auf die Kontinuität oder regelmässige U n t e r brech ung des Betriebes, die drei anderen auf das Verhältnis der Höhe der Löhne zu den ge- samten Produktionskosten, woran sich wieder eine Reihe allge- meiner Kragen über jene Verhältnisse anschloss, welche sonst auf den Stand der Löhne Einfluss zu üben vermögen.

Trotz dieses scheinbar komplizierten Charakters des Formulares waren die Hauptfragepunkte nicht übermässig schwer zu beantworten, was bei der Art der Durchführung der Aufnahme besonders wichtig war. Da- gegen hatte man auf ein anderes Moment viel zu wenig Gewicht ge- legt, nämlich auf die Erzielung vergleichbarer Lohnlisten. Die Angaben fielen, wie man dies hätte voraussehen sollen, namentlich im Punkte des üblichen Modus der Lohnzahlungen und was die Zahl der zur Nachweisung gebrachten Arbeiterkategorien betrifft , sehr verschieden- artig aus.

Diesen Fehler hinterher zu korrigieren, war nicht leicht. Man suchte sich zu helfen, so gut es ging. Nach dem Rate von Fachmän- nern wurden die wichtigeren Arbeiterkategorien der verschiedenen In- dustriezweige und zwar diejenigen, welche in den letzten dreissig Jah- ren von der Arbeitsteilung am wenigsten beeinflusst worden waren, ausgewählt, für dieselben ein einheitlicher Zahlungsmodus, regelmässig der Taglohn, adoptiert und die auf diesen zurückgeführten »rektifizier- ten« Nachweisungen an die Unternehmer zur L'eberprüfung zurückge- leitet. Die von vorne herein schon unvollständige Erhebung musste infolge dieser Prozedur natürlich nur noch unvollständiger werden. Einzelne Industriezweige fehlen daher in der Publikation gänzlich und selbst sehr hervorragende sind verhältnismässig schwach vertreten. Die

Archiv für toz. Gesetzgbg. u. Statistik IM. u IV'. .12

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LitUratur.

zahlreichsten Nachweisungen liegen vor über die Löhne in der Muhl« industrie (47), Möbelfabrikation (41), Masrhinenindustrie 146 . Biua Wollindustrie (36), Papierindustrie (36), Wollindustrie (36). Von der Arbeitern des Baugewerkes fehlen gerade die beim Hauserbau bescha- tigten, welche die verhältnismässig zahlreichste Klasse bilden. Was die einzelnen Unionsstaaten betrifft, so finden sich am stärksten ver- treten : New-York mit 80, Ohio mit 72, Pennsylvanien mit 63, Massa- chusetts mit 49 Tabellen.

Der Grund dieses Misserfolges lag in dem geringen Entgehn kommen vieler Unternehmer. Die Zahl der versendeten Fragebogen war nämlich weit grösser, als man nach den vorstehenden Angib« zu meinen geneigt sein könnte. Sie belief sich für die wichtig«?! Industriezweige durchwegs auf mehr als 100 300. Allein nur ein ge- ringer Teil der verschickten Bogen gelangte an den Leiter der Ad nähme zurück , und auch von diesen mussten oft nicht wenige ihrer Unvollständigkeit oder anderer Mängel wegen bei Seite gelegt werden

Nach all' dem muss es wohl als eine Selbsttäuschung des Ver- fassers bezeichnet werden, wenn er behauptet, dass die so gewonnene! Daten den Durchschnittslohn der Industriebezirke, wo sich derStaK ort der zur Nachweisung gelangten F.tablissements dieselben werde nebenbei bemerkt regelmässig mit vollem Namen aufgefuhrt, soferx sie dagegen nicht ausdrücklich Verwahrung eingelegt hatten oder da Sitz der betreffenden Unternehmung befand, darstellten. Wenn min selbst von den sonstigen Unvollständigkeiten absehen will , so können doch unmöglich die Löhne der hervorragendsten Unternehmungen fa die sämtlichen Betriebe eines Bezirkes »typisch« sein.

Trotz dieser Lückenhaftigkeit der Erhebungen muss jedoch ine kannt werden, dass die Publikation eine Fülle von Material birgt welches für die Beurteilung der wirtschaftlichen und sozialen Vcrtuk- nisse der transatlantischen Republik von nicht geringem Werte ist

Die Lösung des lohnstatistischen Problems in Bezug auf die tech- nische Durchführung scheint uns hingegen durch die vorliegende Arb« wenig gefördert worden zu sein. Wie schon hervorgehoben wurde beruhen die Lohnnachweisungen durchwegs auf den Angaben des ein« Teiles der Interessenten, nämlich der Arbeitgeber. Die Arbeitersdur: wurde gar nirht zur Mitwirkung herangezogen, und auch sonst erse* man nicht, dass von Seite der statistischen Leitung irgend welche Kot- trolle bezüglich der Zuverlässigkeit und Richtigkeit der so gesammelter Daten geübt worden wäre , es sei denn , dass offenbar unvollständig oder verkehrte Nachweisungen ausgeschieden wurden.

Wir haben es sonach mit verantwortungslosen und unkontrolliert' Angaben zu thun. Da ferner die Nachweisung der Lohnsätze ausschfev lieh nach den durch die Arbeitsteilung bedingten Abstufungen Be schäftigtcn geliefert wurden , so fanden die Geschlechts- und Alten

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Deport on the Statistics flf li’ages in Manufacturing Industries. 651

Verhältnisse so gut wie gar keine Berücksichtigung. Ebenso vermissen wir, was ebenfalls schon berührt wurde, die Angabe über die Zahl der in den einzelnen Lohnsätzen stehenden Arbeiter, wovon nur selten, wie z. B. bei den Glasarbeitern, Ausnahmen Vorkommen. Die Anzahl der verschiedenen Arbeiterkategorien ist innerhalb desselben Industrie- zweiges bei den einzelnen Etablissements trotz des versuchten Redu- zierungsverfahrens keineswegs immer gleich, da in manchen Fabriken einzelne Arbeitergruppen überhaupt nicht Vorkommen, in den Nach- weisungen anderer Etablissements auch wohl mehrere Gruppen unter einer anderen , d. h. weiteren Bezeichnung zusammengefasst sein mochten. Die Bearbeitung der Lohnnachweisungen musste sich da- her auf die Wiedergabe der einzelnen Lohnlisten beschränken. Hin- gegen unterblieb die Konstruierung vergleichbarer Lohntabellen, welches Ziel die lohnstatistischen Aufnahmen Frankreichs und Belgiens anstreben. Anderseits aber schien diese Art der Bearbeitung den Vorteil zu bieten, dass alle jene Nebenumstände, welche die Lohnhöhe beeinflussen, mit zur Darstellung gebracht werden konnten. Es sollte hiedurch die richtige Würdigung der Lohnziffern erleichtert oder vielmehr ermög- licht werden.

Demgemäss wurde das Ergebnis der diesbezüglichen Fragen in Gestalt besonderer >remarks« den einzelnen Lohnnachweisungen ange- fügt. Hierin liegt nun allerdings gegenüber den lohnstatistischen Auf- nahmen Frankreichs und Belgiens, welche hierauf keine Rücksicht nehmen, ein gewisser Fortschritt. Soferne es sich aber darum handelte, diese Angaben für die Herstellung vergleichbarer Lohntabellen zu ver- werten, würden sich auch hier unübersteigliche Schwierigkeiten erheben. Solange es eben nicht gelingt , die jeweils nachgewiesenen faktischen Löhne auf gleichwertige Grössen, d. h. in der Art zu reduzieren, dass in ihrer Hohe alle jene Umstände, welche hierauf im konkreten Falle merklichen Einfluss üben, zum Ausdruck gelangen, wird jeder Versuch, vergleichbare Lohntabellen herzustellen, ein problematisches Beginnen bleiben, und die Frage immer von Neuem aufgeworfen werden müssen, ob die administrative Statistik überhaupt zu dergleichen ausgedehnten lohnstatistischen Arbeiten befähigt sei, oder ob sie sich nicht vielmehr auf die Anregung oder Durchführung von Spezialaufnahmen beschrän- ken solle ').

Der Verfasser des Berichtes scheint denn auch diese Schwierig-

I) Ob diese Schwierigkeit nicht wenigstens in jenen Staaten, welche ein Zwangs* kassenwesen besitzen, zu überwinden wäre, ist eine Frage, die hier nur berührt wer- den kann. Jedenfalls aber würde auf dieser Grundlage am sichersten und vollstän- digsten ein den thatsächlichcn Verhältnissen entsprechendes lohnstatistisches Material beschafft werden, weil dasselbe unter Mitwirkung, beziehungsweise Kontrolle beider Interessententeile zu stände gebracht und eventuell auch leicht amtlich richtig ge- stellt werden konnte.

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I.itterntur.

keiten selbst gefühlt zu haben. Wenigstens macht er keinen Versuch | das eigentliche lohnstatistische Material zu beherrschen und ein ein- gehenderes Bild von dem Stande und der wechselnden Gestaltung der Löhne, wie sich dasselbe auf Grund des publizierten Materiales für die letzten Dezennien ergeben würde, zu entwerfen. Nur mit einiger Zeilen (Pag. XIX f.) wird der Gang der Entwickelung dahin gekeun zeichnet, dass die Jahre 1853 1857 eine Periode steigender, die Jahre 1857 1863 eine solche sinkender Löhne bedeuten, worauf wieder eine Bewegung nach aufwärts folgte, die bis zum Jahre 1867 anhielt. Ein neuer Aufschwung trat in den Jahren 187* 73 ein, welcher unter dem Einfluss der grossen Krisis einer abermaligen Depression Platz machte Ebenso wird das Verhältnis der Lohnhöhe in den einzelnen Industne- zweigen und Landesteilen mit einigen allgemeinen Bemerkungen ab- gethan.

Nun mag man immerhin der Ansicht sein , das eine der- artige bis ins Detail gehende Bearbeitung des mitgeteilten Ziffernma teriales nicht Aufgabe eines statistischen Amtes sein könne. Allein eine so enge Auffassung ist dem Verfasser selbst nicht eigen gewesen 1

Er hat vielmehr die Nachweisungen Uber eine Anzahl von Fragepunkteu. welche den Hauptinhalt des 2. und 3. Teilformulares bildeten, in ein Gesamtbild vereinigt, welches für die Beurteilung des Entwickelung* Prozesses der nordamerikanischen Arbeiterverhältnisse nicht ohne In- teresse ist. Es sind dies die Nachweisungen über die Form derl.ohn- zahlung, die Arbeitszeit und Löhnungsfristen. Aus diesem Teile der Publikation wollen wir im folgenden einige Daten anführen.

Was zunächst die Angaben über die übliche Form der Lohniri lungen betrifft, so bezahlten einen Barlohn von 773 Industrieunterneb- mungen 681 oder 88 "/0.

Von den übrigen 92 Unternehmungen entlohnten mit Lebensrnitteln oder Waren

bis zu einem Viertel des Lohnes 18 bis zu drei Vierteln des Lohnes - » > » Drittel » » 8 zur Gänze » » 1

» zur Hälfte » » 26 in nicht näher angegebenem

> zu zwei Dritteln > » 2 , Verhältnisse F

Die Zahl der Unternehmungen, wo das Trucksystem noch o Uebung ist, stellt sich darnach nicht besonders hoch. Allein man darf nicht vergessen, dass, wie der Bericht selbst (pag. XXIII) erinnert diese Nachweisungen regelmässig von besonders hervorragenden E'1 blissements herrühren. Hätte sich die Umfrage auf sämtliche industrielle Betriebe erstreckt, so wäre das Bild wohl etwas anders ausgefallen Keinesfalls darf man bei der verhältnismässig geringen Zahl der Nach Weisungen diese Angaben für die gesamte amerikanische Industne s.s »typisch« betrachten wollen. Zudem muss sich die administrative M*

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Report on the Statistics of H'agts in Manufacturing Industries. 653

tistik auch hier der Grenzen bewusst sein, die sich für sie aus ihrer eigenartigen Natur ergeben. Volles Licht kann hier nur eine einge- hende, den Charakter der Enquete festhaltende Aufnahme bringen. Nur diese vermag dort einzudringen, wo die statistische Methode ver- sagt. Dass dies aber hier zum guten Teile der Fall ist, ergibt sich schon daraus, dass bei der weiten Entfernung, welche in Nordamerika oft die Betriebe von den Einkaufsplätzen trennt, die einzelnen Arbeiter häufig gar nicht in der Lage sein können , sich selbst Lebensmittel oder Waren zu verschaffen , so dass hier notwendigerweise die Unter- nehmungen eingreifen müssen.

Weit instruktiver sind aber schon die Nachweisungen über die Länge der Arbeitszeit. Es lagen hierüber 772 brauchbare Berichte vor, nach welchen sich die Länge, beziehungsweise Abnahme der Arbeits- zeit in der Epoche von 1830 bis 1880 folgendermassen gestaltet hat.

Von je 100 Berichten wiesen nach:

eine tägliche Arbeitszeit von

für das Jahr

00

1 * ;

0

9-10

10-11

II 12

12 13

13— '4

«Stunden

1830

5-4

•3-5

29.7

5-4

32-5

>3-5

•83s

4.1

10.4

35-4

8.3

29.2

12.6

1840

2.9

8-7

40.6

7-3

28.9

11.6

1845

3-9

6.8

475

8.7

2 3-3

97

1850

4.0

5.8

SO-3

'3-3

23-l

3-5

1855

4-4

6.8

53-a

'4-4

19.2

2.0

1860

3-7

6-3

57 *

14.0

166

2-3

1865

4.0

6.9

58 5

<3°

«5-6

2.0

1870

5.0

7-8

60.1

10.8

14.1

2.2

1875

5-3

8-3

60.3

9-5

14.6

2 0

■88o

S-«

8.8

596

9.6

14.6

23

Die normale Arbeitszeit ist darnach in Nordamerika noch heute die tostündige ; sie erscheint wenigstens für das letzte Dezennium in ca 60 “/o aller Berichte angegeben. Die Anstrengungen der amerika- nischen Arbeiterschaft zu Gunsten des Achtstundentages, von welcher Frage in Amerika die ganze Gewerksvereinsbewegung ihren Ausgangs- punkt genommen ’), sind somit, was das angestrebte Endziel betrifft, von keinem durchgreifenden Erfolge begleitet gewesen. Wohl aber ist von der amerikanischen Arbeiterschaft in der Verkürzung der Arbeits- zeit überhaupt immerhin Erkleckliches erreicht worden, wie dies ein Vergleich der für die Jahre 1830 und 1880 angeführten Ziffern ergibt.

Die Nachweisungen über die Löhnungsfristen sind deshalb in-

f) A. Sartorius \on Waltershausen in seinem bekannten Werke »Die nordameri- kan. sehen Gewerkschaften etc.« (1S86), S. 33 ff., S. 5h ff.

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654

IJttcratur.

teressant, weil sie zeigen, dass in Nordamerika die monatliche Zahlung der Lohne in früherer Zeit die vorherrschende Löhnungsform gewesen und noch heute übermässig stark verbreitet ist.

Versucht man die im Berichte enthaltenen Angaben über die Lohn- ungsfristen auf relative Zahlen zurückzuführen, so ergibt sich ungefähr folgendes Bild , das nur dadurch etwas ungenau wird , dass bei einer und derselben Unternehmung für die verschiedenen Arbeiterkategorier, auch verschiedene Löhnungsfristen üblich sein können.

Es entlohnten von je 100 Unternehmungen :

Jahre

in Zeitabschnitten von

in unbcsümzi- ten Zwischen*

raumen

8 Tagen

14 Tagen

I Monat

3 Monaten

0

rO

OO

237

5-3

39.5

>3«

184

1835

3»-4

4 4

39-t

10.9

15.2

1S40

35-5

3-2

403

81

12.9

1845

39-4

4.2

39-4

7-4

9.6

1850

44-2

4.8

38.6

4.8

1855

46. s

4-5

38.1

4.0

6.9

1860

47.2

8-3

35-5

2.8

6.2

1865

47 3

8.8

37-2

«•S

52

1S70

46.0

99

39-4

0.7

4-0

i*75

45-4

12.0

38.4

0.1

4*1

1880

45-2

“•9

1

38.8

0.1

40

Es I

egt auf der

Hand , dass

die besonders fniher langen oder

unbestimmten Löhnungsfristen auch in Nordamerika in engem Zu- sammenhänge mit dem Trucksysteme standen und auch heute noch zum guten Teile auf Rechnung desselben zu setzen sind, indem die Arbeiter häufig durch Waren oder Lebensmittel entlohnt werden and nur der darnach etwa verbleibende Lohnüberschuss nach länger« Zeiträumen bar ausbezahlt wird. Dieser zur Ausbeutung der Arbeite geradezu verlockende Brauch wird in der That für einzelne Industrie- zweige, wie z. B. für die Schuhwarenfabrikation, als noch jetzt in Gel- tung stehend bezeugt (S. 13). Wünschenswert wäre es gewesen, dass in diesen Nachweisungen ein grösseres Mass von Spezialisierung be- obachtet und namentlich diejenigen Arbeiterkategorien, welche vermöge ihrer höheren Dienstesstellung monatlich entlohnt zu werden pdegen. selbständig behandelt worden wären, weil wir erst dann die obigen Ziffern in ihrer vollen Bedeutung zu würdigen vermöchten.

Der richtigen Erkenntnis, dass jede Statistik der Löhne durch eise Darstellung der Preise der Lebensbedürfnisse, welche den arbeitenden Klassen eigen sind, ergänzt werden müsse, damit die Höhe der »real wagest d. h. die Kaufkraft der Löhne richtig beurteilt werden könne, ist der zweite Teil der Publikation, welcher 117 Seiten umfasst, ent- sprungen.

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Report on the Statis/ics of Hages in Manufacturing Industries. 655

Auch hier war die zu lösende Aufgabe keine leichte. Der Leiter der Aufnahme suchte ihr durch eine Sammlung von Detailpreisen jener Waren, welche gewöhnlich von den Arbeitern benötigt, beziehungsweise konsumiert zu werden pflegen, und durch Angaben über die Höhe der Auslagen für Kost und Wohnung zu entsprechen. Im Ganzen werden zu diesem Zwecke 439 Uebersiehten beigebracht, von denen der grössere Teil Nachweisungen über die Detailpreise gewöhnlicher Schnitt- und Schuhwaren, von Genussmitteln und Spezereiwaren, Feuerungs- und Beleuchtungsmitteln enthält. Diese letzteren Daten beruhen auf von Kaufleuten eingezogenen Berichten. Ueber die Quelle der Angaben betreffend die Höhe der Unterhaltskosten erfahren wir nichts. Die ganze Arbeit ist eine lose Aneinanderreihung von Einzellisten. Die Herstellung vergleichbarer Tabellen musste hier schon aus dem Grunde unterbleiben, weil die Verschiedenheit der Nachweisungen rücksichtlich der Qualität der Waren u. s. w. dies nicht gut zuliess, an welcher Schwierigkeit die Herstellung einer brauchbaren Statistik der Preise der im Detailhandel vorkommenden Waren aller Wahrscheinlichkeit nach auch in Zukunft scheitern wird. Aus eben diesem Grunde fehlen namentlich auch die wichtigen Angaben über die Kleidungspreise.

Was den dritten Teil der Publikation betrifft, welcher auf 19 Seiten denVersuch einer Statistik der amerikanischen Gewerkschaften (Trades Societies) nach dem Stande des Jahres 1880 enthält, so ist diese Ar- beit bedauerlicherweise ein blosses Bruchstück geblieben, aus dem sich für das Studium der amerikanischen Gewerkvereinsbewegung wenig wird gewinnen lassen. Der Verfasser versäumt nicht hervorzuheben, dass das Misstrauen vieler Gewerkvereine gegen die Erhebung , ob- wohl in dieser Richtung auch rühmenswerte Ausnahmen vorkamen, nicht Mehr erreichen liess. Im Ganzen wurden für das Jahr 1880 2440 lokale Gewerkschaften und Zweigvereine, welche den grösseren national oder international organisierten Gewerkverbänden angehörten, ermittelt. Allein abgesehen von der Anzahl der Vereine und ihrer geographischen und beruflichen Verteilung bietet dieser Teil der Pu- blikation nicht viel. Nur von einigen wenigen Vereinen werden nähere Daten über ihre Mitgliederzahl, Vermögensverhältnisse u. dgl. m. bei- gebracht (S. 4). Was sonst noch mitgeteilt wird , beschränkt sich auf die nominelle Aufzählung der bedeutendsten Verbindungen und einige allgemeine Bemerkungen über das Alter der Gewerkvereine und die »Organisation of Labor», die nichts Neues enthalten.

Von besserem Erfolg begleitet war die Erhebung über die Aus- stände und Aussperrungen des Jahres 1880. Hiemit beschäftigt sich der letzte Abschnitt der Publikation, welcher 28 Seiten umfasst. Der Grund des besseren Gelingens ist hier darin zu suchen , dass bei der Durchführung dieser Aufnahme an die Mitwirkung der Unternehmer appelliert werden konnte. Die meisten Angaben rührten wenigstens,

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656

Littcratur.

wie dies der Bericht ausdrücklich hervorhebt , von den Arbeitgebert her, während die Arbeiter die Fragebögen fast ausnahmslos nicht be- antworteten. Durch den vor nicht langer Zeit publizierten Bericht de Zentralbureaus von Washington über die Strikes der letzten 6 Jahre, nämlich 1881— 1886, ist dieser Teil der Arbeit übrigens bereits überholt Wir beschränken uns daher auf die Aufführung einiger weniger Zif- fern über den Umfang, die Ursachen und Resultate der Strikekimt/fe. die sich in Nordamerika während des Jahres 1880 abgespielt haben.

Die Gesamtzahl der für das Jahr 1880 konstatierten Arbeitsaa ( Stellungen belief sich auf 762, wogegen Waltershausen (a. a. 0. S. to; und 384 ff.) seinerzeit für eine fast gleich lange und teilweise dieselbe Zeitperiode, nämlich vom November 1879 bis Ende 1880, nur :o; ra ermitteln vermochte. Von den 762 Arbeitseinstellungen waren 61c Strikes im engeren Sinne, 85 »lockouts«: die Natur der restlichen Arbeitskämpfe konnte nicht klargestellt werden. Die Zahl der Arbeiter, welche im Jahre 1880 direkt in Strikekämpfe verwickelt waren, *ir>' auf 228 138 und die Höhe der Lohnverluste, die dabei erlitten wurdet

auf mehr als 13 Millionen Dollars berechnet.

Als Ursache der Arbeitseinstellung wurde ermittelt:

Erhaltung oder Verbesserung der Lohnsätze bei 582=7 1.6 1 «

Lohnzahlungsmodalitäten > 35= 4.3 >

Verkürzung der Arbeitszeit » 7= ab >

Arbeitseinrichtungen oder Arbeitsordnungen » 107=132 >

Gewerkschaftsangelegenheiten (insbesondere Auschluss von Gewerkvereinsmitgliedern) bei 9= 1.1 >

Durch andere Umstände waren 9 Strikes veranlasst worden, unc für 5 1 fehlte jegliche Angabe über ihre Entstehungsursache. Die Re- sultate konnten nur von 481 Strikes in Erfahrung gebracht werden Zu Gunsten der Arbeiter endigten 169 oder 35"/,,. zu ihren Ungunstes 227 oder 47 70, während der Rest, nämlich 85 oder 18 7„ durch Ver- gleich beendet wurde. Eine eingehendere Würdigung dieses Teile der Publikation muss aber einer Gesamtdarstellung der bisherigen Er- gebnisse der nordamerikanischen Strikestatistik , wovon sich schon it den früheren Berichten einzelner arbeitsstatistischer Aemter Anlangt vorfmden, die nunmehr durch den Bericht des Zentralbureaus vonWa- shington eine weit bedeutungsvollere Fortsetzung erhalten haben, Vorbe- halten bleiben.

Wenn wir zum Schlüsse den Wunsch aussprechen, dass das Zen- tralbureau seine Arbeiten auch auf jene sozialen Phänomene ausdehner möge , deren erstmalige Erfassung für das gesamte Lfnionsgebiet an- lässlich der Zensusaufnahme des Jahres 1880 versucht wurde, so soE durch diese Bemerkung der Bedeutung, welche dem besprochenen Be- richte vom Standpunkte des Fortschrittes der Sozialstatistik zukommi ebensowenig wie durch die vorstehende Kritik Abbruch gethan werdet.

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Statistique de la Belgique. Industrie. 657

Derselbe wird vielmehr wohl noch geraume Zeit ein beredtes Zeugnis dafür abgeben, mit welcher Unermüdlichkeit jenseits des Oceans an die Erforschung sozialer Probleme gegangen wird , welche bisher in nicht wenigen europäischen Ländern, die dazu ebensoviel Ursache hätten, von der administrativen Statistik recht stiefmütterlich behandelt worden, oder ihr auch, man verzeihe den Ausdruck, eine terra in- cognita geblieben sind.

Wien. FERDINAND SCHMID.

Slatistique de la Belgique. Industrie. Recensement de 1880 publie par le ministre de 1’intErieur et de l'instruction publique. Tome I. Expose gEneral; Tome II. Statistique generale des industries recensEes; Tome III. Statistique dEtaillEe des Etablissements industriels, de leur personnel, de la durEe du travail, du taux, des salaires et des moteurs mecaniques. Bruxelles 1887.

Das belgische Gesetz vom 25. Mai 1880 traf die Bestimmung, dass die nächste Volkszählung am 31. Dezember 1880 vorgenommen und von da an, dem Vorgänge anderer Staaten entsprechend, von zehn zu zehn Jahren wiederholt werden sollte. Ausser der Volkszählung wurde aber auch die Aufnahme einer Ackerbau- und Industriestatistik verfügt. Und in der That, 34 Jahre waren bereits verflossen, seitdem die industrielle Entwickelung des Landes zum letzten Mal durch eine sorgfältige statistische Erhebung einen ziffermässigen Ausdruck gewonnen hatte. Wohl war im Jahre 1866 eine solche eingeleitet worden, die Ergebnisse erwiesen sich aber als so mangelhaft und ungenügend, dass man von deren Veröffentlichung absehen musste. Bedenkt man, welch' ungeheure Fortschritte die industrielle Entfaltung aller Länder in diesen letzten Dezennien aufzuweisen hat , und dass Belgien sogar für das relativ industriereichste Land gelten muss , so wird man sich nur ver- wundern, warum dort, wo einQuetelet gewirkt, eine so wichtige statistische Ermittelung nicht schon früher erfolgt ist. Indessen das lange Säumen ist nunmehr durch die vortreffliche Leistung, welche uns die belgische Statistik in dem oben angeführten Werke bietet, glänzend gesühnt.

Während die Ergebnisse der Volkszählung und der Aufnahme der Verhältnisse des Ackerbaues schon vor längerer Zeit erschienen sind, konnte die Industriestatistik erst im Jahre 1887 veröffentlicht werden. War das Ziel, das man sich gesteckt hatte, doch ein so hohes, wie es unseres Wissens bis jetzt nur selten angestrebt worden ist. Die Aufnahme sollte sich beziehen «auf Zahl und Art der gewerblichen Unternehmungen , desgleichen auf deren Arbeitsmittel, die Zahl der Personen, welche hiebei thätig sind, auf deren Geschlecht, Alter und Stellung ; auf die mittlere Dauer der Arbeitszeit und die mittlere Höhe des Lohnsatzes der Arbeiter, ferner auf Art, Menge und Wert der Er- zeugnisse«.

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658

Literatur,

Das Gebiet, auf das sich die oben genannten Erhebungen aas- dehnen sollte , wurde in der Weise streng umschrieben , dass man :* der wichtigsten belgischen Industrien namhaft machte und nur diese in das Bereich der Untersuchung zog. Dieses äusserst zweckmässige Vorgehen war durch die Erfahrungen, die man im Jahre 1846, bei der letzten industriestatistischen Aufnahme, gewonnen hatte, begründet worden. Nach dem Urteile der statistischen Zentralkommission wann die Mängel derselben vorzugsweise dadurch entstanden , dass zu viel nämlich die statistische Ermittelung der gesamten Industrie des Landes unternommen worden war. Unseres Erachtens hätte man in der obez erwähnten weisen Beschränkung noch weiter gehen können. Immer noch sind in die Aufnahme 9 Industriezweige einbezogen worden, tos denen jeder für sich in ganz Belgien nicht einmal 300 Personen be- schäftigt. Andererseits würden wir es aber wieder gern gesehen haben, wenn bei der Textilindustrie nebst der Unterscheidung nach dem it ihr verarbeiteten Rohstoffe auch noch jene nach Spinnerei und We- berei stattgefunden hätte. Bei der Weberei wäre auch die mechanisu; Weberei von der Handweberei zu trennen gewesen.

Soviel über den Umfang der Untersuchung. Wie aber suchte nu der gestellten Aufgabe gerecht zu werden?

Die oberste Leitung der Arbeiten wurde dem Ministerium des Innern überwiesen, in dem man für die genannten Zwecke noch eme besondere statistische Abteilung ins Leben rief. Für Volkszähltug Ackerbau- und Industriestatistik wurden im Ganzen 900000 Fr. bewilligt Das Ministerium erliess am iS. November 1880 auch eine Verordnung, in welcher die Art und Weise , wie bei der Erhebung vorgegangttt werden sollte , auf das Genaueste mitgeteilt wurde. Die betreffender Vorschriften waren von der statistischen Zentralkommission ausgeir beitet worden.

Jeder Unternehmer erhielt fünf Fragebogen; solche, die verschie- dene Gewerbe zu gleicher Zeit ausübten, für jedes einzelne derselben die gleiche Zahl. Der erste Bogen bezog sich auf das in dem l nter- nehmen thätige Personal, dessen Stellung, Alter, Geschlecht, Arbeitszeit und Lohn, die übrigen auf die Arbeitsmittel, auf Menge und Wert der Erzeugnisse.

Die Angaben waren nach dem Stande vom 31. Dezember i8Sc zu machen. Bis zum 25. Dez. mussten die Fragenschemata verteilt sein ; vom 2. Januar an sollten sie wieder eingesammelt werden.

Die Verteilung und das Einsammeln der Fragebogen wurde be- sonderen »Zählern« (agents recenseursj anvertraut; hierzu waren rm den Gemeindeverwaltungen verlässliche Personen wie Gemeindeschreib« Lehrer, Unterlehrer u. a. m. zu ernennen.

Die Aufgabe der Zähler erstreckte sich aber nicht bloss auf die oben genannten Funktionen. Ihnen lag auch die Sorge für einend-

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Statistique dt la Btlgique. Industrie. 659

tige Beantwortung und Ausfüllung der Fragebogen ob. Erforderlichen Falles hatten sie die Ausfüllung selbst zu übernehmen. Ursprünglich hatte man ihnen auch die erste Bearbeitung des von ihnen gelieferten l'rmateriales zugedacht , kam später aber von diesem Gedanken ab und entschied sich für ein durchaus zentralisiertes Verfahren: das ganze Urmaterial wurde in dem statistischen Bureau des Ministeriums verarbeitet.

Wie ersichtlich hieng also die materielle Richtigkeit der Aufnahme von den Zählern, die Zweckmässigkeit der formellen Verarbeitung von den Mitgliedern des Bureau's ab.

So weit man sich nach dem in dem ExpostS g^nüral enthaltenen Berichte ein Urteil zu bilden vermag, scheint die Thätigkeit der Zähler keineswegs immer eine zufriedenstellende gewesen zu sein. Es wird über deren l'ntüchtigkeit und Nachlässigkeit vielfach Klage geführt. Und doch wurden deren Dienste durchaus nicht ohne Entgelt verlangt. Andrerseits bot der Widerstand vieler Unternehmer noch manches schwer zu überwindende Hindernis. Freilich hatte die Regierung den- selben durch die Zähler verkünden lassen, dass der statistischen Auf- nahme keinerlei fiskalische Interessen zu Grunde lägen. Aber es mö- gen die Bedenken der Unternehmer auch nicht bloss nach dieser Rich- tung, sondern noch mehr nach der sozialpolitischen Seite rege geworden sein. So manchem dürfte die Frage nach Alter und Geschlecht seiner Arbeiter, nach der Länge der Arbeitszeit und der Höhe des Lohnes für verfänglich gegolten haben. Und gerade nach dieser Hinsicht konnten abhängige, von der Gemeindeverwaltung, in der doch die In- teressen der LInternehmer massgebend sind , ausgewählte Personen wenig geeignet erscheinen, von den Unternehmern richtige Auskunft zu fordern und zu erhalten. Dieser Mangel einer thatsärhlich wirk- samen Kontrolle, der Umstand, dass die Angaben nur von Seiten der Unternehmer ausgegangen sind, muss also stets bei der Benützung der Ergebnisse der Statistik sorgfältig in Erwägung gezogen werden.

Diese Schwäche konnte auch nicht mehr durch das statistische Bureau ausgeglichen werden. So sehr es danach strebte , die Arbeit der Zähler zu verbessern und so oft es sich noch an die Unternehmer selbst wandte, immer blieben es doch die Unternehmer allein, mit welchen man offiziell in Verkehr trat.

Innerhalb des dem Bureau eigentlich nur zukommenden Wir- kungskreises, in der Verarbeitung des Materiales für die Zwecke der Veröffentlichung, verdienen aber die Leistungen derselben ein unein- geschränktes Lob.

Dank einer äusserst sinnreichen Verbindung von F.inteilungsgrün- den, durch vortreffliche Register, eine übersichtliche , gefällige Anord- nung haben alle Fragen, ausgenommen etwa die morphologischen, die man hinsichtlich der industriellen Entfaltung stellen kann, eine über-

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Ordnungsnumer

660

Litteratur.

raschend vollständige Lösung gefunden. Mit geringer Mühe bit man sich unter Zuhilfenahme des Ortsregisters eine vollsticdus industrielle Topographie des Landes hersteilen. Die sorgfältigen Ab- gaben über Dauer der Arbeitszeit und Höhe des Lohnes regen nr experimentellen Ergründung der Beziehungen an , die zwischen beider der genannten Faktoren bestehen. Die Gruppierung der einzelnen in- dustriellen Unternehmungen nach der Zahl der in ihnen beschäftig«! Arbeiter weist die Ausbreitung des Grossbetriebes nach , beziehn«- weise die Stufe , welche die Konzentrierung des Kapitales in Uelgin bereits erreicht hat u. s. w.

Im Hinblicke auf die Ziele, welche das »Archiv« verfolgt, dürrtt das grösste Interesse wohl die F.rmittelung der Zahl, des Geschleckt* und Alters der Arbeiter, der Dauer der Arbeitszeit und der Höhe de Lohnes entgegengebracht werden. Wir können nicht umhin, wenigste» durch Wiedergabe des Kopfes der Tabellen, die sich auf die r»t letztgenannten Punkte beziehen, die ungemein genaue Berücksichtig!!« der Wichtigkeitskoeffizienten , welche die Erhebung auszeichnet, nr Anschauung zu bringen. (Tome I. p. 86.)

Verzeichnis

der

Industrien

Dauer der tägl. Arbeits- j zeit der Arbeiter

am des Tage Nachts

Unterscheidung der Arbeiter nach der Due ihrer täglichen Arbeitszeit.

Zahl der Arbeiter, welche arbeiten

1 Kohlenbergbau 7— 14 7 14 53 1605 8664 53843 13804 16673 °5 Wie hier die Zahlen für das ganze Königreich geboten werdci enthält sie der 3. Band noch für die Bezirke und Kreise besonders.

Bei den Angaben über die Höhe des Lohnsatzes hat man nai^' lieh eine Unterscheidung der Arbeiter nach dem Alter vornehm« müssen. Das Geschlecht wurde leider nicht berücksichtigt. Wir geben hier den Kopf der Tabelle, welche sich auf die erwachsenen Arbeiter bezieht, wieder (Tome I. p. 112):

Verzeichnis

der

Industrien

Täglicher

Lohn.

|

Minimum

und

Zahl der Arbeiter und Arbeiterinnen, welche verdienen

ä

Maximum § 1

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Fr. u. Cent.

Kohlenbergbau 1.55 4.50 78318

» 91 233 11446 46043 19521 7841»°

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Sc hu ler u. Burckhardt. Untersuch, iih. d. Gesundheitsverhaltnisse etc. 66l

Auch diese Zahlen finden sich im 3. Bande noch nach Bezirken und Kreisen unterschieden.

Da die Statistik von 1846 nach wesentlich anderen Prinzipien als die vorliegende unternommen wurde, so ist ein Vergleich zwischen den Ergebnissen beider Aufnahmen nur in beschränktem Masse zulässig gewesen. Soweit als sich überhaupt jene Daten oder die anderen Auf- nahmen zum Vergleiche verwerten liessen, ist es in den im 1. Bande veröffentlichten »Monographies industrielles* geschehen, welche in aller- dings knappen Umrissen eine dankenswerte Skizze jeder in die Auf- nahme einbezogenen Industrie bieten.

Es konnte nicht unsere Aufgabe sein, von dem materiellen Inhalte der Statistik eine Uebersicht zu geben. Wir wollten nur die Aufmerk- samkeit der beteiligten Kreise auf diese ungemein reiche Materialien- sammlung, welche uns in der belgischen Industriestatistik vorliegt, lenken und zu deren Verarbeitung anregen.

Durch die oben besprochene Statistik und das Werk der Arbeiter- kommission ist man nun in Belgien über die Arbeiterverhältnisse des Landes so vorzüglich unterrichtet, dass man hier sicherer und zielbe- wusster als in jedem anderen Lande die Bahn der so überaus dringenden Reformen beschreiten kann. Möchte die Industriestatistik auch nach dieser Richtung und nicht bloss durch ihre tadellose Technik bedeu- tungsvoll werden.

Wien. H. HERKNER.

Schüler, Dr. F, eidg. Fabrikinspektor in Mollis, und Dr. A. F~ Burchhardt, Dozent für Hygiene in Basel, Untersuchungen über die GesundheitsverhaUnisse der Fabrikberidkerung in der Schweiz, mit beson- derer Berücksichtigung des Krankenkassenwesens. Aarau, J. R. Sauer- länder. 1889. 8". IV und 180 S.

Wie aus den einleitenden Worten der Autoren ersichtlich ist, muss dieses Werk als die erste Frucht von Bestrebungen betrachtet werden, die schon vor etwa 12 Jahren im Schosse des schweizerischen Aerzte- vereines aufgetaucht waren. Zwar musste der Verein seiner ursprüng- lichen Absicht Untersuchungen über die gesamten hygienischen Bedingungen, unter denen der schweizerische Arbeiter in Fabrik- und Hausindustrie lebt, anzustellen entsagen und sich aus praktischen Gründen vorerst darauf beschränken, unter Benutzung des Materials der zahlreichen Fabrik- oder Berufskrankenkassen etwas Genaueres über die Morbidität der Fabrikarbeiter in verschiedenen Industriezweigen zu erfahren. Aber auch schon die Erreichung dieses im Vergleiche zur Gesamtaufgabe sehr bescheidenen Zieles stiess, wie man erfahrt, auf mancherlei Hindernisse, weil das Sammeln des Rohmaterials lediglich auf dem Privatwege geschehen konnte. Es verpflichtet näm-

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602

Litttratur.

lieh das schweizerische Fabrikgesetz die Fabrik- oder Beruislcranbt kassen nicht zur Beantwortung von Fragen, die behufs statistisdr Erhebungen von den Fabrikinspektoren oder irgend einer »ndtrra Amtsstelle an dieselben gestellt werden. Es ist dies jedenfalls ciin I. ticke in dem sonst ja in vielen Beziehungen so trefflichen Gcsefc;. die möglichst bald auf diese oder jene Weise ausgefüllt werden softz denn es liegt gewiss im Interesse des weiteren gedeihlichen Ausbaues des Fabrikkrankenkassenwesens selbst, dass nicht nur die Registrierte: der Krankheitsfälle eine möglichst genaue und einheitliche sei. sondert dass auch das auf diese Weise sich anhäufende Material, welches ar- streitig von grossem Werte ist, den zunächst dabei interessierte Amtsstellen zugänglich gemacht und systematisch verarbeitet werde zumal die Fabrikinspektoren sollten hiebei nicht auf den gtitr Willen der Fabrikbesitzer oder der Vorstände von Krankenkasse: angewiesen sein. Am besten wäre es, wenn die Aerzte. weicht w Krankenkassen engagiert werden oder überhaupt Mitglieder sokhet Kassen behandeln, angehalten würden, individuelle Krankenscheine it Form von Zählblättchen zu führen , um dieselben periodisch an eine Zentralstelle einzuliefern, welche sich mit der Verarbeitung und sta- tischen Verwertung dieses Materiales befassen würde ')•

Die meisten aus den ostschweizerischen Kantonen stammen» Angaben, iiber welche die Verfasser verfügen, beziehen sich auf nahea anderthalbhundert kleine und grosse Krankenkassen mit ungeok 18000 Mitgliedern (mehr als die Hälfte derjenigen Arbeiter, welchen diesem Landesteil in Krankenkassen versichert sind) und ca. 5ooojak: lirhen Erkrankungsfällen. Durch halbjährlich auszufüllende Fonnolne die an die Fabrikbesitzer und Vorstände der Krankenkassen verte' wurden, erfolgte die Feststellung des Personales, aus dem sirh it Kassengenossenschaften zusammensetzen, nach dem Geschlechte or- nach verschiedenen Altersgruppen. Andererseits wurde durch beson- dere, ebenfalls von den Kassenvorständen auszufüllende Krankenschein alles dasjenige in Erfahrung gebracht, was in bezug auf den einrelna Kranken von Wichtigkeit schien (Name, Alter, Geschlecht, Wohnort Industriezweig, spezielle Beschäftigung, Krankheit, Dauer der Arbeits

I) Kine derartige Registrierung aller Kranken, auch der nur ambulalortscä handelten besitzt die Landschaft des Moskauer Gouvernements schon seit Jahres ' allen von ihr für die Landbevölkerung eingerichteten kleinen Krankenhäuser» -: dem SaniUttsbureau der Landschaft, welches dieses Material verarbeitet, «rom« lieh nicht weniger als 3 400000 solcher Krankenscheine zu. Was aber, ;a Be»i auf die Landbevölkerung , von der Landschaft eines russischen Gouvernement* >T leistet wird, sollte, in lterug auf die Fabrikarbeiter, ftir die schweizerische Eidgeno»*-" schalt kein Ding der Unmöglichkeit sein. Der Anfang hiezu Ist ja auch dorü vom schweizerischen Arbeitersekretariate tn Angriff genommene Unfallsstatrstil ' gemacht worden.

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Schüler u. Rurckhardt, Untersuch, üb. d. Gesundheitsverhiiltnisse etc. 66 >

Unfähigkeit). Die grössten Zahlen lieferten: die Baumwollspinnerei und -Weberei (6903 Krankenkassenmitglieder), die Stickerei (2693), die Seidenindustrie (1664) und die mechanischen Werkstätten (2979); alle anderen Industrien sind nur durch geringe Ziffern vertreten.

Das gesamte Material ist von den Autoren in zwei Hauptabschnit- ten bearbeitet worden. Der erste Teil enthält neben einleitenden Be- merkungen über die Entstehungsgeschichte der Arbeit und den Wert des Materials die Urtabellen über die Erkrankungsfrequenz der Arbeiter nach den einzelnen Industriezweigen, unter Berücksichtigung der durch das Formular gegebenen Altersgruppen und des Geschlechtes. Sodann finden wir in diesem Abschnitte noch Tabellen über die K rank- heitsdauer und über die Zahl der Verletzungen, ebenfalls nach Industrie, Alter und Geschlecht nebst den entsprechenden erläutern- den Bemerkungen. Im folgenden habe ich versucht, in gedrängter Kürze die wichtigsten Zahlen aus den Urtabellen der Autoren wie- derzugeben.

Von iocx> Ar-

Dauer der ein-

Es kommen

Von 1000 Ar- beitern erkrank

Industriezweig.

beitern erkrank-

zelnen Erkrank-

Krankhcitstage

ten jährlich in

ten jährlich

ung (in

Tagen

auf den

Kopf

Folge

von Ver-

M.

w.

M.

vv.

M.

vv.

letzungcn

M. VV.

1. Baumwollspinnerei -Zwirnerei . . .

189

243

27.2

2 8.2

5*4

6.85

28

12

2. Baumwollweberei .

229

318

*7*

19.8

3-9*

6.29

■8

7

3. Baumwollspinnerei ».Weberei gemischt

■97

254

20.9

28.8

4 it

7-32

25

10

4. Baumwolldruckerei

263

■93

c c

*N

34-8

7.60

6.72

27

9

5. Färberei, Bleicherei, Appretur ....

284

3^'

24-5

18.4

6.96

5-»9

40

6. Stickerei ....

276

3°7

22.2

25.0

6.12

7-70

20

3

7. Seidenspinnerei

>4

'5°

59-o

33-4

0.82

5.02

28

1

8. Seidenzwirnerei, -Weberei und -dru- ckerei

140

196

22.8

27.0

3-2°

5-3°

8

S

9. Wolltuchfabrikation

240

2

20.2

3°-4

4.84

7.61

68

23

10. Chemische Fabriken

11. Papierfabriken . .

333

3>9

407

12.2 1 6.9

23-9

4.64

5-39

9-73

29

38

»5

12. Buchdruckerei und ■Binderei ....

201

1 10

28.0

41.6

5.61

4-5«

23

1 1

13. Schreinerei . . .

287

--

24.9

7.14

92

14. Giesserei u. mech. Werkstätten . . .

404

21.2

8.56

108

15. Ziegeleien . . .

37?

-

13.2

5.00

62

Total

291

257

2*-5

25.2

6-25

6.47

49

8

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664

I.itteratur.

Die Hauptsehliisse, welche die Verfasser aus ihren Urubellet) ziehen, sind folgende: i) Die Zahl der jährlichen Krankheitstage per Kopf für die Krankenkassenmitglieder beträgt 6.34 eine Grösse, die den von anderer Seite gewonnenen äusserst nahe kommt; 2) die Männer sind ungleich häufiger gegen Krankheit versichert als die Frauen: dk letzteren zeigen eine erstaunliche Gleichgültigkeit gegen Krankenver- sicherungen ; 3) die Morbiditätsverhältnisse der beiden Geschlechter sind sehr verschieden , im grossen und ganzen ist die Erkrankung; frequenz der Männer bedeutender als diejenige der Frauen, was übr- gens wesentlich durch die grosse Krankenzahl der Arbeiter in mecha- nischen Werkstätten, hauptsächlich Verletzungen, bedingt ist; 4) die durchschnittliche Dauer der einzelnen Krankheit ist beim männlicher! Geschlechte geringer als beim weiblichen (85:11x3); 5) die Häufigke: des Erkrankens nimmt mit dem Alter zu und die Morbidität eines Industriezweiges ist um so grösser, je stärkere Prozentzahlen die höheres Altersklassen aufweisen ; 6) die Arbeitsunfahigkcitstage (Krankheits- dauer) erfahren mit dem Alter eine bedeutende Zunahme; 7) die Ar- beiter unter 18 Jahren (bei den Männern) haben die kleinste Zahl ros Verletzungen, während bei der ältesten Klasse eine ausserordentliche Zunahme von Verletzungen stattfindet; wird dagegen die durchschritt liehe Arbeitsunfähigkeit berücksichtigt, welche Folge einer Verletaug ist, so weisen die jungen Leute unter 18 Jahren, vermutlich wegen der zahlreichen schweren Verletzungen, welche die Textilindustrie bei ihnen veranlasst, nicht mehr die günstigsten Verhältnisse auf.

Der zweite Teil des Werkes beschäftigt sich mit dem Kernpunkt! der Untersuchung: mit dem Verhalten der einzelnen Krank- heiten in den verschie denen Industrien. Hier wäre es nun interessant gewesen, etwas zu erfahren über das mehr oder wenige häufige Auftreten einzelner wichtiger Krankheitsformen, deren Zusatn- menhang mit dieser oder jener Ueschäftigungsweise mit Recht vermut« werden kann. Aber die Ungleichheit und Unsicherheit der auf der Krankenscheinen ausgestellten Diagnosen erlaubte den Verfassern ns derartiges Detailieren des Materials nicht und sie mussten sich mit der Aufstellung grosser Krankheitsgruppen begnügen; unter diesen Im- ständen ist es ganz natürlich, dass sie sich an eine Klassifizierung de: Krankheiten nach Organgruppen hielten, wobei selbstverständlica noch die Gruppen der konstitutionellen und der ansteckenden Krank- heiten, sowie der Verletzungen mit aufgenommen werden mussten.

Einer zusammenfassenden Tabelle, welche uns Aufschluss gibt so- wohl über die absolute Zahl der Erkrankungen nach Krankheitsfor® und Industriezweig, als auch über das prozentarische Verhältnis der an den einzelnen Formen Erkrankten zur Gesamtzahl der Arbeiter der betreffenden Gruppe, lassen nun die Autoren eine kurze Schilden® der Lebens- und Gesundheitsverhältnisse der Arbeiter in den einzelne!

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Schule >■ u. B urckh ar dt, Untersuch, üb. <1. Gesundheitsverhältnisse etc. 665

Industriezweigen folgen; und zwar berühren sie hiebei einerseits die geschichtliche Entwicklung der betreffenden Industrie in der Schweiz, die Länge des Arbeitstages in älterer und neuerer Zeit, die Lohnver- hältnisse, die Wohnungs- und Ernährungszustände der Arbeiter und der Charakter der Arbeiterschaft, andererseits gehen sie kurz auf die- jenigen Faktoren in der Fabrikeinrichtung und in der Produktions- art ein, welche von Fanfluss auf den Gesundheitszustand der Arbeiter sein können; innerhalb der verschiedenen Industriezweige wird sodann der Versuch einer Differenzierung nach den speziellen Beschäftigungs- arten und der Feststellung der Morbidität und ihres Charakters bei den einzelnen Beschäftigungsarten gemacht. Den Schluss des Abschnittes bilden Tabellen über die durchschnittliche Dauer der einzelnen Er- krankung nach Krankheitsform, Geschlecht und Alter, und über den Einfluss des Alters auf die Häufigkeit der verschiedenen Krankheits- formen.

Es ist hier natürlich nicht der Ort, die äusserst interessanten, wenn auch in gedrängter Kürze gehaltenen Bilder, die dieser Abschnitt vor uns entrollt, wiederzugeben, und ich will deshalb nur das Wich- tigste aus den Schlussbetrachtungen der Verfasser mit einigen Worten hervorheben.

Die Frage, ob auf Gr und des von ihnen bearbeiteten Materials auf irgend welche Schädigungen der Gesund- heit durch die Fabrikarbeit geschlossen werden könne, beantworten die Autoren, und gewiss mit Recht, bejahend. Sie stützen sich hiebei auf die grossen und nicht durch Differenzen in den allgemeinen Lebensverhältnissen zu erklärenden Unterschiede in der Morbidität der einzelnen Industrien überhaupt, und auf die ausser- ordentlichen Verschiedenheiten im Auftreten der eigentlichen Krank- heiten, d. h. im Charakter der Morbidität bei den verschiedenen Industriezweigen und Beschäftigungsarten im besonderen. Demgemäss suchen sie es mit der speziellen Beschäftigungsart in ursächlichen Zusammenhang zu bringen, dass die Krankheiten der Verdauungs- organe bei den Baumwollwebern und Stickern sehr häufig sind, dass Sticker und Arbeiter in Papierfabriken zahlreiche Erkrankungen der Atmungsorgane aufweisen, dass Hautkrankheiten relativ am häufigsten bei den F’ärbern und Bleichern und in den mechanischen Werkstätten beobachtet werden, dass konstitutionelle Leiden (Blutarmut, Bleichsucht u. dgl.) und Affektionen der Geschlechtsorgane namentlich in den- jenigen Industriezweigen Vorkommen, in denen Frauen in grosser An- zahl und unter ungünstigen Verhältnissen arbeiten (Baumwollwcberei), dass ansteckende Krankheiten unter den Arbeitern der Papierfabrikation relativ häufig angetroffen werden, und dass die Arbeiter der mechani- schen Werkstätten verhältnismässig am meisten von Verletzungen zu leiden haben. Als besonders beweisend für das unmittelbare Kausal-

Archiv für soi. Gesctzgbg. u. Statistik:. III u. IV'. zlj

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666

Littrratur.

Verhältnis zwischen Beschäftigungsart und Erkrankung wird von dtt Verfassern das auffallend häufige Auftreten von Genitalleiden bei dtt Arbeiterinnen in Baumwollwebereien und -Druckereien angesehen. *o teils permanentes Stehen und Erschütterung des Fussbodens, teils di- rekter oder indirekter Druck auf den Unterleib als krankmachet« Einflüsse angesprochen werden müssen. Aber auch die sanitären Zustände der Fabriklokale dürfen nicht als gleichgültig be- trachtet werden. Interessant ist in dieser Hinsicht eine Zusammen Stellung der Häufigkeit von Erkrankungen an Rotlauf mit dem ik Massstab der Luftreinheit angenommenen Kohlensäuregehalt der Lar in den Fabrikräumen. Ich lasse dieselbe hier folgen:

Industrie.

Mittlerer Kohlensäure gehalt der Luft.

Fälle von Rotlauf auf 1000 Arbeiter.

Baumwoildruckerei . .

. . 0.7 °/oo

>•3

Baumwollspinnerei . .

. . 0.7 >

2.0

Mechanische Werkstätten

. . 1.2 >

2.8

Baumwollweberei . . .

1-4 »

5-5

Stickerei

. . 1.6 »

Seidenweberei ....

. . 2.1 >

8.8

Der Staub in den

Fabrikräumen wird

als schädliches Momffii

anerkannt und äussert seine Wirkung namentlich an den Vor* tu

arbeitern in den Baumwollspinnereien , an den Lumpensortiererinw und an den Schrifigiessern und -Setzern. Doch wird davor gewinn auch bei diesen Arbeitern denStaub allein haftbar für die vorkommet- den Krankheiten der Atmungsorgane zu erklären, da auch die ta«? vorkommenden Erkältungen (namentlich wenn die Tempentc des Fabrikraumes eine sehr hohe ist) und andere Faktoren jedecfi-* eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Dass die E rschütteroni des Fussbodens und der Lärm der Maschinen und Werk- zeug e schädlich auf das Gehörorgan wirken, wird durch sich steigernde Häufigkeit der Ohrenleiden bei Zunahme dieser Erscheinungen bewies Dass die zu grosse Mus k e 1 an s t r eng ung bei längerer Du« alle Teile des Körpers in Mitleidenschaft zieht, sieht man an Frequenz der Erkrankungen der Muskeln, Knochen und Gelenke^ den Arbeitern in mechanischen Werkstätten, den Stickern unechanisd® Stickstühle) und Handwerkern aller Art. Uebrigens machen die >*' fasser mit Recht darauf aufmerksam, dass bei Beurteilung aller die*' Verhältnisse auch der Zustand, in welchem der beginnend! jugendliche Arbeiter in die Fabrik entsendet wird, M rücksichtigen sei, weil der Widerstand, w-elchen das einzelne Inen*' duum den ungünstigen Einflüssen der Berufsarbeit entgegenzuseuc im stände ist, in hohem Masse von seiner eigenen Organisation « körperlichen Entwicklung abhängig ist.

.-ji

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Schüler u. Bur ckhar dt, Untersuch, üb. d. Gesundheitsverhältnisse elc. 667

Am Schlüsse ihres Werkes halten sich die Verfasser für berech- tigt, zu sagen, dass, obgleich in den letzten Jahrzehnten auf dem Ge- biete der Fürsorge für die Gesundheitsverhältnisse der Arbeiter Gross- artiges geleistet worden ist, dennoch nach zwei Richtungen hin noch manches zu thun übrig bleibe, nämlich in bezug auf den Schutz des Arbeiters innerhalb der Fabrik und in betreff der F. rmöglichung eines wirklich gesundheitsge- mässen Lebens ausserhalb derArbeitszeit. Die Ver- fasser betonen die Nützlichkeit derartiger Bestrebungen nicht nur für die Arbeiter, sondern auch für die Industrie überhaupt. Sie heben mit besonderem Nachdruck hervor, dass die Industriellen auch in ver- hältnismässig ungünstigen Zeiten, im Interesse der Qualität des Fabri- kates ja alles daran zu setzen bereit sind, damit die Maschinen gut besorgt seien und sie fordern Ausdehnung dieser Fürsorge auch auf die im Dienste der Industrie arbeitenden Menschen.

Wenn wir nun unsere persönliche Ansicht über das vorliegende Werk aussprechen sollen, so müssen wir es in erster Linie dankbar anerkennen, dass Dr. Schüler, der gewiss als Fabrikinspektor eines grossen und äusserst industriellen Gebietes mit amtlichen Geschäften überhäuft ist, dennoch immer noch Zeit findet, das reiche ihm zu Ge- bote stehende Material auch noch zu nichtamtlichen, aber nichtsdesto- weniger hochwichtigen Publikationen auszubeuten. Sodann möchte ich es besonders betonen, dass der Leser angenehm berührt wird durch die ruhige und besonnene Art (die wir übrigens an Dr. Schüler bereits gewöhnt sind), mit welcher von den Verfassern das vorhandene Mate- rial betrachtet wird, und durch die Vorsicht, mit welcher alle über- eilten und zu weit gehenden Schlüsse vermieden werden. Endlich ist rühmend hervorzuheben, dass das Werk, trotz rein wissenschaftlicher Tendenz und vollkommen objektiver Darstellung auch dem Gemiite des Lesers Nahrung bietet, indem es nicht nur die Ueberzeugung der Autoren hervortreten lässt, dass in Fabrik und Haus noch vieles für die Hebung der Gesundheitsverhältnisse der Arbeiter gethan werden könne, sondern auch deren tiefgefühlten Wunsch zu erkennen gibt, es möchte das, was geschehen kann, möglichst bald und in möglichst rationeller Weise geschehen.

Von grosser Wichtigkeit ist nun natürlich die Frage und die Verfasser fühlen dies auch, denn sie kehren mehr als einmal auf diesen Punkt zurück inwieweit die Angaben der Krankenkassen, wenigstens in ihrer gegenwärtigen Gestalt, es vermögen, eine annähernd natur- getreue Charakteristik der Gesundheitsverhältnisse der Arbeiter in den einzelnen Industriezweigen zu geben. Und in dieser Beziehung ist allerdings die Vorsicht, mit welcher die Autoren Vorgehen, berechtigt. Man kann bekanntlich auf verschiedene Weise der Kenntnis der- jenigen Faktoren näher zu kommen versuchen, welche die Gesundheit

43 *

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668

Littfratur.

der Fabrikarbeiter bedrohen. Es kann dies in erster Linie dort langjährige und spezielle Beobachtungen in grossen Fabriketablisserotra geschehen, eine Aufgabe, die am besten, vielleicht sogar ausschlic— lich, der Fabrikarzt zu lösen imstande ist. Sodann können in grösste Massstab vergleichende Untersuchungen über die körperliche Entvir» lung der Arbeiter in den verschiedenen Industrien angestellt wercer was am besten auf dem Wege spezieller Enqueten geschieht Eodl.cr kann inan versuchen, durch das Studium der Morbiditatsverhaltssst der Arbeiter auf dem Wege der Statistik zum Ziele zu gelangen - und einen solchen Versuch haben wir in der Arbeit der Herren Scbulr und Burckhardt vor uns. Allerdings drückt das ihnen zur Verfügte, gestellte Material durchaus nicht die Gesamtmorbidität derjenigen Ar beiter aus , auf welche sich ihre Statistik bezieht, denn die letztere umfasst, wie dies bei den Krankenkassen in ihrer gegenwärtigen 0T ganisation nicht anders sein kann, nur diejenigen Erkrankungen, weldir zu kürzerer oder längerer Arbeitsunfähigkeit Veranlasung gegeben haben und hierin liegt, nach meiner Ansicht, die schwache Seite dieses Materials.

Es gibt nämlich, wie jeder Fabrikarzt weiss, und wie wir uns te unseren Untersuchungen der Fabriken des Moskauer Gouvernements wo mehrere grössere Etablissements eigene Aerzte besitzen, hinlängiicl überzeugen konnten, in allen Industriezweigen zahlreiche, oft sojs für die betreffende Beschäftigungsart charakteristische Krankheitsfonnet oder w enigstens Störungen des Gesundheitszustandes, die den Arbeit« oft gar nicht oder nur zeitweilig arbeitsunfähig machen, während dn- selbe allerdings ambulatorisch ärztliche Hilfe aufsucht. Solche Arbeit« und es können auf grösseren Fabriken Hunderte von derartiger Fällen im Jahre Vorkommen geraten nun nicht in die Statistik der Krankenkassen oder spielen wenigstens in derselben eine sehr unter- geordnete Rolle, während sie in den Journalen der Fabrikärzte dis Hauptkontingent der Kranken bilden. Insoferne würde also das von den Fabrikärzten zu erhaltende Material, genaue Registrierung all« Krankheitsfälle vorausgesetzt, entschieden den Vorzug verdienen ew dem Materiale der Krankenkassen. Diese Unvollständigkeit der durti die Krankenkassen zu erhaltenden Angaben, an der natürlich die A n- fasser des vorliegenden Werkes keine Schuld tragen, bringt es nun mit sich, dass die Zahlen, über welche sie verfügen, nicht immer als richtiger Ausdruck der eigentlichen Morbidität der Arbeiter in den be- treffenden Industriezweigen aufzufassen sind und dass das gegenseitig« Verhältnis der Industrien in dieser Hinsicht bei vollständigerem Mate- rial , sich etwas anders gestalten würde , als dies in der vorliegenden Arbeit der Fall ist.

Wir sind in der I.age, die Wahrscheinlichkeit dieser Vermutungen an einem Beispiele zu zeigen. Nach Schüler und Burckhardt druckt

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Sc h ule r it. Rur eh har dl, Untersuch, ab. d. Gesundheitsverhältnisse etc. 66g

sich die Morbidität der Arbeiter in Baumwollspinnereien durch die Zahl 235.4 aus, d. h. auf 1000 Arbeiter kommen im Laufe eines Jahres 235.4 Erkrankungen, bei denen die Krankenkasse in Anspruch genom- men wird. Diese Morbidität steht weit unter dem allgemeinen Mittel (292.7), und da ausserdem bei diesen Arbeitern keine einzige Krank- heitsklasse eine hervorragende Zahl von Erkrankungen aufweist, so könnte es naheliegen, nicht nur den allgemeinen Gesundheitszustand der Arbeiter in dem genannten Industriezweige als einen verhältnis- mässig sehr günstigen zu bezeichnen, sondern auch anzunehmen, dass dieselben keiner besonderen, für den betreffenden Industriezweig charakteristischen Noxe ausgesetzt seien. Allein diese scheinbar ge- rechtfertigte, optimistische Anschauung von dem Gesundheitszustände der Arbeiter in Baumwollspinnereien würde wohl kaum der Wirklichkeit entsprechen. Bei Gelegenheit der Untersuchungen der Fabriken im Moskauer Gouvernement gelang es uns in einigen grossen Baumwoll- spinnereien statistisches Material über die Morbidität der Arbeiter aus den Journalen der Fabrikärzte zu entnehmen. Auf einer dieser Fabriken, die damals 2320 Arbeiter beschäftigte, wurden jährlich im Fabrikkrankenhaus, im Mittel aus 4 Jahren, 468 Kranke behandelt, wovon übrigens 51 als Nichtarbeiter (kleine Kinder und andere nicht arbeitende Familienangehö- rige) ausgeschlossen werden müssen, so dass auf die Arbeiter 417 Kranke treffen, was 185 Erkrankungen auf 1000 Arbeiter ausmacht eine Zahl, die den von Schüler und Burckhardt erhaltenen ziemlich nahe kommt. Aber dies sind nur die schweren Erkrankungen, die Spital- behandlung erforderten. Daneben wurden im Ambulatorium im Laufe eines Jahres noch 3752 Kranke behandelt, von denen 2925 auf wirk- liche Fabrikarbeiter kommen, was auf je 1000 Arbeiter 1272 Kranke ergiebt! Es ist keinem Zweifel unterworfen, dass eine weitere Ana- lyse dieser ambulatorisch behandelten Krankheitsfälle, im Vereine mit der Statistik der Spitalkranken, ein viel richtigeres und vollständigeres Bild von der Morbidität der Arbeiter in dem betreffenden Industrie- zweige geben muss, als man es auf Grund der Krankenhaus- (oder Krankenkassen-)Statistik allein bekommen kann.

Dasselbe lässt sich auch in bezug auf die absolute und relative Häufigkeit der einzelnen Krankheitskategorien zeigen. Nehmen wir z. B. die Verletzungen. Nach Schüler und Burckhardt kommen in den Baum- wollspinnereien auf 1000 Arbeiter im Jahr nur 21.3 Verletzungen. In- soferne hierunter nur die schweren LTnfälle verstanden sind, welche kürzere oder längere Arbeitsunfähigkeit bedingen, dürfte diese Ziffer wohl der Wirklichkeit entsprechen und kommt der auf der oben er- wähnten Fabrik gewonnenen Zahl der im Krankenhause behandelten Verletzungen (27.2 auf 1000 Arbeiter) sehr nahe. Allein in Baumwoll- spinnereien kommen, wenigstens bei uns in Russland, ausserdem ungemein zahlreiche leichtere Verletzungen vor, die ambulatorisch behandelt

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670

I.itteratur.

werden, keine Arbeitsunfähigkeit bedingen und deshalb in der Stafeü der Krankenkassen nicht zum Vorschein gelangen, dennoch aber fcr den in Rede stehenden Industriezweig recht charakteristisch sind. I>.e oben erwähnte Fabrik wies in einem Jahre (es war dies vor dem Ir krafttreten des neuen Fabrikgesetzes, durch welches Kinder unter 1; Jahren von den Fabriken ferngehalten werden! nicht weniger ab re solcher Verletzungen auf, was auf 1000 Arbeiter Verletzungen p” Fin spezielleres Studium dieser Verletzungen mit Berücksichtigung de Maschinen, durch welche sie verursacht worden sind, des Alters de davon betroffenen Arbeiter, der Tageszeit, zu welcher die Verletar: stattgefunden hat u. dgl., gibt äusserst interessante Resultate, auf übrigens hier nicht näher eingegangen werden kann. Schade nur, dz» das Material, über welches die Herren Schüler und Uurckhardt vetfugttr ihnen nicht erlaubte, die Frage der Verletzungen eingehender uw spezieller zu bearbeiten.

Wir schliessen unsere Besprechung des interessanten Werke« mir dem Wunsche, es möchte der Vorgang seiner Verfasser den Anst* dazu geben, dass die Schweiz, neben der bereits angebahnten l'nfalt Statistik, in möglichster Bälde auch eine vollständige Morbiditatsstatr tik der Fabrikarbeiter bekomme.

Moskau. FR. ERISMANN.

Hilst. Dr. K., Die Haftpflicht der Strassenbahnen und sonstiten Ft*r- betriebe. Berlin 1888. Druck von C. Feucht.

Vor uns liegt die erste Statistik der Strassenbahnen Deutschland und eine Darstellung der Haftpflicht jener Motoren des Verkehrs Es eröffnet sich zum erstenmal der Ueberblick über ein Gebiet, das no d nicht zum Deberdruss beschrieben ist, wie so viele andere ökonomisch Gebiete. Die Gemeindepolitik und Kommunalwirtschaft hat hier noct Alles zu lernen, wie sie ein mächtiges Verkehrsmittel zum Besten der Gesamtheit ökonomisch regulieren soll. Vielfach gaben bisher Städte jenes wichtige Stück ihrer Verkehrsverwaltung an Konzessionär! ab, die nur ihre pekuniären Interessen, in letzter Linie erst die Fot derungen des öffentlichen Verkehrs berücksichtigen. Erst in neuere Zeit bricht sich bei den Gemeindevertretungen die Einsicht Bahn, dass die Kommune selbst die Verkehrsmittel nach den Bedürfnissen der Gesamtheit organisieren soll, statt sie einzelnen Spekulanten als E[ werbsquelle zu überlassen. F.s wiederholt sich hier eine ähnliche Ent- wickelung, wie z. B. bei Gasanstalten. Die Kenntnis der realen 'c haltnisse in ihrer bisherigen Entwickelung ist immer die sicherste Grundlage zu neuer Thätigkeit auf einem Gebiete. In diesem Sidk möge auch der erste Versuch einer Strassenbahnstatistik von den Be teiligten beachtet werden.

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Ihlsf, Die Haftpflicht der Strassenbahnen etc. 671

Die ersten Pferdebahnbetriebe entstanden in Berlin (1865), Ham- burg (1866) und Stuttgart (1868), noch im Jahre 1870 war ihre Be- deutung für den allgemeinen Verkehr eine untergeordnete. Einen Auf- schwung nahm das Strassenbahnwesen seit 1872 durch Beginn der Be- triebe in Leipzig, Frankfurt a. M., Dresden, Hannover, und durch Gründung der grossen Berliner Pferde-Eisenbahn-Aktiengesellschaft. Später folgten die Städte Danzig, Wiesbaden, Düsseldorf, Elberfeld- Barmen, Bremen, München, Karlsruhe, Breslau, Kassel, Magdeburg (1873 1878). Eine Reihe weiterer Städte schlossen sich an, über- wiegend bediente man sich der Pferde als Triebkraft. Dem Personen- verkehr dienende Dampfstrassenbahnen sind nur in Strassburg, Ham- burg, Kassel, Berlin, Krefeld, Duisburg, Dortmund, Karlsruhe, Darm- stadt vorhanden. Von Offenbach nach Frankfurt fährt eine elektrische Bahn. Die enorme Ausdehnung der Linien und des Betriebes erhellt aus nachstehender Tabelle (1887):

Gleislänge Fahrten Nutzkilometer Personen Einnahmen

1142680m 13016487 68126657 265741350 32687959

Die Mehrzahl der Anlagen gehören Aktiengesellschaften, einzelne sind Betriebsgesellschaften überlassen, nur wenige Linien stehen im Gemeindeeigentum. Berlin steht in Europa in Bezug auf den inten- siven Trambahnverkehr unerreicht da. Noch im Jahre 1870 fahren in Berlin, Hamburg und Stuttgart nur 4.9 Mill. Personen auf dem Tram- way. Heute befördert die grosse Berliner Aktiengesellschaft allein 94.3 Mill. Personen im Jahre, und von den gigantischen Ziffern des internationalen Pferdebahnverkehrs gibt folgende Tabelle ein Bild:

in

Belgien

wurden

1885.86

befördert

31275526 Personen

»

Deutschland

>

1887

>

j45657 5°3 »

*

England

»

1886

>

416518423 »

»

Holland

»

1886

»

26118111 >

*

Oesterreich-Ungarn »

1887

>

83860529 >

>

der Schweiz

»

1886

>

6677874 »

Die durchschnittliche Anzahl der von einem Einwohner im letzten Verwaltungsjahr unternommenen Fahrten belief sich:

In Berlin auf 87.3, in Hamburg auf 77.9, in Leipzig auf 65.4, in Glasgow auf 60.6, in Genf auf 60.0.

Teilweise übersteigt obige Frequenz diejenige des Eisenbahnver- kehrs, in Deutschland kommt sie ihr sehr nahe.

In dem 1871er Haftpflichtgesetze sind die Strassen- hezws. Pferde- bahnen unerwähnt geblieben, der Ausdruck »Eisenbahnen« umfasst auch jene Betriebe und nach der Rechtsprechung sind auch die Unfälle bei Strassenbahnen haftpflichtig. Nach Ansicht des Verfassers hat man hiebei die nicht unerheblichen Unterschiede gegenüber den Vollbahnen nicht gewürdigt ; andererseits ist ihnen der strafgesetzliche Schutz des Eisenbahnbetriebes (§§. 305, 315 R.-St.-G.) versagt geblieben. Bei

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672

LiltcnUur.

dieser Sachlage erscheinen sie den Vollbahnen und den sonstiger Strassengewerben gegenüber benachteiligt. Ihre Gefährlichkeit mrc überschätzt; die Eigentümlichkeiten ihres Betriebes bleiben unberück- sichtigt, von den Unternehmern werden schwerwiegende wirtschaftliche Opfer gefordert, der zur Sicherung des Betriebes unerlässliche Schau gegen Bosheit fehlt.

Der als Statistiker und Rechtslehrer geachtete Verfasser schick: seinen Vorschlägen auf gesetzliche Regelung der Haftpflicht der Strass« bahnen den Nachweis voraus, dass der Pferdebahnbetrieb nach seine Gefährlichkeit und nach der Schwere des Unfallausgangs nicht illeli den Vollbahnen, sondern auch den sonstigen Geschäfts- und Gewerbe- Fuhrbetrieben nachsteht. Lediglich auf einer grundlosen Leber- Schätzung der Gefahrenhöhe beruhe der seinerzeit betonte Grund der Unterordnung unter das Haftpflichtgesetz: die erfahrungsmässige Ge fährlichkeit. Letztere widerlegt folgende Statistik: ln der Beoback- tungsperiode von 1882 85 kamen auf sämtlichen Strassenbahnen jqp Unfälle vor, hievon durch Besteigen der fahrenden Wagen 497, durch Herabspringen von denselben 229t, durch Laufen in die Pferde 646. durch Herabfallen von den Wagen 250, durch Zusammenstoss mit anderen Fahrzeugen 153, durch sonstige Unfälle 77. Insofernc die durch Auf- und Absteigen passierten Unfälle auf Fahrlässigkeit derBc teiligten zurückzuführen sind, scheiden ca. 71.20''/, aller Unfälle «a dieser Berechnung aus. Auch bei Zusammenstössen liegt vielfach eine Nachlässigkeit der Führer anderer Fahrzeuge vor. Aehnliche Ergeb- nisse liefern die drei Berliner Betriebe von 1882 bis 1887. Hier lagen 3350 Unfälle vor, durch Aufsteigen 536, durch Abspringen 1981, durch Herabfallen 343, durch Laufen in die Pferde 419, durch Zusamro«- stoss 161, durch sonstige Ursachen 30. Auch hier entfallen 75.14’ eigenes Verschulden der Betroffenen (meistens unvorsichtiges Auf- usc Abspringen). Unter den auf den deutschen Strassenbahnen Beschädig- ten befanden sich 2415 Männer und 1499 Frauen, bei den auf den Berliner Betrieben Verletzten :44c Männer, 1171 Frauen, 239 Kindt: Unter den Gruppen : Herabfallen, Laufen in die Pferde, Anfahren tf andere Fahrzeuge sind auch die Personen aufgeführt, welche durch gewaltsame Handlungen Dritter zu Schaden kamen. Auch diese Falle können nur mittelbar in Betracht kommen. Die sorgfältige, unsäglich mühevolle Statistik widerlegt auch die Annahme, es sei für die Be- diensteten der Bahnen die Erfüllung der Berufspflicht mit erhöhter Gefahr und schnellerer Abnutzung der Arbeitskraft verbunden. Die Ziffer des Personales stieg stetig von 1878 bis 1887 um 2015 Perso- nen = 180.39 " o. Während der 10jährigen Beobachtungszeit sind bei der grossen Berliner Pferdebahn von 21 219 Bediensteten 1175 ctt’ lassen worden, 1620 abgegangen. Die Entlassenen entfallen mit auf das erste, mit 204 auf das zweite Dienstjahr, die Abgega agt®1

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Ililse, DU Haftpflicht der Strassenbahnen etc. 673

mit 1041 auf das erste, mit 283 auf das zweite Jahr. Hiernach sind dort 73.70 °/0, liier 81.73% während der ersten beiden Jahre ihrer Stellung enthoben. Nur in 65 Fällen war Krankheit die Ursache der Entlassung bezws. des Abgangs, in 82 der Tod. Bei 181 Beschädi- gungen im Dienste entstanden 58 durch fremde Fuhrwerke, 16 durch Gewaltthätigkeiten: Von 10025 Bediensteten wurden in einer 5jährigen Beobachtungszeit 671 Unfälle gemeldet, wovon 95 ohne Berufsstörung abliefen. Aehnlicli gestaltete sich das Verhältnis für die 68 Strassen- bahnbetriebe umfassende Strassenbahn-Berufsgenossenschaft. Vom 1. Oktober 1885 bis 31. Dezember 1887 passierten 1358 Unfälle, wovon 1199 ohne, 159 mit Entschädigungsansprüchen^ entfallen auf die Schuld frem- der Wagenführer). Unter Ende 1887 vorhandenen 3132 Bediensteten der grossen Berliner Pferdebahn waren 237 länger als 10, 633 über 5, 1589 zwischen 5 und 1 Jahren im Dienste, während 653 im Laufe des Jahres angestellt wurden. Der ältere Bestand ist mit Rücksicht auf die fortwährende Zunahme des Verkehrs und die gesteigerten An- sprüche an die Thätigkeit um so mehr beachtenswert, als 1878 nur 1117 Bedienstete den I ntemehmern angehürten, mithin 21.22 % dieser nach 10 Jahren roch thätig waren. Die P'.ntlassenen sind zwischen 15 und 70, durchschnittlich 31, die Ausgeschiedenen zwischen 14 und 62, im Durchschnitt 29, die Verstorbenen zwischen 21 und 68, durch- schnittlich 37 Jahre alt. Die Abnutzung der Menschenkraft ist sonach keine erhebliche.

Der Pferdebahnbetrieb ist weder der einzige mit Gefahren ver- bundene Fährbetrieb, noch steht er den übrigen an Gefährlichkeit voran. Die erstere Thatsache hat die Gesetzgebung durch die Unfall- fürsorge für verschiedene Fuhrwerksbetriebe (Reichsgesetz v. 28. Mai 1885) anerkannt, die andere konstatieren die amtlichen Polizeiberichte. Es ist ziffermässig nachgewiesen, dass die allgemeine Verkehrssicher- heit durch den geschäftsmässigen Fuhrbetrieb in verhältnismässig er- heblichem Grade geschädigt ist. Das Speditionsgeschäft stellt in den Roll-, Möbel- und Postwagenführern, das Brauereigewerbe in den Bierführern, die Personenbeförderung in Omnibus-, Droschken-Kut- schem, das Schlächtergewerbe in seinen des Fahrens unkundigen und dabei oft übermütigen Gehilfen, die Nebenbetriebe des Baugewerbes vielfach Personen in den Strassenverkehr, welche als Führer der ihnen anvertrauten Fahrzeuge die öffentliche Sicherheit durch mangelhafte Aufmerksamkeit, Unerfahrenheit und Uebermut gefährden. Nach den amtlichen Berliner Polizeiberichten der Monate Juli und August 1888 wurden 180/,, in den Hauptstrassen, 827,, in den Nebenstrassen über- fahren und zwar Erwachsene 38“,,,, Kinder 62 unter letzteren 36 •/„ unter 4 Jahren. Bei 47 % trägt der Kutscher, bei 31 °U der Verletzte selbst die Schuld, bei 22 "t~> liegen besondere Umstände vor. Auf die Körperverletzungen entfallen 92.5 /», auf Tötungen 7,45 7U. Als gefähr-

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6/4

I.itterahtr.

lieh stehen obenan die Wagen der Schlächter mit 17"«, das tVeind verschuldete 6 7», das Asphaltpflaster 1 8 der Unfälle. Hiernach gestaltet sich die Gefahr der anderen Fuhrwerke grosser als die de Strassenbahnen, aber auch folgenschwerer, indem bei jenen 7.35"/,, be diesen nur 0.59 tötlich abliefen.

Die rechtlichen Ausführungen der Schrift beleuchten den l’mfiK der Haftpflicht der Strassenbahnen nach dem Reichsgesetze v. 7. Juni 1871 und der bisherigen Rechtsprechung, den Ein wand der höbe« Gewalt und des eigenen Verschuldens. Sie fordern eine mehr gemässe gesetzliche Begrenzung des Begriffes »im Betrieber oder das Zulassen desEinwandes »fremder Gewalt« und der Verweisung ander Beschädigen Im Interesse der Gleichheit vor dem Gesetze und der \ Schutzes des öffentlichen Verkehrs wird die Ausdehnung des Haft- , pflichtgesetzes auf alle geschäfts- und gewerbsmässigen Fuhrbetne e die Haftung des Prinzipales für die Auswahl seiner Leute bezws. die Kahrfehler der Wagenlenker verlangt. Nach Ansicht des Verfassers stehen der Einführung dieser Grundsätze Bedenken Volkswirtschaft lieber Natur nicht entgegen, weder eine zu befürchtende Gefahrdur. , der Lage der Fuhrhalter, noch eine geschäftliche Störung des Strasser- verkehrs.

Mögen die Aufstellungen des Bearbeiters der Statistik , das Zeig nis eines hervorragenden Sachkenners, von den Beteiligten und de Faktoren der Gesetzgebung beachtet werden. Das unverhältnismassirc Anschwellen der Grossstädte mit allen seinen üblen wirtschaftliche! und sozialen Folgen nötigt ja zur Ausbildung vollkommenerer sädt- scher Verkehrsverbindungen und zu grösserer Aufmerksamkeit tuet dieser Richtung.

Darmstadt. W. ZELLER

Norges offic teile Statistik. J. F. Nr. 64. Fattigstatistik (AreusF- tisfikj for 1884 og 1885. Udgiven af det statistiske Centralburen Kristiania, 1888. XIV u. 132 SS.

Diese kürzlich erschienene norwegische Statistik enthalt nicht he die Armenstatistik für die Jahre 1884 und 1885, sondern auch eine tet- gleichende lTebersicht über die öffentliche Armenpflege in Norwtjs in den zwanzig Jahren 1866 1885. Die Gesamtzahl der LTnterstutztfr ist in diesem Zeitraum grossen Fluktuationen unterworfen ge*o» Ihren Höhenpunkt erreichte die Zahl in den Jahren 186S, 18691® 1870, ihr Minimum in den Jahren 1874, 1875, 1876 und 187; in erstgenannten Jahren betrug die Zahl c. 170000, in den letztgenannten dagegen nur c. 123000. Teilen wir die zwanzigjährige Periode in fünfjährige Perioden , so bekommen wir folgende Durchschnittszahl

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Aorges a/ficielk Statistik. Fattigstatistik.

675

I.

Absolute Zahlen :

SellisUinterstiitzte Mitunterslützte

Zusammen

Ehefrauen

Kinder

1866 70

68527

22348

73 973

164 848

75

62 669

17416

59 36°

139 445

1876 80

62 228

17050

56002

>35 280

1881 85

69 906

19948

65083

J 52 937

11

. Relative Zahlen.

(d. h. auf

1000 Einwohner kommen:)

1866 70

39-9

•3-o

43- >

96.0

187'— 75

35-5

9.9

33-6

79-0

1876 80

33-4

9.1

30.0

72-5

1881—85

35-4

10.4

33-9

79-7

Diese Zahlen stimmen ganz gut mit der allgemeinen wirtschaftlichen Lage in Norwegen: gegen Ende der sechsziger Jahre war die Situation ungewöhnlich ungünstig, und die Armenzahl erreichte in diesen Jahren ihr Maximum; in den siebziger Jahren besserte sich die Lage, und die Zahl der Armen nahm ab; in den letzten Jahren ist die Lage wieder weniger günstig, und die Zahl der Armen hat zugenommen. Jedoch selbst in den guten Jahren ist die norwegische Armenzahl auffallend hoch.

In den Jahren 1 88 1 85 betrug, wie angeführt, die Zahl der Selbst- unterstützten 67906 in jährlichem Durchschnitt. Diese Zahl ist folgen- dermassen zu zerlegen:

einzeln unterstützte Personen:

p.Ct.

Elternlose eheliche Kinder 2.9

Mutterlose uneheliche Kinder 1.7

Llnverheiratete erwachsene Männer 9.3

Unverheiratete erwachsene Krauen 14.4

Witwer ohne Kinder 6.0

Witwen ohne Kinder 17.8

52-1

Familienvorstände:

Verheiratete Männer ohne Kinder 9.6

Verheiratete Männer mit Kindern 19.8

Witwer mit Kindern 1.9

Witwen mit Kindern 8.9

Unverheiratete Frauen mit Kindern 7.7

47-9

Die selbstunterstützten Personen verteilten sich in den Jahren 1881 85 folgendermassen nach Altersklassen:

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676

I.ittrratur.

Altersklasse von 100 Selbstiinterstün:«i

unter

15 Jahren

4.6

»

«5—3° *

8.7

»

30 --50 »

29.7

»

50 60 »

16.6

über

60 >

4°-4

100.0

Auf 1000 Kinwohner auf dem Lande kamen c. 30 Selbstunterstuute. in den Städten dagegen in 1885 49 (in Kristiania sogar 54, in Dront- heim 56, in Stavanger 60). Der Gesamtaufwand für die öffentliche Armenpflege betrug im Jahr 1885 auf dem Lande 3.4 Mill. Kronen, ir den Städten 2.4 Mill. Kronen, im ganzen Reiche 5.8 Mill. Kronen Auf den Kopf der Bevölkerung betrug der Aufwand: auf dem Lande 2.20 Kr., in den Städten 5.70 Kr., im Königreiche 3 Kr. Von den Aus- gaben wurde '/« für die Krankenverpflegung verwendet. Die Armcnver- waltung war auf dem Lande viel billiger als in den Städten, obgleich die Zahl der Armen auf dem Lande mehr als doppelt so gross als in den Städten ist: von dem Gesamtaufwand fiel auf die Armcnvennl- tung in den Städten 5 auf dem Lande dagegen nur 1 ”/».

Die norwegische Armenstatistik enthält eine Fülle von wichtigen Daten, ist ein vorzüglicher sozialstatistischer Beitrag, und wie alles, was von dem vortrefflichen norwegischen Bureau veröffentlicht wird, ist sie mit grosser Sorgfalt bearbeitet.

Kopenhagen, A. PETERSENSTUDNITZ.

Tabeliarisk Frcmstilling af lleboelses- og Husleieforholdene 1 Stala Kjbbenhas'n pro Grundlag af Folkstadlingen den 1. Febr. 1885. Ved Marcus Rubin, Chef for Staden Kjöbenhavns statistiske Kontor Kjöbenhavn 1888. (Tabellarische Darstellung der Wohnungs- und Miets- Verhältnisse von Kopenhagen auf Grundlage der Volkszählung am 1 F’ebr. 1885. Von Markus Rubin, Chef des statistischen Bureaus der Stadt Kopenhagen 1888.)

Mit Recht nimmt die Wohnungsfrage unter den sozialpolitischen Untersuchungen der Gegenwart eine hervorragende Stellung ein. I nd hier, wie überall gilt, dass eine möglichst genaue Kenntnis der beste- henden Verhältnisse die allein sichere Grundlage aller Reformbestre- bungen bilden muss. Jede sorgfältige Darstellung und Bearbeitung des die Wohnungsverhältnisse der grösseren Städte betreffenden sta- tistischen Materials darf daher mit Dank anerkannt und aufgenommen werden. Unter denselben nimmt die vorliegende Statistik , die von einer ausführlichen Einleitung des verdienstvollen dänischen Statistikers Rubin begleitet ist, eine beachtenswerte Stelle ein. Dieselbe gibt in klarer und übersichtlicher Weise ein Bild von den Bevölkerungsver-

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Ruhm, TrMltrisA FrtmstiUing af Bebotlscs- og Ifusleieforholdcne etc. 677

hältnissen, der Grösse der Wohnungen, der Verteilung der Bevölkerung nach der Art der Wohnungen, der Dichtigkeit des Wohnens, den Miet- zinsverhältnissen, u. s. w. Indem wir auf das Werk selbst verweisen, wollen wir hier nur einiger Daten Erwähnung thun, welche ein allge- meines Interesse besitzen.

Die Kellerwohnungen betragen in Kopenhagen 4.5 •/« von sämtlichen Wohnungen, gegen 9.1 in Berlin, 6.5 in Hamburg und 2 "/« in Leipzig. Einzimmerige Wohnungen gibt es in Kopenhagen 1 5 */« gegen resp. 51. 1, 40.3 und 28.97« in Berlin, Hamburg und Leipzig; die Prozent- zahl von Wohnungen mit 2 und 3 Zimmern ist in Kopenhagen nicht unbeträchtlich grösser als in den beiden erstgenannten Städten, was noch in einem verhältnismässig höheren Grade von den grösseren Woh- nungen gilt, dagegen ist der Unterschied zwischen Kopenhagen und Leipzig nicht so beträchlich. Indessen dürfte eine derartige Verglei- chung zwischen den Wohnungsverhältnissen verschiedener Städte kei- neswegs ein völlig exaktes Bild liefern, weil die bei der Einsammlung und Bearbeitung des Materials beobachteten Methoden Abweichungen zeigen und daher eine die richtige Vergleichung notwendig störende Wirkung zur Folge haben.

Von der Gesamtbevölkerung Kopenhagens wohnten 9 •/» in ein- zimmerigen Wohnungen, 31.8% in solchen von 2, 17.2 70 in solchen von 3, 13.2»/« in solchen von 4 und 28.8* 0 in Wohnungen von 5 oder mehr Zimmern. Die durchschnittliche Anzahl der Bewohner auf die Wohnung betrug 4.2 (4.3 in Berlin, 4.6 in Hamburg und 5,1 in Leipzig). Je mehr Zimmer eine Wohnung zählte, desto weniger Personen be- wohnten durchschnittlich jedes Zimmer. Die Zahl der Bewohner auf ein Zimmer betrug somit in Wohnungen von

1 Zimmer 2.50

2 Zimmern 1.85

3 Zimmern 1.40

7 Zimmern 0.80

Die durchschnittliche Dichtigkeit des Wohnens, worunter hier das Verhältnis zwischen dem gesamten Bodenareal der bewohnten Gebäude und der gesamten Einwohnerzahl dieser Gebäude zu verstehen ist, be- lief sich auf 1.7 auf 100 OEllen Bodenareal (1 dänische OEIle ist etwa = 0.4 m’). Diese Dichtigkeit war indessen in den verschiedenen Stadt- vierteln äusserst verschieden. Für etwas mehr als die Hälfte der Be- völkerung betrug dieselbe zwischen : und 2 auf 100 CKllen, für 44 7o der Bevölkerung zwischen 2 und 3. Von sämtlichen Gebäuden, welche von mehr als 100 Personen bewohnt wurden, hatten 103 eine Dichtig- keit von mehr als 4. Diese 103 Gebäude waren von einer Gesamtbe- völkerung von 18 278 Personen bewohnt und sie bilden einen der dunklen Punkte jenes Bildes , das die vorliegende Schrift vor unseren Blicken

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Liiteratur.

678

aufrollt. Auch die in betreff der Mietzins-Verhältnisse erteilten Auf- schlüsse sind von grossem Interesse, indessen wollen wir es bei diesem Hinweis bewenden lassen.

Kristiania. BREDO MORGENSTIERNE.

Ze er led er , Alb. Die Schweizerische f/a/tpßichtgesetzgebung. Mit besonderer Rücksicht auf das (jesetz vom 26. April 1887. Systematisch dargestellt. Bern, Verlag von Rud. Jenni's Buchhandlung (Heinrich Köhler) 1888.

Der Verfasser behandelt vom privatrechtlichen Standpunkte aus die Haftpflicht nach schweizerischem Obligationenrecht, sowie, »is auch den Hauptteil der Darstellung ausmacht, nach den Spezialgesetzen für den Eisenbahn- und Dampfschiffahrtsbetrieb und für die Fabrik- und Gewerbeunternehmer. Die Arbeit ist demnach zunächst juristischer, und nicht sozialpolitischen Inhalts ; demgemäss ist auch das zu Beginn gestellte Kapitel über die Geschichte der Haftpflichtgesetzgebung in der Schweiz abgefasst. Dessen ungeachtet wird die Schrift auch tur jene von Interesse und Wert sein, welche vor allem für die volkswirt- schaftliche und sozialpolitische Seite des Gegenstandes empfänglich sind, da durch die juristische Durcharbeitung des Stoffes nicht nur. wie selbstverständlich, ein intensiveres Verständnis der F.inzelbestim m ungen des geltenden Rechts vermittelt wird, welches, soweit es die gewerbliche Haftpflicht betrifft, durch das Ausdehnungs- und Reform- gesetz vom 26. April 1887 der Uebersichtlichkeit einigermassen entbehrt, sondern auch durch die Mitteilung von Judikaten, durch gelegentliche kritische Bemerkungen über den Gesetzesinhalt u. a. Manches eine Stelle findet, was auch oder gerade von Seite des Sozialpolitikers Be achtung verdient. Bedenklich wird es diesen freilich stimmen , wenn er sieht, welche Fülle von Zweifeln und Kontroversen bereits in dem engen Rahmen der einschlägigen Gesetze entstanden sind und weicht fruchtbare Qelle von Streitigkeiten und Verbitterung damit geschaffen ist, wenn die doch verschiedene, ja entgegengesetzte Interessen ver- tretenden Parteien daran gehen, so schwer präzis fassbare Begriffe w ie Verschulden , höhere Gewalt etc. auf konkrete Vorfälle anzuwenden. Ebenso wird man den Eindruck gewinnen , dass man doch nur Halb- heiten oder Inkonsequenzen vor sich hat, angesichts z B. der Ent- scheidungen, was als haftpflichtiges Fabriksunternehmen zu gelten hat und was nicht, der Zuerkennung eines Entschädigungsanspruchs, aber unter nachträglicher Beifügung eines offenbar unzureichenden Maximums u. A. Selbstverständlich jedoch richten sich derartige Erwägungen nicht gegen das Werk ; sie gewinnen nur an Klarheit durch die ju- ristisch-systematische Behandlung des Stoffes in demselben. Ein Anhamg des dankenswert gemeinverständlich geschriebenen Buches bietet eine

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Körösi, Die Sterblichkeit der Stadt Budapest etc. 679

Zusammenstellung von in Betracht kommenden Gesetzen und Anord- nungen und wird sich für viele als eine willkommene Zugabe erweisen. Wien. VICTOR MATAJA.

Körösi, Joseph. Die Sterblichkeit der Stadt Budapest in den Jahren 1882 bis 1885 und deren Ursachen. Berlin. 1888. Puttkammer und Mühl- brecht. VIII u. 168 S. 4*.

Die vorliegende Arbeit bildet den vierten Band der auf die Sterb- lichkeitsverhältnisse bezüglichen Publikationen des statistischen Bureau's der Hauptstadt Budapest und behandelt die Jahre 1882 bis 1885. Der nächstfolgende Band wird die Jahre 1886 bis 1890 umfassen; alsdann soll in jedem fünften Jahr ein Band veröffentlicht werden. Von einem erläuternden und vergleichenden Text hat der Herausgeber diesmal wegen Arbeitsüberhäufung Abstand nehmen müssen ; das Heft enthält demnach nur Ziffernmaterial, und zwar fast ausschliesslich nur absolute Zahlen. Ungern vermissen wir die Beigabe der wesentlichsten auf die Bevölkerung bezüglichen Daten , schon aus Gründen der leichteren Verwertung des schätzbaren Quellenmaterials. Sonst schliesst sich die Arbeit in bezug auf Inhalt und System direkt an die vorhergehenden an. Von dem reichen Inhalt wollen wir hier vorzugsweise die Ab- schnitte hervorheben, welche den Einfluss der Wohlhabenheit, der Wohn- verhältnisse und der Beschäftigung auf die Sterblichkeit behandeln. Die einschlägigen Untersuchungen basieren allerdings nur auf den To- desfällen , und sind bekanntlich aus diesem Grunde die eigenartigen Ergebnisse, zu «lenen Körösi in seinen früheren Publikationen (»die Sterblichkeit der Stadt Budapest in den Jahren 1876 1881 und deren Ursachen. Berlin 1885«. »l'eber den Einfluss der Wohlhabenheit und «ler Wohnverhältnisse auf Sterblichkeit und Todesursachen mit beson- derer Berücksichtigung lies Auftretens «ler infektiösen Krankheiten. Stuttgart 1885«) namentlich in betreflf des Einflusses der Wohlhabenheit auf das Auftreten infektiöser Krankheiten gelangt ist, von verschiedenen Seiten u. a. von Prof. Gruber (Wiener mediz. Wochensehr. 1885, Nr. 51 und 52) einer schneidigen Kritik unterzogen worden. Indessen lässt sich, wie wir selbst glauben Westergaard gegenüber mit Erfolg nach- gewiesen zu haben (cfr. A. Oldendorff, die Mortalitäts- unil Morbidi- tätsverhältnisse der Metallschleifer in Solingen etc. Zentralbl. für allgem. Gesundheitspflege 1882. I. Bd. pag. 253 ff.| einerseits füglich nicht in Abrede stellen, dass man auch ohne Berücksichtigung der Lebenden, aus denen die Toten hervorgingen, mit einiger Vorsicht unter l m- ständen zu recht wertvollen Ergebnissen gelangen kann, und anderer- seits haben die von Kbrösi gemachten Erfahrungen, dass einzelne infektiöse Krankheiten, Croup, Diphteritis, Keuchhusten, Scharlach bei den ärmeren Klassen schwächer als bei der wohlhabenden auftreten,

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t.itlrratur.

68 O

von andern zuverlässigen Autoren doch derartige Bestätigung gefundct. dass man wohl berechtigt ist, diesem sozialen Problem nunmehr nahe zu treten. Wir entnehmen deshalb dem Werk einige hierauf bezüglich« Angaben. Die relativen Zahlen sind von uns selbst berechnet worden

Einfluss der Wohlhabenheit auf das Auftreten infektiöser Krankheiten in den Jahren 1882 1885 (pag. 102, Tab. 40

Wohlhabenheits-Klasse

Croup

Hiervon verstorben an

Diph-

theritis

Typhus

Blat-

tern

Schar-

lach

Masern

Ketfcfc-

bus:«

' {

Absol. Zahlen

229

5

2

.

2

,

Relat.

100.0

2.2

0.9

0-4

0.9

0-4

"•{

Absol. Zahlen

6694

98

133

88

36

106

43

38

Relat.

100.0

«5

2.0

•3

o-5

1.6

0 6

0.6

Absol. Zahlen

29524

39i

43'

202

348

281

377

269

Relat. *

100.0

•3

14

07

i.a

0.9

1.2

0.9

»•{

Absol Zahlen

201 1

*5

17

12

•5

18

27

'S

Relat. »

100.0

0.7

0 8

0.6

0.7

0-9

«•3

0.7

In öflentl. 1 Absol. Z.

»0443

8

49

363

3*7

42

54

2

Anstalten

( Relat. »

100.0

0.08

0-5

34

2.9

04

05

0.02

Einfluss der Wohlhabenheit auf die Todesursachen im Kindesalter, 1883—1885 (pag, 103, Tab. 41).

i

Hiervon verstorben an

Wohlhabenheits-Klasse

' « 1 i t £ 0

"3 .• I

Zahl samtv Alter \

Croup

L)iph-

theritis

Keuch-

husten

Masern

Schar- lach 1

Blat-

tern

Typhus

Reiche

l Absol.

Zahlen

28

3

I

2

(Relat

»

100.0

10.7

3-6

1

7*2

-

Mittelkl

1 Absol.

Zahlen

'594

67

24

24

i 1

25 |

1 1

t Relat.

*

100.0

3-'

42

« 5

1 '-5

'•5

0.06

Arme

\ Absol.

Zahlen

14224

260

- 227

166

285

102

178

1 *4

\ Relat.

»

100.0

1.8

1.6

1.2

2.0

07

12

jo 09

Wie man sieht, hat sich auch für die Jahre 1882 1885 herausge- stellt, dass in Budapest gewisse Infektionskrankheiten einen grösseren Prozentsatz bilden unter den Todesfällen der Reichen, als unter denen der Armen. Ks wird sich nunmehr darum handeln , den l'rsachen dieser auffälligen Erscheinung nachzuspüren. Bezüglich der Aufarbei- tung des betreffenden Materials sind übrigens auch mehrfache ergän- zende Verbesserungen zu verzeichnen. So ist, was früher nicht der Fall, bei Behandlung der Todesfälle in Kellerwohnungen der Grad des Wohlstandes in Betracht gezogen, das mittlere Alter statt für 25 Be-

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Schönlank, Die Fiirther Quecksilber-Spiegelbelcgen u. ihre Arbeiter. 68l

rufszweige für 35 berechnet und die Untersuchung des Einflusses der Beschäftigung auf die Todesursachen auf 70 BeruTszweige ausgedehnt, und ausserdem werden bei jedem Berufszweige drei Altersklassen: bis 30, 30 50 und über 50 Jahr unterschieden. Schliesslich wollen wir nicht unerwähnt lassen, dass sich die Sterblichkeitsverhältnisse über- haupt in Budapest in letzter Zeit günstig gestalten ; denn der Sterblich- keitskoeffizient ist von 38.4 im Durchschnitt der Jahre 1876 1880 auf 32.9 (1881 1885) zurückgegangen.

Berlin. A. OLDENDORFF.

Schön lank, Dr. Bruno, Die Fürther Quecksilber- Spiegelbelegen und ihre Arbeiter. Wirtschaftsgeschichtliche Untersuchungen. Stuttgart, 1888, J. H. W. Dietz. 8». VIII und 256 S.

Die zahlreichen monographischen Schilderungen, die in den letzten Jahren erschienen, haben sich insbesondere nach zwei Seiten Verdienste erworben. Sie spezialisierten die Kenntnis des thatsächlichen Zustands unserer Volkswirtschaft und boten damit den Ergebnissen der theore- tischen Forschung eine breitere Grundlage und neue Stützpunkte dar. Auf der anderen Seite fordert das F.lend und die Verkommenheit eines grossen Teils der arbeitenden Klasse, welche jene Monographien in allen erdenklichen Gestalten vorführten und von denen sie ausnahms los und notgedrungen Zeugnis ablegten, auf das nachdrücklichste dazu auf, mit Hilfe einer energischen Arbeitsgesetzgebung den verwüsten- den Folgen des modernen Wirtschaftsprozesses nach Möglichkeit zu steuern. Im Unterschied davon drängen die Ergebnisse der Schön- lank’schcn Schrift zu einer andern Massnahme. Die Industrie der Quecksilber-Spiegelbelegen spottet aller Schutzbestimmungen. Will man die entsetzlichen Konsequenzen für die in derartigen Betrieben andauernd beschäftigten Arbeiter beseitigen, so muss diese Industrie durch ein bedingungsloses staatliches Verbot aus der Welt geschafft werden. Das Belegen der Spiegel mit Quecksilber wirkt, mag es unter wie im- mer gearteten Schutzvorkehrungen stattfinden, vergiftend auf den mensch- lichen Organismus. Der Merkurialismus ist einer der furchtbarsten pathologischen Zustände, und ihm verfallen die ständigen Arbeiter jenes Gewerbes unvermeidlich. Die besonderen, in dieser Industrie herrschen- den Verhältnisse beschleunigen und verschlimmern überdies jene Wir- kungen in einem schaudererregenden Mass. An der Hand der Schön- lank'schen Untersuchung, auf die wir einen Blick werfen wollen, mag der Leser sich darüber selbst ein Urteil bilden.

Die Geschichte der Fürther Spiegelmanufaktur reicht in das 18. Jahrhundert zurück. Rasch entwickelte sie sich aus bescheidenen An- fängen zu grosser Bedeutung und seit 1830 etwa ist sie zu einer auf dem Weltmarkt dominierenden Industrie geworden. Das Rohglas wird

Archiv für *o« Gesctzgbg. u. Statistik III. u. I V. 44

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682

Litteratur.

von auswärts bezogen und in Fürth veredelt, belegt und gefasst. Hier haben wir es mit dem speziellen Zweig des Quecksilberbelegens zs thun. Dies letztere besteht darin , dass eine Seite des Spiegelglases mit einer aus Quecksilber und Zinnamalgam bestehenden M etalldtcke überzogen wird , auf der das Bild reflektiert. Die Arbeit erfordert grosse Sorgfalt und setzt eine mittlere Temperatur und trockene Lar. voraus. Ursprünglich wurde sie nur in Lohnbelegen , d. h. von hans- industriellen Kleinmeistern auf Rechnung der Händler und Fabrikanter betrieben. Indessen entwickelte sich auch in dieser Industrie der Gross- betrieb mit allen seinen charakteristischen Zügen und verdrängte d e Kleinmeister immer mehr. Seit 1856/57 ist die Zahl der grosskapita- listisch produzierenden Belegbesitzer um 150*/» gewachsen, die Ziffer der Heimbelegen hat sich um 58.8 "/» vermindert. Nach Schönlank Erhebungen gab es Ende 1886 in Fürth 32 Beleganstalten und zwar 26 Manufakturbelegen, die im Besitz von Fabrikanten und Grosshänfl lern sind, und 6 Heimbelegen. Folgende Angaben gibt der Verfasser von 30 dieser Belegen ; über zwei konnte nichts näheres ermittelt werden In denselben sind 103 Belegtische aufgestellt, davon kommen im Durch- schnitt auf eine Heimbelege 2.2 , auf eine Fabrikbelege 3.6 Tische 1856/57 war das Verhältnis noch 2.6 : 3.3 und es hat sich darnach sehr zu I ngunsten der Hausindustrie verändert. Im Ganzen waren 202 Per- sonen beschäftigt, von diesen waren nur 37 männliche Arbeiter, die übrigen 165 waren Frauen. Man sieht, die weibliche Arbeit ist sehr überwiegend, und die Tendenz, den Mann noch mehr zu verdrängen ergibt sich deutlich aus dem Gang der Entwickelung.

Und nun betrachte man die Bedingungen, unter denen die Arbeit in «len Quecksilberbelegen vor sich geht. Sehen wir uns zuerst in eine- Heimbelege um. Es ist nicht gerade eine der schlechtesten, in die uns Schönlank führt; sie befindet sich in der engen Dachkammer ein« Hintergebäudes. »Vorn an den Fenstern stehen die Belegtische. Nr Weiber sind hier beschäftigt, zwei Belegerinnen und zwei Wischerinnen. Die Wischerin, die ihren Platz links von der Belegerin hat, ist eifrk damit beschäftigt, die Glasplatten sauber zu putzen, abzureiben und sie der Belegerin hinzureichen. ... Es wird wenig oder gar nicht in dieser Arbeitsstätte gesprochen. . . . Das fleissige Schaffen, diese fast lautlost Rührigkeit gibt dem ganzen ein unheimliches Aussehen. Es ist als ob Gespenster arbeiteten. Aber es ist auch nicht ratsam, in der Be lege den Mund zu öffnen. Schon beim Eintritt legt sich Dir das überal umhergestäubte Quecksilber auf die Zunge, Du verspürst bald einer widerlichen metallischen Geschmack im Munde und sehnst Dich hinaus in die frische Luft. Wo Du gehst und stehst, wohin Du blickst, wo du atmest in diesem Raume, Quecksilber. Quecksilber in flüssiger Ge- stalt, wie es silbern schimmernd die Holzschüsseln füllt, aus denen es zum Uebergiessen «1er Glastafeln geschöpft oder gegossen wird. Queck-

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Schönlank, Die Fürther QuecksiU'er-Spiegeibeiegen u. ihre Arbeiter. 683

silber fliesst auf dem Belegtisch in die Rinnen und Behälter, Queck- silber tröpfelt ab unter dem wuchtigen Druck der Steine, mit welchen die Wischerin die Tafeln presst. Quecksilber rinnt und rieselt aus der »Lehne«, in welche die Spiegel zum Ablaufen und Trocknen gestellt werden, nach allen Seiten spritzen und rollen die Quecksilberkügelchen . . ; durch den Fussboden hindurch wandern sie in das unter der Belege befindliche Magazin. Jeder Schritt auf dieser Unterlage bringt dieselben in die lebhafteste Bewegung. Du findest Quecksilber in Luftform . . . Die Arbeiter atmen es ein, es dringt in die Poren der Haut, es setzt sich in die Falten der Kleider, der Wäsche; in Substanzform dringt es in die Haut, besonders der Hände, es wird verschluckt. Der ganze Körper ist einem Quecksiberdampfbade ausgesetzt« (Schönlank a. a. O. S. 1 35 fg ). Und in dieser fürchterlichen Atmosphäre findet sich manch- mal — aller Warnungen und Verbote ungeachtet ein Kohlenofen, um die Wischlappen künstlich zu trocknen, wenn das Wetter nicht zu- lässt, dass sie an der Sonne getrocknet werden. So tritt zu der Queck- silberluft des Belegraumes noch das verderbliche Kohlenoxydgas, das von den in den kleinen Oefelchen ohne Luftzug verbrennenden Holz- kohlen herrührt. Und um das Entsetzliche auf die Spitze zu treiben, es kommt gar nicht selten vor, dass in diesem Raume die notwendigerweise sonst immer offenen Fenster geschlossen werden! Bei warmer feuchterLuft, bei Regen, Wind, grosser Kälte etc. laufen nämlich die Gläser leicht an und das Belegen wird dann zur Unmöglichkeit. Wie Schönlank erzählt, be- haupten die Belegbesitzer, dass dann einfach nicht gearbeitet werde, aber eine grosse Zahl Zeugen bestreitet dies und gibt zu, dass die Fortsetzung der Arbeit dadurch ermöglicht wird, dass man die Fenster schliesst.

Die Verhältnisse der Fabrikbelegen kann man im ganzen genommen nicht bessere nennen. Sind die Räume auch hier und da grösser und günstiger gelegen, so wird dies häufig durch eine Ueberfüllung derselben aufgewogen. Und die dem fabrikmässigen Betrieb eigentümlichen Züge der äussersten Anspannung der Arbeitskräfte vermittelst technischer Verbesserungen bei gleichzeitiger Senkung des Lohns, auf die das In- stitut der Belegmeister, eine Art von Zwischenunternehmer beständig hinwirkt, machen es sogar zweifelhaft, ob die Zustände der Grossbe- triebe in dieser Industrie nicht noch schlechtere sind.

Unter Bedingungen, von deren fürchterlicher Gestalt diese Andeu- tungen nur eine undeutliche Vorstellung geben, arbeiten die Fürther Beleger, weit überwiegend sind es, wie wir wissen, arme Frauen, im Winter durchschnittlich 7 Stunden und im Sommer 9 Stunden täglich. In zwei Heimbelegen rasten die Arbeiter auch am Sonntag nicht. Mit Recht meint Schönlank, dass eine neunstündige Arbeit in den Queck- silberbelegen mehr bedeute als eine vierzehnstündige in einem unge- fährlicheren Gewerbe. Der Umstand , dass die Belegarbeit hier und da mit Rücksicht auf geschäftliche Umstände und ganz unerträgliches

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Litteratur.

Wetter eine Unterbrechung erfährt, hat nicht allzuviel zu bedeuten, denn einmal ist die letztere nicht ausgiebig genug, und sodann renn*; der Arbeiter, der mit den Pausen auch eine entsprechende Einbuße an seinem Lohn erfährt, in dieser Zeit noch weniger als sonst eint hygienischen Anforderungen entsprechende Lebensweise zu führen. Sind doch die Lohnverhältnisse in dieser Industrie derartige, dass sie nat die notdürftigste Lebensfristung gestatten. Nimmt man an, dass der Belegarbeiter das ganze hier mit 45 Wochen zu veranschlagende Ar- beitsjahr ohne Störung beschäftigt ist, so ergibt sich günstigen Falb als durchschnittliche Jahreseinnahme für männliche Beleger 945. fc weibliche Beleger 810, Wischerinnen und Presserinnen 495 und Liefe.' frauen 450 Mark. Die Belegmeister sind ausser Betracht geblieben weil sie eine Zwischenstufe zwischen Unternehmer und Arbeiter bilder. So dürftig ist es mit der Entlohnung von Arbeitern bestellt, deren Thä- tigkeit, wenn sie länger andauert, so gut wie ausnahmslos die gräss- lichsten Krankheiten, oft unheilbares Siechtum und in manchen Fällen sogar den Tod im Gefolge hat. Sowohl akute wie chronische Krank- heiten sind nach dem übereinstimmenden Urteile der Hygieniker oed Aerzte für die Belegarbeiter charakteristisch. Zu den ersteren zählen Stomatitis (Mundschleimhautentzündung), Gastrizismus (Magenerkrank- ungem und Darmkatarrh; unter den chronischen Krankheiten gibt es eiet Reihe insbesondere schrecklich peinigender Nervenkrankheiten, die als verschiedene Intensitätsstufen der chronischen Quecksilbervergiftung iuf- treten. Der mit Mattigkeit, Abmagerung, Kopfweh, Schwindel and Ohrensaussen einhergehende Erethismus ist nach Hirt die erste Stufe, die zweite ist der Tremor mercurialis, bei dem die Kranken infolgt eines höchst eigentümlichen Muskelzitterns ihre Glieder nicht stülza- halten vermögen. Das Endstadium charakterisiert sich als ein völlig zerrüttetes Nervensystem, erschöpfende, zum Tod führende DurchWt und Schweisse. Daneben kommen als Komplikationen Wechseliebtr und Dysenterie und als direkte Folge der sog. Merkurialblödsinn rot. Besonders disponiert sind die Spiegelbeleger auch zur Lungenschwind- sucht. Kussmaul fand unter 56 unter dem Einfluss von Quecksilber verstorbenen Personen 37, das sind 71"/,, Schwindsüchtige. Selbst«'- stündlich sind die in den Belegen arbeitenden Frauen ganz besonder« gefährdet ; namentlich unterliegen sie einer starken Prädisposition mm Alrortus und die Sterblichkeit ihrer Kinder ist enorm. Nach Hirt sterbt* durchschnittlich 65 •/,. der von Quecksilberarbeiterinnen geborenen Kinde innerhalb des ersten Lebensjahrs. »Von der Bedeutsamkeit di«0 Prozentsatzes« sagt Hirt, »kann man sich einen Begriff machen, **** man erwägt , dass sogar die Sterblichkeit von meist schwindsüchtige Glasschleifern erzeugter Kinder, welche unter den erdenklich schlech- testen Verhältnissen geboren und ernährt werden, weit dahinter zurück“ bleibt.«

Eingesendetc Schriften.

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Die sanitären Zustände der Fürther Si>iegelbeleger sind die denk- bar getreueste Illustration für die Forschungsergebnisse der Hygieniker.

Fragt man nun: Wie nehmen diesen heillosen Verhältnissen gegen- über die Behörden ihre Pflicht wahr? Versuchten sie es wenigstens durch schützende Vorschriften, zu denen sie hinreichende Handhaben besitzen, einigertnassen dem gesundheitlichen Ruin der Belegarbeiter zu steuern ? Diese Fragen lassen sich nur mit einem die pflichtgemässe Fürsorge der Behörden in das übelste Licht stellenden Nein beantworten. Von einer schlechterdings unverantwortlichen Konnivenz gegen die Unternehmer geleitet, haben die Fürther Stadtbehörden wie die bayerische Regierung so gut wie nichts an den Zuständen gebessert, und doch würden eine starke Verkürzung der Arbeitszeit und eine Reihe hygienischer Einrich- tungen, wenn auch nicht entscheidend gewirkt immerhin grossen Nutzen gestiftet haben. Eine gründliche Hilfe vermag allein das Verbot des Quecksilberbelcgens zu bringen. Die Forderung nach einem solchen ist um so gerechtfertigter, als in dem Silberbelegen ein besonders in England und Belgien mehrfach angewendetes Verfahren existiert, das in Ver- bindung mit ausreichenden und ernstlich gehandhabten Schutzbestim- mungen die Arbeiter vor gesundheitlichen Schädigungen vollkommen behüten würde.

Die Schönlank'sche Schrift hat sich durch ihre Darstellung ein grosses wissenschaftliches und sozialpolitisches Verdienst erworben. Sie würde noch eindrucksvoller sein, wenn der Verfasser manche Breite vermieden und sein kokettes Bestreben, mit allerlei fragmentarischen, nicht zur Sache gehörigen Kenntnissen zu glänzen, unterdrückt hätte. In dem Buch finden sich einige Seiten (134 fg. 212 fg.), die mit künstlerischer Meister- schaft geschrieben sind, um so bedauerlicher ist es, dass die Darstellung sonst manchmal durch sehr hässliche Stvlblüten (z. B. S. 49 fg. 85, 94, 127, 146, 178 fg. Anm.) entstellt ist. Doch das sind Details. Im Ganzen verdient die Schrift reiches Lob , und wir scheiden von ihr mit dem Wunsch, dass sie dazu beitrage, den Schandfleck an dem deutschen Wirtschaftskörper, den die Fürther Quecksilberbelegen darstellen, end- lich zu beseitigen.

München. HEINRICH BRAUN.

EINGESENDETE SCHRIFTEN.

Amdrup, V. M„ Ein Rechtvschutzverein in Kopenhagen. S.-A. aus Heft io und 11 der Deutschen Worte, herausgegeben von E. Pemerstorfer. Wien, 1S88. Verlag der Deutschen Worte.

Arbcitenvohl. Organ des Verbandes katholischer Industriellen und Arbeiter- freunde. Redigiert vom General-Sekretär Franz ilitzc. 8. Jahrgang , i 3. Quartal. Köln, 1888, Bachem. 8”.

Bücher, IVof. Karl, Basel’ s Staatseinnahmen und Stcuervertctlung 1S7S iSS? ,

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Eingesendete Schriften.

tabellarisch dargestellt. Publiziert vom Finanz-Departement Basel-Stadt. Basel, iSSS, Buchdruckerei von J, G. Bauer. 40. 83 S.*

Bulletin de la Societ* ouralienne d'amateurs des Sciences naturelles. Tome XL livr. I. (Russisch und französisch ) Jekaterinenburg, 1887. FoL

Bulletin annuel des finances des grandes villes. VII. ann£e- 1883 Redigt Jos. Körösi Budapest, Grill, 1888. Lex. 8°. 47 S.

Bulletin de l’Institut internationale de Statistique. Tome III , 2eme Lim«-«. Anntfe 1888. Rome, 1888, Botta, gr. 8°.

Christ, E. R. und Stoffers , G. , Katechismus des Unfallversichenmgs-Geset». Düsseldorf, 1887, C. Kraus, kl. 8°. VIII. u. 134 S.

Deutsche Worte. Monatshefte, herausgegeben von E. Pernerstorfer. Jahrgang lieft 6—10. Wien, 1888. Verlag der Deutschen Worte. 8”.

Finlands Statistik. Bidrag tili Finlands olftciela Statistik VIII. Sparbank*^> tistik. 2. Öfversigt af Finlands sparbanker, deras utveckling och ställning *ren bis 1885. Helsingfors, 1887/88. gr. 8* 111 S.

Freund, R. , Dr. jur. Die Zentralisation der Arbeiter-Versicherung unter be«- derer Berücksichtigung der Grundzüge zur Alters- und Invalidenversicherung der Af* beiter. Berlin, 1888, Heine. 8°. 48 S.

Freund, R„ Dr. jur. Die Rekursentscheidungen, Bescheide und Beschlüsse, ®- wie sonstigen Veröffentlichungen des Reichsversicherungsamtes als Erläuterung« u dem Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884 und dem Gesetz über die Ausdehnu^ der Unfall- und Krankenversicherung vom 28. Mai 1885 bearbeitet, l 3* k* Berlin, 1888, Heine. 8U. l 288 S.

Gallus, W. , Dr. Beiträge zur Lösung der Frage der Alters- und Invaliden«?- sorgung der Arbeiter. Leipzig, 1888, Rossberg. kl. 8fl. 34 S.

Giornale degli Economisti diretto dal Dott. Alberto Zorli. Vol. III. Fase. 1— - Bologna, Tip. Fava e Garagnani. gr. 8°.

Gossen, H. H., Entwicklung der Gesetze des menschlichen Verkehrs, and ‘1® daraus fliessenden Regeln für menschliches Handeln. Neue Ausgabe. Berlin, «SSc Prager. 8n. VIII u. 277 S.

Gutachten aus dem Anwaltsstande über die erste Lesung des Entwurfs eines Bj'- gerlichen Gesetzbuchs herausgegeben im Aufträge des Deutschen Anwalt- Verein* «* den Rechtsanwälten Adams, Wilke, Mecke, Hartmann und Erythropel. Heft I—4- Berlin, Moeser, 1888. 8°.

Italienische amtliche Statistik. Annali di Statistica. Elenco delle pubblicaaoc statistiche falte dal ministero di agricoltura etc. Roma, 1888, Bencini. S". 126 8.

Statistica della emigrazione italiana ncll' anno 1S87. Compendio delle le?2; e regolamenti sull’ emigrazione vigenti in varii Stati d’Europa. Roma, 1888, Tip. Aldina Lex 8°. 271 S.

Statistica dell’ istruzione elementare per l’anno scolastico 1884/85. IntroduzioiK Roma, 1887, Tip. della Camera dei Deputati. Lex. 8v:. LXXXV1 S.

Statistica dell’ istruzione secondaria e suj>eriore per l’anno scoiastico 1885—^ Introduzione. Roma, 1887, Tip. Elzeviriana. CXII S. Lex. 8

Statistica giudiziaria penale per Panno 1886. Roma , 18S8 , Botta. gr v CXCIX e 676 p.

Statistica giudiziaria civile e commerciale per l’anno 1886. Roma, Botta, i&&>

gr. 493 S.

Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Peutscheu Reich.

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Ei "gesendete Schriften. 687

12. Jahrgang. Herausgegeben von Gustav Schmoller. 1 4. Heft. Leipzig , 1S88. Duncker und Humblot. 8«.

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Kamp, O., Dr. Fortbildungsschulen für Mädchen. Berlin, 1888 , Siemenroth u. Worms. 8°. 76 S.

Katalog der Bibliothek der Gehe-Stiftung zu Dresden. Abteilung D: Volkswirt- schaft. Dresden, 1888, v. Zahn u. Jaensch. 8°. XXX u. 415 S.

Körösi , J., Die Sterblichkeit der Stadt Budapest in den Jahren 1882 1885 und deren Ursachen. (A. u d. T. Publikationen des statistischen Bureaus der Hauptstadt Budapest XXII ) Berlin, Puttkammer u. Mühlbrecht, gr. 8°. X u. 168 S. M. 3. 60.

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Kaef E., Kantonsstatistiker, Das Armenwesen im Aargau und die Refonnbestreb- ungen. Mit Berücksichtigung der Arbeiterversicherung. Bearbeitet und veröffentlicht im Auftrag des Schweiz. Industrie* und Landwirtschaft*- Departements und im Ein- verständnis des aarg. Regierungsrates. Aarau, 1888, Buchdruckerei von G. Keller. 8'f. 88 S.

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Forhandlingerne paa det nordiske national ukonomiske Mode i Kjubenhavn 1888. Kjt benhavn, 188S, Nielsen & Lydiche. 8°. 283 S.

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Raphael, Axel, Arbesgifvare och arbetare Förlikningsmctoder vid deras intresset- vister. I. England och Forenta Staterna. Stockholm, Samson u. Wallm. S". XII u.

147 s.

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Salvador i, C\, Prof. Dr. Le basi della scicnza economica. Studii critici Roma, 1887, Aldina kl 8°. 172 S.

Schmitz, J., Herausgeber der Arbeiterversorgung, Sammlung der Bescheide, Be- schlüsse und Rekursentscheidungen des Reichsversicherungsamts, nebst den wichtigsten Rundschreiben desselben. Systematisch zusaminengestellt. Berlin, 1888, Siemenroth u. Worms. 8U. XVI u. 334 S

Schnapper-Arndt, G. Dr. Zur Methodologie sozialer Enqueten. Mit besonderem

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Eingesendete Schriften .

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Sombart, Werner, Die römische Campagna. Eine sozialökonomische Studie. (A. u. d. T. Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen. Herausgegeben von (I Schmoller. Bd. VIII. Heft 3.) Leipzig, 1888, Duncker u. Humblot. 8**. V'III u. 180 S.

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Triidinger , Otto , Die Arbeiterwohnungsfrage und die Bestrebungen rur Lo*«c derselben. Von der staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen ge- krönte Preisschrift. (A. u. d. T. Staatswissenschaftliche Studien, hrsg. von L Bst«. 2. Band, 5. Heft). Jena, 1888, Gustav Fischer. 8°. 233 S.

fuhr, N. v., Das russische Lagerhausgesetz vom 30. März / 11. April 18SS über- setzt und mit Hinweisungen auf ausländische Gesetzgebungen versehen. Berlin, Puttkammer u. Miihlbrecht. 8°. 28 S.

Volksivi rtscha ftlic he Wochenschrift von Alexander l>om. Wien. 1888. X BA Lex. 8°.

Wasserrad , K., I>r. jur. et cam. Preise und Krisen. Volkswirtschaftliches aa» unseren lagen. Eine von der staatswirtschaftlichen Fakultät der Universität Muncht» gekrönte Preisschrift: Ueber die Veränderungen der Preise auf dem allgemeinen MaAl seit 1S75 und deren Ursachen. Zugleich eine Einführung in nationalökonomtstk Studien für Beamte und Kaufleute. Stuttgart, 1S89, Cotta. 8°. VIII u. 2 10 S.

Wehberg, I)r. II., Welches ist der erste Stand? Beantwortet im Geiste des hs- manistischen Sozialismus. Berlin, 18S8, Staude. 8°. 72 S.

Wtstergaard, Harald, Prof. Drikfaeldigheden i Danmark og Midleme IlennwA med llenblik paa forholdene i sverige og norge, saerlig goteborgsystemet Foredrig. Kj obenhavn, 1888, Pontoppidaus Forlag. 8°. 24 S.

M ieser, Dr. F. v., Der natürliche Wert. Wien, 1889, Holder, gr. 8*. XVI 239 S.

Zeitschrift des k. preuss. statistischen Bureaus. 1 lerausgegcben von dessen Di- rektor E. Blenck. 28. Jahrgang, 1888. Heft I. II. Berlin, 1888, Statistisch« Bu- reau. 40.

Zeitschrift für Schweizerische Statistik. XXIII. Jahrgang, 1888. HerausgegeitfB von der schweizerischen statistischen Gesellschaft. Redaktion : E. W. Milli et. 1 tal-IIeft. Bern, 188S, Schmid, Francke & Co. 40.

Zuns, Julius, Dr. Der »Wucher auf dem Lande*. Eine Kritik des Fragebogt« der vom Verein für Sozialpolitik veröffentlichten Wucherenquete. Frankfurt J. & 1888. Mahlau u. W'aldschmidt. 8l\ 49 S.

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