1 K N /.«; Das Sinnesleben der Insekten Neunte Studie. Kritische Bemerkungen über einige, seit 1887 publizierte Experimente andrer. Eigene Ex- perimente über den Gesichtssinn der In- sekten, ihr Farbensehen, ihr Fernsehen. I. Sigmund Exner.^ Wir schulden Exner ganz besonderen Dank wegen seiner physio- logischen Studien über das Insekten- und Krustaceenauge. Diese meisterhaften, tief eindringenden Studien enthalten die Resultate der in seinen früheren Werken niedergelegten Forschungen mit einigen wich- tigen Modifikationen, ohne dass indessen radikale Änderungen not- wendig gewesen wären. Ehe ich in kurzen Zügen auf diese Arbeiten ein- gehe, möchte ich ein fundamentales Gesetz betonen, das aller Sinnes- tätigkeit zugrunde liegt. Die Schärfe der Leistung eines Sinnesorgans ist stets — bei gleichen sonstigen Verhältnissen (wir werden dies noch an Copilia demonstrieren) — proportional der Anzahl seiner Nervenendelemente. Die scheinbaren Ausnahmen dieses Gesetzes (so die Vermehrung der Nervenendelemente bei grösseren Tieren oder die Sigmund Exner: 1. Durch Licht bedingte Verschiebungen des Pigments im Insektenauge und deren physiologische Bedeutung. (Sitz.-Ber. d. k. k. Akad. d. Wiss., Wien, math. naturhist. Klasse. Bd. 98, Abt. 3, März 1889. 2. Das Netzhautbild des Insektenauges. Ebenda, Februar 1889. 3. Die Physiologie der facettierten Augen. Leipzig u. Wien, bei Franz Deuticke, 1891. 150 Kritische Bemerkungen; Exner Dehnbarkeit der Sehfähigkeit bei Copilia) dienen nur zu seiner Be- stätigung. Mir scheint, dass dieses Gesetz bei der Aufstellung von Theorien über die Sinne von Insekten nur zu oft vernachlässigt worden ist. Es ist Exner gelungen, das alleinige aufrechte Gesamtbild, wie es im Facettenauge von Lampyris splendidula (Leuchtkäfer) gebildet und von dem Gehirn dieses Insektes zweifellos mehr oder minder deutlich wahrgenommen wird, zu entdecken und zu fixieren. Dieses Bild ist wesentlich deutlicher als das, welches er auf Grund seiner Theorien vermutet hatte, und welches ich selbst im Anfang dieses Buches (Tai I, Fig. 3) abgebildet habe. Wenn nun dies letztere nicht sehr deutlich ist, so darf nicht vergessen werden, dass es ein theo- retisch nur von drei Facetten erzeugtes Bild, und zwar eines sehr kleinen Gegenstandes wiedergeben will. Auch möchte ich hier gleich erwähnen, dass Exner selbst seinen Zweifel darüber ausspricht, ob das Insekt fähig ist, das betreffende Bild mit derselben Schärfe wahr- zunehmen, mit der es von ihm (Exner) selbst gesehen und photo- graphiert worden ist. Gesetzt selbst, dass dies möglich ist, so ist doch das biologische Experiment allein imstande, uns mit annä- hernder Bestimmtheit darüber Auskunft zu geben, was Exner selbst auch vollständig zugibt. Das Bild, das Exner aus dem Auge von Lampyris splendidula erhalten hat, ist das eines Fensters, das sich 2,25 m von dem Auge entfernt befand; auf dieses Fenster ist ein „R" aus Papier geklebt, dessen Grundstriche 4,9 cm breit sind, auch kann man durch das Fenster hindurch einen 135 Schritt dahinter gelegenen Kirchturm eben noch erkennen. Ophthalmologisch ausgedrückt repräsentiert dieses Bild eine Sehschärfe von ^^ bis ^^ Snellen. Danach würde ein Lampyris ein aus Stäben von 5 cm Breite bestehendes Gitter noch aus einer Entfernung von 2,25 m als Gitter erkennen. Aus einer Entfernung von 1 cm aber würde es noch Stäbe von 0,22 mm Breite erkennen. Die Deutlichkeit des Bildes entspricht also der Zahl von Nervenendelementen, oder mit andern Worten der Zahl der Facetten, da jede Facette ein im vorliegenden Falle mit sieben Zellen versehenes Rhabdom besitzt, und Exner schliesst daraus ganz mit Recht, dass grössere und an Nervenendelementen reichere Insekten- und Krustaceenaugen zweifellos noch viel deutlichere Bilder liefern. In Beantwortung einer, diesen Gegenstand betreffenden Anfrage antwortete mif Prof. Exner mit folgenden Worten: „Ich kann nun- Kritische Bemerkungen; Exner 151 mehr mit Bestimmtheit behaupten, dass die Deuth'chkeit des Bildes sich steigert mit der Anzahl der auf jeden Winkelgrad der Augen- wölbung entfallenden Facetten". Dies stimmt also ganz genau mit meinen früheren Angaben und Resultaten überein. Trotzdem erfährt die Theorie Johannes Müllers über das mu- sivische Sehen infolge der Exnerschen Arbeiten einige ziemlich wesent- liche Modifikationen. Es ist mir an dieser Stelle unmöglich, auf die Einzelheiten der Brechungsverhältnisse des Facettenauges einzugehen; ich muss vielmehr den Leser auf das Studium des Originals ver- weisen. Exner untersuchte aufs gründlichste den Brechungsindex der verschiedenen lichtbrechenden Medien des Auges bei zahlreichen Arthropoden. Er macht vergleichende Angaben über die Bilderzeugung, je nachdem die Gesichtswahrnehmungen des Tieres unter Wasser oder in der Luft stattfinden, wobei sich auf Grund der Struktur der erwähnten Medien des Auges nur geringe Unterschiede ergaben. Er beweist, dass die Substanz der Kristallkegel in Schichten von ver- schiedenem Brechungsindex angeordnet ist, und zwar in negativer Pro- gression. Durch diese Tatsache verbinden sich die Eigentümlichkeiten der zylindrischen Form, die jede Facette auszeichnet, mit denen einer Sammellinse. Exner gibt diesem Apparat den Namen eines „Linsen- zylinders". Diese Feststellung zwingt ihn zu einer Modifikation seiner früheren Theorie, wonach die Strahlen einfach durch die Wände des Zylinders zurückgeworfen würden. Auf die mathematischen Be- rechnungen, die Beobachtungen und entsprechenden Beweisführungen, die Sigmund Exner anlässlich dieser Frage mit Hilfe seines Bruders Karl Exner anstellt, kann ich hier nicht eingehen. Ihr Gesamtresultat lässt sich in folgenden zwei Hauptfällen zusammenfassen : Fall A. : Der Fokus der gebrochenen Strahlen befindet sich an der hinteren Basis des Zylinders (der Kristallkegel), dessen Länge infolgedessen der Fokaldistanz entspricht. Dann werden die zentralen Strahlen der Facetten von ihrem Austritt aus dem Zylinder an (gegen die Retinula zu) parallel, nachdem sie das Bild erzeugt haben. Fall B. : Der Zylinder ist doppelt so lang als seine Fokaldistanz; dann wird ein umgekehrtes Bild eines sehr entfernten Objektes in derMitte der Länge des Zylinders erzeugt, und die Strahlen verlassen den Zylinder am anderen Ende ebenso wie sie eingetreten sind, d. h. unter demselben Winkel, den sie bei ihrem Eintritt mit solchen Strahlen bildeten, die von einem andern Punkt des Objektes ausgingen. Die Wirkung ent- 152 Kritische Bemeri^ungen; Exner spricht der eines nicht vergrössernden astronomischen Teleskops, das auf unendliche Entfernung eingestellt ist. In Wirklichkeit aber stellen die Facetten der Arthropoden sehr verschiedene Kombinationen dieser beiden Refraktionsmodalitäten dar, Kombinationen, die dahin zielen, ein so gebrochenes Strahlen- bündel zu konzentrieren, und zwar in Gestalt eines umgekehrten nebelhaften Bildes eines begrenzten Teiles des im Gesichtsfeld gelegenen Objekts. Die Gesamtheit der Strahlenbündel einer grossen Anzahl von Facetten dient dann zur Bildung des grossen aufrechten Bildes, das von dem Individuum wahrgenommen wird. Exner zeigt, dass es, je nach der betreffenden Insekten- oder Krustaceenspezies, entsprechend den soeben dargelegten Tatsachen, zwei hauptsächliche Formen des dioptrischen Sehens (der Bild- erzeugung) gibt. 1. Im ersten Falle beschränken sich die Corneae und die Kegel mehr oder minder auf die Wirkung eines lentikuloiden Zylinders (A) von der Länge der Fokaldistanz. Die Kegel sind bis zu ihrem hinteren Ende, welches das Licht zuweilen nur an einem sehr kleinen Zentral- punkt passieren lässt, von Pigment umgeben. Die empfindlichen Nervenendorgane sind dicht und unmittelbar hinter den Kegeln gelegen. Die Strahlenbündel jeder Facette wirken daher auf jede Retinula getrennt und bilden durch ihre Kombination ein aufrechtes Bild durch Juxtaposition auf derselben Ebene unmittelbar am Ende der Kegel und tangential oder identisch mit der Ebene der Gesamtheit der Retinulae. Dieser Fall liegt vor bei dem Auge eines Krusters (Limulus), der von Exner untersucht worden ist, und bei dem es ihm gelang, das aufrechte Bild zu sehen. Bei vielen Insekten sind die Sehstäbe sehr lang (Rhabdome) und von den Kristallkegeln durch ein durchsichtiges Gewebe von beträcht- licher Stärke (Glaskörper) getrennt. In diesem Fall unterliegt die J. Müllersche Theorie durch das, was Exner als aufrechtes Bild durch Superpositon bezeichnet, einer starken Modifikation. Hier ist das Pigment mehr nach vorn, zwischen die Kristallkegel konzentriert, während das rückwärtige Ende dieser letzteren desselben ermangelt. Infolgedessen werden die Lichtstrahlen in jeder Facette gebrochen, deren Zylinder die doppelte Länge der Fokaldistanz (Fall B) besitzt, was ihn wie ein astronomisches Teleskop, das auf unendlich ein- gestellt ist, wirken lässt. Kritische Bemerkungen; Exner 153 Strahlen, die z. B. aus einer Lichtquelle hervorgehen, die weit genug entfernt ist, um Strahlen, die als parallele betrachtet werden dürfen, auszusenden, werden von mehreren Facetten in der Weise gebrochen, dass sie längs einer gewissen Ausdehnung desselben Elementes (Rhabdom) der Retina, übereinandergelegt werden; ein Strahl, der von der rechten Seite des Objektes ausgeht, wird auch nach der rechten Seite des aufrechten Bildes gehen. Die Strahlen, die von einem zweiten Licht ausgehen, werden sich (übereinandergelegt) auf einem andern Rhabdom derselben Seite wie das genannte zweite Licht konzentrieren usw. Mit einem Wort, wir erhalten ein aufrechtes Bild durch Aufeinanderlegung der von verschiedenen Facetten ge- brochenen Lichtbündel. Die Nachbarfacetten werden sich teilweise an den verschiedenen Portionen des Bildes beteiligen. Dies wird nur ermöglicht durch die Abwesenheit von Pigment in dem rück- wärtigen, dicksten Teil des dioptrischen Apparates. Diese Art des Sehens nähert sich einigermassen dem der Wirbeltiere. Ich verweise hier ebenso auf die von Exner gegebenen mathematischen Beweise wie auf seine Figuren. Selbstverständlich macht dieses Auge viel mehr Strahlen nutzbar als dasjenige, welches das Bild durch Juxta- position gibt, indem es die meisten schrägen Strahlen durch Absorp- tion beseitigt. Exner hat festgestellt, dass die Bilderzeugung durch Superposition nur bei den nachtliebenden Arthropoden vorkommt. Bei denjenigen, die ein Tagleben führen und unfähig sind, nachts zu fliegen und sich zu orientieren, ist das Pigment derart in den hinteren Abschnitten abgelagert, dass es den dioptrischen Apparat jeder einzelnen Facette bis zur Retina von seinen Nachbarn trennt; auf diese Weise wird das Bild dann durch Juxtaposition erzeugt. Exner hat weiter gefunden, dass eine grosse Anzahl von Insekten und Krustaceen die Fähigkeit besitzt, die Lagerung des Pigments ihrer Augen (Irispigment) derartig zu verschieben, dass es bei intensivem Licht nach hinten verlegt wird und alle starkgebrochenen Strahlen absorbiert, so dass nur die zentralen Strahlen bis nach hinten dringen können; bei dunkler Beleuchtung dagegen wird das Pigment in den vordem Abschnitten zwischen den Kristallkegeln konzentriert, so dass deren hintere Abschnitte und die Kristallkegel frei bleiben; in diesem Falle werden fast alle Strahlen, die in die einzelnen Facetten fallen, nutzbar gemacht. Exner hat auch eines der Augen einer im Dunkeln gehaltenen Lasiocampa quercifolia entfernt und dann das Insekt dem Tages- ]54 Kritische Bemerkungen; Exner licht ausgesetzt. Das Pigment des im Moment des Todes beleuchteten und dann in Alkohol fixierten Auges befindet sich zwischen dem vor- deren Teil der Rhabdome und verhindert absolut jedes Zustande- kommen eines mehreren Facetten gemeinsamen Bildes; das Pigment des Auges hingegen, das im Moment des Todes im Dunkeln gehalten wurde, befindet sich im Gegenteil ausschliesslich vorn zwischen den Kristallkegeln (Tafel IV, Fig. 28 u. 29 bei Exner). Nun vermögen die Tiere, die diese Fähigkeit besitzen, sowohl bei Tage als bei Nacht zu sehen. Fast alle Insekten, die man gemeiniglich als Nachtinsekten bezeichnet, gehören zu dieser Kategorie, denn sie vermögen auch bei Tage zu sehen. Im Gegensatz dazu erfolgt bei den wirklichen Taginsekten die Bilderzeugung ausschliesslich durch Juxtaposition, und diese Tiere sind bei Nacht vollkommen blind. Aus diesen schönen Beobachtungen geht auf das deutlichste her- vor, dass der Sinn der Bilderzeugung durch Superposition in der Konzentration von möglichst viel Licht auf jedes retinale Element besteht. Das Bild des Auges von Lampyris splendidula, das von Exner so klar photographiert und so meisterhaft studiert worden ist, ist ein durch Superposition erzeugtes Bild. Es ist selbstverständlich, dass es auch Zwischenformen gibt, wie es Tiere gibt, deren Anpassung an das Tag- oder Nachtleben keine vollkommene ist. Exner hat klar gezeigt, wie die eine Augenform sich aus der andern entwickelt hat, wobei die Juxtaposition als der primäre, die Superposition als der sekundäre, von ihr abgeleitete Zu- stand aufzufassen ist. Sowohl bei denjenigen Insekten (mit mehreren Facetten), welche ein aufrechtes Bild durch Juxtaposition, als auch denjenigen, welche es durch Superposition sehen, ist die Wahrnehmung von Licht, das von demselben Punkt ausgeht, niemals auf eine einzige Facette beschränkt. Die „Teilbildchen" jeder Facette sind deshalb mehr oder weniger mit denen ihrer Nachbarn vermischt, wodurch ein mehr oder weniger grosser Zerstreuungskreis gebildet wird, der die Gesichtswahrnehmung weniger scharf macht, aber die Fähigkeit erhöht, Ortsverschiebungen des Bildes wahrzunehmen. Denn infolge davon ergibt sich aus der kleinsten Verschiebung jedes Teils die Reizung einer beträchtlichen Zahl von Nervenendorganen. Dies steht somit in Beziehung zu der ausserordentlichen Fähigkeit des Facettenauges, Bewegungen, d. h. Bildverschiebungen wahrzunehmen. Das Wirbeltierauge besitzt diese Kritische Bemerkungen; Exner 155 Fähigkeit lange nicht in solch hohem Grade, denn es nimmt solche Verschiebungen ganz vorwiegend in der Peripherie des Gesichtsfeldes wahr, wo die Untercheidung der Form nur unvollkommen ist. In diesem Punkt bestätigt Exner seine alten Angaben. Ferner besitzt das Facettenauge sehr häufig einen katoptrischen Apparat oder ein sogenanntes Tapetum, das dazu dient, solche Strahlen zu beseitigen, die zu schief einfallen oder solche, welche in die Intervalle der Facetten durch Reflexion gelangen. Dies Tapetum ergibt zuweilen wundervolle Spiegelungen. Ein andrer sehr wichtiger Punkt, auf den Exner Licht geworfen hat, ist der folgende: Das Auge von Limulus und überhaupt die Facettenaugen von mehr primitivem Charakter nähern sich in ihrem Bau den Ocelli oder einfachen Augen. Auf jede Facette kommt bei ihnen eine grössere Zahl von Nervenendelementen (14 — 16 oder mehr statt 4 — 8). Diese aber sind nicht in ein Rhabdom verlötet. Das durch Juxtaposition im Auge von Limulus erzeugte Bild ist nichts- destoweniger ein aufrechtes, einzelnes. Doch erkennt Exner an, dass hier vielleicht für jede Facette das Vermögen anfängt, selbständig ein partielles, umgekehrtes, verwischtes Bild (entsprechend den Anschau- ungen von Gottsche) wahrzunehmen, und zwar auf Grund der grös- seren Anzahl von Nervenendorganen. Phylogenetische Gründe sprechen für diese Anschauung. Um diese Frage weiter aufzuklären, hat Exner das Auge von fossilen Trilobiten untersucht. Dieses Auge aber (es war das von Phacops fecundus) ist ein Mittelglied zwischen dem Auge von Limulus und einer Ocelle. Es ist gross und aus Facetten zusammen- gesetzt, die auf den ersten Blick an das Auge von Limulus erinnern. Doch anstatt eines Kristallkegels hat jede Facette eine wunderschöne einzige chitinöse Linse, ohne Kegel, ähnlich einer Ocelle. Dies Auge müsste demnach in jeder Facette ein umgekehrtes Bild erzeugen, woraus durch Juxtaposition ein grosses, aufrechtes Gesamtbild ent- stehen würde. Die Spinnen aber besitzen, anstatt und an Stelle von Facetten- augen, eine Anhäufung von Ocellen, die Exner als „hochentwickelt" bezeichnet. Er glaubt nun, dass die Summe von Strahlenbündeln, die von all den umgekehrten Bildern der einzelnen Ocellen her- rühren, ein grosses, mehr oder weniger verschwommenes, aufrechtes Bild ergeben müssten, das von der Spinne als Gesamtbild empfunden wird. Wir entfernen uns somit allmählich von dem Facettenauge und 156 Kritische Bemerkungen; Exner hier kommt, wie man sieht, die Auffassung von Gottsche in Betracht; denn eine Facette, die aus einer einfachen Linse besteht, erzeugt notwendigerweise auf der in ihrem Fokus gelegenen Retina ein um- gekehrtes Bild der Gegenstände. Diese Tatsachen erklären die Phylogenie der zwei Sorten von Augen. Das primitive Auge oder der vor einer Nervenendigung gelegene und von Pigment umgebene, erste, durchsichtige Fleck der Epidermis gestattete dem Tier zu allererst eine Differenzierung zwischen Licht- und Tastempfindung. Die Vermehrung von Nerven- endorganen unter einer einfachen linsenförmigen Cornea führte zur Bildung einerseits der Ocelle, andrerseits auch des Wirbeltierauges. Eine Anhäufung kleiner primitiver Augen, die nach und nach in Facetten um- gewandelt wurden (mit Corneae, zylindrischen Kristallkegeln und Rhab- domen), hat sich schliesslich zum Facettenauge mit einer ganz speziellen Art dioptrischen Sehens (musivisches Sehen) ausgebildet. Gehen wir zu einigen weiteren Einzelheiten über. Exner hat die Augen einer grossen Anzahl von Arthropoden untersucht. Gewisse Arten zeigen eine unregelmässige oder dimorphe Struktur. Die Wölbung des Auges variiert sehr stark. Bei gewissen Libellen (so z. B. Cordulegaster) zerfällt das Auge in zwei Teile von verschiedener Struktur. Jede Struktur hat ihre eigene „raison d'etre" und stellt zweifellos eine Anpassung an einen bestimmten Zweck dar, eine Anpassung, zu der der Autor in gewissen Fällen den optischen Schlüssel gefunden zu haben glaubt. Die Augen befinden sich fast immer so weit voneinander entfernt, wie die Dimensionen des Kopfes es nur irgend zulassen. Zuweilen sind sie verschmolzen, weil sie den ganzen vorhandenen Raum beanspruchen. Bei Libellula depressa sind die Facetten des oberen Teils des Auges fast zweimal so gross und so lang wie diejenigen des unteren Teils, ja, die Kristallkegel sind sogar mehr als doppelt so gross. Die beiden Teile zusammen bilden trotzdem ein Tagauge (Bild durch Juxtaposition). Exner macht darauf aufmerksam, dass diese An- ordnung den oberen Teil des Auges besser befähigt erscheinen lässt, Gegenstände in einer grösseren Entfernung zu sehen, während der untere Teil mehr auf die Wahrnehmung naher Gegenstände zu- geschnitten sein dürfte. Nun bewegen sich, wie er ganz mit Recht bemerkt, die Libellen vorwiegend in einem niedrigen und horizon- talen, „schwebenden" Fluge, so dass sie ihre Feinde oder ihre Beute meist vor oder über sich erblicken, während, sobald sie ihre Beute Kritische Bemerkungen; Exner 157 gepackt haben, sie dieselbe nah, unterhalb von sich und in einem mehr oder weniger unbeweglichen Zustand sehen. Das Auge gewisser Krustaceen (Copilia, Sapphirina etc.) ist ganz einzigartig. Es besteht aus einer einzigen prachtvollen Chitin- linse. Sehr entfernt davon, jedoch durch einen Muskel und Ligamente damit verbunden, befindet sich ein Kristallkegel und hinter diesem ein kleiner optischer Nerv mit einem einzelnen Rhabdom mit drei Zellen. Zwischen der Linse und dem Kristallkegel befinden sich Teile des absolut durchsichtigen Körpers des Krebstiers. Warum ist nun hier ein einzelnes Rhabdom mit einem so bemerkenswerten Apparat verknüpft? Dies erscheint Grenacher ganz unverständlich. Exner aber hat bemerkt, dass der Kristallkegel, der mit dem Rhabdom zu- sammen ein Ganzes ausmacht, sehr beweglich ist und beim lebenden Tier symmetrisch mit dem des andern Auges bewegt wird, während beide sich in der gleichen Entfernung von der Linse halten. Mit anderen Worten: das einzige Nervenendelement untersucht hinterein- ander die verschiedenen Portionen des einen, umgekehrten von der Linse erzeugten Bildes; es „betastet" resp. prüft sie sozusagen in ganz ähnlicher Weise wie der gelbe Fleck des menschlichen Auges hintereinander die verschiedenen Teile eines Bildes, das wir sehen, prüft, so dass, obgleich wir wohl die Gesamtheit des Bildes sehen, wir deutlich in einem Augenblick nur denjenigen Punkt wahrnehmen, der von dem gelben Fleck fixiert wird. Diese Hypothese Exners, zusammen mit seinen Beobachtungen, vermag allein dies eigentümliche Auge zu erklären, das, soviel muss zugegeben werden, eine richtige „Ausnahme von der Regel" darstellt. Gleichzeitig repräsentiert es einen prachtvollen Fall von spezieller Adaptation, indem hier die Durchsichtigkeit des gesamten Körpers der Copepoden ihren Gesichtswahrnehmungen dienen muss. Bei der Gattung Phronima mit ihren Ungeheuern, dünnen und gebogenen Kristallkegeln, deren Enden geradezu die Retinulae be- rühren, wird die Erzeugung eines Bildes durch Superposition un- möglich. Auch eine Bilderzeugung durch Juxtaposition, wie Exner sie tatsächlich für möglich hält, scheint mir ausgeschlossen, und zwar infolge der Krümmung und Dünne der Kristallkegel, die die Dioptrik des linsenförmigen Zylinders nicht gestatten. Trotzdem ist Exner sowohl durch Theorie als durch direkte Beobachtung zu dem Schluss gekommen, dass die Strahlen in jeder einzelnen Facette gebrochen werden, so dass sie verstärkt am Ende der Kristallkegel anlangen. Hier wird 158 Kritische Bemerkungen; Exner wieder ein einzelnes aufrechtes Bild erzeugt, ähnlich dem durch Juxta- position geschaffenen, aber noch mehr nach der Weise der J. Müller- schen Theorie musivischen Sehens. Bezüglich des Auges von P h r o n i m a sieht sich Exner veranlasst, den in seinen früheren Werken vertretenen Theorien treu zu bleiben. Zweifeilos sind die von den Facettenaugen erzeugten Bilder ungenau resp. in ihrer Form entstellt. Aber man darf nicht vergessen, dass auch wir uns der Unvollkommenheiten unseres Sehens wie überhaupt unsrer Sinne nicht bewusst sind (man denke an die Farbenblinden und an die Astigmatischen). Das Insekt, dessen Auge ihm ein in der Form entstelltes oder verschwommenes Bild liefert, hat es nie anders gekannt. Es unterscheidet lebende und leblose Gegenstände und ihre Bewegungen allein mittels seines so beschaffenen Gesichts- sinns, der sein einziges Kriterium für Unterschiede bildet. Ohne sich je der Unvollkommenheiten seiner Sinne bewusst werden oder ahnen zu können, dass es Besseres gibt, geht es seinem Tagewerke nach, mit Instinkten, die eben jenen Sinnen angepasst sind, ja auf den- selben, wie sie nun einmal beschaffen sind, basieren. Exner betrachtet die Wahrscheinlichkeit einer Akommodation beim Facettenauge als sehr gering. Trotzdem sind Insekten imstande, Entfernungen abzumessen, selbst dort, wo die Konvergenz der beiden Augen ihrer Unbeweglichkeit wegen fortfällt. Exner glaubt indessen, dass die Entfernung der beiden Augen voneinander und der ge- meinsame Teil ihres Gesichtsfeldes wo ein solcher besteht\ durch den Winkel, der aus den Achsen der zwei Bilder erzeugt wird, einen gewissen Grad von stereoskopischem Sehen bei geringer Ent- fernung ermöglicht. Er macht an dieser Stelle darauf aufmerksam, dass, wenn wir selbst eines unsrer Augen schliessen und unsern Kopf bewegen, diese Bewegung genügt, um uns z. B. die Tiefe eines Baumzweiges (bei verkürzter Ansicht desselben) beurteilen zu lassen, was wir vom ruhendem Zustand aus nicht können. Dies kommt daher, dass die Verschiebungen bei den nahen Gegenständen stärker sind, grössere Ausschläge geben als bei den entfernten. So können auch in Bewegung befindliche Insekten sowie Krebse mit ihren be- weglichen Augen die Tiefe der Gegenstände besonders gut beurteilen. ^ Bei vielen Insekten z. B. Cryptocerus gibt es keinen gemeinsamen Ab- schnitt in den Gesichtsfeldern der beiden Augen. Vgl. oben Tafel I, Fig. 6 a und 6 b. Kritische Bemerkungen; Exner 159 Ich muss den Leser hier an etwas bereits weiter oben Betontes erinnern, dass nämlich die Schnelligkeit, mit der, entsprechend der vergrösserten Entfernung, das Bild im Facettenauge undeutlicher wird, dem Insekt wesentlich helfen dürfte, Entfernungen abzuschätzen. Um in der Fülle der komplizierten Probleme, die uns hier be- schäftigen, nicht die Übersicht verloren gehen zu lassen, komme ich jetzt noch auf ein psycho-physiologisches Gesetz zurück, das wir nie aus den Augen verlieren sollten: Das Gehirn wird in der Qualität seiner Wahrnehmungen beherrscht vom Differenzierungs- vermögen, das ihm die Sinne liefern. Es ist demzufolge durchaus nicht bloss hypothetisch gesprochen, wenn wir von einer Differen- zierung, die aus der bestimmten Struktur und Lage eines Sinnesorgans erwächst, schliessen auf eine korrespondierende Differenzierung der zerebralen Wahrnehmungen. Und in gleicher Weise sollte die Ab- wesenheit einer Sinnesorganstruktur und -Lage uns auf die Ab- wesenheit der entsprechenden Wahrnehmung schliessen lassen, es sei denn, dass diese Struktur durch eine andre analoge vertreten sei, so wie z. B. das Facettenauge mit seinem einzigen aufrechten Bild, freilich unter gewissen Modifikationen das umgekehrte Bild unsres Auges ersetzt; und ferner sollte eine überzählige Struktur mit wohl- umschriebener Funktion uns auf eine korrespondierende überzählige zerebrale Wahrnehmung hinweisen. Wir werden auf diesen Gegen- stand anlässlich des Kontakt-Geruchssinns und seines Sitzes auf einem beweglichen Organ zurückkommen, doch lag mir daran, das allge- mein gültige Gesetz schon hier und in seiner Beziehung auf den Ge- sichtssinn zu formulieren. Freilich bedarf es in jedem Fall des Kon- trollbeweises mittels des biologischen Experiments. Ehe wir Exner, der uns die optische Basis des Gesichtssinns der Arthropoden so trefflich erläutert hat, verlassen, möchte ich noch erwähnen, dass er sich mit gewissen widersprechenden Hypothesen anderer Autoren (Notthaft, Thompson, Lowne,^ Patten-) auseinander- gesetzt hat und ihnen gerecht geworden ist. Notthaft habe ich selbst schon weiter oben besprochen. Lowne ist der Meinung, dass das Rhabdom kein Nervenorgan, sondern ein Teil des dioptrischen Ap- parates sei; er glaubt noch hinter demselben eine Retina gefunden zu haben. Doch ist es undenkbar, dass das Rhabdom in Anbetracht seiner Struktur das zwiefach umgekehrte Bild, das Lowne ihm zu- ^ Trans. Linn. Soc. 1884. 2 Journal of Morphology, I. Nr. 1, 1887. 160 Kritische Bemerkungen; Lubbock schreibt, hervorbringen sollte. Ferner kann, vom histologischen Ge- sichtspunkte gesprochen, kein Zweifel darüber herrschen, dass das Rhabdom den Stäbchen der Retina entspricht, Organen, die sich in allen Augen erkennen lassen. Ich erwähne noch zum Schluss, dass Prof. Dr. Grützner in Tü- bingen eine grosse schematische Nachahmung des Facettenauges konstruiert hat, mit Hilfe welcher man direkt das aufrechte Bild Exners sehen kann. II. Sir John Lubbock.^ In einem neuen Buch, welches seine alten Experimente und die andrer Autoren resümiert, bestätigt Lubbock seine und meine eignen früheren Beobachtungen über den Gesichtssinn, wendet sich ebenso wie ich, jedoch ohne auf Einzelheiten einzugehen, gegen Plateau und pflichtet den Theorien von Exner und Grenacher bei. Bezüglich meiner eignen Experimente an Ameisen mit abgeschnit- tenen Antennen spricht Lubbock gewisse Zweifel aus, da nach seiner Meinung „Ameisen in einsamem und vollends leidendem Zustand viel weniger kampfbegierig sind als unter normalen Verhältnissen." Mein verehrter Widersacher ist, bei all seinem sonstigen Scharfblick, in diesem Fall im Unrecht, und zwar aus folgenden Gründen: Ameisen mit gefirnissten Augen, Ameisen, die in der Mitte des Körpers entzwei geschnitten wurden, Ameisen, denen man eine ein- zige Antenne oder mehrere Füsse abgenommen hat, all diese kämpfen miteinander und töten sich genau wie normale Tiere ihresgleichen, vorausgesetzt, dass die beteiligten verschiedenen Arten oder Kolonien angehören. Warum hört nun aber jedes Kämpfen auf, sobald beide Antennen oder auch nurdie beiden Fühlergeisseln abgeschnitten werden? Warum entsteht vielmehr bei Myrmica, ebenso wie wenn man diese Tiere mit Sublimat bestreut, sofort nach Amputation ein plötzlicher und allgemeiner Krieg, und zwar zwischen den Schwestern derselben Kolonie? Diese Tatsachen lassen sich nur durch den Verlust des Ver- mögens erklären, Freund und Feind zu erkennen, und zwar des Ver- mögens, ihn mittels des Kontaktgeruchs zu erkennen, dessen Träger die Fühlergeisseln sind. Eines aber scheint Lubbock nicht genügend in Betracht zu ziehen, dass wir es nämlich hier mit einem viel komplizier- - On the Senses, Instincts and Intelligence of Animals. London 1888. Deutsche Übersetzung von W. Marshall, Leipzig 1889.) Kritische Bemerkungen; Lubbock 151 teren und dem Gehirn genauere Raumverhältnisse liefernden Geruchs- sinn zu tun haben, als unser eigner es ist, mit einem Geruchssinn, dessen Rätsel mir noch längst nicht gelöst erscheinen. Bezüglich der Fähigkeit, die Ameisen haben oder nicht haben, Ameisen zu erkennen, die in einer andern Ameisenkolonie ausge- krochen sind, die jedoch vor dem Auskriechen als Puppen ihrer eigenen Kolonie angehörten, erneuert Lubbock seine Experimente mit Lasius niger. Diese scheinen ihm seine frühere bejahende Beantwortung dieser Frage zu bestätigen. Ich selbst habe bei Formica, und zwar bei verschie- denen Gelegenheiten, das Gegenteil gefunden. Nun haben wir beide aber an verschiedenen Gattungen experimentiert — sollte dies der Grund der widersprechenden Resultate sein? Es ist dies ein Punkt, der weiterer Aufklärung bedarf. Was die hypothetischen Gehörorgane und den Gehörssinn der Insekten überhaupt betrifft, so glaubt Lubbock jetzt, dass die In- sekten hören, ohne jedoch direkte oder neue Beweise dafür vorzu- bringen. Wir verweisen auf das oben Gesagte. Dagegen stimmt Lubbock völlig mit mir überein betreffs des Geschmackssinns und der Geschmacksorgane; auch ist er der Meinung, dass das Wolffsche Organ (am Gaumen) diesem Sinn dient. Wir wissen, bis zu welcher Höhe der Geschmackssinn sowohl, wie dieses Organ bei dem Bienenvolk entwickelt ist, während die Lebensweise der Chalciditen und der Braconiden, denen das Wolffsche Organ fast gänzlich fehlt, wohl ein sehr scharfes Geruchs-, nicht aber Geschmacks- organ bedingt. Was den Geruchssinn betrifft, so bekennt sich Lubbock im allge- meinen zu unserer Ansicht, indem er die Antennen als Sitz desselben betrachtet. Doch glaubt er auch Spuren von Geruchssinn in den Palpen gefunden zu haben. Überzeugt (ebenso wie ich), dass das Riechvermögen aus der Entfernung bei den Bienen wenig entwickelt ist, vermag er es sich nicht zu erklären, warum ihre Antennen eine so enorme Zahl von Nervenendorganen aufweisen — nach Micks 20000! — und schliesst aus dieser Tatsache auf das Vorhandensein eines andern Sinnes in denselben. Doch ist Micks' Berechnung absolut falsch, wofern die Zahl nicht auf einem Druckfehler beruht. Die Sinnes- haare der Bienen sind, wie Micks dies selbst demonstriert hat, einseitig an der sehr kurzen Antenne angeordnet. Es ist nun die mediane dorsale Oberfläche der letzten acht Glieder der Fühlergeissel, die bei der Honigbiene als Sinnesfläche dient. Nach meiner annähernden Forel, Das Sinnesleben der Insekten 11 152 Kritische Bemerkungen; Lubbocl^ Schätzung dürfte jedes Glied des Fühlers 200 — 250 Nervenendorgane aufweisen, höchstenfalls aber 300. Daraus geht hervor, dass Lubbock und Hicks eine Null zu viel gesetzt haben, und dass die Totalsumme sich auf 2000 allerhöchstens belaufen dürfte. Lubbock zieht nun das, was ich als Kontaktgeruch bezeichnet habe, überhaupt nicht mit in Betracht. Gerade der Kontaktgeruch scheint aber bei der Biene sehr gut entwickelt zu sein. Man kann sehr leicht beobachten, dass die Bienen die Staubgefässe und den Stempel der Blumen, an denen sie saugen, mit ihren gegeneinander gerichteten Antennen betasten, d. h. dass sie den betreffenden Teil der Blume zwischen die beiden Fühlergeisseln zu fassen kriegen und mit deren Sinnesfläche prüfen. Dies ist keine Betätigung des Tastsinnes, sondern des Kontakt-Ge- ruchssinnes, mittels dessen sich die Biene über die chemischen Eigen- schaften der Blumen orientiert. Was nun die Champagnerpfropforgane betrifft, so habe ich selbst (Etudes myrmecol., 1894, Bull. soc. vaud. sc. nat. Vol. XX, Nr. 91) gezeigt, dass sie, ebenso wie die flaschenförmigen Organe, bei den Vespidae fehlen oder fast fehlen, bei den Honigbienen dagegen sehr stark vertreten sind. Diese einfache Tatsache entkräftet ohne weiteres die Theorie, dass dies, wie Lubbock annimmt, Gehörs- oder Geruchsorgane seien. Bezüglich des Gehörssinns muss ich an die Tatsache erinnern, dass die inneren Gehörorgane bei Mensch und Wirbeltier, ebenso wie auch der Gehörnerv, zwei gänzlich verschiedenen Funktionen dienen. Die Nervenendapparate der Cochlea, speziell des Cortischen Organs bilden den eigentlichen Hörapparat. Die nervösen End- apparate des Vorhofes und der Bogengänge erfüllen die Funktion eines Gleichgewichtsorgans und haben wahrscheinlich gar nichts mit dem Gehör zu tun. Die Bulbarzentren der beiden Nerven sind, wie ich durch meine Experimente an Kaninchen bewiesen habe, absolut voneinander verschieden (s. Forel, Vorl. Mitteilungen über den Ursprung des Nervus acusticus, Neurolog. Zentralblatt 1885; Onu- frowicz, Br. : Exp. Beiträge z. Kenntnis d. Zentr. Ursprungs d. Nervus acusticus, Archiv für Psychiatrie 1885). Es gibt keinen Beweis dafür, dass die Otolithen der niederen Wirbeltiere, Mollusken etc. dem Cor- tischen Organ entsprechen. Dagegen erscheint mir ihre Homologie mit dem Vestibularapparat und speziell mit der Basis der Bogengänge mehr als wahrscheinlich. Diese einfachen Tatsachen zwingen uns zum Nachdenken und zum Kritische Bemerkungen; Lubbock 163 Herbeibringen der triftigsten Beweise, ehe wir es wagen, den Insekten und andern Wirbellosen kompliziertere Gehörorgane zuzuschreiben. Wäre es doch mögh'ch, dass die tympaniformen Organe einen uns noch ganz unbekannten, vom Gehör sehr verschiedenen Sinn dar- stellen. Was nun den hypothetischen Richtungssinn betrifft, so schliesst sich Lubbock völlig der von Romanes und mir selbst vertretenen Ansicht an, die dahin zielt, dass es sich hierbei einfach um eine Er- innerung an den Anblick der betreffenden Örtlichkeiten handelt. Gleichzeitig gibt Lubbock zu, dass er sich eine Zeitlang von den Argumenten Fabres (s. oben) habe bestechen lassen. Was nun den Gesichtssinn betrifft, so möchte ich, besonders auch im Hinblick auf die weiter unten zu referierenden Experimente Plateaus, folgende Lubbockschen Versuche erwähnen: 1. Er stellte Honig in ein Fenster und wartete stundenlang, ohne dass eine Biene den Honig gefunden hätte. 2. Er setzte eine Biene (ohne dass diese von dem Honig angelockt worden wäre) zu einer Portion Honig in ein ungefähr 150 m vom Bienenstock entferntes Fenster. Sie sog den Honig, flog davon, kehrte aber nicht wieder. (Dieses Experiment hat Lubbock mehr als zwanzigmal mit demselben Erfolg wiederholt.) 3. Wenn er die Biene, 15 m vom Stock entfernt, in gleicher Weise an den Honig setzte, so kam sie zwar schliesslich zum Honig zurück, ohne jedoch einen Gefährten mitzubringen. Nie- mals, obwohl er dieses Experiment sehr oft wiederholte, sah er die Biene in Begleitung von Gefährten wiederkommen. 4. Er stellte Honig zwei oder drei Fuss entfernt von dem Ort, wo die Bienen Blumen zu besuchen pflegten, auf; nie fanden sie ihn. 5. Nach langem und geduldigem Experimentieren kam er zu dem Schluss, dass die Bienen blau jeder anderen Farbe vorziehen. Ich kann nicht behaupten, dass mir das Resultat dieser letzten Experimente völlig klar und überzeugend geworden wäre. Im ganzen genommen aber finde ich, dass mit Ausnahme der Gehörssinnsfrage, bei der mir durch die experimentellen Beweise ab- solut nichts erwiesen erscheint, Lubbocks Experimente und die meinigen fast gänzlich übereinstimmende Resultate zeitigten; einige divergierende Einzelheiten erscheinen mir hierbei ganz unwesent- lich. Diese Tatsache hat um so grösseren Wert, als Lubbocks kriti- sche Geistesrichtung besonders dahin tendiert, Meinungsverschieden- heiten zu unterstreichen, und als dieser Autor einer der wenigen ist, 11* 164 Kritische Bemerkungen; Plateau die gründlich in diese Frage eingedrungen sind und sie von allen Gesichtspunkten aus beleuchtet haben. HI. Felix Plateau^ Meine eignen neuen Experimente. Nur mit Widerstreben begebe ich mich an die Besprechung dieses Autors. Nicht, dass es schwer wäre, ihn zu kritisieren, aber meine Kritik wird einen beträchtlichen Raum beanspruchen, und vor allem wird es äusserst peinlich für mich sein, die falschen Schlussfolge- rungen eines Fachgenossen auszulegen, vor dessen Geduld, Fleiss, Ehren- haftigkeit und gutem Glauben ich die grösste Hochachtung hege. Doch ist es um so notwendiger, auf diese Angelegenheit gründlich einzu- gehen, als Plateau, trotz oder vielleicht auf Grund der unendlichen Geduld und Ausdauer seiner Forschungen eine grosse Verwirrung in diese uns beschäftigenden Fragen hineingetragen hat, und als ferner seine Resultate und Schlussfolgerungen nur zu leichtgläubig von ge- wissen andern Autoren aufgegriffen worden sind, und zwar gerade von solchen, die sich sonst allen ihren Vorgängern gegenüber sehr überlegen fühlen. Ehe ich in meine Besprechung der Plateauschen Arbeiten eintrete, möchte ich nochmals ganz kurz an einige allgemeine Thesen erinnern, die für mich längst feststehen, und in denen ich mich eins mit Darwin, ^ Felix Plateau: 1. Comment les fleurs attirent les insectes. Bulletin de l'Academie royale de Belgique, 3me serie, Tome 30, N. 11, 1885; Tome 32, N. 11, 1896; Tome 33, N. 1, 1897; Tome 34, N. 9 u. 10, 1897; Tome 34, N. 11, 1897 (5 Teile). 2. Derselbe. Un filet empeche-t-il le passage des insectes? Ibidem. Tome 30. N. 9 u. 10, 1895. 3. Derselbe. Nouvelles recherches sur les rapports entre les insectes et les fleurs. Memoires dj la soc. zool. de France, Tome 11, S. 339, 1898. 4. Derselbe. Exp. sur le role des palpes chez les arthropodes maxilies. Buil. de la soc. zool. de France, 1887. 5. Derselbe. Recherches experimentales sur la vision chez les arthro- podes. 3me, 4me et5me Parties. Bulletin de l'Acad. royale de Bel- gique, 1888. 6. Derselbe. Nouv. Rech, sur les rapports entre les insectes et les fleurs. Mem. soc. zool. de France. Tome 11, N. 3, 1898, u. Tome 12, S. 336, 1899. 7. Derselbe. La vision chez l'Anthidium manicatum. Annales soc. ent. Belg. T. 43, 1899. Kritische Bemerkungen; Plateau 165 Romanes, Lubbock, kurz mit allen den Forschern fühle, die wirklich tiefer in die Psychologie der Insekten eingedrungen sind. Diese Thesen möchte ich klipp und klar wie folgt formulieren: a) Selbst wenn, wie dies häufig der Fall, einer der Sinne die haupt- sächliche richtunggebende Rolle bei einem Insekt spielt, so ist es doch die Regel, dass die Insekten die Wahrnehmungen verschie- dener Sinne bei ihrer Orientierung kombinieren. b) Aufmerksamkeit spielt bei der Orientierung der Insekten eine grosse Rolle. Ist die Aufmerksamkeit stark auf ein bestimmtes Ziel oder Objekt gerichtet, so ignorieren die Tiere oft alle andern Dinge, ähnlich wie ein in sich versunkener Gelehrter. (Diese Beobachtung machen wir an honigfressenden Bienen, kämpfenden Ameisen etc.) c) Das Gedächtnis der Insekten variiert stark, je nach der Spezies, und hat zu seiner Grundlage die verschiedenen assoziierten Sinnes- eindrücke und Muskelinnervationen. Es ist stärker als man a priori annehmen sollte bei Insekten mit komplizierten Instinkten und be- sonders bei sozialen Hymenopteren, aber ausserordentlich schwach bei den mit kleinen Gehirnen versehenen Arten. d) Wie Lubbock und H. Müller gezeigt haben, spielt die Übung oder Trainierung eine grosse Rolle. Von einer Gesichts- oder Ge- ruchswahrnehmung irgendwelcher Art angezogen (zuweilen von einer Kombination dieser beiden), richtet ein Insekt im Anschluss hieran seine Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand oder auf eine instinktive koordinierte Handlung, die mit einem bestimmten Zweck verbunden ist. Wenn dies erst einmal vollzogen ist, kann man sehen, wie das Insekt, sei es seine Wanderungen zu dem betreffenden Objekt, sei es die er- wähnte instinktive Handlung zu öfteren Malen und mit einer rapid zunehmenden Präzision wiederholt. Dies bedeutet nun nicht etwa, dass das Insekt erst die Dinge lernen müsste, die sein ererbter In- stinkt ihm fertig überwiesen hat, wohl aber, dass, um mit Sicherheit die ganze Serie instinktiver Tätigkeiten auszuführen, es häufig einer entsprechenden Serie von Gedächtnisbildern (von Engrammen, um mit Semon zu sprechen) bedarf, d. h. von assoziierten und assoziier- baren sinnlichen Bildern, die nicht nur sehr klar an sich, sondern auch sehr klar in das Gedächtnis eingeprägt sein müssen. Tätigkeiten, die keiner Gedächtnishilfe bedürfen, wie z. B. das Kauen oder die Kopu- lation, scheiden hierbei natürlich aus. Die komplizierten Tätigkeiten der sozialen Hymenopteren dagegen bedürfen des Gedächtnisses und folglich einer progressiven Einprägung und Assoziation von Eindrücken 166 Kritische Bemerkungen; Plateau durch Wiederholung, woraus dann die Gewohnheiten oder das „Trai- ning" hervorgeht, undzwar sowohl auf zentripetalem (psychosensiblem) als auch auf zentrifugalem (psychomotorischem) Gebiet. Bei uns selbst spielt sich diese gleiche Sache, nur in einer unendlich viel umfassenderen und komplizierteren Weise ab, und die Gesetze für die Fixierung von Gewohnheiten oder sekundären Automatismen sind dieselben auf dem psychosensiblen und intellektuellen Gebiet (optische und akustische Erinnerungsbilder usw., Lektüre, Verständnis der Laut- sprache) als auf psychomotorischem Gebiet (technische Geschicklich- keiten). Nur ist beim Insekt fast die ganze „Gewohnheit", fast der ganze Automatismus prädeterminiert und von Geburt ab, wenigstens in seinen hauptsächlichen Teilen, durch Erblichkeit fixiert. Immerhin bedarf es plastischer Kombinationen von Gedächtniseindrücken, um diese Mecha- nismen jedem besonderen Einzelfall anzupassen. Sehr beträchtlicher Kombinationen, soviel geben wir zu, bedarf es beim Insekt allerdings nicht, denn die „Instinkts- Portionen", wenn ich so sagen darf, (oder die erblichen Automatismen) sind stets bereit, sobald der entsprechende Sinnesreiz (Empfindung) ihre Erweckung veranlasst, mit grösster Prä- zision in Aktion zutreten. ImmerabersindwenigstensEmpfindungen, auch bei den niedersten Tieren, die Vorbedingung zum Ablauf eines Instinktes. Bei entwickelteren Insekten sind ausser diesen relativ ein- fachen Empfindungen kompliziertere Wahrnehmungen notwendig, welche in Kombinationen zwischen Gedächtniseindrücken unter sich und mit neuen Empfindungen bestehen, so z. B. die Fähigkeit, einen Gegen- stand wiederzuerkennen. Die Wahrnehmung begreift überhaupt das Wiedererkennen in sich. Es ist dem Psychologen bekannt, dass die Wahrnehmung ein sehr kompliziertes Ding und das Resultat der Assoziation vorhergegangener Empfindungen ist. Sie setzt mit absoluter Notwendigkeit Gedächtnis voraus. Und die Tatsachen zwingen uns, auch bei den Insekten, jedenfalls bei den höheren unter ihnen, das Vorhandensein von Wahrnehmung und Gedächtnis zu konstatieren. Diese beiden an sich plastischen Fähigkeiten sind es, welche die „Instinkt-Portionen" dem jeweiligen Zwecke anzupassen und zu diesem Behuf in plastischer Weise zu kombinieren vermögen. Und durch ihr Studium allein können wir zu einer Erkenntnis der Gewohnheiten, d. h. der Produkte der Übung, in jedem einzelnen Falle gelangen. e) Insekten besitzen einzelne Kategorien von Gefühlen und Affekten, die je nach Art, Gattung und Familie mehr oder weniger stark ent- Kritische Bemerkungen; Plateau 167 wickelt sind. Zorn, Angst, Entmutigung, Eifersucht sind unter den sozialen Hymenopteren sogar sehr ausgesprochen, ebenso Zuneigung und eine auf Erfolg basierende Tollkühnheit (siehe oben). Wenn man die Handlungen der Insekten richtig beurteilen will, muss man diese Affekte notwendig mit in Betracht ziehen. Die Affektzustände der Nervenzentren sind im Tierreich ein sehr wichtiger allgemeiner Faktor und sind mit Gefahr, Erfolg, Niederlage, fruchtlosen Bemü- hungen, Schmerz, Angriff, Verteidigung verbunden, sowohl beim Indi- viduum als auch bei der Gesamtheit. Ich habe hierfür sowohl in diesen Studien wie in meinen „Fourmis de la Suisse" viele Beispiele aus dem sozialen Leben der Ameisen angeführt. Es ist selbstverständlich, dass wir uns von der speziellen subjektiven Art und Weise, wie Insekten ihre Gefühle empfinden, kein deutliches Bild zu machen vermögen; doch ist die Analogie der betreffenden Zustände und ihrer Ursachen durch das ganze Tierreich hindurch eine so frappante, dass man unsäglich vorurteilsvoll sein müsste, um sie zu leugnen. Ja man muss sagen, dass die ursprünglichen (zugleich die typischsten) Affekt- zustände so eng mit den Instinkten verwachsen sind, dass sie auch bei uns Menschen einen sehr weit zurückliegenden phylogenetischen Ursprung verraten, und dass daher a priori nichts Erstaunliches dabei ist, wenn wir sie bei den Insekten sogar leichter wiederfinden und erkennen als die intellektuellen Elemente. f) Nichts ist so gefährlich wie verfrühte Verallgemeinerungen, ausser etwa: g) unberechtigte Schlüsse, die aus Experimenten gezogen werden, oder, wenn man will, irrige Interpretationen von Experimenten. Nachdem ich so den Boden einigermassen geebnet habe, möchte ich bemerken, dass die zahlreichen Irrtümer, die Plateau widerfahren sind, grösstenteils ihren Grund darin haben, dass er die Psychologie der Insekten nicht genug berücksichtigt und überhaupt zu häufig in die soeben gekennzeichneten Fehler verfällt. Um die Angelegenheit zu vereinfachen, werden wir bei unserer nun folgenden Kritik ebenso wie auf die Zahlen 1—7 der Werke Plateaus auf die Buchstaben- zeichnung a — g der eben angeführten Leitsätze zurückgreifen. L Palpen. Plateau behauptet, dass die Palpen (oder Taster) bei Insekten, Krustazeen, Myriapoden und Arachniden Organe seien, die „nutzlos oder nahezu nutzlos geworden sind, und die das betreffende Tier ohne Schädigung entbehren kann". Ich selbst glaubte, diese Organe, indem ich den zweiten Teil der Plateauschen Behauptung 168 Kritische Bemerkungen; Plateau gelten Hess, auf Grund mehrerer früher geschilderter Experimente, als blosse Tastorgane betrachten zu sollen. Trotzdem geben seine Experimente Plateau keineswegs das Recht, sie für „nutzlos gewordene Organe" zu erklären. Wie Nagel und Wasmann sehr klar gezeigt haben (s. unten), be- weist die Tatsache, dass viele ihrer Palpen beraubten Tiere Ge- schmack und Geruch zeigten, keineswegs das, was Plateau damit bewiesen zu haben glaubt. Übrigens sagt uns schon der gesunde Menschenverstand das Gegenteil. In der Tat finden wir bei gewissen Insekten die Palpen und ihre zugehörigen Sinnesorgane sehr gut entwickelt, während sie bei ganz nahe verwandten Formen sehr rudi- mentär sind. Wenn ihre Funktion bei allen Insekten rudimentär wäre, so würde auch das Organ selbst überall rudimentär sein; dies ist ganz klar, doch scheint Plateau es nicht einzusehen. Mit Hilfe sehr bemerkenswerter Experimente hat Nagel nachgewiesen, dass bei ver- schiedenen Insekten die Palpen einem Nahgeruch oder Kontaktgeruch dienen, der eine gewisse Verwandtschaft mit dem Geschmack zeigt — dies noch ausser ihrer charakteristischsten Haupteigenschaft, dem Tast- sinn, dessen Funktionen sie bei allen Insekten dienen. Die Nageischen Experimente beweisen, dass mir selbst (was zu erwarten war) einiges entgangen ist, und dass Plateau sich ganz im Irrtum befindet. 2. Gesichtssinn bei Arthropoden. a) Bei Raupen. Plateau geht in folgendem von einer vorzüg- lichen Idee aus. Indem er sich den Instinkt der meisten Raupen, von der Erde aus, wo sie sich befinden, irgendeinen aufrechtstehenden Ast oder Stengel zu erklettern, zunutze machte, setzte er sie zu- nächst auf einen horizontalen Stab, den sie entlang krochen. So- bald die Raupen das Ende des Stabes erreicht hatten, näherte er diesem einen vertikalen, trockenen Zweig von 30 cm Höhe und 5 mm Dicke und beochtete den Moment, in dem die Raupe deutliche und unzweifelhafte Versuche machte, den Ast zu erreichen (wobei von den blinden, direktionslosen Hin- und Herbewegungen dieser Tiere abgesehen wurde). Nachdem Plateau diesen Versuch mit 15 Raupenarten gemacht hat, glaubt er festgestellt zu haben, dass der aufrechte Ast erst aus einer Entfernung von Vs— 2 cm (je nach der Spezies) wahrgenommen wurde, während sich die Raupen unausge- setzt nach dem Körper des Experimentators und andern sehr grossen Gegenständen wendeten, und zwar schon aus einem Abstand von 40 cm Kritische Bemerkungen; Plateau 169 und mehr (vgl. meine eigenen Beobachtungen an Lasius fuligi- nosus). Ferner behauptet Plateau, dass die Raupen bewegte Gegen- stände aus keiner grösseren Entfernung wahrnahmen als unbewegte Gegenstände derselben Dimension. Da diese Tiere nur 5—6 sehr kleine, einfache, primitive Augen auf jeder Seite des Kopfes besitzen, bestätigt diese Beobachtung die Exnerschen Behauptungen. Ausser- dem zeigt Plateau, dass Raupen — besonders vermittelst ihrer Haare — Tastsinn und auch einen ganz schwachen Geruchssinn besitzen (er prüfte dies, indem er ihnen frische Stengel von gewissen Pflanzen, die sie bevorzugen, hinhielt). Wäre Plateau nicht über das, was diese Tat- sachen aussagen, hinausgegangen, so würden wir uns in bester Über- einstimmung befinden. Weil aber gewisse Myriapoden unter denselben Versuchsbedin- gungen den dargebotenen Zweig nicht bemerkten, schliesst Plateau, 1. dass bei der Raupe ein Netzhautbild und eine wirkliche Gesichts- wahrnehmung entsteht, und 2. dass die Wahrnehmung eines sehr umfangreichen Objektes — wie z. B. seines eignen Körpers — aus einer Entfernung von 40 cm als etwas ganz Verschiedenes zu be- trachten sei und keine eigentliche Gesichtswahrnehmung im gewöhn- lichen Sinn darstelle. Er glaubt damit bewiesen zu haben, dass die Schlussfolgerungen Grenachers falsch seien, und dass die Raupen eine entwickeltere optische Struktur besitzen, als gewöhnlich angenommen wird. Es ist nicht schwer, Plateaus logischen Irrtum (8) aufzudecken. Geben wir einmal zu, dass seine Experimente an Myriapoden un- widerlegbar seien, und dass diese Tiere nur hell und dunkel zu unter- scheiden wissen. Grenacher hat gezeigt, dass ihre Sehstäbe hori- zontal sind, und so ist es sehr möglich, dass ihr Gesichtssinn in der Tat ausserordentlich primitiv ist und stark hinter dem der Raupen zurücksteht. Daraus geht aber weder hervor, dass die Tatsache, dass ein Zweig von 5 mm Dicke aus 1 cm Entfernung gesehen wird, einen ausgebildeten Gesichtssinn voraussetzt, noch dass die andere Tatsache, dass ein Mensch aus 40cm Entfernung gesehen wird, kein Bev/eis eines solchen ausgebildeten Gesichtssinns sei. Beide Fälle beweisen nur eine unbestimmte Wahrnehmung von Formen. Plateau hat nur ge- zeigt, dass die Raupe die Anwesenheit eines Gegenstandes von 5 mm Grösse auf 1 cm Entfernung bemerkt, nicht aber, dass sie die Kon- turen dieses Gegenstandes deutlich unterscheidet. Alles in allem glaube ich, dass Raupen etwas weniger undeutlich aus naher Ent- 170 Kritische Bemerkungen; Plateau fernung als aus weiter sehen, worin sie den andern Arthropoden, besonders denen mit einfachen Augen, gleichen. Von da aber bis zu der Schlussfolgerung Plateaus ist ein weiter Schritt. Spricht er doch weiter unten von der „Distanz des deutlichen Sehens" der behaarten und unbehaarten Raupen! Dass ich Plateau falsch verstanden hätte, ist ausgeschlossen, denn er sagt wörtlich „auf weitere Entfernungen können die Raupen das Vorhandensein grosser Massen wahrnehmen; doch unterscheiden sie deshalb noch nicht deren Wesen („nature"). Dies zeigt deutlich, dass er bewiesen zu haben glaubt, dass die Raupen das „Wesen" eines 5 mm dicken Zweiges auf 1 cm Entfernung erkennen. Ich möchte noch hinzufügen, dass, indem er vom Erkennen des Wesens eines Gegenstandes spricht, Plateau offenbar den Raupen einen Grad von Verstandestätigkeit zuschreibt, den diese wenig ent- wickelten Insekten sicherlich nicht besitzen (siehe oben c und d). b) Frontale Ocellen und Facettenaugen; Firnissen der Augen und Durchschneiden der Sehnerven. Plateau wendet zwei Methoden an, das Firnissen und das Durchschneiden der Sehnerven mit einer Starnadel. Anstatt aber einzusehen, warum ich selbst Frankfurter Firnis zum Firnissen der Augen ange- wendet habe, warum ich diesen schnell in einem Tropfen Chloro- form löste, ihn in dem Moment, wo er klebrig wurde, applizierte und ihn in wenigen Sekunden trocknen Hess, kehrte er selbst zu der Leinölfarbe Swammerdams zurück. Diese Methode des Experi- mentierens ist aber äusserst mangelhaft, weil man das Auge auf diese Weise nicht mit einer dicken, gleichmässigen Schicht bedecken kann, und weil, während des langsamen Trocknens, das Insekt sich leicht von der Farbe zu befreien vermag, sei es mjt Hilfe seiner eigenen Füsse, sei es durch Reiben gegen Wände usw. Ich habe übrigens nie bemerkt, dass meine Insekten im geringsten von den letzten, in dem noch klebrigen Firnis vorhandenen Spuren von Chloroform belästigt worden wären. Ausserdem ist Plateau „aufs höchste erstaunt", zu sehen, dass die Insekten, deren Facettenaugen beseitigt oder gefirnisst worden waren, sich vertikal oder in Spiralen in die Luft erheben, gleichviel ob ihre Ocellen gefirnisst oder ob diese Organe dienstfähig waren. Er hat nicht beachtet, dass ich selbst bereits die Augen von Insekten ohne Ocellen mit demselben Erfolg gefirnisst hatte, was natürlich auf dasselbe herauskommt! Übrigens habe ich selbst auch die Kritische Bemerkungen; Plateau 171 Ocellen und Facettenaugen gleichzeitig gefirnisst, wodurch sich eben- falls keine Veränderung in der Wirkung ergab. Diesen Punkt betreffend motiviert Plateau seine Beobachtung, dass die Insekten mit gefirnissten Augen sich zu einer wirklich ausserordentlichen Höhe erheben, durch die Tatsachen, dass er selbst sehr presbyopisch geworden sei. Ich möchte mir aber erlauben, hierzu zu bemerken, dass die Presbyopie (oder Alterssichtigkeit) weder die Schärfe des Sehens erhöht, noch die Entfernung, bis zu der man sehen kann, steigert; sie hindert nur das Sehen aus der Nähe, indem sie die Akkomodationsfähigkeit herabsetzt. Deshalb kann aber ein Presbyopischer noch nicht ein Insekt bis zu einer aussergewöhnlichen Höhe verfolgen. Dieser Möglichkeit steht die Kleinheit des Objekts entgegen. Im Laufe der von Plateau in einem Zimmer vorgenommenen Experimente wandten sich die Insekten mit den gefirnissten Augen zum grossen Teil nach dem Fenster, was bei den Dipteren mit durchschnittenen Nerven, wie wir sahen, nicht der Fall war. Es kam dies von Plateaus unzulänglicher Methode des Firnissens, eine Methode, die ich selbst, wie bereits erwähnt, längst verlassen habe. Trotzdem ist bemerkenswert, dass fünf Eristalis tenax und mehrere Calliphora mit durchschnittenen Sehnerven, nachdem sie bis zur Zimmerdecke hinaufgewirbelt waren, sich an den Wänden niederliessen, während die übrigen zur Erde fielen, wie bei meinen eigenen Experimenten. Dies beweist, dass, ohne zu sehen und trotz des häufigen Anstossens, gewisse blindgemachte Dipteren es doch fertig brachten, sich niederzulassen, das heisst also, sich, ohne herunterzufallen, festzusetzen. Plateau hat seine Experimente, deren Resultate im wesentlichen mit meinen eigenen übereinstimmen, an taglebenden Lepidopteren, Dipteren und Hymenopteren angestellt. Plateau selbst aber glaubt, einen wesentlichen Unterschied zwischen seinen Resultaten und den meinigen gefunden zu haben, und zwar, wie er sagt, weil ich meine Insekten in die Luft warf, und diese sich dann gegen die Zimmerwände stiessen, während dies bei seinen Experimenten nicht der Fall war. In diesem Fall macht Plateau irrige Verallgemeinerungen. Erstlich habe ich meine blindgemachten Insekten nicht immer „geworfen", sondern liess z. B. die Maikäfer ganz ruhig von meinen Fingerspitzen wegfliegen, während Plusia gamma sowie meine Hummel ganz selbständig flogen. Auch haben sich meine Insekten nicht durchweg an den Wänden „ge- stossen", ehe sie in die Höhe flogen. Ausserdem erweisen sich 172 Kritische Bemerkungen; Plateau Plateaus eigene Experimente durch die Mangelhaftigkeit des Augen- überzuges als zu unvollkommen, um zu einem Vergleich herange- zogen werden zu können. Und wenn man seine Tabellen studiert, so entdeckt man, wie mehrere seiner Fliegen mit durchschnittenen Augen- nerven auf den Boden zurückfallen oder sich gegen die Zimmerdecke oder die Wand stossen; wieder andere (im Freien) fliegen im Zickzack. Im ganzen handelt es sich somit um unwichtige, teils zufällige, teils auf das ungenügende Firnissen zurückzuführende Differenzen, bei grundsätzlicher Übereinstimmung der Resultate, im übrigen wird Plateau bei einem Rückblick auf seine eigenen Experimente, besonders diejenigen an Bombus und Oedipoda, nicht leugnen können, dass die blindgemachten Insekten eine geringere Tendenz zeigten, spontan fort- zufliegen als die sehenden, zugleich aber eine stärkere Tendenz, gegen die Gegenstände, die sie nicht mehr sehen konnten, anzustossen. Die betreffenden Tatsachen liegen so klar, dass gar kein Zweifel darüber herrschen kann. Auf Grund seiner eigenen Experimente konstruiert sich Plateau die folgende Hypothese: Blindgemachte Insekten bewahren noch photodermatische Empfindungen (die seiner Meinung nach bei vielen Insekten auf der Transparenz des Chitins beruhen) und ihre Liebe zum Licht treibt sie dazu, in die Höhe, nach der Sonne hin zu fliegen. Die Tatsache, dass seine Fliegen mit durchschnittenen Augennerven nach der Zimmerdecke und nicht nach dem Fenster flogen, stört ihn keineswegs, denn, so argumentiert er, viele Insekten (dies sind zwar andere, z. B. Libellen und Tagfalter, doch das beirrt ihn nicht im mindesten) fliegen, auch wenn sie sich im Besitz ihrer Augen befinden, nach der Decke. Die Tatsache, dass viele blindgemachte Fliegen im Freien nach der Erde zu oder in horizontaler Richtung fliegen, hat in Plateaus Augen gleichfalls kein Gewicht. Glaubt er doch diesen Umstand aus der durch den Augenfirnis erzeugten Gleichgewichtsstörung erklären zu können. Er bezieht sich hierbei auf die Experimente von Jousset de Bellesme, der beweist, dass die Unmöglichkeit zu fliegen bei ihrer Halteren beraubten Dipteren auf einer Gleichgewichtsstörung beruht, die dadurch wieder eingebracht werden kann, dass man dem Abdomen etwas mehr Gewicht verleiht. Diese Hypothese ist nun, wie schon Plateaus eigene Tabellen zeigen, eine mehr als gewagte. So z. B. fielen von sechs Exemplaren Calli- phora vomitoria, denen der Sehnerv durchschnitten worden war, vier immer wieder auf die Erde zurück. In diesem Fall war es nicht Kritische Bemerkungen; Plateau 173 das Gewicht des Firnisses, der ihr Gleichgewicht störte; und meine eigenen Maikäfer mit gefirnissten Augen, die ja viel zu gross waren, als dass eine Störung des Gleichgewichtes überhaupt in Frage ge- kommen wäre, flogen nicht zum Himmel hinauf, sondern sehr häufig gegen Wände und Bäume, oder sie sanken wieder herab, nachdem sie erst aufwärts geflogen waren. Übrigens ist es a priori ausge- schlossen, dass die photodermatischen Empfindungen Anpassungen des Fluglebens seien. Sie sind erd- oder wasserlebenden Tieren eigen, und zwar zumeist blinden und nichtfliegenden. Ausserdem sind sie von langsamer Beschaffenheit und mehr den undifferenzierten Emp- findungen als den Qesichtsempfindungen zuzurechnen. Auch Tiebe kritisiert Plateaus Ausführungen, indem er ihn darauf aufmerksam macht, dass im Freien das Licht fast niemals vom Zenith ausgeht, sondern bei wolkigem Wetter von überall her und bei klarem von dort, wo die Sonne ist. In letzterem Falle müssten die photo- dermatischen Empfindungen das Insekt nach der Richtung der Sonne fliegen lassen, was jedoch nicht der Fall ist. ich selbst hatte Plateau vorgeschlagen, nachts und an Nachtinsekten zu experimentieren. Er tat dies und glaubt durch seine ungefähr 22 Experimente bewiesen zu haben, dass beinahe alle Lepidopteren mit geblendeten Augen entweder horizontal oder schräg nach der Erde zuflogen. Ich bin dadurch nicht überzeugt worden, denn erstens kann man bei Nacht den Flug der Insekten schwer verfolgen und zweitens wenden sich die geblendeten Insekten häufig zunächst dem Boden zu, ehe sie sich in die Luft erheben. Meine eignen Resultate, die allerdings auf andre Weise gewonnen sind, stimmen mit denen Plateaus kaum überein. Doch sind diese Experimente überhaupt schwieriger Natur, und auch ich vermochte zu keinen positiven Er- gebnissen zu gelangen. Am 21. Oktober 1900 wiederholte ich die Experimente von Plateau, indem ich mittels einer Starnadel die Augen von Schlammfliegen (Eristalis) und von Vespa germanica (Männchen) durchschnitt, teils im Garten, teils in meinem Zimmer. Ich erhielt dieselben Resultate wie Plateau und zugleich die Bestätigung meines früheren Experiments. Nur einige Eristalis landeten an der Wand, nachdem sie sich zur Zimmer- decke emporgehoben hatten, wobei ihr Flug schwerfällig und ungleich- massig war. Sie nahmen ihren Flug immer wieder auf, wobei sie fort- während an die Zimmerdecke oder die Wand streiften und sich gegen letz- tere an pressten. Zu dieserProzedur braucht ein Insekt nichtzu sehen, um ■174 Kritische Bemerkungen; Plateau SO weniger, wenn es die anhaftenden Füsse dieser Spezies besitzt. Es ist auch ganz etwas anderes, als im Freien an Mauern oder Bäumen, die sie nicht sehen, im vollen Fluge anzurennen. Sind doch die Dimen- sionen eines Zimmers zu gering, um einem Insekt Zeit zu lassen, ein sehr rasches Flugtempo anzunehmen. Noch muss bemerkt werden, dass die Jahreszeit für Eristalis (der Herbst) eine kühle ist und der Flug der Insekten zu solcher Zeit langsamer erfolgt als im Sommer, derjenigen Jahreszeit, in der meine ersten Experimente gemacht wurden. Übrigens flogen die blindgemachten Eristalis ohne Nachhilfe ab. Die Wespen hingegen fielen, besonders bei ihren ersten Versuchen, regelmässig zur Erde. Und doch hatten sie keinen Firnis auf den Augen, der ihr Gleichgewicht hätte stören können. Übrigens ver- lieren die Insekten auch ihr Gleichgewicht nicht infolge solcher Kleinig- keit, vielmehr benützen sie beim Fliegen ihr Abdomen zum Balan- cieren; fliegen sie doch sogar mit dem um ein Drittel gekürzten Flügel (einer Körperseite!), indem sie ihr Abdomen nach der ent- gegengesetzten Seite krümmen, um das Gleichgewicht herzustellen. Ich wiederholte nun meine Experimente bei Nacht und stellte dabei das Licht unter den Tisch, um ein Beleuchten der Zimmer- decke zu vermeiden. Die blindgemachten Eristalis flogen trotzdem zum Teil gegen die letztere, ohne sich den beleuchteten Zimmer- wänden zuzuwenden, wie es unbedingt der Fall gewesen wäre, wären ihre photodermatischen Empfindungen beteiligt gewesen. Ferner muss bemerkt werden, dass im Freien und bei Tage ge- blendete Insekten sich nicht immer vertikal, wie Plateau behauptet, sondern sehr häufig in schräger Richtung erheben. Ich hatte geschrieben, dass „Insekten mit gefirnissten Augen fliegen, bis sie, da sie ja nichts sehen, sich an irgend einen Gegenstand stossen, was jedoch nicht geschieht, wenn sie hoch fliegen." Plateau bezeichnet dies als meine „Hypothese", der er seine eigne entgegenstellt. Ich habe aber durchaus keine Ansprüche auf eine „Hypothese" erhoben. Ich gebe ohne weiteres zu, dass jene Erklärung keine vollständige ist und gewisse Lücken offen lässt, doch hat sie den Vorzug der Ein- fachheit und der Anwendbarkeit auf alle diejenigen beglaubigten Fälle, wo Insekten sich anstossen und im Anschluss daran herunterfallen (s. den Versuch mit den Maikäfern). Was die Fälle betrifft, wo der Firnisüberzug unvollkommen war, so muss zugegeben werden, dass das Insekt nach der Seite hinfliegt, wo es mehr Licht durch den Überzug schimmern sieht. Für die andern Fälle aber genügt diese Erklärung nicht. Kritische Bemerkungen; Plateau 175 Nun liegt noch folgende Möglichkeit vor: Unter natürlichen Ver- hältnissen besteht das Dunkel oder Halbdunkel, in dem sich ein Insekt zuzeiten befindet, darin, dass es sich unter der Erde, im Stamme eines Baumes, in einer Höhle oder in dichtem Unterholz aufhält. Sein kleines Gehirn erlaubt ihm nun nicht, wenn man es blind macht, über die Gründe seines Nichtsehens nachzudenken, der Instinkt aber treibt es dazu, aufwärts zu fliegen, um so den dunkeln Orten, wo es sich zu befinden glaubt, zu entfliehen. Man wird ein- wenden, dass es dies bei Nacht nicht tut, doch liefern ihm die Sonnen- hitze und andere Merkmale Unterscheidungen zwischen Ndcht und Tag; auch ist die Nacht selten vollkommen schwarz. Ferner wird man mir den spiralig oder im Zickzack verlaufenden Flug des Tier- chens entgegenhalten. Doch wird dieser höchst wahrscheinlich durch den Mangel an Orientierung erzeugt. Immerhin bewegen wir uns hier vielfach in Mutmassungen, und ich halte es für klüger, statt sich in Hypothesen zu ergehen, neue Tatsachen abzuwarten. Um zu beweisen, dass ich unrecht hatte, wenn ich den Ocellen der Hymenopteren die Aufgabe zuschrieb, Gesichtswahrnehmungen im Dunkeln und aus nächster Nähe zu dienen, Hess Plateau einige Eristalis, bei denen er nur die Facettenaugen gefirnisst hatte, im Dunkeln oder doch in verdunkelten Zimmern, die nur eine kleine Lichtquelle an einem Fensterladen besassen, herumfliegen. Da nun die Eristalis, umherschwirrend, mehr nach der Decke hinauf flogen als auf die Lichtöffnung zu, so entschied sich Plateau sofort gegen diese meine Vermutung und erklärte, dass ,,bei mit Facettenaugen versehenen Taginsekten die Ocellen (oder einfachen Augen) fast nutzlos seien und bestenfalls den Tieren nur sehr schwache Wahr- nehmungen (er meint Empfindungen) geben, die sie nicht zu verwerten vermögen", und er nimmt deshalb an, dass „die Ocellen für Insekten mit Facettenaugen alle Bedeutung verloren haben". Es ist .nicht schwer zu zeigen, dass diese Schlussfolgerung not- wendigerweise falsch ist. Wenn die Ocellen wirklich alle Bedeutung verloren und die Insekten keineVerwendungfür sie hätten, wie könnten diese Organe dann zu jener ungeheuren Entwicklung gelangt sein, die sie bei gewissen Hymenopteren, besonders bei den Männchen der Formiciden, zeigen (man sehe auf Tafel I., Figur 40 dieser Studien, die Frontalocellen des geflügelten Männchens von Eciton coecum, bei welchem Insekt Arbeiter und Weibchen flügellos und nahezu blind sind und wo das Männchen daher höchstwahrscheinlich das i76 Kritische Bemerkungen; Plateau Weibchen unter der Erde aufsuchen muss). Eine flüchtige Be- trachtung dieser Abbildung oder eines Dorylus-Männchens zeigt die Unhaltbarkeit der Plateauschen Schlussfolgerung, Um mich zu widerlegen, sollte er diese Insekten nicht im Fluge in einem ge- schlossenen Raum, sondern auf dem Erdboden, in ihren Nestern oder in Erdspalten beobachten, wo allein ein Sehen aus nächster Nähe ihnen nützlich ist. Ich gestehe, dass dies nicht ganz leicht ist, so aber, wie es Plateau angefangen hat, wird gar nichts bewiesen. Seine Versuche scheinen im Gegenteil die Falschheit seiner Hypothese, dass nämlich die photodermatischen Empfindungen die Ursache des Luftfluges seien, zu beweisen, denn diese Empfindungen konnten in dem verdunkelten Zimmer, wo die Schlammfliegen unausgesetzt nach der Decke emporflogen, keine Rolle spielen. Kurz und gut, die Ocellen müssen eine Existenzberechtigung haben und ihre Besitzer müssen sich auf ihre Anwendung verstehen. Freilich fehlt uns bis- her der Schlüssel zu ihrer Verwendung. Trotzdem glaube ich, dass die von Exner festgestellten Tatsachen sowie die Ergebnisse von Peckham, Plateau und mir selbst an Spinnen, Raupen usw. meine eigene Mutmassung bestätigen, die übrigens auch von anderen Autoren ausgesprochen worden ist. Wie bringt eigentlich Plateau es fertig, den rudimentären Ocellen der Raupen „deutliches Sehen" zuzuschreiben und den prachtvollen Ocellen der männlichen geselligen Hymenopteren alle Bedeutung ab- zusprechen ! Ich selbst hatte aus meinen ersten Experimenten den Schluss gezogen, dass die Ocellen beim Sehen der mit Facettenaugen versehenen Insekten nur eine untergeordnete Rolle spielen. Ich hätte sagen sollen: beim Sehen im Fluge. Deshalb habe ich später meinen Ausspruch korrigiert, eine Korrektur, deren Sinn Plateau nicht erfasst zu haben scheint. c) Das Sehen mit Facettenaugen. Hier hat sich Plateau von den Arbeiten von W. Patten (Eyes of Molluscs and Arthropods, Mitt. d. zool. Stat. Neapel, Bd. 6, Heft 4, 1886) verführen lassen und sich in eine Hypothese gestürzt, die jeder Berechtigung ermangelt. Patten tritt hier nicht nur den Ansichten der besten Histologen ent- gegen, sondern er befindet sich auch im Widerspruch mit den phy- siologischen und optischen Befunden, die Exner späterhin so klar dargelegt hat und auf die ich hier nicht noch einmal zurückkommen will. Patten leugnet, dass die Kristallkegel lichtbrechende Medien seien (!), glaubt ein Netz von Nervenfibrillen zwischen ihren Zellen Kritische Bemerkungen; Plateau 177 zu entdecken, dekretiert einerseits die Existenz eines Auges mit nur einer Facette und kommt andrerseits auf die tausend von Gottsche beobachteten Bilder zurück (12 — 1700 bei den Libellen), die durch das Gehirn des Insekts ebenso vereinigt werden sollen, wie unser menschliches Gehirn die von unsern zwei Augen gebildeten Bilder zu vereinigen vermag (was nicht einmal immer zutrifft, sehen wir doch zuweilen doppelt!). Eine Behauptung darf deswegen, weil sie gedruckt vorliegt, nicht immer geglaubt werden. Es wäre gänzlich müssig, auf Pattens Phantastereien und auf die Schlüsse, die Plateau an dieselben knüpft, weiter einzugehen, besonders nach den oben wiedergegebenen Exnerschen Untersuchungen. Trotzdem möchte ich zur Klarlegung der ganzen Frage eine Hauptkonfusion Plateaus festnageln. Plateau setzt die Ansicht, dass das Facettenauge aus einer Anhäufung von Ocellen hervorgegangen sei, derjenigen von Patten entgegen, der das Facettenauge aus einem einfachen, erst sekundär in Facetten zerfallenden Auge hervorgehen lässt. Wenn man aber die Tatsachen der Phylogenie, die Exner so durchsichtig darlegt, gebührend berücksichtigt (z. B. das Auge der Trilobiten), so wird man erkennen, dass beide Hypothesen gleich falsch sind, und dass sowohl die Ocelle wie auch das Facettenauge aus dem primitiven Auge hervorgegangen sind, das erstere durch Ver- mehrung der Elemente eines einzigen solchen Auges, das letztere durch Zusammenballung und durch Umformung ihrer Gruppierung. Es liegen Tatsachen vor, die dies beweisen. Es genügt, die unter der Erde lebenden Ameisen und die Serien ihrer aus ein, zwei, drei, vier, fünf und mehr Facetten bestehenden, noch kaum verschmolzenen Augen zu studieren, um sich von dieser Tatsache zu überzeugen. Auch die Abweichung, die wir am grossen Arbeiter der Gattung Eciton bemerken, der eine mehr oder weniger stark entwickelte Ocelle an der Stelle und Stätte des Facettenauges aufweist (Tafel !., Fig. 5d), liefert uns dasselbe phylogenetische Ergebnis. Nie sieht man das Auge von Eciton sich in Facetten aufteilen. Und eben- sowenig sieht man bei irgendeiner Gattung ein Facettenauge durch Fusion der Facetten in eine Ocelle übergehen. Im Gegenteil: man sieht, wie das rudimentäre Auge der blinden oder halbblinden Eciton- ameisen sich bei den mehr lichtliebend gewordenen Arten immer mehr vergrössert, und wie das der andren unterirdisch lebenden Ameisen durch Anhäufung vervielfacht wird, um die beiden Facetten- augen zu bilden, die um so entwickelter sind, je oberirdischer die Forel, Das Sinnesleben der Insekten 12 178 Kritische Bemerkungen; Plateau Lebensweise der betreffenden Spezies wird und umgekehrt. Hätte Patten recht, so würde man direkte Übergangsformen entdecken zwischen der grossen Ocelle und dem Facettenauge, während man tatsächh'ch immer und allein den Übergang im primitiven Auge findet. So viel ich weiss, hat noch kein Mensch je solche direkten Über- gänge der Ocelle zum Facettenauge beobachtet, ich wenigstens nie- mals, trotzdem ich zirka 5000 Ameisenformen untersucht habe, und dieser Umstand bildet ein Argument von beträchtlichem Wert, wenn man bedenkt, mit welcher Genauigkeit die Augen der Insekten und die Zahl ihrer Facetten von den Systematikern der Entomologie studiert worden sind, von Grenacher, Exner u. a. nicht zu sprechen. Es würde sich um nichts Geringeres handeln als darum, zu sehen, wie eine grosse Ocelle im Begriff ist, sich in Facetten aufzuteilen, oder ein Facettenauge zu sehen, dessen Facetten Neigung zeigen zu verschmelzen (wohlgemerkt innerlich). Doch nimmt Plateau von Patten nur dasjenige an, was mit seiner vorgefassten Meinung übereinstimmt, die in einer irrigen, Verwir- rung stiftenden Verallgemeinerung gipfelt. Diese heisst: „Insekten sehen keine Formen oder sehen dieselben nur sehr undeutlich." Anstatt das „Sehen der tausend Bilder" von Patten zuzugeben, setzt er nach dem, was er als die histologischen Entdeckungen jenes Autors bezeichnet, eine Zerstörung der Bilder in den Kegeln vor- aus, und schliesst, ohne Exner richtig verstanden zu haben, infolge- dessen auf ein „gänzlich verwischtes Bild". Warum aber, wenn dies richtig wäre, gibt sich die Natur solche Mühe, um einen so wunderbar künstlichen Apparat wie das Facettenauge zu erzeugen? Diese Bemerkung macht Exner sehr mit Recht. Ich aber füge hinzu: Warum gibt sich denn Plateau solche Mühe, um den Be- weis zu führen, dass gerade die Ocellen keinen Nutzen haben? Weil er andrerseits selbst bestätigt, dass die Bedeckung oder Entfer- nung des Facettenauges das Insekt so gut wie blind und der Orien- tierung unfähig macht. Gut. Wäre Plateau aber konsequent, so müsste er sagen, dass das Facettenauge ebenfalls keinen besonderen Nutzen mehr hat, da es die Formen nicht sieht! Wie kann nun aber ein Insekt im Fluge sich mittels eines „ver- wischten" Bildes so vorzüglich, sicher und schnell zurechtfinden? Ist es der Geruchssinn, der die Leitung hat, wie Plateau anderwärts an- nimmt? Aber wie kommt es dann, dass die Beseitigung des „gänz- lich verwischten Bildes" das Insekt beim Fluge vollständig hilflos Kritische Bemeri^ungen; Plateau 179 macht, während es ohne Qeruchsorgan, also nach Beseitigung der Fühler, sich genau so gut im Fluge orientiert wie mit denselben ? Wie kann der Gesichtssinn ihm beim Fliegen helfen, wenn es die Formen undeutlich oder überhaupt nicht sieht? Sobald sich Plateau aus dem Netzwerk von Widersprüchen, in denen er sich verfangen hat, befreit haben wird, wollen wir seine Schlussfolgerungen annehmen, eher aber nicht. In der Natur exi- stieren diese Widersprüche nicht, sobald man alle äusseren Um- stände und alle Tatsachen in Betracht zieht, und besonders sobald festgestellt ist, dass es Insekten mit sehr verschwommenem, solche mit massig deutlichem und andere mit recht deutlichem Sehvermögen gibt, je nach der Entwicklung und der Art ihrer Augen (s. Exner); dass es ferner solche gibt, die beim Fliegen ihren Geruchssinn bald gar nicht, bald mehr, bald weniger zu Rate ziehen, und schliesslich, dass die Verschiedenheiten ihrer Instinkte und ihrer Gehirnentwick- lung auch in der Art und Weise zutage treten, wie sie von ihren Sinneswerkzeugen Gebrauch machen, ganz unabhängig von der eigent- lichen Schärfe der letzteren. Plateau verteidigt sich gegen den ihm von mir gemachten Vor- wurf, dass er offene Türen einrenne oder Beweise am unrechten Ort anbringe; wir werden sehen, ob ihm seine Verteidigung gelingt. Ich habe Plateau vorgeworfen, dass er von Insekten menschliche Urteilskraft verlange, wenn er erwarte, dass sie eine einfache Öffnung im Fensterladen eines verdunkelten Zimmers, die ihnen einen be- quemen Durchtritt ins Freie gewähren würde, von einem engen Gitter- werk unterscheiden, dessen minimale Löcher ihrem Körper diesen Durchtritt nicht gestatten, vorausgesetzt, dass die einströmende totale Lichtmenge dieselbe sei. Die Insekten flogen, wie bereits oben be- richtet, nämlich unterschiedslos nach beiden Arten von Öffnungen, woraus Plateau den Schluss zog, dass sie keine Formen wahrzu- nehmen vermögen. Ich aber prophezeite ihm, dass ein Wirbeltier denselben Irrtum begehen würde. Plateau machte nun infolgedessen wirklich den gleichen Versuch mit Vögeln und diese begingen denselben Irrtum wie die Insekten, ausgenommen einige Tauben, die, gewöhnt in einem Käfig zu leben, bereits die Erfahrung gemacht hatten, dass man durch eng gestellte Stäbe nicht durchpassieren könne. Dieser für die Psychologie der Tiere sehr bezeichnende Versuch hat, wie man sieht, mit dem Seh- 12* 180 Kritische Bemerkungen; Plateau vermögen der Insekten nichts zu tun und bestätigt nur meine Ansicht, was Plateau auch eingestanden hat. Ich möchte an dieser Stelle auf eine von mir längst gemachte Beobachtung zurückkommen, dass Insekten — und zwar auch solche mit sehr guten Augen — stillstehende Gegenstände viel weniger deutlich sehen als wir selbst (s. oben). Exners Bild aus dem Auge von Lampyris bestätigt dies. Auch hat Exner bereits im Jahre 1875 gezeigt, dass das Facettenauge ausgesprochenermassen speziell an das Sehen von Bewegungen angepasst ist. Unsere Beobachtungen haben dies bestätigt, und Plateau arbeitet nur seinerseits an einer weiteren Be- stätigung dieser vorliegenden Tatsache. So weit stimmen alle überein. Doch vergisst Plateau völlig, dass das ,, Sehen von Bewegungen'* nicht identisch ist mit der Bewegung des gesehenen Gegenstandes, sondern dass das Wesentliche bei der Sache die Verschiebung des Bildes auf der Retina ist. Wenn Insekt A neben einem in demselben Tempo ihm parallel fliegenden Insekt B über einem gleich- falls in demselben Tempo fahrenden offenen Wagen hinfliegt, dessen Insassen unbeweglich sitzen, so wird Insekt A weder eine Bewegung von Insekt B, noch des Wagens und seiner Insassen vermittelst seiner Facettenaugen bemerken, da keine Bildverschiebung stattfindet. Wenn aber im Gegensatz hierzu ein Insekt im Fluge oder im Lauf sich einem unbewegten Gegenstand nähert, so wird in diesem Falle das Bild des betreffenden Gegenstandes auf der Retina verschoben werden, das Insekt wird ,,eine Bewegung des unbewegten Objektes" sehen, ebenso wie für unser Auge, wenn wir auf der Eisenbahn fahren, die Dinge an der Bahnlinie sich zu bewegen scheinen. Ich bitte den Leser um Verzeihung, dass ich hier solche Binsenwahrheiten verkündige. Doch hat Plateau diese bekannten Erscheinungen nicht in Betracht gezogen. Übrigens wenden wir selbst denjenigen Gegen- ständen, deren Bild sich auf unserer Retina verschiebt, viel mehr Aufmerksamkeit zu als unbewegten. Ja, mehr als das! Wenn wir und die Objekte unserer Umgebung absolut unverändert blieben, wenn wir weder Augenlider, noch bewegliche Augäpfel besässen, so würden wir überhaupt nach Ablauf einer gewissen Zeit gar nichts mehr sehen! Ich sage mit Bedacht „unverändert" und nicht „unbewegt", denn die plötzliche Veränderung der Farbe eines Gegenstandes erzeugt, auch ohne dass der letztere sich bewegt, einen ebenso starken Reiz- wechsel in dem Bild unserer Netzhaut wie die Bewegung des Objekts. Kritische Bemerkungen; Plateau 181 Sowohl die Physiologie wie die Psychologie haben bewiesen, dass, wenn Sinneseindrücke (subjektiv ausgedrückt: Empfindungen) während einer gewissen Zeitdauer unverändert bleiben, sie abgeschwächt werden und schliesslich aufhören, uns zu erregen, d. h. von uns wahrge- nommen (unterschieden) zu werden. Mit einem Wort: die Em- pfindungwird stets nur durch neue qualitative Unterschiede der Reize geweckt, und kann nur durch einen Wechsel jener Reize in Zeit oder Raum aufrecht erhalten werden. Nun befindet sich ein Insekt, das sich längere Zeit bewegungslos, ohne seine Stellung zu verändern, vor bewegungslosen Gegenständen auf- hält, genau in der vorhin erörterten Lage. Verlangen wir von diesem Tierchen nicht mehr, als was wir selber zu leisten vermögen ! Man müsste deshalb, um ganz exakt vorzugehen, die Sehtätigkeit eines Insekts beobachten, das, nachdem es sich bewegt hat, einen Augen- blick bewegungslos bleibt und aus diesem Zustand heraus andere bewegungslose Körper sieht, respektive nicht sieht. Der Paarungs- vorgang der Hausfliege liefert uns hierfür ein gutes, positives Beispiel, denn das Männchen springt hier öfters aus einer Entfernung von mehreren Zentimetern auf eine andere bewegungslose Fliege (Irr- tümer bezüglich des Geschlechts sind häufig), und zwar nachdem es selbst zuvor ruhig gesessen hat. Peckham hat an springenden Spinnen analoge Experimente gemacht, die meine eigenen älteren Versuche über diesen Gegenstand korrigieren; nach ihm sehen die Spinnen besser als ich glaubte. Trotzdem muss man daran festhalten, dass die im Gesichtsfeld stattfindenden Verschiebungen der Objekte in ihrem Raumver- hältnis zueinander einen noch viel stärkeren Reiz ausüben, und dass ihre durch Eigenbewegung hervorgerufene Verschiebung die Aufmerksamkeit des Beobachters viel stärker auf sich zieht, als wenn der letztere allein sich bewegt. Was wir hier gesagt haben, wird die Irrtümer in den folgenden Experimenten Plateaus in das schärfste Licht setzen. Um sich nicht für geschlagen erklären zu lassen, erfand Plateau einen Apparat, den er als Labyrinth bezeichnet, und der aus ver- schiedenen Serien dünner vertikaler Scheidewände aus Holz oder Pappe von 1 — 3 cm Höhe besteht, die auf einem einfarbigen Grund in konzentrischer, elliptischer oder polygonaler Anordnung verteilt sind und zwischen sich geräumige, kontinuierlich verlaufende Öffnungen freilassen. Mit einem Wort, gestattet diese Vorrichtung dem Insekt 182 Kritische Bemerkungen; Plateau mühelos durchzupassieren, solange es die genannten Scheidewände vermeidet, indem es Kurven beschreibt. Indem er nun seinen Apparat so aufstellt, dass, um ins Freie oder in gerader Linie ans Licht des Fensters zu gelangen, das Insekt das Labyrinth passieren und sich dabei an die durch die Scheidewand gebildeten Hindernisse stossen musste, wofern es nicht deren An- wesenheit wahrnahm und durch Windungen des Fluges ein Anstossen vermied, erhielt Plateau folgende drei Gruppen von Resultaten: 1. Die Mehrzahl der Insekten (selbst Arten mit guten Augen, wie Lokusten und Cicindelen mit beschnittenen Flügeln) streben ge- radewegs auf das Licht zu, indem sie sich zunächst gegen die Scheide- wände stossen und hierauf, an ihnen entlang gehend, die kontinuier- lichen Gänge zu erreichen suchen oder über die trennenden Wände hinwegsteigen. 2. Die sozialen Hymenopteren, besonders die Wespen, begeben sich, sobald sie den von den Scheidewänden geworfenen Schatten erreichen, um die Ecke derselben herum und erreichen so die Ver- bindungsgänge, deren sie sich beim Weitervordringen bedienen. 3. Wirbeltiere, so z. B. Eidechsen, Schildkröten, Schlangen, Enten, Nagetiere etc., beschritten, ohne anzustossen oder sich von dem Schlagschatten stören zu lassen, den gewundenen Weg der zwischen den Wänden hindurchlaufenden Passagen mit der grössten Sicherheit. Plateau schliesst aus diesen Versuchen auf die deutlichen Gesichts- wahrnehmungen bei Wirbeltieren und das Nichtgewahren der Form bei Insekten. Ich gebe gern zu, dass sein Experiment fein, wohl durchdacht und in jeder Beziehung ernster zu nehmen ist als das mit dem durchlochten Fensterladen. Trotzdem gibt es da einiges zu be- denken. Wie kommt es, dass dieselbe Wespe, die sich aus einem Meter Entfernung in pfeilgeradem Fluge auf einen schwarzen, fest- stehenden Nagelkopf stürzt, den sie für eine Fliege hält, dass die- selbe Schlammfliege, die geradewegs auf eine kleine Blüte zufliegt, dass die Hummel, die, obwohl des Mundes und der Antennen be- raubt, dasselbe tut, dass all diese Insekten eine 1 — 2 cm vor ihren Augen befindliche vertikale Wand nicht zu erkennen vermögen? Hat Plateau sich, ehe er seine Schlussfolgerungen zog, diese Frage vor- gelegt (g)? Wenn wir den Mangel an plastischer Überlegung beim Insekt in Betracht ziehen, so bekommt die Sache sofort ein anderes Gesicht. Im Naturzustand begegnen diese Insekten, wenn sie sich über der Kritische Bemerkungen; Plateau . 183 Erde hinbewegen, fast niemals glatten, vertikalen Wänden. Sie sind gewohnt, über Steine und Dornengestrüppe hinwegzuklettern, ohne sich zu fürchten, mit ihren harten Chitinköpfen an die Hindernisse anzurennen, die sie gewöhlich mit ihren Antennen abtasten, um die chemische Natur derselben mittels ihres Kontaktgeruchs festzustellen. Ferner ist ihr Gehirn zu klein und zu vollgestopft mit Automatismen, um ihnen die Stellung der Frage zu gestatten: „Komme ich an diesem Gegenstand vorbei oder nicht?** Wissen wir doch, wie hartnäckig ein Insekt gegen eine Fensterscheibe anzusurren pflegt, wie es häufig Öffnungen zu passieren sucht, die viel zu eng für seinen Körper sind, und wie es wohl zwanzigmal eine glatte Wand hinaufläuft, um immer wieder herabzupurzeln, ohne sich ein einziges Mal der Unausführbar- keit dieses Unternehmens bewusst zu werden oder eine andere Lösung des Problems zu versuchen, indem es z. B. der betreffenden Wand durch Umgehung beizukommen sucht. Wir haben hier die „Dumm- heit", die „Begrenztheit", das „gefahrene Geleise" des blinden In- stinkts; nicht aber haben wir einen Beweis, dass das Facettenauge die Form des Objektes nicht zu erkennen vermag. Wie kommt es denn, dass die sozialen Hymenopteren findiger sind und einen Um- weg um die Schlagschattenpartie des Labyrinths einschlagen? Nur weil sie, und zwar besonders die Wespen, weniger beschränkt sind. Und es ist kein Zufall, dass gerade sie, die wir aus anderen Beob- achtungen als intelligentere Tiere erkannt haben, ihren Weg in Plateaus Labyrinth am besten zu finden wussten. Der Schatten hinderte die Wespe nicht stärker am Verfolgen ihres Weges als ein düsterer Himmel es getan hätte, bewog sie aber, das Objekt zu umgehen, das ihn warf. Plateau verlangt von seinen Insekten, dass sie wissen, dass sie die Zwischenwände nicht erklettern können, oder dass sie dies durch sein Experiment lernen. Das ist zu viel verlangt! Er zitiert die Geschichte von Fabres Bembex, die zu der zerstörten Mündung ihres Nestes zurückkam und ihre Larven, jetzt wo sie ausserhalb der Erde waren, nicht wiedererkannte. Statt aber, wie Fahre selbst, hieraus auf die enorme Dummheit (oder anders ausgedrückt auf die zerebrale Unzulänglichkeit) eines Insekts zu schliessen, bei dem der Faden instinktmässigen Geschehens einmal durchschnitten worden ist, schreibt Plateau diesem Insekt schlechte Augen zu! Er bedenkt nicht einmal, dass eine Bembex, die ihre Eier im Dunkeln, unter der Erde gelegt hat, ihre daraus hervorgegangenen Larven niemals gesehen hat, und deshalb auch nicht mit den Augen wiedererkennen 184 Kritische Bemerkungen; Plateau kann. Dieselbe grundfalsche Deutung gibt er bezüglich Fabres Chalicodoma. Allerhöchstens könnte man, nach Plateaus Experimenten, ein schlechtes stereoskopisches Sehen bei Insekten vermuten, d. h. eine Unfähigkeit Entfernungen abzuschätzen. Immerhin wäre auch diese Verallgemeinerung nicht richtig. Denn dieselbe Fliege, dieselbe Libelle, die, von der Durchsichtigkeit einer Fensterscheibe irregeführt, heftig dagegen anprallt, lässt sich mit bewundernswerter Sicherheit und Exaktheit auf der äussersten Spitze eines kleinen, dürren, un- beweglichen Zweigleins, eines noch dazu geruchlosen Gegenstandes nieder. Ohne die Fähigkeit der Abschätzung von Entfernungen wäre dies unmöglich. Plateau wundert sich, dass ein Pompilus auf nur 5 oder 6 cm Ent- fernung von seinem Wild, einer Spinne, vorbeigehen konnte, ohne sie zu sehen. Für ihn ist dies abermals ein Beweis, dass das Insekt keine Formen sehen kann. Aber dasselbe begegnet ja uns Menschen auch! Welcher Jäger hätte noch nicht einen Hasen passiert ohne ihn zu sehen? Und weiterhin beschreibt unser Autor selbst, wie eine Hummel seine lebhaft gefärbte blaue Weste umschwirrte, wie Bombus terrestris, „sichtlich angelocktdurch daslebhafteGelbrotderRhabarber- sprossen", sich zu ihnen hinbegibt, wie eine andere Hummel, getäuscht durch die weissen Blüten des Rhabarbers, diese aufsucht anstatt die Jelängerjelieberblüten, nach denen sie eigentlich ausgezogen war, wie schliesslich Pieris, vom schönen Schein betrogen, zu den Callablüten hinfliegt, bei denen sie nichts zu suchen hat usw. Alles dies berichtet er uns, nachdem er zuvor den Insekten jede Wahrnehmung von Farben abgesprochen und sich bemüht hat, nach- zuweisen, dass sie niemals von künstlichen Blumen angezogen werden. Plateau macht richtigerweise darauf aufmerksam, dass es bei voll- kommener Regungslosigkeit einem gelingen kann, aufgescheuchte Libellen zu fangen, ja dass es sogar vorkommt, dass diese sich auf dem Rand des von dem Sammler benützten Netzes niederlassen. Dies ist ein Beweis ihrer Gedankenlosigkeit und Dummheit, keines- wegs aber der Unvollkommenheit ihres Wahrnehmungsvermögens. Denn wenn sie das Netz nicht sähen, so würden sie sich nicht da- rauf niederlassen. Sie sind eben einfach leichtsinnig. Ihr Instinkt hat mit Hilfe von Anpassung eine, für gewöhnlich durch die Ge- schwindigkeit ihres Fluges gerechtfertigte Tollkühnheit in ihnen er- zeugt. Sie haben keine Ahnung davon, dass ein Netz einen für sie Kritische Bemerkungen; Plateau 185 gefährlichen Gegenstand darstellt, ja vielleicht geht ihre Unachtsam- keit so weit, dass sie das Netz als solches überhaupt nicht wieder- erkennen. Immerhin kann man beobachten, dass, sobald sie längere Zeit hindurch verfolgt worden sind, sie vorsichtiger und aufmerk- samer werden. Ich muss an dieser Stelle zugeben, dass der von mir am Anfang dieses Buchs ausgesprochene Satz (man könne beinahe behaupten, dass Libellen die Länge des Netzhalters ihres Verfolgers abzumessen vermöchten) nur als eine unüberlegt hingeworfene Bemerkung an- zusehen ist. Plateau bemerkt nicht ohne Grund zu dieser meiner Äusserung, dass ich den Libellen eine logische Kapazität zuschriebe, die sie keineswegs besitzen. Dies war auch durchaus nicht meine Meinung; indessen gebe ich offen zu, dass meine damals gewählte Ausdrucksweise eine viel zu drastische war. d) Wahrnehmung von Bewegungen. Kehren wir zu dem obigen Gegenstand zurück. Plateau widmet eine ganze Arbeit der Wahrnehmung von Bewegungen (5.). Auch hier schreibt er dem Sehvermögen Dinge zu, die eine Folge des Instinkts und des Man- gels an Überlegung sind. Er studiert mit Geduld die folgenden, jedem Menschen bekannten Phänomene: Wenn jemand sich regungs- los verhält oder sich sehr langsam bewegt, gelingt es, die Insekten so sorglos zu erhalten, dass sie sich sogar wie auf einem Baum- stumpf auf dem betreffenden Menschen niederlassen. Man kann Schmetterlinge usw., ja sogar mitunter Fliegen mit dem Finger be- rühren, solange man sich ihnen nur von hinten nähert. Alles dies ist zweifellos wahr. Ich aber erwidere darauf: Auch eine Maus (also ein Tier ohne Facettenaugen) wird mir über die Füsse laufen, vor- ausgesetzt, dass ich mich ganz ruhig verhalte; auch Vögel tun mit- unter Ähnliches. Trotzdem zeigt eine eingehende Beobachtung, dass nicht alle Insekten sich so verhalten. Gewisse unter ihnen, deren Gewohnheiten sie gelehrt haben, den Menschen zu fürchten, sind umsichtiger. Andere dagegen kommen trotz der heftigsten Bewe- gungen, die man macht, trotz der Schläge und Klapse, die man aus- teilt, immer wieder, und zwar ohne gastronomische Absichten (wie sie bei Mücken oder Bremsen vorliegen), und ohne dass man sich im geringsten stille verhält. Die Libelle, die sich am Rande eines unbeweglich gehaltenen Schmetterlingnetzes niederlässt, hat keinen auf bösen Erfahrungen beruhenden Grund, auf ihrer Hut zu sein, selbst im Fall, dass sie ein oder zwei fruchtlose Versuche, sie ein- 186 Kritische Bemerkungen; Plateau zufangen, erlebt haben sollte. Sie hat im Freileben so selten solche Erlebnisse, dass sie vertrauensvoll und wiederholt sich dem Netze nähert, zumal ihr natürlicher Instinkt sie nicht auf Misstrauen ge- stellt hat. Sobald man sich aber, wenn auch noch so langsam, mit dem Netze bewegt, verlässt die Libelle umgehend dieses grosse, in Bewegung befindliche Ungetüm und ist dabei wohl imstande, die Dimensionen mit dem Auge abzuschätzen. Es versteht sich dabei von selbst, dass eine Libelle, die der Verfolgung durch grosse Wirbel- tiere nicht angepasst ist, diese nur dann fürchtet, wenn sie sich ganz dicht vor ihr bewegen. Um zu beweisen, dass bei den Insekten alles nur aus einem mecha- nischen Instinkt heraus entspringt, beruft sich der berühmte Biologe Fahre auf die entsetzliche Dummheit von Bembex, eine Wespe, die absolut unfähig ist, den heimtückischen Parasiten zu erkennen, der ihr heimlich in ihr Nest nachfliegt. Bembex kommt nicht auf die Idee, die Larve dieses Eindringlings zu zerstören, der unter ihren Augen die Vorräte auffrisst, die von der fleissigen Wespe unter grösster Mühe für die eignen Larven zusammengeschleppt worden sind. Fahre meint, dass die Wespe sehen müsse, wie ihr eigener Nachwuchs neben dem des Diebes zugrunde geht. Dabei würde aber ein einziger Biss von Bembex genügen, um den feindlichen Wurm, der weich und waffen- los ist, zu töten. Ich bemerke hierzu : Hat Fahre von den Chimila- Indianern in Kolumbien gehört, die ruhig zusehen, wie die Maden auf ihren Wunden sitzen, ohne sie zu vertreiben, bis sie selbst an dieser Vernachlässigung zugrunde gehen? Hat er über den Europäer nachgedacht, der angesichts seiner Volksgenossen, die sich dauernd betrinken und an Alkoholismus zugrunde gehen, doch nichts Besseres zu tun weiss, als sich immer wieder zu alkoholisieren? Haben wir angesichts solcher Tatsachen das Recht, über die Dummheit einer Wespe, verglichen mit der enormen Weisheit des menschlichen Ver- standes, so arg zu staunen? Ist es nicht ebenso widersinnig, wenn der Arbeiter sich plagt und seine paar Groschen am unrechten Ort zusammenspart, bloss um sich in der Kneipe zugrunde zu richten, ohne, ganz ähnlich wie Bembex, den Feind zu erkennen, der sein Familienglück zerstört? Plateau glaubt bewiesen zu haben, dass Tag-Lepidopteren und Libellen die Bewegungen eines grossen Gegenstandes nur bis zu einer Entfernung von zwei Metern zu sehen vermögen. Ich stimme inso- fern mit ihm überein, als auch ich glaube, dass diese Insekten Kritische Bemerkungen; Plateau 187 Vorgängen, die sich weiter entfernt abspielen, keine grosse Aufmerk- samkeit schenken. Es ist dies nur natürlich, und Exner hat schon in Beziehung auf kleine Wirbeltiere auf diesen Umstand hingewiesen. Immerhin finde ich Plateaus Schlussfolgerungen etwas voreilig. Ich bin vollständig sicher, dass ich häufig aus einer Entfernung von meh- reren Metern durch meine Bewegungen die Aufmerksamkeit und die Angst von Schmetterlingen, Libellen, Heuschrecken, Grillen usw. er- regt habe. Regelmässig habe ich z. B. die Aufmerksamkeit von Bienen, die bei kaltem Wetter vor ihrer Behausung ruhten, erregt, wenn ich in einer Entfernung von drei Metern ein Taschentuch schwenkte. Es ist wahr, dass gewisse lebhafte und mutige Schmetterlinge sich auf derselben Stelle, wo man sie soeben beinahe gefangen hätte, wieder niederlassen ; ganz ebenso häufig aber geschieht es, dass sie miss- trauisch werden, so dass es, nachdem sie erst ein paarmal erschreckt worden sind, ganz unmöglich ist, sich ihnen zu nähern. In Summa: Bezüglich der Frage des Formensehens scheint mir Plateau sich in einen Kampf um Worte zu verlieren. Denn nach vielem Herumtasten ist er genötigt, praktisch, wenn auch nicht formell, zu Schlüssen zu gelangen, die den unsrigen äusserst nahestehen. Er behauptet, dass eine Wespe, die einen schwarzen Nagel für eine Fliege hält, keine Formen zu sehen vermöge, ich behaupte, dass sie wohl Formen sieht. Ich gebe dabei zu, dass die meisten Insekten sehr kleine Gegenstände nicht wahrnehmen mögen, und dass ihr Gesichts- sinn, besonders wenn es sich um grössere Entfernungen handelt, bei weitem nicht so scharf ist wie der unsre. Diejenigen unter ihnen aber, die Augen mit zahlreichen Facetten besitzen, tragen darin ein retinales Bild, das dem von Exners Lampyris sehr ähnlich und meist deutlicher ist als dasjenige, das ich selbst (Taf. I, Fig. 3) wiedergegeben habe. Dieses muss man aber in der Tat als Wahrnehmung von Formen bezeichnen. Plateau hat also durchaus nichts an unsern Resultaten geändert. Nur verlangt er durchaus, dass eine im Fluge befindliche Libelle genau die Spezies des Insekts, das sie verfolgt, erkennen müsse, und wundert sich höchlich, dass ein Insekt eine Blume mit einer andern, oder ein anderes Insekt mit seinem eignen Weibchen ver- wechseln kann. Er verlangt damit mehr von dem Auge des Insekts als von dem der Mehrzahl der Menschen. e) Experimente mit dem Netz. Plateau (2). In einer inter- essanten Notiz erwähnt W. Spence (1834), dass in Italien die Haus- fliegen vom Eindringen in die Häuser durch Rahmen abgehalten werden, 188 Kritische Bemerkungen; Plateau die mit einem Netzwerk aus Maschen von 25— 26 mm Durchmesser bespannt sind und in die Fensteröffnungen eingesetzt werden. Dieses Experiment wurde in England und späterhin von Plateau selbst be- stätigt. Letzterer sah, wie es Wespen unmöglich war, durch ein Ge- flecht mit Maschen von 25 mm Durchmesser zu schlüpfen, obwohl sich hinter demselben Dinge befanden, deren Geruch sie anlockte. Sie summten vergeblich vor dem besagten Geflecht herum, während Sperlinge ohne Zögern im Fluge durch ein Netzwerk von 70 bis 100 mm Maschen-Durchmesser schlüpften. Plateau erklärt diese Erscheinung mit dem Umstand, dass die In- sekten, unfähig, Formen zu sehen, sich vor einem halb-transparenten Hindernis zu befinden wähnen, die einzelnen Öffnungen aber nicht wahrnehmen. Pissot (Le Naturaliste, I.August 1889, Nr. 58, S. 170, und 1. Sept. 1889, Nr. 60, S. 202) wiederholt das Experiment an einem Fleischbe- wahrungsschrank mit Maschen von 28 mm. Während 36 Stunden drang kein einziges Insekt in den Schrank. Darauf ging die in dem Schrank befindliche Konfitüre in Gärung über, und nun schlüpften verschiedene Cal 1 iphora (Seh meissfl legen) in den Schrank ein. Die Insekten, die in das Schränkchen eingedrungen waren, verliessen es dann wieder, teils nach mehreren probeweisen Umflügen, teils indem sie die Maschen ganz einfach gehend oder im Fluge passierten. Darauf setzte Pissot ein 60 cm hohes Netz mit 22 qmm grossen Maschen vor den Eingang eines Wespennestes, den er zunächst nur zur Hälfte mit dem Netze verstellte. Die ankommenden Wespen waren verwundert und untersuchten das Netz. Einige begaben sich zur Erde und passierten die unteren Maschen des Netzes zu Fuss. Andre flogen seitlich um das Netz herum und begaben sich durch den freigelassenen Raum in das Nest hinein. Noch andre entschlossen sich schliesslich, nach einigem Zögern, das Netz im Fluge zu passieren. Nach Verlauf einiger Zeit hatten alle Wespen das Netz passiert, bis auf einige, die aus dem Nest herausgeflogen kamen und die den freien Raum neben dem Netz benützten. Am nächsten Tage verstellte Pissot den Nesteingang völlig mit seinem Netz. Zunächst stutzten nun die Wespen und kehrten um, besonders diejenigen, die auf dem Ausfluge begriffen waren. Nicht lange jedoch, und sie durchflogen munter die Netzmaschen, nach einer Viertelstunde sogar ohne jedes Zögern. Pissot bemerkt hierzu, dass Wespen misstrauisch sind und dass uns deshalb ihre anfängliche Kritische Bemerkungen; Plateau 189 Untersuchung des Netzes nicht wunder nehmen darf, dass sie aber, nachdem sich als Ergebnis ihrer Prüfung die Harmlosigkeit des Netzes herausgestellt hatte, vertrauensvoll diesen Durchgang benützten. Plateau wiederholte diese Experimente, indem er einige blühende Skabiosen, die viel von Insekten aufgesucht werden, mit einem Gitter- werke aus Maschen von 26 — 27 mm Durchmesser umgab. Weder Eristalis, noch irgendwelche Dipteren oder Lepidopteren passierten das Netzwerk, hingegen bewerkstelligten einige Bombus und Haus- bienen die Passage durch dasselbe. Doch beobachtete Plateau, dass auch diese Insekten nicht einfach hindurchflogen, sondern dass sie entweder nach einigem Zögern mit jähem Anflug das Hindernis be- wältigten, oder dass sie sich unter leichtem Anklammern an die Seiten der Maschen hindurchhalfen. Doch bemerkt Plateau weiter, dass es eigentlich nur die Hummeln (also die grössten der betreffenden Ver- suchstiere) waren, die einige Schwierigkeit hatten, aus den Maschen herauszukommen und noch einen Augenblick daran festsassen, nach- dem sie sich schon auf die andre Seite durchgearbeitet hatten. Bei den Hausbienen hat er dieses Anklammern an die Maschen nicht beob- achtet. Wespen und Schmetterlinge, die er selbst in das Netzwerk shineinsetzte, flogen ohne weiteres durch die Maschen durch, was sich seiner Ansicht nach damit erklärt, dass der „Schrecken das Insekt der Himmelsbläue entgegen trieb". Er verstellte hierauf einige Dolden von Heracleum durch ein Netz mit Maschen von 1 cm Durchmesser für Calliphora vomitoria und konstatierte, dass die Calliphora sich vor Passieren des Netzes auf den Maschen niederliessen. Dieselbe Beobachtung machte er an Bienen, Eristalis etc. mit einem aus Maschen von 1— iVacm bestehen- den Käfig und an Calliphora mit Maschen von 2 cm. Schliesslich wiederholte Plateau noch das Experiment von Pissot mit dem Wespennest, doch liess er die Maschen seines Netzes nur iVacm im Durchmesser gross sein. Die Wespen zögerten, flogen im Kreise herum und passierten schliesslich das Netz nicht im direkten Fluge, sondern indem sie sich mit den Füssen anklammerten und sich so durch die Maschen durcharbeiteten. Direktes Durchfliegen des Netzes war selten (nur 2 mal von 12 mal). Nachdem einige Wespen den Ausweg gefunden hatten, zu Fuss unter dem Rand des Netzes durchzuspazieren, machten andere ihnen dies nach und bald benützten alle diesen Weg. 190 Kritische Bemerkungen; Plateau Plateau kommt nun zu dem Schluss, dass seine Beobachtungen die Pissots nicht bestätigen, dass Wespen keine Formen sehen, und dass für ihre Augen ein Netz wie eine homogene Oberfläche wirkt. Schliesslich allerdings gibt Plateau zu, dass der Unterschied zwischen Maschen von 15 statt 22 mm hinreicht, um bis zu einem gewissen Grade die Verschiedenheiten zwischen den Ergebnissen seiner Netzversuche und denen von Pissot zu erklären. Trotzdem kommt er immer wieder darauf zurück, dass das Insekt die Öffnungen nicht sieht, dass seine Gesichtswahrnehmungen verworren sind usw. Wir selbst ziehen gänzlich andere Schlüsse aus diesen verschieden- artigen und interessanten Ergebnissen. Stellen wir zunächst in aller Schärfe folgende Tatsachen fest: Der Arbeiter von Vespa germanica hat eine Länge von 12 — 13 mm und eine Flügelspannweite von mindestens 22 — 23 mm. Die Arbeiter von Bomb US terrestris variieren stärker, doch sind sie selten weniger als 16 — 17 mm lang bei einer Spannweite von 32 — 35 mm. Eristalis tenax nimmt ungefähr die Mitte zwischen diesen beiden Hymenopteren ein. Plateau erwartet demnach, dass Insekten ohne weiteres durch Maschen fliegen, die zu eng sind, ihren ausge- spannten Flügeln Durchlass zu gewähren. Er schliesst aus dem Umstand, dass die Tiere sich an den Seiten der Maschen festhalten, während sie durchschlüpfen, auf mangelhafte Wahrnehmung, obwohl dieses Festklammern ein äusserst flüchtiges, ja bei den Wespen z. B. kaum bemerkbar ist! Würden wir selbst uns, gesetzt wir könnten fliegen, geschickter anstellen? Plateau findet es äusserst lehrreich zu beob- achten, wie Insekten „vergebliche Versuche machen, eine Öffnung zu erkennen, wo doch hunderte solcher Öffnungen vor ihnen daliegen". Wer sagt ihm denn, ob nicht die Wespen aus ganz anderen Gründen zögern, wie z. B. weil sie überlegen, wie am besten an all diesen Fäden vorbeizukommen, die sich plötzlich vor ihrem Neste hinziehen? Die Resultate von Pissot beweisen, dass die Wespen ganz glatt durch- fliegen, sobald man ihnen nur genügenden Raum und Zeit gewährt, die Durchgangspforten zu passieren, resp. zu erkennen. Doch ist das Experiment in anderer Beziehung instruktiv, in einer Beziehung, über die Plateau kein Wort verliert. Es zeigt von neuem die verhältnismässig bedeutende Intelligenz der Wespen, die, vor einen fremden Gegenstand gestellt, zunächst zögern, sodann prüfen und schliesslich den besten Ausweg finden, sei es nun, indem sie, falls die Grösse der Maschen dies erlaubt, durchfliegen, sei Kritische Bemerkungen; Plateau 191 es, falls dieMaschenränder ihre Flügel streifen, sich ein wenig festhalten, oder endlich einen ganz anderen Ausweg finden, wie z. B. das Durch- kriechen auf der Erde, unter dem Rande des Netzes. Eristalis gelangen aus Mangel an Überlegung und dem nötigen Ausprobieren nicht hindurch, Hummeln sind gewöhnlich etwas weniger dumm, aber plump. Calliphora, die gewöhnt sind, sich auf faulende Nahrung niederzulassen, pflegen sich zunächst auf jedes Hindernis zu setzen. Auch in unserem Fall setzen sie sich auf die Maschen und passieren sie dann kriechend. Wer je gesehen hat, wie sich Calliphora auf eine Fliegenglocke aus Draht mit Maschen von 1 — 2 mm stürzen, wie sie sich summend und voll Gier nach der darunter befindlichen Speise gegen die Oberfläche der Glocke drängen, der wird den Unterschied wohl gewahr werden. Reibt sich doch dies törichte Insekt geradezu auf, indem es, heftig durch den Geruch angezogen, aber viel zu dumm, einen Ausweg aus der vorliegenden Schwierig- keit zu finden, sich hartnäckig gegen das unüberwindliche Hindernis anpresst, das ihm im Wege steht. In der freien Natur, wo sich Ex- kremente und faulende Substanzen häufig unter Gras und Büschen befinden, führt ja solche Hartnäckigkeit zuweilen zum Ziel, da es sich häufig um Blätter und andere weiche und leichtbewegliche Hindernisse handelt. Wieder andre Male gelangt Calliphora durch ihre Gewohnheit, sich sofort niederzulassen, zu ihrer Beute, indem sie auf diese Weise leichter in zufällige Öffnungen ihres Operations- gebietes hineindringt. Gänzlich verständnislos, sowohl der Theorie wie auch der äusseren Gestalt der Fliegenglocke gegenüber, beginnt Calliphora wacker dagegen loszustürmen, nachdem das Sichnieder- lassen auf die Glocke sich als fruchtlos erwiesen hat. Immerhin gelingt es unserer Fliege zuweilen, nach langem Abzappeln unter dem Rand der Glocke durchzuschlüpfen. DerSperiing ist besser daran als das Insekt, vermag er doch während des Fluges die Flügel anzu- schmiegen, während ein Insekt nur mit beständig ausgebreiteten Flügeln vorwärts kommt, was verhältnismässig mehr Raum beansprucht. Was mir viel ausschlaggebender erscheint als Plateaus Experi- mente, sind die mit dem italienischen Netz (Maschenweite 26 — 27 mm) angestellten Versuche. Hier verhinderte das Netz das Durchfliegen von Musca domestica, trotzdem diese Fliege kaum mehr als 1 cm Spannweite aufweist. In diesem Falle scheint das unvollkommene Sehen des Insekts sich mit seiner Dummheit zu vermählen, denn nur so kann dieses Resultat, gesetzt, dass es exakt ist, zustande 192 Kritische Bemerkungen; Plateau kommen. Ich bin auf Grund aller meiner zahlreichen Beob- achtungen der Überzeugung, dass Wespen und Fliegen die Maschen des Netzes sehr wohl sehen. Es ist aber anzunehmen, dass sie die trennenden Fäden undeutlich sehen, d. h. dass ihnen diese vielleicht breiter und verschwommener erscheinen, als sie in Wirklichkeit sind. Immerhin möchte ich den Leser bitten, sich Exners Berechnungen bezüglich des Augenbildes von Lampyris ins Gedächtnis zurückzu- rufen; die Übereinstimmung wird ihm nicht entgehen. Ein derartiges Bild vorausgegesetzt, ist es kein Wunder, dass der ganze überdies so neue und befremdliche Eindruck auf die Insekten verwirrend ein- wirkt. Nur solche, die mit grosser Gewalt durch einen ihrer Sinne angezogen werden (Calliphora), solche, die äusserst hart- näckig sind, und besonders ferner solche, die intelligent genug sind, Schwierigkeiten zu überwinden (wie die sozialen Hymen- opteren), kommen immer v/ieder auf das Hindernis zurück und gelangen schliesslich durch dasselbe hindurch. Besonders die Wespe, die schon ein wenig aus ihren Erfahrungen Nutzen zu ziehen versteht, lernt durch die Maschen hindurchzufliegen, so- bald sie herausgebracht hat, dass dies nicht unmöglich ist (Experi- ment von Pissot), was ausserdem beweist, dass sie die Mitte einer Masche von deren Umkreis zu unterscheiden weiss, sonst würde sie so und so oft sich an den Fäden stossen und zu Boden fallen. Die dümmeren Insekten oder die mit einem schlechten Gedächtnis begabten (wie z. B. die Dipteren) lassen sich immer wieder verblüffen, ver- suchen auch nicht, auf irgend einem Umweg zum Ziel zu gelangen, ausser wenn irgendeine sehr heftige Lockung sie veranlasst, sich auf das Netz niederzulassen und irgendeinen Durchschlupf zu suchen ; dann benehmen sie sich so, wie es Plateau beschrieben hat. Die Stubenfliege wird aber keineswegs so triebartig zum Eindringen durch ein Fenster angezogen, wie die Calliphora durch den Geruch des Fleisches angelockt wird. Es ist also Mangel an Überlegung oder an Trieb, nicht ungenügendes Sehen, was die Tiere verhindert, sich der freien Mittelpartie der Maschen zum Durchfliegen zu bedienen. Es gibt ausserdem zahlreiche Dipteren, die, obwohl durch einen Reiz stark angezogen, doch nicht den Instinkt besitzen, das trennende Hindernis zu Fuss zu überwinden. So finden wir es z. B. bei den Stechmücken, die sich auf das Moskitonetz niederlassen, ohne zu versuchen, durch seine Maschen durchzukriechen. Ich er- blicke den Grund hierfür in der Tatsache, dass ihre Opfer, die Säuge- Kritische Bemerkungen; Plateau 193 tiere, fast stets unbedeckt sind. Culex pflegt sich z. B. auf das Beinkleid eines Mannes niederzulassen und zu versuchen, seinen Rüssel durch den Stoff hindurchzustecken, als wäre es die Haut; diese Mücke versteht es aber nicht, um den Rand des Kleidungs- stückes herum nach dem Körper hinzuschlüpfen, wie dies nach langem Herumsuchen u. a. die Flöhe tun, sowie auch Wespen und Ameisen, die sich für einen Angriff auf ihre Nester rächen wollen. Die Mücken oder Moskitos hingegen fliegen, von der Ausdünstung des unter dem Moskitonetz ruhenden (Schläfers angezogen, sofort direkt nach dem Tüllumhang des Lagers hin und lassen sich friedlich auf demselben nieder, ohne den geringsten Versuch, wandernd eine Eingangsöffnung zu suchen. Infolgedessen genügt es im Urwald der Tropen, die Falten des Moskitonetzes rings um die Hängematte, in der man zwischen zwei Bäumen aufgehängt ruht, herabhängen zu lassen, ohne das Netz unten herum zu ver- sichern, da die Moskitos gar nicht auf den Gedanken kommen, einen Eingang zu suchen. Ich habe indessen nicht ausprobiert, welches die genaue Grösse der Maschen eines Netzes oder Gitterwerkes sein müsste, so dass eine Mücke durchfliegen könnte, ohne an den Rändern anzustossen. Dieses Experiment wäre wert, gemacht zu werden. f) Anziehung der Insekten durch Blumen. Vorliebe für bestimmte Farben. Plateau (1). Es ist genügend bekannt, welche Wichtigkeit bereits Christian Konrad Sprengel (1793) und später Hermann Müller den Farben der Blumen als eines Anziehungsmittels für die Insekten beigemessen haben. Sie haben behauptet, dass gewisse lebhafte Blumenfarben an sich bestimmte Insekten anziehen, so dass sie lieber nach dieser Blume als nach andern mit weniger auffälliger Farbe hinfliegen, wodurch zugleich die Blume befruchtet und das Insekt genährt wird. Demgemäss bewirke die Zuchtwahl, dass die Blumen immer farbiger und farbiger werden. Lubbock hat Experimente gemacht, denen zufolge es sich ergab, dass Bienen und Hummeln z. B. eine ausgesprochene Vorliebe für Blau haben. Ich möchte hier gleich bemerken, dass diese Frage ausserordentlich kom- pliziert ist, und dass die Ergebnisse vorurteilslos unternommener Be- obachtungen nicht derartige sind, dass wir ohne weiteres darin eine Bestätigung der Müllerschen Versuche erblicken dürfen. Lubbocks Experimente sind ebensowenig auschlaggebend bezüglich dieses Punktes. Auch mir ist es häufig so vorgekommen, als ob Blau Forel, Das Sinnesleben der Insekten *3 194 Kritische Bemerkungen: Plateau besonders geeignet sei, Bienen und Hummeln nach einem Ort zu locken; so finden sie ja auch einen auf blauer Unterlage liegenden Honigtropfen leichter als einen auf roter Unterlage befindlichen. Da aber Insekten die Farben auf der ultravioletten Seite des Spektrums überhaupt besser erkennen als die auf der infraroten, könnte man ihre Vorliebe schon hieraus erklären. Weiss zieht sie meiner Meinung nach ebenso an wie Blau, vorausgesetzt, dass alle übrigen Umstände gleich sind. In dieser Frage darf Unter- scheidung von Farben nicht verwechselt werden mit der Vorliebe für diese oder jene Farbe. Obwohl die Unterscheidung der Farben für Insekten, die Blumen besuchen, nützlich ist, da sie diese dann schneller erkennen und finden, kann die Bevorzugung einer bestimmten Farbe ihrerseits schädlich sein, indem sie das Insekt hindert, Pflanzen aufzusuchen, die ebenso reich an Nektar und an Blütenstaub, jedoch abweichend gefärbt sind, oder indem sie das Insekt nach Pflanzen oder andern Gegenständen hinlockt, die zwar mit der bevorzugten Farbe versehen sind, ihm aber weder Nektar noch Blütenstaub bieten, oder die giftige Eigenschaften besitzen. Aus diesen einfachen, für jeden Entomologen von gesundem Menschenverstand einleuchtenden Grün- den habe ich die Theorien von Müller und Lubbock über diesen Punkt nie teilen können. Die Farbe bildet ein Merkzeichen, aber keine Anziehung an und für sich für das Insekt. Ich bin glücklich, mich bezüglich dieser Frage in vollem Einverständ- nis mit Plateau zu befinden, dessen zahlreiche Experimente (1) alle dahin zielen, das zu beweisen, was sich erwarten Hess, nämlich dass die Insekten diejenigen Blumen aufsuchen, die ihnen die Nahrung, die sie brauchen, bieten, und dass sie diese Blüten ebensogut findeni wenn sie farblos, grün wie ein Blatt, gelb oder rot, als wenn sie blau sind. Und umgekehrt ignorieren sie die herrlichsten Blumen, mit den leuchtendsten Farben, sobald diese ihnen nichts zu bieten haben. Plateau giebt sich m. E. sehr unnötige Mühe, um zu zeigen, dass es grüne Blumen gibt und dass die Insekten diese ebensoviel wie andere aufsuchen. Jedermann kennt die erste dieser Tatsachen und auch die zweite kann keinem Entomologen entgangen sein, aber meiner Meinung nach dienen Plateaus lange vergleichende Tabellen doch dazu, Müller zu widerlegen. Existieren nun trotzdem Bevor- zugungen bestimmter Farben ausserhalb der von uns soeben ausge- sprochenen, fundamentalen Tatsachen? Es ist dies eine so schwierige und komplizierte Frage, dass ich mir kein Urteil darüber erlaube. Kritische Bemerkungen; Plateau 195 Doch hat Plateau über einen andern sehr interessanten Punkt seine alten Experimente vervollständigt. Ich denke an seine Versuche mit künstlichen Blumen. Er hat sich ungeheure Mühe gegeben, sich die besten und künstlichsten Nachahmungen natürlicher Blumen zu ver- schaffen. Für jemanden, der die modernen Erzeugnisse auf diesem Gebiete kennt, bedeutet dies viel, denn selbst der Mensch muss oft seine volle Aufmerksamkeit anwenden, um diese künstlichen Produkte von echten Blumen zu unterscheiden. Auch hier kann ich im ganzen Plateau auf Grund verschiedener Experimente, die ich selbst gemacht habe, beipflichten. In Fällen, wo wir selbst getäuscht werden, täuschen sich Insekten selten und dann nur für einen Moment. Das Insekt fliegt meistens an künstlichen Blumen vorbei, ohne ihnen irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken, ohne dabei zu verweilen, ja sogar ohne zu zögern und begibt sich direkt zu natürlichen, die daneben stehen und die wir selbst von den andern nicht unter- scheiden. Müssen wir daraus den Schluss ziehen, dass die Farben, die wir anwenden, und die nicht chlorophyllhaltig sind, seitens der Insekten von chlorophyllhaltigen unterschieden werden? Dies erscheint nach Plateaus Experimenten sehr wahrscheinlich, und ich werde daran festhalten, bis ich einen Beweis des Gegenteils besitze. Das was unserem Auge als eine vortreffliche Nachahmung der Farbe erscheint, braucht es nicht für das Auge des Insekts zu sein. Diese Tatsache erscheint weniger erstaunlich, wenn wir bedenken, dass selbst unter Menschen einige farbenblind, andere wieder so farbenempfindlich und künstlerisch veranlagt sind, dass sie die Farben in ihren zartesten Abtönungen zu würdigen und wiederzugeben vermögen. Auch dürfen wir nicht vergessen, dass künstliche Blumen mit Hilfe des menschlichen Gesichtssinns und für diesen allein gefertigt werden. Hier indessen ist die Grenze meiner Übereinstimmung mit Plateau, denn von hier ab zieht er wieder irrige Schlüsse aus seinen Experi- menten. Dies hat mich veranlasst, mehrere der Versuche auf eigne Hand nachzuprüfen, und ich will in folgendem meine Resultate über die fraglichen Punkte wiedergeben. Zuerst meinte Plateau, es sei der Geruch und nicht die Farbe, der die Insekten anzöge. Er hat dabei mein wichtiges, oben angeführtes Ver- suchsergebnis, dass Hummeln, denen Antennen, Taster, Mund und Pha- rynx entfernt worden waren, ohne Zögern immer wieder zu ihren Blumen zurückkehrten, gänzlich ausser acht gelassen. Alle seine eigenen Schluss- folgerungen sinken bereits vor diesem Experiment in sich zusammen. 13* ^96 Eigene Experimente zur Kritik Plateaus Hier seine Versuche. Plateau benützte dazu kleine Dahlien mit gelber Mitte und verschiedenen Farben, die von zahlreichen Insekten aufgesucht wurden. 1. Er verdeckte die peripheren Teile der Dahlien mit Papieren von verschiedenen Farben. Trotzdem begaben sich die Insekten direkt nach der gelben Mitte der Blumen. 2. Er versteckte die Blume unter Papier. Die Insekten kehrten trotzdem, aber etwas weniger häufig, zu ihr zurück und lüfteten zu- weilen das Papier, um die darunter befindliche Blume zu finden. Plateau schliesst hieraus, dass Form und Farbe der Blume die Insekten nicht angezogen habe. Er vergisst aber gänzlich, dass das Insekt sich die Stelle gemerkt hat, wo zuvor die Blume war! 3. Plateau versteckte seine farbigen Dahlien unter Blättern von wildem Wein, so dass nur die gelbe Mitte zu sehen war. Die Insekten kehrten unentwegt zu dieser zurück. 4. Er versteckte nun die ganze Blume unter zwei grünen Blättern. Die Insekten kehrten zu ihr zurück und benahmen sich wie in Fall 2. 5. Schliesslich bedeckte er sämtliche Blumen mit einem Haufen grüner Blätter. Die Insekten kehrten zu dem Ort zurück, suchten, lüfteten die Blätter und fanden fast jedesmal die Blumen; besonders tat dies Bombus. Plateau schliesst daraus: Weder die Form noch die leuchtende Farbe scheinen einen lockenden Einfluss auszuüben. Höchstwahrscheinlich ist der Geruch derjenige Sinn, der die Tiere leitet. Den Einwand, dass das Insekt gewohn- heitsmässig nach dem Ort zurückkehre, wo es die Blume zuvor gefunden habe, behandelt er als Scherz. Durchdrungen von der Hinfälligkeit von Plateaus Schlussfolge- rungen, wiederholte ich selbst seine Experimente an einer Menge von roten, violetten, weissen, rosenfarbenen und braunen Dahlien, die ich auf einem Beet vor dem Hause gezogen hatte, und die be- sonders von zahlreichen Bienen besucht wurden. Ich wählte zu meinen Versuchen den 10. September, 2 Uhr 15 Min. nachm., und brachte dabei einige mir ratsam erscheinende Modifikationen in Anwendung. a) Ich maskierte zunächst 17, dann 28 Dahlienköpfe mit einem Weinblatt, das ich derartig mit einer Stecknadel zusammenheftete, dass die Blume völlig darin verborgen war. Eigene Experimente zur Kritik Plateaus 197 b) Ich verdeckte bei 4 Dahlien nur die gelbe Mitte. c) Ich verdeckte die bunten Blumenblätter einer Dahlie in der Weise, dass nur das gelbe Herz durch eine mittlere Öffnung zu erblicken war. Zunächst blieben 21 Dahlien unbedeckt, dann nur 10, die neben den von mir maskierten standen. Ich muss nochmals bemerken, dass die Zahl der besuchenden Bienen sehr gross war, zuweilen plünderten zwei oder drei auf einmal denselben Blumenkelch. Ausser- dem kamen verschiedene Bombus und Megachile. Ergebnis: Zunächst wurden dievölligmaskierten Blumen von den Bienen gänzlich im Stich gelassen. Diese stürzten sich anfangs ausschliesslich auf die unbedeckten Blumenhäupter. Häufig flogen die Bienen noch nach den Dahlien b, doch Hessen sie diese meist sofort wieder stehen. Ganz gelegentlich nur schlüpften sie unter das verdeckende Blatt, dies tat besonders Bombus. Dahlie c wurde natürlich ebensoviel wie die unbedeckten Dahlien aufgesucht. Nachdem ich dieses Resultat festgestellt hatte, das so frappant war, dass sich die anwesenden Damen und Kinder mit mir darüber amüsierten (und das, wie der Leser sieht, keineswegs ohne weiteres mit Plateaus Ergebnissen übereinstimmt), entfernte ich ein Weinblatt, das bisher eine dunkelrote Dahlie verdeckt hatte. Sofort fingen die Bienen an, sie wie früher zu besuchen. Eine der Dahlien a war indessen unvollkommen bedeckt gewesen, so dass ein rosiges Blumenblättchen zu erblicken war. Sofort begaben sich einige der Bienen, die zweifellos dies Stückchen rosa angelockt hatte, zu der Blume hin. Schliesslich entdeckte eine im suchenden Fluge herumschwirrende Biene einen Spalt in der Umhüllung einer der maskierten Dahlien, und weil sie wohl aus nächster Nähe den Geruch der Blume, der selbst für unsere Nasen sehr ausgesprochen war, verspürte, bewerk- stelligte sie den Eintritt in das grüne Gehäuse und fand darin die Blüte. Von da ab kam sie öfters wieder zu derselben Blüte zurück, doch war es stets dieselbe Biene und ohne Begleitung. Alles in allem kann man sagen, dass kaum eine der Bienen sich um die mit Weinblättern maskierten Blumen bekümmerte. Der Gegensatz war um so frappanter, als die übrigen Blumen dauernd von einer Unmenge von Bienen umschwärmt wurden. Dass einige Bienen sich nach der Anzahl von Dahlien, die plötzlich verschwunden schienen, 198 Eigene Experimente zur Kritik Plateaus umtaten, ist durchaus nicht erstaunlich, wir haben darin ein ganz gewöhnliches Gedächtnisphänomen zu erblicken. Später änderte sich die Sachlage einigermassen. Um 5 Uhr 30 Min. nachm. waren mehrere Bienen erfolgreich in ihrem Suchen gewesen, hatten die maskierten Dahlien gefunden und waren unter die Blätter zu ihnen eingedrungen. Nun wurden diese Pioniere bald von anderen nachgeahmt, und binnen kurzer Zeit hatten die maskierten Blumen sich eines lebhaften Besuchs zu erfreuen. Ich muss hier nochmals bemerken, dass, wenn eine Biene erst einmal den Trick der Maskierung entdeckt hat, sie bei ihren weiteren Beute- flügen nicht lange mehr fackelt, sondern dann direkt auf den einmal entdeckten Spalt im Weinblatt zufliegt. Eine zweite sehr bemerkens- werte Tatsache ist die ungeheure Schnelligkeit, mit der eine Biene Handlungen aufnimmt, die sie von mehreren Gefährten vollführen sieht. Über diese beiden Tatsachen kann man nicht einen Augen- blick im Zweifel sein. Solange eine einzelne Biene etwas entdeckt hat, achten die anderen kaum darauf, sobald aber auf einmal vier oder fünf Bienen am Werke sind, vermehrt sich die Menge der Nachahmer rapid. Am nächsten Tag war ich verhindert, mich um mein Experiment zu bekümmern. Doch sah ich später, dass die Bienen von da ab bis zum 13. September die umhüllten Dahlien genau so stark frequentierten wie die unumhüllten. Mein Betrug hatte jegliche Wirkung verloren. Aus allem diesem geht hervor, dass Plateaus Beobachtungen ebenso wie seine Schlussfolgerungen hinfällig sind. Erstens waren seine Dahlien unvollkommen bedeckt, indem nur ihre obere Fläche verhüllt war; und den Bienen, die um eine Gruppe von Blumen herumfliegen, konnten ja von der Seite aus die unbedeckten Stellen der Blume gar nicht verborgen bleiben. Dieser Einwand muss jedem aufsteigen, der die Tafeln Plateaus betrachtet, auf denen das flach auf der Blume liegende Weinblatt zu sehen ist. Nun hatten aus diesem Grunde seine Bienen seinen Trick schneller entdeckt als die meinen; ihr Benehmen aber bei Beginn der Experimente scheint er entweder überhaupt nicht beobachtet oder nicht registriert zu haben. Doch ist es ausschliesslich dieses Benehmen, das uns gestattet, Schlüsse über den Gesichtssinn, unabhängig vom Gedächtnis, zu ziehen. Er begann damit, nur die Blumenblätter (nicht das Herz) zu verdecken, was die Bienen am Auffinden nicht hinderte, immerhin Eigene Experimente zur Kritik Plateaus . 199 ^ aber eine Änderung für sie bedeutete. Es ist daher nicht zu ver- wundern, dass sie dann eher als bei meinem Experiment zu den nun ganz bedeckten Dahlien zurückkehrten. Er hätte, wie ich, gleich anfangs die ganze Blume bedecken sollen. Ferner bestätigen meine Resultate den auf grössere Distanzen so geringen Geruchssinn der Bienen. Am 13. September. Zehn bis zwanzig Meter von den Dahlien entfernt befanden sich auf einer Wiese zahlreiche gelbe Hieracium und eine Menge Petunien. Die Hausbienen pflegten weder die einen noch die anderen dieser Blumen aufzusuchen. Ich nahm nun drei Petunienblüten von einer den Dahlien entsprechenden Farbe und ordnete sie um eine Hieraciumblüte in der Weise herum, dass die letztere dem gelben Herz der Dahlie, die Petunien aber deren Blüten- blättern entsprachen, und steckte diese meine Dahlienimitation in die Mitte der echten Dahlien hinein. Eine halbe Stunde lang konnte ich nun beobachten, wie eine grosse Anzahl Bienen sowohl wie Hummeln und einige Fliegen auf die von mir künstlich zusammengestellte Dahlie zugeflogen kamen, sich auch zu- weilen auf dieser niederliessen, aber alsobald wieder hinwegeilten, nach- dem sie, sei es durch den Geruch, sei es durch den Geschmack, sich von ihrem Irrtum überzeugt hatten. Auch hier wieder zeigte es sich, dass die Bienen aus ihren Erfahrungen Vorteil zu ziehen wissen. Zu Anfang nämlich flogen beinahe ebenso viele Bienen nach meinem Kunstwerk wie nach den Dahlien. Am Ende einer halben Stunde flogen noch immer einige Bienen zu der falschen Dahlie; die Mehr- zahl aber, die sich den Ort gemerkt hatte, wo diese stand, erinnerte sich derselben und mied meine Attrappe. Eine wirkliche Dahlie, deren gelbes Herz ich entfernt und durch ein Hieracium ersetzt hatte, wurde genau so behandelt wie die Hieracium-Petunia-Attrappe. Nun möchte ich noch eine weitere Beobachtung berichten : Seitlich vom Dahlienbeet stand eine Gruppe gelber und weisser Chry- santhemum (den Leucanthemum nahe verwandt) mit bräunlichen Herzen. Die Bienen, Hummeln etc. machten sich aus diesen Blumen offenbar gar nichts, sondern hatten sich angewöhnt, glatt über die- selben hinweg nach den Dahlien hinzufliegen, und zwar in einer Höhe von 20 — 30 cm. Ich nahm nun eine weisse Petunie, befestigte im Zentrum dieser Blume das starkduftende Herz einer schönen Dahlie und brachte dies mein Erzeugnis an einer auffallenden Stelle über der Gruppe von Chrysanthemum thronend an. Das Resultat 200 Eigene Experimente zur Kritik Plateaus war, dass binnen der ersten halben Stunde keines der Insekten, die vorübergeflogen kamen, die neue Blume aufsuchte, alle ignorierten dieselbe und konnten nicht schnell genug zu dem Dahlienbeet ge- langen. Schliesslich, nach Verlauf dieser halben Stunde, kam eine Biene durch Zufall in die Nähe meines Machwerks geschwirrt, bemerkte den Geruch des gelben Herzens und Hess sich auf demselben nieder. Dieser schloss sich alsbald eine zweite Biene an, die Numero Eins bei ihrem Unternehmen beobachtet hatte, und bald wurde das in die Verbannung versetzte Dahlienherz gleich den wirklichen Dahlien von einer Menge von Bienen besucht. Einige wirkliche Kunstblumen, die ich zwischen die Dahliengruppe hineingesteckt hatte, wurden mit einer Hartnäckigkeit ignoriert, die Plateau grosse Freude gemacht haben würde. Es kam wohl vor, dass diese oder jene Biene einen Abstecher nach dieser Richtung machte — sicherlich nur durch Zufall — , nie jedoch sah ich sie die künstlichen Blumen umschwirren oder sich auf dieselben niederlassen. Da es meiner Meinung nach feststeht, dass selbst die am besten sehenden Insekten die Umrisse der Objekte in einer unvollkommeneren und summarischeren Art sehen als wir, verfertigte ich, anstatt mich kunstvoller Nachbildungen wirklicher Blumen zu bedienen (wie Plateau), selbst einige ganz primitive Blumen aus farbigem Papier, und zwar: a) eine rote Blume; ß) eine weisse Blume; 7) eine blaue Blume; S) eine blaue Blume mit einem gelben, aus einem trockenen Kirschlorbeerblatt verfertigten Herzen; e) eine Papierrose mit einem trockenen Dahlienherzen; C) ein grünes Dahlienblatt (ohne Blume). Ich tropfte nun in die Mitte eines jeden dieser Kunstwerke ein Spürchen Honig. Die Beobachtung begann um 9 Uhr vorm. Während einer Viertelstunde des Beobachtens flogen sehr viele Bienen in allen möglichen Richtungen an meinen Machwerken vorüber, und zwar ganz nahe, ohne ihnen die geringste Beachtung zu schenken, obwohl, wenn Plateau recht hätte, der Honig auf ihr Geruchs- vermögen gewirkt haben müsste. Ich zog mich dann eine ganze Stunde lang zurück. Bei meiner Rückkehr fand ich Attrappe § leer, den Honig aufgesogen, ein Zeichen, Eigene Experimente zur Kritik Plateaus 201 dass diese Blume von einer Biene entdeckt worden war. Die anderen waren sämtlich unberührt geblieben. Mit grosser Sorgfalt brachte ich hierauf Attrappe a in nächste Nähe einer Biene, die gerade damit beschäftigt war, eine Dahlie auszubeuten. Ich wiederholte dies Experiment vier- oder fünfmal, ohne dass die Biene den Honig wahrnahm, so stark war ihre Aufmerksamkeit von den Dahlien gefesselt. Endlich gelang es mir, den Honig in direkte Berührung mit dem Rüssel einer Biene zu bringen. Sofort wandte sie sich nun dem Honigtropfen zu und beschäftigte sich unter völliger Vernachlässigung der wirklichen Dahlie nur noch mit der Papier- blume. Ich befestigte nun, während die Biene noch im Kelch der- selben wühlte, die Papierblume an einem Zweig inmitten der Dahlien- gruppe und malte den Rücken der Biene blau an. Ich wiederholte den Versuch mit Attrappe ß an einer Biene, die ich mit gelber Farbe bezeichnete, und mit Attrappe e an einer Biene, die ich weiss markierte. Die blaue Biene kehrte sehr bald von ihrem nicht weit befindlichen Stock zu Attrappe a zurück, flog emsig, aber ohne sich niederzulassen, um diese herum, erblickte dann Attrappe ^, Hess sich auf diese nieder und saugte an dem dort befindlichen Honig. Darauf kehrte sie zu Attrappe a zurück. Hierauf sah ich, wie die gelbe Biene zu Attrappe ß zurückkehrte und dort plünderte, sich dann auch noch zu den Attrappen a und 8 begab, aber ebenso wie ihre blaue Gefährtin die wirklichen Dahlien vernachlässigte. Nun erschien die weisse Biene auf dem Plan, suchte die ihr bekannte Attrappe e, fand sie nicht sogleich und plünderte darum in zahlreichen Dahlien, als ob die Erinnerung an den Honig sie ver- folgte. Dann kehrte sie zu den falschen Blumen zurück, ohne diese jedoch zu erkennen, worunter ich verstehe, dass sie die Erinnerung an deren Anblick nicht mit dem Geruch und Geschmack des Honigs zu assoziieren vermochte. Zuletzt flog sie nach der erwähnten Chrysanthemumgruppe und entdeckte dort verschiedene Teilchen des trockenen gelben Dahlienherzens der Attrappe e, die aus dieser zu Boden gefallen waren. Sie liess sich auf diesen nieder und sog den Honig davon auf. Ich befestigte hierauf diese Blumen- teilchen wieder auf Attrappe e, zu der sie gehörten. Von da ab kehrten die drei farbig markierten Bienen, und nur diese drei, alle Augenblicke nach den Attrappen zurück, um in 202 Eigene Experimente zur Kritik Plateaus ihnen zu saugen, ohne die wirkh'chen Dahlien überhaupt mehr zu beachten. Ich muss hier bemerken, dass sie die übrigen Attrappen — ich selbst hatte ja eine jede der Bienen nur auf je eine bestimmte Papierblume gesetzt — von selbst entdeckten. So z. B. frequentierte die blaue Biene ^, ß und 7, die gelbe Biene ^, a und 7, die weisse Biene e, a, ß und S. Dies ging so etwa eine halbe Stunde weiter. Ich war imstande, die Bienen an Rumpf, Flügeln und Abdomen anzumalen, ohne sie aus der Fassung zu bringen, so sehr waren sie in ihre Honigorgie vertieft. Keine von ihnen entdeckte Attrappe C, die tiefer angebracht, etwas versteckter und ausserdem von stark abweichender Form war und durch Farbe und Gestalt mit dem übrigen grünen Dahlienlaub ver- wechselt werden konnte. Die blaue und die gelbe Biene vermochten ausserdem nicht, Attrappe e aufzufinden, die etwas versteckter und niedriger am Rande der Blumengruppe angebracht war. Hier wollen wir einen Augenblick haltmachen. Zweifellos würde Plateau aus meinen Experimenten herauslesen, dass „Bienen keine Formen sehen und Farben nicht unterscheiden können". Mich lehren die Ergebnisse dieser Versuche auf das deutlichste etwas ganz anderes. Unsere Bienen, an die verschiedenfarbigen Dahlien gewöhnt und von diesen angezogen, brachten zu Anbeginn allem, das in ihren Augen diesen Blumen nicht ähnelte, keinerlei Aufmerksamkeit ent- gegen. Unsere Versuche zeigten, dass es bloss den Petunien mit den Hieraciumherzen, da dieselben Chlorophyllfarben hatten, gelang, die Bienen einigermassen irrezuführen. Wenn die vollständige Blüte der Dahlien ihren Augen entzogen war, gelang es ihnen eine Zeitlang nicht, diese zu finden; doch genügte schon der Anblick des gelben Herzens oder eines seitlichen Stückchens des bunten Kelches, um die Bienen sofort auf die richtige Spur zu bringen. Selbst der Ge- ruch des geliebten Honigs und der des Dahlienherzens vermochte aus einer Entfernung von mehreren Zentimetern nicht, diese Wir- kung zu erzielen. Sobald es uns aber gelungen ist, die Aufmerksamkeit einer der Bienen, besonders durch den Geschmack oder den Geruch in nächster Nähe, auf etwas Honig zu lenken (wo immer man diesen auch an- bringen möge, in unserem Falle auf einigen ziemlich rohen Blumen- nachahmungen aus buntem Papier), wird die Richtung sofort geän- dert, denn den geliebten Honig ziehen die Bienen selbst dem Nektar der Dahlien vor. Von diesem Moment ab vernachlässigen sie die Eigene Experimente zur Kritik Plateaus 203 Dahlien und fliegen nach den Attrappen. Trotzdem kann man bei der ersten Wiederkehr eine sehr charakteristische Erscheinung beob- achten: die Biene zögert; offenbar ist das Erinnerungsbild des plumpen, den gewohnten Blumenformen so ungleichen Machwerks noch nicht genügend fixiert und mit dem Duft und dem bevorzugten Geschmack des Honigs noch nicht fest genug assoziiert. Dieses Zögern habe ich bei der ersten Wiederkehr zu einem Ort und einem ungewohnten Gegenstand hunderte von Malen sowohl bei Bienen als auch bei Wespen und Hummeln beobachtet. Man kann es bemerken, wenn man etwas Honig oder auch wenn man das Nest des betreffenden Insekts in ein Fenster gestellt hat. Lange Zeit hindurch kann man sehen, wie die Tiere hin- und herfliegen, wie sie an vier oder fünf Fenstern der betreffenden Fassade auf- und absummen, bis sie end- lich das gesuchte Objekt gefunden haben. Ich werde nie ein Ex- periment vergessen, das ich als Knabe machte, indem ich ein Nest von Bombus in mein Fenster setzte und die enorme Schwierigkeit beobachtete, die es den armen Tierchen bereitete, ihr Nest in dieser un- gewohnten Umgebung wiederzufinden ; einige von ihnen verirrten sich völlig oder kehrten zu dem früheren Standplatz ihres Nestes zurück. Es wäre ein grosser Fehler, dies schlechtem Sehen zuzuschreiben. Sahen wir doch, wie die nämlichen Bombus, trotzdem sie ihrer An- tennen und ihres Mundes beraubt waren, beim ersten Versuche und ohne jedes Zögern diejenigen Blumen wiederfanden, in denen sie ge- wohnt waren Nahrung zu holen. Wir haben es hier mit etwas ganz anderem zu tun, mit einem psychischen Phänomen, einem in die Irre geführten Instinkt. Wir verlangen zuviel von dem armen kleinen Insektenhirn, wenn wir ihm solche Streiche spielen. Wir verlangen zuviel von seinem Gedächtnis und von der As- soziation seiner Gedächtniseindrücke. Meine Hummeln sahen die betreffenden Fenster sehr wohl. Sie sahen den Zigarrenkasten, der in dem einen Fenster stand und der unter einem Glasdeckel ihr Nest enthielt. War aber dieser Gegenstand nun wirklich ihr Nest? Sicherlich waren sie, ehe sie das erste Mal aus dem neuen Stand- ort ihres Nestes fortflogen, im Gefühle der gewaltigen Veränderung, die mit diesem Nest vorgegangen war, vier- oder fünfmal vor dem Fenster hin und her geflogen, um die Stellung des Nestes fest in ihrem Gedächtnis zu fixieren. Dies ist nämlich der Instinkt aller der- artiger Insekten, so oft sie einen ihnen ungewohnten Platz verlassen, zu dem sie wiederzukommen beabsichtigen. Nachdem unsere Hummeln 204 Eigene Experimente zur Kritik Plateaus aber erst einmal dies ihr Nest verlassen und in verschiedenen Blumen umhergewirtschaftet hatten, wussten sie nicht mehr, ob sie zur alten oder zur neuen Neststätte zurückkehren sollten. Wir können uns nicht so leicht vorstellen, was im Gehirn einer Hummel vor sich geht, aber meiner Meinung nach zog es sie zunächst zu ihrem alten Nest zurück, an das stärkere Erinnerungen sie knüpften. Dort fand sie nur ruinenhafte Reste, die sie vergebens durchsuchte. Enttäuscht flog sie von dannen (wenigstens stelle ich es mir so ähnlich vor), und nun trat eine Assoziation von Erinnerungen ein, die sie veran- lasste, die Fassade mit den Fenstern aufzusuchen. Bis dahin waren ihre neueren, mit dem Zigarrenkasten in der Fensterecke erst un- vollkommen assoziierten Erinnerungseindrücke zurückgedrängt ge- wesen, darum hatte sie soviel Mühe, ihr Nest an dem sonderbaren neuen Platz zu finden, einem Platz, der so weit verschieden war von allen Gegenständen, mit denen eine Hummel sonst zu tun hat und an die ihr Instinkt angepasst ist. Ausserdem wurde das Tierchen noch durch die grosse Anzahl von Fenstern, die sich so ähnlich sahen, verwirrt, und so untersuchte es drei oder vier, ehe es das richtige entdeckte. Und noch etwas: Unsere drei gemalten Bienen kehrten, nachdem sie ein wenig gezögert hatten, nicht etwa wie Maschinen eine jede zu derjenigen Blumenattrappe zurück, auf die ich sie gesetzt hatte, sondern je nachdem zu dieser oder jener der verschiedenfarbigen Papierblumen, die in demselben Umkreis standen. Plateau würde sagen, dies komme daher, dass sie die verschiedenen Farben nicht unterscheiden. Aber sie unterschieden jedenfalls doch wenigstens Formen, denn es war nicht der Geruch, der sie zunächst angezogen hatte, und ihre Gefährtinnen wurden ja überhaupt, wie wir sahen, nicht von demselben angelockt. Ich erkläre mir die Sache so: Die Bienen waren es vorher schon gewohnt, die vielen, verschieden gefärbten Dahlien aufzusuchen, von einer roten zu einer rosafarbenen, violetten, weissen usw. zu fliegen und von jeder derselben den Nektar zu schlürfen. Nachdem sie nun einmal Honig auf einer der Papier- blumen gefunden hatten, warum sollten sie nicht auf einem ganz ähnlich gestalteten, benachbarten, wenn auch verschieden gefärbten Gegenstand gleichfalls solchen vermuten? Sie erinnerten sich, Nektar in verschieden gefärbten Dahlien gefunden zu haben, und dies hatte sie wahrscheinlich veranlasst, in diesem Fall dem Farbenwechsel überhaupt keine Beachtung zu schenken. Lubbock, der die Farben- Eigene Experimente zur Kritik Plateaus 205 Unterscheidung bei Bienen bewiesen hat, wies darauf hin, wie nötig es sei, eine Biene lange Zeit hindurch auf ein und dieselbe Farbe zu trainieren, ehe man sich Schlussfolgerungen über solche Fragen erlauben könne. Erst dann wird die Biene eben diese und keine andre Farbe bevorzugen und den Honig an keinem andern Orte mehr suchen. An eine Tatsache muss man jedoch immer denken: Bienen, die gewöhnt sind, auf verschiedenfarbigen Blumen zu plündern, wechseln ohne Bedenken von einer Farbe zur andern hinüber. Dies erfordert eine gewisse Assoziation von Erinnerungen, doch keine so schwierige, dass das Insekt sie nicht zu leisten ver- möchte; beobachten wir doch bei den sozialen Hymenopteren eine ganze Anzahl anologer Assoziationen. Die Biene unterschied die Nachahmung von der natürlichen Dahlie, das konnte kaum wunder- nehmen und war ohne weiteres zu sehen. Solange sie nun den Nektar nur auf den Dahlien fand, wandte sie ihre ganze Aufmerk- samkeit diesen zu und suchte nur nach dieser bestimmten Blume. Sobald sie aber entdeckte, dass die Nachahmung etwas noch köst- licheres enthielt, verliess sie die Dahlien zugunsten der ersteren. Kehren wir nun zu unseren drei markierten Bienen zurück, die wir auf ihren künstlichen Blumen verlassen haben. Es kam nun durch Zufall oder vielleicht, weil sie die markierten Bienen hierherfliegen sah, eine neue Biene heran, die sich aus eigner Intiative auf Attrappe S niederliess und hier Honig naschte. Dieses war gerade diejenige Attrappe, die während meiner Abwesenheit von einer Biene entdeckt worden war (vielleicht von derselben?). Ich markierte die neue Biene mit Karmin. Sie entdeckte nun die Attrappe a, die von der blauen Biene frequentiert wurde, trieb die letztere von dort weg und machte sich über den Honig her, und so fort. Eine kleine Fliege, Syrphus, entdeckte von selbst und zwar als einzige ihrer Gattung die Attrappe e. Später fand mein jüngerer Sohn noch eine Biene auf dieser Attrappe; ich markierte sie scharlachrot. Eine andere Biene kam hierauf spontan zur Attrappe ß geflogen; ich markierte sie grün. Sie kehrte auch zurück, diesmal aber zu Attrappe §. Nun sammelten fünf Bienen gleichzeitig auf meinen Attrappen: die gelbe und die grüne auf S, die blaue und die weisse auf ß, die karmin- farbige auf a. Doch wechselten sie alle zwischen den verschiedenen vorhandenen Attrappen. Jede gezeichnete Biene machte auf diese Weise fünf bis zehn ver- schiedene Besuche bei meinen Erzeugnissen. Es war nun 12 Uhr 206 Eigene Experimente zur Kritik Plateaus 30 Min. nachm. geworden (das Experiment hatte um 9 Uhr vorm. angefangen). Die weisse Biene war die einzige, die bei allen Attrappen, inklusive e, aber immer exklusive C gewesen war. Es kam schliesslich noch eine neue Biene, die der weissen nachgeflogen war, sie setzte sich auf Attrappe e und plünderte dort; ich markierte sie braun. Nun kamen wieder, von den vielen, auf den Attrappen ver- sammelten Genossinnen angelockt, zwei, dann drei neue Bienen herangeflogen, so dass mir die Farben ausgingen und ich nicht mehr imstande war, jeder eine neue Markierung zu verleihen. Es sassen jetzt stets zwei oder drei Bienen gleichzeitig auf derselben Attrappe, so dass ich immerfort Honig nachfüllen musste. Ich ging dann zu Tisch und kehrte erst um 1 Uhr 25 Min. nachm. zu meinen Bienen zurück. In diesem Augenblick sammelten sieben Bienen auf einmal allein in der Attrappe ß, zwei in a, zwei in 7, drei in ^, während in e nur die weisse Biene sass. Mehr als die Hälfte der jetzigen Besucher bestand in neuen, noch nicht markierten Bienen, die den markierten nachgeflogen waren. Und immer grösser wurde der Schwärm von Bienen, der sich jetzt auf meine Kunstblumen niederliess und sie im Handumdrehen des ganzen noch vorhandenen Honigs beraubte. Plötzlich, nach mehr als vier Stunden, entdeckte auch eine Biene trotz des herrschenden Gewimmels die Attrappe C, die wegen ihres von den anderen Imitationen abweichenden, mit dem Blattwerk hin- gegen leicht zu verwechselnden Aussehens bisher unbeachtet geblieben war. Nun aber benahm sich der Schwärm, der von seinem Stock her- gelockt und von den wirklichen Dahlien abgelenkt worden war, wie eine Meute Schakale mit einem abgenagten Gerippe. Umsonst durch- wühlten die Bienen jedes Winkelchen der Papierblumen. Nichts mehr zu finden. Es war mittlerweile 1 Uhr 55 Min. nachm. geworden ; sie begannen nun sich auszubreiten und die reizlos gewordenen Blumen- kopien zu verlassen, um sich wieder den wirklichen Dahlien zuzu- wenden. In diesem Augenblick ersetzte ich Attrappe a durch ein ähn- liches Stück roten Papiers und Attrappe ß ebenfalls durch ein, übrigens ganz formloses Stück weissen Papiers. Diese zwei neuen Machwerke waren nie mit einem Tröpfchen Honig in Berührung gekommen und rochen daher auch nicht nach solchem. Trotzdem wandten sich mehrere Bienen, die noch unter dem Bann der Erinnerung an den Honig der vorigen Attrappen standen, daraufhin um, um die neuen Nachahmungen zu besichtigen. ^Unter anderem durchforschte die Eigene Experimente zur Kritik Plateaus 207 weisse Biene das neue Machwerk ß, auf das sie sich niederliess, mindestens drei oder vier Minuten lang. Bei diesem Vorgang war der Geruch ganz ausgeschaltet, es konnte sich dabei nur um Form, Farbe und Örtlichkeit handeln. Nun nahm ich alle meine Machwerke an mich, fasste sie mit der linken Hand und war im Begriff sie fortzutragen. Sofort machten sich zwei oder drei Bienen auf, umschwärmten meine Hand und bemühten sich, auf den Attrappen, die ich trug, Posto zu fassen. Die Örtlichkeit hatte sich jetzt also verändert, und nur Form und Farbe des Gegenstandes konnten es sein, welche die Aufmerksamkeit der Bienen fesselten. Ist dies nicht sonnenklar, und müsste nicht selbst ein Plateau sich der Beweiskraft dieses Vorganges beugen? Wie will Plateau, wie will Graber sich erklären, dass die Bienen, die nach Ansicht dieser Forscher weder Form noch Farbe, sondern nur Hell und Dunkel unterscheiden, das dunkelrote und ebenso das weisse und blaue Papier in meiner Hand wahrnahmen? Meiner Meinung nach zeigeft übrigens diese Experimente ebenso wie die Lubbocks. dass es mehr der Geschmack als der Geruch ist, der, zusammen mit dem Aussehen dieser Dinge die Bienen zu Honig und Blumen hinlockt. Der Geruchssinn gewährt nur eine Nachhilfe, indem er auf eine Entfernung von zwei bis drei Zentimetern die Tiere auf den eigentlich wichtigen Fleck hinleitet. Fassen wir nun unsere Beob- achtungen in einige Sätze zusammen: 1. Wenn die Aufmerksamkeit einer Biene erst einmal auf Honig, der sich in noch so plump angefertigten künstlichen Blumen befindet, gelenkt ist, kehrt sie wieder zu demselben zurück. Sie wird durch ihr Gedächtnis dorthin zurückgeleitet. 2. Bei ihrer ersten Wiederkehr (bei einer weiteren geschieht dies nicht mehr) zögert sie noch ein wenig, weil die Assoziation ihrer optischen und ihrer Geschmackserinnerungen noch keine sehr feste ist, was sich in einer gewissen Unsicherheit ihrer Wirkung äussert. 3. Der Geruchssinn wirkt nur aus nächster Nähe bestimmend auf das Verhalten der Biene ein und auch nur dann, wenn ihre Aufmerk- samkeit nicht durch anderes abgelenkt wird ; er spielt bei der Biene eine viel geringere Rolle als bei Wespen, Fliegen usw. 4. Der Geschmack ist derjenige Sinn, der die Aufmerksamkeit der Biene am stärksten beherrscht und daher ihren Willen zu der Örtlichkeit zurücklenkt, wo sie Honig gefunden hat. 208 Eigene Experimente zur Kritii^ Plateaus 5. Es ist der Anblick von Formen, Farben, Dimensionen und Entfernungen (auf Grund der gemässigt stereoskopischen Gesichts- wahrnehmung des Facettenauges), der die Biene leitet und durch eine Assoziation von optischen Erinnerungen mit solchen des Geschmacks und Geruchs die Richtung ihres Fluges bestimmt. 6. Sobald mehrere Bienen an demselben Ort sammeln, ziehen sie allein hierdurch die Aufmerksamkeit anderer Bienen auf sich, die sich eilends daranmachen, sich den Genossinnen zuzugesellen. Eine einzelne Biene dagegen, besonders wenn sie durch Anwesenheit von Honig sehr weit von dem Stock weggelockt worden ist, wird meistens den Fundort des Honigs von selbst wieder finden, kann aber ihre Genossinnen weder dahin bringen, noch werden diese dazu veranlasst, ihr direkt zu folgen. Ich ziehe diesen Schluss ebenso wie er selbst aus Lubbocks Experimenten, die ich durch die folgenden eigenen Beobachtungen bestätigen konnte. Um 2 Uhr 20 Min. nachm. kehrten meine markierten Bienen zu- sammen mit den anderen zu den wirklichen Dahlien zifrück. Wir haben oben (bei der Besprechung der Lubbockschen Arbeit S. 162) gezeigt, wie die Bienen das Blumeninnere mittels ihres durch die Sinnesorgane der Fühler vermittelten Kontaktgeruchssinns prüfen. Die Tages-Lepidopteren, die Megachile, ja sogar ein männlicher Bombus hielten dagegen während des Saugens in den Blumen- kelchen ihre Fühler aufrecht und völlig regungslos. Am 17. September unternahm ich ein Experiment, das, ob an sich auch ein völliges Fiasko, mir äusserst lehrreich erscheint. Eine sehr geschickte Dame bemalte mir einen grossen Streifen weisser Pappe mit einer Reihe von Feldern, die durch alle Schattierungen von Grau hindurch sich vom tiefsten Schwarz bis zum reinsten Weiss abstuften. Meine Idee war nun, von einer Biene ein honigbestrichenes Stück blauen oder roten Papiers auf den verschiedensten Stellen dieser abschattierten Bahn auffinden zu lassen, wodurch ich genauer zu beweisen hoffte, dass nicht Hell oder Dunkel, sondern dass die Farbe es ist, die hauptsächlich auf das Unterscheidungsvermögen der Biene einwirkt. Es war indessen nicht ganz leicht, zwei Fehler- quellen aus diesem Experiment auszuschalten: den von den Papier- stückchen geworfenen Schlagschatten und das Glitzern des Honig- tropfens. Immerhin ermutigten mich Lubbocks und meine eigenen bisherigen Versuche in der Annahme, dass diese beiden kleinen optischen Unterschiede von den Bienen übersehen werden würden. Eigene Experimente zur Kritik Plateaus 209 Ich beabsichtigte also, eine Biene durch Darreichung von Honig auf blauer Unterlage an diese Farbe zu gewöhnen, sodann das blaue Papierstück durch ein rotes mit Honig zu ersetzen und schiessUch die Biene dahin zu bringen, auch ohne Honig zu dem blauen Papierstück zurückzukehren, das ich auf verschiedene Stellen des in allen Abstufungen von Schwarz zu Weiss bemalten Pappstreifens legen wollte. Fände meine Biene das blaue Papier, wo es auch liegen mochte, so wäre damit erwiesen, dass das Insekt nicht farbenblind ist und eine Farbe sowohl von einem hellen wie von einem dunkeln neutralen Hintergrund zu unterscheiden vermag. Leider hatte ich jedoch dies Experiment acht Tage nach der Be- endigung des vorhergehenden begonnen, ohne mit dem Gedächtnis meiner Bienen zu rechnen ! Kaum hatte ich ein oder zwei Bienen auf die blauen Papierstückchen gesetzt und sie markiert, als ein munteres Fliegen und Umherprobieren auf allen nur vorhandenen Papierstückchen, ob rot, schwarz oder weiss, ob mit oder ohne Honig, begann. Alle die Bienen des Dahlienexperimentes der vorigen Woche wurden mobil und besuchten den Pappstreifen und alle meine Papierschnitzel, offenbar in der Meinung, dass hier eine Wiederholung des Honiggelages bereitet sei, das sich ihnen in den falschen Dah- lien des verflossenen Experiments geboten hatte. Und recht hatten sie ja! Ich will nicht behaupten, dass sie mich selbst erkannten, denn zweifellos hätten sie sich ebenso irgendeinem anderen Mann oder auch der Dame gegenüber verhalten, die den Pappstreifen ge- malt hatte. Doch die Situation als Ganzes erschien ihnen entschieden vertraut, besonders aber die bunten Papierchen. In wenigen Augen- blicken war ein förmlicher Schwärm zur Stelle, der von allen Seiten her den Pappstreifen, meine Hände und das Brett, das die Unterlage der ganzen Herrlichkeit bildete, in Angriff nahm. Mit Eifer stürzten sich die Bienen sogar auf die leeren Papierstückchen. Wenn erst einmal zwei oder drei Tiere auf einem derselben sassen, folgte ein Schwärm von anderen nach. Es ist allerdings wahr, dass sie von den leeren Papierstückchen bald wieder wegflogen, während sie sich auf den honigbestrichenen geradezu in Haufen niederliessen. Zuletzt entdeckten sie sogar den Honig auf der Unterseite einiger Papier- stücke, die ich zum Scherz umgelegt hatte (mit der bestrichenen Seite nach unten); während sie über die obere Fläche hinliefen, Hess sie der Geruch des nahen Honigs stutzen, stillstehn und schliess- lich den Rand des Papieres lüften. Und so scharf erwies sich ihr Forel, Das Sinnesleben der Insekten 14 210 Eigene Experimente zur Kritik Plateaus Sehen der Formen, dass sie, wohl mit Hilfe des schmalen vom Rande des Papiers gebildeten Schattens (das Experiment ging bei Sonnenschein vor sich), sogar ein weisses Papier ohne Honig auf weisser Unterlage und ein schwarzes Papier auf schwarzer Unterlage — letzteres freilich etwas weniger leicht — unterschieden. Die be- nützten Papiere bestanden in Quadraten von 4—4 V2 cm Seitenlänge. Ich schnitt nun zwei Bienen, die ich je grün und rot markierte, die Fühler ab. Diese Bienen kehrten, nachdem sie schon zuvor dort genascht hatten, zu den blauen Papierstückchen zurück, ja die grüne Biene suchte sogar das Stück blauer Farbe im Malkasten auf, das sie bis dahin nicht beachtet hatte (der Kasten stand geöffnet einige Zentimeter von den übrigen Dingen entfernt im Gras). Der Leser sieht, dass das Experiment nach der geplanten Richtung hin ein völlig missglücktes war, doch bewies es aufs klarste, dass das Gedächtnis der Bienen sich über viele Tage hin erstreckt, so dass jeder Untersucher, der diesen Umstand nicht in Rechnung zieht, Trugschlüssen ausgesetzt ist. Immerhin Hesse sich das Experiment mit besserem Erfolg wiederholen, wenn man dazu Bienen wählte, mit denen vorher noch keine Versuche unternommen wurden, indem man diese Bienen an einen blauen oder andersfarbigen, weit von ihrem Nest befindlichen Gegenstand gewöhnte und die Mitwirkung von Schlagschatten dadurch ausschlösse, dass man das Experiment entweder bei diffusem Licht unternähme oder die Papierstücke so eng auf dem Untergrund aufliegen Hesse, dass eine Begrenzung durch einen Schattenstrich vermieden würde. Ich bitte den Leser, das Re- sultat dieses meines misslungenen Experiments mit dem Experiment der vorhergehenden Woche (mit den roh imitierten Dahlien) an den- selben Bienen zu vergleichen, sowie mit den weiter unten zu er- wähnenden Versuchen Plateaus mit künstlichen Apfelzweigen. Ich wüsste nicht, wie man klarer als durch einen Vergleich dieser Ex- perimente beweisen könnte, dass Insekten mit verhältnismässig ent- wickeltem Gehirn nicht nur schlechthin durch irgendeinen Reiz, der ihre Sinne trifft, angezogen oder abgestossen werden, sondern dass sie Erinnerungen an ihre assoziierten Wahrnehmungen besitzen und diese wieder neu assoziieren, oder anders ausgedrückt, dass sie ausser ihren direkten Sinnesempfindungen Fähigkeiten besitzen, die in ihren wesentlichsten Eigenschaften unsern eigenen Fähigkeiten, als da sind: Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Wahrnehmung von Objekten und Assoziation sinnlicher Vorstellungen, entsprechen. Kritische Bemerkungen; Plateau 211 Kehren wir nunmehr zu Plateau zurück (I., 2. Teil, 1896). Nach- dem Darwin zu bemerken geglaubt hatte, dass die blauen Blumen- blätter von Lobelia erinus die Bienen anzögen, und diese die Lo- belien nicht mehr aufsuchten, wenn man ihnen die Blumenblätter abgeschnitten hätte, prüfte Plateau diesen Versuch mit einer Diptere (Eristalis) nach. Seine Resultate stellen sich dar wie folgt: Intakte Lobelien Verstümmelte Lobelien Besuche mit Saugen 33 25 Besuche ohne Saugen 29 16 Doch erhalten diese Versuche ein anderes Gesicht, sobald man die Einzelheiten des Experiments ins Auge fasst und mit Überlegung betrachtet: Erstes Experiment am 14. September, 9 bis 10 Uhr. Intakte Lobelie 21 Besuche. Verstümmelte Lobelie 9 Besuche. Zweites Experiment am 14. September, 2 bis 3 Uhr. Intakte Lobelie 7 Besuche. Verstümmelte Lobelie 7 Besuche. Drittes Experiment am 16. September, 11 bis 12 Uhr 30 Min. Intakte Lobelie 34 Besuche. Verstümmelte Lobelie 25 Besuche. Bei diesem Experiment standen die unversehrten Lobelien in einem Topf, die verstümmelten in einem andern. Fügen wir hinzu, dass Eristalis, Vespa, Syrphus etc., welche die blumenblattlosen Lo- belien besuchten, einen sehr guten Geruchssinn besitzen, einen viel besseren als die von Darwin beobachteten Bienen, dass die Verstüm- melung der Blüten für Eristalis eine Erleichterung des Saugens bedeutet, und dass, wenn sich auch eine Vanessa und eine Pieris unter den Besuchern befanden, diese nur nachgeahmt haben dürften, was sie die andern Insekten tun sahen. Was aber feststeht, ist, dass bei Beginn des Versuchs, trotz der allgemeinen Ähnlichkeit der beiden Töpfe, die Insekten mehr als doppelt so häufig zu den unver- sehrten als zu den verstümmelten Lobelien geflogen sind. Nachdem sie aber einmal die List erkannt hatten, handelten sie genau wie meine Bienen mit den maskierten Dahlien und verteilten ihre Besuche ziemlich gleichmässig zwischen den beiden Töpfen. Darwin aber hat höchst wahrscheinlich unter Beobachtung von sorgfältigeren Vorsichts- massregeln experimentiert, und daraus allein erklärt sich der Unter- schied seiner Resultate von denen Plateaus. Ausserdem hat Plateau noch mit Bienen gearbeitet, die Oenothera biennis, eine Blüte mit wundervollen gelben Blumenblättern, frequen- 14* 212 Kritische Bemerkungen; Plateau tierten. Am 3. September schnitt er die Blumenkronen ab, so dass nur noch die Staubfäden übrig blieben. Hier seine eigenen Worte über das Ergebnis: Die Bienen, welche die Pflanze besuchten, verteilten sich nach allen Richtungen über dieselbe; manche suchten die welken Blüten, andere die Knospen, wieder andere die zu Boden gefallenen Blumen- blätter auf, die sie mit einiger Aufmerksamkeit musterten, indem sie über sie hinwegspazierten; zum Sammeln aber Hessen sie sich nur auf den, ihrer Blumenkronen beraubten, verstümmelten Blüten nieder. (Die Hervorhebung dieses Satzes stammt von Plateau!) Und daraus schliesst Plateau, dass es der Geruch und nicht der Gesichtssinn sei, der die Biene leitet! Ist es möglich, ein Experiment, das man selbst angestellt hat, verkehrter auszulegen!? Dass Bienen nicht dort sammeln können, wo nichts Geniessbares vorhanden ist, ist selbstverständlich. Doch dass sie die abgeschnittenen Blumen, wo immer sie diese, geleitet durch ihre schöne gelbe Farbe, entdecken konnten, aufsuchten — war Plateau ja doch so vorsorglich gewesen, die abgeschnittenen Blumen vor der Pflanze liegen zu lassen, wie um sich dadurch noch deut- licher ins Unrecht zu setzen — dies und ferner, dass die Tiere so- wohl die noch an der Pflanze befindlichen Blumenreste wie die Knospen entdeckten, alles das stimmt so genau zu meinen eigenen Experimenten, dass mir jeder Kommentar überflüssig erscheint. Die Bienen suchten zuerst an den farbigsten Blumenresten und erst als sie dort nichts fanden, wandten sie sich zu den allein an dem Kelch verbliebenen Staubgefässen und wurden belohnt. Plateau erklärte sich das Aufsuchen der zu Boden gefallenen Blumenblätter damit, dass diese noch mit Duft durchtränkt seien. Es ist überflüssig, diese falsche Deutung noch zu widerlegen, nachdem wir doch gesehen haben, wie fühlerlose Bienen das Gleiche tun, und wie unsere Bienen Papierstücke ohne Honig aufsuchten, nachdem sie vorher Honig auf ähnlich aussehenden gefunden hatten. Bei einem weiteren Versuch fand Plateau jedoch, dass Bombus unterliess, Antirrhinum (Löwenmaul) zu besuchen, nachdem der For- scher die Blumenkronen von diesen Pflanzen entfernt hatte. Er er- klärt dies damit, dass die Digitalis ihre Öffnung mehr unten, Antirrhinum diese hingegen oben, aber geschlossen haben, und dass die Hymenop- teren diese beiden Blumenarten stets von unten nach oben in An- griff zu nehmen pflegen. Nun ist aber die Blumenkrone des ver- Kritische Bemerkungen; Plateau 213 stümmelten Antirrhinums nach oben gerichtet, und dies nimmt Plateau als den Grund an, weshalb die Bombus ihre Besuche einstellten. Man muss auf einer arg falschen Fährte sein, um für eine so einfache Tatsache eine so unglaublich gesuchte Erklärung zum besten zu geben. In erster Linie glaube ich, dass Plateaus Bombus ein- fach deswegen nicht mehr zu den Antirrhinum flogen, weil sie diese Pflanzen nicht mehr bemerkten und anderwärts abgelenkt wur- den. Nach Plateau aber, der weder an die Wahrnehmung von Formen noch an eine Verstandestätigkeit bei Insekten glaubt, hätte man sich vorzustellen, dass das besagte Insekt aus der Entfernung und im Fluge die Form und Stellung der Öffnung der verletzten Blume er- kannt haben und daraus den Schluss gezogen haben müsste, dass es wegen der Lage dieser Öffnung (nämlich indem diese oben und nicht unten gelegen sei) nicht in die Blume hineingelangen könne. Ich gestehe, dass eine solche Erklärung über meine Fassungskraft hinausgeht, um so mehr, als Bombusarten bei einer Menge von Blumen von oben her einzudringen pflegen. Plateau macht aus diesem Insekt geradezu einen Meister der Geometrie, der aus grösster Ent- fernung subtile Unterschiede der Form zu unterscheiden weiss. „Um von vornherein alle Erklärungen zu widerlegen, die auf Ge- wohnheit bei Insekten basieren und diesem Faktor eine hervor- ragende Rolle zuweisen", machte Plateau am 5. Juni einen Versuch an der Dolde einer seltenen Spezies der Umbellifere Heracleum, von der er ein einziges, aus Samen von einem weit entfernten botanischen Institut gezogenes Exemplar in seinem Garten besass. Er bedeckte die einzelne weit ausgebreitete Dolde mit einem grossen und mehreren kleinen Rhabarberblättern. Binnen 30 Minuten konnte er sieben Besuche von Bienen (drei Exemplare) und anderen Insekten feststellen. Die Bienen Hessen sich zunächst auf den Rhabarber- blättern nieder, spazierten darauf herum, explorierten nach allen Seiten und gelangten zuweilen bis zu der darunter befindlichen Dolde. Plateau glaubt, dass es der Geruch war, der diese Insekten zu der Dolde hinzog. Er kommt keinen Augenblick auf den Gedanken, dass die Erinnerung an frühere Besuche (vielleicht vom Tage vorher) die Bienen zu ihrer Expedition veranlasst haben könnte. Aus diesem Fehler entspringt nun eine Reihe von falschen Schlüssen. Am 11. Juni wiederholte er sein Experiment an fünf Dolden, die sich seit dem ersten Versuch geöffnet hatten, und konstatiert während IV» Stunden 45 Besuche von Insekten (Odyneren und Dipteren), die zweifellos 214 Kritische Bemerkungen; Plateau seit dem 5. Juni Gelegenheit genug gehabt hatten, diese Blumen kennen zu lernen. Er aber zieht aus dem Vorgang wiederum die- selben irrigen Schlussfolgerungen. Perez (Notes Zoologiques, Act. Soc. Linn. Bordeaux 1894) hatte in die scharlachroten Blumenkronen von Pelargonium, die im normalen Zustand nicht von Bienen besucht werden, Honig ge- träufelt. Nachdem nun die Bienen einmal Honig in den Pelargonien gefunden hatten, assoziierte sich diese Tatsache so gründlich mit der roten Farbe der Blumen, dass die Tiere später eine Menge von Pelar- gonien ohne Honig aufsuchten und davon erst abliessen, nachdem sie sich wiederholt überzeugt hatten, dass hier nichts zu suchen sei. Um nun Perez zu widerlegen, der, wie man sieht, sich in Über- einstimmung mit mir befindet, wiederholte Plateau (1, Teil 3, 1897) dessen Experiment, und zwar an einem streifenförmigen Beet von roten Pelargonien. Er brachte den Honig an einigen Pelargonien an einem Ende der Reihe an und erklärt bündig, dass diese Pelar- gonien die einzigen waren, die dann von den Insekten besucht wurden; die übrigen 25 Pflanzen, so bekennt er selbst, wurden zwar aufge- sucht, jedoch nur in explorativer Absicht, sonst aber von den Bienen vernachlässigt. Warum arbeitete Plateau mit einem ganzen Beet, warum nahm er nicht eine einzelne Pflanze, von der er einzelne Blüten beträufelte, andre aber nicht? Da nun das Beet obendrein reihenförmig geordnet war, so erscheint es nur natürlich, dass die Bienen nicht an den Teilen der Reihe, wo sie nie etwas gefunden, weitersuchen würden, sondern dass sie sich an den Platz hielten, wo sie bereits Honig in Menge erbeutet hatten. Plateau hat also Perez keineswegs widerlegt. Übrigens zeigen die explorativen Besuche der leeren Pelargonien, dass einige Bienen doch darin suchten — aber eben nichts fanden. Plateau veranlasste Insekten dazu, den Besuch gewisser Blumen einzustellen, indem er diese ihrer nektarhaltigen Teile beraubte, und wieder zu denselben zurückzukehren, indem er Honig in die Blumen- kronen träufelte. In diesem Faktum ist durchaus nichts Erstaun- liches zu erblicken, es deckt sich völlig mit meinen eigenen Er- fahrungen an meinen papiernen Attrappen. Es hat keinen Sinn, unserem Autor in das Detail von seinen weiteren Versuchen zu folgen, die aus den soeben bereits dargelegten Gründen ebenfalls ganz unbeweisend und vieldeutig sind. Plateau gibt sich, wie bereits gesagt, eine Menge nutzloser Mühe, um zu zeigen, dass. Kritische Bemerkungen; Plateau 215 Insekten grüne Blüten ebensogut wie andersfarbige, dass sie nektar- lose Blumen (auch im Gegensatz zu den entomophilen, d. h. durch Insekten befruchteten, anemophile, d. h. vom Wind befruchtete ge- nannt) ebenfalls besuchen, sobald man Honig in denselben ange- bracht hat. Künstliche Blumen. Plateau kehrte im Jahre 1897 zu Ver- suchen mit solchen zurück und machte mit ihnen ein Experiment, das meiner Meinung nach die ganze Frage, zugleich aber auch Plateaus fundamentalen Irrtum ins hellste Licht setzt. C. E. Bedford (The Entomologist, XXX. Nr. 410, S. 197, Juli 1897) hatte gesehen, wie ein weisser Schmetterling (Pieris brassicae) sich auf einen Strauss künstlicher Maiblumen auf dem Hut einer Dame niederliess. Plateau behauptet nun, dass Pieris dies aus mimetischen Gründen getan habe, also einfach, um sich auf einer weissen Fläche niederzulassen. Er gibt damit aber zu, dass Pieris den Strauss weiss sah. Ganz richtig bemerkt er weiter, dass, vorausgesetzt dass künstliche Blumen die Insekten anzögen, die Hüte unserer in den Anlagen wandelnden Schönen stets von Schwärmen von Schmetterlingen belagert sein müssten. Damit, dass dies keineswegs der Fall ist, scheint bewiesen, dass die Schmetterlinge diese wandelnden Blumenbeete nicht für wirkliche Blumen halten und folglich auch wissen, dass, wenn sie sich ja einmal auf diese schönen Bildungen niederlassen, es dort nichts für sie zu holen gibt. Nun tropfte Plateau etwas Honig auf ein künstliches Vergissmein- nicht und beobachtete, dass die Bienen dieses Blümchen nicht mehr aufsuchten als seine honiglosen Nachbarn. Am 30. April befestigte er an einigen der auffälligsten Zweige eines blühenden Apfelbaumes mehrere besonders täuschend nachgeahmte Zweige mit künstlichen Apfelblüten, deren Blütenkronen er mit Honig beträufelt hatte. Er beobachtete den Baum IV2 Stunden lang. Währenddessen wurde dieser von zahlreichen Bienen, Dipteren, sowie einigen jedoch nicht allzuvielenWespen und Hummeln besucht. „Während dieser ganzen Zeit schenkten die Bienen den künstlichen Blüten trotz des Honigs keinerlei Beachtung; diese erhielten nur einen kurzen Besuch von einer Wespe und einen etwas längeren von zwei Fliegen". Um sich von der Güte seines Honigs zu ver- gewissern, tropfte Plateau solchen auf eine natürliche Apfelblüte und fand, dass er dort gierig von den Bienen verspeist wurde. Am 1 . Mai wiederholte Plateau dieses Experiment mit demselben Erfolg. Immer- 216 Kritische Bemerkungen; Plateau hin bemerkte er hie und da einige kurze Explorationsflüge nach den künstlichen Blüten, sowohl den honighaltigen wie den honiglosen, und zwar von selten der Bienen wie auch von selten der Lepi- dopteren usw. Doch Hessen sich diese Insekten nicht auf den Blüten nieder. Er schliesst daraus mit Recht, dass das Insekt die künstlichen von den natürlichen Blumen unterscheidet, mit Unrecht aber, dass die künstliche Blüte es „zurückstösst". Habe ich selbst doch durch mein oben beschriebenes Experiment das Gegenteil bewiesen. Was Plateau aber entging, ist, dass die Bienen bei ihrem raschen Vorbeiflug den Honig in den künstlichen Blumen nicht gerochen haben, während die eine Wespe und die beiden Fliegen ihn witterten und erkannten. Diese Tatsache ist die absolute Bestätigung meiner eignen Experimente. Hätte Plateau, so wie ich selbst dies tat, erst einmal eine oder zwei Bienen auf die honighaltigen Kunstblumen gesetzt, so hätte er dieselben Resultate erhalten wie ich selbst, statt sich noch tiefer in Irrtümer zu ver- bohren. Auch übergeht er bei dieser Gelegenheit sowohl meine wie Lubbocks Experimente über das Farbensehen völlig mit Stillschweigen. Er setzte nun seine Versuche mit künstlichem, honigbestrichenem Fingerhut (Digitalis purpurea) fort. Keine Hymenoptere kümmerte sich um diese Blumen, doch wurden sie von Dipteren sehr eifrig besucht und geplündert. Immerhin schweiften einige Hummeln nach diesen Nachahmungen hin, besahen sie von allen Seiten, Hessen sich aber nicht darauf nieder. Plateau kommt es eben nicht in den Sinn, den Unter- schied zwischen dem guten Geruchssinn der Dipteren und dem geringen Geruchssinn der Bienen und ihrer Verwandten zu beachten. Nach Plateau üben künstliche, aus grünen Blättern zusammengestellte und mit Honig versehene Blumen gerade auf die Hymenopteren Anziehungs- kraft aus. Meine oben beschriebenen Versuche aber liefern eine ausserordentlich einfache Erklärung aller vorliegenden Tatsachen, und ich hoffe den Leser dadurch genügend überzeugt zu haben, so dass ich nunmehr den Rest von Plateaus unzähligen Experimenten mit Stillschweigen übergehen kann. Neues würden wir in ihnen nicht finden. Aus denselben Gründen werde ich bei den wahrhaft haarspalterischen Untersuchungen über die Möglichkeit der Bevorzugung bestimmter Farben durch Insekten nicht verweilen, wie solche von Herm. Müller, Bennet, Bonnier, Gratacap, Christy, Bulman, Scott Elliot, Delpino, Kuntze, Knuth und Plateau (6) angestellt worden sind. Ich stimme Kritische Bemerkungen; Plateau 217 in dieser Frage, wie schon gesagt, mit Plateau (und Bulman) überein. Es ist geradezu erstaunlich, wie so viele Autoren eine Menge von Tinte zur Bestätigung so ausserordentlich klarliegender Tatsachen verschwenden können, Tatsachen, die von Bulman in einem ein- fachen Satze zusammengefasst werden, wenn er sagt: „Es ist absolut gleichgültig, ob eine Blume blau, rot, rosa, gelb, weiss oder grün aussieht: wenn sie nur Honig enthält". (Nat. Science, XIV. No. 84. Febr. 1899.) Zu diesem wichtigen Erfahrungssatz füge ich noch den nicht minder wichtigen logischen Satz: Die Tatsache, dass keine bestimmte Farbe an und für sich vom Insekt bevorzugt wird, bedeutet noch nicht, dass es die Farben nicht zu unterscheiden vermöge. Die letzten Schlussfolgerungen von Plateau (6, 1899) sind ziemlich eigenartige. Er beginnt mit der Behauptung, dass er nie gesagt habe, dass die Insekten die Farbe der Blumen nicht sähen, eine solche Annahme, sagt er, wäre ja in hohem Grade töricht. (Trotzdem finden wir bei Plateau, 1., erster Teil, S. 472 den Titel: „Über die so- genannte Farbenunterscheidung bei Insekten".) Er fügt dem hinzu, dass die Unterschiede in der Menge reflektierten Lichts oder in der Brechbarkeit der Lichtstrahlen, die durch die transparenten Medien übertragen oder reflektiert werden, sehr wohl die bisher beobachteten Resultate veranlasst haben könnten. Und schliesslich stellt er als die zu lösende Hauptfrage folgendes auf: Lassen sich die blumenbesuchenden Insekten bei ihrer Wahl der Blumen von den Farben leiten, die die Blumen dem mensch- lichen Auge darbieten? Hierauf antworte ich: Nach den vorhergehenden Werken von Plateau und nach seiner Stellung zu den Graberschen Theorien über die Phänomene der Photophilie und Photophobie musste man annehmen, dass er die Insekten für völlig farbenblind jeder Farbe gegenüber hielt, d. h. für fähig, die Intensität des Lichts, nicht aber die spezifische Differenz der Wellenlänge der Strahlen zu er- kennen. Aber gerade diese letzteren Unterschiede sind es, die uns zur Unterscheidung der Farben verhelfen, ausgenommen des Ultra- violetts, demgegenüber der Mensch farbenblind ist. Soret hat uns hierfür den Grund gegeben. Ich protestiere also gegen die Art, wie Plateau jetzt die Frage formuliert. Ich glaube ebensowenig wie er, dass Insekten die Farben subjektiv so sehen wie wir selbst, und ferner, dass auch objektive 218 Kritische Bemerkungen; Plateau Unterschiede in der Art vorhanden sind, wie ihre Augen und unsre durch die verschiedenen Lichtarten, d. h. also durch die Farben und ihre Schattierungen gereizt werden. Trotzdem zeigen die Experimente von Lubbock, Peckham, mir selbst und einigen andern Forschern, dass gewisse Insekten nicht nur Blumen, sondern auch andere farbige Gegenstände eben nach deren Farbe zu unterscheiden vermögen, d. h. nach der Wellen- länge der Lichtstrahlen, die von den betreffenden Gegenständen reflektiert oder durchgelassen werden, und ferner, dass jene In- sekten die Gegenstände an eben dieser Eigenschaft auch dann erkennen, wenn die andern Sinne ausgeschaltet sind, sowie auch wenn die Gegenstände sich inmitten einer Umgebung von gleicher Lichtstärke befinden. Dies alles kann nun ein farbenblinder Mensch nicht. Ich habe zwei farbenblinde Menschen gekannt, die nicht im- stande waren, auf die Entfernung von nur einem Schritt die scharlach- roten Blüten einer Cydonia japonica zu erkennen, eines Strauchs mit leuchtend grünem Laub, während andere Leute diese Blüten aus einer Entfernung von 59 m leicht zu unterscheiden vermochten. Dies als Wideriegung von Plateau, der behauptet, es sei äusserst schwierig, zwei verschiedene Farben von annähernd derselben Licht- intensität zu finden. Wenn wir sagen, dass Bienen Farben sehen, so meinen wir damit durchaus nicht, dass sie die Farben genau so sehen wie der Mensch, und dies um so weniger, als, wie bereits gesagt, auch die Menschen sie nicht alle gleich sehen. Ich kann mich daher der letzten Version Plateaus über diese Angelegenheit anschliessen ; habe ich doch auch selbst die Tatsache bestätigt, dass Insekten in Fällen, wo uns das nicht möglich ist, künstliche Nachahmungen von den wirklichen Blumen unterscheiden. Schliesslich also gelangt Plateau (6) zu denselben Schlüssen wie Bulman und wie ich selbst, doch schiebt er Exner eine Ansicht zu, die dieser nie so ausgesprochen hat, dass nämlich aus einer Ent- fernung von mehreren Metern die Blumen von den Insekten nicht anders denn als absolut verschwommene Flecken gesehen würden (Fehler f). Wenn wir statt dessen setzen: je nach der Grösse der Blume, der Entfernung, der Zahl der Facetten des Insektenauges in einer mehr oder weniger deutlichen Art — dann entspricht das dem, was Exner behauptet und worin ich mich ihm völlig anschliesse. Das Fernsehen 219 Das Sehen aus der Ferne. Funktionelle Blindheit durch absolute Enthaltung vom Sehen. Da Plateau bei jeder möglichen Gelegenheit betont, dass Insekten nur Wolken, Nebel, Flecken zu sehen vermögen (er fügt zuweilen hinzu „farbige", obwohl er an anderer Stelle seine Zweifel über die Farbenunterscheidung ausspricht), so ist es wünschenswert, die Frage des Fernsehens einmal etwas näher ins Auge zu fassen. Gehen wir von unserm menschlichen Sehvermögen, wie es sich uns rein subjektiv darstellt, aus, so lässt sich zunächst einmal fest- stellen, dass die Tatsache, dass ein normalsichtiges Auge aus einer Entfernung von 4 km nicht mehr die einzelnen Blätter eines Baumes, von 25 km nicht mehr die einzelnen Fenster eines Ge- bäudes unterscheiden könne, noch nicht bedingt, dass wir bei klarem Wetter den besagten Baum oder das besagte Gebäude als formlosen Fleck sehen. Durchaus objektiv zeigt uns das von Exner photographierte Augen- bild des Glühwurms (Lampyris) die 2,25 m entfernt befindlichen, 4,9 cm breiten Grundstriche eines R und die 135 Schritt entfernt be- findliche Kirche mit ihrem Turm. Exner weist sehr mit Recht darauf hin, dass die photographische Wiedergabe sowie die Reproduktion derselben die Deutlichkeit des Bildes beeinträchtigt haben. Es ist ja wahr, dass die Kirche verschwommen erscheint, doch ist die allgemeine Form des Kirchturms sowie das Dach des Hauptgebäudes noch sehr gut zu erkennen. Die Fenster sind kaum wahrnehmbar, doch kann man die Wand des Gebäudes noch ein wenig besser als das Dach erkennen. Für den winzigen Lampyris und für eine Entfernung von 135 Schritt ist das Resultat gar nicht übel, jedenfalls reicht der Grad der Deut- lichkeit vollkommen hin, um uns zu erklären, wonach die Insekten ihren Flug in der Luft dirigieren, besonders wenn sie noch bessere Augen als Lampyris haben und die Farben unterscheiden. Um noch deutlicher zu erkennen, braucht das Insekt seinen Flug nur noch näher heranzulenken und sich dann noch eventuell vermittelst des Geruchssinns weiter zu orientieren. Es genügen aber die Ge- stalten der Dinge, besonders der bunten, um Gedächtnis- bilder im Hirn des Insekts zu fixieren und ihm seinen Weg durch die Luft zu zeigen; denn auf einem Wege von 135 Schritt lösen zahlreiche Bilder von Gegenständen ein- ander ab, werden beim Herannahen deutlicher, treten 220 ^^s Fernsehen beim Weiterfliegen zurück und dienen durch die Assozia- tion ihrer Reihenfolge im Raum zu einer Orientierung des Insekts. Es erscheint zweifellos, dass die geselligen, geflügelten Hymenop- teren sich auf die genannte Weise orientieren. Fabres Chalicodoma, die, mit Farbe markiert, drei Kilometer weit von ihrem Nest fort- getragen und dann freigelassen wurden, die sich hierauf zu einer ge- wissen Höhe emporhoben, dort zögernd Umschau hielten, darauf aber in der Richtung ihres Nestes abflogen, das sie dann binnen 20 Mi- nuten erreichten, liefern uns einen weiteren klaren Beweis für un- sere obigen Behauptungen. Meine Bienen und Hummeln, denen ich die Fühler, ja zuweilen auch Mund und Pharynx herausgeschnitten hatte, und die doch zu- rückkehrten, um in den Blumen zu fouragieren oder den ausge- setzten Honig zu holen, ferner die fühlerberaubten Bienen, die nach jedesmaligem Abladen des Honigs im Nest doch immer wieder zurückkamen, beweisen uns weiter, wie die Orientierung allein der Tätigkeit der Facettenaugen und der Assoziation der Gesichtsein- drücke zu verdanken ist. Ja wir haben sogar gezeigt, dass die An- wesenheit oder Abwesenheit der Ocellen für die Orientierung im Fluge keinen Unterschied bedeutet. Wenn daher grössere Gegenstände, die man in einer gewissen Entfernung vom Insekt bewegt, dieses in keiner bemerkbaren Weise zu erregen, es weder anzuziehen noch zu erschrecken scheinen, dürfen wir daraus doch nicht den Schluss ziehen, dass sie nicht ge- sehen worden sind. Dagegen müssen wir folgenden anderen Schluss ziehen: Das Sehen von Bewegungen, das einem Insekt gestattet, ein viel kleineres Tierchen im Fluge zu verfolgen und zu erhaschen, setzt mit absoluter Notwendigkeit eine Schätzung der Dimensionen, somit auch der Form des verfolgten Tierchens voraus. Schliesslich haben wir gesehen, dass ein absolutes Aufhören jeder Verschiebung in der Stellung des Auges, das sieht, zu dem Objekt, das gesehen wird, nach Ablauf einer gewissen Zeit das Aufhören jeder Empfindung zur Folge hat. Dieser Zustand tritt bei unbeweglich dasitzenden Insekten zweifellos häufig während längerer Zeiträume ein und erklärt ihre scheinbare Apathie, aus der sie erst durch eine Be- wegung der in ihr Gesichtsfeld fallenden Gegenstände erwachen. Ich glaube mich hier auf der Spur eines sehr wichtigen Faktors in der vergleichenden Psychologie, besonders in der der Insekten. Zusammenfassender Rückblick 221 Da ihr winziges Gehirn einer grösseren inneren Gedankenarbeit, wie sie z. B. das Auslösen von Gedanken auf dem Wege komplizierter innerer Assoziationen mit anderen Gedanken beansprucht, Inicht ge- wachsen ist, so muss seine Tätigkeit immerfort durch diejenige der Sinne oder der Bewegungen des eigenen Körpers (bzw. durch die Beob- achtung der Bewegung fremder Objekte) wach gehalten werden, damit sie vor gänzlichem Einschlafen bewahrt bleibt. Wenn also ein Insekt mit zusammengelegten Fühlern regungslos dasitzt, so dürfen wir es uns in einer Art von Schlummerzustand vorstellen, bis ein Schütteln, ein starker Geruch seine Tast- oder Geruchsnerven, vor allem aber eine Bewegung der umgebenden Gegenstände (besonders lebender Wesen) seine Netzhaut reizt und seinen Torpor unterbricht. Die Beobachtung der Insekten, ihres Lebens und ihrer Handlungen scheint mir diese Tatsache ihrer Psychophysiologie voll zu bestätigen. Die Abwesenheit von Augenlidern, Akkomodation und Beweglichkeit der Augen unterstützen ihrerseits diesen Zustand von Apathie der Augen, den wir als funktionelle Blindheit bezeichnen können. Bei uns Menschen ist dieses Phänomen der funktionellen Blind- heit, dank der Bewegung der Augen, der Augenlider und der Ak- komodation ausgeschlossen, solange wir die Augen geöffnet halten. Bei einer Betrachtung der Gesichtsverhältnisse der Insekten aber dürfen wir diesen Punkt, der meiner Meinung nach schon viel zu lange vernachlässigt worden ist, nicht ausser acht lassen. Zusammenfassender Rückblick. Ich möchte diesen Teil meiner Studien mit einer Entschuldigung meiner langen Kritik und der langen Reihe meiner Kontrollexperi- mente schliessen, einer Entschuldigung sowohl gegenüber dem Leser wie gegenüber Plateau selbst. Indem ich die Experimente dieses Forschers beleuchtete, lag mir daran, einesteils auf die irrtümlichen Schlussfolgerungen, die Plateau selbst daraus zieht, hinzuweisen, zu- gleich aber seiner wissenschaftlichen Ehrlichkeit meine aufrichtige Bewunderung darzubringen. Und gerade diese Ehrlichkeit ist es, die uns in den Stand setzt, dem Forscher Schritt für Schritt nachzu- zugehen und, seinem gewissenhaften Bericht der beobachteten Tat- sachen folgend, den roten Faden ihrer wirklichen Zusammenhänge aufzufinden und die Gesetzmässigkeit zu erkennen, die ihnen zu Grunde liegt. Dank diesem Umstand ist die vorliegende Studie viel 222 Zusammenfassender Rückblick mehr geworden als eine gewöhnliche sterile Polemik, indem sie uns tiefere und klarere Einblicke in das uns beschäftigende, hochinteressante, vergleichend psychologische Problem gebracht hat. Wenn wir auf das vorhandene Tatsachenmaterial zurückblicken, so sehen wir, wie äusserst kompliziert diese Dinge liegen, und wie gut wir daran tun, uns allgemeiner Schlussfolgerungen über „Insekten" und ihr Sehen oder Nichtsehen von „Formen und Farben" zu enthalten, da eine solche Verallgemeinerung nur zu Irrtümern und Fehlschlüssen führen kann. Wenn man wünscht, diese Fragen zu verstehen, so darf man die Mühe nicht scheuen, ihnen bis in die kleinsten Einzelheiten nachzugehen. Schliesslich sehe ich mich veranlasst, nochmals darauf hinzuweisen, dass Plateaus Erläuterung seiner Auffassung des sogenannten „Nicht- sehens der Form" bei Insekten nach all den Einschränkungen, die er selber nach und nach zu machen gezwungen war, sich sehr beträcht- lich der Auffassung Exners zu nähern beginnt, mit der ich selbst mich stets einverstanden erklärt habe. Der grösste sachliche Irrtum, dem Plateau anheimfällt, ist der, dass er manche Erscheinung, die bei den Insekten (besonders den Bienen) dem Gesichtssinn zuzuschreiben ist, auf den Geruchssinn zurückführt. Doch beschreibt Plateau in seinem Werk Nr. 5 (5. Teil, S. 62) die Manier, wie die Insekten ihren Flug lenken, in einer Art und Weise, die in allem Wesentlichen den wirklichen Tatsachen entspricht.^ * In einem späteren Werk (Der Gesichtssinn bei Anthidium manicatum, Ann. de la Soc. ent. de Belgique, XLIIl, 1899) stellt Plateau folgende Tat- sachen fest: 1. Das Männchen von Anthidium fliegt horizontal zwischen den eng gedrängten Stengeln von Salvia horminum umher, ohne je anzustossen. Plateau erklärt diese Tatsache aus der Bewegungsart des Insekts, denkt aber nicht daran, dass er damit seinen früheren Schlussfolgerungen über ähnliche Fälle widerspricht, man denke an den Versuch mit dem Netz und auch mit dem Labyrinth, wo sich das Insekt doch gleichfalls, wenn auch langsamer, bewegte. 2. Das besagte Männchen jagt die andern Männchen seiner Spezies von der Gruppe Salvien weg. Daher muss es sie sehen und erkennen (Plateau sagt „an ihren Bewegungen"). 3. Häufig macht es Fehler und stürzt sich, wenn es sich paaren will, auf Megachile, Antophora, Apis mellifica, selbst auf Ichneumon (natürlich ohne Erfolg). Plateau schliesst hieraus, dass sein Gesichtssinn schlecht sei, ohne den Widerspruch zu 2. zu bemerken. Übrigens weiss man ja schon lange zur Genüge, dass dergleichen, durch die Aufregung der Brunst hervorgerufene Zusammenfassender Rückblick 223 Wie wir schon sahen, hegen die Gründe der irrigen Ansichten, durch die Plateau diese Fragen so verwirrt hat, einmal in seinen unzu- lässigen und immer wiederkehrenden Verallgemeinerungen, ausserdem aber in seiner fast völligen Ignorierung der psychischen Fähigkeiten der Insekten, ihres Gedächtnisses und ihres Assoziationsvermögens. Irrtümer sogar bei Wirbeltieren vorkommen. Plateau hebt hervor, dass Anthidium diesen Missgriff nicht mit Lepidopteren begeht. 4. Plateau bemerkt ferner, dass um die erste Blütezeit von Salvia horminum die Hymenopteren geradewegs zu den seitlich vom Stengel angewachsenen Blüten und nie zu dem, noch lebhafter blau oder rosa gefärbten Büschel von Blättern oder Bracteen zu fliegen pflegen, die dem oberen Teil des Stengels aufsitzen. Er zieht hieraus den Schluss, dass nicht die Farbe, sondern der Geruch die Insekten anzieht. Ich hingegen ziehe daraus den Schluss, dass die Tiere wohl durch den Anblick zu unterscheiden wissen, welches ein Büschel gefärbter Blätter und welches die Blüte ist, die ihre Nahrung enthält. Anhang zur 9. Studie: Kritische Besprechung der wichtigsten einschlägigen, seit 1900 erschienenen Arbeiten. Miss Adele Fielde. Seit einer Reihe von Jahren hat Miss Adele Fielde^ in New York einige Versuche an Ameisen unter- nommen, von denen ich mir schöne Resultate verspreche, die aber einen grossen Aufwand an Zeit beanspruchen, so dass ich selbst sie noch nie systematisch nachzuprüfen vermochte. Es handelt sich hierbei nicht nur darum, wie Huber, Lubbock, Janet, ich selbst und andere es getan haben, eine Ameisenkolonie in einem künstlichen Nest Tag für Tag zu beobachten, sondern darum, das individuelle Benehmen einzelner Ameisen einer dauernden Beobachtung zu unter- ziehen. Miss Fielde hat für ihre Versuche sehr sinnreiche, einfache, leicht zu reinigende Glasnester angewendet und besonders eine Spezies bevorzugt, Aphaenogaster (Stenamma) fulva Roger, var. picea. Ich will hier nur einige ihrer, mir von hoher Wichtigkeit erscheinen- den Resultate anführen: 1. Miss Fielde placierte während der Dauer eines Jahres zwei Kolonien (C und G) von Aphaenogaster fulva dicht nebeneinander; sie reinigte dieselben jede Woche eigenhändig. Trotz der Übereinstimmung des Geruchs, die, wie man denken sollte, bei der Nähe der beiden Kolonien bestanden haben muss, war nach Verlauf des Jahres die Feindschaft zwischen den beiden Kolonien noch genau so gross wie zu Anfang des Experiments. ^ Adele M. Fielde, A Study on an Ant, Proc. Acad. Nat. Sc. Philadelphia 1901 nebst anschliessenden Artikeln ebenda 1902—1904 und in Biol. Bull. 1903, 1904. Arbeiten von Miss Fielde 225 2. Zwei jungfräuliche geflügelte Weibchen, am 5. August aus- geschlüpft, wurden am 22. August (also im Alter von 17 Tagen) durch zwei Männchen derselben Kolonie, die vor wenigen Tagen ausgeschlüpft waren, befruchtet. Die beiden Weibchen, die sofort isoliert wurden, warfen nach wenigen Tagen die Flügel ab. 3. Ein jungfräuliches Weibchen kann ein ganzes Jahr lang leben, ohne sich zu paaren, und behält in diesem Fall seine Flügel. Wenn es sich dann mit einem, seit kurzem ausgeschlüpften (also um ein Jahr jüngeren) Männchen vermählt, verliert das Weibchen seine Flügel und begibt sich ans Eierlegen. Miss Fielde beschreibt aufs genaueste zwei Fälle dieser Art. Licht und Wärme reizen sowohl die männlichen wie die weiblichen Ameisen zur Paarung. Findet das Ausschlüpfen spät im Sommer statt, so überwintern die Weibchen und Männchen, ohne sich zu paaren und warten, selbst wenn sie beisammen bleiben, mit der Paarung bis zum nächsten Sommer. — Es geht aus den zahlreichen Untersuchungen Miss Fieldes deutlich hervor, dass, wie bereits Huber als erster fest- gestellt hat, die Ameisenweibchen die Flügel verlieren, sobald sie befruchtet, sie aber unbegrenzt behalten, solange sie jungfräulich sind. Folglich schliesst Miss Fielde mit Recht, dass in den Fällen, in denen die Weibchen trotz langen Zusammenlebens mit den Männchen im Besitz ihrer Flügel blieben, keine Befruchtung stattgefunden hat. Es ist äusserst wichtig, dass hierdurch klar konstatiert worden ist, dass ein jungfräuliches Ameisenweibchen (das wir an dem Vorhandensein der Flügel als solches erkennen), nicht etwa parthenogenetische Eier legt, sondern dass es sich erst nach der Paarung, dann aber auch unmittelbar ans Legen begibt. Dies führt zu der Vermutung, dass die Männchen, wie auch ich schon gezeigt hatte, häufig, wenn nicht stets, den parthenogenetischen Brüten der Arbeiterinnen entstammen. 4. Gedächtnis. Am 22. August 1901 entnahm Miss Fielde einige Puppen aus der Kolonie C und hielt dann die zwischen 4. und 10. Sep- tember aus diesen ausgeschlüpften Ameisen ganz isoliert. Diese Ameisen wurden mit keinen andern in Berührung gebracht, doch gab ihnen Miss Fielde eine Puppe von Formica subsericea, welche von den Aphaenogaster wie die eignen gepflegt wurden. Am 26. Sep- tember schlüpfte die Formica aus der Puppe und wurde nun weiter sorgfältig gepflegt. Am 6. Oktober, als die Aphaenogaster einen Monat und die Formica zehn Tage alt war, trennte Miss Fielde diese letztere von ihren Pflegemüttern, setzte sie in eine andre, saubere Forel, Das Sinnesleben der Insekten 15 226 Arbeiten von Miss Fielde Zelle und verfuhr ebenso mit den Aphaenogaster. Ich muss hier bemerken, dass Miss Fielde die Zellen ihrer Ameisen mit heissem Wasser und Seife zu reinigen und sofort mit laufendem Wasser nachzuspülen pflegte. Am 24. November, nach 50 Tagen der Trennung, tat sie die Aphaenogaster von neuem in eine saubere Zelle und setzte die Formica mit zu ihnen hinein. Diese letztere wurde von einer tollen Panik ergriffen, suchte zu fliehen und biss heftig zu, als sie sich an- gegriffen wähnte. Die Aphaenogaster dagegen blieben völlig fried- lich. Nach und nach beruhigte sich auch die Formica, und nach Ablauf von etwa 14 Tagen war die alte Freundschaft wieder herge- stellt, wie aus dem gegenseitigen Streicheln mit den Antennen zu erkennen war. Nun setzte Miss Fielde zwei fremde Aphaenogaster (aus einer andern Kolonie) in eine saubere Zelle und tat die Formica zu ihnen. Sofort stürzten sich die Aphaenogaster auf die unglückliche For- mica, die sie ohne das Dazwischentreten von Miss Fielde getötet haben würden. Nach Beendigung dieses Gegenexperimentes setzte Miss Fielde die Formica wieder eine Woche lang zu ihren alten Pflegemüttern. Darauf trennte sie sie wieder von ihnen, isolierte sie und wusch jede Woche sorgfältig die beiderseitigen Zellen aus. Am 5. Februar 1902, das heisst also nach wiederum einer Trennung von 50 Tagen, vereinigte Miss Fielde die Formica wieder mit ihren früheren Pflegerinnen. Dieses Mal gab es nicht den leisesten Streit, sondern es herrschte vom ersten Augenblick an vollkommene Freund- schaft, die durch keinerlei Zeichen von Furcht, Abneigung oder Wider- willen getrübt wurde. Miss Fielde schloss hieraus sehr scharfsinnig, dass sich das Ge- dächtnis der Ameisen offenbar mit dem Alter kräftigt, wofern es nicht der zweite längere Aufenthalt der Formica bei den Aphaeno- gaster war, der die freundschaftliche Reaktion beim dritten Aufenthalt zur Folge hatte, während das zweite Beisammensein mit einer so feindseligen Haltung von Formica eröffnet wurde. Um ferner festzustellen, dass die freundschaftliche Reaktion der Aphaenogaster bei beiden Wiedervereinigungen nicht etwa einer allgemeinen Gleichgültigkeit entsprungen sei, setzte Miss Fielde ein fremdes Aphaenogaster- Individuum in ihre Zelle; dieses wurde sofort angegriffen. Auch fielen die Aphaenogaster am 11. Juni 1902 Arbeiten von Miss Fielde 227 voller Wut über eine fremde Formica subsericea her (die einer andern Kolonie als der ihrer Pflegetochter entstammte). Dieses Begebnis ist gleichfalls von höchstem Interesse. Es be- stätigt vollkommen jene Experimente, die ich selbst (in weniger voll- kommener Weise allerdings) gemacht und in meinen „Fourmis de la Suisse" beschrieben habe, sowie auch v. Buttel-Reepens Erfahrungen über das Gedächtnis der Bienen. Ich empfehle die obigen Notizen der ganz besonderen Beachtung Bethes. Übrigens hat Miss Fielde noch mehrere Beobachtungen derselben Art gemacht und beschrieben. 5. Aus andern Erfahrungen, deren Wiedergabe an dieser Stelle uns zu weit führen würde, hat Miss Fielde geschlossen, dass der Geruch des Vaters sich den Nachkommen nicht mitteilt, sondern allein der der Mutter. Ihre zahlreichen Versuche auf diesem Gebiet sind äusserst bemerkenswert und werfen ein ganz neues Licht auf die Frage des Familiengeruchs. Sie bestätigen auch die Annahme, dass das Alter der Ameisen ihren Eigengeruch herabsetzt, dagegen aber ihr Gedächtnis kräftigt. Die alten Ameisen werden nicht so leicht wie die jungen in die Gemeinschaft einer fremden Kolonie auf- genommen. Diese Tatsache erklärt wahrscheinlich die von mir be- obachteten und in den „Fourmis de la Suisse" niedergelegten Beispiele von Bündnissen zwischen verschiedenen, vorerst feindlichen Ameisen- kolonien. Ich hatte dort erwähnt, dass nach vollendetem Bündnis und Amalgamierung zweier Kolonien einzelne Ameisenarbeiter ganz individuell auf gewisse Individuen der andern Kolonie böse bleiben und sie sogar noch misshandeln und verstümmeln. Miss Fielde kommt also zu dem Schluss, dass die spontane Feind- schaft zwischen Ameisen verschiedener Kolonien hauptsächlich zwei Gründen entstammt, die sich in allen möglichen Abstufungen vor- finden: a) dem Unterschied zwischen den Vorfahren in der mütter- lichen Linie; b) dem Unterschied des Alters der Individuen und vor allem der weiblichen Koloniegründerinnen. Übrigens ist keiner dieser Gründe absolut ausschlaggebend, da man Verbindungen zwischen Arten, ja selbst Unterfamilien in den verschiedensten Altersstufen beobachten kann; es handelt sich hier nur um gradweise Abstufungen. Andrerseits kommt es vor, dass Ameisen, die genealogisch derselben mütterlichen Linie entstammen, zu Feinden werden, wenn einige von ihnen, von den übrigen ge- trennt (besonders wo es sich um die Mutter oder Mütter einer Ko- lonie handelt), durch Alter ihren Geruch geändert und den Nestgeruch 15* 228 Arbeiten von Miss Fielde angenommen, bezw. auch einem neuen, von ihnen gegründeten Nest ihren eigenen Geruch gegeben haben. Diese primären Gründe der Feindschaft oder Freundschaft komplizieren sich aber häufig durch andere Momente, die teils auf dem Gebiet der Gewohnheiten, teils auf dem der Erfahrungen dieser Tiere zu suchen sind. Um bezüglich des Alters ihrer Ameisen mit voller Sicherheit vor- zugehen, markierte Miss Fielde dieselben mit Farbe und trennte sie sorgfältig von allen Larven und Puppen. 6. Miss Fielde hat schliesslich Lubbocks Experimente und die meinen über die Wirkung der Farben auf Ameisen nachgeprüft. Sie fand, dass Strahlen von grösserer Wellenlänge als die des Violett die Ameisen nicht beeinflussen, und dass diese überhaupt nur zwei optische Wirkungen zu unterscheiden scheinen: eine, die für ihre Empfindung der Dunkelheit gleichkommt und die sich von Rot bis Grün erstreckt, und eine, die für sie das Licht (das sie meiden!) darstellt und vor allem das Violett und Ultraviolett umschliesst. Im ganzen genommen bestätigt Miss Fielde durchaus unsere eigenen Resultate auf diesem Gebiet. Auch zeigt sie, wie man Ameisen allmählich mit dem Licht vertraut machen und sie ihrer Photophobie entwöhnen kann. Seitdem hat Miss Fielde weitere Beobachtungen publiziert, nach welchen sie glaubt, die verschiedenen Varianten des Geruchsvermögens der Ameisen (Nestgeruch, Familiengeruch etc.) in den verschiedenen Fühlergliedern lokalisieren zu können. Es ist mir unmöglich, über die Richtigkeit dieser Angaben zu urteilen, und meine Zeit hat mir bisher nicht erlaubt, Kontrollexperimente anzustellen. Es kommt mir aber vor, als ob die Autorin in ihren späteren Arbeiten zu stark schematisiert hat. Die morphologischen Tatsachen scheinen mir dafür zu sprechen, dass die verschiedenen Varianten des topo- chemischen Geruchsvermögens viel eher nach der Art der Sinnesendi- gungen als nach den Fühlergliedern differenziert sind. Man vergleiche nur die Abbildungen der Sinnesorgane der Insekten auf Tafel I, S. 44. Ich möchte hier also so lange ein Fragezeichen setzen, bis diese An- gaben mit hinreichender Genauigkeit nachgeprüft worden sind. Im übrigen können die Experimente von Miss Fielde als Vorbilder der Sorgfalt, der Genauigkeit, der Ausdauer und der umsichtigen und scharfsinnigen Beurteilung hingestellt werden. L. Kathrin er (Biologisches Zentralblatt 15. IX. 1903, S. 646: Ver- suche über die Art der Orientierung bei der Honigbiene) kommt,, ohne meine Arbeiten zu kennen, zu den gleichen Resultaten wie ich bei Kathrin er. Andreae 229 den Bienen. Er widerlegt Bethe in ganz ähnlicher Weise wie v. Büttel und ich und weist treffend die Widersprüche dieses Autors nach. Zuerst glaubt Bethe an eine „unbekannte Kraft", die die Bienen (die nach seiner Meinung das Innere der Stadt so wenig kannten wie den Meeresstrand) aus dem Stadtinnern zum Stock hinzog; als er nun am Golf von Neapel den Versuch von Romanes am Meeresstrand wiederholte, fanden die Bienen den Rückweg zum 1700 — 2000 m ent- fernten Stock nicht. Dies hat schon Romanes durchaus richtig dadurch erklärt, dass die Bienen sich bei ihrem Flug über das Wasser nicht durch den Anblick ihnen bekannter Vegetationsbilder orientieren konnten, durch den sie sich auf dem Lande zurechtfinden. Bethe, den seine „unbekannte Kraft" hier völlig im Stich lässt, findet es am wahrscheinlichsten, dass die Bienen auf ihrem Weg in der Luft eine chemische Spur zurücklassen, eine Annahme, die er früher mit Recht selber als „absurd" bezeichnet hatte. Jetzt aber will er damit erklären, warum Bienen aus Gegenden, die weit von den Stellen des gewöhnlichen Fluges entfernt sind, schlecht oder nicht heimfinden. Und nun schreibt Kathriner: „Aus der Stadt also finden sie heim, trotzdem sie nach Bethes Meinung noch nicht dort gewesen waren; von der See finden sie nicht heim, weil sie noch nicht dort gewesen sind! Das mutet einem auch ,wie ein Versteckspielen mit den Tatsachen' an". Kathriner ist Bienenzüchter. Seine Beobachtungen und Experimente führe ich hier nicht näher an, weil sie sich mit dem bereits Geschilderten völlig decken. Wie ich, sah er Bienen, die Honig in einem Zimmer ge- sammelt hatten, mehrere Tage lang wieder in dieses Zimmer eindringen und suchen, obwohl gar kein Honig mehr darin war (Gedächtnis). Eug. Andreae (Beihefte zum Botanischen Zentralblatt, Bd. XV., Heft 3 1903, S. 427: Inwiefern werden Insekten durch Farbe und Duft der Blumen angezogen?) hat Kontrollversuche angestellt, um Plateaus Angaben nachzuprüfen. Ich kann mich kurz fassen, denn die Ver- suche Andreaes liefern im wesentlichen nur eine erfreuliche Bestätigung der meinigen. Bei den zahlreichen, sorgfältigen Versuchen Andreaes, bei welchen er vielfach die Blumen, den Honig etc. mit Glasglocken bedeckte, ist es sehr auffällig, wie häufig die Bienen etc. an die künstlichen Blumen flogen und diese sogar untersuchten. Dieses steht in ge- radem Widerspruch zu Plateaus Versuchen, und auch ich konnte dies nicht in gleichem Masse beobachten. Ich werde bei Plateau darauf 230 Wery. Perez. Pieron zurückkommen. Wie ich, wendet sich Andreae gegen Plateaus Ver- allgemeinerungen und weist die Verschiedenheit des Verhaltens bei verschiedenen Insekten nach. Während zum z. B. Bienen nur an die Farbenwürfel der Aussenwand eines Kastens flogen, flogen Prosopis direkt zu den duftenden Lindenblüten, die im Kasten waren. Andreae weist nach, wie die Aufmerksamkeit der blumenbefruchtenden Insekten durch die Farben angezogen wird. Josephine Wery (Bulletin de l'Acad. royale de Belgique, Decembre 1904, S. 1211: Quelques experiences sur l'attraction des abeilles par les fleurs) hat ebenfalls sehr sorgfältig experimentiert, um Plateau zu kontrollieren. Sie bestätigt im wesentlichen meine Resultate. Bezüglich der künstlichen Blumen, die sie neben unter Glasglocken befindlichen, entsprechenden natürlichen Blumen den Bienen vorlegt, kommt sie zu gleichen Ergebnissen wie Andreae. Die künstlichen Blumen werden von den Bienen hier sogar ebenso oft wie die natürlichen beflogen, ja stärker als natürliche ohne Blumenblätter. Honig wird nicht be- achtet. Frl. Wery erwähnt auch interessante neue, privatim ihr mit- geteilte Beobachtungen Erreras. J. Perez (Mem. soc. des Sc. phys. et nat. Bordeaux 1903) und E. Giltay (Jahrb. f. wiss. Bot. Bd. XL Heft 3, S. 368, 1904) haben die Frage ebenfalls experimentell wieder aufgenommen und bestätigen unsere Ansicht Plateau gegenüber. Ebenso Schröder (Allgemeine Zeitschrift für Entomologie B. VI. Juni 1901). A. Pieron (Comptes rendus des seances de la societe de biologie, Nov. 1906 et Fevr. 1907) macht Experimente über Ameisen und igno- riert so ziemlich konsequent die unsrigen. Er behauptet, „mit Bethe sei erst die Frage auf den Boden des Experiments gelangt" (!), und zwar wegen der Ameisenbouillon-Versuche Bethes, deren Unrichtigkeit und deren falsche Folgerungen Wasmann bereits erwiesen hat. Sonderbar nimmt sich folgende Behauptung aus: „Les observations qui ont ete faites jusqu'ici sur Torientation chez les fourmis ont toujoursete don- nees par les auteurs comme universellement valables" (ich habe hier unterstrichen). — Und daraufhin zeigte er dasselbe, was ich seit langen Jahren (bereits 1874 in meinen „Ameisen der Schweiz") stets und ausdrücklich betont habe, nämlich, dass die Entwicklung der Sinne und das Orientierungsvermögen je nach den Ameisenarten und -Gattungen ungemein variiert. Neues bringt Pieron nicht vor. Was er liefert, sind Experimente und Ergebnisse, die schon lange vorher von anderen und speziell von mir selbst zutage gefördert worden sind. Felix Plateau 231 Felix Plateau (Les fleurs artificielles et les insectes, Mem. sc. Acad royale de Belgique, Bd. I. 1906; Note sur Temploi de recipients en verre dans l'etude des rapports des insectes avec les fleurs, Ibidem Dec. 1906; Le macroglosse, Mem. soc. ent. belg. 1906; Les insectes et la couleur des fleurs, Annee psychologique de Binetl907; Les in- sectes ont-ils la memoire des faits. Annee physiologique 1909). Langsam aber sicher zieht sich Plateau allmählich zurück, verteidigt jedoch dabei jeden Fussbreit seines Standpunktes. Zunächst gibt er endlich das Vorhandensein des Ortsgedächtnisses bei Bienen etc. zu; dies ist festzunageln. Ferner suchte er den schroffen Gegensatz seiner Resultate mit den- jenigen Andreaes und Frl. Werys bezüglich der künstlichen Blumen zu erklären und fand heraus, dass die gekauften künstlichen Blumen oft mit dem getrockneten Receptaculum natürlicher Blumen und dass sie teilweise auch mit Stärkepasten imprägniert werden, welche den Insekten Nahrungsstoff liefern. Sodann prüfte er die von Frl. Wery benutzten künstlichen Blumen und fand dieselben mit Stärke sowohl als mit einem Qlucosid und einem Riechstoff imprägniert. Man könnte nun meinen, er würde mit diesen Blumen und mit stärke- und riechstoff-freien Blumen vergleichende Versuche anstellen. Doch nein. Er wiederholt nur seine alten Versuche mit seinen selbst- gemachten künstlichen Blumen, allerdings mit grosser Geduld (70 Ver- suche), und will seine früheren Angaben bestätigen. Er wirft noch Andreae und Frl. Wery vor, dass sie ihre Artefakte (auch in den Glasglocken) zu nahe an den Platz stellten, wo die Bienen zu fliegen gewohnt waren, so dass sie aus Gedächtnis hinfuhren und aus Ver- sehen, wie sonst im Gebüsch, dahin flogen. Er selbst aber stellt seine künstlichen Blumen an Stellen, wo die Bienen deshalb, weil sie anderswo Futter finden, nur vorbeifliegen. Deshalb beachten sie auch Plateaus Blumen viel weniger, was nach meinen Erfah- rungen vorauszusehen war. Doch ist jetzt der Hauptdenkfehler Pla- teaus folgender: Er findet, dass viele Insekten einen Augenblick um die künstlichen Blumen herum- und dann wieder fortfliegen. Dieses Re- sultat ist für ihn negativ; diese Tiere seien nicht „angezogen". In Wirk- lichkeit aber beweist dieses, dass die betreffenden Insekten die Arte- fakte beachten, in ihrer nächsten Nähe jedoch keinen Nahrungs- stoff riechen oder schmecken und daher wieder fortfliegen. Und das ist es eben, was wir andere alle sagen. Der Unterschied der Ergebnisse Plateaus und derjenigen Andreaes 232 Felix Plateau und Frl. Werys beruht nicht darauf, dass letztere schlechte Methoden anwendeten, wie Plateau behauptet, sondern darauf: 1. dass Plateau seine Resultate (teilweise) anders deutet; 2. dass Plateau alles tat, um die Aufmerksamkeit der Insekten von den Artefakten abzulenken, während die anderen umgekehrt ver- fuhren; 3. vielleicht auch noch zum Teil darauf, dass die künstlichen Blumen anders beschaffen waren; aber hier ist Plateau den Beweis schuldig geblieben, indem er nur mit der einen Sorte künstlicher Blumen ope- rierte. Ich glaube kaum, dass dieses eine wesentliche Rolle spielt, sonst hätten Andreae und Frl. Wery direkt die Bienen an ihren künst- lichen Blumen lecken oder essen sehen müssen, wovon beide nichts berichten. Da wo Plateau die künstlichen Blumen (z. B. in dreifacher Zahl) mitten unter die natürlichen (D ah IIa) stellte, findet er doch selbst in IV4 Stunde 12 kurze Besuche bei den künstlichen Blumen gegen- über 28 bei den natürlichen. Bedenkt man, dass die einmal ent- täuschten Insekten nicht mehr zu den leeren Artefakten zurückkehren, so muss man sagen, dass dieser Versuch Plateaus gegen seine eigene Theorie spricht. Zum Schluss sagt Plateau, dass die grellen, nicht aus Chlorophyll bestehenden Farben die Insekten nicht „anziehen". Das ist eben das alte zweideutige Wort. Dieser Satz sagt, wie wir oben gesehen haben, gar nichts aus. Es genügt, dass die Insekten Farben sehen, damit sie mit Hilfe derselben auf eine Nahrungsquelle, die ihnen sonst entgangen wäre, hingelenkt werden und sie dann aus der Nähe mit Hilfe des Geruchssinns völlig aufspüren. Plateau hat in der Tat das Wort „Scherz" bezüglich der Ange- wöhnung eines Insekts, an den Futterplatz zurückzukehren, nicht für Hymenopteren sondern für Tagfalter gebraucht. Aber auch hier ist es kein Scherz. Die Tagfalter fliegen ebenfalls zu den ihnen be- kannten Blumenbeeten zurück. Beim Dahliaexperiment habe ich Plateau vorgeworfen, die Bienen nicht im Beginn des Experiments besonders beachtet zu haben. Er verwahrt sich dagegen, wohl weil mein Einwand nicht deutlich genug formuliert war. Ich wollte sagen, dass Plateau darauf hätte achten sollen, ob die Bienen nicht nur deshalb zu den mit Blättern bedeckten Dahlienköpfen zurück- kehrten, weil sie schon früher die gleichen Köpfe mit Erfolg besucht hatten, und dass man ihr Benehmen beim ersten Besuch hätte be- Felix Plateau 233 obachten sollen. Plateau schloss damals (1895) aus seiner Beobachtung, dass es der Geruch wäre, der die Bienen zu den maskierten Dahlien hinzog. Er irrte sich und jetzt gibt er zu, es sei dies dem Orts- gedächtnis zuzuschreiben. Hätte er aber diese Dahlien maskiert, bevor die Bienen überhaupt ihre Bekanntschaft gemacht hatten, so wären die Insekten nie hingeflogen. Das wollte ich ihm einwenden, indem ich sagte, dass allein auf diese Weise der Gesichtssinn unabhängig vom Gedächtnis geprüft werden könne. Plateau hat somit meine Kritik missverstanden. Nun versucht jetzt Plateau, meine Experimente über das Zeit- gedächtnis bei Bienen anzugreifen. Er fängt damit an, eine schroffe Antithese zwischen Instinkt und Intelligenz aufzustellen. Dieses leere Stroh dresche ich nicht mit. Dann räumt er das Ortsgedächtnis ein, spricht aber bei Bienen von einem etwas verschiedenen Rückweg, dessen Richtung jedoch „immuable" (unabänderlich) sei, was ein- seitig und übertrieben ist. Richtig ist, dass Bienen, Wespen, Ameisen etc. oft beim Rückweg den gleichen Umweg wie beim Hinweg machen, durchaus aber nicht immer. Sehr oft lernen sie, sich zu korrigieren. Dann behauptet Plateau, das, was ich Zeitgedächtnis nenne, sei nur die Erinnerung an eine Assoziation zwischen gefundenem Futter und dem Grad der Sonnenwärme oder der Beleuchtung. Das ist aber ein Irrtum, denn meine Bienen kamen zur Essenszeit in der Frühe, um 12 Uhr und abends 4 Uhr zum Esstisch unter einer grossen Platane, ganz gleichgültig, ob es wärmer oder kälter, heller oder dunkler war. Wirklich naiv belehrt uns Plateau darüber, dass bei einer Biene der Zeitbegriff nicht wie beim Menschen nach Stunden und Minuten reguliert wird. Ich kann ihn versichern, dass auch ich weiss, dass die Insekten keine Uhren in der Tasche tragen und dass ihre Zeitmessung keine konventionelle sein kann. Was aber Plateau übersieht, ist, dass dieses auch bei wilden Menschen der Fall ist, und dass diese noch besser als wir das sogenannte „Zeitgefühl" be- sitzen, das instinktiv, auf Grund der unterbewussten Reihenfolge der Empfindungen und Bewegungen unsres Körpers, uns Kenntnis der Zeit gibt. So sagt man mit Recht: „Mein Magen schlägt 12 Uhr" (d. h. Esszeit); so wacht man täglich oft ganz präzis zur gleichen oder zur vorgehabten Stunde auf und dgl. mehr. Kurze Zeiträume von einigen Stunden schätzen wir auf diese Weise ganz richtig ohne Uhr und Beleuchtung. Ein solches Zeitgefühl hat zweifellos auch die Biene und assoziiert es mit der Erinnerung an das an einem gewissen 234 F^l'x Plateau Orte gefundene Futter (Honig). Ich glaubte, dies sei selbstverständlich aus meinen Experimenten zu entnehmen gewesen; ich habe mich, wie es scheint, darin geirrt, wenigstens wenn ich nach Plateau urteilen soll. Dann aber stellt Plateau einen neuen Begriff: „das Tatsachen- gedächtnis" auf, das er dem Orts- und Zeitgedächtnis entgegensetzt. Als solches wäre z. B. die Erinnerung an die Durchschneidung der Fühler oder des Vorderkopfes zu betrachten. Das Wiederfinden eines Weges, einer Blume etc. wäre dagegen kein Tatsachengedächtnis. Plateau scheint nicht zu wissen, dass alle sogenannten Tatsachen auf Assoziationen von Raum, Zeit und Qualitätenempfindungen beruhen. Tatsachen wären also nach ihm nur die empfundenen Verletzungen am eigenen Körper oder die Gefahren, welchen man ausgesetzt war. Weil nun Hummeln und Bienen, welchen man Fühler etc. abschneidet, dieses oft kaum zu beachten scheinen und gleich nachher wieder zu den Blumen fliegen, um Honig zu saugen, sollen sie kein „Tat- sachengedächtnis" haben. Er glaubt offenbar daraus schliessen zu dürfen, dass sie diese Verletzungen vergessen haben. Weil eine in ein Spinngewebe geratene Hummel, die sich mit Mühe losgemacht hatte, sofort nachher zu den ganz nahe gelegenen Blumen zurück- flog, glaubt er, sie habe diese, an jener Stelle ausgestandene Gefahr „vergessen". Der Denkfehler liegt hier auf der Hand. Erstens empfinden offenbar die Insekten sehr wenig Schmerz bei Glieder- durchschneidungen. Die Spinnen amputieren sich selbst, wenn man sie am Bein hält, und Bienen fressen oft weiter, während man ihnen die Fühler abschneidet. Plateau verswechselt diese Gefühlsstumpfheit mit Gedächtnisschwäche. Er denkt nicht daran, dass es auch ver- wegene oder gleichgültige Menschen gibt, die sofort nach überstandener Gefahr sich wieder der Gefahr aussetzen (haben nicht die Einwohner Messinas und San Franciscos gleich nach dem Erdbeben wieder ihre Häuser gebaut!); dass schwerverwundete Soldaten trotzdem weiter kämpfen, und vor allem, dass gerade bei sozialen Hymenopteren das Individuum für das Wohl des Stocks, der Gemeinschaft, viel besorgter ist als für sein eigenes Leben. Alle diese Dinge erklären mehr als hin- länglich das Benehmen der betreffenden Hummeln, Bienen usw. und haben mit einem Mangel an „Tatsachengedächtnis" nicht das geringste zu tun. Die Tiere merken wohl manchmal, dass sie verletzt worden, erinnern sich vielleicht auch, dass sie einer Gefahr eben entronnen sind, aber sie beachten beides viel weniger als die Notwendigkeit, Futter für den Stock zu holen. V. Buttel-Reepen 235 Plateau wirft mir Irrtümer vor, die nur in seiner Einbildung be- stehen. Er behauptet, ich hätte bei meinem Bienenexperiment stets mit Honig bestrichenes Papier benutzt. Das ist ganz irrtümlich. Ich habe ausdrücklich betont, dass die Bienen auch zu unbestrichenen, völlig honigfreien Papieren, und zwar sogar acht Tage nach den ersten Experimenten hinflogen, weil sie acht Tage früher auf ähnlichem Papier Honig gefunden hatten. Das ist Gedächtnis und Vorstellungsassoziation. Das Gleiche hat Kathriner (s. oben) gezeigt. Und V. Büttel hat gezeigt, dass die Bienen sich noch viel länger erinnern können. Mit einer direkten „Anziehung" durch den Honig (im gleichen Moment) hat es nichts zu tun. Ich musste leider mich wieder so lange mit Plateau auseinander- setzen, aber es war unerlässlich, damit die ganze Frage geklärt und nicht verwirrt werde. Die Redlichkeit seiner Experimente macht zum Glück diese Klärung möglich. Gut ist es, dass Plateau endlich wenigstens dieTrainierung der Insekten durch Angewöhnung anerkennt. Von Buttel-Reepen (Bienen-Wirtsch. Zentralblatt, Hannover, No. 3, 1909; Stimmen der Wissenschaft) ist noch nicht überzeugt, dass die Bienen mangelhaft riechen, und glaubt meine diesbezüglichen Versuche durch ihre beengte Aufmerksamkeit, durch ihre Zwangs- vorstellung erklären zu können, welche sie den Honig an einem un- gewohnten Platz übersehen Hessen. Ich habe ja selbst auf diese Art Zwangsvorstellung einer mit anderem beschäftigten Biene hingewiesen, aber hier genügt sie durchaus nicht, um alles zu erklären. Die Wespen sind ebenso geschäftig auf ihr Ziel konzentriert wie die Bienen. Warum merken sie aber trotzdem aus der Ferne den Honig, den die Bienen so konsequent aus nächster Nähe übersehen? Warum verlässt andrerseits eine auf Dahlien durchaus trainierte Biene dieselben sofort, wenn man ihr Honig auf grünen Blättern oder Papierstücken dicht am Rüssel darbietet, um ohne Zaudern zu diesen ungewohnten Objekten zu fliegen? Die Trainierung allein würde sie zu den Dahlien zurückführen. Von Büttel findet mein Experiment mit dem Draht- gitter nicht beweisend, weil die Bienen sich da gefangen fühlten. Warum aber naschten die gefangenen Bienen sofort am Honig, den sie berühren konnten, sobald das Gitter entfernt war? Das alles reimt sich absolut nicht mit gutem Riechvermögen zusammen. Von Büttel meint, wenn Bienen in einem ungewohnten Raum Honig entdecken und dann plündern, müsse doch zuerst eine Biene ihn mit dem Geruch aufgespürt haben. Warum entdecken aber die Wespen überall und 236 ^' ^- Krause sofort von weitem Obst, Honig, Zucker etc., wo immer er versteckt sei, während dies bei Bienen nur sehr selten und zufälh'g der Fall ist? Von Büttel weiss ja, dass, wenn eine oder zwei Bienen die Quelle entdeckt haben, die anderen bald folgen. Nun gebe ich sehr gern zu, dass, wenn in einem Zimmer eine grössere Quantität Honig lange Zeit liegt, derselbe so stark duften mag, dass die Fühler einer am Fenster vorbeifliegenden Biene ihn vielleicht einmal aufspüren. Das ist aber noch lange kein gutes Geruchsvermögen. Letzteres muss, den vielen negativen Beweisen gegenüber, in noch sehr viel präziserer Weise festgestellt werden, bis ich daran glauben kann. Ein solcher Nachweis ist für die Wespen leicht möglich, eben deshalb, weil diese gut und aus ziemlicher Entfernung riechen. Ich frage noch, warum die Bienen, trotz ihrer „Zwangsvorstellung" ihr bisheriges Futterziel verlassen, sobald sie sechs oder sieben Gefährtinnen irgendwo hinfliegen sehen. Es ist nicht der Geruch daran schuld, sonst würde eine einzige Biene, die mit Honig heim- kehrt, dazu genügen, was für gewöhnlich nicht der Fall ist (s. Lub- bocks und meine Versuche). Ich schlage nun folgendes Experiment vor: Man umgibt eine kleine Schale, die etwas Honig enthält, mit einem Drahtgitter und stellt sie in die Nähe eines freien Bienenstocks. Hier wird von Büttel zugeben müssen, dass nicht zu jeder Zeit und nicht alle Bienen auf bestimmte auswärtige Ziele trainiert sein können. Demnach, wenn die Bienen den Honig mit dem Geruch wittern können, müssen sie sich auf dem Drahtgitter sammeln und versuchen, den Honig zu erreichen (was sie natürlich dann nicht können). Man mache dann das gleiche Experiment mit Wespen. In beiden Fällen darf das Gitter selbst mit keiner Spur Honig beschmiert sein, denn sonst kann zu leicht eine Biene zufällig damit in Berührung kommen, und sobald ihre Aufmerksamkeit durch den direkten Kontakt mit dem Honig geweckt ist, werden ihr andre aus dem Stock folgen. Anton Hermann Krause (Die antennalen Sinnesorgane der Ameisen, Inaug.-Dissert. bei Prof. Dr. H. E. Ziegler, Jena 1907) gibt eine Zusammenstellung der antennalen Sinnesorgane, die er genau nach Fühlergliedern und Geschlechtern bei einigen Arten zählt. Er nennt die Tasthaare Sensilla trichodea, die Porenplatten Sensilla trichodea curvata, die Riechkolben Sensilla basico- nica, die Champagnerpfropforgane Sensilla coelocona und die Flaschenorgane Sensilla ampullacea. A. H. Krause 237 Beim Lasius fuliginosus und Formica rufa findet er nun: Las. fuliginosus Las. fuliginosus Formica rufa Las. fuliginosus Las. fuligin« Tasthaare Riechkolben Porenplatten Champagner- Flaschenorj pfropforgane i Fühlerschaft Ar- beiter 492—543 Weib- chen 473-521 Männ- chen 420-461 0 ■ßZ 0 Männ- chen 0 0 Weib- chen 0 a OS Ar. beiter 0 0 ö C 0 0 II 1. Geisseiglied 138— aos 177-238 98-200 158 161 131-149 65 57-67 67 2. Gl. 1 2. Gl. 0-1 2. Gl. 1- 2 2. Gl. 1-3 2. GL 1—3 2 ] letzten (Keulen-) Glied 802—412 332-421 170-250 359 362 302-366 85 79-87 81 7-10 6—7 3-6 7-10 10-14 i Die Porenplatten hat Krause nur bei F. rufa gezählt. Die Cham- pagnerpfropf- und Flaschenorgane kommen im ersten Geisseiglied nicht, im zweiten nicht immer vor. Interessant sind die individuellen Variationen sowie diejenigen nach den Geschlechtern. Am Fühler- schaft kommen nur Tasthaare vor. Krause hält wie ich die Tasthaare für Tastorgane, die Riechkolben und die Porenplatten für Geruchs- organe und meint, auch die Riechkolben dürften besonders dem Kontaktgeruch dienen. Champagnerpfropf- und Flaschenorgane hält er für Organe des Geruchs aus nächster Nähe, was ich nicht glauben kann. Ein Männchen von Lasius fuliginosus zeigte 1853 Tasthaare, ein Weib- chen 2178, ein Arbeiter 2076 an einem ganzen Fühlhorn. Ein Männchen von Formica rufa zeigte 813 Porenplatten, ein Weib- chen 735, ein Arbeiter 770 an einem ganzen Fühlhorn. Ein Männchen von Lasius fuliginosus zeigte 2103 Riechkolben, ein Weibchen 2063, ein Arbeiter 2023 an einem ganzen Fühlhorn- Ein Männchen von Lasius fuliginosus zeigte 21 Champagnerpfropf- organe, ein Weibchen 18, ein Arbeiter 21 an einem ganzen Fühl- horn. Ein Männchen von Lasius fuliginosus zeigte 13 Flaschenorgane, ein Weibchen 23, ein Arbeiter 15 an einem ganzen Fühlhorn. Diese Zahlen geben einen guten Überblick über die Zahl der Nervenendorgane in den Fühlern einiger Ameisen. Ich habe sie selbst aus Krauses Detailzahlen addiert, sowie auch aus seinen einzelnen Tabellen die obige zusammenfassende konstruiert. Zehnte Studie. Die Orientierung im Raum. A. Bewegungs-, Drehungs- und Gleichgewichtssinn. Sensomotilität. Unter dieser Überschrift gedenke ich eine ziemlich komplizierte Frage zu besprechen, die zu verschiedenen Hypothesen und zu sonder- baren Missverständnissen Anlass gegeben hat. Es gibt hier zwei grund- verschiedene Gruppen von Tatsachen zu unterscheiden. Wenn wir uns im Raum bewegen, so haben wir, ebenso wie die Tiere, die Fähigkeit, unsre Stellung darin zu erkennen und uns zu orientieren. Was uns selbst betrifft, so wissen wir, dass diese Fähigkeit aus den vereinigten Empfindungen oder Wahrnehmungen des Tast- und Gesichtssinns hervorgeht, die, vereint mit unsern Erinne- rungen, die Orientierung ergeben. Betreten wir z. B. bei dunkler Nacht unser Schlafzimmer, so finden wir uns dort sofort zurecht, greifen mit unsern Händen nach den Gegenständen, deren Stellung uns bekannt ist, und zwar nicht direkt vom Gesichts- oder Tastsinn, sondern von den Erinnerungen an die Raumverhältnisse des be- treffenden Zimmers geleitet, Erinnerungen, die unsre früheren Gesichts- eindrücke hinterlassen haben. Wir besitzen keinen speziellen Orientierungssinn; Gesichts- und Tastsinn, besonders der erstere, und die in das Gebiet dieser beiden Sinne fallenden Gedächtniseindrücke orientieren uns im Raum; auch sind wir uns dieser Tatsache voll bewusst. Das Gehör spielt dabei eine geringe, Geschmack und Geruch so gut wie gar keine Rolle. So liegt der Fall beim Menschen, und es dürfte darüber kaum eine Meinungsverschiedenheit herrschen. Die Blinden lernen durch Übung, sich mittels Tast- und Gehörssinn allein zu orientieren, während den Normalen sein Gesichtssinn schneller und aus weit grösserer Ent- ernung orientiert. Mach-Breuer 239 Inzwischen haben wir bereits bei der Diskussion von Lubbocks Plateaus und meinen eignen Experimenten gesehen, dass es bei den Insekten ähnlich ist wie bei den höheren Tieren, obwohl sie in ihrem topochemischen antennalen Geruch noch einen besonderen Orien- tierungssinn besitzen, auf den wir später näher eingehen werden. Im Prinzip aber ist auch er nur ein Sinn, dessen Anordnung das Tier be- fähigt, sein Gehirn mit Vorstellungen über die verschiedenen Teile des Raums und ihre Beziehungen zueinander zu versehen. Diese Raum- vorstellungen werden im Gehirn als Erinnerungsbilder (Engramme) fixiert, die dann als Erinnerungen für die Orientierung des Tiers bei seinen Bewegungen verwertet werden. Ich hoffe zu beweisen, dass irgendeine andre geheimnisvolle Hypothese betreffend einen sechsten Sinn, einen sogenannten Orien- tierungs-Magnetismus oder dergleichen ebenso falsch wie überflüssig ist, und zwar gilt dies für das gesamte Tierreich. Die uns bekannten Sinne in ihrer vielseitigen Ausbildung sowie die durch sie erzeugten Gedächtnisbilder genügen, um alle bisher erforschten Tatsachen zu erklären. Mach-Breuer. Die Lösung der Frage des Sinnes für die Bewegungs- empfindung haben wir vor allem E. Mach (1 : Sitz.-Ber. der Wiener Akademie, 6. November 1873; 2: Mach, Grundlinien der Lehre von den Bewegungsempfindungen, Leipzig 1875; 3: Mach, Über Orien- tierungsempfindungen, Vortrag, Wien 1897 bei Braumüller) undBreuer (Anzeig. d. k. k. Gesellschaft der Ärzte, Nr. 7, 14. November 1873 etc.) zu danken. Es sind bei dieser Frage verschiedene Punkte zu unter- scheiden. a) Jede Muskelkontraktion, jede relative Verschiebung, jeder Druck auf irgendeinen Teil des Körpers reizt die Tastnerven, die sodann das Gehirn von dem lokalen Sitz der Verschiebung in Kenntnis setzen. Das ist nichts andres als eine Erscheinung auf dem Gebiet des Tastsinns. b) Wir sind uns der Anstrengung, die mit jeder motorischen Inner- vation verbunden ist, bewusst. Doch haben Stricker sowohl als das sogenannte Gedankenlesen Cumberlands erwiesen, dass jede Willens- anstrengung, selbst wenn sie keine Massenbewewegung auslöst, 240 Mach-Breuer von wahrnehmbaren Muskelinnervationen begleitet ist, die stark genug sind, die Endigungen der Tastnerven zu reizen. Somit kann also b auf a, das heisst auf den Tastsinn zurückgeführt werden. c) Vom Trägheitsgesetz ausgehend hat Mach andrerseits gezeigt, dass eine kontinuierliche Bewegung keine Empfindung bei uns aus- löst, dass es vielmehr die Beschleunigungen, Verlangsamungen, Rich- tungsänderungen, die unser Körper erfährt, sind, welche Empfindungen in uns auslösen, und zwar ganz einfach durch die Tatsache, dass solcher Wechsel den Druck der einzelnen Körperteile gegeneinander sowie den Druck des Körpers auf die Gegenstände, die er berührt oder die ihn stützen, verändert. Auch hier dienen die Nerven des Tast- und Gesichtssinns (durch Verschiebung des Netzhautbildes) dazu, uns von den stattgefundenen Veränderungen zu unterrichten. Nun haben aber Mach und Breuer durch geistvolle Experimente bewiesen, dass wir Beschleunigungen, Verzögerungen, Drehungen usw. unabhängig von Tast- und Gesichtssinn spüren. Sie haben gezeigt, dass der Sitz dieser Empfindung im Kopf zu suchen ist, und dass alles dahinzielt, sie im Vestibularapparat des Ohrlabyrinths zu lokali- sieren. Die Erscheinungen der Seekrankheit (und umgekehrt der Landkrankheit nach der Ausschiffung), des Höhen-, des Dreh- Schwindels und des Gleichgewichts hängen mit dieser Empfindung zusammen. Jede Beschleunigung der Bewegung erregt, je nach ihrer Richtung, einen Teil des Endapparats des Vestibulums (Vorhofs), indem die Gehörsteinchen („Otolithen", von Mach als — „Statolithen" bezeichnet) bezw. die Flüssigkeit der Bogengänge infolge des Trägheitsgesetzes zu- rückbleiben und so den Nerven erschüttern.^ Die Anordnung der drei Kanäle entsprechend den drei Dimensionen des Raumes dient weiter dazu, die Winkel der Bewegungsänderungen räumlich anzuzeigen, d. h. also die totalen oder partiellen Drehungen in den drei Dimensionen. Mach ist der Meinung, dass das Vestibulum selbst dazu dient, uns Verzögerungen und Beschleunigungen in der gradlinigen Fortbewegung des Körpers zur Kenntnis zu bringen. Ich verweise den Leser auf die Originalwerke von Mach und Breuer, aus denen aufs klarste hervorgeht, dass der Vestibularapparat unsern Kopf und somit auch unsern gesamten Körper in allen Fragen ^ Yves Delage erhebt freilich dagegen Widerspruch, indem er die Ansicht verficht, dass sich kapillare Röhren, wie die Bogengänge es sind, in solchen Fällen wie solide Körper verhalten. Mach-Breuer 241 der Veränderung unserer Stellung im Raum und ihrer Schnelligkeit orientiert. Tatsächlich wird jede Bewegung durch eine Empfindung der Drehung oder der geradlinigen Fortbewegung angezeigt, welche Empfindung jedoch aufhört, sobald der Inhalt des Vestibularapparats selbst die Geschwindigkeit und Richtung des Körpers durch die Fortsetzung der Bewegung angenommen hat. Indessen haben verschiedene andre Autoren die Bedeutung dieser Tatsachen insofern übertrieben, als sie dieselben auch zur Erklärung der Orientierung ausserhalb des Körpers herangezogen haben. Der Vestibularapparat stellt aber lediglich einen statischen, einen Gleich- gewichtssinn dar und darf durchaus nicht als Sitz des Orientierungs- sinns im äusseren Raum aufgefasst werden. Schon seine innere Lage verhindert ihn daran, uns mit dem Aussenraum bekannt zu machen. Ja, er ist nicht einmal als absolut unentbehrlicher Faktor aufzufassen, da ja viele Taubstumme ihr Gleichgewicht auch ohne ihn zu bewahren wissen und esfnur unter Wasser verlieren, wo der Tastsinn infolge des Unmerklichwerdens des Drucks, den die einzelnen Teile des Körpers auf einander ausüben, seine Leistungsfähigkeit einbüsst. Mach ist der Ansicht, dass das eigentliche Gehörorgan (die Schnecke) eine für die Wahrnehmung von Tönen bestimmte phyletische Spezia- lisierung des Vestibularapparats ist. Er glaubt, dass bei den niederen Tieren eigentliches Gehör noch nicht vorhanden ist, dass diese aber vermittelst der Otolithen eine Empfindung der Vibration haben, und dass hieraus das Organ des Gehörs hervorgegangen sei. Diese Theorie stimmt mit der Hypothese von Duges überein, welch letzterer das Gehör bei Insekten als ein unechtes Hören, d. h. eine auf der Wahr- nehmung von Vibrationen basierende Empfindung darstellt, eine Meinung, der ich selber beizupflichten geneigt bin. Auf den Einwand Hensens, der dahin geht, dass es Tiere ohne Labyrinth gebe, und dass deshalb das Labyrinth kein Orientierungs- organ sein könne, antwortet Mach ironisch: „Schlangen haben keine Beine und bewegen sich trotzdem vorwärts; darf man daraus folgern, dass unsere Beine nicht Fortbewegungsorgane sind?'' Der Hensensche Einwand richtet sich indessen mit Recht gegen die einseitige Auffassung — die übrigens von Mach selbst durchaus nicht vertreten wird — , dass ohne den Vestibularapparat eine räum- liche Orientierung überhaupt nicht möglich ist. Dieser Anschauung gegenüber ist zu konstatieren, dass die Gleichgewichtshaltung eines Forel, Das Sinnesleben der Insekten 16 242 Mach-Breuer Tiers und seine Empfindung von Beschleunigung und Verlangsamung möglich sind auch ohne Vestibularapparat, und zwar auch bei Wesen, die normalerweise einen solchen besitzen, z. B. bei denjenigen Taub- stummen, bei denen dieser Apparat verkümmert ist. Soviel ist ferner sicher, dass bei Tieren wie den Insekten, die kein Labyrinth besitzen, seine Funktion durch die der andern Sinne vollständig ersetzt werden kann. Dies ist um so verständlicher, als es sich dabei um kleine Tiere handelt, deren ganzer Körper — wir haben auf diesen Umstand bereits hingewiesen — durch den leisesten Hauch erschüttert wird. Eine fernere Schwierigkeit liegt darin, dass wir überhaupt unfähig sind, uns das Detail unsrer Bewegungsinnervationen bewusst vorzu- stellen oder bewusst zu empfinden. Wir haben nur ein unbestimmtes Ge- fühl davon, während wir uns des Details unsrer Sinnesempfindungen klar und deutlich bewusst sind ; dennoch ist dieses motorische Detail wunderbar genau in unserm Gehirn registriert, sonst wäre ein Klavier- spieler, überhaupt jede technische Fertigkeit undenkbar. Dieses Unter- bewusstbleiben der motorischen Innervationen erschwert uns sehr das Verständnis der ganzen Frage; wir wissen bei uns selbst nicht viel mehr davon als das, was wir bei andren und bei Tieren beob- achten. Und das gleiche gilt vom Gleichgewicht, vom Drehungs- gefühl etc. Aus diesen Gründen halte ich es auch nicht für zweckmässig, von einem besonderen Sinn des Gleichg|ewichts und der Be- schleunigung zu sprechen. Mach vertritt die der ernsten Beach- tung werte Ansicht, dass der Vestibularteil des Labyrinths ein spezielles Organ der Bewegungsempfindung sei, namentlich dass die sechs Am- pullen der Bogengänge den sechs paarweise entgegengesetzten Grund- empfindungen der Drehung entsprechen. Die Ampullennerven würden dieser Auffassung zufolge die spezifische Energie haben, auf jeden Reiz mit einer Drehempfindung zu antworten. Mit dieser Hypothese lässt sich arbeiten. Man muss aber alsdann diesen „Sinn" sowohl von der übrigen Sensomotilität, als auch von der Orientierung im Aussenraum streng unterscheiden. Cyons vermeintlicher Raumsinn. Wie man weiss, erhielt der Physiologe Flourens bei Tauben durch Durchschneidung der Bogengänge, die die Nervenendigungen des Cyon 243 Vestibulums enthalten, stets eine Gleichgewichtsstörung in den Bewegungen des Versuchstiers. Die drei Kanäle sind nach den drei Dimensionen des Raums angeordnet und die einzelne Durchschnei- dung jedes Kanals erzeugt eine Gleichgewichtsstörung und schwindelnde Bewegungen in der Richtung desselben. Diese Tatsachen sind absolut klar und verbürgt und ich selbst habe sie mehrere Wochen hindurch an von Cyon operierten Tauben bestätigt gefunden. Auch sind bei den Tauben diese Kanäle so weit vom Hirn entfernt, so gross und der Oberfläche des Schädels so nahe, dass derEinwand einer eventuellen zerebralen Läsion nur von Leuten gemacht werden kann, denen diese Verhältnisse unbekannt sind. Vor nicht allzulanger Zeit hat Cyon (Pflügers Archiv für die ge- samte Physiologie, Bd. 79, Heft 5, S. 211, 19C0. „Ohrlabyrinth, Raumsinn und Orientierung") den Gegenstand wieder aufgenommen und seine Theorie durch neue Tatsachen zu stützen gesucht. Cyon behauptet, dass das Flussneunauge Petromyzon fluvia- tilis, nur zwei Bogengänge statt drei besitze und sich nur in deren Richtung bewege, ferner, dass die sogenannte japanische Tanzmaus nur einen Bogengang besitze, nur nachts tanze, am Tag auf einer schiefen Ebene von 45° nicht klettern könne und dergleichen mehr. Er will seine Beobachtungen mit den abnormen Verhältnissen 'der Bogengänge und mit seiner weiter unten zu besprechenden Theorie in Verbindung bringen, doch sind seine Angaben seither von durchaus zuverlässiger Seite widerlegt worden. Unter anderm zeigt Mac Leod Yearsley, dass die Tanzmaus ganz wie die gewöhnliche Maus drei Bogengänge besitzt und dass Cyon offenbar schlecht präpariert hat. Wir können übrigens den Angaben Cyons um so weniger trauen, als er sich schon anderweitig öfter als unzuverlässig erwiesen hat. Immerhin möchte ich seine Theorie, die ursprünglich auf die Folgen der Durchschneidung der Bogengänge bei Tauben fusste, hier kurz skizzieren: Er behauptet, dass die Schwindelbewegungen dieser Tauben ent- springen aus: 1. einem Sehschwindel, hervorgebracht durch den Kontrast zwischen der Raumvorstellung, die von den operierten Tieren aus ihren Gesichtsempfindungen gezogen, und derjenigen, die von ihnen nach Durchschneidung der Bogengänge ideal gefühlt wird; 2. aus der aus obigem Umstand hervorgehenden falschen Vor- stellung von der Stellung der Körper im Raum; 16* 244 Cyon 3. aus Störungen in der Verteilung der Muskelinnervation, Störungen, die gleichfalls den obengenannten Umständen zuzuschreiben sind. Es ist nur der dritte Punkt, d. h. der Wegfall der hemmenden Einflüsse auf die Innervation, der uns zu erklären vermag, weshalb die Tanzmaus das Gleichgewicht nach Verschliessung der Augen, nicht aber des Nachts, verliert. Cyon schliesst aus diesen Tatsachen, dass der Ersatz der Bogen- gänge durch die Augen wahrscheinlich nicht auf bewusste Gesichts- eindrücke, sondern auf andersartige, von den Augen ausgehende Reize zurückzuführen ist, die für gewöhnlich durch die Bogengänge aus- gelöst werden. Schon im Jahre 1877 hat Cyon sich dahin geäussert, dass die Bogengänge durch Hemmung die Verteilung und Stärke der dem Körper zugesandten motorischen Innervation regeln. Chevreul behauptet, dass ihr Wegfall und nicht ihr Vorhandensein die von Flourens entdeckten planlosen Bewegungen bei Schwindel veranlasse. Ohne hier auf weitere Einzelheiten der Experimente an Haifischen usw. einzugehen, will ich nur die Schlussfolgerungen Cyons wieder- geben. a) Falls einer oder der andre Bogengang kongenital abwesend ist, kann der Gesichtssinn zum Teil dessen hemmende Wirkungen ersetzen, jedoch nur in bezug auf Gleichgewichtserhaltung bei verschiedenen Körperstellungen und auf den Übergang von einer Stellung in die andre, nicht aber in bezug auf Orientierung im inneren Körperraum. b) Die Bogengänge sind die einzigen peripheren Organe des Raum- sinns. Die von ihnen ausgehenden Empfindungen sind für die Vor- stellung des Raums (in bezug auf die Stellung des eignen Körpers in demselben) unentbehrlich. c) Die Fähigkeit, mittels derer sich das Tier in den verschiedenen Dimensionen des Raums bewegt, d. h. also sich orientiert, beruht auf dem im Vorhof (Vestibulum) lokalisierten Raumsinn. Empfin- dungen des Gesichts- und des Tastsinns können jene Fähigkeit nicht ersetzen. Ich lasse hier wörtlich Cyons Theorie über den Raum- sinn folgen. A. Die eigentliche Orientierung in den drei Ebenen des Raums, d. h. die Wahl der Richtungen des Raums, in denen die Bewegungen stattfinden sollen und die Koordination der für das Einschlagen und Einhalten dieser Richtungen notwendigen Innervationszentren ist die ausschliessliche Funktion des Bogengangapparats. Cyon 245 B. Die dabei erforderliche Regulierung der Innervationsstärken so- wohl für diese Zentren als für diejenigen, welche die Erhaltung des Gleichgewichts und die sonstigen zweckmässigen Bewegungen be- herrschen, geschieht vorzugsweise mit Hilfe des Ohrlabyrinths. Diese Regulierung wird aber gleichzeitig von andern Sinnesorganen (Augen, Tastorganen usw.) unterstützt. Beim Ausfall des Ohrlabyrinths kann eine solche Regelung in mehr oder weniger vollkommener Weise durch diese Organe ersetzt werden. C. Die durch die Erregung der Bogengänge erzeugten Empfin- dungen sind Richtungs- und Raumempfindungen. Sie gelangen zu bewusster Wahrnehmung nur bei auf sie gerichteter Aufmerksamkeit. Diese Empfindungen dienen dem Menschen zur Bildung der Vor- stellung von einem dreidimensionalen Räume, auf den er seinen Seh- und Tastraum projiziert. D. Tiere mit nur zwei Bogengangpaaren (z. B. Petromyzon fluviatilis) erhalten Empfindungen von nur zwei Richtungen und vermögen sich nur in diesen zu orientieren; Tiere mit einem Bogen- gangpaar (Myxine und japanische Tanzmäuse) nur Empfindungen von einer Richtung und orientieren sich nur in dieser einen. Cyon nimmt an, dass die Otolithen der Wirbellosen dieselbe Rolle spielen; Yves Delage hat dies bei Mollusken festgestellt.^ Mensen hat dieselben Einwände gegen Cyon wie gegen Mach erhoben. Cyons Theorie ist weder klar noch beweisend. Selbst wenn die von ihm angeführten Tatsachen zuverlässig wären, was, wie wir sahen, nicht der Fall ist, so scheint mir doch seine Deutung der- selben den Bogengängen eine viel zu grosse Bedeutung beizumessen. Die ganze Frage scheint mir noch keineswegs genügend klargelegt, und es bedarf meiner Meinung nach eines bedeutend grösseren Tat- sachenmaterials, ehe man zur Bildung einer brauchbaren Theorie schreiten kann. ^ Auch bei einigen Krustazeen. Siehe dieses Autors Arbeit „Sur une fonc- tion nouvelle des Otocystes comme organes d'orientation locomo- trices" Arch. de Zoologie, 2. Serie, Bd. 5, 1887. Bezüglich Coelenteraten, s. Brooks, The Sensory Clubs or Cordyli of Laodice, Journal of Morpho- logy, X, 1895, S. 287; und Hurst, 1. Supposed auditory Organs, Natural Science, Bd. 2, 1893, S. 350; 2. Suggestions as to the true functions of „Tentaculocysts", „Otocysts" and „Auditory Sacks", ebenda, S. 421, 246 Vestibularapparat Ich möchte hier auf meine eignen Experimente über den Gehör- nerv des Kaninchens hinweisen (Neurologisches Zentralblatt, 1885, Nr. 5 und 9; Archiv für Psychiatrie, Bd. 18, Heft 1, Januar 1887; ferner OnufrowiczBr., Experim. Beitr. z. Kenntn. des zentr. Ursprungs, des Nervus acusticus, Archiv für Psychiatrie 1885, Bd. 16, Heft 3). In diesen durch mich oder unter meiner Leitung unternommenen. Arbeiten, bei denen ich das Forschungsgebiet auch auf das Cere- bellum ausdehnte, kam ich zu Resultaten, die ich in folgenden Sätzen zusammenfassen kann: 1. Die durch die Zerstörung der Bogengänge hervorgebrachten Bewegungen wiederholen sich bei jeder neuen Verletzung des Nerv^us vestibuli, mag man auch bei diesen Verletzungen bis zum Kern des Nerven hinaufsteigen, welch ersterer von Bechterew entdeckt worden ist und sich beiderseits oberhalb des vierten Ventrikels unter dem Kleinhirnwurm befindet. Dieser Kern, der aus kleinen poly- gonalen Zellen besteht, scheint den Charakter der motorischen und nicht der sensiblen Kerne zu besitzen. In der Tat sind es diese Zellen, die zum Teil atrophieren, wenn es gelingt, eine hinreichend bedeutende partielle Läsion des Nerven zu erzielen und dabei doch das Tier am Leben zu erhalten. Seine totale Durchschneidung erzeugt nämlich einen bis zum Tode anhaltenden totalen Drehschwindel des ganzen Körpers. Ich habe dieses Experiment zur Genüge wiederholt. Nun besitzt der Vestibularnerv nicht ein eigenes Ganglion, wie der Schneckennerv (Nervus Cochleae) und die übrigen sensiblen Nerven es besitzen. Seine Fasern scheinen zumeist in freien Verästelungen im Vestibularapparat zu endigen. Dieser Nerv scheint also zum Teil eher den Charakter eines motorischen als eines sensiblen Nerven zu besitzen. Wie ein motorischer Nerv begibt er sich, wenigstens zum grossen Teil, direkt von seinen Ursprungszellen an den Punkt seines Austritts aus dem Gehirn, ohne eine Längsrichtung anzunehmen.^ ^ G. Alexander, „Zur Anatomie des Ganglion vestibuläre der Säugetiere" rSitz.-Ber. d. k. k. Akad. d. Wiss. Wien, Math.-naturw. Kl., Bd. 108, Abt. 3, Nov. 1899), hat die gangliösen Anschwellungen des in das Felsenbein ein- geschlossenen Teiles des Vestibularnerven untersucht und schreibt ihnen alle Neurone des erwähnten Nerven zu. Ich bin nicht in der Lage, diese Tatsache nachzuprüfen. Trifft sie genau zu, so erwächst daraus die Verpflichtung, das Experiment zu wiederholen, das zu der (allerdings nur partiellen) Atrophie der Zellen des Bechterewschen Kerns an der Basis des Kleinhirns geführt hat. Auf »eden Fall würde sie, falls ganz zutreffend, den Vergleich, den ich zwischen dem Vestibularnerven und den motorischen Nerven gezogen habe, ausschliessen,,. Vestibularapparat 247 2. Der Schneckennerv (Hörnerv) hat einen ganz anderen Ur- sprung, ähnlich wie die sensiblen Nerven. Die Zellen seiner Neurone befinden sich teils in der Schnecke, teils im Ganglion acusticum, das ich beschrieben habe (Onufrowicz). Seine Verletzung und seine Total- exstirpation ziehen keine Bewegungsstörung irgendwelcher Art nach sich, wohl aber eine konsekutive Atrophie seiner Ursprungszentren (Ganglion acusticum, Tuberculum acusticum). 3. Die Totalexstirpation der Kleinhirnhemisphere des Kaninchens zieht keinerlei Bewegungsstörungen nach sich. 4. Auch die oberflächlichen Verletzungen des Kleinhirnwurms haben nicht derartige Folgen ; nur die tiefen Läsionen desselben, die bis in die Region des Kerns des Vestibularnerven reichen, rufen Gleichgewichts- störungen hervor. Diese Resultate stimmen, wie man sieht, im allgemeinen ziemlich mit der Theorie von Mach überein und deshalb schien es mir an- gebracht, sie hier zu zitieren.^ Auch v. Gudden und Schiff haben, schon vor mir selbst, soweit das Cerebellum in Frage kommt, die- selben Resultate erzielt, Wlassak hat das Cerebellum von Fröschen entfernt, ohne Gleichgewichtsstörungen dadurch hervorzurufen. Indessen — und dieser Punkt ist hier von besonderem Interesse — scheinen Insekten kein Organ zu besitzen, dessen Läsion ähnliche Erscheinungen hervorruft wie die Läsion des Vestibularapparats der Die verwickelten Beziehungen des N. vestibuli zu den Ganglienzellen — als seine Neurone — sind wie mir scheint, heute noch nicht genügend sichergestellt, sodass die Frage noch in suspenso gelassen werden muss. * Cyon glaubt indessen beweisen zu können, dass eine Reizung des Gehör- nerven (des Nerven der Schnecke) die Bogengänge erregt und die Empfindung des Raums erzeugt. Hierauf antworte ich, dass die Exstirpation des Schnecken- nerven kein Schwindelgefühl erzeugt, und dass uns Geräusche die schlechtesten Merkzeichen bezügh'ch des Raumes liefern. Man denke an eine gute Bauch- redner-Aufführung, bei der allein die Stimmkontraste, die die Bauchredekunst ausmachen, genügen, unser Urteil bezüglich der Richtung, aus welcher die Ge- räusche kommen, völlig irrezuführen. Aus diesen Erfahrungen sieht man, wie wenig Aufklärung uns das Gehör über den Raum zu geben vermag, ich selbst habe erlebt, wie ein Bauchredner zu wiederholten Malen eine Meute Jagdhunde irreführte, indem er fernes Bellen imitierte. Er liess durch seine Kunst die Meute nach jedweder Richtung, die er markierte, aufbrechen. Die Lokalisation von Gehörshalluzinationen seitens der Geisteskranken zeigt uns auch die ganze Willkür, mit der Geräusche im Raum eingeordnet werden. Auch unter normalen Verhältnissen lokalisieren wir die Geräusche vorwiegend mit Hilfe der Zeugnisse, die von unsern andern Sinnen geliefert werden. 248 Vestibularapparat höheren Tiere. Lubbock hat die flaschenförmigen und champagner- pfropfförmigen Organe, die Hicks und ich selbst an den Fühlern von Ameisen und Bienen beschrieben haben, als mikroskopische Stethoskope hingestellt; Graber in den Fühlern von Fliegen vermeintliche Otolithen gefunden und die tympaniformen Sinnesapparate der Grillen und Feld- heuschrecken meisterhaft beschrieben. Alle diese Organe können indessen entfernt werden, ohne das Gleichgewicht des Insekts im mindesten zu stören. Die Halteren (Schwingkölbchen) der Dipteren enthalten allerdings ein Sinnesorgan und ihre Durchschneidung ver- hindert den Flug des Tiers; doch erzeugen sie keinerlei regellose Bewegungen (ich habe sie wiederholt entfernt), und für die Hinderung des Flugs liegen hier andre mechanische Ursachen vor. Die einzigen Verletzungen, die meiner Erfahrung nach Krampf- oder Schwindel- bewegungen bei Insekten auslösen, sind einseitige Verletzungen des Gehirns (oberes Schlund-Ganglion) und ebenso der Ganglien und Nervenstränge des Bauchmarks, und zwar waren es Manegebewe- gungen, die dadurch hervorgerufen wurden. Ferner werden noch all- gemeine Krämpfe durch Morphiumvergiftung hervorgerufen. Der spiralige Höhenflug von geblendeten Insekten (s. oben) gehört nicht hierher, denn auf dem Boden bewahrten dieselben die volle Koordination ihrer Bewegungen. Die Verletzung der nervösen Zentren scheint lediglich auf der ver- letzten Seite eine Lähmung der zerebralen Innervation zu erzeugen (und zwar der willkürlichen, die dem Pyramidenstrang der Wirbeltiere entspricht). Indem diese Läsion die reflektorische Tätigkeit der ver- letzten Seite verstärkt, verleiht sie den Bewegungen notwendigerweise einen „Manegen-Charakter, da nur die Bewegungen der nicht-lädierten Seite durch den Willen gehemmt werden können, und infolgedessen die drei Füsse der (nicht-gehemmten) lädierten Seite die Oberhand über die entsprechenden (gehemmten) Füsse der andern Seite gewinnen. Diese Versuche sind in einer ausgezeichneten systematischen Weise von Alexander Yersin an Grillen angestelltworden (Recherches sur les fonctions du Systeme nerveux dans les animaux articules; Bull, de la Societe Vaudoise des Sciences Naturelles, Bd. I., Nr. 39—41, 1857 oder 58) und ich kann meinen Lesern nur aufs angelegentlichste das Studium dieser älteren Arbeit empfehlen. Yersin hat stets beobachtet, wie das Insekt sich nach der, der Ver- letzung entgegengesetzten Seite drehte, ob die Verletzung nun das obere Schlund-Ganglion oder eine der tiefer gelegenen Kommissuren Orientierung ausserhalb des Körpers 249 betraf. Er hat die verhältnismässige Unabhängigkeit der nervösen Zentren u. a. durch die Tatsache bewiesen, dass nach Durchschnei- dung eines Verbindungsstrangs der Kopf der Grille, welcher bei einem Krümchen Brot, das zum Fressen reizte, oder gegenüber seinem Weibchen stehen zu bleiben wünschte, durch die Füsse daran gehin- dert wurde, indem diese letzteren im Weitervorwärtsschreiten be- harrten. Wenn dann der Kopf sich mittels seiner Kiefer anklammerte, kam es auf diese Weise zu einem Purzelbaum. Trotzdem hat Yersin aber auch das Vorhandensein gekreuzter Reflexe nachweisen können. Von einem besonderen Sinn für das Gleichgewicht oder für die Beschleunigung (von Cyons vermeintlichem „Raumsinn" ganz zu schweigen) finden wir indessen bei Insekten keine Spur. Vielleicht werden diese besonderen Spezifikationen bei den Insekten einfach ersetzt durch die gewöhnliche Sensomotilität, die durch den Tastsinn usw. vermittelt wird. Ist dies vielleicht so, weil die Insekten taub oder weil sie sehr klein und leicht sind? Ich will in dieser Richtung keine weiteren Hypothesen aufstellen, sondern die Frage auf diesem Punkte ruhen lassen. Spätere Forschungen werden darüber Klarheit bringen. Dieselben Erwägungen und Tatsachen dienen auch dazu, Loebs Theorien bezüglich eines hypothetischen, geotropischen Sinnes, der unter der Herrschaft der Otolithen steht, zu widerlegen. Obwohl die Insekten einen solchen Sinn nicht besitzen, spazieren sie ebensowenig wie wir auf dem Rücken oder auf dem Kopf. B. Fähigkeit der Orientierung ausserhalb des Körpers und vermeintlicher Richtungssinn. Gehen wir nunmehr zur Orientierung im Raum ausserhalb des Körpers über, wie wir selbst sie vermittelst Tast- und Gesichtssinns fortwährend bewusst ausüben. Ich will nicht noch einmal auf das zurückkommen, was ich an- schliessend an meine Experimente über die Art und Weise gesagt habe, wie sich die Insekten nicht nur mit Hilfe ihrer Augen (dies beson- ders beim Fluge) und ihrer Fühler (dies besonders auf dem Boden), sondern auch durch Kombinierung der Wahrnehmungen verschiedener 250 Orientierung ausserhalb des Körpers Sinne und durch die Erinnerungen an ihre sinnhchen Wahrnehmungen orientieren. Ich möchte hier bemerken, dass ich den Ausdrucl^ Wahrnehmung für ein zusammengesetztes psychisches Phänomen assoziierter Emp- findungen brauche, die normalerweise durch sinnliche Originalreize, verknüpft mit Erinnerungseindrücken früherer Reize, erregt werden. Eine Wahrnehmung ist somit nie primitiv oder primordial. Sie ent- hält immer Schlüsse aus früheren Erinnerungen.^ Halluzination nennt man eine illusorische Wahrnehmung, die nur durch innere Reize auf Grund von Erinnerungen früherer sinnlicher Erregungen erzeugt wird. J. H. Fahre (Souvenirs Entomologiques, 1879) hat einige sehr interessante Versuche bezüglich dessen gemacht, was er als Richtungs- instinkt („instinct de direction") bezeichnet. Nachdem er einige Chalicodoma (Mauerbienen, ca. 272 cm lang) und andre gesellige Hymenopteren gezeichnet hatte, verschloss er sie in eine Schachtel und trug sie auf verschiedenen Umwegen in eine Entfernung von drei bis vier Kilometern ; dort gab er sie frei. Trotz der Entfernung flogen die Insekten, nachdem sie sich zu einer gewissen Höhe emporgehoben hatten, zum grössten Teil direkt nach ihrem Neste zurück, wo eine ad hoc dort von ihm postierte Vertrauensperson sie nach Verlauf einer Viertel- bis zu einer ganzen Stunde wieder eintreffen sah. Eine gewisse Anzahl von den Tierchen blieb indessen aus. Wie mir scheint, hat Fahre die Wichtigkeit dieses letzteren Umstandes unter- schätzt. Anstatt diese Tatsachen einem Richtungsinstinkt zuzuschreiben, ziehe ich selbst meine Schlüsse aus den Ergebnissen der ersten Kapitel dieses Buches und erkläre sie mir folgendermassen: Luftinsekten (ja Lufttiere im allgemeinen), die hoch über der Erde und den Gegen- ständen der Erde schweben, müssen eine ganz anders geartete Kenntnis der Örtlichkeiten haben als flügellose Tiere, eine gleichzeitig viel kompendiösere und viel umfassendere. Erdlebende Geschöpfe sehen den Horizont stets durch Hindernisse verstellt; dies erschwert ihre Orientierung durch den Gesichtssinn sehr wesentlich. Wenn wir uns ^ Siehe R. Semon: Die mnemischen Empfindungen (Leipzig 1909, W. Engel- mann), der diese ganze Frage in meisterhafter Weise analysiert hat. Einfache Empfindungen kommen überhaupt nicht vor, sondern nur Empfindungskomplexe. Diese hinterlassen Engrammkomplexe (Erinnerungsbilder), die dann durch die teilweise Wiederkehr des Reizkomplexes ekphoriert (erinnert) werden. Die Wahrnehmung besteht in einem „homophonen" Zusammenklingen des ak- tuellen Originalreizkomplexes mit den früheren ähnlichen „mnemischen", d.h. als Engramme aufbewahrten Komplexen (Forel 1909). Orientierung ausserhalb des Körpers 25 t das geographische Bild vergegenwärtigen, das wir „aus der Vogel- schau" vom Gipfel eines Berges geniessen, so erhalten wir eine ganz- schwache Vorstellung von demjenigen, was den Gesichtskreis eines luftlebenden Geschöpfes ausmacht, nur dass das letztere seinen Horizont von Augenblick zu Augenblick verschiebt und verändert, was uns selbst bei unseren schwerfälligen Bewegungen unmöglich ist.^ In zwanzig Minuten hatten die Chalicodoma von Fahre eine Strecke von mehr als drei Kilometern zurückgelegt! Sein Experiment beweist mir somit nur die sehr lehrreiche und interessante Tat- sache, dass seine Chalicodoma die Gegend zum mindesten in einem Umkreis von zirka einer Meile kannten. Diejenigen, die ihren Weg nicht fanden, waren höchstwahrscheinlich erst vor kurzem- ausgeschlüpft und hatten noch keine Gelegenheit gehabt, ihre Re- kognoszierungsreisen so weit auszudehnen. Was mich in dieser Überzeugung bestärkt, ist die Tatsache, dass die Arbeiterameisen, obwohl flügellos, gleichfalls die Örtlichkeiten und die Richtungen ia einem Umkreis von mehreren Metern um ihr Nest herum kennen. Eine Meile bedeutet aber für ein grosses Fluginsekt wie Chalicodoma gewiss nicht mehr als sechs Meter für ein armes flügelloses Ameischen. Ein Beweis hierfür ist, dass Chalicodoma in zwanzig Minuten seine drei Kilometer überquerte, während die Ameise, falls isoliert, die- selbe Zeit benötigt, um einen Raum von wenigen Metern zurück- zulegen. Hieran anknüpfend möchte ich meine eignen Worte aus „Revue de l'Hypnotisme", Juni 1893, S. 34, Vue et sens de la direction,, mit Bezug auf die Brieftauben in Erinnerung bringen. Ich sage dort: „Professor Caustier (Revue de THypnotisme, No. 1, S. 10, Juli 1892) beeilt sich zu sehr, die Frage des Gesichtssinns mit Hilfe der Erdrundung in negativem Sinn zu erledigen. Er vergisst, dass Tauben, noch mehr als Chalicodoma, in ihrem Hirn optische Erinnerungs- bilder an Orte aufspeichern, über die sie in ihren freien Flügen- hingewandert sind. Warum erheben sich Tauben zunächst zu be- trächtlicher Höhe, warum wenden sie dabei ihren Kopf nach ver- schiedenen Seiten? Warum suchen sie über den Nebel empor- zusteigen, ehe sie eine bestimmte Richtung einschlagen ? Warum ver- ^ Freilich beginnt die Luftschiffahrt hierin Wandel zu schaffen. Man kann aber bereits aus den Angaben der Luftschiffer ersehen, welchen ungeheuren geographischen Überblick sie gewinnen, was meine diesbezügliche frühere Ansicht nur bestätigt. (Forel 1909.) 252 Orientierung ausserhalb des Körpers liert eine gewisse Anzahl von Tauben den Weg? Warum besteht eine Maximaldistanz (250 bis 300 km), über die hinaus Tauben ihren Weg meist nicht zu finden vermögen? Warum ist es vorteilhaft, Probereisen nach derselben Richtung häufig zu wiederholen und da- bei die Entfernung ganz allmählich zu steigern? Sprechen nicht schon alle diese Dinge sonnenklar für eine Orientierung durch das Auge? Wenn man aber die Rundung der Erde in die Diskussion ziehen will, darf man ihre Unebenheiten, die Berge, nicht vergessen. Der Montblanc ist aus der Ebene von einer Entfernung von mehr als 200 km sichtbar. Ist nun ein Individuum im Fliegen zu einer Höhe von 300 m gelangt, so erweitert sich sein Gesichtskreis ausser- ordentlich, und auch weniger hohe Berge werden von ihm aus grös- serer Entfernung wahrgenommen. Caustier geht bei seinen Betrach- tungen offenbar von der, in meinen Augen gänzlich irrigen Idee aus, dass eine Taube nur dann ihren Weg zu finden vermag, wenn sie von der Stelle aus, wo sie aufgelassen wird, die Lokalität ihres Taubenschlages direkt zu sehen vermag. Ich hingegen nehme an, dass es genügt, dass sie höchstens irgendwelches landschaftliche Merkzeichen, das zwischen Ausgang und Endpunkt ihres Fluges ge- legen ist, erkennt. Diese Tatsachen vermindern schon die Distanz, die wir von der direkten Gesichtswahrnehmung verlangen müssen, um mehr als die Hälfte. Wer sagt uns aber, dass die Tauben, die Vögel über- haupt, nicht auch instinktmässig die Sonne und die übrigen Gestirne zur Orientierung beim Fluge heranziehen? Ferner muss noch eine weitere unbestreitbare Tatsache erwähnt werden, die Caustier ebenfalls bei der Annahme des berühmten Orien- tierungssinns ausser acht lässt; dies ist die Verkümmerung der Orien- tierungsfähigkeit beim zivilisierten Menschen. Diese Verkümmerung ist in der Tat ungeheuer, verglichen mit der Orientierungsfähigkeit z. B. des Indianers von Nordamerika, und ist vergleichbar der Verkümmerung unseres Sehvermögens gegen das der Vögel. Der Indianer hat nicht nur ein viel schärferes Auge, sondern er versteht es auch unendlich viel besser, sich in der Wildnis zu orientieren. Dies ist die Folge der Übung, die wir selbst, dank dem Kompass, dem Stadtleben, den Strassen, den Eisenbahnen etc. so stark eingebüsst haben. Beim Vogel dagegen ist nicht nur das Auge viel besser entwickelt, sondern, wie wir oben sahen, geben ihm seine Aufenthalte in den hohen Regionen der Luft und seine rasche Orientierung ausserhalb des Körpers 253 Fortbewegung eine Orientierung über die Gegend, wie wir sie uns gar nicht vorzustellen vermögen und wie sie bei uns selbst nur ganz schattenhaft vorhanden ist. Was eine Meile für Chalicodoma (das Luftinsekt) bedeutet, entspricht 6 m für die Ameise (das Erd- insekt), und 250 km für die Taube entsprechen wohl 10 km für den Menschen; durch diese Gegenüberstellung erscheint unsere Frage völlig gelöst. Man mache zur weiteren Sicherheit folgenden Versuch: Man schalte durch künstlichen Liderschluss (Ankyloblepharon) die Augen einer Taube oder einer Katze aus; dann wird man ohne weiteres sehen, dass der Richtungsinstinkt verschwunden ist, und dass diese Tiere ebenso unfähig sein werden, ihren Weg zu finden, sei es im Flug oder an der Erde, wie die Fliegen, Hummeln und Maikäfer, deren Augen ich gefirnisst hatte und die nur aufflogen, um überall gegen Erde und Wände anzustossen. ^ Wenn Bienen es nicht fertig bringen, ihren vom alten Ort entfernten Bienenkorb zu finden, so ist daran ihr schwacher Verstand schuld; ihr Auge führt sie immer wieder zu der alten Örtlichkeit zurück. Um uns die Orientierungsfähigkeit der Vögel zu erklären, bedürfen wir daher weder eines sechsten Sinns, noch der Elektrizität, noch atmosphärischer Einflüsse, wie das von Viguier (Erdmagnetismus) ^ Wie wir sehen werden, machte Cyon dieses Experiment, und zwar mit dem Erfolge, den ich vorausgesehen hatte. Romanes (Nature, 29. Okt. 1886) transportierte einen Bienenkorb in ein nahe vom Meer und mehrere hundert Meter abseits von andern Wohnstätten gelegenes Haus, das von Blumengärten und Rasenflächen umgeben war. Er öffnete das Fenster sowie den Bienenkorb, um den Bienen Gelegenheit zu geben, die unmittelbare Umgebung auszukundschaften. Am Abend nahm er die Bienen, die von ihrem Orientierungsflug zurückkehrten, und setzte sie in eine Schachtel. Am nächsten Tag Hess er den Bienenkorb geschlossen, nahm aber die Schachtel an das Meeresufer und Hess dort, höchstens 250 m vom Bienenkorb entfernt, die Bienen heraus. Keine einzige fand von hier den Weg zu dem Bienen- korb, keine einzige kehrte heim. Er wartete mehrere Tage, um sicher zu gehn, dass die Bienen wirklich verloren seien, und wiederholte hierauf das Experiment noch verschiedentlich, stets mit demselben Erfolg. Als er jedoch später das Ex- periment dahin abänderte, dass er die Bienen nur bis zum Ende des Gartens auf beiden Seiten des Hauses trug, fand er, dass sie häufig noch vor ihm bei ihrem geschlossenen Bienenkorb in seinem Zimmer angelangt waren. Romanes schloss aus diesem wohlgelungenen Experiment, dass es die Kenntnis der Örtlichkeiten und kein besonderer Richtungssinn ist, der die Bienen leitet. Der Leser sieht hieraus, wie Romanes und ich selbst im Jahre 1886 unabhängig voneinander zu denselben Resultaten gelangt sind. 254 Orientierung ausserhalb des Körpers oder Bonnet (automatisch arbeitendes kartographisches Institut in den Bogengängen) angenommen worden ist. Ich muss gestehen, dass ich eine gewisse Befriedigung fühle, wenn ich bemerke, wie sehr Exners und Cyons Versuche meine schon 1886 und 1892 ausge- sprochenen Ansichten, von denen jene Forscher keine Kenntnis gehabt zu haben scheinen, bestätigen. Cyon machte seine Experimente in Spa (Belgien). Er stellte die ausserordentliche Entwicklung des Hinterkopfes sowie der Bogengänge bei den Brieftauben fest, er schrieb aber, und zweifellos mit Recht, diese Entwicklung ihrem ungewöhnlich kräftigen Muskelsystem und der enormen Stärke ihrer Innervation für den Flug zu. Zunächst verklebte er nun die Augenlider verschiedener Tauben mit Kollodium. Diese Tiere fanden nicht einmal aus einer Entfernung von vier Schritt zu ihrem Schlage zurück. Dann nahm er einige andere Tauben, von denen er einer die Nase, einer andern die Ohren mit Kollodium und einem Pfröpfchen kokainisierter Baumwolle verstopfte. Er transportierte sie 70 km weit vom Taubenschlag weg und liess sie am Ende einer Talmulde fliegen. Die Taube mit verstopften Ohren kehrte zuerst, ja sogar früher als die normalen Tauben zum Schlage zurück. Die Taube mit verstopfter Nase kehrte erst nach vier Tagen, und zwar nach Verlust ihres Kollodiums zurück. Meiner Meinung nach legt Cyon diesem letzten Experiment allzu- grosse Wichtigkeit bei, indem er daraus Schlüsse auf eine Orientierung mittels des Geruchssinns zieht. Ist es doch nur ein einzelner Fall, dem man weitere, mit grösserer Vorsicht eingeleitete Versuche zur Seite stellen müsste. Immerhin schreibt Cyon einen Hauptanteil bei der Orientierung dieser Vögel dem Auge zu. Cyon räumt aber den Tauben auch intellektuelle Fähigkeiten ein und lenkt unsre Aufmerksamkeit diesbezüglich auf folgende Tatsachen: Eine Taube, die auf einem Umweg (c, d, e) von a nach b ge- tragen wurde, kehrt gewöhnlich auf demselben Umwege zurück. Wenn es ihr jedoch, bei d, 100 km von a, angelangt, vermittelst kreisenden Fliegens gelingt, die Richtung, wo a liegt, zu erspähen, so fliegt sie in gerader Linie d — a dorthin zurück. Häufig sieht man belgische Tauben, die nach Bordeaux transpor- tiert worden waren, längs dem Meeresufer zurückfliegen statt längs der Bahnlinie, um sich die Orientierung nach dem Norden zu er- Orientierung ausserhalb des Körpers 255 leichtern. Reynaud glaubte ein Gesetz der „Rückrichtungsspur" („loi du contre pied") aus der Orientierung der Tauben beim Zurück- fliegen herauskonstruieren zu können. Ich glaube, dass die ange- führten Tatsachen diese Hypothese genügend entkräften. Nimmt man Tauben aus demselben Taubenschlag und lässt sie, nachdem man sie in gehörige Entfernung transportiert hat, einzeln und unter Beobachtung grösster Vorsicht (dass nämlich keine von ihnen ihren Vorläufer sieht) fliegen, so sieht man, dass sie alle zunächst etwas verschiedene Richtungen einschlagen. Cyon weist ferner auf die Erziehung der Brieftauben durch all- mähliche Dressur hin und zieht hieraus, ebenso wie ich selbst, den Schluss, dass sie vermittelst Augen und Gedächtnis ihren Weg kennen lernen, so dass sie sich schliesslich auf eine Entfernung von 5 — 600 km hin zu orientieren wissen. Nur schreibt er ihrer Nase und deren Empfindlichkeit gegen Luftströmungen einen Teil der Orientierung zu und glaubt, dass die bekannte Schwierigkeit, die für Brieftauben mit dem Überfliegen der Alpen verbunden ist, mit den häufigen kalten Winden dieser Regionen zusammenhänge. Er sagt, die Taube liebt es, gegen den Wind zu fliegen, da dieser ihr Düfte entgegenträgt. Dabei aber rechnet er mit der Möglichkeit eines vom Geruchssinn unabhängigen nasalen Sinns (Spürsinn). Wir wollen ihm indes nicht weiter in diese Hypothese hinein, der jede feste Grundlage fehlt, folgen. Dagegen möchte ich hier die Anschauung von Toussenel (aus dessen „Esprit des Betes"), einem Beobachter von grosser Erfahrung, nach Fahre (Souvenirs entomologiques, 1882) zitieren: „Der Vogel Frankreichs", so heisst es dort, „weiss aus Erfahrung, dass Kälte aus Norden, Hitze aus Süden, Trockenheit aus Osten, Nässe aus Westen zu kommen pflegt. In dieser Kenntnis steckt genügendes meteoro- logisches Material, um den Vogel mit allen Hauptrichtungen, deren er bei seinem Fluge bedarf, zu versehen. Die in einem verdeckten Korbe von Brüssel nach Toulouse transportierte Taube besitzt selbstver- ständlich nicht die Möglichkeit, mit dem Auge den Plan ihrer Reise zu übersehen; niemand jedoch kann sie verhindern, dass sie, dank den auf sie einwirkenden Wärmeeindrücken, bemerkt, dass sie in süd- licher Richtung bewegt wird. In Toulouse frei gelassen, weiss sie da- her sofort, dass der Weg, der sie von hier nach dem heimatlichen Schlage zurückbringt, nach Norden führt. Daher setzt ihr Flug geraden- wegs in nördlicher Richtung ein und hält erst in denjenigen Breiten 256 Orientierung ausserhalb des Körpers an, deren mittlere Temperatur der Zone, in der die Taube heimisch ist, zu entsprechen scheint. Findet sie ihre Heimat nicht aufs erste Mal, so ist der Grund der, dass sie sich zu weit nach rechts oder links gewandt hat. Stets aber bedarf sie nur weniger Stunden des Hin- und Herfliegens in westöstlicher Richtung, um ihren Irrtum gut- zumachen. Ich selbst kannte die Anschauung Toussenels, die mit meiner eignen übereinstimmt, bisher nicht. Fahre sucht sie durch seine Katzen- und seine Chalicodoma-Versuche zu entkräften, was ihm jedoch nicht gelingt. Es hat auch keinen Sinn, Verschiedenartiges durch- einander zu mischen. Sind doch die sinnlichen und intellektuellen Zusammenhänge bei der Katze, da diese nicht fliegt, ganz anders ge- artet. Wie wir noch sehen werden, und wie schon aus meinen frü- heren Erörterungen hervorgeht, erklärt Toussenels Anschauung nicht alles, und wir können nicht umhin, in ihr gewisse Lücken zu ent- decken. Doch enthält sie ein wichtiges Element der Orientierung, ein Element, das notwendigerweise mit in Berechnung gezogen, werden muss. Noch vor Cyon hatte Exner^ Versuche andrer Art gemacht, die ich in Kürze hier wiedergeben will : Die Taube liebt ihren Taubenschlag über alles und pflegt aus grösster Entfernung dorthin zurückzukehren. Dieser Instinkt wird ausgebeutet. Es wird versichert, dass, aus einer Anzahl von Tauben, die von den Vereinigten Staaten nach London gebracht wurden, drei Stück wieder den Weg über den Ozean zu- rückfanden. Nach der Theorie von Mach-Breuer stellen die Otolithen einen Apparat dar, der dazu dient, die rektilinearen Beschleunigungen, die das Tier nach irgendeiner Richtung hin erleidet, wahrzunehmen und die Bogengänge einen Apparat, der zur Wahrnehmung derjenigen Beschleunigungen dient, die das Tier erleidet, so oft es sich irgendwie um seine Achse dreht. Exner hat nun versucht, die Orientierungs- fähigkeit der Tauben auf dieser Grundlage zu erklären. Er hat ent- sprechende Versuche gemacht, die, wie er zugibt, ihn zum Aufgeben dieser Hypothese gezwungen haben. Ich gebe seine Versuche hier wieder: Exner unternahm mit seinen Tauben einen Ausflug; dabei trug * Sigm. Exner, Negative Versuchsergebnisse über das Orien- tierungsvermögen der Brieftauben. Wiener Akad. d. Wissenschaften Math.-naturw. Kl., Juli 1893. Orientierung ausserhalb des Körpers 257 er diese in einem mit einem schwarzen Tuch bedeckten Korb, den er immerfort rüttelte oder mit grösster Schnelligkeit um seine Achse drehte. Er tat dies vom Beginn der betreffenden Eisenbahnfahrt bis zu ihrem Schluss. Drei Tauben wurden auf diese Weise fortwährend geschüttelt und gedreht, drei andre ohne diese Manipulationen in voller Ruhe transportiert. Er brachte beide Gruppen nach einem 37,7 km von Wien, jenseits des Wiener Waldes gelegenen Ort, wo die Vögel nach Ansicht ihres Besitzers nie gewesen sein konnten. Dort wurden die Tauben, jede einzeln, freigelassen, und zwar die nächste immer erst dann, wenn ihre Vorläuferin verschwunden war. Alle kehrten ganz normal zum Taubenschlag zurück. Die (nicht geschüt- telten) Kontrolltauben wurden zuerst freigelassen. An dieser Stelle möchte ich mir den Einwand gestatten, dass das Experiment unzweckmässig angeordnet war. Die Tatsache, dass unsre eignen Augen eine Taube nicht mehr zu sehen vermögen, beweist durchaus noch nicht, dass das Auge einer Taube sie nicht er- blicken könnte. Ausserdem wäre es richtiger gewesen, die ge- schüttelten Tauben zuerst zu befreien. Jedenfalls aber zeigt dennoch das Experiment, dass Schütteln und Drehen die Orientierung der Tauben in keiner Weise gestört hat. Beim zweiten Versuche drehte Exner nicht nur seine Tauben während der ganzen Fahrt im Kreise herum, sondern er galvanisierte ausserdem noch ihre Köpfe in sehr sinnreicher Weise mittels eines elektrischen Stroms. Er galvanisierte so zwei Tauben, eine alte und eine junge, und gesellte ihnen zwei Kontrolltauben, gleichfalls alt und jung, bei. Diese vier Tauben transportierte er unter gleichen Umständen wie die des früheren Experiments nach einem 54 km von Wien gelegenen und von dieser Stadt durch eine Bergkette ge- trennten Ort. Die ältere galvanisierte Taube kehrte in 3 Stunden 32 Minuten zu ihrem in Wien befindlichen Schlag zurück, die ältere Kontrolltaube erst zwei Tage später. Die zwei jungen Tauben da- gegen kehrten nicht wieder, die Kontrolltaube ebensowenig wie die galvanisierte. Die letztere verblieb am Endpunkt der Reise. Dies Experiment scheint mir ebenso lehrreich wie ausschlag- gebend, und zwar dank der Tatsache, dass die ältere gedrehte und galvanisierte Taube als erste wieder heimfand. Sehr bemerkenswert ist auch, dass die jungen, die bis dahin noch wenig von der Gegend gesehen hatten, nicht nach Hause zu finden vermochten. Diese Tauben waren auf der Hinfahrt mit einer Maske aus schwarzem Tuch Forel, Das Sinnesleben der Insekten 17 258 Orientierung ausserhalb des Körpers versehen worden, um sie am Umschauen zu hindern. Ein Kontroll- experiment mit unverkappten Tauben Hess drei von vier Tauben ver- loren gehen! Daraus geht klar hervor, dass es die Bergkette und die Fremdheit der Gegend waren, welche die Orientierung verhin- derten. Schliesslich wiederholte Exner sein Experiment, indem er Tauben nach einem nur 28,8 km entfernten und durch keine Bergkette von Wien getrennten Ort transportierte, und indem er sowohl die gal- vanisierten, wie auch die Kontrolltauben zwei Tage am Endpunkt der Fahrt ruhen liess, ehe er sie wieder freigab. Das Resultat war, dass die galvanisierte Taube als zweite (in 40 Minuten) wieder eintraf. Nun legt sich Exner die Frage vor: Sammeln die Tauben Erfahrungen auf dem Hinweg? Er narkotisierte, um diese Frage klarzustellen, zwei Tauben während der ganzen, 43 km betragenden Fahrt und be- liess sie vier Tage in Oberhollabrunn, dem Endpunkt der Reise, das durch eine hügelige Gegend von Wien getrennt ist. Darauf gab er sie und zugleich auch eine Kontrolltaube frei. Zwei von den Tauben, und zwar eine von den narkotisierten und eine normale gingen ver- loren, die andre narkotisierte aber kehrte in 4 Stunden 20 Min. zum Schlage zurück. Exner wiederholte nun sein Experiment, indem er eine noch kürzere Reise mit zwei alten und zwei jungen Tauben unternahm. Davon waren je eine alte und eine junge narkotisiert. Die zwei jungen gingen verloren; die zwei alten kehrten zurück, und zwar die narkotisierte in kürzerer Zeit als die normale. Ich kann mich nicht genug wundern, dass Exner aus so klaren Resultaten nicht den einfachen Schluss zieht, dass nur die Erfahrung und die optische Kenntnis einer Örtlichkeit der Orientierung der Tauben zugrunde liegen. Ich möchte zum Schluss den Taubenlieb- habern ein sehr einfaches Experiment vorschlagen: Man lasse verschiedene Brieftaubeneier in einem grossen Käfig ausbrüten ; dieser Käfig stehe in einem Zimmer, dessen Fenster durch einen mit starkem Mull oder ähnlichem Stoff bezogenen Rahmen ge- schlossen ist. Jedenfalls muss es ausgeschlossen sein, dass selbst eine Taube durch diese Bespannung, durch die jedoch Luft sowie diffuses Licht Zutritt haben, sehen kann. Sobald die jungen Tauben ihre Mutter entbehren können, nehme man letztere heraus. Nun werden die Täubchen in dem Käfig aufwachsen, ohne das mindeste von der Umgebung ihres Geburtszimmers zu sehen. Sobald sie die Orientierung ausserhalb des Körpers 259 nötige Kraft besitzen, trage man sie, die Köpfe fest in schwarzes Tuch gehüllt, in einem wohlverschlossenen Korb nicht 20 bis 30, sondern nur 1 bis 2 km weit fort, entferne aber vorher die Mull- bespannung vom Fenster jenes Zimmers. Wenn sie so ihren Käfig durch irgendeinen magnetischen, statischen, geotropischen oder sonst einen spezifischen Raum- oder Richtungssinn zu finden vermögen, werde ich mich diesem Zeugnis beugen und mich für besiegt erklären. Finden die Tauben unter den genannten Verhältnissen jedoch ihren Käfig nicht, so habe ich volles Recht, die Existenz jenes hypothetischen Sinnes zu leugnen und die Orientierung dem Gesichtssinn zuzu- schreiben. Zwei Vorsichtsmassregeln darf man bei dem Versuch nicht ausser acht lassen: das Fenster des Zimmers, in dem der betreffende Käfig oder Verschlag steht, muss so gelegen sein, dass der Inhalt des Zimmers aus der Entfernung direkt nicht gesehen werden kann; er muss also z. B. durch ein Haus oder einen Baum maskiert sein. Auch ist es notwendig, die Mutter während des Experiments gefangen zu halten, damit sie den Jungen nicht als Führerin dienen kann. Ich bin absolut davon überzeugt, dass die jungen Tauben, selbst bei noch geringerer Entfernung, den Weg zu ihrer Behausung nicht finden werden, und zwar aus dem einfachen Grund, weil sie ausserhalb des Zimmers, in dem sie aufgewachsen sind, keine optischen Er- innerungen besitzen. Exner hat durch sein letztes Experiment dies Element der Kennt- niserwerbung während der Hinfahrt ausgeschaltet, nicht aber die Mög- lichkeit einer früheren Orientierung und Kenntnis der Örtlichkeiten, Dies aber scheint mir der springende Punkt zu sein, auf den hier alles ankommt. Kehren wir nun noch einmal zu Fahre und zu den Insekten zurück. Vielleicht hat es ohnedies der Leser einigermassen erstaunlich ge- funden, dass ich mich bei Besprechung der Insektenorientierung so lang mit den Tauben befasst habe. Dies war jedoch absolut nötig, da man in dieser ganzen Frage falsche Wege eingeschlagen hatte. Ich glaube nun gezeigt zu haben, dass die Orientierung der Vögel in der nämlichen Weise vor sich geht wie die der Insekten, und zwar ist die Übereinstimmung eine geradezu frappante. Von da bis zu der Folgerung, dass die Bogengänge und Otolithen, die diesen letzteren 250 Orientierung ausserhalb des Körpers Tieren fehlen,^ ohne Bedeutung für die Orientierung nach aussen seien, ist nur ein Schritt (s. weiter oben meine und Yersins Experi- mente). Ein reiches Material von Tatsachen bekräftigt ausserdem, dass der Gesichtssinn für alle Lufttiere der Orientierungssinn par excellence ist, so dass jede Hypothese bezüglich eines weiteren ge- heimnisvollen Sinns dadurch überflüssig erscheint. Die einzige Klausel,, die hierzu machen wäre, ist, dass der Geruchs-, Tast- und Gehörssinn dem Gesichtssinn zur Ergänzung dienen können, eine Ergänzung, die je nach der Tierart mehr oder weniger wichtig erscheint, ja bei ge- wissen Tieren (Bombyciden^ Fledermäusen und anderen) den Gesichts- sinn an Bedeutung übertrifft. Bei Fabres oben besprochenem Experiment müssen gewisse Einzelheiten besonders beachtet werden. Von den mit Farbe mar- kierten Mauerbienen (Chalicodoma), die er in einer Schachtel 3-4 km weit forttrug, kamen meistenteils nur 30 bis 40 7o zurück. Von den 40 Mauerbienen, die er 5 km weit von ihrem Nest in einen Wald transportierte, fanden 9 ihren Weg zurück. Gewiss mag Fabres Be- merkung, dass der Druck seiner Finger einige der Mauerbienen! vielleicht verletzte, zutreffen; indes sind diese Tiere ziemlich robust und hart, und die Möglichkeit einer solchen Verletzung genügt meiner Meinung nach nicht, um die grosse Zahl der verloren gegangenen Mauerbienen zu erklären. In den meisten Fällen schlugen die Mauer- bienen, nachdem sie sich in die Luft erhoben hatten, geradenwegs die Richtung nach ihrem Neste ein, doch gab es auch einige Aus-^ nahmen, indem sich die Tiere einer anderen Richtung zuwandten. Bei dem Experiment, wo die Entfernung 5 km betrug, war der Wald von dem Nest durch einen kleinen, 100 m hohen Hügel getrennt. In einer Talmulde losgelassen, flogen bie Tierchen sofort in die Höhe,, beschrieben (ähnlich wie die Tauben) mehrere Kreise und eilten dann südwärts, dem Hügel zu, hinter dem die Stätte ihres Nestes lag. Warum aber kehrten nur 9 dorthin zurück? Hätte ein geheimer Richtungssinn sie geleitet, so wären alle, die aufgebrochen waren, dort eingetroffen. Weismann glaubt mit Recht, dass die an einer unbe- kannten und ihnen unsympathischen Örtlichkeit losgelassenen Mauer- * Das, was Graber an den Antennen der Fliegen für Otolithen hält, kann entfernt werden, ohne dass das Gleichgewicht im geringsten gestört wird. Das Organ der Sensomotilität bei Insekten muss, falls es überhaupt existiert, erst noch entdeckt werden. , ' Die Bombyciden sind Schmetterlinge, keine Hummeln. Orientierung ausserhalb des Körpers 261 bienen durch den Anblick des Hügels angezogen wurden. Einmal über diesem angelangt, dürften dann die ältesten der Gesellschaft, ^ie, welche die Gegend am besten kannten, einen bekannten Punkt und damit auch den Weg gefunden haben. Es kommt übrigens auch vor, dass Tauben zunächst nach getrennten Richtungen aufbrechen. Angeregt durch Charles Darwin, machte Fahre mit seinen Chalico- doma dasselbe Erperiment wie Exner mit seinen Tauben. Er schüt- telte die Schachteln, in denen er die Tiere transportierte, und versetzte sie in Drehbewegungen, um sie zu verwirren; auch schlug er die verschiedensten Umwege ein. Der Erfolg des Drehungsmanövers war gleich Null, denn die so behandelten Mauerbienen kamen in gleicher Menge wie die ruhig fortgetragenen zum Nest zurück. Nachdem Darwin hierauf Fahre einen Versuch bezüglich Erd- magnetismus vorgeschlagen hatte, bemühte sich letzterer, die Mauer- bienen zu desorientieren, indem er auf ihrem Rücken eine kleine Magnetnadel befestigte. Doch vertragen diese Tiere beim Fliegen weder eine Nadel noch einen Strohhalm auf ihrem Rücken, und an diesem Umstand scheiterte das Experiment. Ist es nicht äusserst bezeichnend, dass sich die ähnlichen Ver- suchen unterworfenen Mauerbienen fast genau so betragen wie die Brieftauben, ohne wie diese einen Vestibularapparat mit Otolithen zu besitzen? Man könnte geradezu von einer Miniaturausgabe des- selben Experiments sprechen! Die Grenze ihrer Bekanntschaft mit einer Gegend pflegt über 4 bis 5 km freilich nicht hinauszugehen, während die der Tauben ein Gebiet von annähernd 500 km umfassen zu können scheint; doch vermag ich in dieser Tatsache kein Miss- verhältnis zu erblicken. Albrecht Bethe.^ Bethe geht von einer vorgefassten Meinung aus. Für ihn sind die Insekten Reflexmaschinen, und jede vergleichende Psychologie eine Absurdität. Er denkt gering von all seinen Vorläufern und findet ihre Arbeiten offenbar äusserst minderwertig. Wir werden hierauf später noch zurückkommen. Hier wollen wir nur seine Experimente über die Orientierung bei Bienen und Ameisen ins Auge fassen. Doch ^ Albrecht Bethe, Dürfen wir den Ameisen und Bienen psychische Qualitäten zuschreiben? Archiv f. d. gesamte Physiologie, Bd. 70, 1898. 252 Albrecht Bethe hielt ich es für zweckmässig, gleich eingangs auf jene Eigentümlich- keit Bethes hinzuweisen, da Systeme und vorgefasste Meinungen be- kanntlich stets das Experiment beeinflussen. Im übrigen aber haben die extremen Ansichten Bethes das Gute, dass sie die Fragen in ein schärferes Licht rücken. Um mathematisch exakt zu sein, spricht Bethe nicht mehr von Gesichtssinn, Geruchssinn usw., sondern durch- weg nur noch von Photoreflex, Chemoreflex, Neststoff (statt Nest- geruch) usw. A. Bienen. Bethe fragte sich zunächst, ob es eine riechende Substanz sei (nach ihm ein „Chemoreflex", doch werde ich mir er- lauben, die alten Ausdrücke beizubehalten, da ich guten Grund habe, Bethes Terminologie zu verwerfen), die die Bienen nach ihrem Stock ziehe. Er betont, dass der Stock einen Geruch habe, den auch wir wahrnehmen, und weist darauf hin, dass das Männchen von Bombyx resp. Saturn ia (siehe oben, Geruchssinn), von weitem durch den Ge- ruch angezogen, das Weibchen mitten in einer Stadt zu finden wisse. Er glaubt, dass ein bestimmterer Nachweis dieser Tatsache die Hypo- these geistiger Fähigkeiten bei Bienen ganz überflüssig machen würde. Ich muss hierzu bemerken, dass diese Logik ein wenig naiv ist ; pflegen doch Bienen ausser dem Zurückkommen nach ihrem Stock noch verschiedentliche andre kompliziertere Handlungen zu vollführen. Bethe veränderte die Stellung eines Bienenstocks (A), doch nur, indem er ihn um die Breite eines Stocks fortrückte, und setzte an die vorherige Stelle einen leeren Stock (B), der infolgedessen dem A dicht benachbart war. Die vom Felde zurückkehrenden Bienen flogen nun direkt zum Eingang von B (der an Stelle ihrer alten Behausung A stand). Sie drangen in den leeren Bienenstock ein, fanden nichts darin, flogen hinten wieder hinaus, kamen dann wiederum zum Flug- loch zurück und so fort, der typische circulus vitiosus. Die in A befindlichen Bienen verliessen ihren Stock nur zögernd und schüchtern ; einige flogen fort, zeigten jedoch eine gewisse Ver- wirrung über die Neuheit der Lage des Flugbretts. Nach zehn Minuten waren indes eine ganze Menge abgeflogen. In diesem Augenblick kam die erste Biene wieder zum Flugloch von A, statt jedoch einzutreten, lief sie, mit den Flügeln schwirrend, über das Flugbrett, was andre ihr nachmachten. Den Stock selbst betrat keine, einige flogen nach der Türe von B. Nach weiteren 20 Minuten war ungefähr V20 der Bienen zu A, die übrigen zu B geflogen. Schliesslich entdeckte eine der in den leeren Stock B hineingeratenen Bienen beim Suchen und Albrecht Bethe 263 Herumstöbern einen Spalt, der den Durchtritt nach dem Stock A gestattete. Andere folgten dieser Entdeckerin und bald hatte sich eine ganze Reihe gebildet, die von Stock B nach A hinüberwandelte. Bethe schliesst hieraus mit Bestimmtheit, dass es chemische Spuren sind, welche die Bienen leiten, wenigstens beim Gehen, dass sie aber auch beim Fliegen von einer chemischen Substanz dirigiert werden, insofern mehrere neue Ankömmlinge sofort zu A flogen, weil, so schliesst er, die aus A ausgeflogenen Bienen ihren Geruch (chemische Spur) auf dem Flugbrett zurückgelassen hätten. Ich selbst kann diesen Schlussfolgerungen schon deshalb nicht zustimmen, weil ich auf Grund mehrfacher Versuche (s. oben bei Plateau) den schwachen Geruchssinn der Bienen erkannt habe. Erst- lich konnten die Bienen, die ihren Gefährten gehend von einem Stock zum andern folgten, dies ebensosehr unter dem Einfluss des Gesichts- sinns wie des Geruchssinns getan haben (tun sie solches doch auch bei abgeschnittenen Antennen), und dies genügt schon, um Bethes „Be- stimmtheit" mit einem Fragezeichen zu versehen. Ferner waren die Bienen, die zu A flogen, zweifellos mit denen identisch, die von A herge- kommen waren, und hatten durch das Auge die Richtung wieder- gefunden oder andere Bienen bei diesem Stock gesehen; ja man kann dies aus unsern Experimenten (s. Studie Plateau) direkt be- weisen. Doch erkennt Bethe schliesslich selbst die Undenkbarkeit einer chemischen oder Duftspur in der Luft, die ja doch durch jeden Wind- hauch verweht werden würde. Bethe drehte ferner einen Bienenstock 90° um seine Achse. Die zurückkehrenden Bienen flogen nun zu der Stelle, wo das Flugloch bisher gewesen war, setzten sich dann auf das Dach des Stocks und schwirrten mit den Flügeln, sie „heulten". Längere Zeit ging hin, ehe sie das umgesetzte Flugloch entdeckten, und auch dann fanden sie es nur im Gehen, trotzdem sie andere Bienen herausfliegen sahen. Nun stellte Bethe seinen Stock auf eine Scheibe, die er wagerecht mit beliebiger Geschwindigkeit drehen konnte, und liess ihn so binnen einer Viertelstunde eine Wendung von 90° in der Richtung von Ost zu Süd beschreiben. Bei 30° Wendung gingen die Bienen noch ziem- lich direkt, ohne anzuhalten, nach dem Flugloch; doch bei 45° Wen- dung nach Ablauf von sieben Minuten begannen sie vor dem Ein- schlüpfen mit den Flügeln zu schlagen, wodurch vor dem Flugloch eine gewisse Zusammenknäuelung entstand; immerhin wichen die 264 Albrecht Bethe Bienen in ihrer Gesamtheit mit nach Süden ab. Je weiter aber die Drehung des Stockes vorschritt, desto dichter wurde der Schwärm, der sich ansammelte, desto weniger Bienen fanden ihren Weg bis zu dem von ihnen abgerückten Flugloch. Bei 90® Drehung war der Schwärm ein sehr ansehnlicher geworden und nur wenige Bienen drangen jetzt noch bis zum Flugloch durch. Einige setzten sich auf den Gipfel des Stocks und erreichten den Eingang von dort zu Fuss. Die grössere Zahl flog im Schwärm in einer mittleren Rich- tung von 45° (zur ursprünglichen Stelle des Fluglochs). Bewerk- stelligt man die Drehung des Stocks in etwas langsamerem Tempo, also 20 Minuten für 90^ so folgt der Schwärm der Drehung etwas besser (sogar recht gut bis zu 45^), doch bei 135** fand kaum eine einzige Biene das Flugloch. Ein noch langsameres Manövrieren änderte an diesem Resultat nichts. Bethe war nicht imstande, den heranflie- genden Schwärm mehr als 45° von der ursprünglichen Flugrichtung abschwenken zu lassen. Nachdem Bethe den Stock während vier bis fünf Stunden in einer Drehung von 45° zur ursprünglichen Stellung belassen hatte, drehte er ihn plötzlich wieder in die normale Lage zurück. Es zeigte sich bald, dass die Bienen, die sich allmählich ge- wöhnt hatten, in dem Winkel von 45° (also in südöstlicher Richtung) zu fliegen, diese Richtung noch eine gewisse Zeit lang innehielten, wobei sie aber im letzten Augenblick eine Schwenkung nach rechts machten, um das Flugloch zu gewinnen. Dieser Flug nach Südost und diese plötzliche Schwenkung fanden jedoch nicht statt, wenn er den Stock nach nur sechs oder sieben Minuten der Umsetzung in die normale Stellung zurückbrachte Nun kommt es noch besser. Bethe schob seinen Stock um 50 cm weiter rückwärts. Jetzt flogen die Bienen nach der Stelle, wo erst das Flugloch war und beschrieben dann Drehungen in der Luft. Sie mussten dabei direkt an der Front ihres Stockes hinfliegen und einige von ihnen traten auch in ihn ein. Immerhin bildete sich dort, wo die Tür zuvor gewesen war, ein gewisser Auflauf von Bienen. Setzte er den Stock um zwei Meter weiter zurück, so fand kaum eine einzige Biene das Flugloch, statt dessen bildete sich ein riesiger Schwärm in der Luft an genau derselben Stelle, wo früher das Flug- loch gewesen war, das heisst also, zwei Meter vor der jetzigen Front des Stockes. Allerhöchstens kam es vor, dass alle zwei bis drei Minuten eine einzelne Biene das wirkliche Flugloch entdeckte. Sämt- liche übrige Bienen flogen in Kreisen von 0,20 bis 2,5 m Durch- Albrecht Bethe 265 messer am früheren Standpunkt des Stocks in der Luft herum. Setzte man aber den Stock an die alte Stelle, so stürzte sich der ganze Schwärm mit Gier darauf zu. Stellte man statt dessen eine leere Kiste mit Öffnung an die Stelle des originalen Fluglochs hin, so kamen die Bienen gleichfalls heran und betraten die Kiste in einer mehr oder weniger zögernden Art und Weise. Dieser Trick ist üb- rigens allen Bienenvätern bekannt und wird von ihnen angewendet, so oft sie die Bienen zum Betreten eines neuen Stockes zu veran- lassen wünschen. Stellte man nun den Stock weiter vorwärts statt rückwärts auf so kam es ganz darauf an, in welchem Niveau die Bienen angeflogen kamen. War dies Niveau ziemlich horizontal, so konnte man den Stock mehr als einen Meter nach vorn rücken, ohne die Bienen am Einfliegen zu verhindern. Kamen die Bienen aber in steiler Richtung an, also in einer Linie, deren Endpunkt, nach Vorwärtsrücken des Stocks, sich 1 bis 2 m hinter demselben befand, so verfehlten die Bienen den Stock und versammelten sich in einem Schwärm hinter demselben, an der früheren Stelle des Fluglochs, ebenso wie sie zu- vor sich weiter vorn versammelt hatten, im Vorbeigehen die Be- merkung, dass dies als ein guter Beweis für den Einfluss des stür- mischen Anlaufes und des Qesichtsvorstellungsbannes gelten kann, unter dem sich die Biene beim Heimflug zu befinden pflegt. Nahm man das Verrücken des Stocks langsam und allmählich vor, so machte dies keinen Unterschied in dem schliesslichen Re- sultat. Der Schwärm bildete sich in ebensolcher Weise vor oder hinter dem Stock, stets an der Stelle, wo das Flugloch früher ge- wesen war. Höchstens war die Zahl der Bienen, die das Flugloch fanden, etwas grösser. Bethe fügt hier wieder hinzu, dass die Bienen, deren Fühler er abgeschnitten hatte, trotzdem aus einer Entfernung von 25 bis 30 m geradenwegs nach ihrem Stock flogen (ein Resultat, das sich mit den meinigen völlig deckt). Aus diesen Experimenten schliesst Bethe, dass der Neststoff keine vorwiegende Rolle bei dem Vorgang des Heimfindens der Bienen spielen kann. Etwas muss sie leiten, das unabhängig vom Stock ist. Dieses Etwas führt sie nicht zu dem Stock, sondern zu dem Platz im Räume, wo ihr Stock bis dahin stand. Das Geräusch oder das „Heulen" der andern Bienen (mit andern Worten der Gehörssinn) leitet sie nicht, sonst müssten sie dem weggerückten Stock folgen, in dem ihre Gefährten sich vernehmlich machen. 266 Albrecht Bethe Wir werden auf diesen Punkt noch zurückkommen. Bethe glaubt ferner beweisen zu können, dass es auch nicht Qesichtserinnerungen sind, welche die Bienen leiten. Das Folgende sind seine Experimente nach dieser Richtung: Ein Stock wurde mit der Front nach Osten aufgestellt, und die Bienen flogen naturgemäss beim Hin- und Rückflug in östlicher (resp. in umgekehrter) Richtung. Nach mehreren Tagen stellte nun Bethe den Stock mit der Front nach Süden auf (indem er ihn um 90*^ drehte). Noch einige Monate nach dieser Änderung aber flogen die Bienen stets nach Osten. Der Stock war von 6 m hohen Platanen umgeben, wovon die im Osten und Süden des Stocks in einem Ab- stand von 6 m von diesem standen. Im Nordosten und Osten be- fanden sich zwei freie Zwischenräume, die von den Bienen bei ihrem ostwärts gerichteten Fluge benützt wurden. In der Idee, dass diese freien Stellen vielleicht die Ursache jener Flugrichtung gewesen sein könnten, brachte Bethe einen grossen dunkelbraunen Wandschirm, 3 m breit und 2V2 m hoch, derartig an, dass er den genannten Zwischenraum verstellte. Die Bienen Hessen sich hierdurch gar nicht stören, sie flogen meist einen Meter hoch über den Schirm hinweg, und dies sowohl beim Ab- als auch beim Heimfliegen. Bethe glaubte schliessen zu können, dass die Bienen den Schirm erst aus einer Nähe von IV2 m erblicken konnten und dass ihr östlicher Flug instinktiv stattfand. Meiner Meinung nach gestatten die Tatsachen diesen Schluss keineswegs, hauptsächlich, weil so viele andere Faktoren mit in Betracht kommen, besonders der ganz alltägliche, dass die Bienen es liebten, an jenen östlich gelegenen Stellen zu fouragieren, und ganz auto- matisch (wie wir selbst) ihrer alten Gewohnheit folgten, nach dieser Richtung hin abzufliegen, auch wenn sie dabei das durch den Schirm gebildete Hindernis zu umgehen hatten. Bethe prüfte das Fabresche Drehungsexperiment, ja sogar — und zwar mit Erfolg — das von Darwin vorgeschlagene mit der mag- netischen Nadel nach. Weder das Drehen noch die auf dem Rücken angebrachte Magnetnadel verhinderte die Bienen, ihren Weg zu finden. Dieses Resultat war von vornherein zu erwarten. Auch wiederholte Bethe mein eigenes Experiment des Firnissens der Bienenaugen und beobachtete dabei ebenso wie ich ihr jähes Emporfliegen und die Unfähigkeit zur Orientierung. Er findet sich jedoch schnell mit dieser Tatsache ab, indem er das Licht für den erregenden Reiz erklärt, der diese Tagesinsekten zum Fluge veranlasst und dabei den Flug Albrecht Bethe 267 reguliert. Die Tatsache, dass die geblendeten Insekten sich nicht mehr zu dirigieren wissen, beweist für ihn „gar nichts". Ich sehe mich indes gezwungen, gegen diese Behauptung, die ebenso kühn wie willkürlich ist, aufs lebhafteste zu protestieren. Sie beruht auf einer ganz falschen Voraussetzung. Plateau und ich haben gezeigt, dass Schlammfliegen (Eristalis), Maikäfer, Noctua- Arten und andere Insekten trotz gefirnisster Augen spontan wegfliegen, jedoch unfähig sind, sich im Flug zu dirigieren. Diese einfache Tatsache widerlegt ohne weiteres die Behauptungen und Argumente Bethes. Was heisst übrigens den Flug zu „regulieren" (Bethe) anders als sich im Flug zu „orientieren"? Es ist ein Spiel mit Worten und weiter nichts. Was tat Bethe nun? Er stellte einen Bienenstock, 2 m von einer Platane entfernt, auf einem Tisch, jedoch verhüllt, auf. Die Bienen flogen in ost-nordöstlicher Richtung. Dann stellte Bethe in einer Entfernung von 1,50 m von diesem Stock einen zweiteiligen, 2,50 m hohen Schirm im Winkel auf, und zwar so, dass sich dessen, je 2,5 m breiten Teile im Westen und Süden des Stocks befanden. An dem Schirm brachte er einige farbige Taschentücher an. Darauf bedeckte er den Tisch und den Stock mit grünen Zweigen und klebte blaues Papier auf die gelbe Vorderseite des Stocks. Die zu dem Stock zurückkehrenden Bienen zögerten nur einen Moment und bil- deten auf diese Weise einen leichten Schwärm. Von da ab aber flogen sie ohne Zögern zum Flugloch des Stocks. Darauf legte Bethe sechs Quadratmeter weisses Papier auf den Rasen vor dem Stock. Nun wurden die Bienen erregt und flogen zögernd über den Stock hinweg. Er ersetzte das weisse Papier durch blaues, wo- rauf sie sich beruhigten. Bethe erklärt diesen Vorfall damit, dass die Bienen die grosse weisse, von der Sonne beschienene Fläche scheuten. Dies alles beweist nun gar nichts oder höchstens, dass wir Bethe gegenüber im Rechte sind. Es ist nicht zutreffend, dass die Bienen das Weisse scheuen ; habe ich doch selbst gesehen, wie sie in voller Sonne in Menge auf weissem Papier, ebensogut wie auf blauem, Honig aufsuchten. Auch jene Bienen, die zu meinen maskierten (bedeckten) Dahlien kamen, verstanden es sehr gut, ohne Zögern die betreffenden Stellen wiederzufinden. Auch uns würde der Umstand, dass man unser Haus mit Bäumen verdeckte und einen riesigen Schirm davor aufstellte, nicht abhalten, es wiederzufinden — vorausgesetzt, dass 268 Albrecht Bethe man es nicht ganz weggetragen hätte. Man muss sehr wenig von der Psychologie der Biene und ihrer Anpassung an das Flugloch ihres Stocks, der ihr alles bedeutet, wissen, um irgendein andres Resultat zu erwarten. Die Subjektivität Bethes zeigt sich noch in folgendem Vorgang: Nachdem er die Aufregung seiner Bienen durch Ersetzen der weissen Papierfläche durch eine blaue „beruhigt" haben will, regt er sie von neuem auf, indem er die blaue durch eine rote ersetzt. Er glaubt felsenfest an ihre Neigung zum Blau und an ihren Widerwillen gegen Weiss und Rot. Ich bemerke hier nur diese Tat- sache, ohne mich weiter damit zu befassen, habe ich doch durch meine eignen sowie durch Plateaus Versuche zur Genüge bewiesen, dass diese Anschauung auf purer Einbildung beruht. Bethe erkannte ferner, dass bei verschiedenen Anlässen (Aufstel- lung eines die Sonne reflektierenden Spiegels, Auflegung von neuem Papier, sei es rot oder weiss, um den Stock) die Bienen in Verwir- rung gerieten und sich vor dem Flugloch zu einem Schwärm versammelten, ehe sie einflogen. Er erklärt diese Erscheinungen sämtlich aus dem Geruchssinn und lehnt es ab, das veränderte Aussehen des Fluglochs und seiner Umgebung für das Zögern der Bienen verantwortlich zu machen. Ich zweifle keinen Augenblick, dass diese von ihm beschriebenen Ereignisse sich ganz so verhielten, und behaupte sogar, dass man sie genau so hätte voraussehen können ; sie beweisen aber keineswegs das, was Bethe damit beweisen will. Diese Beobachtungen zeigen uns im Gegenteil, dass ein starker und auffälliger Wechsel in der Farbe genügt, die Bienen zu desorientieren, ja sie sogar über den Eingang zu ihrem Stock, den sie am besten von allen Dingen kennen, irrezuführen. Einige Stöcke, die weiter östlich standen, wurden von einer 7 m hohen, direkt vor ihnen stehenden Platane beschattet. Bethe fällte diese am 14. Juni 1897 um 10 Uhr 30 Minuten vorm., während die meisten der Bienen auf Beutezügen abwesend waren. Bei ihrer Rück- kehr flogen diese geradenwegs und ohne zu zögern quer über die offene Stelle, wo früher, ja bis zu diesem Augenblick, die Platane gestanden hatte, durch das Flugloch in ihren Stock hinein, während sie früher stark in die Höhe steigen mussten, um die Platane zu überwinden. Diese Tatsache ist zweifellos von Interesse. Da indes der Stock seine Stellung nicht gewechselt hatte, ob auch der Baum fehlte, so ist sie schliesslich nicht gar so erstaunlich. Bethe glaubte damit das Ortsgedächtnis bei Bienen gründlich widerlegt zu haben. Ich leugne Albrecht Bethe 269 dies. Die Tatsache, dass ein grosser Baum, der bisher eine Hütte, zu der wir den Weg kennen, verdeckte, von seinem Orte verschwand, hindert uns nicht, geradenwegs zu dieser Hütte zu gelangen — eher das Gegenteil. Nun glaubt Bethe von seinen Experimenten mit dem nach hinten gerückten Stock schliessen zu müssen, dass die Bienen den weggerückten Stock nicht sahen, und dieser falsche Schluss zieht nun neue Irrtümer nach sich. I c h glaube dagegen, sie sahen den Stock recht gut, nur waren sie von anderen Dingen praeokkupiert. Ihre Aufmerksamkeit war von der Erinnerung an den früheren Stand- ort des Stocks in Anspruch genommen, und deshalb suchten sie ihn so hartnäckig an der alten Stelle. Und ebensowenig bezweifle ich, dass die Bienen des Verschwinden der Platane bemerkten, je- doch war ihnen dieser Baum höchst gleichgültig, ja vielleicht be- lästigte er sie durch seine Stellung mitten im Wege sogar ein wenig. Ihre Aufmerksamkeit war ganz und gar auf ihren Stock gerichtet, und dieser Stock war nicht entfernt worden, er stand an seiner Stelle, gerade vor ihnen, am Ende ihrer Flugbahn. Da Bethe eine Psycho- logie der Insekten nicht gelten lassen will, so versäumt er es natür- lich, solche Umstände in Betracht zu ziehen. Ein Mensch würde unter den Verhältnissen wahrscheinlich stehen geblieben sein und sich den Grund der unerwarteten Veränderung überlegt haben. Eine Biene aber ist immerhin kein Mensch, und ihre Überlegungen sind einfacherer Art. Sie hat keine Zeit zu verlieren und assoziiert nur diejenigen Erscheinungen, die direkt mit ihren Bedürfnissen und ihren Instinkten in Verbindung stehen. Das war aber bei Bethes Platane und ihren Beziehungen zum Rückweg nach dem Stock nicht der Falk Bethe nahm darauf die Experimente von Romanes, die ich weiter oben in einer Anmerkung erwähnt habe, seinerseits auf, indem er sie etwas modifizierte. Auf der einen Seite von Bethes Garten liegt die eigentliche Stadt Strassburg, wohin Bienen seiner Ansicht nach nie- mals fliegen; auf der anderen dagegen die Festungswerke mit ihren von Blumen und Bienen wimmelnden Wiesen. Bethe nahm nun markierte Bienen und trug diese zu wiederholten Malen entweder nach der Stadt oder nach den Festungswerken, 350, 400, ja bis zu 600 m von dem Stocke weg. Sie kehrten stets zurück, und das ebenso aus der Stadt wie aus den Festungswerken. Die Bienen flogen, wenn er sie losliess, erst spiralförmig nach oben, um dann geradenwegs in der Richtung ihres Stocks zu verschwinden. Von sechs Bienen die er in einer Strasse mit hohen Häusern losliess, flogen vier nach der richtigen Seite, 270 Albrecht Bethe eine nach einer falschen und eine war unsicher. Acht Stück, die er ein andermal losliess, flogen sämtlich richtig usw. Bethe glaubt, dass diese Orientierung vorhanden war, noch ehe die Bienen die Dächer der Häuser erreicht hatten, folglich ehe sie sich durch Umschauen zurecht finden konnten. Dieser Vorgang, der in der Tat verblüffend erscheint, hat mich, wie ich gestehe, zunächst stutzig gemacht. Als ich aber näher über ihn nachdachte, und da ich Strassburg mit seinen engen Strassen recht genau kenne, legte ich mir zwei bezügliche Fragen vor: Wie können Bienen in einer engen Strassburger Strasse die genaue Richtung ihres an der Peripherie der Stadt befindlichen Stocks einschlagen, noch ehe sie die Höhe der Dächer erreicht haben? Eine Strasse hat nur zwei Richtungen. Wählte nun Bethe Strassen, die ganz gerade waren und die senkrecht auf seinen Bienenstock zu- liefen? Darüber sagt er nichts. Ferner hat er mich nicht genügend davon überzeugt, dass seine Bienen eine Stadt wie Strassburg, wo es doch genug Blumen, Bäume, Zucker und Honig, kurz genug An- ziehungsmittel für sie gegeben haben mag, nie besuchten. Jedenfalls sind seine Resultate so widerspruchsvoller Art, dass eine genaue Be- stätigung vonnöten ist. Meiner Ansicht nach ist das Experiment von Romanes viel ausschlaggebender und besser durchgeführt als das von Bethe; es lässt infolge grösserer Vorsichtsmassregeln keine willkür- lichen Deutungen zu. Der Bienenstock, den Romanes benützte, war (ein wichtiger Umstand) soeben erst neu in seinen Garten gekommen. Etwas räumt schliesslich Bethe dem Gesichtssinn doch ein: er zeigt, dass ein viereckiges Stück schwarzes Papier von den Bienen für das Flugloch ihres Nestes gehalten wird, und dass sie es infolge- dessen aufsuchen, während sie von weissem oder buntem Papier verscheucht werden. Er gibt ferner 3 km (rund gerechnet) als die grösste Distanz an, aus der Bienen ihren Stock wiederzufinden ver- mögen. Seiner Ansicht nach waltet hier eine geheimnisvolle Macht, die bis zu dieser Entfernung hin von dem Stock ausgeübt wird. Auf Grund seiner Experimente stellt darum Bethe auch auf, dass eine „völlig unbekannte Kraft" und nicht Gesicht, Geruch oder Magne- tismus die Biene zu ihrem Stock zurückführt. Bethe führt des weiteren noch einige interessante Tatsachen an: Wenn er einen Stock um nur 20 bis 30 cm pro Tag nach hinten rückte und ihn, wenn sich ein kleiner Schwärm vor dem Eingang gebildet hatte, einen Tag lang stehen liess, so konnte er den Stock auf diese Weise bis zu 4 m weit nach hinten rücken, ohne dass die Albrecht Bethe 271 Bienen zu der Stelle, wo das Flugloch sich früher befunden hatte, zurückkehrten. Wenn ein Stock im Herbst umgesetzt und irgendwo in der Nach- barschaft (etwa 3 km entfernt) aufgestellt wurde, kehrten im folgenden Frühjahr die Bienen nicht zu dem früheren Standort ihres Stocks, sondern gleich von vornherein zu dem jetzigen zurück. (Wo blieb jetzt die geheimnisvolle und unbekannte Kraft? Hätte nicht Bethe vielmehr aus diesem Vorkommnis schliessen müssen, dass die Bienen während des Winterschlafs ihre alten Luftrouten vergessen hatten und einer neuen Orientierung zugänglich waren?) Wenn man einen Stock über Nacht eine Drehung von 90^ machen lässt, und wenn auf dieses Manöver mehrere Regentage folgen, so kann man am ersten sonnigen Tage einen dichten Schwärm zurück- kehrender Bienen vor dem Stock bemerken. Bald jedoch finden sie ihren Weg nach dem Flugloch und nach wenigen Tagen schon fliegen sie direkt zu demselben hin. (Ist dies nicht ein Zeichen, dass die Erinnerung an die früher eingehaltene Richtung und der da- raus hervorgehende automatische Vorstellungsbann der früheren Lage des Fluglochs während der Gefangenschaft mehrerer Regentage sich abgeschwächt hatten? Die Stauung am alten Platz findet zwar statt, aber nicht so lange, als wenn die Bienen gleich nach der Umdrehung des Stocks ausfliegen.) Dieselbe Wirkung erzielt man an sonnigen Tagen, wenn man den Stock nur um wenige Grade täglich dreht; Bethe drehte einmal seinen Stock in dieser Weise ganz langsam von Osten nach Süden, liess ihn fünf Wochen lang so stehen und wendete ihn dann plötzlich wieder nach Osten. Die vom Felde heimkehrenden Bienen flogen dann zunächst nach Süden, bildeten einen leichten zögernden Schwärm, kehrten dann aber bald im Bogen zum Flugloch, also nach Osten, zurück. Die Schwarmbildung unterblieb sehr bald, doch flogen die Bienen noch eine Weile nach Süden und suchten von dort aus ihr Flugloch, im Bogen fliegend, auf; dieser Bogen wurde noch mehrere Wochen lang, jedoch immer kleiner und kleiner werdend, beschrieben. Diese sehr hübsche Beobachtung lässt sich, meiner Meinung nach^ leicht erklären. Zuerst fliegt die Biene, dem alten gewohnten Auto- matismus folgend, zum alten Platz. Je öfter korrigiert, desto kürzer und geringer braucht aber der korrigierende Augenblick der Aufmerk- samkeit zu sein. Beobachten wir doch ganz ähnliche Erscheinungen bei uns selbst. Die Gewohnheit, nach Süden zu fliegen hatte nur 272 Albrecht Bethe fünf Wochen gedauert. Ihr war eine „Gewöhnung nach Osten" voran- gegangen, und dank dieser hatte die kurze Aufmerksamkeit, die von dem Anblick der türlosen Wand hervorgerufen ward, genügt, die Bienen in ihre alte Gewöhnung, die noch nicht ganz vergessen war, zurückfallen zu lassen, statt sie einer so vollkommenen Desorien- tierung zu überliefern, wie sie in den früheren Experimenten geschil- dert wurde. Es steckt in diesem letzten Versuche ein leuchtendes Pröbchen von Insektenpsychologie, eine Psychologie, die stark an unsre eignen unterbewussten Zustände, z. B. auch an unsre somnam- bulistischen Automatismen erinnert. Bethe hat ausserdem noch andre interessante Beobachtungen ge- macht, die ihm auf den ersten Blick recht zu geben scheinen. Oben habe ich schon seine Erfahrung an der gefällten Platane wieder- gegeben. Seine weiteren Beobachtungen mögen mit seinen eignen Worten hier folgen. „Ich habe berichtet, dass die heimkehrenden Bienen, nachdem ich die hohe Platane vor den Bienenständen hatte abschlagen lassen, sofort die Stelle, an der sie gestanden hatte, gerad- linig durchflogen, anstatt wie vorher senkrecht in Schraubenlinien herabzukommen. Ganz anders verhielten sich die fortfliegenden Bienen. Sie schraubten sich nach dem Fall des Baumes eben- so senkrecht in die Höhe, als wenn der Baum noch da- gestanden hätte." Bethe singt sich hierauf selbst eine Siegeshymne und ist der festen Überzeugung, dass er mit diesem Versuch aufs neue allen Einfluss der Gewöhnung widerlegt, die geheimnisvoll-un- bekannte, in der Rückkehr zum Stock waltende Kraft dagegen wieder- um glänzend bestätigt habe. Analysieren wir dagegen einmal die vorliegenden Tatsachen. Die Biene, die ihren Beutezug beendet hat, hat nur eine einzige Idee im Kopf: das ist, so schnell wie möglich zum Flugloch ihres Stocks zu gelangen. Diese Idee treibt sie dazu, alle Ecken abzu- schneiden, um die kürzeste Linie, die berühmte Bienenlinie, zu finden und ihr einzig ersehntes Ziel zu erreichen. Kommt sie dann erst in die Nähe und sieht sie direkt die bezügliche ihr bekannte Stelle des Raumes, so fliegt sie schnurgerade hin. Der Fall der ausziehenden Bienen ist dagegen ein völlig verschiedener. Zweifel- los spielt auch hier gewöhnlich eine Hauptrichtung mit, nach der sie ausziehen, nämlich die Richtung nach den Plätzen hin, wo sie ge- wohnt sind, passende Blumen zu finden. Doch sind im flachen Lande diese Plätze je nach den Jahreszeiten verschieden und somit Albrecht Bethe 273 auch die Richtung, welche die Biene beim Abflug einschlägt. Ich kann dies bestätigen, denn ich beobachte es hier in meiner eigenen Umgebung. Ein Feld blühenden Rapses, das im Nordwesten liegt, lässt sie nordwestwärts fliegen usw. Ferner steht es der abfliegenden Biene frei, an verschiedenen Plätzen Beute zu suchen, und sie hegt daher beim Ausflug noch keine unabwendbare Idee bezüglich der Richtung nach einem einzelnen Punkt. Daher erhielt sich auch bei ihr, in Ermangelung eines bestimmten entgegenwirkenden Impulses, die alte automatische Gewohnheit, sich zunächst im Kreise um die früher dagewesene Platane herum emporzuschrauben. Bethe wundert sich weiterhin, dass die Bienen eines neuen Stocks, der von weit hergebracht und in der Nähe eines Hauses aufgestellt worden war, sich beim Abflug erhoben hätten und dann nach Süden zu abgeflogen, aber später aus Osten wiedergekommen wären. Auch darin erblickt er wieder das Walten seiner geheimnisvollen Kraft; ich aber sehe hier nur die ausserordentliche Fähigkeit dieser Tiere, sich vermittelst ihrer Augen im Räume zu orientieren. Schliesslich trug Bethe einige Bienen in Schachteln ziemlich weit von ihrem Stock weg, um zu sehen, ob sie diesen von dort aus wiederfinden würden. Diejenigen Bienen nun, die, nachdem sie zu beträchtlicher Höhe aufgestiegen und dort im Kreise herumgeflogen waren, sich nicht weiter zu dirigieren vermochten, Hessen sich stets an genau derselben Stelle nieder, von wo sie aufgestiegen waren, kaum, dass sie sich um einige Zentimeter irrten. Die Bienen flogen von der Schachtel ab, die Bethe in der Hand hielt; nach ihrem Ab- fliegen änderte dieser seine Stellung. Nun kamen die Bienen wieder und kreisten in der Luft genau über der Stelle, wo Bethe zuvor mit der Schachtel gestanden (in einem andern Fall genau über der Stelle einer Wiese, wo die Schachtel, von der sie abgeflogen waren, sich befunden hatte). Diese Tatsachen sind jedenfalls sehr interessant und zeigen, über jeden Zweifel erhaben, dass die Bienen eine aussergewöhnliche Fähigkeit besitzen, irgendeinen gegebenen Punkt im Räume wiederzufinden. In den letztbeschriebenen Fällen besassen die Bienen, die sich voll- ständig in der Irre und ausserstande sahen, ihren sehr entfernten Stock aufzufinden, nur eine einzige mit dem ihnen sichtbaren Raum assoziierbare Erinnerung, und zwar diejenige an den Ort, wo man sie losgelassen hatte. Es kann uns deshalb kaum wundernehmen, dass sie in diesem Falle, nachdem sie den vergeblichen Versuch ge- Forel, Das Sinnesleben der Insekten 18 274 Albrecht Bethe macht hatten, sich in der Luft zu orientieren, dorthin zurückkehrten und dort dieselben Luftkreise beschrieben, die sie sonst vor der Tür ihres etwas verstellten Stocks zu machen pflegen. Die Orientierung der Bienen im Raum ist in ihrer Sicherheit und Schnelligkeit wirklich erstaunlich. Die Gegenstände selbst, sofern sie nicht besondere anziehende Eigenschaften besitzen, interessieren sie dabei viel weniger als ihr bestimmter Platz im Raum, den die Tier- chen kennen und wiedererkennen. Diese Eigentümlichkeit geht auch aus den Experimenten, die ich im Anschluss an Plateau zitiert habe, hervor. Haben wir nun nach all dem Gesagten Ursache, den Bienen eine von den Sinnen und besonders vom Gesichtssinn unabhän- gige geheimnisvolle Kraft zuzuschreiben? Ich glaube es nicht. Ich möchte das, was ich bezüglich der Tauben geäussert habe, nicht wiederholen, aber dennoch das Augenmerk des Lesers nochmals auf einen ganz bestimmten Punkt lenken : Wir Menschen mit unserer lang- samen, am Boden haftenden Bewegungsweise sind wohl ganz ausser- stande, zu verstehen (das heisst zu fühlen, uns vorzustellen), was die Orientierung durch das Auge bei einem luftlebenden Tier und bei dessen schnellem Flug, bei all den unzähligen und rapiden Ortsver- änderungen, die dessen Lebensweise mit sich bringt, bedeutet.^ Bethe und viele andre Forscher gleich ihm vergessen, dass, um die Lei- stungen eines Sinns zu bestimmen, es durchaus nötig ist, nicht nur die Zahl seiner Elemente und seine Schärfe zu prüfen, sondern auch die Art und Weise, wie er vom Gehirn des betreffenden Tieres verwertet wird. Ein Auge, das wie jenes der luftlebenden Insekten über die Lüfte hinschweift, muss sowohl durch erbliche Anpassung auf dem Wege der Zuchtwahl, verbunden mit mnemisch-Lamarckischer Evolution, wie auch durch äusserst rapide Assoziation von Gesichts- eindrücken seinem Träger eine staunenswerte Fähigkeit zur Orien- tierung im Raum verleihen, sobald diese, wie bei den sozialen Hy- menopteren, dem Tiere von Nutzen ist. Irgendein Ding, das nicht genügt, uns zu orientieren, genügt oft, einer Biene orientierende Ge- sichtseindrücke zu liefern, weil ihr Instinkt, ihre Aufmerksamkeit, ihr Interesse sich in dieser Richtung bewegen. Wir haben gesehen (s. Exner), dass das Facettenauge bessere Wahrnehmungen hinsichtlich der Bewegung (Verschiebungen von ^ Wie schon bemerkt, dürfte die anbrechende Ära der Aeroplane und der lenkbaren Luftschiffe hierin Wandel schaffen. Albrecht Bethe 275 Gegenständen) liefert als das unsre. Doch beruht bei der Orien- tierung im Fluge ja alles auf diesen Verschiebungen der Gegenstände, auf dieser relativen Bewegung. Zweifellos bestehen zwischen der Sehtätigkeit der Bienen, ja der Insekten überhaupt, und der unsrigen grosse Unterschiede. Soviel gebe ich Bethe rückhaltlos zu, auch habe ich diese Tatsache ja selbst nach hundert verschiedenen Seiten geprüft und bewiesen. In einigen Beziehungen ist das Insektenauge besser, in den meisten sehr viel schlechter als das unsre. Doch verfällt Bethe selbst, der sonst eine übertriebene Unerbittlichkeit gegen alles zeigt, was nur im geringsten an Anthropomorphismus streift, und seien es selbst die harmlosesten Analogien, in den allerärgsten Anthropomorphismus, wenn er seine Fragestellung ungefähr wie folgt formuliert: Bienen orientieren sich nicht wie der Mensch durch das Auge; daher ist es nicht der Gesichtssinn, sondern eine geheimnisvolle, un- bekannte Kraft, mittels der sie sich zurechtfinden. Dies ist, zwar nicht dem genauen Wortlaut, aber doch dem Sinne nach der Inhalt seiner einseitigen Logik. Für ihn gibt es keinen Mittelweg, für uns dagegen sehr wohl. Wir sagen Natura non fecit saltum: Der Gesichtssinn kann, ebensogut wie der Geruchssinn, allen möglichen verschiedenen Zwecken angepasst und entsprechend modifiziert werden. Ferner wechselt die Art, wie das Gehirn sich die Wahrnehmungen zunutze macht, mit den Fähigkeiten und Eigentümlichkeiten des- selben. Daher so und so viele Eigentümlichkeiten, so und so viele Variationen, so und so viele Komplikationen. Wenn Bethe nur ein- mal mit Wespen arbeitete, dann würde er bald beobachten können, wie ganz anders diese sozialen Hymenopteren, die doch nahe ver- wandt mit den Bienen sind, sich orientieren, und zwar auf Grund eines viel entwickelteren Geruchssinns, eines anders gearteten Auges und anderer Instinkte (Hirneigenschaften). Bethe schiiesst die Darlegung seiner Ansichten folgendermassen: „Die Bienen gehorchen einer Kraft, die uns absolut unbekannt ist und welche sie zwingt, an die Stelle im Raum zurückzukehren, von der sie fortgeflogen sind, welche Stelle gewöhnlich, aber nicht notwendigerweise der Bienenstock sein muss; der Wirkungskreis dieser Kraft erstreckt sich nun — rund ausgedrückt — mehrere Kilometer weit." Wir sind Bethe zwar sehr zu Dank verpflichtet für seine äus- serst scharfsinnigen und geduldigen Experimente, die unser Wissen um recht interessante Tatsachen bereichert haben, doch sehe ich 18* 276 Albrecht Bethe mich trotzdem gezwungen, seine Schlussfolgerungen als vorurteils- voll einseitig und daher als irrig zu charakterisieren; sie sind von einem Absolutismus, der weder mit der Logik noch mit dem wissen- schaftlichen Geist zu vereinbaren ist. Ich habe bereits — gewissermassen im Vorbeigehen — einzelne Einwände gegen die Betheschen Versuche erhoben. Er selbst sieht sich gezwungen, im Anschluss an seine eignen Experimente zuzu- geben, dass sich bei den Bienen eine Art von Gewohnheit oder Dressur erzeugen lässt, deren sie sich aber ebensogut wieder ent- wöhnen. Wie kann man sich aber eine Gewohnheit ohne Gedächt- nis vorstellen? Ist das nicht eine contradictio in adjecto? Und sprechen nicht Bethes eigne Experimente am deutlichsten gegen ihn? Nach Ablauf von fünf Wochen haben Bienen noch eine Erinnerung an die Stelle, wo sich früher das Flugloch ihres Stocks, den man inzwischen entfernt hatte, befand. Im Frühjahr, nach dem Winter- schlaf dagegen, ist alles vergessen. Was kann das anders sein als Gedächtnis? Warum hat ein Teil der 5 km vom Stock freigelassenen Bienen seinen Heimweg gefunden und der andere nicht? Die „unbekannte Kraft" Bethes, die nach dem Stock zurückführt, hätte doch in allen gleich wirksam sein müssen. Und weshalb schraubten sie sich erst in die Luft hinauf, weshalb kreisten sie hier rekognoszierend umher, ganz wie die Tauben? Die unbekannte Kraft hätte ja die einen schneller, die anderen langsamer nach dem Stock zurückziehen können, aber doch nimmermehr die einen nach dem Stock, die an- dern nach dem Ort, wo man sie losgelassen hatte. Nein, so stimmt die Sache nicht, sondern diese Ungleichheit ist ganz natürlich aus dem Umstand heraus zu erklären, dass einige der Bienen, die älteren,, die schon früher weiter geflogen waren, Merkzeichen erblickt hatten,, die sie orientierten und die andern nicht. Diese letzteren — und zweifellos waren es ebenso wie bei den Tauben — die jüngsten der Gesellschaft, fanden dann keinen andern Ausweg, als zu ihrem Ausgangspunkt zurückzukehren, genau wie ein höheres Tier oder auch der Mensch, wenn er seinen Weg verloren hat und nicht mehr weiss wohin. Und schliesslich muss ich darauf beharren, dass, gesetzt eine vom Gesichtssinn unabhängige Kraft leitete den Flug, sich alsdann In- sekten mit gefirnissten Augen, nachdem sie einmal aufgeflogen sind, genau so gut orientieren müssten wie andere ; Bethes diesbezüglicher Albrecht Bethe 277 Einwand, den ich oben erwähnte, ist gar kein Einwand, sondern eine leere Ausrede. Noch andre Erwägungen sind es, die uns die Unhaltbarkeit von Bethes Position klar machen. Ich habe früher von einem Hummel- nest gesprochen, das ich in mein Fenster setzte, und von der enormen Mühe, die es den Hummeln machte, es wiederzufinden; auch beschrieb ich die Art und Weise, wie sie all die ähnlichen Fenster absuchten, ehe sie das richtige fanden. Nun haben die Hummeln, wie ich mit Sicherheit behaupten kann, weniger Fähigkeit zur Orientierung im Flug mit den Augen als die Bienen. So spricht denn auch dieses Experiment aufs deutlichste gegen Bethes „unbe- kannte Kraft", denn diese hätte unbedingt die Hummeln in gerader Linie nach ihrem Nest zurückführen sollen. Um ein genaueres Verständnis der Orientierung der Insekten beim Fluge zu erhalten, müssten wir in der Lage sein, nach ihrer Art denken zu können. Das Problem wird zweifellos durch die Tat- sache, dass uns dies unmöglich ist, bedeutend kompliziert. Dies ist aber immerhin kein Grund, um das Kind mit dem Bade auszuschütten, wie dies Bethe tut, und um alle Analogien zurückzuweisen. Denn so gut wie es trügerische Analogien gibt, gibt es auch ausserordentlich hilfreiche. Der Schlüssel zur Wahrheit aber liegt in dem Auseinander- halten dieser beiden Kategorien. Ferner aber sind mechanistische Hypo- thesen und leere Worte wie „unbekannte Kraft" noch viel trügerischer zur Erklärung der Tierbiologie als vorsichtige psychologische Ana- logieschlüsse. Bei uns Menschen unterscheiden wir einen dreifachen Prozess: das Sehen, das Betrachten und das Auffassen. Doch sehen wir streng genommen nur das gut, was wir betrachten und besonders was wir auffassen. Wir sind — im Geiste — blind für Dinge, die wir nicht auffassen und die unsere Aufmerksamkeit nicht auf sich ziehen, und gehen häufig an Gegenständen vorüber, als wenn wir sie nicht sähen. Aus allen möglichen Tatsachen aber ersehen wir, dass es bei Insekten genau so ist. Da aber 99 von 100 Handlungen dieser Tiere in einer Art und Weise vollzogen werden, die durch Erblich- keit genau vorgeschrieben und automatisch geworden ist, so geht daraus notwendig hervor, dass nur das übrigbleibende 1% ihrer Handlungen von ihnen aufgefasst oder verstanden wird, und zwar in dem kleinen und begrenzten Grade, der ihrer Gehirnanlage ent- spricht. Und daher kommt es, dass manche, von diesem ungeheuren 278 Albrecht Bethe Automatismus der Insekteninstinkte geblendet, dazu getrieben werden, ä la Bethe zu urteilen, und überhaupt bei den Insekten nur noch In- stinkte undMaschinenhaftigkeitzu sehen. Wie Fahre bleiben sie hypnoti- siert von der Dummheit eines Insekts, das man mittels Durchschnei- dung des Fadens seiner Instinkthandlungen desorientiert hat, das, wie der Bembex, nichts anderes tut, als nach der Öffnung seines zerstörten Nestes zu suchen und dabei seine eignen, von ihm gesuchten, nun- mehr draussen liegenden Larven, auf denen er herumtritt, nicht be- merkt; oder von der Dummheit jener Bienen, die stundenlang zwei Meter vor ihrem Stock in der Luft herumschwirren, ohne herauszu- finden, wo dieser steht, resp. ohne den Gegenstand, der sich so nahe von ihnen befindet, als ihren Stock wiederzuerkennen. Doch wie ich schon gesagt habe, zeigt uns ein Mensch in som- nambulem Zustande ebenfalls eine eigenartige Dissoziation der zere- bralen Tätigkeit, die das Gebiet seiner Aufmerksamkeit umschliesst und ihn taub und blind für alles macht, was nicht hiermit zusammen- hängt. Im hypnotischen Somnambulismus begehen wir, ebenso wie im Traume, Dummheiten, die jenen der Bienen völlig gleich- kommen; wir handeln dann auch automatisch, schreiten ebenso me- chanisch nach irgendeiner Richtung, wie jene nach dem früheren Standort ihres Fluglochs und bemerken ebensowenig wie sie, was sich direkt vor unsrer Nase befindet. Natürlich ist diese Analogie unvollkommen, doch enthält sie eine Menge Wahres. In beiden Fällen ist es die automatische Tätigkeit der Nervenzentren, die vor- herrscht, während die plastische Tätigkeit in den Hintergrund tritt. Nur handelt sich's beim Menschen um einen Fall von vorübergehenden Hemmungen, beim Tier aber um eine aus der Winzigkeit seines Hirns entspringende unbedingte Unfähigkeit. Diese Unfähigkeit wirkt aber um so auffallender, als die Serien zweckmässiger, streng lokalisierter Handlungen hier fixierter und komplizierter beschaffen sind als bei höheren Organismen. So z. B. wirkt die Dummheit der Biene gerade dadurch so befremdlich, weil ihre Instinkte zugleich komplizierter und fixierter sind als die der meisten Ameisen und der Wespen. Ehe ich von Bethes Bienen Abschied nehme, schlage ich ein an- dres, entscheidendes Experiment vor. Man nehme einen Bienenstock und transportiere ihn geschlossen bei Nacht mindestens 40 bis 50 km weit, um ganz sicher zu gehen, dass Bethes „unbekannte Kraft" (resp. dass ihre Ortskenntnis) die Bienen nicht nach ihrem alten Platz zurück- ziehen kann. Man halte den Stock ein oder zwei Tage geschlossen, Albrecht Bethe 279 und stelle ihn an einem umhegten Ort auf, sodass er nur aus einer Entfernung von wenigen Metern sichtbar ist. Ehe man irgendeiner Biene gestattet auszufliegen, nehme man nun 20 Stück aus dem Stock, markiere sie mit Farbe und setze sie vorsichtig in eine Schachtel. In dieser geschlossenen Schachtel transportiere man sie 300 bis 500 m weit, wodurch man verhindert, dass sie sich durch Herumfliegen orientieren. Habe ich recht, so werden sie völlig ausserstande sein, zu ihrem Stock zu fliegen, da es ihnen ja nicht vergönnt war, sich durch Gesichtseindrücke beim Flug zu orientieren. Hat aber Bethe recht, so wird die vom Gesichtssinn unabhängige „unbekannte Kraft" die Bienen geradenwegs zu ihrem Stock zurückleiten. Es bedarf nur gewisser Vorsichtsmassregeln, um die Schachtel so eng an die Öffnung des Stocks heranzuführen, dass die Bienen hineinschlüpfen, ohne bei der Prozedur zu entkommen. Dies wird am besten nachts geschehen. Wenn man das Experiment zwei- oder dreimal gemacht haben wird, wird man andre Bienen, die man vom Stock einige Tage lang hat ausfliegen lassen, mit einer abweichenden Farbe markieren und deren Aus- und Rückflug zur Vergleichung studieren. Bethes Experimente an Ameisen. Diese sind um vieles schwächer als seine Versuche an Bienen. Da sie ausserdem in einer meisterhaften Weise durch Wasmann ^ widerlegt worden sind, wollen wir mit ihnen summarischer verfahren. Zunächst möchte ich ein kleines, wenig bekanntes Experiment in Erinnerung bringen, das ich 1886 in den Annalen der Belgischen Entomologischen Gesellschaft veröffentlicht habe (Band 30, S. 137; Forel, Etudes Myrmecologiques. 1886): „Eine Kolonie von Formica pratensis war von ihrem alten Nest in ein neues umgezogen. Nach Beendigung des Umzugs besuchten einige Arbeiter noch weiter ge- wisse Blattläuse eines Strauchs auf dem Wege, auf dem der Umzug stattgefunden hatte. Mehrere Male fing ich Arbeiter dabei ab, als sie, den Kropf voll von Honig, von diesem Strauch nach ihrem Nest zurückkehrten, und jedesmal setzte ich sie wieder auf die Um- zugslinie zurück, jedoch stets etwa einen Meter von dem Punkt entfernt, von dem ich sie soeben weggenommen hatte. Nachdem sie sich von ihrem ersten Erstaunen erholt und einige ganz kurze Umwege gemacht hatten, schlugen die Tierchen stets unentwegt den richtigen Weg ein, der sie zu ihrem Neste führte; kein einzigesmal ^ Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen. Stuttgart 1899 bei Erwin Naegele; Heft 26 der Zoologica von Carl Chun aus Leipzig. 280 Albrecht Bethe liefen sie in entgegengesetzter Richtung. Ich frage nun: Was lieferte ihnen in diesem Fall die richtige Spurrichtung? Durch welches Mittel steuerten sie ihren Kurs so sicher inmitten all der Spuren ihrer nach beiden Richtungen laufenden Gefährten? Zu- gegeben, dass dies ihre eigene Spur gewesen sei (die ihr Hinweg zum Strauch hinterlassen hatte), wie konnten sie wissen, ob sie dieser Spur nach der einen oder nach der anderen Richtung folgen sollten, da sie doch gleichmässig nach beiden Seiten lief, und da obendrein die frische Spur, die sie, auf dem Heimweg begriffen, auf der Seite des Gesträuches vorher hinterliessen, nunmehr dank meiner List, beiderseits gleich oder besser gesagt (wenigstens als ganz frische Spur) gar nicht mehr vorhanden war? Der Begriff einer Fährte oder Spur, ähnlich wie wir uns die des Wildes für den Hund denken, oder ähnlich unseren sichtbaren Fussspuren, reicht hier nicht aus, um so weniger, als Ameisen schlecht sehen. Deshalb möchte ich eine neue Erklärung dieser Tatsache geben. In erster Linie handelt es sich hier nicht um einen ganz allge- meinen Richtungssinn, denn wenn man Ameisen in einem Haufen an einen ihnen unbekannten Ort tut und danach eine derselben unvermittelt zwei bis drei Meter abseits setzt, ist sie absolut unfähig, den Weg zu dem Haufen zu finden. Deshalb ist es Bedingung, dass sie den Hinweg kennt, den sie zurückzugehen hat. Durch Experimente ist es nun erwiesen, dass die Ameisen die Gegenstände hauptsächlich mittels der Fühler erkennen, denn sobald man sie dieser Organe beraubt, vermögen sie sich nicht mehr zurechtzufinden. Gewisse Ver- suche Lubbocks beweisen zwar, dass ausser dem Geruch die Richtung des Lichts und der Schatten auch noch beitragen, diese Tiere zu orientieren. Immerhin finden sie ihren Weg meistens ebensogut bei bedecktem Himmel, ja selbst bei Nacht wie am Tage. Übrigens kommt es hierbei auf die Arten und auf die Entwicklung der Augen an. Ich bin nun der Meinung, dass wir uns hier gegenüber einer sehr wichtigen physiologischen und psychologischen Tatsache befinden. Die Organe der sogenannten inneren Sinne, besonders des Geruchs, liefern uns nur solche Empfindungen, deren adäquate Reize schlecht oder gar nicht im Raum abgegrenzt sind. Herbert Spencer schreibt dies in seinen „Principles of Psychology" dem Umstand zu, dass die Nervenendigungen dieser Sinne inwendig liegen und daher seitens des erregenden chemischen Reizes alle in gleicher Weise (oder durcheinander, regellos) getroffen werden, während beim Gesichts- Aibrecht Bethe 281 und Tastsinn die erregenden Reize im Raum scharf loi