2 . ar r es .% UT un Er Le um > ga ”z : TER = C Y ae“ nZ EN £ u FE BR] ze ze hr. Ba: we! ee ne N ri £ Bi l: i « n 4 h “) * am \ nt ‘7 RS Se ” ——. F' —; Fe TFAEH- E Ey az Er pr & IR. =‘ RR ex Hager Fe; . PER Ara v ber x n a ä ' j ' ri ; E n 4 0) ET j D2 a5 ie = Ren An ar. Ve WE RL *| ui au Fi a WET Te! AN } Y \ 4£ PP AR Zu kr \ 2 . 4 » . B; j f r ’ I OR Br ge eV Fi 2 Ver ae 5 Er Br, Br u ° ne: e * ı U: ı ir , en ns B \ A ! $ 5 3 y F % Era a r- $ “ Er Br IE: 5 : > ı I, DI 7 ad v + Ag et Ve RT RB... ;- = 2 ü 3 u g: x r iR 2 r a Fi . R “= I FRELH ii“ Ay. a eek y es i BL er ze ES ar a SL $ a er a ET A eher Er ” ad Fan er ae 6 > . we ‘ er E: x 4 4 ae Sr si ER a u in > ze R y 5 3 " N h er d Su a L Se 14 FR N hl r ; RR \ ver) Be rn AFÄRE E 2 a. AR SEE Bf ä u En hen De, DER es ED FERN Er a 3 en ri ,._ N S er: en A ENCHeE Font REN, Fair) Fiat Fözr ae 5 PIE 2 ” u e = Dr We on io 5 ur a je ER: a 5 7 er 7 a Re £ er E; Be: ; : 4 un £ 2 h Pin y I . pen - h N .. 8 . r n. hr te sure m. hetmlimtahe - Ayers . ni By“ . _ - * 2 - B or DarLıne . .. . “hmm e 2 . u ns u Ba tale a r jellete . ... . —— pr = ’ a I MA Be Pe I . I IX . ' B . j _ 5 [3 E \ eo” x ’ ® Pr® r IN rı- u r Fe 4 46) DAS WERDEN DER ORGANISMEN ZUR WIDERLEGUNG VON DARWIN’S ZUFALLSTHEORIE DURCH DAS GESETZ IN DER ENTWICKLUNG VON OSCAR HERTWIG DIREKTOR DES ANATOMISCH-BIOLOGISCHEN INSTITUTS DER UNIVERSITÄT BERLIN ZWEITE VERMEHRTE UND VERBESSERTE AUFLAGE MIT 115 ABBILDUNGEN IM TEXT 118395. Re KR 0}: 08. JENA VERLAG VON GUSTAV FISCHER 1918 [z x1] Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1916°by Gustav Fischer, Publisher, Jena, Vorwort zur zweiten Auflage. Mein Buch vom ‚‚Werden der Organismen‘ hat in Zeitschriften und in der Tagespresse fast durchweg eine freundliche Aufnahme und Worte der Anerkennung erfahren. Obwohl es nur wissenschaftliche Fragen in gemeinverständlicher Form behandelt und keine Verbreitung in den feindlichen Kulturländern während des Weltkriegs hat finden können, ist es doch in kaum 2 Jahren vergriffen worden. Dies würde noch vor kurzer Zeit, als der Glaube an die Allmacht von DArwıns Selektions- theorie fester begründet war, wohl selbst im Frieden kaum möglich ge- wesen sein. Daher erblicke ich in dieser Tatsache ein verheißungsvolles Zeichen für den Anbruch einer neuen Zeit des Fortschritts, die nicht mehr unter dem Bann einer vorgefaßten, der wissenschaftlichen Beweise entbehrenden Lehrmeinung steht. Indessen hat es auch nicht an vereinzelten Kritikern gefehlt, die bei der Besprechung rein biologischer Probleme religiöse und politische Parteistandpunkte mitsprechen lassen und für die, wie schon in meinem Buch vom Werden der Organismen gelegentlich bemerkt wurde (S. 638, 688), „als Reaktionär gilt, wer den unter dem Sammelnamen des Dar- winismus vereinten Lehren nicht Beifall zollt‘“. Als ein Typus dieser Art hat jetzt wieder der Wiener Professor KAMMERER in der Zeitung „Der Morgen‘ (Wien, 8. April 1918) das Wort ergriffen und an die Spitze seiner Kritik, um Stimmung gegen mich zu machen, gleich den Vorwurf erhoben, daß die dunkeln Mächte der Reaktion durch mich eine ihnen erwünschte Förderung erfahren. Es fällt ihm auf, mit welcher Begeiste- rung sogar klerikale Zeitungen das ‚‚Werden der Organismen‘ begrüßen. Und gleichsam erläuternd fügt er hinzu: ‚Wer — und sei es auch nur mißverständlich — den Kampf gegen den Entwicklungsgedanken aufs Titelblatt schreibt, kann des Beifalls entwicklungsfeindlicher Kräfte sicher sein. Man denke: eine erste Autorität der Lebensforschung ver- wirft den Darwinismus: sollen da die Mächte des Rückschritts nicht jubeln ?“ I* IV Vorwort zur zweiten Auflage. Hierzu sei zweierlei bemerkt! Bei der Ermittlung naturwissenschaft- licher Wahrheiten halte ich an dem Grundsatz fest, daß der Forscher sich allein durch wissenschaftliche Gründe leiten lassen darf, unbeirrt vom Beifall oder Tadel dieser oder jener durch augenblickliche Zeit- strömungen getragenen Parteien. Damit richtetsich von selbst schon der Versuch KAMMERERSs, das Urteil der Leser gleichsam durch das Schreck- gespenst beeinflussen zu wollen, daß mein Buch wegen seiner Stellung zum Darwinismus eine klerikale Reaktion heraufzubeschwören drohe. Mit ernsteren Worten habe ich dagegen ein Verfahren von KAMMERER derb zurückzuweisen, durch welches er eine ganz falsche Vorstellung von dem Inhalt meines Werks bei unkundigen oder oberflächlichen Leserkreisen zu erwecken sucht. Was veranlaßt ihn zur Unterstellung, daß ich des Beifalls entwicklungsfeindlicher Kräfte sicher sein könne, weil ich — und sei es nur mißverständlich — den Kampf gegen den Entwicklungsgedanken aufs Titelblatt geschrieben habe? Meine Worte zur Ergänzung des Haupttitels lauten doch: Eine Widerlegung von Darwıns Zufallstheorie. Ist das nicht etwas absolut anderes, als ein Kampf gegen den Entwicklungsgedanken ? Bleibt der Entwicklungs- gedanke überhaupt nicht ganz unberührt von meiner Kritik der Lehren Darwıns, vom Kampf ums Dasein, von der natürlichen Zuchtwahl, von der Rolle, welche der Zufall bei dem Zustandekommen des Zweck- mäßigen in der Entwicklung spielen soll? Habe ich nicht selbst den Ausspruch HuxLeEys ‚If the Darwinian hypothesis was swept away, evolution would still stand, where it was‘‘ öfters zitiert und als zutreffend bezeichnet? Beim Lesen meiner Schriften, besonders aber des Buches „vom Werden der Organismen‘ wird nie auch nur der leiseste Zweifel aufkommen können, daß ich nicht fest auf dem Boden der Entwicklungs- lehre stehe und nicht die Theorie von der natürlichen Entstehung der Organismenwelt vertrete, wenn ich auch die von DARWIN gegebene Erklärung derselben nicht teile. Zur Begründung seiner Kritik weist KAMMERER darauf hin, daß man, am unversöhnlichen Gegensatz zum Schöpfungsglauben festhaltend, „unter Darwinismus — zumal in Laienkreisen — die ganze Abstammungs- lehre zu verstehen pflege“. Er stellt hiermit eine irrige Behauptung auf, indem er dem Darwinismus, das heißt, der von DARwIN ausgehenden Lehre, einen weit umfangreicheren Inhalt gibt, als vor dem Urteilsspruch der Geschichte zu rechtfertigen ist. Denn schon Jahrhundertelang vor DArwın haben wohldurchdachte ‚im Gegensatz zum Schöpfungs- glauben“ gefaßte Theorien über eine natürliche Entwicklung der Orga- nismen bestanden und Beifall in der Wissenschaft gefunden. Es sei nur VW. Pa CH Vorwort zur zweiten Auflage. V an die Namen von K. F. WoLFF, BUFFON, LAMARcK, G. S. HILAIRE, an die deutschen Naturphilosophen OKEN, KIELMEYER, MECKEL, an GOETHE, an C. E. von BAER und andere erinnert. HAECKEL selbst, gewiß ein unbedingter und begeisterter Anhänger DAarwıns, hat darüber von Anfang an, schon bei der Niederschrift der generellen Morphologie (1866) und später in den verschiedenen Auflagen der „natürlichen Schöpfungsgeschichte‘ keinen Zweifel gelassen. ‚Wenn heutzutage“, bemerkt er (N. Sch., 9. Aufl., 1898, S. 133) „häufig die gesamte Ent- wicklungslehre als Darwinismus bezeichnet wird, so geschieht dies eigentlich nicht mit Recht. Denn wie Sie aus der geschichtlichen Einleitung der letzten Vorträge gesehen haben werden, ist schon zu Anfang unseres Jahrhunderts der wichtigste Teil der organischen Ent- wicklungstheorie, nämlich die Abstammungslehre oder Deszendenz- theorie, ganz deutlich ausgesprochen und insbesondere durch LAMARCK in die Naturwissenschaft eingeführt worden. Man könnte daher diesen Teil der Entwicklungstheorie, welcher die gemeinsame Abstammung aller Tier- und Pflanzenarten von einfachsten gemeinsamen Stamm- formen behauptet, seinem verdientesten Begründer zu Ehren mit vollem Rechte Lamarckismus nennen, wenn man einmal an den Namen eines einzelnen hervorragenden Naturforschers das Verdienst knüpfen will, eine solche Grundlehre zuerst durchgeführt zu haben. Dagegen würden wir mit Recht als Darwinismus die Selektionstheorie oder Züchtungslehre zu bezeichnen haben, denjenigen Teil der Ent- wicklungstheorie, welcher uns zeigt, auf welchem Wege und warum die verschiedenen Organismenarten aus jenen einfachsten Stafimformen sich entwickelt haben.‘ In diesem Punkt sind also HAECKEL und ich, wie überhaupt jeder geschichtskundige Forscher, der gleichen Ansicht. Ungeschmälert soll hierbei das Verdienst von DArwın bleiben, daß er durch seine Selektions- theorie dem Entwicklungsgedanken auf dem Gebiet der Biologie einen neuen, mächtigen Anstoß gegeben und zum Gemeingut der weitesten Kreise gemacht hat. Somit fällt der von KAMMERER rein aus der Luft gegriffene Vorwurf, daß ich ‚‚zu den falschen Auslegungen Anlaß oder Vorwand gebe‘, voll- ständig in sich zusammen. Falsch ist endlich die Behauptung KAMMERERs, daß ‚ich an hundert (!) Stellen DArwın und seine Lehre entgelten lasse, was verirrte Nachbeter verschulden‘. Und ebenso falsch ist seine weitere Bemerkung: ‚Legt man, wie HERTWIG es unablässig tut, die einseitigsten Fortbildungen des Darwinismus DARWIN selber zur Last, so kommt es VI Vorwort zur zweiten Auflage. darauf hinaus, als würde man etwa um des Futurismus willen die ganze neuzeitliche Malerei verdammen.‘“‘ Mit diesem Angriff wendet sich KAMMERER hauptsächlich gegen meine zweite, zur Ergänzung „des Werdens‘‘ 1918 veröffentlichte kleine Schrift: Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismust). Hier habe ich aber ganz klar und bestimmt in der Einleitung ausgesprochen, daß ich unter der Bezeichnung ‚Darwinismus“ nicht allein die eigentliche Lehre DARWwIns, sondern auch, wie es allgemein üblich ist, die ganze geistige Bewegung verstehe, die von DARWIN ausgeht und seine Lehre als ein feststehendes, allgemeines Naturgesetz bewertet und sie durch Übertragung auf mensch- liche Verhältnisse als Grundlage zum Aufbau einer neuen Weltanschauung benutzt. Ich verweise nur auf folgende Stellen meiner zweiten Schrift. Auf Seite 2 bezeichne ich als ihr Programm: ‚Es gilt zu zeigen, wie bald hier, bald dort versucht worden ist, durch DArwıns Lehren, die ursprünglich nur rein biologische sind, jetzt auch die ver- schiedensten Gebiete des menschlichen Lebens zu reformieren und zu revolutionieren.“ Ausdrücklich hebe ich auf Seite 3 hervor, daß ‚DARWIN zu keiner Zeit seines Lebens ebensowenig wie WALLACE, der Mitbegründer der Selektionstheorie, geneigt gewesen ist, eine Anwendung seiner Natur- gesetze auf die Entwicklung der Menschheit predigen zu wollen.“ In nicht mißzuverstehender Weise erkläre ich an mehreren Stellen: I. „Darwın hat es vermieden, die zahlreichen, alle menschlichen Verhältnisse berührenden Schlußfolgerungen zu ziehen, die als Keime in seiner Selektionstheorie bis zu einem gewissen Grade enthalten sind.‘ 2. „Einen wesentlich anderen Charakter erhielt die als Darwinismus be- zeichnete wissenschaftliche Bewegung erst durch Darwıns Anhänger, unter denen HAECKEL, WEISMANN und GALTON früh zu großem Einfluß gelangten und auf ver- schiedenen Wegen sich am Ausbau und an der Vollendung der neuen Lehre be- teiligten‘“ (S. 4). 3. „Die aus dem Darwinismus geborenen Reformideen betreffen namentlich drei eng miteinander verknüpfte Gebiete der menschlichen Kultur, auf denen schwere Schäden in der Gegenwart aufgedeckt und zu deren Heilung neue Ent- wicklungsziele der Menschheit gesteckt werden. Es handelt sich teils um ethische, teils um soziale, teils um politische Fragen, die auf der Grundlage der Lehren Darwıns neu beantwortet und geordnet werden sollen. Insofern können wir bei unserer Darstellung zweckmäßigerweise auch von einem ethischen, einem sozialen und einem politischen Darwinismus sprechen“ (S. 7). Muß nicht angesichts dieser Erklärungen die oben zitierte Be- hauptung KAMMERERS als geradezu unbegreiflich bezeichnet werden, weil sie rein aus der Luft gegriffen ist? 1) Jena, Gustav Fischers Verlag 1918. Vorwort zur zweiten Auflage, VII Mit Kopfschütteln wird der kundige Forscher auch in der näheren Ausführung des gegen mich gerichteten Ausfalls weiter lesen: ‚In seiner Abwehr hat HERTwIG mit den ärgsten Scharfmachern, geradezu Raub- rittern des Darwinismus zu tun, wie man sie nennen möchte, weil sie das schrankenlose Faustrecht des Lebens fordern. Blasphemisch ist es, wenn HERTWIG ihnen unausgesetzt den Ehrentitel ‚„Darwinisten‘ zu- billigt; denn strenggenommen verdrehen AMMON, HAYKRAFT, PLOETZ, SCHALLMAYER, TILLE u. a. den echten Darwinismus in sein Gegenteil, sie bieten Darwinismus in planbewußt reaktionärer Verarbeitung, geben Rückentwicklung für Fortschritt aus und wären daher als ‚Antidar- winisten‘‘ immer noch zutreffender gekennzeichnet. Was HERTWIG gegen solche Wegelagerer eines gefälschten Darwinismus vorbringt, kann nur begeisterte Zustimmung erfahren.“ Obwohl in diesen Worten der Wiener Kritiker meine Schrift ‚zur Abwehr“ im Prinzip zu billigen scheint, kann ich trotzdem seinem weg- werfenden, harten Urteil über die Männer, deren Lehren ich angegriffen und abgewehrt habe, durchaus nicht beipflichten. Es sind anerkannte Schriftsteller, deren Anschauungen von vielen Seiten geteilt werden. Ähnliche Gedankengänge wie die von ihnen vorgetragenen habe ich seit 50 Jahren in Privatgesprächen von so vielen Anhängern DARWINs, wenn auch in weniger extravaganter Weise, aussprechen hören, daß ich der Überzeugung bin, daß sie der Ausdruck einer vorherrschenden Meinung sind. SCHALLMAYER erhielt für sein in zwei Auflagen erschienenes großes Werk, das infolge eines Preisausschreibens unter der Ägide von CONRAD, FrAAsS und HAECKEL entstanden ist, den ersten Preis unter 60 Be- arbeitungen zuerkannt, und zwar von so angesehenen Preisrichtern wie dem Nationalökonomen CoNRAD, dem Historiker DITR. SCHÄFER und dem Zoologen ZIEGLER. PLOETZ ist der Herausgeber des Archivs für Rassen- und Gesellschaftsbiologie. HAYKRAFT ist ein bekannter Professor der Physiologie an der Universität Edinburgh, usw. Wenn ich auch die Bemühungen dieser Männer, aus den Lehren DArwins die Nutzanwendung auf die menschliche Gesellschaft zu ziehen, für verfehlt, zuweilen auch für tadelnswert halte, so zweifle ich doch keinen Augenblick, daß sie ihre Behauptungen in der vollen Überzeugung von ihrer Richtig- keit und in der besten Absicht aufgestellt haben, und daß sie wirklich glauben, nur auf den von ihnen vorgezeichneten Wegen werde sich die Menschheit vervollkommnen und zu höheren Zielen weiter entwickeln können. In solchen nach bestem Glauben und Gewissen und nicht ohne naturwissenschaftliche Kenntnisse handelnden Schriftstellern kann ich nimmermehr, auch wenn ich ihre Ansichten verurteile, ‚Raubritter oder VIII Vorwort zur zweiten Auflage. Wegelagerer eines gefälschten Darwinismus“ erblicken. Sie sind vielmehr in meinen Augen teils Opfer, teils Fanatiker einer zeitweilig überschätzten Lehre geworden. Übrigens mögen die Anhänger Darwıns selber sehen, wie sie sich in dem von KAMMERER angeregten Streit darüber einigen, wer von ihnen jetzt noch alsechter Darwinist und wer als Antidarwinist gelten soll. Ich glaube nicht, daß sie untereinander bei den bestehenden, verschiedenen Auffassungen in wichtigen Fragen zu einer Einigung kommen werden. Noch manche andere Punkte in KAMMERERSs Kritik wären als un berechtigt zurückzuweisen, doch ich glaube mich mit ihr schon allzu lange beschäftigt zu haben. Nachdem ich es jahrzehntelang hinausgeschoben habe, meine ab- weichenden Ansichten über die Lehren des Darwinismus im Zusammen- hang zu veröffentlichen, erfüllt es mich mit hoher Befriedigung, daß ich mein Buch ‚vom Werden der Organismen‘ und meine zur notwendigen Ergänzung hinzugefügte Schrift „zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus‘‘ mitten im größten und schwersten Krieg um Deutschlands Bestand und Zukunft habe vollenden können. Ich betrachte beide Schriften als ein Vermächtnis, welches ich dem schwergeprüften, hart angegriffenen und in der Welt jetzt viel ver- leumdeten deutschen Volk hinterlasse, und ich hoffe, daß sie ihm Anlaß zu ernstem Nachdenken und zur sittlichen Einkehr bieten werden. Dann wird ihm, dem von Natur aus friedfertigen, arbeitsamen und zugleich auch heldenhaften Volk eine harmonischere Weltanschauung für seine weitere Entwicklung erblühen, als sie ihm die als ein fremd- artiges Gewächs überlieferte Theorie von der natürlichen Zuchtwahl im Kampf ums Dasein dargeboten hat, eine Theorie, welche der geist- reiche FECHNER nicht mit Unrecht als ‚die Nachtansicht vom Leben“ bezeichnet hat. Grunewald-Berlin, Juni 1918. - Oscar Hertwig. Vorwort zur ersten Auflage. Meine akademische Studienzeit ist mit dem Aufstieg der durch DARWIN neu begründeten Entwicklungslehre zusammengefallen. Als Schüler meines verehrten Lehrers HAECKEL und in persönlichem Verkehr mit ihm gewann ich das rege Interesse für die Biologie, welches für meine eigene Entwicklung und für die Richtung meiner späteren Forschungen entscheidend wurde. Schon früh konnte ich an der Quelle selbst den Kampf der Meinungen verfolgen, welche für und wider die einzelnen Lehren des Darwinismus geäußert worden sind. Hierbei blieben mir viele Schwächen desselben nicht verborgen und regten mich, je älter ich wurde, zu eigenem Nachdenken an. Daher bin ich in keiner Periode meiner wissenschaftlichen Ausbildung, auch nicht in der Zeit der sieg- reichen Ausbreitung des sogenannten Darwinismus, zu einem blinden Parteigänger desselben geworden. Namentlich über den Wert und die Tragweite der Selektionstheorie und der verschiedenartigen aus ihr ge- zogenen Folgerungen konnte ich die Zweifel niemals los werden. Aufgefordert, an der Jahrhundertwende auf der Versammlung deutscher Naturforscher zu Aachen einen Vortrag über die Entwicklung der Biologie im 19. Jahrhundert zu halten!), benutzte ich die Gelegenheit, meine Zweifel über die Richtigkeit der Selektionstheorie zum ersten Male öffentlich auszusprechen. Die Entstehung der Organismenwelt aus natürlichen Ursachen bezeichnete ich ‚als ein außerordentlich ver- wickeltes und schwieriges Problem, das durch eine Zauberformel ebenso- wenig zu lösen sei, als es ein für jede Krankheit brauchbares Allheilmittel gebe“. „Indem WEISMANN“, fügte ich abschließend hinzu, ‚‚die Allmacht der Naturzüchtung verkündete, sah er sich gleichzeitig zu dem Ge- ständnis genötigt: ‚Wir können den Beweis, daß eine bestimmte An- passung durch Naturzüchtung entstanden ist, für gewöhnlich nicht leisten‘, das heißt nichts anderes als: wir wissen in Wahrheit nichts von dem Ursachenkomplex, welcher die bestimmte Erscheinung hervorgerufen hat. 1) Hertwig, Oscar, Die Entwicklung der Biologie im 19. Jahrhundert. Vor- trag auf der Naturforscherversammlung zu Aachen. Jena 1900. 2. Aufl., nebst einem Zusatz über den gegenwärtigen Stand des Darwinismus, Jena 1908. x Vorwort zur ersten Auflage. ‚Ohnmacht der Naturzüchtung‘ läßt sich daher mit SPENCER entgegnen.“ Mein Endurteil aber faßte ich in die Sätze zusammen: ‚In diesem wissen- schaftlichen Streit, mit dem unser Jahrhundert schließt, muß man wohl unterscheiden zwischen Entwicklungslehre und Selektionstheorie. Beide stehen auf einem sehr verschiedenen Grund und Boden. Denn mit HuxreEy können wir sagen: ‚Wenn die Darwınsche Hypothese auch weggeweht würde, die Entwicklungslehre würde noch stehen bleiben, wo sie stand‘. In ihr besitzen wir eine auf Tatsachen beruhende, bleibende Errungenschaft unseres Jahrhunderts, die jedenfalls mit zu ihren größten gehört.“ Einer zweiten 1908 erschienenen Auflage meines Aachener Vortrags fügte ich einen längeren Zusatz mit dem Titel „Über den gegenwärtigen Stand des Darwinismus‘ hinzu und hob hervor, daß man jetzt häufiger von „einer Krisis des Darwinismus‘ sprechen höre. Denn der Zweifel an der Zulässigkeit mancher Fundamente der Deszendenztheorie und der auf ihnen erbauten Schlußfolgerungen habe sich weiter ausgebreitet und mit ihm das Bestreben, die mit Darwıns Namen verknüpften Ent- wicklungshypothesen einer strengeren Prüfung auf ihren Wahrheitsgehalt zu unterziehen. So habe gegenüber der Spekulation, die in der ersten Periode der Darwınschen Lehre in den Vordergrund getreten war, wieder eine heilsame Reaktion eingesetzt, indem ein größerer Wert auf metho- disch und kritisch durchgeführte Untersuchungsreihen gelegt werde. Als neuere Errungenschaften, die über den von DARWIN vertretenen An- ” ” ni schauungskreis hinausführen, bezeichnete ich die Forschungen auf dem Gebiete der Zellen- und Zeugungslehre, die experimentelle Biologie mit den Richtungen von MENDEL, NÄGELI, ROUX, DE VRIES u.a. Ich selbst versuchte eine eingreifende Reform ‚des biogenetischen Grundgesetzes“ vorzunehmen. Namentlich aber trat ich in vielen meiner Schriften als ein entschiedener Gegner des von WEISMANN begründeten und nicht ohne Erfolg gelehrten, an Hypothesen besonders erfindungsreichen Ultradarwinismus auf. Dagegen fand ich mich in erfreulicher Übereinstimmung mit den Gcdankengängen, die der geistreiche Botaniker NÄGELI in dem tief- Jurchdachten Werk: ‚Die mechanisch-physiologische Theorie der Ab- stımmungslehre‘“ (1884) als Zusammenfassung und als kritisches End- ergebnis seiner botanischen Studien entwickelt hat. Ich erkenne in ihm den bedeutendsten Versuch, die Lehre vom Werden der Organismen wieder auf gesunde, naturwissenschaftliche Grundlagen zurückzuführen und die unhaltbar gewordene Selektionstheorie durch die Lehre von der direkten Bewirkung zu ersetzen. In seinem Buch liegen zugleich manche u De DEE 2 ee ee uch Vorwort zur ersten Auflage. XI fruchtbare Keime für die vorzüglichen Untersuchungen der modernen Pflanzenphysiologie, in welchen neue Wege der Forschung beschritten worden sind. Schon lange war es mein Plan, für die vielumstrittenen Fragen vom Werden der Organismen, die mich als jungen Studenten unter dem an- regenden, unmittelbaren Einfluß von HAEcKEL mit Interesse erfüllten, und mir seitdem bei meinen eigenen Forschungen als Leitstern gedient haben, die mich am meisten befriedigende Antwort zu suchen und mit ihr meine Lebensarbeit zum Abschluß zu bringen. Bin ich doch auf vielen Gebieten der Biologie, auf deren Ergebnissen das Lehrgebäude der Deszendenztheorie aufgeführt worden ist, auf dem Gebiet der Ent- wicklungslehre der Tiere, der vergleichenden Anatomie, der experimen- tellen Biologie und auch der Geschichte der biologischen Wissenschaft als Forscher und als Lehrer tätig gewesen. Aber die Ausführung wurde von Jahr zu Jahr hinausgeschoben. Andere Arbeiten harrten noch der Beendigung, neue drängten sich wieder auf; auch sprachen Beweggründe persönlicher Natur hierbei noch mit. Endlich begann ich Ostern 1913 mit der Niederschrift des ersten Kapitels und konnte ihm die übrigen durch Ausnutzung meiner von Berufstätigkeit frei gebliebenen Zeit rasch nachfolgen lassen. Auch der Ausbruch des großen Völkerkrieges führte keinen längeren Stillstand in meiner Arbeit herbei, sobald ich das seelische Gleichgewicht nach einigen Wochen besorgter Unruhe und erwartungsvoller Spannung wieder- gefunden hatte. Im Gegenteil gewährte es mir eine Befriedigung, von den aufregenden Ereignissen des Tages einen Ruhepunkt bei dem Studium wissenschaftlicher Fragen zu finden, und ich unterzog mich gern der Mühe, die einzelnen Kapitel nach ihrer ersten Aufzeichnung mehrfach durchzuarbeiten, um meine Gedanken zu einer möglichst klaren und auch für Nichtgelehrte verständlichen Darstellung zu bringen. Denn mein Buch ist nicht nur an die Fachgelehrten gerichtet. Durch unzählige populäre Darstellungen ist das Lehrgebäude, das man als Darwinismus zu bezeichnen pflegt, zum Gemeingut aller Gebildeten geworden. Auch an Versuchen hat es nicht gefehlt, dasselbe zum Ausgangspunkt einer neuen Weltanschauung zu machen. Daher hielt ich es für meine Pflicht, durch mein Buch über das Werden der Organismen und über das Gesetz in der Entwicklung, das sich zu Darwıns Zufallstheorie in vielen Be- ziehungen in einem Gegensatz befindet, auch weiteren Kreisen Gelegen- heit zu geben, die Fortschritte der Wissenschaft kennen zu lernen, die in den letzten 30 Jahren über DAarwın hinaus gemacht worden sind. Wie sich unter den Augen der lebenden Generation in wenigen Jahr- XII Vorwort zur eısten Auflage, zehnten mehr Umwandlungen in unserer ganzen Kultur vollzogen haben, als früher in mehreren Jahrhunderten, so ist auch die Entwicklung der Biologie seit 1859, seit der Herausgabe des Werks „Über die Entstehung der Arten“ nicht stehengeblieben; sie hat Fortschritte aufzuweisen und Entdeckungen hervorgebracht, die jetzt eine ganz andere Grundlage für viele allgemeine Fragen geben, als sie den Deszendenztheoretikern von ehedem zur Verfügung standen. Daher wird jetzt auch der Nichtbiologe, je mehr er in die neuen Errungenschaften der Forschung einen Einblick gewinnt, um so eher in die Lage kommen, sich durch Nachdenken ein eigenes Urteil über „Irrtum und Wahrheit im Darwinismus“ und über die Unzulänglichkeit von manchen noch herrschenden und populär ge- wordenen Lehren zu bilden. Ein derartiger Prozeß aber ist unumgänglich notwendig, da vieles, was in das Laienpublikum als wissenschaftliche Lehrmeinung eingedrungen ist und sich als Dogma dort festgewurzelt hat, ein viel zäheres Dasein zu haben pflegt, als die leichter sich ändernden Anschauungen bei den Vertretern der Wissenschaft selbst. Der Laie pflegt vielfach nur auf die verba magistri zu schwören und läßt sich dabei von allgemeinen Schlagworten leiten, die an Gefühl und Gesinnung appellieren. Erkenntnis und Wissen wird dadurch für ihn leicht zu einer Sache des Glaubens, die gegen alle anderen Meinungen blind und unduldsam macht. Dagegen hat der Naturforscher immer wieder von neuem Gelegenheit, die ihm überlieferten, einseitigen und unvollkommenen Erkenntnisse an den unverfälschten Tatsachen, welche die Natur ihm als Objekte für eigene Untersuchungen darbietet, zu prüfen, und, wo es not tut, zu berichtigen. Denn wenn auch die Natur- gesetze unveränderlich sind, so unterliegen doch die vom Menschen über sie aufgestellten Ansichten, weil sie nur menschlich einseitige sind, oft vielfachem Wandel im Laufe der Zeiten. Daraus aber folgt, daß in dem- selben Maße, als sich die Wissenschaft in tiefer eingreifender Weise ver- ändert, dann auch die Arbeit der Aufklärung in weiteren Kreisen immer wieder von neuem einsetzen muß. Obwohl mein Buch in der Kriegszeit erscheint, steht es nach Ur- sprung und Inhalt, wie schon ausgeführt wurde, in keinem noch so ent- fernten Zusammenhang mit ihr. Man würde irren, sollte man meinen, daß ich mich gerade jetzt gegen Darwıns Theorie wende, weil er ein Engländer ist. Wenn ich auch die Selektionstheorie und viele mit ihr verknüpften Ansichten über die beim Werden der Organismen wirkenden Ursachen für irrig halte, so hege ich gleichwohl die größte Hochachtung vor DARWIN und HAECKEL als bahnbrechenden und erfolgreichen Natur- forschern von den vielseitigsten Verdiensten. Wenn ich diese, wie bei EA Vorwort zur ersten Auflage, XIII den verschiedensten Gelegenheiten !), so auch jetzt offen anerkenne, fühle ich mich dadurch in keinem Widerspruch zu meiner gegenwärtigen, aber schon seit langer Zeit vorbereiteten Stellungsnahme zu den Lehren des Darwinismus. Wenn somit ein Zusammenhang zwischen der Entstehung meines Buches und der Kriegszeit fehlt, so erfüllt es mich doch mit einer gewissen Befriedigung, daß die Veröffentlichung mit diesem Zeitpunkt zusammen- fällt. Denn wenn auch Kunst und Wissenschaft jetzt hinter wichtigeren Erfordernissen des Tages zurückstehen müssen, so halte ich trotzdem den Augenblick der Veröffentlichung für keinen ungeeigneten. Werden doch ohne Frage die. Wirkungen dieses schweren Weltkrieges und der durch ihn allen Völkern auferlegten Prüfungszeit nicht nur in politischen und wirtschaftlichen Beziehungen, sondern auch in vielen Fragen der Kultur und Wissenschaft von Folgen begleitet sein, deren Tragweite sich gar nicht übersehen läßt. Wie mit der französischen Revolution, wird auch von diesem Weltkrieg an vielleicht ein neues Zeitalter in der Ent- wicklung der Völker datiert werden. Eine Umwertung von vielen Werten, die schon zum Teil begonnen hat, wird sich von neuem vollziehen. In solcher Zeit wird das schon morsch gewordene Lehrgebäude des Dar- winismus den vertieften und erweiterten wissenschaftlichen Erkenntnissen auf allen Gebieten der Biologie nicht widerstehen können. Von dieser Überzeugung durchdrungen, gebe ich dem lange ge- planten, doch erst spät vollendeten Buch den Wunsch mit auf den Weg, daß es einen im Sturm der Zeit empfänglich gewordenen Boden für seine Aufnahme finden und zu seinem bescheidenen Teil mit beitragen möge, die Stellung der Biologie zu allgemeineren Fragen der Weltanschauung und der Naturwissenschaft in ein richtigeres Verhältnis zu setzen, als es durch die Selektions- und Zufallstheorie, durch die unbegründeten Abstammungshypothesen, ferner durch die einseitig mechanistische Forschungsrichtung und durch die auf ihrem Boden erwachsene populäre Literatur geschaffen worden ist. Mein Vorwort schließe ich mit dem Ausdruck besonderen Dankes an den Herrn Verleger, der, obwohl selbst durch seine Einberufung zum Heer an der Leitung seines Verlages verhindert, nicht gezögert hat, auch unter den erschwerten ‚Verhältnissen des Krieges die Herausgabe eines größeren wissenschaftlichen Werks zu übernehmen. I) Hertwig, Oscar, Darwins Einfluß auf die deutsche Biologie. Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik, 1909, $- 953—958. Grunewald-Berlin, Januar 1916. Oscar Hertwieg. Inhalt. Seite Erstes Kapitel. Die älteren Zeugungstheorien .. 2 2 I . Die Theorie der Präformation oder Erolrian 2. Die Theorie.der Panspermie ....2 2.02. 2. ee). 2 nr 9 3. Die Theorie der Epigenesis.. . . 2) ni 3 ee ET; ° Schlußwort zur Geschichte der sfteren Zeigune he en 16 Zweites Kapitel. Die Stellung der Biologie zur vitalistischen und mechanisti- schen Lehre vom Leben. ... ee er ee WR 19 a) Bemerkungen zur vitalistischen Biene, in a Brad TR, ER T 19 b) Bemerkungen zur mechanistischen Richtung in der Biologie. .... 2ı c) Die Stellung der Biologie zu Chemie und Physik ..... SER 2 Zusammenfassung. Grenzen: naturwissenschaftlicher Erin BRENNEN Drittes Kapitel. Die Lehre von der Artzelle als Grundlage für das Werden der Organismen ... "male ee a ee 5I Einleitung... «7, REN 51 i. Die en a Kein een ai Cruan ie ae SuUchUnPenTErEE Er 57 2. Die Organisation dar Keimzellen sur Cada de ee PCR gesetzes £ 68 3. Die Dialer der Keimsilen AR N der ar Mae De deten experimentellen Forschungsriehtung ... . 2. Ener 71 Allgemeine Ergebnisse... # = nue as an. rn EEE 7ı I. Die Monohybriden . . ... 0... nun 000 a „Die Dihybriden . . . . . 2. ..n u un 202 BuEDıe FPolyhvbriden... we 89 4. Die Organisation der Keimen Er Ban der mio Bor schung des Befruchtungsprozesses, sowie der Ovo- und Spermiogenese 94 a) Der Befruchtungsprozeß . . . . “u an 2. 0 in b) Die Kernidioplasmatheorie . . . Sun ne ee Be Beweise für die Kernidioplan ati DERSEN 101 . Erster Beweis: die Äquivalenz der niehen a der ei Erbmasse „ . « ._ewle p win m mmn ne Inhalt. xXV Seite ‚2. Zweiter Beweis: die gleichwertige Verteilung der sich ver- mehrenden Erbmasse auf die aus dem befruchteten Ei hcervor- BEErKlEsIEZellEHEe ne ee ee LOR 3. Dritter Beweis: die Verhütung der Summierung der Erbmassen in der Reihe der Generationen durch den Reduktionsprozeß bei Dina Samenteten se TEE NEOZ EEE BEWEISen De NE TAT FILE ee een ne... SIRO Viertes Kapitel. Die allgemeinen Prinzipien, nach denen aus den Artzellen die meerzellicem Orsanısmen entstehen . . . ....... 20. 0... IIQ ı. Das Prinzip der Zellenvermehrung und der durch Potenzierung be- wirkten Mannigfaltigkeit . . . . Le, a) Die einzelligen Lebewesen und ae Kentzellen der ee a ne 120 b) Die Teilung der Artzelle, die zur Entstehung eines vielzelligen Repräsen- anf A he ee er NL ar ar ER 7%! 2. Das Prinzip der Arbeitsteilung und Differenzierung... . . . .. . 136 3. Das Prinzip der physiologischen Integration .. .......... 144 4. Das Prinzip der Korrelation oder Koadaptation .......... 156 a) Die Korrelation im ausgebildeten Organismus . .. . .2.... 157 b) Die Korrelation im EntwicklungsprozeB . ... ro 5. Mittel und Wege zur gegenseitigen Beeinflussung von Zellen; een EEE ee ame e ee, = ee.) 2O0 Fünftes Kapitel. Die Umwertung des biogenetischen Grundgesetzes ...... 174 Die Stufenfolge in der Entwicklung. — Der Parallelismus zwischen onto- genetischer und vergleichend-anatomischer Forschung . . . ..... 174 1. Metamorphosenreihen in der Entwicklung der Wirbeltiere . . . 175 2. Versuche einer Erklärung der ontogenetischen Metamorphosenreihen Bier die Rekapitulationstheorie von MECKEL und durch HAEcKELSs biogeneti- EEE EN et 2 184 3. Umwertung des biogenetischen Grundgesetzes . . . 187 a) Begründung der Ansicht, daß ontogenetische inngeh Rück- schlüsse auf hypothetische Stadien der Phylogenese gestatten... . 1go Die Schlundspalten und Visceralbögen der Säugetiere als Zeugnisse 190 Die Metamorphosenreihe von Sacculina als Zeugnis für ihre Phylogenese 196 Die Bedeutung der rudimentären Organe für TAB Schluß: folgerungen ... s 200 "b) Zwei Einwände gegen dal bir etikche Gindeskets in seiner 23 Bassnuer.. .. ..-. OR BI BR RE HE EEE NE a ee ic ar 204 c) Weitere een ihr; RE ei 3 rn, 214 1. Innere ontogenetische Kuksaeiihi NET 2 214 2. Interpolation larvaler Organe, die aut essen dlischer Ka kin an äußere Bedingungen beruht . ... eier ;2IÖ 3. Die Heterochronie in der Anlage der Mesa le ZI7 Bere r EEE DATE TBEWU LT: xXVI Inhalt. Seite Sechstes Kapitel. h Die Erhaltung des Lebensprozesses durch die Generations- tolga.T... on wann et a ne 1. Die Stammtakel een Die a ut Veran a a 2. Die :Ahnentafel”, 2... - B 2 Aa FO 3. Das bei geschlechtlicher RER it Netzwerk 236 4. Das Problem des Ahnenplasma . .. . SEIEN 5. Unwissenschaftliche Verwendung des Begritfes Staa N re IC 6. Tod und Verjüngung . . -. .. u. un nn 2 Siebentes Kapitel. Das System der Organismen . .. ».. 2 „02 2 2a Der Speziesbegriff .... . Si ee ee Trennung der Lınn&schen Pe in ee Grappa BREUER. Kormen . . - me ae ee 1. Die ERETD a re ne Ra FR 2. Die Varietäten, Unterarten oder aa RE 3. Die reinen Linien (Biotypen) . - - . . 2.0. m un er Achtes Kapitel. Die Frage nach der Konstanz der Arten ... „ DS SEE I. Die Variabilität im Organismenreich und die Varianten einer Pilanzen- und Tierart... ., \ . a ea mlacn a ee A I. Die Geschlechtsvarianten . . . ee ee REN a) Experimentelle Beeinflussung en Geschlaräi a äußere Fak- | TOFeN „Hana 3 nn are Ba EEE b) Die eh „Geschlechischrmiecknl eh BE 7: - 295 2. Die Varianten beim Saisondimorphismus und beim Peljenihiine im Tierreich . . . er . | 3. Die Standorts-, die Kultur- = Unschlasvael Pilanzenreich 301 4. Die fluktuierenden Varianten .. 2. zn = Sn 306 5. Die monströsen Varianten ... ® 2. ie en ee ee El Die Bildungsanomalien und Nobsknirkien im Pina 2-37 Die Bildungsanomalien und Monstrositäten im Tierreich . . . . . 332 Neuntes Kapitel. Die Frage nach der Konstanz der Arten .... RR en, RE II. Die Mutabilität der Organismen als Grundlage der Entstehung neuer Arten” >... . WATER ED, 2338 ı. Die Mriatiän äh Arkanlie durch Neukuunkikeiai zweier artverschie- dener Idioplasmen : . . ....... vw lan we ee Er; .) 2. Die Mutation der Artzelle duch direkte v N ihres EBERERER 344 a) Sprunghafte Mutation der Artzelle im Pflanzenreich. .. . ... 345 Mutation von Chrysanthemum segetum . . ». ». 2. 2 2 2... 347 Mutation von Linaria vulgaris . -. . ». - u u. 2 2 53. .- 349 Weniger genau studierte Mutationen . . . » . 2. 2... z We b) Sprunghafte Mutation der Artzelle im Tierreich ar Te a Mutation von Leptinotarsa . ....’ „>... „u. SEE EEE - 354 Mutation von Schmetterlingen . . 2 m Inhalt. .Zehntes Kapitel. Die Stellung der Organismen im Mechanismus der Natur Erster Abschnitt: Das Maß der Empfindlichkeit, mit der die Organismen auf äußere Faktoren reagieren Zweiter Abschnitt: Die Anpassungen de een: an vn Ich Natnr a) Anpassungen im Pflanzenreich > b) Anpassungen an. die leblose Natur im RER E Der morphologische Grundplan für die tierische Ernährung . I. Die Atmungsorgane . 2. Das Nervensystem 3. Die Sehorgane 4. Die Werkzeuge zur derung Elftes Kapitel. Die Stellung der Organismen im Mechanismus der Natur Dritter Abschnitt: Anpassungen der Organismen aneinander . a) Anpassungen zwischen Pflanzenarter b) Anpassungen zwischen Pflanzen und Tier 1. Die Anpassung der insektenfressenden Pflanzen 2. Die Anpassung der Mundwerkzeuge der Insekten an Bi Bei es Nahrungserwerbs 3. Die Anpassung der Blüten der BETTER an len Tnechtentesuch c) Anpassungen zwischen zwei Tieren gleicher oder verschiedener Art ı. Die Tierstöcke und Tierstaaten 2. Die Anpassungen zwischen beiden Geschlechiem ed, chen Mutter und Frucht‘. e 3. Der Kreislauf des Lebens und des Einfluß der > A: auf die v er- breitungsweise der Organismen a) Von DAarwın verwertete Ergebnisse FE Eins: a Tier- geographie = b) Die Lehre von der Ban und ne Bene ; Zwölftes Kapitel. Das Problem der ang I. Was hat man unter dem Begriff der V oe erw ee Bene zu verstehen? . 2 - 2. Auf welchem Wege ande neue agent erw Be a Ai Ken lagen vererbt werden? . Fa I. Die Hypothesen der en von eo IN Er ee en, von WEISMANN € 2 U. Kritik und Ersatz der Berächen- aid ne ERRE RE E I. Einwand. Die Methode von Darwın und WEISManNN . II. Einwand. Die von der Hypothese verlangte übergroße Zahl de Keimchen und Determinanten usw. führt zu ER un- „möglichen Vorstellungen : ‘II. Einwand. Logische Unhaltbarkeit des von er IN er Wr EIS- MANN formulierten Begriffs der erblichen Anlage IV. Einwand gegen Darwıns und WEISMANNS eh V. Einwand gegen die künstlichen Gegensätze, in welche Weıs- MANN Keimzellen und ‚Soma‘ gebracht hat a XVIII Inhalt. Dreizehntes Kapitel. III. Der gegenwärtige Stand des Vererbungsproblems re erworbener Eigenschaften. . . . A: . Veränderung der Keimzellen und ine Orgeuisiah duch experimentelle Eingriffe 2. Die Entstehung und Vererbung neuer alas bei vielaeiien Oak nismen . a) Die Eisoese de Sutischee Tnäkeee b) Die Hypothese der Parallelinduktion (DETTo) oder En ee Reizleitung (PLATE) - c) Die Untauglichkeit der Beiden ya Ba die Schule keiten einer befriedigenden Lösung des Erblichkeitsproblems . Vierzehntes Kapitel. Die Geschichte der Deszendenztheorien. Lamarckismus und Darwinismus 1... Die Lehre von-Lamarck 72 2 ar A Sale 2. Die Lehre von Charles Darwin ". 2 Wr. nr Se 3. Die Nachfolger und Anhänger Darwins, E. Haeckel u. A. Weismann Fünfzehntes Kapitel. Kritik der Selektions- und Zufallstheorie - A. Kritik der Selektionstheorie in ihrer Anwendung auf iR domestisiänkie Rassen . s . Die beiden experimentell festgeitlen was BR: dene abpeändes Organismen entstehen . a) Die Kombination zweier en, b) Durch Mutation des Be entstehende, abgean Orga- nismen - N 7008 2. Auswahl und Auenlor von Varianten 3. Zusammenfassung der Kritik . 4. Der logische Irrtum in der Begründung der Tech von ae künstlichen Zuchtwahl . B. Kritik der natürlichen Zuckteahl (aa selsuiine e ı. Gruppe der Einwände: betreffend den Selektionswert Klier Oak nisationsvorteile. 2. Einwand: der fehlende See ia morpheee Merk- male 3. Gruppe von Eiaw ante Allzsnikiae Gesetzmäigkeiten die sich nicht durch Selektion von zufälligen Organisationsvorteilen erklären lassen 4. Einwand, welcher der Genealogie der Organismen entnommen ist . 5. Gruppe von Einwänden: Die Stellung der Selektionstheorie zum Zweckbegriff . C. Kritik der Intraselektion oder des Kampf der Teilen im Orga (Roux) D. Ein letztes, wenn auch mehr untergeordnetes Argument „...... Sechzehntes Kapitel. Zusammenfassung „..... a . Nachwort zur ersten und zweiten "Aufine te en . Register 591 609 (04 009 Erstes Kapitel. Die älteren Zeugungstheorien. Indem man die Lebewesen Organismen nennt, bezeichnet man mit richtigem Gefühl das hauptsächlichste Merkmal, durch welche- Pflanzen und Tiere sich von den Objekten der leblosen Welt unters scheiden. Ihre Organisation ist etwas so Eigentümliches und von allem, was uns Physik und Chemie vom Bau der leblosen Körper lehren, so sehr Verschiedenes, daß sie von diesen auch heute noch trotz der weit fortgeschrittenen Erkenntnis der Naturwissenschaften durch eine tiefe Kluft getrennt sind. Wie die Zusammensetzung der Maschinen aus verschiedenartigen, aneinander gepaßten und für besondere Arbeitszwecke konstruierten Maschinenteilen ihre eigentümliche Wirkungsweise und Arbeitsleistung bestimmt, so hängt auch mit der spezifischen Organisation der ver- schiedenen Pflanzen und Tiere die Summe ihrer zahlreichen, gleichfalls spezifisch unterscheidbaren Funktionen zusammen. Spezifische Organi- sation und spezifische Wirkungsweise bedingen sich gegenseitig. Die eine ist ohne die andere nicht möglich. Ihr Studium bezeichnet da- her die beiden Wege, auf denen der Naturforscher als Morphologe oder als Physiologe in die Erkenntnis der Organismenwelt tiefer eindringt. Von beiden Wegen ist wohl ohne Frage der morphologische der leichter gangbare. Die Erforschung der Organisation der Lebewesen, ihres Aufbaues aus Organen, aus Zellen und noch feineren Strukturteilen ist im allgemeinen leichter auszuführen, als der Einblick in ihre Wir- kungsweisen. Auch lehrt die Geschichte der Biologie, daß größere Fort- schritte auf dem Gebiete der Physiologie durch große Entdeckungen auf dem Gebiete der Morphologie eingeleitet, vorbereitet und oft erst ermöglicht worden sind. Am Ausgang des Mittelalters wurde eine neue Epoche durch die großen Meister der Anatomie, durch VESAL (1534), EustAcHIus und FArropıus eröffnet. Und wieder hat in der Mitte des O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl. I 2 Erstes Kapitel. 19. Jahrhunderts die normale und pathologische Physiologie durch die Begründung der Zellentheorie, wie einst JOHANNES MÜLLER treffend bemerkt hat, ein neues wissenschaftliches Fundament erhalten. Denn erst von da an wurde es möglich, die Funktionen der lebenden Körper noch genauer als vordem zu lokalisieren und auf die Tätigkeit spezi- fischer Zellen, der Drüsen-, der Muskel-, der Ganglien-, der Sinnes-, der Keimzellen usw. zurückzuführen. Auch was wir von der Physiologie der Zeugung und Entwicklung wissen, beruht zurzeit vorwiegend auf morphologischen Entdeckungen. Das Verhältnis zwischen Morphologie und Physiologie ist ein ähn- liches wie zwischen den chemischen und physikalischen Grundwissen- schaften. Die Chemie nimmt in vielen Beziehungen, in ihren Aufgaben und Methoden eine ähnliche Stellung wie die Morphologie der Orga- nismen ein. Sie bringt die Natur der unorganischen und organischen leblosen Stoffe unserem wissenschaftlichen Verständnis näher, indem sie ebenfalls einen feineren Bau derselben durch Zerlegung in ihre Ele- mente nachweist oder, wie man gewöhnlich sagt, ihre Elementarstruktur durch Analyse feststellt. Auf Grund derselben ordnet sie ebenfalls alle uns umgebenden Stoffe und solche, die sie mit ihren Methoden selbst erst schafft, in ein übersichtliches, natürliches System ein. Wenn die Chemie einen höheren Grad von Exaktheit als die Morpho- logie in ihren Ermittlungen erreicht hat, so liegt dies hauptsächlich an den viel einfacheren Verhältnissen, mit deren Studium sie sich be- schäftigt; infolgedessen kann sie bei ihren Analysen wägen und messen, sie kann feste, mathematisch ausdrückbare Zahlenverhältnisse zwischen den in einer Verbindung enthaltenen chemischen Elementen ermitteln und sie in leicht faßlichen Strukturformeln zum Ausdruck bringen. Einen noch viel größeren Vorsprung gegenüber der Morphologie zeigt sie endlich darin, daß sie mit der Analyse sogar die Synthese verbinden kann. Den in seine Elemente zerlegten Stoff kann sie auch wieder aus den Elementen aufbauen und so die verschiedenartigen und oft kompli- zierten Wege nachmachen, auf denen in der Natur zusammengesetzte Substanzen aus einfacheren entstehen können. Für den Morphologen der Gegenwart aber würde ein derartiges Ziel seiner Wissenschaft in Anbetracht der noch kaum zu übersehenden Komplikation der lebenden Organisationen in nebelhafter Ferne schweben. — Wie die Chemie als analytische Wissenschaft viele Berührungs- punkte in ihren Aufgaben und Methoden mit der Morphologie darbietet, so auch die physikalische Chemic mit der Physiologie. Der Chemophysiker baut mit seinen Fragestellungen auf dem von der analytischen Chemie Die älteren Zeugungstheorien. 3 vorbereiteten Boden weiter. Um die Eigenschaften und Kräfte der Körper und ihres Verhaltens zu den sie aufbauenden Elementarteilen physikalisch näher erforschen zu können, müssen die Arbeiten des Che- mikers zuvor die Grundlagen geschaffen haben: die Erkenntnis der Zusammensetzung aus Atomen und der Einblick in ihre Anordnung durch Aufstellung der Strukturformeln muß vorausgegangen sein. — Ebenso hat die physiologische Forschung die anatomische Erkenntnis der Organe und Gewebe zu ihrer Voraussetzung; sie kann sich um so mehr vertiefen und schwierigere Fragen aufwerfen, wie z. B. in der Physiologie des Hirns und der Retina, je besser die materielle Grund- lage, an die bestimmte physiologische Leistungen gebunden sind, er- forscht ist, nämlich der Aufbau der grauen Hirnrinde mit ihren Lei- tungsbahnen, die Schichtung der Retina mit ihren Stäbchen und Zapfen. Auch die Frage, die uns in den vorliegenden Aufsätzen beschäftigen wird: wie sind die Organismen auf natürlichem Wege entstanden, ge- winnt eine viel schärfere Fassung, wenn wir sie in die Frage umwandeln: wie ist die Organisation der Lebewesen entstanden? Um aber hier- über etwas aussagen zu können, ist es klar, daß wir zuvor einen Ein- blick in die Organisation, deren Entstehung wir ergründen wollen, be- sitzen müssen. Der Morphogenesis muß die Morphologie vorausge- gangen sein. Die Geschichte der Morphologie ist hierfür sehr lehrreich. Denn auch in früheren Zeiten hat die Frage nach der Entstehung der Orga- nismen die Naturforscher viel beschäftigt. An den sehr verschiedenen Hypothesen, die hierüber aufgestellt wurden, läßt sich deutlich zeigen, wie sich in ihnen der Stand der morphologischen Kenntnisse ihrer Ur- heber spiegelt. Ihre Geschichte ist daher ein interessantes Kapitel, das sich zur Einführung in unser Thema vorzüglich eignet. Unter den älteren Zeugungstheorien sind drei von größerer wissen- schaftlicher Bedeutung gewesen und noch jetzt der Beachtung wert: I. die Theorie der Präformation oder Evolution, 2. die Theorie der Pan- spermie und 3. die Theorie der Epigenese. I. Die Theorie der Präformation oder Evolution ’). In früheren Jahrhunderten war die Urzeugung von Organismen aus dem Schoß der leblosen Natur eine weit verbreitete Lehre. Im 1) Hertwig, Oscar, Die Entwicklungslehre im 16. bis I8. und im 19. Jahr- hundert. Einleitung zum Handbuch der vergleichenden und experimentellen Entwick- lungsiehre der Wirbeltiere, Fena 1906. (Das erste Kapitel dieser Schrift ist eine kurz 1* 4 Erstes Kapitel. Altertum und Mittelalter empfanden viele Forscher kein Bedenken bei der Annahme, daß selbst höhere Organismen aus dem Schlamm der Gewässer oder aus faulenden Substanzen: Frösche aus Sümpfen, Fliegen und Milben aus faulem Fleisch und Käse, ihren Ursprung nehmen. Man war gern geneigt, besondere schöpferische Kräfte zur Erzeugung von Lebewesen, einen Nisus formativus, der Natura creatrix zuzu- schreiben. Je weniger man sich vom Wesen einer solchen Kraft eine Vorstellung machen konnte, um so schwerer war der Glaube an eine Generatio aequivoca auszurotten. Wenn er in einem Fall, wie bei der Entstehung der Fliegenmaden, durch Entdeckung der Eier und durch einfache Experimente von dem Italiener REpI widerlegt worden war, so tauchte er bald wieder an anderer Stelle auf. Daß Infusorien sich aus Infusen organischer Substanzen durch Urzeugung bilden, galt lange Zeit als sicher ausgemacht; die einfachen und richtigen Experimente von SPALLANZANI konnten viele Forscher (ORENn) in ihrem Irrtum nicht wankend machen. Über die Urzeugung von Bakterien aus organischen Flüssigkeiten hat man noch bis in die jüngste Zeit heftig gestritten ; wurde doch erst durch PASTEUR und R. KocH das Gegenteil mit Hilfe des Experiments in überzeugender Weise dargetan. Augenblicklich ist dadurch die Frage der Generatio aequivoca zu einem Stillstand gekommen und hat für die Naturforscher ihre Anziehungskraft verloren. Gegenüber den abenteuerlichen, auf schlechter Beobachtung ba- sierten Ideen, daß Organismen wie Bakterien, Infusorien, Würmer, Insekten, Frösche etc. sich durch Urzeugung bilden sollten, muß das Dogma der Präformation, welches mehrere Jahrhunderte die Wissen- schaft beherrscht hat, als ein großer Fortschritt bezeichnet werden. Nach der Vorstellung der Evolutionisten sind die Keime der Organismen nichts anderes als diese selbst, nur in außerordentlich verkleinertem Zustand. In diesem Sinne bezeichnete SPALLANZANI in seiner Unter- suchung über die Froschentwicklung das bwfruchtete Ei selbst schon als kleines Fröschchen. Für ihn handelte es sich hierbei nicht um eine Hypothese, sondern um eine einfache Tatsache, da ja nachweislich der gefaßte und teilweise veränderte Wiedergabe meiner Darstellung vom Jahre 1906.) — Swammerdam. Biblia naturae, sive historia insectorum in certas classes reducta. Leiden 1737—38 in deutscher Ausgabe: Bibel der Natur. Nebst Swammerdams Leben van Boerhave, 1752. — Leeuwenhoek, Philosophical Transactions, 1677. — Male- branche, De la recherche de la verite 4 edit. Amsterdam, 1088. — Spallanzani, Versuche über die Erzeugung der Tiere und Pflansen etc. Uebersetst von Michaelıs. 1780. — v. Haller, Albrecht, Anfangsgründe der Physiologie des menschlichen Körpers. Übersetzt von Halle, Ba. VIII, 1775. — Bonuet. Considerations sur les corps organises, Genöve 1702, in deutscher Übersetzung von Goese, Betrachtungen über die organisierten Körper, 1775. Die Theorie der Präformation oder Evolution. 5 Frosch aus der Kaulquappe und diese wieder kontinuierlich aus dem Ei hervorgeht. In der gleichen Weise weiter schließend, hielt es SPAL- LANZANI auch für ausgemacht, daß die zukünftigen Fröschchen in ihrer Mutter lange Zeit, ehe die Eier ausgestoßen und befruchtet werden, vorhanden sind. Auch gibt er an, die Fröschchen, welche erst in den nächsten Jahren geboren werden sollen, im Eierstock gesehen zu haben; er meinte hiermit die kleinen Eier, welche in diesem nach Ausstoßung der reifen am Ende einer Laichperiode zurückbleiben. SWAMMERDAM glaubte durch musterhafte Untersuchungen das meiste Beweismaterial für die Richtigkeit der Präformation geliefert zu haben: er lehrte, daß Ei, Raupe, Puppe und Insekt nur verschiedene Entwicklungsstadien eines und desselben Tieres sind. Daher will er die Eier lieber geradezu Eierpüppchen heißen, mit der Begründung, daß in ihnen die Tierchen in Gestalt eines Püppchens darin stecken; auch zieht er vor, das sogenannte Ei, das die Tierchen umgiebt, besser seine Haut oder Schale zu nennen Es hat im 19. Jahrhundert eine Zeit gegeben, in der man die Vor- stellung, daß im Ei schon die betreffende Tierart im kleinen enthalten ist, in das Lächerliche gezogen und die Vertreter der Präformations- theorie für phantastische und durch religiöse Vorstellungen beschränkte Köpfe erklärt hat. Das Urteil ist bei Berücksichtigung der Zeitlage und des Zustandes der biologischen Forschung ein ungerechtes. Die Forscher, die so urteilen, übersehen, daß die hervorragendsten Gelehrten ihrer Zeit, ein MARCELLUS MALPIGHI, ein SWAMMERDAM, SPALLANZANI, HALLER, LEEUWENHOEK, LEIBNIZ, BONNET u. a. Evolutionisten gewesen sind. Daß ihre Lehre sich im Einklang mit der biblischen Überlieferung befand, kann ihnen in einer Zeit, welche noch von christlich-religiösen Vorstellungen in tiefster Weise beeinflußt wurde, gewiß nicht zum Vor- wurf gemacht werden. Denn wir alle werden von den tonangebenden Strömungen unserer Zeit beeinflußt. Vor allen Dingen aber darf, um ein richtiges Urteil abgeben zu können, nicht übersehen werden, daß die Evolutionisten auf Grund von Ergebnissen ihrer wissenschaftlichen Forschung und von Beobachtungen, die für ihre Zeit als vorzüglich bezeichnet werden müssen, die Theorie der Präformation glaubten auf- stellen zu müssen. Denn was gerade die exakte Beobachtung betrifft, so haben Forscher, wie MALPIGHI, SWAMMERDAM, HALLER und SPALLANZANI geradezu bahnbrechend gewirkt und die Erkenntnis der’ tierischen Or- ganisation, namentlich auch während des Embryonallebens, in grund- legender Weise gefördert. Auch vom Standpunkt unserer aufgeklärten Zeit betrachtet, hatten 6 Erstes Kapitel. die Evolutionisten im Durchschnitt viel richtigere Vorstellungen von der Organisation der Lebewesen, als viele ihrer Widersacher, welche für die Lehre von der Urzeugung eintraten. Auch jetzt würde man ohne Bedenken viele Sätze unterschreiben können, durch welche HALLER und BoNnET in ihren Schriften die Vorstellung bekämpfen, daß eine Naturkraft nach einfach mechanischen Prinzipien aus einer unge- ordneten, rohen Stoffmenge einen komplizierten Organismus hervor- bringen könne. In dem Bestreben, über die Erfahrung hinaus die Entwicklung der Organismen zu begreifen, scheiterten die Evolutionisten an der Unzulänglichkeit ihrer Beobachtungsmittel und an der Unmöglich- keit, eine Antwort auf eine Frage zu finden, welche für den Stand des Wissens damaliger Zeit noch nicht reif war. In dieser Beziehung sind sie uns ein lehrreiches Beispiel, daß sich Naturverhältnisse, solange sie für Beobachtung und Experiment gleich unzugänglich sind, nicht einfach durch Spekulation philosophisch erfinden lassen. Die Evolutionisten standen noch auf dem Boden der Wirklich- keit bei ihrer Lehre, daß sehr junge Embryonen im allgemeinen schon aus denselben Organen als das fertige Geschöpf aufgebaut sind, und daß ihre in kleinerem Maßstab nachweisbaren Organe weicher und häufig auch durchsichtiger und von etwas anderer Form sind. Auch jetzt kann man mit HALLER sagen, ‚daß die wesentlichsten- Teile der Frucht schon längst, aber nicht als solche, wie sie bei großen Tieren erscheinen, gebildet sind, daß das Hühnchen im Ei vom vollkommenen Huhn nicht weniger verschieden ist, als die Raupe vom Schmetterling‘. Nur dadurch,daß dieEvolutionisten ihre an jungenEmbryonen gewonnenen Erfahrungen auch auf den Anfang der Entwicklung über die Erfahrung hinaus und zum Teil im Widerspruch zu ihr glaubten ausdehnen zu müssen und daher für das unbefruchtete Ei selbst eine Organisation gleich der des ausgewachsenen Organismus annahmen, verfielen sie in einen Irrtum, der dann in seinen Konsequenzen immer verhängnisvoller wurde und gewissermaßen schon von selbst die Präformationstheorie ad absurdum führte. Wurde man doch auf ihrem Wege schließlich zur berüchtigten Einschachtelungstheorie geführt! Denn wenn in der langen Folge der Generationen ein Organismus immer den anderen hervorbringt, ihn aber nicht wirklich neu bildet, sondern bereits fertig als kleinstes Miniaturgeschöpf einschließt, so mußte man bei logischem Fortspinnen dieses Gedankens unweigerlich zu der Vorstellung geführt werden, daß überhaupt alle Geschöpfe, die einst gelebt haben und noch leben werden, in einem ersten Geschöpf der entsprechenden Art als Keime Die Theorie der Präformation oder Evolution. 7 der Zukunft schon angelegt oder eins in dem anderen eingeschachtelt gewesen sind. Die Erschaffung eines solchen Wunderwerks aber über- ließ man der Weisheit des allmächtigen Schöpfers am Anfang aller Dinge. Dem Philosophen MALESBRANCHE blieb es vorbehalten, diesen Ge- dankengang in ein philosophisches System zu bringen. ‚Denn unsere Sinne‘‘ — so führt er aus — ‚sind nur beschränkt; die Vorstellung von Größe und Ausdehnung sind sehr relative. ‚Obschon im Vergleich zum Menschen eine Milbe ein unendlich kleines Tier sei, lasse sich ein logischer Grund nicht anführen, daß es nicht Tiere gebe, die noch unendlich kleiner als eine Milbe sind. Denn die Materie sei ins Unendliche teilbar. Daher dürfe der Verstand vor dem, was die Augen sehen, nicht Halt machen. Denn das geistige Auge sei viel schärfer als das körperliche.“ Und so kommt er denn zu dem verhängnisvollen Schluß: ‚Nous devons penser outre cela que tous les corps des hommes et des animaux qui naitront jusque & la consommation des siecles, ont peut-Etre &t& produits des la creation du monde; je veux dire que les femelles des premiers anımaux ont peut-Etre EtE cr&ces avec tous ceux de la m&me espece qu’ils ont engendres et qui doivent s’engendrer dans la suite des temps.“ Wie abenteuerliche Ideen, wenn sie nur mit Logik, mit Methode und Beredsamkeit vorgetragen werden, ihren begeisterten Lobredner auch unter ernsten Forschern finden können, dafür mag uns der Schweizer Gelehrte Bonner als Beispiel dienen; er sagt: die Hypothese der Ein- schachtelung (emboitement) sei eine von den größten Siegen des Ver- standes über die Sinne. ‚Die verschiedenen Ordnungen so unendlich kleiner Dinge, welche nach dieser Hypothese ineinander eingeschlossen sind, beschweren die Einbildung, ohne die Vernunft zu erschrecken.“ Auch der Poet kann bei solchen wissenschaftlichen Hypothesen auf seine Rechnung kommen. Er kann im Hinblick auf die prästabilierte Harmonie des Weltgeschehens sich mit dem Gefühl einer inneren Zu- friedenheit, wie BoNNET wörtlich sagt, „in dem Schoße der Ämilia den Keim des Helden vorstellen, der nach einigen Jahrtausenden ein mächtiges Reich aufrichtet, oder vielmehr des Weltweisen, der alsdann der Welt die Ursache der Schwere, das Geheimnis der Erzeugung und die Me- chanik unseres Wesens erklären wird“. Mit Absicht bin ich auch auf diese Extravaganzen eingegangen, weil sie für die menschliche Natur charakteristisch sind, und weil Ähn- liches, was wir jetzt als eine weit zurückgelegene Geschichte mit größerer Objektivität an unserem Auge vorbeiziehen lassen können, sich auch in der heutigen Wissenschaft unter anderer Form wieder abspielt. Gerade 8 Erstes Kapitel. auf dem Gebiete der Biologie, die es mit so viel schwierigeren und: ver- wickelteren Verhältnissen, als die exakten Wissenschaften der Physik, Chemie und Mathematik zu tun hat, kann die moderne Wissenschaft aus den Irrungen früherer Jahrhunderte lernen. Auf diesen Punkt werde ich noch später zurückkommen. Daß die Einschachtelungslehre, als letzte Konsequenz der Prä- formationstheorie, dieser selbst auf die Dauer verhängnisvoll werden mußte, ist von vornherein verständlich. Auch konnte der Widerspruch nicht ausbleiben, als mit der Entdeckung der Samenfäden durch LEEU- WENHOEK die Streitfrage aufgeworfen wurde, ob man im Ei oder im Samen- faden das präformierte Geschöpf zu erblicken habe. Teilten sich doch aus diesem Anlaß die Evolutionisten selbst in die sich heftig befehdenden Schulen der Ovisten und der Animalkulisten! Das ist ja das Gute und Tröstliche in der Entwicklung der Wissen- schaften, daß häufig auch der Irrtum, indem er Widerspruch hervor- ruft, der besseren Erkenntnis die Wege bereitet. Auch dies läßt sich in unserem Fall mit Aussprüchen von Forschern, die der Präformations- theorie schon frühzeitig entgegentraten, belegen. So sieht BUFFON, der Urheber der Lehre von der Panspermie, in der Annahme der Ein- schachtelungslehre nicht nur ein Geständnis, daß man die Entstehung eines Organismus nicht begreifen könne, sondern auch zugleich einen Ver- zicht auf den Willen, sie zu begreifen. ‚Abgesehen davon, daß man die Aufgabe selbst nicht löse, füge man zu ihr noch die neue Schwierigkeit, daß man zu der Annahme einer unendlichen Zahl von Keimen, die alle in einem einzigen eingeschlossen seien, gezwungen werde. So verliere man in dem Labyrinth des Unendlichen vollends den Faden der Wahr- heit und anstatt die Frage aufzuklären und zu lösen, beginne man nur mehr sie zu verwickeln und sich von ihrer Lösung zu entfernen.“ Noch schärfer gibt KAsPAR FRIEDRICH WOLFF dem unbefriedigten Gefühl, das die Präformation in ihm hervorgerufen hat, beredten Aus- druck. In schönen, von Überzeugung durchdrungenen Worten richtet er sich an seine Leser: ‚‚Sie werden sich noch erinnern, daß eine Evo- lution (Präformation) ein Phänomen ist, welches seinem Wesen nach gleich bei der Schöpfung von Gott erschaffen, aber in einem unsicht- baren Zustande erschaffen wurde. Sie sehen bald, ein entwickeltes Phänomen ist ein Wunderwerk, welches von den gemeinen Wunderwerken nur darin unterschieden ist, daß es erstlich zur Zeit der Schöpfung schon von Gott produziert ist, zweitens daß es eine Zeitlang, ehe es zum Vorschein gekommen, unsichtbar geblieben ist. Alle organischen Körper sind also wahre Arten von Wunderwerken. — Allein wie sehr ändert sich nicht Die Theorie der Panspermie. 9 dadurch der Begriff, den wir von der gegenwärtigen Natur haben; und wie viel verliert er nicht von seiner Schönheit. Bishero war sie eine lebendige Natur, die durch ihre eigenen Kräfte unendliche Verände- rungen herfürbrachte; jetzt ist sie ein Werk, welches nur Veränderungen herfürzubringen scheint, in der Tat aber und dem Wesen nach unverändert so liegen bleibt, wie es gebauet war, außer daß es allmählich immer mehr und mehr abgenutzt wird. Zuvor war sie eine Natur, die sich selbst destruierte und sich selbst von neuem wieder schuf, um dadurch un- endliche Veränderungen herfürzubringen, und sich immer wieder auf einer neuen Seite zu zeigen. Jetzo ist sie eine leblose Masse, von der ein Stück nach dem anderen herunterfällt, so lange bis der Kram ein Ende hat. Eine solche elende Natur kann ich nicht ausstehen, und die Samentierchen, in ihrer Hypothese betrachtet, sind nicht ein Werk des unendlichen Philosophen, sondern sie sind das Werk eines LEEU- WENHOEKS, eines Glasschleifers.‘“ Der Wunsch, an die Stelle der Präformationstheorie etwas Besseres zu setzen, war also vorhanden. Auch wurden von verschiedenen Seiten Reformversuche gemacht. Doch da Tadeln so viel leichter ist als besser machen, und da beim damaligen Gesamtzustand der Wissenschaften die Vorbedingungen noch nicht gegeben waren, um der Entwicklung der Organismen auf die Spur zu kommen, enstanden in der Panspermie und in der Epigenesis zwei Hypothesen, die sich ebensowenig haltbar erweisen sollten, als die bekämpfte Präformationstheorie. 2. Die Theorie der Panspermie ') Die Lehre von der Panspermie hat nicht wie die Evolutionstheorie und die Epigenesis in weiteren Kreisen festen Fuß gefaßt. In modernen Betrachtungen über die Geschichte der Biologie pflegt sie häufig in den Hintergrund gedrängt, wenn nicht ganz übergangen zu werden. Und doch ist sie in hohem Maße historisch beachtenswert. Wurde doch in ihr zum erstenmal der Gedanke der elementaren Lebenseinheit, haupt- sächlich auf Grund von biologischen Beobachtungen, in genialer Weise erfaßt und in ein System gebracht, das allerdings, weil auf mangelhaftem Tatsachenmaterial aufgebaut, verfehlt war. BUFFON und OKEN müssen als ihre wichtigsten Vertreter bezeichnet werden. OKEN rühmt die Pan- spermie als die älteste, ehrwürdigste Theorie der Naturphilosophie. Burronx hat 1749 im zweiten Band seiner allgemeinen Naturgeschichte, 1) Buffon, Histoire naturelle, generale et particuliöre, T. II, Parıs 1749. - Oken, Lorenz, Die Zeugung. Bamberg 1805. Io Erstes Kapitel, als Meister einer klaren, naturwissenschaftlichen Darstellungsweise, seine originellen Ansichten in gefälliger Sprache entwickelt. Aus der Tatsache, daß fast an jeder Stelle eines Baumes eine Knospe sich bilden kann, die, abgelöst von ihm, wieder einen Baum liefert, und ebenso aus der Tatsache, daß aus einem in viele Stücke zerschnittenen Polypen sich ein jedes Stückchen wieder zu einem Polypen gestaltet, zieht er den wichtigen Schluß, daß sowohl die Pflanze wie das Tier als eine Ver- einigung zahlloser kleiner Individuen derselben Art aufgefaßt werden muß. In diesem Sinne läßt er die Ulme aus vielen Ulmen, die Hydra aus vielen Hydren zusammengesetzt sein. Auch läßt er die Organismen bei ihrem Tode in die einzelnen lebendigen Elemente, durch deren Ver- einigung sie entstanden sind, wieder zerfallen. Als Beweis hierfür dienen ihm die Experimente des englischen Naturforschers NEEDHAM, welcher beobachtete, daß in Aufgüssen organischer Substanzen durch Fäulnis Infusorien und Bakterien entstehen. Auch während des Lebens sollen die Organismen lebende Teilchen an einzelnen Stellen von sich abstoßen können. Als solche bezeichnet BurFron z. B. die Samenfäden der Tiere und den Blütenstaub der Pflanzen. Eine scharfe Grenze wird auch in der Lehre der Panspermie zwischen der unorganischen Natur und der Welt der Organismen gezogen. Wie jene aus Teilchen unorganischer, unzerstörbarer und unveränderlicher Materie, so besteht auch diese aus kleinen, lebenden, organischen Ein- heiten, welche nur ihr eigentümlich sind. Alle lebenden Wesen bauen sich aus ihnen auf und zerfallen in dieselben wieder bei ihrem Tode. BUFFON gebraucht für sie den Namen ‚‚matiere productive et organique“. Er läßt dieselbe überall in Wasser, Erde und Luft verbreitet sein und eine unerschöpfliche Quelle für die Enstehung neuer Pflanzen- und Tiergenerationen bilden. Bei der Beantwortung der Frage, durch welche Kraft die in der Natur überall verbreiteten Urteilchen des Organischen sich fortwährend wieder zu neuen Pflanzen und Tieren verbinden, wird BUFFON zu der Hypothese eines beständig vor sich gehenden Kreislaufs derselben geführt. Pflanzen und Tiere nehmen die Urteilchen als Nahrung in sich auf, jene mit ihren Wurzeln aus dem Boden, diese, indem sie entweder Pflanzen oder Tiere verzehren, welche beim Verdauungsprozeß sich wieder in die unzerstörbaren, organischen Moleküle auflösen und je nach ihrer Verwandtschaft von den einzelnen Organen assimiliert werden, zu deren Wachstum sie dienen. Wie die Ernährung wird auch die Fortpflanzung durch Abstoßung der im Überschuß aufgenommenen Urteilchen erklärt. Diese sammeln sich bei den niederen Geschöpfen überall als Keime an, Die Theorie der Panspermie CE bei den höheren nur in den Geschlechtsorganen. Weibliche und männ- liche Keimdrüsen sind nach der Ansicht von BurFon gleichsam Behälter, in welche von jedem Organ und von jedem verschiedenen Teil des Körpers der Überschuß der organischen Moleküle hingeschickt wird. Daß aber aus einem solchen Aggregat von Urteilchen immer die spezifische Pflanzen- und Tierart, in der sich der Keim gebildet hat, hervorgeht, will BuFFoN aus einer formgebenden Kraft erklären, welche jeder Organismenart innewohnt. Er gebraucht hierfür den charakte- ristischen Ausdruck „Modell“. Jede einzelne Pflanzen- und Tierart ist gleichsam ein Modell, in dem die aufgenommenen und zur Zeugung verwandten Urteilchen, der Art gemäß, neu geformt werden. Das Werden der Organismen, das Geheimnis der Fortpflanzung und der Regeneration schien so besser als durch die Präformation und Einschachtelungslehre aus einem gemeinsamen Prinzip erklärt. „Il y a une matiere organique toujours active, toujours prete a se mouler, a s’assimiler et A produire des &tres semblables a ceux qui la regoivent: les esp&ces d’animaux ou de vegetaux ne peuvent donc jamais s’epuiser d’elles m&mes; tant qu’il subsistera des individus l’esp&ce sera toujours toute neuve; elle l’est autant aujourd’hui qu’elle &tait il y a trois mille ans.‘ Der Lehre von Burronx hat sich der Naturphilosoph OkEN in seiner impulsiven Art angeschlossen, ihr aber nicht selbst wesentlich neue Gedanken hinzugefügt. In der Fäulnis sieht er einen der Zeugung ent- gegengesetzten Prozeß; er nennt sie daher auch eine wahre Entzeugung oder Katagenesis. Die Infusorien, die Samenfäden der Tiere, die Pollenkörner der Pflanzen sind auch für OKEN die organischen Urteilchen, aus deren Synthese sich wieder spezifisch geformte Tiere und Pflanzen unter den hierfür geeigneten Bedingungen aufbauen. Sie allein sind das Material für die Prozesse der Zeugung, der Ernährung und des Wachs- tums, Wenn bei den Säugetieren z.B. der Embryo im Mutterleibe wächst, so geschieht dies durch fortdauerndes Absetzen von Infusorien aus dem Blute der Mutter. Wie das Spezifische in Burrons Lehre durch das „Modell“, wird es bei OkEn durch ‚eine Typus gebende Kraft‘ bei der Zeugung hervorgebracht. Und diese ruht wieder im weiblichen Ei- bläschen; sie ist ihm, um wieder Ausdrücke von OKEN zu gebrauchen, ebenso eigentümlich, wie der Niere die „harnbildende Funktion“ oder der Leber die Gallenabsonderung. ‚Das weibliche Bläschen liefert zum entstehenden Embryo“, wie es in OKEns Buch von der Zeugung heißt, „weder einen Keim, noch organische Grundteilchen, noch sonst etwas Materielles, sondern bloß die Form, welche die eintretenden Cercarien“, I2 Erstes Kapitel. wie OREN auch häufig die Samenfäden heißt, ‚durch die mit dem Bläschen erwachsene organische Tätigkeit so miteinander verbindet, daß sie, auch noch durchsichtig, schon den Typus desjenigen Tieres in Miniatur darstellen, zu dessen Gattung sie gehören.“ Ein Bestandteil der Lehre von der Panspermie ist die Urzeugung. BuUFFON und OkEN lassen sie jederzeit stattfinden, allerdings nur aus den Elementen des Organischen, welche von den Elementen der un- organischen Natur vollständig verschieden sind. Auch für die Heilkunde zieht OKEN hieraus eine uns jetzt wunderbar anmutende Konsequenz. Wie Infusorien aus Zerfall von faulendem Fleisch, läßt er auch höher organisierte, parasitische Tiere, die, wie die Krätzmilbe, Erreger von Hautkrankheiten sind, oder die verschiedenen Arten von Eingeweide- würmern aus einem Auflösungsprozeß, also aus einer Katagenesis ein- zelner Organteile in ihre Urbestandteile, und aus einer darauf folgenden neuen Vereinigung derselben ihren Ursprung nehmen. In den Wurm- krankheiten etc. erblickt OKEN ‚eine Tendenz des Tieres, in seinen Ur- sprung zurückzusinken‘. Wenn in der Theorie der Panspermie auch viele irrige und zum Teil phantastische Vorstellungen enthalten sind, so haben sich doch die Ge- danken, daß die Organismen aus elementaren Lebenseinheiten auf- gebaut sind und daß diese bei der Zeugung zeitweise als Samenfäden und Pollenkörner abgestoßen werden, als bleibende Wahrheiten bewährt. Allerdings ist hierfür ein besseres Verständnis erst später durch die Zellentheorie gewonnen worden. 3. Die Theorie der Epigenesis. ') Ein dritter Versuch, die Entstehung der Organismen zu erklären, ist schließlich in der Theorie der Epigenesis gemacht worden. Mit ihr wollen wir unseren geschichtlichen Überblick beschließen. Eine Hauptschwierigkeit bei der Erklärung der Lebewesen bildet ihre spezifische Organisation. Um sich mit ihr abzufinden, wurden die Evolutionisten zur Einschachtelungslehre, BUFFON und OREN zur Idee des Modells geführt, in welchem die Urteilchen der lebenden Substanz erst wieder das spezifische Gepräge eines bestimmten, pflanzlichen und tierischen Körpers erlangen. In der Epigenesis aber wird die Schwierig- I) Wolff, ©. Fr., Theoria generationis. Dissert. 1759. /n deutscher Ausgabe: Theorie der Generation, 1704. Neu ausgegeben durch Samassa in: Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, No. 84, 18906.— Derselbe, Von der eigentümlichen und wesentlichen Kraft der vegetabilischen sowohl als. auch der animalischen Substans, Petersburg 1789. — Blumenbach, Über den Bildungstrieb. 2. Aufl. Göttingen 1791. Die Theorie der Epigenesis. 13 keit dadurch zu beseitigen gesucht, daß die Eigenart der lebenden Or- ganisation als nebensächlich behandelt und der pflanzliche und tierische Körper als ein System von Stoffen aufgefaßt wird, diein Aktion zueinander treten und dadurch die Lebensvorgänge hervorrufen. "Der Urheber der neuen Theorie ist KAsPAR FRIEDRICH WOLFF. Mit dem Wagemut der Jugend einen neuen Weg beschreitend, begründete er eine Lehre, die zuerst das Mißfallen seiner Zeitgenossen erregte, dann, nachdem sie jahrzehntelang unbeachtet geblieben war, zu später Gel- tung gelangte und schließlich unter Übersehung ihrer Fehler weit über Gebühr eingeschätzt wurde. Welchen primitiven und rohen Vorstellungen von tierischer Struktur und Organisation WOLFF huldigte, trotzdem die Entwicklung der Morphologie zu seiner Zeit schon auf einer höheren Stufe stand, geht aus vielen Stellen seiner Dissertation und seiner späteren Schriften, besonders deutlich aber aus folgendem Satz hervor: ‚,Die Gefäße und Bläschen machen die innere Struktur eines Teiles aus; sie machen den Teil organisch, und ohne sie würde der Teil aufhören, organisch zu sein. Nehmen Sie der Leber oder der Niere alle Gefäße weg, so bleibet weiter nichts als ein Klumpen Materie übrig, die zwar die Eigenschaften der tierischen Substanz haben kann, in der Sie aber so wenig Organisation oder Struktur noch antreffen, als in einem Klumpen Wachs.“ Daher werden auch die niedersten Lebe- wesen, unter denen Polypen, Volvox, Proteus etc. aufgeführt werden, als lebende oder vegetierende Materie, nicht aber für organisierte Lebe- wesen erklärt. So ist von vornherein K. FR. WOoLFF in jedem Punkt das Gegenteil von einem Evolutionisten; nimmt dieser Strukturen an, wo keine mit damaligen Hilfsmitteln zu sehen waren, so sucht WOLFF sie auf ein Mini- mum, auch beim Erwachsenen, wo sie nicht zu leugnen waren, einzu- schränken; sonst aber stellt er sie auf das entschiedenste in Abrede. Indem Worrr zum Beispiel bei Pflanzen die Stellen untersucht, wo neue Organe, junge Samenknospen, Vegetationskegel, Blätter etc. entstehen, findet er, daß die jüngsten Teile weich und flüssig sind und sich wie kleberichte Säfte in Fäden ausziehen lassen, daß sie ferner wie ein Tropfen Wasser durchsichtig und klar, ohne jede Struktur sind, daß sie, durch Weingeist verdichtet, weiß werden und auch dann ‚dem besten Mikro- skop nichts als eine ebene und polierte Oberfläche zeigen“. Die gleiche Vorstellung bildet er sich von jedem neu entstehenden, tierischen Organ. „Auch beim Embryo sei das Gehirn so flüssig wie Wasser.‘‘ Da es nun eine wahre Unmöglichkeit sei, daß ein flüssiger Körper zugleich organisch sein könne, hält er es für ‚geometrisch bewiesen‘, daß am Anfang alle I4 Erstes Kapitel. neu sich bildenden Teile nicht organisch sind. Sie sind ihm nichts mehr als eine Absonderung oder ein Sekret, gebildet von einem bereits vorhan- denen Organ einer Pflanze oder eines Tieres. Das Sekret werde aus ihren Gefäßen und Saftbläschen nach außen hervorgetrieben, in ähnlicher Weise, wie z. B. die Milch aus der Milchdrüse. Daher formuliert jetzt WOoLFF das erste allgemeine Gesetz von der natürlichen Formation or- ganischer Körper in dem Satz: ‚Ein jeder organische Körper oder Teil eines solchen wird zuerst ohne organische Struktur produziert.“ Seine Ergänzung findet es in dem zweiten Gesetz der Epigenese, welches lautet: ‚Das, was erst als eine unorganisehe Ausscheidung produziert ist, wird organisch gemacht oder mit Organisation versehen, indem es Bläschen und Gefäße erhält.“ Nach WOoLrr würde sich demnach die Entstehung der Organisation während der Entwicklung eines Geschöpfes in höchst einfacher Weise vollziehen. Während auf der einen Seite der ausgeschiedene Saft sich vermehrt, indem immer neuer nachdrängt, verändert er sich auf der anderen Seite in seiner Beschaffenheit; denn je länger er ausgeschieden ist, um so zäher, fester und solider wird er. Hierbei aber bilden sich in der fester gewordenen Substanz besondere Gefäße aus als Wege für den Saft, der beständig neu zuströmen muß, um das zuerst Gebildete weiter zu ernähren. Außerdem wird ein Teil des Saftes auch noch in Bläschen abgelagert. Das Werden eines tierischen Körpers geht daher nach WOoLFF etwa so vor sich: ‚Die verschiedenen Teile entstehen alle einer nach dem anderen ; sie entstehen alle so, daß immer einer von dem anderen entweder (an der Oberfläche) excerniert oder deponiert, d. h. im Inneren abgeschieden wird.“ „Ein jeder Teil ist also allemal erstlich ein Effekt eines anderen vorhergehenden Teiles und wird alsdann wiederum die Ursache anderer folgender Teile. Ein jeder Teil ist am Anfang, wenn er excerniert oder deponiert wird, unorganisch und wird erst organisiert, wenn er schon wieder andere Teile excerniert hat; und diese Organisation eines Teiles geschiehet durch Gefäße und Bläschen, die in ihm formiert werden, oder durch zusammengesetzte Teile, die innerhalb seiner Substanz depo- niert werden. Jene Exkretion des einen Teils durch den anderen, die ich Vegetation genannt habe, gehet auf solche Art eine Zeitlang fort, endlich aber hört sie auf, und diejenigen Teile, welche alsdann zuletzt excerniert worden sind, bleiben die letzten und excernieren keine anderen mehr.‘ Die Vermehrung der Organe, die im Laufe der Entwicklung dadurch erfolgt, daß von den zuerst gebildeten wieder neue ausgeschieden werden, Die Theorie der Epigenesis. I5 erklärt WoLFF durch die Annahme, daß in die Säfte immer mehr ungleich- artige Substanzen aufgenommen werden, die dann an besonderen Stellen wieder zur Absonderung gelangen. ‚Es sind gallenhafte Säfte in einer Vegetationsperiode, welche die Leber hervorbringen und bilden. Es sind in einer anderen Periode wässerige, mit Salzteilen geschwängerte Säfte, welche die Nieren produzieren.‘ Aus der Bewegung der Säfte in der organischen Substanz erklärt er die Entstehung der Gefäße, die durch Erhärtung der Grenzschicht eigene Wandungen erhalten. Nach demselben Prinzip läßt er an Stellen, wo überflüssige, ungleichartige Säfte wieder nach außen ausgeschieden werden müssen, eine zweite Art von Gefäßen, die Drüsenausführgänge, ihren Ursprung nehmen; zugleich läßt er in Verbindung mit ihnen auch besondere Sekretionsbehälter, Gallenblase, Nierenbecken, Harnleiter, Harnblase, gebildet werden. Obwohl so WoLrr das Wesen der Organisation ganz verkennt, nimmt er trotzdem in der Frage nach dem Verhältnis zwischen der unbelebten Natur und den Lebewesen in ähnlicher Weise wie die Evo- lutionisten und Panspermisten einen dualistischen Standpunkt ein. Er lehrt eine scharfe Trennung zwischen beiden Reichen. Denn die Organismen entstehen aus vegetabilischer und tierischer Materie; diese aber ist mit Kräften, die nur ihr eigentümlich und wesentlich sind, begabt, also mit einer Vis essentialis, wie sie WOLFF zu nennen vVor- schlägt. Die Vis essentialis und die Kräfte der unbelebten Natur sind ganz verschieden voneinander. Beide sind bei der Erschaffung der Welt von Gott unmittelbar aus dem Nichts geschaffen worden. Von der ersten Schöpfung abgesehen, ist dann das Werden der Pflanzen und Tiere, ebenso wie alle Gebilde der leblosen Natur den bloßen Natur- kräften überlassen. Die Grundkraft der Lebewesen aber, die schon früher erwähnte Vis essentialis, wird von WoLrrF als eine Kraft bezeichnet, die in ihren Wirkungen für uns unerklärbar ist. Sie entspricht etwa dem Begriff, den man im 19. Jahrhundert mit dem Wort ‚Lebenskraft‘ verbunden hat. Denn nach Worrr „läßt sie von sich alle Wirkungen ausgehen, die zusammengenommen das Leben eines Dinges ausmachen, wie Digestion, Sanguifikation, Sekretion, Vegetation, Produktion und Bildung neuer Teile, Respiration, selbst die Generation‘. Daher spricht sich auch WOoLrr gegen den Vergleich des Organismus mit einer Maschine aus, da diese weder aus der Substanz der organischen Welt besteht noch Sitz einer Vis essentialis ist. Einen ähnlichen Standpunkt wie WOLFF vertritt später auch BLUMENBACH, dessen mit Geist und Witz geschriebene kleine Schrift: „über den Bildungstrieb‘‘ den Beifall seiner Zeitgenossen fand und die 16 Erstes Kapitel. Präformation um ihren letzten Kredit brachte. Auch er nimmt eine Epigenese, d. h. eine allmählich erfolgende Neubildung eines Organismus „aus dem zwar reifen, übrigens aber rohen, ungeformten Zeugungsstoff der Eltern“ an. Auch er stattet ihn mit einer besonderen, bildenden Kraft aus. Der Vis essentialis von WOLFF entspricht der Bildungstrieb, der Nisus formativus von BLUMENBACH; er bewirkt, daß der von ihm beherrschte Zeugungsstoff anfangs eine bestimmte Gestalt annimmt, sie lebenslang erhält und, wenn sie verstümmelt worden ist, in manchen Fällen wiederherzustellen vermag. Der Bildungstrieb wird von BLUMEN- BACH in die Reihe der Lebenskräfte, wie Kontraktilität, Irritabilität, Sensibilität etc. gerechnet und von den physischen Kräften unterschieden. Schlußwort zur Geschichte der älteren Zeugungstheorien. Präformation, Panspermie und Epigenese sind die drei großen Theorien, durch welche bedeutende Naturforscher aus älterer Zeit die Frage nach dem Werden der Organismen glaubten erklären zu können. Welche Stellung nimmt die moderne, durch die Arbeit eines Jahrhunderts bereicherte Biologie zu ihnen ein? Hat von den drei Theorien der Ent- wicklung sich eine als die allein berechtigte siegreich durchgesetzt’? Es war einst in der Biologie die Ansicht weit verbreitet und wurde durch eine einseitig gefärbte, zum Teil falsche Darstellung von WOoLFFs Lehren gefördert, daß die Epigenesis die Irrtümer der Evolution aufgeklärt, sie endgültig überwunden habe und somit jetzt zu allgemeiner Aner- kennung gelangt sei. Eine derartige Geschichtsdarstellung gibt kein richtiges Bild von der Sachlage. Es mag zugegeben sein, daß seit BLUMEN- BACH die Embryologen unter der Herrschaft der Epigenesis und als An- hänger derselben ihre Forschungen ausgeführt haben; aber schon hier möchte ich einen Zweifel laut werden lassen, ob KARL ERNST v. BAER nicht Protest erhoben haben würde, wenn man das Ergebnis seiner For- schung als einen Beweis für WOLFFsS oder BLUMENBACHSs Epigenesis hätte bezeichnen wollen. Denn nach seinen Untersuchungen beruht die ‚„Ent- wicklung eines Organismus nicht auf einer wirklichen Neubildung, sondern auf Wachstum und Umbildung eines bereits Vorhandenen“ öder, wie wir sagen, einer Anlage, die nach einem Ausspruch v. BAERS das unausgebildete Tier selbst ist. v. BAER erklärt sich sowohl gegen die Präformation, wie gegen die Epigenese. Denn er will beweisen, „daß die organischen Körper weder vorgebildet sind, noch auch, wie man sich gewöhnlich denkt, aus ungeformter Masse in einem bestimmten Momente plötzlich anschießen‘‘. Nach seiner Auffassung kann überhaupt “ Schlußwort zur Geschichte der älteren Zeugungstheorien. Iy „die Beobachtung die strengste materialistische Lehre wiederlegen und den Beweis führen, daß nicht die Materie, wie sie gerade angeordnet ist, sondern die Wesenheit der zeugenden Tierform (die Idee nach der neuen Schule) die Entwicklung der Frucht beherrscht“. Noch mehr aber haben sich zwischen den Grundlehren von WoLFF und dem, was wir uns jetzt unter einem Entwicklungsprozeß vorstellen, nicht zu überbrückende Gegensätze aufgetan, je mehr sich die Lehre vom Aufbau der Organismen aus Zellen und die Erkenntnis der Zelle als eines Elementarorganismus herausbildete.e Kann man sich größere Gegensätze denken, als sie zwischen WOoLFFs rohem, unorganischem Zeu- gungsstoff auf der einen und der Keimzelle auf der anderen Seite bestehen, der Keimzelle, die selbst schon ein Elementarorganismus und die orga- nische Anlage für das werdende Geschöpf, also dieses selbst im Ei- zustand ist? Oder ist eine größere Kluft denkbar, als zwischen WOLFFs Lehre, daß die Organe aus flüssiger Substanz entstehen, die von einem vorher in gleicher Weise entstandenen Organ sezerniert, dann allmählich fest und zuletzt durch Bildung von Gefäßen organisch ge- macht wird, und der modernen Entwicklungslehre, die sich auf dem Zellteilungsprozeß und der sich immer komplizierter gestaltenden An- ordnung und Differenzierung der Embryonalzellen aufbaut? Sollte es aber in Zukunft einmal gelingen, noch tiefer in die Geheimnisse der Keimzelle als Anlage des späteren Organismus einzudringen, so würde sich der Gegensatz zu WOoLFFs Epigenesis nur noch um so größer ge- stalten! Die Fortschritte, welche in der Erkenntnis der Entwicklung der Organismen durch die moderne Forschung gemacht worden sind, haben in Wahrheit mit der in WoLFrFs Epigenesis gegebenen Grundanschauung vom rohen Bildungsstoff nichts mehr gemein. So konnte es denn geschehen, daß, während fast alle Biologen der Tradition entsprechend noch fest auf dem Boden der Epigenesis zu stehen glaubten, bei einzelnen ein ganz jäher Umschlag eintrat. Als Beispiel hierfür sei kein Geringerer als WEISMANN aufgeführt, der in der Einleitung zu seinem Werk über das „Keimplasma‘“ den Ausspruch tat: „Im ersten Kapitel meines Buches wird man einen förmlichen Beweis für die Wirklichkeit der Evolution finden, und zwar einen so naheliegenden und einfachen, daß ich heute kaum begreife, wie ich so lange an ihm vorübergehen konnte.‘ Und an einer anderen Stelle: „Man wird wohl mit mir die Überzeugung gewinnen, daß die Ontogenese nur durch Evolution, nicht durch Epigenese erklärt werden kann.“ Trotz alledem wird eine historisch-kritische Prüfung der Verdienste O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl. 2 18 Erstes Kapitel. Schlußwort zur Geschichte der älteren Zeugungstheorien, WOoLFEs zu dem Schlußurteil kommen, daß die Entwicklungslehre seinen Anregungen ihren großen Aufschwung im 19. Jahrhundert zum großen Teil mitverdankt und daß sie aus seiner Epigenesis auch bedeutende bleibende Wahrheiten geschöpft hat. Da ich hierauf später noch näher eingehen werde, beschränke ich mich jetzt auf diese kurze Bemerkung. Bei einem Rückblick auf die Geschichte der älteren Zeugungstheo- rien wird man, wie ich bereits in einer anderen Schrift bemerkt habe, das Endergebnis ziehen, daß die moderne Theorie der Entwicklung: mit keinem der alten Namen bezeichnet werden kann. Denn sie weicht von einer jeden in sehr wesentlichen Punkten ab und baut sich auf Erfah- rungen auf, die, in IOO Jahren gesammelt und geistig verarbeitet, zur Grundlage für eine ganz neue Anschauungswelt über das Werden der Organismen geworden sind. In diese sind die fruchtbaren Gedanken der Präformation, der Epigenese, aber auch der Panspermie mithinüber- genommen und erhalten worden. Denn mit den Evolutionisten stimmen wir überein in der Anerkennung der Organisation, die, von den Vorfahren ererbt, in der Generationenreihe zu keiner Zeit eine Unterbrechung erfährt. Den Vertretern der Epigenesis dagegen nähern wir uns wieder mehr in der Einsicht, daß der Keim, obwohl schon selbst ein Organis- mus, doch kein Miniaturbild des aus ihm entstehenden Geschöpfes ist, sondern erst durch tiefeingreifende Umwandlungen seiner Form sich zu ihm entwickelt. Von der Panspermie aber leitet sich der fruchtbare, später durch die Zellentheorie in das Bereich exakter Forschung ein- geführte, spekulative Gedanke her, daß die Lebewesen aus EIER SIERT, kleinsten Lebenseinheiten aufgebaut sind. Zweites Kapitel. Die Stellung der Biologie zur vitalistischen und zur mechanistischen Lehre vom Leben. a) Bemerkungen zur vitalistischen Richtung in der Biologie. Wie ich schon bei verschiedenen Gelegenheiten in meinen Schriften hervorgehoben habe, so teile ich im allgemeinen die Einwände, die gegen den Begriff der Lebenskraft von LOTZE, DU BoIs-REYMOND, SCHOPEN- HAUER u. a. erhoben worden sind. Denn der Begriff der Lebenskraft, der in der älteren Biologie eine große Rolle vorübergehend gespielt hat, ist für die Entwicklung der Wissenschaft wenig förderlich gewesen; er spielte in der Physiologie, nach dem treffenden Ausdruck von Du Bols- REYMOND, die Rolle ‚eines Mädchens für alles‘). Die Erklärung der Lebenserscheinungen wird nicht gefördert, wenn wir noch besondere Lebenskräfte oder auch nur eine Lebens- kraft annehmen, die nur in den Organismen wirksam sein und das Eigen- tümliche des Lebens ausmachen soll. Auch wird mit dieser Annahme, wie mir scheint, der Forschung selbst kein gangbarer Weg gewiesen. Es hängt dies zum Teil mit dem Begriff ‚Kraft‘‘ selbst zusammen, von welchem LOTZE, SCHOPENHAUER, NÄGELI u. a. eine treffende Analyse gegeben haben. ‚Kräfte‘, bemerkt LoTZE, ‚zeigt keine Erfahrung, sie sind ein Supplement des Gedankens. Die vergleichende Abstraktion leitet zuerst aus den Erscheinungen immer nur allgemeine Gesetze der Beziehung her; sie sagt uns z. B., daß alle im Raum gleichzeitig vor- handenen Körper sich mit zunehmender Geschwindigkeit nähern, deren Beschleunigung den Ouadraten der Annäherung proportional ist. Nur ı) Hertwig, Oscar, Zeit- und Steitfragen der Biologie. Heft 2, Mechanik und Biologie, 1897. — Lotze, H., Leben, Lebenskraft. Wagners Handwörterbuch der Fhy- siologie, Bd. I, 1842; Allgemeine Physiologie des körperlichen Lebens, 1851. — Du Bois- Reymond, Reden. Bd. II. Über die Lebenskraft, 1887. — Driesch, H., Der Vitalismus. Leipzig 1905. 2* 20 Zweites Kapitel. Gesetze dieser Art fließen unmittelbar aus der analysierenden Kritik des Tatbestandes, und sie werden jeder philosophischen Forschung vollkommen genügen.‘ „Insofern ist es eine Fiktion, wenn der Begriff der Kraft dennoch das, was dem Dinge nur infolge der Gesetze unter gewissen Bedingungen zukommt, ihm als ein ihm eigentümliches Ver- dienst, Kraft und Tugend zuschreibt.“ Mit LotzE stimmt pu Bois-REyMoND überein, wenn er in seiner Streitschrift über die Lebenskraft ebenfalls erklärt: ‚Die Kraft ist nichts Wirkliches, wie der Vitalismus es sich denkt, nicht ein mit dem materiellen Substrat zusammengefügtes, die Materie, wie sie unseren Sinnen erscheint, ausmachendes Wesen, welches auch von der Materie ge- trennt selbständig fortbestehen kann. Sie ist nichts, als eine zur schein- baren Befriedigung unseres Kausalitätsbedürfnisses eingebildete Ur- sache von Veränderungen, welche selber das einzig Wirkliche sind, das wir wahrnehmen.‘ Daher nennt auch SCHOPENHAUER die Kräfte selbst ‚„qualitates occultae“. In der Neuzeit hat der alte Vitalismus eine philosophische Fort- bildung im Neovitalismus erfahren, in der Entelechienlehre von DRIESCH und in der Dominantenlehre von REINKE. Die Dominantenlehre geht ebenfalls vom Kraftbegriff aus. Daher treffen sie auch dieselben Bedenken, wie sie oben geäußert wurden. Denn noch mehr als die Kraft ist die übergeordnete oder Oberkraft eine ‚OQualitas occulta‘“ für den Natur- forscher. Daher wird dieser im allgemeinen wohl vorziehen, anstatt von Dominanten oder Oberkräften von Wirkungsweisen zu sprechen, welche auf der Konfiguration verschieden komplizierter, materieller Systeme beruhen. Bei der Annahme von solchen können wir, wie es in der Chemie und Morphologie geschieht, eine Stufenfolge in der Ver- bindungsweise des Stoffes unterscheiden: Atome, Moleküle, Molekül- aggregate, Micellen, Zellen, Organe, Personen, Stockbildungen usw. Was für ein fruchtbares Feld sich der Forschung bei diesen Untersuchungen eröffnet hat, lehrt der gegenwärtige Stand der Chemie und Biologie. Nun ist es allerdings dem Forscher unbenommen, der Stufenfolge in der Verbindungsweise des Stoffes entsprechend auch eine parallele Stufenfolge einfacherer und zusammengesetzterer Kräfte anzunehmen und von Atom-, Molekül-, Micell-, Cellular-, Organkräften usw. zu sprechen wie es ja auch häufig im täglichen Leben geschieht; auch kann man sich die Kräfte der komplizierteren Stoffverbindungen als Oberkräfte oder Dominanten aus einfacheren Naturkräften zusammengesetzt denken. Aber wie die Erfahrung und Geschichte der Wissenschaft zeigt, wird durch eine derartige Verwendung des Kraftbegriffes an wissenschaft- Bemerkungen zur vitalistischen Richtung in der Biologie. 21 lichem Verständnis der Naturerscheinungen nichts gewonnen. Denn wir tun hierbei nichts anderes, als daß wir die Welt der Erscheinungen in die Welt der Kräfte übersetzen (Kuno FIscHER) und dabei leicht in die Selbsttäuschung verfallen, die Sache dadurch besser begriffen zu haben. Denn ‚‚die Kräfte selbst bleiben dabei, wie man sich auch ge- berden mag, qualitates occultae‘‘ (SCHOPENHAUER). Indem ich mich an dieser Stelle auf wenige Bemerkungen beschränke, verweise ich auf die etwas ausführlichere Behandlung des Gegenstandes in meiner Schrift: ‚Mechanik und Biologie‘, 1897 (p. 39—6I) und auf die dort angeführten Abschnitte aus den Schriften von SCHOPENHAUER, LoTZE und NÄGEL. Wenn daher die Unterscheidung von Ober- und Unterkräften schon aus dem einfachen und praktischen Grund, daß sie keinen Vorteil bietet und nichts zur wirklichen Aufklärung beiträgt, sich für den Natur- forscher nicht empfiehlt, so läßt sich doch ein Vorteil aus ihr ziehen. Sie kann uns zur Widerlegung jener Form des Vitalismus dienen, welcher auf Grund der Annahme einer besonderen Lebenskraft einen fundamentalen Unterschied zwischen der unbelebten und der belebten Natur ziehen will. Denn wenn in der unbelebten Natur, wie z. B. in den zusammengesetzteren chemischen Verbindungen, kompliziertere mate- rielle Systeme gegeben sind, die sich nur in dem Grad ihrer Zusammen- setzung von den Lebewesen unterscheiden lassen, so würde ein An- hänger der Dominantenlehre ebensogut für die komplizierteren chemi- schen Erscheinungen Oberkräfte, wie für die Lebewesen Lebenskräfte annehmen können. Damit schwindet aber der von dem alten Vitalismus betonte prinzipielle Gegensatz zwischen unbelebter und belebter Natur und sinkt zu einem graduellen Unterschied herab. Mit Unrecht ist der in meinen Schriften vertretene Standpunkt von einigen Seiten als ein vitalistischer bezeichnet worden. Nach der eben und auch schon früher gegebenen Darlegung liegt hier ein offenbarer Irrtum und ein mir nicht erklärliches Mißverständnis vor. Denn in diesen Fragen stehe ich auf einem ähnlichen Standpunkt wie COMTE, wie CLAUDE BERNARD, PFEFFER und namentlich wie NÄGELI. Und diese Forscher, auf die ich später noch einmal zurückkommen werde, sind gewiß nicht Vertreter vitalistischer Lehren gewesen. b) Bemerkungen zur mechanistischen Richtung in der Biologie. Ebensowenig wie die vitalistische kann ich freilich auch die chemisch- physikalische oder mechanistische Richtung gutheißen, wenigsten 22 Zweites Kapitel. nıcht in der Form, wie sie von einigen extremen Wortführern vertreten wird. Als solche greife ich unter vielen anderen nur den amerikanischen Forscher JACQUES LoEB, den Botaniker SCHENK und den Physiologen VERWORN heraus. J. LoOEB!) erblickt in den chemischen Vorgängen im Organismus nichts, dessen Beherrschung der chemischen Technik un- möglich wäre, obwohl es auch hier an pessimistischen Anschauungen nicht fehle ; die Strukturen in der lebenden Substanz läßt er zum größten Teil durch Gelation oder Fällung von gelösten Kolloiden entstehen. Die Befruchtung der Eier betrachtet er als einen rein chemischen Prozeß, der sich auf experimentellem Wege mit bestimmten Stoffen nachmachen lasse, und dem Spermatozoon teilt er hierbei nur die Rolle eines Motors zu, der die befruchtenden chemischen Stoffe ins Ei hineinträgt. SCHENK bezeichnet in seiner Schrift: ‚Über die physiologische Charakteristik der Zelle‘ als die gegenwärtig in der Physiologie herrschende Lehre die Auffassung, daß die Lebenseigenschaften auf den chemischen und physikalischen Eigenschaften der lebendigen Substanz beruhen, und er zählt als Aufgaben der allgemeinen Physiologie auf: die Zurück- führung der Lebensprozesse auf die besondere chemische Konstitution des lebendigen Eiweißes, die Erklärung des Wachstums durch chemische Polymerisierung, die Erklärung der physiologischen Verbrennung und der Reizbarkeit aus der labilen Konstitution der für das lebendige Ei- weiß charakteristischen Atomgruppen. Unter Berufung auf PFLÜGERS Ideengänge, die er in seinem Aufsatz über die physiologische Verbrennung in den lebendigen Organismen entwickelt hat, nennt er das Eiweiß ‚‚ein ungeheures Molekül, wohl oft so groß wie ein ganzes Geschöpf‘“, eine Substanz, ‚deren Moleküle durch chemische Polymerisation sich ver- einigen und dadurch an Umfang zunehmen können“. Einen besonders prononcierten Standpunkt hat VERWORN bei manchen Gelegenheiten eingenommen. Auch er findet, daß die ganze Formbildung des Organismus sich mehr und mehr in physikalische und chemische Probleme auflöst und daß die Morphologie in letzter Instanz, genau wie die Physiologie schon heute, nichts anderes sein kann, als spezielle Physik und Chemie der Organismen. Er sieht „bei einzelnen sehr bedeutenden Morphologen noch manche Dogmen herrschen, die erst bei tieferem Eindringen schwinden werden, die aber heute noch einen Rest alter Mystik vorstellen, der vitalistischen Neigungen immer wieder von neuem Vorschub leistet“. Eine solche Mystik scheint ihm 1) Loeb, Jacques, Vorlesungen über die Dynamik der Lieben s£p:SEBmsRgBEERENE 1900: Über den RER Charakter des Befruchtungsvorganges, 1907. Bemerkungen zur mechanistischen Richtung in der Biologie. 23 auch in dem von mir gebrauchten Satz zu liegen: ‚daß der lebende Organismus nicht nur ein Komplex chemischer Stoffe und ein Träger physikalischer Kräfte ist, sondern daß er noch außerdem eine besondere Organisation, eine Struktur besitzt, vermöge deren er sich von der un- organischen Welt ganz wesentlich unterscheidet.‘ Daher schließt VER- WORN auch seinen Exkurs mit dem Ausruf: ‚Also fort mit dem Dogma der mystischen Organisation.‘ In dem Streit, welcher schon lange Zeit die Naturwissenschaft beschäftigt hat und gelegenlich immer wieder mit neuem Eifer und neuen Truppen, hier zugunsten vitalistischer, dort mechanistischer Weltanschauung, zugleich auch über Wesen und Bedeutung der Organisation geführt wird, handelt es sich in meinen Augen zurzeit haupt- sächlich um eine verschiedene Beurteilung des Verhältnisses, in welchem die biologischen Wissenschaften auf der einen Seite und die exakten Wissenschaften der Chemie und Physik auf der anderen Seite in ihren Aufgaben und Zielen zueinander stehen. Während der Vitalismus dazu neigt, zwischen belebter und unbelebter Natur einen prinzipiellen Gegensatz anzunehmen, will die mechanische Richtung keine Unter- schiede:zwischen beiden anerkennen oder bemüht sich wenigstens, die- selben zu verwischen; sie will die Aufgaben des Biologen auf diejenigen des Chemikers und Physikers zurückführen. Zwischen vitalistischer und mechanistischer Richtung in der Lebensforschung besteht indessen noch eine dritte Richtung, welcher ich mich anschließe und welche ich als die biologische bezeichnen will. ‘Indem diese die Unterschiede zwischen der unbelebten und der belebten Körperwelt, auch wenn sie nur graduelle sind, nicht übersieht, betont sie die Eigenart biologischer Aufgaben und betrachtet die Morphologie und Physiologie der Lebewesen als selbständige, der Chemie und Physik koordinierte Grundwissenschaften (DRIESCH). e) Die Stellung der Biologie zu Chemie und Physik '). In einem Streit, wo es sich um so allgemeine Fragen handelt, laufen gewöhnlich auch mannigfache Mißverständnisse auf beiden Seiten unter. Daher muß immer wieder von neuem versucht werden, zu einer besseren Verständigung durch Wegräumung des Mißverstandenen zu gelangen. ı)-Nernst, Theoretische Chemie. 7. Aufl. — Cohen, Ernst, Facobus Henricus van’t Hof. Sein Leben und Wirken, Leipzig 1912. — Kolbe, H., Zeichen der Zeit. Journal für praktische Chemie, Bad. XIV u. XV, 1876 u. 1877. — Rubens, H., Die Entwicklung der Atomistik. Rede, Berlin 1913. 24 Zweites Kapitel. Diesem Zweck sollen die folgenden Betrachtungen dienen, gleichzeitig aber auch dazu beitragen, den wissenschaftlichen Standpunkt, den ich in den einzelnen Aufsätzen dieses Buches einnehme, noch klarer zum Ausdruck zu bringen. Sie sollen dadurch eine Vorarbeit für sie bilden. Als etwas fast Selbstverständliches schicke ich voraus, daß, wenn ich von Aufgaben und Zielen der Wissenschaft spreche, ich nur die Gegenwart und eine absehbare Zukunft im Auge haben kann. Wie sich die Wissen- schaft einmal in entfernter, unberechenbarer Zukunft gestalten wird, braucht wohl nicht unsere Sorge zu sein. Vom allgemeinsten Gesichtspunkt aus betrachtet, ist das Objekt aller naturwissenschaftlichen Untersuchungen der Stoff, aus dem sich die uns umgebende Welt aufbaut, und die dem Stoff innewohnende Kraft. Hierbei bediene ich mich des Begriffes ‚Kraft‘, der nach der früher schon gegebenen Erörterung leicht Mißverständnissen ausgesetzt ist, in dem von LOTZE u. a. definierten Sinne; das heißt: da wir Kräfte selbst nicht wahrnehmen können, so schließen wir nur auf ihr Vorhanden- sein oder auf etwas in den Dingen Wirkendes aus den Wirkungen, die unter verschiedenen Bedingungen von der Körperwelt ausgehen und sich nach unveränderlichen Naturgesetzen vollziehen. Daher lassen sich in der Erforschung der Natur zwei Grundwissenschaften unter- scheiden, die Wissenschaft von der aus Stoff geformten Körperwelt und die Wissenschaft von den Wirkungen, die von den Körpern vermöge ihrer Kraft unter bestimmten Konstellationen ausgeübt werden, In dieser Feststellung treffen wir mit den Anschauungen der einen Richtung, welche sich gern als die mechanistische zu bezeichnen pflegt, zusammen, entfernen uns aber wieder von ihr bei der weiteren Ausführung unseres Standpunktes. Denn nach dem heutigen Stande unserer Naturerkenntnis und auf Grund der Entwicklung der Wissenschaften existieren die beiden Generalwissenschaften des ‚‚mechanistischen Naturphilosophen“ nur in der bloßen Theorie. Denn weder ist die Chemie eine Generalwissen- schaft der aus Stoff geformten Körperwelt noch die Physik eine solche aller ihr eigentümlichen Kräfte oder aller von ihr ausgehenden Wir- kungen, Die Naturwissenschaft hat sich nicht nach einer philosophischen Schablone entwickelt, sondern ist im Verkehr des Menschen mit der Natur, aus praktischen Bedürfnissen und nach dem Maßstab entstanden, als sich ihm Mittel und Wege darboten, einen wissenschaftlichen Ein- blick in das Wesen der ihn umgebenden Körperwelt zu gewinnen. In dieser aber hat der Mensch schon früh zwischen leblosen und lebenden Körpern unterscheiden gelernt, eine Unterscheidung, die auch in der Die Stellung der Biologie zu Chemie und Physik. 25 Naturwissenschaft vom frühen Altertum bis in die Gegenwart ihre Gel- tung behalten hat. Durch die wissenschaftliche Beschäftigung mit den leblosen Körpern sind die Chemie und die Physik, durch die Beschäf- tigung mit der Lebewelt die Morphologie und die Physiologie hervor- gegangen. — Wie die Objekte der Forschung, sind auch die Mittel und Wege, die hier und dort zu tieferer wissenschaftlicher Erkenntnis geführt haben, in vieler Beziehung voneinander verschieden. Daher läßt sich ebensowenig die Morphologie auf Chemie, wie die Physiologie auf Physik zurückführen oder aus ihnen erklären ; vielmehr sind Chemie und Morpho- logie auf der einen Seite, Physik und Physiologie auf der anderen gleich- berechtigte Grundwissenschaften, auf denen unser Naturwissen beruht. Nur in ihrer Ergänzung und Vereinigung bilden die einen zusammen die Generalwissenschaft vom Stoff, die beiden anderen die General- wissenschaft von den Wirkungen, die von der leblosen und der belebten Körperwelt ausgehen. Sowohl die Untersuchungen des Chemikers wie des Morphologen haben zu dem allgemeinen Ergebnis geführt, daß ihre Objekte sich in Teile zerlegen lassen. Die chemische Forschung ist hierbei zur Unterscheidung einer geringen Anzahl von Grundstoffen oder chemischen Elementen durch- gedrungen, aus deren verschiedener Kombination sich die unendlich zahllosen, in der Körperwelt gegebenen, zusammengesetzten Stoff- verbindungen ableiten lassen. Indem sie sich ferner der aus philosophi- schen Erwägungen entstandenen, atomistischen Hypothese bedient, kommt sie zu dem Begriff der Atome der chemischen Elemente, aus diesem aber leitet sie wieder den Begriff des Moleküls ab, welches in einer Verbindung gleicher oder verschiedenartiger Atomelemente besteht. Durch das Studium von zusammengesetzten, namentlich organischen Verbindungen hat sich auf dieser Grundlage allmählich eine außerordent- lich sinnreiche, komplizierte Strukturchemie entwickelt. Um die Verschiedenheit hochmolekularer chemischer Verbindungen zu erklären, genügt nicht mehr der Nachweis, daß sie aus einer bestimmten Anzahl verschiedenartiger Atome bestehen, sondern man sieht sich genötigt, auch eine bestimmte Anordnung derselben zu kleineren und größeren Gruppen anzunehmen und zur Erklärung stofflicher Verschiedenheiten zu benutzen. Von der Strukturchemie KEKULEs aber war nur ein Schritt zu der von LE BEL und van THorF begründeten Stereochemie. Von der Annahme einer im Molekül gegebenen, durch ihre Affinitäten ge- regelten, fest bestimmten Verbindung der Atome untereinander wurde man zu der zweiten, eine Ergänzung zur ersten bildenden Annahme 26 Zweites Kapitei. „einer Lagerung der Atome im Raume‘“ geführt. Um die ver- schiedenen optischen Eigenschaften (Links- und Rechtsdrehung im polari- sierten Licht) von isomeren Molekülen mit gleicher Strukturformel zu erklären, wurde es nötig, wie sich WISLICENUS ausdrückt, „geometrische Anschauungen in die Lehre der Konstitution der Verbindungsmoleküle hineinzuziehen‘‘. So kam die Zeit, in welcher sich der Chemiker durch Modelle die gesetzmäßige Anordnung der Atome, die zum Molekül im Raum vereint sind, zu versinnbildlichen suchte. ' Wie die chemische Wissenschaft ist auch die morphologische, d. h. die auf die Körper der Lebewesen gerichtete Forschung eine Scheide- kunst; sie hat zur Zerlegung der Organismen in Organe, in Gewebe und schließlich in Zellen und noch feinere Bestandteile derselben geführt; dabei hat sie zugleich erkannt, daß in dem Vorkommen, in der Zahl, Anordnung und Lage, sowie in der Gestaltung der Organe, Gewebe und Zellen bestimmte Gesetzmäßigkeiten herrschen, und daß auf Grund derselben das Organismenreich sich in Pflanzen und Tiere, in Stämme, Klassen, Familien, Arten etc. in systematischer Weise einteilen läßt. Wie in der Gegenwart die Atome der chemischen Elemente für den Chemiker die letzten Einheiten sind, zu denen ihn seine Zerlegung des Stoffes hinleitet, so für den Morphologen sie Artzellen. Denn diese bilden zuerst die einfachsten, einander vergleichbaren, lebenden Stoff- einheiten, die jedem Lebewesen zugrunde liegen. In ihnen ist die Eigen- art eines jeden Organismus gleichsam in der einfachsten Formel ausge- drückt, in der Weise, daß wir sagen können, es existieren so viele ver- schiedenartige Artzellen, als das Organismenreich aus verschiedenartigen Lebewesen besteht. Hier läßt sich nun wohl die Frage aufwerfen, ob wir bei dem von den Chemikern und Morphologen geübten Verfahren schon mit allen Einheiten einfachster oder zusammengesetzter Art, in welche sich die Körperwelt zerlegen und aus denen sie sich wieder aufbauen läßt, bekannt geworden sind. Die Frage muß sowohl für die Chemie wie für die Morpho- logie verneint werden. Den lange Zeit festgehaltenen Standpunkt, daß die Atome die kleinsten denkbaren Stoffeinheiten, und daß die bekannten chemischen Elemente unveränderliche Stoffgebilde sind, beginnt jetzt die chemische Wissenschaft aufzugeben, veranlaßt durch die neueren Errungenschaften auf den Gebieten der Elektrizitätslehre und der Radioaktivität. HELM- HOLTZ stellte die Hypothese der Elektrizitätsatome, der sogenannten Elektronen, auf, welche viel Kleiner sind als die chemischen Atome. Aus dem Stadium der radioaktiven Substanzen aber leitete man die Die Stellnng der Biologie zu Chemie und Physik. 27 Theorie vom Atomzerfall in sehr viel kleinere korpuskuläre Elemente her, die in den a-, ß- und y-Strahlen abgestoßen werden. Diese sind ge- wissermaßen Uratome mit neuen chemischen und physikalischen Eigen- schaften. Also sind auch die früher angenommenen chemischen Elemente keine unveränderlichen Größen mehr, sondern zum Teil ineinander verwandelbar: das Ionıum in Radium, und dieses wieder durch Zwischen- stufen in Polonium. So ist für den modernen Physiker aus dem einst unteilbaren Atom jetzt plötzlich, wie RUBENS hervorhebt, ‚ein kompli- ziertes Gebilde geworden, eine Welt im Kleinen, in welcher dauernde Veränderungen eintreten können und innerhalb deren sich die merk- würdigsten Vorgänge abspielen, die zu ergründen eine der schwierigsten, aber auch _ine der wichtigsten Aufgaben der Zukunft bilden wird“. O. Hann spricht von einer recht komplizierten Struktur der ge- wöhnlichen chemischen Elemente, und A. RowLAnD macht auf Grund seiner spektralanalytischen Beobachtungen die sehr charakte- ristische Äußerung, ‚daß ein Eisenatom komplizierter gebaut sein müsse, als ein Steinway-Flügel‘“. Wie man jetzt in der Physik bestrebt ist, das Atom in noch feinere Stoffteilchen zu zerlegen, so könnteesauch bald in einer entgegengesetzten Richtung dem Chemiker als wünschenswert und zur bequemeren Ver- ständigung sogar notwendig erscheinen, bei der Erforschung hoch- molekularer organischer Körper noch eine dem Molekül übergeordnete, höhere Einheit zu unterscheiden. Denn die Annahme, daß mitdem Molekül die Verbindungsfähigkeit des Stoffes an ihrer oberen Grenze angelangt sei, ist eine willkürliche; es läßt sich kein vernünftiger Grund dagegen geltend machen, daß wie die Atome zu Molekülen, auch Moleküle gleicher und verschiedener Art sich wieder zu einer nächsthöheren Stufe verbinden können, und daß eine Grenze in der so fortschreitenden, immer kompli- zierter werdenden Zusammensetzung des Stoffes zunächst gar nicht festzustellen ist. In der Tat läßt ja auch der Chemiker, besonders in der organischen Chemie, sich hochatomige Moleküle wieder untereinander zu neuen Verbindungen verketten, und er unterscheidet an ihnen einen festen, weniger veränderlichen Kern und ihm gleichsam als Glieder an- gefügte, leichter abtrennbare, für sich isolierbare und auch in ihrer Lage mehr veränderliche Atomgruppen. Mit Fug und Recht könnte man hier von Molekülkomplexen sprechen, die eine neue, über dem einfachen Molekül stehende Stoffverbindung darstellen. Derartige zusammengesetztere Verbindungen mit besonderen Namen schärfer zu kennzeichnen, wird sich vielleicht in der Chemie noch einmal als ein Bedürfnis herausstellen. Denn es will uns im Interesse einer 28 Zweites Ka pitel. klaren wissenschaftlichen Ausdrucksweise nicht empfehlenswert erscheinen alle durch Vereinigung von Molekülen oder, um es kürzer auszudrücken, alle „übermolekularen‘ Verbindungsstufen des Stoffes auch mit dem Namen ‚Molekül‘ zu bezeichnen. Wohl schwerlich wird sich ein Chemiker dazu entschließen, mit PFLÜGER das lebende Eiweiß ‚ein ungeheures Molekül, wohl oft so groß wie ein ganzes Geschöpf‘“ zu nennen. Auch der Ausdruck ‚‚lebendes Eiweiß‘ läßt sıch beanstanden, da Eiweiß als chemisch darstellbarer Körper nicht die Eigenschaften des Lebens aufweist. Diese kommen vielmehr erst bei übermolekularen Verbindungsstufen in der Organisation des Stoffes zum Vorschein. In ihnen aber liegt ein großes, noch vollkommen unerforschtes Zwischengebiet zwischen chemischer und morphologischer Wissenschaft vor. In der hier bestehenden Un- kenntnis ist auch der Hauptgrund zu suchen, daß die leblose und die lebende Körperwelt durch eine tiefe Kluft getrennt zu sein scheinen. Vielleicht wird in der Zukunft diese Kluft noch einmal überbrückt werden, je mehr von der einen Seite die chemische, von der anderen Seite die morphologische Wissenschaft in das sie trennende Zwischengebiet mit ihren Arbeitsmethoden erfolgreich eindringen und das Dunkel durch Entdeckung der noch fehlenden Verbindungsstufen des Stoffes aufhellen wird. Schon seit Jahrzehnten ist für den Morphologen die Frage eine dringende geworden, ob die Zelle, die man als Elementarorganismus zu betrachten sich gewöhnt hat, wirklich die kleinste Lebenseinheit ist, zu der uns die fortgesetzte Zerlegung der Lebewesen hinführt. Mit großer Ausdauer ist man bemüht, den BrückeEschen Elementarorganis- mus mit Hilfe des Mikroskopes selbst wieder in noch kleinere und ein- facher individualisierte Stoffeinheiten zu zerlegen, die mit zwei wichtigen Grundeigenschaften des Lebens, mit Selbstassimilation und Selbst- teilung, begabt sind. Bei diesen Bestrebungen kann man sich schon jetzt auf einige sichere Errungenschaften der mikroskopischen Forschung stützen, auf den Nachweis von wirklichen kleinen Teilkörpern in der Zelle. Als solche nenne ich: den Zellenkern, die in diesem wieder ein- geschlossenen Chromosomen und die Chromatinkügelchen, in die sich wahrscheinlich die Chromosomen wieder zerlegen lassen, sodann zahl- reiche, im Protoplasma eingebettete, kleinere und größere Teilkörper, wie die Centrosomen, die Trophoplasten der pflanzlichen Zellen, manche Arten von Granula (Plastosomen), welche die Fähigkeit des Wachstums und der Selbstteilung besitzen. Auch das tiefere Eindringen in die Erscheinungen der Vererbung führt den Biologen ebenfalls zur Annahme von materiellen Trägern Die Stellung der Biologie zu Chemie und Physik. 29 erblicher Eigenschaften, von elementaren Erbeinheiten oder Genen (JoHANNsSEN). Von einigen Forschern, wie z. B. NÄGELI, ist in Zusammen- hang mit der Zerlegbarkeit der Zelle in einfachere Lebenseinheiten auch die Möglichkeit erörtert worden, ob nicht Lebewesen existieren, die zwar größer als ein Molekül sind, da sie aus vielen Molekülgruppen be- stehen würden, aber sich unter der Größe des Mikroskopischen befinden und sehr viel einfacher als Zellen sein würden. NÄGELI hat sie Probien genannt. In der angegebenen Weise arbeiten Chemie und Morphologie nach einem gemeinsamen Ziel; dieses ist die Zerlegung der Körperwelt in Stoffeinheiten, von denen sich eine ganze Stufenfolge einfachster und immer komplizierter werdender Arten unterscheiden läßt. Die Stufen- folge aber entsteht dadurch, daß die allerelementarsten Einheiten sich zu einer nächsthöheren Einheit zweiter Ordnung, diese wieder zu einer solchen dritter Ordnung und so weiter verbinden: So vereinigen sich radioaktive a- und f-Korpuskel zu Atomen, die Atome zu Molekülen, diese wieder zu Molekülkomplexen und so immer weiter, bis schließlich Körper von einer unendlich verwickelten Zusammensetzung des Stoffes, einzellige Lebewesen, entstanden sind. Und auch über diese hinaus schreitet die Stufenfolge in der Organisation des Stoffes noch weiter fort. Aus der Vereinigung von Zellen und infolge der zwischen ihnen sich ausbildenden Arbeitsteilung werden Pflanzen und Tiere. Aus der weiteren Vergesellschaftung von Tieren entstehen Tierstöcke und Staaten mit ihren höheren Wirkungsweisen. :Während nach der vorausgegangenen Darlegung Chemie und Morpho- logie in ihren Aufgaben und Zielen eine prinzipielle Übereinstimmung aufweisen, sind ihre Methoden, die sie zur Lösung ihrer Aufgaben ver- wenden, grundverschiedene. Die chemische Methode ist eine Scheide- kunst, welche die dem Stoff eigenen Kräfte, seine Affinitäten, deren Erklärung dem Forschungsgebiet der Physik angehört, zur Zerlegung in Atome und zu ihrer Wiedervereinigung zu Molekülen benutzt. Indem verschiedene Stoffe aufeinander wirken, werden hier Atome aus ihren alten Verbindungen frei gemacht, dort wieder nach ihrer Affinität zu neuen Molekülen verbunden. Die morphologische Methode dagegen setzt die sinnliche Wahr- nehmung der zur Untersuchung dienenden Objekte voraus und besteht in einer Zergliederung derselben auf mechanischem und optischem Wege. Mit Messer, Schere und Mikrotom werden die Organismen in ihre gröberen und feineren T:ile, Organe, Gewebe und Zellen, und diese wieder in noch feinere Bestandteile zerlegt, die teils schon mit dem unbewaffneten 30 Zweites Kapitel. Auge zu sehen sind, teils durch Verwertung des Mikroskops und durch farbenanalytische Methoden für uns direkt erkennbar gemacht werden. Jede der beiden Methoden hat ihre eigenen Vorzüge und ihre Be- grenzung. Durch die Scheidekunst ist der Chemiker in den Stand gesetzt worden, die der Analyse unterworfenen Stoffe zu wägen, ihr Volumen zu messen und auf diesem Wege zu festen, gesetzmäßigen Zahlenverhält- nissen zu gelangen, in denen sich die Atome der chemischen Elemente verbinden. Durch Messen und Wägen und durch die so gewonnene Mög- lichkeit, die Ergebnisse seiner Experimente in feste mathematische For- meln zu fassen, hat er in seiner Wissenschaft einen hohen Grad von Voll- kommenheit und Exaktheit erreicht. — Und noch mehr: indem er die zahlenmäßig festgestellten Befunde seiner Analysen und Synthesen mit der anatomistischen Hypothese in logischen Zusammenhang brachte, hat er mit wunderbarem Scharfsinn ein Bild von der komplizierten Zusammenordnung der Atome im Molekül, gewissermaßen eine Topo- graphie derselben, zu gewinnen versucht. Auf diesem Weg ist in den letzten 40 Jahren eine Struktur- und Stereochemie entstanden, welche die Erforschung zusammengesetzter organischer Verbindungen im höch- sten Maß gefördert hat. Sehr treffend bemerkt NERNST in seiner theo- retischen Chemie: ‚Die hohe Entwicklung der organischen Struktur- chemie und die außerordentlichen, experimentellen Erfolge, welche man ihrer zielbewußten Durchführung verdankt, beweisen auf das schlagendste, wie glücklich die Aufstellung des Begriffs der ‚Konstitution der Mole- küle‘ gewesen ist.‘‘“ Als Stereochemie aber hat die Chemie noch mehr den Charakter einer morphologischen Wissenschaft erhalten. Bei diesem großen Fortschritt ist indessen nicht zu übersehen, daß die Strukturchemie, so sehr sie uns auch das Verständnis chemischer Verbindungen erleichtert, immerhin auf dem Boden der Hypothese errichtet ist. Denn da die Atome und Moleküle unsichtbare, weder mit dem Auge noch mit dem Tastsinn faßbare, also hypothetische Ele- mentareinheiten sind, über deren Form, Begrenzung, Lage, Verbindung und andere Qualitäten wir uns keine sinnlichen Vorstellungen bilden können, so sind die durch ihre Zusammengruppierung im Raum aus- gedachten, stereochemischen Modelle im letzten Grunde doch nur Symbole. Denn von außerhalb der Sinnenwelt gelegenen, also zunächst für uns noch übersinnlichen Strukturverhältnissen können wir uns, streng ge- nommen, keine wirklich zutreffende Vorstellung bilden. Daher läßt es sich bei einem Rückblick auf die Geschichte der Chemie recht wohl verstehen, daß die Struktur- und besonders die Stereochemie bei ihrem Die Stellung der-Biologie zu Chemie und Physik. 31 ersten Hervortreten keine günstige Beurteilung von angesehenen Forschern einer streng empirischen Richtung gefunden haben. Interessant in dieser Hinsicht ist das maßlos schroffe Urteil, in welchem sich der berühmte Chemiker KoLBE über die neue Richtung und besonders über die ‚Chemie dans l’espace‘‘ von van T’HoFF ausge- sprochen hat. KoLBE beklagt es ‚als ein Zeichen der Zeit, daß diemodernen Chemiker sich berufen und imstande erachten, für alles eine Erklärung zu geben und, wenn dazu die gewonnenen Erfahrungen nicht ausreichen, zu ‚übernatürlichen Erklärungen‘ zu greifen“. ‚Als billig und faden- scheinig bezeichnet er die Erzeugnisse unserer modernen chemischen Metaphysik“; er sieht in ihnen ‚ein Überhandnehmen des Unkrauts der gelehrt und geistreich scheinenden, in Wirklichkeit trivialen, geist- losen Naturphilosophie“‘. Zu ihr rechnet er „die modernen naturphilo- sophischen Spekulationen über Verlagerung und Verkettung der Atome etc., womit in Deutschland die große Mehrzahl der Chemiker jetzt Zeit und Kraft unnütz vergeude‘. Einen Beweis für sein Urteil sieht KOLBE besonders ‚in der von Phantasiespielereien strotzenden Schrift des Herrn van T’HorF über die Lagerung der Atome im Raume‘“. In derselben habe van T’Horr ‚‚den Pegasus (offenbar der Tierarzneischule entlehnt) bestiegen‘, um zu verkünden, ‚wie ihm auf dem durch kühnen Flug erklommenen chemischen Parnaß die Atome im Weltenraum gelagert erschienen sind“. Es seien „Halluzinationen“, an denen die prosaische chemische Welt wenig Geschmack fände. — Das wissenschaftliche Ur- teil über den Wert der Stereochemie ist seitdem im entgegengesetzten Sinne, als es KoLBE wünschte, ausgefallen. Trotzdem wird auch jetzt die Naturwissenschaft, wie ich glaube, in den Strukturformeln und Modellen doch nichts anderes als berechtigte und notwendige, für die Forschung und zur Verständigung nützliche Symbole erblicken dürfen. In dem Versuch, die chemische Wissenschaft in das Gewand einer morphologischen einzukleiden, enthüllt sich uns zugleich eine der Grenzen, welche ihr durch ihren Gegenstand und durch ihre Untersuchungs- methoden gezogen sind. Eine zweite Grenze ergibt sich aus der weiteren Eigenart der chemischen Scheidekunst, daß die Stoffe, welche einer Analyse unterworfen werden sollen, isoliert und ‚rein‘ dargestellt werden müssen. Das stößt aber bei der lebenden Zelle auf kaum zu überwindende Schwierigkeiten. Wenn z. B. Eiweißmoleküle besonderer Art zwischen vielen Hunderten ähnlicher Art verteilt sind, mit welchen Methoden sollte man sie aus dem Inhalt lebender Zellen ausscheiden, ohne sie selbst dabei in ihrer ursprünglichen Konstitution zu verändern? Oder wie 32 Zweites Kapitel. könnte man die chemisch veränderten Stoffe wieder in die ursprüng- lichen Zellbestandteile rückverwandeln ? Eine dritte Grenze stellt endlich die ungeheure Komplikation dar, welche Körper, wie z. B. eine Zelle, annehmen würden, wenn wir sie bis in Atome zerlegen und ihren Aufbau aus solchen in einer wissenschaft- lichen Strukturformel zum Ausdruck bringen wollten. Schon ein gewöhn- liches Eiweißmolekül besteht aus so zahlreichen Atomen, daß sehr viele verschiedenartige Gruppierungen derselben und isomere Verbindungen möglich sind und daß zurzeit schon hier die Chemie sich der Grenze nähert, wo es ihr mit ihren Methoden, wie es fast scheint, unmöglich wird, in einer stereochemischen Konstitutionsformel, wie bei anderen einfacheren Stoffen, den Bau des Eiweißmoleküles symbolisch darzustellen. Nun steigt aber die Zahl der möglichen Verbindungen um Tausende und aber Tausende, wenn wieder verschiedene Arten von Proteinmolekülen sich zu neuen Gruppen verketten, und wenn aus solchen in ihrer Kon- stitution verschiedenen Gruppen ein neuer, noch höherer Verband auf Grund von biologischen Affinitäten entsteht. Es ist leicht gesagt, das Wachstum, anstatt aus Teilung von Zellen, durch chemische Polymeri- sation zu erklären ; aber wann wird sich der Chemiker finden, der PELÜGERS chemisches Riesenmolekül analysiert, das, durch eine in infinitum fort- schreitende Polymerisierung entstanden, einen lebendigen Organismus bildet? Wie die chemische Untersuchung, hat auch die morphobiologische ihre bestimmten Grenzen. Da sie die Lehren von den Formen und Struk- turen der Lebewesen ist, erstreckt sich ihr Reich zunächst so weit, als dieselben mit unseren Sinnen wahrgenommen werden können, und es ist der Ausdehnung um so mehr fähig, als die natürliche Sehkraft unseres Auges gesteigert werden kann. In großem Maßstab ist daher durch die Erfindung des zusammengesetzten Mikroskops und seine fortschreitende Vervollkommnung die Morphologie im letzten Jahrhundert gefördert worden. Eine Welt kleinster Lebewesen (einzellige Organismen, Mikroben und Zellen) und feinste Strukturen der lebenden Substanz sind erst mit seiner Hilfe unserem Auge erschlossen worden. Ist damit die Grenze ein für allemal erreicht, über welche hinaus wir mit unserer Sehkraft nicht weiter vordringen werden? In der Gegenwart gewiß noch nicht! Denn kleinste, diskrete Stoffteilchen, die in ihrer natürlichen Farbe von der Umgebung nicht zu unterscheiden sind, können noch dadurch erkennbar gemacht werden, daß wir ihnen eine spezifische Färbung geben. Die ‚farbenanalytische Methode‘ ist aber gewiß noch weiterer Ver- vollkommnung fähig. Daher wird auf diesem Wege die Zerlegung der Die Stellung der Biologie zu Chemie und Physik. 33 Zelle in feinere Strukturteile noch weitere Fortschritte zu verzeichnen haben. Nicht minder werden auch Verbesserungen in den optischen Hilfsmitteln (Ultramikroskop) und in der bestmöglichen Ausnutzung derselben in der Zukunft zu erwarten sein. Aber auch zugegeben, daß wir in der chemischen Erforschung der Eiweißkörper und in der morphologischen Erkenntnis der feineren Ele- mentarstruktur der Zellen noch große Fortschritte machen werden, so wird immerhin nach unserer Ansicht ein weites Zwischengebiet stoff- licher Organisation übrig bleiben, in welches es weder der chemischen noch der mikroskopisch-morphologischen Analyse in absehbarer Zu- kunft möglich sein wird, weiter einzudringen. Hier eröffnet sich ein weites Feld für wissenschaftliche Hypothese! Was diese zu leisten ver- mag, hat uns als ein glänzendes Beispiel die Chemie mit ihren Hypothesen von den Atomen, von den Molekülen und den Strukturformeln derselben gezeigt. Sollte es in ähnlicher Weise einmal der Biologie möglich sein, in die hypothetische Organisation der Zelle tieferen Einblick zu gewinnen ? Ich glaube, daß in Zukunft diese Frage mit einem Ja ihre Beantwortung finden wird! Schon lassen sich die vielversprechenden Anfänge einer neuen, grundlegenden Forschungsrichtung übersehen. Ihren Ausgangs- punkt bilden die Tatsachen der Vererbungslehre. Vermöge ihrer spe- zifischen Organisation sind die Keimzellen die Anlagen für die aus ihnen entstehenden besonderen Arten von Lebewesen. Zwar läßt sich weder chemisch noch morphologisch erkennen, in welcher Weise die späteren sichtbaren Eigenschaften des Geschöpfes in der materiellen Beschaffen- heit der Keimzellen als Anlagen begründet sind. Aber nach dem onto- genetischen Kausalgesetz können wir den sicheren Schluß ziehen, daß in irgendeiner Art materielle Träger der vererbbaren Eigenschaften (Gene) vorhanden sein müssen. Wie uns der Chemiker über die in eine Verbindung eingetretenen und in ihr nicht erkennbaren chemischen Elemente durch Analyse belehrt, so liefert uns auch die Entwicklung der Keimzelle selbst gleichsam eine biologische Analyse der im Keim verborgenen Anlagen, indem sie uns, was in den Keimzellen unsichtbar angelegt ist (vgl. hierüber Kap. III), allmählich in sichtbar werdenden Merkmalen vor Augen führt. Auch auf experimentellem Wege können wir hierbei die Methoden des Chemikers in mancher Beziehung nachahmen. Durch Benutzung der zwischen männlichen und weiblichen Keimzellen bestehenden Affini- täten können wir zwei materielle Systeme zu einer neuen Stoffverbin- dung, zu einer gemischten Anlage, vereinigen und die Kombination der erblichen Anlagen in dem daraus abgeleiteten Entwicklungsprodukt O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl. 3 34 Zweites Kapitel. studieren. In dieser Weise eröffnet sich uns ein weites Feld interessanter Studien in der Bastardzeugung, durch welche die Anlagen von stärker voneinander divergierenden Eigenschaften zweier Varietäten oder ver- wandter Arten zu neuen Merkmalspaaren miteinander kombiniert werden können. — Hier ruftder Morphologe, wie der Chemiker, der durch Synthese neue Substanzen bildet, ganz neue biologische Verbindungen allerkompliziertester Art hervor. Dieselben erhalten aber noch darüber hinaus eine nicht hoch genug zu veranschlagende Bedeutung durch die Möglichkeit, später wieder eine Zerlegung der in der Bastardanlage kombinierten Eigenschaften herbeizuführen. Denn nach der fundamental wichtigen Entdeckung von MENDEL, welche man als die Spaltungsregel bezeichnet, werden die durch Bastardierung kombinierten, zu Paaren verbundenen Anlagen, wenn sich im Bastard die Keimzellen bilden (wie man aus guten Gründen annimmt, während des Reduktionsprozesses), wieder voneinander getrennt und in verschiedenartiger Kombination auf die männlichen resp. weiblichen Keımzellen verteilt (vgl. hierüber Kap. III). In die neuen Anlagesysteme aber, die durch Befruchtung der Keimzellen bei Inzucht entstehen, kann der Experimentator durch das Studium der zweiten und dritten Generation der Nachkommen des ursprünglichen ersten Bastardproduktes auf Grund des ontogenetischen Kausalgesetzes sich einen Einblick verschaffen und eine hierbei statt- gefundene verschiedenartige Vermischung der differenten Anlagen der ursprünglichen Stammeltern feststellen. So ist ein Weg gewiesen, auf welchem durch mühsame und aus- gedehnte Versuchsreihen sich vielleicht ein besserer Einblick, als wir ihn gegenwärtig besitzen, in das, was eine elementare Anlage ist, und überhaupt in die Konstitution des Anlagesystems wird gewinnen lassen. Auf einen Erfolg ist hierbei um so mehr zu hoffen, als wir auch in morphologischer Beziehung sichere Grundlagen in dem Äquivalenz- gesetz der im Ei- und Samenkern enthaltenen Chromatinmengen und in dem Zahlengesetz der Chromosomen besitzen, wenn wir die Hypotliese annehmen, daß wir es in den äquivalenten Kernsubstanzen mit stoff- lichen Trägern erblicher Anlagen zu tun haben (vgl. Kap. III). Maß und Zahl werden auf diese Weise in die Vererbungslehre und die Morphologie eingeführt. Und wenn wir auch wegen der mikroskopischen Kleinheit der körperlichen Gebilde dieselben nicht genau wägen und messen können in der exakten Weise, wie es der Chemiker vermag, so ist doch ein wichtiger Schritt, auch diesem Ziel exakter Forschung näher zu kommen, wohl hierdurch geschehen. Die Stellung der Biologie zu Chemie und Physik. 35 Nach den vorausgeschickten Erläuterungen glaube ich die Be- rechtigung des von mir .eingenommenen Standpunktes bewiesen zu haben, daß Chemie und Morphologie in gleicher Weise Grundwissen- schaften sind. Beide geben uns von dem Wesen des Stoffes, nur auf verschiedenen Stufen seiner Zusammensetzung zu toten und lebenden Körpern, Kenntnis. Es läßt sich Morphologie ebensowenig durch Chemie, wie diese durch Morphologie ersetzen, gewiß nicht in der Gegenwart, aber wohl auch nicht in der Zukunft. Denn die Vorbedingungen hierzu scheinen mir weder in dem menschlichen Erkenntnisvermögen noch in der Natur der Dinge selbst gegeben zu sein. Um dies in noch etwas drasti- scherer Weise zu erläutern, wollen wir uns für einen Augenblick in das Reich der Phantasie begeben. LAPLACE hat sich einen Geist vorgestellt, der den ganzen Welten- prozeß in die Bewegungen sich anziehender und abstoßender Massen aufzulösen, in einer mathematischen Riesenformel auszudrücken und mit ihr Vergangenheit und Zukunft zu berechnen imstande ist. In ähn- licher Weise wollen wir uns einen Geist denken, dessen Sehkraft uns gewöhnlichen Menschen so überlegen ist, daß er auch die kleinsten Stoff- einheiten, die Atome der Elemente, wahrnehmen und in ihren Bewegungen verfolgen könnte. Mit solcher göttlichen Sehkraft ausgerüstet, würde er in der Lage sein, den Aufbau aller Arten von Molekülen aus den ver- schieden gruppierten Atomen, wie ihn der Chemiker symbolisch in seinen Strukturformeln darzustellen versucht, direkt zu schauen, wenn auch vielleicht in etwas anderer Weise, als es sich der Chemiker vorstellt. Und da er ferner aus der rascheren oder langsameren Bewegung, mit welcher sich in den Verbindungen die Atome und Atomgruppen suchen oder fliehen, auch ihre größeren oder geringeren Affinitäten zu beurteilen ver- möchte, so könnte er durch Verwertung dieser Erkenntnis, in einfacherer Weise als der Chemiker durch seine synthetischen Methoden, neue Ver- bindungen herstellen und alte lösen, dadurch daß er verschiedene Stoffe in geeigneter Weise zusammenbringt und nach ihrer Affinität die ihm sichtbaren Atomgruppen miteinander austauschen läßt. Für einen Geist mit einer solchen Sehkraft wäre die Chemie in der Tat eine rein morphologische Wissenschaft geworden; sein Auge zerlegt oder seziert gleichsam die Moleküle in ihre einfachsten Elemente und verschafft sich einen Einblick in die atomistische Morphologie des Stoffes. Ein solcher Morphologe hat auch das Ziel der mechanistischen Schule erreicht. Die Zelle ist ihm nicht mehr der mit Struktur ausgerüstete lebende Elementarorganismus, sondern ist zu einem wunderbaren Mikro- kosmos unzähliger Moleküle geworden. Wie im Weltenraum die Himmels- 2% 36 Zweites Kapitel. körper, zu Sonnensystemen verbunden, sich in fest bestimmten Bahnen bewegen, so würde er im Mikrokosmus der Zelle die Moleküle je nach ihren Affinitäten zu kleineren oder größeren Gruppen (Micellen, Bio- blasten etc.) verbunden schauen; er würde wahrnehmen, wie durch Vereinigung zu noch umfangreicheren Systemen schließlich die auch dem gewöhnlichen menschlichen Auge erkennbaren Stoffgebilde ent- stehen, die wir jetzt als Protoplasmafäden, als Granula, Centrosomen, Trophoplasten, als Chromosomen, Spindelfasern, Nucleolen etc. be- zeichnen. Obwohl das hier entrollte Zukunftsbild einer Morphologie, welche auch das Forschungsgebiet der gegenwärtigen Chemie sich angeeignet hat und so zu einer allumfassenden Wissenschaft des Stoffes geworden ist, nur ein leeres Phantom ist, würde auf diesem Wege trotzdem noch nicht einmal das Endziel der Erkenntnis erreicht sein. Denn nach physi- kalischen Theorien würde ja das Atom selbst wieder als eine Welt von a-Korpuskeln vorgestellt werden müssen. In eine gleiche Lage würde sich eine Chemie versetzt sehen, die durch chemische Kenntnis das ersetzen soll, was wir durch morphologische Erkenntnis von der Organisation der lebenden Körperwelt erfahren haben. Wie das menschliche Auge auch in Zukunft nicht jene durchdringende Sehkraft erwerben wird, um Moleküle und Atome oder gar a-Korpuskel zu schauen, so wird auch die chemische Kunst der stofflichen Analyse und Synthese eine menschliche bleiben und nicht jenen Grad von Vollen- dung erreichen, der erforderliche wäre, um das durch fortgesetzte Poly- merisierung und Molekülkombinierung entstandene PFLÜGERSsche Riesen- molekül in seine unzähligen verschiedenen Atomgruppen zu zerlegen, einen Einblick in ihre gesetzmäßige Verbindungs- und Lagerungsweise zu gewinnen und von ihm eine Riesenkonstitutionsformel zu entwerfen. — An dem Organismus der Zelle scheitert auch die analytische und syn- thetische Kunst des Chemikers. Denn wenn er auch aus der Zelle einzelne Eiweißkörper gewinnen und darstellen kann, so hat er dadurch eine chemische Analyse von der molekularen Organisation der lebenden Zelle, eines Samenfadens, eines Eies etc. noch lange nicht geliefert. Wer aber eine solche im kühnsten Flug der Phantasie in der Zukunft für mög- lich halten würde, müßte dann auch an die Möglichkeit glauben, einmal durch chemische Synthese einen Samenfaden oder ein Ei bilden zu können, also eine chemische Substanz, welche, ausgerüstet mit der Fähig- keit zur Entwicklung, Organe wie Hirn und Auge aus sich hervorbringen könnte. Denn wenn in der Chemie die Analyse eines Stoffes wirklich Die Stellung der Biologie zu Chemie und Physik. 37 ausgeführt werden kann, dann ist gewöhnlich auch eine Synthese in den Bereich der Möglichkeit gerückt. Wie ich nach diesen Erörterungen glaube mit vollem Recht be- haupten zu können, haben die Untersuchungen des Stoffes auf jeder Stufe seiner Verbindung oder Organisation, mögen sie chemische oder morphologische sein, die gleiche Wichtigkeit für die Erkenntnis der uns umgebenden Körperwelt. Die Untersuchung der niederen Stufe (der molekularen Zusammensetzung des Stoffes) macht nicht die Er- forschung der höheren Stufen (der Organisation des Stoffes in Zellen, Ge- webe, Organe, zusammengesetzte Lebewesen) überflüssig, noch kann sie überhaupt einen Ersatz für sie bilden. Betrachten wir noch einen anderen Fall. Genau dasselbe Ver- hältnis wie zwischen Morphologie und Chemie würde entstehen, wenn es zukünftiger Forschung einmal gelingen sollte, die Atome aller Ele- mente nach dem Muster der radioaktiven Substanzen in a-, ß-, y-Kor- puskel etc. zu zerlegen. Eine neue Wissenschaft würde sich neben der Chemie entwickeln, die Wissenschaft von der Konstitution der Atome. Dann würde das Atom (vgl. S. 26) schon an und für sich eine komplizierte Welt im Allerkleinsten darstellen, in welcher man auch, um die Ver- schiedenheit der Elemente zu erklären, wie in der Stereochemie der Moleküle, die Zahl und Lagerung der Korpuskel im Atomraum zum Gegenstand der Forschung mit den für solche Aufgabe geeigneten Me- thoden erheben könnte. Würde durch solche neue Wissenschaft etwa die alt gewordene Chemie beseitigt sein, indem nun der zukünftige Forscher die Aufgabe des Chemikers anstatt mit Atomen mit radioaktiven Kor- puskeln ausführen und die Moleküle anstatt durch stereochemische Strukturformeln gleich durch Formeln aus den vorläufig allerletzten Urelementen des Stoffes erklären würde? Nach meinem Urteil würde sich neben dieser neuen Zukunftswissenschaft des Stoffes die Chemie mit ihren Atomen und Molekülen, mit ihren bewährten Methoden der Analyse und Synthese nicht nur als gleichberechtigte Grundwissenschaft behaupten, sondern überhaupt mit ihren Aufgaben und Leistungen durch das neue Feld der Forschung gar nicht ersetzt werden können. Der von mir schon früher vertretene und hier wieder neu begründete Standpunkt beruht nicht, wie VERWORN meint, auf der Vorstellung einer mystischen Organisation, sondern auf einer, wie ich glaube, sach- gemäßen Abwägung der gegenwärtigen Aufgaben und Grenzen beider Wissenschaften. Und so halte ich denn, gewiß mit Fug und Recht, an der Ansicht fest, die ich in einer akademischen Rede kurz dahin zu- sammenfaßte: ‚Wenn es Aufgabe des Chemikers ist, die zahllosen 38 Zweites Kapitel. Verbindungen der verschiedenaitigen Atome zu Molekülen zu erforschen, so kann er, streng genommen, überhaupt nicht dem eigentlichen Lebens- problem näher treten. Denn dieses beginnt ja überhaupt erst da, wo seine Untersuchung aufhört. Über dem Bau des chemischen Moleküls erhebt sich der Bau der lebenden Substanz als eine weitere, höhere Art von Organisation, erhebt sich der Bau der Zelle, und über diesem erhebt sich wieder der Bau der Pflanzen und Tiere, die noch kompliziertere, kunst- volle Vereinigungen von Millionen und Milliarden in der allerverschieden- artigsten Weise zusammengeordneter und differenzierter Zellen dar- stellen.“ ‚Was hat in aller Welt chemische Wissenschaft, wie sie jetzt ist, mit dieser ganz neuen Welt von Organisation des Stoffes zu tun, auf welcher erst die Lebenserscheinungen beruhen! Wollte sich der Che- miker auch diese zu erforschen zur Aufgabe stellen, dann müßte er selbst Biologe, vor allem Morphologe werden. Dann aber würden auch seine Arbeitsmethoden und Ziele durchaus andere und viel umfassendere sein, als es gegenwärtig der Fall ist.‘ In einem entsprechenden Verhältnis wie Chemie und Morphologie stehen Physik und Physiologie als die Wissenschaften von der dem Stoffe innewohnende Kraft zueinander. Da der Begriff ‚Kraft‘ Schwierig- keiten in sich einschließt, wie schon das Wort ‚Lebenskraft‘ lehrt und wie früher bereits hervorgehoben wurde (S. 19), werde ich in der folgenden Erörterung mich anstatt dessen des Ausdrucks ‚Wirkung und Wirkungs- weise“ bedienen. Denn an ihr allein kann der Naturforscher das Vor- handensein und die besondere Art der Kraft erkennen. Nun kann es wohl keinem Zweifel unterliegen, daß mit der ver- wickelter werdenden stofflichen Zusammensetzung der Körper auch ihre Wirkungen in irgendeiner Hinsicht verschieden ausfallen müssen, oder mit anderen Worten: jede Konfiguration des gegebenen materiellen Systems zeigt eine ihr entsprechende und parallel laufende, gesetzmäßige Wirkungsweise. In demselben Maße wie durch die Aneinanderfügung der Atome zu Molekülen, der Moleküle zu den höheren Substanzeinheiten der Zelle, der lebenden Zellen zu den Pflanzen und Tieren immer neue, zahlreichere und höhere Formen der Körperwelt zustande kommen, werden auch dementsprechend neue und immer kompliziertere, von ihnen ausgehende Wirkungsweisen produziert. Daher hat es auch der Forscher mit dem Auftreten der Pflanzen und Tiere mit einer ganz neuen Welt ungemein mannigfaltiger Wir- kungen zu tun, wie sie in dieser Weise in der unbelebten Natur nicht vorkommen und nicht vorkommen können, weil hier die dafür erforderliche Organisation ganz fehlt; Die Stellung der Biologie zu Chemie und Physik. 39 ich nenne nur die Erhaltung der Art durch Wachstum und Zeugung, den Stoffwechsel, die verschiedenen Arten der Irritabilität (Phototaxis, Chemotaxis, Geotropismus usw.), Bewußtsein, Sinnes- und Denkvermögen, und endlich alle die verschiedenen Wirkungen, welche die einzelnen Zell- teile aufeinander, welche Zelle auf Zelle, Organe auf Organe, Pflanzen und Tiere aufeinander ausüben. Sofern der Vitalismus nur diese Tatsache betonen will, so wird sich dagegen kaum ein ernstlicher Widerspruch erheben lassen, und es würde nur zu bemerken sein, daß das Wort ‚Lebenskraft‘, weil es weder für die Forschung noch die Erklärung einen Nutzen darbietet und daher zwecklos und für die Forschung sogar schädlich gewesen ist, am besten ganz vermieden wird. Wie sich aus unserer Darlegung leicht ersehen läßt, ist die Zahl der überhaupt in der Natur zu beobachtenden Wirkungsweisen, die zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung gemacht werden können, eine unfaßbar große. Die physikalische Wissenschaft aber beschäftigt sich nur mit einem kleinen Bruchteil derselben, und zwar mit den ein- facheren und allgemeiner verbreiteten Wirkungsweisen, in denen die Naturkraft sich in einer mehr gleichartig wiederkehrenden Gesetz- mäßigkeit äußert: mit den Erscheinungen der Schwer- und Zentrifugal- kraft, des Lichtes und der Wärme, des Magnetismus und der Elektrizität, der chemischen Kräfte etc. Dagegen überläßt sie der Physiologie das Studium der Wirkungsweisen, die von den Lebewesen ausgehen. Die- selben lassen sich allerdings zum Teil direkt physikalisch erklären, aber natürlich nur insoweit, als sie mit den vom Physiker beobachteten all- gemeineren und elementareren Gesetzmäßigkeiten Übereinstimmung zeigen, also schon von vornherein physikalisch sind. In derselben Weise sind auch Stoffe, die von lebenden Körpern gebildet werden, rein che- mischer Untersuchung zugänglich, und sogar durch Synthese künstlich darstellbar, wie Kohlenhydrate, Fette, Spaltungsprodukte von Eiweiß- körpern, wie Harnstoff und dergleichen mehr. Dagegen gibt es andere Wirkungsweisen, die in der spezifischen Organisation der lebenden Sub- stanz, in den komplizierten Systembedingungen von Stoffverbindungen begründet sind, wie sie in der leblosen Natur nicht vorkommen und nur in den Zellen und ihren Vereinigungen gegeben sind. Sie sind daher auch, solange es Physik gibt, überhaupt nie Gegenstand ihrer Untersuchungs- weise geworden und lassen sich infolgedessen selbstverständlicherweise auch nicht physikalisch erklären, wie Fortpflanzung, Vererbung, Bewußt- sein, Sinnes- und Denkvermögen. Auch hier bedingt die verschiedene Natur der zu erforschenden Gegenstände andere Untersuchungs- 40 Zweites Kapitel. methoden und Betrachtungsweisen, als sie in der Physik für die Unter- suchung der Wirkungsweisen der unbelebten Natur ausgebildet worden sind. An einem Beispiel, als welches ich das Sehvermögen wähle, wird, was ich meine, noch deutlicher hervortreten. Das Auge ist ein dioptrischer Apparat, nach den Gesetzen der Optik gebaut und insoweit physikalisch begreifbar. Der Strahlengang, die durchsichtigen Medien, ihre Brechung durch die Krümmungsverhältnisse der Linse, die Entstehung des Bildes auf der lichtempfindlichen Fläche, die Entfernung derselben von der Linse usw. sind nach den Methoden der Physik zu ermitteln und lassen sich mathematisch berechnen. Insoweit ist die Physiologie des Auges auf seine Einrichtung angewandte Physik, ist physiologische Optik. Aber damit ist das Sehvermögen nur zum Teil erklärt. In welcher Weise die Lichteindrücke von der Retina als Bild wahrgenommen, das Bild in den Raum hinausprojiziert und die Einzelheiten des Bildes wieder in ihrer natürlichen Größe und körperlich vorgestellt, ins Bewußtsein aufgenommen und in Erinnerungsbilder umgewandelt werden etc., sind Fragen physiologischer und psychologischer Forschung und lassen sich physikalisch nicht erklären, da es analoge Vorgänge im Bereich der Physik nicht gibt. Noch mehr aber gilt dies von der Entwicklungs- physiologie des Auges, von der Erforschung der Wirkungen, durch welche sowohl phylogenetisch wie ontogenetisch in der lebenden Substanz die Entstehung eines für Lichtperzeption eingerichteten Organs mit seinem wunderbaren Bau verursacht worden ist, die Bildung einer lichtbrechenden Linse aus Zellen, die Bildung einer den Lichteinfall regulierenden Irisblende, eines Akkommodationsapparates für Nah- und Fernsehen usw. In derselben Weise, wie es für das Auge als Beispiel durchgeführt wurde, gibt es wohl keine Funktion der Lebewesen, die sich als ein rein chemisch-physikalisches Problem behandeln ließe. Überall spielen Wir- kungsweisen mithinein, die mit der eigentümlichen, spezifischen Organi- sation der lebenden Substanz zusammenhängen und sich daher von den Wirkungen, die durch die einfacheren materiellen Systeme der un- belebten Natur hervorgerufen werden, mehr oder minder weit unter- scheiden. | In diesem Punkt ist übrigens kein prinzipieller Unter- schied zwischen lebloser und belebter Körperwelt gegeben. Es brauchte dies eigentlich kaum hervorgehoben zu werden, wenn nicht von mancher Seite gleich das Gespenst des Vitalismus bei der Feststellung solcher Unterschiede erblickt würde. Denn auch in der Die Stellung der Biologie zu Chemie und Physik. 4I leblosen Natur ist, wie bei den lebenden Organismen, die Konfiguration des materiellen Systems für die von ihm ausgehenden Wirkungsweisen mitbestimmend. Die Wirkungsweisen und Eigenschaften eines zusammengesetzten Moleküls hängen ebensowohl von den Einzelwirkungen aller es zusammensetzenden Atome als von der Art ihrer Verbindungsweise im Molekül ab. In ihrer Trennung zeigen die Atome andere Wirkungen als in ihrer Vereinigung zu einem bestimmten Molekül. Isomere Verbindungen bieten Unterschiede in ihren Eigen- schaften voneinander dar, die nur auf ihrer verschiedenen Struktur beruhen können, da Art und Zahlder Atome bei ihnen ja sonst die gleichen sind. Welche große Bedeutung NERNST dem Bau der Moleküle bei der Frage nach ihren physikalischen Eigenschaften in seiner theoreti- schen Chemie beimißt, geht aber aus folgenden Anfangssätzen zu seinem sechsten Kapitel über „physikalische Eigenschaften und molekularen Bau“ hervor: ‚Nach der Auffassung der Strukturtheorie sind drei Um- stände maßgebend für die Eigenschaften einer Verbindung: I) chemische Zusammensetzung, 2) Konstitution, d. h. Art der Verkettung der Atome, 3) Konfiguration, d. h. räumliche Anordnung der Atome. Eine Änderung eines dieser Faktoren bedingt notwendig eine mehr oder minder weit- gehende Änderung der Eigenschaften der Verbindung.“ „Diese Erkenntnis‘, fährt NERNST weiter fort, ‚legt die Aufgabe nahe, die Beziehungen zu ergründen, welche zwischen dem Bau des Moleküls (worunter wir den Inbegriff jener drei Faktoren verstehen wollen) und dem physikalischen und chemischen Verhalten der Substanz bestehen; die vollständige Lösung dieser Aufgabe würde uns in den Stand setzen, aus der Strukturformel heraus das Verhalten einer Sub- stanz nach jeder Hinsicht anzugeben, die Existenzbedingungen und Eigenschaften noch nicht dargestellter Verbindungen vorherzusagen, und daher die Erreichung eines Ziels bedeuten, dem sich zu nähern einen Hauptzweck aller chemischen Forschung bildet.“ Ein in vieler Beziehung noch lehrreicheres Beispiel für die Ab- hängigkeit der Wirkungsweise eines materiellen Systems von seiner Struktur bietet der Vergleich der Lebewesen mit Maschinen. Der- selbe ist ja seit dem bekannten Ausspruch von LA METTRIE „L’homme machine‘ oft angestellt worden. In einer sehr zusammengesetzten Dampfmaschine ist der zu ihrem Bau verwandte Stoff in viele, sehr verschieden geformte Maschinenteile gebracht, welche je nach ihrer Form verschiedene Wirkungsweisen hervorrufen können und wie die Organe eines Lebewesens untereinander nach einem bestimmten Plan 42 Zweites Kapitel. verbunden sind. Der rohe Stoff ist durch diese Prozedur, wie man auch sagt, „veredelt‘‘ worden. Infolge ihrer Konstruktion muß die Maschine, wenn in Betrieb gesetzt, eine im voraus bestimmte Wirkung ausüben oder eine ihrer Natur entsprechende Arbeit verrichten. Von drei ver- schiedenen Gesichtspunkten aus kann der Naturforscher sich mit der Maschine beschäftigen, als Chemiker, als Physiker und als Maschinen- ingenieur. Als Chemiker kann er die chemische Natur der zum Bau der Maschine verwandten Substanzen (Eisen, Kupfer etc.) und die zu ihrem Betrieb erforderlichen Materialien (Steinkohle, Petroleum, Öl, Wasser etc.) untersuchen. Ebenso kann der Physiker sich mit den physi- kalischen Verhältnissen der Konstruktionsteile, mit der Zug- und Druck- festigkeit der Eisenstäbe, mit der Berechnung der Leistungsfähigkeit des Dampfkessels, mit der Spannung des überhitzten Wasserdampfes, mit dem Energiewert der verschiedenen Brennmaterialien etc. beschäf- tigen. Aber durch alle diese verschiedenartigen, physikalischen und chemi- schen Untersuchungen, die an den gleichen Substanzen, auch wenn sie keine Maschinenbestandteile sind, mit demselben Ergebnis vorgenommen werden könnten, gewinnen wir noch keinen Einblick in das Wesen einer bestimmten Maschine. Denselben verschafft uns erst der Maschineningenieur, wenn er uns erklärt, in welcher Weise die einzelnen Teile zur Erzielung eines bestimmten Arbeitszweckes verbunden sind, wie hieraus ihre Form, Größe und Festigkeit im Verhältnis zu anderen Konstruktionsteilen berechnet worden ist, und durch welche Vorkeh- rungen es ermöglicht worden ist, mit dem geringsten Aufwand von Kraft die bestmögliche, vorausbestimmte Arbeitsleistung zu erzielen. Gewiß kommt in der Maschine nichts vor, was außerhalb der all- gemeinen Naturgesetzmäßigkeit fiele; die zum Bau der Maschine ver- wandten Stoffe mit den ihnen innewohnenden Kräften sind genau die- selben, wie sie sich auch sonst in der Natur finden und vom Chemiker und Physiker untersucht werden. Trotzdem bietet jede Maschine, wie eine jede Organismenart, ein neues, eigenes Problem dar, das in der konstruktiven Verwendung der Rohmaterialien und in der Zusammen- ordnung der Teile beruht, durch welche die Naturkräfte in eine durch den Plan der Maschine vorausbestimmte Bahn zur Erzielung einer zweckentsprechenden Arbeitsleistung geleitet werden. Spezifische Kon- struktion, resp. spezifische Organisation hat unfehlbar auch eine be- stimmt gerichtete Wirkungsweise, resp. eine spezifische Funktion zur Folge. Ich wiederhole: Mit dem in der spezifischen Konstruktion ge- gebenen Problem, das erst das Wesen der Maschine ausmacht, beschäftigt Die Stellung der Biologie zu Chemie und Physik. 43 sich weder der Chemiker noch der Physiker; vielmehr bildet es die wissen- schaftliche Aufgabe des Ingenieurs und Technikers, der sich mit der Erfindung und dem Bau von Maschinen beschäftigt in der Absicht, mit ihrer Hilfe dem Menschen die Naturkräfte dienstbar zu machen. In ähnlicher Weise wie der Maschineningenieur behandelt der Biologe (sowohl der Anatom wie der Physiologe) Probleme der Natur- wissenschaft, die sich mit denen der Chemie und Physik nicht decken, sondern durchaus neu und eigenartig sind. Nur sind seine Probleme in demselben Maße komplizierter und schwieriger, als auch der einfachste Organismus in seinem Bau und in der Mannigfaltigkeit und Zweckmäßig- keit seiner Wirkungsweisen, die sich den verschiedenartigsten Bedin- gungen anpassen können, die komplizierteste Maschine außerordentlich übertrifft. Der von mir hier entwickelte Standpunkt ist kein isolierter; ın ähnlicher Weise haben sich schon manche Biologen und Philosophen ausgesprochen, auf deren Urteil ich besonderen Wert lege, wie CLAUDE BERNARD, AUGUSTE (OMTE, C. E. v. BAER, PFEFFER, ED. v. HARTMANN u.a. In seiner Vorlesung über die Phänomene des Lebens hat CLAUDE BERNARD, das Haupt der französischen Physiologen, auch seine Stellung zum Vitalismus und Mechanismus auseinandergesetzt. ,,Si les doctrines vitalistes‘‘, bemerkt er, „ont m&connu la vraie nature des phenomenes vitaux, les doctrines mat£rialistes, d’un autre cöt&, ne sont pas moins dans l’erreur, quoique d’une maniere opposee. En admettant que les phenome£nes vitaux se rattachent ä des manifestations physico-chemiques, ce qui est vrai, la question dans son essence n’est pas Eclaircie pour cela; car ce n’est pas une rencontre fortuite de phönomenes physico-chimiques qui construit chaque @tre sur un plan et suivant un dessin fixe et prevu d’avance, et suscite l’admirable subordination et l’harmonieux concert des actes de la vie. Il ya dans le corps anım@ un arrangement, une sorte d’ordonnance que l’on ne saurait laisser dans l’ombre, parce qu’elle est veritablement le trait le plus saillant des &tres vivants.‘‘“ Noch einfacher drückt CoMTE den in der Frage entscheidenden Punkt durch den Satz aus: „De quelle maniere qu’on explique les differences de ces deux sortes d’etres, il est certain qu’on observe dans les corps vivants tous les pheno- menes, soit m&caniques, soit chimiques, qui ont lieu dans les corps bruts, plus un ordre tout sp£&cial de ph@enome£nes, les phenomenes vitaux proprement dits, ceux qui tiennent a l’organisation.“ In seinem Aufsatz über Zielstrebigkeit in den organischen Körpern hat sich C. E. v. BAER zu unserem Thema in kurzen Sätzen so geäußert: „Zu glauben, daß die organischen Körper, weil sie selbst Zwecke sind, 44 Zweites Kapitel. den Naturgesetzen nicht unterworfen seien, wäre grundfalsch. Die Vege- tation der Pflanzen ist ja nichts als ein chemisch-physikalischer Prozeß nach eigener Entwicklungsnorm. Das tierische Leben verläuft nicht minder nach physikalisch-chemischen Gesetzen mit eigener Entwicklungsnorm.“ Mit den Worten ‚nach eigener Entwicklungsnorm‘ bezeichnet v. BAER den Faktor, welcher nach unseren vorausgeschickten Erläute- rungen in nichts anderem besteht, als in der spezifischen Organisation jeder lebenden Substanz und in den von ihr abhängigen Wirkungsweisen, durch welche alle chemisch-physikalischen Vorgänge in bestimmte Bahnen geleitet werden. Mit den von mir entwickelten Gedankengängen stimmt PFEFFER überein, wenn er in seinem Handbuch der Pflanzenphysiologie (1897, p. 3 u. 52) sagt: ,‚‚Wie eine Uhr mit dem Einstampfen aufhört eine Uhr zu sein, obgleich Qualität und Quantität des Metalls unverändert bleibt, so ist auch mit dem Zerreiben eines Schleimpilzes, eines jeden Protoplasten, das Leben und alles damit Verkettete unwiederbringlich vernichtet, obgleich in diesem Gemisch nach Qualität und Quantität dieselben Stoffe vereinigt sind, wie zuvor. Allein schon diese Überlegung sagt unzweideutig aus, daß selbst die beste chemische Kenntnis der im Protoplasma vorkommenden Körper für sich allein ebensowenig zur Er- klärung und zum Verständnis der vitalen Vorgänge ausreichen kann, wie die vollendetste chemische Kenntnis von Kohlen und Eisen zum Ver- ständnis der Dampfmaschine und der mit dieser betriebenen Buchdrucker- presse.“ „Eine jede physiologische Einheit (Zelle) ist zweifellos nicht eine chemische Verbindung, sondern ein organischer Körper.‘ Besonders aber will ich hier auch auf die trefflichen Bemerkungen von EDUARD VON HARTMANN hinweisen. Noch kurz vor seinem Tod wendet sich derselbe in seinem Grundriß der Naturphilosophie (1907, p. 34, 35) gegen den bei den meisten Biologen noch fortbestehenden ‚‚irrtümlichen Glauben, als ob die Molekularmechanik und die aus ihr entspringenden physikochemischen Gesetze im Prinzip ausreichend sein müßten, um die organische Natur erschöpfend zu begreifen, wenn uns nur die nötigen Mittel zur Erforschung des submikroskopisch Kleinen und die nötige Schärfe des mathematischen Verstandes zu Gebote ständen. Dieser Irrtum der mechanistischen Weltanschauung im Bereiche auch der organischen Natur hat sich dadurch eingenistet, daß man von der Physik und Chemie ausging, die schon einen höheren Grad wissenschaft- licher Durcharbeitung erlangt hatten, und die dort gewohnten und er- probten Methoden auf die Biologie übertrug, die sich noch auf der Über- Zusammenfassung. Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnis. 45 gangsstufe von der Kunde zur Wissenschaft befand. Es ist aber grund- sätzlich verkehrt, das Höhere aus dem Niederen erschöpfend verstehen zu wollen; die Biologie braucht ihre eigenen Me- thoden, und wenn sie auch die physikochemischen Gesetze als die unerschütterliche Grundlage ihrer Untersuchungen anerkennt, so besteht doch ihre eigentliche Aufgabe darin, diejenigen Gesetze zu erforschen, die in der unorganischen Natur nicht vorkommen, die sich aber in der organischen Natur über die physikochemischen Gesetze überlagern.“ Zusammenfassung. Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Die im zweiten Kapitel ausgesprochenen Gedanken, welche die philosophisch-methodologische Grundlage dieses Buches bilden, fasse ich noch einmal kurz in einige Sätze zusammen. Der Naturforscher untersucht die ihn umgebende Körperwelt von zwei verschiedenen Gesichtspunkten aus, erstens ihre stoffliche Zusammensetzung und zweitens die in ihr tätigen Kräfte oder, richtiger gesagt, ihre Wirkungs- weisen, da nur diese von uns wahrgenommen und wissenschaftlich ana- lysiert werden können. Wir erhalten so zwei Reihen von Wissenschaften, die chemisch-morphologischen, welche sich mit dem stofflichen Aufbau der Körperwelt, und die physikalisch-physiologischen, welche sich mit ihren Wirkungsweisen beschäftigen. Die chemisch-morphologischen Wissenschaften haben zu der Er- kenntnis geführt, daß alle Körper, mögen es tote oder lebende sein, sich in Stoffteile zerlegen und aus ihnen wieder direkt aufbauen oder wenigstens aus ihnen entstanden vorstellen lassen, wie die Moleküle aus Atomen oder die Pflanzen und Tiere aus den sie aufbauenden Zellen. Die Zerlegbarkeit der Körper in Teile ist ebenso wie der entgegengesetzte Prozeß ein ungemein verwickelter. Man hat dabei zahlreiche Ordnungen einfacherer und zusammengesetzterer Stoffeinheiten kennen gelernt, die sich in einer natürlichen Stufenfolge anordnen lassen, in der die höhere Stufe durch Vereinigung von Stoffeinheiten einer niederen Stufe ent- standen ist. So bilden sich durch Vereinigung radioaktiver Teilchen, wenn wir mit der Hypothese der neuesten Forschungen beginnen wollen, die Atome der chemischen Elemente; durch die verschiedenartigste Zu- sammengruppierung von Atomen wahlverwandter Elemente werden Moleküle; diese können sich wieder miteinander zu Doppelmolekülen und zu Molekülkomplexen vereinigen. Mit dem Studium dieser niederen Formen in der Stufenfolge stofflicher Zusammensetzung, mit der Analyse 46 Zweites Kapitel. und Synthese der schon hier vorhandenen und noch realisierbaren, un- zähligen Verbindungen beschäftigt sich die unorganische und die orga- nische Chemie; wir wollen sie daher kurz als die chemischen Stoffverbin- dungen bezeichnen. Auf diese aber folgen dann in der Stufenfolge der immer komplizierter werdenden Zusammensetzung des Stoffes die ver- schiedenen Ordnungen der in der belebten Körperwelt unterscheidbaren Strukturteile; man kann sie im Gegensatz zu den chemischen als biolo- gische Verbindungen benennen. Diese sind zum Teil, weil sie Vereini- gungen von zahlreichen Molekülen oder Molekülkomplexen (Micellen) darstellen, in das Bereich des mikroskopisch Sichtbaren gerückt und bilden daher den Gegenstand der biologisch-morphologischen Wissen- schaft. Ich nenne als solche I. die in den Zellen unterscheidbaren lebenden Teilkörperchen, die sich durch Eigenwachstum und durch ihre Vermeh- rungsfähigkeit auf dem Wege der Teilung auszeichnen (Granula, Tropho- blasten, Kern, Chromosomen), 2. die auf einer noch viel verwickelteren Organisation beruhende Zelle, 3. die Vereinigung der Zellen zu viel- zelligen Pflanzen und Tieren mit ihren verschiedenartigsten Geweben und Organen, endlich 4. die durch Vereinigung von Tieren gebideten Tierstöcke und Tierstaaten. Nach dem bisher eingeschlagenen Entwicklungsgang der Wissen- schaft beschäftigt sich die Chemie mit den niederen, dagegen die biolo- gische Morphologie mit den höheren Formen stofflicher Verbindungen. Daher kann weder die eine die andere ersetzen, noch das von ihr behandelte Gebiet erklären. Denn die Chemie kann sich entsprechend der Natur ihrer Aufgaben mit den Lebewesen nur insoweit beschäftigen, als diese ihr chemische Stoffverbindungen darbieten, was ja in reichlichstem Maße der Fall ist; doch ihre Aufgabe erlischt, wo es sich um die überge- ordneten Formen biologischer Verbindungen handelt, auf welchen die Eigenart der Lebewesen im Gegensatz zu den chemischen Substanzen beruht. Daher beginnt hier auch ein neues, eigenartiges Forschungsgebiet mit den ihm eigenen Gesetzmäß'’gkeiten. Indem wir diese in den tatsächlichen Verhältnissen und in der Ge- schichte der Wissenschaften selbst begründete Schranke zwischen Chemie und biologischer Morphologie ziehen, bleibt das Problem, ob die Lebewelt aus der unbelebten Natur entstanden ist, davon ganz unberührt. Denn an sich liegt kein logischer Grund vor, in der Stufenfolge stofflicher Organi- sationen an irgendeiner Stelle eine durchgehende Trennung vorzunehmen. Wie das Molekül durch Verbindung von Atomen, so ist durch Vereinigung von Molekülen aus der Gruppe der Eiweißkörper wahrscheinlich auch die lebende Zelle, vielleicht durch Vermittlung von uns noch unbekannten ne Zusammenfassung. Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnis. 47 * Zwischenstufen stofflicher Organisation entstanden, e'ne Annahme, welcher ich mit der Mehrzahl der Naturforscher huldige. In ähnlichem Verhältnis wie Chemie und Morphologie stehen Physik und Physiologie zueinander, indem dieeine die allgemeinen, allen Körpern gemeinsamen Wirkungsweisen nebst denjenigen, die von den einfacheren Stoffverbindungen ausgehen, die letztere die zusammengesetzteren Wirkungsweisen der Lebewesen zum Gegenstand unserer Untersuchungen nimmt. Die größten Erfolge durch Aufstellung allgemeiner Gesetze und Regeln hat die Physik auf solchen Gebieten aufzuweisen, auf denen es sich um allgemeinere, weit verbreitete Wirkungsweisen der Körper- welt aufeinander handelt, um die Erscheinungen der Gravitation, des Magnetismus, der Elektrizität, des Lichtes, der Wärme usw. Hier bietet es auch einen Vorteil dar, wenn man, wie es in der Wissenschaft üblich ist, das gemeinsame Prinzip, das gleichen Wirkungen zugrunde liegt, als eine besondere Naturkraft, als Schwerkraft, Zentrifugalkraft, mag- netische, elektrische Kraft usw. bezeichnet. Dagegen stößt die Physik auf ähnliche Schwierigkeiten wie die Physiologie überall dort, wo es sich um die Erklärung der besonderen Wirkungsweisen handelt, welche die Körper auf Grund ihrer spezifischen Zusammensetzung oder als chemische Stoffe ausüben. Wie jede pflanzliche oder tierische Spezies, so bietet auch jeder chemische Körper sein besonderes Problem dar, wenn seine Wirkungsweise auf die Wirkungen der es zusammensetzenden Teile zurückgeführt oder, wie man auch zu sagen liebt, aus ihnen erklärt werden soll. Das Gleiche wie von den Wirkungen läßt sich auch von den Eigenschaften der Dinge sagen. Es lassen sich auch die Eigenschaften der Moleküle nicht einfach aus den Eigenschaften der sie zusammen- setzenden Atome, die Eigenschaften der Zellen aus den sie aufbauenden Molekülverbindungen, die Eigenschaften der Tiere und Pflanzen aus den sie bildenden Zellen durch einfache Addition ableiten. Vielmehr werden Wirkungen und Eigenschaften eines zusammengesetzteren Ganzen auch wesentlich mit von dem bestimmt, was der Techniker als die Konfiguration eines aus einfacheren Teilen zusammengesetzten Systems oder als seine Systembedingungen zu bezeichnen pflegt; nicht minder stehen sie auch unter dem Einfluß und in Abhängigkeit von der auf sie einwirkenden Umwelt. Ein Gemenge von Sauerstoff- und Wasserstoffatomen z. B. übt ganz andere physikalische Wirkungen aus, als die gleiche Zahl von Atomen, nachdem sie sich durch einen chemischen Prozeß zu Wasser- molekülen vereinigt haben. Ferner bieten isomere Moleküle, obwohl sie aus derselben Zahl gleicher Atomelemente zusammengesetzt sind, trotz- pam verschiedene Eigenschaften dar und unterscheiden sich auch in 48 Zweites Kapitel. ihren Wirkungsweisen je nach ihrer verschiedenen, in einer Struktur- formel darstellbaren Konfiguration. Auch in dieser Beziehung besteht zwischen Chemie und Physik auf der einen und der Biologie auf der anderen Seite kein Unterschied. Die Schwierigkeiten beim Versuch, das Ganze aus der Natur seiner einzelnen Teile zu erklären, sind hier wie dort die gleichen. Als Vertreter der physikalischen Wissenschaften führe ich für meinen Standpunkt die allgemein anerkannte Autorität von NERNST an. Dieser spricht sich über die Bestrebungen, die Entstehung stofflicher Verbindungen aus den in den Atomen wirkenden Kräften physikalisch zu erklären, in sehr vorsichtiger und resignierter Weise im dritten Buch seiner theoretischen Chemie, welches über die Umwandlungen der Materie oder die Verwandt- schaftslehre handelt, in folgenden Sätzen aus: „Als das letzte Ziel der Verwandtschaftslehre muß die Aufgabe bezeichnet werden, die bei den stofflichen Umwandlungen wirkenden Ursachen auf physikalisch wohlerforschte zurückzuführen. Die Frage nach der Natur der Kräfte, welche bei der chemischen Vereinigung oder Umsetzung der Stoffe ins Spiel treten, wurde schon früher auf- geworfen, als es eine wissenschaftliche Chemie gab. Bereits die griechi- schen Philosophen sprachen von der Liebe und dem Haß der Atome als Ursache der stofflichen Veränderungen, und was die Erkenntnis über das Wesen der chemischen Kräfte anlangt — viel weiter sind wir auch heute nicht gekommen. An der anthropomorphen Anschauungsweise der Alten haben wir im Grunde nur den Namen gewechselt, wenn wir die Ursache der chemischen Veränderungen in der wechselnden Affinität der Atome suchen.“ „An Versuchen zwar, zu bestimmten Vorstellungen zu gelangen, hat es nie gefehlt; — — man sagt nicht zu viel mit der Behauptung, daß keine Wechselwirkungen der Körper untereinander von der Physik entdeckt ist, die nicht auch von einem spekulativen Kopfe zur Erklärung der chemischen Kräfte herangezogen wurde. Der Erfolg aber hat bis jetzt keineswegs dem aufgewendeten Scharfsinn entsprochen; es kann nicht offen genug bekannt werden, daß wir von dem Ziele, die chemischen Umsetzungen auf das Spiel physikalisch wohldefinierter und unter- suchter Kräfte zurückzuführen, heute noch weit entfernt sind.“ „Angesichts dieser unleugbaren Tatsache muß man sich doch fragen, ob denn dieses Problem ein glücklich gewähltes oder nicht etwa ein ver- früht aufgeworfenes darstellt. Nirgends mehr zeigt sich der Meister, als gerade in der weisen Beschränkurg, die sich der Naturforscher bei der Wahl des zu erreichenden Zieles auferlegt, und nirgends liegt die Gefahr Zusammenfassung. Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnis. . 49 näher, wertvolle Arbeitskraft beim Hinarbeiten auf ein Problem fast nutzlos zu vergeuden, welches heute unüberwindliche Schwierigkeiten bietet, die aber in kurzer Zeit vielleicht schon fast mühelos durch Aus- nützung von auf scheinbar ganz anderen Gebieten errungenen Erfolgen überwunden werden können. — — Offenbar sind die Gesetze, welche die Wechselwirkung der Atome bei ihrer Verkettung, sei es in Gestalt chemischer Verbindung, sei es in Gestalt ihrer Kondensation zu einem Kristall, sei es schließlich auch nur bei einem vorübergehenden Zu- sammenstoß, beherrschen, ganz absonderlicher Natur und gehorchen nicht einmal den Gesetzen der klassischen Mechanik.“ Wenn daher der Vitalismus aus den Schwierigkeiten, auf die er bei der Erklärung der Lebensvorgänge der Zelle aus den Wirkungen ihrer einfacheren stofflichen Komponenten stößt, einen prinzipiellen Gegensatz zwischen belebter und unbelebter Natur herleiten will, so übersieht er, daß die gleichen Schwierigkeiten auch in der Chemie bestehen, wenn ein komplizierteres materielles System in seinen Wirkungen aus den es zusammensetzenden Elementen erklärt werden soll. Bestehen sie doch nach den Ausführungen von NERNST schon bei dem Versuch, die Ent- stehung des Moleküls aus seinen Elementen auf das Wirken physikalisch wohldefinierter Kräfte zurückzuführen. Die Gründe, die pu Bolıs- REYyMonD mit Recht gegen den Gebrauch des Wortes ‚Lebenskraft‘ anführt, lassen sich mit demselben Recht auch gegen den Begriff ‚‚che- mische Kraft‘ oder ‚chemische Affinität‘ geltend machen, wenn mit seinem Gebrauch der Glaube verbunden wird, dadurch eine ursächliche Erklärung für naturwissenschaftliche Verhältnisse irgendwie gewonnen zu haben. Zum Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung können wir nur die unserer Sinnenwelt zugänglichen Erscheinungen machen, indem wir ihre Beziehungen zueinander nach dem Verhältnis von Ursache und Wirkung erkennen und genau bestimmen. Dagegen bleibt uns die Kraft selbst, durch welche die Ursache die Wirkung hervorbringt, nach wie vor ein Fremdes und Unbekanntes. ‚Die Kraft, vermöge welcher ein Stein zur Erde fällt, oder ein Körper den anderen fortstößt, ist ihrem inneren Wesen nach uns nicht minder geheimnisvoll als die, welche die Be- wegungen und das Wachstum eines Tieres hervorbringt‘“ (SCHOPEN- HAUER). In diesem Sinne ist alle naturwissenschaftliche Erkenntnis eine beschränkte, da wir uns von dem Wesen der Kraft keine Vorstellung machen können; sie findet ebenso bei chemischen und physikalischen wie bei biologischen Problemen ihre Grenzen; „sie bleibt‘‘, wie NÄGELI sehr treffend ausführt, ‚in der Endlichkeit befangen‘“. ‚Daher läßt sich O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl. B »» 50 Zweites Kapitel. Zusammenfassung. Grenzen naturwissenschaftl. Erkenntnis. Umfang und Grenze unserer möglichen Naturerkenntnis kurz und genau so angeben: Wir können nur das Endliche, aber wir können auch alles Endliche erkennen, das in den Bereich unserer sinnlichen Wahrnehmung fällt.“ „Der Naturforscher muß sich daher streng auf das Endliche beschränken.‘ Was darüber hinaus liegt, gehört der Metaphysik und der Erkehntniskritik an, deren Wert und Berechtigung von der vorausgegangenen Darlegung ganz unberührt bleibt. Aber auch bei dieser Beschränkung ist die Naturwissenschaft un- erschöpflich. Denn die Analyse der Erscheinungswelt nach Ursache und Wirkung, die Zerlegung des Zusammengesetzteren in seine einfacheren Elemente, die fortschreitende Vermehrung des sinnlich Wahrnehmbaren, indem wir, was vorher unserer Sinnenwelt verborgen war, ihr durch Er- findung neuer Methoden und instrumenteller Hilfsmittel (Mikroskop, Spektralanalyse, Photographie, Telephon etc. etc.) immer mehr zugäng- lich machen, ist ein Prozeß, bei welchem sich eine Grenzfestsetzung zurzeit für den menschlichen Geist überhaupt nicht absehen läßt. Im festen Glauben an diese unerschöpfliche, auch in der Selbstbe- schränkung noch fortbestehende Macht der Naturwissenschaften schließe ich das zweite theoretische Kapitel mit dem schönen Ausspruch von C.E. VON BAER, den ich als Motto dem Handbuch der vergleichenden und experimentellen Entwicklungslehre (1906) vorgesetzt habe: „Die Wissen- schaft ist ewig in ihrem Quell, unermeßlich in ihrem Umfang, endlos in ihrer Aufgabe, unerreichbar in ihrem Ziele.‘ Bee en Drittes Kapitel. Die Lehre von der Artzelle als Grundlage für das Werden der Organismen. Einleitung. Pflanzen und Tiere haben eine Geschichte, die so alt ist wie das Leben auf unserem Planeten selbst; in ihrem Ursprung weisen sie auf unendlich weit entfernte, geologische Perioden zurück. Von diesem historischen Standpunkt aus läßt sich die ganze Größe der Aufgabe be- greifen, die in der Frage liegt: wie sind die uns umgebenden Lebewesen, und wie ist vor allen Dingen die ihnen eigentümliche Organisation ent- standen? Denn Objekte der Naturforschung können selbstverständ- licherweise in erster Linie nur die gegenwärtigen Organismen, in zweiter auch ihre Vorfahren sein, soweit wir überhaupt von ihnen nur irgendeine ‘ Kunde besitzen, das heißt, soweit sie teilweise oder ganz nach ihrem Tode erhalten geblieben und in konserviertem Zustande in die Hände desNaturforschers gelangt sind. Aber wie kümmerlich sind diese Urkunden! Meist sind es nur Skelettstücke, während die wichtigen Weichteile ver- west sind. Und dann erhebt sich der Zweifel, ob es sich überhaupt um Reste von Vorfahren von heute lebenden Organismenarten handelt. Denn wie läßtsich ein beweisbarer genealogischer Zusammenhang zwischen Organismen,dievor Tausenden von Jahren gelebt haben, und der gegenwär- tigen Lebewelt herstellen, wo es an wirklichen Beweismöglichkeiten fehlt ? Wie könnte ein deutsches Herrscher- und Adelsgeschlecht von seinem ersten Urahn, mit welchem die sorgsam geführte Stammtafel beginnt, angeben, wer sein Vorfahr zur Zeit der Pharaonen oder des trojanischen Krieges gewesen ist? So entzieht sich die Frage nach der Entstehung der Organismen und ihrer Organisation, soweit sie sich in vorhistorischen Zeiten abgespielt hat, in dem Dunkel der Vergangenheit der Unter- suchung des Naturforschers. Daher kann es sich für ihn in Wirklichkeit 67 4* 52 Drittes Kapitel. als mögliche Aufgabe nur darum handeln, das in der Gegenwart Erreich- bare zu erkennen und aus der Erkenntnis der Gegenwart sich eventuell hypothetische Vorstellungen auch über vergangenes Geschehen zu bilden. Aus dieser Überlegung ergibt sich ein einfacher, aber wichtiger Schluß. In ihrer Stellung zur Vergangenheit besteht ein Hauptunter- schied zwischen den Körpern der leblosen und der belebten Natur und . ebenso auch zwischen den von ihnen handelnden Wissenschaften. Für das Verständnis chemischer Körper ist ihre Geschichte von so unter- geordneter Bedeutung, daß die Wissenschaft sich kaum mit ihr be- schäftigt. Chemische Körper lassen sich aus ihren Grundelementen durch Synthese aufbauen und wieder in sie zurückführen. Es ist ziemlich gleichgültig, ob sie auf natürlichem Wege oder in der Retorte des Che- mikers entstanden sind; denn im einen wie im anderen Fall sind sie in ihren Eigenschaften gleich. Der lebende Körper dagegen ist ein Kunst- werk, welches die schöpferische Natur im Laufe unendlicher Zeiträume hervorgebracht hat. Ein solches nachzuschaffen, und sei es auch nur ein lebendes Gebilde allereinfachster Art, wie es das kleinste Bakterium ist, liegt noch so weit außerhalb des Bereiches der gegenwärtigen Wissen- schaft, daß wohl kaum ein Forscher die Aufgabe, ein Bakterium durch chemische Synthese zu bilden, sich überhaupt in den Kopf setzen würde. Die Organismen können sich in ihrer Art einzig und allein auf dem Wege der Zeugung in der Reihenfolge der Generationen erhalten. Die jüngere Generation entsteht als Teilstück einer älteren, aber dieses Teilstück enthält schon alle wesentlichen Züge des ganzen Kunstwerks, zu welchem es sich durch Entwicklung nur wieder zu gestalten braucht. Hat eine Organismenart aufgehört, sich durch Fortpflanzung zu erhalten, so ist sie auch in aller Zukunft vernichtet; sie ist auf die Dauer ausgestorben. Denn es darf wohl mit Recht bezweifelt werden, ob die gegenwärtige Natur noch über die entsprechenden Mittel (Konstellationen oder System- bedingungen) verfügt, mit denen sie einst im Laufe unendlicher Zeiten den jetzt ausgestorbenen Organismus höherer Art hervorgebracht hat. Die im letzten Jahrhundert begonnene, außerordentlich rege bio- logische Forschung mit ihren sehr vervollkommneten Arbeitsmethoden hat uns jetzt zu Auffassungen von der Entstehung der Organismen und ihrer Organisation geführt, welche von denen älterer Naturforscher sehr wesentlich verschieden sind. Ich versuche es, in einem kurzen Abriß die wichtigsten Punkte von entscheidender Bedeutung zusammenzu- stellen. Pflanzen und Tiere sind hochorganisierte Körper, aufgebaut aus En nn a A ce Die Lehre von der Artzelle als Grundlage für das Werden der Organismen. 53 unzähligen Lebenseinheiten, die man aus historischen Gründen mit einem an sich recht wenig passenden Namen die ‚Zellen‘ benennt. Als Lebenseinheiten aber müssen die Zellen aufgefaßt werden; denn sie sind bereits mit allen Attributen des Lebens ausgestattet, 1. mit dem Vermögen, sich zu ernähren und zu wachsen, 2. mit dem Vermögen, sich durch Teilung zu vermehren und dadurch in ihrer Art sich weiter auszubreiten und zu erhalten, 3. endlich mit dem Vermögen, in viel- seitigster Weise auf die Einwirkungen der Außenwelt zu reagieren. Irritabilität, Kontraktilität, Photo- und Chemotaxis etc. sind Namen für einzelne dieser Äußerungen. Schon die Zelle ist ein unendlich komplizierter Organismus. Das von den gegenwärtig lebenden Pflanzen und Tieren am Anfang des dritten Kapitels Gesagte gilt in gleichem Maße auch von ihr. Auch die heute lebende Zelle ist ein im Laufe unendlicher Zeiträume allmählich historisch entstandenes Gebilde, das sich in seinen Eigenschaften allein durch das ihm innewohnende Vermögen der Fortpflanzung durch Tei- lung erhält. Für die Auffassung, daß die Zelle ein Elementarorganismus ist, hat uns die Natur zwei untrügliche Beweise geliefert. Erstens gibt es in der Tat zahllose einzellige Arten von Pflanzen und Tieren. Sie zeichnen sich schon durch eine erstaunliche Mannigfaltigkeit der verschiedensten Formen und durch eine Anpassungsfähigkeit an die verschiedensten Lebenslagen im Haushalt der Natur aus. Zweitens aber muß auch jeder vielzellige Organismus — und gerade dieser Punkt ist von der allerweit- tragendsten Bedeutung — ein einzelliges Lebensstadium bei seiner Fort- pflanzung durchmachen. Denn vielzellige Pflanzen und Tiere erhalten ihre Art in der Regel dadurch, daß sie zu bestimmten Zeiten aus ihrem Verbande weibliche und männliche Keimzellen, Eier, Samenfäden, Pollenkörner etc. abgeben und durch sie den Grund zum Entwicklungs- prozeß eines neuen Repräsentanten derselben Art legen. Wenn man einen selbständigen Organismus als ein lebendes Indi- viduum bezeichnet, ss muß man mehrere übereinander geordnete Stufen der Individualität im Organismenreich unterscheiden. Das Individuum niederster Ordnung ist nach dem heutigen Stand der Wissen- schaft, der bei fortschreitender Erkenntnis vielleicht noch eine weitere Vertiefung erfahren wird, die für sich lebende Zelle. Auf einer zweiten Stufe der Individualität steht dann der vielzellige Organismus, der sich gewissermaßen als eine Kolonie oder als ein Staat von Zellen betrach- ten läßt. In dem Individuum höherer Ordnung haben die elementaren Lebenseinheiten mehr oder minder ihre Selbständigkeit eingebüßt; 54 Drittes Kapitel. sie haben Teile ihrer Autonomie an das Ganze abgetreten und werden infolgedessen von diesem in ihren Lebensäußeryungen mitbedingt; sie sind, wie man sich auch ausdrücken kann, seine integrierten Teile ge- worden. Somit handelt es sich jedenfalls beim vielzelligen Organismus um nichts weniger als um ein Aggregat von Zellen (Bausteintheorie). Vielmehr sind jetzt die Zellen, wenn wir uns eines Vergleichs bedienen wollen, zu einer biologischen Verbindung vereint, wie in einem chemischen Körper die Elemente chemisch gebunden sind. Zwischen einem Aggregat und einer biologischen Verbindung von Zellen, die zu Teilen eines Organismus geworden sind, besteht ein ähnlich großer Unter- schied, wie zwischen einem Gemisch von 2 Volumen Wasserstoff und I Volumen Sauerstoff auf der einen Seite und ihrer chemischen Ver- bindung zu \Wassermolekülen auf der anderen Seite. Wenn die Zelle die elementare Grundform des Lebens ist, zu welcher uns das Studium der Morphologie und Physiologie und der Entwick- lung im gesamten Organismenreich immer wieder hinführt, so muß sie bei ihrer zentralen Bedeutung auch zum Ausgangspunkt für alle weiteren Betrachtungen bei der Frage nach der Entstehung der Organismen und ihrer Organisation genommen werden. Hier könnte man nun aller- dings der Ansicht sein, — und eine solche ist auch schon öfters von ver- schiedenen Seiten geäußert worden, — daß kein Grund vorliege, in der Zerlegung der lebenden Substanz bei der Zelle Halt zumachen. Denn auch ihr Körper baut sich wahrscheinlich wieder aus noch kleineren Teilen auf, die vielleicht für die Erklärung der Lebensprozesse in Zu- kunft von noch größerer Bedeutung sich erweisen werden, als die Zelle selbst. Hierauf aber läßt sich wohl erwidern, daß, wenn auch die Zukunft uns in der weiteren mikroskopischen Zerlegung der Zelle noch unge- ahnte Fortschritte und ganz neue Grundlagen der Erkenntnis für die lebende Organisation bringen mag, dies zurzeit jedenfalls noch nicht der Fall ist. Noch befindet sich die ultramikroskopische Forschung in einem Zustand, wie ihn die Anatomie der Organe ein Jahrhundert vor Aus- bildung der Zellenlehre darbot. Ohne Zweifel hat die mikroskopische Analyse der Zellen noch keinen einheitlichen Begriff schaffen können, der sich dem Zellbegriff an kausaler Bedeutung und Wichtigkeit für das Verständnis pflanzlicher und tierischer Organisation auch nur im entierntesten an die Seite stellen läßt. Daher steht gegenwärtig nach wie vor die Zelle im Mittelpunkt der biologischen Fragen, welche sich mit der Organisation und der Entstehung der Lebewesen beschäftigen. Vor allen Dingen aber steht die Zelle in dem Mittelpunkt der Zeugungs- Die Lehre von der Artzelle als Grundlage für das Werden der Organismen. 55 lehre: denn sie bildet das Band, welches in der Reihe der einander fol- genden Generationen die einzelnen Glieder miteinander verbindet. Sie geht als einziger materieller Teil von der dem Tod entgegeneilenden Elterngeneration auf die zu neuem Leben aufblühende Kindergeneration über und überträgt so durch ihre Organisation Eigenschaften und Merk- male der einen auf die andere. Indem die alten Naturforscher, wie im ersten Aufsatz besprochen wurde, sich über dieses Geheimnis des Lebensprozesses keine auf Beo- bachtung begründete Vorstellung bilden konnten, verfielen sie in Speku- lationen, welche uns Modernen so abenteuerlich anmuten (Präformation, Panspermie, Epigenesis). Erst mit der Erkenntnis, daß das Ei eine Zelle und als solche einer unbegrenzten Vermehrung durch Teilung fähig ist, fiel die aus philosophischen Erwägungen aufgestellte Hypothese von den präformierten Keimen, die im Eierstock von Eva eingeschaltet sein sollten, in sich zusammen. Mit der Teilbarkeit der lebenden Substanz war der Schlüssel für die Lösung des Rätsels gefunden, in welcher Weise sich die Organismenwelt durch Zeugung vermehrt und durch Hervor- bringung immer neuer Generationen, während die alten sterben, in ihrem Bestand erhält. Zugleich mit der Einschachtelungslehre war jetzt auch auf Grund der neubeobachteten Tatsache die phantastische Annahme der Panspermie mit einem Schlage beseitigt. Die Bedeutung, die BurFFoN dem Modell mit seiner formgebenden Kraft zuschrieb, kommt jetzt der Zelle zu, welche für jede Organismenart spezifisch ist und durch ihre unbegrenzte Vermehrbarkeit die ‚matiere organique, toujours active‘ von BUFFON überflüssig macht. Beseitigtist endlich Worrrs Vorstellung der Epigenesis aus einer unorganisierten Substanz, aus der sich unter der mystischen Wirkung von Bildungstrieben (Vis essentialis, Nisus formativus) die spezifischen Pflanzen- und Tierarten wie Kristalle in ihrer Mutterlauge bilden sollen. Denn in der Keimzelle ist schon jede Organismenart als Anlage spezifisch organisiert. Durch den Begriff Anlage“ ist der Nisus formativus ersetzt. Somit sind jetzt durch die über ein Jahrhundert sich erstreckende, unermüdliche Beobachtung der Natur die alten Lehren der Präfor- mation, der Panspermie und der Epigenese beseitigt. Endgültig ist die Kontinuität des Lebensprozesses festgestellt, die Tatsache, daß die ÖOrganismenwelt mit ihren unzähligen Arten sich mit Hilfe des Zellenbil- dungsprozesses durch sich selbst erneuert, daß ihre heute lebenden Re- präsentanten die letzten Glieder einer unendlichen Reihe von Genera- 56 Drittes Kapitel. tionen sind, die auf natürlichem Wege und in einer durch Naturforschung aufklärbaren Weise voneinander abstammen. Ohne in Übertreibung zu verfallen, läßt sich daher wohl sagen: in der Geschichte der Biologie bedeutet die Entdeckung der Zelle den Wendepunkt, mit welchem eine neue Zeit mit klareren Einblicken in die Geheimnisse des Lebensprozesses, mit vollkommneren Methoden der Forschung und mit schärfer formulierten Zielen angebrochen ist. Warum ist in früheren Zeiten von den vielen Forschern, die sich mit den Zeugungsfragen doch intensiv beschäftigt haben, obwohl sie durch den auf diesem Gebiet herrschenden Streit der Meinungen be- sonders zum Nachdenken angeregt worden waren, doch kein einziger auf spekulativem Weg auf die Möglichkeit der Erhaltung der Lebewesen durch Zellteilung geführt worden? Man kann hieraus die Lehre ziehen, wie sehr doch in den Naturwissenschaften die Phantasie ohne das Leit- seil der Erfahrung im Dunkel] herumirrt und, dem Zufall preisgegeben, aus sich allein etwas Vernünftiges zu schaffen, kaum erwarten kann. Je verwickelter die Verhältnisse und Zusammenhänge werden, um so weniger vermag die der Erfahrung bare philosophische Urteilskraft aus sich das von der Natur befolgte Verfahren zu erfinden. Noch mehr aber muß es in unserem Fall uns mit Erstaunen erfüllen, daß die Entdeckung der Zelle und die ersten wirklich gemachten Beobachtungen von ihrer Vermehrung durch Teilung, die Beobachtungen von MoHL und anderen Forschern, in ihrer großen Tragweite lange Zeit nur verhältnismäßig wenig gewürdigt wurden. Daran ist offenbar die in der damaligen Zeit herrschende Befangenheit in dem Vorstellungskreis der Epigenese schuld gewesen. Erst durch den denkwürdigen Ausspruch von VIRCHOW ‚Omnis cellula a cellula‘“ wurde die philosophische Bedeutung der sich immer mehr häufenden empirischen Beobachtungen über Zellteilung zum ersten Male in ein besseres Licht gerückt; erschöpfend gewürdigt wurde sie aber doch erst in der jüngsten Zeit und zwar in demselben Maße, als das Problem der Zeugung wieder das Nachdenken der Biologen in inten- siver Weise auf sich zog und auf die Rolle der Zelle bei der Befruchtung und der Vererbung hinlenkte. Den naturgemäßen Ausgangspunkt für eine Untersuchung über „das Werden der Organismen‘ müssen daher die Fragen bilden, welche sich auf das Wesen der Keimzelle beziehen. Wir haben hierbei unsere Aufgabe von den verschiedensten Gesichtspunkten aus in Angriff zu nehmen, mit allen Hilfsnitteln der mikroskopischen und physiologischen Zellforschung;; wir gelangen so zur Gliederung unseres Themszs in folgende 4 Abschnitte mit den Überschriften: Organisation der Keimzellen auf Grund mikroskopischer Untersuchungen. 57 I. Die Organisation der Keimzellen auf Grund mikroskopischer Untersuchungen. 2. Die Organisation der Keimzellen auf Grund des ontogenetischen Kausalgesetzes. 3. Die Organisation der Keimzellen auf Grund der durch MENDEL begonnenen Forschungsrichtung. 4. die mikroskopische Erforschung des Befruchtungsprozesses, der Eireife und der Samenreife, und die auf diesen Grundlagen gewonnenen Vorstellungen von der Organisation der Keimzellen. Il. Die Organisation der Keimzellen auf Grund mikroskopischer Untersuchungen !). Im Pflanzen- und Tierreich dienen die Keimzellen entweder zur Vermehrung auf ungeschlechtlichem Wege und werden in diesem Fall gewöhnlich als Sporen, in manchen Tierabteilungen auch als Jungfern- eier bezeichnet, oder sie treten im Dienst der geschlechtlichen Zeugung in einer weiblichen und einer männlichen Form auf. Die einen heißen dann Eier, weibliche Gameten etc., die anderen, je nach ihrer Form, Samenfäden, Pollenkörner, männliche Gameten. Erst durch ihre Ver- einigung liefern beide beim Befruchtungsakt die Anlage, aus welcher ein neues Geschöpf entsteht. Obwohl die völlig ausgebildeten Eier und Samenfäden, wie nament- lich ihre Entstehungsgeschichte lehrt, den Formenwert von Zellen be- sitzen, unterscheiden sie sich doch sowohl von gewöhnlichen Zellen als auch untereinander in sehr auffälliger Weise. Die Eier (Fig. ı) sınd oft von Riesengröße und übertreffen durch sie, besonders im Tierreich, auch die größten Zellen des Körpers. Dagegen sind die Samenfäden (Fig. 2) die allerkleinsten Elementarteile und bestehen aus einer Substanz- masse, die nicht selten um das Millionenfache geringer als diejenige des Eies ist. Nach einer Schätzung von THURET z. B. beträgt das Ei von Fucus, einer Seetangspezies (Fig. 3) an Masse so viel wie 30000—60 000 Spermatozoen derselben Art. Zwischen den tierischen Geschlechts- produkten aber sind die Unterschiede gewöhnlich noch unendlich viel größere, besonders in den Fällen, wo die Eizellen — man denke nur an die Dotterkugel des Hühnereies — mit Reservestoffen, wie Fettkügelchen, Dotterplättchen etc. reichlich beladen sind. 1) Wegen der Literatur verweise ich auf meine ‚, Allgemeine Biologie‘‘ (4. Aufl.) ı912. Dort sind auch die in diesem Kapitel behandelten Gegenstände noch ausführlicher dargestellt. 58 Drittes Kapitel. Der auffällige Gegensatz findet seine einfache Erklärung in dem Umstand, daß weibliche und männliche Geschlechtszellen eine ver- schiedene Aufgabe bei der auf geschlechtlicher Zeugung beruhenden Entwicklung übernommen haben. Zwischen beiden ist, wie man sich in der allgemeinen Biologie gewöhnlich ausdrückt, eine physiologische Arbeitsteilung eingetreten, für welche folgendes zur Orientierung ! i ı 1 l 1 ! h ! \ ‘ ) “ r \ Fig. 1. Ei aus einem 2 mm dicken Follikel des Kaninchens. Nach WAaL- DEYER. Dasselbe ist von der Zona pellucida (z5) umgeben, welcher an einer Stelle Follikelzellen (/z) aufsitzen. Der Dotter enthält Körner von Deutoplasma (@). In das Keimbläschen (25) ist das Kernnetz (%r) besonders eingezeichnet, welches einen großen Keimfleck (%f) einschließt. Fig. 2. Samenfäden vom Menschen. Nach G. Rerzıus. 4 Profilansicht; B Flächenansicht; C5 Kopf; Cd Schwanz; Pf Perforatorium; ?c Verbindungsstück des Schwanzes; ?.pr Hauptstück des Schwanzes; Z.P.fr Grenze des Hauptstückes gegen das Endstück des Schwanzes (?.?). dienen mag. Bei der Vereinigung zweier Zellen zur Bildung eines ent- wicklungsfähigen Keimes kommen zwei Momente in Betracht, die mit- einander konkurrieren und in einem Gegensatz zueinander stehen. Erstens müssen die 2 Zellen, die sich zu einer gemischten Anlage vereinigen, imstande sein, sich aufzusuchen und zu verbinden. Zweitens aber ist es auch von Wichtigkeit, wenn sich ein vielzelliger, komplizierter Organis- mus in einem kurz bemessenen Zeitraum aus dem Verschmelzungs- 1 “ Organisation der Keimzellen auf Grund mikroskopischer Untersuchungen. 59 - produkt entwickeln soll, daß gleich von Anfang an viel entwicklungs- Pr fähıge Substanz vorhanden ist und nicht erst auf dem zeitraubenden _ Umweg der Ernährung von den sich bildenden und differenzierenden Embryonalzellen selbst herbeigeschafft zu werden braucht. So konkur- rieren zwei Momente miteinander, von denen das eine die Zelle beweglich und aktiv, das andere dagegen unbeweglich und passiv zu machen sucht. - Die Natur hat beide Aufgaben gelöst, indem sie Eigenschaften, die wegen ihrer Gegensätzlichkeit in einem Körper nicht zu vereinigen sind, nach dem Prinzip der Arbeitsteilung auf die beiden sich im Befruch- . tungsakt verbindenden Zellen verteilt hat. Sie hat die eine Zelle aktiv, | beweglich und befruchtend, d. h. männlich, die andere dagegen durch Pr N Fig. 3. Spermatozoiden (G) von Fucus platycarpus 540mal vergrößert. Ei (7) - mit anhaftenden Spermatozoiden 240 mal vergrößert. Nach STRASBURGER. - reichliche Ernährung passiv und empfangend, d. h. weiblich gemacht. Daher hat das Ei während seiner Entwicklung im Eierstock Dotter- _ material aufgespeichert und ist riesengroß und unbeweglich geworden Im Gegensatz hierzu hat sich die männliche Geschlechtszelle während - ihrer Bildung in den Samenröhrchen, je vollkommener sie ihrer Aufgabe angepaßt ist, um so mehr aller Substanzen entledigt, welche, wie das Dotter- material oder selbst das Protoplasma, diesem Hauptzweck hinderlich - sind. Sie hat sich dabei in einen kontraktilen Faden umgebildet (Fig. 2) _ und zugleich auch eine Form angenommen, welche für den Durchtritt - durch die Hüllen, mit welchen sich das Ei zum Schutz umgibt, und für das Einbohren in den Dotter die zweckmäßigste ist. Mit einem Wort: Eier und Samenfäden sind durch Arbeitsteilung histologisch verschieden- artig differenzierte Elementarteile geworden. In ihrer Lebensgeschichte aber findet sich auch ein Stadium, auf welchem sie noch undifferenziert sind und sich von anderen jugendlichen, embryonalen und für andere Aufgaben im Körper bestimmten Zellen kaum unterscheiden lassen. In? » a. FE 60 Drittes Kapitel. Die Ureier im Eierstock des Embryo, von denen sich die Reifeier in kontinuierlicher Abstammungslinie herleiten lassen, sind kleine runde Protoplasmaklümpchenmit Kernen ‚wie andere jugendlichetierische Zellen. Dasselbe gilt von den Ursamenzellen in den Samenröhrchen, aus deren Teilungen die Samenzellen abstammen, die sich dann in Spermatozoen umwandeln. Sowohl Eier als Samenfäden erweisen sich beim Studium ihrer Entwicklung — das wollen wir auch im folgenden im Auge behalten — als zwei Elementarteile des tierischen Körpers, die anfangs einander vollkommen gleichartig und gleichwertig (äquivalent) sind. Erst später haben sie sich für besondere Zwecke der geschlechtlichen Zeugung in verschiedener Richtung histologisch differenziert. Die Sporen, die der ungeschlechtlichen Vermehrung dienen, ebenso die zu Keimzellen vereinten Eier und Samenfäden besitzen, wie alle Zellen, das wunderbare Vermögen zu wachsen und sich durch Teilung in unbegrenzter Weise zu vermehren (Fig. 4). Hierdurch steht die lebende Fig. 4. Verschiedene Stadien des Furchungsprozesses. Nach GEGENBAUR. = Substanz in einem fundamentalen Gegensatz zu den Stoffen der leblosen Welt und kann, solange sie sich unter geeigneten Lebensbedingungen befindet, in gewissem Sinne als unzerstörbar bezeichnet werden ; stammen doch die jetzt lebenden Arten von Pflanzen und Tieren durch Vermitt- lung des Zellenteilungsprozesses von Vorfahren ab, die schon vor vielen Erdperioden gelebt haben. Wollten wir auch nur einen ungefähren Versuch machen, uns die Zahl der Zellengenerationen auszurechnen, deren Endglied die Keimzellen einer Pflanzen- oder Tierart der Gegenwart darstellen, so würden wir bald zu so unermeßlich vielstelligen Zahlen- reihen kommen, daß sie sich weder in Schriftzeichen wiedergeben noch mit unserem Verstand erfassem lassen. Man kann dieses Ergebnis der biologischen Forschung, das über jeden Zweifel sichergestellt ist, als das Gesetz der durch den Zellteilungsprozeß vermittelten Kontinuität der lebenden Substanz bezeichnen, ein Gesetz, zu deren Erklärung die Evolutionisten ihrer Zeit die Hypothese der ineinander geschachtelten Keime erfunden hatten. ED ae u - Organisation der Keimzellen auf Grund mikroskopischer Untersuchungen 6I In der Anfangsperiode der Zellentheorie nahmen die Forscher Wachstum und Teilbarkeit nur für den Protoplasmakörper der Zelle an. Es gehört zu den wichtigeren Errungenschaften der modernen Biologie, den Nachweis und die Erkenntnis gebracht zu haben, daß auch das im Protoplasma eingebettete Fundamentalorgan der Zelle, der Kern, wächst und durch periodisch wiederkehrende Teilung, die meist mit der Zellteilung Hand in Hand geht, sich gleichfalls in unbe- grenzter Weise vermehren kann. Der Satz „Omnis cellula a cellula‘“ hat daher seine gleich wichtige Ergänzung und Erweiterung in dem zweiten Fundamentalsatz der Zellenlehre ‚„Omnis nucleus a.nucleöo“ gefunden. Neben der Kontinuität der Zellgene- garıonen besteht daher ein entsprechendes Gesetz der Kontinuität der Kerngenerationen, die sich gleichfalls über unermeßliche Zeiträume erstreckt. Zwischen dem Wachstum und der Vermehrungsweise des proto- plasmatischen Zellkörpers und des Kerns ergeben sich hierbei nicht un- wichtige Unterschiede. Die Zelle als Ganzes bezieht das Material zu ihrem Wachstum von außen, teils wie die pflanzliche Zelle aus Stoffen der un- organischen Welt, die sie durch Synthese in Bestandteile ihres eigenen Körpers umwandelt, teils bemächtigt sie sich, wie bei den Tieren, der organischen Substanz, die schon von anderen Lebewesen gebildet worden ist, und macht sie sich nach vorausgegangener chemischer Umsetzung zu eigen. Ferner teilt sich der Protoplasmakörper vermöge des ihm inne- wohnenden Kontraktionsvermögens in relativ einfacher Weise gewöhnlich in zwei Stücke von gleicher oder in selteneren Fällen von ungleicher Größe (Fig. 4). Ganz anders verhält sich der Kern. Er bezieht, wenn wir von dem Sauerstoff absehen, der wohl für die chemischen Umsetzungen im Protoplasma und im Kern gleich notwendig ist und von außen auf- genommen wird, die zu seinem Wachstum erforderlichen Stoffe aus dem Protoplasma. Dies ist sehr deutlich zu erkennen, wenn sich das be- fruchtete Ei zu entwickeln beginnt. Denn cann verändert sich in wenigen Tagen das Massenverhältnis zwischen Kern und Protoplasma ganz außer- ordentlich. Während das Protoplasma nahezu unverändert bleibt oder sogar an Masse eine Zeitlang abnimmt, weil es in Kernsubstanz umge- wandelt wird, vermehrt sich diese mit Beginn des Furchungsprozesses in geometrischer Progression in demselben Verhältnis, als die Zahl der Zellen zunimmt; sie beträgt also auf dem Stadium von 128 Embryonal- zellen das 128fache des nach der Befruchtung gebildeten Keimkerns, auf dem Stadium von 10000 Zellen das TO000fache usw. So wird schließ- lich ein Verhältnis erreicht, daß die Kernsubstanz, die im befruchteten 62 Drittes Kapitel. Ei dem Protoplasma gegenüber einen ganz verschwindenden Bruchteil ausmacht, schließlich ihm an Masse nahezu gleichkommt. Am sichtbarsten tritt dies an einer Substanz des Kerns hervor, die man als Chromatin bezeichnet, weil sie eine starke Affinität zu verschiedenen Arten von Farbstoffen besitzt, sich infolgedessen im mikroskopischen Präparat färben und dadurch von dem ungefärbt gebliebenen übrigen Inhalt der Zelle schärfer unterscheiden läßt. Die Vermehrung und Verteilung des Chromatins auf eine immer größer werdende Zahl von Kernen vollzieht sich hierbei in einer Weise, die ohne Frage sehr viel komplizierter als das Verhalten des Protoplasma bei der Zellteilung ist; daher ist auch die Karyokinese oder Mitose, mit welchem Namen man den Prozeß der Kernteilung bezeichnet, ein Gegen- stand sehr umfassender Untersuchungen gewesen und wird noch immer zum besseren Verständnis dieses oder jenes Punktes viel studiert. Im wesentlichen aber erfährt in ihrem Verlauf das Chromatin folgende charakteristische Veränderungen, welche bei Pflanzen und Tieren in ziemlich gleichartiger Weise wiederkehren (Fig. 5). Es wandelt sich näm- lich in den Vorphasen der Karyokinese in einen feinen, gleichmäßig aus- gezogenen Faden um (Fig. 5A chf). Dann wird der Faden nach Schwund der Kernmembran (km) in eine gesetzmäßige konstante Zahl von nahezu gleich großen Segmenten, den Chromosomen, abgeteilt (B chr), die sich in derMitte einer ausLininfasern gebildeten Kernspindel (sd) zum Mutter- stern anordnen. Bei verschiedenen Organismen beträgt die Zahl derselben 2, 4, I2, I6, 24 oder mehr. Wenn also bei einer Pflanzen- oder Tierart diese oder jene Gewebszelle sich teilt, dann bildetsich immer aus dem Inhalt des bläschenförmigen Ruhekerns die für die betreffende Spezies typische Zahl der Chromosomen von neuem aus. Man kann daher mit Recht von einem Zahlengesetz der Chromosomen sprechen. Auch sind viele Forscher hierdurch veranlaßt worden, den Chromosomen gleichsam eine besondere Individualität zuzuschreiben, d. h. sie halten sie für indi- vidualisierte Gebilde, die auch im ruhenden Kern, wo sie sich nicht von- einander abgrenzen und unterscheiden lassen, als solche gleichwohl vor- handen sind. Kommen doch aus jedem ruhenden Kern bei Beginn einer neuen Karyokinese so viel Chromosomen wieder hervor, als beim Ab- schluß der vorausgegangenen Karyokinese in ihn eingetreten sind. Die größte Bedeutung aber kommt wohl einem Vorgang zu, der gleichsam den Höhepunkt in jeder Karyokinese bildet und in einer Längsspaltung der einzelnen Chromosomen und Zerlegung in zwei Tochter- chromosomen besteht (Fig. 5C Zchr). Es geschieht dies zu der Zeit, wo sich die Chromosomen (chr) in der Mitte der Spindel (B sf) und rings Organisation der Keimzellen auf Grund mikroskopischer Untersuchungen. 63 um dieselbe herum zu einer Äquatorialplatte, dem Mutterstern FLEM- MINGs, regelmäßig angeordnet haben. Nach der Spaltung beginnen dann die Teilhälften eines jeden Chromosoms nach entgegengesetzten Enden der Spindel auseinanderzuweichen (C Zchr) und auf diese Weise die beiden Tochtersterne zu liefern. Von diesen wird je einer bei der Teilung der Mutterzelle in je eine Tochterzelle aufgenommen und in ihr wieder zur Grundlage für einen neuen, bläschenförmigen Tochterkern (Fig. 5D\. A B chf km Rs D j AR WEITEN tchr Äh an a tchr sp RE ; Ze tchr ai Ms. Aug 6 ’ tchr Fig. 5. Schema der Kernteilung von Zellen der Salamanderlarve. Nach C. RABL aus KOLLMAnN. -A Kern in Vorbereitung zur Teilung. cAf gewundener Chro- matinfaden, #2 Kernmembran, %s Kernsaft, 5r Protoplasma. B Zelle mit Kernspindel und Mutterstern. sZ Protoplasmastrahlung, c Centrosom, s? Spindel, cAr Mutterchromosomen. C Zelle mit Kernspindel und den beiden Tochtersternen. Teilung der Muttercbromosomen durch Längsspaltung in je zwei Tochterchromosomen und Trennung der letzteren in zwei Gruppen, welche die beiden Tochtersterne bilden. sÖd Spindel, Zchr die beiden Gruppen der Tochterchromosomen. D Teilung der Mutterzelle in zwei Tochterzellen, deren jede wieder einen bläschenförmigen Kern durch Umbildung der beiden Gruppen der Tochterchromosomen erhält. Ze Teilebene des Zellkörpers, Zchr Tochterchromosomen. Wie wohl mit Recht hervorgehoben worden ist, läßt sich in dem eigen- tümlichen Verlauf der Karyokinese, in der Anordnung des Chromatins zu einem feinen Faden, in der Zerlegung desselben in eine konstante Zahl von Chromosomen und in der Längsspaltung derselben ein relativ einfaches und doch sicher wirkendes Mittel erblicken, durch welches es ermöglicht wird, eine aus vielen qualitativ verschiedenen Teilen zu- 64 Drittes Kapitel, sammengesetzte Substanz durchaus gleichmäßig in zwei genau ent- sprechende Hälften zu zerlegen (Roux). Nehmen wir an, das auf dem Kernnetz ausgebreitete Chromatin bestände aus zahllosen Kügelchen verschiedener Eiweißverbindungen, so wäre auf dem Wege der Karyo- kinese eine gleichmäßige Verteilung auf die Tochterkerne leicht zu er- reichen. Es brauchen nämlich nur die Kügelchen in einfacher Weise sich in dem Kernfaden hintereinander aufzureihen und sich dann, ein jedes für sich, in der Richtung, wie sich der Längsspalt im Chromosom ausbildet, durch Einschnürung zu teilen. Dann würden sich in jedem Tochterfaden die Hälften der gleichen Chromatinkügelchen in genau entsprechender Reihenfolge finden und würden bei der Zellteilung in jede Tochterzelle aufgenommen werden. Wie ferner aus dem Gesamt- verlauf der Karyokinese geschlossen werden muß, vermehrt sich nach jeder Zellteilung das halbierte Chromatin des Mutterkerns wieder durch Wachstum auf die doppelte Masse in den Tochterkeraen, um dann durch eine neue Karyokinese abermals halbiert zu werden und so fort. Dieses Gesetz des ‚„proportionalen Kernwachstums‘‘ (BovErI) und der Zer- legung des Chromatins in zwei äquivalente Hälften tritt wohl am deut- lichsten im Verlauf des Furchungsprozesses hervor. | Daß jedenfalls dem Kern eine feinere Organisation zukommt, lehrt außer dem Studium der Karyokinese auch die mikrochemische Unter- suchung der ihn zusammensetzenden Substanzen. Mit unseren Methoden, die in Anbetracht des zu analysierenden Gegenstandes gewiß als sehr grobe zu bezeichnen sind, können wir außer dem eben besprochenen Chromatin noch einige weitere Eiweißkörper, kenntlich an ihren ver- schiedenen mikrochemischen Reaktionen, unterscheiden, I. das achro- matische Kerngerüst aus Linin, 2. die Substanz der Nucleolen und endlich 3. die winzigen Centrosomen. Sie alle wirken bei der Karyokinese in gesetzmäßiger Weise zusammen und haben im Zellenieben wahrschein- lich verschiedene Aufgaben zu erfüllen. Gestützt auf viele Erscheinungen des Zellenlebens, kann man wohl mit Recht annehmen, daß der Kern in der Physiologie der Zelle eine doppelte Rolle spielt. Die eine äußert sich bei der Vermehrung der Zelle und findet im karyokinetischen Prozeß einen sinnfälligen Ausdruck. Hierbei handelt es sich um die Verteilung des Chromatius in äquivalenten Mengen auf die Tochterzellen. Zweitens ist der Kern auch am Stoffwechselprozeß der Zelle auf das vielscitigste beteiligt. Hierbei nimmt er nicht nur Stoffe zu eigenem Wachstum aus dem Protoplasma auf, wie schon früher in betreff der Chromatinbildung im befruchteten Ei bemerkt wurde, sondern gibt Organisation der Keimzellen auf Grund mikroskopischer Untersuchungen. 65 wahrscheinlich auch seinerseits Steffe an den Zellkörper ab. Allerdings - sind über diesen Punkt die in der Literatur vorliegenden Angaben zum Teil noch weniger sichergestellt. Ferner übt der Kern wohl auf die for- mativen Prozesse in der Zelle, wie auf die Entstehung der verschiedenen Protoplasmaprodukte in irgeneiner Weise seinen Einfluß aus. Im Gegen- satz zur generativen bezeichnet man diese Art seiner Funktion als die nutritive Auch auf sie deuten mancherlei Erscheinungen des Zellenlebens hin: sowohl die Wanderung des Kerns nach den Stellen größerer formativer Tätig- keit als auch die Zunahme einzelner Substanzen in ihm Hand in Hand mit begleitenden Veränderungen im Zellkörper. Proportional zur Ver- größerung der Zelle dehnt sich auch ihr Kern aus, wird reicher an Saft, an Linin und vor allen Dingen an Nucleolarsubstanz. Beispiele hier- für bieten die Ganglienzellen, ver- einzelze große Drüsenzellen wirbel- loser Tiere mit ihren multinucleo- lären Kernen, ganz besonders aber die Eier, welche durch Ansamm- lung von Nahrungsdotter so außer- Fig. 6. Keimbläschen eines 0,8 mm gewöhnliche Dimensionen erreichen. großen Tritoneies. Vergr. 180. Nach In ihren Riesenkernen, den Keim- C4RN0Y und LEBrun. Von den sehr zahl- « 5 2, 2 ä reichen Keimflecken liegen die meisten noch bläschen, ist gewöhnlich die Nucleo- in der Nähe der Kernmembran. Einzelne larsubstanz ebenfalls in außerge- Peginnen nach dem Zentrum zu wandern. BR ö 2 Die chromatischen Fäden, von denen einer wöhnlicher Weise vermehrt. Wäh- sehr stark vergrößert dargestellt ist, sind rend bei den kleineren Eiern der einer Flaschenbürste vergleichbar. Säugetiere sich gewöhnlich nur ein großer Keimfleck vorfindet (Fig. 1), ist ihre Zahl in den großen dotterreichen Eiern der Fische, Amphibien, Reptilien und Vögel auf viele Hunderte gestiegen (Fig. 6). Das regelmäßige Zusammentreffen beider Erscheinungen, die massenhafte Dotter- bildung auf der einen und die Zunahme der Nucleolen (Keimflecke) auf der anderen Seite, scheint auf engere Beziehungen zwischen beiden Prozessen hinzuweisen. Auch nehmen die Nucleolen bei der Karyokinese eine eigenartige Stellung ein. Während das Chromatin auf die Spindel O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl. 5, 66 Drittes Kapitel. verteilt wird, beginnen sie in immer kleinere Partikelchen zu zerfallen, und wenn die Kernmembran sich aufgelöst hat, sich nebst dem Kern- saft im Protoplasma zu verteilen und sich der weiteren Nachforschung zu entziehen. In den Tochterkernen aber entstehen die Nucleolen all- mählich wieder von neuem. Ein entsprechender Vorgang findet in den Eiern zur Zeit der Bildung der Richtungsspindel bei der Auflösung des Keimbläschens statt. Auch hier zerfällt der einfache Nucleolus, und ebenso zerfallen bei den Fischen, Amphibien und Reptilien die Hunderte von Keimflecken. Die Unterscheidung zweier Bestandteile im Kern, von denen der eine bei der Fortpflanzung, der andere beim Stoffwechsel eine Rolle spielt, findet eine Stütze, man könnte sogar sagen, eine Art von Bestätigung in dem Kernapparat der Infusorien. Dieser besteht in der Tat aus zwei ganz getrennten, nebeneinander gelegenen Abschnitten, die schon seit langer Zeit bekannt sind und gewöhnlich als Haupt- und Nebenkern beschrieben werden. Bei der Kopulation der Infusorien verhalten sich die Nebenkerne der zwei gepaarten Individuen in jeder Beziehung wie Ei- und Samenkern im tierischen Ei. Sie machen einen Reduktions- prozeß durch; der reduzierte stationäre Kern und der reduzierte Wander- kern verschmelzen untereinander, wie Ei- und Samenkern im Ei, ver- mehren sich durch Teilung und sondern sich dann zuletzt in Haupt- und Nebenkern. Währenddem aber ist der alte Hauptkern in immer zahl- reicher werdende Partikelchen zerfallen, die sich schließlich wie die Keim- flecke des Keimbläschens im Infusorienkörper auflösen und durch den eben erwähnten, neu angelegten Hauptkern ersetzt werden. Haupt- und Nebenkern der Infusorien werden von manchen Forschern daher auch geradezu als Stoffwechselkern und als Geschlechtskern unter- schieden. Wenn die angeführten und andere erst später zu erörternde Gründe dafür sprechen, daß dem Kern im allgemeinen wohl ein höherer Grad von Organisation als dem Protoplasma zukommt, so besitzt doch auch dieses, wie zahlreiche neue Beobachtungen lehren, einen komplizierteren Bau, als man früher annahm. Auchim Protoplasma sind mit den stärksten mikroskopischen Objektivlinsen und durch geschickte Verwertung einer besser ausgebildeten Färbetechnik kleinste, chemisch differente Stoff- gebilde nachgewiesen worden, die das Vermögen des eigenen Wachstums und die Fähigkeit haben, sich durch Teilung zu vermehren. Sie sind mit den verschiedensten Namen, wie Teilkörperchen, Granula, Mito- chondrien, Plastosomen, Chondriosomen etc., belegt worden. Die meisten stehen wohl zur Erzeugung besonderer Stoffwechselprodukte in enger Organisation der Keimzellen auf Grund mikroskopischer Untersuchungen. 67 Beziehung, wie zur Bildung von Pigment, von Fett, von Stärke, Chloro- phyli, von Drüsensekreten etc. Daher kann eine Gruppe von ihnen als Stoffwechselorganellen zusammengefaßt werden. Zumal in den Planzen- zellen erreichen diese eine erhebliche Größe, wie die Chlorophylikörner (Fig. 7). An ihnen ist am frühesten die Vermehrungsfähigkeit durch Teilung festgestellt worden. Hervorgegängen aus Leukoplasten, dienen sie als besondere >= = ES .. Zellorgane für Bildung von Chlorophyll und = S Stärke. Ihnen schließen sich die Stärkebildner . &9 &_ © (Amyloplasten) an, in denen von kleinsten Ts, Anfängen an umfangreiche Stärkekörner als Eid. Chlorophyll. Reservestoffe gebildet und für spätere Ver- körner aus dem Blatt 7 3 von Funaria hygrome- wendung vorübergehend abgelagert werden. a nndk rd dr Ti. Andere Stoffwechselorganellen wieder, wie die lung. Vergr. 540. Nach Chromoplasten, sind mit der Bildung be- Eu evern sonderer Pigmente betraut. Komplizierte Strukturen werden ferner auch im tierischen Körper durch die formative Tätigkeit des Protoplasmas für besondere Arbeitsleistungen geschaffen, wie namentlich die Muskel- und Nervenfibrillen. Wenn man dies alles zusammenrechnet und zu einem Gesamt- bild zu vereinigen sucht, so wird man sich der Überzeugung nicht ver- schließen können, daß der Zellenleib einen sehr viel höheren Grad feinerer Organisation besitzt, als die Begründer der Zellenlehre früher jemals geglaubt haben. Zwar ist es zurzeit noch unmöglich, die verschieden- artigen Teilkörperchen, die Organellen, welche sich in der lebenden Sub- stanz der Zelle entwickeln können, auf ein gemeinsames, einheitliches Bildungsprinzip zurückzuführen. Wir befinden uns hier, wie ich schon an anderer Stelle bemerkt habe, etwa in derselben Lage, wie vor Ioo Jahren bei der Frage nach dem elementaren Aufbau der Organismen vor der Entdeckung des Prinzips der Zellenbildung. Es ist aber nicht daran zu zweifeln, daß in der begonnenen Forschungsrichtung noch viele neue Entdeckungen von der Zukunft zu erwarten sind. Die fort- schreitende Verbesserung aller mikroskopischen Hilfsmittel und die Auf- findung neuer, für besondere Zwecke geeigneter Untersuchungsobjekte, was von wesentlicher Bedeutung sein kann, berechtigen uns zu dieser Hoffnung. 5* 68 Drittes Kapitel. 2. Die Organisation der Keimzelle auf Grund des ontogenetischen Kausalgesetzes '). Noch mehr als durch die Ergebnisse mikroskopischer Untersuchungen werden wir in unserer Auffassung von der wunderbar komplizierten Organisation der Keimzellen durch logische Erwägungen mehr allge- meiner Art bestimmt, wie sie in dem von mir formulierten und näher begründeten ontogenetischen Kausalgesetz zusammengefaßt worden sind. Das ontogenetische Kausalgesetz geht von der Erfahrungstatsache aus, daß aus einer bestimmten Keimzelle sich immer nur eine bestimmte Organismenart mit unfehlbarer Sicherheit entwickelt. ‚Die Eizellen enthalten‘‘ — wie schon NÄGELI treffend bemerkt hat — ‚‚alle wesent- lichen Merkmale der Art ebenso gut, wie der ausgebildete Organismus, und als Eizellen unterscheiden sich die Organismen nicht minder von- einander als im entwickelten Zustande. In dem Hühnerei ist die Spezies ebenso vollständig enthalten, als im Huhn, und das Hühnerei ist von dem Froschei ebenso weit verschieden als das Huhn vom Frosch.“ In gewissem Sinne hatten daher die alten Evolutionisten vollkommen recht, wenn sie schon das unbefruchtete Froschei, wie es SPALLANZANI tat, als das Fröschchen im kleinen bezeichneten (vgl. auch S. 4). Sie irrten nur, indem sie hierbei den Bau des erwachsenen Tieres im un- entwickelten Ei schon in Miniaturformat voraussetzten. Nach dem gegen- wärtigen Stand unserer Kenntnisse würden wir zutreffender das un- befruchtete Froschei als die ‚Spezies Frosch im Eizellenstadium“ defi- nieren. Was von den Eiern, gilt aber nicht minder auch von den männlichen Keimzellen. Der Beweis für diese Behauptung wird noch an späterer Stelle geführt werden. Es gilt endlich überhaupt von allen einzelnen Zellen und Zellenkomplexen, welche als Sporen und Knospen, vom Mutter- organismus abgelöst, imstande sind, ihn wieder zu erzeugen. Zwar müssen noch viele andere Momente, die man als die Ent- wicklungsbedingungen zusammenfassen kann, erfüllt sein, damit eine bestimmte Keimzelle sich in einen bestimmten erwachsenen Organismus umwandeln kann. Es muß, um nur die wichtigsten zu nennen, für die jederzeit notwendige Zufuhr von Sauerstoff, für eine geeignete Temperatur und für einen geeigneten Feuchtigkeitsgehalt der Umgebung, endlich 1) Oscar Hertwig, Elemente der Entwicklungslehre. 5. Auflage 1915. Schluß- kapitel: Das ontogenetische Kausalgesetz. S. 444—450. Organisation der Keimzelle auf Grund des ontogenetischen Kausalgesetzes, 69 für die passenden Stoffe zur Ernährung während der Entwicklung gesorgt sein. Da ohne Erfüllung derartiger Bedingungen der Entwicklungs- prozeß nicht zum normalen Abschluß gebracht werden kann, so sind sie an sich ebenso notwendig wie die Keimzelle. Gleichwohl besteht zwischen ihr und den äußeren Bedingungen der wichtige und fundamen- tale Unterschied, daß die Entwicklung eines Organismus in ihrer spezi- fischen Art einzig und allein durch die spezifische Organisation der Keim- zelle bestimmt wird. Daher hat sich für diese ja auch in der deutschen Sprache die tief philosophische Bezeichnung „Anlage“ eingebürgert. Ein jeder weiß aus eigener Erfahrung und kann sich leicht durch ein einfaches Experiment davon überzeugen, daß wenn ein‘ Hühner-, ein Gänse- und ein Entenei sich in demselben Brutofen gleichzeitig unter genau den gleichen Bedingungen entwickeln, unfehlbar nur ein Hühner-, ein Gänse- und ein Entenküchlein aus den betreffenden Eiern ausschlüpfen können. Dies rührt daher, daß durch die äußeren Bedingungen, so not- wendig sie an sich sind, doch kein einziges spezifisches Artmerkmal beim gewöhnlichen Verlauf der Dinge in den Entwicklungsprozeß neu eingeführt wird. ‘Zwar können alle Organismen unter außergewöhnlichen Entwick- lungsbedingungen in ihren verschiedenen Teilen bald mehr bald minder variieren, sie können sogar durch intensivere Eingriffe charakteristische Mißbildungen liefern. In einem Widerspruch zu unserem oben formu- lierten Satz stehen indessen alle diese Tatsachen nicht, wie in einem späte- rer Kapitel über die Variabilität der Organismen noch eingehender aus- geführt werden wird. Es steht somit fest: das Ei oder — allgemeiner gesagt — die Keimzelle ist es einzig und allein, welche als Anlage die Eigenart eines Organismus bestimmt. Gleichwohl hat man vor wenigen Jahrzehnten nicht selten von der Zelle als von einem ‚Klümpchen einfachen Protoplasmas‘ gesprochen, geleitet von der tendenziösen Absicht, zu zeigen, wie sich die Entstehung der Lebewesen aus einfachsten Anfängen wissenschaftlich begründen läßt. Nichts ist geeigneter, als diese Ausdrucksweise, eine Reihe der irr- tümlichsten Vorstellungen über fundamentale biologische Verhältnisse wachzurufen. Genau das Gegenteil entspricht der Wahrheit. Es gibt in der Natur nichts Komplizierteres und nichts Wunderbareres, als die Keimzelle einer höheren Organismenart. Sie ist für sich schon ein Mikrokosmus, welcher für denBiologen eine unendliche Fülle von Problemen in sich birgt, die zu entschleiern zu den schwierigsten Aufgaben gegen- wärtiger und zukünftiger Naturforschung gehört. ‘ "Wenn die Keimzellen, seien es Eier, Samenfäden oder Sporen, 70 Drittes Kapitel. nach dem ontogenetischen Kausalgesetz schon die Anlage oder das Naturgesetz, nach welchem sich aus ihnen nur eine ganz bestimmte oder spezifische Organismenart entwickeln muß, fertig in sich tragen, so werden durch den Entwicklungsprozeß nur die Anlagen, die als solche für unser derzeitiges Erkenntnisvermögen nicht erforschbar sind, all- mählich offenbar gemacht. Gesetzt daher den Fall, daß wir eine ent- sprechende Kenntnis vom feineren Bau der Keimzellen oder nach NÄGELIS Hypothese von der Konfiguration ihres Idioplasma (vgl. Kap. III, 4.) besitzen würden, so würden wir auch schon allein auf dieser Grundlage eine Klassifikation des ÖOrganismenreichs vornehmen können, wahr- scheinlich in besserer Weise, als wir es heute auf Grund unserer Kenntnis der ausgebildeten Formen tun; wir würden imstande sein, nach diesem neuen Prinzip die Keimzellen der verschiedenen Organismen nach ihrer größeren oder geringeren idioplasmatischen Ähnlichkeit in Stämme, Klassen, Ordnungen, Familien, Arten, Unterarten etc. einzuteilen, wie es die Chemiker mit ihren Verbindungen auf Grund der molekularen Zusammensetzung derselben und den weiter hieraus abgeleiteten Struk- turformeln tun. Aus solchen Erwägungen heraus habe ich den Begriff der „Artzelle‘“ in die Biologie neu eingeführt (vgl. mein Lehrbuch: die Zelle und die Gewebe, Bd. I, 1893, p. 267; Bd. II, 1898, p. 8). Nicht ohne Interesse dürfte es sein, sich eine ungefähre Vorstellung von ihrer Anzahl zumachen. Nach dem ontogenetischen Kausalgesetz gibt es in der Natur eine für unser Vorstellungsvermögen schier unfaßbare Fülle verschiedener Art- zellen. Schätzen doch die Systematiker die Anzahl der bis jetzt beschrie- benen Tierarten schon auf mehr als eine halbe Million; dazu kommen die verschiedenen Pflanzenspezies, von denen auch schon mehrere Hunderttausend durch genaue Diagnose festgestellt sind; ferner die allerverschiedensten einzelligen Lebewesen, Algen, Pilze, Flagellaten, Bakterien, Infusorien, Foraminiferen etc., die im Haushalt der Natur oft eine sehr wichtige Rolle spielen und deren Artenreichtum sich zur- zeit noch kaum übersehen läßt. Somit ist es nicht zu viel gesagt, wenn wir behaupten, daß gewiß eine Million von Artzellen, die nach Organi- sation und Anlage verschieden sind, unsere Erde bevölkert. Und doch ist hiermit der Reichtum von Organisationsverhältnissen, die schon im Rahmen der Zelle verwirklicht sind, bei weitem nicht erschöpft. Man braucht sich bloß zu vergegenwärtigen, daß sehr viele Arten wieder in zahlreiche Unterarten, Varietäten, in MENDELSsche Arten und reine Linien (siehe Kap. VII) zerfallen, die sich voneinander oft nur durch ein Merkmal unterscheiden, dieses aber mit Konstanz auf ihre Nach- Ergebnisse der Mendelforschung. 7I kommen vererben. Es sei nur kurz an die vielen Varietäten der Rose, der Birne, der Stachelbeere oder der Taube und des Hundes erinnert. Im Hinblick auf alle diese Verhältnisse wächst die Zahl der Zellen, die in ihrer Organisation voneinander spezifisch verschieden sind, schon von einer auf, viele Millionen in einer kaum noch abzuschätzenden Weise. So enthüllt sich bei kritischer Überlegung die „einfache Zelle“ vor dem Auge des Forschers als eine Form des Lebens, die eine unser Denkvermögen übersteigende Fülle von Verschiedenheiten höheren und niederen Grades in sich verbergen muß. Man würde wohl kaum zu viel sagen mit der Behauptung, daß die Zahl der überhaupt mög- lichen spezifisch unterscheidbaren Zellen eine fast unbegrenzte ist. Das Endergebnis dieses Abschnittes fasse ich daher in den allge- meinen Satz zusammen. Jede Artzelle, die zur Grundlage eines neu- entstehenden Lebewesens dient, trägt ihr eigenes, fest geordnetes ‚„Ge- setz der Entwicklung“ nach einem schon spezifisch vorausbestimmten Endziel in sich. Sowohl durch Vergleich dieser einzelnen „„ondergesetze der Entwicklung‘ untereinander, als auch durch experimentelle Eingriffe in ihren Verlaufund durchdiesoplanmäßig hervorgerufenen Abänderungen werden wir dann auch in den Stand gesetzt, zur Aufstellung noch all- gemeinerer Entwicklungsgesetze zu gelangen. 3. Die Organisation der Keimzellen auf Grund der durch Mendel begründeten experimentellen Forschungsrichtung. a) Allgemeine Ergebnisse !). In den letzten 50 Jahren hat unsere Erkenntnis vom Wesen der Zelle und dadurch auch die Wissenschaft der allgemeinen Biologie eine außerordentliche Bereicherung durch die Begründung und den planmäßig erfolgten Ausbau von zwei neuen wichtigen Forschungsgebieten erfahren. Das eine handelt von den Erscheinungen, welche infolge der Befruchtung in der Eizelle auftreten und durch mikroskopische Untersuchungen auf- geklärt worden sind, ferner von den Erscheinungen, welche sich bei der Ei- und Samenreife abspielen und eine wichtige Ergänzung für das tiefere 1) Mendel, Gregor. Versuche über Pflanzenhybriden, 2 Abhäl. 1805 u. 1809. Abgedruckt in Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, Nr. I2I, 1901. — de Vries, Hugo, Die Mutationstheorie. Bd. II: Elementare Bastardlehre. Leipzig 1903. — Correns, C., Über Vererbungsgesetze. Vortrag. Berlin 1905. — Bateson, Mendels’ Principles of heredity. Cambridge 1909. — Lang, Arnold, Die experi- mentelle Vererbungslehre in der Zoologie seit 1909. Jena 1914. — Vergleiche auch die in Kapitel XII u. XIII erwähnten Schriften von Goldschmidt, Plate, Johannsen, Baur usw. 72 Drittes Kapitel. Verständnis des Befruchtungsprozesses liefern. Das andere Forschungs- gebiet ist durch scharfsinnig ausgeführte Experimente von dem Augustiner- mönch GREGOR MENDEL eröffnet worden. Beide Gebiete haben sich eine Zeitlang ganz selbständig nebeneinander entwickelt. Um so erfreulicher ist es, daß die auf ihnen gewonnenen Ergebnisse sich ergänzen und in wichtiger Übereinstimmung befinden. Aus didaktischen Gründen scheint es mir empfehlenswert, mit den allgemeinen Ergebnissen der Mendelforschung zu beginnen. Sie bilden den Inhalt des dritten Ab- schnittes. Gegenstand der Mendelforschung ist das physiologische Studium der Eigenschaften pflanzlicher und tierischer Bastarde (Hybride oder Mischlinge.) Solche werden vom Experimentator erhalten, wenn er die Geschlechtspredukte von 2 Spezies, die sich im System sehr nahe stehen, oder von 2 Varietäten und Rassen einer Art durch Kreuzbefruchtung untereinander verbindet. Die Kreuzung kann in zwei Richtungen vor- genommen werden, je nachdem die Eier von A mit dem Samen von B, oder die Eier von B mit dem Samen von A befruchtet werden. Sie wird als doppelseitige oder reziproke bezeichnet. Je nachdem sich ferner die beiden Elternformen voneinander durch I, 2, 3 oder mehr Merkmale unterscheiden, heißen die aus ihrer Verbindung entstehenden Bastarde nach einer von DE VRIES vorgeschlagenen Nomenklatur Mono-, Di-, Tri- und Polyhybride. Ein paar Beispiele mögen uns zunächst einen Einblick in das inter- essante, augenblicklich im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses stehende Forschungsgebiet geben; auf der so gewonnenen Grundlage exakter Forschung wollen wir dann aus den beobachteten Erscheinungen einige theoretische Vorstellungen zu gewinnen und in Regeln zu fassen suchen. Wie selbstverständlich ist, ergibt das Studium der Monohybriden die einfacheren und durchsichtigeren Resultate. Aus einem Vortrag von CORRENS über Vererbungsgesetze wähle ich zwei Beispiele, die einen wichtigen Unterschied zeigen, I. einen Bastard zwischen Mirabilis Jalapa alba und rosea, und 2. einen Bastard zwischen Urtica pilulifera und Urtica Dodartii. Die beiden Varietäten von Mirabilis Jalapa unterscheiden sich nur in der Farbe der Blüten (Fig. 8); bei der einen ist sie weiß, bei der anderen rot. Durch die Kreuzung entsteht ein Bastard, der zwischen beiden Eltern die Mitte einnimmt. Denn seine Blüten sind weder weiß noch rot, sondern hellrosa; die elterlichen Merkmale haben sich also in diesem Fall zu einem intermediären Merkmal kombiniert, gleichsam mit- einander vermischt. Derartige Bastarde werden daher auch als inter- Ergebnisse der Mendelforschung. 73 mediäre und ebenso wird die Art der Übertragung der elterlichen Eigenschaften als Vererbung mit intermediärem Merkmal be- zeichnet. | Im zweiten Beispiel weichen die Varietäten der Brennessel (Fig. 9) nur in der Form der Blätter voneinander ab: die eine Varietät, Urtica pilulifera, hat stark’ gezähnte Blätter, die andere, U. Dodartii, dagegen fast glattrandige. Bei ihrer Kreuzung ist das Ergebnis ein anderes als im ersten Fall. Denn jetzt gleicht der Bastard stets vollkommen nur der einen Elternform, der Urtica pilulifera; er besitzt ebenfalls stark gezähnte Blätter. Hier hat also die Eigenschaft des einen Elters die Mirabilis Jalana alba+rosea Fig. 3. Mirabilis Jalapa alba + rosea mit den Eltern. Zwei Generationen I und II. Schematisiert nach CORRENS. korrespondierende des anderen bei der Vererbung im Bastard ganz unter- drückt, sie hat gleichsam den Sieg über sie davongetragen. Zur Unter- scheidung von dem zuerst erläuterten Fall spricht man daher hier von einer Vererbung mit dominierendem Merkmal. Die elterliche Eigen- schaft aber, welche infolge der Kreuzung im Bastard nicht wieder zum Vorschein kommt, nennt man eine latent oder rezessiv gewordene. Je größer die Zahl der Eigenschaften wird, durch welche die väter- liche und die mütterliche Form bei der Kreuzung voneinander abweichen, um so komplizierter fällt natürlich das Mischungsprodukt aus, haupt- sächlich wenn die dominierenden Eigenschaften teils von der Mutter, teils vom Vater herrühren, und daher das Kind in manchen Punkten dem einen, in anderen dem anderen Erzeuger gleicht. ‘ 74 Drittes Kapitel. Hier erhebt sich nun die schwierige, zu den verschiedensten Zeiten erörterte Frage: Wie kann man sich die Übertragung der Eigenschaften der beiden Eltern auf das Zeugungsprodukt vorstellen ? Sicher ist zu- nächst nur die auf der Errungenschaft der Zellenlehre gegründete Er- kenntnis, daß das einzige Band, welches die aufeinander folgenden Gene- rationen miteinander verbindet, die Keimzellen sind, welche sich von den Geschlechtsorganen der beiden Eltern ablösen. Durch ihre bei der Be- fruchtung erfolgende Vereinigung liefern sie die materielle Grundlage für den kindlichen Organismus. Also müssen die elterlichen Eigenschaften auf der einen Seite durch die Eizelle, auf der anderen durch die männ- liche Keimzelle übertragen oder, wie man gewöhnlich zu sagen pflegt, vererbt werden. So sehr sich im Pflanzen- und Tierreich weibliche und männliche Keimzellen, Eier, resp. Pollenkörner und Samenfäden, ge- wöhnlich durch Größe, Form und viele andere Merkmale auch voneinander unterscheiden, als Erbträger sind sie einander gleichwertig oder äqui- valent. Vom Vater erbt das Kind durch den Samenfaden genau gleich- viel Eigenschaften wie von der Mutter durch das Ei, obwohl dieses oft viel tausendmal mehr Substanz enthält. In welcher Weise aber kann dies geschehen ? Von vorherein ist klar, daß die beiderlei Keimzellen, die Eier, die Pollenkörner und die Samenfäden die Merkmale der Eltern nicht als solche, wie die Evolutionisten annahmen, enthalten. Denn sie sind ja nur vereinzelte Zellen, die Pflanzen und Tiere dagegen, von denen sie sich abgelöst haben und zu deren Vermehrung sie im Zeugungsakt dienen sollen, bestehen gewöhnlich aus ungeheuer vielen Millionen von Zellen, und diese bringen wieder erst durch ihre Vereinigung sowie durch morpho- logische und histologische Sonderung die Organe und Gewebe mit ihren zahlreichen Eigenschaften oder die sichtbaren Merkmale hervor, die das Wesen des betreffenden Organismus ausmachen und durch die Zeugung vererbt werden. Also können nur besondere Eigentümlichkeiten in der Organisation derZelle, die unserer Wahrnehmung allerdings noch ganz ver- borgen sind, oder sagen wir kurz, besondere Zelleneigenschaften der Grund sein, daß.der Entwicklungsprozeß einer Artzelle zu einer bis ins feinste Detail vorausbestimmten Endform mit ihren zahlreichen, sicht- baren Merkmalen und Eigenschaften unter den normalen Bedingungen hinführen muß. Die deutsche Naturphilosophie hat das befruchtete Ei wegen der ursächlichen Beziehung, in der es zum entwickelten End- produkt steht, als seineAnlage bezeichnet. Das Wort ‚Anlage‘ ist nach den schon früher von mir entwickelten Gesichtspunkten (S. 68) natürlich ebensogut für das befruchtete Ei, wie für das Pollenkorn oder den Samen- 4 i Ergebnisse der Mendelforschung. 75 faden, überhaupt für jede Zelle, welche zum Ausgangspunkt eines mehr- zelligen Organismus werden kann, zu gebrauchen. Genau genommen, ist das Wort „Anlage“ nur ein Ausdruck für das kausale Abhängigkeits- verhältnis, in welchem die Ausgangs- und die Endform eines Entwick- lungsprozesses zueinander stehen und aus welchem ich das ontogene- tische Kausalgesetz abgeleitet habe. Anlage bedeutet in der Vererbungs- lehre schließlich nicht mehr als die unbekannte, in der Beschaffenheit der Keimzelle gelegene Ursache oder den unbekannten Grund für den eigenartigen Verlauf eines Entwicklungsprozesses, der zu einer bestimmten Organisation des Endproduktes mit Gesetzmäßigkeit hinführt. Die moderne Wissenschaft hat in den letzten Jahrzehnten mehrfach den Versuch gemacht, mit dem sehr allgemeinen und unbestimmten Begriff ‚Anlage‘ detailliertere Vorstellungen zu verbinden. Man hat sich den Chemiker hierbei zum Vorbild genommen, der seine Wissenschaft von den chemischen Körpern auf der Hypothese von den Atomen und von ihrer gesetzmäßigen Verbindung zu Atomkomplexen oder Molekülen aufbaut, also auch von Stoffeinheiten ausgeht, die außerhalb des Bereiches sinnlicher Wahrnehmung liegen. In ähnlicher Weise sind auch die Erblichkeitsforscher bemüht, die in den ausgebildeten Organismen sichtbaren ‚Merkmale, Organe, Einrichtungen, Funktionen, die uns alle nur in sehr zusammengesetzter Form wahrnehmbar sind, in der Erbmasse, für welche NÄceELI den Begriff Idioplasma eingeführt hat - (vgl. Kap. III, 4.), in ihre wirklichen Elemente zu zerlegen“. Um nicht einem späteren Kapitel vorzugreifen, in dem die verschiedenen neuzeit- lichen Hypothesen über das Problem der Vererbung im Zusammenhang kritisch besprochen werden sollen, will ich vorläufig nur auf eine Vor- stellungsweise eingehen, die für das Verständnis des vorliegenden Ab- schnitts unentbehrlich ist. Bei den Biologen, die auf dem Feld der Mendelforschung tätig sind, hat sich zur gegenseitigen Verständigung eine bestimmte Sprechweise und Nomenklatur ausgebildet. Sie stellen sich vor, daß die in den Keim- zellen gegebene Gesamtanlage eines Organismus aus vielen Einzelanlagen, Faktoren oder Erbeinheiten aufgebaut ist, die einen gewissen Grad von Selbständigkeit besitzen und, wie wir später beweisen werden, sich aus der Gesamtanlage unter gewissen Umständen abtrennen oder abspalten lassen. JOHANNSEN hat in seinen ‚Elementen der exakten Erblichkeitslehre‘“ für die Erbeinheiten die Bezeichnung ‚Gene‘ einge- führt. Die Gene sind im Keim die uns unsichtbaren, mehr oder minder selbständigen Faktoren für die zahlreichen Eigenschaften, aus denen sich das Bild des entwickelten Organismus zusammensetzt. Das Vorhandensein 76 Drittes Kapitel. oder Fehlen bestimmter Gene im Keime hat zur notwendigen Folge, daß die uns sichtbaren Eigenschaften und Merkmale einer Pflanze oder eines Tieres in bestimmter Weise verändert werden. Was nicht durch Erbeinheiten, Gene, in dem Keim angelegtist, kann auch später im fertigen Geschöpf nicht realisiert werden. Nach dieser Vorbemerkung wende ich mich zur kurzen Darstellung einiger wichtigen allgemeinen Ergebnisse der Mendelforschung. Bei Organismen mit geschlechtlicher Zeugung werden im Befruch- tungsakt eine weibliche und eine männliche Keimzelle zu einer neuen Einheit, einer Zygote, verbunden. Aus zwei getrennten Anlagen (Idio- plasmen) entsteht eine gemischte Anlage, ein Doppelidioplasma, das mütterliche und väterliche Erbeinheiten in sich vereinigt. In ihm sind nach der Vorstellung, die man sich in der Erblichkeitsforschung ge- bildet hat, korrespondierende Gene als „Merkmalspaare‘‘ (Paarlinge, Allelomorphs [BATEson]) vereinigt. Hierbei sind zwei Fälle möglich: entweder sind die gepaarten Erbeinheiten absolut gleichartig, wenn sie von Eltern herrühren, die sich in allen Eigenschaften genau gleichen (z. B. bei der Verbindung einer männlichen und einer weiblichen Gamete von Urtica pilulifera); oder sie sind im zweiten Fall in geringerem oder höherem Grad verschieden, wenn die Eltern in einem, in zwei oder in mehreren Merkmalen voneinander abweichen. Im ersten Fall bezeichnet man das Produktdergepaarten Keimzellen als Homozygote, im anderen Fallals Heterozygote. So sind bei der schon oben erwähnten Bastard- kombination Mirabilis Jalapa alba + rosea die beiden heterogenen Erbeinheiten ‚rote und weiße Blütenfarbe‘ zu einem Merkmalspaar (Allelomorph) vereint, desgleichen bilden bei der Kombination Urtica pilulifera und U. Dodartii die Anlagen „gezähnter und glatter Blatt- rand‘‘ einen Paarling. Organismen, die sich aus Homozygoten entwickeln, sind absolut rassenrein. Denn sie gleichen nicht nur in jedem Punkte ihren Eltern, sondern sie bilden, wenn sie später geschlechtsreif werden, auch wieder Keimzellen, die aus genau den gleichen Erbeinheiten, wie bei ihren Eltern, zusammengesetzt sind und daher bei jeder neuen Befruchtung unter- einander, also bei Inzucht, rassenreine Homozygoten liefern. Dagegen ist jeder aus einer Heterozygote entstandene Organismus rassenunrein oder ein Bastard und zwar um so mehr, je mehr neben identischen Merkmalspaaren auch ein, zwei oder mehrere sich finden, die aus nicht- identischen Erbeinheiten aufgebaut sind. Ein so entstandenes Wesen läßt sich bei weiterer Fortpflanzung, auch wenn dieselbe durch Inzucht erfolgt, nicht rein fortzüchten, wie uns die gleich zu besprechenden wich- nn er Ergebnisse der Mendelforschung. 77 tigen Experimente MENDELS und seiner Nachfolger gelehrt haben. Je mehr Merkmalspaare beidem Bastard heterozygotisch waren, um so mehr fällt seine Nachkommenschaft in der zweiten und dritten Generation verschiedenartig aus. ‘ | ; Zur rascheren Orientierung bedient man sich jetzt allgemein be- sonderer Erbformeln, mit deren Aufstellung schon MENDEL begonnen hatte. Ich schließe mich hierbei dem von JOHANNSEN befolgten Ver- fahren an. Die elterliche Generation wird mit dem Buchstaben P (Paren- tes) und, je nachdem sie weiblich oder männlich ist, durch das in der Systematik gebräuchliche Zeichen P2 und P& kenntlich gemacht. Die von ihr abstammende erste, zweite, dritte, — n Generation von Nach- kommen werden als F!, F?, F® — F” unterschieden. Zur Bezeichnung der Erbeinheiten in den Keimzellen der Eltern bedient man sich der Buchstaben des Alphabets und zwar der großen Buchstaben, wenn die Erbeinheiten in beiden Geschlechtern der gleichen Art sind. Also setzen sich die weiblichen, resp. männlichen Keimzellen aus A, B, C, D,E bis X Genen zusammen. Hieraus ergibt sich für die aus ihrer Ver- einigung gebildeten Homozygoten die Formel AA, BB, CC, DD, EE bis XX, da ja die gleichärtigen Gene sich zu einem Merkmalspaar (Allelo- morph, Paarling) gleichsam verkoppeln. In solchen Fällen dagegen, in denen sich beide Eltern in einem oder in mehreren Merkmalen von- einander unterscheiden, gibt man diesem Verhältnis einen symbolischen - Ausdruck dadurch, daß man die in der männlichen und weiblichen Keim- zelle voneinander divergierenden Gene durch große und kleine Buch- staben unterscheidet, und zwar drückt man den dominierenden Faktor durch den großen, den latenten oder rezessiven durch den entsprechenden kleinen Buchstaben aus. Die Formel für eine Heterozygote, mit zwei antagonistischen Merkmalspaaren lautet daher, wenn man für diese die beiden ersten Buchstaben des Alphabets benutzt: Aa, Bb, CC, DD, EE bis XX. Hierbei können sich Verschiedenheiten ergeben, je nachdem nur der eine oder beide rezessive Faktoren durch die männliche oder umgekehrt durch die weibliche Keimzelle in die Heterozygote hinein- gebracht "worden sind. Gewöhnlich beschränkt man sich bei der graphischen Darstellung auf die Wiedergabe der heterozygotischen Merkmalspaare, indem man alle homozygotischen Eigenschaftspaare zur Vereinfachung der Formel wegläßt und sie sich nur in Gedanken . ... XX hinzudenkt. Die abge- kürzten Formeln für die Heterozygoten eines Mono-, Di-, Tri- oder Polyhybriden lauten daher: für einen Monohybriden Aa, für einen Dihy- 78 Drittes Kapitel, briden Aa + Bb, für einen Ey briden Aa +Bb + Ce, für einen Poly- hybr.den Aa + Bb + Ce + Dd etc. Schon früher wurde erorzehie daß sich die aus Heterozygoten entstandenen Organismen auch bei fortgesetzter Inzucht in der zweiten, dritten und den weiteren Generationen nicht in ihrer Bastardnatur erhalten oder als reine Rasse fortzüchten lassen. Durch genaues Studium dieser bei Fortzucht sich ergebenden Verhältnisse sind drei für die Ver- erbungslehre grundlegende Tatsachen von MENDEL ermittelt, von seinen Nachfolgern bestätigt und noch weiter vervollständigt worden. Sie lassen sich in die folgenden Sätze kurz zusammenfassen: Erster Satz. In der Zygote und in dem aus ihr entstandenen Bastard ble’bt das rezessive Merkmal neben dem dominierenden in latentem Zu- stand wirklich forterhalten. Zweiter Satz. Die in der Zygote durch die Befruchtung gepaarten Erbeinheiten werden zur Zeit, wo der Bastard seine Geschlechtszellen bildet, wieder voneinander getrennt oder, wie es gewöhnlich in der Erblichkeitslehre heißt, gespalten. Dritter Satz. Die Erbeinheiten sind in gewissem Grade miteinander mischbar und daher befähigt, in den folgenden Generationen neue Kombinationen einzugehen. Man bezeichnet diese drei Ermittlungen ı. als die MENDELSche Prävalenz- und Latenzregel, 2. als die Spal- tungsregel und 3. als die Lehre von der Mischbarkeit der erblichen Anlagen. 1. Die Monohybriden. Zur Veranschaulichung und weiteren Erklärung der MEnDELSchen Regeln beginnen wir mit dem einfachsten Fall, in der die miteinander kombinierten elterlichen Organismen sich nur in einem Merkmalspaar voneinander unterscheiden und daher bei ihrer Kreuzung Monohybride liefern. Wir bedienen uns zu dem Zweck der zwei schon früher gebrauch- ten Beispiele von Mirabilis Jalapa und Urtica, indem wir die Nachkommen in zweiter und dritter Generation F?, F3 etc. bei fortgesetzter Inzucht weiter verfolgen. Dann stellt sich das auf den ersten Blick überraschende Ergebnis heraus, daß sich die Bastarde F! trotz streng durchgeführter Selbstbefruchtung nicht als reine Formen weiterzüchten lassen. Sie sind zum Teil in ihren Eigenschaften unbeständig und schlagen, ‚wie man sich früher ausdrückte, in einem gewissen Prozentsatz auf ihre ur- sprünglichen Elternformen zurück. Die Jalapabastarde erster Generation Die Monohybriden 79 F!, die lauter äußerlich gleichartige Individuen mit hellrosa Blüten sind, (Fig. 8), zerfallen bei Reinzucht in der zweiten Generation F? in drei verschiedene Formenkreise. Die Hälfte von ihnen gleicht wieder den zum Ausgang des Experiments benutzten Elternformen, und zwar Y, der Jalapa alba, der Jalapa rosea. Diese bleiben von jetzt ab bei getrennter Weiterzucht und Selbstbefruchtung in allen folgenden Generationen konstant; weißblühende bringen weißblühende, rotblühende stets wieder rotblühende Nachkommen hervor, ein Beweis, daß sie bei der fortgesetzten Inzucht wieder rassenrein nach der Art der beiden Stammeltern PO oder Pd geworden sind. Die andere Hälfte der F?-Generation dagegen trägt wieder in ihren hellrosa Blüten den Bastardcharakter zur Schau und liefert bei fortgesetzter Zucht eine Nachkommenschaft, die immer wieder nach dem Zahlenverhältnis 1:2:ı in die drei Formengruppen zer- fällt; oder mit anderen Worten, es kommt neben zwei hybriden Exem- plaren immer wieder je ein Exemplar der beiden ursprünglichen Stamm- formen zum Vorschein, welches dann auch bei weiterer Inzucht in seiner Nachkommenschaft rein oder konstant bleibt. Die Formel für jede nächste Generation der Hybriden muß also lauten: ı Stammform mit dominantem Merkmal, 2 Bastarde mit intermediärem Merkmal, ı Stammform mit rezessivem Merkmal. Beim Brennesselbastard (Fig. 9) fallen die Resultate auf den ersten Blick anscheinend etwas verschieden aus, erweisen sich aber bei genauerer Prüfung als die gleichen. Scheinbar verschieden sind die Resultate inso- fern, als die F?-Generation, die der Bastard F! bei Selbstbefruchtung hervorbringt, nur in zwei Formenkreise nach dem Zahlenverhältnis von 3:I zerfällt. Drei Viertel der Nachkommen zeigen stark gezähnte Blätter. Bei einem Viertel aber ist die latente oder rezessive Anlage wieder zur Geltung gekommen; ihre Blätter sind mehr oder minder ganzrandig wie bei der Stammform Urtica Dodartii. Dieses Viertel bleibt auch bei fortgesetzter Reinzucht in allen späteren Generationen konstant, wie bei dem entsprechenden Formenkreis von Jalapa. Dagegen sind in den übrigen drei Vierteln, wie weiter fortgesetzte Experimente lehren, streng genommen zwei Formengruppen enthalten, die sich zwar an ihren äußeren Merkmalen »nicht erkennen lassen, die aber nach der Beschaffenheit ihrer Gene verschieden sind. Denn unter ihnen befindet sich ein Viertel, das auch bei fortgesetzter Reinzucht in seiner Nach- kommenschaft konstant bleibt. Es bringt stets wieder nur Exemplare mit gesägten Blatträndern hervor, welche der Stammform Urtica pilu- lifera gleichen. Dagegen verhalten sich die anderen zwei Viertel in bezug auf ihre erblichen Anlagen, wie die erste Bastardgenerationen F!, ihre 80 Drittes Kapitel. Nachkommen, welche die F?-Generation bilden, zerfallen wieder in zwei Formenkreise nach dem Verhältnis von 3:1 oder unter Berücksichtigung Fig. 9. Bastardierung von Urtica pilulifera (oben links) mit U. Dodartii (rechts). I. Generation (F!), die, obwohl Mischling (liniiertes Schild), ganz die prävalierende Blattform der U. pilulifera zeigt. Ihre Geschlechtszellen, gespalten in „weiß“ und „schwarz“, ergeben in der II. Generation auf eine auch später rein und konstant bleibende U. pilulifera (schwarzes Schild) und auf eine reine U. Dodartii (weißes Schild) 2 Mischlinge. In der III. Generation sind die Abkömmlinge rechts und links konstant, die der mittleren Mischlinge sind weiter mendelnd. Nach STRASBURGER. der oben ermittelten Tatsachen richtiger in drei Formenkreise, wie bei Jalapa nach dem Verhältnis von I:2:1. Es haben also, wie die Zusammenstellung in Fig. 9 lehrt, ein Viertel ganzrandige, drei Vier- tel der Exemplare ge- sägte Blätter, und letztere unterscheiden sich wieder nach ihren Genen idioplasmatisch voneinander, indem bei einem Viertelvon ihnen das Merkmal ‚„gesägter Blattrand“ in der drit- ten Generation und allen folgenden kon- stant geworden ist. während zwei Viertel wie die Hybriden F! verschieden gestaltete Nachkommen liefern, oder wie man sich auch kurz ausdrückt, mendeln. Bei tieferer Ein- sicht zerfallen daher die Bastarde von Urtica genau So wie von Mirabilis Jalapa, bei fortgesetzter Zucht in drei Formenkreise nach der Formel: I Stamm- form A, 2 Hybride, ı Stammform a. Nur dadurch entsteht zwischen beiden Fällen ein Unterschied, daß bei Urtica sich die hybride Pflanze x Die Monohybriden. 81 in derem Anlagepaar eine Anlage dominiert, von der Stammform A, welche die dominierende Anlage geliefert hat, äußerlich nicht unter- scheiden läßt. Denn sie weicht nur idioplasmatisch durch den Besitz der latenten Anlage von ihr ab. Für diese eigentümlichen und für viele Organismen ganz gesetz- mäßigen, von allen Forschern bestätigten Verhältnisse hat man durch Aufstellung der Spaltungsregel eine einfache und befriedigende Er- klärung gegeben. Man nimmt an, daß bei der Bastardierung zweier Varietäten ihre Idioplasmen im befruchteten Ei zu einem Bastardidio- . Plasma verbunden werden, in welchem ihre antagonistischen Merkmale je ein heterozygotisches Anlagenpaar bilden nach der schon besprochenen Formel Aa für einen Monohybriden, Aa + Bb für einen Dihybriden, Aa +Bb-Cc -+ Ddetc. für einen Polyhybriden. Bei den gewöhnlichen Teilungen der Eizelle wird das Bastardidioplasma auf alle Zellen des Bastards übertragen und bestimmt die Charaktere, die ihn von den Eltern unterscheiden. Hierbei können die Anlagepaare entweder gleich- mäßig zur Wirkung kommen und eine Mittelform hervorrufen, oder die eine von ihnen dominiert, während die andere latent bleibt. Zur Zeit der Keim- zellenbildung bleibt indessen das Bastardidioplasma — wie zuerst MENDEL angenommen hat — als solches nicht erhalten; es trennen sich die durch Befruchtung entstandenen Doppelanlagen voneinander sowohl bei der Ei- wie bei der Samenreifung; dabei werden auch die heterozygotischen Gene Aa, Bb, Ccetc., welche den Charakter der Mono-, Di- und Poly- hybriden bestimmen, in A und a,in B und b, in C und c etc, voneinander gespalten und in gleichem Zahlenverhältnis auf die reifen männlichen und weiblichen Keimzellen verteilt. Bei den Monohybriden, bei denen wir wegen der größeren Einfachheit der Verhältnisse den Sachverhalt zuerst noch etwas genauer verfolgen wollen, entstehen demnach vier verschiedene, gleich zahlreiche Arten von Keimzellen, Eier, die bei der Spaltung entweder die Erbeinheit A oder a erhalten haben, und ebenso Samenfäden mit dem Gen A resp. a. ' Die Keimzellen der Monohybriden schlagen also infolge der Spaltung _ wieder auf die zur Bastardierung benutzten beiden elterlichen Ausgangs- formen zurück. In der F!-Generation von Jalapa entstehen z. B. Eizellen und Pollenkörner, die in ihrem Idioplasma zur Hälfte wieder der Varietät alba, zur anderen Hälfte der Varietät rosea gleichen. Die einen enthalten die Erbeinheit: weiße Blütenfarbe, die anderen die Erbeinheit: rote Farbe. Das gleiche geschieht bei der Keimzellenbildung im Brennessel- bastard. Bei der Spaltung des en Anlagenpaares Ya OÖ. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl. 82 Drittes Kapitel. und glatter Blattrand‘ bekommt die Hälfte der männlichen resp. weib- lichen Keimzellen die Anlage: gesägter Blattrand (A), die andere Hälfte die Anlage: glatter Blattrand (a) zugeteilt, kehrt daher teils zum Typus Urtica pilulifera, teils zum Typus U. Dodartii zurück. Bei Annahme der Spaltungsregel lassen sich die drei verschiedenen Formenkreise, die man bei fortgesetzter Selbstbefruchtung in der F*-, F3- und jeder folgenden Generation erhält, und die hierbei beobachteten Zahlenverhältnisse leicht ableiten und erklären. Denn nach der Wahr- scheinlichkeitsrechnung werden sich die zwei gleich zahlreichen Sorten weiblicher, resp. männlicher Keimzellen im gleichen Verhältnis miteinander verbinden. Die sich hierbei ergebende Gesetzmäßigkeit kann man sich am besten durch ein graphisches, systematisch geordnetes Kombinations- schema in folgender Weise deutlich machen. Da zwei Sorten weiblicher, resp. männlicher Keimzellen vier verschiedene Kombinationen ergeben, so verfertigt man sich eine Tabelle mit Fächern, schreibt oberhalb derselben die durch Buchstaben ausgedrückten 2 Sorten von männlichen Keimzellen von links nach rechts und auf die linke Seite der Tabelle von oben nach unten in derselben Reihenfolge die zwei weiblichen Keim- zellen; in die Fächer der Tabelle trägt man die sich bei der Befruchtung ergebenden Verbindungen ein. Kombinationsschema für Monohybriden. F?-Generation. | 2 Arten ee 2 Arten zellen Eizellen ie Ad a A® A+A | Ata ar a+ıA | a+ta Wie man sofort sieht, sind die durch Befruchtung entstandenen Kombinationen A + A sowie a --a nach der Ausdrucksweise von BATESON Homozygoten und zwar von zweierlei Art. Wenn wir uns zur Veran- schaulichung wieder der Mirabilis Jalapa bedienen, so ist in der Homo- zygote A + A rote Blütenfarbe zweimal als Erbeinheit und in der Homozygote a + a ebenso weiße Blütenfarbe vorhanden. Also müssen aus diesen Homozygoten sich wieder die zum Experiment benutzten reinen Ausgangsformen Mirabilis Jalapa rosea und M. J. alba entwickeln Die Monohybriden 83 und müssen auch bei Verhütung neuer Kreuzung, also bei fortgesetzter Selbstbefruchtung oder bei Inzucht, eine konstante Nachkommenschaft liefern. Aus ihrem Idioplasma ist ja die antagonistische Anlage infolge der Spaltung der heterozygotischen Anlagepaare während der Keim- zellenbildung des Bastards F! eliminiert worden, nämlich bei der weißen Varietät die Erbeinheit ‚rote Blütenfarbe‘“ und bei der rosa Varietät die Erbeinheit ‚weiße Blütenfarbe‘. Dagegen sind die zwei Kombinationen A + a und a + A Hetero- zygoten, da sich in ihnen weibliche und männliche Keimzellen mit anta- gonistischen Einheiten für weiße und rote Blütenfarbe vereinigt haben; beide sind wieder Hybriden, durch erneute Bastardierung in der zweiten Generation entstanden; beide sind einander gleichwertig, da es im End- resultat keinen Unterschied ausmacht, ob das Gen a, resp. A durch die männliche oder weibliche Keimzelle in die Kombination hineingebracht worden ist. Als Heterozygote liefern sie bei weitererZucht keine konstante Nachkommenschaft im Hinblick auf das in ihnen enthaltene antago- nistische Anlagenpaar A + a (rote und weiße Blütenfarbe). Sie fahren daher in der früher erörterten Weise zu mendeln fort. — Wie man sieht, haben wir die durch die experimentelle Mendelforschung auf empirischem Wege beobachteten drei Formenkreise mit ihrem bestimmten Zahlen- verhältnis 1:2:1 auch auf Grund der Spaltungsregel durch unser Kombi- nationsschema erhalten und erklärt. Der kürzeste Ausdruck für die Formel der F?-Generation ist IAA+2Aa-tIaa oder in Prozenten 25 Proz. AA + 50 Proz. Aa + 25 Proz. aa. Hieraus läßt sich auch das Zahlenverhältnis der drei Formenkreise in der F®-, F4-, F5- ... F"-Generation berechnen, da in jeder Gene- ration immer wieder Hybriden in bestimmter Zahl gebildet werden und in der nächsten Generation nach der [Menpeıschen Spaltungsregel von neuem drei Formenkreise liefern. JOHANNSEN hat hierfür ein Schema und eine sehr einfache Formel zur Berechnung aufgestellt. Er setzt die Gesamtzahl der Individuen jeder Generation = I und nimmt, um überhaupt gleichmäßige, eine - Berechnung zulassende Verhältnisse zu gewinnen, die Fruchtbarkeit bei allen Individuen als gleich groß an. Der Deutlichkeit wegen benutzt er innerhalb jeder Generation denselben Nenner in allen Brüchen, welche die relative Häufigkeit der betreffenden Individuen ausdrücken. 6* 84 Drittes Kapitel o5 Relative Häufig- 3= | Die MENDELsche Spaltung bei Selbstbefruchtern keit von o= Aa? Has Ft! | Der Bastard Aa I | F? u Fe = Aa iR 5; lc | A; ls F? |? a '; AA ”/s Aa ’Is aa °/, aal ®a | */s | "ls | 4 la 2 N 2 1j 2 4 1.83.17 F* Ihe AA he AA he AA hıeAa ısaa "ıgaa aa his. | is Und so fort. In jeder neuen Generation vermindert sich die Zahl der Hybriden im Verhältnis zur Gesamtzahl der Individuen, da die Homo- zygoten sich rein fortpflanzen und die Heterozygoten immer wieder neu gespalten werden. In der sechsten Generation werden nur ?/g4, in der siebenten ?/]g der Individuen heterozygotisch sein. ‚Rein all- gemein wird unter den gegebenen Voraussetzungen 2:2” Ausdruck für die relative Häufigkeit der Heterozygoten Aa in der Generation F” sein. Nur diese Individuen sind Bastarde zu nennen.‘ (JOHANNSEN |]. c.p. 378.) „In diesem allerdings allereinfachsten Fall werden also die reinen P-Formen in der Nachkommenschaft bald die He- terozygoten völlig verdrängen, wenn nicht neue Kreuzungen erfolgen, sondern strenge Inzucht stattfindet. Schon in der elften Generation findet sich nur eine Heterozygote auf etwa 1000 Individuen, in der einundzwanzigsten Generation nur eine Heterozygote auf etwa eine Million Individuen.“ Das Verhältnis ändert sich natürlich in dem Fall, daß sich alle Individuen, die vom Bastard Aa abstammen (r AA + 2 Aa + Laa), frei untereinander kreuzen. Unter der Annahme, daß für alle Kombi- nationen der Ei- und Samenzellen die gleiche Wahrscheinlichkeit besteht und alle Individuen gleich fruchtbar sind, hat JOHANNSEN in entspre- | chender Weise wie das vorher besprochene, ein zweites Schema zusam- mengestellt, in welchem auch die Keimzellen in ihrem relativen Mengen- verhältnis mitangegeben sind: Relative Häufig- u8 353) Die MENDELsche Spaltung bei Fremdbefruchtung keit von Ox AA| Aa| aa r Der Bastard Aa hi Seine Gameten ja A "aa „2 1 PYI 1 Br e |ı F ı AA ‚Aa /, aa al Tal la | | Ihre Gameten | DR Pas „At "ha 4a F® 27 AA+? IısAa ? En. !ıcaa” hsAa-+' ”/j6aa “ıs ie "ie Die Dihybriden. 85 In der F?-Generation sind unter den angenommenen Voraussetzungen die drei Formkreise AA + Aa +aa in demselben Mengenverhältnis wie in der F?-Generation, also nach der MEnDELschen Relation I:2:I vertreten. Dasselbe wird also auch in den folgenden F#-, FP- ,.. Fn- Generationen der Fall sein. Wie durch die Spaltungsregel die für die intermediäre Vererbung gül- tige Formel 1:2:ı (I Stammform A, 2 Bastarde Aa, ı Stammform a) ihre volle Erklärung findet, so gilt dies nartürlich auch für das bei dominanter Vererbung beobachtete Zahlenverhältnis (3:1), das für den Brennessel- bastard beschrieben wurde. Es ist hierbei nur zu berücksichtigen, daß in der Zahl 3 oder in den 75 Proz. zwei Formenkreise stecken mit dem Zahlenverhältnis 1:2, nämliche eine Stammform AA und zwei Bastarde Aa. Beide Formenkreise lassen sich nur in diesem Fall äußerlich nicht voneinander unterscheiden, da wegen der Dominanz von Erbeinheit A die Bastarde Aa genau so wie die reine Stammform AA aussehen, aber idioplasmatisch von ihr durch den Besitz einer latenten Anlage ver- schieden sind, 2. Die Dihybriden. Während die Verhältnisse bei den Monohybriden, wie die voraus- geschickten Betrachtungen ergeben haben, relativ einfach liegen und sich daher zur Darstellung der MEnDELschen Regeln am besten eignen, werden sie bei den Di- und Polyhybriden mit der Zunahme der ver- schiedenen Merkmalspaare, die infolge der Kreuzung im Bastardidio- plasma zusammenkommen, schließlich außerordentlich verwickelt. Denn mit jedem weiteren Merkmal wird die Zahl der Formenkreise, in welche die Nachkommenschaft der F!-Generation nach der MENDEL- schen Spaltungsregel zerfällt, eine immer größere, läßt sich aber auch dann noch in festen Formeln gesetzmäßig ausdrücken. Außerdem hat sich dann beim Studium der Di- und Polyhybriden noch ein wichtiges, allgemeines Gesetz ergeben, das ich seiner Bedeutung wegen gleich in den Vordergrund stelle, nämlich das Gesetz, daß bei der Keimzellenbildung infolge der Spaltung mehrerer heterozygotischer Paare ihre Erbeinheiten ganz unabhängig voneinander auf die männlichen und weiblichen Keimzellen “verteilt und bei der Befruchtung zu neuen Kombinationen vereinigt werden und dadurch zur Erzeugung neuer kon- stanter Formenkreise von Organismen dienen. Ich beginne mit dem Kombinationsschema für Dihybriden nach 86 Drittes Kapitel, JOHANNsEn. Nach dem früher Gesagten läßt sich für die F!-Generation die Formel für die Heterozygote durch die Buchstaben Aa + Bb aus- drücken. Infolge der Spaltung der heterozygotischen Anlagepaare in den Keimdrüsen entstehen vier verschiedene Arten von männlichen resp. weiblichen Keimzellen, nämlich A+B,A+b, a+Bunda-+b. Dieselben müssen bei der Befruchtüng I6 Kombinationen liefern, die im beifolgenden Schema systematisch zusammengestellt sind. Kombinationsschema für Dihybriden. F?-Generation. * n 4 Arten 4 Arten von Samenzellen von Ei- B BE Ce { zellen A+B A+b a-+B a-+b I | 2 | 3 Be! A-+B AA +BB* | AA+Bb Aa+BB | Aa+Bb! 5 | 6 7 | 8 A-b AA +Bb | AA -+bb* Aa+Bb! | Aa+bb 9 Io 5: TauT, a+B Aa + BB Aa+Bb! | aa+BB* aa-+Bb 13 I4 15 16 ab Aa + Bb! Aa + bb aa + Bb aa + bb* Bei Durchmusterung des Schemas lassen sich die I6 Kombinationen in 4 Hauptgruppen nach dem Zahlenverhältnis 9:3:3:1 anordnen. Es zeigen nämlich 9 Individuen (nämlich I, 2, 3, 4, 5, 7, 9, 10, I3) die beiden dominanten Merkmale A und B und gleichen sich daher in ihrer äußeren Erscheinung, wenn sie auch in bezug auf die übrigen Gene zum Teil innerlich voneinander verschieden sind und bei fortgesetzter Reinzucht sich in bezug auf Spaltung der Gene verschieden verhalten. Nach ihrer Zusammensetzung aus Genen aber lassen sich diese 9 Individuen wieder in 4 Gruppen trennen mit der Formel: AA + BB (rmal, Nr. 1), AA + Bb (2mal, Nr. 2 und 5), und Aa + BB (2mal, Nr. 3 und 9) und Aa + Bb Amal, Nr, 4, 7, 10,43): 4 Die zweite Hauptgruppe besteht aus 3 Individuen mit der dominie- renden Eigenschaft A, während die andere b rezessiv ist (Nr. 6 AA + bb, Nr. 8 Aa + bb, Nr. 14 Aa + bb). Die dritte Formengruppe enthält ebenfalls nur 3 Individuen, jedoch mit der dominierenden Eigenschaft B, während a rezessiv ist (Nr. II aa + BB, Nr. 12aa + Bb, Nr. 15 aa + Bb). ie Eh u ni Die Dihybriden 87 In der vierten Gruppe tritt nur I Individuum auf, das in beiden Eigenschaften rein rezessiv ist (Nr. I6 aa + bb). Wie ein Blick auf die Tabelle ferner lehrt, sind unter den I6 Kom- binationen nur 4 Homozygoten, deren Nachkommen bei fortgesetzter Inzucht rein bleiben und daher zu einem Genotypus gehören. Es sind die mit einem * versehenen Verbindungen, Nr. I, 6, II und I6, welche im Schema in einer schrägen, von links oben nach rechts unten laufenden Linie angeordnet sind. Von ihnen gehört jede einer anderen von den vier unterschiedenen Hauptgruppen an. Eine (Nr. I) ist rein in bezug auf die beiden dominanten Eigenschaften AA + BB, eine andere (Nr. 16) in bezug auf die beiden rezessiven Gene (aa + bb), die beiden übrigen (Nr. 6 und II) sind rein in bezug auf eine dominierende und auf die andere rezessive Eigenschaft und haben entweder die Formel AA + bb oder aa -+BB. Von den 4 Homozygoten sind 2 auf die elterlichen Ausgangsformen (AA + BB und aa + bb) zurückgeschlagen, die beiden anderen sind bei der Fortzucht der Bastarde infolge der Spaltung und Neukombination der Gene neu gebildete Formen, die früher wicht existiert haben und sich rein fortzüchten lassen (AA + bb und aa + BB). In ihnen ist eine der beiden Eigen- schaften der zwei Stammeltern ausgetauscht worden. Von den 12 Heterozygoten sind 4 in bezug auf beide Merkmale hetero- zygotisch. Sie sind im Schema durch ein Ausrufezeichen (!) kenntlich ge- macht und tragen die Nr. 4, 7, IO und 13, die in einer schrägen, von oben rechts nach unten links verlaufenden Reihe angeordnet sind. Sie sind da- her mit der hybriden Ausgangsform F! identisch und müssen sich nach demselben Schema in beiden Merkmalen weiter spalten. Die 8 übrigen Kombinationen sind zwar in einem Merkmalspaar homozygotisch, im anderen aber heterozygotisch und sind daher in diesem bei der Fortzucht auch nicht formbeständig. Zum Beweis diene die schon von MENDEL untersuchte Kreuzung - von zwei Erbsenrassen, deren Samen sich in zwei Eigenschaften unter- scheiden. Bei der einen Rasse (AB) sind die Samen rund (A) und gelb (B), bei der anderen (ab) kantig (a) und grün (b); rund (A) und gelb (B) sind die dominanten Eigenschaften. In der F!-Generation gleichen daher _ alle Hybriden von der Formel (Aa + Bb) in der runden und gelben Be- schaffenheit ihrer Erbsen der dominanten Elternform. In der F?-Genera- tion aber bilden sich nach der Spaltungsregel 4 Formengruppen nach dem Verhältnis 9:3:3:1, nämlich gmal eine Varietät mit rund-gelbem, R 3mal mit rund-grünem, 3ma]l mit kantig-gelbem, ımal mit kantig- 88 Drittes Kapitel. grünem Samen. Jede dieser Varietäten kommt ımal als reinzüchtende Homozygote vor. Neben den beiden elterlichen Stammformen rund-gelb (AA, BB) und kantig-grün (aa, bb) sind durch veränderte Kombination der Eigenschaften 2 neue konstante Varietäten rund-grün (AA-+ bb) und kantig-gelb (aa + BB) entstanden, die im Schema die Zahlen 6 und II tragen. Ich füge noch die Analyse einer zweiten von CORRENS ausge- führten Kreuzung zweier Maisrassen hinzu, nämlich der Zea Mays alba mit glatten, weißen Körnern und der Z.M. coeruleo-duleis mit runzligen, blauen Körnern. Die Maiskreuzung ist auch noch insofern von Interesse, als die beiden dominanten Eigenschaften auf 2 Individuen verteilt sind und als bei der einen Eigenschaft die Dominanz nicht ganz vollständig ist, sondern mehr dem intermediären Typus folgt. Die F!-Generation hat stets glatte Körner; es dominiert also im Merkmalspaar glatt-runzlig die erste über die zweite Eigenschaft, so daß glatt mit dem Buchstaben A, runzlig mit a zu bezeichnen ist. Ferner zeigen die Maiskörner des Bastards eine schwankende Menge Blau, viel mehr, wenn die blaue Sorte als Mutter, als wenn sie als Vater gedient hat. Ausnahmsweise treten die Merkmale der Eltern mehr oder weniger un- vermittelt als Mosaik nebeneinander bei demselben Korn auf. Im Merk- malspaar blauweiß ist daher blau nur teilweise dominant über weiß und durch das Buchstabenpaar Bb auszudrücken. Die Stammeltern P von F! haben die Formel: Zea Mais alba AA + bb (glatt-weiß) mit den Keimzellen A — b, Zea M. coeruleo dulcis aa +BB (runzlig-blau) mit den Keimzellen a-+B. Die Formel für die F!-Generation ist Aa + bB mit den 4 Arten von Keimzellen AB, Ab, aB, ab. Bei der durch Inzucht erzielten F*- Generation treten am Maiskolben genau wie in dem vorher angeführten dihybriden Erbsenbastard 4 verschiedene Arten von Körnern auf, im Verhältnis von 9:3:3:I, oder genauer ausgedrückt auf 9 glatt-blaue kommen durchschnittlich 3 glatt-weiße, 3 runzlig-blaue und I runzlig- weißes. Hervorgegangen aus den im Kombinationsschema angegebenen 16 verschiedenen möglichen Verbindungen der 4 Arten von Keimzellen, sind die 4 Gruppen der äußerlich unterscheidbaren Maiskörner nach der Zusammensetzung ihrer Gene oder nach ihren erblichen Anlagen auch noch weiter innerlich verschieden voneinander; denn I2 Kombinationen sind heterozygotisch entweder in beiden Eigenschaften oder nur in einer und spalten daher bei fortgesetzter Inzucht. Nur 4 Kombinationen, und zwar eine in jeder der 4 Gruppen, sind homozygotisch und liefern Die Polyhybriden, 89 daher bei Inzucht eine konstante Nachkommenschatf; 2 von ihnen, die Kombination glatt-weiß (AA + bb) und die Kombination runzlig-blau (aa + BB), gleichen den Stammeltern, die beiden anderen von der Formel AA -+-BB glatt-blau und von der Formel aa + bb runzlig-weiß sind durch, Neukombination je einer Eigenschaft des einen Elters mit einer Eigen- schaft des anderen Elters ganz neu entstanden. Wir erhalten also auch wie bei dem dihybriden Erbsenbastard aus dem eben analysierten Maisbastard zwei neue, ganz konstante Sippen glatt-blau (AA + BB) und runzlig-weiß (aa + bb), neben den beiden Elternsippen (AA + bb und aa + BB) jedesmal dann, wenn der Zufalı bei der Verschmelzung der weiblichen und der männlichen Keimzellen lauter gleiche Erbeinheiten zusammengebracht hat. Wenn wir, statt den glatten, weißen Mais mit einem runzligen, blauen zu verbinden, einen glatten, blauen mit einem runzligen, weißen bastardieren, erhalten wir, wie CORRENS seiner Analyse hinzufügt, genau den gleichen Bastard mit derselben Nachkommenschaft. Der zuerst besprochene Fall ist aber dadurch interessanter, daß für ihn jeder Elter eine dominierende und eine rezessive Eigenschaft liefert, während im anderen Fall beide dominanten Erbeinheiten im Mais mit glatt-blauen Körnern vereint sind. Auch hierin ist ein neuer Beweis für die Selb- ständigkeit der Erbeinheiten bei ihrer Verteilung auf die Keimzellen _ und für die verschiedene Art ihrer Vermischung bei der Befruchtung zu erblicken. % Die Polyhybriden. Mit jedem neuen Differenzpunkt in einem Merkmalspaar wächst die Zahl der möglichen Kombinationen in geometrischer Progression. Schon die Analyse eines Trihybriden gestaltet sich unter diesen Ver- hältnissen zu einer recht verwickelten Aufgabe. Während beim Dihy- briden nach der Spaltungsregel 2° = 4 verschiedene Keimzellen gebildet werden müssen, beträgt bei 3 Differenzpunkten in den erblichen Anlagen die Zahl der erblich verschieden veranlagten Arten von männlichen resp. weiblichen Keimzellen 2? = 8. Wir bezeichnen I. die beiden durch 3 . Eigenschaften unterschiedenen Keimzellen der Elternformen, 2. die aus - ihnen gebildeten Bastarde und 3. die von diesen erzeugten 8 verschiedenen Arten von Keimzellen wieder in der früheren Weise durch systematisch angeordnete Buchstabensymbole: also die P-Keimzellen als ABC und abc, die F!-Generation als Aa, Bb, Cc und ihre Keimzellen als ABC — © ABce-AbC-aBC. Abc—aBc—abC-—abc. Bei der Be- - fruchtung sind 82 oder 64 verschiedene Kombinationen möglich, die . 90 ‚Drittes Kapitel im beifolgenden Schema nach dem oben auf S. 86 für die Dihybriden durchgeführten Muster zusammengestellt sind. Bei vollkommener Dominanz von 3 Merkmalen lassen sich die 64 Kombinationen nach ihren äußerlich sichtbaren Merkmalen in 8 Grup- pen von gleichem Aussehen anordnen. Dieselben werden von JOHANNSEN als Phänotypen bezeichnet; sie bieten untereinander die Zahlenrelation von 27:9:9:9:3:3:3:ı dar. Innerhalb jeder Gruppe aber sind die zuge- hörigen Individuen wieder in der Kombination ihrer Erbeinheiten ver- schieden, so daß nach ihnen noch eine weitere Gruppierung mit be- stimmten Zahlenverhältnissen vorgenommen werden kann. So tritt in jeder der 8 Gruppen der Phänotypen nur ein einziges Individuum auf, das homozygotisch ist, das heißt, sich aus einem homozygoten Ei ent- wickelt hat; es erhält sich daher bei Inzucht in allen folgenden Genera- tionen rein und liefert einen Genotypus. Von den 8 Homozygoten haben 2 die Formel der Stammformen, also AA, BB, CC und aa, bb, cc. Die 6 anderen sind durch Kombination der Erbeinheiten neu gebildete Rassen von der Formel AA, BB, cc; AA, bb, CC; aa, BB, CC; AA, bb, Ber ad, BB, ce undaar DbAck. Zur Erläuterung bediene ich mich der schon von MENDEL analy- sierten 2 Erbsensippen, die sich in 3 Eigenschaften voneinander unter- scheiden. Die eine Stammform A, B,C besitzt A runde Samen, B gelbes Albumen, C graubraune Samenschale; die andere Stammform ä, b, c dagegen a kantige Samen, b grünes Albumen, c weiße Samenschale. In der F2-Generation werden vom Bastard F! von der Formel Aa, Bb, Ce, in der Tat dieim Schema mit Buchstaben aufgeführten 8 verschie- denen homozygoten Samenarten geliefert: I. runde, gelbe, graubraun- beschalte, AA, BB, CC, und 2. kantige, grüne, weißbeschalte aa, bb, cc, die den Samen der Stammeltern P entsprechen, ferner die neu kombi- nierten konstanten Samenarten, 3. runde, gelbe, weißbeschalte, AA, BB, cc, 4. runde, grüne, graubraunbeschalte, AA, bb, CC, 5. kantige, gelbe, graubraunbeschalte, aa, BB, CC, 6. runde, grüne, weißbeschalte, AA, bb, cc, 7. kantige, gelbe, weißbeschalte, aa, BB, cc, 8. kantige, grüne, graubeschalte Samen, aa, bb, CC. Außer den 8 angeführten Individuen von den 64 sind 56 hetero- zygotisch entweder in I oder in 2 oder in 3 Paaren von Erbeinheiten, wie an den Formeln des Kombinationsschemas sich ablesen läßt. Die 64 Kombinationen verteilen sich auf die 8 oben erwähnten Gruppen oder Phänotypen (JOHANNSEN) nach den relativen Häufigkeiten 27:0:9 :9:3:3:3:1. Die erste Gruppe besitzt alle 3 dominanten Eigenschaften, ist aber nur in einem Falle erbrein (Nr. ı als Homozygotenart AA, BB, 9I Die Polyhybriden ee | I 'qq'ee | ‘ag ‘ee H'qqey | SH’gg'er | 9Y ‘qq’ ev | nggey HD'qg'ev qe »ngq’er | | | BEINE a 63 w ; f R x } Mr p j £ Er ” E ONLOGLER | Oa)E a ee ‘ag ee ‘aq ‘e Ir ‘® ‘aqe ® qq 99'qq we ga gg ev ı II ga BR % |.D gg ev | JOga Kur Iq De | ‘ B | * ‘ ‘ c ( c < = ‘ ‘ ‘ £ e gg « I qq ee | _ 99 'rer "vr | SAT EVER Br |DIgT Ey. | 30 Id Ev > II eV ge TEN FFER UNE Ar f = et = qq Eas J’gq‘ nz aggevı r 2 I'gg ev I’aq'vv | ngga'vv| D'ag'yv qV PORT ER RE ER BEN VAL A { : 9 ‘ee ee | Y'qgq ee 19 ® e; aqev n'qgq ® n'ag ‘ey e I'gq | ı» aa I 9 ı4g I.gg "oa I 944 ev Digadev WD'ag ev on: | [5 ‘ | ‘ ‘ gg u 99"g4 a Diggev 9 gq’vy | D'gg'ey av. 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Die dominanten Eigenschaften A, B oder A,C oder B,C sind wieder in verschiedener Weise mit rezessiven kombiniert bis auf ı Individuum in jeder Gruppe, das die Formel AA, BB, cc; AA, bb, CC und aa, BB, CC aufweist und als Homozygote rein fortzüchtet. Der 5. bis 7. Phänotypus setzt sich aus je 3 Individuen mit einer einzigen dominanten und 2 rezessiven Eigenschaften zusammen nach den Formeln A, bb, cc — aa, B, cc — aa, bb, C für je eine Gruppe. Auch hier ist von den 3 Individuen jeder Gruppe immer nur eins auf Grund der Analyse seiner Gene rassenrein und züchtet als Genotypus fort, indem das dominante Merkmal einen entsprechenden Partner be- sitzt und homozygot ist, also AA, bb, cc; aa, BB, cc; aa, bb, CC. Inden beiden anderen Individuen dagegen ist A oder B oder € mit dem anta- gonistischen, rezessiven Merkmal gepaart, wodurch bei der Fortzucht wieder neue Spaltungen hervorgerufen werden. Die Betrachtung über die MEnDELschen Vererbungsregeln schließe ich mit einer Zusammenstellung der mathematischen Formeln ab, aus denen sich die Spaltung in einzelne Phänotypen bei Mono-, Di-, Tri- und Polyhybriden unter Voraussetzung der Dominanz eines der beiden Merkmalspaare leicht berechnen läßt. Dabei wird die Gesamtzahl der Individuen einer Generation —= I gesetzt und die relative Häufigkeit der verschiedenen Individuen durch einen Bruch ausgedrückt. Also erhalten wir für die Monohybriden mit ı Differenzpunkt Aa in der F?-Generation 2 Phänotypen, den einen. mit 3 dominanten, den anderen mit I rezessiven Individuum oder, auf I berechnet, % —+Y,, das heißt 2 Phänotypen mit der Individuenrelation 3:1. Bei Dihybriden mit 2 Differenzpunkten (Aa und Bb) spaltet jede Eigenschaft für sich nach der Formel 4 + Y,. Da sich durch Kom- bination der einzelnen Eigenschaften die Zahl der möglichen Phänotypen ergibt, erhalten wir für Dihybride die Formel: HM) AM =Nt et Yet Yım das heißt: 4 Phänotypen mit der Individuenrelation von 9:3:3:1. Der erste Phänotyp °/,,, zeigt beide dominierende Eigenschaften (A u. B), der zweite, ®/,,, nur die eine dominierende Eigenschaft A, der dritte, Die Polyhybriden. 93 3/|g, die andere dominierende Eigenschaft B und der vierte Phänotyp, 1/16, hat keine der dominierenden, sondern nur beide rezessiven Eigen- schaften. Bei Trihybriden mit 3 Differenzpunkten (Aa, Bb, Cc) lautet dem- entsprechend die Formel für die möglichen Phänotypen: MATT A = N +) en aa Helea rt Hoatleat lea t lea t "ea die F2-Generation zerfällt mithin bei Trihybriden in 8 Phänotypen mit der Individuenrelation von 27:9:9:9:3:3:3:1. Von ihnen besitzt der erste Phänotyp ?°/,, (3?) alle 3 dominierenden Eigenschaften, der zweite bis vierte Phänotyp °/s, (3?) nur 2 dominierende Eigenschaften entweder in der Kombination A,B, cc oder A, bb, C oder aa, B,C; der fünfte bis siebente Phänotyp °/s, (3!) zeichnet sich durch eine einzige dominierende Eigenschaft in Verbindung mit 2 rezessiven aus, entweder mit der Formel A, bb, cc oder aa, B, cc oder aa, bb, C; der achte, aus einem einzigen Individuum bestehende Phänotyp !/s, wird beim Mangel jeden dominanten Merkmals nur aus 3 rezessiven aufgebaut mit der Formel aa, bb, cc. Die Formel der möglichen Phänotypen bei Poly- hybriden mit n Eigenschaften kann daher ausgedrückt werden mit Yu + Ya. Zur kurzen Orientierung über die Zahlenverhältnisse, die sich je nach der Anzahl der zwischen den beiden Stammeltern bestehenden differenten Merkmale ergeben, ist die kleine, in Anlehnung an JOHANNSEN aufgestellte Tabelle (S. 94) geeignet: Als nähere Ausführung der in der letzten Fachseite der Tabelle gegebenen Formeln vergleiche man die Kombinationsschemata für Mono-, Di- und Trihybriden auf S. 82, 86, und gı und die an sie geknüpften Er- örterungen. Wie aus der Tabelle hervorgeht, wächst mit jedem Mehr an diffe- rierenden Merkmalen die Zahl der möglichen Kombinationen sehr rasch. „Bald werden‘, wie CORRENS bemerkt, ‚die Verhältnisse fast unüber- sehbar. Schon bei Io differenten Merkmalspaaren werden über tausenderlei (1024) verschiedene Keimzellen gebildet, die über eine Million Kom- binationen zulassen und bei Dominanz des einen Merkmals über das andere als zweite Generation über tausenderlei (1024) schon äußerlich verschiedene und fast 60000 innerlich verschiedene Nachkommen geben.“ Man ersieht hieraus, welche kolossalen, schon bald überhaupt nicht zu bewältigenden Dimensionen ein genau für die F* und F?-Generation durchgeführter, vollständiger MENDEL-Versuch mit der wachsenden 94 Drittes Kapıtel. Zahl der Merkmale, in denen sich die elterlichen, zur Bastardierung benutzten Ausgangsformen unterscheiden, annehmen muß. | | | Anzahl der Differenzpunkte der Stammeltern | 2 3 4 | 5 | n Anzahl der von der F-Ge- a1 2? aa > +) 5 | neration gebildeten ver- e. schiedenen Keimzellen | =2| =,4| Bu Zoe | Anzahl der aus Verbindung der Keimzellen hervor- 2! 2? 23 o+ 25 gehenden homozygoti- | Y gun schen, sich rein fortzäkch-] = 2 =4 — 3 = a6 a tenden Kombinationen r u. + Die durch Verbindung der 2? 24 26 | 2985 | 210 | zn Keimzellen überhaupt | | | | möglichen Kombinationen | —= 4 | — 16) —,041 258 I 1024 oder 2?" Phänotypenverteilung auf alt , | | der Grundlage von. Do- (3-1) (3+ I) (3+ 1) (3-1)? (3-1)? (3—+ 1)% minanz | 4. Die Organisation der Keimzellen auf Grund der mikroskopischen Erforschung des Befruchtungsprozesses sowie der Ovo- und Spermiogenese. a) Der Befruchtungsprozess. Wie schon in der Einleitung zum dritten Abschnitt bemerkt wurde, ist eine Hauptgrundlage unserer Theorien über das Wesen der Keim- zellen und zugleich eine wichtige Ergänzung zu der Mendelforchung die unabhängig von ihr gemachte Entdeckung der feineren Vorgänge beim Befruchtungsprozeß. Zum Studium derselben sind besonders Tiere ge- eignet, welche erstens sehr kleine und durchsichtige Eier besitzen, in denen man bei Verwendung starker Vergrößerungslinsen im Dotter die kleinsten Körnchen wahrnehmen kann, und welche zweitens die Vornahme der künstlichen Befruchtung gestatten. Denn hierdurch gewinnt der Forscher die Möglichkeit, den Eintritt der Befruchtung zu einem von ihm will- kürlich gewählten Termin zu bestimmen und alle Veränderungen von Anfang bis zu Ende kontinuierlich zu verfolgen. Ein derartig geeignetes Material liefern uns die Echinodermen, besonders die Seeigel. Ihre Eier sind denn auch das klassische Objekt geworden, an dem im Jahre 1875 die mikroskopische Grundlage für die jetzt gültige „biologische Theorie des Befruchtungsprozesses‘“ gewonnen wurde. Um die künstliche Befruchtung auszuführen, entleert man von einem Der Befruchtungsprozeß, 95 laichreifen Weibchen reife Eier aus dem Eierstock in ein kleines, mit Seewasser gefülltes Uhrschälchen, entnimmt dann in derselben Weise einem männlichen Tiere frischen Samen und verdünnt ihn in einem zweiten Uhrschälchen reichlich mit Meerwasser. Auf einen Objekt- träger bringt man je einen Tropfen eierhaltiger und samenhaltiger Flüssig- keit mit einer feinen Glaspipette zusammen, vermischt sie und deckt sofort das Präparat unter geeigneten Kautelen, damit die Eier nicht gepreßt und zerdrückt werden können, vorsichtig mit einem Deckgläschen zu; dann beginnt man unverzüglich die Beobachtung bei starker Ver- größerung. Man kann jetzt am lebenden Objekt leicht verfolgen, wie von den zahlreichen, im Wasser lebhaft herumschwimmenden Samenfäden sich immer mehr auf der Oberfläche der Eier festsetzen, wobei sie fortfahren, mit ihrer Geißel peitschende Bewegungen auszuführen. Stets aber wird unter normalen Verhältnissen die Befruchtung nur von einem einzigen Samenfaden und zwar von demjenigen ausgeführt, der sich am frühesten dem membranlosen Ei genähert hat. An der Stelle, wo sein Kopf, der die Gestalt einer kleinen Spitzkugel hat, mit seiner scharfen Spitze die Oberfläche des Dotters berührt, reagiert diese auf den Reiz durch Bildung eines kleinen Höckers von homogenem Proto- plasma, des Empfängnishügels (Fig. 10, Ie), wie ich ihn zu nennen vor- geschlagen habe. Durch sein Auftreten wird der Beobachter gewöhnlich zuerst auf den Beginn des Befruchtungsprozesses aufmerksam gemacht. Denn am Empfängnishügel bohrt sich der Samenfaden rasch mit seinem Kopf (1%) in das Ei ein, so daß nur der kontraktile, fadenförmige Anhang noch eine Weile nach außern hervorsieht. Fast gleichzeitig wird eine feine Membran (Fig. Io, 2 dh) vom befruchteten Ei auf der ganzen Ober- fläche ausgeschieden; sie beginnt zuerst in der Umgebung des Emp- fängnishügels und breitet sich von hier rasch um das ganze Ei aus. Im Moment ihrer Ausscheidung liegt sie der Dotterrinde unmittelbar auf; doch nur eine verschwindend kurze Zeit. Denn bald beginnt sie sich von ihr abzuheben und durch einen immer breiter werdenden, von klarer Flüssigkeit (Liquor perivitellinus) erfüllten Zwischenraum getrennt zu werden. Die Abhebung wird dadurch hervorgerufen, daß der protoplas- matische Eiinhalt sich infolge des Reizes beim Eindringen des Samen- fadens, der auch die Membranbildung kurz vorher schon ausgelöst hat, etwas zusammenzieht und dabei Flüssigkeit aus seinem Innern auspreßt. Die Bildung einer Dotterhaut (Membrana vitellina) hat außer dem Schutz, den sie später dem sich in ihrem Innern entwickelnden Embryo bietet, auch noch die hohe physiologische Bedeutung, daß sie für alle 96 Drittes Kapitel. die übrigen Samenfäden, die sich in reicher Menge auf ihrer Oberfläche ansetzen, ganz undurchdringlich ist und dadurch eine Befruchtung durch mehr als einen Samenfaden unmöglich macht. An diese verschiedenen Vorgänge, die sich teils nach- teils neben- einander in ein paar Minuten abspielen, schließen sich unmittelbar weitere Veränderungen an, die man als den inneren Befruchtungsakt Fig. 10. Schema über den Befruchtungsprozeß des Eies von Toxopneustes. Nach OSKAR HERTWIG. I. Das reife Ei im Moment der Befruchtung mit Eikern (eik) und Empfängnishügel. Am eingedrungenen Samenfaden ist der Kopf (2), das Mittel- stück (72) und der Endfaden zu unterscheiden. 2.—4. 3 Stadien in der Annäherung von Samen- und Eikern bis zur gegenseitigen Anlagerung. s2 Samenkern, ei& Eikern, c Centrosom, dh Dotterhaut, Empfängnishügel. zusammenfassen kann. Der in die Eirinde eingedrungene Kopf beginnt sich alsbald in der Weise zu drehen, daß der auf ihn folgende Hals mit dem Centrosom (Fig. Io, 2 c) nach einwärts zu liegen kommt. Dabei wird das Centrosom zum Mittelpunkt einer Strahlungsfigur. Denn das Proto- plasma in seiner unmittelbaren Umgebung beginnt sich zu einem strahligen Gefüge, wie Eisenfeilspäine um den Pol eines Magneten, anzuordnen. Auch vegrößert sich der Kopf zusehends, indem sein Chromatin sich mit Flüssigkeit, die er aus dem Dotter bezieht, vollsaugt und die Form einer + u j ; r Der Befruchtungsprozeß. 97 Spitzkugel verliert. Er wandelt sich auf diesem Wege allmählich wieder in einen bläschenförmigen Samenkern (Fig. 10, 3 sk) um. Und jetzt beginnt — etwa 5 Minuten nach Vornahme der Befruchtung — ein interessantes, am lebenden Objekt gut sichtbares Phänomen das Auge des Beobachters zu fesseln. Die beiden im Ei vorhandenen Kerne setzen sich in Bewegung und wandern langsam, doch mit wahrnehmbarer Geschwindigkeit, aufeinander zu, als ob sie sich gegenseitig anzögen (Fig. 10, I—4, sk u. eik). Der durch das Spermatozoon neu eingeführte Samenkern verändert rascher seinen Ort; hierbei schreitet ihm die schon oben erwähnte Protoplasmastrahlung mit dem in ihr eingeschlossenen Certrosom voran und breitet sich dabei immer weiter in der Umgebung aus. Langsamer bewegt sich der etwas größere Eikern, der keine eigene Strahlung besitzt. Beide Kerne treffen sich etwa eine Viertelstunde nach Beginn der Befruchtung nahe der Mitte des Eies, legen sich immer fester zusammen und platten sich an der Berührungsfläche gegenseitig so ab, daß der Samenkern dem etwas größeren Eikern wie eine kleine Kalotte aufsitzt (Fig. 10,4 eik u. sk) ; schließlich verschmelzen sie vollständig untereinander zu einem Gebilde, das halb aus väterlicher, halb aus mütterlicher Substanz zusammengesetzt ist. Das Verschmelzungsprodukt muß daher wieder mit einem besonderen Namen als „Keimkern“ oder „Furchungskern‘“ unterschieden werden. Es liegt inmitten einer Strahlungsfigur, welche in der Umgebung des Centrosoms (Fig. 10, 3 c) entsteht, den Samenkern auf seiner Wanderung begleitet und sich allmählich durch die ganze Dottermasse bis an die Oberfläche ausbreitet (Fig. 10, 4). Mit der Ver- schmelzung der beiden Kerne ist der Befruchtungsprozeß beendet; durch ihn hat das Ei die Fähigkeit zu seiner Entwicklung erworben, welche gewöhnlich sofort mit einer neuen Reihe von Erscheinungen, dem Teilungs- oder Furchungsprozeß, beginnt. Die Befruchtungsvorgänge, die wir auf den vorausgegangenen Seiten vom Seeigel kennen gelernt haben, sind in den seit ihrer Ent- deckung verflossenen vier Jahrzehnten nicht nur von vielen Beobachtern an dem gleichen Objekt bestätigt, sondern auch an den Vertretern zahl- reicher anderer Tierformen, bei Cölenteraten, bei vielen Würmern und Mollusken, bei verschiedenen Arthropoden, bei Tunicaten und Wirbel- tieren, wie bei Amphioxus, bei der Forelle, dem Frosch, dem Triton, der Maus usw. in prinzipiell der gleichen Weise nachgewiesen worden. Dabei verdient noch ausdrücklich hervorgehoben zu werden, daß mit wenigen Ausnahmen Ei- und Samenkern vor ihrer Verschmelzung von ‚genau der gleichen Größe sind und dieselbe Masse von Kernsubstanz O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl. 2 98 Drittes Kapitel, besitzen. Wenn der Samenkern zuweilen etwas kleiner ist, so besteht er aus einer entsprechend kompakteren Substanz, da er sich noch nicht in demselben Grade wie der Eikern mit Saft durchdränkt hat. Es handelt sich daher um allgemein gültige oder gesetzmäßige Erscheinungen für das gesamte Tierreich. So ist denn auch der deduktive Schluß natur- wissenschaftlich voll berechtigt, daß der Befruchtungsprozeß in allen den Fällen, in denen er, wie im Ei des Menschen, der Beobachtung unzu- gänglich ist, sich ebenfalls in derselben Weise abspielen wird. In prinzipiell der gleichen Weise wie im Tierreich verlaufen .die Be- fruchtungsvorgänge auch im Pflanzenreich. Hier entspricht bei den Phanerogamen das Pollenkorn dem tierischen Samenfaden. Endlich werden Befruchtungsvorgänge auch bei niederen, einzelligen Lebewesen, z.B. bei Infusorien, Flagellaten, Rhizopoden, Algen, Pilzen etc. beobachtet; und auch hier konnte ein Austausch und eine Verschmelzung der Kerne der beiden kopulierenden Zellen nachgewiesen werden. Wenn wir das Gesamtergebnis aus diesen zahlreichen, die ganze ÖOrganismenwelt umfassenden Untersuchungen ziehen, so können wir sagen: Die Befruchtung hat zur Aufgabe, die Vereinigung zweier Zellen herbeizuführen, die von einem weiblichen und einem männlichen Individuum der gleichen Art ab- stammen; sie liefert durch ihre Verbindung die Anlage für eine neues Geschöpf, welches Eigenschaften von beiden Erzeugern darbietet. Der wichtigste Vorgang bei der Zell- verschmelzung ist aber offenbar die Vereinigung (Amphi- mixis) von Ei- und Samenkern. Zur Erfüllung dieser Aufgaben sind im Tierreich die beiderlei Geschlechtszellen während ihrer Entstehung in den weiblichen und männlichen Keimdrüsen in verschiedener Weise gleichsam vorbereitet und nach dem Gesetz der Arbeitsteilung in ent- gegengesetzter Richtung differenziert worden, in der Weise, wie es schon auf S. 58 beschrieben worden ist. Durch die „biologische Theorie der Befruchtung“,' wie ich die oben gegebene Fassung bezeichnet habe, ist jetzt auch ein be- friedigender Abschluß für eine alte Streitfrage gewonnen worden, welche einst während mehrerer Jahrhunderte zwischen der Schule der Ovisten und der Animalkulisten bestanden und eine große Rolle in der Geschichte der Wissenschaften (vgl. S. 8) gespielt hat. Denn wenn wir jetzt von dem Standpunkt unserer neu gewonnenen Erkenntnis des Befruchtungs- prozesses aus die sich widersprechenden Lehren der Ovisten und der Animalkulisten beurteilen und sie zu verstehen uns bemühen, so sehen‘ wir Wahrheit und Irrtum auf beiden Seiten in eigenartiger Mischung‘ Der Befruchtungsprozeß,. 99 verteilt. Wir begreifen zugleich, daß die alten Naturforscher in das Wesen der Befruchtung zu ihrer Zeit nicht tiefer einzudringen vermochten, nicht nur weil ihnen die Vorstellung vom elementaren Aufbau der Orga- nismen, vor allem auch der Begriff der Zelle als einer niederen Lei:*ns- einheit noch ganz fehlte, sondern auch weil sie in dem Dogma der Präfur- mation in einer die vorurteilslose Beobachtung hemmenden Weise be- fangen waren. Wie ich in einem in St. Louis gehaltenen Vortrag über die Probleme der Zeugungs- und Vererbungslehre schon bemerkt habe, „der Gedanke der Verschmelzung zweier Organismen zu einer neuen Einheit, durch welchen der Hauptstreitpunkt der beiden sich bekämpfen- ‚den Schulen in einfacher und der Wirklichkeit entsprechenden Weise würde beseitigt worden sein, konnte den Anhängern der Präformations- theorie nicht in den Sinn kommen. Denn wenn die Keime schon die Miniaturgeschöpfe sind, zusammengesetzt aus vielen Organen, wie sollte es möglich sein, daß sie sich paarweise zu einem einheitlichen Organismus verbinden und gleichsam mit ihren Organen und Geweben in eins zu- sammenfließen ?“ Unter der Herrschaft der. Präformationstheorie konnte es nur heißen: Entweder das Ei oder der Samenfaden ist das präformierte Geschöpf. Das eine schloß das andere aus. Für uns dagegen, die wir wissen, daß die Keime abgelöste Zellen der Eltern, also Elementarorganismen sind, trägt die Vorstellung der Amphimixis keine derartigen Schwierigkeiten in sich. Und im übrigen handelt es sich ja für uns auch um feste Tatsachen. Können wir doch die Vereinigung einer weiblichen und einer männlichen Zelle und sogar die Vereinigung ihrer einzelnen Bestandteile, besonders ihrer Kerne und der in ihnen eingeschlossenen Substanzen, direkt unter dem Mikroskop verfolgen. Mit der Erkenntnis der Möglichkeit einer Amphimixis wird zu- gleich die Erscheinung, daß die Kinder ihren beiden Erzeugern gleichen, ‚eine Tatsache, für welche die Naturforscher bis ins 19. Jahrhundert hinein keine rechte Erklärung zu geben wußten, unserem Verständnis näher gerückt. Die Kinder gleichen beiden, weil sie aus der Substanz von Vater und von Mutter oder mit anderen Worten, aus der Vereinigung einer väterlichen und einer mütterlichen Anlage hervorgegangen sind. An die Stelle der Miniaturgeschöpfe in der alten Lehre der Präformation sind jetzt in der biologischen Wissen- Schaft die Begriffe der Artzelle und der Anlage getreten, welche in der stofflichen Zusammensetzung und Organisation von Ei und Samen- faden gegeben ist. TE Ioo Drittes Kapitel. b) Die Kernidioplasmatheorie. Wer sich mit dem Studium der Vererbungserscheinungen inten- siver beschäftigt, wird zur Einsicht kommen, daß die beiderlei Keim- zellen in bezug auf die Vererbung elterlicher Eigenschaften einander durchaus gleichwertig sind. Wie in dem vorausgegangenen Kapitel schon besprochen wurde, setzt sich nach Ablauf der Befruchtung die im Ei gegebene Anlage eines Organismus nach der Auffassung der Erb- lichkeitsforscher, welche den von MENDEL betretenen Bahnen folgen, aus vielen Erbeinheiten zusammen, die je nach ihrer väterlichen und mütterlichen Herkunft zu Anlagepaaren miteinander verbunden sind. Mit dieser Vorstellung scheint nun aber die Tatsache, daß das Ei mit tausend- und millionenmal mehr Substanz als der Samenfaden an dem Entwicklungsprozeß des kindlichen Organismus beteiligt ist, in einem offenbaren Widerspruch zu stehen. Hier liegt daher ein Verhältnis vor, das der Erklärung bedarf. Der berühmte Botaniker NÄGELI hat das Problem zuerst aufgeworfen und in seinem gedankenreichen Werk: ‚Die mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre‘“ den Versuch einer Erklärung durch Aufstellung seiner vielumstrittenen Idio- plasmatheorie gemacht. In ihr unterscheidet er an den weiblichen und den männlichen Keimzellen zwei verschiedene Substanzen, ein Idio- plasma, das im Ei- und Samenfaden in gleicher Menge vertreten ist, und ein Ernährungsplasma, welches im Ei in sehr viel größerer Masse angehäuft ist. Das Idioplasma bezeichnet er als die Substanz, durch welche die erblichen Eigenschaften von Vater und Mutter als Anlagen auf das Kind übertragen werden. Er sucht seine Ansicht in folgender Weise zu begründen: „Idioplasma und gewöhnliches Plasma“ — so heißt es in seinem Buch — ‚habe ich als verschieden angegeben, weil mir dies der einfachste und natürlichste Weg scheint, um die ungleichen Be- ziehungen der Plasmasubstanzen zu den erblichen Anlagen zu begreifen, wie sie bei der geschlechtlichen Fortpflanzung deutlich werden. An die befruchtete und entwicklungsfähige Eizelle hat die Mutter hundert- oder tausendmal mehr Plasmasubstanzen, in denselben aber keinen größe- ren Anteil an erblichen Eigenschaften geliefert als der Vater. Wenn das unbefruchtete Ei ganz aus Idioplasma bestände, so würde man nicht be- greifen, warum es nicht entsprechend seiner Masse in dem Kinde wirksam wäre, warum dieses nicht immer in ganz überwiegendem Grade der Mutte ähnlich würde. Besteht die spezifische Eigentümlichkeit des Idioplasmz in der Anordnung und Beschaffenheit der Micelle, so läßt sich eine gleich große Erbschaftsübertragung nur denken, wenn in den bei der Be Beweise für die Kernidioplasmatheorie. IoI fruchtung sich vereinigenden Substanzen gleich viel Idioplasma ent- halten ist.‘ So wenig gegen den logischen Gedankengang von NÄGELI einzuwenden ist, so liegt doch eine große Schwäche der Theorie darin, daß von ihrem Urheber nicht der geringste Versuch gemacht worden ist, zu entscheiden, was in den Keimzellen Idioplasma und was Ernährungsplasma ist. Auch hier bleibt NÄcELI vollständig auf dem Boden der Hypothese stehen. Ausgehend von seiner Micellartheorie läßt er das Idioplasma aus Micellen zusammengesetzt sein, die in gesetzmäßiger fester Verbin- dung zu Fäden aneinander gereiht und ein mikroskopisch unsichtbares Netzwerk bilden, das sich durch den ganzen Zellkörper ausbreitet. Dagegen nimmt er für das dazwischen gelegene Ernährungsplasma einen großen Wasserreichtum und einen mehr lockeren Zusammenhang zwischen den Micellen an. Auf einen festen Grund und Boden ist die Idioplasmatheorie erst durch die mikroskopische Untersuchung des Befruchtungsprozesses und durch den hier geführten Nachweis gestellt worden, daß in der Tat eine Substanz, welche eine hervorragend wichtige Rolle im Entwick- lungsprozeß spielt und allen von der Hypothese gestellten Anforderungen entspricht,in den Kernert von Ei und Samenfaden enthalten ist. So konnte denn die Idioplasmatheorie auf das Kernplasma übertragen und zu einer Kernidioplasmatheorie umgebildet werden; sie wurde hierdurch ihres hypothetischen Charakters mehr und mehr entkleidet, an der Hand von Beobachtungstatsachen auf ihren Wert geprüft und für die Wissen- schaft erst eigentlich nutzbar gemacht. Beweise für die Kernidioplasmatheorie. Da die Aufgabe, welche der Kern im Leben der Zelle erfüllt, zum Gegenstand mikroskopischer Studien gemacht werden kann, läßt sich die Lehre, daß dem Idioplasma von NÄGELI die Kernsubstanz, besonders das Chromatin, entspricht, durch zahlreiche Erfahrungstatsachen näher begründen. Schon seit vielen Jahren habe ich in meinem Lelirbuch der Entwicklungsgeschichte und in meiner allgemeinen Biologie eine Anzahl Beweise zusammengestellt. Von ihnen sind die drei wich- tigsten: I. die Äquivalenz der männlichen und der weiblichen Erbmasse; 2. die gleichwertige Verteilung der sich vermehrenden Erbmasse ‚auf die aus dem befruchteten Ei hervorgehenden Zellen: [2 2 IO2 Drittes Kapitel, 3. die Verhütung der Summierung der Erbmasse durch den Re- duktionsprozeß bei der Ei- und Samenreife. Hierzu gesellen sich noch einige weitere Beweise von weniger all- gemeiner, aber gleichfalls entscheidender Bedeutung. Sie verdienen um so mehr eine kurze Besprechung, als die Berechtigung der Kern- idioplasmatheorie noch immer von einigen Seiten bestritten wird. ı. Erster Beweis durch die Äquivalenz der männlichen und‘ der weiblichen Erbmasse. Der leitende Gedankengang läßt sich in wenigen Sätzen dahin zu- sammenfassen: Auf Grund der Erfahrungen, die man beim Studium der Bastardzeugung, namentlich auf dem Gebiet der Mendelforschung gewonnen hat, sind Ei- und Samenzelle zwei einander gleichwertige Ein- heiten, von denen eine jede mit allen erblichen Eigenschaften der Art ausgestattet ist. Die Vererbung von Eigenschaften kann nur durch spe- zifisch organisierte Substanzen oder Erbmassen geschehen, welche den den Eltern eigentümlichen Lebensprozeß auf die Kinder übertragen. Da nun aber Ei- und Samenfäden sich bei gleicher Vererbungspotenz in der Masse ihrer Substanzen ganz kolossal unterscheiden, diese Sub- stanzen aber zugleich aus sehr heterogenen Bestandteilen aufgebaut sind, müssen wir mit NÄGELI zwei verschiedene Arten von Substanzen (idioplasmatische und nicht-idioplasmatisehe), unterscheiden, solche, die für die Vererbung vorzugsweise und solche, die weniger für sie in Frage kommen. Erstere müssen im Zellenleben eine führende, deter- minierende, letztere eine mehr untergeordnete Rolle spielen ; jene müssen daher in den beiderlei Geschlechtszellen als Träger der erblichen Eigen- schaften in nahezu gleich großer Masse enthalten sein, während die Quantität der nicht idioplasmatischen Stoffe in weitem Umfang variieren kann. Es kann nun nach dem Studium des Befruchtungsprozesses nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, daß Ei- und Samenkern bei der Vereinigung der beiden Keimzellen die einzigen Gebilde sind, welche äquivalente Stoffmengen enthalten und sie zur Bildung des Keimkerns vereinigen. Noch mehr als ihre gleiche Größe, auf die schon oben (S. 97) hingewiesen wurde, spricht hierfür die durch mühselige Untersuchungen festgestellte Tatsache, daß Eikern und Samenkern gleich viel Chromo- somen zum Aufbau der ersten Furchungsspindel liefern, mithin zu ihrer‘ Zusammensetzung den genau gleichen Anteil beitragen. Das klassische Beispiel, an welchem sich der Beweis hierfür am besten führen läßt, ist das Ei vom Pferdespulwurm. An ihm ist denn auch diese wichtige Tatsache von EDUARD VAN BENEDEN zuerst ermittelt worden. Da bei Beweise für die Kernidioplasmatheorie. 103 Ascaris megalocephala die Chromosomen von ganz auffallender Größe und zugleich an Zahl sehr gering sind, so konnte es ihm nicht entgehen, daß die vier Chromosomen der ersten Furchungsspindel (Fig. ır B) zur Hälfte (w.ch) vom Eikern, und zur anderen Hälfte (m.ch) vom Samen- kern (Fig. IT A eik u. sk) abstammen, daß die einen (Fig. ır A u. B w.ch) a Fig. II. Schema zur Kernidioplasmatheorie. A Befruchtetes Ei mit Ei- und Samenkern (ek u. sk). Jeder von ihnen enthält zwei Chromosomen, die zur Unter- scheidung ihrer mütterlichen (w.c) oder ihrer väterlichen (m.ch) Abstammung als helle oder schwarze Kreise dargestellt sind. 25!, 52° Polzellen; c Centrosom, B Befruchtetes Ei mit erster Teilspindel, deren vier Chromosomen zur Hälfte (w.ch) vom Eikern, zur anderen Hälfte (2.07) vom Samenkern abstammen. C Die weiblichen (w.ch) und die männlichen Chromosomen (».ck) vom Schema B haben sich der Länge nach gespalten und sind in zwei Gruppen von Tochterchromosomen auseinandergewichen. sö Spindel; c Centrosom. D Die beiden Teilhälften des Eies besitzen Tochterkerne, deren vier Chromosomen zur Hälfte vom Eikern (w.ch), zur anderen Hälfte vom Samenkern (m.ch) abstammen. Nach O. HERTwIıG. weiblicher, die anderen (m.ch) männlicher Herkunft sind. (Man vergleiche hierbei und im folgenden auch die Erklärung von Fig. ır A—D.) Wir ziehen somit aus den Tatsachen der Befruchtungslehre den wichtigen Schluß: Bei der Befruchtung sind die Kernsubstanzen (Chromatin) die einzigen an Masse äquivalenten Stoffe, die sich zu einer neuen An- lage, dem Keimkern, vereinigen. Sie entsprechen daher wie keine andere 104 Drittes Kapitel. Substanz der Keimzellen dem von NÄGELI aufgestellten Begriff des Idioplasma und müssen in erster Reihe als die von den Eltern auf das Kind übertragenen Erbmassen angesehen werden. 2. Zweiter Beweis aus der gleichwertigen Verteilung der sich vermehrenden Erbmasse auf die aus dem befruchteten Ei hervor- gehenden Zellen. Eine gleichwertige Verteilung der sich vermehrenden Erbmassen auf die aus dem befruchteten Ei hervorgehenden Zellen muß statt- finden, da jeder Körperteil, der im Laufe der Entwicklung entsteht, ja schließlich jede Zelle, ein Mischprodukt von Eigenschaften beider Eltern darstellt. Nach den Erfahrungen, die man beim Studium der ungeschlechtlichen oder vegetativen Vermehrung, der Regeneration usw., namentlich bei niederen pflanzlichen und tierischen Organismen, ge- sammelt hat, läßt sich diese Ansicht näher begründen und aus ihr folgern, daß die durch den Samenfaden eingeführte Anlagesubstanz des männ- lichen Erzeugers beim Furchungsprozeß jeder Embryonalzelle mitge- teilt werden muß. Auch in dieser Beziehung kennen wir aus Erfah- rungen, die in mikroskopischen Studien fest begründet sind, nur einen einzigen Prozeß, in dem wirklich die von der Theorie geforderte Ver- teilungsweise in der Tat vollständig verwirklicht wird, nämlich die Ver- mehrungs- und Verteilungsweise der Kernsubstanzen durch die Karyo- kinese. (Man vergleiche hierüber S. 61—64 und Fig. 5 A—D.) Beim Ei des Pferdespulwurms läßt sich dies bei der ersten Teilung des Eies mit aller nur wünschenswerten Sicherheit feststellen. Wenn Ei- und Samenkern, deren Beschaffenheit wir schon früher kennen gelernt haben, zusammen die erste Teilspindel bilden (Fig. ıı B), so wissen wir, daß von ihren vier Chromosomen zwei vom Eikern (w.ch), zwei vom Samen- kern (m.ch) abstammen. Da nun wie bei jeder Karyokinese die Chromo- somen sich im Stadium des Muttersterns ihrer Länge nach spalten, da hierauf ihre Spaltprodukte, die Tochterchromosomen, sich in der schon besprochenen Weise voneinander trennen (Fig. IIC w.ch u. m.ch), die Tochtersterne bilden und schließlich in den Aufbau der Tochterkerne der beiden neuen Zellen (Fig. II D w.ch u. m.ch) übergehen, so ist in diesem Fall der unumstößliche und wichtige Beweis geführt, daß beim ersten Teilakt des befruchteten Eies dem Tochterkern in jeder Teilhälfte genau die gleiche Menge Chromatin vom Eikern wie vom Samenkern zugeführt wird. Derselbe Vorgang wiederholt sich wahrscheinlich auch bei jedem späteren Teilungsschritt, so daß schließlich der Kern jeder Gewebszelle aus äquivalenten Mengen des durch Wachstum sich vermehrenden Chromatins mütterlicher und väterlicher Abkunft zusammengesetzt Beweise für die Kernidioplasmatheorie. IOo5 mn ist. Zwar läßt sich die Abstammung der Chromosomen später nicht mehr wie beim ersten Teilungsakt durch Beobachtung wirklich feststellen, aber nach dem, was wir von dem Wesen der Kernteilung (s. S. 63) wissen, läßt sich unsere Annahme als im höchsten Grade wahrscheinlich be- zeichnen, 3. Dritter Beweis: die Verhütung der Summierung der Erbmassen in der Reihe der Generationen durch den Reduktionsprozeß bei der Ei- und Samenreife. Wie es in der Mendelliteratur üblich ist (vgl. S. 77), wollen wir die Elterngeneration, die wir zum Ausgang unserer Betrachtung wählen, als P (Parentes) und jede in zweiter, dritter, vierter Linie usw. von ihr abstammende Generation als Fl, F?2, F?... Fan bezeichnen. Nun erhält jede Zelle der F!-Generation, die von der befruchteten Eizelle des Eltern- paares (P) abstammt, dieselbe Zahl von Chromosomen wie diese. Wenn daher durch Zeugung aus der F!- eine F?-Generation entsteht, müßte man erwarten, daß in dem befruchteten Ei der F!-Generation die doppelte Zahl von Chromosomen und die doppelte Chromatinmasse würde zusammenkommen müssen, als im befruchteten Ei der voraus- gegangenen P-Generation. Würde dann wieder eine Befruchtung bei der geschlechtlichen Zeugung der F?-Generation erfolgen, so müßte das Verschmelzungsprodukt ihrer Ei- und Samenzellen abermals die doppelte Chromatinmasse von F! oder die vierfache von P besitzen. So würde bei jeder neuen Zeugung durch den Befruchtungsprozeß die Chromatin- masse und ebenso die Zahl der sie aufbauenden Chromosomen in geo- metrischer Progression mit dem Quotienten 2, also 2, 4, 8, I6, 32 usw. anwachsen. Eine solche Summierung durch fortgesetzte Addition muß daher in der Natur durch irgendeinen Vorgang in besonderer Weise ver- hindert werden, da sich sonst bald ein kolossales Mißverhältnis zwischen Kernsubstanz und Protoplasma ergeben, ja überhaupt der Raum einer gewöhnlichen Zelle schon sehr bald gar keinen Platz mehr für dasChromatın darbieten würde. Dieselbe Betrachtung ist auf das Idioplasma anwendbar, wenn es auf jede Zelle durch Teilung vererbt und durch die von Gene- ration zu Generation erneut eintretenden Befruchtungsakte jedesmal verdoppelt werden würde. An und für sich würde zwar dadurch seine Erbqualität nicht verändert werden. Denn anstatt zweimal, würden alle einzelnen Anlagen viermal, achtmal und noch mehr vertreten sein. Aber es liegt auf der Hand, daß eine derartig progressive Massenzunahme nicht eine unbegrenzte sein kann. Auch NÄGELI und besonders WEIS- 106 Drittes Kapitel. . — MANN haben diese Schwierigkeit hervorgehoben und nach einer Erklärung gesucht. „Wenn bei der Fortpflanzung durch Befruchtung‘, bemerkt NÄGELI, „das Volumen des irgendwie beschaffenen Idioplasma sich verdoppelte, so würden nach nicht sehr zahlreichen Generationen die Idioplasmakörper so sehr anwachsen ‚daß sie selbst einzeln nicht mehrin einem Spermatozoid Platz finden. Es ist also durchaus notwendig, daß bei der digenen Fort- pflanzung die Vereinigung der elterlichen Idioplasmakörper erfolge, ohne eine den vereinigten Massen entsprechende, dauernde Vergrößerung dieser materiellen Systeme zu verursachen.‘ Namentlich aber hat sich WEISMAnN mit dem hier aufgeworfenen Problem eingehend beschäftigt und darzutun versucht, daß eine Summierung der Erbmasse durch einen Reduktionsprozeß verhütet wird, durch welchen die Erbmasse sich jedesmal vor der Befruchtung auf die Hälfte verkleinert. Er hält die theoretische Forderung einer bei jeder Generation sich wiederholenden Reduktion für so sicher begründet, „daß die Vorgänge, durch welche dieselbe bewirkt wird, gefunden werden müßten, wenn sie in den von ihm so gedeuteten Tatsachen noch nicht enthalten sein sollten‘. In der Tat vollzieht sich ein Vorgang, der als Reduktion des Chromatins und als eine Art Vorbereitung für den Befruchtungs- prozeß bezeichnet werden kann, während einer sehr interessanten Ent- wicklungsperiode der Keimzellen, welche ich als Ei- und Samenreife unterschieden habe. Ein vorzügliches Untersuchungsobjekt auch hierfür geben die Geschlechtsprodukte von Ascaris megalocephala ab. Durch einen genau durchgeführten Vergleich der Ei- und Samenbildung konnte ich an diesem Objekt zum erstenmal den Nachweis führen, daß die beim Ei schon längere Zeit bekannte Bildung der Richtungskörper oder Pol- zellen und die durch sie bewirkte Reduktion des Chromatins ihr voll- ständiges Gegenstück in der Samenreife findet. Um mit diesen fundamen- talen, für das Verständnis der Befruchtung und der Vererbungslehre wichtigen Tatsachen den Leser bekannt zu machen, will ich einen kurzen Überblick über die Oo- und Spermiogenese an dem Beispiel von Ascaris megalocephala geben. Strittige Fragen, die auf dem so viel bearbeiteten Forschungsgebiet noch über dieses und jenes oft sehr subtile Detail bestehen, sollen hierbei unberücksichtigt bleiben. Das Wesentliche bei der Ei- und Samenreife (Fig. 12) besteht in sehr auffälligen Veränderungen, welche das Chromatin in den Kernen der Samenmutterzelle (Spermatocyte) (S!) und der ihr entsprechenden Eimutterzelle (Oocvte) (O}) in einer Reihe aufeinander folgender Stadien Beweise für die Kernidioplasmatheorie, 107 erfährt. Wie bei einer gewöhnlichen Zellteilung beginnt das Chromatin, das während des Ruhestadiums des Kerns in Körnchen und Strängen im Saftraum ausgebreitet war, fadenförmige Chromosomen zu bilden. Ihre Zahl beträgt bei Ascaris megalocephala bivalens vier, wie in den Embryonalzellen des befruchteten Eies. Sie ordnen sich in einer Weise, die noch nicht über allen Einwand festgestellt ist, im wichtigen, schwer zu untersuchenden Stadium der Synapsis zu zwei Paaren an und beginnen sich zugleich ähnlich wie im Verlauf einer Karyokinese ihrer Länge nach in zwei Tochterchromosomen zu spalten. Infolgedessen sind zwei Ver- hältnisse geschaffen, wie sie bei gewöhnlichen Gewebszellen nicht be- ‚ obachtet werden: erstens bilden die Chromosomen zwei Vierergruppen oder Tetraden, in denen sie durch eine protoplasmatische Substanz (Linin) verbunden sind, eine Anordnung, die nur diesem bestimmten Stadium in der Oo- und Spermiogenese (Fig. 12 O! u. 5!) eigentümlich ist, und zweitens ist ihre Zahl infolge der Längsspaltung auf das Doppelte, also von 4 auf 8 vermehrt, wie es bei Gewebszellen erst auf dem Spindel- stadium kurz vor der Teilung, bei der Umwandlung des Muttersterns in die beiden Tochtersterne, geschieht. (Man vergleiche hierüber den ‘ Abschnitt über die Karyokinese.) Die so bemerkenswerte Anordnung der chromatischen Substanz in Vierergruppen findet dann später dadurch ihre Erklärung, daß zwei Teilungen anstatt einer, gleichsam als Schlußakt der Spermiogenese und Oogenese, rasch aufeinander folgen und daß zwischen ihnen das Ruhestadium des Kerns ausfällt, während sich sonst ein solches _ immer wieder bei einer gewöhnlichen Karyokinese ausbildet. Man kann daher wohl sagen, daß die chromatische Substanz im Kern der Ei- und Samenmutterzelle durch die Anordnung in Tetraden frühzeitig im voraus auf eine doppelte Teilung vorbereitet worden ist. Im einzelnen betrachtet, bietet der Vorgang der Samen- und Eireife, durch den sich die für uns so wichtige Reduktion der Kernsubstanzen vollzieht, interessante Verschiedenheiten dar, die im ganzen Tierreich mit auffallender Konstanz wiederkehren. Sie verdienen daher an der Hand des Schemas (Fig. 12) noch kurz besprochen zu werden. In den Samenmutterzellen, Spermatocyten (St), die erheblich kleiner als die dotterreichen Eier (0!) sind, liegt der bläschenförmige Kern mit den beiden Vierergruppen (£) in der Mitte und behält diese Lage auch bei, wenn er sich bei Beginn der Karyokinese in eine Spindel umwandelt (S? s!). Auf dem Spindelstadium trennen sich alsdann die zu den zwei Vierergruppen verbundenen Chromosomen in zwei _ Hälften und bilden so Paare oder Dyaden. Während die Paare nach ‚den Enden der Spindel auseinanderweichen, wird die Mutterzelle durch 108 Drittes Kapitel. Fig. 12. Erstes Stadium. O! und O®. Oocyte erster Ordnung mit 2 X 4 Chro- mosomen. S!und S?. Spermatocyte erster Ordnung mit2%X4 Chromosomen, Zweites Stadium. O®und O*. Ovocyte zwei- ter Ordnung und ers Polzelle. Jede mit 2X2 Chromosomen. S’ und St. 2 Spermato- cyten zweiter ÖOrdnun (Präspermatiden). Jed: mit 2X 2 Chromosom Drittes Stadium. 03 und O®%. Reifei 3 Polzellen. Jede mit 2 Chromosomen. S> und S®. 4 Sp : tiden. Jede mit 2 Chromt somen. S? Reifer Samenkörp mit 2 Chromosomen, Beweise für die Kernidioplasmatheorie. 109 Fig. 12. Schema zum Vergleich der Ei- und Samenbildung bei Nematoden. Nach ©. HERTwIG. 010% sind sechs aufeinanderfolgende Stadien aus dem Reife- prozeß des Eies. Unter jedem derselben ist das entsprechende Stadium aus der Sper- miogenese ‚S!—,S6 dargestellt. 0! Ovocyte erster Ordnung mit Keimbläschen, in welchem das Chromatin auf acht zu zwei Vierergruppen (Tetraden) verbundenen Chromosomen verteilt ist; ‚S! Spermatocyte erster Ordnung mit entsprechender Anordnung der acht Chromosomen; O®° Ovocyte mit der aus dem Keimbläschen entstandenen Kernspindel (Polspindel) mit 2X 4 Chromosomen; ‚S? Spermatocyte mit Kernspindel mit 2X4 Chromosomen; O° Ovocyte zweiter Orduung mit der ersten Polzelle. Bei der Kern- teilung hat jede Tochterzelle 2 X 2 Chromosomen erhalten, die paarweise (Dyaden) verbunden sind; ‚S? Teilung der Spermatocyte in zwei Präspermatiden mit 2X 2 Chromo- somen ; O* Ovocyte zweiter Ordnung in Vorbereitung zu einer zweiten Teilung (zweite Polspindel); ‚S* Vorbereitung der Präspermatiden zu einer zweiten Teilung; O® Reifei mit zweiter Polzelle 53°); erste Polzelle in zwei Tochterzellen geteilt (32° u. 52%); jede der vier Zellen enthält nur zwei einzelne Chromosomen; ‚S? die zweı Präspermatiden sind in vier Spermatiden geteilt, von denen jede ebenfalls nur zwei einzelne Chromo- somen enthält; 0% Reifei mit Eikern und drei Polzellen; S® die vier Spermatiden haben sich voneinander getrennt; ‚S? aus der Spermatide entstandener Samenkörper mit Kern und Glanzkörper; z Tetrade, Vierergruppe der Chromosomen; s5! erste Teilspindel der Ovocyte und Spermatocyte; d Dyade, Zweiergruppe der Chromosomen; s5? zweite Teil- spindel der Ovocyte und Spermatocyte zweiter Ordnung (Präspermatide); 23! erste Pol- zelle; 52” zweite Polzelle; 52° und 55* aus Polzelle ! entstandene zwei Tochterzellen ; eik Eikern; s2 Samenkern; g Glanzkörper der Spermatosomen. eine zur Spindelachse senkrecht gestellte und sie in derMitte schneidende Teilebene in zwei gleich große Tochterzellen (S?) zerlegt, deren jede vier zu Paaren (d) verbundene Chromosomen erhält. Diese ordnen sich sofort ohne Zwischenschaltung eines Ruhestadiums auf einer zweiten neuentstandenen Spindel an (S®); wieder weichen die Chromosomen in den Zweiergruppen in entgegengesetzten Richtungen auseinander und werden, indem abermals eine Teilebene zwischen ihnen die Tochter- zelle halbiert, auf je zwei Enkelzellen (S®) verteilt, die dann nur noch zwei Chromosomen, eins von jeder Zweiergruppe, besitzt. Auf diese Weise sind aus der Samenmutterzelle (Spermatocyte) (S!) durch doppelte Teilung vier gleich große Enkelzellen (Spermatiden) (S® u. S®) hervor- gegangen. Diese haben sich in die ursprünglichen acht Chromosomen, die in Vierergruppen angeordnet waren, genau geteilt und daher je zwei erhalten, von jeder Vierergruppe ein Element. Zuletzt wird die Samen- bildung dadurch vollendet, daß die vier Samenzellen (Spermatiden) sich allmählich zu den reifen Samenkörperchen (Spermatosomen) (S”) umwandeln. Ihnen fehlt bei Ascaris die charakteristische Fadenform, die den meisten Tieren eigen ist; denn ihre Gestalt ist mehr die eines Kegels oder einer Spitzkugel. Bei der Umwandlung verschmelzen die beiden Chromosomen der Spermatide zu einem kleinen, kompakten, _ kugeligen Kern, in dem wahrscheinıich auch das Centrosom der letzten Teilungsfigur, die Grundlage für das bei der Befruchtung wieder auf- tauchende Centrosom, mit eingeschlossen ist. IIO Drittes Kapitel. Bei der Eireife (Fig. 12 010%) spielen sich im Kern genau dieselben Vorgänge, wie sie oben beschrieben wurden, ab, aber die vier Zellen, die hierbei entstehen, fallen in ihrer Größe außerordentlich verschieden aus. Infolgedessen bieten hier die Reifeteilungen äußerlich ein ganz anderes Aussehen dar. Wenn in der großen dotterreichen Eimutterzelle Ovocyte (0!) der Kern oder, wie er hier gewöhnlich heißt, das Keim- bläschen sich in die Spindel umwandelt, so bleibt diese nicht in der Mitte des Eies liegen, sondern wandert bis an die Oberfläche empor und nimmt hier eine Stellung in der Richtung des Eiradius ein (O?s$!). An der Stelle, wo sie mit ihrem einen Ende die Eirinde berührt, wölbt sich hierauf der Dotter zu einem kleinen Hügel empor, in welchen gleichzeitig die Spindel zur Hälfte hineinrückt (0° #z!). Der Hügel wird alsdann an seiner Basis eingeschnürt und mit der in ihm eingeschlossenen Hälfte der Spindel vom übrigen Eiinhalt als ein winziges Kügelchen abgetrennt. Dasselbe führt von der Zeit her, wo es zuerst beobachtet, aber in seiner Bedeutung vollständig verkannt wurde, den Namen Richtungskörperchen oder Polzelle, Namen, die auch jetzt noch gebraucht werden. Den ersten gab man, durch die Wahrnehmung veranlaßt, daß von dem Orte aus, wo sich das Richtungskörperchen befindet, die erste Teilebene gebildet wird. Der zweite Name aber wurde gewählt, weil der Ort seiner Entstehung kein willkürlicher ist, sondern „bei Eiern, die nach ihrer inneren Organisation polar differenziert sind, dem animalen Pol entspricht, der bei der Ruhelage des Eies nach oben gerichtet ist. Der anımale Pol läßt sich daher aus der Lage der Polzellen sofort bestimmen. In früheren Zeiten war die Ansicht weit verbreitet, daß in den kleinen Kügelchen irgendein unbrauchbar gewordener Bestandteil aus dem Ei ausgestoßen werde, wobei man an das dem Untergang kurz zuvor verfallene Keimbläschen dachte. Sprach doch ein Forscher zur drastischen Bezeichnung dieses Standpunktes vom Richtungskörperchen als von dem Kot des Eies. Jetzt wissen wir auf Grund der eben beschrie- benen Vorgänge, daß es sich um eine wirkliche, durch Karyokinese gebildete, kleine Zelle handelt. Denn das Richtungskörperchen besitzt nicht nur alle Merkmale einer Zelle, Protoplasma und Kern, sondern ist auch durch einen wirklichen Teilungsprozeß aus einer Mutterzelle ent- standen. Allerdings sind in diesem Fall die Teilprodukte von sehr un- gleicher Größe; aber dies ist nur ein nebensächlicher Unterschied, der i sich weder gegen die Zellnatur der Kügelchen, noch gegen ihre Ent- stehung durch Zellteilung geltend machen läßt. Ungleiche (inäquale) Zellteilungen werden ja, wenn wir das ganze Tierreich überblicken, hier und da in allen möglichen Abstufungen beobachtet; sie werden als Beweise für die Kernidioplasmatheorie, III Knospung bezeichnet, wenn es sich um so erhebliche Größenunterschiede zwischen den Teilprodukten wie in dem vorliegenden Fall handelt, Die Polzelle ist daher eine Knospe, entstanden aus einer oft riesig großen - Mutterzelle, dem Ei. Sofort nach der Abschnürung der ersten Knospe - wiederholt sich derselbe Vorgang noch einmal. Die an der Oberfläche - des Dotters zurückgebliebene halbe Spindel mit ihren beiden Chromo- _ somenpaaren (0?) ergänzt sich, ohne in das bläschenförmige Ruhestadium - «des Kerns zuvor wieder eingetreten zu sein, rasch wieder zu einer vollen j Spindel (0% sh); wieder wölbt sich unter der ersten Polzelle ein kleiner protoplasmatischer Hügel empor, der die zweite Spindel wieder zur Hälfte - in sich aufnimmt, nachdem die beiden Elemente jeder Zweiergruppe sich in entgegengesetzter Richtung voneinander getrennt haben. Hierauf i schnürt sich der Hügel als Kügelchen ab (0° 52°). Im Ei bleiben mithin T jetzt von den acht Chromosomen der beiden Vierergruppen (0! u. O0? 2) - nur zwei zurück (0°), ein Element von jeder Gruppe; sie bilden die Grund- lage für den Eikern (0® eik), der sich von dem Keimbläschen des unreifen Eies so wesentlich unterscheidet und bei dem Befruchtungsprozeß ın der früher beschriebenen Weise eine wichtige Rolle spielt. Da nun gleich- zeitig auch die erste Polzelle oft noch einmal geteilt wird, liegen im ganzen drei Kügelchen dem reifen Ei auf (Fig. 12 0° u. 0% pz?, pz? u. p2*). Die Vergleichspunkte zwischen Ei- und Samenbildung liegen jetzt - klar zutage. Wie die Samenmutterzelle, hat sich auch die Eimutterzelle _ rasch hintereinander zweimal geteilt, so daß hier wie dort vier Zellen _ gebildet worden sind (0° und S®, 0% und S®). Dabei ist ebenfalls zwischen beiden Kernteilungen das Ruhestadium des Kerns, was bei gewöhnlichen Zellteilungen niemals geschieht, ganz ausgefallen. Hier (O0!) wie dort (St) sind die acht Chromosomen des Kerns, welche zu Vierergruppen (£) miteinander verbunden waren, in gleicher Weise auf die vier Enkelzellen ‚verteilt worden, so daß jede ein Element jeder Vierergruppe erhalten hat. (0% und S®). Nur in einem Punkt besteht zwischen Ei- und Samen- Bildung ein Unterschied. Es sind nämlich die vier Teilprodukte der Samen- m utterzelle, die Spermatiden, von genau derselben Größe (S®) und wandeln sich ohne Unterschied in befruchtungsfähige Samenkörper (5) um; ‚aus der Eimutterzelle dagegen sind vier sehr ungleich große Zellen ent- anden (0%): das Reifei, welches zur Befruchtung und zur Grundlage für einen neuen Organismus allein geeignet ist, und die drei kleinen Pol- zellen (52, dz® und 2%), welche für die weitere Entwicklung ohne jede "Bedeutung sind und allmählich zugrunde gehen. Diese können mit Recht als Abortiveier gedeutet werden, da sie, wie der Vergleich gelehrt 1at, in derselben Weise wie die vier Samenkörper von einer entsprechenden II2 Drittes Kapitel. Mutterzelle (Ovocyte, Spermatocyte) abstammen. Das . Rudimentär- werden der drei Polzellen läßt sich biologisch auch leicht verstehen, wenn wir uns der früheren Betrachtung erinnern, daß Ei- und Samenzelle für den Befruchtungs- und Entwicklungsprozeß mit verschiedenen Auf- gaben betraut und dementsprechend auch verschieden differenziert worden sind (S. 58). Da es beim Ei darauf ankommt, eine große Masse Nährmaterial während seines Wachstums ım Eierstock anzusammeln, so würde dieser Aufgabe im letzten Moment entgegengewirkt werden; wenn bei der Reife schließlich das Ei durch zwei Teilungen in vier gleich große Stücke zerlegt werden würde. Um diesen Verlust zu verhüten, dient der Kunstgriff der Natur, drei Zellen leer ausgehen zu lassen, damit von den vieren die eine für den Entwicklungsprozeß besser aus- gerüstet ist, ähnlich wie bei Fideikommissen ein Haupterbe auf Kosten aller übrigen bevorzugt wird. Man könnte hier den Einwurf machen, daß sich dieser Zweck in einfacherer Weise hätte erreichen lassen, wenn überhaupt die letzten Teilungen ganz unterblieben wären. Hierbei wird aber vergessen, daß diese Teilungen in anderer Richtung unentbehrlich sind, da durch sie ja erst das Mengenverhältnis der chromatischen Sub- stanz in ganz bestimmter Weise reguliert wird. Würden sie bei der Ei- bildung ausbleiben, so würde der Kern des Eies (Fig. ı2, O! ?) bei der Befruchtung ja viermal so viel Chromatin als der vom Samenfaden abstammende Samenkern (S®) besitzen und dadurch von ihm wesentlich verschieden sein. Die große theoretische Bedeutung der Ei- und Samenreife wird uns im Hinblick auf das schon früher (S. 62) besprochene Zahlengesetz der Chromosomen noch besser begreiflich werden. Das Gesetz lehrt, daß die Zahl der Chromosomen in allen Zellen einer Pflanzen- oder Tierart beim Auftreten einer Kernteilung immer genau die gleiche ist, mag es sich um eine Epidermis-, eine Knorpel-, eine Muskel-, Drüsenzelle usw. handeln. Dagegen zeigt bei verschiedenen Tierarten die Zahl der sich bildenden Chromosomen oft große Unterschiede; denn sie kann 2, 4, 6, 16, 24 usw. betragen. Von dem Zahlengesetz der Chromosomen weichen nun aber — und damit kommen wir zu dem für unsere Betrachtung wichtigsten Punkt — die reifen Ei- und Samenzellen bei Pflanzen und Tieren in gleicher Weise ausnahmslos ab. Denn im Ei- und Samenkern werden immer nur halb so viel Chromosomen als in den Kernen aller übrigen Zellen der betreffenden Tierart aufgefunden. Die einen sind‘ daher Vollkerne, die anderen nur Halbkerne in bezug auf ihren Chromatingehalt und die Zahl ihrer Chromosomen. Auch hierin handelt es sich um eine gesetzmäßige Erscheinung, die dur Beweise für die Kernidioplasmatheorie, II3 zahlreiche Untersuchungen an den Vertretern der verschiedenartigsten Tierabteilungen nachgewiesen worden ist. Bei Berücksichtigung dieser Verhältnisse wird es uns jetzt so- fort klar, warum bei der Reifung der Eizelle die Bildung der Polzellen, trotzdem sie nur abortive oder rudimentäre Eier sind, nicht ganz unter- drückt werden konnte. Denn die bei ihrer Bildung stattfindenden Kernteilungen sind not- wendig, um die für die reifen Geschlechtsprodukte gesetzmäßige Regu- lierung der Chromosomenzahl herbeizuführen. Unsere ganze Betrachtung über die Ei- und Samenreife können wir daher in das allgemeine Ergebnis zusammenfassen: Durch die außerordentlich früh eintretende Anordnung der chromatischen Substanz in Vierergruppen, - durch die Verteilung der vier Chromosomen einer Gruppe auf vier Zellen durch zwei sich ohne Pause aneinander an- schließende Teilungen — nämlich bei der Samenreife (Fig. ı2, 55 auf vier Spermatiden (S®), bei der Eireife (Fig. ı2, 0:—0®), auf das Reifei (0% eik) und auf drei Polzellen (0® pz?, 2? und 2%) wird die Masse des Chromatins sowie die Zahl der Chromosomen auf die Hälfte dessen herabgesetzt, was andere Zellen nach einer Teilung erhalten. Mithin sind Ei- und Samenkern in bezug auf die Masse des Chromatins und auf die Chromosomenzahl nur Halbkerne. Dem gesamten Vorgang hat man in der embryologischen Literatur den passenden Namen ‚Reduktionsprozeß‘‘ gegeben. Gewöhnlich ver- . bindet man mit ihm die Vorstellung, daß gleichzeitig mit der Halbierung _ des Chromatins nach: Masse und Zahl seiner geformten Elemente eine qualitativ ungleiche Verteilung seiner Bestandteile verbunden ist. Auf diese legen viele Forscher sogar das Hauptgewicht. Es ist aber wohl klar, daß durch die mikroskopische Untersuchung nur die quantitative Reduktion nachgewiesen und sichergestellt ist. Eine ‚‚qualitative Sonde- rung“ dagegen kann ja bei der Chromatinverteilung nicht mikroskopisch gesehen, sie könnte nur auf Grund physiologischer Erwägungen, auf die später noch einzugehen sein wird, angenommen werden; daher trägt sie auch im Verhältnis zu jener einen mehr hypothetischen Charakter. Aus den kurz zusammengefaßten Tatsachen läßt sich schon klar ersehen, warum wir in ihnen einen dritten Beweis zugunsten der Kern- idioplasmatheorie zu erblicken haben. Ei- und Samenreife stehen, indem Halbkerne durch den Reduktionsprozeß gebildet werden, in einem Gegensatz zum Befruchtungsprozeß, der in einem der Reduktion ent- gegengesetzten Sinne wirkt. Dadurch, daß bei der Befruchtung ein O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl. 8 II4 Drittes Kapitel. Samenkern in das Ei eingeführt wird, der mit dem Eikern verschmilzt und seine Chromatinmasse verdoppelt, wird aus:zwei Halbkernen erst wieder ein Vollkern hergestellt, von dem dann alle Kerngenerationen des neuen Geschöpfes abstammen. Wenn in einer Zelle eine Reduktion der Kernsubstanz stattgefunden hat, dann muß, wenn anders der für eine Tierart typische Chromatinbestand in den aus ihr entstehenden Zellgenerationen gewahrt werden soll, eine Befruchtung oder ein ihr gleichartiger Prozeß hinzutreten. Eine reduzierte Zelle kann daher als eine befruchtungsbedürftige angesehen werden. Und umgekehrt muß aus denselben Gesichtspunkten, wenn eine Ver- schmelzung zweier Zellen durch Befruchtung erfolgt ist, der aus dem Ver- schmelzungsprodukt (Zygote) hervorgehende Organismus vor Beginn einer neuen Befruchtungsperiode eine Reduktion seiner Keimzellen erfahren, damit einer Summation der Kernmasse durch Befruchtung entgegengewirkt wird. Durch die mikroskopischen Entdeckungen beim Studium des Zeugungsprozesses ist daher tatsächlich ein Verhältnis nachgewiesen worden, auf welches NÄGELI in seiner spekulativen Idio- plasmatheorie vermutungsweise hingewiesen hat, gewiß ein schöner, 3 Beweis für die Richtigkeit der Ansicht, daß die Kerne die Träger des Idioplasmas sind. 4. Weitere Beweise. Zu den drei eben besprochenen Hauptbeweisen für die Kernidio- plasmatheorie gesellen sich noch einige Nebenbeweise hinzu: Einer von ihnen läßt sich aus den Vererbungsexperimenten von MENDEL herleiten, besonders aus seiner schon früher auf S. 8ı erörterten Spaltungsregel. Ihr zufolge sollen die im Bastardidioplasma enthaltenen Anlagepaare sowohl bei der Ei- wie bei der Samenbildung wieder voneinander getrennt und in gleichem Zahlenverhältnis auf die weiblichen und die männlichen reifen Keimzellen verteilt werden. Schon von vielen Forschern ist her- vorgehoben worden, daß der Reduktionsprozeß ein Vorgang sei, der in jeder Beziehung die Bedingungen zur Trennung und verschiedenartigen Verteilung der Anlagen gewährleiste. Die sich auf diese Weise ergebende Übereinstimmung zwischen morphologischen und physiologischen Beob- achtungsreihen, die vollständig unabhängig voneinander gewonnen worden sind, läßt sich ebenfalls als ein gewiß nicht unwichtiges Argument zu- gunsten der Kernidioplasmatheorie verwerten. - Außerdem aber gestattet uns die Mendelforschung auch einige bemerkenswerte Rückschlüsse auf die Konstitution des Idioplasma zu machen. Die Erbeinheiten müssen, um ihre Neuverteilung nach der Spaltung in der F?- und F3-Generation zu erklären (vgl. S. 85 bis 91), Beweise für die Kernidioplasmatheorie. II5 2 A. r _ eine gewisse Selbständigkeit in der Weise besitzen, daß sie neue Kom- 2 binationen untereinander einzugehen vermögen; sie können sich daher untereinander nicht in einem starren Verband befinden, der keine Ver- _ änderung zuläßt. Wenn also beim Reduktionsprozeß, wie man bei Über- tragung der Spaltungsregel auf ihn annehmen muß, wieder eine Trennung des Idioplasma in zwei Hälften stattfindet, so sind diese, streng genommen, - nicht mehr die rein elterlichen Idioplasmen, die durch den Befruchtungs- - prozeß zum kindlichen Idioplasma und bei Bastardierungen zum Bastard- _ idioplasma verbunden und durch Karyokinese von Zelle zu Zelle verteilt worden sind; es sind vielmehr zwei Idioplasmen, die sich durch einen vorausgegangenen Austausch von Erbeinheiten und durch ihre neue _ Kombination, ferner durch gegenseitige Beeinflussung der Anlagepaare und noch in anderer Weise verändert haben. Es entsprechen also die bei der Befruchtung miteinander verbundenen elterlichen Idioplasmen, um uns eines von DE VRIES gebrauchten Bildes zu bedienen, nicht zwei Personen, die vereint eine Strecke Weges in gemeinsamer Wanderschaft zurücklegen, nach einiger Zeit aber voneinander Abschied nehmen und sich eine jede einen neuen Begleiter für die nächste Wegstrecke suchen. Vielmehr lassen sich in einer mehr zutreffenden Weise, wie mir scheint, - die zwei Idioplasmen zwei Heerscharen vergleichen, die sich zu gemein- samer Aktion verbunden haben und während derselben einen Austausch in ihrem Personenbestand vornehmen und auch neue Formationen bilden, bei ihrer späteren Trennung aber diese Veränderungen nicht wieder rück- gängig machen. Da die Chromosomen schon wegen ihrer geringen Zahl, abgesehen von anderen Gründen, als ganze Gebilde nicht Träger der mendelnden Eigenschaften sein können, müssen sie als taktische Ver- bände viel kleinerer Einheiten aufgefaßt werden, die sich in ihrer Zusam- 'mengruppierung verändern und als Erbeinheiten (Gene) untereinander austauschen können. Zugunsten der Kernidioplasmatheorie ist ferner auch eine Art von apagogischem Beweis, d.h. ein Beweis e contrario, mit aufzuführen. Er betrifft den von gegnerischer Seite oft erhobenen Einwand, daß kein Grund vorliege, dem Kern vor dem Plasma einen Vorzug einzu- räumen; denn die im Mittelstück und kontraktilen Faden des Sperma- tozoon enthaltene protoplasmatische Substanz mische sich bei der Be- fruchtung doch auch dem Eiplasma bei, sie könne sich vermehren und auf alle Tochterzellen verteilen, wenn sich dies auch nicht direkt habe beobachten lassen. Auch dieser Einwand ist nach dem gegenwärtigen Stand der exakten Forschung hinfällig geworden. Denn es ist jetzt durch Eu g* II6 Drittes Kapitel. Beobachtungen festgestellt, daß Mittelstück und Faden bei der Vererbung keine derartige Rolle spielen können. In einer wichtigen, mit zuverlässigen Methoden ausgeführten Unter- suchung der Befruchtung der Seeigeleier hat MEVES nachgewiesen, daß der aus Chondriosomen bestehende Teil vom Mittelstück des Samen- fadens sich nach seinem Eindringen unverändertim Ei erhält und während der ersten Teilung nur in eine der beiden Tochterzellen gerät. Dasselbe wiederholt sich auch noch in einer ganzen Reihe der nächstfolgenden Teilungen. Das Mittelstück nimmt auch jetzt noch am Vermehrungs- prozeß der Zellen nicht teil und wird als Ganzes immer nur in eine der Tochterzellen aufgenommen. Während also die Kernsubstanz äquivalent auf alle Tochterzellen verteilt wird, ist dies ganz sicher bei den übrigen Bestandteilen des Samenfadens nicht der Fall. Wenn das Ei z. B. in 32 Zellen zerfallen ist, findet sich nur in einer von ihnen das Mittelstück. An der Richtigkeit dieser Untersuchungen ist um so weniger zu zweifeln, als MEvES sie unternommen hatte in der Erwartung, das Gegenteil durch sie beweisen zu können. Was ferner das Schicksal der kontraktilen Geißel des Samenfadens im Ei betrifft, so liegen hierüber zwei Angaben von VAN DER STRICHT und von Lams vor. Der eine hat am Ei der Fledermaus, der andere am Ei des Meerschweinchens nachgewiesen, daß der Schwanz des Samen- fadens noch längere Zeit nach der Befruchtung bestehen bleibt und bei der ersten Teilung gleichfalls nur einer der beiden ersten Tochterzellen zugeteilt wird. In meinen Augen sind derartige Beobachtungen, denen sich jetzt, wo die Aufmerksamkeit auf diesen Punkt gerichtet ist, wohl bald ähnliche anreihen werden, ein wichtiger indirekter Beweis dafür, daß die Bedeutung eines Idioplasma nur der Kernsubstanz zukommen kann. Denn alle übrigen Substanzen, die noch im Samenfaden vorkom- men, wenn wir von dem in mancher Hinsicht noch rätselhaften Centrosom absehen, erfüllen schon von vorherein nicht die Grundbedingungen, die man an eine Vererbungssubstanz stellen muß, nämlich die Bedingung, daß sie bei der Zellteilung auf die Embryonalzellen gleichmäßig ver- teilt wird. c) Zusammenfassung. Wenn wir zum Schluß noch das Ergebnis aus allen morphologischen und physiologischen Erörterungen des dritten Kapitels ziehen, so haben wir in der „Artzelle‘‘ einen Organismus zu erblicken, der uns im kleinsten Raum, wie in der Substanzmasse des winzigen Samenfadens, eine solche 4 Zusammenfassung. 117 Fülle von stofflichen Verschiedenheiten und Leistungsmöglichkeiten oder Potenzen birgt, daß sein Studium für die Biologie ein unerschöpf- liches, aber auch für unsere Forschungsmittel ein kaum angreifbares zu nennen ist. Da der Organismus der Zelle auf Verbindungen des Stoffes beruht, die aller Voraussicht nach komplizierter als die Moleküle der organischen Chemie sind und mit den gewöhnlichen chemischen Metho- ‘den nicht analysiert und noch viel weniger synthetisch dargestellt werden können, so habe ich sie von den chemischen als biologische unterschieden (siehe S. 46). Eine solche Unterscheidung ist auch aus logischen Gründen notwendig im Hinblick auf die Leistungen, welche die Artzelle als Anlage eines noch zusammengesetzteren Organismus uns im Entwicklungs- prozeß offenbart. Denn in diesem betätigen die biologischen Verbin- dungen in der Hervorbringung der allerverschiedenartigsten und kompli- ziertesten Gestaltungen, wie eines Auges oder Hirns, Potenzen, denen der Chemiker in den Eigenschaften seiner chemischen Verbindungen - auch nicht im entferntesten etwas Ähnliches an die Seite stellen kann. Die biologischen Verbindungen mußten wir nach den Aufgaben, die sie im Zellenleben darbieten, in drei Gruppen sondern. Die eine Gruppe von ihnen ist das Zellplasma. Es vermittelt - die gröberen Vorgänge des Stoffwechsels, die Umwandlung der von außen bezogenen, chemischen Stoffe in biologische Verbindungen, welche dem Wachstum und den Arbeitsleistungen der Zelle dienen. Auch noch in anderer Beziehung unterhält es durch seine Reizbarkeit und ver- - schiedenartigen Reaktionen den Verkehr mit der Außenwelt. Wegen - seiner erstgenannten Hauptaufgabe ist es als Ernährungsplasma von NÄGELI benannt worden. Eine zweite Gruppe der biologischen Verbindungen ist das Kerm- idioplasma. Eingehüllt in ein besonderes, von einer Membran umschlos- senes Bläschen und in der Mitte des Ernährungsplasma geborgen, ist es den gröberen Vorgängen des Stoffwechsels und dem unmittelbaren - Verkehr mit der Außenwelt entzogen. Wie die Chemiker in einem sehr zusammengesetzten organischen Molekül einen besonderen Kern unter- - scheiden, dem minder wichtige Atomgruppen mehr locker angelagert und durch andere ersetzbar sind, so läßt sich auch die zweite Gruppe im wahren Sinne des Wortes als der Kern der biologischen Verbindungen bezeichnen, welcher das eigentliche Wesen der Artzelle ausmacht und bei allen Fragen der Vererbung die Hauptrolle spielt. Sie ist der Träger - der Erbeinheiten, an welche die prospektiven Potenzen bei der Entwick- lung der Artzelle geknüpft sind. Sie entspricht dem in NÄGELıis Hypothese ; ; - aufgestellten Begriff des Idioplasma. Zu ee ee EI —— nz Se ai El CARE u se II Drittes Kapitel. Zusammenfassung. Eine dritte Gruppe endlich besteht aus den Verbindungen, die durch das Zusammenwirken von Protoplasma und Kern oder durch die formative Tätigkeit der Zellen, wie es MAx SCHULTZE ausgedrückt hat, für besondere Einzelaufgaben im Leben der Zelle gebildet werden, wie Chlorophyll, Pigment und Stärkekörner oder Sekret- und Dotter- körner, wie Zellmembranen und Grundsubstanzen, ferner wie Binde- gewebs-, Muskel- und Nervenfibrillen. Schon der englische Histologe BEALE hat in der ersten Epoche der Zellenlehre den hier zutage tretenden Unterschied, der für die Wertung der die Gewebe aufbauenden Substanzen so wichtig ist, klar erkannt und ihn durch die Worte „forming matter und formed matter‘ scharf gekennzeichnet. Der Ausgangspunkt und die Grundlage für den Lebensprozeß bilden Zellplasma und Kernplasma oder BEALE’s forming matter; alle anderen Substanzen entstehen erst im Lebensprozeß der Zelle als ihre Bildungsprodukte, sind also formed matter. Viertes Kapitel. Die allgemeinen Prinzipien, nach denen aus den Artzellen die vielzelligen Organismen entstehen. Nachdem wir uns’im dritten Kapitel mit dem Begriff der Artzelle und ihrer Organisation von den verschiedensten Gesichtspunkten aus beschäftigt haben, lautet unsere nächste Aufgabe: nach welchen Prin- zipien entwickeln sich aus den Artzellen die in ihnen schon der Anlage nach vorausbestimmten, komplizierter gebauten, vielzelligen Organismen ? Wir betreten damit ein Gebiet, das in hohem Maße einer direkten natur- wissenschaftlichen Untersuchung zugänglich ist. Dank der Vervoll- kommnung der Mikroskope und der mikroskopischen Technik hat das Studium der Ontogenie der Pflanzen und der Tiere seit 100 Jahren uns über Dinge aufgeklärt, die früher den größten Naturforschern unüber- steigbare Schwierigkeiten bereiteten. Ein imposantes Lehrgebäude von Kenntnissen ist entstanden, welche die Zukunft noch nach vielen Rich- tungen weiter vermehren und ausbauen wird. Indem wir nach dem Plan dieses Werkes von allen Detailfragen absehen, beschränken wir uns im vierten Kapitel auf die Besprechung von fünf allgemeinen, wichtigen Entwicklungsprinzipien. Dieselben sind: ı. das Prinzip der Zellenver- mehrung und der durch Potenzierung bewirkten Mannigfaltigkeit, 2. das Prinzip der Arbeitsteilung und Differenzierung, 3. das Prinzip der Integration, 4. das Prinzip der Korrelation oder Koadaptation in der Entwicklung, 5. die Mittel und Wege, durch die eine gegenseitige Beeinflussung der Zellen und der durch sie gebildeten Teile im viel- zelligen Organismus stattfinden kann. I. Das Prinzip der Zellenvermehrung und der durch Potenzierung bewirkten Mannigfaltigkeit. . Das Vermögen der Zelle, sich auf dem Wege der Teilung ins Unbe- grenzte zu vermehren, dient zwei verschiedenen Aufgaben. Einmal I20 Viertes Kapitel. sichert es den Fortbestand des Organismenreichs, das in der Aufeinander- folge der Generationen aus Keimzellen, die von anderen Zellen abstammen (omnis cellula a cellula), immer wieder neu erzeugt wird. Zweitens aber bildet das Teilungsvermögen der Zellen dadurch, daß die von einer gemeinsamen Artzelle entsprungenen Nachkommen zu einem Verbande vereint bleiben und einen Entwicklungsprozeß durchmachen, die Grund- lage für die ungeheure Formenmannigfaltigkeit der vielzelligen Pflanzen und Tiere. Zellen der letzten Art wollen wir im folgenden, um einen kurzen Ausdruck der Verständigung zu haben, zuweilen auch mit dem von WEISMANN eingeführten Wort „somatische Zellen“ bezeichnen. In dem einen Fall beruht auf dem Teilungsvermögen die Erhal- tung, im zweiten Fall die Ausgestaltung der Art zu einem höher differen- zierten Organismus mit gesteigerter Leistungsfähigkeit. In der. richtigen Beurteilung des Prinzips der Zellenbildung liegt zugleich der Schlüssel zur Entscheidung der alten und jetzt wieder neu aufgeworfenen Streit- frage, ob man die Ontogenese als einen präformistischen oder als einen epigenetischen Prozeß oder auch als keinen von beiden aufzufassen hat, Logische Erwägungen, unzählige Beobachtungen und beweis- kräftige Experimente drängen zum Schluß, daß jede Teilung einer Artzelle nur wieder Tochterzellen der gleichen Art liefern kann, mögen sie zum Zweck der Fortpflanzung oder zum Aufbau eines vielzelligen Repräsentanten der Art verwandt werden. Eine solche Teilung soll als eine erbgleiche bezeichnet werden; denn sie betrifft vor allen Dingen die Substanz, welche nach dem im dritten Kapitel gelieferten Beweis das Wesen der Art repräsentiert und als Erbmasse oder Idio- plasma von einer zur anderen Generation überliefert wird. Im Hinblick auf die Meinungsverschiedenheiten, die über die erbgleiche Natur der Zellteilung zurzeit noch bestehen, scheint es mir notwendig, einige Be- weise für sie zusammenzustellen, a) Die einzelligen Lebewesen und die Keimzellen der Pflanzen und Tiere. Daß Art nur wieder gleiche Art erzeugt, kann auf Grund unzähliger Erfahrungen als ein unbestrittenes Gesetz der Biologie betrachtet werden. Eine heterogene Zeugung, an welche in früheren Zeiten zuweilen ge- glaubt wurde, hat sich in allen Fällen, die hierfür angeführt wurden, als ein Irrtum herausgestellt. So wurden die beweglichen Schwärmsporen bei niederen Pflanzen, deren Entdeckung den Botaniker UNGER zu dem Ausspruch: „die Pflanze im Momente der Tierwerdung“ veranlaßte, Die einzelligen Lebewesen und die Keimzellen der Pflanzen und Tiere. 121 bald als Fortpflanzungszellen erkannt, aus denen sich wieder die gleichen _ Pflanzen entwickelten. Nicht minder hat der Generationswechsel der - Hydromedusen, der Trematoden und Cestoden, in dem zwei Lebens- formen von durchaus verschiedenem Aussehen alternierend auseinander ‚hervorgehen und als Beispiele einer heterogenen Zeugung gedeutet werden konnten, seine befriedigende, allgemein anerkannte Erklärung - inder Weise gefunden, daß es sich auch hierbei nicht um zwei verschiedene - Arten von Lebewesen, sondern nur um zwei verschiedene Formzustände ein und derselben Art, also um eine Metamorphose aufeinander folgender Individuen ein und desselben Zeugungskreises handelt. Wir könnten somit das Thema, daß alle zur Erhaltung der Art bestimmten Zellen ‚durch erbgleiche Teilung aus vorausgegangenen Mutterzellen entstanden sein müssen, schon verlassen, wenn nicht ein auch für die folgende Er- örterung wichtiges Verhältnis noch unsere besondere Beachtung verdiente. Dasselbe läßt sich in den Satz zusammenfassen: Zellen, die nachge- wiesenermaßen durch erbgleiche Teilung von einer gemeinsamen Artzelle abstammen und daher durch den Besitz des vollen Idioplasma einander _ entsprechen, können in ihrer äußeren Form trotzdem ein sehr verschie- - denes Aussehen darbieten. Dies gilt sowohl für viele Einzelligen als für - die Fortpflanzungszellen bei Pflanzen und Tieren. Für die Einzelligen führe ich zur Erläuterung zwei Beispiele an, die Acinete Podophrya gemmipara und die Gregarinen. Die zur Klasse der Infusorien gehörige Podophrya sitzt im aus- gebildeten Zustand mit einem langen Stiel an anderen Körpern fest und ist am entgegengesetzten Mundpol mit Saugröhren ausgestattet. Sie pflanzt sich durch Bildung kleiner Knospen fort, die auf ihrer Ober- fläche nach Art freischwimmender, hypotrischer Infusorien (Fig. 13 Aa) bewimpert sind. Diese sind dem Mutterorganismus durchaus unähnlich, bewegen sich eine Zeitlang als Schwärmer im Wasser fort (Fig. 13 b), setzen sich später irgendwo fest und entwickeln nun einen Stiel, Tentakeln und Saugröhren, wodurch sie erst allmählich wieder die Form des Mutter- tieres gewinnen. Die Gregarinen (Fig. 14) sind große, in zwei Stücke, Protomerit und Deutomerit, gegliederte Zellen mit einer oberflächlichen Cuticula und einer Lage Muskelfibrillen unter ihr. Sie encystieren sich nach voraus- gegangener Konjugation und zerfallen dann unter Teilung des Kerns in zahlreiche, charakteristisch geformte Pseudonavicellen, die sich hierauf noch in die sichelförmigen Keime teilen. Aus den außerordentlichen kleinen Keimzellen entwickeln sich allmählich wieder die so ganz anders ‚gestalteten Gregarinenzellen. Viertes Kapitel. So lassen sich noch viele derartige Metamorphosen von einzelligen Organismen anführen, wobei die Arteigenschaften durch erbgleiche. Tei- lung auf äußerlich sehr verschiedene Zellenformen einfach übertragen ‚werden. Derartige Verhältnisse bei den Einzelligen sind ein schlagender Beweis, wie unrichtig es wäre, wenn wir aus dem Umstand, daß eine Zelle eine besondere Differenzierung erfahren und dadurch gewissermaßen ein neues Kleid erhalten hat, also aus dem verschiedenen Aussehen zweier Fig. 13A und B. A Podophrya gem- mipara mit vielen Knospen. a Knospen, die sich ablösen und zum Schwärmer werden. N Kern. 5 Schwärmer von Podophrya gemmipara. Nach R. HERTWIG, Zoologie. Fig. 14. Gregarinenentwicklung. I Clep- sidrina blattarum in Konjugation. c# Ekto- sark. en Endosark. cz Cuticula. 22 Pro- tomerit. dm Deutomerit. z Kern. II A—C Cysten in Umwandlung zu Pseudonavicellen. pr Pseudonavicellen- r% Restkörper. IITA Eine Pseudonavicelle stärker vergrößert. B Dieselbe geteilt in die sichelförmigen Keime sk. Nach R. HERrTwIG, Zoologie. Zellen, die Folgerung ziehen wollten, daß dann notwendigerweise auch eine Veränderung der Arteigenschaften eingetreten sein müsse. Denn wenn diese überhaupt an eine Substanz gebunden sind, die als Erbmasse von dem Mutter- auf den Tochterorganismus übertragen wird, so müssen die infusorienartigen Schwärmer der Acineten und die sichelförmigen Keime der Gregarinen sie besitzen, obwohl sie vom Mutterorganismus äußerlich nach Form und Größe eine Zeitlang total verschieden sind; sie wandeln sich ja wieder in eine Acinete oder Gregarine oder in die Form um, von der sie selbst als Keime abstammen. Die Teilung der Artzelle etc. 123 Ebenso wie in den zwei Beispielen aus dem Protistenreich, können bekanntlich auch bei Pflanzen und Tieren die Fortpflanzungszellen einer Art, obwohl sie durch erbgleiche Teilung das gleiche Idioplasma besitzen, doch in ihrer äußeren Form die auffälligsten Unterschiede darbieten. Ich erinnere nur an die riesengroßen kugeligen Eier der Tiere (Fig. I), verglichen mit den fadenförmigen, unendlich kleinen Spermien (Fig. 2) oder an die Eizellen der Phanerogamen verglichen mit den kleinen Pollenkörnern, die sich in eine dicke doppelte und mit Stacheln oder anderen Skulpturen versehene Cellulosehaut eingehüllt haben. Auch diese Erwägungen sprechen somit zugunsten der Theorie, deren Richtigkeit im dritten Kapitel zu beweisen versucht wurde, daß in den Artzellen idioplasmatische und nicht-idioplasmatische Substanzen unterschieden werden müssen, und daß letztere ein sehr verschieden- artiges Aussehen auch den idioplasmatisch gleichen Zellen aufprägen können, wie den Gregarinen und ihren Pseudonavicellen oder wie den Eiern und den Samenfäden derselben Spezies. Infolgedessen kann es sich auch ereignen, daß nach ihrer Anlage gleiche Zellen sich zwar erbgleich teilen, aber trotzdem äußerlich ungleichwertige Tochterzellen liefern, wie die Knospen, die sich von der Acinete Podophrya abtrennen und zu Schwärmsporen werden. Ihre Ungleichheit beruht hier nur auf - dem differentiellen Verhalten aller nicht-idioplasmatischen Substanzen. Eine besondere Besprechung und Erklärung verlangt noch Drspreeilıng der Artzelle, die zur Entstehung eines vielzelligen Repräsentanten der Art dient. Bei Prüfung aller Verhältnisse scheint es mir auch in diesem Fall nicht zweifelhaft zu sein, daß die Teilung der Zellen nur eine erbgleiche sein kann. Denn es handelt sich doch hierbei schließlich auch nur um einen Fortpflanzungsakt des elementaren Zellenorganismus, für den der oben angeführte Satz, daß Art nur wieder gleiche Art erzeugt, ebenfalls gelten muß. Anderenfalls müßte seine Ungültigkeit erst noch bewiesen werden. Daß die Tochterzellen bei ihrer Verwendung zum Aufbau eines vielzelligen Organismus in verschiedene Gewebe differenziert werden, kann ebenfalls nicht als triftiger Gegenbeweis angesehen werden. Denn ihre Verschiedenheit beruht auf den nicht-idioplasmatischen Substanzen, und von diesen haben wir ja eben gesehen, daß sie auch bei aufeinander- folgenden Zellgenerationen im Lebenszyklus der Einzelligen und ebenso bei männlichen und weiblichen Keimzellen trotz idioplasmatischer I24 Viertes Kapitel. Gleichheit sehr ungleich ausfallen können. So hängt auch der inäquale Furchungsprozeß und die Sonderung der Zellen dotterreicher Eier in kleine animale und große vegetative Zellen einzig und allein mit der ungleichen Verteilung der Dotterbestandteile im Protoplasma zu- sammen. Ebensowenig ist der Einwand stichhaltig, daß, weil mit Ausnahme der Eier und Samenfäden alle anderen Zellen, wenigstens bei den höheren Organismen, nicht mehr zur Erhaltung der Art befähigt sind, sie nicht durch erbgleiche Teilung aus der Artzelle entstanden sein könnten. Denn es kann ja auch ihr Unvermögen auf einer Hemmung beruhen und teils mit dem Fehlen von anderen notwendigen Entwicklungs- bedingungen, teils mit den Folgen der Vereinigung der Zellen zu Teilen eines zusammengesetzten Organismus in ursächlichen Zusammenhang gebracht werden. Mit Recht läßt sich hier darauf hinweisen, daß selbst die Samenfäden, obwohl sie eigens zur Erhaltung der Art bestimmt sind, doch vollkommen unfähig sind, sich zu teilen, und unfehlbar zu- grunde gehen müssen, solange sie nicht einen geeigneten Boden für ihre weitere Entwicklung im Protoplasma einer Eizelle der gleichen Art gefunden haben. Wie berechtigt derartige Erwägungen sind, geht aus unzähligen Beobachtungen der Naturerscheinungen und aus Experimenten hervor, die für die erbgleiche Teilung auch der somatischen Zellgenerationen beweisend sind. Ich stelle nur die wichtigsten von ihnen kurz zusammen: Erstens ist bei sehr zahlreichen vielzelligen Pflanzen und Tieren die Erhaltung der Art keineswegs auf die in besonderen Geschlechts- organen eingebetteten Eier und Samenfäden beschränkt. Denn sehr weit verbreitet ist auch die Vermehrung auf vegetativem Wege. Bei hochgradiger Ausbildung derselben ist fast jeder kleinste Zellen- komplex des Körpers imstande, das Ganze aus sich zu reproduzieren. Wird das Moospflänzchen Funaria hygrometrica zu einem feinen Brei zerhackt, so läßt sich aus jedem kleinsten Fragment wieder ein ganzes Moospflänzchen züchten. Bei vielen Sträuchern und Bäumen können sich fast an allen Stellen ober- und unterirdischer Teile durch Wucherung vegetativer kleiner Zellen Knospen bilden, die in einen Sproß aus- wachsen. Vom Ganzen getrennt und in die Erde verpflanzt, wird der Sproß wieder zu einem Repräsentanten seiner Art, indem er auch Blüten und Früchte hervorbringt. | Entsprechendes lehrt das Tierreich. Die Süßwasserhydra läßt sich ebenfalls in kleinere Stückchen zerschneiden, die, wenn ihre. Substanz- masse nicht unter ein gewisses Minimum herabgegangen ist, sich wieder Die Teilung der Artzelle etc. 125 ein jedes zu einer ganzen Hydra mit allen ihren Eigenschaften umbilden. Bei Cölenteraten, manchen Würmern und Tunicaten ist die ungeschlecht- liche Vermehrung auf vegetativem Wege fast eine ebenso große wie bei vielen Pflanzen, da fast an jeder Stelle des Körpers eine Knospe entstehen und zu einem neuen Individuum werden kann. Bei Bougain- villia ramosa z. B. (Fig. 37) entwickeln sich neue Individuen nicht nur als Seitenzweige des Hydroidenstöckchens, sondern auch aus Stolonen (Ar), die wurzelartig sich auf irgendeiner Unterlage ausbreiten und zur Be- festigung des Stöckchens dienen. Auf Grund derartiger Beobachtungen zog schon der Begründer der Panspermie, BUFFoN, den wichtigen Schluß, in welchem man eine auf theoretischem Wege erfaßte Konzeption der Zellentheorie erblicken kann, daß eine Pflanze und ein Tier als eine Vereinigung zahlloser kleiner Individuen derselben Art aufgefaßt werden muß, und so läßt er die Ulme aus vielen Ulmen, die Hydra aus vielen Hydren zusammengesetzt sein (vgl. Kap. I, S. 9). Zweitens lehren die im ganzen Organismenreich weit verbreiteten Vorgänge der Regeneration oder der Wiedererzeugung verloren ge- gangener Teile, daß in den somatischen Zellen außer den Eigenschaften, die bei der Gewebsbildung offenbar werden, auch noch viele andere latente Arteigenschaften schlummern, die unter günstigen Bedingungen gelegentlich wieder zur Entfaltung gebracht werden können. Ein ab- geschnittener und ins Wasser gestellter Weidenzweig entwickelt wurzel- bildende Zellen an seinem unteren Ende, und so wird hier von Zellen, die im Plane des ursprünglichen Ganzen eine sehr abweichende Funktion zu erfüllen hatten, eine ganz andere, den neuen Bedingungen ent- sprechende Aufgabe übernommen, ein Beweis, daß die Anlage dazu - in ihnen gegeben war. Und so können sich umgekehrt auch aus abge- schnittenen Wurzeln Laubsprosse bilden, die dann zu ihrer Zeit selbst männliche und weibliche Geschlechtsprodukte hervorbringen. In diesem Fall stammen also direkt aus Wurzelzellen nach einer großen, gar nicht zu berechnenden Anzahl von Teilungen Geschlechtszellen ab, die als solche wieder zur Reproduktion des Ganzen dienen. Das gleiche gilt auch für die Tiere. Viele Würmer, denen das ganze Kopfende durch einen Schnitt weggenommen worden ist, ersetzen es nach einiger Zeit von der Schnittfläche aus durch Bildung eines Höckers embryonaler Zellen. Hierbei werden komplizierte Gebilde, wie oberes Schlundganglion mit seinen Nerven, Sinnesorgane, wie z. B. Augen mit Retinazellen und Linse, Drüsen und Muskeln aus der indifferenten, vom Soma gelieferten Zellmasse in ähnlichen Zusammenhängen wieder 126 Viertes Kapitel. differenziert, wie 'sie im verloren gegangenen Teil bestanden. In ent- sprechender Weise sehen wir selbst bei einzelnen Repräsentanten der Wirbeltiere, wie den geschwänzten Amphibien, daß das verlorene Schwanzende oder ganze Extremitäten mit ihren charakteristisch ge- formten Skeletteilen und Muskelgruppen vom Amputationsstumpf aus wieder ersetzt werden. Nach unserer Ansicht lassen sowohl die Erscheinungen der Zeugung als auch diejenigen der Regeneration bei Pflanzen und Tieren keine andere Deutung zu, als daß alle vom Ei abstammenden Zellen die volle Erbmasse erhalten. Dieselbe muß daher vor jeder Teilung in den Zellen auf das Doppelte vermehrt und dann in qualitativ und quantitativ gleichen Beträgen durch erbgleiche Teilung auf die Tochterzellen über- tragen werden. Einen dritten überraschenden Beweis für unsere Ansicht hat auch noch die experimentelle Untersuchung des Furchungsprozesses von geeigneten Objekten gebracht. Man kann nämlich auf dem Stadium der ersten, zweiten oder dritten Teilung die zwei, vier oder acht Embryonalzellen durch geeignete Eingriffe voneinander trennen und isoliert für sich weiter züchten. Auf diesem Wege wurde das wichtige Ergebnis ermittelt, daß die Teilstücke des ganzen Eies zu vollständig normalen Embryonen der betreffenden Tierart, nur von entsprechend geringerer Größe werden. Aus einem einzigen Ei lassen sich daher anstatt eines Embryos deren zwei, vier oder acht gewinnen, je nach dem Fur- chungsstadium, auf dem der Eingriff geschieht. Selbst der Stamm der Wirbeltiere hat uns für diese Tatsache experimentelles Beweis- material geliefert. Sehr geeignet ist das Ei des Amphioxus, mit welchem der erwähnte Versuch zuerst durch WıLsox ausgeführt wurde. Durch vorsichtiges Schütteln in einem mit Meerwasser gefüllten Reagenzglas gelingt es leicht, die Embryonalzellen vollständig oder teilweise auf einem der ersten Furchungsstadien voneinander zu trennen. Die isolierten Stücke kann dann der Experimentator mit einer feinen Pipette auffangen und in einem Uhrschälchen für sich isoliert weiter züchten, um festzustellen, was aus ihnen wird. Hierbei zeigt sich nun, daß jedes Teilstück, nachdem es Kugelform angenommen hat, sich genau so weiter entwickelt, wie sich das ganze Ei entwickelt haben würde. Mag es sich um eine isolierte Halbkugel der ersten Teilung oder um ein Viertel- oder ein Achtelstück des zweiten und dritten Furchungsstadiums handeln, in jedem Fall entwickelt sich aus ihnen eine normale Maulbeerkugel, dann eine Keim- blase, später eine Gastrula etc., nur von entsprechend kleinerem, zwergen- Die Teilung der Artzelle etc. 127 haftem Format. Zum Belege habe ich aus einer Arbeit von WILsoN genaue Kopien von vier Becherlarven zusammengestellt. Schon an ihrer Größe sieht man es ihnen sofort an, ob sie von einem ganzen Ei (Fig. 15 A) oder von einem halben Teilstück (Fig. 15 B) oder von einem Viertelstück (Fig. 15C) oder gar von einem Achtelstück (Fig. 15 D) abstammen. Unter günstigen Verhältnissen lassen sich die Zwerg- - gastrulae von halber und von viertel Größe auch noch weiter zu kleinen Amphioxuslarven züchten, die Chorda, Nervenrohr, Muskelsegmente, Darm etc. in normaler Weise, nur alles in entsprechend verkleinertem Maßstab besitzen. Selbst bei Amphibien ist es geglückt, aus einem Ei auf experi- mentellem Wege zwei Larven hervorzubringen. Allerdings muß hier Fig. 15. Fig. 16. > Fig. 15; A—D. Normale Gastrula und Teilgastrulae von Amphioxus. Nach Wirson, A aus dem ganzen Ei, B aus einer einzigen, künstlich isolierten Zelle des zweigeteilten C des viergeteilten, D des achtgeteilten Eies gezüchtete Gastrula. Fig. 16. Ein Ei von Triton cristatus, bei welchem auf dem Zweiteilungsstadium die zwei Zellen durch Umschnürung mit einem Seidenfaden getrennt wurden und sich infolgedessen zu zwei selbständigen Embryonen entwickelten. Kurze Zeit vor dem Aus- schlüpfen der zwei aus einem Ei entstandenen Embryonen. Nach HERLITZKA. g Gal- lerte, sf Seidenfaden. zur Trennung der beiden ersten Teilhälften ein anderes Verfahren ein- geschlagen werden; denn ‚die Schüttelmethode‘ führt hier nicht zum ‚Ziel, teils weil der Dotter von einer dicken, nicht leicht zu zerreißenden "Membran umschlossen wird, teils weil die durch die erste Teilung ent- 'standenen Halbkugeln des hirsekorngroßen Eies in weiter Ausdehnung zu fest aneinanderhaften. Hier hilft man sich in der Weise, daß man ‚das noch mitten in seiner Teilung begriffene Ei mit einem feinen Kokon- faden (sf) entsprechend der Teilebene umschnürt und die Schlinge langsam zuzieht. Wenn auch nicht in allen, gelingt es doch in einigen Fällen, die beiden Teilhälften mit diesem Verfahren voneinander zu ‚isolieren. Und siehe da: aus beiden Hälften eines Tritoneies, das für ‚solche Versuche sich wegen seiner ovalen Form am meisten empfiehlt (Fig. 16), entwickeln sich kleine Molchlarven, die als Zeichen ihrer ge- meinsamen Abstammung aus einem Ei noch von einer gemeinsamen I2S Viertes Kapitel. Dotterhaut und Gallerthülle (g) umgeben sind. Von einem normalen Tier unterscheiden sie sich ebenfalls wie die Amphioxuszwerge nur durch ihre halbe Größe; sie führen, wenn sie alt genug geworden sind, zuckende Bewegungen in ihren Hüllen aus. Vom normalen Tier nur durch ihre halbe Größ: unterschieden, besitzen sie, wie dieses, alle Organe. Ein jedes von ihnen hat ein Gehirn und Rückenmark, zwei Augen, zwei Hör- bläschen, zwei Riechgrübchen etc. Nicht immer gelingt die vollständige Trennung der beiden Teil- stücke eines Eies, weder beim Schütteln noch beim Durchschnüren. Fig. 17 A—D. Vier Doppelgastrulae von Amphioxus (A, B,C, D), entstanden durch Schütteln des Eies auf dem Stadium der Zweiteilung, 7 Stunden nach der Befruchtung. Nach Wırson. z!x? Nach verschiedenen Richtungen orientierter Urmund der zwei aus je einer Eihälfte entstandenen Gastrulae; z gemeinsamer Urmund zweier Gastrulae. Im ersten Fall können sich beide Hälften in der erhalten gebliebenen Hülle nur etwas verschieben und ihre Stellung zueinander verändern, im zweiten Fall bleiben sie durch einen mehr oder minder dicken Stiel innerhalb des Schnürrings noch verbunden. Das Ergebnis gibt uns eine ebenso interessante wie wichtige Ergänzung zu dem vorigen. Denn unter solchen Verhältnissen kommt es zur Entstehung von Doppel- mißbildungen der verschiedensten Art. So zeigt uns Fig. 17 vier etwas verschiedenartige Beispiele von Doppelgastrulae von Am- phioxus. Schon die Veränderung in der Stellung der beiden ersten Teil- hälften, die durch das Schütteln hervorgerufen wurde, hat genügt, jede zu getrennter Entwicklung zu veranlassen. Indem jetzt zwei Zellenhäufen, die nur eine Strecke weit verbunden sind, aus dem Furchungsprozeß hervorgehen, entwickelt sich in jedem Haufen eine eigene Keimblasen- Die Teilung der Artzelle etc. 129 höhle; hierauf entsteht an jeder Hälfte der Zwillingskeimblase eine Einstülpung für sich. Und auch hier kann man durch Vergleich ver- schiedener Fälle sich weiter noch davon überzeugen, wie geringfügige und zufällige Abweichungen in der Stellung der beiden Zellen zueinander die spätere Form der Zwillinge sehr wesentlich verändern können. So ist in Fig. 17 A ein Urmund nach vorn, der andere nach hinten, in Fig. 17 B sind sie nach entgegengesetzten Seiten gerichtet, in C und D sind sie in der gleichen Richtung orientiert, aber verschieden weit voneinander getrennt. Schon auf Grund dieser Be- funde kann man voraussagen, daß auch die weiter entwickelten Doppellarven ver- schieden ausfallen, und daß Amphioxus- zwillinge entstehen werden, deren Kopf- enden entweder in entgegengesetzten oder in gleichen Richtungen orientiert sein werden und deren Bauch-, Seiten- oder Rückenflächen verschieden weit unter- einander verwachsen sind. Ein Produkt unvollkommener Durch- schnürung eines zweigeteilten Tritoneies ist in Fig. 18 abgebildet, eine Mißbildung mit vollständig voneinander getrennten Köpfen und verdoppelten vorderen Rumpf- abschnitten, die nach hinten untereinander verwachsen sind und allmählich in einen ge- meinsamen einfachen Rumpf und in ein ein- _ faches Schwanzende übergehen. Die Dupli- eitas anterior, wie das abgebildete Mon- Fig. 18. Larve von Triton strum in der Lehre der Mißbildungen deppelung des Vorderendes (Dupl. (Teratologie) heißt, war schon so weit ©itas anterior). Nach SPEMANN. entwickelt, daß es aus den Eihüllen ausgeschlüpft war, im Zuchtglas hurtig herumzuschwimmen und auch Nahrung aufzunehmen vermochte. Es wird hier gewiß von mancher Seite die Frage aufgeworfen werden, wie weit sich die Zerlegung des Eies in entwicklungsfähige Teilstücke wird ausführen lassen. Wie das Experiment gelehrt hat, ist die Grenze gewöhnlich bei Achtelstücken erreicht. Wenn eine isolierte Embryonal- zelle des 16 teiligen Stadiums sich auch noch teilt und einen Zellen- haufen liefert, eventuell sogar zu einer Keimblase wird, so kommt es doch nicht mehr zur Gastrulation, und das Bruchstück stirbt bald ab. O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl. 9 130 Viertes Kapitel. Die Entwicklung zu einer normalen Zwerglarve setzt demnach immer ein gewisses Quantum entwicklungsfähiger Substanz voraus. Die mitgeteilten Experimente reden gewiß eine sehr deutliche Sprache ; sie gestatten uns die für die tierische Formbildung sehr wichtige Schlußfolgerung zu ziehen: bei vielen, selbst höchstentwickelten Tieren (Vertebraten) besitzen, wie sicher festgestellt ist, die ersten aus dem Ei durch Teilung entstandenen Zellen nicht nur die Fähigkeit, sich zu einem Teil des Embryos umzuwandeln, wie es bei dem normalen Verlauf der Entwicklung geschieht, sondern jede trägt gleichzeitig auch noch die Anlage zum Ganzen in sich. Die ersten Teilungen der Eizelle können daher nur erbgleiche sein. Was aus einer Embryonalzelle wird, ob sie sich nur zu einem Teil eines Embryos oder für sich allein zu einem ganzen Embryo oder zu einem Stück einer Mehrfachbildung entwickelt, hängt lediglich von gewissen äußeren Bedingungen ab, nämlich lediglich davon, ob sich eine Embryonalzelle unter dem Einfluß von anderen Embryonalzellen befindet, mit denen sie zu einem zusammengesetzten Ganzen vereint ist, oder ob sich die Embryonalzellen, vom Ganzen abgelöst, für sich allein entwickeln. Wenn man nach den vorausgeschickten Beweisen als ausgemacht ansieht, daß alle Zellen des Körpers durch erbgleiche Teilung aus dem befruchteten Ei entstehen und trotz später hervortretender, äußerlicher Unterschiede mit dem Idioplasma der Art ausgestattet sind, dann kann man die vielzelligen Pflanzen und Tiere auch als die potenzierten Artzellen bezeichnen. Damit führe ich in die ursächliche Er- klärung des organischen Entwicklungsprozesses neben dem Begriff der Anlage noch den Begriff der Potenzierung der- selben ein. Auf diese Weise glaube ich dem so unbestimmten Ausdruck der biologischen Anlage eines pflanzlichen oder tierischen Entwick- lungsprozesses eine schärfere Fassung geben zu können. Man hat jetzt zwei verschiedene Dinge im Begriff der Anlage aus- einanderzuhalten: ı. eine für jede Art von Lebewesen spezifische Organisation ihrer als Anlage dienenden Substanz, der Erbmasse oder des Idioplasma der Artzelle, 2. das Vermögen der Anlage, sich durch erbgleiche Teilung in geometrischer Progression zu vermehren oder zu potenzieren. Fast von allen Forschern, die sich seither mit dem Problem der Erblichkeit beschäftigt haben, sind diese zwei Seiten im Begriff der Die Teilung der Artzelle etc. I3I Anlage nicht scharf genug auseinandergehalten worden. Infolgedessen haben sie, in der Absicht, die Entwicklung ursächlich zu erklären, in die Organisation der Keimzelle viele Eigenschaften des ausgebildeten Organismus hineingetragen, welche auf das Konto der Potenzierung der Anlage zu setzen sind. Sie haben übersehen, daß die meisten Eigenschaften und Merkmale des fertigen Organismus, wie namentlich fast alle morphologischen, auf dem Zusammenwirken vieler Zellen beruhen. Wenn sie trotzdem die- selben in irgendeiner Form schon in die einzelne Zelle als Anlage hinein- zulegen versuchen, so verfallen sie genau in denselben Fehler, welchen einst: die Evolutionisten begangen haben, und kommen von der Vor- stellung nicht los, daß der Keim doch in irgendeiner ultramikrosko- pischen Form ein Miniaturbild des fertigen Geschöpfes ist. Demgegenüber glaube ich mit allem Nachdruck betonen zu müssen, daß durch die Potenzierung der Artzelle wirklich ganz neue Verhältnisse geschaffen werden, für die vorher nichts mehr als nur die Möglichkeit ihrer Entstehung in der allgemeinen Eigen- schaft jeder Zelle, sich durch Teilung unter geeigneten Bedingungen vermehren zu können, vorhanden gewesen ist. Denn wenn die Zellen, die durch Teilung aus dem befruchteten Ei hervorgehen, zusammen kein bloßes Aggregat sind, sondern, was sich eigentlich von selbst ver- steht, Wirkungen aufeinander ausüben und sich als Zellenstaat zu einem System verbinden, so liegt in ihrer Potenzierung allein schon eine Quelle stetig und gesetzmäßig wachsender Mannig- faltigkeit. Es handelt sich hier um das aligemein gültige Naturgesetz, daß, wenn in ein geschlossenes System voneinander abhängiger Teile neue Glieder eingeführt werden, nicht nur das System als Ganzes, sondern auch in den Beziehungen aller seiner Teile verändert wird. Wenn ein neuer Planet in das System der Himmelskörper eintreten würde, so müßte sein Einfluß sich zunächst in Störungen der Bewegung der ihm benachbarten Körper bemerkbar machen. Diese würden dann wieder weitere Veränderungen in immer ausgedehnteren Kreisen nach sich ziehen, bis wieder neu geordnete Systembedingungen sich ein- gestellt haben. Oder nehmen wir ein anderes Beispiel aus der menschlichen Gesell- schaft. Je nachdem z. B. 2 oder 4 oder 8 Personen eine schwere Last gemeinsam fortzubewegen haben, so werden bei der Arbeit nicht nur die Kraftleistungen jeder einzelnen Person, sondern auch die Verwertungs- weisen ihrer Kraft verschieden ausfallen. Überhaupt lehrt die National- ökonomie, daß mit der Zahl der zu einem sozialen Verband verknüpften ge 132 Viertes Kapitel, Individuen auch dementsprechend zweckmäßig veränderte Organisationen zur Befriedigung ihrer gesamten Bedürfnisse entstehen. Der Verkehr, die Verwaltung, das Geldwesen nehmen in einer Stadt mit einigen zehn- tausend oder mit einigen Millionen Einwohnern andere und kompli- ziertere Formen als in einem Dorf an. Erst durch das Riesenwachstum der Großstädte sind Untergrund- und Hochbahn möglich und notwendig geworden als die Formen, durch die dem gesteigerten Verkehr und dem Bedürfnis nach geeigneter Befriedigung desselben mit den Hilfsmitteln der modernen Technik genügt werden konnte. Mit einem Wort, durch die fortschreitende Potenzierung der Art- zelle werden die Systembedingungen im Entwicklungsprozeß von Stufe zu Stufe verändert und komplizierter. Wenn in diesem Gesichtspunkt eine Wahrheit enthalten ist, der bisher wenig Beachtung geschenkt wurde, so können wir sie auch, indem wir uns hierbei einer Ausdrucksweise der Physiker bedienen, in die Formel kleiden: die in der Entwick- lung einander folgenden Gestaltungsprozesse sind in vieler Hinsicht eine Funktion der Zellenvermehrung. Da nun Zellenvermehrung eine Form des Wachstums ist, können wir sie auch, da sie gestaltend wirkt, als formatives Wachstum bezeichnen. Durch das Beiwort ‚‚formativ‘‘ unterscheiden wir es von anderen Arten des organischen Wachstums, die auch sonst noch vorkommen. Es giebt auch eine Art, die auf einer einfachen Massenzunahme einer Substanz beruht. In diesem Sinne spricht man von einem Wachstum eines Kristalls, der in einer geeigneten Mutterlauge allmählich durch Apposition um ein Vielfaches an Masse zunimmt. Ein entsprechendes, allerdings schon komplizierteres Wachstum durch Massenzunahme kommt auch in der lebenden Zelle vor, ist aber hier in seinen Wirkungen mit dem, was durch das formative Wachstum erreicht wird, auch nicht im entferntesten zu vergleichen. Die tierische Eizelle macht in ver- schiedenen Perioden ihrer Ausbildung beide Arten des Wachstums durch und ist dadurch wie kaum ein anderes Beispiel geeignet, um den großen Unterschied zwischen einem formativen und einem Massen- wachstum deutlich zu machen. Auch ist ein Vergleich zwischen den beiden Wachstumsperioden des Eies noch dadurch von ganz besonderem Interesse, daß er uns eine neue Bestätigung für die Richtigkeit der Kern- idioplasmatheorie liefern wird. Einer embryonalen Zelle gleicht das Ei nur in seinen allerjüngsten Entwicklungsstadien, auf denen es als Urei (Ovogonie) bezeichnet wird. Dann erfährt es während seiner Ausbildung im Ovarium bald mehr bald minder große Veränderungen, die man mit Recht als seine Vor- Die Teilung der Artzelle etc, 133 entwicklung zusammengefaßt hat. In manchen Tierklassen, wie bei den Reptilien und Vögeln, zeichnet es sich jetzt durch ein so kolossales Wachstum aus, daß es alle übrigen Elementarteile weit hinter sich zurückläßt; schließlich gleicht es fast an Masse dem aus ihm entstehenden Geschöpf auf einem weit vorgerückten Embryonalstadium, auf dem schon alle Organe und Gewebe angelegt sind. Trotzdem bleibt das Eierstocksei in seiner Vorentwicklung eine einfache Zelle mit allen Eigenschaften einer solchen, und wenn es in dieser Weise auch weiter- zuwachsen fortfahren würde, bis es die Dimensionen des ihr entsprechen- den, ausgewachsenen Geschöpfes erreicht hätte, so würde es trotzdem dem Endziel, einen tierischen Körper zu bilden, auf diesem Wege auch nicht um eines Haares Breite näher gerückt sein. Es handelt sich eben in der Vorentwicklung nur um ein Wachstum von nicht-idioplasmatischen Stoffen, die für den eigentlich organisatorischen Prozeß, auf welchem die Entstehung von Pflanzen und Tieren aus den Artzellen beruht, von untergeordneter Bedeutung sind. Ganz anders gestaltet sich die Sachlage mit Beginn der Ontogenese. Zwar findet auch jetzt ein Wachstum, aber von ganz anderer Art statt. Denn es betrifft nur einen ganz bestimmten und vor Beginn der Ent- wicklung verschwindend kleinen Teil des Eiinhaltes, nämlich nur die ‚ Kernsubstanz. Ihre massenhafte Vermehrung ist das am meisten hervor- stechende Merkmal der ersten Embryonalperiode. Sie kann nur auf Kosten des Protoplasma und der in es eingebetteten Nährsubstanzen erfolgen. Bezieht doch das Ei nach seinem Austritt aus dem Ovarıum und mit Beginn seiner Entwicklung, wie es besonders deutlich bei den Rieseneiern von Reptilien und Vögeln hervortritt, von außen nur Wärme, Sauerstoff und eventuell Wasser. Wahrscheinlich werden bei der Vermehrung der Kernsubstanzen, bei der es sich um einen sehr ver- wickelten, chemisch-biologischen Prozeß handelt, einfacher organisierte Eiweißverbindungen in höher organisierte und mannigfacher speziali- sierte Nukleinverbindungen übergeführt. Nach unserer Kernidioplasma- theorie aber sind es die Erbeinheiten, die sich vervielfältigt haben, oder die biologischen Verbindungen, auf denen die Arteigenschaften des betreffenden Organismus beruhen. Zugleich werden sie durch den Prozeß der Karyokinese, durch das rhythmisch sich wiederholende Wachstum der Chromosomen und durch ihre sich anschließende Längs- spaltung und Trennung auf einzelne Kernbläschen, deren Zahl in geo- metrischer Progression rasch zunimmt, überall im Eiraum gesetzmäßig verteilt. Hier werden die Kerne, von einer Hülle von Protoplasma um- geben, zu besonderen Mittelpunkten des Stoff- und Kraftwechsels. 134 Viertes Kapitel. so daß ihnen der Botaniker SAcHs deswegen mit Recht den Namen der Energiden geben konnte. Und Hand in Hand hiermit vollziehen sich noch andere wichtige morphologische Veränderungen, welche die ersten Stadien des Entwicklungsprozesses ausmachen, die Zerlegung der Eimasse in Zellen, ihre Verteilung bei der Morula, Blastula und Gastrula, sowie ihre Anordnung zu besonderen Keimblättern. Daß alle diese Ver- änderungen mit der Potenzierung des befruchteten Eikerns in ursäch- lichem Zusammenhang stehen, wird wohl kaum einem Zweifel begegnen, so daß die Bezeichnung eines derartigen Wachstums als eines formativen in jeder Beziehung gerechtfertigt und zutreffend ist. Wenn man bei einem Rückblick auf unsere letzten Erörterungen das einfache Massenwachstum des Eies während seiner Vorentwicklung und das so ganz abweichende, jetzt näher charakterisierte, formative Wachstum miteinander vergleicht, so wird die führende Rolle, welche die Kernsubstanzen bei Ablauf der ersten fundamentalen Entwicklungs- prozesse spielen, wohl von niemand verkannt werden können. Ihre periodisch erfolgende Potenzierung, ihre gesetzmäßige Verteilung im Eiraum und alles, was hiermit in ursächlichem Zusammenhang steht, kann daher auch unter den Beweisen zugunsten der im dritten Kapitel besprochenen Kernidioplasmatheorie mitaufgeführt werden. 'Zum Schluß bleibt mir endlich noch die in der Einleitung zu diesem Abschnitt ($. 120) geäußerte Ansicht zu begründen, daß in der richtigen Beurteilung der Zellenbildu g zugleich der Schlüssel zur Lösung der alten Streitfrage liegt, ob die Ontogenese als ein präformierter oder als ein epigenetischer Prozeß oder auch als keins von beiden aufzufassen sei. Meine Antwort würde lauten: Ein Stück Präformation liegt in der Organisation der Artzelle, insofern sie aus einer höchst komplizierten Substanz besteht, welche für jed> Organismenart eigentümlich ist. Da diese Substanz zu keiner Zeit im Leben der Art neu entsteht, sondern durch erbgleiche Teilung von Generation zu Generation im wesentlichen unverändert weiter- vererbt wird, so kann sie als präformierte Anlage des vielzelligen Re- präsentanten der Art bezeichnet werden. Das ist keine Hypothese, das ist eine durch Erfahrung festgestellte Tatsache. Dagegen läßt sich der Begriff einer Präformation nicht auch auf den Prozeß ausdehnen, durch den sich die Artzelle in den vielzelligen Organismus umwandelt. Denn dieser Prozeß beruht auf einer gesetz- mäßigen Vereinigung der sich durch Teilung vermehrenden Zellen; er ist also eine Potenzierung der Artzelle, verbunden mit ihren durch formatives Wachstum hervorgerufenen Begleiterscheinungen der onto- Die Teilung der Artzelle etc, 135 genetischen Metamorphosen. Hier wird wirklich etwas Neues geschaffen, was ın der Artzelle als solcher noch nicht vorhanden ist, sondern nur durch ihre Eigenschaft, durch Teilung Tochterzellen zu bilden und sie als Teile eines übergeordneten Ganzen zusammenzuhalten, ermöglicht wird. In dieser Beziehung beruht Entwicklung ohne Zweifel auf Epi- genese. Denn von einer Präformation würde man nur sprechen können, wenn die 2, 4, 8 etc., die tausend und Millionen oder allgemeiner aus- gedrückt die Tochterzellen bis zur n®* Generation in irgendeiner Form durch repräsentative, materielle Teilchen schon in der ersten Mutterzelle vertreten wären, wie in der Tat auch von DARWIN und :WEISMANN ge- lehrt worden ist. (Man vergleiche hierüber Kapitel XII) Daß eine derartige Ansicht sich, wie die alte Einschachtelungstheorie, von selbst ad absurdum führt, wird später noch genauer begründet werden. Wie durch die biölogische Theorie des Befruchtungsprozesses die unlösbaren Widersprüche, in die einst die Ovisten und die Animal- kulisten geraten waren (vgl. S. 6-8), ihre befriedigende Lösung ge- funden haben, so werden wir auch jetzt bei der Kennzeichnung des allgemeinen Charakters der Entwicklung der Organismen zu dem Ergeb- nis geführt, daß ein Stück Wahrheit sowohl in der Theorie der Epigenese wie der Präformation enthalten ist. Denn einerseits hat C. FR. WOLFF, wenn man von seinen verfehlten Vorstellungen vom rohen Zeugungs- stoff, vom Örganischwerden desselben, von Exkretion und Sekretion der sich entwickelnden Teile absieht, doch eine im ganzen richtige De- finition vom allgemeinen Wesen der Ontogenie in den Worten gegeben: „Die verschiedenen Teile entstehen alle einer nach dem andern“, ‚ein jeder Teil ist also allemal erstlich ein Effekt eines andern vorhergehenden Teils und wird alsdann wiederum die Ursache anderer folgender Teile“. Auf der anderen Seite hatten die Evolutionisten recht, daß die so kom- pliziert gebauten Lebewesen nicht durch eine Art von Urzeugung aus einem rohen, ungeformten Bildungsstoff bei jedem Zeugungsakt immer wieder von neuem entstehen, daß daher der Keim, mag er nun Ei oder Samenfaden sein (Ovisten und Animalkulisten), schon etwas Organi- siertes und Vorgebildetes sein müsse. Nur die Art, wie sie sich die Prä- formation dachten, war eine verfehlte, wie es sich übrigens bei dem damaligen Zustand der anatomischen und physiologischen Kenntnisse kaum anders erwarten läßt. Unser Schlußurteil kann daher jetzt in die kurze Formel zusammen- gefaßt werden: Die Entwicklung der vielzelligen Organismen aus dem be- fruchteten Ei oder bei vegetativer Vermehrung aus einer Keim- 136 Viertes Kapitel. zelle ist ein epigenetischer Prozess, der durch die präformierte Erbmasse (Idioplasma der Artzelle), die ihm zur Grundlage dient, in seinem artgemässen Ablauf fest bestimmt ist und in- sofern das Gesetz seiner Entwicklung in sich trägt. (Vergleiche auch Seite 71.) 2. Das Prinzip der Arbeitsteilung und Differenzierung. Daß in einer Lebensgemeimschaft, die sich durch Potenzierung der Artzelle entwickelt, allmählich größere Verschiedenheiten zwischen den ursprünglich gleichartigen Embryonalzellen entstehen, beruht in erster Linie auf dem Prinzip der Arbeitsteilung und Differenzierung. Dasselbe ist für das Verständnis biologischer Entwicklungsprozesse jeder Art außerordentlich wichtig. Es wurde von MILNE EDWARDS zuerst auf- gestellt, von BRONN und ERNST HAECKEL weiter durchgeführt, nament- lich aber von HERBERT SPENCER in philosophisch-kritischer Weise am ausführlichsten bearbeitet!). Wie schon von MILNE EDWARDS hervorgehoben worden ist, bietet der im embryonalen Leben sich vollziehende Sonderungsprozeß in Organe und Gewebe mannigfache Vergleichspunkte zu der Arbeitsteilung dar, die sich in jeder menschlichen Gesellschaft von höherer Kultur entwickelt, Es scheint daher empfehlenswert, dieselbe auch hier zum Ausgangspunkt unserer weiteren Betrachtung zu wählen. Kulturgeschichte und Sozialwissenschaft lehren, daß sich der Mensch zu höheren Stufen der Kultur erst allmählich und in dem Maße erhoben hat, als er ein Animal sociale, das heißt, ein in Abhängigkeit versetztes Glied einer menschlichen Gemeinschaft wurde. Neue Fähigkeiten und Existenzmöglichkeiten sind ihm dadurch zugewachsen. Denn besser als es der einzelne Mensch vermag, kann eine soziale Gemeinschaft die Natur zu ihrem Vorteil ausnutzen und die im Menschen gelegenen Fähigkeiten zu ihrer Entfaltung bringen. Wird doch durch den Verband mit anderen der einzelne erst auf Grund der sich ausbildenden Gemeinschaft in die Lage versetzt, seine Arbeitskraft in einer Richtung, wie es zuvor nicht möglich war, zu konzentrieren und durch die häufigere Tätigkeit eine größere Fertigkeit in ihr zu erlangen. So kann er jetztineiner Richtung mehr und vollkommnere Arbeit ohne größere Mühe leisten, er kann von 1) Milne Edwards, Lecons sur la physiologie et Tanat. comp. etc., T. I, 1857. Introduction ü la zool. gener. — Bronn, Morphologische Studien über die Ge. gesetze der Naturkörper etc., 1858. — Haeckel, Ernst, Generelle Morphologie, Bd. II, 1800. — Spencer, Herbert, Die Prinzipien der Biologie, übersetzt von Vetter, Ba. II, 1877. | Das Prinzip der ‚Arbeitsteilung und Differenzierung. 137 dem daraus erwachsenden Überschuß leicht an andere abgeben und von ihnen dafür wieder Gegenwerte in anderer, von ihm selbst nicht ver- richteter Arbeit entgegennehmen. Je mehr die Arbeitsteilung fortschreitet, und je mehr sich ein innigeres, auf sie basiertes Gegenseitigkeitsverhältnis der Menschen untereinander entwickelt, um so mehr wird die Lebens- haltung innerhalb der ganzen Gemeinschaft auf eine höhere Stufe ge- hoben; ein um so höherer Grad von Kultur wird erreicht. Arbeitsteilung aber bedingt auch Differenzierung in der mensch- lichen Gesellschaft. Individuen, von welchen die einen diese, die anderen jene Arbeit dauernd verrichten, werden in geringen Einzelheiten indi- viduell verschieden voneinander. Jeder paßt sich der Art seiner Be- schäftigung an. So entstehen in der menschlichen Gesellschaft die Stände und Berufe mit ihren besonderen Fertigkeiten, mit ihren be- sonderen körperlichen und geistigen Eigenschaften, mit ihren Lebens- gewohnheiten und ihrer Lebenshaltung. Arbeitsteilung hat also, wie man sich in der Biologie ausdrückt, eine Differenzierung der die un- gleiche Arbeit verrichtenden Individuen zur Folge. Dadurch erhält der soziale Organismus je nach dem in ihm durchgeführten Grad der Arbeits- teilung eine entsprechende soziale Struktur der ihn zusammensetzenden Teile. Der Prozeß, der in einer Vielheit gleichartiger Teile Differenzen schafft, scheint, wenn er einmal eingeleitet ist, unaufhaltsam fort- schreiten und zu immer neuen Komplikationen führen zu können. Wie jeder weiß, hat im Laufe der Kulturentwicklung die Arbeitsteilung und die mit ihr verbundene Differenzierung der menschlichen Gesell- schaft in den Kulturstaaten eine ganz wunderbare Ausdehnung und Höhe, wenn auch noch lange nicht ihren Abschluß erreicht. Immer neue Schätze lernt der Mensch der Natur abgewinnen; jede derartige neue Beziehung, die zur Außenwelt geknüpft wird, ist ein neues Mittel “zu neuer Arbeitsteilung und zu weiteren Kulturfortschritten. Wenn in einer Gegend ein ergiebiges Kohlenlager oder Eisenerze oder Gänge von edlen Metallen entdeckt werden, so beginnen ausgedehnte Schichten der Bevölkerung sich dem Bergbau, der Eisengewinnung und Maschinen- fabrikation zuzuwenden. Jährlich rufen neue Entdeckungen auf dem Felde der Naturwissenschaften bald diese, bald jene Industrie mit neuen besonderen Arbeitsweisen, chemische, elektrotechnische Fabriken ete. ins Leben. Genau derselbe Prozeß, wie ich ihn eben für die besser bekannten menschlichen Verhältnisse in wenigen Sätzen erläutert habe, vollzieht sich, wenn aus der befruchteten Eizelle durch Teilung neue ihr gleiche 138 Viertes Kapitel. Zellen entstehen und, wie man häufig sagt, zu einem Zellenstaat unter- einander verbunden bleiben. So sind am Anfang der Entwicklung, wie im ersten Abschnitt des vierten Kapitels bewiesen wurde, alle Zellen eines jeden Tieres einander gleich. Embryonalzellen sind noch’undifferen- ziert. Wie einem unentwickelten Kinde stehen ihnen noch viele Wege zukünftiger, spezieller Gestaltung offen. Die Entwicklung eines höheren Tieres beruht nun darauf, daß sich allmählich eine Verteilung der sehr verschiedenen Arbeitsleistungen, welche sein Körper schließlich im fertigen Zustand zu verrichten hat, zwischen’ den einzelnen Zellindividuen in dieser oder jener Weise nach bestimmten Regeln ausbildet, wie bei der historisch allmählich er- folgten Entstehung eines menschlichen Kulturstaates. Die Arbeits- weise einer Zelle nennen wir ihre Funktion. Unter äußeren Einflüssen, besonders aber unter den im Zellenstaat selbst gegebenen Bedingungen, die sich aus dem im vorausgegangenen Abschnitt erwähnten formativen Wachstum ergeben, bildet ein Teil der Zellen diese, ein anderer Teil jene Funktion in besonderer Weise aus, oft bis zum Extrem unter teilweiser Verkümmerung anderer zum Leben erforderlicher Funktionen, für deren Ausfall dann Ersatz durch andere Zellen geschaffen wird. Dabei werden allgemeinere Funktionen in speziellere immer weiter zerlegt. Es wird dadurch auch im Körper der höheren Tiere eine ganz erstaunliche Ver- schiedenartigkeit derselben hervorgerufen, welche die in komplizierten Fabrikationszweigen der Industrie schon reich gegliederte Arbeitsteilung noch weit übertrifft. Während Reizempfindlichkeit von Haus aus eine fundamentale Eigenschaft der Zelle an sich ist, werden jetzt mit der fortschreitenden Entwicklung des Keims einzelne Zellen besonders empfindlich entweder gegen Licht, oder gegen Schall, oder gegen me- chanische Berührung, oder gegen chemische Stoffe in gasförmigem oder in flüssigem Zustand. Sie werden also zu den Seh-, Hör-, Tast-, Riech- oder Schmeckzellen unserer Sinnesorgane. Andere zeichnen sich durch das Vermögen aus, ihre Form durch Zusammenziehen zu verändern, sıe werden Muskelzellen. Wieder andere treten in den Dienst der Er- nährung des Gesamtorganismus; sie scheiden Verdauungssäfte dieser oder jener Art ab: Säfte zur Verdauung von Kohlehydraten, von Eiweiß- körpern oder von Fett. Andere Zellen dienen zum Transport der Nahrungssäfte ; wieder andere werden zum Schutz oder zur Stütze oder zur Fortpflanzung usw. verwandt. Da, wie wir oben gesehen haben, eine Begleiterscheinung der Arbeitsteilung die Differenzierung ist, so gewinnen während der Ent- wicklung aus dem Ei die ursprünglich gleichartigen, embryonalen Zellen Das Prinzip der Arbeitsteilung und Differenzierung. 139 auch ein verschiedenes Aussehen. Denn sie bilden mit der Übernahme besonderer Funktionen auch die denselben entsprechenden Strukturen aus, durch welche sie die einseitige Arbeit besser zu verrichten befähigt werden, und welche wir daher als die ihnen eigentümlichen Arbeits- mittel bezeichnen können. Meist liegen gleich funktionierende und demgemäß auch morphologisch umgewandelte Zellen im Körper in Gruppen zusammen, wie Menschen gleicher Arbeitsrichtung zu Ständen und Berufsgenossenschaften verbunden sind. Solche Gruppen nennen wir dann in der mikroskopischen Anatomie mit einem schon alten Aus- druck ein Gewebe. Im menschlichen Körper mit seiner weit gediehenen Arbeitsteilung und histologischen Differenzierung ist die Anzahl der Gewebe eine sehr große. Wir unterscheiden ein Muskel- und ein Nerven- gewebe, ein Epithel- und Stützgewebe, Blut und Lymphe. Auch können wir bei den meisten dieser Gewebe infolge noch feiner durchgeführter Spezialisierung eine Einteilung in mehr oder minder zahlreiche Unter- arten vornehmen. So läßt sich das Stützgewebe wieder, je nach den verschiedenen Aufgaben, denen es dient,'in ein Gallert- und faseriges Bindegewebe, in ein Knorpel-, Knochen- und Zahngewebe zerlegen. Und auch von diesen zerfallen manche, z. B. Bindegewebe und Knorpel, je nach ihrer Verwendung noch weiter in besondere Modifikationen, wie in Unterhautbinde- und Fettgewebe, in Sehnen, Aponeurosen, Fascien, Häute, Bänder, oder in hyalinen, elastischen und Faserknorpel. Noch mehr Unterarten zeigt das Drüsengewebe. Je nach dem Sekret, welches abgesondert wird, lassen sich Speichel- und Schleimzellen, Leber-, Pan- kreas-, Talg-, Milch-, Schilddrüsen-, Nierenzellen usw. unterscheiden. Wenn wir nach den Ursachen forschen, durch welche die ursprüng- lich gleichartigen embryonalen Elemente des sich entwickelnden Zellen- staates zur Übernahme besonderer Funktionen und zur Ausbildung entsprechender Strukturen veranlaßt werden, so ist zunächst wieder an unsere frühere Erörterung (S. I3I—I36) zu erinnern, daß durch die Potenzierung der Artzelle allein schon eine fortlaufende Kette von neuen Systembedingungen geschaffen wird. Dementsprechend werden auch die Wirkungen, welche die embryonalen Zellen als zum System verbundene Glieder einer übergeordneten Lebensgemeinschaft auf- einander ausüben, mit jeder Stufe des Entwicklungsprozesses viel- fältiger werden müssen. Es braucht wohl kaum hervorgehoben zu werden, daß es sich hierbei um ein Kräftespiel handelt, welches menschlicher Erkenntnis noch größere Schwierigkeiten darbietet, als der Lebens- prozeß der Zelle selbst, trotzdem auch diese schon für sich als ein Mikro- kosmus, als eine Welt im kleinen, bezeichnet werden kann. Dem Natur- 140 Viertes Kapitel. forscher muß solche Einsicht fast als etwas Selbstverständliches er- scheinen. Denn wenn schon von allen Wirkungen, welche die Dinge der leblosen Natur aufeinander ausüben, sich gewiß noch sehr viele unserer Kenntnis entziehen, um wie viel mehr muß dies erst in der ÖOrganismenwelt der Fall sein ? Gegenstände unserer Forschung werden ja nur solche Wirkungen, welche in den Bereich unserer sinnlichen Wahrnehmung entweder direkt fallen oder durch experimentelle Hilfsmittel uns wahrnehmbar gemacht werden können. Nun sehen wir zwar im Verlauf des Entwicklungs- prozesses in der immer deutlicher werdenden Formung des Embryo die sichtbaren Ergebnisse der Wirkungen von ungezählten Scharen tätiger Baumeister vor uns. Ihr Studium hat das Forschungsgebiet der Embryologen seit mehr als Io0 Jahren gebildet. Und wer wollte verkennen, mit welchem großen Erfolg hier die biologischeWissenschaft uns mit der werdenden Formbildung bei Pflanzen und Tieren auf den verschiedenen Stufen der Entwicklung bekannt gemacht und schon ein stolzes Lehrgebäude errichtet hat, wie uns ein einfacher Vergleich mit der Wissenschaft des 17. Jahrhunderts lehrt! Und doch können wir auch angesichts solcher Fortschritte uns nicht verhehlen, daß, was wir seither von den embryologischen Vorgängen erforscht haben, nur ein sehr unvollkommenes Stückwerk ist, da wir zwar viele Endergebnisse von den Wirkungen der Zellen kennen gelernt, aber trotzdem keinen Einblick in den Prozeß ihrer Arbeit, überhaupt in die feinere Maschinerie des ontogenetischen Geschehens gewonnen haben. Dem Embryologen mag es indessen hierbei zum Trost gereichen, daß bei den viel einfacheren Verhältnissen des ‘chemischen Geschehens der physikalische Chemiker sich nach dem früher angeführten Geständnis von NERNST den gleichen Schwierigkeiten gegenüber sieht, wenn er nach dem Vorbild der klassi- schen Mechanik die chemischen Vorgänge und die Affinitäten der Atome in ihren Verbindungen etc. zu erklären versucht. Nachdem ich auf die Schwierigkeiten, welchen eine Erklärung der Entwicklung aus ihren Ursachen begegnet, hingewiesen habe, lasse ich zur Orientierung über unser Thema noch einige weitere Betrachtungen folgen. Da Ursachen, die auf die lebende Zelle von außen oder von anderen Zellen einwirken, in der Physiologie Reize heißen, so können solche, welche beim formativen Wachstum durch die wechselnden Systembedingungen entstehen, als die ‚„formativen‘“ Wachstums- reize bezeichnet werden. Dieselben lassen sich weiter nach den Wir- kungen, durch die sie uns in der Ontogenese erkennbar werden, in zwei Gruppen einteilen, in ‘organbildende und in strukturbildende Wachs- # Das Prinzip der Arbeitsteilung und Differenzierung. I4I PM ä x tumsreize. Für diese würde auch das Prädikat ..differenzierende‘‘ an- wendbar sein, da sie bei der Arbeitsteilung die histologische Differen- _ zierung hervorrufen. Je nachdem die einen oder die anderen Reize während der Onto- genese in den Vordergrund treten, kann man mit C. ERNST v. BAER zwei Perioden der Entwicklung unterscheiden, eine der morphologischen j und eine der histologischen Sonderung. Die erste ist für die Anfangs- stadien, die zweite für die späteren Stadien der Entwicklung charak- teristisch. In der ersten Periode, die bei den Wirbeltieren besonders ausgeprägt ist, werden durch organbildende Wachstumsreize die art- gleichen Embryonalzellen bei ihrer fortschreitenden Vermehrung in - besondere Gruppen, in die einzelnen Keimblätter und in die aus ihnen ‚sich wieder sondernden Organanlagen geordnet. In der zweiten Periode der histologischen Sonderung erfahren dann die einzelnen Zellen selbst durch die differenzierenden Wachstumsreize sichtbar werdende Veränderungen in ihrer Organisation. Die chemischen - Prozesse im Zellenleben treten jetzt, wenn wir von der Vorentwicklung des Eies im Ovarium an rechnen, in eine dritte, sich deutlich markierende - Phase ein (vgl. S.ı32). Während für die Periode der morphologischen e Sonderung die kolossale Vermehrung der Kernsubstanzen und ihre _ erbgleiche Verteilung auf immer zahlreicher werdende Zentren des Stoff- und Kraftwechsels (Energiden) eigentümlich ist, werden in der ' Zeit der histologischen Sonderung viele nicht-idioplasmatische Sub- stanzen chemisch gebildet. Es entstehen die sogenannten Protoplasma- produkte, welche schon BEALE als formed matter zusammengefaßt hat, und auf deren Anwesenheit die spezifischen Leistungen der einzelnen Organe und Gewebe beruhen; sie bieten im Pflanzen- und Tierreich, aber auch zwischen den Vertretern der einzelnen Tierstämme sehr große - Unterschiede voneinander dar. Ich erinnere an die zahlreichen Stoffe, welche der Zelle zum Schutz und zur Stütze dienen, an die Zellulose mit ihren Derivaten, an das Chitin der Würmer und Arthropoden, an das Konchiolin der Mollusken und das Tunicin der Tunicaten, ferner an die sehr mannigfaltigen Bestandteile der Grundsubstanzgewebe bei den Wirbeltieren, an das Mucin, Chondrin, Glutin, Ossein, Elastin etc. Und alle diese Substanzen können noch weiter chemisch verändert und in ihrer Leistung gesteigert werden, wenn sie sich mit kohlensaurem - oder phosphorsaurem Kalk oder Kieselsäure chemisch verbinden. Durch andere verwickelte und meist unbekannte chemische Prozesse werden im Protoplasma Keratin oder die verschiedenartigsten Drüsensekrete _ und Fermente oder Muskel- und Nervenfibrillen gebildet und mit einer 142 Viertes Kapitel ihnen eigentümlichen, bei den quergestreiften Muskelfasern sehr kompli- zierten Struktur versehen. Wie in der Periode der morphologischen Sonderung Protoplasma- und Dotterbestandteile, die sich bei jeder Vorentwicklung des Eies so reichlich angesammelt hatten, gegenüber den sich vermehrenden Kern- substanzen immer mehr an Masse zurücktreten, so gewinnen jetzt die Protoplasmaprodukte, je mehr die histologische Differenzierung bis zur Vollendung des fertigen Organismus geführt hat, die Oberhand über Protoplasma und Kernsubstanz und bilden weitaus die Haupt- masse des Körpers. Dann haben aber auch die Organismen, am Ende ihrer Entwicklung angelangt, zugleich den höchsten Grad ihrer Leistungs- fähigkeit erreicht. Denn für diese sind direkt die verschiedenen Arten der Protoplasmaprodukte und die aus ihnen zum Teil hergestellten histologischen Strukturen entscheidend. Da sie durch Arbeitsteilung und zur besseren Verrichtung von Arbeit entstanden sind, können sie mit Recht auch als die Arbeitsmittel des Organismus bezeichnet werden. Hier bietet sich uns nun wieder Gelegenheit, den früher angestellten Vergleich zwischen der Arbeitsteilung im Zellenstaat und in der mensch- lichen Gesellschaft noch etwas weiter auszuführen. Auch der Mensch bildet sich gleich der Zelle bei dem Prozeß der Arbeitsteilung seine be- sonderen Arbeitsmittel und Werkzeuge, freilich zum Teil in einer prin- zipiell anderen Weise. Während die Zelle in und aus ihrer eigenen Leibes- substanz sich für besondere Arbeitszwecke geeignete Strukturen schafft, Muskel- und Nervenfibrillen, Bindegewebsfasern und die chemisch ver- schiedenen Arten der Stützsubstanzen etc., erwirbt sich der Mensch zwar auch besondere, für eine Arbeitsleistung erforderliche Fertig- keiten; die eigentlichen Arbeitsmaschinen und Werkzeuge aber, die den Stützsubstanzen, den Muskel- und Nervenfibrillen vergleichbar sind, lernt er der äußeren Natur abgewinnen, indem er sie sich künstlich aus den verschiedenartigsten, ihr entnommenen Substanzen herstellt. So werden ihm Telegraphen- und Telephondrähte zu den Nerven des gesellschaftlichen Organismus, welche alle Teile desselben auf weiteste Entfernungen hin in unmittelbaren und raschen Zusammenhang bringen. Den Saftbahnen der Pflanzen und den Blutgefäßen der Tiere lassen sich die durch menschliche Tätigkeit hergestellten Transportwege für den Nahrungs- und Güteraustausch vergleichen, schiffbare Kanäle, Fahr- wege, Dampf- und elektrische Bahnen. Hierzu gesellen sich zahllose Maschinen, Werkzeuge und Instrumente, welche als Arbeitsmittel zur Ausführung besonderer Funktionen bei der re Gliederung der Gesellschaft zur Verwendung kommen. 4 F “ Das Prinzip der Arbeitsteilung und Differenzierung 143 Wenn ich bisher mehr in allgemeinen Zügen eine Darstellung vom Prinzip der Arbeitsteilung und Differenzierung im Zellenstaat gegeben habe, so wird es sich jetzt noch empfehlon, an einem einfachen und lehrreichen Beispiel, das ich dem Pflanzenreich entnehme, eine an- schauliche Erläuterung hinzuzufügen. Bei den vielzelligen Landpflanzen hat sich ein auffälliger Gegen- satz zwischen ober- und unterirdischen Teilen ausgebildet. Die ober- irdischen Zellen sind den Einwirkungen der Atmosphäre und des Sonnen - lichts ausgesetzt; die anderen dagegen sind in der Tiefe der Erde dem Einfluß des Lichtes entzogen und zu dem im Boden enthaltenen Wasser und seinen Salzen in Beziehung gebracht. Indem nun bei der Entwick- lung des Pflanzenkeims seine Zellen teils eine oberirdische, teils eine unterirdische Lage erhalten, ist in diesem Moment der Grund für eine Arbeitsteilung und Differenzierung gegeben, welche sowohl für den Stoffwechsel, wie für die ganze pflanzliche Formbildung von entschei- dender Bedeutung ist. Denn unter allen Lebewesen besitzen allein die Pflanzenzellen, wenn wir von einigen Gruppen von Schmarotzern ab- - sehen, kraft der ihnen eigentümlichen Organisation die Fähigkeit, aus Kohlensäure, Wasser und Salzen durch chemische Synthese organische Substanzen, zuerst Kohlehydrate und Fette und aus diesen bei weiterer Umarbeitung Eiweißkörper und lebendes Protoplasma zu erzeugen. Die wichtigste Rolle bei diesen Umsetzungen spielt der den Pflanzen eigentümliche Chlorophyllapparat. Er ist für ihre Ernährung absolut _ notwendig und zwar muß er sich hierbei in einer Lage befinden, in der er vom Licht direkt getroffen werden kann. Denn nur im Licht kann > | f ‚u & er die Kohlensäure der Luft zersetzen und zum Aufbau von Kohlehydraten ‘verwenden. Daher kann eine einzellige chlorophylihaltige Pflanze nur im Lichte leben, während bei Vielzelligen ein Teil der Zellen ohne Schaden das Chlorophyll verlieren kann, wenn nur ein anderer Teil es behalten ‚hat und auch für die Ernährung der ersteren durch die von ihm gebildeten Kohlehydrate sorgt. Wurzelzellen können daher zum Eindringen in den Erdboden gebildet werden und können unter Verlust des Chlorophylls im Dunkeln existieren, weil sie mit den organischen Nahrungsstoffen die sie selbst zu bilden außerstande sind, von den oberirdischen, grünen Zellen versorgt werden. Und umgekehrt sind diese wieder, am gut ge- deihen zu können, wegen ihrer räumlichen Trennung vom Boden mit seinen Nährsalzen auf die Wurzelzellen angewiesen, von welchen sie Wasser und Salze zugeführt erhalten. So hat sich im pflanzlichen Zellenstaat nach dem Prinzip der Arbeitsteilung und Differenzierung ein doppelter Transport in entgegengesetzter Richtung, eine Art Güter- I44 Viertes Kapitel. austausch durch Aus- und Einfuhr, ausgebildet: ein Saftstrom von den Wurzeln nach den Zweigen und Blättern, und wieder in entgegengesetzter Richtung ein Transport von Kohlehydraten und anderen in den Blättern erzeugten, organischen Stoffen nach den Wurzeln. Bei den niedersten Pflanzen von geringer Größe genügt für diesen Zweck der einfache Austausch von Zelle zu Zelle. Dagegen sind bei höheren Pflanzen mit bedeutenderem Umfang durch Arbeitsteilung besondere Gewebe für den Transport entstanden. Sie lassen sich bei niederen und bei höheren Kryptogamen, sowie bei Phanerogamen auf verschiedenen Stufen ihrer Ausbildung beobachten. Bei Moosen etc. haben sich die zur Saftleitung dienenden Zellen zu Strängen vereint, in der Richtung des Saftstroms in die Länge gestreckt und sind dadurch vom gewöhnlichen Parenchym unterscheidbar geworden. Aus ihnen haben sich dann bei den höheren Kryptogamen und Phanerogamen deutlicher abgegrenzte Bündel von außerordentlich langen Röhren oder Gefäßen dadurch entwickelt, daß die Ouerscheidewände zwischen den aneinander gereihten Zellen aufgelöst worden sind. Durch Ausbildung verschiedener Skulpturen an ihren Zellulosewänden sondern sie sich häufig noch weiter in Tüpfel-, in Treppen- und Spiralgefäße, zu denen sich auch Tracheiden und Siebröhren hinzugesellen können. So hat sich für Zwecke der Er- nährung der vielzellige Pflanzenkörper durch Arbeitsteilung und Diffe- renzierung in eine Summe verschiedener Gewebsformen infolge differen- zierender Wachstumsreize während seiner Entwicklung gesondert. 3. Das Prinzip der physiologischen Integration. Der Prozeß der Arbeitsteilung und Differenzierung, der in dem vorausgegangenen Abschnitt besprochen wurde, findet seine natur- gemäße und notwendige Ergänzung in dem ebenso wichtigen, von HERBERT SPENCER unterschiedenen Prozeß der physiologischen Inte- gration. Wenn Zellen zu einer Gemeinschaft verbunden werden, wenn hierbei die einen auf die anderen Wirkungen ausüben, wenn sie infolge- dessen in der früher beschriebenen Weise eine Arbeitsteilung vornehmen und sich differenzieren, so verlieren sie als Lebenseinheiten einen Teil ihrer Selbständigkeit. Sie werden abhängig voneinander. Sie bilden, wenn wir ihre vielfältigen Beziehungen zueinander in das Auge fassen, nur noch Teile einer übergeordneten Lebensgemeinschaft, die man als Individuum höherer Ordnung bezeichnet. Oder wenn wir uns der Aus- drucksweise der Mechanik bedienen, so sind sie Glieder eines zusammen- gesetzten mechanischen Systems geworden. Als zugehörige Teile BT Das Prinzip der physiologischen Integration. 145 von einem höheren Ganzen werden dann die einzelnen Zellen, außer von ihren eigenen Gesetzen, auch noch von den Gesetzen der ihnen übergeordneten, durch ihre Ge- meinschaft neugebildeten Lebenseinheit beherrscht, oder in der mechanischen Ausdrucksweise, sie hängen ab von den neuen Systembedingungen, für die REINKE die Be- zeichnung „Dominanten‘“ eingeführt hat. Das sind in ihren wesentlichen Zügen die Vorgänge, die unter den Begriff der Integration fallen und für das Verständnis der Organismen- welt ebenso wichtig sind, wie die Vorgänge der Arbeitsteilung und Diffe- renzierung. Differenzierung und Integration sind zusammengehörige und ein- ander ergänzende Begriffe, wie das Ganze und seine Teile, oder wie Grund und Folge. Sie sind überall anwendbar, wo lebende Teile zu einem zusammengesetzten System gesetzmäßig verbunden werden. Die- selben Verhältnisse wie zwischen Zellen und Zellenstaat finden sich auch bei Tierstöcken, die hier und da aus der Verbindung einzelner Individuen entstehen, z. B. bei den Hydromedusen und in besonders ausgeprägter Weise bei den Siphonophoren ; sie finden sich ebenso überall, wo Staaten- gebilde durch Vergesellschaftung von Tieren (Ameisen, Termiten, Bienen, Menschen) zustande gekommen sind. Von diesen Gesichtspunkten aus betrachtet, bietet die mensch- liche Staatenbildung eine lehrreiche Parallele dar, bei deren Ausführung ein jeder aus eigener Erfahrung den Zusammenhang zwischen physio- logischer Arbeitsteilung, Differenzierung und Integration, zwischen Selbständigkeit und Abhängigkeit in dem System einer übergeordneten Gemeinschaft sich zum Bewußtsein bringen kann. Während der Einzelne auf der einen Seite sein individuelles Leben nach den Gesetzen seines eigenen Körpers führt und als Persönlichkeit fühlt und handelt, ist er doch auf der anderen Seite in seiner Lebenshaltung von der Tätigkeit unzähliger Personen und von der gedeihlichen Entwicklung des ganzen Staatengebildes in hohem Maße abhängig, in seiner Ernährung, in seiner persönlichen Sicherheit, in Unterricht und Erziehung, in der Wahl und Ausübung seines Berufs. Wie werden ihm Störungen, die irgendwo im sozialen Organismus eintreten, eine Handelskrise, eine Arbeitseinstellung, eine größere Verkehrshemmung, soziale und politische Streitfälle in vielen Beziehungen fühlbar. So ist bei genauerer Prüfung der arbeitsteilige Bürger eines Kulturstaates trotz seiner scheinbaren individuellen Freiheit und eines eingebildeten Gefühls der Unabhängig- O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl. Io 146 Viertes Kapitel. keit in Wirklichkeit zu einem sehr abhängigen Glied des übergeordneten sozialen Organismus geworden. Bei der Untersuchung der Beziehungen, in welchen das Ganze zu seinen Teilen steht, können sich zwei Betrachtungsweisen geltend machen und auch in Gegensatz zueinander treten, je nachdem man den Teil für sich oder das Ganze für sich in den Vordergrund stellt und zum Maßstab der Beurteilung macht. So kann sich bei der Betrachtung des menschlichen Staates hier mehr ein individualistischer, dort mehr ein sozialistischer Standpunkt geltend machen. Ähnliches läßt sich in der Geschichte der Biologie auch in der Beurteilung des Verhältnisses zwischen Zelle und vielzelligem Organismus beobachten. Nach der Begründung der Zellentheorie hat eine Zeitlang eine Forschungsrichtung überwogen, durch welche die Zellen zum Mittel- punkt morphologischer und physiologischer Untersuchungen in etwas einseitiger Weise gemacht wurden. Den hierbei zutage tretenden Anschauungen hat HEIDENHAIN in seinem Buch ‚Plasma und Zelle“ die tadelnde Bezeichnung ‚Bausteintheorie‘‘ gegeben; findet man doch in der Literatur die Zellen nicht selten als Bausteine bezeichnet, aus denen der vielzellige Organismus gleichsam wie ein von Menschenhand aufgeführtes Gebäude zusammengesetzt sei. Mit Recht hat HEIDEN- HAIN in seiner Bezeichnung eine schwache Seite des Vergleichs hervor- gehoben, da die Bausteine in einem Gebäude in einen mehr äußerlichen Zusammenhang zueinander gebracht sind, während doch die lebenden Zellen Wirkungen aufeinander ausüben und sich dadurch sowohl in mor- phologischer als noch viel mehr in physiologischer Beziehung in einem innerlichen Zusammenhang befinden. Gegen die Überschätzung des cellularen Prinzips, die zu einer „Bausteintheorie‘‘ führen kann, haben schon zu verschiedenen Zeiten einzelne Forscher, wie SACHS, DE BARY, WHITMAN, RAUBER u. a. Ein- spruch erhoben!). Indem sie die Bedeutung der zusammengesetzten Lebenseinheit in den Vordergrund stellen, haben sie Bemerkungen getan, die leicht wieder zum entgegengesetzten Fehler, zur Unterschätzung der Zelle als Gegenstand der Forschung verleiten können. Der berühmte Pflanzenphysiologe SAacHs bezeichnet es als eine gänzlich verfehlte Auffassungsweise, „daß die gesamte Gestaltung und Volumzunahme einer Pflanze aus dem Leben ihrer einzelnen Zellen 1) Sachs, J., Vorlesungen über Pflanzenphysiologie, 1882. — de Bary, Botanische Zeitung, 1879. — Whitman, The inadequacy of the cell theory of development. Woods Holl Biol. Lect., 1893. — Rauber, Neue Grundlegungen sur Kenntnis der Zelle. Morph. YJahrb., Bad. VIII, 1883. j Das Prinzip der physiologischen. Integration. 147 erklärt werden könne“. ‚Ebenso wie das Wachstum der ganzen Pflanze und eines ganzen Organs derselben, sei auch das ihrer einzelnen Zellen dasResultat allgemeiner Gestaltungsgesetze, welche die organische Materie ganz ebenso wie die unorganische beherrschen“. „Die Zellenbildung ist“ für SAcHs ‚eine im organischen Leben zwar sehr allgemeine Er- scheinung, aber doch nur von sekundärer Bedeutung, jedenfalls bloß eine der zahlreichen Äußerungen des Gestaltungstriebes, der aller Materie, im höchsten Grade aber der organischen Substanz innewohnt.‘“ Den gleichen Ideengang hat DE BArY in den kurzen, prägnanten Satz zu- sammengefaßt: „Die Pflanze bildet Zellen, nicht die Zelle bildet die Pflanze.“ In ähnlicher Weise hat sich in einer interessanten Rede bei Ge- legenheit der Weltausstellung in Chicago der amerikanische Natur- forscher WHITMAN über ‚die Unzulänglichkeit der Zellentheorie für die Entwicklungstheorie‘‘ ausgesprochen. An Beispielen sucht er darzutun, daß die Zellenbildung keinen bestimmenden Einfluß (directive influence) auf die Gestaltungsprozesse ausübt. ‚Das Geheimnis der Organisation, des Wachstums, der Entwicklung beruhe nicht in der Zellbildung, sondern in noch elementareren Elementen der lebenden Substanz (Idiosomes). In ihnen habe jedes Wachstum (Assimilation, Reproduktion und Re- generation) seinen Sitz. Sie setzen jede lebende Substanz zusammen, seien die Träger der Erblichkeit und die wahren Bildner der Organismen. Ihre Aktion sei nicht durch Zellgrenzen beschränkt.‘‘ Was diese Ele- mente sind und wie sie die Form der Organismen und ihre Differenzierung bestimmen, nennt WHITMAN das Problem der Probleme, welches uns allein mehr Licht bringen kann. ‚Das Wesen der Organisation‘, hier stellt sich WHITMAN ganz auf den Standpunkt von SAcHs, „kann nicht mehr in der Zahl der Zellkerne und in der Zahl der Zellen liegen. Die Struktur, welche wir in dem Zellenmosaik erblicken, ist etwas zur Or- ganisation noch Hinzugefügtes, nicht selbst der Grund der Organisation. Vergleichende Entwicklungsgeschichte belehrt uns auf Schritt und Tritt, daß der Organismus die Zellenbildung beherrscht, indem er für den gleichen Zweck eine, einige oder viele Zellen gebraucht, das Zellen- material zusammenhäuft und seine Bewegungen leitet und seine Organe formt, als ob die Zellen nicht existierten, oder als ob sie nur sozusagen in völliger Subordination unter seinen Willen existierten.‘ Ähnliche Anschauungen hat schon vor WHITMAN in etwas anderer Weise RAUBER in seinen ‚neuen Grundlegungen zur Kenntnis der Zelle‘ entwickelt. Den Zelltheoretikern, welche bei ihren Untersuchungen die Zellen in den Vordergrund stellen und aus ihrer Vereinigung den 10* 148 , Viertes Kapitel. zusammengesetzten Organısmus erklären wollen, hält er die These ent- gegen: „Das Ganze bestimme die Teile, und nicht umgekehrt. Denn der fertige Organismus sei nichts anderes als das in gesetzmäßiger Weise gewachsene und zerlegte Ei. Die Bestimmung der Art des Wachstums sei im Ei enthalten, ebenso die Bestimmung seiner Zerlegung. Das Ei sei also das Ganze im jugendlichsten Zustand.‘‘ Auch RAUBER nennt, wie SAcHs, „den werdenden Organismus einen nach bestimmten Richtungen im Wachstum sich ausdehnenden, nach verschiedenen Ausdehnungen des Raumes sich zerklüftenden, in gesetzmäßiger Weise chemisch und histologisch sich gliedernden Protoplasmakörper“. Einseitig erfaßt, ist weder der extrem cellulare Standpunkt, noch die in den Aussprüchen von SACHS, WHITMAN und RAUBER vertretene Auffassung ganz zutreffend und das Verhältnis erschöpfend. Meinen vermittelnden Standpunkt habe ich schon in meiner allgemeinen Bio- logie in den Sätzen gekennzeichnet: ‚So verkehrt es ist, wenn man über der Beschäftigung mit den Zellen die Bedeutung des Ganzen, von welchem doch der Bestand und die Wirkungsweise der einzelnen Zellen nach den Gesetzen der Arbeitsteilung und der physiologischen Inte- gration abhängig ist, übersehen wollte, so wäre es nicht minder verfehlt, wenn man die Wirkungsweise des Ganzen erklären wollte, ohne dabei auf die Zusammensetzung aus Teilen in gebührender Weise Rücksicht zu nehmen. Das Ganze und die Teile gehören eben zusammen, „sie sind‘, wie Kuno FISCHER von allgemein philosophischem Standpunkt bemerkt, „ebenso wesentlich unterschieden als aufeinander bezogen. , Keiner der beiden Begriffe kann ohne den anderen gedacht werden. Das Ganze ist nur Ganzes in Rücksicht auf die Teile, in deren Verbindung es besteht. Die Teile sind nur Teile in Rücksicht auf ein Ganzes, zu dem sie sich als Teile verhalten. So fordert jeder der beiden Begriffe den anderen als notwendige Bedingung.‘“ Nach meiner Meinung sind daher die Schlag- worte: „die Pflanze bildet die Zelle‘ oder ‚die Zelle bildet die Pflanze“ keine sich ausschließenden Antithesen. Man kann beide Redewendungen gebrauchen, wenn man nur das komplizierte Verhältnis, in welchem die Zelle als der Teil und die Pflanze als das Ganze zueinander stehen, in der richtigen Weise erfaßt. Denn hierauf kommt es für das Ver- ständnis der pflanzlichen und der tierischen Organisation an. Durch die richtige Verwertung der sich ergänzenden Begriffe der Differenzierung und Integration der Zelle lösen sich von selbst die Widersprüche zwischen den beiden einander entgegengesetzten Stand- punkten, von denen der eine die Zelle, der andere den fertigen Organismus zum Ausgangspunkt für die Beurteilung der Lebensprobleme nimmt Das Prinzip der physiologischen Integration. 149 Zu einer Unterschätzung des Zellenbegriffs für die uns beschäf- tigenden Fragen der Entstehung der Organismen und des im XII. Kapitel zu erörternden Vererbungsproblems kann leicht auch eine Bemerkung von NÄGELI führen, welche ihm bei der Begründung seiner Idioplasma- theorie zur Rechtfertigung seines spekulativen Verfahrens dienen sollte. „Die Zelle“, bemerkt NÄGELI, „ist für den morphologischen Aufbau eine sehr wichtige Einheit, aber nicht etwa allgemein die Einheit schlecht- hin. Unter Einheit müssen wir, physikalisch aufgefaßt, ein System von materiellen Teilen verstehen. Es gibt demnach in der organischen Welt eine große Zahl von über- und untergeordneten Einheiten: die Pflanzen- und Tierindividuen, — die Organe, — Gewebs- teile, — Zellgruppen, — die Zellen, — Teile von Zellen, — die Micelle, — die Moleküle, — die Atome. Bald tritt die eine, bald die andere Einheit in morphologischer und physiologischer Beziehung charakteristischer und ausgeprägter hervor. Somit ist kein Grund, warum bei einer all- gemeinen Theorie eine besondere Stufe der Gestaltung begünstigt sem sollte.‘ Wenn in dieser Bemerkung von NÄGELI der auch von mir vertretene und begründete Gesichtspunkt zu Recht besteht, daß in der organischen Welt eine Stufenfolge übereinander geordneter Einheiten zu unterscheiden ist, so kann doch nicht allen derselbe Wert bei dem gegenwärtigen Stand unserer Forschung und für ihre weitere Förderung zuerkannt werden. Um einen entsprechenden Fall aus den anorganischen Wissenschaften heranzuziehen, so wird wohl Niemand bestreiten wollen, daß die als Atom begriffene Einheit die Grundlage für die Entwicklung der modernen Chemie geworden ist und noch für lange Zeit bleiben wird, trotzdem sıe sich nach den neuesten Entdeckungen noch weiter in radioaktive Kor- puskeln zerlegen läßt, die zu einer neuen Grundlage für zukünftige chemische Forschung gemacht werden können. Wie das Atom für chemische Körper, so tritt bei der Organisation der lebenden Substanz die Zelle in der Stufenfolge der übereinander geordneten Einheiten in morphologischer und physiologischer Hinsicht doch ungleich viel mehr als Einheit in den Vordergrund als die hypothetische Micelle oder als einzelne Zellbestandteile, wie Plastochondrien und Chromosomen, oder als Gewebsteile und Organe. Denn erstens gibt es wirklich unzählige Arten einzeln lebender Zellen, während Micellen, Zellbestandteile, Ge- websteile und Organe als selbständige Lebenseinheiten nicht beobachtet worden sind. Und zweitens haben die biologischen Einheiten, vermittels deren sich die vielzelligen Pflanzen und Tiere durch Fortpflanzung erhalten, Sporen, Eier und Samenfäden, nachgewiesenermaßen eben- I50 Viertes Kapitel. falls den Formenwert von Zellen. Daher gewinnen diese auch eine ganz besondere Bedeutung für die Vererbungstheorie (vgl. S. 54—II8). Wer sich nicht auf das Gebiet der reinen Spekulation begeben will, wie es NÄGELI in mancher Hinsicht zum Nachteil seiner Theorie getan hat, sondern mit der auf Beobachtungstatsachen aufgebauten Wissenschaft in Fühlung bleiben will, der wird den Zellenbegriff bei theoretischen Erörterungen, wie den vorliegenden, nicht vernachlässigen dürfen. Unter voller Anerkennung des Gesetzes der Integration und ohne Widerspruch zu ihm halte ich daher an dem im III. Kapitel entwickelten Standpunkt fest und fasse ihn jetzt wegen seiner Wichtigkeit noch einmal in die These zusammen: Die Artzellen haben für den Biologen dieselbe Bedeutung, wie für den Chemiker die Atome der chemischen Elemente. Sie sind zurzeit die einfachsten, einander vergleichbaren, lebenden Stoffeinheiten, die jedem Lebewesen zugrunde liegen. In ihnen ist die Eigenart eines jeden Organismus gleichsam in der einfachsten Formel ausgedrückt in der Weise, daß man sagen kann, es existieren so viele verschiedenartige Artzellen, als das Organismenreich aus ver- schiedenartigen Lebewesen besteht. Nach Besprechung des allgemeinen Begriffs der Integration wollen wir jetzt noch einen Überblick über die wichtigsten Erscheinungen, die unter ihn fallen, zu gewinnen und einige Regeln aus ihnen abzu- leiten versuchen. I. Regel. Bei Pflanzen und Tieren läßt sich eine lange Stufen- folge der allerverschiedensten Grade in der Differenzierung und Inte- gration ihrer Zellen beobachten. Am Anfang der Reihe stehen die niederen Algen, Pilze und andere Kryptogamen; von ihnen führen Übergänge zu den Gefäßkryptogamen und von diesen zu den niederen und höheren Formen der Phanerogamen. Im Tierreich sind die niederen Cölenteraten (Hydroidpolypen) und Würmer wenig differenziert und integriert. Den Gegensatz zu ihnen bilden die höchstentwickelten Ver- treter der Arthropoden und Wirbeltiere mit ihrer ungemein reichen Sonderung in sehr viele Organe und Gewebe und mit ihrer auf das schärfste durchgeführten Integration. % 2. Regel. Je nach dem Grad der zunehmenden Differenzierung und Integration verlieren viele Zellen als Teile eines übergeordneten Ganzen ihre Selbständigkeit als autonome Lebenseinheiten; obgleich durch erbgleiche Teilung aus einer Artzelle entstanden, können sie schließlich selbst nicht mehr zur Erhaltung der Art dienen. Während bei niederen Kryptogamen und Phanerogamen fast an jeder Stelle des Körpers durch Teilung embryonaler Zellen sich Knospen für vegetative ei Das Prinzip der physiologischen Integration. I5I Vermehrung der betreffenden Art bilden können, ist bei den Vertebraten die Fortpflanzung nur auf die kleine Anzahl von Keimzellen beschränkt, die als Eier oder Samenfäden in den Geschlechtsorganen abgesondert werden. 3. Regel. Mit zunehmender Integration wird ebenso wie die Re- produktionskraft auch die Fähigkeit der Organismen, verloren ge- gangene Teile wieder zu ersetzen, abgeschwächt. Bei niederen Organismen ist das Regenerationsvermögen in wunder- barer Weise fast unbegrenzt. Wenn Moose (Funaria), manche Arten _ von Polypen und Würmern (Hydra, Planaria, Nais etc.) in kleine Stück- chen. zerschnitten werden, so ergänzt jedes Stück nach kurzer Zeit den "Teil, der zur Wiederherstellung des Ganzen fehlt, in ähnlicher Weise wie ein Kristall ein ausgebrochenes Stück durch Anlagerung neuer Salzteilchen aus der Mutterlauge ersetzt. Eine Planarie regeneriert wieder an der Wundfläche das abgeschnittene Kopfende mit Hirn- ganglion und Ocellen oder, wenn sie in der Medianebene halbiert worden ist, eine ganze fehlende Körperhälfte. Dagegen kann bei den Wirbel- tieren, deren Integration den höchsten Grad erreicht hat, ein Regene- rationsvermögen nur noch in Spuren bei der Ergänzung von Wund- defekten beobachtet werden. Eine auffällige Ausnahme unter ihnen bilden die geschwänzten Amphibien, bei denen eine abgetrennte Ex- tremität, das Schwanzende, ja selbst Teile des Auges wieder neu er- zeugt werden können. Embryonen und Larven regenerieren leichter als alte Tiere, was ja auch nach der zweiten Regel verständlich ist, da ihre Differenzierung erst noch in der Entwicklung begriffen ist. 4. Regel. In demselben Maß wie eine Zelle dem Ganzen eingeordnet und zur Ausbildung einer besonderen Funktion durch die System- - bedingungen, unter denen sie sich befunden hat und noch befindet, gezwungen worden ist, wird sie gewöhnlich unfähig zur Entwicklung anderer Anlagen, die sie als Erbteil der ursprünglichen Artzelle emp- fangen hat. Daher können Gewebszellen, wenn sie sich durch Teilung ver- mehren, meist nur wieder ihresgleichen hervorbringen, wie Epithel- oder Drüsen- oder Muskel- oder Nervenzellen. Bei voll ausdifferenzierten Zellen wird ein Funktionswechsel nur in seltneren Fällen beobachtet: so können die einzelnen Modifikationen der Bindegewebsgruppe in einander übergehen, aus Gallertgewebe Knorpel- und kollagenes Binde- gewebe durch die Zwischenstufen des Vorknorpels und fötalen Binde- - gewebes entstehen; und diese können wieder in Knochensubstanz um- gewandelt werden. Aus Bindegewebskörperchen können Fettzellen 152 Viertes Kapitel. werden. Beim Funktionswechsel der Zellen und Gewebe werden ge- wöhnlich die zuerst gebildeten Protoplasmaprodukte, ehe sie durch andere ersetzt werden, vorher zerstört. Es tritt eine Entdifferenzierung ein, wie es in der pathologischen Anatomie heißt. So wird Knorpel- grundsubstanz eingeschmolzen, ehe Ossein an seine Stelle tritt; Binde- gewebsfasern werden sklerosiertt. An der Grenze des Perichondrium und des Periosts schwinden allmählich die kollagenen Bindegewebs- fasern und werden beim appositionellen Wachstum der Knorpel und der Knochen durch Chondrin und Össein ersetzt. Zurzeit ist allerdings der Funktionswechsel mit seiner Metamorphose der Zellen und Gewebe noch immer ein wenig durchgearbeitetes Kapitel der Histologie; doch beweist es immerhin, daß auch bei ausdifferenzierten Zellen neben den zur Ausbildung gelangten Anlagen noch andere latent fortbestehen und unter geeigneten Bedingungen aktıv werden können. Ich werde auf diese Frage noch an anderen Stellen zurückkommen. 5. Regel. In den höchsten Graden von Differenzierung und In- tegration sind die Zellen fast ganz in die verschiedenartigsten Proto- plasmaprodukte umgewandelt, in Stützsubstanzen, Muskel-, Nerven- fibrillen etc., denen gegenüber die Protoplasmareste mit den in ihnen eingebetteten Kernen (die Bindesubstanz- und Muskelkörperchen der alten Autoren) von geringerer Bedeutung sind. Die Plasmaprodukte sind gleichsam die von den Zellen erzeugten Werkzeuge des über- geordneten Organismus, auf deren Zusammenwirken seine Leistungs- fähigkeit jetzt vorzugsweise beruht. Nur die Knorpel- und Knochen- grundsubstanzen dienen zur Stütze, nur die von den Muskelzellen er- zeugten kontraktilen Fibrillen bewegen durch ihre Verkürzung die einzelnen Skeletteile, und ebenso leiten die als Protoplasmaprodukte ge- bildeten Nervenfibrillen die Erregung von einer Stelle des Körpers zur anderen fort. Infolgedessen sind, wie SACHS und DE BArY ganz richtig betont haben, die Leistungen des Organismus durch Gesetze, die in seiner ganzen Einrichtung liegen, ein für allemal bestimmt. Denn was geht im Organismus vor, wenn z. B. ein Reiz die Netzhaut trifft und momentan eine energische Bewegung veranlaßt? Es wird der Reiz nach Regeln, die von vornherein feststehen, in unzähligen Nerven- fibrillen zum Zentralorgan und von diesem weiter zu Tausenden von Muskelfasern fortgepflanzt, die sich sofort auf den Reiz verkürzen und ihrerseits wieder ein Bündel von Sehnenfasern in Spannung versetzen, durch welche dann der Zug wieder auf die Knochensubstanz übertragen wird. Also spielt sich der durch den Reiz der Retina veranlaßte Prozeß vorwiegend nur an den vom Protoplasma zu besonderen Arbeitsleistungen Das Prinzip der physiölogischen Integration. 153 gebildeten Strukturteilen ab. Dagegen sind, wenn wir von den Ganglien- zellengruppen absehen, die Hunderttausende von Zellen, die als Kerne der Schwannschen Scheide den Nervenfibrillen anliegen, oder als Muskel- körperchen in die Primitivbündel, oder als Sehnenkörperchen zwischen die Bindegewebsfasern, oder als Knochenkörperchen in die Knochen- substanz eingelagert sind, nicht unmittelbar in irgendeiner Weise dabei beteiligt. Offenbar hat hier die einzelne Zelle auf den durch den Reiz hervorgerufenen Enderfolg gar keinen Einfluß; denn dieser hängt ledig- lich ab von der bereits vorhandenen und zur Aktion bereiten, gesetz- mäßigen Anordnungsweise von Strukturteilen, welche in der Entwick- lung des ganzen Organismus begründet ist, und welche auch in ihrem leistungsfähigen Zustand vom Ganzen aus erhalten wird. Natürlich ist hiermit nicht gesagt, daß. die Kerne der SCHWANN- schen Scheide, die Muskel-, Sehnen- und Knochenkörperchen für die zu ihnen gehörigen Protoplasmaprodukte etwas Überflüssiges sind. Vielmehr erhalten sie durch die nutritiven Prozesse, die sich in ihnen abspielen, die einzelnen Stücke des komplizierten Apparates in leistungs- fähigem Zustand, indem sie durch das zu ihnen gehörige Protoplasma die Nerven-, die Muskel-, die Sehnenfibrillen und Knochensubstanz er- nähren und, wo es erforderlich ist, auch bei veränderten Verhältnissen in entsprechender Weise gewissermaßen umbauen. Der vorstehende Gedankengang läßt sich in anderer Weise auch so ausdrücken: Der durch den Reiz der Retina hervorgerufene End- erfolg ist nicht durch einen Kompromiß der unzähligen dabei beteiligten Zellindividuen zustande gekommen, sondern erklärt sich aus allgemeinen Gesetzen, die auf der ganzen Entwicklung und Einrichtung des Or- ganismus beruhen, dessen integrierte Teile die aufbauenden Zellen ge- worden sind. Somit treten in dem höchstdifferenzierten Organismus bei physiologischen Untersuchungen die Zellen den Eigenschaften des Ganzen gegenüber mehr in den Hintergrund, während man bei mor- phologischen Untersuchungen mehr geneigt ist, sie als Elementarorganıs- men, durch deren Zusammenordnung der zusammengesetztere Organismus erst zustande gekommen ist, in den Mittelpunkt jeder Betrachtung zu stellen. Wie ich es schon früher bei der Arbeitsteilung getan habe, be- schließe ich auch den Abschnitt über Integration durch Vorführung von drei Beispielen, die uns ein anschauliches Bild von der Art und Weise geben sollen, in der bei den hochorganisierten Tieren die Zellen durch die Vergesellschaftung mit anderen ihresgleichen von den Be- dingungen und Gesetzen abhängig werden, die sich im Zellenstaat all- 154 Viertes Kapitel, mählich ausgebildet haben. Ich wähle dieselben aus meiner allgemeinen Biologie, da ich sie durch bessere nicht würde ersetzen können. Im tierischen Körper beziehen Milliarden von Zellen die zur Er- haltung des Lebens erforderlichen Nahrungsstoffe nicht mehr direkt von der Außenwelt, sondern durch Vermittlung einer zentralen Er- nährungsanstalt, die allmählich nach dem Prinzip der Arbeitsteilung und Differenzierung im Zellenstaat entstanden ist. Im Magen und Darmkanal werden die von außen bezogenen, im Mund zerkleinerten Nährmaterialien chemisch verarbeitet. Durch die Sekrete verschiedener Drüsen werden Kohlehydrate, Fette und Eiweißkörper in geeignete Lösungen übergeführt und für die Darmwandungen aufsaugbar gemacht, Eine konzentrierte Nährflüssigkeit, zusammengesetzt aus allen zur Erhaltung der Zellen erforderlichen Materialien, wird so von einer Zentralstelle aus geschaffen. Hierdurch wird auch den abseits von ihr gelegenen, mit anderen Funktionen betrauten Zellen die: Befriedigung ihres Nahrungsbedürfnisses so sehr erleichtert und vereinfacht, daß sie nur noch den zum unmittelbaren Gebrauch fertiggestellten Nahrungs- saft von der Zentralstelle aus zu beziehen brauchen. Auch hierfür sind im Zellenstaat nach dem Gesetz der Arbeitsteilung besondere Vor- kehrungen entwickelt worden. Um vom Darmkanal aus den Nahrungs- saft an jede Verbrauchsstelle sofort und in raschester Weise zu schaffen, sind besondere Kanäle von größerem und kleinerem Kaliber, die Blut- und Lymphgefäße, entstanden. Sie nehmen durch den Prozeß der Auf- saugung von den Wandungen des Darmkanals den Nahrungssaft auf, um ihn auf tausend und aber tausend Wegen den einzelnen Provinzen und Organen des Körpers zuzuführen. Hier wird er schließlich wieder in feinsten Röhrchen bis in die unmittelbarste Nähe fast jeder einzelnen Zelle herangebracht. Zur Fortbewegung der Nährflüssigkeit, des Blutes, in den groben Gefäßen und feinsten Haarröhrchen ist auch noch bei der Arbeitsteilung ein zentrales Pumpwerk, das Herz, geschaffen worden. Mit kräftig arbeitenden Muskelzellen, mit Klappen und Ventilen aus- gestattet, macht es erst eine gleichmäßige Zirkulation des Blutes in bestimmter Richtung möglich. So sind alle Zellen in dem sie umströmen- den Nahrungssaft gebadet und können in jedem Moment ihren Bedarf aus ihm bestreiten. Da der Saft, je nach seiner Zubereitung, für jede Art von Organismus seine ganz besondere Mischung hat, ist jetzt jede Zelle, wenn ich mich so ausdrücken darf, in ein für jeden Organismus spezifisches Milieu geraten; auf dieses ist sie ihrer ganzen Natur nach so angewiesen, daß sie überhaupt nur in ihm existieren kann, Be Das Prinzip der physiologischen Integration. 155 Nehmen wir noch ein zweites Beispiel: Zur Unterhaltung der chemischen Prozesse in der Zelle und damit ihres Lebens überhaupt ist Sauerstoff ein unbedingtes Erfordernis. Niedere einzellige Or- ganiısmen nehmen den Sauerstoff an ihrer ganzen Körperoberfläche direkt aus der Luft oder aus dem Wasser auf und geben die Schlacken des Lebensprozesses, die bei der Verwendung des Sauerstoffes ent- stehen, unter ihnen besonders die Kohlensäure, auch direkt wieder an die Umgebung ab. Bei Zellstaaten aber von Millionen und Milliarden von Elementarindividuen ist ein solcher direkter Bezug von der Quelle und ebenso eine direkte Abscheidung der Zerfallsprodukte nach außen eine Unmöglichkeit geworden. Denn die meisten Zellen sind ja wegen ihrer Lage in der Tiefe des Körpers von einem unmittelbaren Verkehr mit der Außenwelt vollkommen abgeschlossen. Sie sind daher, wie es auch bei der Ernährung der Fall war, auf die Vermittlung anderer Zellen zur Befriedigung ihres Sauerstoffbedürfnisses angewiesen. Wieder hat sich hierfür der vielzellig zusammengesetzte Organismus eine Zentral- anstalt geschaffen, die indessen bei den einzelnen Tierklassen sehr ver- schieden eingerichtet ist. Bei dem Menschen und den höheren Wirbeltieren ist es die Lunge, die vermöge ihres eigentümlichen Baues große, dem Bedürfnisse des ganzen Körpers entsprechende Mengen von Sauerstoff durch den At- mungsprozeß aus der Luft aufnehmen kann. Eine Hauptaufgabe fällt hierbei dem durch die Lunge zirkulierenden Blut zu, und zwar den roten Blutkörperchen. Diese sind die Träger einer chemischen Substanz, die mit großer Affinität zum Sauerstoff ausgerüstet ist, des Hämo- globins. Vermittels des roten Blutfarbstoffes absorbieren sie den mit der Atmungsluft in die Luftzellen der Lunge geratenen Sauerstoff und tragen ihn mit der Blutwelle zu allen Organen, allen Geweben und Zellen des Körpers und versetzen sie so in die Lage, ihr Sauerstoffbedürfnis zu befriedigen. In der Physiologie nennt man den letzteren Vorgang im Gegensatz zur Lungenatmung die innere Atmung. Also auch in diesem Beispiel sind die einzelnen Zellen im Zellenstaat, gerade wie es auch bei der Ernährung der Fall war, von besonderen Einrichtungen des höheren Organismus abhängig geworden. Für den normalen Lebens- prozeß, für das Wohlergehen jeder einzelnen Zelle ist nicht nur die normale Arbeit einer gesunden Lunge, sondern auch die richtige Blut- mischung, die Zahl der im Blut vorhandenen roten Blutkörperchen und ihre richtige Ausrüstung mit Hämoglobin eine notwendige Vor- bedingung geworden. Und ähnlich geht es in der sozialen Lebensgemein- schaft der Zellen noch in sehr vielen anderen Beziehungen zu. Überall 156 Viertes Kapitel. findet der Prozeß fortschreitender Arbeitsteilung und Differenzierung seine entsprechende Ergänzung in dem gleich wichtigen Prozeß zu- nehmender Integration, durch die erst die elementaren Lebenseinheiten bei ihrer vielseitigen Differenzierung zu einem in sich abgeschlossenen, festgefügten und zentralisierten Organismus höherer Ordnung zusammen- gefaßt werden. In vollkommenster Weise wird dies schließlich herbeigeführt durch ein Organsystem, durch das die zahlreichen Einzelbetriebe untereinander verknüpft, von höheren Zentralstellen abhängig gemacht und schließlich den allgemeinen Zwecken des Ganzen eingeordnet werden. Ich meine das Nervensystem. Zahlreiche, mit Reizleitung begabte Fäden durch- ziehen, Telegraphendrähten vergleichbar, alle Provinzen des Zellen- staates bis in die kleinsten Bezirke hin. Was hier und dort im Körper vor sich geht, die verschiedenartigsten Empfindungen von Zuständen im Reizleben der Zellen, werden durch sie als Botschaften nach Zentral- stationen, den Ganglienzellen, übermittelt und durch sie zum Bewußtsein des Ganzen gebracht. Und umgekehrt werden durch andere Fäden, durch die motorischen Nerven, von den Zentralstellen Willensimpulse zu diesen und jenen Organen fortgeleitet. Muskeln und Drüsen, Herz und Blutgefäße werden hierdurch zu geordneten, zweckmäßigen Leistungen veranlaßt. Zeit und Maß der Arbeit wird in vielen Fällen nicht mehr von den ausführenden Zellen, Geweben und Organen selbst bestimmt, sondern von Zentralstellen aus, die ihrerseits wieder im Dienste des Ganzen stehen. 4. Das Prinzip der Korrelation oder Koadaptation!). Genau genommen ist das Prinzip der Korrelation und Koadaptation schon ın den beiden vorher besprochenen und umfassenderen Prinzipien der Biologie mitenthalten. Es hebt nur eine Seite derselben durch Zusammenfassung unter einem besonderen Namen noch schärfer hervor, nämlich die wichtige Tatsache, daß mit zunehmender Differenzierung eines vielzelligen Organismus zahlreiche Teile, Zellen, Gewebe und Organe infolge ihrer gegenseitigen Beziehungen so vollständig nach Funktion und Form aneinander angepaßt sind, daß Veränderungen an einer Stelle unmittelbar auch solche an anderen nach sich ziehen. Am deutlichsten ist die Korrelation an den fertig entwickelten Pflanzen ı) Zahlreichere Beispiele mit zugehörigen Literaturangaben finden sich in meiner Allgemeinen Biologie, 4. Aufl., 1912, Kap. 23, 24: „Die inneren Faktoren der orga- nischen Entwicklung“. 3 Die Korrelation im ausgebildeten Organismus. 157 und Tieren ausgeprägt; sie ist aber hier nur die letzte Folge der voraus- gegangenen Entwicklungsprozesse, die sich von Anfang bis zu Ende ebenfalls unter der Herrschaft des Koadaptationsprinzips abgespielt haben. Somit haben wir uns erstens mit der Korrelation bei den aus- gebildeten Organismen, zweitens mit der Korrelation im organischen Entwicklungsprozeß zu beschäftigen. Unsere Aufgabe wird in beiden Fällen hauptsächlich darin bestehen, aus der Fülle der Erscheinungen einige lehrreiche Beispiele zur Erläuterung unseres Themas auszuwählen. a) Die Korrelation im ausgebildeten Organismus. Schon CuvIER hat durch seine ausgedehnten vergleichend-ana- tomischen Untersuchungen der Wirbeltiere und durch seine Studien ihrer fossilen Überreste die große Gesetzmäßigkeit erkannt, welche die zusammengehörigen Knochen einer einzelnen Säugetier- oder Vogel- oder Reptilienart zeigen. Er benutzte diese Erkenntnis, um aus der Form eines einzelnen fossilen Knochens, z. B. eines Unterkiefers, die Tierart zu bestimmen, zu welcher er einst gehört haben muß, oder um aus einzelnen Knochenfunden das ganze Skelett eines ausgestorbenen Wirbeltieres zu rekonstruieren. Seit CuVIERS Zeiten hat nicht nur die weitere Entwicklung der vergleichenden Anatomie, sondern in noch höherem Grade der Fortschritt in der Physiologie zu immer tieferen Einblicken in die Bedeutung der Korrelation der Organe geführt. Ein umfangreiches Buch ließe sich schreiben, wenn man eine erschöpfende Darstellung von ihr geben wollte. Für unseren Zweck aber wird es genügen, wenn ich mich auf einige Beispiele aus verschiedenen Gebieten pflanzlicher und tierischer Organisation beschränke. Bei den Phanerogamen besteht eine leicht nachweisbare Korre- lation zwischen ihren ober- und unterirdischen Teilen. Dem Reichtum der in der Luft entwickelten Zweige und Blätter eines Baumes oder eines Strauches entspricht die Ausbildung seines Wurzelwerkes in der Erde. Durchtrennung einer Hauptwurzel in der Erde hat ein Vertrocknen und Absterben eines von ihr abhängigen oberflächlichen Astes mit seinen Zweigen zur Folge, da er kein Wasser und keine Salze aus dem Boden infolge der Durchschneidung der ihn versorgenden Gefäßbündel mehr zugeführt erhält. Die Notwendigkeit einer derartigen Abhängigkeit zwischen dem Ausbildungsgrad der ober- und der unterirdischen Pflanzen- teile wird jedem gleich verständlich sein, wenn er sich der auf S. 143 angestellten Betrachtung über die pflanzliche Ernährungsweise erinnert. Bei den Tieren macht das Studium der Korrelation uns mit den interessantesten und verschiedenartigsten Verhältnissen bekannt, die 158 Viertes Kapitel. teils durch Vergleichung sich leicht erkennen lassen, teils tiefer ver- verborgen liegen und dann erst durch geeignete Anwendung experi- menteller Methoden klargestellt werden können. Ich beginne mit einem komplizierteren, vergleichend-anatomischen Fall, von dem ich schon in meiner Allgemeinen Biologie eine Beschreibung gegeben rl mit der Crista sterni vom Kolibri. Bei den Vögeln hängt der Grad der Ausbildung ihrer Crista sterni direkt von der Ausbildung ihres Flugvermögens ab. Zur Fortbewegung in der Luft sind viel stärkere motorische Kräfte erforderlich als zur Fortbewegung auf dem -Lande oder in dem Wasser. Bei den Vögeln sind daher die zum Flügelschlag hauptsächlich gebrauchten Muskeln, nämlich die großen M. pectorales, zu so gewaltigen Massen wie sonst bei keinem anderen Wirbeltier entwickelt. Besonders mächtig aber sind sie bei den besten Fliegern, unter denen die kleinen, pfeilschnell durch die Luft schießenden Kolibris in erster Reihe stehen. Den Gegensatz zu ihnen bilden die Laufvögel, von denen die Strauße ihre vorderen Extremitäten überhaupt nicht mehr zum Flug benutzen können und daher auch nur schwach entwickelte Brustmuskeln besitzen. In allen Fällen nun, in denen durch Anpassung an das Fliegen die Brustmuskulatur stark ausgebildet ist, hat sie an einer großen Reihe anderer Organsysteme entsprechende korrelative Abänderungen nach sich gezogen. Zu großen Muskelmassen gehört ein entsprechend großes Ursprungsgebiet am Skelett. Infolgedessen sehen wir bei allen Flug- vögeln das Brustbein, damit es den zahlreicher gewordenen Fasern des Musc. pectoralis eine genügende Ursprungsfläche darbietet, mit einer großen Crista sterni ausgerüstet; diese gewinnt wieder die größten Dimensionen bei den besten Fliegern mit den stärksten Musc. pectorales. So ist bei den kleinen Kolibris (Fig. 19) der Brustbeinkamm von einer ganz überraschenden Höhe, indem er noch um ein beträchtliches den sternovertebralen Durchmesser des Brustkorbes übertrifft. Im Gegen- satz dazu fehlt ein solcher ganz bei den Straußen mit ihrer verkümmerten Brustmuskulatur. j Zu der offenkundigen Korrelation zwischen Muskel- und Knochen- system gesellen sich noch zahlreiche andere. Da jede Muskelfaser von einer Nervenfaser innerviert wird, erfahren die Nervi pectorales bei den Flugvögeln eine entsprechende Zunahme durch korrelatives Wachs- tum. Wahrscheinlich sind hiermit wieder Veränderungen an den Ur- sprungsstellen der Nerven im Rückenmark verknüpft, da die motorischen Nervenfasern als Achsenzylinderfortsätze aus motorischen Ganglien- zellen ihren Ursprung nehmen. Vielleicht reichen sogar die korrelativen Die Korrelation im ausgebildeten Organismus. 159 Veränderungen bis in die Hirnrinde hinein, wo die Pyramidenbahnen ihre zentralen Ursprünge haben. Wie das Nervensystem wird auch das Blutgefäßsystem verändert, indem das Kaliber der die Brustmuskeln ernährenden Arteriae thoracicae in entsprechender Weise zunimmt. Mit der Vergrößerung des Durch- messers muß sich die Gefäßwand verdicken und sich in ihren Schichten der stärkeren Beanspruchung gemäß histologisch verändern; sie muß eine dickere Intima, mehr elastisches Gewebe und zahlreichere glatte Muskelzellen erhalten. Und wenn wir das korrelative Wachstum noch mehr in seinen Einzelheiten verfolgen wollen, so müssen wir weiter hinzufügen, daß mit der neu entstandenen und vergrößer- ten Crista sterni, dem stärker gewordenen Nerv etc. eben- falls veränderte Verhältnisse u. in der Verteilung der Blut- Er NP, gefäße zusammenhängen. Ferner geht auch das mit allen genannten Organen in Verbindung stehende faserige Bindegewebe korrelative Ver- änderungen ein. Der stärker gewordene Musculus pecto- Fig. 19. Skelett eines Kolibri (Lampor- ralis schafft sich eine ent- nis). Die Crista sterni übertrifft an Höhe um sprechend starke Ansatzsehne u den Sternovertebraldurchmesser des am Oberarmknochen, welcher selbst infolgedessen mit einer ansehnlichen Tuberositas an der Ansatzstelle ausgestattet wird. Das interstitielle Bindegewebe zwischen den Muskelfasern nimmt zu. Der dickere Nervenstamm erhält ein entsprechendes Perineurium. In dieser Weise hat die durch Anpassung an den Flug hervor- gerufene Vergrößerung der Brustmuskeln mit Notwendigkeit eine sehr große Anzahl Veränderungen, die auf korrelativem Wachstum beruhen, an manchen Organen und vielen Geweben zu ihrer Folge gehabt. Hierbei sehen wir noch von zahllosen anderen Prozessen im Körper (an Lunge, Herz etc. etc.) ganz ab. Weniger klar als bei der Crista sterni vom Kolibri liegt der Men, u 160 Viertes Kapitel. Zusammenhang, auf dem die Korrelation beruht, bei den sogenannten ‚sekundären Geschlechtscharakteren‘“, Wie bekannt, läßt sich bei manchen Tierarten mit getrenntem Geschlecht beobachten, daß die weiblichen und die männlichen Individuen sich nicht nur durch den Besitz von Eierstöcken oder Hoden mit den ihnen eigentümlichen Aus- führgängen, sondern auch noch durch auffällige Merkmale an manchen anderen Organen unterscheiden. Diese werden gewöhnlich als die se- kundären Geschlechtscharaktere im Unterschied zu den das Geschlecht direkt bestimmenden, primären Merkmalen bezeichnet. In den Fällen, wo sie gut ausgeprägt sind, läßt sich an ihnen die Zugehörigkeit der einzelnen Individuen zu einem bestimmten Geschlecht auf den ersten Blick erkennen. So unterscheiden sich bei den Tritonen die Männchen von den Weibchen zur Zeit der Brunst sofort dadurch, daß ihr Ruder- schwanz von einem breiten, mit Zacken versehenen Flossensaum (Triton cristatus} umgeben ist. Auch ihre Haut ist durch rote und gelbe Pigment- flecke viel lebhafter gefärbt. In der Familie der Hühnervögel zeichnen sich die Männchen durch eigentümliche blutreiche, lebhaft gefärbte Kämme und Hautlappen am Kopf und Hals, sowie durch eine ab- weichende, mit lebhafteren Farben versehene Befiederung vor den meist weniger auffällig gefärbten Weibchen aus. Die Eckzähne der verschie- denen Schweinearten sind nur im männlichen Geschlecht zu den nach außen hervortretenden, großen Hauern entwickelt. Bei den Säugetieren werden zwar die Milchdrüsen in beiden Geschlechtern angelegt, aber nur beim weiblichen Geschlecht erreichen sie eine ansehnlichere Größe und treten zeitweise durch reichliche Milchabsonderung in Funktion. Deutlich ausgeprägt sind endlich auch die sekundären Geschlechts- charaktere beim Menschen in der verschiedenen Art der Behaarung, in der Form des Kehlkopfes und in der hiervon abhängigen, tieferen oder höheren Stimmlage. Daß primäre und sekundäre Geschlechtscharaktere sich wirklich in ihrer Ausbildung gegenseitig beeinflussen, also in einem korrelativen Verhältnis zueinander stehen, läßt sich in verschiedener Weise begründen. Denn einmal geht die Entwicklung der sekundären Charaktere mit der- jenigen der primären Hand in Hand und erreicht daher erst zur Zeit der Pubertät ihren Höhepunkt und ihre Vollendung. In manchen Fällen zeigt sich ihre Abhängigkeit noch deutlicher dadurch, daß sie, wie der gezackte Kamm der männlichen Tritonen oder das Hochzeitskleid einiger Fische und Vögel, nur während der Brunstzeit zur vollen Aus- bildung gelangen und nach Ablauf derselben wieder mehr oder minder zu schwinden beginnen. Die Korrelation im ausgebildeten Organismus. I6I Noch beweisender als derartige Beobachtungen werden von vielen die Ergebnisse experimenteller Eingriffe angesehen werden. Denn die sekundären Geschlechtscharaktere lassen sich fast bei allen Wirbeltieren, bei denen sie vorkommen, durch eine frühzeitig ausgeführte operative Entfernung der noch nicht funktionsfähig gewordenen Keimdrüsen in ihrer Ausbildung unterdrücken. Wenn dem jungen Hahn bald nach seinem Ausschlüpfen aus dem Ei beide Hoden herausgeschnitten werden, ge- winnt er das Aussehen des Kapauns. Umgekehrt wird die Henne häufig im vorgeschrittenen Alter, wenn der Eierstock nicht mehr Eier bildet und zu atrophieren beginnt, hahnenfedrig, wie es im gewöhnlichen Sprachgebrauch heißt. Denn nach Eintritt einer Mauserung gewinnt ihr sich neubildendes Gefieder jetzt eine größere Ähnlichkeit mit dem- jenigen des Hahns. Der menschliche Eunuch zeigt als Folge der bei ihm in jugendlichem Alter ausgeführten Operation einen sehr mangelhaften oder ganz verkümmerten Bartwuchs und eine Veränderung in der Ausbildung des Kehlkopfes, mit welcher die hohe Kastratenstimme zusammenhängt. Da Eierstock und Hoden mit den sekundären Geschlechtscharak- teren bekanntlich in keinem unmittelbaren anatomischen und physio- logischen Zusammenhang stehen, sind jetzt die Biologen fast all- gemein der Ansicht, daß diese Art von Korrelation durch chemische Reizstoffe oder Hormone, wie sie STARLING genannt hat, verursacht wird. Sowohl in den männlichen wie in den weiblichen Keimdrüsen sollen spezifische Stoffe gebildet und an den Lymph- und Blutstrom abgegeben werden; auf diesem Wege sollen sie auf einzelne Gewebe und Organe als Reiz einwirken und sie zu einer für das betreffende Geschlecht eigentümlichen Ausbildung veranlassen. Auch zugunsten dieser Erklärung lassen sich interessante Experimente anführen, die in der Weise ausgeführt werden, daß man z. B. dem männlichen Tier die Hoden ausschneidet, darauf aber wieder an einer anderen Körper- stelle einpflanzt. Unter diesen Umständen konnte BERTHOLD beobachten, daß sehr junge operierte Hähne nicht zu Kapaunen werden, sondern trotz der Kastration sekundäre Geschlechtsmerkmale entwickeln, wahr- scheinlich infolge der von den transplantierten Hodenstückchen ab- gegebenen Hormone. In ähnlicher Weise konnte bei kastrierten Frosch- männchen die Entwicklung der Daumenschwielen durch Hodensubstanz, die in den Lymphsack zeitweise eingeführt wurde, angeregt werden. Auch für die Milchdrüse nimmt STARLING mit vielen anderen Forschern an, daß die Ursache für ihr beträchtliches Wachstum und ihre Sekretion bei einer Schwangerschaft in chemischen Reizstoffen zu suchen sei, O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl. 11 162 Viertes Kapitel. welche in den Beckenorganen gebildet und in den Blutkreislauf abge- geben werden. Wie schon früher bemerkt wurde (S. 158), kann ein Einblick in viele korrelative Verhältnisse und ein sicherer Nachweis ihres Vor- handenseins nur mit Hilfe experimenteller Methoden gewonnen werden. Dies gilt namentlich von vielen Drüsen, die in ihrer Größenentwicklung und in dem Umfang ihrer Funktion an bestimmte Stoffwechselprozesse des ganzen Körpers genau adaptiert sind. Das lehrreichste Beispiel bietet uns in dieser Beziehung die Niere. Von ihr wissen wir ja auf Grund von vorausgehenden Erfahrungen der Chirurgen, daß operative Ent- fernung derselben auf einer Seite regelmäßig eine Arbeitshypertrophie und eine rasch eintretende Vergrößerung der anderen Niere zur Folge hat. Diese kann in manchen Fällen allmählich sogar das Gewicht von zwei Nieren erreichen. Auch hier besteht über die Art der Erklärung dieses korrelativen Verhältnisses keine Meinungsverschiedenheit unter den Biologen. Aufgabe der beiden Nieren ist es, die harnfähigen Sub- stanzen zu entfernen, die von allen Organen und Geweben bei ihren Lebensprozessen gebildet und im Blut angesammelt werden. Ihre Leistungsfähigkeit muß daher in einem bestimmten Abhängigkeits- verhältnis (oder in einer Korrelation) zu der Gesamtmenge.der täglich vom Körper gebildeten Harnbestandteile stehen und da diese je nach der stärkeren oder geringeren Tätigkeit des Körpers an einzelnen Tagen nicht unerheblichen Schwankungen unterliegt, muß sie auch hierfür angepaßt sein. Schon unter normalen Umständen besitzt daher die Niere, wie man sich ausdrückt, noch eine über ihre gewöhnliche Arbeit hinausgehende Reservekraft. Durch Ausnutzung derselben erklärt es sich, daß schon 24 Stunden nach einer Nierenexstirpation täglich die- selbe Harnmenge mit demselben Gehalt an festen Substanzen aus- geschieden wird, wie vorher. Die so bis auf das Doppelte erhöhte Be- anspruchung der Niere ist nicht vorübergehend, sondern von Dauer und wirkt dadurch als Wachstumsreiz auf ihre Substanz; daher be- ginnen denn auch bald nach der Operation zahlreiche Kernteilungs- figuren in den Drüsenzellen der Tubuli contorti aufzutreten. Das kor- relative Nierenwachstum aber dauert dann so lange an, bis wieder ein Ausgleich in den durch die Entfernung der Niere herbeigeführten Störungen erfolgt ist. Das ist der Fall, wenn die harnsezernierende Ober- fläche aller Harnkanälchen wieder der vom Gesamtkörper gelieferten Menge harnfähiger Substanz ohne erhebliche Beanspruchung der Reserve- kraft angepaßt ist, also die zurückgebliebene Niere sich fast bis zum Doppelten des ursprünglichen Volums vergrößert hat. er ' Die Korrelation im Entwicklungsprozeß,. N 163 Ähnliche Ergebnisse sind auch nach teilweiser Entfernung ver- schiedener anderer drüsiger Organe gewonnen worden, wie der Leber, der Schilddrüse etc. b) Die Korrelation im Entwicklungsprozess. Wer sich mit dem Werden der Organismen beschäftigt, wird sich hier die Frage vorlegen müssen, wie die so fest geregelten Abhängigkeits- - verhältnisse, die bei zusammengehörigen Organen eines ausgewachsenen - Organismus nach Größe, Form und Funktion beobachtet werden, _ während der Entwicklung aus dem Keim zustande gekommen sind. - Die Antwort lautet: jede Korrelation der Organe ist durch eine kor- relative Entwicklung, das heißt, durch eine von Anfang an harmonisch erfolgende Ausbildung aller im System zusammengehöriger Teile ent- standen; nur unter dieser Voraussetzung ist sie überhaupt möglich. Der Beweis hierfür ist durch das Experiment sowohl für Pflanzen wie für Tiere leicht zu erbringen. Wenn man den Samen einer Tabakpflanze, eines Ricinus oder einer Sonnenblume, wie SAcHs in seiner Physiologie beschreibt, sich in freiem Land auf gutem Boden oder in einem Blumentopf, der mit etwa 3 Liter bester Gartenerde gefüllt ist, entwickeln läßt, so erhält man im Laufe von Ioo—ı20 Tagen zwei sehr verschieden aussehende Pflanzen. Im freien Lande ist ein zuweilen armdicker Stamm mit zahl- reichen großen Blättern und einem üppigen Wurzelwerk entstanden; im Blumentopf dagegen, auch wenn er unter den günstigsten Bedin- _ gungen im Freien steht und öfters mit guten Nährlösungen begossen wird, hat sich nur ein Stamm von Fingerdicke entwickelt und mit einer gesamten Blattfläche, welche kaum den fünften oder sechsten Teil der anderen Pflanze beträgt. Bekannt sind die zierlichen Miniaturbäumchen, welche auf diese Weise die Japaner durch fortgesetzte Topfkultur als Zier- und Zimmer- pflanzen gezüchtet haben. Die Erklärung für den Unterschied zwischen den beiden Kulturbedingungen liegt wohl klar zutage. Da sich in dem beschränkten Raum des Blumentopfes das Wurzelwerk nicht so kräftig wie im freien Lande entwickeln kann, wird auch weniger Nahrung aus dem Boden (Wasser und Salze) den oberirdischen Teilen zugeführt. Dadurch werden auch diese in ihrer Vermehrung gehemmt, obwohl es ihnen weder an Raum zur Entwicklung von Zweigen und Blättern noch an Luft und Licht, um zu assimilieren, fehlt. Auch bei Tieren ist die Korrelation im Entwicklungsprozeß durch 4 i 164 Viertes Kapitel. experimentelle Methoden leicht zu erweisen, indem man entweder in Entwicklung begriffene Teile außer Funktion setzt oder sie ganz ent- fernt und auf diese Weise andere mit ihnen in Beziehung stehende Teile in ihrer weiteren Ausbildung beeinflußt. Wenn man gleich nach der Geburt bei jungen Kaninchen den Nervus facialis auf einer Seite des Kopfes durchschneidet, so atrophieren nicht nur die von den zerstörten Nervenzweigen versorgten Muskeln, sondern es bleiben auca die Kopfknochen der entsprechenden Seite zum Teil in ihrem Wachstum auffällig zurück, obwohl sie ja selbst in keiner direkten Weise von dem Eingriff betroffen worden sind. HYRTHLE, der das Experiment ausgeführt hat, erklärt die Korrelation dadurch, daß infolge der Muskellähmung ‚der Zug und Druck fehlt, welcher die lebenden Teile des Knochens zur Tätigkeit anregt und so das normale Wachstum des Knochens veranlaßt“. Wie in dem angeführten Beispiel aus einer späteren Periode der Entwicklung, läßt sich bis in die frühesten Stadien, ja selbst bis zu den ersten Teilungen des Eies die Gültigkeit des Korrelationsprinzips durch experimentelle Eingriffe nachweisen. Je frühzeitiger diese vorgenommen werden, in um so größerem Umfang treten sogar ihre Folgen hervor. Wenn in der schon früher (S. 126) beschriebenen Weise die Teilstücke geeigneter Eier sich zu ganz normalen, nur entsprechend kleineren Larven weiterzüchten lassen (Fig. 15 u. I6), so wird jedermann einsehen, daß in den einzelnen Fällen die Zellen, wenn wir sie als Abkömmlinge des ganzen Eies beurteilen, sich bei der Herstellung der Gewebe und Organe in einer absolut verschiedenen Weise beteiligen. Denn je nach- dem aus einem befruchteten Ei eine einzige normale Larve, oder infolge der Eingriffe 2 resp. 4 Ganzlarven von halber oder viertel Größe ent- stehen, werden die durch den Furchungsprozeß gelieferten Embryonal- zellen im ersten Fall zur Entwicklung von einem Hirn, zwei Augen, zwei Riechgrübchen und zwei Hörsäckchen, im zweiten Fall zur Ent- wicklung der doppelten und im dritten Fall zur Entwicklung der vier- fachen Anzahl der genannten Organe verwandt. Und wie hier muß eine andersartige Verwendung der Zellen natürlich ebenso bei allen anderen Organen, Körperteilen und Geweben eintreten. Somit kann wohl kein Zweifel darüber bestehen, daß die beiden ersten Teilhälften des Eies nur deswegen und nur insoweit sich zu zwei Körperhälften des Embryo entwickeln, als sie zwei zusammengehörige Hälften eines Ganzen sind, sich demnach gegenseitig ergänzen und in einer bestimmten, gesetzmäßigen Abhängigkeit zueinander stehen. In entsprechender Weise erhält eine jede Zelle bei der zweiten, dritten, vierten und jeder folgenden Die Korrelation im Entwicklungsprozeß. 165 Teilung im normalen Verlauf der Entwicklung ihre besondere räumliche Anordnung mit allen sich hieraus ergebenden Koadaptationen im System des Ganzen; sie wird dabei, wie leicht zu ersehen ist, so von Stufe zu Stufe auch in ihrer prospektiven Potenz enger determiniert. Wenn nach der im Experiment ausgeführten Trennung das einzelne Teilstück sich wieder zu einer vollständigen Larve von geringerer Größe entwickelt, so erklärt sich dies in einfacher Weise daraus, daß es sich zur kugligen Ausgangsform, allerdings nur von halber oder von viertel Größe, reguliert und so den ursprünglichen Zustand wiederherstellt. In noch wunderbarerer Weise äußert sich die korrelative Ent- wicklung infolge veränderter Koadaptation der Zellen, wenn bei den beschriebenen Experimenten die beiden ersten Embryonalzellen, an- statt vollständig getrennt worden zu sein, nur eine größere oder geringere Lockerung ihres normalen Zusammenhanges und eine verschiedenartige Verlagerung und Verschiebung aneinander erfahren haben. Denn in diesem Falle entstehen die verschiedenartigsten, seltsamen Mißbildungen, die nur mehr oder weniger ausgeprägte Verdoppelungen an einzelnen Körperteilen, am Kopf allein, oder am Kopf und an dem vorderen Rumpfabschnitt zeigen (Fig. 18). Aber auch an derartigen Monstrosi- täten läßt sich ein gesetzmäßiges Zusammenwirken, eine Koadaptation der Zellen, bei der Anlage des Zentralnervensystems, des Achsenskeletts der Ursegmente, der Sinnesorgane und Drüsen nicht verkennen. Auch noch auf weiter vorgerückten Stadien kann der korrelative Charakter der Entwicklung mit Veränderung der prospektiven Po- tenzen der Embryonalzellen durch das Experiment nachgewiesen werden. So kann man durch Einschnürung der Keimblase von Amphibien noch ähnlich aussehende Doppelmißbildungen wie durch teilweise Trennung der embryonalen Zellen während der ersten Furchungsstadien des Eies gewinnen, was auch wieder ohne ein vollständig verändertes, harmoni- sches Zusammenwirken der Zellen, entsprechend den neuen durch das Experiment geschaffenen Bedingungen, nicht möglich wäre. Angesichts aller dieser zahlreichen Tatsachen, an deren Richtig- keit kein Zweifel bestehen kann, ergibt sich mit Notwendigkeit das neue, für das Verständnis der tierischen Formbildung wichtige Ent- wicklungsgesetz: Die Entwicklung aus dem befruchteten Ei ist von ihren ersten Stadien an keine Mosaikarbeit, wie von einigen Forschern aus falschen Grundlagen in irrtüm- licher Weise geschlossen worden ist, sondern beruht zu allen Zeiten auf dem innigsten Zusammenwirken der Zellen und der von ihnen gebildeten Zellenkomplexe und Organ- 166 Viertes Kapitel, anlagen. Die wunderbare Harmonie, die zwischen allen Organen und Geweben im ausgebildeten Zustand unter normalen Verhältnissen besteht, läßt sich in keiner anderen Weise als durch korrelative Entwicklung begreifen. ‚5. Mittel und Wege zur gegenseitigen Beeinflussung von Zellen, Geweben und Organen!). Nach Besprechung der allgemeinen Prinzipien der Entwicklung, der Potenzierung der Artzelle, der Arbeitsteilung und Differenzierung, der Integration und der Korrelation oder Koadaptation ist es zum Schluß wohlnoch geboten, uns nach den Mitteln und Wegen umzuschauen, durch welche eine Einwirkung der Zellen und der durch sie gebildeten höheren Organisationsformen der Gewebe und Organe aufeinander er- möglicht wird. Dieselben sind mannigfacher Art. Zuerst sei hier der protoplasmatischen Verbindungen gedacht, durch welche bei Pflanzen und Tieren benachbarte Zellen, wenn nicht überall, doch an vielen Stellen in unmittelbarem Zusammenhang untereinander stehen. Da nun Protoplasma in hohem Grade eine reizbare Substanz ist, können auf diesem Wege Erregungszustände von Zelle zu Zelle fortgeleitet werden und an anderen, eventuell weit abgelegenen Stellen Wirkungen hervorrufen. Da gewöhnlich derartige Reize nicht zu unserer Wahr- nehmung gelangen, gehören sie fast ganz dem großen Gebiete der uns unbekannten Vorgänge im Leben der Zellen an. Wahrscheinlich aber sind sie für alle formativen und nutritiven Prozesse im vielzelligen Or- ganismus von der größten Bedeutung. Einzelne Experimente, auf die ich in meiner Allgemeinen Biologie (S. 497) hingewiesen habe, scheinen hierfür zu sprechen. | Außer der Reizleitung können die Protoplasmaverbindungen zwischen den Zellen aber auch dem Stofftransport dienen, so daß Substanz, selbst in der Form von Protoplasma, von einer auf die andere Zelle direkt übertritt. Mehr als im Tierreich dürfte eine besondere Bedeutung diesem direkten Verkehr der Zellen untereinander im Pflanzenreich zufallen. ‚Neben der protoplasmatischen hat sich noch eine zweite Verbindung durch Nervenfibrillen zwischen vielen Elementarteilen bei den Tieren ausgebildet. Während die protoplasmatische Verbindung wahrscheinlich in einer langsamen, aber stetigen Weise Erregungen vermittelt, besitzt die Nervenverbindung den großen Vorteil der größeren Schnelligkeit ı) Hertwig, Oscar, Allgemeine Biologie, 4. Aufl., 1912, Kap. 15 u. 10. Mittel und Wege zur gegenseitigen Beeinflussung von Zellen, Geweben etc. 167 in der Reizübertragung und der schärferen Lokalisation auf bestimmte Punkte des Körpers. Durch sie wird zugleich eine direkte, unmittelbare Beziehung zwischen räumlich oft weit getrennten Teilen mit Über- springung aller zwischengelegenen Gewebe hergestellt. Ein weiterer großer Vorzug der Nervenverbindung besteht in der durch sie herbei- geführten getrennten Übermittlung verschiedener Arten von Reiz- qualitäten. Haben sich doch im Zusammenhang mit der Ausbildung eines Nervensystems an der Hautoberfläche auch besondere Empfangs- apparate für die verschiedenen Reize, mit denen die Außenwelt auf den Organismus einwirkt, für photische, akustische, mechanische, thermische und chemische Reize entwickelt. Dadurch können diese, vermöge be- sonderer Seh-, Hör-, Geschmacks-, Geruchs- und Gefühlsorgane, diffe- renziert wahrgenommen, zu zentralen Stationen fortgeleitet und schließ- lich den Erfolgsorganen übermittelt werden. Und da auch bei diesen eine Arbeitsteilung in Muskeln, Drüsen usw. eingetreten ist, dienen die von außen zugeführten und auf besonderen Bahnen fortgeleiteten ver- schiedenen Reizqualitäten im Körper auch zur Auslösung von ver- schiedenen Arten von Prozessen, wie zur Muskelkontraktion, zur Drüsen- sekretion usw. Ein dritter Weg, durch welchen ein Zusammenhang zwischen allen Zellen als Gliedern eines Organismus vermittelt und dauernd unterhalten wird, besteht in der Gemeinsamkeit ihres Stoffwechsels. Dieser aber ist für jede Tier- und Pflanzenart ein streng spezifischer. Die von mir begründete Lehre von der Artzelle, welche schon auf S. 68 dieses Buches eingehend dargestellt worden .ist, hat im letzten Jahrzehnt noch eine naturgemäße und wichtige Erweiterung und Ergänzung durch ‚das Gesetz von der biochemischen Arteinheit und Artverschiedenheit“ er- halten, wie es in besonders klarer Weise durch HAMBURGER formuliert worden ist. Hiernach unterscheiden sich die Artzellen nicht nur durch ihre spezifische Organisation voneinander, sondern, wie sich hieraus weiter ergibt, auch durch ihre chemisch-physikalischen Eigenschaften, durch die Art und Weise, wie sie in ihrem chemischen Laboratorium die von außen bezogenen Stoffe, und unter diesen namentlich die Ei- weißkörper, durch Abbau zerlegen und sie zu einer für sie genau ange- paßten Nährflüssigkeit umwandeln. Infolgedessen sind auch die Körper- säfte der einzelnen Pflanzen- und Tierarten voneinander spezifisch ver- schieden; sie besitzen, um einen Ausdruck HAMBURGERS zu gebrauchen, Atomkomplexe, welche Träger der Arteinheiten sind und ihnen allein als Angehörigen einer Spezies zukommen und durch welche sie sich von allen anderen Spezies unterscheiden. 168 Viertes Kapitel. Beweise für unsere Ansicht sind namentlich durch zwei mit Eifer und Erfolg betriebene Forschungsrichtungen der jüngsten Zeit geliefert worden, durch die Serumforschung und durch die experimentellen Unter- suchungen über Transplantation. Durch die vergleichende Serumforschung hat man erfahren, daß die aus dem Blut oder den Körpersäften gewonnenen Sera für jede Tierart besondere chemische Unterschiede darbieten. Wenn sich die- selben auch nicht durch die gewöhnlichen chemischen Analysen, so können sie doch mit Hilfe anderer Methoden, nämlich durch ganz cha- rakteristische „biologische Reaktionen‘‘ nachgewiesen werden. Als solche Methoden, von denen ich eine kurze Besprechung in meiner All- gemeinen Biologie gegeben habe, erwähne ich hier nur kurz die Bildung von besonderen chemischen Eiweißsubstanzen, welche in dem Blut von Versuchstieren durch Einführung körperfremder Eiweißstofife er- zeugt werden; man nennt sie Präzipitine, wenn sie im Serum Fällung erzeugen, oder Hämolysine, wenn sie Blutkörperchen auflösen. Mit diesen Methoden glaubt man schon jetzt in der Lage zu sein, den ex- perimentellen Nachweis von Blutverwandtschaft der einzelnen Tier- arten führen zu können (FRIEDENTHAL). Namentlich hält ABDERHALDEN, der durch eigene Untersuchungen dieses Gebiet der Eiweißchemie vielfach gefördert hat, die vergleichend biologisch-chemische Forschung für berufen, in Fragen der stammesgeschichtlichen Verwandtschaft die führende Rolle zu spielen. Einen zweiten Beweis für die spezifische Eigenart des Stoffwechsels, einen Beweis, welcher zugleich älter ist als der durch die Serumforschung gewonnene, haben die Studien über Transplantation bei Tieren und Pflanzen geliefert. Sie haben die Lehre von der vegetativen Affinität begründet, welche ein Gegenstück zur sexuellen Affinität, d. h. der Verwandtschaft zwischen den männlichen und weiblichen Keimzellen einer Art, bildet. Vegetative Affinität ist die Fähigkeit eines abge- trennten Teils von einem Organismus, wieder eine lebensfähige Ver- bindung mit einem anderen Organismus einzugehen. Sie besteht nur zwischen Individuen derselben Art oder sehr nahe verwandter Arten, Wie durch zahlreiche, an verschiedenen Pflanzen- und Tierabteilungen ausgeführten Experimenten sicher bewiesen ist, läßt sich durch künst- liche Vereinigung eine wirkliche Lebensgemeinschaft zwischen Teilen zweier Organismen nur dann zustande bringen, wenn ihre Zellen von der gleichen oder einer fast gleichen Art und auch ihr ganzer Stoff- wechsel dementsprechend ein gleicher oder wenigstens ein sehr ähnlicher ist. Alle anderen Verbindungen gehen schon in wenigen Tagen zugrunde. Mittel und Wege zur gegenseitigen Beeintlussung von Zellen, Geweben etc. 169 Die einen sind als harmonische, die anderen als disharmonische be- zeichnet worden. Harmonische und disharmonische Verbindungen kann man auch zwischen Geweben und Körpersäften von zwei Tierarten vornehmen. Ein schönes und interessantes Beispiel hierfür bietet die Transfusion oder die Einführung von Blut, das einem lebenden Tier entnommen wird, in den Kreislauf eines anderen Individuums. Die Urheber der Transfusionsmethode waren anfangs des Glaubens: Blut ist Blut und kann, aus den Adern eines lebenden Tieres entnommen, auch im Kreis- lauf eines zweiten die gleiche Aufgabe wie beim ersten erfüllen und so als Heilmittel bei schweren Anämien und Blutverlusten dienen. Der Irrtum dieses Glaubens wurde bald durch systematisch angestellte Experimente aufgedeckt. Das Blut von zwei verschiedenen Tierarten läßt sich nämlich durch Transfusion nicht miteinander vermischen, ohne sofort im Körper des von ihm durchströmten Organismus die schwersten Störungen zu erzeugen. Es ist künstlich eine disharmonische Verbindung geschaffen worden. Daher beginnt schon wenige Minuten nach Ausführung des Experiments ein Zerfall roter Blutkörperchen und eine Auflösung des Hämoglobins im Plasma (Lackfarbigwerden des Blutes) einzutreten, was in kurzer Zeit Blutharn zur Folge hat. Selbst in schwachen Dosen wirkt ungleichartiges Blut schädlich, in starken Dosen oft sogar tödlich. Der Erfolg ist ein ziemlich ähnlicher, mag man das Blut unmittelbar von Gefäß zu Gefäß zwischen zwei Tierarten, zwischen Hund und Kaninchen oder Hund und Hammel oder um- gekehrt überleiten, oder mag man es in defibriniertem Zustand einspritzen. Nur zwischen Individuen derselben Art oder bei sehr naher Verwandt- schaft (Varietäten) ist Transfusion von Blut ohne Schaden ausführbar. Nur in diesem Fall bleibt die Hämoglobinurie selbst bei sehr großen Gaben aus. Aus den nur kurz zusammengestellten Ergebnissen, die auf ver- schiedenen Forschungsgebieten gewonnen wurden, schließen wir, daß innerhalb eines Organismus eine jede Zelle mit ihrem Spezialhaushalt an den großen, weit mehr verwickelten, allgemeinen Haushalt des Ganzen und an das durch ihn geschaffene, eigentümliche chemische Milieu an- gepaßt sind. Das letztere ist aber zugleich auch noch für die Entwick- lung eines Organismus dadurch von großer Bedeutung, daß es chemische Einwirkungen von einem auf andere Teile, seien es Zellen, Gewebe oder Organe des Körpers, ermöglicht und vermittelt. Denn bei den höheren Organismen ist infolge der Arbeitsteilung, die zwischen einzelnen Zell- gruppen in der vielfältigsten Weise eingetreten ist, der sie durchtränkende 170 Viertes Kapitel. und ernährende, allen gemeinsame Saft aus sehr zahlreichen chemischen Stoffen zusammengesetzt, welche zum Teil von diesen, zum Teil von jenen Organen des Körpers zubereitet, resp. gebraucht werden. Schon bei den Pflanzen bewegen sich Stoffe, die, in Wasser gelöst, von den Wurzeln aus dem Boden aufgesaugt werden, nach den ober- irdischen Teilen, um dort bei der Blatt- und Blütenbildung Verwendung zu finden. Und umgekehrt werden von den chlorophylihaltigen, ober- irdischen Zellen durch den Assimilationsprozeß wieder ganz anders- artige Stoffe erzeugt: Proteine, Stärke, Fette, Zucker, die teils zur Bildung neuer Blätter, Blüten und Früchte, teils aber auch zur Bildung der Wurzeln dienen und zu ihnen oft aus weiter Entfernung hinwandern müssen, da die Wurzeln ja selbst nicht imstande sind, aus den dem Boden entzogenen Stoffen organische Substanz zu erzeugen. So muß beständig im Pflanzenkörper eine Saftströmung in entgegengesetzten Richtungen vor sich gehen. Indem aus ihr die Zellen ihren Bedarf decken, werden sie in ihrem Wachstum nicht nur von dem Haushalt der ganzen Pflanze, sondern auch von allen den verschiedenen Orten abhängig, von denen besondere Stoffe, wie in den Wurzeln oder in den Blättern, aufgenommen und gebildet werden. Zwischen allen muß ein sich all- mählich vollziehender Ausgleich stattfinden, durch welchen das Wachs- tum der ganzen Pflanze in ihren Teilen bestimmt wird. Daß hierbei eine Auswahl zwischen den dargebotenen Stoffen des Bodens von den Wurzeln je nach der Pflanzenart getroffen wird, läßt sich schon aus der Tatsache schließen, daß viele Pflanzen nur auf Böden von be- stimmter chemischer Mischung, die für sie paßt, gut gedeihen. Vie] verschiedenartiger als bei den Pflanzen gestaltet sich die Zu- sammensetzung der den tierischen Körper durchströmenden, ernähren- den Flüssigkeit. Blut und Lymphe bilden sich nicht nur aus den ver- schiedenen, in Darm und Lunge aufgenommenen Stoffen, sondern sie werden auch noch bei ihrer Zirkulation durch die einzelnen Organe und Gewebe des Körpers in ihrer Mischung beständig verändert. Denn infolge der zwischen ihnen ausgebildeten Arbeitsteilung haben die ein- zelnen Organe: Leber, Niere und Nebenniere, Schilddrüse, Geschlechts- drüsen, Muskeln, Gehirn, Lymphdrüsen, Knochenmark etc. einen sehr verschiedenartigen Stoffwechsel. Sie nehmen dementsprechend hier diese, dort jene Stoffe aus dem Saftstrom auf und geben andere an ihn ab. Unter diesen befinden sich auch innere Sekrete, die nach physio logischen Untersuchungen auf die Wachstumsprozesse des Körpers ein großen Einfluß ausüben und als Reizstoffe und Hormone (Thyreojodin Adrenalin etc.) schon an anderer Stelle (S. 161) besprochen worde Mittei und Wege zur gegenseitigen Beeinflussung von Zellen, Geweben etc, 171 sind. Die Beschaffenheit von Blut und Lymphe hängt daher in demselben Maße, als die Tiere stärker differenziert sind, von sehr zahlreichen Organen ab. Die Organe selbst aber werden hierbei durch Vermittlung des ihnen allen gemeinsamen, chemischen Milieus noch mehr als bei den Pflanzen in ihrer Tätigkeit, «in ihrem Wachstum und ihrer Gestaltung voneinander beeinflußt, wie schon an einigen Beispielen zur Erläuterung des Prinzips der Korrelation gezeigt wurde (S. 161). Störung im Stoff- wechsel eines Teiles, wie z. B. der Leber, des Pankreas, der Niere und Nebenniere, der Keimdrüsen, ruft eine andere Blutmischung hervor "und beeinflußt dadurch wieder den Stoffwechsel, die Funktion und die - Entwicklung von den verschiedensten anderen Organen. In dieser Weise besitzt das chemische, für jede Tierart spezifisch beschaffene Milieu eine doppelte Bedeutung. Einmal sind alle Zellen, die von ihm umspült und durchtränkt werden, notwendigerweise auf dasselbe gleichsam abgestimmt und sind dadurch auch in chemischer Hinsicht zu integrierten Gliedern im Stoffwechsel des übergeordneten Organismus geworden. Zweitens aber ist das chemische Milieu auch der Weg, auf welchem von den einzelnen Organen und Geweben eines Körpers chemische Reizwirkungen auseinander ausgeübt werden können. Wahrscheinlich werden dieselben von sehr mannigfaltiger und zu- sammengesetzter Art sein, in welche wir zurzeit gewiß nur eine sehr geringe Einsicht besitzen. Eine wechselseitige Beeinflussung zwischen den elementaren und den zusammengesetzteren Teilen eines Organismus findet endlich auch noch auf mechanischem Wege in sehr verschiedenen Formen vom ersten Teilungsprozeß bis zum ausgebildeten Zustand statt. Schon im vierten Abschnitt wurde erörtert, wie durch den Teilungs- prozeß und die mechanische Zusammenordnung der Embryonalzellen ihre prospektive Potenz bestimmt und allmählich in eine fester deter- minierte Richtung gelenkt wird. Auch bei der Lage, welche die aus dem ruhenden Kern entstehende Spindel im Ei und in den sich bildenden Embryonalzellen einnimmt, ist das mechanische Moment von Einfluß. Denn wie sich durch vergleichende Beobachtung und durch das Ex- periment beweisen läßt, stellt sich bei jeder Furchung die Spindel mit seltenen Ausnahmen stets in der Richtung der größten Protoplasma- masse im Zellkörper ein und fällt daher mit dem Längsdurchmesser desselben zusammen. Infolgedessen durchschneidet die Teilebene die Zelle in ihrem kleinsten Durchmesser oder ‚‚in einer Richtung minimae areae“. Nach diesem einfachen mechanischen Prinzip läßt sich das so regelmäßig beschaffene Zellenmosaik in dem ersten Stadium des Fur- 172 Viertes Kapitel. chungsprozesses, wie die in den drei Richtungen des Raumes gewöhnlich alternierende Folge der ersten Teilebenen leicht begreifen. In mechanischer Weise wirkt ferner die massenhafte Ansammlung von Deutoplasma auf den Verlauf des Entwicklungsprozesses bis in späte Stadien ein; sie bewirkt z. B. im Ei der Amphibien die polare Differenzierung oder in den Eiern der Fische, Reptilien und Vögel die Sonderung ihres Inhalts in einen Bildungs- und Nahrungsdotter mit allen daraus sich ergebenden Konsequenzen, durch welche das Bild der einzelnen Entwicklungsstadien so vollständig verändert wird. Auch daran sei erinnert, daß bei allen embryonalen Wachstums- prozessen die Epithelzellen, die im Keimblatt auf einen bestimmten Raum zusammengedrängt und hier in geringerer, dort in lebhafterer Vermehrung begriffen sind, durch Druck und Zug aufeinander ein- wirken. Sie geben dadurch den Anstoß, daß die Keimblätter, welche in histologischer Hinsicht Epithelmembranen sind, je nach der Lage, Form und Ausdehnung der in regerem Wachstum begriffenen Bezirke sich in verschiedener Weise in Falten legen oder sack- oder röhren- artige Aus- und Einstülpungen bilden. Auf diese Weise kommen nach dem mechanischen Prinzip des ungleichen Wachstums röhren-, sack- und bläschenförmige Hohlorgane zustande, wie das Nerven- und das Darmrohr, die Ohr- und die Augenblase, ferner die zur Umhüllung des Embryos dienenden Säcke (Amnion, Chorion) oder verzweigte Röhren- systeme, die als Drüsen funktionieren. Ausführlicher dargestellt sind diese Verhältnisse in meinem Lehrbuch der Entwicklungsgeschichte (0. Auflage), Kapitel 4: „Allgemeine Besprechung der Entwicklungs- prinzipien““. Daß in ihnen für die ganze Gestaltbildung des Embryos höchst wichtige Faktoren gegeben sind, bedarf wohl kaum noch eines näheren Hinweises. Ebenso fehlt es nicht in späteren Perioden der Entwicklung an zahllosen mechanischen Einwirkungen. Einmal müssen sich die einzelnen Organe, während sie sich differenzieren, in ihrer Form den räumlichen Beziehungen anderer benachbarter Organe anpassen. Die Leber muß bei den Säugetieren wegen ihrer festen Anlagerung an das zur Kuppel ge- wölbte Zwerchfell eine konvexe Oberfläche bei ihrem Wachstum an- nehmen: der linke Lungenlappen muß im Vergleich zum rechten eın geringeres Volumen und eine etwas abweichende Form infolge der Raum- beschränkung durch das Herz erhalten. Bei den Schlangen müssen Lunge und Leber in Anpassung an den langgestreckten dünnen Körper gleichfalls zu langen, zylinderförmigen Organen auswachsen. Eine andere Gruppe mechanischer Einwirkungen. geht von den # N j = ee} D Mittei und Wege zur gegenseitigen Beeinflussung von Zellen, Geweben etc. 173 aus kontraktilem Gewebe zusammengesetzten Organen aus, hier von den willkürlichen Muskeln des Skeletts, dort von der unwillkürlichen Muskulatur der Eingeweide. Die ersteren üben bei ihrer Kontraktion Zugwirkungen auf die Nachbargewebe aus und veranlassen die am Muskelende sich ansetzenden Bindegewebsfasern, daß sie sich bei ihrer weiteren Entwicklung zu Sehnen formen. Durch ihre Vermittlung aber rufen sie wieder durch Zug Reaktionen an der Knochensubstanz, Bildung von Spinae, Cristae, Tubercula etc. hervor. So entwickelt sich auch die Gestaltung des ganzen Knochensystems in vielfacher Hinsicht unter ‚den direkten mechanischen Einwirkungen der Muskeln, welche durch Ursprung und Insertion zu ihm in Beziehung treten. ‚Muskulöse Hohlorgane passen sich in der Dicke ihrer Wand durch Hypertrophie ihrer glatten Muskelfasern den Widerständen an, die durch Kontraktion zu überwinden sind, wie aus den Ermittlungen der pathologischen Anatomen und aus Experimenten klar hervorgeht. So verdickt sich die Wand der Harnblase besonders in ihrer Muskel- schicht infolge von Prostatahypertrophie und anderen die Harnentleerung erschwerenden Zuständen; so entwickelt sich eine Hypertrophie der linken oder der rechten Herzkammer, je nachdem größere Stromhinder- nisse zu bewältigen sind, welche entweder durch Klappenfehler oder durch Erkrankungen der Arterienwand hervorgerufen worden sind. In überraschend feiner Weise sind die Gefäßwände sowohl nach ihrer feineren Struktur als nach ihrer Wandstärke den an sie gestellten me- ehanischen Leistungen bei wechselnder Füllung und bei verschiedenem Druck ihres Inhalts angepaßt. Man kann geradezu sagen, daß der Bilutstrom die Weite seiner Kanäle und die wechselnde Dicke seiner Wandungen i in den einzelnen Abschnitten seines Laufes selbst modelliert. Wie TsomA in seiner Histomechanik des Gefäßsystems zusammen- fassend bemerkt hat, ‚‚führt Strombeschleunigung zu einer Erweiterung, dagegen Stromverlangsamung zu einer Verengerung der Gefäßlichtung‘“. Ferner ist „das Dickenwachstum der Gefäßwand von der Wandspannung, diese von dem Blutdruck und dem Gefäßdurchmesser abhängig“. Fünftes Kapitel. Die Umwertung des biogenetischen Grundgesetzes. Die Stufeniolge in der Entwicklung. — Der Parallelismus zwischen den Ergebnissen ontogenetischer und vergleichend-anatomischer Forschung. Ausgebildete Organismen, die einen nur irgendwie komplizierteren Bau aufweisen, entwickeln sich niemals auf direktem Wege aus dem? durch Teilung des Eies entstandenen Haufen der Embryonalzellen. Der Prozeß, den man jetzt mit dem Worte ‚Entwicklung‘ versteht, setzt sich vielmehr aus einer bald mehr bald minder langen Reihe von Form- veränderungen oder von Metamorphosen zusammen, von denen die früher eintretende die Vorbedingung der nächstfolgenden ist, also zu ihr im logischen Verhältnis von Grund und Folge steht. Gewöhnlich nimmt hierbei das Entwicklungsprodukt mit jedem Schritt eine immer kompliziertere Form an; insofern verbindet man mit dem Begriff der Entwicklung oft unwillkürlich die Vorstellung eines nach einem voll- kommeneren Ziel gerichteten, fortschreitenden oder progressiven Pre zesses. Nur darf hierbei nicht übersehen werden, daß dies keineswegs stets und notwendigerweise der Fall sein muß. Zuweilen schlägt pro- gressive Entwicklung nach einiger Zeit ganz oder teilweise auch in ihr Gegenteil um und wird zu einer regressiven, wie bei parasitischen Or- ganismen bekanntlich häufig beobachtet wird. Noch viel häufiger aber sind Fortschritte in der Entwicklung mit teilweiser Rückbildung von Einrichtungen vorausgegangener Stadien verbunden. So erfolgt bei den Säugetieren die Entstehung der knöchernen Wirbelsäule mit einer teilweisen Zerstörung der Chorda und der knorpeligen Wirbelkörper. Ebenso geht die Ausbildung ihrer bleibenden Niere mit der Verkümme- rung der Vorniere und Urmniere Hand in Hand. Wenn ihr -Blutkreis lauf sich in einen großen und "kleinen sondert und ihr Herz sich dabei in eine linke und eine rechte Abteilung verdoppelt, werden Metamorphosenreihen in der Entwicklung der Wirbeltiere. 175 gleichzeitig wichtige, embryonale Blutgefäße des Schlundbogensystems obliteriert. Um in die Gesetzmäßigkeiten bei der Stufenfolge der Entwicklungs- prozesse einen Einblick zu gewinnen, sind besonders die verschiedenen Klassen der Wirbeltiere geeignet, da ihre Organisation viel mehr zu- sammengesetzt ist und einen weit höheren Grad der Vollkommenheit als bei den Pflanzen und bei den meisten Wirbellosen erreicht. Daher ist es wohl natürlich, wenn wir uns in den folgenden Erörterungen mit ihnen vorzugsweise beschäftigen. I. Metamorphosenreihen in der Entwicklung der Wirbeltiere. Wer mit den Grundzügen der Wirbeltierentwicklung bekannt ist, weiß, wie aus der Maulbeerkugel die Keimblase und aus dieser wieder die Becherlarve hervorgeht, wie diese sich dann weiter dadurch gliedert, daß sie ein mittleres Keimblatt und die Anlagen des Nervensystems und des Achsenskeletts durch Sonderungsvorgänge aus den beiden primären Keimblättern hervorbringt. Indem sich hierauf der Embryo mehr in die Länge streckt, ein Kopf- und Schwanzende unterscheiden läßt und sich zu beiden Seiten des Nervenrohrs im Bereich des mittleren Keimblatts in die Rumpfsegmente sondert, deren Zahl sich am hinteren Ende langsam und kontinuierlich vermehrt, gewinnt er erst allmählich die für den Typus der Wirbeltiere charakteristische Form. So bildet sich in der Stufenfolge der Metamorphosen, wie schon CARL ERNST v. BAER es in dem nach ihm benannten Gesetz in eine Formel gefaßt hat, „aus dem Allgemeinsten der Formverhältnisse das weniger Allgemeine und so fort, bis endlich das Spe- ziellste eintritt“. Dasselbe Gesetz wiederholt sich auch in der Entwicklung der zu- sammengesetzteren Organe, von denen keines gleich in seiner definitiven Gestalt und Einrichtung aus den noch undifferenzierten Zellen des Embryo hervorgeht. Besonders das Achsen- und Kopfskelett, die Harnorgane, das Gefäßsystem sind Musterbeispiele von einer Stufen- folge verschiedenartiger, einander ablösender ontogenetischer Form- zustände. Was zunächst das Achsen- und das Kopfskelett betrifft, so unter- scheidet man in ihrer Entwicklung bei dem Menschen und den Säugetieren drei Formstadien, die in ihrer histologischen Struktur und vielen anderen Merkmalen voneinander sehr erheblich abweichen. Man bezeichnet sie als das häutige, das knorpelige und das knöcherne Stadium der Wirbel- 176 Fünftes Kapitel. säule und des Kopfskeletts. Die häutige Wirbelsäule besteht aus weicheren Geweben, die nur geringen Ansprüchen an ein stützendes Organ genügen können. Die Chorda setzt sich aus prall gespannten blasigen, durch eine festere Scheide zu einem Stab vereinten Zellen zusammen, wie wir sie hier und da in den Tentakeln der Medusen und einiger Würmer ebenfalls eine stützende Funktion ausüben sehen. Die häutige wandelt sich dann allmählich in eine knorpelige Wirbelsäule durch eine einfache gewebliche Metamorphose um; das gallertig-faserige Bindegewebe in der Umgebung von Chorda und Nervenrohr (das skeleto- gene Gewebe) differenziert sich zu einem festeren Hyalinknorpel. Im Zusammenhang hiermit wird die Wirbelsäule zugleich eine gegliederte; sie baut sich jetzt aus Wirbelkörpern und Bögen, aus sie verbindenden Zwischenwirbelscheiben und Ligamenta intercruralia auf. In dieser Weise genügt sie nicht nur höheren Ansprüchen an Festigkeit, sondern verbindet mit ihr auch noch einen gewissen Grad von Biegsamkeit. Die Verknöcherung der knorpeligen Wirbelsäule führt dann durch Über- gänge allmählich das dritte definitive Stadium herbei. — Ähnliches wiederholt sich bei der Entwicklung des Kopfskeletts. Ehe die knöcherne Schädelkapsel sich ausbilden kann, muß ihr ein häutiges und ein knorpe- liges Primordialcranium vorangegangen sein. Unser zweites Beispiel, die Entwicklung des Nierensystems, macht uns ebenfalls bei den Reptilien, Vögeln und Säugetieren mit drei auf- einander folgenden Stadien bekannt. Sie heißen: die Vorniere, die Urniere und die bleibende Niere (Pro-, Meso- und Metanephros). Die Vorniere verwandelt sich sehr frühzeitig zu einem rudimentären Organ und wird durch ein zweites, an ihre Stelle tretendes Harnorgan, die Urniere, ersetzt. Doch auch diese ist nicht von Dauer; noch während sie als voluminöses Organ beim Embryo funktioniert, legt sich neben ihr die bleibende Niere (Metanephros) an und ersetzt sie schließlich vollständig in ihrer Funktion, während die Urniere sich teils allmählich zurückbildet, teils in rudimentärer Gestalt eine andere Aufgabe als Aus- führweg für die Hoden übernimmt. Unser drittes Beispiel, das gekammerte Herz der höheren Wirbel- tiere mit seinem doppelten Kreislauf ist bei ihren Embryonen zuerst ein einfacher, unterhalb des Schlunddarms gelegener gerader Schlauch. Zu dieser Zeit ist auch der Blutkreislauf noch ein einfacher und zeigt die für diesen ursprünglichen Zustand charakteristische Anordnung der großen Gefäßstämme, einen Truncus arteriosus mit den bekannten Aortenbögen. Dann erfolgt die Metamorphose. In ursächlichem Zu- sammenhang mit der Ausbildung der Lungen zum Atmungsorgan sonde: Metamorphosenreihen.in der Entwicklung der Wirbeltiere. 177 sich ein kleiner Lungen- von einem großen Körperkreislauf ab. Der einfache Herzschlauch wird durch Bildung von Scheidewänden in eine linke und in eine rechte Kammer mit ihren Vorhöfen getrennt. Dies hat dann wieder eine große Umgestaltung in der Anordnung der großen Blutgefäße zur Folge. Zu einer Quelle noch tieferer Erkenntnis, welche uns auch einen Einblick in die ursächlichen Zusammenhänge vieler Entwicklungsvor- gänge ermöglicht, wird uns die ontogenetische Metamorphosenlehre, wenn sie zugleich als vergleichende Wissenschaft getrieben wird. Ist doch die vergleichende Entwicklungslehre, wie schon C. E. v. BAER so schön und treffend bemerkt hat, „der wahre Lichtträger für Unter- suchungen über organische Körper“. Durch sie erfahren wir, daß nicht nur die ersten aus dem befruchteten Ei entstehenden Embryonalformen (Morula, Blastula, Gastrula etc.), sondern ebenso auch fast alle einzelnen Organe ohne Ausnahme in einer prinzipiell sehr ähnlichen Weise in allen Klassen und Ordnungen der Vertebraten angelegt werden und sich daher als Ausdruck eines allgemeinen Entwicklungsgesetzes auf- fassen lassen. Dann enthüllen sich uns die Unterschiede, die zwischen vergleichbaren Stadien in einzelnen Abteilungen hervortreten, als ver schiedenartige Modifikationen einer Grundform, aus der sie sich aus Ur- sachen, die oft deutlich erkennbar sind, hervorgebildet haben. So können wir, ausgerüstet mit den Hilfsmitteln der vergleichenden Methode, um nur ein wichtiges Beispiel aus dem Stamm der Wirbel- tiere anzuführen, die verschiedenen Arten des Furchungsprozesses und die sich ihm anschließenden, gleichfalls verschiedenen Arten der Maul- ‚beerkugel, der Keimblase, der Gastrula und der Keimblattbildung als Variationen von einem einfacheren Grundtypus ableiten, wie wir ihn am schönsten im Ei des Amphioxus vertreten sehen. Auch die Ursache, ‘welche die Variationen in den Entwicklungsstadien hervorgerufen hat, wird uns in der ungleichen Ausstattung der Eier mit Dottermaterial und in der Art seiner Verteilung im Ei des Amphioxus, der Amphibien, der Fische, Reptilien, Vögel und Säugetiere leicht begreiflich. (Eine genaue Darstellung und Begründung im Einzelnen gibt mein Lehrbuch der Entwicklungsgeschichte, Io. Aufl., in den Kap. III, V—VII.) Noch ungleich mehr aber dringt der Blick des biologischen Forschers in die Tiefe, wenn er mit der vergleichenden Entwicklungslehre zugleich auch noch die vergleichende Anatomie verbindet und die unübersehbare Fülle ihrer systematisch geordneten Ergebnisse als Mittel für tiefere Erkenntnis verwertet. Wir lernen dann, daß vorübergehende Form- zustände, welche die höheren Wirbeltiere während ihrer Entwicklung O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl. 12 178 Fünftes Kapitel, rasch durchlaufen, eine gewisse und zuweilen recht auffällige Ähnlich- keit mit Gestaltungen haben, welche Vertreter von systematisch tiefer stehenden Tierklassen uns dauernd darbieten. Es gilt dies sowohl von den Embryonen im ganzen betrachtet, als auch, und zwar in noch viel höherem Grade, von den Embryonalstadien vieler einzelner Organe. Einige Beispiele werden das wichtige Verhältnis, aus dem sich weittragende Folgerungen ziehen lassen, deutlich machen. Wenn wir zuerst die Embryonen der landbewohnenden Reptilien, Vögel und Säuge- tiere im ganzen betrachten, so gleichen sie in manchen Beziehungen ganz auffällig den wasserbewohnenden Fischen in ihrem ausgewachsenen Zustand. : Sie entwickeln zu beiden Seiten des Halses vier Paar Schlund- spalten (Fig. 20) und Schlundbögen und in diesen Skeletteile, die bei vergleichend-anatomischer Untersuchung dem Visceralskelett der Fische (Fig. 21) homolog sind. Die Übereinstimmung wird noch durch ein anderes. äußerliches Merkmal erhöht, durch die ursprüngliche Gleichartigkeit in der Form der vorderen und der hinteren Extremitäten. Bei den landbewohnenden Wirbeltieren sind die Gliedmaßen im erwachsenen Zustand vom Rumpf weit abstehende, stabartige Fortsätze, die in mehrere wie Hebel gegen- einander bewegliche Abschnitte: Ober-, Unterarm und Hand gegliedert sind. Sie werden daher auch einem mehrarmigen Hebelwerk verglichen. Nach Form und Gebrauchsweise sind sie daher von den Lokomotions- organen der Fische, den zwei Paar Flossen, sehr verschieden. “Gleichwohl werden sie bei Menschen und Säugetieren zuerst als zwei breite, un- gegliederte, flossenartige Platten angelegt und entwickeln sich erst von diesem mehr fischartigen Ausgangsstadium durch eine Reihe von Meta- morphosen zu ihrer späteren Form. In entsprechender Weise lassen sich bei sehr zahlreichen Organen überraschende Übereinstimmungen zusammenstellen, die zwischen ihren ersten Entwicklungsstadien bei den höheren Wirbeltieren und ihrer definitiven Form bei Vertretern von den systematisch tiefer stehenden Abteilungen bestehen. Ich verweise auf die früher erwähnten Beispiele, an welchen die Stufenfolge mehrerer Entwicklungsstadien beschrieben wurde: auf das Achsen- und Kopfskelett, auf das Herz mit den Blut- gefäßen etc. (S. 175—177). Das Stadium der häutigen Wirbelsäule, welches sich nur bei ganz jungen Embryonen der Säugetiere etc. vor- übergehend beobachten läßt und später durch vollkommenere, zur Stütze des Körpers besser geeignete Einrichtungen zum Teil verdrängt wird, findet sich beim Amphioxus und den Cyclostomen als definitives Metamorphosenreihen in der Entwicklung der Wirbeltiere, 179 Skelett und ist dann dementsprechend auch größer und kräftiger und in der Art ausgebildet, daß es wirklich als Stütze im Einklang zu dem Ausbildungszustand aller übrigen Organe funktionieren kann. Das gleiche wiederholt sich mit dem zweiten, von uns früher unter schiedenen Entwicklungsstadium des Achsenskeletts. Während die Fig. 20. Vorderrumpf eines menschlichen Embryo von 4,2 mm Länge, 30 mal vergr. Von der Seite gesehen. Durch teilweise Entfernung der vorderen Brustwand ist der Herzschlauch sichtbar. Nach Hıs. 7 Hörbläschen, ı—4 erster bis vierter Schlundbogen, s5!—sp* erste bis vierte Schlundspalte. Fig. 21. Die untere Hälfte vom Kopf eines erwachsenen Haifisches nach Entfernung der oberen Hälfte durch einen Frontalschnitt. Die Figur gibt eine Ansicht der 5 Kiemenspalten mit ihren Mündungen in die Mundrachenhöhle und auf der äußeren Haut. Innere und äußere Kiemenspalten. Linkerseits sieht man die Quer- schnitte der Kiemenbögen und die rotgefärbten Kiemenblättchen, die von der vorderen und hinteren Wand der Tasche entspringen. Nach R. HerrwiG. 7?g Palatoquadratum, a vordere Befestigung am Schädel, z% Unterkiefer, »2 Mund, zs innere Kiemenspalten, as äußere Kiemenspalten, % Hautbrücken, 5 Kiemenbögen, 27! und 3/2 vordere fund hintere Kiemenblättchen, z3 Zunge, o Oesophagus. knorpelige Wirbelsäule, nachdem sie sich aus der häutigen entwickelt hat, bei den Säugetierembryonen schon früh durch die knöcherne ersetzt wird, bleibt sie als solche bei den Selachiern zeitlebens bestehen. Ihre knorpeligen Wirbelkörper und Bögen erlangen hier eine viel größere Mächtigkeit und Festigkeit als die ihnen vergleichbaren, aber nur pro- visorisch angelegten Skeletteile bei den kleinen, noch aus zarten Geweben zusammengesetzten Säugetierembryonen. Die Selachier werden daher 12# 180 Fünites Kapitel. auch als Knorpelfische bezeichnet. Denn wie bei der Wirbelsäule, so überschreitet der Ausbildungsgrad auch bei anderen Teilen ihres inneren Skeletts bei vollkommen funktioneller Leistungsfähigkeit niemals das knorpelige Stadium. Sie sind daher für den vergleichenden Anatomen eine sehr wichtige Gruppe für alle Fragen, welche die vergleichende Untersuchung des Skeletts der Wirbeltiere im knorpeligen Zustand be- treffen. Von dieser richtigen Erkenntnis durchdrungen hat CARL GEGEN- BAUR in seiner berühmten Monographie das Kopfskelett der Selachier zur Grundlage für die Erkenntnis der Genese des Kopfskeletts der Wirbeltiere gemacht. Repräsentiert doch ihre knorpelige Schädel- kapsel (Fig. 25) als wirklich funktionierendes Dauerstadium Verhältnisse, die sich zwar in ähnlicher Weise bei den Embryonen der höheren Wirbel- tiere in ihrem knorpeligen Primordialcranium wieder erkennen lassen (Fig. 24), aber nur von vergänglicher Natur sind und nur als Vorstadium für die Entwicklung des definitiven knöchernen Kopfskeletts eine vorübergehende Bedeutung besitzen. Noch mehr tritt der Wert der vergleichenden Anatomie beı der Beurteilung des ursprünglich einfachen Herzens und des einfachen Kreislaufs bei den Embryonen der landbewohnenden Wirbeltiere hervor. Was bei diesen ein vergängliches und vorbereitendes Stadium ist, bleibt bei den Cyclostomen und Fischen, wie uns die vergleichende Anatomie lehrt, wieder als eine Dauereinrichtung erhalten und ist hier den ihr obliegenden funktionellen Aufgaben vollkommen angepaßt. Sie steht bei ihnen in leicht erkennbarer Weise mit der Kiemenatmung in ur- sächlichem Zusammenhang. Denn der aus der einfachen Herzkammer entspringende Truncus arteriosus (Fig. 22 u. 23abr) gibt an jeden Schlundbogen nach links und rechts ein ihm entlang laufendes Schlund- bogengefäß ab. Dieses dient dazu, die zahlreichen Kiemenblättchen, die sich aus der Schleimhaut zu beiden Seiten der Kiemenspalten ent- wickelt haben (Fig. 2I u. 23 %kc), auf das reichlichste mit Blut zu ver- sorgen. Es löst sich daher bald nach seinem Ursprung in zahlreiche, feine Zweige (Fig. 23 kc) auf, die zu den Kiemenblättchen treten und sich an ihrer Oberfläche in einem dichten Kapillarnetz ausbreiten. Jedes Schlundbogengefäß sondert sich infolgedessen in einen ventralen Ab- schnitt, die Kiemenarterie (ka), welche sich in das Kapillarnetz der Kiemenblätter (kc) auflöst, und in einen dorsalen’ Abschnitt, die Kiemen- vene (kv), welche das arteriell gewordene Blut sammelt. Auf diese Weise befindet-sich der Blutstrom bald nach seinem Austritt aus dem Herzen unter den geeigneten Bedingungen, unter denen ein respiratorischer Gasaustausch zwischen dem Blut und dem durch die Spalten hindurch- Metamor phosenreihen in der Entwicklung der Wirbeltiere. I8I strömenden Wasser stattfinden kann. Hierauf wird das mit Sauerstoff versorgte Blut aus den Kiemenblättchen durch die Kiemenvenen (kv) zu der Aorta descendens (a?) übergeleitet und von dieser weiter im Körper verteilt. Fig. 22. B: ad Fe —— WI DM Pr ft E 5 ; gi abr a Rz E san nn Dr a J 7 Fig. 22. Kopf eines Knochenfisch- embryos mit der Anlage des Gefäßsystems (aus GEGENBAUR). dc Ductus Cuvieri, sv Sinus venosus, @ Vorhof, v Kammer des Herzens, abr aufsteigende Kiemenarterie (Truncus arte- riosus) mit davon abgehenden Schlundbogen- gefäßen, ad absteigende Aorta, c! Carotis, s Kiemenspalten, z Nasengrube, A Auge. = j z , Fig. 23. Schema für den Blutkreis- lauf der Fische nach RICHARD HERTWIG. a! In Verlängerung des Truncus arteriosus aufsteigender Arterienstamm mit den Kiemen- arterien (ke), welche den ventralen Ab- schnitten der 5 Schlundbogengefäße (Aorten- bögen) von Fig. 22 entsprechen. %v Die Kiemenvenen, die den dorsalen Abschnitten der 5 Schlundbogengefäße (Fig. 22) ent- sprechen und sich wie diese zur absteigenden Acrta a? vereinigen. Zwischen Kiemenarterien (22) und Kiemenvenen (£v) ist das Kiemen- kapillarnetz (2c) für den Kiemenkreislauf da- zwischen geschaltet, % Herzvorkammer, # Herz- kammer, oy Vena jugularis, vc Vena cardinalis, vh Vena hepatica (Cava inferior), da Darm- arterien, dv Darmvenen, dc Darmkapillaren, sc Körperkapillaren, Z/c Leberkapillaren. | I (m INNEN DD DDDDDIDDD). Op DIN) Einfaches Herz mit Schlundbogengefäßen, Kiemenspalten und Kiemenblättchen mit ihrem respiratorischen Netzwerk, einfacher Kreis- lauf etc. bilden ein System von Teilen, die in ihrer Funktion zusammen- gehören. Sie stellen ohne Frage eine Einrichtung dar, die für das Wasser- leben und für die Kiemenatmung berechnet ist. Auch bei den Embryonen der landbewohnenden Wirbeltiere ist der anatomische Grundplan aller Organe, die mit der Kiemenatmung 182 Fünftes Kapitel. bei den Fischen in irgendeinem Zusammenhang stehen, ursprünglich der gleiche. Denn zurzeit, wo bei ihnen Schlundspalten und Schlund- bögen angelegt werden, bilden sich auch aus dem Truncus arteriosus, den das Herz nach dem Kopf aussendet, fünf Paar von Schlundbogen- gefäßen, die zwischen den Schlundspalten (Fig. 24) von der ventralen nach der dorsalen Halsgegend ziehen. Sie werden auch als Aortenbögen bei den höheren Wirbeltierembryonen benannt, da sie sich dorsalwärts zu den primitiven Aorten untereinander vereinigen. Bei ihnen vollzieht aber das den Einrichtungen der Cyclostomen und Fische homologe System von Teilen niemals die dort von ihnen ausgeübte Funktion. Kiemenblättchen mit einem respiratorischen Gefäßnetz kommen ja zu zu keiner Zeit an der Schleimhaut ihrer Schlundspalten zur Entwicklung. Auch diese selbst beginnen, kaum daß sie eben angelegt worden sind, schon wieder zu verschwinden. Ihre gegenüberliegenden Epithelflächen verwachsen untereinander und werden später bis auf Reste, aus denen sich die Thymus und die verschiedenen Epithelkörperchen herleiten, vollkommen rückgebildet. Ebenso schwindet eine Hautfalte am Hals der Embryonen, die als Kiemendeckelfalte dem wirklichen Kiemen- deckel vergleichbar ist. Auch die meisten Schlundbogengefäße, die niemals wegen des Fehlens der Kiemenblättchen an der Respiration beteiligt gewesen sind, verkümmern; nur einige von ihnen, welche vom Truncus arteriosus das Blut direkt zur Aorta und zur Lunge weiterleiten, entwickeln sich zu den bleibenden großen Stämmen, die aus den beiden Herzkammern ihren Ursprung nehmen, nämlich zum Arcus aortae und zur Arteria pulmonalis. Obgleich ursprünglich bei den höheren Wirbeltieren (Fig. 24) Herz und De embryonal so angelegt werden, wie bei den Fischen (Fig. 22), dienen sie doch niemals bei ihnen einem Kiemenkreislauf, sondern ee im Laufe der weiteren Entwicklung für die ganz ver- änderten Erfordernisse des Lungenkreislaufs verwandt und dement- sprechend durch eingreifende Metamorphosen Hand in Hand mit der Anlage der Lungen umgestaltet. Vom allgemeinen Körperkreislauf teilt sich ein besonderer Abschnitt als der Lungenkreislauf ab. Im Zu- sammenhang hiermit wird das Herz durch eine Bildung von Scheide- wänden in eine linke und eine rechte Hälfte geschieden. Ferner werden von den fünf Paar Aortenbögen die letzten zum Anfangsteil der Aorta und zur Arteria pulmonalis unter teilweiser Rückbildung der -übrigen umgewandelt. In dieser Weise lassen sich auf Schritt und Tritt unzählige ver- bindende Fäden zwischen den Ergebnissen der vergleichenden Anatomie BR Metamorphosenreihen in der Entwicklung der Wirbeltiere, 183 und Embryologie ziehen und Erkenntnisse gewinnen, die auf die einander folgenden Entwicklungsstadien der verschiedensten Organe Licht werfen. Bei den vorausgegangenen Betrachtungen haben wir uns auf den Stamm der Wirbeltiere beschränkt; indessen führen vergleichende Anatomie und Entwicklungsgeschichte den Forscher bei konsequenter Handhabung noch über den Kreis der Wirbeltiere hinaus und lassen ihn beim Studium des gesamten Tierreichs in grundlegenden Verhält- nissen der Organisation gesetzmäßige Beziehungen auch zwischen Wirbel- tieren und Wirbellosen erkennen. Ich verweise hier auf das allen Wirbel- tieren gemeinsame Sta- dıum der Becherlarve, der Gastrula. Es ist be- kannt, daß diese wich- tige, durch Umwand- lung der Keimblase ent- stehende ontogenetische Form, in dieser oder jener Weise abgeändert, auchinden verschiedenen Stämmen der Wirbel- losen während ihrer Ent- wicklung auftritt. Eine s Fig. 24. Menschlicher Embryo durchsichtig Gastrula, welche mit dem gedacht mit eröffnetem Herzbeutel; Vorderkörner von gleichnamigen Stadium der rechten Seite gesehen mit dem Hörbläschen 7, dem : Truneus arteriosus (77), den 5 Aorten- oder Schlund- des Amphioxus zum bögen 4! bis 49, der Aorta descendens dextra Ad und Verwechseln ähnlich ist, den primitiven Jugularvenen /7 und Cardinalvenen Fr. a bei Vertretern Nach Hıs und KOLLMANnNn. der Cölenteraten, der Würmer (Sagitta), der Brachiopoden, der Tunicaten etc. beobachten. Was ‘aber noch wichtiger ist, unter den Wirbellosen macht uns die vergleichende Anatomie mit einzelnen Tierarten bekannt, die sich über das Gastrulastadium hinaus gar nicht weiter entwickelt haben und somit auch im ausgebildeten Zustand noch einen Becher bilden. Hierher gehören die Hydroidpolypen, und wenn wir von einigen neben- sächlichen Modifikationen absehen, die Korallentiere, die Actinien etc. Sie stellen ja auch im vollkommen erwachsenen Zustand weiter nichts als einfache Schläuche dar; als solche werden sie aus zwei Zellblättern, die dem äußeren und inneren Keimblatt der embryonalen Gastrula 184 Fünftes Kapitel. homolog sind, aufgebaut und sind ausgestattet mit einem eimzigen zentralen Hohlraum, dem Urdarm, der nur am Kopfende eine einzige nach außen führende Öffnung als Urmund besitzt. Wenn dieser in den genannten Gruppen der Cölenteraten noch von Fangfäden, Tentakeln, bald in kleinerer, bald in größerer Zahl umgeben wird, so liegen hierin zwar Unterschiede gegenüber den am Beginn der Entwicklung im Tier- reich beobachteten Gastrulae vor, aber doch von so geringfügiger Art, daß sie die formale, hochgradige Übereinstimmung keineswegs verdecken. Der Erwerb von Tentakeln bei den niederen Tieren, die sich als Dauer- gastrulae oder Gasträaden, wie sie HAECKEL genannt hat, bezeichnen lassen, ist in physiologischer Hinsicht auch leicht verständlich. Dienen sie doch als einfachste Greifarme, mit denen Nahrungsteile, wie kleine Pflanzen und Tiere, erfaßt und durch ihre Verkürzung in den Urmund hineingezogen werden. 2. Versuche einer Erklärung der ontogenetischen Metamorphosenreihen durch die Rekapitulationstheorie von Meckel und durch Haeckels biogenetisches Grundgesetz. Auf derartige Verhältnisse, wie ich sie hier an einigen Beispielen veranschaulicht habe, waren die Anatomen schon sehr frühzeitig auf- merksam geworden, als sich zur vergleichend-anatomischen auch die entwicklungsgeschichtliche Forschung noch hinzugesellte. So konnte es auch nicht ausbleiben, daß philosophische Köpfe durch sie zum tieferen Nachdenken und infolgedessen zu Spekulationen angeregt wurden, durch welche die beobachtete Übereinstimmung in der Organisation erklärt werden sollte. Schon der berühmte Anatom MECKkEL stellte 18II den Grundsatz auf, daß das höhere Tier in seiner Entwicklung die unter ihm stehenden, einfacher gebauten Formen der Tierreihe durchlaufe. Er begründete so die Lehre von der Parallele zwischen der Entwicklung des Embryos der höheren Tiere und der Entwicklung der Tierreihe oder wie\ CARL ERNST v. BAER sie nannte, die Lehre von der Parallele zwischen der „individuellen Metamorphose‘ und der ‚Metamorphose des Tierreichs“. Unter der Herrschaft der Okenschen Naturphilosophie waren derartige Anschauungen bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts in der Gelehrten- welt weit verbreitet. ,‚‚Wenige Darstellungen von Verhältnissen in der organischen Welt haben“ — bemerkt CARL E. v. BAER als gewiß zuverlässiger Gewährsmann — „so viel Beifall gefunden als sie.“ ‚‚Diese Idee, lebendig geworden zu einer Zeit, wo außer von MALPIGHI und 3 | ar "Versuche einer Erklärung der ontogenetischen Metamorphosenreihen etc 185 WoLFF noch keine zusammenhängenden Untersuchungen über die früheren Perioden der Entwicklungsgeschichte irgendeines Tieres an- gestellt waren und vorzüglich durchgeführt von einem Manne, der über Entwicklungsgeschichte der höheren Organismen wohl die meisten tnisse besaß, konnte nicht umhin, große Teilnahme zu erregen, sie von einer Menge spezieller Beweise unterstützt wurde. Sie gewann h mehr Gewicht, da sie sich fruchtbar bewies, indem eine Reihe Mißbildungen verständlich wurden, wenn man sie als Folge eines par- ellen Stehenbleibens der Entwicklung auf früheren Bildungsstufen Kein Wunder also, daß sie mit Wärme aufgenommen und schärfer durchgeführt wurde.“ - BAER selbst hat sich auf Grund seiner embryologischen Studien mit Entschiedenheit gegen diese Lehre ausgesprochen. Daß sie vorüber- gehend in den Hintergrund trat und aus der wissenschaftlichen Dis- kussion verschwand, ist wohl seinem Einfluß und dem Mißkredit, in welchen die Naturphilosophie aus mannigfachen Gründen fiel, zuzu- schreiben. Ein neues Leben gewann die Ansicht MECKELs indessen bald wieder mit dem siegreichen Fortschreiten der Darwınschen Lehre, namentlich in Deutschland. In einem geistvollen, von FRITZ MÜLLER verfaßten Schriftchen: ‚Für Darwin“ wurde sie weiter ausgebaut; namentlich aber erhielt sie ihre wissenschaftliche Begründung und eine schärfere Formulierung durch ERNST HAEcKEL in seiner ‚„Generellen Morphologie“ und in zahlreichen anderen, zum Teil auch populären ‚Schriften?). ’ HAECKEL gab der von ihm weiter ausgebauten MEcKELschen Lehre den jetzt weit bekannten Namen „das biogenetische Grundgesetz“ nd faßte es in die kurze Formel zusammen: „Die Ontogenie ist eine ekapitulation der Phylogenie‘‘, oder etwas ausführlicher: ‚Die Formen- e, welche der individuelle Organismus während seiner Entwicklung on der Eizelle bis zu seinem ausgebildeten Zustande durchläuft, ist e kurze, gedrängte Wiederholung der langen Formenreihe, welche ‚die tierischen Vorfahren desselben Organismus oder die Stammformen A. 1) Meckel. F., Entwurf einer Darstellung der zwischen dem Embryozustande der höheren Tiere und dem permanenten der niederen stattfindenden Parallele. Beiträge zur vergleich. Anatomie, Ba. II, Leipzig ı811. — Derselbe, System der vergleich. Anatomie, Bd. TI, Halle 1821. — v. Baer, Karl Ernst, Über Entwicklungsgeschichte der Tiere. Beobachtung und Reflexion, 1828. — Müller, Fritz, Für Darwin. Leipzig — Haeckel, E., Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen. 4. Aufl., 18917. — Gegenbaur, K., Ontogenie und Anatomie in ihren Wechsel- besiehungen betrachtet. Morph. Iahrb.. Bd. XV, ı889. — Keibel, F., Das biogene- fische Grundgesetz und die Cenogenese. Meckel-Bonnet, Ergebnisse, Bd. VII, 1898. & 186 Fünftes Kapitel. seiner Art von den ältesten Zeiten der sogenannten organischen Schöpfu an bis auf die Gegenwart durchlaufen haben.“ Bei der genaueren Ausarbeitung seiner Theorie läßt HAECKEL den Parallelismus zwischen beiden Entwicklungsreihen ‚etwas verwischt sein und zwar dadurch, daß meistens in der ontogenetischen Entwicklungs: folge vieles fehlt und verloren gegangen ist, was in der phyletische Entwicklungskette früher existiert und wirklich gelebt hat“. Denn „wenn der Parallelismus beider Reihen‘, fügt er dem Obigen hinzu, „vollständig wäre, und wenn dieses große Grundgesetz von dem Kausale nexus der Ontogenese und Phylogenese im eigentlichen Sinne des Wortes’ volle und unbedingte Geltung hätte, so würden wir bloß mit Hilfe de Mikroskops und des anatomischen Messers die Formenreihe festzustellen haben, welche das befruchtete Ei des Menschen bis zu seiner vollkommenen Ausbildung durchläuft; wir würden dadurch sofort uns ein vollständiges Bild von der merkwürdigen Formenreihe verschaffen, welche die ties rischen Vorfahren des Menschengeschlechts von Anbeginn der organische Schöpfung an bis zum ersten Auftreten des Menschen durchlaufen haben, Jede Wiederholung der Stammesgeschichte durch die Keimesgeschichte ist eben nur in seltenen Fällen ganz vollständig und entspricht nu selten der ganzen Buchstabenreihe des Alphabets. In den allermeiste Fällen ist vielmehr dieser Auszug schr unvollständig, vielfach ver ändert, gestört oder gefälscht. Wir sind daher meistens nicht im stande, alle verschiedenen Formzustände, welche die Vorfahren jedes Organismus durchlaufen haben, unmittelbar durch die ÖOntogenie i einzelnen festzustellen; vielmehr stoßen wir gewöhnlich auf mannig fache Lücken.“ HAECKEL unterscheidet daher in der Entwicklung zwei verschieden Arten von Prozessen: ‚I. die palingenetischen und 2. die cenogenetische Die ersteren sind geschichtliche Wiederholungen oder solche Erschei- nungen in der individuellen Entwicklungsgeschichte, welche durch die konservative Vererbung getreu von Generation zu Generation üben tragen werden, und welche demnach einen unmittelbaren Rückschl auf entsprechende Vorgänge in der Stammesgeschichte der entwickelte Vorfahren gestatten.‘ ‚‚Cenogenetische Prozesse hingegen oder keimes geschichtliche Störungen‘ nennt HAECKEL alle jene Vorgänge in det Keimesgeschichte, welche nicht auf solche Vererbung von uralten Stamm- formen zurückführbar, vielmehr erst später durch Anpassung der Keime oder der Jugendformen an bestimmte Bedingungen der Keimesentwie lung hinzugekommen sind. Diese cenogenetischen Erscheinungen sin fremde Zutaten, welche durchaus keinen unmittelbaren Schluß a / Die Umwertung des biogenetischen Grundgesetzes. 187 entsprechende Vorgänge in der Stammesgeschichte der Ahnenreihe erlauben, vielmehr die Erkenntnis der letzteren geradezu fälschen und ‚ verdecken.“ Da das biogenetische Grundgesetz in den embryonalen Stadien ' eine Art von Wiederholung von Vorfahrenformen sieht, wird es in der biologischen Literatur zuweilen als die „Rekapitulationstheorie“ ‚ bezeichnet. Als solche ist es in der von HAECKEL gegebenen Fassung ‚zu einem Grundpfeiler der Darwinistischen Morphologie geworden und hat in sehr eingreifender Weise die Denkart der vergleichenden Em- bryologen und Anatomen sowie die Deutung ihrer Forschungsergeb- nisse beeinflußt. Mit Recht habe ich mich daher in meinen Elementen ‘ der Entwicklungslehre wohl dahin aussprechen können, daß die bio- logische Literatur während 50 Jahren unter dem Banne dieser Vor- ‚ stellungsweise gestanden hat. Noch größere Wirkungen aber hat die ‚ Lehre vom biogenetischen Grundgesetz außerhalb des engeren Kreises ‚ der Vertreter der Wissenschaft auf ein lernbegieriges und einer fort- schrittlichen Erkenntnis zugeneigtes Laienpublikum ausgeübt. Durch weitverbreitete populäre Darstellungen ist in ihm ein wissenschaftlich- ‚ religiöser Glaube wachgerufen worden, daß der Naturforscher mit dem Instrument des biogenetischen Grundgesetzes die wirklichen Abstam- ' mungsverhältnisse und die Verwandtschaften der Organismen feststellen und überhaupt ein helles Licht in das Dunkel des Werdeprozesses der Organismen hineinwerfen könne! ” : 3. Die Umwertung des biogenetischen Grundgesetzes. r - Schon vor einer Reihe von Jahren habe ich der eben besprochenen, landläufigen Meinung gegenüber in meiner Allgemeinen Biologie und in mehreren kleineren Schriften wissenschaftliche Bedenken, wie einst C. ERNST v. BAER gegenüber der MEckELschen Lehre, geäußert. Zu- gleich habe ich auf eine Reform und auf Änderungen hingewiesen, zu welchen eine tiefere Kenntnis vom Wesen des Entwicklungsprozesses und vom Wesen der Zelle hinführen muß!). Wenn ich jetzt von neuem in einer eingehenden Besprechung Stellung zu der Tragweite des bio- Fr I) Hertwig, Oscar, Die Zelle und die Gewebe. Ba. II, 1898, Kap. X/X und Allgemeine Biologie, 2.—4. Aufl. — Derselbe, Über die Stellung der vergleichenden Atwicklungslehre zur vergleichenden Anatomie, zur Systematik und Descendenz- heorie. Handb. der vergl. und experim. Entwicklungslehre, Bd. III, Teil 3, 1906. — Derselbe. Das biogenetische Grundgesetz nach dem heutigen ‘Stande der Biologie. ernationale Wochenschr., Fahre... 907: — Vialleton, L., Un problöme d: olution. Paris 1908. 188 Fünftes Kapitel. genetischen Grundgesetzes und zu den mit ihm zusammenhängenden Fragen nehme, so ist dies in einem Buch, welches sich mit dem Werden der Organismen beschäftigt, nicht zu umgehen. Denn vergleichende Anatomie und Entwicklungslehre sind ohne Zweifel die wichtigsten Waffen im Kampf um die Abstammungslehre oder die Descendenz- theorie. Zuerst sei hervorgehoben, inwieweit der Naturforscher nach meiner Ansicht dem Leitgedanken des biogenetischen Grundgesetzes unbedingt beistimmen muß. Was kann als der leitende Gedanke desselben be- zeichnet werden? Doch wohl die Vorstellung, daß der ontogenetische Prozeß vom Ei bis zum ausgebildeten Lebewesen dem wissenschaft- lichen Verständnis nur dann nach allen Richtungen erschlossen werden kann, wenn er als das letzte Glied einer unendlich langen Entwicklungs- kette, also auf Grund einer vorausgegangenen, im Dunkel der Vorzeit sich verlierenden Stammesgeschichte zu erklären versucht wird. Dem- nach bedarf das Studium der Ontogenese zu seiner Ergänzung des Studiums der Phylogenese mit ihrer historischen Erklärungsweise. Es gibt also zwei Wege und zwei Methoden, nach denen man die Ontogenese zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung machen und eine Erklärung für sie suchen kann. Auf dem einen Weg beschränkt sich der Forscher auf die sorg- fältige Untersuchung aller Erscheinungen und Vorgänge, welche die Entwicklung vom Ei bis zum Endstadium erkennen läßt. Er bedient sich hierzu aller der zahlreichen morphologischen, physiologischen, chemischen und physikalischen Methoden, welche ihm die exakte Natur- wissenschaft zur Verfügung stellt. Jedes ontogenetische Stadium wird anatomisch, histologisch und physiologisch in möglichst erschöpfender Weise analysiert und aus dem vorausgehenden Stadium als seine not- wendige Folge zu erklären versucht. Die Aufgabe dieser naturwissen- schaftlichen Untersuchungsmethode würde gelöst sein, wenn dereinst der Forscher imstande wäre, aus dem ultramikroskopischen Bau der Eizelle (ihrer Anlage) und den mit ihr verknüpften chemisch-physi- kalischen Kräften (ihren Potenzen) jedes einzelne Stadium im Ent- wicklungsprozeß aus dem vorausgegangenen, wie die Folge aus ihrem Grunde zu erklären. Im Sinne der exakten Schule oder entwicklungs- mechanisch, wie man jetzt häufig sagt, würde hiermit die Aufgabe des Naturforschers ihren Abschluß gefunden haben, nicht aber die philo- sophische Erklärung des ontogenetischen Prozesses. Denn derselbe ist doch nur das Endglied eines viel umfassenderen Entwicklungsprozesses, der so alt ist wie das Leben auf unserem Planeten überhaupt. Auf diesem Die Umwertung des biogenetischen Grundgesetzes. 189 Gebiet aber versagt vollständig die exakte naturwissenschaftliche Schule. Physiologische Prozesse, die vor Jahrtausenden in der Entwicklung der Organismen stattgefunden haben, lassen sich mit chemisch-physikalischen Methoden ebensowenig erforschen, wie die morphologischen Substrate, die ihnen in den embryologischen Stadien der vorweltlichen onto- genetischen Prozesse .entsprochen haben, sich anatomisch-histologisch feststellen lassen. Ohne Frage aber bilden die ausgestorbenen Vorfahren der heute lebenden Organismen ‘eine unendlich lange Entwicklungs- kette, in welcher jedes vorausgegangene Glied zum nachfolgenden in ähnlicher Weise im Verhältnis von Grund und Folge steht, wie in der einzelnen Ontogenie ein Stadium zum anderen. Hieraus ergibt sich das zweite naturwissenschaftlich-philosophische Problem, einen Einblick in das Verhältnis der letzten heute lebenden Glieder der Entwicklungskette zu den ihnen vorausgegangenen Gliedern oder, mit einem Worte, in die natürliche Entstehungsgeschichte der Organismenwelt zu gewinnen. Dieses Problem ist kein rein natur- wissenschaftliches mehr, da die zur Untersuchung der gegenwärtigen Lebewelt gebräuchlichen Methoden, wie schon gezeigt wurde, für diese Aufgabe versagen. Ergänzend muß hier eine historisch-philosophische Erklärungsweise zur naturwissenschaftlichen hinzutreten; eine solche kann aber, wie es in der Sache liegt, nur eine mehr oder minder be- schränkte sein und uns nur zu mehr oder minder hypothetischen Er- gebnissen führen. So würden Naturforscher, welche, wie die alten Evolutionisten oder Systematiker der prädarwinistischen Epoche unter dem Dogma biblischer Schöpfungsgeschichte stehen, im Bestreben, diese mit den Ergebnissen der Embryologie zu verknüpfen, die Ansicht vertreten können, daß sich in Vorzeiten die einzelne Ontogenie in der Entwick- lungskette in derselben Weise wie in der Gegenwart abgespielt habe. Von der Einschachtelungslehre durch die Zellentheorie befreit, hätten ‚sie sich jetzt nur darüber zu entscheiden, wie schon öfters als Rätsel- frage aufgegeben worden ist, ob am ersten Schöpfungstag die Henne oder das Ei früher geschaffen worden ist. Aber auch diese Art der Prä- formation des ersten Gliedes in der Entwicklungskette durch einen übernatürlichen Schöpfungsakt dürfte unter den Biologen der Gegen- wart wohl kaum einen Anhänger finden. Durch den ganzen Entwicklungsgang von Philosophie und Natur- wissenschaften ist jetzt mehr und mehr die Anschauung zur Herrschaft gelangt, daß die Entwicklung sowohl der unorganischen Welt, als der die Erde bewohnenden Geschöpfe auf natürlichem Wege aus voraus- 190 Fünftes Kapitel. gegangenen einfacheren Zuständen erfolgt ist. Sie gilt jetzt allgemein als die wissenschaftlich allein berechtigte. Und in der Tat lassen sich aus einer wissenschaftlichen Untersuchung der Organismen wichtige Gründe zusammenstellen, die sich zugunsten einer Entstehung der heute lebenden Pflanzen und Tiere aus vielmals einfacheren Ahnenformen verwerten lassen. Dieselben sollen indessen in diesem Kapitel nur insoweit bespröchen werden, als sie der vergleichend-anatomischen und entwicklungsgeschichtlichen Forschung zu entnehmen sind. Nach meiner Ansicht sind sie allerdings die weitaus wichtigsten und beweiskräftigsten. a) Begründung der Ansicht, dass ontogenetische Einrichtungen Rückschlüsse auf hypothetische Stadien der Phylogenese gestatten. Die jetzt zur Beantwortung gestellte Frage lautet daher, welche Ergebnisse der vergleichenden Anatomie und Entwicklungslehre sprechen dafür, daß die heute lebenden Organismen sich im Vergleich mit ihren Vorfahren verändert haben, oder daß die Endglieder der phylogenetischen Kette sich aus einfacheren Gliedern durch eine Art phyletischen Ent- wicklungsprozesses erst allmählich hervorgebildet haben? Aus der unendlichen Fülle des vorliegenden Beweismaterials sollen nur einige wenige, besonders interessante Fälle herausgegriffen werden: Die Schlundspalten und Visceralbögen der Säugetiere als Zeugnisse. Ich erinnere zuerst an einen Komplex zusammengehöriger Or- ganisationsverhältnisse, einerseits an die schon besprochenen Schlund- spalten und Schlundbögen, an das einfache Herz und an die erste Anlage des Gefäßsystems der Embryonen der landbewohnenden Wirbeltiere (Fig. 20 u. 24), andererseits an die homologen, durchaus gleichartigen, bleiben- den Einrichtungen der Fische (Fig. 21 u. 23). Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß hier in den allgemeinen Grundzügen des Baues die Em- bryonen der Reptilien, Vögel und Säugetiere wie die ausgewachsenen Fische beschaffen sind. Da nun aus dem Bau der Organismen auf ihre Lebensweise, aus dem Bau ihrer Organe auf ihre Funktion sich Schlüsse ziehen lassen, so kann man wohl sagen, daß die Embryonen landbe- wohnender Wirbeltiere vorübergehend so gebaut sind, als ob sie für ein Wasserleben bestimmtwären. Man kann dann auch geneiMt sein, alle diese Verhältnisse in der Weise zu erklären, daß die Schlundspalten, das einfache Herz und die fischartige Anordnung der Hauptblutgefäße historische Dokumente sind, die sich als Beweise für die Abstammung Die Schlundspalten und Visceralbögen der Säugetiere als Zeugnisse. gr der landbewohnenden Wirbeltiere von wasserbewohnenden verwerten lassen. Diese Dokumente aber gewinnen noch mehr an Beweiskraft, wenn wir die Klasse der Amphibien in den Kreis unserer Betrachtungen ziehen. Denn hier wird, was dort wohl als berechtigte Hypothese auf- gestellt werden kann, zur vollen Wirklichkeit. Vor unseren Augen wandeln sich wirkliche Wassertiere in Landtiere um. Nachdem die Larven der Frösche und Kröten, Tritonen und Salamander, die schützen- den Eihüllen verlassen haben, leben sie noch wochen- und monatelang im Wasser wie kleine Fische und ernähren sich selbständig. Sie atmen wie die Fische durch Kiemen, ausgestattet mit Schlundspalten, mit Kiemenblättchen und äußeren Kiemenbüscheln, mit einfachem Herz und den übrigen dazu passenden Kreislauforganen. Sie erreichen schon als Larven eine nicht unerhebliche Größe, unterscheiden sich als solche in ihrer Form oft in erheblicher Weise vom späteren Zustand, wie zum Beispiel die Kaulquappe vom Frosch. Dann beginnt die Metamorphose und mit ihr die Veränderung der Lebensweise. Das Wassertier wird plötzlich zu einem Landtier. Die Lungen, die sich schon vor der Ver- wandlung neben den Kiemen entwickelt haben, treten neben der Kiemen- atmung gleichzeitig mehr und mehr in Funktion und ersetzen sie schließ- lich vollständig. Die Kiemen verschwinden, die Schlundspalten schließen sich. Die Skeletteile der Schlundbögen beginnen zu verkümmern und bleiben in veränderter Form und Funktion, verglichen mit dem mäch- tigen Visceralskelett der Fische, nur als unscheinbare Skeletteile beim Landtier fortbestehen. Mit dem Lungenkreislauf beginnen sich Hand in Hand auch die Scheidewandbildung im Herzen und die zugehörige Umwandlung im Bereich der Schlundbogengefäße einzustellen. Die Metamorphose der Kaulquappe zum Frosch wirkt auf den Beob- achter besonders überraschend noch dadurch, daß der kräftig ent- wickelte Schwanz, der als Ruderorgan beim Wasserleben eine wichtige Rolle gespielt hat, in kurzer Zeit fast vollkommen zurück- gebildet wird. Noch merkwürdiger und nicht minder beweisend ist ein zweiter Vorgang, die embryonale und die phyletische Entwicklung der Kau- ‚werkzeuge und Gehörknöchelchen der Säugetiere und des Menschen. Sie macht uns zugleich auch mit dem zur Erklärung vieler Verhältnisse wichtigen Prinzip des Funktionswechsels bekannt. Wie schon früher erwähnt wurde (Seite 175), lassen sich in der Entwicklung des Kopfskeletts bei den Säugetieren drei aufeinanderfolgende Stadien, das häutige, das knorpelige und das knöcherne, unterscheiden. Zuerst wird das Gehirn von einer häutigen, darauf von einer knorpeligen Kapsel, > Fünftes Karstel nmordialcranium, umgeben (Fig. 25). An die Basıs der Knorpel se] SC Ben sich ın der Umgebung des Mundes zwei Paar kleine tüuckchen an (Incu s. Cart. Meckel); se werden nach ihrer chbarten Muskel. ce u ren Beziehung 1 r nderen Teile S | Unis chichen Embryos von 8 cm Steiß- schaft von Ba Einken Seite ge- ac HrzrwiG. Auf der yes des Tränen- Ikelett bestebend aus Cart. Meckel „ Processas a0 s es, Zuneembein bikopnf, = Sene des Schädels, > r zman cmreine Tolle noch hen nicht entferat n m Mans er den Zwis und das Gau - bein de m Seite ner den kz an dessen Innen ® er 2 zn dicht az che Knorpel seinen Wee aim Palatoquadratum und Mandibulare) in der vergleichenden Anatomie benannt Knorpel »ber- und Unterkiefer sınd untereinander im Kiefergeiknk verbunden. Hinter ihnen liegen, durch die erste Schlundspalte getrennt, zwei kleine Knorpelstückchen unmittelbar der Ohrgegend des knorpeligen Primordiakraniums an. Sie bilden den 25. Proc. styloid.). Die Schlundspalten und Visceralbögen der Säugetiere als Zeugnisse. 193 Dieselben Skelettstücke begegnen dem vergleichenden Morphologen bei den Embryonen der Selachier, erreichen aber hier allmählich eine außerordentliche Größe und werden zu den wirklich funktionierenden Kauwerkzeugen der ausgewachsenen Tiere (Fig. 26 O0, U u. zb). Sie sind auf ihren Rändern mit zahlreichen Ober- und Unterkieferzähnen ausgerüstet und werden durch kräftig entwickelte Kaumuskeln im pri- mären Kiefergelenk gegeneinander bewegt. N du Tr LaFa0eGl Va rb rb rb ri Ik ik .0.U zb zb kb Fig. 26. Schematische Darstellung der knorpeligen Schädelkapsel und des knorpeligen Visceralskeletts eines Selachiers und der größeren Nervenstämme des Kopfes. N Nasenkapsel (Ethmoidalregion des Primordialcranium), Az Augenhöhle (Orbitalregion), Za Labyrinthregion, Oc Oceipitalregion des Schädels, O Palatoquad- ratum, U Unterkiefer, 72 Lippenknorpel, 25 Zungenbeinbogen, %b erster bis fünfter Kiemenbogen, 77 Nervus trigeminus, 7a Facialis, G/ Glossopharyngeus, Va Vagus, rl! Ramus lateralis des Vagus, rd Rami branchiales des Vagus. Hier macht sich nun für.den vergleichenden Forscher ein ent- sprechender Unterschied, wie zwischen den Dauereinrichtungen zur Kiemenatmung, dem einfachen Blutkreislauf und dem einfachen Herz der Fische, sowie den homologen Anlagen der Embryonen von Reptilien, Vögeln und Säugetieren bemerkbar. Denn bei den Selachiern bleiben, wie wir schon früher erfahren haben, das knorpelige Primordialcranıum und das knorpelige Visceralskelett als dauernde und in Funktion tretende Einrichtungen erhalten, dagegen erfahren sie bei den Embryonen der höheren Wirbeltiere schon frühzeitig eine Fortentwicklung in den knöchernen Zustand. Hiermit ist aber bei den Säugetieren eine der O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl. 13 194 Fünftes Kapitel interessantesten Metamorphosen verbunden. Knorpelige Ober- und Unterkiefer nehmen über die Größe ihrer ersten Anlage hinaus nur sehr wenig an Umfang zu (Fig. 25) und geraten dadurch bald in den denkbar größten Gegensatz zu den ihnen homologen Skelettstücken der Selachier (Fig. 26) und, was hier ergänzend noch hinzugefügt sein mag, auch der Amphibien, Reptilien und Vögel. Sie finden überhaupt bei den Säugetieren zu keiner Zeit eine Verwendung als Kauwerkzeuge, eben- sowenig wie ihre Schlundspalten zur Kiemenatmung. ‘ Denn andere Skeletteile, die bei der Entwicklung des dritten knöchernen Endstadiums erst neu gebildet werden, übernehmen bei ihnen diese Rolle. Unmittelbar nach außen von den Knorpelstücken entstehen nämlich in dem sie bedeckenden Bindegewebe kleine Knochenplättchen, die sekundären oder wirklichen knöchernen Ober- und Unterkiefer der höheren Wirbeltiere. Sie sind in Fig. 25 auf der linken Kopfhälfte ab- präpariert, dagegen auf der rechten in ihrer Lage erhalten und durch einen gelben Farbton kenntlich gemacht (Maxillare und Dentale). Sie wachsen mit der Größsnzunahme der Embryonen entsprechend weiter, nehmen die in der benachbarten Schleimhaut entwickelten Zahnanlagen in Alveolen auf und treten mit anderen Knochen, die sich inzwischen noch aus der häutigen und knorpeligen Schädelkapsel entwickelt haben, in eine festere Verbindung. Hierbei bildet sich ein ganz neues Kiefer- gelenk aus, das man vom primären Gelenk zwischen den knorpeligen Stücken der Selachier und anderer Wirbeltiere als das sekundäre in der vergleichenden Entwicklungslehre unterscheidet. Es entsteht da- durch, daß der knöcherne Unterkiefer (Dentale der Fig. 25) einen Gelenk- fortsatz (Processus articularis) nach oben entsendet und sich durch ihn mit der Schuppe des Schläfenbeins, die sich gleichfalls als Beleg- knochen beim Verknöcherungsprozeß der Schädelkapsel entwickelt hat, zu einem Gelenk verbindet. Infolgedessen verändern auch die Kaumuskeln ihren Ursprung und Ansatz. Anstatt wie bei den Selachiern an das embryonal zuerst angelegte,aberdann in derEntwicklung ganz zurückgebliebene, knorpelige Mandibulare setzen sie sich bei den Embryonen der Säugetiere an das nach außen von ihm und kräftiger entwickelte Os dentale an. Dadurch schalten sie die knorpeligen Kieferstücke aus ihren ursprünglichen funktionellen Beziehungen aus. Als Ersatz sind die sekundär als Beleg- knochen entstandenen bleibenden Unterkiefer, an denen sich jetzt auch die Zähne befestigen, für sie eingetreten. Daher finden die Kaubewegungen von jetzt an anstatt im primären im sekundären Kiefergelenk statt. Auf diese Weise sind die funktionslos gewordenen und kleiner gebliebenen Die Schlundspalten und Visceralbögen der Säugetiere als Zeugnisse. 195 Knorpelstückchen in die Lage gekommen, einen Funktionswechsel ein- gehen zu können. Das geschieht, indem sie in den Dienst des Gehör- organs treten und, da auch bei ihnen das Knorpel- durch Knochen- gewebe später ersetzt worden ist, als Gehörknöchelchen für die Schall- übertragung vom Trommelfeil auf das Labyrinth Verwendung finden. Sie werden zu Hammer (Malleus) und Amboß (Incus), wie Fig. 27 lehrt, in welcher die betreffenden Skelettstücke der Fig. 25 in Verbindung Malleus Zahnrinne amulus proc. Meckeli Manubrium mallei Fig. 27. Knöchener Unterkiefer mit dem Meckelschen Knorpel eines mensch- lichen Foetus vom Ende des 3. Monats. Nach KorLmann. Der Unterkiefer ist isoliert, von innen gesehen, so daß der MEckELsche Knorpel der ganzen Länge nach sichtbar wird; der Hammer ist noch mit ihm in kontinuierlicher Verbindung. An dem Amboß ist der kurze und lange Fortsatz deutlich erkennbar. Der MEckELsche Knorpel liegt in einer Furche des Unterkiefers unterhalb der Ansatzlinie des Musculus mylo- hyoideus.. Das Vorderende biegt mit einem hakenförmigen Schenkel um (Hamulus processus Meckelii [HANNOVER|). mit dem Trommelfell bei etwas stärkerer Vergrößerung dargestellt sind. Das zwischen ihnen befindliche Gelenk entspricht also in vergleichend- anatomischer Hinsicht dem primären Kiefergelenk der Selachier. Das knorpelige, an die Labyrinthregion unmittelbar angrenzende, obere Stück des Zungenbeinbogens ist ebenfalls im Wachstum zurückgeblieben und wandelt sich in das dritte Gehörknöchelchen, den Steigbügel, um, der in der Fenestra ovalis der Ohrkapsel befestigt ist. Die Fenestra ovalis entspricht daher der Hyoidpfanne der Selachier, an der sich das Hyomandibulare, das Homologon des Steigbügels, mit der knorpeligen Schädelkapsel gelenkig verbindet. i3* 196 Fünftes Kapitel. Die Umwandlung von Kieferstücken in Gehörknöchelchen mag bei manchem Leser berechtigtes Staunen hervorrufen. In der Tat gehört sie zu den interessantesten Veränderungen, mit denen uns die ver- gleichende Anatomie und Entwicklungslehre bekannt macht. Kann es einen größeren Kontrast als den eben beschriebenen Wechsel der Funktionen, einen größeren Erfolg vergleichender Forschung als den Nachweis geben, daß wir uns jetzt der Kieferstücke phyletischer Ahnen als Hilfswerkzeuge beim Hören bedienen! Daher mag, um diesen über- raschenden Funktionswechsel begreiflicher zu machen, noch bemerkt werden, daß die Vorbedingungen für einen solchen in der anatomischen Anordnung der Teile, wie ein genaueres anatomisches Studium zeigt, doch von vornherein schon gegeben sind. Denn knorpeliger Ober- und Unterkiefer einerseits, oberes Stück des Zungenbeinbogens anderer- seits begrenzen unmittelbar die erste Schlundspalte, die unter der Ohr- kapsel ihren Weg nimmt; sie lagern daher auch unmittelbar der Laby- rinthregion des knorpeligen Primordialcraniums an. Aus der ersten Schlundspalte leitet sich die Paukenhöhle und die Eustachische Röhre, aus der Stelle ihres Verschlusses aber das Trommelfell her. Es bedarf daher nur geringer Lageveränderungen, um die im Wachstum zurück- gebliebenen, ihrer ursprünglichen Funktion beraubten und daher für andere Verwertung frei gewordenen Knorpelstückchen in den Dienst des Gehörorgans überzuführen, wie es auch wirklich in späteren Em- bryonalstadien beobachtet werden kann. Die Metamorphosenreihe von Sacculina als Zeugnis für ihre Phylogenese. Wie die Wirbeltiere, so bieten uns auch die Wirbellosen aus den verschiedenen Stämmen geeignete Beispiele von parallelen Formen- reihen dar, von denen die eine aus Stadien, die in der Entwicklung eines Tieres wirklich aufeinander folgen, die andere aus aneinandergereihten Dauerzuständen verschiedener Tiere, die nur im System zusammen- gehören, besteht. Ich beschränke mich auch hier auf einen Fall, der uns zugleich mit Eigentümlichkeiten und Folgen einer parasitischen Lebensweise bekannt macht und dadurch wieder auf eine neue Art zum . Verständnis der Rekapitulationstheorie beiträgt. — Der Fall betrifft einen Vertreter der Crustaceen, die Sacculina carcini (Fig. 28, Sace). Sie lebt als Parasit auf einigen größeren marinen Krebstieren, wie dem Carcinus maenas, auf dessen Bauchseite sie sich mit einem dicken Stiel (5) festheftet. Sie bildet, wie schon ihr Name sagt, einen unförm- Die Metamorphosenreibe von Sacculina als Zeugnis für ihre Phylogenese. 197 lichen Sack (Sac:), der keine Spur von Gliederung, von Extremitäten, von Sinnesorganen aufweist. Auch bei seiner anatomischen Unter- suchung werden die sonst überall vorkommenden Organe, wie Magen, Darm und die zu ihnen gehörenden Drüsen, vermißt. Seinen einzigen Inhalt bilden die zu außergewöhnlicher Größe entwickelten Geschlechts- organe. Seine Nahrung erhält der Sack durch den Stiel (S), der in das Innere des Wirtstieres durch eine Öffnung in der Chitinhülle tief hinein- gedrungen ist, sich zwischen seinen Eingeweiden baumförmig verzweigt Fig. 28. Fig. 29. Fig. 28. Die parasitische, ausgebildete Sacculina (Sacc) schmarotzend auf Car- cinus maenas, dessen Abdomen (Abd) zurückgeschlagen ist; sie ist durch den Saug- stiel (S) in den Körper des Wirts tief eingesenkt und umspinnt seine Eingeweide, mit Ausnahme der Kiemenregion, mit einem Geflecht feiner Wurzelausläufer (W), in welche sich der Stiel (S) verzweigt. Sacc Leib der Sacculina, S sein Stiel, W seine Wurzel- ausläufer, Az Auge von Carcinus, Add Abdomen von Careinus. Fig. 29. Die Metamorphosen des Schmarotzerkrebses Sacculina carcini nach RicHARD HErRTwIG. A Das Naupliusstadium. Az Auge, 7, 77, I/II die drei Gliedmaßenpaare. B Das Cyprisstadium. 7, Z/ vordere Gliedmaßen, V/7—XJ Schwimm- füße (Rankenfüße). a und mit feinsten Röhrchen (W), die bis in die letzten’ Glieder der Ex- tremitäten hineindringen, alle seine Organe umspinnt. Die Ernährung der Parasiten geschieht also durch Diffusion, indem durch die dünnen Wandungen der Wurzelfäden Körpersäfte des Wirtes aufgenommen und als Nahrung dem Schmarotzer zugeführt werden. Wegen des eigentüm- lichen Wurzelwerkes hat die kleine, aus mehreren Arten bestehende Gruppe, der die Sacculina angehört, den gut gewählten Namen der Rhizocephalen erhalten. Nach der eben gegebenen Beschreibung wird niemand vermuten können, daß die Rhizocephalen zu den Crustaceen gerechnet werden 198 Fünftes Kapitel. müssen. Aber die Entwicklungsgeschichte liefert hierfür den sicheren Beweis. Denn durch sie erfahren wir, daß sich aus dem Ei zwei auf- einander folgende Larvenstadien entwickeln, wie sie nur bei bestimmten Abteilungen der Crustaceen beobachtet werden und als Nauplius- und Cyprisstadium unterschieden werden. Der Nauplius (Fig. 29A), der als Larve auch noch bei manchen anderen Krebstieren, wie den Cope- poden, den Cirripedien u. a., vorkommt, hat drei Paar Gliedmaßen (7, II, III), mit deren Hilfe er frei im Wasser um- herschwimmt. Der Nauplius verwandelt sich dann in dasCyprisstadium (Fig.29B), auf dem am hinteren Leibesende eine größere Anzahl von Rankenfüßen (VI bis XI) neu gebildet wird. Dieses Sta- dium begegnet uns auch in der Familie der Cirripidien oder der Entenmuscheln (Fig. 30). Während nun aber bei diesen die Cyprislarve mit dem Rücken ihres Kopfendes sich an Steine oder andere feste Gegenstände ansetzt und an dieser Stelle einen längeren Haftstiel (Fig. 30) entwickelt und auch noch andere Eigen- tümlichkeiten der Entenmuscheln, wie 2 5 } hr zwei mit Kalksalzen imprägnierte Schalen äide, die durch einen Stiel sıch (S und #) zum Schutz ihres Körpers an irgendeinem Gegenstand festge- ausbildet, befestigt sich die Cyprislarve setzt hat und deren rechte Schale B ; » und Körperhaut entfernt sind, nach der Sacculina an einer größeren Crustacee zen Br) N en und wächst mit ihrem Stiel in der schon Schließen der Schale z Kanken. beschriebenen Weise zwischen die Ein- füße, > Penis, Z Leberanhänge des geweide des Wirtes hinein. Infolge dieser Darms, o Ovar, o' Oviduct, 3 Hoden, IR: : 3 « A! Vas deferens, d Zementdrüse. Parasitischen Lebensweise ' verliert sie mündet an der Basis der I. Antenne. wieder ihre im Larvenleben schon aus- er ) gebildeten Organe; denn sie sind funk- tionslos geworden. - Derartige Rückbildungsprozesse von Organen, die schon vollständig funktionsfähig im Larvenleben angelegt worden sind, werden sehr häufig bei Parasiten aus sehr verschiedenen Abteilungen des Tierreiches beobachtet, bei anderen Familien der Crustaceen, ferner bei Insekten, bei Mollusken etc. Auch hier kann es wohl keinem Zweifel unterliegen, daß die Entwicklung der Sacculina uns einen ziemlich sicheren Einblick Die Metamorphosenreihe von Sacculina als Zeugnis für ihre Phylogenese. 199 in ihre Ahnengeschichte gibt. Ohne Bedenken werden wir dem Aus- spruch, den RICHARD HERTWIS in seiner im Kap. XIV zitierten Schrift: „Die Abstammungslehre‘“ (p. 72) tut, zustimmen können. „Es braucht nicht besonders hervorgehoben zu werden, daß auch im vorliegenden Fall die Descendenztheorie den ontogenetischen Befund im phylogeneti- schen Sinne umdeutet,daß die Cirripedien Krebse sind, welche infolge ihrer sitzenden Lebensweise ein befremdendes Aussehen angenommen haben, daß die Rhizocephalen ihrerseits Cirripedien sind, bei denen die sitzende Lebensweise zum Parasitismus führte, indem ihr Stiel in den Körper des Wohntieres eindrang und Nahrung aus ihm saugte. Die parasitische Lebensweise veranlaßte dann die hochgradige Rückbildung der Organi- sation, so daß alle charakteristischen Merkmale der Crustaceen schwanden. Nur die Entwicklung läßt noch den Weg erkennen, auf welchem die ab- sonderlichen Lebewesen entstanden sein mögen.‘ Die Metamorphose von Sacculina bildet in jeder Hinsicht einen lehrreichen Gegensatz zu allen anderen vorhergehenden Fällen, an denen wir ontogenetische Stadien zur Aufstellung der Ahnengeschichte verwertet haben. Aus diesen mußten wir schließen, daß die Ahnen der heute lebenden Säugetiere eine einfachere Organisation besessen haben, die in mancher Hinsicht an diejenige wasserbewohnender Wirbel- tiere mit Kiemenatmung und mit einfachem Blutkreislauf erinnert, oder wir kamen zur Einsicht, daß die Amnioten von Vorfahren ab- stammen, bei denen an Stelle der jetzt vorhandenen knöchernen Wirbel- säule nur eine ungegliederte Chorda als Stütze für die Weichteile ihres Körpers funktionierte. Im Hinblick auf derartige Verhältnisse, welche ja auch die weitaus häufigsten sind, verbindet man in der Regel mit dem Begriff der Ent- wicklung, wie schon in der Einleitung zu unserem Kapitel hervorgehoben wurde, zugleich auch den Begriff des Fortschritts. Man versteht unter Entwicklung die Entstehung einer Organisation: von größerer Kom- pliziertheit aus vorausgegangenen einfacheren Zuständen. Daß dies nicht überall zutrifft, wurde nicht nur schon früher im allgemeinen bemerkt, sondern jetzt auch an der Metamorphose von Sacculina be- wiesen, Neben einer fortschreitenden gibt es auch eine zum Teil rück- wärts gerichtete Entwicklung. Neben dem Fortschritt spielt auch der Rückschritt eine bedeutende Rolle in dem Gesamtbild der Organismen- welt. Rückbildung tritt gewöhnlich ein, wenn ein an kompliziertere Lebensverhältnisse angepaßter Organismus unter mehr einfache und gleichförmige Bedingungen gerät, unter denen er von seinen Organen zum Teil keinen Gebrauch mehr machen kann. Denn es ist ein allgemeines 200 Fünftes Kapitel, Naturgesetz, das uns an anderer Stelle noch näher beschäftigen wird, daß. wie die Funktion oder der Gebrauch die Organe kräftigt und zu ihrer fortschreitenden Entwicklung führt, das Nachlassen oder das Auf- hören ihrer Funktion, also der Nichtgebrauch, sie schwächt und auf die Dauer ihre Rückbildung veranlaßt. Am auffallendsten tritt die Wirksamkeit dieses Naturgesetzes in den Folgen der parasitischen Lebensweise hervor, wie schon in dem Fall von Sacculina nachgewiesen wurde. Aber auch durch viele andere Veränderungen der Lebensbedin- gungen können Rückbildungsprozesse verursacht werden. Je nach ihrer Natur können sie bald dieses, bald ienes Organ treffen und es von seiner in früheren Perioden erreichten Höhe der Entwicklung wieder zurück- führen. Rückgebildete oder noch in Rückbildung begriffene Organe werden in der vergleichenden Anatomie abortive oder rudimentäre ge- nannt. Da nun eine rudimentäre Beschaffenheit eines Organismus oder auch nur einzelner Organe einen vorausgegangenen Zustand höherer Ausbildung voraussetzt und sich von ihm herleiten muß, so können die rudimentären Organe, wo sie uns überhaupt beim Studium der Or- ganismen entweder in ihrer Entwicklung oder in ihrer Anatomie ent- gegentreten, ebenso als wichtige Zeugnisse bei der Beurteilung der Ahnengeschichte eines Lebewesens mit Recht betrachtet und benutzt werden. Die Bedeutung der rudimentären Organe für phylo- genetische Schlußfolgerungen. Die rudimentären Organe können wir in zwei Gruppen sondern, in solche, die sich noch beim ausgebildeten Organismus befinden, und in solche, die nur während der Entwicklung beobachtet werden. Aus den zahllosen Beispielen der ersten Gruppe seien einige wenige, be- sonders instruktive ausgewählt. Ein hervorstechendes Merkmal aller Wirbeltiere, wenn wir von Amphioxus und den Cyclostomen absehen, ist der Besitz von zwei Paar Gliedmaßen, die entweder zur Fortbewegung im Wasser oder auf dem Lande oder in der Luft eingerichtet sind. Es gibt aber keine Wirbeltier- klasse, in welcher nicht einige extremitätenlose Arten vorgefunden werden: unter den Fischen die Pisces apodes, zu denen die Aale ge- hören, unter den Amphibien die Coecilien, die wie Regenwürmer in der Erde leben, unter den Reptilien die Schlangen, unter den Säugetieren die Walfische. Daß hierin kein ursprünglicher Zustand vorliegt, könnte Bedeutung der rudimentären Organe für phylogenetische Schlußfolgerungen 201 wohl schon daraus geschlossen werden, daß mit Ausnahme sehr weniger Arten sonst alle Knorpel- und Knochenfische, alle Amphibien, alle Reptilien, Vögel und Säugetiere mit zwei Paar Extremitäten ausgerüstet sind. Doch viel sicherer wird der Schluß, wenn wir einmal die Ursache für die Rückbildung angeben und zweitens nachweisen können, daß sogar noch unscheinbar gewordene Reste von Extremitäten vorhanden sind. Beides ist bei den Schlangen und Walfischen möglich. Bei den Schlangen sind die Gliedmaßen nutzlos geworden, weil sie ihren außer- ordentlich langen, runden, glatten Körper durch kräftige, wellenförmig verlaufende Krümmungen ihrer Rumpfmuskulatur auf der Erde rasch vorwärts bewegen können. Ferner finden sich als Rudimente eines Beckengürtels kleine Knochenstücke, wie ein verkümmertes Schambein. Ebenso hat bei den Walfischen die Anpassung an das Wasserleben und die Fortbewegung mit dem zum Ruderorgan umgewandelten Schwanz- ende zur Rückbildung der paarigen, zur Fortbewegung auf dem Land eingerichteten Gliedmaßen geführt. Dafür aber, daß entfernte Vor- fahren sie besessen haben, können uns noch in der Bauchwand einge- schlossene Knöchelchen gleichsam als Zeugen dienen. Meist sind es nur die Schamsitzbeine eines rudimentär gewordenen Beckengürtels; bei den Bartenwalen gesellen sich zu ihnen noch Rudimente eines Femur oder bei Balaena außerdem noch eine Tibia; dagegen sind auch die letzten Spuren von ihnen bei den Zahnwalen geschwunden. In der Klasse der Vögel sind die Flügel bei allen Laufvögeln, die das Flugvermögen verloren haben, mehr oder minder rückgebildet: so bei den Straußenarten, noch mehr aber bei Apteryx, bei dem sie nur noch ganz rudimentäre Anhängsel ohne jeden Nutzen für die Fort- bewegung sind. In ähnlicher Weise wie die Extremitäten kann uns das Zahnsystem der Wirbeltiere durch hier und da eingetretene Rückbildung, noch mehr aber durch Fortbestand als rudimentär gewordenes Organ ‚von der Geschichte eines früheren Zustandes der Dinge‘ erzählen. So werden bei den Embryonen der Bartenwale an den Kieferrändern noch Zahn- leisten angelegt, an denen sich auch Milchzähne entwickeln. Aber sie bleiben in der Tiefe der Schleimhaut verborgen und treten nie in Funktion, sondern werden später sogar wieder resorbiert. Ihre ganze Entwicklung erscheint so als ein vollkommen zweckloser Vorgang. Eine Erklärung kann er nur durch die Ahnengeschichte und in dem Umstand finden, daß durch Verhornung der Mundschleimhaut für die Ernährung der Bartenwale besser geeignete Organe, die Barten aus Fischbein, ent- standen und als Ersatz an die Stelle der Dentinzähne getreten sind. 202 Fünftes Kapitel. Bei den Wiederkäuern werden im Oberkiefer die Schneidezähne ver- mißt, daß sie aber bei den Vorfahren vorhanden waren, beweisen die Anlagen der Milchzähne, die bei Kalbsembryonen sich in der Tiefe der Schleimhaut zwar entwickeln, aber nie in Funktion treten und später wieder resorbiert werden. Zu dem Kapitel der rudimentären Organe liefert einen sehr wich- tigen und interessanten Beitrag die Höhlenfauna. Da Rückbildung von Organen mit ihrer veränderten Gebrauchsweise oder mit Nicht- gebrauch infolge anderer Lebensbedingungen ursächlich zusammen- hängt, so wird eine solche in allen Fällen zu erwarten sein, wo Tiere von einer oberirdischen zu einer unterirdischen Lebensweise über- gegangen sind. Sie wird sich ferner bei vollständigem Mangel von Licht am meisten an demjenigen Organ einstellen müssen, dessen einzige Aufgabe in der Wahrnehmung des Lichtes besteht. In der Tat ist auch, worin alle Beobachter übereinstimmen, die mehr oder minder starke Rückbildung der Sehwerkzeuge bis zu vollständigem Mangel ein cha- rakteristisches Merkmal aller Tiere, die entweder in selbstgebildeten Gängen in der Erde oder in unterirdischen Höhlen leben und den ver- schiedensten Abteilungen des Tierreiches angehören. So finden sich verkümmerte Augen unter den Säugetieren beim Maulwurf und bei Blindmäusen; unter den Reptilien bei Amphisbaena, Typhlops und Typhline, unter den Amphibien bei den Coecilien und bei Proteus. Ein großes Kontingent liefern die unterirdisch lebenden Arthropoden. So berichtet Darwın z. B. von einigen Krabben, bei denen der Augenstiel noch vorhanden, obwohl das Auge verloren ist. Er vergleicht es einem Teleskop, bei welchem zwar das Gestell geblieben, aber der wertvolle Teil, das Instrument mit den Gläsern, fehlt. So deuten denn die Augen- rudimente der Höhlenbewohner auch darauf hin, daß sie von Vorfahren abstammen, die einstmals im Licht gelebt haben. Denn wie Könnten Augenrudimente entstehen, wenn nicht früher einmal Augen vorhanden gewesen wären, die wirklich zum Sehen gedient haben, wenn nicht dem funktionslosen einmal ein funktionierender Teil vorausgegangen wäre ? Die Systematiker sind denn auch im allgemeinen der Ansicht, daß die. unterirdisch lebenden Tierarten sich von der Fauna ihrer Umgebung abgezweigt und an das Leben in vollkommener Dunkelheit angepaßt haben. Als eine zweite Gruppe rudimentärer Organe erwähnte ich schon die in der Ontogenie eines Organismus auftretenden, Mit manchen Metamorphosen sind vielfach auch Rückbildungen verbunden; sie sind meistens sogar notwendige und unmittelbare Begleiterscheinungen der . Bedeutung der rudimentären Organe für phylogenetische Schlußfolgerungen. 203 fortschreitenden Entwicklung. Der Übergang von der Kiemen- zur Lungenatmung, wie er sich bei Amphibienlarven vollzieht, hat eine Rückbildung der Kiemenblättchen und großer Teile des Visceralskeletts zur Folge. Von diesem bleiben später nur Rudimente in veränderter Gestalt und Funktion, wie z. B. das Zungenbein mit seinen Hörnern, erhalten. Die Ausbildung eines knöchernen Kieferapparates setzt bei den Säugetieren die entsprechenden knorpeligen Skelettstücke, das Palato- quadratum und Mandibulare, außer Funktion und schafft erst auf diese Weise die Möglichkeit, daß die rudimentär gewordenen Teile eine Ver- wendung beim Gehörorgan finden können (S. 194). Das Auftreten der bleibenden Niere wird die Ursache für die Ver- kümmerung der Urniere, die ja bei Fischen und Amphibien allein die Harnabsonderung besorgt. Urnierenreste können dann eine teilweise Verwendung für andere Zwecke finden. Die überwiegende Entwicklung der dritten und vierten Zehe bei den Wiederkäuern läßt ihren Huf allein mit der Bodenfläche in Be- rührung kommen und macht sie so zu den Stützpunkten für die Ex- tremitäten. Infolgedessen verkümmern die funktionslos gewordenen Knochenstücke der ersten, zweiten und fünften Zehe und bleiben nur noch als zwecklose Rudimente in den Afterklauen fortbestehen. Wie derartige Beispiele in überzeugender Sprache lehren, finden sich in der Entwicklung aller höher stehenden Organismen Prozesse der Fortbildung und Rückbildung in innigem Zusammenhang. Alle diese embryonalen Organrudimente aber sind wertvolle historische Doku- mente, aus denen wir einige Einblicke in die Formzustände der Vor- fahrenkette gewinnen können. In derartigen Schlußfolgerungen finden wir uns in voller Über- einstimmung mit der Darwinistischen Schule. Insoweit das biogene- tische Grundgesetz und die Rekapitulationstheorie in diesem begrenzten Sinne angewandt werden, können wir ihnen ebenfalls beipflichten. Indessen wird die geforderte Beschränkung nicht überall geübt. Man sucht gewöhnlich dem biogenetischen Grundgesetz eine noch größere Tragweite zu geben. Indem man ganz die Unterschiede übersieht, die zwischen Embryonalstadien einer Tierspezies und ähnlichen Form- zuständen ausgebildeter Formen der gegenwärtigen Organismenwelt be- stehen, gibt man sich ohne Beweis dem Glauben hin, mit Hilfe des Grund- gesetzes die Abstammung der Lebewesen der Gegenwart und ihre ver- wandtschaftlichen Verhältnisse zueinander mit einem hohen Grad von Sicherheit wissenschaftlich ermitteln zu können. 204 Fünites Kapitel. Zwei Einwände gegen das biogenetische Grundgesetz in seiner alten Fassung. Wir haben uns daher zur richtigen Abgrenzung unseres Stand- punktes jetzt noch über zwei Punkte klar zu werden. Der erste Punkt ist der prinzipiell wichtigste. Er betrifft die Frage, von der alle weiteren Entscheidungen abhängen, inwieweit überhaupt ein Stadium in der Entwicklung eines heute lebenden Tieres einer Lebensform aus seiner Ahnenreihe auf Grund logischer Erwägungen entsprechen kann. Die Erörterung führt uns, wenn ich ihr Ergebnis gleich vorausgreife, zu dem Schluß, daß von einer wirklichen Übereinstimmung zwischen den in Vergleich gestellten Objekten nicht die Rede sein kann. Schon der Vergleich der Keimzelle irgendeines Säugetieres oder Vogels als des ersten Stadiums der Ontogenese mit dem hypothetischen Anfangsglied der Ahnenkette liefert hierfür den unwiderleglichen Beweis. Denn nach der Descendenztheorie sind die durch Urzeugung entstandenen ein- zelligen Organismen, von denen die Lebewelt ihren Ursprung genommen hat, von einfachstem Bau. Die Keimzellen der Säugetiere und Vögel dagegen sind nichts weniger als einfache Naturprodukte. Nach den früher entwickelten Gesichtspunkten, die uns zu dem Begriff der Art- zelle (S. 68) geführt haben, besitzen sie als Anlage eine sehr verwickelte Organisation und eine auf ihr beruhende prospektive Potenz, von der es abhängt, daß aus jeder Art von Keimzelle nur ein Lebewesen ganz bestimmter Art entstehen kann. Sie sind schon selbst die nach allen Richtungen spezifisch bestimmten Organismen, die sich aus ihnen ent- wickeln, nur im einzelligen Zustand. Dagegen haben eine Amöbe, eine Flagellate oder andere derartige niedere, einzellige Wesen kraft ihrer Organisation keine andere prospektive Potenz als nur wieder Einzellige der gleichen Art hervorzubringen. So führt uns schon gleich bei der ersten Erwägung die Rekapi- tulationstheorie in ihrer alten Fassung, wir mögen sie betrachten, von welcher Seite wir wollen, in ein Dilemma: Denn wenn wir behaupten, daß die Eier der Säugetiere und der Vögel einfachste Urzellen sind, wie sie am Anfang der Phylogenese als Lebewesen niederster Art durch Urzeugung einmal entstanden sind, so müßten sie bei der üblichen An- nahme einer monophyletischen Descendenz einander artgleich sein. Wir geraten dann mit der Tatsache in Widerspruch, daß ihre Keimzellen die Anlagen für Säugetiere und für Vögel, also bereits etwas spezifisch genau Bestimmtes sind. Wenn wir dagegen das letztere als Grundlage annehmen und mit ihr die Vorstellung der Rekapitulation verbinden Zwei Einwände gegen das biogenetische Grundgesetz etc. 205 wollen, so befinden wir uns wieder mit der Hypothese einer natürlichen Entwicklung der Organismen in einem offen zutage tretenden Konflikt. Denn die Vorstellung, daß die Eizelle eine Anlagesubstanz ist, verbunden mit der Lehre von der Rekapitulation, führt uns, wie schon gelegentlich hervorgehoben wurde (S. 189), auf den Standpunkt der Anhänger der Präformationstheorie zurück. Wer also an der Theorie einer allmählich erfolgten Entstehung der höher organisierten Lebewesen aus niedersten, einfachsten Ausgangsformen festhalten will, muß die Behauptung auf- geben, daß die Keimzellen das erste Stadium der Phylogenese, also die Einzelligen am Anfang der Ahnenkette, rekapitulieren. Denn beide in Parallele gestellten Vergleichsobjekte sind ihrem Wesen nach ebenso verschieden, wie die ausgebildeten Organismen der Gegenwart von ihren einzelligen Vorfahren. Wollen wir den Tatbestand, mit dem uns die Allgemeine Biologie bekannt macht, unter einer allgemeinen Formel zusammenfassen, so können wir nur sagen: Mit der Zelle nimmt die Ontogenese eines jeden Lebewesens auch in der Gegenwart nur deswegen wieder ihren Anfang, weil sie die elementare Grundform ist, an welche das organische Leben beim Zeugungsprozeß gebunden ist, und weil sie für sich schon die Eigenschaften einer Organismenart „der Anlage nach“ repräsentiert. Da- her ist sie, losgelöst von der höheren Individualitätsstufe, die aus der Vermehrung der Artzelle hervorgegangen ist, wieder imstande, das Ganze zu reproduzieren. Die Keim- zellen der gegenwärtigen Lebewesen und ihre einzelligen Vorfahren am Beginn der Stammesgeschichte — mögen wir sie als Amöben oder sonstwie bezeichnen — sind nur, in- sofern sie unter den gemeinsamen Begriff der Zelle fallen, miteinander vergleichbar, im übrigen aber in ihrem eigent- lichen Wesen als organisierte Naturobjekte so verschieden voneinander, daß man von einer Wiederholung der ein- zelligen Ahnenform durch die Entwicklung eines jetzt lebenden Organismus in keiner Weise sprechen kann. Die Erkenntnis des Widerspruchs, zu dem uns die Rekapitulations- theorie in ihrer alten Fassung führt, zeigt uns auch den Weg zu seiner Lösung. Wie ich in meinen Elementen der Entwicklungslehre ausgeführt habe!) läßt sich die Ansicht, daß die Eizelle eine sehr zusammengesetzte 1) O. Hertwig, Elemente der Entwicklungslehre, 5. Aufl., 1915. Schlußkapitel: Das ontogenetische Kausalgesetz. 206 Fünftes Kapitel. Anlagesubstanz für das aus ihr entstehende, ausgebildete Geschöpf ist, mit dem die Wissenschaft beherrschenden Gedanken einer natürlichen Entwicklung der Organismen nur durch die Annahme verbinden, daß die Eizelle in der Stammesgeschichte ebenfalls eine allmähliche Ent- wicklung, welche zu dem aus ihr hervorgehenden Endprodukt in Be- ziehung steht, hat durchmachen müssen. Das heißt: sie ist aus einer Zelle mit wenigen und einfachen Anlagen zu einer unendlich und wunder- bar verwickelten Anlagesubstanz geworden. Oder mit anderen Worten: Wir müssen in der Entwicklung einer Organismenart zwei verschiedene Reihen von Vorgängen auseinanderhalten: I. die Entwicklung der Art- zelle, welche sich in einer steten, fortschreitenden Richtung von einer einfacheren zu einer zusammengesetzteren Organisation des Idioplasmas fortbewegt, und 2. die sich periodisch wiederholende Entwicklung des vielzelligen Individuums aus dem einzelligen Repräsentanten der Art oder die einzelne Ontogenese, die im allgemeinen nach denselben Regeln wie in der zunächst vorausgegangenen Ontogenese erfolgt, aber jedes- mal ein wenig modifiziert, entsprechend dem Betrag, um den sich die Artzelle selbst in der Weltgeschichte verändert hat. Beide Entwicklungsreihen müssen in einem kausalen Abhängig- keitsverhältnis stehen und einen vollständigen Parallelismus zueinander zeigen. Denn einmal muß jede Veränderung in der Anlage der Artzelle notwendigerweise einen entsprechend abgeänderten Verlauf der Onto- genese zur Folge haben. Und umgekehrt kann eine Veränderung, die in späteren Stadien und im Endprodukt der Ontogenese durch äußere und innere Faktoren bewirkt worden ist, nur dann zu einem bleibenden Erwerb der Art werden und sich nur dann in der Folge immer wieder geltend machen, wenn sich das Idioplasma der Artzelle für die nächste Generation in entsprechender Weise abgeändert hat. Ich habe dieses Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Eizustand einer- seits und dem Verlauf und Endresultat der ÖOntogenese andererseits als das ontogenetische Kausalgesetz und als den Parallelismus zwischen Anlage und Anlageprodukt be- zeichnet (s. meine Allgemeine Biologie, 4. Aufl., 19172, Kap. 26—-29). Nach dem ontogenetischen Kausalgesetz schließt demnach das Entwicklungsproblem zwei Aufgaben in sich: Erstens ist zu untersuchen, wie und durch welche Mittel die in der Keimzelle gegebene Anlage mittels der Ontogenese in die ausgebildete Endform übergeht, wie also das in ihrer uns unsichtbaren, ultramikroskopischen Organi- sation gegebene, innere Entwicklungsgesetz verwirklicht wird. Hierin besteht die vornehmste Aufgabe der vergleichend- Zwei Einwände gegen das biogenetische Grundgesetz etc. 207 deskriptiven und experimentellen Entwicklungslehre und vergleichenden Anatomie. Zweitens muß erforscht werden, wie in der Ahnengeschichte die Eigenschaften und Anlagen des befruchteten Eies entstanden sind, durch welche es wieder der Ausgangspunkt eines bestimmt gerichteten, komplizierten ontogenetischen Prozesses wird. Hier liegen die Haupt- aufgaben der exakten Vererbungswissenschaft. Ihre Untersuchungs- objekte sind die heute lebenden Organismen; ihre Methoden sind das biologische Experiment und die Beobachtung von Kulturversuchen, die unter abgeänderten Bedingungen über Jahrzehnte auszudehnen sind. Hier liegen die schwierigsten und höchsten Probleme, welche der biologischen Forschung in Gegenwart und Zukunft gestellt sind, die Frage nach der Veränderlichkeit der Organismenwelt unter dem Einfluß äußerer Fak- toren, die Frage, was man sich unter Anlage in der Eizelle vorzustellen hat, wie Anlagen (Gene) entstehen und schwinden, und in welcher Weise sie überhaupt den gesetzmäßigen Ablauf der Entwicklung bestimmen. Nach diesem Programm ist auch die Disposition über das Werden der Organismen im III. bis XIII. Kapitel entworfen worden. Wenn wir nach unserer kleinen Abschweifung wieder zu den Ein- wänden zurückkehren, die sich gegen die Rekapitulationstheorie geltend . machen lassen, so können auch die übrigen aus dem Ei hervorgehenden Entwicklungsstadien ebensowenig als Wiederholungen einer Reihe aus- gestorbener Ahnenformen bezeichnet werden, als die Eizelle eine Wieder- holung des Anfangsstadiums ist. Denn jede Veränderung, welche die Keimzelle einer Spezies als Anfang einer Ontogenie in ihren Anlagen im Vergleich zu früheren Perioden der Vorfahrengeschichte erfahren hat, muß nach der schon früher gegebenen Begründung auch eine entsprechende idioplasmatische Veränderung aller von ihr abstammenden Embryonal- zellen zur Folge haben, Daher tragen die Gastrulae eines Echinodermen, eines Cölenteraten, eines Brachiopoden, eines Amphioxus trotz aller äußeren Ähnlichkeit stets der Anlage nach und als solche für uns nicht erkennbar, die Merkmale ihres Typus, ihrer Klasse, ihrer Ordnung und ihrer Spezies an sich; alle Gastrulastadien sind also in Wahrheit ebenso weit voneinander unterschieden, wie die nach allen ihren Merkmalen ausgebildeten, ausgewachsenen Repräsentanten der betreffenden Art. Es kann daher auch eine Gastrula der Ontogenie nicht als Wiederholung einer Dauerform bezeichnet werden, wie sie uns bei der vergleichend- anatomischen Betrachtung des Tierreichs als Polyp entgegentritt, wenn dieser auch, rein morphologisch betrachtet, die Form eines Bechers mit Urdarm und Urmund hat und aus Ektoderm und Entoderm zu- sammengesetzt ist. 208 Fünftes Kapitel. Dieselben Erwägungen wie bei der Beurteilung eines Gastrula- stadiums sind ebenso maßgebend, wenn es sich um die Vergleichung eines Säugetierembryos, der noch Schlundspalten, einfaches Herz und einfachen Kreislauf besitzt, mit einem kiemenatmenden Fisch oder einem perennibranchiaten Amphibium handelt. Ebensowenig wie durch das Gastrulastadium eines Amphioxus ein Hydroidpolyp aus dem Stamm der Cölenteraten, wird durch den Säugetierembryo mit Schlundspalten eine kiemenatmende Dauerform aus der Klasse der Fische oder Amphibien rekapituliert. In dieser Feststellung liegt kein Widerspruch zu unserer früheren Äußerung, daß man aus dem Auftreten von Kiemenspalten bei den Säugetierembryonen auf eine Kiemenatmung und auf ein Wasserleben der Vorfahren der Säugetierklasse schließen könne. Denn nicht dagegen wenden wir uns, daß die jetzt lebenden Tier- arten von niedriger organisierten Vorfahren unbekannter Art abstammen, sondern gegen das unbegründete Beweisverfahren, nach welchem diese hypothetischen Vorfahren in Stämme und Klassen des gegenwärtigen Tiersystems eingeordnet werden. Es scheint uns wissenschaftlich nicht zulässig, zu schließen, daß die Säugetierembryo- nen, weil sie vorübergehend eine Chorda bilden, deswegen von Am- phioxus- oder Cyclostomen-artigen Vorfahren abstammen, oder weil sie in einer Embryonalperiode mit Schlundspalten ausgestattet sind, ihre Ahnen in der Klasse der Fische gesucht werden müssen. Denn die Fähig- keit zur Entwicklung einer Chorda oder das Vermögen, Schlund- spalten etc. zu bilden, sind überhaupt allgemein systematische Merk- male des ganzen Wirbeltierstammes. | Wenn man auch gewöhnlich bei der Bestimmung der Organismen die Merkmale zu ihrer Charakteristik behufs Einordnung in Klassen, Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten dem völlig ausgebildeten Tier zu entnehmen pflegt, so ist vom rein wissenschaftlichen Standpunkt doch nicht zu bestreiten, daß zu einer erschöpfenden systematischen Charakteristik einer Art auch die Aufzählung aller ihrer embryonalen Merkmale ebensogut hinzugehört. (Man vergleiche hierzu das VII. Kap.) Denn das Wesen einer Art findet seinen vollen Ausdruck doch erst in der lückenlosen Formenreihe vom befruchteten Ei bis zur ausge- bildeten Endform. Daher konnten wir auf einer der vorausgehenden Seiten den Grundsatz aussprechen, daß, wenn w’r einen vollen Einblick in den unserer Kenntnis verborgenen, ultramikroskopischen Bau der Eizellen aller Tiere besitzen würden, die Systematiker allein schon auf Grund dessen die Eizellen der verschiedenen Tierarten nach ihrer größeren oder geringeren idioplasmatischen Ähnlichkeit in Stämme, Zwei Einwände gegen das biogenetische Grundgesetz etc. 209 Klassen, Ordnungen, Familien, Arten, Unterarten etc. würden einteilen können. Im übrigen erkennen die Systematiker den Grundsatz, embryonale Merkmale zur systematischen Charakteristik zu benützen, mehr oder minder unbewußt schon seit geraumer Zeit an. So teilen die Botaniker die Phanerogamen nach einem ontogenetischen Merkmal in Monocotylen und Dicotylen ein, die Zoologen benützen die Anwesenheit embryonaler Eihüllen zur Einteilung der Wirbeltiere in Anamnia und Amnioten. Medusen und Hydroidpolypen, Blasen- und Bandwürmer, die einstmals als Arten beschrieben und zu verschiedenen Familien gerechnet worden waren, mußten nach Entdeckung des Generationswechsels als ver- schieden gestaltete Repräsentanten einer Art im System vereint werden. Alle Formen vom befruchteten Ei bis zu der aus ihm entwickelten End- form sind eben spezifisch bestimmt. Daher kann man aus dem Auftreten von einer Chorda und von Schlundspalten in der Ontogenese der Säugetiere im Verein mit anderen Merkmalen doch nur schließen, daß die Säugetiere zu den Wirbeltieren gehören, für deren Ontogenese die Bildung von Chorda und von Schlund- spalten ein allgemein zutreffender Charakterzug ist, daß also auch ihre Ahnen Wirbeltiere gewesen sind. Dagegen liegt kein Grund vor, ihre Ahnen unter einer Klasse des Wirbeltierstammes wie der Fische zu suchen, welche von den Säugetieren wegen ihrer abweichenden systematischen Merkmale mit Recht unterschieden werden. ‚Zwar ist es richtig, daß Amphioxus und die Cyclostomen, oder dıe Fische, Dipneusten und Amphibien im Vergleich mit den Säugetieren, was die oben besprochenen Organe betrifft, niedriger organisierte Wirbel- tiere sind. Denn während bei den Säugetieren Chorda und Schlundspalten nur vergängliche embryonale Organe sind, die durch andere Bildungen fortschreitender Differenzierung ersetzt werden, stellen die Chorda bei Amphioxus und den Cyclostomen, oder die Schlundspalten bei den Fischen etc. Dauerorgane vor. Sie schreiten also, wie man auch sagen kann, über ein bestimmtes embryonales Stadium der Säugetiere nicht hinaus oder sind auf ihm stehen geblieben. Aus diesem Umstand läßt sich aber ebensowenig folgern, daß die Vorfahren der Säugetiere einst- mals zur Amphioxus- oder Fischgruppe gehört haben, als man annehmen wird, daß nach abermals Millionen Jahren Nachkommen unserer heutigen Amphioxus- oder Fischgruppe sich zu Angehörigen der Säugetierklasse fortentwickelt haben werden. ‚Im Grunde ist also nie der Embryo einer höheren Tierform‘‘ — wie schon C. E. v. BAER ganz richtig bemerkt hat — ‚einer anderen Tierform gleich.“ O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl. 14 2I0 Fünftes Kapitel. Zu den Fehlschlüssen der Rekapitulationstheorie hat nicht wenig auch das bis zu MECKELSs Zeiten zurückgehende Verfahren beigetragen, aus den entwicklungsgeschichtlichen und aus den vergleichend-ana- tomischen Befunden zwei parallele Formenreihen zu konstruieren und ihre einzelnen Glieder miteinander zu vergleichen. Man pflegt hierbei mit Stillschweigen darüber hinwegzusehen, daß ‚,‚die Formenreihe, welche der individuelle Organismus während seiner Entwicklung von der Eizelle bis zu seinem ausgebildeten Zustande durchläuft‘, sich in sehr wesentlichen Punkten, sowohl in morphologischer wie in physio- logischer Hinsicht von der langen Formenreihe unterscheidet, welche die tierischen Vorfahren desselben Organismus repräsentieren würden, wenn wir sie uns als A,B,C, D... .oo hintereinandergereiht vorstellen. Denn die Stadien einer Ontogenese lassen sich, da es sich bei ihnen um einen in kontinuierlichem Fluß befindlichen Prozeß von gestaltlichen Umwandlungen handelt, streng genommen, überhaupt nicht als ge- trennte Formen gegeneinander abgrenzen. Eine Form geht unvermittelt und ohne Grenze in die andere über. Mögen wir eine befruchtete Eizelle, eine Keimblase, eine vierblätterige Keimscheibe, einen Embryo mit Schlundspalten etc. von einem bestimmten Tiere vor uns haben, so ist es doch immer nur ein und dasselbe tierische Individuum, nur ın verschiedenen Stufen seiner Ausbildung. Die von uns vorgenommene Trennung und Unterscheidung einzelner Stufen ist durchaus eine künstliche und willkürliche. | | Umgekehrt besteht die Formenreihe, zu der wir uns die voneinander abstammenden Ahnen aneinandergereiht vorstellen, aus wirklich ge- trennten und in ihren Merkmalen vollkommen ausgebildeten Individuen. Diese können sich, wie ja jedermann weiß, auf direktem Wege gar nicht ineinander umwandeln, sie treten nur dadurch in einen genetischen Zu- sammenhang, daß sie sich durch Keimzellen fortpflanzen, welche erst auf Grund sich immer wieder neu wiederholender, ontogenetischer Pro- zesse die ausgebildeten Individuen liefern. Wenn man z. B. in der Ahnen-- reihe die Urgroßeltern, Großeltern, Eltern eines menschlichen Kindes D mit den Buchstaben A, B, C bezeichnet, so kann man doch in der Ent- wicklung des Kindes D kein Stadium von A, B und C verfolgen, vielmehr geht das Kind D aus seiner eigenen Anlage hervor und wird zum Er- wachsenen, ohne erst A, B und C zu werden. Wenn hierbei auch D diese und jene spezielle Eigenschaft von den ihm vorausgegangenen Genera- tionen erbt, so kann man doch nicht sagen, daß es in seiner Entwicklung die Ahnenreihe: Urgroßeltern, Großeltern, Eltern durchlaufen oder rekapi- tuliert habe. Doppelt unmöglich wird diese Vorstellung bei der geschlecht- Zwei Einwände gegen das biogenetische Grundgesetz etc. 2II lichen Zeugung, da bei ihr das Zeugungsprodukt gleichzeitig zwei neben- einander geordnete Formen, die väterliche und die mütterliche etc., rekapi- tulieren müßte. Wenn schon das eben angeführte Argument allein zwingen würde, die ganze Lehre von zwei Formenreihen, einer phylogenetischen und einer ontogenetischen, deren einzelne Glieder direkt vergleichbar sein sollen, aufzugeben, so mögen doch zwei weitere gegen sie sprechende Gesichtspunkte auch noch erwähnt sein. Erstens ist ein embryonales Stadium in physiologischer Hinsicht etwas ganz anderes als eine ausgebildete Tierform. Diese ist etwas in sich Abgeschlossenes und Fertiges, sie setzt sich aus funktionierenden Organen und differenzierten Geweben zusammen. In chemischer Hin- sicht überwiegen die Substanzen, welche man in der Histologie als Proto- plasmaprodukte, Intercellularsubstanzen, Muskel- und Nervenfibrillen etc. zusammenfaßt, gegenüber den formativen Substanzen, dem Idioplasma und Protoplasma. Embryonale Organe und Zellen dagegen sind etwas Werdendes. Sie sind daher, je näher sie sich noch am Anfang des Ent- wicklungsprozesses befinden, umsomehr undifferenziert, und in demselben Maße treten die Protoplasmaprodukte gegenüber den formativen Sub- stanzen zurück. Auch wenn sich Gehirn, Rückenmark, Sinnesorgane, Magen, Darm und Drüsen schon durch die Anordnung der Embryonal- zellen gut erkennen und auf spätere funktionierende Organe beziehen lassen, bleiben sie doch meist noch längere Zeit in einem funktionslosen Zustand und ımüssen auch in der Regel noch mehr oder minder tief- greifende Umwandlungen erfahren, ehe sie wirklich funktionsfähige Dauergebilde geworden sind. Vorher sind sie nur vorbereitende Durch- gangsbildungen. Aus diesem Grunde können alle Embryonalformen, wenn wir sie mit den fertigen Einrichtungen niedriger entwickelter Tier- arten vergleichen wollen, zu ihnen nur in unvollkommener Weise Vergleichspunkte darbieten. Am klarsten läßt sich dies an den schon früher erwähnten Organen mit Funktionswechsel erkennen. Nicht selten bieten in der Entwicklung eines Tieres einzelne, schon deutlich abgesonderte Organanlagen morpho- logische Beziehungen (Homologien) zu fertigen Organen von systematisch tiefer stehenden Tieren dar, sind aber trotzdem von vornherein für ganz andere Zwecke bestimmt als die mit ihnen verglichenen Bildungen. Es sei nur an die schon früher (S. 190) besprochenen Schlundbögen der Säugetierembryonen erinnert, welche schließlich zu rudimentären Skelett- teilen von ganz anderer Form und Funktion als die mächtigen Kiefer- TA* 212 ‚ Fünftes Kapitel. und Kiemenbögen der Fische und der perennibranchiaten Amphibien, nämlich zu Hammer, Amboß und Steigbügel werden. Während sie vom vergleichend-anatomischen Standpunkt aus als Homologa von Pa- latoquadratum, Mandibula und Hyomandibulare der Selachier bezeichnet werden müssen und bei philosophischer Naturbetrachtung uns auf ein Ahnenstadium hinweisen können, wo sie auch wirklich als Kiefer funktio- nierten, kommen sie in der Ontogenie gar nicht in die Lage, ein solches funktionelles Stadium zu durchlaufen, sondern tragen von vornherein die Entwicklungsrichtung oder die prospektive Potenz zu Gehörknöchelchen in sich. Was endlich den zweiten und letzten Gesichtspunkt betrifft, so ist die als phylogenetisch bezeichnete Reihe der Tierformen, die man der Reihe embryonaler Stadien eines Säugetieres oder des Menschen in Parallele zu stellen und zu Vergleichen zu benutzen pflegt, also die Reihe: Amphioxus, Cyclostomen, Selachier, Amphibien, Reptilien, in ziemlich willkürlicher Weise aus Tierformen konstruiert worden, die man nach dem Ausbildungsgrad und der Beschaffenheit einzelner ihrer Organe zu einer Reihe glaubt anordnen zu können. Gegenüber solcher willkür- lichen Annahme ist aber nichts gewisser, als daß die Fische und Amphibien in den Formen, wie wir sie heute kennen, nicht die Vorfahren der Säuge- tiere gewesen sind. Durch die abschwächende Bezeichnung ‚amphibien- ähnlich“ oder ‚‚fischähnlich‘‘, wie man gewöhnlich sagt, ist für ein besseres Verständnis der wirklichen Ahnenreihe nicht viel gewonnen. Denn in der unmeßbar langen Zeit, die seit der Entstehung der Säugetiere aus kiemenatmenden, im Wasser lebenden Wirbeltieren verflossen ist, werden sich Fische und Amphibien unseres heutigen Systems wohl auch entsprechend stark in ihrer Vorfahrenreihe verändert haben müssen. Jedenfalls darf diese Annahme für die Fische und Amphibien der Gegen- wart mit demselben Recht wie für die Säugetiere gemacht werden. Unser Tiersystem, das mit seiner Einteilung und Diagnose nur auf die Gegen- wart berechnet ist, würde in derVorzeit, wo die Säugetiervorfahren noch keine Säugetiere gewesen sind und dementsprechend überhaupt die ganze Fauna eine andere gewesen ist, gar nicht mehr anwendbar sein. Der Systematiker, der sich in die Vorzeit zurückversetzen könnte, würde auf Grund der inihr bestehenden ganz veränderten Verhältnisse der Lebewelt eine von der jetzigen ganz abweichende Klassifikation vornehmen und die Vorfahren der heutigen Amphibien und Fische eventuell zu ganz anderen systematischen Gruppen zusammenfassen, wie er es mit den Vorfahren der Säugetiere tun müßte, da sie als solche noch nicht existierten. Somit schwindet hier der Boden für ein wissenschaft- Zwei Einwände gegen das biogenetische Grundgesetz etc. 213 liches Beweisverfahren und für ein methodisch geordnetes Vorgehen vollkommen. Man muß CARL GEGENBAUR zustimmen, wenn er in einer seiner kleineren kritischen Schriften die Ontogenie als ein Gebiet bezeichnet, „auf dem beim Suchen nach phylogenetischen Beziehungen eine rege Phantasie zwar ein gefährliches Spiel treiben kann, auf dem aber sichere Ergebnisse keineswegs überall zutage liegen‘, und wenn er „vor den Irrwegen warnt, die zur Konstruktion fiktiver Zustände, ja ganz fiktiver Organismen führen‘, da unkritisches Verhalten zu den ‚ontogenetischen Ergebnissen den Boden der Erfahrung verlasse und in bodenlose Spekulation verfalle‘“. Wenn die Vorstellung, daß die Keimformenreihe eine Wiederholung der Stammformenkette ist, sich in dieser Form nicht aufrecht erhalten läßt, was sollen wir dann an ihre Stelle setzen ? Eine richtigere Vorstellung der ursächlichen Beziehungen, die zwischen ÖOntogenese und Ahnengeschichte bestehen, gewinnen wir, wenn wir den ganzen Formenkreis, der von der befruchteten Eizelle zum ausgebildeten Organismus führt, zum Ausgangspunkt unserer Betrachtung wählen und zu einer begrifflichen Einheit, einer Ontogenie, zusammenfassen. Dann sezt sich die Ahnengeschichte jedes Individuums einer Tierart aus zahllosen Ontogenien zusammen, die sich wie die Glieder einer Kette aneinanderschließen. Der Vorzug unserer Betrachtungsweise ist ein doppelter. Denn einmal sind die Glieder der genealogischen Kette, wie man sich bildlich ausdrücken kann, Größen, die sich wirklich unter- einander vergleichen lassen, und zweitens stehen die einzelnen Glieder auch wirklich in einem genetischen und ursächlichen Zusammenhang untereinander, da die Endform einer Ontogenie, das ausgebildete Indi- viduum, wieder die Eizelle liefert, welche der Ausgangspunkt der nächst- anschließenden Ontogenie wird. Wer der Lehre von der natürlichen Schöp- fungsgeschichte der Organismen anhängt, wird annehmen, daß die ein- zelnen Glieder der genealogischen Kette in geringem Grade ver- änderliche Größen sind, trotzdem in den unmittelbar aneinander- schließenden Entwicklungskreisen der Ablauf ein sehr gleichartiger ist und gewöhnlich auffälligere Differenzen nicht erkennen läßt. Er wird ferner annehmen, daß die einzelnen Glieder, je weiter wir sie historisch nach rückwärts verfolgen, in sehr langen Zwischenräumen allmählich immer einfacher werden, daß sowohl die Endformen in ihrer Organisation als auch gleichzeitig die Eizellen in ihrer Anlage sich vereinfachen, und daß Hand in Hand hiermit der Ablauf einer Ontogenie mit ihren Zwischen- 214 Fünftes Kapitel. formen und Übergangsstadien ein weniger komplizierter und dement- sprechend auch ein kürzerer wird. Das Gesetz in der Entwicklung würde sich daher*jetzt etwa in folgende allgemeine Fassung bringen lassen: Jede einzelne Ontogenie istim Vergleich zu der ihr vorausgegangenen, wenn wir sie in der Sprache der Physik als ein Kräftesystem auffassen, um ein Differential verändert; niemals beginnt daher ein späteres Glied einer phylogenetischen Kette bei einer auf Progression beruhenden Ent- wicklung auf dem Ausgangspunkt eines weiter zurück gelegenen Gliedes. Ei- und Samenzelle werden, je mehr wir uns in der Phylogenese der Gegenwart nähern, um so reicher an neuen Anlagen und dadurch in ihrem Wesen von den Keimzellen entfernter Ahnengenerationen immer mehr verschieden. Mit jeder neuen Anlage in der Artzelle wird aber zugleich der ganze Ablauf der Ontogenie in allen ihrer Stadien mehr oder minder verändert. Denn alle vom befruchteten Ei abstammenden Zellen sind um ein Diffe- rential gegen früher verschieden geworden und müssen sich dem- entsprechend in dem aus ihnen entstehenden System in ein neues Gleich- gewicht zueinander setzen. Daher befindet sich während der Ontogenie die Artumbildung im lebhaftesten Fluß, während sie im ausgebildeten Individuum mehr stabil geworden ist. In welcher Weise sich dies äußert, soll an drei Verhältnissen embryonaler Organi- sation noch etwas näher besprochen werden. Wenn wir ihnen einen Namen zur kurzen Unterscheidung und besseren Orientierung geben wollen, so können wir sie bezeichnen ı. als innere ontogenetische Anpassung, 2. als Interpolation larvaler Organe, die auf ontogenetischer Anpassung an äußere Bedingungen beruht, 3. als Heterochronie. I. Innere ontogenetische Anpassung. Eins der schönsten und lehrreichsten Beispiele hierfür ist die An- sammlung einer größeren Menge von Deutoplasma in der Eizelle während die Oogenese im Eierstock. Bekanntlich unterscheiden sich in dieser Beziehung die Eier in den verschiedensten Tierklassen in sehr erheblicher Weise. Auch bei der Dotterbildung handelt es sich in bezug auf Menge, Qualität und Verteilung seiner einzelenen Bestandteile um besondere Anlagen der Artzelle, die in jeder Tierart verschieden und erst allmählich in der Phylogenese erworben worden sind. Indem das embryonale Urei entsprechend seiner besonderen Beanlagung Dotter im Eierstock erwirbt, geht es bereits, wie von mehreren Forschern mit Recht geltend gemacht worden ist, eine Art Vorentwicklung ein, durch welche der nach der Be- Zwei Einwände gegen das biogenetische Grundgesetz etc, 215 fruchtung beginnende, eigentliche Entwicklungsprozeß außerordentlich beeinflußt und in seinem Verlaufe in artspezifischer Weise abgeändert wird. Ein Vergleich der Entwicklung von Eiern, die verschiedene Ver- hältnisse der Ansammlung und Verteilung des Deutoplasmas darbieten, gibt uns hierüber die lehrreichsten Aufschlüsse. Ich verweise zur Er- Jäuterung auf die sehr dotterreichen Eier der Reptilien und Vögel. Aus der gewöhnlichen und ursprünglichen totalen Teilung ist bei ihnen eine partielle geworden. Sie findet ihre einfach mechanische Erklärung in dem großen, durch die Dotteransammlung entstandenen Mißverhältnis zwischen dem Protoplasma als der aktiven, die Teilung bewirkenden Substanz und dem passiven Deutoplasma, das von ersterem nicht mehr beherrscht und in zwei Hälften geteilt werden kann. Durch den in der Phylogenese der Reptilien und Vögel allmählich erworbenen Dottergehalt des Eies wird aber ein eigenartiges Gepräge nicht allein dem Ablauf des Furchungsprozesses aufgedrückt, sondern auch später der ganzen Bildungsweise der Keimblase, der Gastrula und der Keimblätter. So ent- stehen zahlreiche unterscheidende Merkmale im Vergleich zur Entwick- lung der dotterarmen Eier des Amphioxus oder der mit reicherem Gehalt an Deutoplasma ausgestatteten Eier der Amphibien. Und noch auf viel spätere Stadien des Entwicklungsprozesses erstreckt sich der Einfluß des während der Oogenese vermehrten Dottermaterials im Ei der Reptilien und Vögel. Denn auch die Bildung der Körperformen, z. B. des Darm- und Rumpfrohrs durch Abfaltung aus einem kleinen Bezirk der zuerst flach ausgebreiteten Splanchnopleura und Somatopleura, ebenso die abweichende Entstehung des Herzens aus zwei getrennten Hälften an den Firsten der Darmfalten steht in ursächlichem Zusammenhang mit der reicheren Ansammlung von Deutoplasma ım Ei. Endlich ist auch eine Folge desselben die Ausbildung einer besonderen sackförmigen Erweiterung am Darmrohr zur Aufnahme des Dotters, und dies macht dann wieder einen besonderen Dotterkreislauf mit Venae und Arteriae omphalomesen- tericae und miteinem Sinus terminalis notwendig,damit der Dotter allmäh- lich resorbiert und zum embryonalen Wachstum verwendet werden kann. In dieser Weise, die durch das angeführte Beispiel am besten er- läutert wird, ist überhaupt die Entwicklung aus dem Ei von Anfang bis zu Ende eine korrelative ; sie beruht auf einer inneren, stets von neuem durchgeführten, ontogenetischen Anpassung (vgl. auch S. 163). Von der Anlage der Eizelle, Dotter in sich auszubilden, und ihren Folgen kann man aber wohl mit Recht sagen: kleine Ursachen, große Wirkungen. Es ist dies eine Erfahrung, die man in der Ontogenese in dieser oder jener Form häufig machen kann. 216 Fünftes Kapitel. 2. Interpolation larvaler Organe, die auf ontogenetischer Anpassung an äußere Bedingungen beruht. Wie jedem Embryologen bekannt ist, gibt es in den verschiedensten Tierklassen ontogenetische Bildungen, die nur für besondere Anforde- rungen des embryonalen und des larvalen Lebens auf einem bestimmten Stadium vorübergehend erworben sind. Sie haben in den ausgebildeten Individuen der Vorfahrenkette überhaupt nicht existiert und werden auch jetzt, weder in dieser oder jener Form, in den ausgebildeten Zustand mit übernommen. Sie sind also in die Reihenfolge ontogenetischer Stadien ganz neu und auch nur vorübergehend eingeschoben oder interpoliert worden. Sie lehren uns, daß wie der ausgebildete, so auch der in Ent- wicklung begriffene Organismus sich in allen seinen Teilen unter den Ein- wirkungen seiner Umgebung befindet und auf sie reagiert, sich ihnen daher zu jeder Zeit ebensogut wie später anpassen muß. Man kann sogar von vornherein erwarten, daß eine Anpassung während der Anfangs- stadien der Ontogenese viel leichter als später beim ausdifferenzierten Individuum erfolgen wird, da der Embryo aus einem viel plastischeren Material, nämlich aus den für vielseitige Verwendung mehr geeigneten Embryonalzellen besteht. Bekannt sind in der Entwicklung der wirbellosen Tiere charakte- ristische Larvenformen, die nach Verlassen der Eihüllen entweder im Wasser oder auf dem Lande sich selbst ernähren, mit besonderen Organen hierfür während eines längeren Zeitraums ihres Larvenlebens ausgerüstet sind, diese aber später durch Metamorphose verlieren und durch definitive Organe des ausgebildeten Zustandes ersetzen. Ich erinnere an den Pluteus und die Auricularia der Seeigel und Seesterne, oder an den Nauplius und die Zo&a, welche in derEntwicklung vieler Crustaceen als eigentümliche Larvenformen auftreten und mit besonderen, zum Teil vergänglichen Kau- werkzeugen und Extremitäten ausgerüstet sind. Ich verweise ferner auf die Insekten, besonders auf die Abteilungen mit vollkommener Metamorphose, mit den Stadien der Raupe, der Puppe und der Imago. Auch in einzelnen Abteilungen der Wirbeltiere treten besondere, nur für einzelne Perioden des embryonalen Lebens vorübergehend er- worbene Organe auf. So entwickeln z. B. die Kaulquappen an ihren Mundrändern Hornplatten und Hornzähnchen als einen provisorischen Kauapparat. Während der Metamorphose wird er mit manchen anderen Teilen rückgebildet und durch ein Gebiß von echten Dentinzähnchen er- setzt. Namentlich aber sind bei den Wirbeltieren die verschiedenen Ei- hüllen, wie Amnion, seröse Hülle resp. Chorion und Allantois zu nennen, Zwei Einwände gegen das biogenetische Grundgesetz etc. 217 durch deren Besitz sich die Embryonalstadien der Amnioten in so auf- fälliger Weise von den entsprechenden Stadien der systematisch tiefer stehenden Anamnia unterscheiden. Ein sehr wichtiges, aber vergängliches und nur für die Entwicklung berechnetes Organ ist die Placenta der Säuge- tiere. Sie entsteht durch Anpassung der äußeren Eihaut an die Schleim- haut der Gebärmutter im Dienst der embryonalen Ernährung. Nur durch den Placentarkreislauf wird es ermöglicht, daß bei den Säugetieren, zumal in den höheren Ordnungen, die Nachkommenschaft schon bei der Geburt eine so stattliche Größe und hohe Ausbildung erreicht. Obwohl die Placenta nur ein vergängliches Anhangsgebilde des Embryos ist, läßt sich doch auch bei ihrer Einschaltung in die Ontogenese der korrelative Charakter aller Entwicklungsprozesse in ihrem gegenseitigen Verhältnis deutlich erkennen. Es ist ja bekannt, wie ihr Vorhandensein beim Men- schen vorübergehend einen umgestaltenden Einfluß auf das Herz, die großen Gefäßstämme und den Blutkreislauf bis zur Geburt ausübt. Erst mit dem Aufhören des Placentarkreislaufs beginnt sich ja das Foramen ovale zu schließen, beginnen der Ductus Botallii, die beiden Arteriae ‘ umbilicales und die Vene gleichen Namens zu obliterieren und sich zu den eleichnamigen Ligamenten umzubilden. 3. Die Heterochronie in der Anlage der Organe. Wenn man die Embryonen bei verschiedenen Wirbeltieren unter dem Gesichtspunkt miteinander vergleicht, in welcher zeitlichen Folge bei ihnen die einander entsprechenden Organe angelegt werden und welchen Entwicklungsgrad sie auf einem bestimmten Stadium erreicht haben, so begegnet man oft erheblichen Unterschieden, selbst zwischen Arten, die sich im System sehr nahestehen. Zugleich gelangt man hierbei bei Anstellung phylogenetischer Spekulationen zu der Überzeugung, daß das Auftreten einzelner Organe im Laufe der Ontogenese im Vergleich zu anderen nicht der Reihenfolge entspricht, in der sie in der Stammes- geschichte nach wohlbegründeter Annahme müssen erworben worden sein. Derartige Verhältnisse sind es, welche unter dem Namen der Hetero- chronie zusammengefaßt worden sind). Hierfür einige Beispiele. So werden die echten Dentinzähne bei den Larven der Tritonen und wohl der meisten geschwänzten Amphibien auf einem sehr viel früheren Entwicklungsstadium gebildet, als bei den Kaulquappen. Bei diesen entsteht ja vorher erst ein provi- 1) Keibel, F., Über den Entwicklungsgrad der Organe in den verschiedenen Stadien der embryonalen Entwicklung der Wirbeltiere. Handbuch der vergleich. und experim. Entwicklungsgesch. der Wirbeltiere, Bd. III, Teil 3, 1906 218 Fünftes Kapitel, sorischer, längere Zeit funktionierender Kauapparat in Form der Horn- zähne, die während des Kaulquappenstadiums zur Nahrungsaufnahme dienen. Hier liegt also eine Heterochronie in der Anlage der Zähne beim Vergleich der Entwicklung der Tritonen mit derjenigen der Anuren vor. Oder nehmen wir einen anderen Fall. Wenn man das Alter der Organe nach ihrem Auftreten in der Tierreihe oder, wie man auch sagen kann, im Hinblick auf ihre Stammesgeschichte abzuschätzen versucht, so sind ohne Zweifel die Dentinzähne viel ältere Gebilde als die Lungen der Säugetiere. Denn mit Zähnen sind schon alle kiemenatmenden Wirbeltiere, wie Selachier und Teleostier, bei denen es überhaupt nicht zur Entwicklung von Lungen kommt, oft sehr reichlich ausgerüstet, nicht nur an den Kieferrändern, sondern auch auf vielen anderen Beleg- knochen der Mundhöhle. Trotzdem entwickeln sich bei den Embryonen der Säugetiere die Lungen sehr viel früher als die Zähne, also in umge- kehrter Reihenfolge als man es auf Grund der Phylogenese, d. h. nach der Zeit ihres Erwerbs in der Ahnenreihe erwarten sollte. Derartige Inkongruenzen in der zeitlichen Anlage einzelner Organe oder Heterochronien sind häufig nachzuweisen, Sie erschweren, wie sich leicht verstehen läßt, noch mehr als es schon aus früher angeführten Gründen der Fall ist, die Einteilung des Entwicklungsprozesses in einzelne Stadien, sofern sie sich bei verschiedenen Tieren einander genau ent- sprechen sollen. Nicht minder stehen sie in teilweisem Widerspruch zu der Ansicht, nach welcher die embryonalen Formen in der Reihenfolge entstehen sollen, wie sie in der Ahnenreihe erworben worden sind. Da- gegen lassen sie sich leicht erklären nach dem Prinzip, daß bei allen Ent- wicklungsprozessen überall und zu jeder Zeit innere Anpassungen aller Teile, aller Organe und Gewebe, zueinander stattfinden. In dieser Weise aufgefaßt, gesellen sich auch die Heterochronien zu den Beweisen für den -korrelativen Charakter des Entwicklungsprozesses (S. 163), Damit: sich Heterochronien ausbilden, müssen zwei Bedingungen zusammen- treffen, Erstens muß es sich um funktionell verschiedenartige Organe han- deln, die mit zunehmender Komplikation der tierischen Organisation . aus verschiedenen Keimblättern und Körperregionen gebildet werden. Zweitens dürfen die Anlagen dieser verschiedenen Organe untereinander in keinem allzu festen Abhängigkeitsverhältnis stehen derart, daß das eine die Vorbedingung für das andere ist. Lungen- und Zahnentwicklung sind z.B. ganz unabhängig voneinander. Daher ist es ganz gleichgültig, soweit es sich beurteilen läßt, ob Lunge oder Zähne zuerst angelegt werden, In solchen Fällen pflegt gewöhnlich das funktionell wichtigere Organ dem minder wichtigen in seiner Entwicklung vorauszueilen. Zwei Einwände gegen das biogenetische Grundgesetz etc, 219 In ähnlicher Weise sind bei den Säugetieren häufig auffällige Hetero- chronien in der Zeit des Auftretens der Embryonalhillen und ‘in dem Grad ihrer Ausbildung im Vergleich mit der Organentwicklung des Em- bryos zu beobachten. So beginnt beim Menschen eine reiche Zottenbil- dung des Chorions schon zu einer Zeit, wo die Embryonalanlage sich eben - erst in Medullarrinne und Chorda gesondert hat. Entsprechend der spä- teren Mächtigkeit der menschlichen Placenta setzt die Vorbereitung zu ihrer Entwicklung auch viel frühzeitiger ein als bei anderen Säuge- tieren nach dem schon einmal hervorgehobenen Gesichtspunkt. =. Trotz der abändernden, in den Abschnitten 1—3 besprochenen Verhältnisse, denen die Ontogenien in der phylogenetischen Kette immer wieder von neuem ausgesetzt sind, ist gleichwohl eine gewisse Konstanz und Übereinstimmung in dem Ablauf und in der geordneten Wiederkehr bestimmter embryonaler Stadien bei systematisch verwandten Tierklassen wahrzunehmen. Es liegt dies hauptsächlich daran, daß die Entwicklungsprozesse vieler und gerade der wichtigsten Organe im Körper der Wirbeltiere aus inneren, in ihnen selbst gelegenen Gründen eine regel- rechte Aufeinanderfolge ihrer embryonalen Stadien auf das strengste einhalten müssen, Sie lassen sich gewissermaßen Leitmotiven ver- gleichen, die in jeder Entwicklung in stereotyper Weise wiederkehren und eine Einteilung in aufeinanderfolgende embryonale Stadien in den verschiedenen Tierklassen ermöglichen. Eine feste Reihenfolge aber muß überall da eingehalten werden, wo das vorausgehende - Stadium die unerläßliche Vorbedingung für das nächstfolgende ist, Unter diesen Umständen darf denn mit Recht erwartet werden, daß die Entwicklung der Anlagen während der Ontogenese auch in der- selben Reihenfolge geschieht, in welcher sich die ihnen entsprechenden | Organe in der Ahnenreihe ausgebildet haben. Der einzellige Organismus > kann sich seiner Natur nach in einen vielzelligen nur auf dem Wege der Zellteilung umwandeln. Daher muß bei allen Tieren die Ontogenese | mit einem Furchungsprozeß der Eier beginnen, Aus einem Zellenhaufen können nur durch festere Zusammenordnung der Zellen embryonale Grundiormen entstehen, welche die Grundlage für weitere Gestaltungs- prozesse abgeben. Das Gastrulastadium setzt als Vorbedingung die ein- # fachere Keimblase voraus, inwelcher der Haufe der Embryonalzellen seine erste nung erfahren hat, Erst müssen die Keimblätter E ‚gebildet ‚ ehe aus ihnen neue Organe durch ungleichmäßiges Wachs- tum in einzelnen Bezirken entweder durch Faltung oder durch Ein- | stülpung ihren Ursprung nehmen können, 2 & In ähnlicher Weise erscheint die Aufeinanderfolge der Stadien in wo. TER NEEENOREITRENEE 220 Fünftes Kapitel. der Entwicklung des Zentralnervensystems und der knöchernen Wirbel- säule als eine natürlich begründete, so daß sie einer Abänderung nicht unterliegen kann. Wenn aus dem äußeren Keimblatt ein aus nervösen Elementen zusammengesetztes, in größerer Tiefe gelegenes Rohr ent- stehen soll, so ist der einfachste Weg, der uns in der Entwicklung fast aller Wirbeltiere entgegentritt, daß sich zuerst das nervöse Zentralorgan von den übrigen Bezirken der Oberhaut als Nervenplatte sondert, daß diese sich zur Rinne einkrümmt, die Rinne sich hierauf durch Verwachsung ihrer Ränder zum Rohr schließt, sich vom oberflächlich gelegenen Mutter- boden abspaltet und sich in größere Tiefe des Körpers zum Schutz einsenkt, indem es von anderen Geweben umwachsen wird. In der Entwicklung der knöchernen Wirbelsäule der Säugetiere ist die Aufeinanderfolge eines häutigen, eines knorpeligen und eines knöchernen Stadiums in der Histogenese der Grundsubstanz-Gewebe begründet. Denn das einfachste und ursprünglichste Stützgewebe, das sich aus Embryonalzellen bildet, ist die Gallerte; sie findet sich daher nicht nur bei den Wirbellosen und bei diesen auch im fertig differenzierten Zustand ihrer Vertreter, sondern auch überall bei den Embryonen aller Wirbeltiere. Erst aus dem Gallertgewebe beginnen sich faseriges Binde- gewebe und Knorpel zu differenzieren. Daher muß der knorpeligen eine häutige Wirbelsäule vorausgehen. Das Knochengewebe differenziert sich wieder als die höchste und leistungsfähigste Form der Stützsubstanz aus den niedriger stehenden Geweben dieser Gruppe und zwar bald aus faserigem Bindegewebe, bald aus Knorpel. Somit setzt das knöcherne Endstadium des Achsenskeletts, das erst bei den höher organisierten Wirbeltieren auftritt, wieder das knorpelige Stadium als seinen Vorläufer voraus. Wie uns die Erörterungen über verschiedene strittige Fragen ge- lehrt haben werden, sind vergleichende Anatomie und vergleichende Entwicklungsgeschichte Forschungsgebiete der Biologie, deren Studium uns wichtige und reiche Erkenntnis geliefert hat und noch reichere für die Zukunft verspricht. Sie ermöglichen es dem Forscher, aus dem Bau und der Entwicklung der gegenwärtigen Organismenwelt auch all- gemeine Schlüsse auf ihre Ahnengeschichte zu ziehen und dem Gedanken einer natürlichen Entstehung der Lebewesen aus einfacheren Vorfahren durch allmähliche Umbildung eine wissenschaftliche Grundlage zu geben. Die hohe Aufgabe der beiden Schwesterwissenschaften besteht aber hierbei weniger in der Konstruktion hypothetischer Stammbäume, als in der Feststellung der allgemeinen Bildungsgesetze, von denen das Werden der Organismen beherrscht wird. Ihre Aufgabe ist Zwei Einwände gegen das biogengtische Grundgesetz etc, 221 also prinzipiell dieselbe wie in den exakten Naturwissenschaften der Chemie und Physik. Nur ist in der Biologie die Erforschung des Ge- setzes in der Entwicklung in demselben Maße schwieriger, als die Lebewesen die allerkompliziertesten Naturprodukte sind, die auf Grund einer unermeßlich langen im Dunkel der Vorzeit sich verlierenden Ahnengeschichte entstanden sind. Sechstes Kapitel. Die Erhaltung des Lebensprozesses durch die Generationsfolge. Alle Lebewesen verfallen früher oder später dem physiologischen Tod, ihre Art aber bleibt durch das Mittel der Fortpflanzung, durch Abgabe von Keimzellen, in der Reihenfolge der Generationen erhalten. Mit den sich hieraus ergebenden Verhältnissen beschäftigt sich die Wissenschaftvonder Genealogie. Nach der Definition von LORENZ ist sie die „Lehre von dem Zusammenhang lebender: Wesen infolge von Zeugung der einen und Abstammung der anderen. Sie fußt daher auf dem Individualbegriff im Gegensatz zu dem Gattungsbegriff und seiner Evolution‘). Wenn man bei der genealogischen Forschung aus der Reihe der (senerationen ein einzelnes Individuum herausgreift, so kann man, um seine Stellung in der Reihe zu bestimmen, zwei Wege zur Untersuchung einschlagen. Je nachdem man seine Blicke nach vorwärts oder nach rück- wärts richtet, kann man entweder nach der Nachkommenschaft forschen, die durch wiederholte Fortpflanzung von dem betreffenden Individuum abstammt, oder man sucht die Reihe seiner Vorfahren festzustellen, die ihm vorausgegangen und die Vorbedingungen für seine Existenz gewesen sind. Beide in der genealogischen Wissenschaft ausgebildeten Betrachtungsweisen bedienen sich zweier verschiedener graphischer Methoden zur bildlichen Darstellung ihrer Ergebnisse, des Stamm- 1) Lorenz, Ottokar, Lehrbuch der gesamten wissenschafllichen Genealogie, Stammbaum und Ahnentafel etc. Berlin 1898. — Sommer, Robert, Familien- Jorschungs- und Vererbungslehre. Leipzig 1907. — Crzellitzer, Methoden der Fa- milienforschung. Zeitschr. f. Ethnologie, Bd. XLI, 1909. — Derselbe, Der gegen- wärtige Stand der Familienforschung. Zeitschr. f. Sexualwissensch. IQI2, d. Jahrg. — Hertwig, O., Das genealogische Netzwerk und seine Bedeutung für die Frage der monophyletischen oder der polyphyletischen Abstammungshypothese. rch. f. mikrosk. Anat., Dd. S4, 1910. ie Die Stammtafel. 223 baums und der Ahnentafel. Der Stammbaum soll uns über die Zahl, die Verhältnisse und Schicksale der Nachkommen oder Deszendenten des aus der Generationsreihe herausgegriffenen Stammelters, die Ahnen- tafel dagegen über die Vorfahren oder Aszendenten einer Person (des Probandus) Aufklärung verschaffen. l. Die Stammtafel. In der Form eines Baumes läßt sich die Stammtafel nur bei der ungeschlechtlichen Vermehrung der Lebewesen darstellen. Wenn es auch bei der geschlechtlichen Erzeugung, wie beim Menschen, geschieht, so wird es in diesem Fall nur dadurch ermöglicht, daß man die Ab- stammungsverhältnisse einseitig vom Vater aus beurteilt und die weib- lichen Linien unberücksichtigt läßt. Das einseitige Verfahren erklärt sich aus sozialen und rechtlichen Verhältnissen. Darum muß aber um so schärfer betont werden, daß der naturwissenschaftliche Tatbestand bei der geschlechtlichen Zeugung sich, streng genommen, überhaupt nicht als Stammbaum, sondern nur in einer Form darstellen läßt, die auf einer Verbindung von Stamm- und Ahnentafel beruht (Fig. 35) und uns noch besonders in einem dritten Abschnitt als das genealogische Netzwerk beschäftigen wird. Wenn wir von dieser Einschränkung vorläufig noch absehen, so ergibt sich die Form eines Baumes, indem wir den gemeinsamen Elter als den Stamm und die auf ihn zurück- zuführenden Reihen von Generationen als seine Äste und Zweige auch bildlich darstellen (Fig. 31). Man ist übereingekommen, den zum Aus- gangspunkt gewählten Ahnen durch den Buchstaben P (Pater) kenntlich zu machen. Die von ihm abstammende zweite, dritte, vierte und x-Gene- ration von Deszendenten werden dann durch die Buchstaben F (Filius) mit den Reihenzahlen 1, 2, 3, 4...x, also als Fl, F?, F?, Ft... F” be- zeichnet. F! bilden bei der graphischen Darstellung die Hauptäste des Baumes, F? die weiteren Verästelungen eines jeden derselben, F®?, die von den Nebenästen entspringenden Zweige usw. Somit lassen sich alle Deszendenten durch eine gerade oder mehr und minder gebrochene Linie mit dem Stammelter in Verbindung setzen. Nach diesen Prinzipien ist der Stammbaum von dem 4 Generationen zurückliegenden Ahnherrn Pc (Fig. 31) rekonstruiert auf Grund der Ver- hältnisse, die in dem genealogischen Netzwerk (Fig. 35) über die ge- schlechtlichen Verbindungen und die Vermehrung von I6 verschiedenen, mit den Buchstaben a bis » an Stelle der Geschlechtsnamen bezeichneten Familien schematisch zusammengestellt sind. Aus der Ehe des Ahnen Pc 224 Sechstes Kapitel. gehen 4 Kinder hervor, von denen 2 entweder vor dem zeugungsfähigen Alter oder ohne Nachkommen gestorben und daher durch blind aus- laufende Linien kenntlich gemacht sind. Von den beiden anderen Kindern ist das eine eine Tochter, das andere ein Sohn. Die Tochter hat in das Geschlecht 5 geheiratet und ist selbst noch im Stammbaum in der F!-Generation als be auf- geführt. Dagegen ist ihre Deszendenz, weil sie einen anderen Familiennamen trägt und da- durch aus dem Stamm Pe ausscheidet, nicht weiter berücksichtigt worden, wie man bei der streng gehandhabten Stammbaumform zu ver- fahren pflegt. Der Sohn hat als Stamm- halter, wie Fig. 31 weiter lehrt, die Familie cd gegründet, aus der als F*-Generation ein Sohn und eine Tochter mit den von ihnen herrühren- den Familien cg und ac hervorgegangen sind. Von cg stammen dann außer einem weiblichen 3 männliche Nachkommen ab, die in der P3- Fig. 31. Generation den Grund zu den Familien co!, co? und cd legen. Hierbei haben zwei Brüder zwei Schwestern aus dem Geschlecht o geheiratet, was sich aus der Be- zeichnung co! und co? vermuten und aus dem genealogischen Netz- a 8 h bis... 16 ... bis... 16... 7 167 bis. 2 V 7 SEE 1 b) 8 9 16 Fig. 32. werk (Fig. 35) sicher feststellen läßt. Die drei Familien der F°- haben sich in der F?-Generation auf fünf vermehrt, wie aus der Ver- zweigung des Stammbaums hervorgeht (ck—cc—ci—en—ce). Hierbei hat ein Sohn der Familie co! seine Cousine aus der Familie co? geheiratet, Die Stammtafel. 1 225 so daß die Eheschließenden cc sowohl von väterlicher als von mütterlicher Seite,'also doppelt untereinander blutsverwandt sind. Wie sich diese Verwandtschaftsverhältnisse aus der von uns durchgeführten Form des Stammbaums ablesen lassen, so wird es später bei der von cc konstruierten Ahnentafel (Fig. 34) noch viel deutlicher sein. Auch hier wird als weiter sich ergebende Konsequenz der sogenannte Ahnenverlust noch zu be sprechen sein. / Da beider ungeschlechtlichen und parthenogenetischen Fortpflanzung alle Keimzellen der aufeinander folgenden Generationen sich durch Teilung direkt von den Zellen des Stammelters herleiten, so müssen seine Eigenschaften durch Vererbung in der F!- bis F*-Generation am getreuesten festgehalten werden. Wenn nicht durch äußere Eingriffe Mutationen des Idioplasmas hervorgerufen worden sind, was ja nur selten vorzukommen pflegt, werden auch entfernte Deszendenten sich noch als Abbilder der vorausgegangenen Ahnen bezeichnen lassen. JOHANNSEN hat für dieses Verhältnis den Ausdruck einer „Vererbung in reinen Linien‘ eingeführt. Von einer solchen kann man außerdem auch noch bei geschlechtlicher Zeugung hermaphroditer Lebewesen in den Fällen sprechen, in denen Fremdbefruchtung ausgeschlossen ist. Bei Pflanzen kann dies ja leicht erreicht werden, wenn bei einer her- maphroditen Blüte der Fruchtknoten durch ihren eigenen Pollen be- fruchtet wird. Denn weibliche und männliche Keimzellen sind hier ebenfalls Abkömmlinge einer gemeinsamen Mutterzelle und müssen daher in ihrem Idioplasma gleich sein. Zwischen vegetativer Fortpflanzung und Selbstbefruchtung liegt mithin wohl kaum ein irgendwie erheblicher Unterschied in idioplasma- tischer Hinsicht und daher auch in der Vererbung in reinen Linien vor. Die durch Selbstbefruchtung entstandene Nachkommenschaft eines Stammelters muß dem Beobachter einen uniformen Charakter darbieten im Gegensatz zu den Deszendenten eines Ahnenpaares, welche durch stets wiederholte, geschlechtliche Zeugungen hervorgegangen sind. Denn hier finden von Generation zu Generation stets neue Kombinationen individuell verschiedener Keimzellen statt. Wenn man auch in diesem Fall beim Menschen sich des Stammbaums zur Darstellung der Deszendenz bedient, so geschieht es, wie schon früher hervorgehoben wurde, unter einseitiger Berücksichtigung der männlichen und unter Ausschaltung der weiblichen Linie. Beim Studium der Deszendenz einer Organismenart gehören die Zahlenverhältnisse, unter denen seine Vermehrung vor sich geht, zu den wichtigsten und interessantesten Problemen. Drei Punkte hat man O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl. 15 226 Sechstes Kapitel. hierbei zu berücksichtigen: erstens die Anzahl der Keimzellen, die all- jährlich von den verschiedenen Lebewesen gebildet werden und das Maximum der Vermehrungsfähigkeit einer Art darstellen würden, wenn alle Keime auch wirklich zur Entwicklung kämen. Zweitens ist fest- zustellen, wie viele unter diesen Keimen sich zwar zu entwickeln beginnen, aber absterben, ehe sie das Alter erreicht haben, um sich selbst wieder durch Zeugung vermehren zu können. Drittens endlich ist das wirkliche Zahlenverhältnis zu ermitteln, welches sich bei einer bestimmten Art im Ersatz der sterbenden durch jüngere, wieder zur Fortpflanzung dienende Generationen herausgebildet hat. Was den ersten Punkt betrifft, so zeigen sich die Lebewesen zu Leistungen befähigt, die, wenn ihrem Fortpflanzungsvermögen nicht Schranken durch Gegenwirkungen gesetzt wären, in kürzester Zeit das ganze Weltbild von Grund aus verändern würden. Denn wie schon DARWwIN in seinem Buch von der Entstehung der Arten mit Recht betont, gibt es keine Ausnahme von der Regel, daß ‚jedes organische Wesen sich auf natürliche Weise in einem so hohen Maße vermehrt, daß, wenn nicht Zerstörung einträte, die Erde bald von der Nachkommen- schaft eines einzigen Paares bedeckt sein würde“. Bei verschiedenen Lebewesen haben einzelne Biologen sich die Mühe gegeben, durch zahlenmäßige Berechnungen ihr Zeugungsvermögen annähernd festzustellen, und sind hierbei zu Ergebnissen gelangt, die wahrhaft staunenerregend und daher wohl einer kurzen Mitteilung wert sind!). Der Botaniker CoHn hat zur Grundlage einer Berechnung das Bacterium termo gewählt, welches zu den kleinsten, uns bekannten Mikroorganismen gehört. Er nimmt an, daß sich dasselbe je nach Ablauf einer Stunde durch Teilung in zwei vermehrt. Dann würden bei unge- störtem Fortgang dieser Vermehrungsweise nach 24 Stunden schon 16 Millionen Deszendenten des einen Exemplars,nach 2 Tagen 280 Billionen und nach 3 Tagen schon, was kaum glaublich klingt, 4772 Trillionen entstanden sein. Noch lehrreicher aber werden die Ergebnisse, wenn man Volum und Gewicht von der Substanzmasse zu berechnen sucht, die in so kurzer Zeit durch fortgesetzte Teilung eines so unendlich kleinen Körperchens geliefert wird. Das Fäulnisbakterium ist ein kurzer Zylinder, der nach Conns Messung 1/,.., mm Länge und !/,o00 mm Dicke besitzt. Um ein Kubikmillimeter zu füllen, sind etwa 636 Millionen Bakterien t) Leukart, Artikel „Zeugung“ in Wagners Handwörterbuch der Physiologie, Bd. IV, 1853. — Hensen, Die Physiologie der Zeugung. Hermanns Handb. d, Physiol., Ba. VI. 1881. — Cohn, F., Die Pflanze. Vorträge. 1882, S. 433—458. Die Bakterien. a di Die Stammtafel. 227 erforderlich. Daher nehmen die nach 24 Stunden durch Teilung ent- standenen ı6 Millionen erst den 40. Teil eines Kubikmillimeters ein. Von hier ab geht die Volumszunahme in wahren Riesenschritten vor sich. Die nach 2 Tagen entstandenen 280 Billionen füllen schon 442000 cmm oder 442 ccm, also nahezu ein halbes Liter aus. Nach 4 oder gar 5 Tagen würde schon die in gleichmäßig fortschreitender Vermehrung begriffene Bakterienmasse das ganze Weltmeer für sich in Anspruch nehmen. Bei dieser Berechnung wird angenommen, daß das Meer ?/, der gesamten Oberfläche unserer Erde überzieht und im Mittel eine halbe geographische Meile tief ist. Sein Gesamtinhalt würde 3 Millionen Kubikmeilen be- tragen. Ihm würde die in 5 Tagen entstandene Bakterienmasse gleich- kommen. Wenn man weiter das Gewicht eines Bakteriums dem spezifischen Gewicht des Wassers gleichsetzt, wie es im ganzen auch wirklich der Fall sein wird, so kann man sich bei diesen Berechnungen auch eine Vorstellung von den Gewichtsverhältnissen machen, welche die sich vermehrenden Bakterienmassen repräsentieren. Dann würden 636 Milliarden Bakterien ein Gramm und 636000 Milliarden schon ein Kilo- gramm wiegen. Die nach 2 Tagen entstandene Bakterienmenge macht fast 1 Pfund aus; nach 3 Tagen beträgt sie schon 15000 Zentner. Ohne eine Berechnung angestellt zu haben, wird niemand es für möglich halten, daß durch stündlich erfolgende Zweiteilung eines Bakteriums derartige riesige Zahlen, was die Menge der Individuen, das Volumen und das Gewicht der durch sie repräsentierten lebenden Substanz betrifft, zu- stande kommen. Aber auch bei vielen Pflanzen und Tieren ist das Fortpflanzungs- vermögen durch Keimzellen geradezu staunenerregend. Obenan in der Reihe stehen besonders parasitische Organismen. Nach Schätzungen von LEUCKART produziert ein Bandwurm (Taenia solium) jährlich etwa 40 Millionen, ein Spulwurm sogar 60 Millionen Eier. Viele Arten von Seeigeln werden an Zahl der jährlich abgelegten, mikroskopisch kleinen Eier nicht hinter ihnen zurückbleiben, vielleicht sie sogar übertreffen. Aber auch unter den hochorganisierten Wirbeltieren gibt es Arten mit außerordentlicher Fruchtbarkeit, besonders unter den Amphibien und Fischen. Ein 4%, Zentner schwerer Stör legt in einem Jahr 5—6 Millionen Eier ab, ein Kabeljau 4 Millionen. Noch sehr viel größer ist bei denselben Tieren die Zahl der Keimzellen im männlichen Geschlecht, da man auf ı Ei wenigstens 4, in Wirklichkeit aber noch viel mehr Samenzellen wird rechnen müssen. Da nun die meisten Tiere viele Jahre zeugungs- fähig bleiben, so kann man mit der Annahme nicht fehlgehen, daß be- E5® 228 Sechstes Kapitel. a sonders fruchtbare Arten während ihres Lebens Hunderte und Tausende Millionen weiblicher oder männlicher Keimzellen hervorbringen, und man kann sich eine Vorstellung davon machen, auf welche Riesen- zahlen ihre Deszendenz anwachsen würde, wenn auch alle Keime sich entwickelten und wenn die nach einigen Jahren zeugungsfähig gewordenen Individuen zweiter und dritter Generation sich wieder, ein jedes um das Vielmillionenfache, vermehren würden. Im Hinblick auf diese ungeheure Produktivität der Lebewesen wird man auch verstehen, wie zeitweise unter geeigneten Bedingungen eine Tier- und Pflanzenart vorübergehend in großer Individuenzahl im Haushalt der Natur auftreten und verschwinden kann. Man wird es begreiflich finden, wie durch Bakterien erzeugte Infektionskrankheiten sich rasch ausbreiten und verheerende Wirkungen in kürzester Zeit aus- _ üben können. Wenige Milzbrandbazillen, die durch eine kleine Stich- wunde in die Saftbahnen des menschlichen Körpers geraten sind, können sich in wenigen Tagen durch fortgesetzte Teilungen in so unzählige Millionen vermehren, daß jeder Blutstropfen von ihnen übersät und der Tod des Erkrankten nicht mehr aufzuhalten ist. Wenn im Sommer manche Sträucher und Bäume plötzlich Blatt für Blatt mit unzähligen Blattläusen bedeckt sind, so hat man ein Beispiel, wie sich das große Zeugungsvermögen einer Tierart auch in Wirklichkeit geltend machen kann. Die Blattläuse pflanzen sich in den Sommermonaten durch Par- thenogenese fort; sie bringen aus unbefruchteten Eiern lebendige Junge in großer Zahl hervor, die schon nach wenigen Tagen bei reichlicher Ernährung ausgewachsen sind und nun ihrerseits wieder Junge gebären. Auf diese Weise kann, wie schon der Schweizer Zoologe BONNET be- rechnet hat, die Nachkommenschaft von einer einzigen Blattlaus nach einigen Wochen sich auf 1000 Millionen belaufen (LEUCKART |. c. p. 709). Unter den Säugetieren sind die Kaninchen nicht nur sehr fruchtbar, sondern sie entwickeln sich auch sehr rasch. Ihre Jungen werden schon nach einem Jahre selbst wieder fortpflanzungsfähig. Nimmt man die mittlere Zahl der Jungen an, die von einem trächtigen Kaninchen ge- boren werden, und nimmt man ferner an, daß diese und ebenso ihre Nachkommen am Leben bleiben und sich in demselben Verhältnis fort- pflanzen, so beträgt nach BURDACH die gesamte Nachkommenschaft des einen Stammelters nach 4 Jahren bereits eine Million (LEUCKART |. c. P- 709). Man kann hieraus die Lehre ziehen, daß selbst bei einer Entwicklung von wenigen Eiern, die im Verhältnis zur Produktion eines Störs eine verschwindend kleine ist, schr hohe Deszendenzziffern erreicht werden, Die Stammtafel. 229 wenn nur diese wenigen Keime am Leben bleiben und wenn die Ver- mehrung in derselben Weise kontinuierlich weiter vor sich geht. Es wird von Interesse sein, dies noch an 2 Fällen nachzuweisen, I. für den Elefanten, der sich nach der Ansicht von DARwINn unter allen lebenden Tieren am langsamsten vermehrt, und 2. für den Menschen, über dessen Vermehrungsweise wir durch statistische Erhebungen von Jahr zu Jahr unterrichtet werden. Vom Elefanten hat Darwın das wahrscheinliche Minimalverhältnis seiner natürlichen Vermehrung zu berechnen gesucht. Er macht hierbei die Voraussetzung, daß seine Fortpflanzung erst mit dem dreißigsten Jahre beginnt und bis zum neunzigsten Jahre währt, daß er in dieser Zeit 6 Junge zur Welt bringt und daß er Ioo Jahre alt wird. ‚Verhält es sich so, dann würden nach Verlauf von 740—750 Jahren nahezu 19 Millionen Elefanten als Nachkömmlinge des ersten Paares am Leben sein.‘ | Um einen Begriff von dem Anwachsen der Deszendenten eines Menschenpaares in den aufeinander folgenden Generationen (Ft, F?...F?) zu bekommen, macht der Psychiater SOMMER in seinem Buch: ‚Familien- forschung und Vererbungslehre‘“ die Annahme, daß aus einer Ehe drei Kinder hervorgehen und in gleicher Weise auch bei ihren Deszendenten. BE die Stammreihe FT —3,F?2= 3? — g, F? = 38 — 27, F}= 3% E32 243, R° = 38 — 9729... PP = 3% = 19683 Nach- kommen des Stammelternpaares. Nach der Schätzung genealogischer Schriftsteller wie LORENZ, SOMMER u. a. füllen 3 Generationsreihen des Menschen ein Jahrhundert mit ihrer Lebenswirksamkeit und Zeugungs- kraft aus, so daß durchschnittlich 33 Jahre bis zum Einsetzen der nächsten Generation zu rechnen sind. Demnach würden 9 Generationen drei Jahrhunderten entsprechen. Nach ihrem Ablauf würden dann vom Stammpaar sich ungefähr 20000 Nachkommen herleiten. Und nun überlege man, welche Riesenzahl von Nachkommen für das Elternpaar, von dem wir ausgegangen sind, sich ergeben würde, wenn jeder der 20000 Nachkommen sich in abermals 3 Jahrhunderten in gleicher Weise in der Generationsreihe vermehren und ebenfalls wieder 20000 Nach- kommen in 9 Generationen hervorbringen würde. Hierbei sind allerdings die weiblichen Deszendenten und ihre Nachkommenschaft mitgerechnet, obwohl sie infolge ihrer Verheiratung unter dem Namen ihres Mannes weiter geführt werden. Wird von ihnen abgesehen, so verringert sich natürlich die oben ausgerechnete Zahl der Deszendenten um ein erheb- liches. Aber in biologischem Sinne kommt dieser Abzug nicht in Betracht, da es hier ja nicht auf die Namengebung, sondern nur auf die Erbmasse ankommt, die in der weiblichen und männlichen Deszendenz selbst- 230 Sechstes Kapitel. verständlich die gleiche ist. Angesichts solcher Zahlen, bemerkt SOMMER, „kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß ein wirkliches Aus- sterben einer Familie, wie es so oft angenommen wird, im entwicklungs- geschichtlichen Sinne ein fast unglaubliches Ereignis darstellt. Denn wenn auch die Deszendenz eines vor einigen Jahrhunderten lebenden Elternpaares scheinbar erlischt, ganz abgesehen von dem meist über- sehenen Weiterbestehen der weiblichen Deszendenz, so braucht man den Blick nur wieder einige Jahrhunderte rückwärts zu richten und sich zu überlegen, daß dieses Urelternpaar seinerzeit Hunderte von Bluts- verwandten gehabt hat. So erscheint das Erlöschen einer Familie nur als Absterben von einem Ast des auf dem Urgrunde weiterwachsenden Stammbaums.“ 2. Die Ahnentafel. Als Ahnen oder Aszendenten werden die Glieder der Generations- reihen bezeichnet, wenn man sie von einer zum Mittelpunkt der Be- trachtung gewählten Ausgangsform nach rückwärts in die Vergangenheit verfolgt. Aszendenten gibt es daher sowohl bei der ungeschlechtlichen als bei der geschlechtlichen Vermehrung. Bei jener macht man sie aber für gewöhnlich nicht zum Gegenstand besonderer Untersuchungen, da in der „reinen Linie‘ ein Glied dem anderen gleicht. Wenn man daher in der Genealogie von Ahnentafeln spricht, so nimmt man von vornherein an, daß durch sie Verhältnisse, die für die geschlechtliche Zeugung eigen- tümlich sind, zum Ausdruck gebracht werden sollen. Das Bild eines Baumes läßt sich auch für die Ahnentafel verwerten, und zwar in der Form eines umgekehrt orientierten Baumes. Hierfür ist aber besser der Vergleich mit einem Wurzelwerk geeignet, und zwar mit einer Stamm- wurzel, die sich fortgesetzt streng dichotomisch im Unendlichen der Vergangenheit verzweigt. Wie im Bild des Baumes sich nach oben als verzweigtes Astwerk die Reihen der Generationen von Deszendenten folgen, so schließen sich nach abwärts die Generationen der Ahnen als dichotom verzweigtes Wurzelwerk aneinander. Da bei der geschlecht- lichen Zeugung jedes Individuum einen väterlichen und einen mütter- lichen Erzeuger hat, von dem es abstammt, so muß sich in der Reihe der Generationen die Zahl der Ahnen mit jeder weiter entferhten Gene- ration verdoppeln (Fig. 32). Wenn also die erste Ahnengeneration, von dem gewählten Ausgangspunkt aus gerechnet, nur aus Vater und Mutter besteht, so beträgt sie in der zweiten Ahnengeneration A?= 2? =4, in 42 =2°9 — 8, in 41 = 2% = 16, in 4° = 25 = 32, in AI Zar in AP = 2° = 512, in 410 = 210 — 1024 oder allgemein in A? = 2%, . Die Ahnentafel. 231 Rein mathematisch betrachtet, muß daher die Zahl der Ahnen jedes heute lebenden Menschen vor 3 Jahrhunderten ungefähr 512 be- tragen haben, wenn wir wieder auf jedes Jahrhundert, wie wir es für den Stammbaum getan haben, drei Generationen rechnen. Infolge- dessen steigt die Zahl der Ahnen, je weiter wir zurückgehen, bald ins Ungeheure an. In der 12. Generation berechnet sie sich bereits auf 4096 und in der 20., die vor etwa 7 Jahrhunderten gelebt haben würde, auf weit über eine Million Personen; gehen wir aber gar auf den Anfang der christlichen Zeitrechnung zurück, so erhalten wir schon eine so hohe Zahl von Ahnen, daß sie die Zahl der Menschen, welche damals die Erde bevölkert haben, weit übertrifft. Denn wenn man 3 Generationen auf ein Jahrhundert annimmt, so würden nach einer Berechnung von PLATE auf jeden jetzt lebenden Menschen 25” —= 130000000000000000 Ahnen kommen. Was aber bedeutet die kurze Spanne der christlichen Zeit- rechnung im Vergleich zum Alter des Menschengeschlechts, in dessen unbekannte Urzeiten die Ahnengenerationen der heute lebenden Menschen uns schließlich zurückführen ? Daher ist, wie LORENZ sehr treffend hervorhebt, die Ahnentafel ihrem Wesen nach ohne erdenklichen End- punkt; sie reicht in die Unendlichkeit zurück, während der Stammbaum, wo er auch angefangen wurde, in den heute lebenden Nachkommen eines Stammyvaters seinen zeitlichen und in dem Fall des etwa einge- tretenen Aussterbens eines Geschlechtes seinen dauernden Abschluß findet. Die bei jeder weiter zurückliegenden Generation erfolgende Ver- doppelung der Ahnen hat uns zu dem Ergebnis geführt, daß durch Sum- mation bald Zahlen erreicht werden, in denen die Menschen überhaupt nicht Platz nebeneinander auf unserer Erde finden würden. Diese Schwierigkeit ist aber nur eine scheinbare und erklärt sich leicht durch eine einfache Überlegung. Unsere vorausgehende Betrachtung ist nämlich nur eine rein mathematische gewesen und als solche auch nicht anfecht- bar. Ihr Ergebnis gewinnt aber einen anderen Charakter, wenn man ein Verhältnis, das wir jetzt noch als Ahnenverlust kennen lernen werden, bei der Aufmachung der Rechnung mitberücksichtigt. Denn so unan- - fechtbar es ist, daß in jeder Generation die Zahl der Ahnen sich verdoppeln muß, weil jede Person einen Vater und eine Mutter hat, so brauchen doch deswegen nicht die auf einer Ahnentafel in den Generationsreihen auf- geführten Personen stets verschieden voneinander zu sein. Es werden vielmehr bei Verwandtenheiraten dieselben Namen mit ihren Aszendenten mehrfach aufgeführt. Dadurch erfährt die Summation der Ahnen, wie sie mathematisch sich ergibt, in Wirklichkeit eine sehr erhebliche Ein- 232 Sechstes Kapitel, schränkung. Wie groß diese sein kann, läßt sich an einem konkreten Fall leicht ersehen. Es gibt abgelegene Gebirgsdörfer, deren Bewohner, zumal wenn sie noch durch Sprache und Rasse von der Umgebung ge- schieden sind, jahrhundertelang nur untereinander geheiratet haben. Da infolgedessen hier alle mehr oder minder untereinander verwandt sind, muß der oben erwähnte Fall eintreten, daß auf einer Ahnentafel dieselben Namen häufig wiederkehren. In der Wissenschaft der Genealogie hat man das Verhältnis, durch welches die rechnerisch gefundene Ahnenzahl eine erhebliche Beschrän- kung erfährt, den Ahnenverlust genannt. Die Ahnentafel hat daher nicht nur die Aufgabe, die Zahl der Ahnen, als vielmehr auch ihre Qualität zu ermitteln. Das kann in den verschiedensten Richtungen und zu ver- schiedenen Zwecken geschehen, von dem Naturforscher zum Studium des Problems der Erblichkeit, vom Historiker und Juristen zur Ent- scheidung von sozialen, rechtlichen und Standesfragen. In letzterer Hinsicht hat man schon früh die vorgenommene Qualitätsprüfung als Ahnenprobe bezeichnet. Auch für das Verfahren des Naturforschers in Erblichkeitsfragen kann dieser Ausdruck als ein recht passender bei- behalten werden. Zur Erleichterung der Ahnenprobe und zur besseren Verständigung über ihre Ergebnisse sind die Genealogen übereingekommen, die Ahnen- tafeln nach einem gleichen Schema auszuführen und gleichlautende Be- zeichnungen zu gebrauchen (Fig. 32, 33, 34). Die einzelnen Generationen werden nach der in Fig. 32—34 dargestellten Weise in Reihen unterein- ander geschrieben. Die Reihen werden mit Zahlen von ı an als Al, A®, 43, A* etc. aufgeführt, wobei man mit dem ersten Elternpaar als der ersten Ahnenreihe beginnt. Um väterliche und mütterliche Ahnen auch für das Auge im Schema sofort unterscheidbar zu machen, sind die einen durch schwarze, die anderen durch helle Quadrate bezeichnet. Ferner sind als Ersatz für die Namen der Familien, zwischen denen Eheschlie- Bungen stattgefunden haben, die kleinen Buchstaben des Alphabets a-—r benutzt worden. Um bei der Aufzählung der Personen in der Ahnen- reihe A? oder A? oder A%etc. nach einer bestimmten Ordnung vorzugehen, ist man in der genealogischen Wissenschaft übereingekommen, auch stets die Väter den Müttern voranzustellen. Dann erhält jede Person in jeder Reihe eine Ordnungszahl mit I, 2, 3, 4 etc., so daß auf die Väter stets die ungeraden Zahlen (I, 3, 5 etc.), auf die Mütter die geraden (2, 4, 8 etc.) fallen, wie dies in der Ahnenreihe At der Fig. 32 durchgeführt ist, Die Stellung einer jeden Person im System der Ahnen läßt sich daher durch einen Bruch ausdrücken, in welchem die Anzahl der zu einer Die Ahnentafel. 233 Generationsreihe gehörigen Ahnen den Zähler und die Ordnungszahl, welche ein Ahn in der Reihe führt, den Nenner liefert. Der Bruch ®/, bedeutet also die achte Person in der Generation von 8 Ahnen, 1#/, die fünfte Person in der Generation von I6 Ahnen. Man kann bei einer solchen Bezeichnung sich schon über vielerlei Verwandtschaftverhältnisse des betreffenden Ahnen unterrichten. Man erkennt an der geraden oder ungeraden Zahl des Nenners, da sie der Ordnungszahl der Ahnen entspricht, daß es sich bei dem Bruch ®/, um eine weibliche, beim Bruch !°/, um eine männliche Person handelt. Ebenso ist sofort ersichtlich, ob die betreffenden Ahnen zur väterlichen oder zur mütterlichen Linie gehören, da erstere die linke, letztere die rechte Hälfte der Ahnentafel einnehmen. Daher gehören alle durch den Nenner des Bruches charakterisierten Personen, je nachdem dieser in der ersten oder zweiten Hälfte der Zahlenreihe des Zählers liegt, zur männlichen oder zur weiblichen Linie der Aszendenz. Also ist von den zwei oben angeführten Beispielen ®/, zur weiblichen, !%/, zur männlichen Aszendenz zu rechnen. Oder die Ahnen 1#/,, 16/,, 16/;—!%/, gehören zum Vater, 1%/,—1%/,, zur Mutter. : Indem man in dieser Weise die in den Ahnenreihen bestehenden inneren Gesetzmäßigkeiten zur Grundlage einer Zeichensprache macht, kann man durch eine kurze Formel schwer zu beschreibende Verwandt- schaftsverhältnisse zum Ausdruck bringen. So kann man mit Hilfe der Ahnentafel, welche für alle Kinder ein und desselben Elternpaares in selbstverständlicher Weise genau die gleiche ist, und vermittels der durch sie ermöglichten Zeichensprache nun auch das schon oben erwähnte wichtige Problem des Ahnenverlustes besser erklären. Zu dem Zwecke sind auf Grund der Verwandtschaftsverhältnisse, über welche uns das genealogische Netzwerk der Fig. 35 sichere Auskunft gibt, die Ahnentafeln für die 3 Personen a, b und c der F*-Generation in der üblichen Weise zusammengestellt worden (Fig. 32, 33 und 34). Sie lassen uns 3 verschiedene Fälle von Ahnenverlust erkennen. In der Ahnentafel von a ist ein Verlust nicht eingetreten (Fig. 32). Die 15 Ehen, die zwischen den Aszendenten in der A!- bis A*-Generation geschlossen wurden, sind frei von Verwandtenheiraten. In der A%-Gene- ration ergibt die Ahnenprobe die volle Zahl von 16 Ahnen, die I6 ver- schiedenen Familien angehören und durch die Buchstaben a bis 7 charakte- risiert worden sind. Bei den Verheiratungen in dem von 4 Generationen ausgefüllten Zeitraum haben unter den Aszendenten immer neue Kom- binationen — und zwar im ganzen I5 — zwischen den Geschlechtern a bis r stattgefunden, nämlich in A* die 8 Kombinationen ab—cd—ef 234 Sechstes Kapitel. — geh—ik—Im—no—pr; in A® die 4 Kombinationen ac—eg—Ii—np, — in A! ae und in, in A®die Kombination ai, welche der Probandus vertritt. Wenn wir dagegen die Ahnentafel von 5 (Fig. 33) durchgehen, so finden wir, daß in der A®2-Generation die beiden Großväter 5 und z zwei Schwestern n, die durch einen Stern * hervorgehoben sind, geheiratet haben ; oder mit anderen Worten, die Person 5 weist in ihrer Ahnentafel 2 Großmütter n* auf, die Schwestern sind. Denn sie sind, wie sich aus den Deszendenzlinien des genealogischen Netzwerks ergibt, aus der mit einem. Stern bezeichneten Familie no* (Fig. 35) hervorgegangen und haben sich mit den Großvätern 5b und i zur Begründung der Familien bn und in verbunden, denen Vater und Mutter des Probandus (5) ange- b Fig. 33. hören. Da nun die beiden Schwestern n* dieselben Vorfahren haben, kehren dieselben Buchstabenbezeichnungen auf jeder Seite der Ahnen- tafel wieder, in der Reihe A®, n und o, in der Reihe A4* die Buchstaben n—p—0—r. Wenn wir die Aszendenten nach ihrer Stellung in der Ahnentafel in der früher erklärten Weise durch Brüche kenntlich machen, so erhalten die beiden Schwestern n* die Zahlenzeichen %, und %,. Ihre Ahnen in der Reihe A, auf der einen Seite 8/, und 8/,, auf der anderen Seite 8/, und ®/,, sind dieselben Personen; und ebenso sind in der A#- Generation die Brüche 16/,, 16/,, 16/., 18/, dieselben Personen wie 19/,,, 16/14, 18/15; 1%/16. Folglich hat die nur rechnungsmäßig festgestellte Zahl der Ahnen einen Verlust erfahren. Es sind von ihr die doppelt aufge- führten Personen in jeder Reihe in-Abzug zu bringen. In der A3-Gene- ration verringert sich daher die Zahl 8 auf 8—2 = 6 wirkliche Ahnen, in 4% die Zahl 16 auf 16—4 = I2 oder, in einer allgemeinen Formel Die Ahnentafel. 235 ausgedrückt, beträgt in jeder folgenden Generation der Ahnenverlust das Doppelte wie in der vorhergehenden: in A° ist die Zahl 32 auf 32—8 = 24, in A® die Zahl 64 auf 64-16 = 48 etc. herabzusetzen. In der dritten Ahnentafel von der Person c (Fig. 34) ergibt sich noch ein viel größerer Ahnenverlust. Derselbe ist hier dadurch entstanden, daß in der A?-Generation sich 2 Brüder c+ mit 2 Schwestern o* ver- heiratet haben und daß unter ihren Kindern, also zwischen Vetter und Base, die doppelt miteinander verwandt sind, eine Ehe stattgefunden hat, deren Abkömmling der Probandus c ist. Die 2 Brüder sind Deszen- denten aus der Familie cg, die 2 Schwestern aus der Familie ol, wie sich aus dem genealogischen Netzwerk ablesen läßt. Die Vorfahren der beiden Fig. 34- Großväter einerseits, der beiden Großmütter andererseits sind ein und dieselben Personen, sie mußten in der Ahnentafel doppelt aufgeführt werden. Daher ergeben sich in der A3-Generation anstatt 8 nur 4 Ahnen, nämlich c—g-—o—/, und in der A*-Generation anstatt 16 nur 8 Ahnen, nämlich c,d,g, h, o,r.1,m. Der Verlust ist in unserem dritten Fall doppelt so groß als im zweiten. Das Hauptergebnis unserer Untersuchung über Ahnenverlust läßt sich jetzt in dem Satz zusammenfassen: Je größer die Anzahl der Ver- wandtenheiraten, um so größer ist in der Ahnenreihe der ‚Ahnen- verlust“. Dadurch werden die mathematisch ermittelten ins Un- endliche anwachsenden Ahnenzahlen wieder auf die wirklichen in der Natur vorkommenden Verhältnisse zurückgeführt. Es dürfte nicht ohne Interesse sein, ‘den Ahnenverlust noch an einem konkreten Beispiel nachzuweisen. Die sicherste Auskunft erhält man hierüber aus dem Studium der Ahnentafeln von regierenden Häusern. 236 Sechstes Kapitel. So hat LorENZ (l. c. p. 305) die Ahnentafel von Kaiser Wilhelm II. zum Gegenstand eingehender Untersuchungen gemacht und zuletzt in Form der beifolgenden Tabelle für 12 Generationen die theoretisch berechnete Zahl der Ahnen und die wirklich gefundenen Personen zusammengestellt. Ahnenreihe | III HIIV | v VIVI|vOEDIX| X | XIX Theoretisch be- | | | rechnete Zahl | der Ahnen 2 | 4 | 8 .ı6| 32| 64| 128) 256| 512 1024 2048|4096 Wirklich gefun- = a dene Personen 2 4\|8 1424 4| 74 ım 162 | 206) .225 275 Die Tabelle gibt in sehr anschaulicher Weise einen Einblick in den mit jeder älteren Generation immer größer werdenden Ahnenverlust. Während in der neunten Generation an Stelle von 5I2 nur 162 ver- schiedene Ahnen nachgewiesen werden konnten, findet sich in der zwölften Generation schon eine Differenz von 4096 zu 275. 3. Das bei geschlechtlicher Zeugung entstehende genealogische Netzwerk. Bei der geschlechtlichen Zeugung gibt uns weder die Stamm- noch die Ahnentafel, wenn sie nur für sich betrachtet werden, einen erschöpfen- den Einblick in die sehr verwickelten Verwandtschaftsverhältnisse, die durch die geschlechtlichen Verbindungen, durch die aus ihnen ent- stehenden Kinder und durch die von diesen wiederum neu eingegangenen Ehen in einer Bevölkerung geschaffen werden. Bei der Stammtafel müßten auch die weiblichen Linien mit ihrer Deszendenz in die Darstellung hineingezogen und mit ihr müßte noch die Ahnentafel kombiniert werden. Daraus aber ergeben sich so schwer zu überblickende Verhältnisse, daß sie sich sowohl bildlich als auch durch Beschreibung nicht leicht dar- stellen lassen, auch dann, wenn wir nur einen enger begrenzten Kreis von Personen derselben Art nehmen. Denn in der Folge der Generationen bestehen zwischen den einzelnen Individuen zwei Arten von Zusammen- hängen, solche, die auf der Abstammung beruhen und die Glieder der aufeinander folgenden Generation als Ahn und Erbe verbinden, und solche, die durch Ehe zwischen den gleichzeitig lebenden Individuen einer Gesellschaft geknüpft werden. Zusammen aber ergeben diese doppelten Verbindungen, wenn wir sie uns in Linien zwischen Quadraten, welche die einzelnen Individuen repräsentieren, dargestellt denken, ein Das bei Seschlechtlicher Zeugung entstehende genealogische Netzwerk. 237 Netz- oder Maschenwerk, das im Raum nach allen Richtungen ausge- breitet ist. Ich habe versucht, ein solches in einem Schema darzustellen, in welchem die männlichen Personen durch ein schwarzes, die weiblichen durch ein weißes Ouadrat bezeichnet sind (Fig. 35). c ab | Pr LIU NEBEN SEE ringen Ver # EINEN 17 Kann. Bo Kane \ \ | I I-. + y / ee Vi ; ’ A 3-. E a, \ IE \ = i ee . N Ar EN CR } Fer: ee : m BE a” 7 N N ve N Mn le or ak EAN AENNAN AR ARTF N I ! z h N 22 2% I \ \ | 1 / | l N he : IV. \ \ ! a Yo Sf ] Ds \ | er n % a a N N I ! er 1. \ + EEE 2 RS Bee ig ah ) Kir mon op r; Ä Fig. 35. Schema vom genealogischen Netzwerk. Nach O. HERTwIG. Um in dem Netzwerk die Ahnen von dem Probandus z oder c oder 5 rascher aufzufinden, sind die Descendenzlinien von z als dickere Striche, von c als feinere Striche, von db als gestrichelte Linien hervorgehoben. Alle übrigen Linien des Netzwerks sind punktiert gezeichnet. Zum Ausgang habe ich 16 Geschlechtsstämme gewählt, die mit den Buchstaben a bis r bezeichnet sind und von denen angenommen wird, daß sie in keiner nachweisbaren Verwandtschaft zueinander stehen. Von ihnen leiten sich 4 Generationen von Nachkommen ab, die im Schema gleichsam wie 4 Stockwerke über ihrem Fundament angeordnet sind. 238 Sechstes Kapitel. Auf der linken Seite sind die einzelnen Generationen nach der Weise des Stammbaums als P, F!, F?, F?, F* und auf der rechten Seite nach dem Verfahren der Ahnentafel als Pr (Probandus), A!, A?, A®, A* be- nannt worden. Denn das genealogische Netzwerk ist ja eine Kombination der Ergebnisse von Stammbaum und Ahnentafel. Die von den Buch- staben a bis 7 aufsteigenden Linien bezeichnen die in einer Familie er- zeugten Kinder, die in der nächsten Generation (F!) wieder zur Ehe- schließung gelangen. Sie enden hier in einem schwarzen oder weißen Quadrate, je nachdem sie einen männlichen oder einen weiblichen Deszen- denten repräsentieren, und sie sind so geführt, daß die zu Paaren sich verbindenden Sprößlinge aus den verschiedenen Familien a bis r in der Ebene, welche der neuen geschlechtsreif gewordenen Generation Ft} entspricht, direkt nebeneinander zu stehen kommen. Hier sind sie zu einem Paar durch ein /N-Zeichen verbunden, von dessen Spitze wieder die neuen. Deszendenzlinien der F?-Generation ausgehen. Die meisten Linien sind in Punkten ausgeführt; einige dagegen, welche der Kon- struktion der drei oben besprochenen Ahnentafeln Fig. 32—34 zugrunde liegen, sind in dreifach verschiedener Weise besonders hervorgehoben, um die Deszendenzlinien rascher überblicken und verfolgen zu können. Da die ehelichen Verbindungen zwischen den I6 zum Ausgang ge- nommenen Familien und ebenso zwischen ihren späteren Deszendenten bald in dieser, bald in jener Richtung regellos erfolgen, müssen sich die Deszendenzlinien in verschiedenen Richtungen schneiden. An Stelle des aufrechten oder des umgekehrten Baumes der Stamm- oder der Ahnentafel erhalten wir daher in der bildlichen Wiedergabe dieser Ver- hältnisse ein Geflechtwerk, welches, je mehr die Zahl der Familien zu- nimmt, um so komplizierter und schwieriger entwirrbar wird. Gleichsam die Knoten des Netzwerks bilden die einzelnen Geschlechtspaare, in denen sich zwei Familien der vorausgehenden Generation verbinden und von denen dann wieder mehr oder weniger zahlreiche neue Deszendenz- linien zu den Knotenpunkten der nachfolgenden Generation ausstrahlen. Das Bild des Netzes drückt auf diese Weise die wirklichen Verhältnisse der Genealogie sehr viel vollkommener und umfassender aus als der Stammbaum und die Ahnentafel, welche nur zur Veranschaulichung eines bestimmten genealogischen Verhältnisses, dort der Deszendenz, hier der Aszendenz, geeignet sind. Aus dem Schema (Fig. 35) lassen sich noch manche andere Tat- sachen aus der Genealogie der mit den Buchstaben a bis r zusammen- gefaßten Bevölkerungsgruppe ablesen und statistisch bearbeiten. So kann man die Zu- und Abnahme der Personen und die Zahl der Ehe- Das bei geschlechtlicher Zeugung entstehende genealogische Netzwerk. 239 schließungen in einzelnen Generationen P, F! bis F* berechnen (Tabelle I). Die Zahl der Familien hat sich von der ursprünglichen Zahl 16 iu F? auf 20 erhöht. Ihre Oualität hat sich dabei verändert. Denn einzelne Geschlechter von den I6 zum Ausgang gewählten sind in der männlichen Linie ausgestorben und zwar d, f, h, k, l, r, während andere jetzt in mehreren Familien vertreten sind: i und m zmal, a und g 3mal, ferner c 5mal. Es läßt sich feststellen, in welcher Generation und auf welche Weise das Aussterben einer Familie erfolgt ist. So sind d und r schon in der P-Generation in männlicher Linie erloschen, weil in jeder Familie nur Töchter geboren worden sind. Die Familie oi ist in der F?-Gene- ration ausgestorben, weil die Ehe kinderlos geblieben ist, doch hat sich das Geschlecht in der Seitenlinie ob bis in F* erhalten. Tabelle I. aereeahelfi|eg|h “w k|Ii/m!n KIBNBSME, ab|be|cd| | ef 'gh | ik |km| Im |mo|no | or | pr Fl ad PR, | np | | 15 ac | ba | cg | | eg \ gc "ik | ke mi no ol pl| F? ak il | np | oi , po | 16 ae | bn | co leb| I|ga ie | kb meInm|oe pi! |PF co. in | kg mp ‚17 cp | in | aa br Ice lem| Igb ig mb|na | ob| pb ie am ce | | gk ii mp | 20 ap ci | gm ck | ‚en | Ferner gibt Fig. 35 Auskunft über den Reichtum der einzelnen Ehen an Kindern, welche wieder zur Eheschließung gelangen, und über ihre Zugehörigkeit zum männlichen oder weiblichen Geschlecht, das man an der schwarzen oder hellen Farbe der eingezeichneten Quadrate erkennt. Wenn man in die Übersicht auch die Kinder aufnehmen will, welche entweder vor der Geschlechtsreife oder unverheiratet gestorben sind, so braucht man nur ihre Deszendenzlinien in der Weise, wie es als Beispiel bei c in der P-Reihe geschehen ist, noch einzutragen und in verschiedener Höhe frei auslaufen zu lassen. Endlich läßt sich verfolgen, in welchen Kombinationen und in welchen Generationen sich die 16 Geschlechter untereinander ehelich verbunden haben. Nach’ dem Kombinationsschema (Tabelle II) sind unter 16 Familien 256 Kombinationen möglich. Dieselben würden sich 240 Sechstes Kapitel. in dem Zeitraum einer Generation mathematisch nur durchführen lassen, wenn jede Familie 16 männliche und 16 weibliche Kinder hervorbringen würde, die entsprechend dem Kombinationsschema Ehen schließen. Von diesen würden I6 (aa, bb bis vr) in der ersten Generation unter den Begriff des Incests fallen, von der zweiten Generation aber Verwandten- Tabelle I. al pc are & | 4| i ] | U Pu a|aa ba ca da ca fa ga ha ia ka la ma na oa |pa|ra b lab |bb |cb |db |eb | £b | gb | Hnb | ib: | kb | Ib mb | Ind. ob ıpb | rb c |ae |be |ce |dce jec | fc |ge |he ic |kc |k me |nc | oc I|pe | rc d/iad |bd|ced |dd |ed | fd |gd hd id 'kd ‚ld imd |nd ‚od |pd | rd e [ae |be ce de ce |fe |ge |he | ie ke le me |ne oe | pe | re £ \ag |b£ |ct |a£ jet | # |gf |nf |: Er JE me minor g lagıbg ee dg eg fg gg hg ig kg lg Img | Ing |0g \pge |rg h'ah bh ch ‚dh ch fh 'gh|hh |ih |kh Ih mh Inh |oh |ph | rh ilJi bi de ii i m ü oo mi En olpfi|rn k ak bk ck dk ck |fk gk hk \ ik kk Ik mkı ınk ok pk rk ja ba /aja|fi g mju cm |D mijallepe m| am | bm cm | dm em fm gm hm "im | km Im mm mm or om| pm| ım n an | bn en. dn en |'fn |gn hn|in kn Im mn im on pn rn ojao |bo |co do | eo fo go ho |io ko | lo mo n0 00 'po | 273 p ap bp. ep dp ep ip gp hp |ip |kp Ip mp np jop |pp |rp, xz |ar |br |er |dr |er |ir |gr | br | ir’ | kr] Ir Siam Zn EEE Tabelle Il. Kombinationsschema der Verbindungen, die zwischen den I6 Ge- schlechtern des genealogischen Netzwerks der Fig. 35 möglich sind. Die im Laufe von 5 Generationen wirklich stattgefundenen Verbindungen zwischen den Geschlechtern sind durch fetten Druck der Buchstaben hervorgehoben. heiraten mit entsprechendem Ahnenverlust bedeuten. Man kann schon daraus ersehen, daß es eine größere Zahl von Generationen und einen längeren Zeitraum erfordern würde, ehe unter 16 Familien mit der üblichen beschränkten Kinderzahl die verschiedenartigen Kombinationen wirklich erfolgt sind. Bei der Zusammenstellung des Schemas (Fig. 35) wurde ein besonderes Augenmerk darauf gerichtet, eine möglichst hohe Zahl verschiedener Kombinationen zu erzielen. Dieselben sind ebenfalls aus Tabelle I nach ihrer Verteilung auf die 4 Generationen leicht zu übersehen. Sie bleiben noch weit hinter der Zahl zurück, die nach dem Kombinationsschema möglich ist. Mit der Zunahme der Individuenzahl einer in sich abgeschlossenen Population aber steigt bald die Zahl der Das Problem des Ahnenplasma 24I mathematisch ausführbaren ehelichen Kombinationen in das Riesen- mäßige. Daraus läßt sich ersehen, wie beschränkt die in einer Population stattfindende Durchmischung in Wirklichkeit ist. 4. Das Problem des Ahnenplasma. Die genaue Ausarbeitung von Stamm- und Ahnentafeln und das kritische Studium derselben sind von großer Wichtigkeit für das Problem der Vererbung. Eine Hauptfrage hierbei ist: welche Vorstellung können wir uns von den Veränderungen bilden, welche bei geschlechtlicher Zeugung das Idioplasma eines Kindes dadurch erfahren hat, daß in seiner Ahnenreihe sich fortgesetzt väterliche und mütterliche Ahnen- plasmen verbunden haben ? Hierüber sind zwei ganz entgegengesetzte Hypothesen, die GALToNsche und die MENnDELsche aufgestellt worden. Die Hypothese GALTons kann jetzt wohl als aufgegeben betrachtet werden, verdient aber wegen ihrer historischen Bedeutung und als erster mit exakten Untersuchungen verbundener, wichtiger Versuch eine kurze Erwähnung. Nach seinem ‚law of ancestral inheritance‘‘ steuern die beiden Eltern zu den kompliziert zusammengesetzten Erbteil der Kinder zusammen die Hälfte (jeder !/,), die 4 Großeltern zusammen /, (jeder !/,.), die 8 Urgroßeltern zusammen !/, (jeder !/g,), deren Eltern zusammen 1/g usw. in abnehmender Progression bei. Man kann dies Erblichkeits- verhältnis also durch die Zahlenreihen % + ', + Yg + Us +:-:-=1I (das ganze Erbe) ausdrücken. Die sehr komplizierte Zusammensetzung, welche bei GALTONS Hypothese das kindliche Erbteil gewinnt, läßt sich durch eine graphische Darstellung (Fig. 36) deutlich machen, welche Lang nach GALToN und MESTon in sein Lehrbuch der Vererbungswissenschaft aufgenommen hat. Ein Quadrat, welches das kindliche Idioplasma (= I) bezeichnet, ist in größere und kleinere Quadrate abgeteilt. Ihre Größe bezeichnet das Maß des Erbanteils, welches die 2 Eltern A!, die 4 Urgroßeltern A?, die 8 Ururgroßeltern A® usw. zum Gesamterbe beisteuern. Also be- deutet die erste, mit A! bezeichnete Reihe der übereinander stehenden großen Quadrate die Erbanteile der beiden Eltern (jeder zu !/, vom Gesamterbe); die zweite Reihe A? stellt die Ahnenplasmen der 4 Groß- eltern (jedes zu 1/,,), ferner A®, A*, A® diejenigen der dritten, vierten, fünften Ahnengeneration dar. Am rechten Rand des Schemas ist noch ein heller, vertikaler Streifen frei geblieben. In ihn würden noch für die weiter folgenden Generationen A® bis A" die ihnen zukommenden Erbanteile in immer kleiner und zahlreicher werdenden Quadraten in OÖ. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl. 10 Sechstes Kapitel entsprechender Weise einzutragen sein. Die weißen Quadrate, welche bei der Zählung von oben nach unten in jeder Reihe die ungeraden Zahlen erhalten würden (s. S. 232), stellen die männlichen, die schwarzen Qua- drate die weiblichen Erbanteile dar, mithin umgekehrt wie in den Figg. 31 bis 35. Das kindliche Erbe würde sich auf diese Weise in seiner Zu- sammensetzung einem wahren Mosaik vergleichen lassen, wie die gra- 4. A” 2b AA etc. Fig. 36. Graphische Darstellung des Gesetzes vom Ahnenerbe. Nach GALTON. Aus A. Lan. phische Darstellung klar veranschaulicht. Man könnte daher auch das GALTONsche law of inheritance wohl in zutreffender Weise als die Mosaik- theorie der Vererbung bezeichnen. Die Annahme, daß die Vorfahren je nach ihrer Stellung in der Ahnenreihe mit abnehmender Potenz an dem Zustandekommen der erblichen Eigenschaften des Kindes teilnehmen, hat GALTON durch statistische und messende Untersuchungen auch wirklich zu beweisen Das Problem des Ahnenplasma, 243 versucht; er ist dadurch im Verein mit PEARSOoN und anderen Forschern, die sich solchen Bestrebungen angeschlossen haben, der Begründer der biometrischen Schule geworden, die besonders in England und Amerika zu Einfluß gelangte. Der Standpunkt der biometrischen Schule gegenüber dem Erblich- keitsproblem ist jetzt wohl ziemlich allgemein, teils infolge der ergebnis- reichen cytologischen Untersuchungen der letzten Jahrzehnte, teils in- folge der von MENDEL eingeschlagenen experimentellen Forschungs- richtung verlassen worden. Denn die Zellforschung lehrte, daß neben der Verschmelzung zweier Ahnenplasmen und der durch sie herbei- geführten Summation der Erbmasse ein entgegengesetzter Prozeß einher- geht, durch den die verdoppelte Erbmasse wieder in 2 Hälften zerlegt oder reduziert wird {vgl. Kap. III 4). Ob das Idioplasma bei diesen Vor- gängen der Verschmelzung oder Summation und der nachfolgenden Trennung oder Reduktion zweier verschiedenen elterlichen Erbmassen in seinen Eigenschaften verändert wird und in welcher Weise, kann freilich die rein cytologische Forschung für sich allein nicht lösen; aber sie hat in diesem Punkte eine wirksame Unterstützung durch die MENDEL- sche Forschungsrichtung gefunden. Denn einerseits ist die durch sie ermittelte Spaltungsregel eine physiologische Bestätigung der cytologisch nachgewiesenen Reduktion, auf der anderen Seite ist durch die MENDEL- sche Analyse der Nachkommenschaft der Bastarde in zweiter, dritter und vierter Generation der experimentelle Nachweis erbracht worden, daß zwei durch Zeugung verbundene Idioplasmen bei ihrer später wieder eintretenden Trennung Veränderungen in ihrer Zusammensetzung er- leiden. Die Veränderungen aber lassen sich durch die Annahme einer Zusammensetzung des Idioplasma aus Erbeinheiten (Genen), ferner durch die Annahme einer gewissen Selbständigkeit derselben und eines wechselseitigen Austausches zwischen ihnen, der teilweise und in ver- schiedener Art erfolgen kann, gut erklären. Es sind daher die durch Befruchtung zusammengebrachten Idioplasmen nach ihrer später wieder erfolgten Trennung nicht mehr die gleichen, die sie vor ihrer Verschmel- zung waren, sondern infolge der Befruchtung und eines hierbei statt- gefundenen teilweisen Austausches von Genen in ihrem Wesen bald mehr bald weniger verändert. Genaueres über diese wichtige Erkenntnis ist schon in einem früheren Kapitel mitgeteilt worden (Kap. III, S. 71); auch sei auf das XII. Kapitel, welches noch besonders über das schwierige Problem der Vererbung handelt, ‚gleich hier verwiesen. Das kombinierte Studium der Stamm- und Ahnentafel, verbunden mit dem Studium der cytologischen und MEnDELschen Forschungs- 16* 244 Sechstes Kapitel, richtung kann uns noch zur Grundlage für die Beantwortung der Frage dienen, in welcher Weise die geschlechtliche Zeugung schließlich den Gesamtcharakter einer in sich abgeschlossenen Bevölkerung von nicht zu großem Umfang beeinflussen muß. Wie wir oben an der Hand einer bildlichen Darstellung (Fig. 35) sahen, finden infolge der geschlechtlichen Verbindungen zwischen den Individuen der aufeinander folgenden Gene- rationen Zusammenhänge statt, die sich als ein in Raum und Zeit aus- gebreitetes, kaum entwirrbares Netzwerk darstellen lassen. In diesem müssen die Folgen aller Mischungen und Entmischungen, die durch geschlechtliche Zeugung veranlaßt werden, von doppelter Art sein. Einmal werden, um so zahlreichere Varianten durch neue Kombinationen nach den Wahrscheinlichkeitsgesetzen geschaffen, je mehr die mit- einander kombinierten Idioplasmen sich durch eine größere Zahl von Erbeinheiten voneinander unterscheiden. Die Zahl der kleinen Unter- schiede muß zunehmen, so daß fast jedes Individuum vom anderen, wie es in der menschlichen Gesellschaft der Fall ist, in unbedeutenden Merkmalen bald mehr bald minder abweicht. Auf der anderen Seite aber müssen größere Unterschiede zwischen den einzelnen Individuen, wenn sie einmal bestanden haben, ebenso notwendig abnehmen und aus- geglichen werden. Denn auf einen Ausgleich wirkt ja schon das Auf- treten vermittelnder Zwischenglieder durch neue Kombinationen der unterscheidenden Merkmale hin. Ferner müssen die extremen Differenzen allmählich auch in dem Fall verschwinden, daß sie auf einem Komplex selbständiger Gene beruhen, die sich nach der Spaltungsregel voneinander trennen lassen. Denn dann können bei wiederholten geschlechtlichen Zeugungen in der Folge der Generationen diese Komplexe durch den Prozeß der Mischung und Entmischung in ihre Erbeinheiten zerlegt und letztere wieder zu den verschiedensten Neukombinationen ver- wandt werden. Somit kann die geschlechtliche Zeugung zu keinem anderen End- resultat führen, als daß durch ihre Vermittlung eine in sich abgeschlossene Gesellschaft von Individuen, die miteinander kreuzungsfähig sind, art- gleicher gemacht wird, daß dabei aber ein Fortbestehen und sogar eine Zunahme in der Zahl geringfügiger Varianten nicht ausgeschlossen ist. Endlich geht aus unserem Schema und den an dasselbe angeknüpften Erörterungen noch hervor, wie außerordentlich langsam eine vollkommene Vermischung durch eheliche Verbindungen selbst bei einer beschränkten Zahl von Individuen vor sich geht, und wie lange Zeiträume erforderlich sind, um die zahlreichen Kombinationen durch Kreuzung durchzuführen und durch sie das Aufgehen eines fremdrassigen Bestandteils in eine Unwissenschaftliche Verwendung des Begriffes „Stammbaum“. 245 Bevölkerung zu ermöglichen. Hiermit scheinen auch die zahlreichen Erfahrungen übereinzustimmen, die man machen kann, wenn im Staate zwei oder mehr Rassen der Bevölkerung beim Schwinden von sozialen Hindernissen und von Rassengegensätzen häufiger eheliche Verbindungen untereinander schließen und so allmählich das Material für einen neuen Mischtypus schaffen. 5. Unwissenschaftliche Verwendung des Begriffes „Stammbaum“ Außer zur Darstellung von Generationsfolgen der Organismen, die auf Zeugung beruhen und daher ein wirkliches Verwandtschaftsverhältnis ausdrücken, bedient man sich des Wortes und des Bildes eines Stamm- baums auch noch in vielen anderen Fällen in einer mehr übertragenen und allegorischen Bedeutung. Anstatt einer auf Zeugung beruhenden Folge versucht man auch unter dem Bilde eines Baumes oder in der Form sich verzweigender Linien, die von einem gemeinsamen Stamm ausgehen, überhaupt Verhältnisse darzustellen, die sich entweder zeitlich auseinander entwickeln oder in irgendeiner Weise unter den Begriff der Entwicklung gebracht und aus ihm erklärt werden können. So bedienen sich die Sprachforscher des Bildes eines Stammbaumes, als eines Hilfs- mittels für leichtere Verständigung, um zu zeigen, wie aus einer Ursprache sich verschiedene Volkssprachen der Gegenwart und unter diesen wieder verschiedene Dialekte ausgebildet haben. Unter der Herrschaft des Darwinismus war es ferner in der Zoologie und Botanik vorübergehend sehr beliebt geworden, zoologische und botanische Stammbäume zu ent- werfen. Man übersetzte hierbei die Ergebnisse der Systematik in das Genealogische und ordnete die systematischen Begriffe der Stämme, Klassen, Ordnungen, Familien, Gattungen und Species in der Form eines Baumes an. Dabei wurde der allgemeinste Begriff zum Stamm und die ihm untergeordneten Begriffe je nach ihrer Rangordnung zu Haupt- oder Nebenästen, zu feineren und feinsten Zweigen angeordnet. Es bedarf wohl kaum einer weiteren Begründung, daß hier ein großer Unterschied in der Verwendung des Begriffes und des Bildes eines Stammbaumes vorliegt. In dem einen Fall drückt man, wie in den Betrachtungen im ersten Teil unseres Kapitels (S. 223), ein wirklich genealogisches, auf Zeugung beruhendes Verhältnis aus, das zum Gegen- stand einer streng wissenschaftlichen, methodischen Untersuchung ge- macht werden kann. In allen anderen Fällen wendet man das Bild des Stammbaumes auf Beziehungen von Begriffen an, die sich zwar in Reihen anordnen lassen, aber doch in keinem Ahnenverhältnis zueinander stehen, 241 ) Sechstes Kapitel, da sie sich nicht fortpflanzen können. Ahnentafeln und Stammbäume lassen sich in naturwissenschaftlichem Sinne nur von den Generations- reihen konkreter, pflanzlicher und tierischer Individuen aufstellen, nicht aber von den systematischen Begriffen der Art, Gattung, Familie und Klasse, unter denen man zur besseren Orientierung Gruppen von Lebe- wesen, je nach der Ähnlichkeit in ihrem Bau, in engerem und in weiterem Sinne zusammengeordnet hat. Später wird bei der Besprechung der Entstehung der Arten auf diesen Punkt noch einmal genauer eingegangen werden. In gleichem Sinne hat sich schon LORENZ in seinem Lehrbuch der gesamten wissenschaftlichen Genealogie ausgesprochen. Auch er wünscht, daß bei der methodologisch so verschiedenartigen Verwendung der Stammbäume ‚‚die Dinge etwas sorgfältiger auseinandergehalten würden‘, und er fügt noch weiter zur Erläuterung hinzu: „Man bedient sich des Ausdrucks Stammbaum in den verschiedenen Wissenschaften gewiß nur im Sinne eines Bildes, aber die Schlüsse, die zuweilen aus dieser tropischen Redewendung gezogen werden, sind bedenklich, weil Begriffe zwär nach Analogie eines Stammbaumes fortschreiten können, aber doch nie einen wirklichen Vater haben. Ebenso verwirrend ist es, wenn man etwa von einem Stammbaum der Menschheit oder von einem Stammbaum der Tiere spricht, weil nur der Mensch oder das Tier in seiner Besonderheit, nicht aber der abstrakte Mensch und der Begriff vom Tier Kinder erzeugt. Die Genealogie muß sich mithin gegen den Gebrauch des Wortes Stamm- baum in jeglichem tropischen Sinne verwahren und kann ebensowenig die ‚Sprachenstammbäume‘ wie die ‚zoologischen Stammbäume‘ zu Dar- stellungen des wirklich genealogischen Stoffes rechnen, weil sie sich nur mit den wirklich nachweisbaren Zeugungen bestimmter Individuen beschäftigt.“ 6. Tod und Verjüngung '). Es ist ein wunderbarer Kunstgriff der Natur, im Wechsel von Leben und Tod den Lebensprozeß selbst auf unserer Erde zu einem ewigen für menschliche Vorstellung zu machen. Wenn auch nach unabänderlichem Naturgesetz die einzelnen Tier- und Pflanzenindividuen sterben müssen, so blicken doch die Lebewesen der Gegenwart auf eine uralte Ahnen- ı) Minot, Charles S., The problem of age, growth and death, a study of cytomorphosis. New York 1908. — Weismann, Aug., Ueber die Dauer des Lebens. Vortrag 1881. — Derselbe, Ueber Leben und Tod. Jena 1884. — Korschelt, E., Lebensdauer, Altern und Tod. Zieglers Beiträge ». path. Anat. u. Phys., Bd. 63. Tod und Verjüngung. 247 geschichte zurück und sind die Glieder einer unendlich langen Kette, in welcher der Lebensprozeß durch Zeugung von einem auf das ihm folgende Individuum stets wieder übertragen und dadurch erhalten wird. Auf diese Weise ist das leicht zu schädigende, zarte Protoplasma einer Zelle mit dem in seinem Innern eingebetteten Kern, obwohl es nur unter geeigneten Bedingungen der Außenwelt zu bestehen vermag, doch mit mehr Mitteln zur Selbsterhaltung ausgerüstet, als alle unorganischen und organischen Verbindungen der Chemie. Denn diese zerfallen und vergehen im Laufe der Zeiten durch die chemischen Angriffe der Außen- welt, ohne in derselben Form gleichzeitig wieder ersetzt zu werden. Das Thema ‚Tod und Verjüngung‘‘ kann dem Biologen zu mancherlei Betrachtungen Veranlassung geben. An erster Stelle verdient erwähnt zu werden, daß sich von vornherein zwei Reihen von verschiedenen Todes- ursachen unterscheiden lassen. Die einen beruhen auf der Konstellation zufälliger, ungünstiger Bedingungen. Verfallen nicht aus diesem Grunde fortwährend unzählige pflanzliche und tierische Keime, Milliarden von Eiern und Samenfäden dem Untergang und verfehlen so ihre Bestimmung, zu Ausgangspunkten neuen Lebens zu werden ? (vgl. S. 225). Und wie viele Keime, die schon ihre Entwicklung begonnen haben, sterben während derselben und oft auch kurz vor ihrer vollen Reife und vor dem Besitz der Fortpflanzungsfähigkeit ab, bald durch Krankheiten der verschie- densten Art, bald durch Nahrungsmangel, bald im Kampf mit anderen Organismen, denen sie zur Nahrung dienen, oder aus vielen anderen Ursachen! Was für die Keime der vielzelligen Organismen, gilt in dem- selben Maße auch für alle Einzelligen. Denn wenn sie nicht fortwährend eine Beute des Todes würden, müßte ihre Nachkommenschaft bald keinen Raum mehr auf unserer Erde finden. Sie würden dann auch auf diesem Wege, gleichsam durch die Überfülle des Lebens, aus Mangel an Raum und Nahrung zugrunde gehen bis auf eine dem Gesamthaushalt der Natur angepaßte Individuenzahl. Außer dem eben besprochenen, mehr ‚zufälligen Tod“, wenn man mit WEISMANN so sagen will, gibt es noch eine zweite Gruppe von Todesursachen, die im Wesen des Organismus selbst begründet, mit innerer Notwendigkeit den Lebensfaden zerschneiden, wenn die Zeit gekommen ist. Sie sollen uns jetzt noch etwas weiter beschäftigen ; denn in diesem Fall läßt die Dauer des Lebens bei den einzelnen Pflanzen- und Tierarten ein gewisses Maß von Gesetzmäßigkeit erkennen. Zwar sind unsere Kenntnisse auf diesem Gebiet noch gering, doch liegt immerhin eine Anzahl von Beobachtungen vor, die WEISMANN zum Teil in einem Vortrag zusammengestellt hat. 248 Sechstes Kapitel. In der Klasse der Säugetiere, wie auch in anderen Klassen des Tier- reichs, schwankt die natürliche Dauer des Lebens bei verschiedenen Arten innerhalb weiter Grenzen, ist aber bei den Individuen einer Art von ziemlicher Konstanz. Die Körpergröße scheint hierbei die Unter- schiede zum Teil mit zu bedingen. So schätzt man die normale Lebens- dauer bei der Maus auf etwa 6 Jahre, beim Hasen auf Io, beim Schaf auf 15, beim Pferd auf 40—50, beim Menschen auf 70—ı100, beim Ele- fanten auf 200 Jahre. Sehr langlebig sind im allgemeinen die Vögel. Die einheimischen Singvögel werden 8&—ı8 Jahre, Kanarienvögel selbst in der Gefangenschaft 12—I5, Hühnerarten I8—20 Jahre alt; noch viel älter werden die größeren Raubvögel, wie Falken und Adler. In Zoo- logischen Gärten ist beobachtet worden, daß ein Steinadler ein Alter von 104 und ein weißköpfiger Geier sogar von II® Jahren erreicht hat. Durch ihre Kurzlebigkeit zeichnen sich die meisten Insekten aus. Lepidopterologen halten es für unwahrscheinlich, daß irgendein Schmetter- ling im Imagozustand ein volles Jahr am Leben bleibt. Papilio Ajax soll etwa 6 Wochen alt werden, andere Arten nach dem Ausschlüpfen aus der Puppenhülle noch früher sterben; häufig tritt der Tod bald nach der Eiablage ein. Ähnlich verhält es sich mit den Käfern, unter denen man genauere Beobachtungen beim Maikäfer (Melolontha vulg.) ange- stellt hat. Exemplare, die in einem geräumigen Zwinger unter günstigen Bedingungen gezüchtet wurden, lebten nicht über 39 Tage. Nach den Erfahrungen, die Bienenzüchter gesammelt haben, schätzt v. BERLEPSCH die Lebensdauer bei der Königin auf 2 bis höchstens 5, bei den Arbeite- rinnen auf 6 bis 7 Jahre und bei den Drohnen nur auf 6 Monate. Ja, es gibt Insekten, die im Imagozustand nur einige Stunden leben. Bekannt in dieser Beziehung ist die Eintagsfliege (Ephemera vulgata). Nach- dem sie die letzte Metamorphose bestanden hat, erfolgt die Begattung und auf diese die Eiablage, nach welcher das erschöpfte Tier 4—5 Stunden nach dem Ausschlüpfen abstirbt. Eine in ihrer Art einzig dastehende Erscheinung bieten uns viele Insekten dadurch dar, daß, während ihr Leben als Imago so außer- ordentlich kurz bemessen ist, ihr Larvenleben im Unterschied hierzu sehr in die Länge gezogen ist. Der Maikäfer, der nur einen Monat alt wird, nährt sich als Engerling, in der Erde vergraben, 4 Jahre lang von pflanzlicher Kost. Die Larvenzeit der Eintagsfliege währt 2 bis 3 Jahre. Dagegen beträgt sie bei den Bienen, die als Imago 1—5 Jahre leben, nur 5—6 Tage. Ein entsprechendes Wechselverhältnis zwischen der Dauer der Larven- und Imagoperiode ist noch in vielen anderen Fällen beobachtet worden. | Tod und Verjüngung, 249 Während über die Lebensdauer der Würmer, der Echinodermen und Cölenteraten fast gar keine Beobachtungen vorliegen, ist über sie von den Mollusken schon mehr bekannt. Einen Anhaltspunkt, um ihr Alter abzuschätzen, bietet die Beschaffenheit ihrer Schalen dem Forscher dar. So sind nach den von WEISMANN zusammengestellten Angaben von CLESSIN die Vitrinen einjährig, die Succineen zweijährig, die Heliceen, Lymnaceen, Paludineen, Planorbis und Ancylus 2—4jährig. Noch älter werden nach der Anzahl der Jahresringe ihrer Schalen die Najaden, von denen Unio und Anodonta erst im 3.—5. Jahre geschlechtsreif werden. Auch unter den Mollusken scheint wieder die Körpergröße einen Einfluß auf die Lebensdauer auszuüben. L. AGassız gibt dieselbe bei einer großen Meeresschnecke, Natica heros, auf 30 Jahre an; nach BREHM soll ‚‚die Riesenmuschel, Tridacua gigas, sogar 60—100 Jahre alt werden“. Auch im Pflanzenreich ist ähnlich wie im Tierreich die Lebensdauer häufig für einzelne Arten eine streng normierte, und auch hier zeigen die kleineren Gewächse, wie die Getreidearten, Kräuter und Stauden eine viel kürzere Lebensdauer als die größeren Sträucher und Bäume. Bei den einjährigen und zweijährigen Gewächsen erstreckt sich ihre Lebensdauer nicht über einen, resp. zwei Sommer. Den Winter ver- mögen die einjährigen nur als Samen zu überdauern. Im Gegensatz hierzu wird das Alter von manchen Baumriesen, das sich nach der Zahl der Jahresringe im Holz des Hauptstammes mit ziemlicher Genauigkeit berechnen läßt, auf viele Jahrhunderte geschätzt. Wie sich aus diesen spärlichen Mitteilungen, die ein noch wenig durchforschtes Gebiet betreffen, wohl erkennen läßt, ist die Lebens- dauer der einzelnen Pflanzen und Tiere ebenso gut eine charakteristische Eigenschaft der Species wie andere Merk- male morphologischer und physiologischer Natur. Schon öfters ist die Frage aufgeworfen worden, warum sich bei den vielzelligen Repräsentanten der Art der Lebensprozeß mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit allmählich abschwächt und schließlich erlischt, während doch die Keimzellen in der Ahnenkette das Vermögen haben, sich durch Teilung ins Unendliche zu vermehren und so eine Reserve des Lebens bilden, aus der sich immer wieder aufs neue sterbliche Wesen entwickeln. So gering auf diesem Gebiet unser derzeitiges Wissen auch anzuschlagen ist, so läßt sich doch mit guten Gründen die Behauptung aufstellen und rechtfertigen: die Ursache des Todes ist in der Art der Organi- sation der vielzelligen Lebewesen zu suchen. Ihre Organi- sation beruht auf Arbeitsteilung und Differenzierung für die verschieden- artigsten Zwecke ; hierbei werden von der Zelle besondere Plasmaprodukte 250 Sechstes Kapitel. gebildet, wie Grundsubstanzen, Muskel- und Nervenfibrillen, dıe ver- schiedenartigsten Sekrete und chemischen Substanzen, die alle nur für ganz spezialisierte Aufgaben bestimmt sind. Mit der Entstehung zahl- reicherer Organe und Gewebe und mit der dadurch hervorgerufenen größeren Komplikation der ganzen Organisation und des Lebensprozesses wird jedes Organ, jedes Gewebe, jede Zelle in der schon früher besprochenen Weise von allen anderen abhängig, bei den höheren Organismen ent- sprechend mehr als bei den niederen. Bleibt das Herz z. B. stillstehen, so wird die Ernährung aller Zellen mit dem Aufhören des Blut- kreislaufs auf einen Schlag unterbrochen. Langsamere Schädigungen treten ein, wenn andere Organe, wie Drüsen, Nerven, Blutgefäße aus den mannigfaltigsten Ursachen nicht mehr in normaler Weise funktio- nieren. In diesem Fall ist zu beachten, daß eine Störung fast stets sehr viele andere Störungen bald in diesen bald in jenen voneinander ab- hängigen Teilen zur Folge hat. Schließlich bringen die sich vermehrenden und sich gegenseitig steigernden Störungen den ganzen in Unordnung geratenen Betrieb zum Stillstand. Das Leben ist dem Tode erlegen. Nun besitzen allerdings alle lebenden Wesen in mehr oder minder hohem Grade eine erstaunliche Fähigkeit, die meisten Schädigungen, die sich im Betrieb einstellen, wieder vollkommen auszubessern. Die über- angestrengten Muskeln ersetzen nach einiger Zeit der Ruhe wieder die verbrauchte, quergestreifte Substanz. Ebenso erholt sich wieder das tätig gewesene Nervengewebe nach einiger Zeit der Ruhe. Zerstörte rote Blutkörperchen werden durch die Tätigkeit des Knochenmarks, Lymphocyten in den Iymphoiden Organen wieder ersetzt. Was an der Oberfläche der Haut durch Abstoßung verhornter Zellen verloren geht, regeneriert sich wieder durch Vermehrung der Zellen im Stratum germi- nativum. Wunden werden durch die Tätigkeit des benachbarten Gewebes geheilt. Bei vielen Tieren können sogar größere in Verlust geratene Organe durch Regeneration oft in Staunen erregender Weise durch entsprechend neue ersetzt werden. Und doch liegen hier, teils in dem Unvermögen, immer wieder neu eintretende Betriebsstörungen auszugleichen, teils in dem Erlahmen der Regeneration verbrauchter Teile, die Angriffspunkte des Todes. Offenbar ist bei Zellen, die für besondere Arbeitszwecke spezialisiert sind, das Vermögen, die bei der Funktion eingetretenen Verluste fortwährend in der gleichen Weise zu ersetzen, nicht so vollkommen ausgebildet, wie das Vermögen der undifferenzierten Keimzellen sich durch Teilung wieder aufs neue zu vermehren und auf diese Weise den Lebensprozeß selbst zu erhalten. Tod und Verjüngung, 251 Wie der Mensch aus Erfahrung weiß, macht sich das Herannahen des Alters in einer allmählichen Abnahme der Leistungsfähigkeit vieler einzelner Organe bemerkbar, der Muskeln, der Hirntätigkeit, der Ver- dauungsorgane, des Herzens und der Gefäße. Viele Alterserscheinungen an Organen und Geweben sind schon bei mikroskopischer Untersuchung vom pathologischen Anatomen leicht zu erkennen. Fast alle beruhen sie auf Veränderungen der für spezielle Arbeitszwecke gebildeten Plasma- produkte. Die Knochen werden brüchiger durch schädliches Überwiegen der erdigen Bestandteile im Verhältnis zur organischen Grundsubstanz. Die Knorpel zeigen verminderte Biegsamkeit durch Ablagerungen von kohlensaurem Kalk. Bei den Gefäßen treten Veränderungen durch Arteriosklerose ein, wodurch die für eine normale Zirkulation erforder- liche Elastizität und Dehnbarkeit ihrer Wandung stark vermindert wird. Daher kann man wohl sagen, gerade die Vorgänge, durch welche die Zellen in den vielzelligen Repräsentanten der Art vermöge der Arbeits- teilung und der Bildung der verschiedenartigsten Plasmaprodukte zu den höchsten Leistungen des Lebens befähigt werden, schaffen auch die Verhältnisse, welche den Alterstod durch Abnutzung und Erschöpfung herbeiführen. Und noch in einer zweiten Weise wirkt der Prozeß, welcher ın den Lebewesen die in ihren Keimen schlummernden Fähigkeiten zur höchsten Entfaltung bringt, der Dauer ihres Lebens entgegen. Denn er schwächt in ihren Zellen in demselben Maße, als sie durch irgendeine Funktion intensiver in Anspruch genommen sind, ihr Vermögen, sich durch Teilung zu vermehren. Es gilt dies für Pflanzen wie für Tiere in gleicher Weise. Hier wie dort bildet sich infolge der Arbeitsteilung bald ein Gegensatz aus zwischen den Zellen, die irgendeine Funktion übernommen und ein Gewebe gebildet haben, und solchen, die indifferent und auch später noch gleichsam embryonal geblieben sind. Bei den Pflanzen sind die letzteren an allen den Orten anzutreffen, von denen die Anlage neuer Organe oder das fortgesetzte Wachstum bereits vorhandener ausgeht. Sie stellen die Vegetationskegel an den Spitzen der Wurzeln und der ober- irdischen Zweige und die Cambiumschicht dar; es sind Teile, die nur aus kleinen protoplasmatischen Zellen von embryonalem Charakter be- stehen. Hier allein vermehren sich die kleinen Zellen durch Teilung ın reicherem Maße und bilden die Stätten, an welche die Anlagen neuer Organe gebunden sind. In einem Kubikmillimeter dieser Substanz findet sich I00- bis I000mal so viel Kernsubstanz wie in einem entsprechend großen Stück vollständig ausgewachsenen Parenchymgewebes. Im Parenchymgewebe dagegen, in welchem die Prozesse der Assimilatıon 252 Sechstes Kapitel, und des Stoffwechsels energischer vor sich gehen, oder in den mechanischen Geweben, in welchen dickere Wandungen aus Zellulose durch die for- mative Tätigkeit des Protoplasmas entstanden sind, ist das Teilungs- vermögen erloschen. , Pflanzenblätter verändern daher ihre Form nicht mehr, nachdem ihre Zellen ausgewachsen sind. Ebenso bei den Tieren. Zellen, die durch eine Funktion in bestimmter Richtung in Anspruch genommen werden und mit ihrem ganzen Stoff- wechsel hierfür gleichsam eingestellt sind, Drüsenzellen, Knochenzellen, Sehnenzellen, rote Blutkörperchen der Fische, Amphibien, Reptilien und Vögel, glatte und quergestreifte Muskelfasern lassen beim erwachsenen Tier Kernteilungsfiguren fast vollständig vermissen. Die Ganglienzellen mit ihren großen bläschenförmigen Kernen teilen sich überhaupt nicht mehr; ja selbst die Eizelle hat in der Periode, wo sie im Ovarium ein Sitz gesteigerter nutritorischer Vorgänge geworden ist und Dottermaterial in sich aufspeichert, die Fähigkeit zur Teilung vorübergehend vollkommen verloren. Auch ihr Kern hat als Keimbläschen eine Beschaffenheit angenommen, die ihn besonders in den dotterreichen Eiern der Fische, Amphibien, Reptilien und Vögel zur Teilung ganz ungeeignet macht, Er muß daher auch, nachdem die Wachstumsperiode beendet ist, und bevor mit der Bildung der Polzellen die Vermehrungsperiode wieder neu beginnt, einer teilweisen Auflösung und vollständigen Umbildung unter- worfen werden. So scheint offenbar der ganze Stoffwechsel einer Zelle, wenn er in einseitiger Weise für eine spezifische Tätigkeit gesteigert ist, ihr Vermögen zur Fortpflanzung in ungünstiger Weise zu beeinflussen, es entweder ganz zu unterdrücken oder wenigstens zu schwächen. Wenn auch nicht in der ausgesprochenen Weise, wie bei den Pflanzen, bleibt das Wachstum vieler Organe bei den Tieren gleichfalls nur auf besondere Lagen von Zellen mit embryonalem Charakter beschränkt, so auf das Stratum cylindricum in der Tiefe der Epidermis, auf die Haarzwiebel, auf Gruppen von Ersatzzellen im Zylinderepithel des Darmes, auf die Östeoblasten des Periosts, auf Zellen des Perichondrium, auf die Neubildungsstätten von Lymph- und Blutkörperchen in den Lymphfollikeln und im roten Knochenmark. Zu den beiden schon besprochenen Momenten gesellt sich endlich noch ein drittes hinzu. Ist doch mit jeder Organisation und dem auf ihr begründeten Maße von Leistungen auch ein gewisser Nachteil ver- bunden. Und dieser besteht in einer Abnahme der Anpassungs- fähigkeit. Durch die Bildung von Organen und Geweben, die nur für bestimmte Funktionen eingestellt sind, wird der Lebensprozeß in feste Bahnen gelenkt. Er muß sich in ihnen in stets gleich bleibender Weise Tod und Verjüngung. 253 abspielen, wie bei einer zusammengesetzten Maschine das ganze Getriebe seinen gleichmäßigen, aber auch unabänderlichen Gang geht, wenn alle Teile ihre ursprüngliche Form und Anordnung in unbeschädigter Weise beibehalten und von außen keine störenden Momente auf sie einwirken. Kein schöneres und überzeugenderes Beispiel gibt es wohl hierfür, als der gebildete Mensch mit seiner geistigen Tätigkeit. Im reifen Mannes- alter erreicht er, geübt durch langjährige Schulung in Denkprozessen und ausgerüstet mit der größten Summe von Kenntnissen und Er- fahrungen, wohl das höchste Maß geistiger Leistungsfähigkeit. Aber unter der Gewöhnung an bestimmte Gedankenrichtungen, bei der Aus- übung einseitig gesteigerter Geistestätigkeit und aufgewachsen in den Überlieferungen und den Gedankenkreisen seiner Zeit, verliert er all- mählich auch die Aufnahmefähigkeit und zum Teil auch das vorurteils- lose Verständnis für neue Wandlungen auf geistigem Gebiete, für Fort- schritte in Wissenschaft, Kunst und Technik, für soziale und politische Neuerungen. So bleibt er in bestimmten Richtungen hinter jugend- lichen, in Entwicklung begriffenen Geistern zurück, die noch mit größerer Empfänglichkeit das Neue in sich aufnehmen und eventuell als Grundlage weiterer Fortschritte für sich verwerten. Daher erscheint es begreiflich, daß, wer als Reformator auf irgendeinem Gebiet zu wirken sich berufen fühlt, vor allen Dingen die Jugend als die bestimmenden Männer der Zukunft für sich zu gewinnen sucht. In ähnlicher Weise ist schließlich überall im Reich der Lebewesen die noch werdende Organisation der schon fest gewordenen überlegen. Nicht nur ist sie schon an sich berufen, einmal im Wechsel der Generationen an ihre Stelle zu treten, sondern sie kann sich auch, gerade weil sie sich noch entwickelt, den Bedingungen der Außenwelt stets wieder aufs neue anpassen. In der Keimzelle ist ja nur die Anlage für den vielzelligen Organismus gegeben, das heißt etwas, das nach vorausbestimmten Grundzügen erst durch den Entwicklungsprozeß aus- geführt werden soll. Auszuführende Teile aber sind leichter Veränderungen zugänglich als die bereits fertig gebildeten. Dort hat man es gleichsam noch mit flüssigen, hier mit schon erstarrten Zuständen der lebenden Substanz zu tun. Während der Entwicklung kann sich das Prinzip der Korrelation der Teile in viel höherem Grade Geltung verschaffen als beim ausgebildeten Organismus. Bei diesem wird die funktionelle Ver- änderung eines Organs viel schwieriger auch zu angepaßten Verände- rungen an anderen Organen, die zu ihm in Beziehungen stehen, führen. Dagegen wird jede Veränderung, welche eine Keimzelle er- 254 Sechstes Kapitel. fahren hat, durch den Teilungsprozeß ein Gemeingut aller Zellen des aus ihr entstehenden Organismus. Daher bietet der Entwicklungsprozeß aus Keimzellen die beste Gelegenheit, sowohl alle Organe und Gewebe des werdenden Organismus untereinander als auch zu den herrschenden Bedingungen der Außenwelt immer von neuem wieder in Einklang zu bringen. Wie große Unterschiede in der Form von Lebewesen der gleichen Art auf diesem Wege durch Entwicklung unter verschiedenen Bedin- gungen hervorgerufen werden können, werden uns noch die im achten Kapitel zu besprechenden Standorts- und Ernährungsmodifikationen bei Pflanzen und bei Tieren lehren. So dient im großen Haushalt der Natur der allmächtige Tod, indem er die Organismen, welche der Lebensprozeß aus den Artzellen hervorgebracht hat, nach unabänder- lichem Gesetz und nach Vollendung ihrer Zeit auch wieder ausnahmslos vernichtet, mit als ein unentbehrliches und wichtiges Mittel zum Fortschritt der Organismenwelt. Er schafft erst die Möglichkeit, daß im Wechsel der hinsterben- den Generationen die aus ihren Keimen neu entstehenden Organismen sich bei ihrem Werdeprozeß den Daseinsbedin- gungen stets wieder neu und in vollkommenerer Weise all- mählich und kaum wahrnehmbar anpassen Können. v Von unserem Standpunkt aus betrachtet spielen somit der Tod und der ihm als Ergänzung zugesellte Verjüngungsprozeß der Lebewesen eine Rolle im Gesetz der Entwicklung, die DArwın dem Kampf ums Dasein und der Selektionstheorie mit ihrer negativen und positiven Aus- lese zugeschrieben hat. Daher dürfte es am Schluß des Kapitels nicht überflüssig sein, obwohl wir uns mit der DArwınschen Theorie erst später beschäftigen werden, schon jetzt kurz (Kap. XIV und XV) auf den Unterschied aufmerksam zu machen, der zwischen der hier vorgetragenen Auffassung von der Bedeutung der Generationsfolge für das Werden der Organismen und der Auffassung der Darwınschen Schule besteht. Nach unserer Ansicht ist das nach dem Naturgesetz erfolgende Absterben der Organismen und ihr Ersatz durch verjüngte Generationen schon an sich ein stets wirksames und allgemeines Mittel, um die Eigenschaften der Art allmählich und sicher zu verändern ; es vermag sowohl die vorher einfachere Organisation komplizierter und leistungsfähiger zu machen, als auch umgekehrt vermag es wie beim Parasitismus und infolge des auch sonst noch häufig vorkommenden Nichtgebrauchs von Organen, die einmal unter anderen Bedingungen tätig gewesen sind, früher vorhanden gewesene Organisationen wieder zu vereinfachen oder auch ganz zu zer- Tod und Verjüngung. 255 stören. Denn in jeder Ontogenese bauen sich ja die jungen Lebewesen, die zum Ersatz der alten dienen, aus ihren Artzellen durch das Zusammen- wirken von inneren und äußeren Faktoren periodisch wieder neu auf; sie erhalten so Gelegenheit, vermöge der größeren Reaktionsfähigkeit embryonaler Zellen sich der Umwelt vollkommener anzupassen, als es der ausgebildete und starr gewordene Organismus vermag (vgl. Kap. IV). Für die Richtigkeit dieser Auffassung ist die ganze experimentelle Ent- wicklungslehre ein fortlaufender Beweis. DARwıIn hat die der Generationsfolge schon an und für sich zu- kommende, allgemeine Wirkung nicht erkannt und unberücksichtigt gelassen. Dagegen hat er an ihre Stelle, veranlaßt durch die Lehre von MALTHUS, zur Erklärung der Veränderung und Anpassung der Orga- nismen an ihre Umwelt das Prinzip der natürlichen Zuchtwahl und die Zufallstheorie gesetzt. Die Frage nach der Berechtigung seiner Auffassung wird uns eingehender erst in dem XV. Kapitel beschäftigen. Siebentes Kapitel. Das System der Organismen. Der Speziesbegriff. In den zahlreichen Schriften, die über die Deszendenztheorie und die mit ihr zusammenhängenden Fragen seit 70 Jahren erschienen sind, steht der Speziesbegriff fast ausnahmslos im Mittelpunkt der Darstellung. Trägt doch das Hauptwerk, durch das der Entwicklungsgedanke wieder zu allgemeiner Geltung in unserer Zeit gebracht worden ist, in bezeichnen- der Weise den Titel: ‚On the origin of species“. Warum hat DARWIN anstatt über die Entstehung der Arten nicht über die Entstehung der pflanzlichen und tierischen Organismen oder über das Werden der Orga- nismen geschrieben, in der Weise, wie es die alten Evolutionisten, wie es C. FR. WOLFF in seiner Epigenesis, wie es BUFFON und ÖKEN, oder in unserer Zeit NÄGELI getan haben ? Die von Darwın getroffene Wahl des Titels ist gewiß keine zufällige gewesen, sondern wurde durch seine ganze Forschungsrichtung und die ihn hauptsächlich bewegende Ideenwelt bestimmt. , DARWIN war vor- wiegend Systematiker. Anatomie und Physiologie haben als gesonderte Spezialzweige der Biologie sein Interesse zu allen Zeiten weniger in Anspruch genommen. Dagegen hatte er sich durch seine ausgesprochene Neigung zum Sammeln von Pflanzen und Tieren und durch eine metho- disch geschärfte Beobachtungsgabe auf seiner Reise um die Welt einen umfassenden Überblick über die vielgestaltige Lebewelt, über ihre Ver- breitung in den verschiedenen Ländern und Meeren, über ihre ver- schiedenartigen, sehr verwickelten ökologischen Beziehungen zueinander und zu ihrer Umgebung verschafft und daraus die Anregungen zu der wissenschaftlichen Haupttat seines Lebens erhalten. Denn wie er selbst in einem Brief uns erzählt, waren es drei Klassen von Erscheinungen, welche beim Besuch von Südamerika einen tiefen Eindruck auf ihn Z > ver, Der Speziesbegriff. 257 machten: erstens die Art und Weise, in welcher nahe verwandte Spezies einander vertreten und ersetzen, wenn man von Norden nach Süden geht; zweitens die nahe Verwandtschaft der Spezies, welche die Süd- amerika nahe gelegenen Inseln bewohnen, mit denen, welche diesem Festland eigentümlich sind. Namentlich fiel ihm hierbei auf, daß die Lebewelt der kleinen Inseln des Galapagos-Archipels zwar in ihrem allgemeinen Grundcharakter mit derjenigen Südamerikas übereinstimmt, aber doch ein durchaus eigenartiges Lokalgepräge trägt und außerdem auch von Insel zu Insel lokale Modifikationen erkennen läßt. Drittens setzte ihn bei Durchforschung der Pampas von Südamerika die nahe _ Beziehung der lebenden Edentaten zu den ausgestorbenen Arten in Erstaunen. ‚Als ich über diese Tatsachen nachdachte und einige ähnliche Erscheinungen damit verglich“, bemerkt DaRrwıN hierzu, ‚schien es mir wahrscheinlich, daß nahe verwandte Spezies von einer gemeinsamen Stammform abstammen könnten.“ Die drei angeführten Klassen von Erscheinungen gehören aber der Systematik und der Ökologie der Organismen an. Auch LAMARCcK, der große Vorgänger von DARWwIN, ist bei seinen Erörterungen über die Ent- stehung der Organismen in seiner Philosophie zoologique hauptsächlich von systematischen Erwägungen geleitet worden. Sein wissenschaftliches Arbeitsfeld ist ebenfalls die Systematik der Pflanzen und wirbellosen Tiere mit Inbegriff der Paläontologie gewesen. Auch seine Theorie handelt von der Abstammung der gegenwärtig lebenden von ausge- storbenen und meist einfacher gebauten Arten. Da der Speziesbegriff eine so große Rolle bei der Frage nach der Entstehung der Lebewesen seit 100 Jahren gespielt hat, nehme ich ihn zum Ausgangspunkt unserer weiteren Betrachtungen. Der Artbegriff ist gleich den übrigen systematischen Kategorien: Gattung, Familie, Ordnung, Klasse, Stamm, eine reine Abstraktion, die wir uns durch Vergleichung der uns umgebenden Lebewesen gebildet | haben. Sie wird von uns in mehr oder minder bewußter Absicht aus- geführt und muß ausgeführt werden, um uns über die Naturobjekte | durch ihre nähere Bestimmung oder Spezifizierung verständigen und ‚| durch Einteilung in kleinere oder größere Gruppen in bequemer und rascher Weise orientieren zu können. Die systematische Bestimmung | wird methodisch in der Wissenschaft, unbewußt aber auch seit Urzeiten | vom Volksdenken, wenn ich diesen Ausdruck gebrauchen darf, aus- | geübt. Daher sind denn auch sehr viele systematische Begriffe so alt, wie überhaupt die Kultur des Menschengeschlechts. Das System aber bildet nicht nur in der Biologie, sondern in gleicher Weise auch in vielen O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl. 17 258 Siebentes Kapitel. anderen Wissenschaften (System der chemischen Elemente, der orga- nischen Verbindungen etc.) eine notwendige Grundlage und ein wichtiges unentbehrliches Hilfsmittel der Forschung. Insofern die Bezeichnungen: Art, Gattung, Familie etc., nur durch vergleichendes Denken gewonnene Abstraktionen sind, haben sie keine reale Existenz; sie sind daher auch nicht selbst Objekte direkter wissenschaftlicher Beobachtung. Solche sind vielmehr nur die einzelnen lebenden Individuen. Durch ihr Studium, durch ihre Bestimmung (Spezifikation) sind wir zur Aufstellung des Artbegriffes gelangt, von welchem wir durch methodisches Denken dann weiter zu den allge- meineren Begriffen der Gattung, Familie etc. geführt werden. Ich habe diese Erörterung gleich an den Anfang des Kapitels gestellt, weil ich es für wichtig halte, über diesen Punkt wegen mancher aus ihm sich weiter ergebenden Konsequenzen Klarheit zu schaffen. Denn in der Tat ist die Spezies schon häufig als etwas Reales erklärt oder wenig- stens unbewußterweise so behandelt worden. Daher scheint es mir auch nicht überflüssig zu sein, darauf hinzuweisen, daß die von mir entwickelte Auffassung von Forschern geteilt wird, die auf so verschiedenen Stand- punkten, wie WIGAND, Lovıs Acassız und HAECKEL, stehen). „Wie das Klassifikationssystem‘“‘, bemerkt WıGAnD, „tatsächlich in der Wissenschaft zustande gekommen ist, und soweit unsere er- fahrungsmäßige Kenntnis reicht, ist es nichts anderes als eine Abstraktion der gemeinsamen Merkmale von einzelnen Gegenständen und speziellen Begriffen zu immer allgemeineren Begriffen aufsteigend.‘‘ Er bezeichnet es daher ganz richtig als ein „logisches Produkt‘. In seinem Essay of classification erklärt L. Acassız: ‚What really exists, are individuals, not species. We may, at the utmost, consider individuals as represen- tatives of species; but no one individual nor any number of individuals represents its species only, without representing also at the same time, as we have seen above, its genus, its family,its order, its class, its branch.“ „No one nor all of them represent fully, at any particular time, their species, inasmuch as each species exists longer in nature than any of its individuals.“ ‚The species is an ideal entity, as much as the genus, 1) Lamarck, Jean, Philosophie zoologique, 1809, in deutscher Übersetzung von A. Lang: Zoologische Philosophie, 18706. — Agassiz, L., Essay on classification. London 1859. — Haeckel, E., Generelle Morphologie. Bd, II, 1806, ß. 323. — Wigand, Albert, Der Darwinismus und die Naturforschung Newtons und Cuviers. 1874. — Lotsy, I, P., Vorlesungen über Descendenstheorieen mit besonderer Berück- sichtigung der botanischen Seiten der Frage. Jena 1906. — Plate, L., Prinzipien der Systematik mit besonderer Berücksichtigung des Systems der Tiere. Die Kultur der Gegenwart. Teil II, Abteil. 4, Bas IV, 1914. — De Vries, Hugo, Die Muta- tionstheorie. Bd. /, 1901, Bd. //, 1003. ; Der Speziesbegriff. 259 the family, the order, the class, or the type; it continues to exist, while its representatives die, generation after generation.“ Nicht minder wendet sich auch HAECKEL, der sonst in seiner ganzen Auffassung so ausgesprochener Gegner von AGAssız und WIGAND ist, gegen das Dogma von der realen Existenz der Spezies, gegen diesen Grundirrtum, der von der großen Mehrheit aller Zoologen und Botaniker noch heute geteilt werde. Nach seinem ‚Dafürhalten muß jede einiger maßen in die Tiefe des Speziesbegriffes eindringende Untersuchung als- bald zu der klaren Überzeugung führen, daß die Spezies nicht minder ein 'bloßer Begriff, eine ideale Abstraktion ist, als die höheren über- geordneten Begriffe: Genus, Familie, Ordo etc.“ Aus dieser Sachlage ergibt sich dann aber weiter: Wenn der Spezies- begriff und die anderen übergeordneten Begriffe des Systems nur Ab- straktionen sind, so sind sie auch je nach dem Maß der Erfahrungen und der sich an sie anschließenden Urteilsbildung der Veränderung unter- worfen. Dies lehren in unzweideutigster Weise nicht nur der Wechsel, den im Laufe der Zeiten die botanischen und zoologischen Systeme erfahren haben, sondern ebenso auch die endlosen Streitigkeiten, die über den Speziesbegriff bei der Aufstellung und Abgrenzung mancher Arten von den Systematikern geführt worden sind. So spiegelt sich bis zu einem gewissen Grade in dem zeitweilig herrschenden System das Maß der wissenschaftlichen Kenntnis ab, welche wir von der Orga- nismenwelt gewonnen haben. Ein absolutes System und ein absoluter Speziesbegriff ist nur denkbar, wenn unsere Erforschung der Lebewesen vollendet und zum Abschluß gekommen ist; denn dann würde ein jedes Einzelindividuum die richtige, ihm entsprechende Stellung zum Ganzen angewiesen erhalten haben. Wie im Kapitel über Variabilität begründet werden wird, sind die unter dem Begriff der Art zusammengefaßten Einzelwesen bis zu einem gewissen Grade variabele Größen. Dadurch aber, daß diesem Umstand bei der Definition Rechnung getragen und Umfang und Art der Varia- bilität gleichsam mit unter die Speziesmerkmale aufgenommen wird, erhält der Artbegriff eine festere Abgrenzung und den Charakter der Kon- stanz. Mit Recht kann dann der Systematiker die Behauptung auf- stellen, daß unter Berücksichtigung der Variabilität die Repräsentanten einer Art im Laufe vieler Generationen und während vieler Jahrhunderte, soweit historische Dokumente vorliegen, den Charakter der Beständigkeit an sich tragen. An derselben kann der Systematiker mit Recht auch aus’ der Erwägung festhalten, daß für eine Systembildung und Spezi- fikation nur der gegenwärtige Zustand der Organismenwelt in Frage ar 260 Siebentes Kapitel. kommen kann, da wir nur über sie das erforderliche Maß von Kenntnis besitzen. Auch wird nur für sie ein wirkliches Bedürfnis nach einer . wissenschaftlichen Orientierung empfunden. Wie würde sich überhaupt eine Systembildung durchführen lassen, wenn die Repräsentanten einer Art nicht unter einen einheitlichen Begriff, aus dem sich die systematische Artkonstanz ergibt, gebracht werden könnten ? So wird es denn verständlich, daß die Systematiker von Fach mit so großer Zähigkeit und in gewissem Sinne auch mit Recht an der Kon- stanz der Arten, wie sie sagen, festhalten. Verständlich wird auch die Behauptung CuvIErs: „Die Beständigkeit der Spezies ist eine notwendige Bedingung für die Existenz der wissenschaftlichen Naturgeschichte.‘ Um eine bestimmte Definition, eine wirkliche Spezifikation eines Lebe- wesens aufzustellen, muß die Möglichkeit zu einer solchen in dem Vor- handensein spezifizierbarer Merkmale gegeben sein. Ferner liegt es auf der Hand, daß die Speziesbestimmung nur insofern von Wert ist, als sie für die Naturforscher, zumal aber für die Systematiker, auch etwas. Bindendes enthält, also gewissermaßen für andere legislatorisch wirkt. Nur unter solchen Umständen erfüllt sie ihren Zweck, zum wissen- schaftlichen Verständnis und zur Orientierung zu dienen, während sie sonst einem Gesetz gleichen würde, das niemand befolgt und daher in Wirklichkeit kein Gesetz mehr ist. Nachdem ich so meinen Standpunkt der Speziesfrage gegenüber im allgemeinen bestimmt habe, gehe ich noch etwas näher auf die Schwie- rigkeiten ein, die aus leicht verständlichen Gründen eine wissenschaftliche Fassung und Begrenzung des Speziesbegriffes bis in unsere Zeit den Naturforschern bereitet hat. Der große Reformator der wissenschaftlichen Systematik, LInNE, der Begründer der binären Nomenklatur, konnte, indem er dem religiösen Vorstellungskreis seiner Zeit folgte, an das Dogma der biblischen Schöpfungsgeschichte bei der Definition der Art anknüpfen. So fand er keine Schwierigkeit, wenn er erklärte: „Species tot numeramus, quot diversae formae sunt creatae‘“. Das heißt: die zahllosen Generationen von Individuen, die von einem ersten Schöpfungspaar abstammen, machen in ihrer Gesamtheit eine Art im System aus. Die Definition Linn&s erscheint klar, logisch und einfach. Wenn wir unter Voraussetzung der Mosaischen Schöpfungshypothese die Abstammung von allen Lebe- wesen wüßten, würden wir ihre verschiedenen Arten leicht und scharf voneinander abgrenzen können. Da indessen die einzelnen Lebewesen keine Urkunde über ihre Abstammung von einem ersten Schöpfungspaar bei sich tragen, so ist das in Linn&Es Ausspruch enthaltene Kriterium Der Speziesbegrift. 261 für den zu entscheidenden Spezielfall rein illusorisch und in der Tat auch niemals für den Systematiker, und auch für LinnE selbst nicht, ein Einteilungsgrund gewesen. Das Verhältnis hat sich vielmehr in praxi zu allen Zeiten so gestaltet, daß Lebewesen, die eine Summe überein- stimmender Merkmale untereinanderdarboten, zu einer Spezies zusammen- gefaßt wurden. Es war daher die wichtigste Aufgabe für den Syste- matiker, nach den besonders in die Augen springenden, spezifischen Merkmalen zu suchen, die sich für eine kurze, den systematischen Zweck ' erfüllende ‚Artdiagnose‘ verwerten ließen. Was aber sind spezifische Merkmale, die das Wesen einer Art aus- machen ? Hier erheben sich gleich nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Denn auf Gleichheit der Organisation und der äußeren Erscheinung läßt sich die Artdiagnose nicht einschränken. Schon durch den weitver- breiteten Dimorphismus der Geschlechter wird der Systematiker zu einer weiteren Fassung der spezifischen Merkmale genötigt. Mit Rücksicht auf die geschlechtliche Zeugungmuß er unterdieselbe Art Lebewesen einordnen, die in ihrem äußeren und inneren Bau zuweilen in rein formaler Hinsicht größere Unterschiede darbieten, als Repräsentanten von zwei scharf getrennten Arten oder Gattungen oder selbst Familien. Ich verweise nur auf die Unterschiede, die zwischen Hirsch und Hirschkuh, zwischen Hahn und Henne, zwischen männlichem und weiblichem Pfau oder auf die noch sehr viel größeren Unterschiede, die zwischen weiblichen Rota- torien, Gephyreen und Cirripedien und den zu ihnen gehörenden Zwerg- männchen bestehen. Hieraus folgt, daß für die Feststellung des Art- begriffes die Ähnlichkeit der Individuen allein nicht ausreicht, daß viel- mehr noch ein zweiter Bestimmungsgrund hinzutreten muß. Dieser aber ist die schon von Lınn£ in den Vordergrund gestellte Abstammung, wenn auch nicht vom ersten Schöpfungspaar, so doch von artgleichen Eltern. Man ging hierbei von dem auf Erfahrung be- ruhenden Grundsatz aus, daß Eltern nur Kinder ihresgleichen hervorbringen oder, wie es auch heißt, daß Art nur wieder Art erzeugt. Unter dieser Voraussetzung kann der Artbegriff auch Formen, die einander sehr unähnlich sind, unter sich vereinen. Der Systematiker sieht sich durch die Verhältnisse gezwungen, entweder formal verschiedene Individuen als spezifisch zusammengehörig zu er- klären oder, was schließlich dasselbe ist, die spezifischen Artmerkmale auf zwei resp. mehrere Individuen zu verteilen, so daß nur zwei oder drei oder mehrere Einzelindividuen in ihrer begrifflichen Vereinigung das Wesen der Art vollständig repräsentieren. ' Die Spezies ist eben, wie sich hier deutlich zeigt und schon früher betont 262 Siebentes Kapitel. wurde, eine Abstraktion, ein Kollektivbegriff; reelle und wirkliche Objekte der Forschung sind nur die einzelnen Lebewesen. Der Speziesbegriff gründet sich also auf der Feststellung spezifischer Merkmale und einer Abstammung von gleich- artigen Eltern. In dieser Weise wird er denn auch zu verschiedenen Zeiten und von den verschiedensten Forschern definiert. Schon vor 100 Jahren erklärte LAMARcK: ‚Man hat Art jede Gruppe von ähnlichen Individuen genannt, welche von anderen, ihnen ähnlichen Individuen hervorgebracht werden.‘ Ebenso äußert sich auch WIGAND (l. c. p.'28) über den Artbegriff: ‚Wir nennen Spezies jeden Formenkreis, welcher eine gemeinsame, von anderen Spezies verschiedene Abstammung hat.“ Ergänzend fügt er zu dieser Definition noch hinzu, daß dieser Formen- kreis durch einen bestimmten (in der Regel die gesamten Gestalts- und Organisationsverhältnisse beherrschenden) Charakter ohne Übergänge zu anderen Formenkreisen scharf umschrieben ist, — daß sein Charakter unter verschiedenen Lebensverhältnissen, sowie im Verlaufe der Gene- rationen, soweit wir überblicken können, gleich bleibt und durch künst- liche Einwirkung nicht in den Charakter eines anderen Formenkreises umgewandelt werden kann; — daß „seine einzelnen Individuen sich untereinander fruchtbar kreuzen, mit den Individuen einer anderen Spezies sich aber nicht vollkommen fruchtbar kreuzen lassen“. Noch ausdrücklicher als WIGAND u. a. hebt HAECKEL in seiner Generellen Morphologie (p. 334) hervor, daß der Speziesbegriff nicht eine einzige Form, sondern eine ganze Entwicklungsreihe verschiedener Formen umfaßt, nämlich den Zeugungskreis, die Formenkette, die das Individuum vom Moment seiner Entstehung an bis zu seinem Tode durchläuft. Seine kurz gefaßte Definition lautet (l. c. p. 353): „Die Spezies oder organische Art ist die Gesamtheit aller Zeugungskreise, welche unter gleichen Existenzbedingungen gleiche Formen besitzen.“ Wie hat sich, wenn wir so verfahren, der Speziesbegriff im Laufe von 100 Jahren dank der großen Fortschritte der Entwicklungslehre vertieft und ist dabei zugleich in hohem Maße abstrakter geworden ? — Ein kurzer Vergleich wird uns den hier eingetretenen Wandel vergegen- wärtigen und auch noch die Grundlage für einige weitere wichtige Fest- stellungen verschaffen. Zu Lisx£s Zeit und überhaupt, solange das Dogma der Präformation herrschte, war der Repräsentant der Art der in allen seinen Merkmalen ausgebildete Organismus; er sollte ja bereits schon im Ei, wenn auch in unendlich verkleinertem Maßstab, enthalten sein. Auf ihn war das Interesse des Systematikers allein konzentriert. Er war der ausschließliche Gegenstand der Sammlungen‘, der Herbarien ! Der Speziesbegrifi. 263 in der Botanik, der Museen in der Zoologie. Dagegen stellt jetzt, wie wir auf Grund der Entwicklungslehre wissen, der ausgebildete Organismus nur eine einzelne Phase in der Entwicklung des pflanzlichen und des tierischen Individuums und daher auch der Spezies dar. Ihm ist eine lange Serie anderer Zustände vorausgegangen, in denen der Repräsentant der Art in ganz anderen Formen als im Endzustand uns entegentritt. Dabei wandeln sich die aufeinander folgenden Formen, die am Anfang einfacher als später beschaffen sind, kontinuierlich die eine in die andere um und erhalten in einer gesetzmäßigen Weise, nach einem im voraus feststehenden Gesetz, eine immer komplizierter werdende Beschaffenheit. Am Anfang der Entwicklung aber wird im Falle geschlechtlicher Differenzierung die Spezies durch die Ei- und die Samenzelle repräsentiert. Durch die Vereinigung von beiden während der Befruchtung wird der Grund für ein neues Individuum der gleichen Art gelegt. Welcher Kon- trast besteht hier zwischen Anfang und Ende des Entwicklungsprozesses, zwischen befruchtetem Ei und dem fertiggebildeten Organismus? Und trotzdem sind Ei- und Samenzelle ebensogut in vollstem Maße die Re- präsentanten der betreffenden Art, wie der aus ihnen entstandene fertige Organismus. Denn ebenso wie von der Gültigkeit des Fallgesetzes, sind wir auf Grund unzähliger Erfahrungen von der absoluten Gesetzmäßigkeit der Tatsache überzeugt, daß aus einem befruchteten Ei einer besonderen Pflanzen- und Tierart nur ein Organismus von genau der gleichen Art sich entwickeln kann. Diese ursächlichen Beziehungen zwischen Anfangs- und Endzustand einer Ontogenese habe ich als das ontogenetische Kausal- gesetz, das schon im III. Kapitel (S. 68) besprochen worden ist, be- zeichnet und habe aus ihm folgenden, für den Artbegriff und für die Klassifikation des Organismenreichs wichtigen Schluß gezogen: Wenn wir eine genaue Kenntnis von der Organisation der Artzellen, besonders von den unterscheidenden Merkmalen ihres Idioplasma, besitzen würden, so müßten wir schon allein auf Grund derselben, ausgehend vom Stadium der befruchteten Eizelle, eine Klassifikation des Tierreiches vornehmen können. Wahrscheinlich würden wir sogar besser als heute auf Grund der ausgebildeten Formen einteilen. Wir würden auf diesem neuen Wege ebensogut weitere und engere Kreise bilden und nach ihrer größeren oder geringeren idioplasmatischen Ähnlichkeit die Keimzellen in Stämme, Klassen, Ordnungen, Familien, Arten, Unterarten etc. einteilen müssen. Alle Organismen sind also schon am Beginn ihrer Ontogenese, schon im „einfachen Zellenstadium‘‘ durch Stammes-, Klassen-, Ordnungs-, Familien-, Arten- und Individualcharaktere ebensogut wie später, nur in anderer Weise voneinander unterschieden. 264 Siebentes Kapitel. Was von den Keimzellen am Anfang der Entwicklung, gilt selbst- verständlicherweise genau ebenso von allen nachfolgenden Stadien des ganzen Entwicklungsprozesses; sie sind gleichfalls durch und durch art- gemäß oder spezifisch gestaltet, teils in der für uns nicht wahrnehmbaren Organisation der Anlagesubstanz, teils aber auch in sichtbaren Merk- malen, die schließlich jedes Entwicklungsstadium, wenn es mit einem entsprechenden artfremden genau verglichen wird, dem schärfer beob- achtenden Forscher darbietet: der Furchungsprozeß, der Verlauf der Gastrulation, die Anlage jedes einzelnen Organes, die Gestaltung der Eihüllen, der Placenta und anderer larvaler Charaktere. Auf Grund des ontogenetischen Kausalgesetzes verliert der Streit der über die größere oder geringere Ähnlichkeit einzelner Embryonal- stadien von verschiedenen Wirbeltieren im Hinblick auf ihre Phylogenie geführt worden ist, von vornherein, die prinzipielle Bedeutung, welche ihm beigelegt worden ist. Denn mögen gewisse embryonale Stadien des Menschen, eines Affen, eines tiefer stehenden Säugetieres oder gar eines Reptils sich äußerlich noch so ähnlich sehen, daß der ungeübte Beob- achter sie miteinander verwechseln könnte, so sind sie in ihren Artmerk- malen, mögen dieselben für uns nachweisbar oder als Anlagen, die erst später manifest werden sollen, unserem Auge noch verborgen sein, doch schon ebensosehr voneinander verschieden, wie im entwickelten Zustand. Die systematische Verwandtschaft ist hier wie dort genau dieselbe. Der menschliche Embryo steht dem Affenembryo nicht näher als der ausgewachsene Mensch irgendeiner ausgebildeten Affenspezies. Wie für den Laien, ist es nicht minder für den Biologen zurzeit unmöglich, sich eine genauere Vorstellung darüber zu bilden, wie der Ursachenkomplex für die in der Entwicklung entstehende, komplizierte Formenreihe, wenn wir von den hinzutretenden, notwendigen äußeren Bedingungen absehen, in einer Zelle enthalten sein kann. Die Denk- schwierigkeit wird noch erhöht, wenn man berücksichtigt, daß in den gewöhnlichen Fällen des sexuellen Dimorphismus das befruchtete Ei eine doppelte Anlage entweder für die weibliche oder die männliche Entwicklungsreihe darstellt, und daß irgendeine meist schon früh auf- tretende Ursache den Anstoß gibt, ob aus demselben Anfangsstadium die männliche oder die weibliche Form mit ihren oft weit voneinander abweichenden, inneren und äußeren Geschlechtscharakteren hervorgeht. Und auch damit ist die Komplikation des so schwierig vorstellbaren Verhältnisses noch nicht erschöpft. Wie bekannt, zeichnen sich manche Tierarten, wie Bienen, Ameisen, Termiten, durch einen Polymorphismus Der Speziesbegriff, 265 der Individuen aus., Das heißt: Außer den beiden geschlechtlich differen- Mi zierten Individuen kann noch eine dritte, vierte und fünfte abweichend gebaute Form vorkommen, so daß die von einer gemeinsamen Mutter abstammenden Eier mit drei-, vier- oder fünffachen Anlagen von vorn- herein ausgestattet sind. Aus den Eiern einer Bienenkönigin können wieder Königinnen oder Drohnen oder Arbeiterinnen mit ihren beson- deren Merkmalen hervorgehen. In manchen Ameisenstaaten sind Ar- ‚beiterinnen, die wahrscheinlich verschiedene Funktionen zu erfüllen haben, in drei verschiedenen Formen und von sehr verschiedener Größe aufgefunden worden (Fig. IIo). Und bei den Termiten kommen außer den Geschlechtstieren zwei geschlechtslose, häufig auch blinde Formen mit verkümmerten Genitalorganen vor, teils Arbeiterinnen, teils Soldaten, von denen sich die letzteren durch die ganz besondere Größe ihres Kopfes und durch kräftig entwickelte Mandibeln vor den übrigen auszeichnen. | Endlich nimmt der Zeugungskreis bei vielen Pflanzen und Tieren _ noch eine verwickeltere Beschaffenheit an, wenn er mit einem Generations- wechsel verbunden ist. Vom befruchteten Ei führt die Reihe der Stadien anstatt direkt zu einer wieder geschlechtsreif werdenden Endform erst zu einer geschlechtslosen Zwischenform, die sich nur ungeschlechtlich durch Sporenbildung oder Knospung in zahlreiche neue Individuen _ vermehrt. Erst diese zweite oder zuweilen auch erst die dritte auf vege- tativem Wege entstandene Generation produziert wieder Geschlechts- organe. Sie ist gewöhnlich von der aus dem Ei entstandenen ersten Generation so verschieden gestaltet, daß die Systematiker vor der Ent- deckung des Generationswechsels durch STEENSTRUP die beiden zum Zeugungskreis einer Art gehörenden Formen als zwei Arten beschrieben und sogar unter verschiedene Familien des Systems eingeordnet haben. So wurden früher der aus dem Bandwurmei entwickelte Cysticercus _ cellulosae und die durch Knospung aus ihm entstehende Taenia solium vor Kenntnis ihres entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhanges als zwei verschiedene Parasiten, als Blasen- und als Bandwurm (Cysticercus und Taenia) mit besonderen Speziesnamen im System aufgeführt. Ent- ‚ wicklungsgeschichtlich zusammengehörige Formen aus der Ordnung der Hydromedusen (Fig. 37h u. m) wurden als gesonderte Arten auseinander- „gerissen und auf die Familien der Polypen und Medusen verteilt, bis ‚man ihre Zusammengehörigkeit als Glieder eines Generationswechsels erkannte. So mußten denn in der Ordnung der Hydromedusen die irr- _ tümlicherweise als verschiedene Spezies getrennten Glieder eines Gene- . rationswechsels wieder als zwei verschieden geformte Repräsentanten . einer Art zusammengezogen werden. Zum Hydroidenstöckchen Bou- 266 Siebentes Kapitel, gainvillea ramosa (Fig. 37) wurde die Medusenform Margelis ramosa (m) und ebenso, zu Campanularia Johnstoni das Phialidium variabile, zu Syncoryne die Tiara pileata, zu Eudendrium ramosum die Lizzia Köllikeri als geschlechtsreif werdende Form hinzugesellt usw. Wie aus diesen Beispielen hervorgeht, gehört zum vollen Verständnis des Artcharakters und zur erschöpfenden Begründung des Spezies- begriffes die Kenntnis des ganzen, in sich geschlossenen Zeugungskreises vom Ei bis wieder zum Ei der zu einer Art zusammen- gehörigen Individuen. Ein bota- nisches und zoologisches Mu- seum, welches den höchsten Ansprüchen der wissenschaft- lichen Systematik genügen soll, müßte daher, strenggenommen, nicht nur eine Sammlung aus- gebildeter Artrepräsentanten sein, wie es zurzeit der Haupt- sache nach der Fall ist, son- dern müßte von jeder Art auch noch eine Zusammenstellung ihrer wichtigsten, aufeinander folgenden Entwicklungsstadien geben. Es versteht sich ferner von selbst, daß zur wissen- schaftlichen Kenntnis der Spe- i zies auch eine vollständige Ana- Fig. 37. Bougainvillea ramosa nach 3 ALLMAN, mit knospenden Medusen. % Nähr- Iyse des anatomischen Baues polypen, 2% Medusenknospen, »zlosgelöstejunge bis in die mikroskopischen Meduse (Margelis ramosa), A” Hydrorhiza, Ac : Be eeufus. ö Details hinein sowohl von den ausgebildeten, wie von den sich entwickelnden Formen gehört. Denn Speziesmerkmale sind ebensogut den inneren, wie den an die Oberfläche hervortretenden Organen zu entnehmen, wenn man auch die letzteren aus leicht ver- ständlichen Zweckmäßigkeitsgründen, wie jetzt, so auch in Zukunft stets mehr berücksichtigen und bevorzugen wird. So erweitert sich der Speziesbegriff des Systematikers vergangener Zeiten zum wissenschaftlichen Speziesbegriff der Gegenwart. Er hängt also mit der ganzen biologischen Wissenschaft auf das engste zusammen und wird daher, solange diese in einer Der Speziesbegriff. 267 fortschrittlichen Richtung begriffen ist, sich gleichfalls vertiefen und den veränderten Verhältnissen angepaßt werden müssen. Somit ergibt sich schon aus der Natur der Dinge, daß der zu einer bestimmten Diagnose verdichtete Speziesbegriff kein absoluter ist, sondern Veränderungen erfahren muß entsprechend unserer fortschreitenden Einsicht in die wahre Natur der Lebewesen. Von dem allgemeinsten, wissenschaftlichen Standpunkt aus muß man daher dem Botaniker WıGAnD vollkommen beipflichten, wenn er in Beantwortung der gegen den Artbegriff erhobenen Einwürfe bemerkt: „Überhaupt erklärt sich der Mangel einer erschöpfenden und allgemein anerkannten Definition, abgesehen von der Einseitigkeit aller jener Versuche, schon daraus, daß dieselben, eben weil es nur Versuche sind, notwendig vorerst unvollkommen sein müssen. Man bedenke doch, daß die Aufstellung der endgültigen Definition eines Begriffes überhaupt das letzte Ergebnis von der Sen desselben ist und daher, wie die letztere, niemals fertig wird. Die Schwierigkeit bei der Aufstellung des Spezlecbegrikies beruht hauptsächlich darin, daß die meisten Organismen so ungemein zusammen- gesetzte und veränderliche Naturprodukte sind, veränderlich einmal, weil sie einem Entwicklungsprozeß unterworfen sind, veränderlich aber auch, weil sie auf alle Einwirkungen der Außenwelt in der verschiedensten Weise reagieren und sich an sie anzupassen imstande sind. Auf der einen Seite fassen wir die allerverschiedensten Lebensformen, die einander sehr unähnlich sind — Raupe, Puppe, Schmetterling, oder Nauplius, Zo&a, Krebs, oder Hydroidpolyp, Meduse etc. — unter dem Begriff ‚‚der gleichen Art‘ zusammen in allen Fällen, in denen ihre Zusammen- gehörigkeit durch ihre Entwicklung aus einem Ei nachgewiesen ist; wir fassen als eine Art ferner sehr abweichende Formen unter der Bezeichnung „Standorts- oder Lokalvarietäten‘‘ zusammen, wenn wir auf experimen- . tellem Wege die Umwandlung der einen in die andere durch Kultur unter veränderten Bedingungen jederzeit willkürlich hervorrufen können. Beispiele genug in dieser Richtung liefern uns die Alpenpflanzen, die aus Samen in der Ebene gezüchtet, ein ganz anderes Aussehen gewinnen, oder umgekehrt Pflanzen, die aus günstigen Bedingungen der Ebene in alpıne Verhältnisse versetzt werden (siehe Kap. VIII). Nach dieser Richtung hin ist der Naturforscher jetzt gewöhnt, das scheinbar Hetero- genste zusammenzufassen, weil für ihn die Entstehung aus ein und der- selben Keimzelle ein absolut gültiger Grund der Zusammengehörigkeit ist, der jeden Zweifel aufhebt. Auf der anderen Seite fehlt uns aber ein entsprechender Maßstab, 268 Siebentes Kapitel. wenn es gilt, die Artverschiedenheit zweier Lebewesen und vor allen Dingen den Grad derselben in einer streng wissenschaftlichen Weise festzustellen. Wie groß muß die Differenz der Merkmale, und was für Merkmale müssen es sein, um bei der Wahl der Bezeichnungen Varietät, Rasse, Unterart, Art, Gattung etc. den Ausschlag zu geben? In früheren Zeiten glaubten viele Forscher einen Maßstab in dem Verhalten der Lebe- wesen zueinander bei der Zeugung gefunden zu haben. Schon BUFFON äußerte seine Ansicht dahin, daß Lebewesen, die bei der Kreuzung mit- einander entweder keine oder unfruchtbare Nachkommen hervorbringen, zu verschiedenen Arten gehören; als Varietäten und Rassen dagegen bezeichnete er Individuen, die sich zwar in ihrer Form unterscheiden, aber, miteinander gekreuzt, vollkommen fruchtbare Nachkommen er- zeugen. Naturforscher wie CUVIER, nicht minder die Systematiker von Fach haben an dieser Auffassung lange Zeit festgehalten. So behauptete KNIGHT, wie ich aus Lotsys Vorlesungen über die Deszendenztheorie entnehme, es seien Artbastarde immer steril und fruchtbare Bastarde eo ipso Varietätsbastarde, und folgerte also: daß, „falls zwei angebliche Arten zusammen einen fruchtbaren Bastard liefern, dies zum Nachweis genügt, daß es sich nicht um Arten, sondern um Varietäten handelt‘. Wäre das Kriterium zutreffend, so wäre es ein außerordentlich zweckmäßiges, und man hätte die großen Schwierigkeiten, die sich seiner Verwertung bei der Bestimmung eines konkreten Falles in den Weg stellen, wohl schon in Kauf nehmen können. Aber leider ist das Kriterium nicht durchgreifend und darum für die Bestimmung der Abgrenzung der Arten nicht in allen Fällen ver- wertbar. Denn ob ein reifes Ei durch reifen Samen sich befruchten läßt oder nicht, hängt von einer Anzahl physiologischer Verhältnisse ab, die uns ihrem innersten Wesen nach noch unbekannt sind. So sind im Tier- und Pflanzenreich häufig auch Fälle beobachtet worden, in denen Eier durch Samen derselben Art nicht befruchtet oder, wenn befruchtet, nicht zu normaler Entwicklung gebracht werden können. Solche Fälle treten dann ein, wenn die beiderlei Keimzellen bei Hermaphroditen in ein und demselben Individuum, und besonders wenn sie sogar in ein ‚und derselben Zwitterdrüse entstanden sind. Bei manchen Pflanzen kann das im Fruchtknoten eingeschlossene Ei nicht durch den Pollen der zur selben Blüte gehörigen Staubfäden, oder bei hermaphroditen Tieren durch die Samenfäden der Zwitterdrüse (Ascidien) befruchtet werden. Inzucht oder zu nahe Verwandtschaft der Geschlechtsprodukte führt hier somit zu ganz ähnlichen Ergebnissen wie Bastardbefruchtung. Bei Bastardierungsversuchen verschiedener Arten untereinander Der Speziesbegriff. 269 finden sich alle möglichen Übergänge zwischen den beiden Extremen, I. der vollkommen erfolgreichen Vermischung, die zur Entstehung von Bastarden mit normaler Zeugungsfähigkeit führt, und 2. der absoluten Unmöglichkeit des artfremden Samens überhaupt nur in das Ei ein- zudringen, auch selbst in den Fällen, wo es wie bei Echiniden etc. mem- branlos ist und somit ein mechanisches Hindernis wohl ausgeschlossen werden kann. Zwischen beiden Extremen finden sich viele Übergangs- stufen. Man beobachtet regelrechte Befruchtung des Eies und Beginn der Teilung, die entweder sehr frühzeitig aufhört oder erst auf einem etwas späteren Stadium, häufig mit Eintritt der Gastrulation, zum Ab- sterben der Embryonen oder der Larven führt. In noch günstigeren Fällen ist die Entwicklung anscheinend normal; denn sie liefert lebens- fähige und auch kräftige Individuen. Diese aber sind entweder nur wenig fruchtbar oder überhaupt vollkommen unfruchtbar. Als einzige schädigende Folge der Kreuzung ist eine mehr oder minder große Ver- kümmerung der Keimdrüsen eingetreten. Oo- und Spermiogenese kommen zu keinem normalen Abschluß. Entweder verkümmern schon die Oo- und Spermatocyten oder erst die folgenden Endstadien (PoLr). Neben normalen Samenfäden entstehen zahlreiche mißbildete. Bei Pflanzen (Lotsy) haben sogar fruchtbare Hybriden viel weniger Pollen in den Antheren als die reinen Arten, und in diesem wenigen Pollen ist dann noch ein großer Teil der Körner mißraten, geschrumpft oder miß- farbig. Nur Bastardpollen von normaler Form ist befruchtungsfähig. Welche von den vielen Möglichkeiten bei der Kreuzung der Keim- zellen verschiedener Arten im besonderen Falle eintreten wird, ist mit Sicherheit nur durch das Experiment zu bestimmen. Theoretisch läßt sich im allgemeinen nur vorhersagen, daß die Aussichten auf ein Ge- 1 lingen der Befruchtung in demselben Verhältnis abnehmen, als zwei Lebensformen im System weiter auseinanderstehen. Während Vertreter | von Varietäten und Rassen einer Art sich gewöhnlich mit vollem Erfolg kreuzen lassen, wird das Ergebnis schon zwischen verschiedenen, ein- ander sehr ähnlichen Arten unsicher. Auf der anderen Seite ist aber der Eintritt der Befruchtung bei Kreuzung der Keimzellen von Arten beobachtet worden, die zu verschiedenen Gattungen und sogar zu ver- schiedenen Familien gehören. Dem Versuch, den Ausfall der Kreuzungen aus der Stellung zu er- klären, welche die beiden sexuell verbundenen Arten im System ein- | nehmen, ist eine neue Schwierigkeit aus Experimenten erwachsen, die von LOEB, GODLEWSKI, KUPELWIESER u. a. angestellt worden sind. Nach } einer Entdeckung von LoEgB können Keimzellen sehr weit auseinander- 270 Siebentes Kapitel. stehender Arten durch chemische Eingriffe zur Amphimixis gebracht werden. Mit Salzgemischen und anderen Chemikalien vorbehandelte Seeigeleier werden z. B. durch Samenfäden von Asteracanthion befruchtet, was ohne vorausgegangene chemische Behandlung nie gelingt. Sie lassen sich dann teilweise sogar bis zum Pluteusstadium züchten. Ein ent- sprechendes erfolgreiches Experiment stellte GODLEWSKI jun. an, indem er Seeigeleier mit dem Samen einer Crinoide, der Antedon rosacea, be- fruchtete. Seesterne, Seeigel und Crinoiden weichen aber in ihrem Bau so sehr voneinander ab, daß sie zu drei verschiedenen Klassen der Stachel- häuter im System gerechnet werden. Ob indessen in diesen Fällen eine wirklich erfolgreiche Bastardierung, d. h. eine biologische und lebensfähige Verbindung vom Chromatin der Seeigeleier mit dem Chromatin des Samenfadens eines Seesterns, resp. einer Crinoide, in der Tat eingetreten ist, scheint mir stark angezweifelt werden zu müssen. Denn nach sorgfältig durchgeführten mikroskopischen Untersuchungen von KUPELWIESER, BALTZER u. a. ist es sehr wahr- scheinlich, daß das Chromatin des eingedrungenen Samenfadens in dem hochgradig artfremden Ei früher oder später geschädigt wird, erkrankt und abstirbt. Es kann dann gleich bei Beginn der Befruchtung (Echinus x Mytilus) oder im Laufe des karyokinetischen Prozesses. bei verschie- denen Zellteilungen (BALTZER) wieder als artfremder Bestandteil eliminiert werden. Dadurch gewinnt die Entwicklung des Eies, wenn sie überhaupt ihren weiteren Fortgang nimmt, den Charakter der Parthenogenese. Gewöhnlich aber sterben die Eier teils infolge der experimentellen che- mischen Schädigung, teils durch die Amphimixis mit dem artfremden Chromatin' ab. Es ist noch in keinem Fall mit Sicherheit beobachtet worden, daß sich derartige Bastardlarven bis zur Geschlechtsreife haben züchten lassen. Jedenfalls lehren aber auch diese Experimente, daß die Bastardierungslehre noch zahllose Aufgaben für wichtige Untersuchungen liefert und namentlich auf tierischem Gebiete noch einer weiteren gründ- lichen Durchforschung bedarf. Bei näheren Graden der Verwandtschaft sind fruchtbare Bastarde sowohl bei Pflanzen wie bei Tieren beobachtet worden, in größerer Zahl namentlich bei Pflanzen, weil bei ihnen alle Bastardierungsexperimente sehr viel leichter anzustellen sind. Indem ich einer Zusammenstellung von Lotsy folge, sind Artbastarde, deren Fruchtbarkeit nicht leidet, folgende: Brassica napus x oleracea; Dianthus chinensis x plumarius, Pelargonium pinnatum x hirsutum, Abutilon-, Medicago-, einige Cereus- und Begoniahybriden, Nicotiana alata x Langsdorfü, einige Bastarde von Erica-, Calceolaria-, Veronica- und Orchideenarten. Anstatt Sterilität Der Speziesbegriff, 271 in späteren Generationen ist bei einigen von ihnen sogar Zunahme der Fruchtbarkeit nachzuweisen. Auch unter natürlichen Verhältnissen vor- kommende wilde Bastarde hat man in größerer Zahl kennen gelernt. Im Tierreich sind fruchtbare Artbastarde seltener. Wie sich aus dem Mitgeteilten jedenfalls ergibt, läßt sich auch aus dem Verhalten bei der Bastardierung keine scharfe Abgrenzung des Artbegriffes gewinnen. Auf die Frage, ob Bastarde fruchtbare Nach- kommen hervorbringen oder nicht, legen daher die Systematiker, wie es übrigens auch schon Linne seinerzeit tat, nicht mehr großes Gewicht. Nach der Auffassung, die in der Botanik seit den grundlegenden Arbeiten von KÖLREUTER und GÄRTNER als die vorherrschende von DE VRIES bezeichnet wird (l. c. Bd. II, p. 646), sind Formen, welche sich gegen- seitig leicht befruchten, dabei einen normalen Samenertrag geben und fruchtbare Bastarde bilden, als Varietäten einer und derselben Art zu betrachten. Dagegen werden Formen, die sich nur mit herabgesetzter Fruchtbarkeit sexuell verbinden lassen und deren Bastarde selbst von geringerer Fertilität sind als die Eltern, von den meisten Forschern als getrennte Arten im System aufgeführt. Dem vermuteten Parallelismus zwischen systematischer und sexueller Verwandtschaft hat man einen Ausdruck in den beiden Sätzen zu geben versucht: ‚I. Pflanzen, welche miteinander fruchtbar gekreuzt werden können, gehören stets zu derselben Gattung. 2. Pflanzen, deren Frucht- barkeit bei der Kreuzung nicht vermindert wird, gehören zu derselben systematischen Art oder Großart‘‘ (DE VRIES, ]. c. p. 654). In Wirklich- keit aber haben sich die Ergebnisse der klassifizierenden Wissenschaft und die Fragen nach der im Einzelfall wirklich vorhandenen sexuellen Verwandtschaft, wie sie nur durch Experimente zu lösen sind, nicht immer in Einklang bringen lassen. Das geht am deutlichsten daraus hervor, daß sich die beiden oben aufgestellten Sätze nicht umkehren lassen, ohne in Zwiespalt mit den Ergebnissen der Systematiker zu geraten. Bei dieser Sachlage ist es begreiflich, daß sich gewöhnlich der Syste- matiker in seiner Arbeit nicht von dem Ausfall von Kreuzungs- und Zuchtversuchen abhängig machen kann, wenn auch dieselben geeignet sind, unseren Einblick in die elementare Zusammensetzung und in die wahre Natur der Lebewesen noch mehr zu vertiefen, als es ohne An- wendung dieses Verfahrens möglich ist. Denn Kreuzungs- und Zucht- versuche sind meistens sehr mühsam, zeitraubend und namentlich. bei Tieren nicht immer durchführbar. Im Verhältnis zur riesengroßen Zahl pflanzlicher und tierischer Arten sind daher auch die bis jetzt wirklich 272 Siebentes Kapitel, versuchten Kreuzungs- und Zuchtversuche nur verschwindend kleine, namentlich auf tierischem Gebiet; und noch mehr gilt dies von solchen Experimenten, von denen man sagen kann, daß sie erschöpfend und belehrend angestellt sind und wissenschaftlich aufklärend gewirkt haben. Der Systematiker richtet sich daher ganz naturgemäß bei seiner Art- definition nach Merkmalen, die ihn von den Ergebnissen der Kreuz- und Zuchtversuche unabhängig machen und der Morphologie der Orga- nismen unter Berücksichtigung ihrer Entwicklungsgeschichte entnommen sind. Er vereinigt als Art daher Summen von Individuen, die nach ihrer Morphologie und Entwicklung mehr oder minder vollständig überein- stimmen und, wo sie in einzelnen Merkmalen Unterschiede untereinander darbieten, diese doch durch Übergänge verbunden zeigen. Die Grenzen der Art liegen dann da, wo sich eine Gruppe von Individuen durch deutlich ausgeprägte Merkmale auszeichnet,. die von den Merkmalen anderer Gruppen scharf getrennt sind. Trennung der Linneschen Arten in kleinere Gruppen zusammengehöriger Formen. Daß bei dem eben bezeichneten Verfahren das systematisierende Urteil von subjektivem Ermessen und Abwägen zum Teil mitbestimmt wird, liegt nahe. Denn wie jeder Systematiker weiß, wird er namentlich bei komplizierter gebauten Pflanzen und Tieren mit einem um so größeren Reichtum zu beachtender Merkmale bekannt, je genauer er die Mor- phologie und Entwicklung einer systematischen Ordnung und Familie und je zahlreichere, den verschiedensten Fundorten entnommene In- dividuen er studiert und durcharbeitet. Sein Auge schärft sich dann für viele Merkmale, die er sonst nicht beachtet oder wenigstens nicht in ihrer systematischen Wertigkeit als ‚„unterscheidende Merkmale‘ richtig eingeschätzt haben würde. Die Folge dieser geschärften Beobachtungs- gabe, der tiefer eindringenden Erkenntnis und der gleichzeitig geübten kritischen Urteilskraft ist, daß er sich oft gezwungen sieht, in eine Mehr- heit von Arten Individuen zu sondern, die frühere Systematiker wegen oberflächlicherer Sachkenntnis als eine systematische Einheit beurteilt hatten. Ein derartiger Prozeß hat sich in der Tat im Laufe der letzten Jahr- hunderte abgespielt. Die Geschichte der Systematik und die interessanten Erörterungen, die DE VRIES über den Artbegriff in seiner Mutations- theorie angestellt hat, lehren dies. Vor LinnEs Auftreten nahmen die Gattungen in der noch wenig ausgebildeten Systematik die Stellung ein, Trennung Linnescher Arten in kleinere Gruppen zusammergehöriger Formen, 273 welche später die Arten erhielten. Im Volksbewußtsein und von den Sammlern wurden anfangs Pflanzen und Tiere nur durch besondere Gattungsnamen unterschieden. In der Zeit, deren Hauptrepräsentant BUFFON ist, genügte diese einfache Namengebung für das noch wenig entwickelte Bedürfnis nach einer genaueren Orientierung in der um- gebenden Organismenwelt. "Erst durch das systematische Genie von LInNE, der zugleich durch seine umfassende Kenntnis der Pflanzen und Tiere seine Zeitgenossen weit übertraf, wurde die Spezies als die wichtigste Formeneinheit in den Mittelpunkt des Systems gestellt. Es geschah dies teils durch die Einführung der binären Nomenklatur, durch die jede systematische Art innerhalb der Gattung erst ihren genau bestimmten und zur raschen Verständigung geeigneten Namen erhielt, teils durch den als Dogma verkündeten Grundsatz, durch den die ‚Art‘ in gewissem Sinne eine besondere Weihe erhielt: „Species tot numeramus, quot diversae formae in principio sunt creatae.‘‘ LıinnEs systematische Gesetzgebung konnte sich zwar mehr als ein Jahrhundert in voller Geltung behaupten, obwohl die genaue wissen- schaftliche Feststellung der Art schon für ihn selbst, sowie für seine Zeitgenossen und Nachfolger öfters auf Schwierigkeiten stieß. Diese wurden aber von Linnxe teils durch den Begriff der Varietät oder Spielart, worunter Abweichungen geringeren Grades von den typischen Merkmalen der Art verstanden wurden, teils aber auch durch den Rat beseitigt: „Varietates levissimas non curat botanicus.‘ Wenn vielfach auch der Lınnesche Rat über die Varietates levis- simae bis zu DAarwıns Zeit beachtet und befolgt worden ist, so konnten doch durch ihn die Systematiker nicht auf die Dauer abgehalten werden, bei Bestimmung der Arten auch auf feinere Unterscheidungen zu achten, teils zur Verbesserung des Systems, teils im Interesse allgemeinerer Aufgaben, wie z. B. der Frage nach der Entstehung der Arten. Besonders auf botanischem Gebiet hat sich infolge der Arbeiten von DECANDOLLE, . JORDAN, DE BARY, DE VRIES, JOHANNSEN u. a. die Überzeugung aus- gebildet, daß es im Interesse des wissenschaftlichen Fortschritts liegt, bei vielen Linn£schen Arten noch eine weitere Zerlegung in drei enger begrenzte Gruppen vorzunehmen, die sich durch den Besitz erblich fixierter Merkmale voneinander unterscheiden lassen. Diese drei neuen systematischen Kategorieen, zu deren Besprechung ich jetzt noch über- gehe, sind: I. die elementaren Arten, 2. die Unter- und MENDELschen Arten, und 3. die reinen Linien. ©. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl. 18 274 Sıebentes Kapitel, I. Die elementaren Arten. Wie die Familie eine Vereinigung von Gattungen, die Gattung eine Vereinigung von Arten, so ist die LinxEsche Art selbst noch eine Vereinigung bald von wenigen, bald von zahlreichen ‚elementaren Arten‘. Daher kann sie zum Unterschied von diesen auch als Kollektiv- oder Großart bezeichnet werden. Vorbedingung zur Aufstellung einer elementaren Art ist, daß die ihr zugehörigen Individuen durch eine Mehrzahl von Merkmalen, wenn auch geringeren Grades, sich von anderen Vertretern der Großart gut trennen lassen, und daß sie sich bei der Kultur als formbeständig erweisen. Jeder Zweifel an der Berechtigung und Notwendigkeit ihrer Aufstellung aber muß schwinden, wenn ihre Ver- treter sich mit denen einer ähnlichen elementaren Art entweder nicht kreuzen lassen oder bei der Kreuzung unfruchtbare Bastarde liefern. Daß nach diesen Regeln die ursprünglichen LixnEschen Arten zuweilen noch eine sehr weitgehende Zerlegung notwendig machen, ist auf botanischem Gebiet sehr häufig durch genaue systematische Be- _ arbeitung einzelner Gattungen bewiesen worden. Einige Beispiele mögen zur Erläuterung dieser wichtigen Tatsache dienen: Die Primula veris L. wird jetzt allgemein in die 3 elementaren Arten: Primula vulgaris, Pr. elatior und Pr. officinalis aufgelöst. Lychnis dioicaL. zerfällt in L. diurna und L. vespertina; oder Platanthera bifolia in P. bi- folia und P. chlorantha etc. Besonders groß aber ist die Zahl der elemen- taren Arten, welche in LinnEs Kollektivarten Viola tricolor oder gar Draba verna zusammengefaßt sind. Von Draba verna werden nach den grundlegenden Untersuchungen von JORDAN, die von anderen Botanikern, wie von DE BArYv, nachgeprüft und vollkommen bestätigt worden sind, nicht weniger als 200 Formen unterschieden, die sich auf verschiedene Gegenden Europas verteilen. Wenn auch in ihrem allge- meinen Aussehen eine große Ähnlichkeit besteht, so weichen sie von- einander doch meist in vielen Merkmalen ab. In Kultur genommen, erhalten sie sich in ihren Eigenschaften unverändert und zeigen keine Übergänge zueinander. Im Hinblick auf ihre Samenbeständigkeit hat sich auch DE Bary von der völligen systematischen Trennung der zahl- reichen Arten von Draba verna für überzeugt erklärt. Wie DE VRIES (]. c. Bd. Ip. 122) in seiner Mutationstheorie schätzungs- weise annimmt, würde nach den von ihm und von JORDAN vertretenen systematischen Prinzipien die Anzahl der Unterarten pro Oberart sich durchschnittlich für Deutschland oder Frankreich auf nicht viel mehr als auf 2—3, für Europa im Mitte] vielleicht auf etwa Io stellen. ‚Bei Die elementaren Arten 275 Berücksichtigung und Beschreibung aller dieser Formen würde eine Flora von Europa also den zehnfachen Umfang, den sie jetzt hat, er- reichen.‘‘ DE VRIEs macht daher den, wie mir scheint, praktischen und empfehlenswerten Vorschlag, die binäre Nomenklatur LinnEs durch eine ternäre zu ersetzen in allen Fällen, in denen es sich um Kollektivarten - handelt. Der erste Name würde dann die Gattung, der zweite die Kollektivart und der dritte die eigentlich elementare Art bezeichnen. Die Kenntnis der letzteren aber ist besonders wichtig für alle Forscher, welche sich mit der Variabilität, mit der Kultur der Organismen und mit der Frage nach der Entstehung neuer Artmerkmale oder neuer elementarer Anlagen beschäftigen. Es ist daher nicht zu verkennen, daß es sich bei der Auflösung der LınnEschen Art in elementare Arten nicht um eine müßige und neben- _ sächliche systematische Kleinarbeit handelt. Denn es liegt hier eine durch die Entwicklung der Wissenschaft bedingte und darum berechtigte, notwendige Arbeit vor, die mit den wichtigsten allgemeinen Fragen der Biologie zusammenhängt. Den von PLATE in seiner Vererbungslehre eingenommenen Standpunkt kann ich nicht teilen, wenn er ohne eigent- liche wissenschaftliche Begründung die Ansicht von DE VRIES und seinen Anhängern als eine ‚„grundverkehrte‘“ bezeichnet (L. PLATE, Vererbungs- lehre, Leipzig 1913, p. 448). Als ein wissenschaftliches Argument oder als ein nur irgendwie zutreffender Beweisgrund kann jedenfalls nicht der sich anschließende Ausspruch von PLATE gelten, daß ‚schon aus rein praktischen Gründen die Systematik die große Zahl der in der Natur vorkommenden und die noch größere der künstlich durch Bastardierungen zu gewinnenden Kombinationsformen nicht als ihre Basis ansehen kann. Wohin sollte es führen, wenn man nach und nach jede gewöhnliche Art in einige Hundert Elementararten auflösen würde!“ Über derartige Argumente entscheidet die Entwicklung der Wissen- schaft mit ihren neu sich ausbildenden Bedürfnissen und Denknotwendig- keiten. Wenn die fortschreitende Erkenntnis der Lebewesen es not- wendig macht, eine noch schärfere Scheidung derselben in zusammen- gehörige Gruppen vorzunehmen, so wird sie keinen Stein des Anstoßes darin sehen, daß dabei die Zahl der zu Linn£s Zeiten bekannten Arten sich verzehnfacht oder gar verhundertfacht; sie wird auch für diese Fälle Mittel und Wege finden, sich im System der Formen zurecht zu finden und es für ihre verschiedenen Zwecke nutzbar zu machen. So würde ein sehr einfacher und naheliegender Weg z. B. schon darin bestehen, je nach den Zwecken, denen ein systematisches Werk dienen soll, nur eine Übersicht der Großarten und auch hier eventuell noch ı8* 276 Siebentes Kapitel. mit Auswahl zu geben. Wenn es Aufgabe ist, nach vernünftigen Prin- zipien auf Grund unterscheidender Merkmale die Lebewesen in Gruppen zusammenzufassen und zu einem naturgemäßen System’ zu vereinen, so kann der Systematiker sich von vornherein keine feste Grenze setzen, bis wie weit er die Lebewesen nach ihren Merkmalen voneinander unter- scheiden soll. Die Unterscheidungsmöglichkeit wird wesentlich mit- bestimmt von dem Grad der Kenntnisse, die wir von der Morphologie, der Entwicklung, der Physiologie und Ökologie der Lebewesen besitzen, und von der Ausbildung und dem Reichtum der Untersuchungsmethoden, welche in den Dienst der systematischen Arbeit gestellt werden. Wie es bis jetzt ein in sich abgeschlossenes System der Pflanzen und Tiere zu keiner Zeit gegeben hat, so wird es auch in Zukunft nie vollendet werden, solange sich die Biologie in fortschreitender Entwicklung bewegt. 2. Die Varietäten, Unterarten oder MENDELSchen Arten. Auch mit der Aufstellung elementarer Arten ist die Notwendigkeit für weitere systematische Unterscheidungen noch nicht erschöpft. Wie schon LINN& und seine Schule sich genötigt sah, den Begriff der Varietät in die Systematik einzuführen, so hat man auch heute noch für zweck- mäßig gefunden, an ihm festzuhalten. Allerdings ist in der Systematik der Begriff der Varietät ebenso wie der Speziesbegriff nicht scharf zu definieren und abzugrenzen; er hat daher ebenfalls zu Meinungsver- schiedenheiten und zu verschiedener Verwendung Anlaß gegeben. Im allgemeinen bezeichnen die Systematiker als Varietäten solche Formen, die sich von verwandten Spezies nur in einem oder in zwei, jeden- falls nur in wenigen untergeordneten, d. h. der Variation mehr ausgesetzten Merkmalen unterscheiden; bei den Pflanzen z.B. in der Farbe und Zeichnung der Blüten und Früchte, in dem Mangel oder Vorhandensein von Haaren an den Blättern und dergleichen Merk- malen mehr. Verschiedene derartige Varietäten einer Art lassen sich gegenseitig untereinander und mit der ihnen zugehörigen Spezies leicht befruchten und liefern Bastarde, die ebenso fruchtbar wie die Eltern bei normaler Verbindung sind. Hierin ist ein Hauptunterschied gegen- über den kollektiven und den elementaren Arten gegeben, bei denen eine Kreuzung entweder überhaupt nicht gelingt oder zu Bastarden führt, die vollständig unfruchtbar oder wenigstens in ihrem Zeugungs- vermögen im Vergleich zu den Stammarten stark geschwächt sind. Da- gegen folgen die aus Verbindung von Varietäten entstandenen Bastarde bei ihrer weiteren Zucht den schon früher besprochenen MENDELSchen Die Varietäten, Unterarten oder Mendelschen Arten, 277 Regeln. . Daher läßt sich als wissenschaftliche Definition der Varietäten der von DE VRIES formulierte Grundsatz auf- stellen, daß alle Formen, welche bei gegenseitigen Kreu- zungen in allen Merkmalen den MENDELschen Gesetzen folgen, als Varietäten einer Art aufzufassen sind. Zweckmäßig ist es zwischen Varietäten im wilden Zustand und Kulturvarietäten zu unterscheiden. Erstere treten im allgemeinen viel seltener auf und pflanzen sich unter den natürlichen Bedingungen rein fort, da sie wegen ihres mehr isolierten Vorkommens einer Kreuzung mit ihrer Stammart oder mit verwandten Varietäten selten ausgesetzt sind. Garten- und Treibhauskultur dagegen befördert die Varietäten- bildung. Daher zeigen Pflanzen und Tiere, die sich seit längeren Zeit- räumen unter dem abändernden Einfluß der Kultur befunden haben, oft einen erstaunlichen Reichtum der allerverschiedenartigsten Varietäten. Diese verdanken ihre Entstehung teils dem. direkten Einfluß der Kultur- bedingungen, zum noch größeren Teil aber dem Umstand, daß sie aus Kreuzung nahe verwandter Formen hervorgegangen sind. Denn in der Kombination zweier Idioplasmen, die sich durch mehrere antagonistische Merxmalspaare unterscheiden, ist nach den MENDELschen Spaltungs- regeln ja eine der wichtigsten Ursachen für die Produktion neuer Varie- täten in größerer Zahl zu suchen. Im Gegensatz zu den mehr formbeständigen Varietäten im wilden Zustand zeigen die Kulturvarietäten und namentlich solche, die in großer Mannigfaltigkeit durcheinander gemischt auftreten, bei ihrer weiteren Kultur eine große Unbeständigkeit. Sie sind, wie sich die Gärtner ausdrücken, nicht samenbeständig; sie liefern ein buntes Bild einer nach verschiedenen Richtungen variierenden Nachkommen- schaft, für deren Erklärung die MEnDELschen Regeln (vgl. Kap. III, S. 71-94) uns ebenfalls den Schlüssel geliefert haben. Denn nicht nur finden zwischen den oft dicht nebeneinander in Kultur befindlichen Individuen verschiedener Varietäten wieder Kreuzungsbefruchtungen und dadurch neue Kombinationen antagonistischer Eigenschaften statt, sondern es liefern solche Bastardformen, die heterozygotisch sind, auch bei Inzucht in zweiter und dritter Generation eine an Varietäten reiche Nachkommenschaft wegen der Spaltung ihrer heterozygotischen An- lagen bei der Keimzellenbildung und wegen ihrer Neukombination ın den folgenden Generationen. Wie schon früher (S. 85) nachgewiesen wurde, läßt sich eine Kultur- -varietät durch fortgesetzte Inzucht gleichfalls formbeständig machen, ‘so daß sie eine homogene Nachkommenschaft liefert. In diesem Fall 278 Siebentes Kapitel ist eine „reingezüchtete Varietät‘ in bezug auf ihre Formbeständigkeit von einer sogenannten „guten Art‘ nicht mehr zu unterscheiden. Sie gleicht ihr also in der Konstanz ihrer Merkmale und in ihrer idioplasma- tischen Grundlage, mithin in den beiden wichtigsten Punkten für die Artbestimmung. Von der elementaren Art und vor der LinnEschen Kollektivart unterscheidet sie sich dann nur noch in dem einzigen Punkte, daß der systematische Unterschied von nächstverwandten Formen nur auf einem, auf zwei oder wenigen mehr untergeordneten Merkmalen und auf dementsprechenden Erbeinheiten beruht. Von diesem Gesichts- punkt aus würde es sich rechtfertigen lassen und nur konsequent sein, den Speziesbegriff dann auch auf die Varietäten, sofern sie durch Rein- zucht formbeständig geworden und in ihrer Erbformel gefestigt sind, anzuwenden. Um ihre gesonderte Stellung zu bezeichnen, könnte man sie von den Linxeschen und von den elementaren Arten als die MENDEL- schen Arten unterscheiden. Mit diesem Namen würde zugleich auch auf ihren häufigsten Ursprung durch Bastardierung oder Artenkombi- nation hingewiesen sein. Mit Recht werden daher die Varietäten zuweilen auch als beginnende Arten bezeichnet oder, wie DARWIN es ausdrückt: ‚„Varieties are only small species‘, das heißt ‚kleine Arten‘, 3. Die reinen Linien (Biotypen). Am feinsten und am schwierigsten zu ermitteln ist die letzte noch zu besprechende, von JOHANNSEN in die Systematik eingeführte Unter- scheidung der ‚reinen Linie‘t). Wenn man eine große Zahl von Individuen irgendeiner Kollektiv- oder Elementarart genauer untersucht, so können dieselben zwar in allen systematischen Merkmalen, wie sie hergebrachtermaßen zur Definition dienen, genau übereinstimmen, dagegen Unterschiede in der linearen Variation einzelner dieser Eigenschaften voneinander darbieten. Unter linearer Variation versteht man “Unterschiede, die dadurch entstehen, daß einzelne Eigenschaften nach Maß, Gewicht, Größe, Zahl, Intensität variieren. Das Prädikat ‚‚linear‘‘ drückt aus, daß die Variation, um die es sich in diesen Fällen handelt, nur in zwei entgegengesetzten Rich- tungen, nach Plus und nach Minus um einen Mittelwert herum erfolgen kann. Bei ihr sind daher auch statistische Untersuchungsmethoden 1) Johannsen, W., Elemente der exakten Erblichkeitsiehre. Jena 1909. ı de Vilmorin, L., Notices sur lamelioration des plantes par les semis. Paris 886 — Jennings, H. S., Heredity, variation and evolution in Protozoa. Journ. exper. Zool., 1908. — Woltereck, R., Über natürliche und künstliche Varietätenbildung bei Daphniden. WVerh. Deutsch. Zool. Ges., 1908 u. 1909. Die reinen Lirien (Biotypen). 279 anwendbar, durch welche für jeden Fall die Variationsbreite und die Durchschnittsgröße oder das Mittel der Variabilitätsich durch Messungen, Wägungen und Zählungen feststellen und in Zahlenverhältnissen aus- drücken läßt. Die hierbei ermittelten Werte lassen sich auch in graphischer Weise, entweder durch Kurven, wie sie durch QUETELET und GALTON eingeführt und jetzt allgemein gebräuchlich geworden sind, oder durch statistische Tabellen übersichtlicher und anschaulicher machen. Je nachdem sich die einzelnen Individuen auf der ıinearen Reihe oberhalb oder unterhalb des Mittelwertes gruppieren, werden sie von JOHANNSEN als Plus- und Minus-Abweicher oder Plus- und Minus-Varianten von den Mittelformen oder den Mittelmaßindividuen unterschieden. Als Beispiele von Eigenschaften, welche der linearen oder fluk- tuierenden Variabilität unterworfen und zahlenmäßig zu berechnen sind, nenne ich :!ie Größe und das Gewicht verschiedener Individuen derselben Pflanzen- und Tierart oder einzelner ihrer Teile, der Blätter, der Früchte, wie der Samen von Bohnen und Erbsen, der Kartoffel- Knollen, den Gehalt einzelner Teile an Farbstoff oder an Stärke, wie bei der Kartoffel, oder an Zucker, wie bei der Runkelrübe, oder die ver- schiedene Zahl von Teilen, die sich wiederholen (meristische V arlation), wie die Zahl der Flossenstrahlen bei Fischen, die Zahl der Haare oder der Federn in einem bestimmten Hautbezirk, oder der Randblüten bei Kompositen und dergleichen Eigenschaften mehr. Das Variieren dieser Eigenschaften ist zum Teil von äußeren Ein- flüssen, von dem umgebenden Milieu, von den ganzen Entwicklungs- verhältnissen, von besserer oder schlechterer Ernährung, vom Klima, von Krankheit und Gesundheit etc. in hohem Maße abhängig; für sie trifft die Bezeichnung ‚‚fluktuierende Variabilität‘, in voller Bedeutung zu. Außerdem aber wird die Verschiedenheit der zu einer Art gehörigen Individuen in bezug auf die genannten Eigenschaften, welche der linearen Variation unterliegen, durch ihre erbliche Veranlagung, also idioplas- matisch, bedingt. Folglich sind zwei verschiedene Momente, erbliche und nicht erbliche, zum richtigen Verständnis dieser Verhältnisse zu berücksichtigen. Hierauf hingewiesen zu haben, ist das Verdienst von VILMORIN (l. c.) und besonders von Jo- HANNSEN (l. c.), der die Methoden zur Feststellung dieser Verhältnisse am genauesten ausgearbeitet und dadurch die verwickelte Sachlage voll- ständig aufgeklärt hat. Nach den Ergebnissen von JOHANNSEN besteht eine Population oder der Bestand einer Gegend an einer bestimmten Pflanzen- oder Tierart aus zahlreichen Individuen, die in bezug auf irgendeine der oben 280 Siebentes Kapitel. hervorgehobenen Eigenschaften mehr oder weniger erhebliche Unter- schiede, also eine fluktuierende Variabilität darbieten, die teils auf der Wirkung äußerer Faktoren, teils auf erblicher Veranlagung beruht. Inwieweit das eine oder das andere der Fall ist, läßt sich durch eine Analyse auf experimentellem Wege ermitteln. Aus dem Gemenge von unzähligen, durcheinander gemischten Individuen, die teils infolge äußerer Einflüsse, teils durch erbliche Anlage verschieden sind, kann man die erblich gleich veranlagten Individuen heraussondern durch das von VILMORIN aufgestellte „Isolationsprinzip“. Von JOHANNSEN wird es noch zutreffender „das Prinzip der individuellen Nach- kommenbeurteilung‘‘, genannt. Dasselbe besteht darin, daß man die verschiedengradige Ausbildung eines bestimmten Merkmals durch getrennte Beobachtung der Nachkommen entweder jedes einzelnen Individuums in einer Reihe aufeimander folgender Generationen Ft, F?, F® ... F" oder, wenn die Zahl der Nachkommen zu ren ist, wenigstens in ae zahlreichen Stichproben prüft. Auf diesem Wege kann man einen wirklichen Einblick in die Erb- anlagen in einer Kette von Generationen gewinnen; man kann sie von den durch äußere Ursachen hervorgerufenen Veränderungen trennen. Allerdings führt auch dieser Weg zu ganz einwandfreien Ergebnissen nur in den Fällen, in denen man bei der Fortpflanzung Fremdbefruchtung ausschließen kann. Daher muß man als Versuchsmaterial solche Orga- nismen wählen, die sich ungeschlechtlich oder parthenogenetisch ver- mehren, oder bei denen sich weibliche und männliche Geschlechtsorgane auf einem Individuum vereint finden, so daß Selbstbefruchtung leicht durchführbar ist. Infolgedessen bietet das Pflanzenreich das geeigneteste, Materialdar. Gibtes doch hier manche Arten, bei denen Selbstbefruchtung auch unter normalen Verhältnissen die Regel ist, wie bei den Leguminosen. Auch sind solche Arten geeignet, bei denen sich wenigstens durch be- sondere Maßregeln Fremdbefruchtung leicht verhüten und Seibstbe- fruchtung künstlich herbeiführen 1äßt. Denn mit der Inzucht, selbst wenn sie durch viele Generationen hindurch konsequent fortgesetzt wird, ist ein nachweisbarer Schaden, wie es bei den Tieren häufig der Fall ist, bei den meisten Pflanzen nicht verbunden. Die Nachkommen, die von einem als Ausgang des Experiments benutzten Individuum abstammen, faßt JOHANNSEN alseine ‚‚reine Linie, “ zusammen. Kine „reine Linie‘ ist, um JOHANNSENs Definition zu ge- brauchen, ‚der Inbegriff aller Individuen, welche von einem einzelnen absolut selbstbefruchtenden, homozygotischen Individuum abstammen‘“. Ein solcher schärfer 'charakteri- Die reinen Linien (Biotypen), 281 sierter Formenkreis stellt innerhalb einer elementaren Art eine neue systematische Einheit, „einen Biotypus“ nach der von JOHANSSEN hierfür eingeführten Bezeichnung dar. Ein Beispiel soll uns jetzt noch deutlicher zeigen, was durch Vır.- MORINS „Prinzip der individuellen Nachkommenbeurteilung‘ und durch das Studium der ‚reinen Linie‘ bezweckt wird, und was an neuer wissen- schaftlicher Einsicht schon gewonnen worden ist. JOHANNSEN (l. c. p. 137— 139) wählte für seine Versuche die braune Prinzeßbohne (Phaseolus vulg. nana). In einem Vorversuch aus dem Jahre 1900 isolierte er aus einer Ernte I9 reine Linien, die sich von- einander durch das mittlere Gewicht ihrer Bohnen in typischer Weise unterschieden. Von jeder reinen Linie benutzte er eine Bohne zur Aus- saat und erhielt so 19 Pflanzen, deren Samen er im Herbst Igor für jede Linie getrennt erntete, numerierte und zu weiterer getrennter Aussaat —- im ganzen handelte es sich um 524 Bohnen — benutzte. Von jeder der daraus hervorgehenden 524 Pflanzen wurde die Ernte wieder isoliert. In dieser Weise wird prinzipiell ‚jede reine Linie, jede Pflanze, ja jede einzelne Bohne gesondert gehalten und numeriert‘‘ und ebenso auch bei der weiter folgenden Fortsetzung des Versuchs. Denn hierin liegt ja eben-die Bedeutung der Kultur in reinen Linien, die auch in manchen Schriften unter dem Namen der Pedigreekultur aufgeführt wird. Um aus seinen zeitraubenden Versuchen allgemeine Schlüsse ziehen zu können, hat JOHANSSEn das bei der Ernte der 19 Mutterpflanzen, welche reine Linien repräsentierten, erhaltene Bohnenmaterial nach zwei verschiedenen Gesichtspunkten geordnet, einmal nach dem alten GALTON- schen Verfahren und dann nach dem von ihm selbst neu aufgestellten Prinzip. Nach GArTonx hat er die zum Ausgang des Versuchs benutzten Mutterbohnen nach ihrem Gewicht in 6 Klassen von 20, 30, 40, 50, 60, 70 Zentigramm geteilt und für jede derselben durch Wägung das mittlere Gewicht aller Bohnen bestimmt, welche die von ihnen ab- stammenden Nachkommen bei der Ernte geliefert haben. Das Ergebnis ist in der untenstehenden Tabelle I wiedergegeben, in welcher zugleich auch in der dritten horizontalen Reihe die Zahl der im Versuch erhaltenen Samen von den Nachkommen für jede der 6 Klassen mit aufgeführt ist. Die nach GALTON zusammengestellte Tabelle muß als eine summa- rische bezeichnet werden ; denn sie ist durch die Addition der Bohnen- ernte von allen 19 zum Versuch benutzten reinen Linien entstanden. In ihr finden daher alle Unterschiede, die zwischen den Ernten der reinen Linien bestehen, gar keinen Ausdruck. Sie treten dagegen deutlich zutage in der zweiten, genauer spezifizierten Tabelle, in welcher die 82 Siebentes Kapitel. D Gewichts- und Zählergebnisse für jede der IQ reinen Linien berücksichtigt und zusammengestellt sind. Tabelle I. Zusammenstellung nach GAaLToNns Verfabren ohne ” Rücksicht auf die reinen Linien. f in Zentigrammen Gewicht der Mutterbohnen "20 |’’3o T%o 50 60 70 Mittleres Gewicht der Nachkommen .| 44,0 | 44,3 | 46,1 | 49,0 51,9 | 56,1 Anzahl der Nachkommen ... . ... .| 180 835 | 2238| 1138 | 609 | 494 In der Tabelle II sind in der ersten vertikalen Kolumne die 19 reinen Linien nach ihrer betreffenden Eigenschaft systematisch angeordnet und mit Zahlen numeriert; in der am weitesten rechts stehenden Kolumne ist das mittlere Gewicht der von jeder Linie geernteten Bohnen an- gegeben, beginnend mit dem Höchstgewicht von 64,2 bis herab zu dem geringsten Gewicht von 35,1. Dazwischen stehen die 6 vertikalen Ko- lumnen, in denen die Gewichte der zum Ausgang des Versuchs benutzten Mutterbohnen in der obersten horizontalen Reihe, wie in der Tabelle I von 20, 30 bis 70 cg aufgeführt sind. Unter ihnen folgen die mittleren Gewichte der Bohnen, die von den 19 Versuchsobjekten, und zwar ge- ordnet nach den unterschiedenen reinen Linien, erhalten worden sind. Hinter dem mittleren Gewicht für jede Linie ist mit kleinen Ziffern die Zahl der geernteten Bohnen, aus denen das mittlere Gewicht gewonnen wurde, angegeben. In der untersten Querreihe ist das mittlere Bohnen- gewicht aus allen Versuchen, die in den einzelnen Längskolumnen mit- geteilt sind, berechnet und mit kleinen Ziffern zugleich die durch Addition gewonnene Gesamtzahl der Bohnen hinzugefügt, aus denen die einzelnen mittleren Gewichte der reinen Linien gewonnen wurden. Die mittleren Gewichte der untersten Reihe, sowie die hinter ihnen angegebenen Zahlen der geernteten und gewogenen Bohnen stimmen in selbstverständlicher Weise mit den Zahlen überein, die in der Tabelle I in der zweiten und dritten Querreihe zusammengestellt sind. Denn Tabelle II gibt ja nur die genauere Ausführung der in Tabelle I summarisch mitgeteilten Wägungen und Zählungen. Was ist nun das neue Ergebnis der von JOHANNSEN eingeführten Untersuchungsmethode ? Es läßt sich dahin zusammenfassen, daß, wie uns Tabelle II in überzeugender Weise lehrt, in jeder reinen Linie das mittlere Gewicht der geernteten Bohnen ‘nahezu das Die reinen Linien (Biotypen). 283 Tabelle II. Übersicht einer Selektionswirkung in reinen Linien. Die reinen Gewicht (in Zentigrammen) der Mutterbohnen ones a, Gewicht Linien Teer TE ran SER == f 20 33.4.4, 540 50 60 70 der Linien I e | 3 | ß 2 63,1. 5464,9. 91]64,2. 145 II 57,2. 86|54,9. 195156,5. 120 55,5. 7455,8. 475 III ! ‚ ö 56,4. 144 56,6. 40 54,4. 98| 55,4- 282 IV > | > - 54,2. 3253,06 16356,6. 112] 54,8. 307 V e : 52,8. 107149,2. 29 s 50,2. 119| 51,2. 255 VI > 153,5. 20|50,8. 111 - 42,5. 10 E 50,6. 141 VII | 45,9. 16| ... 149,5. 262 y 48,2. 27 ß 49,2. 305 VIII 5 ‚49,0. 2049,1. 119, 47,5. 20 48,9. 159 IX 48,5. 117 47,9. 124 48,2. 241 x - 42,1. 2846,7. 412!146,9. 93 46,5. 533 XI : 45,2. 114/45,4. 21746,2. 87 t e 45,5. 418 XI | 496. 14 2 > 45,1: 42144,0. 27 > 44,5. 83 XIII 2 47,5- 9345,90. 219/45,1. 205145,8. 9 45,4- 712 XIV : 45,4. 21/46,9. 51 £ 42,8. 34 45,3. 106 XV | 46,9. 18 ; E 44,6. 13145,0. 39 : 45,0. 188 xXVI ; 45,9. 147144,1. 90 41,0. 36 F - 44,0. 273 XVII | 440. 78 s 42,4. 217 2 j 5 2,8. 295 XVIH | 41,0. 54 40,7. 203|40,8. 100 2 - - 40,8. 357 XIX £ 35,8. 72134,8. 147 3 i : 35;8:.,249 gleiche bleibt, mögen wir Minus- eder Plus- oder Mittel- -varianten ausgesät haben. So haben z. B. in der Linie XIII aus- gesäte Mutterbohnen von 30 cg 93 Tochterbohnen mit einem mittleren Gewicht von 47,5 cg geliefert; es ergaben ferner 40 cg schwere Mutter- bohnen 219 Nachkommen mit 45,0 cg Mittelgewicht, 50 cg schwere 205 ‚Nachkommen mit 45,1 Mittelgewicht und 60 cg schwere 95 Nachkommen mit 45,8 Mittelgewicht, oder mit anderen Worten: es hat für das Durch- schnittsgewicht der geernteten Samen innerhalb der reinen Linie keinen Unterschied ausgemacht, ob sie aus einer Minus- oder Plusvariante dieser Linie, also aus Mutterbohnen von 30 oder 40 oder 50 oder 60 cg gezogen wurden. In der XIII. Linie ist sogar der Falleingetreten, daß die kleinsten Mutterbohnen von 30 cg zufälligerweise etwas größere Nachkommen als die Mutterbohnen von 60 cg geliefert haben, da das mittlere Gewicht von ersteren 47,5, von letzteren nur 45,8 ergab. Dasselbe wie Linie XIII zeigen die Linien II, III, VI, IX, XII bei genauerer Betrachtung und lehren in klarer Weise, daß in jedem der 19 Biotypen die Variabilıtäts- 284 Siebentes Kapitel. breite der Samen in bezug auf Größe und Gewicht erblich fixiert ist, und daß daher die Plus- und Minusabweicher trotz ihrer äußerlichen, von den vorausgegangenen Entwicklungsbedingungen abhängigen Diffe- renzen doch in ihrer Erbpotenz ein durchaus gleichartiges Material darstellen. Nicht minder lehrreich und beweisend ist ein Vergleich der Ergebnisse, die in den einzelnen Vertikalkolumnen in systematischer Folge. ange- ordnet sind ; man erhält aus ihrem Studium einen Einblick in die Größe der Erbpotenzen, durch welche die einzelnen Biotypen sich voneinander unterscheiden. So geben in der dritten Vertikalkolumne z. B. 13 zur Nachzucht benutzte Mutterbohnen, die im Gewicht von 40 cg absolut untereinander übereinstimmten, doch eine sehr ungleiche Nachkommen- schaft, je nach der ihnen innewohnenden Erbpotenz oder ihrer Zuge- hörigkeit zu einer reinen Linie, die vor Beginn des Versuchs nach dem „Prinzip der individuellen Nachkommenbeurteilung‘ ermittelt worden war. Denn 40 cg schwere Mutterbohnen lieferten in der Linie II eine Nachkommenschaft von 57,2 cg mittleres Gewicht, , , XIX „ 2, ” 34,8 ’ „ 23 Es konnte also zwischen den hier aufgeführten Extremen erblicher Be- anlagung die große Differenz von 23 cg mittleren Gewichts experimentell festgestellt werden. Die meisten reinen Linien zeigten in bezug auf den in Frage stehenden Faktor eine mittlere Beanlagung. Denn das mittlere Gewicht ihrer Nachkommenschaft berechnete sich auf 46,1. Die Erforschung der reinen Linien innerhalb einer elementaren Art gehört ganz der neueren Zeit an; es liegen daher für diesen jungen Zweig der Wissenschaft noch sehr wenig genau durchgeführte experimentelle Arbeiten, namentlich auf zoologischem Gebiete, vor. Viel geeigneter als dieses ist das Pflanzenreich wegen der bequemeren und rascheren Durchführung ausgedehnter Kulturversuche. Diese sind hier auch ir praktischer Beziehung, wenigstens zurzeit, von viel größerer Bedeutung für die Landwirtschaft, für welche es von der größten Wichtigkeit ist, unter den Kulturgewächsen die für.den Anbau besonders geeigneten Biotypen zu benutzen. Zu ihrer Ermittlung gilt jetzt als die aussichts- reichste und als wirklich wissenschaftliche Methode mit Recht die Kultur in reinen Linien nach VILMORINs Prinzip der ‚individuellen Nachkommen- beurteilung‘“. Welche wichtigen Ergebnisse für die Landwirtschaft auf diesem Wege bereits erzielt worden sind, lehrt besonders die Veredelung der Zuckerrübe durch planmäßige, mit allem wissenschaftlichen Raffinement Die reinen Linien (Biotypen). 285 betriebene : Auswahl der Rübensorten mit höchstem Zuckergehalt oder die in Svalöf von Nırsson-EHLE betriebene wissenschaftliche Kultur von. Getreide- und Leguminosenarten, um botanisch charakterisierte Typen zu gewinnen, die für den Anbau zur Erzielung möglichst hoher Erträge unter verschiedenen Bedingungen von Boden und Klima be- sonders empfehlenswert sind. Für den Systematiker — und daher ist ja auch diese ganze Betrach- tung hier angestellt worden — erwächst aus alledem die neue Einsicht und die wichtige Lehre, daß auch die mit feineren wissenschaftlichen Unterscheidungsmerkmalen durchgeführte Klassifikation des Pflanzen- und Tierreichs ihre Aufgabe selbst mit den elementaren Arten von JORDAN und DE VRIES oder sogar mit den MEnDELschen Arten noch nicht voll gelöst hat. Denn auch diese sind noch weiter auf Grund ihrer fest normierten erblichen Veranlagung, welche auf experimentellem Wege nach den rationellen Methoden von VILMORIN, JOHANNSEN etc. ermittelt werden kann, in Biotypen zerlegbar, die zwar in der Zahl aller äußeren Merkmale sich gleichartig verhalten, trotzdem aber in dem Grade der Ausbildung dieser einzelnen Merkmale nach dem Maßstab der linearen Plus- und Minusvariation genotypisch verschieden, experimentell unter- scheidbar und aus einem Gemisch auch voneinander isolierbar sind. Achtes Kapitel. Die Frage nach der Konstanz der Arten. Die Lehre von der Artkonstanz hat eine große Rolle in der Geschichte der Biologie gespielt und Anlaß zu erbitterten Streitigkeiten unter Systematikern und Morphologen gegeben. Wer sich auf diesem dunklen und zum Teil widerspruchsvollen Gebiet Klarheit verschaffen und einen festen Standpunkt gewinnen will, muß sich der allgemeinen Erörterungen erinnern, die wir bei der Untersuchung des Entwicklungsprozesses sowie bei der Definition des Artbegriffes angestellt haben. Wir waren dabei zu dem Ergebnis gekommen, daß die Entwicklung eines jeden Organismus ein untrennbares Zusammenwirken innerer und äußerer Faktoren er- fordert. Die inneren Faktoren beruhen vom Beginn der Entwicklung in der präformierten Anlage der Artzelle (in ihrem Idioplasma). Die äußeren, ebenso notwendigen Faktoren dagegen sind die Bedingungen, unter denen sich der Entwicklungsprozeß bis zur Erreichung seines End- ziels abspielt. Das Produkt von beiden ist der fertige Organismus mit seinen uns sichtbar gewordenen systematischen Merkmalen und Eigen- schaften. Es ist klar und selbstverständlich, daß auf Grund dieser Unter- scheidungen das Endprodukt auf zwei wesentlich verschiedenen Wegen Veränderungen erfahren kann, von denen die einen nicht erblich, die anderen erblich sind. 1. Was die erste Gruppe betrifft, so können die Bedingungen, unter denen sich Keimzellen von ein und derselben Spezies entwickeln, andere als die gewöhnlichen sein ; hierbei können sie zwar das Wesen der Artzelle selbst in der Beschaffenheit ihres Idioplasma unverändert lassen, aber durch die von ihnen ausgehenden Reizwirkungen die Verwendung des Zellenmaterials in mehr oder minder hohem Grade so beeinflussen, daß die Endformen des Entwicklungsprozesses andere als unter den gewöhn- lichen Bedingungen werden. Auf diesem Wege zustande gekommene Die Frage nach der Konstanz der Arten. 287 Abänderungen in der Gestalt von Pflanzen und Tieren sind, wie sich . von selbst versteht, nicht erblich, da ja der Charakter der Artzelle derselbe wie vorher geblieben ist. Daher entstehen bei der nächsten und jeder folgenden Fortpflanzung wieder Tochterorganismen der ur- sprüngliehen Form, wenn ihre Entwicklung unter den für die Art ge- wöhnlichen Bedingungen wieder vor sich geht. Alle derartigen, durch Variation der Entwicklungsbedingungen hervorgerufenen Formverände- rungen der Lebewesen, bei denen die Artzelle selbst in der Konstitution ihres Idioplasma unverändert geblieben ist, sollen im folgenden als Modifikationen der Spezies oder als ihre Varianten, um einen kürzeren und bequemeren Ausdruck zu gebrauchen, zusammengefaßt werden. Sie sind von mancher Seite auch als Somatosen (PLATE) bezeichnet worden. Indem sie unter den Begriff der Art fallen, tragen sie in manchen Fällen zur Erweiterung des Formenreichtums der Art noch sehr erheblich bei. Auf Grund unserer Einteilung sind wir jetzt auch in der Lage, dem Wort ‚Variabilität‘ eine wissenschaftlich schärfer begrenzte Fassung zu geben. Mit Recht hat DE VRIES (l. c. I906, p. II) von demselben den Ausspruch getan: ‚Nichts ist in der Tat mehr variabel, als die Bedeutung des Ausdrucks ‚‚variabel‘ selbst. Das Wort Variabilität hat eine solche Menge von Bedeutungen, daß man es niemals ohne eine genauere Er- klärung gebrauchen sollte.“ Um diesem Übelstand abzuhelfen, schlage ich vor, das Wort „Varia- bilität“ nur für solche Veränderungen der Lebewesen zu gebrauchen, welche auf dem Vermögen der Artzelle beruhen, beim Wechsel der Ent- wicklungsbedingungen in verschiedener, nur ihr eigentümlichen Weise durch veränderte Gestaltsbildung zu reagieren und dadurch Varianten oder Modifikationen zu bilden, während sie selbst in ihren erblichen Potenzen unverändert bleibt. Die Worte Variabilität, Variation, Varianten unterscheiden sich daher begrifflich von dem in der Systematik eingebürgerten Worte „Varietät‘“. Denn diesem haftet gewöhnlich der Begriff der Erblichkeit an, wie bei der schon früher in Kapitel VII, S. 276 besprochenen Ge- brauchsweise. 2. Gegenüber den Varianten ist eine zweite Gruppe von Verände- rungen in der Artbildung zu unterscheiden, welche auf einer Umwandlung in der idioplasmatischen Konstitution der Artzelle selbst beruhen und daher auch erblich sind. Zu ihrer kurzen Bezeichnung ist das von DE VRIES eingeführte Wort ‚Mutanten‘ geeignet. Dementsprechend nennen wir auch das Vermögen der Artzelle, aus irgendwelchen Ursachen eine dauernde, wenn auch geringfügige Veränderung in der Konstitution 288 Achtes Kapitel. ihres Idioplasma zu erfahren, ihre Mutabilität. Auf ihr ‘beruht die Fortentwicklung der Organismenwelt durch Bildung neuer Arten. Denn wie schon früher (S. 263, 286) nachgewiesen wurde, beruht unser Kri- terium zur Unterscheidung der Arten auf der Erhaltung ihrer Eigen- schaften durch Vererbung durch die Artzelle im Wechsel der Gene- rationen. Jede Veränderung der Artzelle in ihren erblichen Eigenschaften stellt daher einen Akt neuer Artbildung vor. Wenn man die zu einer Art gehörigen Varianten mit den von ihr ableitbaren Mutanten vergleicht, so zeigen jene zuweilen viel größere Unterschiede untereinander als diese. Dafür sind aber auch die Mutanten als neugebildete Arten konstant, die Varianten dagegen vergänglich oder vorübergehend im Wechsel der Generationen. Nach dieser begrifflichen Orientierung gehen wir zu einer genaueren Besprechung der Erscheinungen der Variabilität und der Mutabilität und der Varianten und der Mutanten im Organismenreich über. 4‘ i. Die Variabilität im Organismenreich und die Varianten einer Pflanzen- und einer Tierart '). ’ Die Varianten einer Organismenart, zu deren Besprechung wir über- gehen, bieten oft untereinander sehr viele Verschiedenheiten dar, je nach den Bedingungen, die sich geändert haben, und je nach der Zeit, und je nach der Dauer, mit der die Bedingungen auf die Gestaltungsprozesse der Artzelle während ihrer Entwicklung eingewirkt haben. Bald machen die Endprodukte der Variabilität denselben Eindruck der Gesetzmäßig- keit wie die normalen Repräsentanten der Art und sind mit derselben Notwendigkeit wie diese zustande gekommen. Bald erscheinen sie nur unbedeutend verschieden; sie sind dann auch mehr durch Zufall ent- standen, wenn die Bedingungen sich nur wenig oder vorübergehend verändert haben. Bald wieder rufen sie den Eindruck des Monströsen und Abnormen hervor, wenn außergewöhnliche Bedingungen namentlich frühe Stadien der Entwicklung betroffen und zu mehr oder minder intensiven Störungen im Lebensprozeß den Anstoß gegeben haben. Infolgedessen lassen sich die Varianten einer Organismenart in zahlreiche ı) v. Nägeli, Carl, Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre, München 1894. — de Vries, Arten und Varietäten und ihre Entstehung durch Mutation, Vorlesungen, ins Deutsche übertragen von H. Klebahn, Berlin. 1900. — Baur, Einführung in die experimentelle Vererbungslehre, Berlin ıgrı. — Klebs, @., Studien über Variation, Arch. f. Entwicklungsmechanik, Bd. XXIV, 1907. — Der- selbe, Über die Nachkommen künstlich veränderter Blüten von Sempervivum, Sits.-ber. d. Akad. d. Wiss. Heidelberg, 1909. — Goebel, R., Einleitung in die experimentelle Morphologie, Leipsig 1908. - ee en Fi Die Variabilität der Organismen, 289 Gruppen einteilen, unter denen mir die folgenden am meisten der Er- wähnung wert und zur Erklärung der Variabilität geeignet erscheinen: 1. die Geschlechtsvarianten, 2. die Varianten beim Saisondimorphismus und beim Polymorphismus im Tierreich, 3. die Standorts-, die Kultur- und Umschlagsvarianten im Pflanzenreich, 4. die fluktuierenden Varianten, 5. die monströsen Varianten (Bildungsanomalien und Monstrositäten). ı. Die Geschlechtsvarianten. Wie bei einigem Nachdenken jeder einsehen wird, repräsentieren weder die weiblichen noch die männlichen Individuen einer Art in den Fällen, in denen eine Geschlechtstrennung stattgefunden hat, in ihren äußeren Merkmalen das vollständige Wesen der Art. Daher müssen sie als die Geschlechtsvarianten bezeichnet werden. Hierdurch wird ausgedrückt, daß erst durch die Vereinigung ihrer Merkmale der volle Artbegriff zustande kommt. Die Geschlechtsvarianten bieten uns bei ihrem Studium im Pflanzen- und Tierreich bald kaum nennenswerte, bald sehr erhebliche Unterschiede dar, welche zuweilen größer ausfallen als zwischen Vertretern ganz verschiedener Gattungen und selbst Fa- milien ; sie würden in diesem Fall überhaupt nicht zu einer Art von uns im System zusammengefaßt werden, wenn wir nicht durch den Nachweis der gemeinsamen Abstammung beim Zeugungsakt uns von ıhrer Zu- gehörigkeit zum Formenkreis einer Art Gewißheit verschafft hätten (siehe S. 261). Da somit die zwei Geschlechter mit ihren Charakteren nur verschiedene Gegensätze sind, die zusammengehören, können sie auch, wie es häufig geschieht, in ein und demselben pflanzlichen und tierischen Individuum vereint sein. Wir sprechen dann von einem Hermaphroditismus im Gegensatz zum Gonochorismus, in welchem die Geschlechter auf ein weibliches und ein männliches Individuum ge- trennt sind. Die Unterschiede zwischen Personen von getrenntem Geschlecht oder zwischen Zellen, die wir als männlich oder weiblich bezeichnen, entstehen nach dem Prinzip der Arbeitsteilung und Differenzierung. Schon in meiner „Allgemeinen Biologie‘ habe ich durch vergleichende Untersuchung der Urformen der geschlechtlichen Zeugung im Organismen- reich (4. Aufl., p. 338—347) den Nachweis zu führen gesucht, daß in den einfachsten Fällen von geschlechtlicher Zeugung die konjugierenden Zellen einander gleich sind (Spirogyra, Bothrydium, Ulothrix etc.), und daß die allmählich erfolgende Ausbildung von Unterschieden zwischen männlichen und weiblichen Keimzellen innerhalb der einzelnen Familien OÖ. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl. 19 290 Achtes Kapitel. niederer Algen (Volvocineen, Conjugaten etc.) beim Studıum ihrer ver- schiedenen Arten beobachtet werden kann. Den auffälligen Gegensatz zwischen Eiern und Samenfäden im Tierreich habe ich auch im dritten Kapitel dieses Buches aus dem Umstand erklärt, daß beide eine ver- schiedene Aufgabe bei der auf geschlechtlicher Zeugung beruhenden Entwicklung übernommen haben. Ich verweise daher auf die hierüber früher ($S. 57—59) gegebene Darstellung. Arbeitsteilig gewordene Lebens- einheiten aber sind ‚‚der Art‘ nach und im Hinblick auf die Konstitution ihres Idioplasma einander gleich und nur durch Übernahme einer be- sonderen Funktion in äußerlichen Merkmalen, wie in der Bildung be- sonderer Protoplasmaprodukte, voneinander verschieden. Von diesem Standpunkt aus wird man es begreiflich finden, daß das Geschlecht, genau genommen nicht zu den bloß erblichen Eigenschaften gehört, sondern auch durch Faktoren, die nicht aus- schließlich im Idioplasma gelegen sind, bestimmt wird. Denn durch die Mutter wird weder das weibliche noch durch den Vater das männ- liche Geschlecht vererbt, wie man, abgesehen von den schon be- sprochenen allgemeinen Gesichtspunkten, auch aus einer Reihe einzelner Erscheinungen schließen muß. Besonders deutlich tritt uns dies in den eigentümlichen, von SIE- BOLD entdeckten Zeugungserscheinungen der Bienen und verwandter Insekten entgegen. Denn die unbefruchteten Eier der Bienenkönigin werden zu Drohnen, die befruchteten Eier dagegen zu weiblichen Tieren, entweder zu Arbeitsbienen oder zu Königinnen. Es hängt daher von besonderen, nicht erblichen Faktoren ab, ob das Zeugungsprodukt sich zu einer weiblichen oder männlichen Variante entwickeln wird. Denn der Umstand, daß das Bienenei in einem Fall von einem Samenfaden befruchtet wird ‚im anderen nicht, kann nicht als ‚‚Gen‘“ bereıts in das Idioplasma der Bienenartzelle hineinverlegt werden. Die Ausbildung der äußeren Geschlechtsmerkmale und der sekundären Geschlechts- charaktere aber beruht, wie schon im IV. Kapitel (S. 160) besprochen wurde, auf korrelativer Entwicklung und erfolgt daher in Abhängigkeit und unter dem Einfluß der sich nach männlichem oder weiblıchem Typus entwickelnden Keimdr! sen. Aus allen diesen Gründen erscheint mir eine Besprechung des ge- schlechtlichen Dimorphısmus in dem Kapitel, das über die Variabilität der Organismen im erweiterten Umfang handelt, vollauf gerechtfertigt. Sie kann aber nur in kurzen Zügen gegeben werden, da es sich um ein sehr schwieriges Gebiet handelt, welches zurzeit noch wenig experimentell durchforscht und wenig geklärt ist. Ich beschränke mich daher darauf, Die Variabilität der Organismen. 291 I. eine Anzahl Beobachtungen aus meiner Biologie zusammenzustellen, welche mir für eine Geschlechtsbestimmung durch äußere Faktoren beweisend zu sein scheinen, und 2. zum Schluß auch das jetzt viel dis- kutierte Thema der Geschlechtschromosomen kurz zu berühren. a) Experimentelle Beeinflussung des Geschlechts durch äußere Faktoren"). Unter den Pflanzen liefern namentlich viele Kryptogamen geeignete Objekte zur Vornahme von Versuchen. Wie aus einem großen Teil der- selben hervorgeht, ‚setzt die Produktion weiblicher Geschlechtszellen gegenüber derjenigen der männlichen im allgemeinen einen besseren Er- nährungszustand der Pflanzen voraus‘ (Oscar SCHULTZE). So erhielt PRANTL, als er Sporen von Osmunda und Ceratopteris auf stickstoffreie Nährlösungen aussäte, anstatt hermaphroditer nur männliche Prothallier ; doch wurden nachträglich neben den Antheridien auch noch Archegonien gebildet in den Fällen, in denen später salpetersaures Ammoniak zur Nährlösung hinzugesetzt wurde. Umgekehrt wurden rein weibliche Prothallien bei sehr stickstoffreicher Nährlösung gezüchtet. Durch eine andere Versuchsanordnung konnte KLEBs, als er durch mangelhafte Beleuchtung die Ernährung hemmte, zwitterige Prothallien von Farnen in rein männliche umwandeln. Ähnliche Ergebnisse wurden von PERRIN bei Kulturversuchen von Polypodiaceen unter Veränderungen des Nähr- bodens, der Belichtung, der Temperatur usw. gewonnen. Nach BUCHTIEN sind Prothallien von Equisetum pratense, die auf gutem Nährboden Archegonien hervorgebracht haben, bei Verpflanzung auf mageren Boden nur noch imstande, Antheridien zu erzeugen. Gestützt auf zahlreiche derartige Befunde, kann man daher mit GOEBEL sagen: „schlecht ernährte Prothallien werden männlich, gut ernährte weiblich, und man kann weibliche Prothallien durch schlechte Ernährung dazu bringen, statt der Archegonien Antheridien zu bilden.“ Im Gegensatz zu diesem Verhalten der Kryptogamen ist bei den diözischen Phanerogamen der Geschlechtscharakter durch äußere Ein- griffe so gut wie gar nicht zu beeinflussen. Das Geschlecht ist bereits im Samen — wie die langjährigen Versuche von STRASBURGER ergeben haben — im voraus fest und unabänderlich bestimmt. Einen Übergang vermitteln indessen einige monözische Pflanzen. Denn Melonen und Gurken, welche an demselben Stamm männliche und weibliche Blüten ı) Hertwig, Richard, Über den derzeitigen Stand des Sexualitätsproblems etc, Biolog. Zentralbl., Ba. XXXI/, 1912. 19* 292 Achtes Kapitel. erzeugen, entwickeln bei hoher Temperatur nur die männliche, im Schatten dagegen nur die weibliche Form. | Endlich sprechen auch tierische Experimente, deren Zahl freilich zurzeit noch eine kleine ist, für eine Beeinflussung des Geschlechts durch äußere Faktoren. Ohne Frage hängen von Ernährungs- und Temperatur- verhältnissen in hohem Maße die Erscheinungen ab, welche beim Gene- rationswechsel der parthenogenetischen Crustaceen und Insekten in der Natur beobachtet werden. Sie sind daher auch schon zum Gegenstand experimenteller Forschung mit Erfolg gemacht worden. v. BAEHR konnte in einfacher Weise bei der Reblaus die parthenogenetische Periode zum Abschluß bringen, wenn er die Jungfernweibchen in Glasgefäßen kulti- vierte und ihnen Wurzeln des Weinstocks als Nahrung darbot. Denn kurze Zeit, nachdem die Wurzeln abgestorben waren, traten unter dem Einfluß des Futtermangels die geflügelten, geschlechtlichen Formen auf. Wie NussBAaum mit Recht hierzu bemerkt, dient in diesem Fall, wie auch in ähnlichen anderen Fällen, die Erwerbung der Flügel dazu, die wegen Futtermangels dem Aussterben nahe Kolonie an neue Weideplätze zu führen. Dort werden bei besserem Futter die aus den befruchteten Eiern hervorgegangenen Generationen von neuem wieder zu flügellosen Jungfernweibchen umgestaltet. Der Wert der BAEHRschen Beobachtungen liegt darin, daß man zu allen Jahreszeiten durch das Experiment die geflügelte Form und aus ihr die geschlechtlich differenzierten größeren weiblichen und kleineren männlichen Eier gewinnen und so die An- schauung widerlegen kann, es bestünden unabänderlich an die Jahreszeit gebundene Zyklen. Im Experiment können wir zu jeder Jahreszeit die typischen Verschiedenheiten eines Jahreszyklus erzeugen. Am häufigsten haben drei Objekte zu Experimenten über künstliche Geschlechtsbestimmung gedient: Hydra, das Rädertier, Hydatina senta _ und Rana esculenta. Seine an Hydra angestellten ausgedehnten Untersuchungen faßt M. NussBAUM zu dem Ergebniss zusammen, daß das Maß der Er- nährung und namentlich Schwankung derselben die Knospung und die Geschlechtsbildung beherrscht, daß ferner für die Entstehung des einen oder des anderen Geschlechts aus der indifferenten Anlage gleichfalls die Art der Ernährung mit großer Wahrscheinlichkeit die Ursache ist, daß aber der Beweis einer Umwandelbarkeit des Geschlechts an einem und demselben Tier bis jetzt noch fehlt. Bei Hydatina senta konnten MAupAs und NuUSsBAUM den Nach- weis führen, daß nur während einer bestimmten Periode, die wir am anderen Ort als die sensible bezeichnen werden, ein Einfluß auf die Die Variabilität der Organismen, 293 Geschlechtsbestimmung des Eies durch äußere Faktoren ausgeübt werden kann. Diese Periode ist die Zeit, in welcher sich das Ei noch in der Mutter entwickelt. Wenn es abgelegt ist, befindet es sich schon in einem nach männlicher oder weiblicher Richtung determinierten Zustand, der sich dann nicht mehr abändern läßt. Es muß daher schon auf die Elterntiere einzuwirken versucht werden. Nach der Ansicht von Maupas sind Tem- peraturdifferenzen ein das Geschlecht bestimmender Faktor bei Hydatina senta. Unter gewöhnlichen Verhältnissen legen manche Weibchen nur Eier, welche wieder Weibchen hervorbringen, dagegen andere Individuen nur Eier, aus welchen sich ausschließlich Männchen entwickeln. In zahlreichen Versuchen konnte nun MAaupas durch Erhöhung oder Er- niedrigung der Temperatur zur Zeit, in welcher die Eibildung im Ovarıum bei jungen Tieren im Gang war, erreichen, daß sich im einen Fall die Entwicklungsrichtung zum männlichen, im anderen Fall zum weiblichen Typus vollzog. In einem Experiment, bei welchem 5 noch nicht er- wachsene Weibchen von Hydatina bei Zimmertemperatur (26—28° C) gezüchtet wurden, erhielt MAaupas unter 104 Eiern nur 3 Proz., welche sich zu Weibchen entwickelten, dagegen von 5 anderen Weibchen der- selben Zucht, die sich im Wasser von I4-15° C befanden, nicht weniger als 95 Proz. In einer anderen Versuchsserie wurden junge Tiere zuerst einige Tage bei niederer, alsdann bis zum Tode beı höherer Temperatur gezüchtet. Im ersten Zeitraum brachten sie fast ausschließlich Weibchen (76 Proz.), im zweiten Zeitraum Männchen (81 Proz.) hervor. Die von MaupAs gewonnenen Ergebnisse haben bald nach ihrer Veröffentlichung eine andere Deutung durch NussBAuM erfahren. Nach den von ihm angestellten Experimenten, in denen die Ernährung ver- ändert wurde, ist die bessere oder schlechtere Versorgung mit Futter der für die Geschlechtsbildung entscheidende Faktor. Junge Weibchen, die sich unter guter Ernährung entwickeln, legen später nur weiblich determinierte Eier ab, bei schlechter Ernährung dagegen nur männliche Eier. Auch die von Maupas erzielten Resultate will NussBAUM in dieser Weise gedeutet haben, indem er die Entwicklung des männlichen oder des weiblichen Geschlechts nicht durch die im Experiment gesetzten Temperaturunterschiede, sondern durch gleichzeitig in den Zucht- gefäßen eintretende Veränderungen in den Ernährungsbedingungen der Rotatorien verursacht sein läßt. NussBAum hält seine Ansicht, für welche uns mancherlei zu sprechen scheint, auch gegenüber den etwas abweichenden Ergebnissen von PUNNETT und WHITNEY aufrecht. Auch nach unserer Ansicht ist jedenfalls die Ernährung ein Faktor, welcher 294 Achtes Kapitel. bei den Versuchen über die Bestimmung des Geschlechts mit in erster Linie zu beachten ist. Über künstliche Beeinflussung des Geschlechts an den Eiern von Rana esculenta hat RICHARD HERTWIG über mehrere Jahre ausgedehnte Versuche angestellt und beobachtet, daß es hierbei von entscheidender Bedeutung ist, ob das Ei zur Zeit der normalen Reife oder im Zustand der Überreife befruchtet wird. „Als normale Zeit der Entleerung be- trachtet er den Zeitpunkt, in welchem das vom Männchen besprungene Weibchen anfängt, seine Eier abzusetzen. Ist eine nicht zu geringe Zahl (etwa 300—400) Eier entleert und der prall gefüllte Uterus etwas entlastet, so kann man durch Entfernen des Männchens das Laichgeschäft unter- brechen und beide Tiere an einem kühlen, nicht allzufeuchten Ort ge- trennt aufbewahren, ohne daß der Rest der Eier abgelegt wird. Indem man das Männchen in Zwischenräümen von 24 Stunden wieder mit dem Weibchen vereinigt und nach erfolgter Ablage einer zweiten Portion von Eiern aufs neue trennt usw., kann man von einem und demselben Pärchen Befruchtungen von 24, 48, 72, 96 Stunden Überreife erzielen. Bei der letzten Befruchtung ist es zweckmäßig, künstliche Besamung vorzu- nehmen, da bei wiederholten Störungen des Laichgeschäfts das Männchen leicht versagt, so daß dann unbefruchtete Eier abgelegt werden.‘ Bei Vergleichung der durch Früh- oder Spätbefruchtung gewonnenen Kui- turen erzielte RICHARD HERTWIG sehr auffallende Kontraste. Während bei den Larven, die aus einer Normalkultur gezüchtet wurden, beide Geschlechter in annähernd gleicher Zahl vertreten waren — so kamen z. B. in einem Fall 58 $ auf 53 2 — überwog mit der Zunahme der Spät- befruchtung immer mehr das männliche Geschlecht. Ineinem Experiment, in welchem eine Überreife von 89 Stunden vorlag, wurden weibliche Tiere überhaupt ganz vermißt; es wurden 299 $ und ein lateraler Hermaphrodit erhalten, welcher rechts männlich, links weiblich war. In einer anderen’ Versuchsserie mit einer Überreife der Eier von 96 Stunden entwickelten sich Larven, die in allen 27 Fällen, in welchen die genauere Geschlechts- bestimmung vorgenommen wurde, sich als männliche erwiesen. „Diese Zahl“, bemerkt RıcHArRD HERTWIG mit Recht, „ist eine so gewaltige, daß auch die in Verlust gegangenen Tiere an dem Resultat nichts ändern können.‘ Die bei Rana esculenta erhaltenen Ergebnisse benutzt RICHARD HERTWwIG auch zur Erklärung der auffallend hohen Sexualitätsunter- schiede bei Hunden und bei Fischen, bei denen die künstliche Befruchtung geübt wird. Bei Hunden, bei denen auf 100 @ 138 $ durchschnittlich geboren werden, bringt er sie in Zusammenhang mit dem Wunsch der Die Variabilität der Organismen. 295 Hundezüchter, möglichst viel Rüden zu züchten, und mit der in Kreisen der Hundezüchter herrschenden, nach seiner Ansicht durchaus richtigen Meinung, daß Hündinnen mehr männliche Nachkommen erzeugen, wenn sie relativ spät gedeckt werden. In gleicher Weise erklärt HorFER das seit Einführung der künstlichen Befruchtung beobachtete Überwiegen der Männchen ‚‚aus der Praxis der Fischzüchter, welche erst eine Zahl laichreifer Weibchen zusammenkommen lassen, ehe sie die künstliche Befruchtung ausführen. Es ist klar, daß bei einem solchen Verfahren einige Fische überreif werden müssen.“ b) Die sogenannten „Geschlechtschromosomen“ (sex chromosomes). Daß die Lösung des Sexualitätsproblems mit großen Schwierig- keiten verknüpft ist und noch zu den dunkelsten Gebieten der Biologie gehört, wurde bereits hervorgehoben. So scheint die Lehre von den Heterochromosomen!) sich mit den hier vorgetragenen Ergebnissen der experimentellen Forschung nur schwer in Einklang bringen zu lassen. Es hat sich nämlich auf Grund mikroskopischer Beobachtungen, die vor- zugsweise an vielen Vertretern der Insektenklasse angestellt worden sind, ergeben, daß bei ihrer Spermiogenese 2 Arten von Samenfäden gebildet werden. Diese unterscheiden sich im wesentlichen dadurch voneinander, daß die einen ein Chromosom,, welches Heterochromosom oder Geschlechts- chromosom heißt, mehr besitzen als die anderen. Der Unterschied erklärt sich aus dem Verlauf der beiden Reifeteilungen der Spermatocyten. Aus dem ruhenden Kern derselben entsteht eine unpaare Zahl von Chromo- somen, unter denen sich eins, das Heterochromosom, von den übrigen durch manche Eigentümlichkeiten auszeichnet, wie durch seine Ab- stammung vom Nucleolus des ruhenden Kerns. Bei den 2 Karyokinesen erhalten dann von den 4 Spermatiden, die aus einer Spermatocyte her- vorgehen, nur zwei ein Teilstück vom Heterochromosom, während die beiden anderen leer ausgehen. Je nachdem nun die Eier von einem Samen- faden mit oder ohne Heterochromosom befruchtet werden, entwickeln sich aus ihnen weibliche oder männliche Individuen. Daher werden die beiden Arten von Spermatozoen auch als die ‚female producing and male producing form‘ unterschieden. Daß der Dimorphismus der Samenfäden bei den Insekten mit der Geschlechtsbestimmung der Eier zusammenhängt, muß nach dem vor- I) Wilson, E., The sex chromosomes, Arch. f. mikrosk. Anat., Bd. LX XVII, ıgıı. 296 Achtes Kapitel. liegenden Tatsachenmaterial als sehr wahrscheinlich bezeichnet werden; dagegen ist mir zweifelhaft, ob das Heterochromosom überhaupt aus einer Substanz besteht, welche dem Chromatin des Kerns gleichwertig ist. Denn wenn es sich von dem Nucleolus des Kerns herleiten sollte, wie von verschiedenen Seiten angegeben und von MONTGOMERY durch den Namen ‚Nucleoluschromosom‘ ausgedrückt worden ist, so würde damit seine substantielle Verschiedenheit bewiesen sein. Vollkommen unklar aber ist der ursächliche Zusammenhang, wie das Vorhandensein oder Fehlen des Heterochromosom im Samenfaden den weiblichen oder den männlichen Charakter des Eies bei der Entwicklung bestimmt. Bei dieser mangelnden Einsicht kann eine allgemeine Theorie der Geschlechts- bestimmung um so weniger auf diese mikroskopischen Befunde basiert werden, als sie bis jetzt doch nur bei einem sehr engen Kreis von Lebe- wesen gemacht worden sind, so daß eine Verallgemeinerung zurzeit noch unmöglich ist. Mit Recht drückt sich daher auch einer der Hauptforscher auf dem vorliegenden Gebiet, E. WıLson, sehr vorsichtig in betreff der ursächlichen Bedeutung der Heterochromosomenbefunde aus, wenn er in seiner letzten zusammenfassenden Schrift schreibt: ‚Es ist möglich, zu behaupten, wie einige Forscher tun, daß die Geschlechtschromosomen nicht ein determinierender Faktor, sondern nur eine Begleiterscheinung des Geschlechts sind. Ich selbst betrachte sie auch nicht als Geschlechts- determinanten in irgendeinem exklusiven Sinne. Ich sehe in ihnen nur ein Glied — vielleicht ein wesentliches — in einer Kette von Faktoren, durch welche das Geschlecht bestimmt und vererbt wird; und da sie die am meisten zugänglichen von diesen Faktoren sind, so müssen wir zum Zweck der Analyse unsere Aufmerksamkeit auf sie richten.‘ Bei dieser Sachlage kann aber das eine schon jetzt als ausgemacht betrachtet werden: Wenn man alle Einrichtungen, die zur Erhaltung der Art durch Zeugung im Pflanzen- und Tierreich dienen, überblickt, so sind viele derselben, abgesehen von der schon besprochenen experi- mentellen Beeinflussung des Geschlechts durch äußere Faktoren, durch die Lehre von den Geschlechtschromosomen nicht zu erklären. Dies gilt namentlich von dem bei Pflanzen und Tieren weit verbreiteten Hermaphroditismus. Denn wenn hier das befruchtete Ei einen vielzelligen Organismus entstehen läßt, der im Laufe seiner Entwicklung nebenein- ander sowohl männliche wie weibliche Keimzellen hervorbringt, so muß es ohne Frage als noch geschlechtlich neutral bezeichnet werden. Hier können bei der Befruchtung weder die weiblichen noch die männlichen Keimzellen auf das Geschlecht determinierend einwirken, trotzdem eine Reduktionsteilung während der Ovogenese und Spermiogenese ebensogut Die Variabilität der Organismen. 297 bei hermaphroditen wie bei getrennt geschlechtlichen Tieren beobachtet wird. Selbst für den Fall, daß bei einem Hermaphroditen zwei Arten von Samenfäden sollten aufgefunden werden, würde sich dies für die Frage nach der Geschlechtsbestimmung nicht verwerten lassen. Denn mag das Ei von dieser oder jener Art von Samenfäden befruchtet werden, so besitzt doch in beiden Fällen der aus ihm entwickelte hermaphrodite Organismus die Fähigkeit, beiderlei Arten von Keimzellen hervorzu- bringen. Obhier oder dort sich die einen oder die anderen bilden, hängt von Bedingungen ab, die uns zurzeit wie in den meisten Fällen, in denen wir nach den Ursachen fragen, noch unbekannt sind. Ebenso ist von vornherein eine Einwirkung der Samenfäden auf die Bestimmung des Geschlechts in den allerdings seltenen Fällen aus- geschlossen, in denen zweierlei Arten von Eiern im Ovarium ihren Ursprung nehmen, eine Art, die sich zu Weibchen, und eine andere, die sich zu Männchen zu entwickeln schon vor der Befruchtung prädestiniert ist. Das bekannteste Bei- spiel (Fig. 38) hierfür liefert die Turbel- larie Dinophilus. Sie legt Kokons ab, in denen sich neben großen Eiern (?} ’ auch auffallend kleinere (3) befinden. Die einen werden, wie KORSCHELT fest- Fig. 38. Eikokon von Dino- { 3 philus apatris mit größeren Eiern (?), gestellt hat, zu Weibchen, die anderen aus denen Weibchen, und kleineren Eiern („?), aus denen Männchen hervor- zu den auch durch geringere Körper- N eg Re größe ausgezeichneten Männchen. Da die Größe der Eier schon im Ovarıum vorher bestimmt ist, kann die Befruchtung in diesem Fall keinen Einfluß mehr auf das Geschlecht ausüben. Ähnliche Verhältnisse sind auch bei einigen Rotatorien und Phylloxeraarten nachgewiesen worden. Bei letzteren werden beim Eintritt ungünstiger Ernährungs- verhältnisse von einzelnen parthenogenetischen Weibchen größere weib- liche, von anderen kleinere männliche Eier gelegt. So ist auch hier schon vor der Bildung der Polzellen und der mit ihr sich vollziehenden Chro- mosomenverteilung und vor der Befruchtung darüber entschieden und an der Eigröße zu erkennen, ob sich ein Männchen oder ein befruchtungs- bedürftiges Phylloxeraweibchen bilden wird. Ein analoges Verhältnis, wie die Entstehung weiblicher oder männ- licher Eier bei Jungfernweibchen, bieten uns die heterosporen Krypto- gamen im Pflanzenreich dar. Bei ihnen entstehen auf ein und demszlben 298 Achtes Kapitel, Blatt zwei Arten von Sporen nebeneinander, die Makro- und die Mikro- sporen ; sie lassen sich den großen und den kleinen Eiern von Phylloxera und Dinophilus vergleichen. Die einen werden in besonderen Makro- sporangien, die anderen in Mikrosporangien gebildet. Die Makrosporen geben weiblichen, die Mikrosporen männlichen Prothallien den Ursprung. Also auch in diesen Fällen wird über das Geschlecht schon früh durch Faktoren entschieden, welche den Organismus treffen, der sowohl Makro- wie Mikrosporen erzeugt. Zugleich läßt sich auch aus diesen Befunden der Schluß ziehen, daß die bessere Ernährung des Eies (größere Eier von Dinophilus, von Rotatorien, von Phylloxera, Makrosporen der Krypto- gamen) für die Bestimmung zum weiblichen Geschlecht von Einfluß ist. 2. Die Varianten beim Saisondimorphismus und beim Polymorphismus im Tierreich. Außer dem Geschlechtsdimorphismus kommen im Tierreich und besonders häufig im Stamm der Arthropoden auch sehr interessante Fälle vor, die uns lehren, daß Repräsentanten derselben Art trotz gleicher Beanlagung infolge wechselnder Einflüsse des Klimas, der Ernährung etc. uns im ausgewachsenen Zustand in einem sehr verschiedenartigen Gewand entgegentreten. Auch hier können die Unterschiede zwischen zwei Individuen so groß werden, daß wir sie ohne Bedenken zu verschiedenen Arten, ja selbst Gattungen rechnen würden, wenn wir nicht von ihrer gleichen Herkunft unterrichtet wären. Hauptbeispiele dieser Art sind der Saisondimorphismus der Schmetterlinge und der Polymorphismus gewisser Tierstöcke, wie der Bienen, der Ameisen und der Termiten. Unter Saisondimorphismus der Schmetterlinge versteht man die Erscheinung, daß einige Arten in zwei, oft auffällig verschiedenen Formen vorkommen, die nach den Jahreszeiten miteinander abwechseln und daher als Winter- und als Sommervariante bezeichnet werden können. Die Winterform entwickelt sich aus Puppen, die überwintert haben, die andere aus Puppen, welche ihre ganze Entwicklung aus dem Ei, soWwie auch die Raupen- und Puppenmetamorphose in den Frühjahrs- und Sommermonaten durchmachen. Die erste oder die Winterform hat daher ihre Flugzeit im Frühjahr, die zweite oder die Sommerform im Sommer und Herbst. Beide Formen sind in der Färbung und Zeichnung der Flügel bei manchen Schmetterlingsarten vo serschieden voneinander, daß sie, wie z. B. bei Vanessa, als besondere Spezies (Fig. 39) beschrieben worden sind, bis die Kultur der einen Form aus den Eiern der anderen gelang. Die Variabilität der Organismen, [299 Ein Saisondimorphismus kommt vor bei Vanessa, bei Papilio Ajax, bei Autocharis, bei Lycaena, bei verschiedenen Pierisarten etc. Bei diesen Arten: werden die Wintervarianten als Vanessa Levana (Fig. 39 A), Papilio Ajax Telamonides, Autocharis Belia, Autocharis Belemia, Lycaena Polysperchon, Pieris bryoniae beschrieben; die zu ihnen gehörenden Sommervarianten sind Vanessa prorsa (Fig. 39 B), Papilio Ajax Marcellus, Autocharis Ausonia, Autocharis glauca, Lycaena Amyntas, Pieris napi. Die Ursache für die beiden Saisonvarianten ist einzig und allein die sehr verschiedene Temperatur, unter welcher sich die Eier, Raupen und Puppen entwickelt haben. Der unumstößliche Beweis für die Richtig- keit dieser Erklärung ist durch zahlreiche und zum Teil sehr umfang- reiche Experimente von DORFMEISTER, WEISMANN, STANDFUSS, FISCHER etc. geliefert worden. Durch künstliche Veränderung der Temperatur gelang es ihnen, aus Puppen, aus welchen die Sommerform hätte aus- Fig. 39. Vanessa Levana 7 Aus CLAUS GROBBEN. schlüpfen sollen, die Winterform oder wenigstens Zwischenformen zwischen beiden, die allerdings in der Natur gewöhnlich nicht vorkommen, künstlich zu züchten. Noch interessanter als beim Saisondimorphismus sind die Varianten, auf denen der Polymorphismus mancher Tierstöcke und die oft weit gediehene Arbeitsteilung zwischen ihren Individuen beruht. Am bekanntesten sind dieselben von den Bienen, Termiten und Ameisen und werden hier nach den Beobachtungen kompetenter Forscher, wie EMERY, GRAssI, FOREL etc., hauptsächlich durch verschiedene Er- nährung während der Entwicklung verursacht. Wie schon seit langer Zeit den Bienenzüchtern bekannt ist, können sich aus den befruchteten Eiern der Königin entweder Arbeiterinnen oder wieder Königinnen ent- wickeln. Ihre Keimanlage ist gleichsam nach zwei oder mehreren Rich- tungen eingestellt. Ob die aus der Anlage sich entwickelnde fertige Form in dieser oder jener Weise ausgeprägt w‘rd, hängt, wie im Pflanzen- reich bei den Standortsmodifikationen und den Varianten mit doppelter Anpassung, oder wie beim tierischen Saisondimorphismus etc., von dem 300 Achtes Kapitel. Eintritt bestimmter äußerer Faktoren ab, nämlich davon, in welche Zellen des Bienenkorbs die Eier abgelegt und in welcher Weise sie ernährt werden. In besonders große Zellen (Weiselwiegen) gebracht und mit Königinnen- futter reichlich ernährt, werden die Eier zu Königinnen, dagegen zu Arbeiterinnen bei knapper Kost in engeren Zellen. Eine nachträgliche Umwandlung von Arbeiterlarven in Königinnen ist sogar möglich, wenn ihnen noch zeitig genug Königinnennahrung geboten und eine Um- quartierung in größere Zellen vorgenommen wird. Noch größer als bei den Bienen ist der Polymorphismus der Indi- viduen im Termitenstaat (Fig. 40). Außer der Königin (2) und den Arbeitern (3) gibt es hier auch noch die Kaste der Soldaten (4), welche an der Größe und besonderen Form ‚ihres Kopfes und der Beıßzangen leicht kenntlich sind. Nach den Er- mittlungen des italienischen Zoologen GrAssı können die Termiten durch Verabreichung einer entsprechenden Nahrung Arbeiter und Soldaten je nach Bedürfnis züchten und ihre Zahlenverhältnisse regulieren; eben- so haben sie es in ihrer Macht, die Geschlechtsreife anderer Individuen zum Ersatz von Geschlechtstieren Fig. 40. Termes lucifugus. Nach in ähnlicher Weise zu beschleunigen. ie werner Ge Auch die Arbeiterbildung bei der Flügel mit Resten derselben, 3 Ar- den Ameisen erklärt EMERY „aus nealdar, einer besonderen Reaktionsfäh:gkeit des Keimplasmas, welches auf die Einführung oder auf den Mangel gewisser Nährstoffe durch raschere Ausbildung gewisser Körperteile und Zurückbleiben anderer in ihrer Entwicklung antwortet. ‚„Arbeiternahrung muß die Kiefer- und Gehirn- entwicklung gegen die der Flügel und der Geschlechtsteile bevorzugen, Königinnennahrung umgekehrt.‘ Um die Größe der während der Entwick- lung entstehenden Formdifferenzen begreiflich erscheinen zu lassen, ist auch nicht zu übersehen, daß eine Korrelation zwischen der Verkümme- rung der Geschlechtsdrüsen und der stärkeren Ausbildung des Kopfes stattfindet, gerade so wie bei den Wirbeltieren zwischen der Entwicklung männlicher oder weiblicher Geschlechtsdrüsen und den ihnen entsprechen- den sekundären Sexualcharakteren. Die Variabilität der Organismen. 301 Es muß daher die von EMERY eingeführte Bezeichnung Nahrungs- polymorphismus zur Erklärung der verschiedenen Varianten, zu welchen sich die Termiten, Bienen und Ameisen entwickeln, als eine durchaus passende und zweckmäßige gelten. Zum Schluß dieses Abschnittes sei noch darauf hingewiesen, daß die Variabilität nur auf ein oder auf wenige Merkmale beschränkt sein kann. Sie läßt sich gewöhnlich auf Ernährungseinflüsse zurückführen. So erhalten der Gimpel und einige andere Vögel ein dunkles Gefieder, wenn sie mit Hanfsamen gefüttert werden. Bei Zusatz von rotem Pfeffer zur Nahrung färben sich die Federn bei Kanarienvögeln rötlich (PLATE). Bei einigen Schmetterlingsarten entstehen Varianten der Färbung, wie den Lepidopterologen bekannt ist, wenn die jungen Raupen auf ver- schiedenen Futterpflanzen gehalten werden. Alle diese Veränderungen kommen aber in den nächsten Generationen nicht wieder zum Vorschein, wenn nicht die gleichen äußeren Faktoren, durch die sie bei den Eltern- generationen hervorgerufen worden sind, auch auf die Tochter- und die Enkelgenerationen wieder einwirken. Es würden sich derartige Beispiele noch in größerer Zahl aus der Literatur zusammenstellen lassen; indessen reichen schon die ange- führten vollständig aus, um uns auf dem vorliegenden Gebiet der Varia- bilität zu orientieren und um später zu einigen theoretischen Fragen, die sich bei ihrer Beurteilung erhoben haben, Stellung zu nehmen. 3. Die Standorts-, die Kultur- und Umschlagsvarianten im Pflanzenreich. Um das Verständnis der in der Überschrift aufgeführten Variationen der Spezies auf botanischem Gebiet hat sich NÄGELI durch zielbewußte, über 12 Jahre (I864—76) ausgedehnte Kulturversuche an der arten- reichen Familie der Hieracien ein hervorragendes Verdienst erworben. _ In seinem Werk über die mechanisch-physiologische Theorie der Ab- stammungslehre hat er für sie den Ausdruck Standortsmodifikationen eingeführt und darunter solche Veränderungen einer Spezies verstanden, die durch besondere äußere Einflüsse, durch Nahrung, Klima, Be- lichtung etc. hervorgerufen werden, aber nicht durch den Keim auf die Nachkommen übertragbar sind, sofern diese nicht wieder unter den ent- sprechenden Bedingungen des Milieu aufwachsen. Wenn dies indessen _ geschieht, kommen dieselben Veränderungen, die sich oft auf viele Eigen- schaften und Merkmale erstrecken, auch bei ihnen wieder unfehlbar zum Vorschein. Alpenhieracien, die klein und einköpfig sind, nehmen, in den Garten N 1 302 Achtes Kapitel. verpflanzt, schon während des ersten Sommers den Habitus von Pflanzen der Ebene an und werden groß, verzweigt und vielköpfig, so daß man sie oft kaum wiedererkennt. Sie behalten dabei aber trotz ihres stark veränderten Habitus viele andere erbliche Merkmale ganz unverändert bei. Selbst der Eintritt ihrer Blüte bleibt in der Ebene trotz der ver- änderten Temperatur fast bis auf den Tag der gleiche wie im Gebirge. Werden dann im nächsten oder in einem noch späteren Jahre die im Garten veränderten Exemplare wieder in das Hochgebirge zurückversetzt oder auch nur auf einen mageren Kiesboden verpflanzt, so nehmen sie wieder ihren ursprünglichen alpinen Habitus an. Um den Formenwechsel hervorzurufen, ist es gleichgültig, ob man die ganzen Pflanzen versetzt, und aus ihnen im nächsten Jahr sich neue Triebe entwickeln läßt, oder ob man aus dem gleichen Samen einer Mutterpflanze durch gleichzeitige Aussaat im Gebirge und in der Ebene die zwerghafte alpine und die üppige Gartenvariante zieht. Wie bei Hieracien ıst Ähnliches auch bei vielen anderen Pflanzen beobachtet worden. In seiner Einführung in die experimentelle Ver- erbungslehre beschreibt Baur ein Beispiel aus den umfassenden Ver- suchen des Pariser Botanikers GASTON BONNIER. Wenn man von dem ge- meinen, allbekannten Löwenzahn, Taraxacum dens leonis (Fig. 4I) ein Exemplar in zwei Stücke schneidet und die eine Hälfte in das Hoch- gebirge, die andere in einen in der Ebene gelegenen Garten einpflanzt, so werden schon nach ein paar Monaten ‚die beiden Hälften sehr ver- schieden aussehen, so verschieden, daß man die beiden Individuen wohl kaum für die gleiche Spezies halten würde, wenn nicht ihre Geschichte bekannt wäre. Die Alpenpflanze (M) wird zunächst nur !/,, so groß als die aus der Tiefebene (P), aber auch die Form und der anatomische Bau der Blätter, die Art der Behaarung, die Blütenfarbe usw. werden ganz wesentlich verschieden. Wenn wir nun eine solche, im Gebirge völlig veränderte Pflanze wieder ausgraben und in die Ebene zurück- bringen, so nehmen die hier neu zuwachsenden Teile ganz die alte uns vertraute Form wieder an.‘“ Auch wenn man vom Samen des in der Ebene gezogenen Löwenzahns einen Teil in der Ebene und einen Teil im Gebirge aussät, wird man die beiden äußerlich so verschiedenen Varianten erhalten ; auch wird der Samen der Gebirgsvariante im anderen Jahr in die Ebene gesät wieder die dieser entsprechende Form liefern. Entsprechende Gegensätze zeigen das Edelweiß, Gnaphalium leonto- podium, oder das Heliarthemum vulgare, das DE VRIES als Beispiel bespricht und abbildet. Im Hochgebirge zeigen beide Pflanzen einen ganz anderen Habitus als bei ihrer Kultur im flachen Lande. Derartige Die Variabilität der Organismer, 303 Beispiele lassen sich auf Grund der Experimente von NÄGELI, von BONNIER, KLEBS u. a. in sehr großer Zahl zusammenstellen. n vr | R Fig. 41. Modifikationen vom Löwenzahn, Taraxacum dens leonis. Nach BONNIER aus LANG. 7? Exemplar aus der Ebene und M aus dem Gebirge, beide gleichmäßig verkleinert. 7! ist dasselbe Exemplar wie J/ in °®/, natürlicher Größe. In unserer kurzen Übersicht von lehrreichen Fällen soll auch eine sehr auffällige und interessante Ernährungsvariante nicht unerwähnt n 304 Achtes "Kapitel. bleiben, die von GÖBEL in seiner Einleitung zur experimentellen Mor- phologie der Pflanzen beschrieben und abgebildet worden ist. Sie be- trifft das bei uns weit verbreitete Farnkraut, Polypodium vulgare. Dasselbe hat als Normalform einfach fiederteilige Blätter (Fig. 42 rechts). Es gibt aber auch häufig abweichende Modifikationen, „so z. B. die als Fig. 42. Polypodium vulgare nach GÖBEL. Rechts: Blatt der „Normalform‘‘. Links: Blatt der als „trichomanoides“ bezeichneten Variante. P. cambricum und die als P. tricho- manoides (Fig. 42 links) bezeichnete Form. Diese hat dünne, viel reicher geteilte Blätter. Pflanzt man der- artige Pflanzen in einen trockenen, ste- rilen Boden "und gibt den Töpfen einen ungeschützten Standort, so tritt nach kürzerer oder längerer Zeit die ‚normale‘ Blattform wieder auf; vielfach bilden. sich auch Übergangsformen.‘ Wie durch Kul- tur im Gebirge oder im Flachland, können auch sehr verschiedene Varian- ten ein und der- selben Pflanzenart durch AnpassungandasLebenimWasser oder aufdemLande hervorgerufen werden. In ihrem allgemeinen Habitus und in vielen auffälligen Zügen ihrer Organisation sind ja die Wasser- und die Landpflanzen voneinander wesentlich unterschieden, was sich aus den andersartigen mechanischen, chemischen, thermischen und anderen Bedingungen des umgebenden Mediums, hier des Wassers, dort der Luft, erklärt. So sind bei Wasser- pflanzen die mechanischen Gewebe gar nıcht oder nur in viel geringerem Maße als bei Landpflanzen entwickelt, weil Zweige und. Blätter mit dem 4 4 Die Variabilität der Organismen. > 305 Wasser nahezu das gleiche spezifische Gewicht haben und flottierend aufrecht erhalten werden. Da Wasseraufnahme und Wasserabgabe bei ihnen in anderer Weise als bei Landpflanzen erfolgen, fehlen die saft- leitenden Gefäße oder sind wenig entwickelt, die Blätter sind zarter, mit dünner Cuticula. Ihr Bau wird statt dorsoventral mehr zu einem isolateralen. Nun gibt es auch eine Anzahl von Pflanzenarten (Mentha aquatica, Glechoma hederacea, Scrophularia, Polygonum amphibium), welche, in Sümpfen oder am Rand von Bächen und Flüssen wachsend, gelegentlich auch längere Zeit ganz in Wasser eingetaucht leben können ; auch können sie künstlich unter Wasser gezüchtet werden. Die unter Wasser ent- standenen Teile dieser gewissermaßen akzidentellen Hydrophyten zeigen gleichfalls morphologische Abänderungen mehr oder minder ausgeprägter Art; sie nähern sich der Struktur echter Hydrophyten und lassen sich als Zeugnisse für den umgestaltenden Einfluß des Wasserlebens und als Beispiele einer besonderen Art von Standortsvarianten verwerten. In besonders klarer Weise zeigt einen derartigen doppelten Gestalts- wechsel der Wasserknöterich (Polygonum amphibium). Nach der von DE VRIES (Arten und Varietäten, p. 265) gegebenen Gegenüberstellung hat ‚die Wasserform flutende oder untergetauchte Stengel mit länglichen oder elliptischen Blättern, die kahl sind und lange Stiele haben. Die Landform ist aufrecht, fast unverzweigt, überall mehr oder weniger rauhhaarig; die Blätter sind lanzettlich und kurzgestielt, oft fast sitzend. Die Wasserform blüht regelmäßig; der Blütenstiel geht rechtwinklig von den flutenden Stengeln ab; die Landform sieht man gewöhnlich ohne Blütenähren.“ Den Umschlag der einen in die andere Form hat der Botaniker MAssART auch auf experimentellem Wege zustande gebracht. Wenn die Wasserform am Ufer gezüchtet wird, „bringt sie aufsteigende, behaarte Stengel hervor und wenn die Triebe der Landform unter- getaucht werden, wachsen ihre Knospen zu langen schlaffen Wasser- stengeln aus“. Pflanzenarten, die nach einer gewissen Regel und nach Art der zuletzt aufgeführten Beispiele zwischen zwei extremen Formen, je nach den auf sie einwirkenden Faktoren, gleichsam hin und her pendeln, werden in der Botanik auch als „beständig umschlagende Varietäten“ oder als Varianten ‚mit doppelter Anpassung‘ bezeichnet (DE VRIES). Nicht immer sind die unter dem Wechsel verschiedenartiger Be- dingungen entstandenen Varianten in so auffälliger Weise in vielen Merkmalen und in ihrem ganzen Habitus verändert, wie in den auf- geführten Fällen. Zuweilen kann auch nur ein einziges Merkmal von der O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl. 20 306 Achtes Kapitel, Anpassung betroffen werden, während sonst alles andere bei der Pflanze unverändert geblieben ist. Ein lehrreicher Fall dieser Art ist von BAUR in seiner Einführung in die experimentelle Vererbungslehre, auch mit Rücksicht auf seine theoretische Bedeutung, ausführlich besprochen worden. Er betrifft eine Temperaturvariante der chinesischen Primel. Von der Primula sinensis unterscheidet man 3 Rassen, von denen die eine rot, die zweite blaßrot, und die dritte weiß blüht. Da das Merkmal: „rote oder blaßrote oder weiße Blütenfarbe‘‘ konstant vererbt wird, müssen die drei Primelrassen als einfachste systematische oder als elemen- tare Arten beurteilt werden. Außer ihnen gibt es nun aber noch eine vierte abweichende Rasse, die Primula sinensis rubra. Sie bringt unter dem Einfluß verschiedener Temperatur bald rote, bald weiße Blüten hervor, wie der folgende Versuch lehrt. Man trennt junge Keimpflanzen von Primula sinensis rubra von gleicher Abkunft in 2 Gruppen. Die eine Gruppe bringt man einige Wochen vor Beginn der Blüte in ein warmes feuchtes, auf 30—35° geheiztes Gewächshaus, die andere Gruppe läßt man bei einer Temperatur von I5—20° wachsen. Unter diesen besonderen Verhältnissen wird die eine rein weiße, die andere normal rote Blüten hervorbringen. Noch deutlicher aber offenbart sich die Abhängigkeit ihrer Blütenfarbe von der Temperatur, wenn man bei 35° weiß blühende Exemplare bei 15° weiterzüchtet. Denn dann bleiben zwar wie BAUR mitteilt, „die vorhandenen weißen Blüten weiß, auch die in den nächsten Tagen sich öffnenden sind noch weiß, aber die sich später entwickelnden sind dann wieder ganz normal rot“. Somit liegt hier in der wechselnden Blütenfarbe: rot resp. weiß bei ein und derselben Pflanze eine auf ein einzelnes Merkmal beschränkte Modifikation vor, veranlaßt durch die verschiedenartige Reaktion eines und desselben Idioplasma auf ungleiche thermische Einflüsse. Es ist dies um so be- merkenswerter, als andere entweder rot oder weiß blühende Primelrassen auch bei wechselnder Temperatur in ihrer Blütenfarbe ganz konstant bleiben. 4. Die fluktuierenden Varianten !). Während die in den 3 vorausgegangenen Abschnitten besprochenen hohen Grade der Variabilität, welche die Gestaltbildung auf das tiefste 1) Johannsen, W., Elemente der exakten Erblichkeitslehre, Jena 1909. — ‚Jennings, H. S., Heredity and variation in the simplest organisms, Am. Nat., Vol. NLIII, 1909. — Woltereck, Weitere experimentelle Untersuchungen über Art- verändernng, speziell über das Wesen quantitativer Artunterschiede bei Daphniden, Verhandl. d. Deutsch. Zoolog. Gesellsch. in Frankfurt, 10909. Die Variabilität der Organismen. 307 verändern können, im Organismenreich verhältnismäßig seltener sind, läßt sich fluktuierende Variabilität überall und zu jeder Zeit an jedem Lebewesen beobachten. Denn bei Vergleichung einer größeren Zahl von Individuen derselben Art kann der aufmerksame und wissenschaftlich geschulte Beobachter leicht nachweisen, daß kein Individuum dem anderen im mathematischen Sinne völlig gleich ist und ebenso kein Organ und kein Teil desselben dem anderen. Überall und in jeder Hinsicht finden sich geringe Unterschiede in der Ausbildung der einzelnen Merk- male. Der hierfür gewählte Name der ‚‚fluktuierenden Variabilität‘ ist daher ein sehr passender. Denn er bringt zum Ausdruck, daß bei Durch- musterung einer größeren Zahl von Individuen die zwischen einzelnen hervortretenden größeren Differenzen eines Merkmals sich durch eine Reihenfolge fein abgestufter Übergänge, die sich bei anderen Indi- viduen finden, überbrücken lassen. Ihr Studium ist für das Ver- ständnis der Lebewesen nicht minder wichtig, als das Studium der anderen schon besprochenen Varianten. Die fluktuierende Variabilität ist zum Teil einer exakten Unter- suchungsweise zugänglich ; sie läßt sich in vielen Fällen durch wägende, durch messende Methoden etc. mathematisch genau in Zahlen aus- drücken und berechnen. Sie ist daher auch in den letzten Jahrzehnten zum Gegenstand einer statistischen Wissenschaft gemacht worden, indem - 1000 und Millionen Individuen einer Art oder geeignete Organe derselben _ gemessen, die Ergebnisse nach mathematischen Prinzipien zur Ge- winnung allgemeiner Resultate oder Gesetze weiter verwertet worden sind. Sofern sich bei der fluktuierenden Variabilität die Untersuchung - immer nur auf ein einzelnes Merkmal oder eine einzelne Eigenschaft erstreckt, die nach Zahl oder Größe oder Gewicht oder nach irgendeinem Intensitätsgrad variiert, lassen sich die untersuchten Objekte zu einer Reihe mit regelmäßiger Abstufung nebeneinander anordnen. An den Anfang und das entgegengesetzte Ende der Reihe kommen die Objekte zu stehen, welche die untersuchte Eigenschaft in dem geringsten und in dem höchsten Grad ihrer Ausbildung zeigen, welche also z. B. am _ leichtesten oder schwersten, am kleinsten oder größten, am kürzesten oder längsten sind, oder in kleinerer oder größerer Zahl, in geringerer oder größerer Quantität und dergleichen mehr vertreten sind. Die bei der statistischen Untersuchung nachgewiesenen Extreme der Reihe lassen sich dann durch eine Stufenfolge von Übergängen miteinander verbinden. Zur Veranschaulichung dieses Verhältnisses (Fig. 43) hat DE VRIES die verschiedene Größe der Blätter von Prunus laurocerasus gemessen. 20* 308 Achtes Kapitel. Er fand ihre Länge zwischen 63 und 137 mm schwanken. Nach ihrer Größe, die über jedem Blatt durch die Zahlen 63—68—80—88 etc. angegeben ist, hat er sie geordnet und über einer horizontalen Linie parallel zueinander in einer Reihe und in gleichen Abständen aufgestellt. Die Blattspitzen sind durch eine Linie untereinander verbunden, welche gebrochen und in der Fig. 43 etwas in die Höhe gerückt ist, um sie deut- licher zu zeigen. Wegen der Möglichkeit, die Ergebnisse in einer Linie anzuordnen, hat man die fluktuierende häufig auch als lineare Variabilität und ihre systematisch angeordneten Glieder als die einzelnen Varianten bezeichnet. Durch den Abstand zwischen Anfang und Ende der Reihe, oder zwischen den beiden Extremen, in denen das Merkmal ausgebildet gr Fig. 43. Variationsreihe in der Größe der Blätter von Prunus laurocerasus nach DE VRIES. AM Mittel der Variationsreihe. ist, läßt sich der bei einer Untersuchung nachgewiesene Umfang oder die Größe einer Variation, die sogenannte Variationsbreite, aus- drücken und zahlenmäßig berechnen. Wenn z. B. bei der Untersuchung der Blattgröße einer Pflanze für die längsten Blätter 20 cm, für die kür- zesten 15 cm ermittelt werden, so beträgt in diesem Falle die Variations- breite 22cm — I5 cm =35 cm. Es liegt auf der Hand, daß die Variationsbreite für die einzelnen Untersuchungsreihen Unterschiede darbieten und wesentlich von der Zahl der untersuchten Fälle abhängen wird. Je nachdem 100 oder I000 oder Millionen oder mehrere Millionen auf ihre Körperlänge gemessen werden, wird die Variationsbreite zunehmen müssen. Denn um so mehr steigt die Wahrscheinlichkeit, daß unter ihnen noch besonders kleine Zwerge und besonders große Riesen aufgefunden werden und an die Enden der linearen Reihe noch als extremere Varianten hinzutreten. Im allgemeinen läßt sich auf Grund der Wahrscheinlichkeitsberechnung u Die Variabilität der Organismen. 309 sagen: Je kleiner die Zahl der Beobachtungen, um so weniger ist damit zu rechnen, unter ihnen auch die extremsten F älle zu besitzen, dagegen wird die Aussicht eine bessere, je mehr die Zahl der Beobachtungen zu- nimmt. Daher wächst auch die Variationsbreite proportional der Zahl der untersuchten Fälle, so daß sie als ein festes Wertmaß nicht zu ver- wenden ist. % WER ‚Ein brauchbares Wertmaß ist dagegen das Mittel aller Varianten | £ Fan ergeben (Fig. 43 M). et: wird Ba ssehe annähernd 3 = der Mitte der Variationsreihe zusammenfallen. Wenn es mit der hl der Beobachtungen auch an Genauigkeit zunimmt, so wird es doch ı zn oe ++ # 3 Fig. 44. Die theoretische, ideale Variationskurve. Die Binomialkurve aus Jo- 'ANNSEN. ach bei einer geringeren Zahl annähernd BEER Das Mittel können rg - als einen festen Punkt, um welchen sich die Varianten gruppieren, ıtzen und zu ihrer Beurteilung verwerten. Wenn wir ihn als Null- punkt (Fig. 440) bezeichnen, so können wir sagen, daß alle rechts von ihm gelegenen Varianten (+ I, + 2, + 3) das Merkmal stärker, alle links von ihm gelegenen (— I, — 2, — 3) schwächer, in allmählicher Ab- stufung nach beiden Richtungen, entwickelt zeigen; oder anders aus- Be: die einen Varianten zeigen in bezug auf das Mittel oder den ‚Nullpunkt eine positive, die anderen eine negative Abweichung, d’e einen ‚sind Plusvarianten (+1, +2, + 3), die anderen sind Minusvarianten 7 I, — 2, — 3); hierfür können auch die deutschen Bezeichnungen Plus- und Minusabweicher gebraucht werden. Durch ausgedehnte Untersuchungen, die auf diese Weise an sehr verschiedenen Objekten ausgeführt worden sind, hat man die wichtige > 310 Achtes Kapitel. Tatsache gefunden, daß die in großer Zahl gemessenen Objekte sich im allgemeinen nach einer ziemlich festen Regel auf die einzelnen Klassen der Varianten verteilen (Fig. 46 und 47) und zwar derart, daß ihre größte Zahl auf das Mittel der ganzen Reihe fällt, daß in den nächstfolgenden Klassen zu beiden Seiten des Mittels ihre Zahl kontinuierlich und ziemlich stark abnimmt, und daß die Klassen an den Enden der Reihen überhaupt nur wenige Exemplare der größten Plus- und Minusabweicher erhalten. Die Klassenordinaten (Fig. 47 8—ı6 mm) zeigen daher eine sehr ver- schiedene Länge, wenn man die durch Messung erhaltenen Zahlengrößen auf ihnen einträgt. In der Mittelklasse (c) am längsten, werden sie bald nach links und rechts immer kürzer und erheben sich an beiden Enden ($ und 16) nur wenig über den Nullpunkt. Wenn daher die Enden aller Ordinaten durch eine Linie untereinander verbunden werden, entsteht eine regelmäßige, für jede Untersuchung charakteristisch geformte Variationskurve (Fig. 44 und 47). Auf der Abszisse kann man die Va- riationsbreite und die Werte der Variation für jede Klasse, sowie an der Länge der Ordinaten die auf jede Klasse entfallende Anzahl der gemes- senen Individuen sofort ablesen. Die von der Abszisse und der Ver- bindungslinie der Enden der Ordinaten umgrenzte Figur heißt auch das Variationspolygon. Bei der Ausführung von Untersuchungen über fluktuierende Va- riabilität mit messenden und statistischen Methoden ist es notwendig, um eine leichte Übersicht über das untersuchte Material zu gewinnen, es nach dem Grad seiner Übereinstimmung in Klassen einzuteilen. Hier- zu benutzt man entweder Maß- oder Gewichts- oder Zahleneinheiten. So werden z. B. alle Varianten, die durch Messung bestimmt werden, in Klassen eingeteilt, je nachdem ihre Länge (Fig. 47) zwischen 8—9, 9—Io, IO—II, II—I2, I2—13 mm und so fort schwankt. Also werden zu einer Klasse alle Individuen von 8 bis 8,9 mm, in der folgenden von 9 bis 9,9 mm etc. vereinigt. In derselben Weise wird bei Gewichtsbe- stimmungen verfahren, indem die Klassen nach Grammen oder Milli- grammen eingeteilt werden. Bei Zählungen von Organen, die in Mehrzahl auftreten, werden die Klassen durch Zahlen bestimmt. Um sich ein übersichtliches Bild über die so erhaltenen Ergebnisse zu verschaffen, ist die graphische Methode außerordentlich geeignet (Fig. 47). Man trägt die verschiedenen, in Klassen eingeteilten Varianten, oder wie sie häufig genannt werden, die Klassenvarianten, in ihrer entsprechenden Aufeinanderfolge als Abszissen auf eine horizontale Linie auf. Um die Zahl der gemessenen Objekte, welche auf jede Klasse fallen, graphisch zu veranschaulichen, errichtet man über jeder Klasse vertikale Linien Die Variabilität der Organismen. Z3ıI als Ordinaten, durch deren Länge die Zahl der Individuen ausgedrückt wird. Ehe wir auf die genauere Besprechung der Variationskurven, auf ihr Zustandekommen und auf ihre Erklärung näher eingehen, wird es sich empfehlen, zunächst einige genauer untersuchte Fälle in das Auge zu fassen. Diese sollen zugleich so ausgewählt werden, daß sie uns zeigen, in welcher sehr verschiedenen Art und Weise sich die fluktuierende Variabilität äußert und statistisch untersuchen läßt. Wie sehr schon einzellige Lebewesen in ihrer Größe variieren können, hat der amerikanische Zoologe JENNINGS in einer interessanten Ex- perimentaluntersuchung an dem weit verbreiteten Infusor Paramaecium nachgewiesen (Fig. 45). Paramaecium läßt sich leicht in Heuinfusen jahrelang züchten und auch zur Anlage getrennter Reinkulturen benutzen, da es sich durch Teilung sehr rasch vermehrt und in kurzer Zeit NHNDNLLINLTTITTTREE JR Fig. 45. Paramäcien, die in einer Kultur in ihrer Größe von 45—3I10 « stark variieren, sind zu einer Variationsreihe zusammengestellt. Im Anschluß an JENNINGS aus GOLDSCHMIDTDs Vererbungswissenschaft. 2 eine große Nachkommenschaft hervorbringt. Bei Messung zahlreicher Individuen einer Kultur konnte JENNINGS ganz überraschende Größen- differenzen zwischen den einzelnen Individuen nachweisen; auf der einen Seite kleinste Zwerge von nur 45 u Länge und auf der anderen Seite siebenmal größere Riesen von 3Io u. Beide Extreme ließen sich durch alle möglichen Zwischenstufen verbinden, so daß viele Messungen eine Variationsreihe lieferten, wie sie im Anschluß an JENNINGS in der Fig. 45 zuammengestellt ist. Die genauesten Beobachtungen über Variabilität in der Größe liegen wohl vom Menschen vor. Ein häufig zitiertes Muster einer exakt durchgeführten und durchgearbeiteten statistischen Untersuchung ist die grundlegende Arbeit von QUETELET, der nicht weniger als ca. 26000 nordamerikanische Soldaten auf ihre Körperlänge gemessen hat. Auf Grund derselben hat er sie in einzelne Klassen eingeteilt, zwischen wel- chen die Differenz je einen englischen Zoll beträgt. Die niedrigste Klasse beginnt mit 60 englischen Zoll = 1,549 m, die oberste Klasse enthält die längsten Männer von 76 Zoll = 2,007 m. Um die großen Zahlen zu vermeiden, hat JOHANNSEN die Angaben von QUETELET auf 1000 Sol- 312 Achtes Kapitel. daten umgerechnet und zu folgender Übersicht zusammengestellt. In der obersten Reihe hat er die mit englischem Zoll bezeichneten Klassen der gemessenen Soldaten und darunter in einer zweiten Reihe die Zahlen zusammengestellt, wie sich die 1000 Soldaten auf die 17 Klassen verteilen. Länge in Zoll: 60 61 62 63 64 65 66 67 68 6970717273 7475 76 Soldatenzahl 2 2 20 48 75 II7 134 157 I40 1218057 261, 5 271 (pro 1000) Ar Tel Aus unserer Übersicht läßt sich sofort erkennen, daß die meisten Individuen eine mittlere Größe besitzen und sich daher auf die mittleren Klassen der Variationsreihe von 66, 67 und 68 Zoll verteilen. Die höchste Zahl von 157 trifft auf Klasse 67; diese kann daher als das Mittel der Variationsreihe be- zeichnet werden und würde bei gra- phischer Darstellung mit Errichtung von Ördinaten den Gipfelpunkt der Kurve bilden. Auf die ersten und die letzten Klassen an den beiden Enden der Reihen kommen nur 2 oder ein einziges Individuum. Um die Mittel- klasse finden sich die übrigen zu beiden Seiten ziemlich symmetrisch verteilt in der Weise, daß die Zahl der In- dividuen nach den Enden zu in jeder Klasse allmählich abnimmt. Wie ganze Individuen, so können auch einzelne Organe, wenn sie in größerer Zahl an einem Individuum BE an Bohnen, ne auftreten, wie Blätter, Blüten, Früchte VRIES. 450 Bohnen einer käuflichen etc. einer Pflanze, in ihren Dimensionen Probe sind einzeln nach ganzen Milli- Variationen darbieten und sich zu einer metern (S—16 mm) gemessen; die von Er z gleichen Längen sind der Reihe nach regelmäßig abgestuften Reihe anordnen in die gleich großen Abteilungen eines Jassen, Glasgefäßes gefüllt. — Eine Verbin- " % h - dung der oberen Punkte der Füllung Sehr anschaulich ist eine von in jedem Fache ergibt eine Kurve, ‚die DE VRIES gegebene Darstellung von der in Fig. 47 dargestellten entspricht ® RR und nur insofern einer Korrektur be- der fluktuierenden Variabilität der dürfen würde, als die längeren Bohnen Länge von Bohnensamen. Von 450 zugleich größer sind und ihre Fächer __ 2 R y etwap zu SRSER lien: Exemplaren einer käuflichen Probe "ee EEE Die Variabilität der Organismen. 313 wurden .die Längen nach Millimetern gemessen. Sie wurden in 9 Klassen, die um ı mm Länge voneinander abweichen, eingeteilt und Mm 10 1 12 15 B. 108 167 106 eu er RE Pe Tara Vai ER PapER B, SERR 2, BEER | Fig. 47. Fluktuierende Variabilität der Länge der Bohnen nach DE VRIES. Die graphische Darstellung bezieht sich auf dieselbe Messung und Zählung der Bohnen wie in dem durch Fig. 46 veranschaulichten Versuch. Eine horizontale Linie als Abszisse ist in 9 gleich große Abschnitte eingeteilt entsprechend den 9 Reihen von Bohnen, die um je einen Millimeter, von $ mm angefangen, bis zu IG mm an Größe zunehmen, Die Bohnenlänge von 8—16 mm ist in der ersten Zahlenreihe unter der Abszisse ange- geben. Auf der Abszisse sind entsprechend jeder Bohnenreihe von S—I6 mm 9 Lote als Ordinaten errichtet, deren Länge der bei der Zählung ermittelten Anzahl der Bohnen von gleicher Länge proportional is. Die Zahl der Bohnen in jeder Gruppe ist in der zweiten Reihe unter der Abszisse und bei den dazu gehörigen Ordinaten aufgeführt. Die durch Verbindung der Endpunkte der Lote entstehende gebrochene Linie entspricht ziemlich genau der Wahrscheinlichkeitskurve (a+ b)ı., Am Ende jeder Ordinate sind die Bohnen der entsprechenden Größe abgebildet. In der dritten Zahlenreihe unter der Abszisse ist 12 mm als das Mittel der Variationsreihe mit o bezeichnet und die “Länge der Bohnenwerte als Minus- und Plusvarianten = — I, — 2, — 3, — 4, 0, — 1, + 2, + 3, + 4 aufgeführt. nach ihrer Länge in 9 röhrchenartige, gleich große, für die einzelnen Klassen bestimmte Abteilungen einer Glaswanne eingefüllt (Fig. 46). Die kleinsten Bohnen (Fig. 47) waren nur 8 mm, die größten 16 mm 3I4 Achtes Kapitel. lang, die Mehrzahl zeigte die mittleren Maße. Bei ihrer Verteilung auf die 9 nebeneinander geordneten Röhrchen ergab sich ein an- nähernd ähnliches Verhältnis wie bei der Verteilung der Soldaten bei der Messung von QUETELET. Die meisten Bohnen und zwar 167 von den gemessenen 450 ergaben einen Mittelwert von I2 mm; sie füllten das für Klasse 12 bestimmte Röhrchen fast bis zum Rande aus. Die ex- tremsten Minus- und Plusvarianten wurden nur durch ein einziges Exem- plar repräsentiert. Zu beiden Seiten des Mittels findet sich der Rest der Bohnen ziemlich symmetrisch und in stark abfallender Zahl nach den Enden der Variationsreihe verteilt, auf der einen Seite 108—23— 2—I, auf der anderen Seite I06—33—7—ı. Ein Blick auf die in ihren einzelnen Abteilungen mit Bohnen gefüllte Glaswanne (Fig. 46) ergibt uns sofort die charakteristische Kurve des Variationspolygons. Da sie den einzelnen Abteilungen entsprechend Absätze zeigt, wird sie häufig auch als Treppenkurve bezeichnet. Das Resultat des Versuchs läßt sich übersichtlich auch in einer einfachen Kurve, wie in Fig. 47, oder wie bei Messung der Soldaten durch OUVETELET in 2 Zahlenreihen, die in Fig. 47 unter der horizontalen Abszissenlinie aufgeführt sind, in folgender Weise darstellen. Länge der Bohnen in mm 8 9:10: -ILI2 MS Verteilung der 450 Bohnen I 2 23 108 17 robsasne 5 auf die 9 Klassen Entsprechend gestalten sich die Verhältnisse, wenn man die fluk- tuierende Variabilität im Gewicht eines Organs zum Gegenstand sta- tistischer Untersuchungen macht. Nehmen wir wieder zur Erläuterung den Bohnensamen nach einer Berechnung und Zusammenstellung von JOHANNSEN (l. c. p. 197). Es handelt sich in diesem Fall um eine reine Linie, da die nach ihrem Gewicht bestimmten 533 Bohnen Nachkommen einer einzigen Mutterbohne sind. Sie wurden in 12 Klassen in der Weise eingeteilt, daß alle Bohnen, welche mehr als 20 cg und weniger als 25 cg wogen, eine Klasse bildeten und nach diesem Prinzip weiter. Danach wogen die leichtesten Bohnen zwischen 20 und 25 cg, die schwersten zwischen 75 und 80. Die Verteilung der 533 Bohnen auf die 12 Gewichts- klassen ergibt sich dann aus folgender Zusammenstellung in den be-_ kannten zwei Reihen: j Klasseneinteilung nach Zentigramnmı 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 Zahl der Bohnen von 3.9 28 5I III 174 IE 4M46 0 ı jeder Klasse I Die Variabilität der Organismen. 315 Auchin diesem Beispiel fällt wieder die bei weitem größteZahlder Bohnen, nämlich 174, auf die Mittelklasse von 45—50 cg, um welche sich die übrigen Klassen symmetrisch mit rasch sinkender Zahl herumgruppieren. Wie schon früher erwähnt, kann die fluktuierende Variabilität auch in den Zahlenverhältnissen, in denen gleichartige Organe bei Pflanzen und Tieren angelegt werden, zum Ausdruck kommen. So variieren oft in ziemlich weitem Umfang die Zahlen der Strahlen von Dolden oder der Strahlenblüten von Compositen oder der Staubgefäße oder der Blatt- paare an gefiederten Blättern. Als Beweis hierfür diene die in hohem ' Grade fluktuierende Variabilität der Zahl der Randblüten in den end- ständigen Blütenständen von Chrysanthemum. Bei 1000 Individuen einer. Lokalität beobachtete der Botaniker Lupwiıc folgende Verteilung auf ı5 Klassen, bei denen das Unterscheidungsmerkmal die Zahl der Randblüten ist. Zahl der Randblüten in einem Blütenstand: in jeder Klasse IE SORLOFTT 12 73.0.6 15 10.17 18. 10'20: ZT. Individuenzahl 7.6 3 25:46 I4L 529,120.47 30.15.12 8 6.2. in jeder Klasse Die prinzipielle Übereinstimmung mit den schon früher mitgeteilten Schemata, welche Maß- und Gewichtsverhältnisse betreffen, ergibt sich aus den obenstehenden zwei Zahlenreihen von selbst. Als eine Be- sonderheit des vorliegenden Falles ist jedoch hervorzuheben, daß die _ Variationskurve eine sehr hochgipflige wird, wenn man das statistische Ergebnis graphisch darstellt (Fig. 48). Entfallen doch auf die Klasse 13, welche hier das Mittel darstellt, nicht weniger als 529 von den 1000 gezählten Individuen, während schon in der linken und rechten Nach- barklasse mit 12 resp. ı4 Randblüten die Individuenzahl gleich auf I4I resp. 129 herabsinkt. Nach denselben Prinzipien können viele andere Eigenschaften und Merkmale der Organismen, welche von einem Mittel aus ab- oder zunehmen und sich daher als Minus- oder Plusvarianten anordnen lassen, sofern sich irgendein Maßstab für ihre Messung oder eine zahlenmäßige Behandlung gewinnen läßt zum Gegenstand entsprechender Unter- suchungen und exakter Berechnungen gemacht werden. Ich nenne nur die messende Analyse chemischer Eigenschaften, wie die Bestim- mung des Zuckergehaltes der Zuckerrüben mittels des Polarisations- apparates nach der Methode, welche in der Zuckerindustrie und Rüben- kultur zu so hoher Vollendung gebracht ist, oder die Bestimmung des Stärkegehaltes in der Kartoffelknolle. | 316 Achtes Kapitel. Zum richtigen Verständnis und zur Erklärung der fluktuierenden Variabilität ist es wichtig, in die Ursachen ihrer Entstehung einen Ein- blick zu gewinnen. Hierbei müssen wir auch wieder die schon früher (S.286) besprochenen zwei Gruppen von Ursachen, welche die Verschieden- heiten der Individuen einer Art bewirken können, scharf auseinander halten. Die eine Gruppe umfaßt die erbliche Veranlagung der einzelnen [KIe Fig. 48. Eine hochgipflige Variationskurve (nach LupwiıGs Zählungen der Randblüten von Chrysanthemum segetum), mit der idealen Binomialkurve verglichen, Nach JOHANNSEN, Individuen für die bessere oder schlechtere Ausbildung einer Eigen- schaft, also Ursachen, die in der Konstitution der Artzelle und ihres Idioplasmas gegeben sind. Daß solche bestehen, wurde schon früher (S. 282) auf Grund der Untersuchungen von JOHANNSEN über die „reinen Linien“ nachgewiesen. Dort wurde auch die Methode besprochen, wie man durch zielbewußte Kulturversuche .den erblichen Faktor bei der Beurteilung eines Gemisches ungleich beanlagter Individuen erkennen und für andere Fragen ausschalten kann. Die Variabilität der Organismen, 317 Erst wenn dies geschehen ist, gewinnt man ein richtiges Bild von der zweiten Gruppe der Faktoren, welche allein als die eigentlichen Ursachen der fluktuierenden Variabilität betrachtet werden können. Es sind die Bedingungen der Außenwelt, welche auf die erblichen Anlagen des Keims während ihrer Entwicklung in ungleicher Weise einwirken. Sie sind für die Entwicklung eines Keimes ebenso notwendig, wie die ererbten Anlagen, und jedenfalls für seine definitive Ausgestaltung mehr oder minder mit- bestimmend. Am häufigsten fällt hier für die fluktuierende Variabilität eine Eigenschaft, die Ernährung des Keimes während seiner Entwick- lung, ins Gewicht. Bessere oder schlechtere Ernährung aber beruht auf einem großen Komplex der verschiedenartigsten zusammenwirken- den Faktoren sowohl bei Pflanzen wie bei Tieren: auf der Qualität, ‘ Quantität und Mischung der verschiedenartigsten Nahrungsstoffe, auf Faktoren, welche ihre Aufnahme, Verarbeitung und Ausnutzung begünstigen, auf Temperaturverhältnissen, Licht, Klima, Jahreswechsel, Feuchtigkeit und Trockenheit, mit einem Wort, auf einer Summe von Bedingungen, welche man als die Beschaffenheit des Milieu oder als die wechselnde Konstellation der äußeren Faktoren zusammenfassen . kann. Am leichtesten lassen sich alle diese Verhältnisse bei Pflanzen unter- suchen. Daher sind auch diese mit Recht für das Studium der fluk- tuierenden Variabilität am meisten benutzt worden, Wenn wir wieder zum Versuch eine Bohnenpflanze wählen, die während mehrerer Generationen durch Selbstbefruchtung rein gezüchtet, eine ‚reine Linie‘ darstellt, so können die von ihr geernteten Samen als gleich beanlagt angesehen werden. Bei ihrer Benutzung zum Studium der fluktuierenden Variabilität kann daher der Erblichkeitsfaktor nicht mehr den Ausfall des Experiments in verschiedenem Sinne beeinflussen. Wenn dennoch die auf einem Versuchsbeet ausgesäten Samen Keimpflanzen liefern, die gewisse Unterschiede in Größe, Zahl der Blätter und Blüten von- einander darbieten und hierbei auch Unterschiede in derZahl, der Größe und dem Gewicht der geernteten Bohnen erkennen lassen, so können die Ursachen hierfür nur in der Konstellation der Außenbedingungen zu suchen sein. Eine einfache Überlegung lehrt, daß letztere für alle auf einem Beet ausgesäten Bohnen nie genau die gleichen sein werden. So kann die Düngung an einzelnen Stellen des Beetes eine bessere oder schlechtere, auch die Mischung der Düngemittel eine verschiedene sein; dort ist der Boden fester, hier mehr aufgelockert; beim Begießen fällt - die Befeuchtung des Beetes nicht nur in einzelnen Abschnitten, sondern 318 Achtes Kapitel. auch an einzelnen Tagen ungleich aus, und hierdurch können für die Entwicklung der gleichzeitig gesteckten Bohnen -die mannigfaltigsten Kombinationen entstehen. Denn zu den verschiedenen Zeiten des Wachs- tums übt der Mangel oder ein reichlicher oder mittlerer Grad von Feuchtig- keit einen sehr verschiedenen Einfluß auf das Gedeihen aus. Hiermit verbinden sich noch viele andere förderliche oder hinderliche Momente, wie die Belichtung des Beetes, welche durch ungleiche Beschattung von Nachbarsträuchern und Bäumen eine verschiedene sein kann, oder eine an einzelnen Stellen auftretende Entwicklung von Unkräutern, die Nahrung und Feuchtigkeit den Versuchspflanzen entziehen, oder eine ungleiche Verteilung der Bohnen bei der Aussaat, wodurch die einzelnen Keimlinge eine verschiedene Bodenfläche zur Ausbildung ihres Wurzelwerkes zur Verfügung haben. Dazu kommt noch, worauf DE VRIEsmit Recht aufmerksam macht, daß einige Samen an feuchten und dungreichen Stellen früher keimen, während ihre Nachbarn wegen lokaler Trockenheit oder wegen ihrer Entfernung vom Dünger mehr oder weniger verspätet nachfolgen. Die Keimung zu verschiedenen Zeiten kann dann aber wieder neue Konstellationen in den Entwicklungsbedingungen zur Folge haben. Denn einige Keime kommen an sonnigen Tagen an das Licht und ihre ersten Blätter wachsen rasch, während für andere, ° später nachfolgende Keimlinge das Wetter ungünstig sein und das Wachs- tum sehr verzögern kann. Zur Zeit, wo die Bohnensamen sich ausbilden, können wieder neue Faktoren sich geltend machen. Als einen solchen führt Baur die Anzahl der Bohnen auf, die sich in einer Hülse entwickeln, und diese hängt wieder von der Zahl der Eizellen ab, die durch Pollen- körner befruchtet werden. ‚‚Ist in einer Hülse nur eine Eizelle befruchtet, so wird diese Bohne besser ernährt und größer werden, als wenn mehrere Eizellen befruchtet worden wären. Ein anderer Ernährungsfaktor ist die Zahl der Blätter, die zur Ernährung dieser Hülse dienen, und solche Zufälligkeiten, die alle die Größe einer Bohne beeinflussen, gibt es eine sehr große Zahl.‘ Den Fall der Bohnenentwicklung habe ich mit Rücksicht auf die Abhängigkeit von äußeren Faktoren etwas eingehender analysiert, um zu zeigen, wie die fluktuierende Variabilität zum Teil auf vielen an- scheinenden Kleinigkeiten beruht, die in ihrer verschiedenartigsten Kombination das Endergebnis bestimmen. Ihre Kombination aber hängt wieder, wie man gewöhnlich sagt, von reinen Zufälligkeiten ab. Daher kann auch. hier zur Berechnung des Gesamtergebnisses die Wahrscheinlichkeitsrechnung herangezogen werden. Wie bei den oben gegebenen statistischen Zusammenstellungen des in verschie- Die Variabilität der Organismen 319 denen Richtungen gemessenen Beobachtungsmaterials sich die auf- gefundenen Varianten um einen Mittelwert gruppieren, auf den die, größte Zahl der Individuen entfällt, und wie sich in bezug auf dieses Mittel alle Abweicher als Plus- und Minusvarianten unterscheiden lassen, so werden wir auch für die ursächliche Erklärung dieses Verhältnisses anzunehmen haben, daß die Mittelvarianten unter einer mittelgünstigen Konstellation aller Faktoren entstanden sind, während. die extremsten Varianten auf das Zusammentreffen besonders ungünstiger, resp. günstiger Umstände zurückzuführen sind. Wir können daher auch, wenn wir den Mittelwert als o setzen, von Plus- und Minuskonstellationen sprechen und ebenso jeden einzelnen äußeren Faktor, je nachdem er die Ent- wicklung über den Mittelwert nach der positiven oder negativen Seite beeinflußt, als fördernden oder hemmenden Entwicklungsfaktor be- zeichnen und dementsprechend mit dem Plus- (+) oder Minuszeichen (—) versehen. Auf Grund solcher. Erwägungen hat Baur (l. c. S. Io) eine Be- rechnung der Zahl der Konstellationen angestellt, die sich bei Annahme von nur fünf Faktoren ergeben. Da jeder Faktor auf den Mittelwert bezogen, fördernd oder hemmend wirken kann, so werden die Plus- und Minusfaktoren mit den großen und kleinen Buchstaben des Al- phabets, also die einen als A, B,C,D, E, die anderen alsa, b,c,d, e bezeichnet. Es ergeben sich dann, wenn die einzelnen Faktoren von- einander ganz unabhängig sind 32 verschiedene Kombinationen der- selben, von denen jede eine besondere Bedingungskonstellation dar- stellt, die nicht nur möglich ist, sondern auch die gleiche Wahrschein- lichkeit für sich hat. ‚Wenn wir eine große Zahl, wie 1000 Bohnen, betrachten, dann können wir erwarten, daß etwa je !/, sich unter einer von diesen verschiedenen Konstellationen entwickelt hat Nehmen wir nun ferner einmal der Einfachheit halber ganz willkürlich an, jeder der günstigen Faktoren A, B, C, D, E, bedeute eine Verbesserung der Bedingungen um -+ ı (mache etwa eine Bohne um 0,1 mm länger) und jede der ungünstigen Faktoren bedeute eine Verschlechterung um — I, so ergeben die 32 möglichen Kombinationen folgende ‚Werte der Be- dingungskonstellationen“: ABCDE=+5 abcde =—5 SAB@&De oder ABCdE usw. = + 3. BuBsedee oder abCdeusw = — 3. BeBcdeoder ABcDe uw = -+T. aBCdeodera BcDe uw. = — I. 320 Achtes Kapitel. In der Gesamtsumme der 32 möglichen Kombinationen erhalten wir „dieWerte +5 und —5 nur je einmal, +3 und —3 je fünfmal, +I und — 1 je zehnmal, d. h. also Bedingungskonstellationen, die extrem-günstig (Wert + 5) oder solche, die extrem-ungünstig sind (Wert — 5), kommen nur einmal vor. Konstellationen dagegen, in denen sich die günstigen und ungünstigen Einflüsse nahezu die Wage halten (Wert + I, —ıI), kommen zehnmal vor. Und je extremer ein Konstellationswert wird, desto seltener kommt er vor.‘ Nach der schon öfters angewandten graphischen Darstellung (Fig. 44) kann man auf Grund dieser Zahlenwerte sich eine Kurve konstruieren, die zu den früher beschriebenen Kurven über die Verteilung der ge- messenen Bohnen nach ihrer Größe oder nach ihrem Gewicht ein Pendant bildet. Auf Grund der schon erwähnten Annahme, daß von I0o00 Bohnen sich ungefähr gleich viele unter je einer von den 32 verschiedenen Be- dingungskonstellationen entwickeln müssen, läßt sich dann weiter folgern, daß von den Iooo Bohnen ‚‚!/, unter der extrem günstigen Konstel- lation + 5 und ebenso !/,, unter der extrem ungünstigen Konstellation — 5 aufgewachsen sein muß, da diese Konstellationswerte ja nur je einmal vorkommen. Dagegen müssen 5/,, sich unter den Konstellations- werten + 3 bezw. — 3 entwickelt haben, da ja nur 5 der möglichen Kombinationen diese Werte aufweisen, und endlich müssen je 10/,, der Bohnen sich unter den Konstellationswerten + I bzw. — I entwickelt haben, die je Io mal vorkommen.‘‘ Demnach würden sich die I000 Bohnen nach dem ‚Werte der Bedingungskonstellationen‘ in den Zahlenver- hältnissen 31,25 156,25 312,5 312,5 156,25 31,25 1000,00 auf die einzelnen Ordinaten der Kurve verteilen. Die Auseinandersetzungen BAurs können wir zum Schluß mit seinen eigenen Worten in den allgemeinen Satz zusammenfassen, der eine Erklärung für die Verteilungsweise der Bohnen und anderer fluk- tuierender Varianten gibt: „Da extrem günstige Bedingungskonstel- lationen ebenso selten sind, wie extrem ungünstige, und die Konstel- lationswerte um so häufiger vorkommen, je mehr sich ‘die günstigen Die Variabilität der Organismen. 321 Faktoren und die ungünstigen die Wage halten, ist zu erwarten, daß auch extrem große und extrem kleine Bohnen sehr selten sein werden, und daß die verschiedenen dazwischenliegenden Bohnengrößen um so häufiger vorkommen, je weniger extrem sie sind, d. h. je mehr sie sich dem Mittel nähern.“ Bei der Besprechung der fluktuierenden Variabilität habe ich mich bisher darauf beschränkt, verschiedene Untersuchungsreihen und die Zahlenwerte, die durch sie für die Gruppen der einzelnen Varianten ermittelt wurden, mitzuteilen. Auch die Methode, die Ergebnisse graphisch durch Kurven darzustellen, wurde besprochen. Bei der genaueren Be- trachtung der einzelnen Zahlenreihen und einer Vergleichung derselben untereinander wird sofort auffallen, daß sich in ihnen eine gewisse Ge- setzmäßigkeit unschwer erkennen läßt. Schon QUVETELET war bei seiner berühmten statistischen Untersuchung auf sie aufmerksam und dadurch zur Aufstellung des nach ihm benannten OQUETELETschen Gesetzes geführt worden. Dasselbe sagt aus, daß die gesetzmäßige Verteilung der verschiedenen Varianten um ein Mittel in der Variationsreihe im großen und ganzen der Newronschen Binomialformel (a + b)n entspricht. Dieselbe ist ein sehr einfacher mathematischer Aus- druck für das Gesetz der Wahrscheinlichkeit. Da für das Verständnis der fluktuierenden Variabilität die Statistik mit ihren mathematischen Methoden in den letzten Jahrzehnten durch die bahnbrechenden Arbeiten von ÜOUETELET, GALTON, DAVENPORT, PEARSON, JOHANNSEN u. a. eine große Bedeutung gewonnen hat, sei auch auf diese mathematische Richtung biologischer Forschung noch etwas näher eingegangen, wobei wir indessen eine nähere Er- örterung von Fragen der höheren Mathematik vermeiden werden. Wer eine solche sucht, findet sie in dem grundlegenden Werk von JOHANNSEN und zum Teil in GoLDSCHMIDTs Lehrbuch der Vererbungs- wissenschaft. Die Ausführung der binomischen Formel (a + b)r ergibt: (a +b)!= a-tb (a +b)?= a®+2ab +b?° (a +b)’= a®-+ 3a?b + 3ab?-+b?° (a +b)t=a?® + 4a®b + 6a°b?+4ab?—+b! usw.— (a + b)n. Wenn man nun für jeden Buchstaben den Zahlenwert I setzt, so erhält man folgende Auflösungen: 21 O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl. 322 Achtes Kapitel. (a +b)!= I+I (a +b)’’= Ii-+-275%7 (a +b)’= 2 sn st (a +b)? = I+4+6+4-+1I EILG. EILE- (a+b)I1o=I+10+45+4120+2IOo+ 252 +210 +I120 445 +10 +41. In den früher mitgeteilten, empirisch ermittelten Werten für die Varianten- reihen in verschiedenen Fällen fluktuierender Variabilität wurde eine sehr ähnliche symmetrische Verteilung der Zahlen um ein Mittel aufgefunden. Es ist geradezu überraschend, zu sehen, wie weit die Übereinstimmung zwischen den Berechnungen der abstrakten Mathe- matiker und den empirischen Feststellungen geht. Um dies dem Leser zu zeigen, seien zwei Beispiele: OUETELETS Messungen an Soldaten und JOHANNSENS Messungen an Bohnen, noch einmal angeführt. Hier- bei ist unter die wirklich gefundenen Zahlenwerte der Variationsreihe die berechnete ideale Zahlenreihe gesetzt: Größe der Soldaten in : Zoll 60 61 626364 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 Zahld.Soldatenpro 1000 2 2204875 117 134 197 140 ı21 80 57 2613 5 2 ı Theoretische Zahlen 5.921 4272 107 137 155. 146 121,80,58 20073 Er 2 Das zweite Beispiel betrifft die Variation des Gewichts von 533 Bohnen einer reinen Linie nach JOHANNSEN: Klasseneinteilung 20 25 30 355 40 45 5o 55 60 65 70 75 80cg Zahl der Bohnen 3 .9 ‘28 ..5ı Tırz 174 10T a2 ogoge Theoretische Zahlen 2 83 -29 7ı 117 132 100 zo Um die Wirkungen des Zufalls mit ihrer Gesetzmäßigkeit zu ver- anschaulichen, hat der englische Forscher GALTON einen Apparat, der auch als Kinderspiel bekannt ist, konstruiert. Dieser besteht, wie Fig. 49 zeigt, aus einem flachen, etwas schräg gestellten Kasten, der an seinem unteren Rand durch vertikale Leisten in 17 gleichgroße Fächer ab- geteilt ist. In einer darüber gelegenen Zone sind viele Nadeln in Reihen mit regelmäßigen Abständen so angebracht, daß die Nadeln jeder Reihe genau in der Mitte der Zwischenräume der folgenden Reihe stehen. Im obersten Bezirk findet sich zur Aufnahme kleiner Schrotkörner ein trichterförmiger Raum A mit einer kleinen Oeffnung B, durch welche die Schrotkörner einzeln nach unten hinabrollen und hier in die mit Nadeln bedeckte Zone geraten. Bei jedem Anstoß an eine Nadel haben sie die gleiche Chance, entweder nach rechts (+) oder nach links (—), wie es der Zufall trifft, abgelenkt zu werden. Wären die Nadeln nicht als Hindernis im Wege, so müßten alle Schrotkugeln durch die Trichter- öffnung in das gerade darunter gelegene Fach fallen. Indem sie aber Die Variabilität der Organismen. 323 an die Nadeln anstoßen, findet durch Kombination der zahlreichen sich ergebenden Möglichkeiten nach dem Zufallsgesetz eine ungleiche Verteilung statt. Da die Wahrscheinlichkeit am geringsten ist, daß die Schrotkörner beim Anprall an einen Stift immer in der gleichen Richtung, sei es nach rechts (+), sei es nach links (—), abgelenkt werden, so muß das Endergebnis sein, daß nur sehr wenige Kugeln in die äußersten Fächer geraten, die meisten sich in der Mitte ansammeln und die übrigen sich nach links und rechts davon in abnehmender Zahl verteilen. Die gefüllten Fächer geben dann das Bild einer ‚Treppenkurve‘, wie sie auch schon früher (Fig. 46) für die statistischen Messungen beschrieben wurde. Durch den GarTtonschen Apparat wird uns die Zufallskurve ad oculos demonstriertt. Sie zeigt uns, wie JOHANNSEN (l. c. p. 39) dazu ausführt, „daß bei einer Reihe von Einzel- wirkungen, von Zufälligkeiten, welche ebenso häufig in einer Richtung wirken können wie in der entgegengesetzten, die schließlichen Resultate, falls sie überhaupt in Zahlen auszudrücken sind, sich in einer Weise gruppieren, welche der Binomialformel entspricht. Was für derartige aufeinander folgende Einzelwirkungen, wie im Stecknadel- i. EEE apparat, gilt, hat offenbar auch Geltung, frläuterung der Ursachen der Wahr- wenn die Wirkungen so kurz nach- scheinlichkeitskurve aus BAUR. einander folgen, daß sie gleichzeitig werden. Die Zeitfolge ist hier nicht das Maßgebende. Das Wichtigste ist das Zusammenwirken, das Zusammentreffen zahlreicher voneinander un- abhängiger und in entgegengesetzten Richtungen ziehender Einwirkungen. Jede für sich wird eine geringe Verschiebung hervorrufen können, und im großen und ganzen heben sie sich auf.‘“ So entstehen die Mittel- werte sowohl der Zufallskurven wie der empirisch festgestellten Va- riationsreihe. Die in entgegengesetzten Richtungen (+ —) ziehenden Einwirkungen (Faktoren) „müssen aber auch in einer gewissen Zahl der Fälle so zusammentreffen, daß nicht nur geringere, sondern auch ab und zu größere Verschiebungen in der einen oder der anderen Rich- tung daraus resultieren.‘‘“ Hieraus erklären sich die Plus- und Minus- 2,8 324 Achtes Kapitel varianten in den abfallenden Schenkeln der Zufallskurve mit den Zahlen- verhältnissen, die der Binomialreihe in so auffälliger Weise gleichen. In meiner Darstellung der fluktuierenden Variabilität habe ich solche Untersuchungen herausgegriffen, welche eine große Überein- stimmung der empirisch ermittelten mit den theoretisch berechneten Zahlen der Binomialformel darbieten. Abgesehen davon, daß derartige Untersuchungen überhaupt noch spärliche sind und zu allgemeinen Schlüssen von weittragender ‚Bedeutung nicht berechtigen, darf nicht unerwähnt bleiben, daß nicht selten auch abweichende Kurven von ande- rem Charakter erhalten worden sind, für welche die für die Zufallskurve gemachten Voraussetzungen nicht ganz zutreffen. Die Entwicklungs- bedingungen der Organismen sind-so komplizierter Art, daß wir sie kaum übersehen und in ihrem Zusammenwirken richtig abschätzen können. Starke Begünstigung eines Faktors, wie sie sich auf experimentellem Wege erreichen läßt, kann eine wesentliche Modifikation der Kurve mit mehr oder minder beträchtlichen Abweichungen von der Zufallskurve hervorrufen. Der Mittelwert kann viel größer ausfallen, als es die theo- retische Berechnung verlangt. Wir erhalten dann eine sogenannte hoch- gipfelige Kurve. Eine solche wurde schon in unseren Beispielen (Fig. 48) mitaufgeführt; sie wurde erhalten bei der Zählung der Randblüten in den Blütenständen von Chrysanthemum segetum. Der Mittelwert von 13 Randblüten wurde hier bei 529 Individuen gefunden, während nach der Binomialformel nur die Zahl 243 erwartet werden sollte. Er istdaher mehr als doppelt so hoch, und da bei der graphischen Methode der Mittel- wert die Höhe der Kurve bestimmt, so wird die Kurve ausnehmend hoch- gipfelig im Vergleich zur idealen Zufallskurve und fällt zu beiden Seiten steil ab. In anderen Untersuchungen hat die Kurve ein asymmetrisches Bild ergeben, indem der Mittelwert, der den Gipfel bestimmt, mehr oder minder weit nach einer Seite verschoben ist. Nicht seltene Ab- weichungen sind auch Kurven mit zwei und mehreren Gipfeln, oder mit einem Hauptgipfel, neben welchem sich kleinere Gipfel zu beiden Seiten bemerkbar machen. In vielen Fällen werden dieselben auf den Umstand zurückzuführen sein, daß die gemessenen Individuen ver- schiedenen Rassen oder reinen Linien, die durcheinander gemischt sind, angehören und, da sie sich um zwei oder mehr Mittelwerte herum- gruppieren, die abnorme Kurvenbildung verursacht haben. Auch in der Vermischung von verschiedenen Altersklassen derselben Art kann die Abweichung ihre Erklärung finden (Summations- und Sammelkurven). Es liegt hier die Möglichkeit vor, durch strenger durchgeführte Analyse Die Variabilität der Organismen, 325 des Untersuchungsmaterials eine Trennung der ungleichwertigen In- dividuen in zwei oder mehr Gruppen nachträglich herbeizuführen und auf diesem Wege anstatt der zweigipfeligen zwei normale Kurven zu gewinnen. Wie auf experimentellem Wege einzelne Faktoren in den Bedingungs- konstellationen stärker zur Geltung gebracht und dadurch die Kurven eines Versuchs erheblich verändert werden können, so geschieht dies in der Natur zuweilen auch periodisch und ruft eigentümliche Formen der fluktuierenden Variabilität hervor. In dieser Beziehung können in manchen Fällen die Einflüsse der Jahreszeiten von großer Bedeutung werden. Ein schönes Beispiel hierfür liefert die von WOLTERECK genauer 4 - -- ----- 2-44 002204244044 5-2 3m 3I 981 18X 15.X 30OVH Fig. 50. Zyklomorphose der Helmhöhe und Stachellänge von Hyalo- daphnia im Anschluß an WESENBERG-LUND nach WOLTERECK aus GOLDSCHMIDT. studierte Zyklomorphose von Hyalodaphnia. Diese kleine Süß- wassercrustacee pflanzt sich auf parthenogenetischem Wege fort und liefert vom Frühjahr bis Herbst sehr zahlreiche, aufeinander folgende Genera- tionen, die in ihrem Habitus im Frühjahr, Sommer und Herbst sehr ver- schieden aussehen. Es ist nämlich ihre Kopf- und Helmhöhe, die auf einem verschieden starken Auswachsen der Scheitelzellen der Larve beruht, in den Frühjahrsmonaten eine sehr geringe, steigt dann bei den Sommer- generationen um mehr als das doppelte und sinkt dann bei den Nach- - kommen im Herbst wieder auf die im Frühjahr gegebene Norm zurück. In demselben Sinne variiert der am anderen Ende des Körpers gelegene Schwanzstachel in seiner Länge. Infolge dieser nach der Jahreszeit fluktuierenden Variabilität lassen sich die Varianten zu einer Reihe zu- sammenstellen, wie sie uns die Fig. 50 zeigt. In diesem Falle ist das un- gleiche Wachstum von Kopf- und Schwanzstachel, wie die Experimente 326 Achtes Kapitel, von WOLTERECK lehren, auf die Ernährung zurückzuführen, deren In- tensität von der geringen Temperatur des Wassers im Frühjahr und Herbst und der viel höheren Temperatur im Sommer abhängig ist. Zum Schluß sei endlich noch auf die besonderen Schwierigkeiten aufmerksam gemacht, welche dem Studium der fluktuierenden Variabilität dadurch entstehen, daß sich häufig eine reine Trennung der äußeren Faktoren, auf deren Wirksamkeit sie doch allein beruht, von erblichen Faktoren entweder nicht oder nur durch umständliche Kulturversuche herbeiführen läßt. Esist dies namentlich bei solchen Organismen schwierig, die sich auf geschlechtlichem Wege fortpflanzen, und bei denen künst- liche Befruchtung mit Schwierigkeiten, wie beiden Säugetieren, verbunden ist, oder bei denen durch mehrere Generationen durchgeführte Inzucht die ganze Konstitution schwächt. Bei geschlechtlicher Fortpflanzung handelt es sich aber, namentlich bei höheren Organismen, immer um eine Verbindung von Individuen, die mehr oder minder verschieden erblich beanlagt sind. Für eine statistische Untersuchung der fluktuierenden Variabilität liegt daher kein gleichartiges Material vor, da die zu er- klärenden Verschiedenheiten nur zum Teil auf äußeren Faktoren, zum Teil aber auch auf einer ungleichen erblichen Beanlagung der Individuen beruhen. Soist— wie wohl von vornherein anzunehmen ist—die von QUE- TELET erhaltene Variantenreihe der gemessenen Soldaten nicht nur durch fluktuierende Variabilität, sondern auch durch kaum davon zu trennende Momente der ungleichen Anlage der zahlreichen Individuen verursacht. Nicht minder stellt die Nachkommenschaft, die aus einem käuf- lichen Bohnengemisch gezogen wird, kein erblich gleichartiges Unter- suchungsmaterial dar. Daher gewinntman bei der Messung oder Wägung der Samen verschiedener Pflanzen ebenfalls nur eine Sammel- oder Sum- mationskurve, zu deren Zustandekommen außer äußeren auch erbliche Faktoren beigetragen haben. Es ist ein großes Verdienst von JOHANNSEN, durch gründliche Studien diesen Umstand erkannt und durch seine Kultur der reinen Linien zugleich die Methode ausgearbeitet zu haben, wie man beim Studium der fluktuierenden Variabilität von den äußeren die inneren Faktoren trennen und aus der Sammelkurve die Kurven der reinen Linien isolieren kann. Näheres hierüber ist schon auf S. 278—285 mit- geteilt worden. 5. Die monströsen Varianten. (Bildungsanomalien und Monstrositäten.) Den stärksten Beweis für die Macht, mit der äußere Einflüsse auf die Gestaltungsprozesse. einzuwirken vermögen, liefern die Bildungs- Die Variabilität der Organismen. 327 anomalien und Monstrositäten. Sie stellen eine fünfte Gruppe der durch äußere Faktoren hervorgerufenen Variabilität der Organismen dar und lassen sich als Varianten definieren, die, durch Beeinflussung früher und frühester Stadien pflanzlicher und tierischer Entwicklung entstanden, den Charakter des Normwidrigen, verbunden mit funktionellen Störungen, an sich tragen. Es kann als ein allgemein biologisches Gesetz gelten, daß ein Orga- nismus auf äußere Einflüsse um so mehr durch Veränderungen, die in seiner Körperform sichtbar werden, reagiert, je jünger er ist; oder in mancher Weise ausgedrückt: Merkmale, Formen und Strukturen, die bereits aus einer Anlage entwickelt worden sind, lassen sich entweder gar nicht oder nur in einem geringeren Grade und dann nur in einer ganz bestimmten Richtung durch äußere Faktoren modifizieren, während dieselben Reize, auf die unentwickelte Anlage angewandt, oft in sehr tief eingreifender Weise ihre Ausgestaltung verändern. Ein abgelaufener Prozeß kann durch äußere Eingriffe meist nicht wieder rückgängig ge- macht, nicht mehr modifiziert, nicht wieder von neuem begonnen werden, Daher muß mit Recht als die vorzugsweise geeignete Periode, in der die Organismen auf äußere Reize durch Mißbildungen reagieren, die Zeit ihrer frühesten embryonalen Stadien bezeichnet werden. Da die Entwicklung, namentlich bei den höheren Tieren, in einer Kette zahl- reicher Veränderungen besteht, von denen die eine die andere zur Vor- bedingung hat, so läßt sich leicht verstehen, daß gewöhnlich jede Störung in den Systembedingungen (vgl. Kap. V) sich bei der Gestaltung des Endproduktes um so stärker geltend machen muß, je früher sie erfolgt. Denn Veränderung in einem Glied der Kette muß, wenn ein Ausgleich nicht möglich ist, Veränderungen in allen nachfolgenden, von ihm ab- hängigen Gliedern bedingen, so daß schließlich, wie bei der Entstehung einer Lawine, oft kleine Ursachen in ihrer Potenzierung große Wirkungen haben. Die Bildungsanomalien und Monstrositäten ım Pflanzenreich. Bei den pflanzlichen Bildungsanomalien tritt der Charakter der Störung oder der Abweichung vom physiologisch Normalen viel weniger als bei den Tieren hervor. Es hängt dies mit ihrer viel einfacheren Organ- und Strukturbildung zusammen. Daher denn auch die Entwicklung nicht in dem Umfang, wie bei den hochorganisierten Wirbeltieren, aus ihrem normalen Gleise gebracht werden kann. Im Zusammenhang hiermit 328 Achtes Kapitel, ist bei den Pflanzen die Zahl der Mißbildungen eine viel geringere als bei den Tieren, und zumal den Säugetieren, bei denen fast jedes Organ oft in mehrfacher Weise seinen Beitrag zur Teratologie liefert. Zugleich machen auch die Bildungsanomalien bei weitem nicht den abstoßenden Eindruck wie bei den Tieren, und zeigen viel weniger für uns den Charakter des Naturwidrigen, wenn ich mich so ausdrücken darf. Im Gegenteil tragen sie sogar in vielen Fällen, wie bei den gefüllten Blüten, zur Steige- rung der Formenschönheit zahlloser Kulturrassen bei und erregen hier unser besonderes Wohlgefallen. Am häufigsten werden im Pflanzenreich Bildungsanomalien bei den Blüten der Phanerogamen vorgefunden und lassen hier den Charakter der funktionellen Störung in dem Verlust des Geschlechtsapparates am klatsten zutage treten. Seltener betreffen sie Stengel und Blätter. Bildungsanomalien der Blüten kommen in verschiedenen Formen als Petalodie, als Petalomanie und als Pistillodie vor. Unter Petalodie versteht man die Umwandlung von Staub- gefäß-Anlagen in Kronenblätter. Durch diesen Vorgang entstehen die gefüllten Blüten, wie sie vielen Zierpflanzen eigentümlich sind und bei Rosen, gefüllten Tulpen, Levkojen, Mohn und vielen anderen der- artigen Rassen beobachtet werden. Durch die Anomalie wird die Funktion der Blüte, männlichen Samen hervorzubringen, entweder vollkommen zerstört, wenn alle Staubfäden von der Umwandlung betroffen worden sind, oder sie wird wenigstens sehr stark beschränkt, wenn die Umwand- lung, wie in vielen Fällen, nur eine teilweise ist. Dann finden sich neben den in Kronenblätter umgewandelten auch noch normal entwickelte d Staubgefäße in mehr oder minder großer Anzahl oder alle möglichen Übergangsformen zwischen beiden derart, daß einzelne Staubfäden trotz ihrer beginnenden Verbreiterung zu Blättern noch einige mit Pollen- körnern gefüllte Staubbeutel tragen, Den höchsten Grad der Petalodie stellt die Petalomanie vor, die bei einigen Kulturrassen von Ranunculus, von Anemonen, von Caltha palustris etc. beobachtet wird. Hier bringen die Blütensprosse niemals Stempel und Staubgefäße hervor, sondern produzieren nur Blumenblätter in fast unbegrenzter Zahl und Aufeinanderfolge. Da solche Pflanzen vollkommen unfruchtbar sind, bleiben sie als Rasse nur in solchen Fällen erhalten, in denen eine Vermehrung auf außergeschlecht- lichem Wege, durch Zwiebeln, Knospen, Stecklinge usw. möglich ist. Eine der seltensten und merkwürdigsten Bildungsanomalien bei Pflanzen ist die Pistillodie , die Metamorphose der männlichen in weib- liche Fortpflanzungsorgane (Stempel). Sie kommt zuweilen beim Mohn Die Variabilität der Organismen. 329 (Papaver somniferum) vor (Fig. 51 und 52). Hier ist auch ihre Entstehung einem eingehenden Studium von DE VRIES unterworfen worden. Im Um- kreis des normalen Fruchtknotens werden die Staubgefäße der innersten Reihe in geringerer oder größerer Zahl in kleine Nebenpistille umgewandelt. „Die Veränderung betrifft‘, wie DE VRIES mitteilt, ‚sowohl den Staub- faden, wie den Staubbeutel, von denen der erstere zu einer Scheide Fig. 51. Papaver somniferum polycephalum mit vollem Kranz in Pistille umgewandelter Staubgefäße. Nach MASTERS aus DE VRIES. Fig. 52. Papaver somniferum polycephalum mit wenigen in Pistille umgewandelten Staubgefäßen. Fig. 53. Linaria vulgaris (Leinkraut) mit ver- bänderten, blühenden Stengeln, nach DE VRIES. ausgedehnt wird. Innerhalb dieser Scheide können vollkommene und mehr oder weniger zahlreiche Samenknospen entstehen. Die Staubbeutel werden rudimentär, und an ihrer Stelle werden breite, blatt- artige Lappen entwickelt, welche sich seitlich von der Spitze ausstrecken und die Narben bilden. Gewöhnlich sind diese umgewandelten Organe unfruchtbar, aber in einigen Fällen wird eine geringe Menge von Samen hervorgebracht.‘‘ Aus diesen konnte sogar DE VRIES bei der Prüfung ihrer Variabilität einige Pflanzen aufziehen. Da gewöhnlich die äußeren Staubgefäße normal und fruchtbar bleiben, bringt die von der Pistil- 330 Achtes Kapitel. lodie betroffene Blüte, wenn der innen gelegene, normale Hauptstempel mit eigenem Pollen befruchtet wird, eine ebenso reiche Samenernte, wie andere Mohnpflanzen. Eine eigentümliche, aber im ganzen selten auftretende Monstrosität istdieZwangsdrehung der Stengel. Sie ist gelegentlich bei der wilden Karde (Dipsacus silvestris), beim echten Baldrian (Valeriana officinalis) etc. beobachtet worden und besteht darin, daß der Hauptstengel, anstatt normal geradegestreckt zu sein, um seine Längsachse stark gedreht ist. Infolgedessen ist er verkürzt and um ein Mehrfaches verdickt. Der ganze Wuchs der Pflanze und die Stellung ihrer Blätter wird dadurch beeinflußt. Derartige monströse Exemplare fallen durch ihre viel geringere Größe gegenüber normal gewachsenen Individuen auf. Viel häufiger als die Zwangsdrehung erfahren die Stengel eine abnorme Verbänderung oder Fasziation (Fig. 53). Während sie an ihrer Basis zylindrisch sind, beginnen sie sich nach den Enden zu allmählich abzuplatten und bandartig zu werden. Dabei ist häufig der Endabschnitt durch ungleichförmiges Wachstum wie ein Hirtenstab umgekrümmt, oder er ist seiner Länge nach verschieden weit nach unten gespalten. Als Beispiele einer derartigen Bildungsanomalie können der Hahnenkamm (Celosia cristata), Linaria vulgaris (Fig. 53), Chry- santhemum, Leucanthemum etc. dienen. Von Bildungsanomalien der Blätter seien noch die Albicatio und die Panachure, die auf fehlerhafter Ausbildung des Chlorophyllapparates beruhen, und die Becherbildungen erwähnt. Letztere finden sich zuweilen bei der Linde und Magnolie etc. und äußern sich darin, daß einzelne Blätter eine Becher- und Tütenform annehmen infolge einer teilweisen Verwach- sung ihres dem Stie] zunächst gelegenen Randes. Die Verwachsung er- folgt schon bei der ersten Anlage. Auf die Mißbildungen bei Pflanzen, deren Aufzählung sich noch um einige weitere, wie Pelorien etc., vermehren ließ, wurde an dieser Stelle eingegangen, weil sie uns auch die Abhängigkeit der Formbildung von äußeren Faktoren erkennen lassen. Denn daß solche dabei im Spiele sind, läßt sich schon insofern vermuten, als die verschiedenen Bildungs- anomalien bei allen wilden Arten nur sehr selten angetroffen werden. Sie sind fast ausschließlich den Kulturen eigentümlich und auf die bei der Kultur oft vorhandenen abnormen Ernährungsverhältnisse zurück- zuführen. Auch hierfür sind schon vielfache Beweise auf experimentellem Wege von verschiedenen Pflanzenphysiologen — ich nenne nur KLEBS und DE VRIES — beigebracht worden. } KLegs hat in langjährigen Versuchen die Erscheinungen der Varia- $ E nn 2 # ee Die Variabilität der Organismen, 331 bilität an mehreren Sempervivumarten studiert und konnte an diesen ‚sonst typisch blühenden Individuen durch bestimmte Kulturmethoden die Mehrzahl der überhaupt bei den Phanerogamen beobachteten Blüten- anomalien künstlich hervorrufen. DE VRIES hat sich, veranlaßt durch seine Studien über Mutation, _ auchmitderexperimentellen Erzeugung verschiedener Bildungsanomalien, f wie mit der oben erwähnten Pistillodie des Mohns beschäftigt. Diese kehrt bei der Aussaat der Samen einer Mutterpflanze, die Pistillodie - ihrer Blüten dargeboten hatte, immer nur bei vereinzelten Nachkommen in mehr oder minder ausgeprägter Form wieder. Die in der Anlage der Samen hier schon vorhandene, aber latente Neigung zur Anomalie konnte DE VRIES durch veränderte Kulturbedingungen, welche auf eine inten- sivere Ernährung hinwirkten, zur wirklichen Entfaltung bringen. Solche Kulturbedingungen sind: ı. dichtere oder weitere Aussaat der Samen, 2. intensive Düngung, 3. Aufzucht der Keimlinge unter starker Belich- - tung oderim Schatten. In zwei Gartenbeeten von je einem Quadratmeter "Umfang wurden 500 Mohnpflanzen in dem einen, 150 in dem anderen unter möglichst gleichen Bedingungen gezogen. Im ersten Fall waren 360 Exemplare fast ohne Pistillodie, und nur Io entwickelten einen vollen Kranz von Nebenpistillen. Auf dem anderen Beet dagegen lieferten 150 Exemplare 32 anomale Formen mit einem vollen Kranz von Neben- pistillen, fast 100 mit einem halben Kranz und nur 25 Individuen waren anscheinend ohne Monstrosität. Um den Einfluß der Düngung festzu- stellen, wurde ein und dieselbe Samenprobe in 3 gleiche Teile getrennt ‚und von diesen ein Drittel auf reich gedüngten Boden, das zweite Drittel auf ein nicht vorbereitetes Beet des Gartens und das dritte auf fast reinen Sand ausgesät, sonst aber möglichst unter den gleichen Bedingungen aufgezogen. Von den gedüngten Pflanzen gab die Hälfte volle Kränze, von den nicht gedüngten nur ein Fünftel und auf dem Sandboden eine noch geringere Zahl. Durch noch intensivere Düngung mit Hornmehl, das an stickstoffhaltigen Bestandteilen reich ist, konnte die Zahl der Individuen mit stark ausgeprägter Pistillodie in anderen Versuchen bis auf go Proz. hinaufgetrieben werden. Wie es in den Versuchen von Kress und auch hier keinem Zweifel unterliegen kann, geben äußere Faktoren der verschiedensten Art, indem sie namentlich in den frühesten Entwicklungsstadien auf die "Bildung der Knospen einwirken und besonders die Ernährung beein- flussen, den Anstoß zu allen verschieden abgestuften abnormen Modi- fikationen. Sie müssen somit als ihre unmittelbare äußere Ursache angesehen werden. Der ursächliche Zusammenhang ist ein ähnlicher 332 Achtes Kapitel. 4 wie bei den Standortsmodifikationen, oder wie beim Polymorphismus der Bienen, Termiten und Ameisen, bei denen er schon ausführlicher erörtert wurde. he An rc ee ee II. Die Bildungsanomalien und Monstrositäten im Tierreich. Wie groß und zahlreich dieselben beim Menschen sind, von dem man sie am besten kennt, lehrt schon ein flüchtiger Blick in ein größeres Lehrbuch der Mißbildungen oder ein Rundgang durch die betreffende Abteilung eines gut ausgestatteten pathologisch-anatomischen Museums. Beim Menschen läßt sich die Frage, auf welche Ursachen derartigeabnorme Produkte der Entwicklung zurückzuführen sind, auf experimentellem Wege nicht aufklären. Wohl aber lassen sich durch ausgedehnte Tier- versuche die Wege feststellen, auf denen in der Natur die Entstehung von Mißbildungen zustande kommen kann. Schon liegen solche Ver- suche in der Literatur in nicht geringer Anzahl vor, teils von Wirbel- losen, teils aus der Klasse der Fische, der Amphibien, der Vögel und der Säugetiere. Sie lehren, daß Störungen der Entwicklung des Eies aus chemischen Ursachen wohl die häufigsten sind, daß aber auch andere Ursachen, wie mechanische, thermische etc., in Frage kommen können. Ich beschränke mich darauf, einige Beispiele von Bildungsano- malien kurz zu besprechen, die durch Einwirkungen auf den Entwick-" lungsprozeß befruchteter Eier leicht und sicher erhalten werden können y Der Zoologe HERBST hat durch einen auf befruchtete Seeigeleier angewandten chemischen Eingriff die normale Umwandlung der Keim-" blase ın die Becherlarve auf die Dauer unmöglich gemacht und dadurch‘ tiefgehende bleibende Modifikationen der ganzen späteren Entwicklung | hervorgerufen. Der Eingriff besteht im Zusatz geringer Mengen von | Lithiumsalz zum Meerwasser (auf I9g40o ccm Meerwasser 60 ccm einer | 3,7-proz. Lithiumsalzlösung in Leitungswasser). Infolgedessen wird derjenige Bezirk der Keimblase, welcher bei normalem Verlauf zumDarm wird, anstatt in die Blastulahöhle eingestülpt zu werden, in entgegen- gesetzter Richtung nach außen als Fortsatz hervorgetrieben. Wenn jetzt die Lithiumlarven, wie sie HERBST im Hinblick auf ihre Entstehungs-" ur ee A ee et a a Be ES FRE) an. Rn I) Herbst, Experimentelle Untersuchungen über den Einfluß der veränderten chemischen Zusammensetzung des umgebenden Mediums auf die Entwicklung der Tiere. N Mitt. aus der Zool. Stat. zu Neapel, Ba. ER = Hertwig, Oscar, Die Entwicklung‘ des Jroscheies unter dem Einfluß schwächerer und stärkerer Kochsalslösung. Arch. JA mikrosk. Anat., Bd. \NL/IV, 1895. — Derselbe, Experimentelle Erzeugung tierisch Mißbildungen. Festschr. f. K. Gegenbaur, 1890. — Stockard, Ch., The artificial pr duction of a single median cyclopean eye in the fish embryo etc, Arch. f. Entwick“ lungsmech., Bd. OXXLHT, 107 etc. Die Variabilität der Organismen, 333 ursache genannt hat, zu geeigneter Zeit wieder in reines Meerwasser wrückgebracht werden, so bleibt der Darm nach außen hervorgestülpt, der übrige Körperteil aber beginnt die für die Pluteusform charakteristi- ‚schen Veränderungen zu erleiden und die Arme, den Wimperring, Mes- enchym und Kalknadeln zu entwickeln. Um diese Reaktion zu er- ‚zielen, muß das Lithiumsalz auf die Eier während der ersten Ent- en einwirken. Eier, welche auf späteren Furchungs- stadien oder als junge Blastulae noch in der Eihülle in die Lithium- _ mischung gebracht werden, erleiden nicht mehr die oben beschriebene Be Besonderes Interesse bilden die Bildungsanomalien der Wirbel- tiere; manche von ihnen treten in den verschiedensten Klassen, wie ge Fischen, Amphibien, Vögeln, Säugetieren, infolge des gemeinsamen E _Grundplanes ihrer Organisation in ähnlicher Weise auf und kommen sogar beim Menschen vor. Eine derartig weitverbreitete Mißbildung ist die sogenannte Spina bifida, eine partielle, am häufigsten in der Lendengegend bestehende Spaltbildung der Achsenorgane, des Zentral- nervensystems und der Wirbelsäule. Sie bietet ein besonderes morpho- "logisches Interesse dadurch dar, daß sie auf einer abnormen Ursache beruht, die sehr früh im Entwicklungsleben einsetzt, nämlich auf einer "Störung in der Anlage des Urmunds, eines der zuerst sich bildenden _ Organe des Wirbeltierkörpers. Am leichtesten kann man eine Spina bifida bei Froscheiern durch - die verschiedensten künstlichen Eingriffe hervorrufen. Infolge derselben wandelt sich die Keimblase nicht in normaler Weise in die Gastrula um, t der Urmund eine übermäßige Ausdehnung an und wird durch en Riesendotterpfropf offen gehalten. Der exzentrische Verschluß ‚des Urmundes unterbleibt entweder ganz oder teilweise. Wegen dieser Hemmung kommt es nur zu einer teilweisen Ausbildung der embryo- nalen Rückengegend. Trotzdem gehen die Differenzierungsprozesse in dem Zellenmaterial der Urmundränder, welche den Rücken durch ihre Verwachsung hätten bilden sollen, weiter vor sich (Fig. 54u.55). Dadurch entsteht jetzt auf der rechten und linken Seite des Urmundrings je eine halbe Medullarplatte (Fig. 55 mp), je eine halbe Chordaanlage (ch), je "eine Reihe von Ursegmenten (mk), von denen sich die quergestreifte kulatur des Rückens herleitet. Der Darm bleibt daher, so weit Bis die Urmundränder nicht miteinander haben verschmelzen können (Fig. 55), in der Medianebene des Rückens geöffnet, und da er auf den . frühen Entwicklungsstadien der Amphibien mit Dotterzellen angefüllt we bilden diese zwischen den getrennt gebliebenen Hälften der Achsen- 334 Achtes Kapitel, organe einen weißlichen Pfropf, der nach außen wie ein Hügel her- vortritt. Aa: Gewöhnlich wird diese hochgradige Störung im weiteren Fort- gang der Entwicklung mehr oder minder ausgeglichen oder ‚wie man Fig. 54. Mißgebildeter Froschembryo mit hochgradiger Urmundspalte, vom Rücken aus gssehen. Nach OÖ. HERTwIG. % Kopf, Ad Eingang in die Kopfdarm- höhle, 7 Urmundrand, ar Afterrinne, Z Eingang in den Enddarm. Fig. 55. Querschnitt durch das hintere Drittel des Rumpfes der in Fig. 54 abgebildeten Mißbildung. Nach OÖ. HERTWIG. >25 Medullarplatte, » Verbindungs- stelle der Medullarplatte mit dem Dotter, cA Chorda, »»% mittleres Keimblatt. Fig. 56. ’ mr ch Der Fig. 56. Ältere Mißbildung von Rana fusca mit Urmundspalte vor dem Schwanzende. Nach HERTwIG. % Kopf, d Dotterpfropf, #” Urmundrand, ar After- rinne, 2 Naht. Fig. 57. Querschnitt durch eine ältere Mißbildung von Rana fusca mit Urmundspalte etwas vor dem Dotterpfropf. Nach HERTWIG. ch Chorda, d Darm, us Ursegment, wg WOLFFscher [Gang, v Verbindung zwischen beiden Rückenmarks- hälften (mr). auch sagen kann, nach der Norm hin reguliert. Es wachsen nämlich die getrennt gebliebenen beiden Rückenhälften noch nachträglich in det Weise, wie es die Urmundränder bei normalem Verlauf tun, von lin und rechts über den Dotterpfropf einander entgegen und beginnen da auch von vorn nach hinten in der Medianebene zu verschmelzen, link mit rechter Rückenmarkshälfte, linke mit rechter Chordahälfte. Zuweile aber erhalten sich Reste der ursprünglich über ein größeres Rückengebie Die Variabilität der Organismen. 335 ausgedehnten Spaltbildung (Fig. 56), und zwar meist in der späteren "Lendengegend vor dem Beginn des Schwanzendes. Indem wir die Spina bifida auf den gestörten Verschluß des embryo- nalen Urmundes haben zurückführen können, bietet sie uns ein interes- _ santes Beispiel für die Gruppe der sogenannten Hemmungsmißbildungen, zu denen der größte Teil der Bildungsanomalien der Wirbeltiere hinzu- zurechnen ist. Wie im Namen so passend ausgedrückt ist, besteht ihre Eigentümlickeit darin, daß durch eine von außen gesetzte Störung dieser oder jener Entwicklungsvorgang nicht seinen normalen Abschluß hat finden können und durch seine ‚Hemmung‘ eine mehr oder minder . auffällige Abweichung von der Norm, also eine ‚„Hemmungsmißbildung“ - geliefert hat. In dieselbe Kategorie gehören, um aus der großen Zahl nur einige zu nennen, die Lippen-, die Kiefer- und die Gaumenspalte, oder die Fissura sterni, die Atresia pupillae congenita, der Uterus dup- lex usw. Ich schließe hieran noch zwei künstlich erzeugte Bildungsanomalien von eigentümlicher Art an. Die eine betrifft noch einmal das Frosch- und Axolotlei, die andere das Fischei. Eier vom Frosch, Axolotl etc. liefern eine Mißbildung, die in der pathologischen Literatur als Anencephalie und Hemikranie be- kannt ist, stets dann, wenn sie sich während der ersten Stadien des Furchungsprozesses anstatt in gewöhnlichem Leitungswasser in Wasser entwickeln, dem 0,6 bis 0,7 Proz. Kochsalz hinzugesetzt ist (Fig. 58—60). Es ist überraschend, zu sehen, was für eine große Störung eine Kochsalz- lösung, welche man gewöhnlich wegen ihrer Unschädlichkeit als physio- logische zu bezeichnen pflegt, dennoch im geeigneten Zeitpunkt der Entwicklung angewandt, zu verursachen imstande ist. In diesem Falle sind es besonders die zur Anlage der nervösen Substanz dienenden Teile des äußeren Keimblattes, welche durch den chemischen Eingriff intensiv geschädigt werden. Auch wenn die Eier nach Ablauf des Furchungs- Prozesses aus der 0,6-proz. Kochsalzlösung wieder in reines Leitungs- wasser übertragen werden, beginnt sich die Schädigung doch an der Nervenplatte, nachdem sie im weiteren Verlauf entstanden ist, geltend zu machen. Gewöhnlich wird, wenn ein gewisser Grad der Schädigung nicht überschritten ist, von ihr nur ein kleiner Bezirk betroffen, der dem dritten bis fünften Hirnbläschen entspricht. Derselbe bleibt flach aus- gebreitet (Fig. 585—60), anstatt sich rechtzeitig zum Rohr zu schließen, wie es in der Rückenmarksgegend und auch ganz vorn an der Hirn- platte geschieht. Er hat also auch in der Weise, die bei der Spina bifida als verhinderter Urmundschluß besprochen wurde, eine Art Wachs 336 Achtes Kapitel. tumshemmung erfahren. Die nicht zum Verschluß gelangten Abschnitte der Nervenplatte zeigen später Zerfallserscheinungen und sind außer- stande, Nervensubstanz zu bilden. Die in der Entwicklung von Frosch und Axolotl während des Furchungsprozesses erzielte Wirkung einer sonst gewöhnlich indifferenten Kochsalzlösung ist eine so gleichmäßige, daß fast alle zum Versuch Fig. 58. Fig. 59. Fig. 53. Embryo von Rana fusca mit Anencephalie. Nach OÖ. HERTwIG. Der vom Rücken aus gesehene Embryo entstammt einem Ei, das nach der Befruchtung in einer 0,6-proz. Kochsalzlösung vom Io.—-ı14. März gezüchtet wurde. Die Anlagen der dritten bis fünften Hirnblase haben sich nicht zum Rohr geschlossen, sondern bilden eine offene Hirnplatte (%5), die von einem Saum der Epidermis s umgeben ist. Fig. 59. Embryo von Axolotl mit Anencephalie und einzelnen Spalten im Medullarrohr. Nach O. HErRTwIG. Das Ei wurde vom 26. Nov. bis 4. Dez. in einer 0,6-proz. Kochsalzlösung gezüchtet. 5 offene Hirnplatte, » Rinne zwischen beiden Hälften derselben, s Hautsaum, »x7!, nr? zwei Spalten im Nervenrohr, sck Schwanz- höcker. Fig. 60. Querschnitt durch die unentwickelt gebliebene Hirnanlage des in Fig. 59 abgebildeten Embryos in der Gegend der Ohrbläschen. Nach O. HERT- WIG. Ap Hirnplatte, » mediane Rinne derselben, c% Chorda, s Saum der Epidermis an der Grenze der offen gebliebenen Hirnplatte, #5 Hörbläschem Ad Kopfdarmhöhle. verwandten Eier, seien es IOo oder mehr, fast denselben Befund dar- bieten. Auch in der Teratologie des Menschen gehören Monstra mit Anencephalie und Hemikranie zu den häufigeren Befunden. Auf einer Störung in der Hirnentwicklung beruht auch eine eigen- tümliche Mißbildung, die gleichfalls beim Menschen vorkommt, das Zyklopenauge. Es entsteht dadurch, daß sehr frühzeitig die beiden Augenanlagen, die aus den beiden Seitenwänden des primären Vorder- hirnbläschens ihren Ursprung nehmen, sich in der Medianebene einander nähern und eine bald mehr und bald minder weitgehende Verschmelzung Die Variabilität der Organismen. 337 erfahren. Auch diese, im höchsten Grade auffällige Abnormität ist bei Fischlarven durch den amerikanischen Forscher STOCKARDT künstlich hervorgerufen worden. Das Verfahren ist ein ähnliches wie beim Frosch- versuch; nur wird anstatt Kochsalz ein bestimmter Prozentsatz von Magnesiumchlorid zum Meerwasser, in welchem sich die Fischeier ent- wickeln, hinzugesetzt. 15) n ©. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl. Neuntes Kapitel, Die Frage nach der Konstanz der Arten (Fortsetzung). Il. Die Mutabilität der Organismen als Grundlage der Entstehung neuer Arten. Nach unserer auf S. 287 gegebenen Übersicht ist von den im VII. Kapitel besprochenen Veränderungen pflanzlicher und tierischer Ge- staltbildung eine zweite wichtige Gruppe neu sich bildender Lebens- formen zu unterscheiden, deren Entstehung in einer veränderten Be- schaffenheit der Artzelle selbst oder in der Mutabilität ihres Idioplasma begründet ist. Auch diese zweite Hauptgruppe läßt sich noch in zwei scharf getrennte Untergruppen weiter zerlegen. In der einen wird eine Veränderung der Artzelle durch geschlechtliche Vermischung zweier artverschiedener Idioplasmen, also durch Bastardzeugung zwischen Vertretern zweier LınxEscher oder zweier MENDELscher Arten oder von zwei reinen Linien herbeigeführt. In der anderen Untergruppe erfolgt die Veränderung in der Konfiguration des idioplasmatischen Systems unabhängig von geschlechtlicher Vermischung unter den dauern- den Einflüssen der Lebenslagefaktoren durch Umgruppierung, Schwund oder Neubildung innerhalb der biologischen Verbindungen der Erbmasse oder, wenn wir in der Sprache der Mendelforscher reden, durch Neu- erwerb, durch Latentwerden oder gänzlichen Verlust von Erbeinheiten (Genen). Beide Gruppen sind also in ihrer Genese grundverschieden voneinander. Um uns kurzer, prägnanter Ausdrücke zu bedienen, handelt es sich in dem einen Fall um eine Mutation durch Neukombination zweier artverschiedener Idioplasmen, in dem anderen Fall um eine Veränderung des Idioplasma einer Artzelle durch neueinwirkende Ursachen. Nur durch Mutation auf dem einen oder anderen Wege können neue Arten ihren Ursprung nehmen.’ Die Mutabilität der Organismen als Grundlage der Entstehung neuer Arten, 339 ı. Die Mutation der Artzelle durch Neukombination zweier artverschiedener Idioplasmen '). Die einfachste und am meisten sichere Methode neue Artzellen zu schaffen, ist das Kombinationsverfahren durch Befruchtung. Der Biologe läßt sich hierbei in gewissem Sinne dem organischen Chemiker vergleichen, der durch methodische Synthese, z. B. durch planmäßiges Einführen neuer Glieder in die Grundverbindung, ganze Reihen von Zuckerarten, von Alkoholen, von Fetten usw., also von Substanzen, die zum großen Teil vor ihrer Entstehung im chemischen Laboratorium in der Welt überhaupt nicht existiert haben, herstellen kann. Ihre Her- stellungsmöglichkeit ist nur in den allgemeinen Naturgesetzmäßig- keiten gegeben und läßt sich bei wissenschaftlicher Kenntnis derselben vorhersehen. So führt auch der Biologe durch künstliche Synthese zweier Einheiten biologischer Verbindungen, wie wir auch die Idio- plasmen zweier Artzellen bezeichnen können, neue Arten von Lebe- wesen in die Welt ein. Er hat es in seiner Hand, die Zahl der jetzt die Erde bevölkernden Arten von Pflanzen und Tieren auf das Zehn- und Hundertfache zu vermehren. Wie die Erfahrung uns lehrt, liegen un- begrenzte Möglichkeiten in dem Kreuzungsverfahren kreuzbarer Organis- men für den Menschen vor. Er ist sogar imstande, wie der Chemiker gewisse Reihen synthetischer Verbindungen im voraus feststellen kann, die Zahl der möglichen Kombinationen von zwei Idioplasmen, je nachdem sie sich voneinander in einem, in zwei, drei oder mehr Erb- faktoren unterscheiden, also mono-, di-, tri- bis polyhybrid sind, im voraus zu berechnen. Wenn es dem Züchter gelungen ist, zwei kombinier- bare Idioplasmen durch Kreuzung zu verbinden, und wenn der so von ihm künstlich hergestellte Bastard bei weiterer Fortzucht in seinem Fort- pflanzungsvermögen nicht geschädigt ist, dann ergibt es sich von selbst, daß in der F?- und F?-Generation die möglichen Kombinationen zum Vorschein kommen und sich bei Isolierung auch in ihren neuen Merk- malen konstant erhalten lassen. Das Nähere hierüber wurde schon im III. Kapitel über die Artzelle und die MEnDELschen Kreuzungsregeln auseinandergesetzt (S. 62—67 und 67—80); auch wurde dort auf die Formeln, nach denen sich die möglichen Kombinationen vorausberechnen lassen, näher eingegangen. Da sich die Homozygoten bei Reinzucht in der Nachkommenschaft konstant erhalten, so konnten wir sie im VII. Kapitel, das über das 1) Weitere Auskunft geben die in Kapitel III zitierten Schriften S. 71. 22* 340 Neuntes Kapitel, System der Organismen handelt, als Neuheiten in der Artbildung be- trachten und auf Grund ihrer Entstehungsweise als MENDELSche Art- einheiten (S. 276) bezeichnen. Daß auch in der freien Natur Kreuzungen zwischen naheverwandten Arten stattgefunden haben und noch immer stattfinden, und daß auf diese Weise Rassen, die zwischen den Arten eine Mittelstellung ein- nehmen, sich erklären lassen, ist bekannt. Aber im ganzen sind sie doch spärlich und nur auf einzelne weit verbreitete wilde Arten be- schränkt. Dagegen ist Rassenvermischung ein Kennzeichen für alle vom Menschen zur Zucht gewählten Pflanzen und Tiere. Hier ist durch die über Jahrhunderte ausgedehnte Kultur bestimmter Arten, haupt- sächlich wohl auf dem Wege der Kreuzung, ein Reichtum von neuen Formen, der ganz erstaunlich ist, entstanden. Vermutlich aber wird derselbe von der Gegenwart an noch gewaltig gesteigert werden, seitdem wir in das Wesen und die morphologischen Grundlagen der Kreuzung und in die sich daraus ergebenden Vererbungsgesetze tiefer eingedrungen und in den Stand gesetzt sind, nach streng wissenschaftlichen Methoden planmäßig neue Lebensformen von Pflanzen und Tieren zu unserem Nutzen und Wohlgefallen zu erzeugen. Um sich ein richtiges Bild von der durch Idioplasmakombination hervorgerufenen Veränderungen in der Welt der Lebewesen zu machen, vergegenwärtige man sich nur die Menge der domestizierten Hühner-, Enten-, Fasanen- und Taubenrassen oder der zahlreichen verschiedenen Kulturformen von Hund, Rind, Schaf, Schwein, Kaninchen, Meer- schweinchen, Maus etc. Man denke an die Formenfülle der kultivierten Pflanzen, der Äpfel-, Birnen-, Kirsch-, Bohnen-, Weizensorten etc. oder an die Mannigfaltigkeit in der Größe, Farbe und Zeichnung vieler vom Gärtner gezüchteten Blumenpflanzen. Wenn man ein Beet, auf welchem ein buntesGemisch von allen möglichen Abarten des gewöhnlichen Sommerphlox oder des Löwenmauls ausgesät ist, aufmerksam betrachtet, so wird jeder überrascht sein, wie die Blüten der einzelnen Exemplare, z. B. von Phlox, entweder rein weiß oder gelb oder rot oder samtbraun, oft in verschiedenen Abstufungen gefärbt sind, wie außerdem wieder andere in zwei Farben und dabei in bestimmten zierlichen Mustern gezeichnet sind. MENDELSsche Arten erhalten sich, wenn sie sich selbst überlassen bleiben, nur rein, soweit sie Selbstbefruchter sind; bei Kreuzbefruch- tung (Allogamie) treten infolge der nahen Verwandtschaft fortwährend neue Kombinationen durch Verbindung weiblicher und männlicher Keimzellen mit ihren minimal verschiedenen Idioplasmen ein. ‚So kann % Die Mutabilität der Organismen als Grundlage der Entstehung neuer Arten, 341 es zu keiner Beständigkeit im stets wieder neu kombinierten Idioplasma kommen, da in den folgenden F!-, F?- etc. Generationen wieder neue Spaltungen und Rückschläge auf die Ausgangsformen stattfinden. Ein solches Gemisch sehr nahe verwandter Individuen, die unterein- ander sich in kleinen und wenigen, wenn auch zuweilen auffälligen Merk- malen unterscheiden, kann von dem Systematiker nur unter der höheren Einheit der Linn£schen Art praktisch zusammengefaßt werden. Es ist wichtig, diesen Gesichtspunkt im Auge zu behalten, da auf ihn auch die oft so auffälligen Unterschiede zwischen den wilden und den in Kultur befindlichen Arten beruhen. Wilde Arten sind meist in der Beschaffenheit aller zu ihnen gehörigen Individuen auffallend uniform und in ihrer Nachkommenschaft durchaus beständig. Ihr Idio- plasma befindet sich in einem sehr stabilen, gleichfalls uniformen Zu- stand. Eine kultivierte oder domestizierte Art dagegen besteht aus einem Gemisch von Individuen, die sich in einigen Merkmalen oft in sehr auffälliger Weise unterscheiden, wenn sie auch in ihren Hauptcharak- teren, die der Systematiker seiner Beurteilung zugrunde legt, volle Übereinstimmung zeigen. Um einige Beispiele aus der Botanik zu nennen, so erwähne ich durch ungemeine Verschiedenheit ihrer Blüten ausge- zeichnete Arten, wie den Sommerphlox, die Betunien, die Stiefmütter- chen, die Dahlien, Malven etc. Während außer der Blütezeit die zu einer Art zusammengehörigen Pflanzen sich in allen Merkmalen gleichen, bieten sie in ihren Blüten Unterschiede dar, nach denen wir leicht die Indi- viduen zuweilen in viele Gruppen trennen können, nach der weißen, gelben, roten, braunen Farbe der Blumenblätter oder nach den oft ganz charakteristischen Mustern, die entstehen, wenn 2 oder 3 Farben auf einzelne Bezirke der Blumenblätter verteilt sind. Ihr Idiopasma ist in Bezug auf die meisten Merkmale zwar auch konstant und uniform, wie bei.den wilden Arten, in einzelnen Merkmalen aber, von welchen Form, Farbe und Zeichnung der Blüte abhängen, leicht Veränderungen unterworfen. Diese Erbeinheiten befinden sich also in einem labilen Zustande. Durch sorgfältige Auswahl und Trennung der Individuen der ein- zelnen Gruppen, durch mühsame Inzucht kann der Gärtner oft eine künstliche Trennung der Lınn£&schen Art mit ihrem bunten Farbenkleid zur Blütezeit in die durch Kultur entstandenen MENDELSchen Arten und in reine Linien erzielen. Es läßt sich, wie die Gärtner sagen, eine gewisse Samenbeständigkeit der Kultursippen erreichen, so daß sie als Handelsartikel in den Samenkatalogen aufgeführt werden können, Diese Beständigkeit ist aber für längere Zeit nur aufrecht zu erhalten, 342 Neuntes Kapitel, solange die reingezüchteten Sippen getrennt voneinander auf Beeten gezogen und vor Insektenbesuch geschützt werden. Vereint auf einem Beet, verlieren sie dagegen, wenn sie zu einer allogamen Art gehören, wie es meist der Fall ist, schon in der nächsten oder folgenden Generation ihre Samenbeständigkeit infolge von häufig eintretender Kreuzbefruch- tung der Individuen mit verschiedenen Blütenmerkmalen. Daher liefert jetzt der Samen einer Sippe in der Folge eine mendelnde Nachkommen- schaft; seine durch Inzucht mühsam herbeigeführte Samenbeständig- keit ist in kürzester Zeit wieder verloren gegangen. Bei jährlich fort- gesetzter gemischter Aussaat von Samen nicht getrennter Sippen einer Art entsteht ein immer bunter werdendes Bild’ der von den einzelnen Pflanzen hervorgebrachten Blüten. Denn nach den MEnDELschen Regeln kommen immer neue Kombinationen zwischen den einzelnen Farben und den Farbenmustern zustande. In demselben Maße aber, als durch alle möglichen Zwischenstufen, gleichsam durch fließende Übergänge, ursprünglich gut getrennte Merk- male wieder verbunden werden, verlieren diese an systematischem Wert als Bestimmungsstücke gegenüber den konstanten und getrennten Merkmalen. Auf diese Weise kann auch durch fortgesetzte Kreuzung zweier gut ausgeprägter Linn&scher Arten, sofern nur ihre Bastarde eine vollkommen fruchtbare Nachkommenschaft liefern, eine neue Lınn&esche Art entstehen, deren einzelne Individuen in einem oder mehreren Merkmalen in weiten Grenzen und scheinbar ohne Regel variieren. Das von den Kulturpflanzen Gesagte gilt zum Teil auch von den in Kultur befindlichen Tierarten. Manche von ihnen bestehen, wıe der Haushund, aus vielen Rassen, die sich oft durch sehr zahlreiche und auffällige Merkmale, wie Jagdhund, Dogge, Pudel, Dachs, von- einander unterscheiden. Trotzdem lassen sie sich leicht miteinander kreuzen und liefern auch eine fruchtbare Nachkommenschaft. Die Kreu- zung verwischt viele Unterschiede und liefert oft bizarr gestaltete Bastard- formen, deren Studium und Schicksal in den folgenden Generationen noch wenig zum Gegenstand von genauen, wissenschaftlichen Untersuchungen gemacht worden ist. Über ihre Stellung zu den MEnDELschen Regeln läßt sich in diesen Fällen noch wenig Sicheres aussagen, weil sich die Unterschiede auf sehr viele Merkmale und Eigenschaften erstrecken und weil durch jede weitere allogame Fortpflanzung ein neuer, die Unter- suchung erschwerender Umstand hinzutritt. So entstehen hier Idio- plasmakombinationen, die sich nicht den von MENDEL aufgestellten Regeln einfach unterordnen lassen. Auch ist bei der Vielheit heterogener Die Mutabilität der Organismen als Grundlage der Entstehung neuer Arter, 343 Eigenschaften eine systematische Nachkommenprüfung, wie bei Mono- und Dihybriden, und eine Zerlegung ihrer Eigenschaften kaum durch- zuführen. Die auf tierischem Gebiete schon angestellten und auf die Lehre von MENDEL gegründeten Erblichkeitsstudien haben daher mit sehr viel größeren Schwierigkeiten als die Untersuchungen der viel einfacheren Mono- und Dihybriden bei Pflanzen zu kämpfen, zumal wenn diese sich noch durch Selbstbefruchtung fortzüchten lassen. Bei den höchsten, in Kultur befindlichen, nur auf geschlechtlichem Wege sich vermehrenden Organismen gibt es im Grunde genommen überhaupt keine uniforme Art. Wie jedes Individuum sich von anderen in vielen bald mehr bald weniger differierenden Merkmalen unterscheidet, so muß nach den schon früher {S. 7I bis II8) gegebenen Auseinander- setzungen natürlich auch sein Idioplasma individuelle Anlagen, die einem anderen fehlen, besitzen. Durch die Befruchtung werden daher auf das Ei neue väterliche Anlagen übertragen, die der Mutter fremd sind, aber im Kind in väterlichen Merkmalen wieder zum Vorschein kommen. Das Zeugungsprodukt läßt sich, da es sich gewöhnlich um viel mehr als zwei differierende Erbeinheiten (Gene) handelt, einem Poly- hybriden vergleichen. Wenn wir auch für dıesen Fall die Gültigkeit der MEnDELschen Regeln annehmen wollen, so würde in der F!-Generation sowohl im weiblichen wie im männlichen Geschlecht bei der Bildung der weiblichen und der männlichen Keimzellen eine Aufspaltung der Merkmalspaare und, da unter ihnen viele Heterozygoten sind, eine un- gleichmäßige Verteilung auf die einzelnen Keimzellen stattfinden müssen ; diese sind somit schon von Haus aus ungleich beanlagt. Eine Trennung in reine Linien ist daher bei solchen höchsten Organismen teils aus diesem Grunde, teils auch deswegen unmöglich, weil bei jeder neuen Befruchtung immer wieder zwei erblich ungleichwertige Idioplasmen miteinander aufs neue kombiniert werden. So muß das idioplasmatische System in einer beständigen Veränderung und zwar in doppelter Weise be- griffen sein, einmal durch Spaltung der heterozygotischen Merkmalspaare und durch verschiedenartige Verteilung auf die einzelnen Keimzellen und zweitens durch Neukombinationen, die bei jedem Geschlechtsakt stattfinden. Infolgedessen ist zu erwarten, daß die Nach- kommen ein und desselben Elternpaares nie eine gleiche erbliche Beanlagung besitzen können. Aus den vorausgegangenen Betrachtungen kann für die Systematik folgende Lehre gezogen werden. Bei hochorganisierten Tierarten mit getrenntgeschlechtlicher Fortpflanzung ist eine weitere Zerlegung in engere systematische Gruppen nach dem Prinzip der MEnDELschen 344 Neuntes Kapitel. Arten und der reinen Linien von JOHANNSEN aus praktischen und theo- retischen Gründen meist nicht durchführbar. Die Art stellt daher in diesem Fall ein Gemisch von Formen dar, die infolge ungleicher erb- licher Beanlagung in ihren Merkmalen und Eigenschaften voneinander oft sehr verschieden sein können. Im höchsten Maße trifft dies für das menschliche Geschlecht zu. Nicht nur haben seit Jahrhunderten frucht- bare Kreuzungen zwischen der weißen, gelben und schwarzen Rasse, wo sie in nähere Berührung miteinander gekommen sind, sondern in noch viel höherem Maße zwischen den zahlreichen Typen, wie zwischen dem germanischen, slavischen, semitischen, keltischen, finnischen Typus etc, stattgefunden. Unzählige Idioplasmakombinationen sind auf diese Weise, zumal unter dem Zeichen des gesteigerten Verkehrs und der’ zunehmenden Völkermischung, zustande gekommen. Hiermit knüpfe ich noch einmal kurz an die Betrachtungen an, die uns schon bei der Besprechung der Ahnentafeln im VI. Kapitel (S. 230—245) beschäftigt haben. 2. Die Mutation der Artzelle durch direkte Veränderung ihres Idioplasma. Außer der Veränderung durch Kombination, die nur auf dem Wege der Befruchtung erfolgt, kann das Idioplasma eine andere Beschaffen- heit infolge direkter Bewirkung durch Verlust von alten oder durch Erwerb von neuen Anlagen oder durch Umgruppierung derselben ge- winnen. Das Studium dieser Form der Mutabilität ist durch die Idio- plasmatheorie von NÄGELI und durch die bahnbrechenden Untersuch- ungen von DE VRIES wesentlich gefördert worden und hat zurzeit sich einer besonderen Beachtung und Wertschätzung zu erfreuen. Indem ich mich ihm zuwende, sei gleich von vornherein bemerkt. daß ich den Begriff der Mutabilität, wie schon aus der im ersten Satz dieses Ab- schnittes gegebenen Definition (S. 338) hervorgeht, in einer etwas all- gemeineren Fassung, als es von DE VRIES geschieht, gebrauchen werde. Denn abgesehen von der Kombination zweier Idioplasmen durch Be- fruchtung, verwende ich ihn nicht nur für sprungweise erfolgende, sondern überhaupt für alle Veränderungen, die im idioplasmatischen System eintreten und dauernde Umgestaltungen der Organismen in ihrer Nach- kommenschaft zur Folge haben. Da wir vom Bau des Idioplasma nichts Bestimmtes wissen, können auch Veränderungen in ihm nur in hypothetischer Form vorgestellt werden. Sie können darin bestehen, daß einzelne Anlagen im Gegensatz Die Mutabilität der Organismen als Grundlage der Entstehung neuer Arten, 345 zu anderen geschwächt werden und schließlich vollkommen verloren gehen (Verlustmutation), während andere eine allmähliche oder plötz- liche Stärkung erfahren. Im ausgebildeten Organismus würde sich dies durch geschwächte oder verstärkte Ausbildung oder durch vollständigen Verlust eines Merkmals für uns wahrnehmbar machen. Es können aber ferner auch ganz neue Anlagen zu dem bereits vorhandenen Schatz hinzuerworben werden. Sie können sich entweder allmählich ausbilden oder mehr unvermittelt auftreten, so daß der ausgebildete Organismus sich von seinen Vorfahren durch ein früher nicht vorhanden gewesenes Merkmal in auffälliger Weise unterscheidet. Veränderungen im Idio- plasma können aber auch auf Umgruppierungen oder auf einer veränder- ten Konfiguration der im idioplasmatischen System schon vorhandenen zahlreichen Erbeinheiten beruhen, geradeso wie das Wesen einer in einem labilen Zustand sich befindenden komplizierten chemischen Ver- bindung durch Umlagerung einzelner Atome oder Atomgruppen ver- ändert werden kann. Im Grunde genommen handelt es sich in den kurz auseinander- gesetzten Veränderungen des Idioplasma nur um Möglichkeiten; denn was wirklich in ihm geschieht, entzieht sich ja unserer Wahrnehmung, da es sich auf dem unseren Sinnen nicht zugänglichen Molekulargebiet abspielt. Wahrnehmbar werden uns die im Idioplasma vorausgesetzten Veränderungen erst in ihren Folgen, in den veränderten erblichen Merk- malen des ausgebildeten Organismus. (Man vergleiche hierüber auch Kap. XIII.) Bei dem gegenwärtigen, noch wenig befriedigenden Zustand unserer Kenntnisse werde ich mich darauf beschränken, einige besser erforschte Fälle von Mutation aus dem Pflanzen- und dem Tierreich zu besprechen. Auch auf diesem Gebiet sind die Versuche an Tieren viel schwieriger auszuführen und daher noch wenig zahlreich. a)-Sprunghafte Mutation der Artzelle im Pflanzenreich!). Von Gärtnern und Tierzüchtern ist schon beobachtet worden, daß unter einer großen in Kultur befindlichen Zahl von Individuen ı) de Vries, H., Die Mutationstheorie. Versuche und Beobachtungen über die Entstehung von Arten im Pflanzenreich. Bd. I. Die Entstehung der Arten durch Mutation, 1901. — Derselbe, Gruppenweise Artbildung, 1913. — Derselbe, Arten "und Varietäten und ihre Entstehung durch Mutation. Vorlesungen, ins Deutsche übertragen von H. Klebahn, Berlin 1906. — Korschinsky, S., Heterogenesis und Evolution. Ein Beitrag zur Theorie der Entstehung der Arten, Flora, Bd.&9, 1901. — Nilsson-Ehle, Kreuzungsuntersuchungen an Hafer und Weizen, Lund 1909. — Fischer, E., Experimentelle Untersuchungen über die Vererbung erworbener Eigen- 346 Neuntes Kapitel, einer bestimmten Pflanzen- oder Tierspecies zuweilen einzelne Exem- plare auftreten, die sich in irgendeinem auffälligen Merkmal von ihres- gleichen unterscheiden und dasselbe auch auf ihre Nachkommenschaft übertragen. Sie können dann durch getrennte Fortzucht zum Ausgangs- punkt für eine neue Pflanzen- oder Tierrasse werden, zumal wenn die plötzlich neu aufgetretene Eigenschaft das besondere Interesse des Züchters erweckt und irgendeinen Vorteil darzubieten scheint. Über derartige Fälle ist in der Literatur schon vor Jahrhunderten und bis in die Neuzeit teils von Züchtern, teils auch von Forschern be- berichtet worden. Zusammenstellungen hierüber mit anschließenden allgemeinen Erörterungen sind von CH. DARWIN in seinem großen Werk über das Variieren der Tiere und Pflanzen im Zustande der Domesti- kation, ferner von den Botanikern KORSCHINSKY und DE VRIES ge- geben worden. Fast alle diese Fälle sind aber nicht wissenschaftlich genauer verfolgt und bis ins einzelne hinein aufgeklärt worden. Erst in den letzten Jahrzehnten hat DE VRIES einen großen Fortschritt auf diesem Gebiet herbeigeführt. In seinem ausgezeichneten zweibändigen Werk ‚Die Mutationstheorie, Versuche und Beobachtungen über die Entstehung von Arten im Pflanzenreich“ hat er sich als Ziel die Aufgabe gestellt, durch direkte Beobachtung, sowie durch Kulturen und Ver- suche die Gesetze kennen zu lernen, welche die Entstehung neuer Arten beherrschen. Da bei Pflanzen, die sich im Zustand der Mutation befinden, neue Arten nicht nur einmal oder in wenigen Individuen, sondern all- jährlich und in großer Anzahl erzeugt werden, hält er es für möglich, durch genaue Beobachtung solcher Pflanzen in groß angelegten Kulturen und durch experimentelle Nachkommenprüfung mutierender Individuen die Entstehung von Arten ebenso leicht wie jede andere Naturerscheinung zum Gegenstand genauer Untersuchung zu machen. ‘\Um zu erfahren, was eine sprunghafte Mutation ist und wie sie entsteht, wird es sich daher empfehlen, wenn wir einige Fälle be- sprechen, die von DE VRIES nach seinem Programm analysiert worden sind. Als solche wähle ich die Hervorbringung gefüllter Blüten von Chrysanthemum segetum und die Entstehung der Pelorie bei Linaria. schaften. Allg. Zeitschr. f. Entomol., Ba. 6, 1901. — Derselbe, Weitere Unter- suchungen über die Vererbung erworbener Eigenschaften, Ebenda, Bd. 7, 1902. — Standfuss, Zur Frage der Gestaltung und Vererbung auf Grund 28-jähriger Ex- Derimente. Vortrag, Zürich 1905. — Tower, W. L., An inwestigation of evolution in chrysomelid beetles of the genus Leptinotarsa, Washington, published by the Carnegie Institution, 1900. — Man vergleiche auch die in Kap. XII und XI1I sitierten Schriften über Vererbung. BI Die Mutabilität der Organismen als Grundlage der Entstehung neuer Arten. 347 Mutation von Chrysanthemum segetum. Schon von vielen Gartenpflanzen werden gefüllte Varietäten ge- zogen und von Gärtnern in den Handel gebracht; manche von ihnen haben bereits ein hohes Alter. In einem 1671 erschienenen ‚mit Abbildungen ausgestatteten Buche des Holländers MunTInG werden, wie DE VRIES ausführt, viele gefüllte Varietäten von Mohn, Leberblümchen, Gold- lack, Veilchen, Caltha, Althaea, Colchicum, Immergrün etc. beschrieben. Die ersten gefüllten Petunien entstanden 1855 zufällig und plötzlich aus gewöhnlichem Samen der ungefüllten Art in einem Garten in Lyon; sie haben die Mutterpflanzen geliefert, von denen die im Handel befind- "lichen zahlreichen Varietäten abstammen. Einer jüngeren Zeit gehören auch die gefüllten Kornblumen und die gefüllten Glockenblumen an. Um die Entstehung einer gefüllten aus einer einfachen Blüte Schritt für Schritt zu verfolgen, wählte DE VRIES zu seinen Versuchen die Saat- Wucherblume, Chrysanthemum segetum, die bis dahin nur als unge- füllte wilde Art bekannt war, aber einer Gattung angehört, von der schon verschiedene andere Arten im Garten kultiviert werden und auch als gefüllte Varietäten, wie Chrysanthemum indicum, carinatum, in- bricatum, inodorum etc., bekannt sind. Chrysanthemum gehört zu den Compositen, deren Korbblüte aus einer Scheibe kleiner Röhrenblüten und einem einfachen Kranz größerer Zungenblüten besteht, deren Zahl der fluktuierenden Variabilität unterliegt und zwischen 8$—2ı für ge- wöhnlich schwankt (Fig. 61, ı). Durch mehrjährige Kulturen isolierte DE VRIES eine reine Linie einer Mutterpflanze, bei deren Nachkommen die Zahl der Randblüten um 21 fluktuierte und sich auch in den folgen- den Generationen konstant erhielt. Im Jahre 1896 fand er unter 1500 Pflanzen ein Exemplar, bei welchem 2 Endköpfchen 22 Randblüten besaßen ; er ließ es durch Insekten mit dem Blütenstaub einiger der besten Pflanzen derselben Gruppe befruchten, während alle übrigen Exemplare ernichtet wurden. Durch fortgesetzte Zucht in 3 Jahren und Auswahl der geeignetesten Blüten (Fig. 61, 2) wurde die Durchschnittszahl der Randblüten bis auf 34, schließlich auf 48 und 66 gesteigert, doch war hiermit immer noch nicht der entscheidende Schritt zur Füllung getan; denn dieser beruht darauf, daß mitten in der Scheibe Zungenblüten zwischen den röhrenförmigen entstehen. Erst im Herbst 1899 wurde eine solche Veränderung an 3 Köpfchen einer Pflanze zum ersten Male bemerkt (Fig. 61, 3). Von da an machte die Füllung bei weiterer Kultur rasche Fortschritte. Im Jahre 1900 konnten 100 Zungenblüten, im Jahre 1901 deren sogar 200 in den Körbchen gezählt werden. Diese sind, wie Neuntes Kapitel. [e «) 34 DE VRIES hierzu bemerkt, so vollkommen gefüllt, wie die besten Körbchen der schönsten gefüllten Handelssorten der Kompositen (Fig. 61, 4 und 5). Von dieser Zeit an war die neue Rasse auch wirklich sichergestellt; „sie war mit einem Mal dauernd und konstant geworden“. Denn wie DE VRIES besonders hervorhebt, wurden wirkliche Atavisten oder zu- rückschlagende Pflanzen nach der ersten Reinigung der Rasse nicht mehr gesehen; auch bei fortgesetzter Kultur wurden im Sommer 1903 ebenso viele und ebenso vollständig gefüllte Köpfchen erhalten wie vorher. In dem soeben in seinen einzelnen Zügen dargelegten Vorgang sieht DE VRIES das Bild einer in Sprüngen erfolgten Mutation. „Der Fig. 61. Experimenielle Umwandlung der gewöhnlichen Blüte von Chrysanthemum segetum in die gefüllte Form. Nach DE VRIES. ı gewöhnliche Form, 2 Chr. grandiflorum mit bereits vermehrter Zahl der Strahlenblüten, 3 Chr. segetum grandiflorum plenum, eines der Köpfchen, die in den Kulturen des Verfassers 1599 zuerst Zungenblüten in der Scheibe zeigten, 4 fast völlig und 5 völlig gefüllte Körbchen. 2 “ Sprung kann von dem Vorfahr im Jahre 1895 oder von der Pflanze von 1899, welche die ersten zentralen Zungenblüten zeigte, gemacht worden sein, oder der Umschlag kann allmählich während dieser 4 Jahre aufgebaut worden sein. In jedem Fall war ein Sprung da, der im Gegen 2 satz steht zu der Anschauung, welche eine sehr lange Folge von Jahren für die Entwicklung jeder neuen Eigenschaft in Anspruch nimmt.‘ Mit dem Auftreten der ersten Zungenblüten in der Scheibe war eine neue j Sachlage geschaffen; es handelte sich bei der weiteren Kultur jetzt ni ht mehr um Auslese. Denn „alle Nachkommen dieser ursprünglichen mu tierten Pflanze zeigten die neue Eigenschaft, Zungenblüten in der Scheibe ohne Ausnahme. Nicht an allen Körbchen, auch nicht an der Mehrzahl der Körbchen einiger Individuen, aber an einigen Körktchen gaben alle Die Mutabilität der Organismen als Grundlage der Entstehung neuer Arten, 349 Pflanzen einen deutlichen Beweis von dem Besitz der neuen Eigenschaft. Dieselbe war bei allen Vertretern der neuen Rasse zugegen und war nie- mals vorher bei irgendeinem ihrer Eltern und Großeltern bemerkt worden.“ Hierin sieht DE VRIES offenbar einen plötzlichen Sprung, zum mindesten in der äußeren Gestalt der Pflanzen; aber es scheint ihm ‚,die einfachste Vorstellung zu sein, daß dieser sichtbare Sprung direkt jener inneren "Veränderung entspricht, welche die vollständige Erblichkeit der neuen Eigenschaft hervorbringt‘“. Mutation von Linaria vulgaris. Von der wilden Art von Linaria vulgaris ist die pelorische Mutation, wie sich in der Literatur nachweisen läßt, zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Ländern mehrfach von selbst entstanden. Während bei dem gewöhnlichen Leinkraut nur ganz vereinzelte pelorische Blüten von Zeit zu Zeit beobachtet werden, bringt die Varietät solche ganz ausschließlich 1ervor (Fig. 62). Bei seinen mit Linaria angestellten Versuchen mußte DE VRrIES acht Jahre verwenden, um das Zustandekommen der Mutation festzustellen. Er begann seine artenkulturen 1886 mit einigen im Freien gesammelten wilden Pflanzen, die eine oder wei pelorische zwischen den normalen Blüten eigten. Die aus den Samen gezüchteten Aanzen blühten reichlich, brachten aber 1889 ır eine und 1890 nur 2 pelorische Blüten iervor. In der dritten Generation wurden Tip bin. Eatsela weni. nter einigen Tausenden von Blüten nur eine garis, Leinkraut, pelori- nzige pelorische Blüte mit 3 Spornen auf- TER DE Ei sten funden. Sie brachte reichlich Samen hervor, die gewöhnliche Form der er allein für die Kultur von 1892 ausgesät as ae urde. Die Keimlinge wurden einzeln in risch. Rechts ist eine Blüte öpfe mit stark gedüngter Erde gesteckt, er normalen Art. er Glas zugedeckt erhalten und dadurch früherer Blüte gebracht. Unter ihnen war aber nur eine Pflanze einer pelorischen Blüte aufzufinden. Diese und ein zweites ge- öhnliches Individuum derselben Kultur wurden, da die Blüten Ir bei Kreuzbefruchtung durch Bienen Samen hervorbringen, zur 350 Neuntes Kapitel. weiteren Fortzucht bestimmt, alle übrigen Exemplare vernichtet. Aus diesem Pflanzenpaar ist dann die pelorische Rasse von DE VRIES entstanden. Aus ihrem Samen konnten 1894 50 blühende Pflanzen gezüchtet werden. ‚Unter diesen wurden vereinzelte pelorische Blüten in etwas größerer Zahl als in den voraufgehenden Generationen be- merkt, indem ıı Pflanzen eine, zwei oder sogar drei solche Bildungs- abweichungen trugen.‘‘ Außerdem aber war noch eine einzelne Pflanze vorhanden, die nur pelorische Blüten hatte; sie wurde überwintert, blühte im nächsten Jahre wieder reichlich und brachte wieder ausschließ- lich pelorische Blüten hervor. Das Ziel der achtjährigen Versuche, die Hervorbringung einer pelorischen Rasse aus einer normalen Stamm- form, war erreicht unter genauer Beobachtung der Ahnenreihe von 4 Generationen, bis die gewünschte Mutation in einem Exemplar mit einem Male auftrat. DE VRIES erblickt in diesem Experiment den sicheren Nachweis eines plötzlichen Sprunges von normalen, jahrelang in Zucht befindlichen und einer strengen Kontrolle unterworfenen Pflanzen mit sehr seltenen pelorischen Blüten zu einem ausschließlich pelorischen Typus, in dem keine Erinnerung an den früheren Zustand zurückblieb. Denn keine einzige Blüte an der mutierten Pflanze schlug zu dem ur- sprünglichen Typus zurück. Auch ist es wichtig, zu beachten, daß keine Übergangsstufen bemerkt wurden. Denn unter den Tausenden von Blüten, welche die Eltern während zweier Sommer getragen hatten, war nur die einzige Blüte, welche zum Versuch und zur Fortzucht be- nutzt wurde, bei täglicher Durchsicht gefunden worden. Als nach diesem Ergebnis DE VRIES den Rest des Samens von der Mutterpflanze, welcher die vollständige Mutation geliefert hatte, aus- säte und ebenso wie früher etwa 2000 junge Pflanzen in kleine Töpfe mit gut gedüngtem Boden pflanzte, erhielt er 1750 blühende Pflanzen und fand unter ihnen wieder 16 vollständig pelorisch gewordene Exem- plare. Das zweite Experiment hatte daher etwa ı Proz. Mutanten in der ganzen Ernte geliefert. Durch weiter ausgedehnte Versuche mit anderem Material wurde außerdem noch festgestellt, daß die Mutation sich in vereinzelten Fällen — es wurden noch 3 Mutanten erhalten — wiederholen kann. Sie muß daher als der Ausdruck einer verborgenen Tendenz betrachtet werden. Endlich wurde durch fortgesetzte Zucht der Mutanten noch die Frage geprüft, ob die Pelorie zu einer erblich konstanten Eigenschaft geworden ist. Die Beantwortung der Frage ist bei Linaria mit einigen Schwierig- keiten verknüpft, weil die pelorischen Pflanzen in hohem Grade unter Die Mutabilität der Organismen als Grundlage der Entstehung neuer Arten, 351 sich unfruchtbar sind; nur bei Kreuzung mit den normalen Rassen liefern sie einen guten Samenertrag. Trotz dieser Schwierigkeiten gelang es von den vor Fremdbestäubung behüteten Mutanten vereinzelte rudi- mentäre Kapseln mit wenigem Samen zu erhalten. Aus ihnen wurden ııg Pflanzen zur Blüte gebracht. Unter diesen waren Io6 Exemplare, also etwa go Proz. pelorisch, dagegen nur I3 Exemplare oder Io Proz. normal, das heißt: sie waren zum ursprünglichen Typus zurückgeschlagen oder Atavisten. Nach dem Ausfall dieses Experiments kann die als Mu- tation aufgetretene Pelorie in der neuen Linariarasse als eine erblich gewordene Eigenschaft, als ein Neuerwerb ihres Idioplasma, angesehen werden. Wenn wir jetzt noch die Frage nach den Entstehungsursachen der beiden als Beispiel aufgeführten Mutationen aufwerfen, so möchte ich nur Folgendes hierzu bemerken: Die Ursache wird zum Teil in einer gewissen Disposition des Idioplasma einzelner Arten zu suchen sein, Veränderungen schon bei leichteren Anstößen zu erfahren, als es bei kon- stanteren oder mehr in sich gefestigten Arten der Fall ist. Die An- stöße aber oder die äußeren Faktoren, die bei Chrysanthemum, bei Linaria und anderen ähnlichen Fällen zur Entstehung einer Mutation erforderlich sind, werden in der Kultur und besonders in der mit ihr verknüpften reichlicheren Ernährung zu suchen sein. Der große Gegen- satz, der zwischen der Uniformität der wilden Arten und der Neigung zu Veränderungen bei allen in Kultur befindlichen Arten besteht, spricht sehr für diese Annahme. Die Gärtner sind daher auch im allgemeinen ' der Ansicht, daß reichliche Ernährung bei Pflanzen das Auftreten von Veränderungen begünstigt, z. B. darauf hinwirkt, gefüllte Blumen her- vorzubringen. Auch DE VRIES, KLEBS u. a. messen der eingreifenden Veränderung in der Ernährung eine Ausschlag gebende Bedeutung bei. In den Versuchen mit Chrysanthemum segetum und mit Linaria wurden die jungen Keimpflanzen, aus denen schließlich Füllung der Blüten und Pelorie an einzelnen Mutanten erzielt wurden, in reichlich gedüngter Gartenerde großgezogen. Es scheint daher, daß das Auftreten von Ver- änderungen im Idioplasma oder von Mutationen auf dem Zusammen- wirken innerer und äußerer Faktoren beruht. In dieselben allmählich tiefere Einblicke zu gewinnen, wird eine der Hauptaufgaben sein, mit welchen sich die experimentelle Biologie in Zukunft noch zu beschäftigen haben wird. Von theoretischen Gesichtspunkten aus wird diese Frage noch ein- mal in dem Kapitel über Vererbung eingehender erörtert werden. 352 Neuntes Kapitel. Weniger genau studierte Mutationen im Pflanzenreich. Im Anschluß an die sorgfältiger untersuchten und daher ausführ- licher behandelten Fälle von Mutation auf botanischem Gebiet gebe ich noch eine kurze Übersicht über einige andere sprunghafte Verände- rungen, welche in der einschlägigen Literatur 4 7 Q gewöhnlich aufgeführt = X EIS Gi werden. GE x A =. . Sun n 5 IE." Viel erwähnt wird TG a ya GG n4 EO als eine plötzlich neu- En; Mn: AND GB: entstandene, elementare SZ R 7 Y A {I FB: gli u Art das schlitzblätterige nm N \ B ‚e Schöllkraut, Chelido- Sl L Nv- 1% nium maius lacinia- ‚ Hl SUR tum (Fig.64). Es unter- scheidet sich von der gewöhnlichen Form, Chelidonium maius (Fig. 63), durch seine tief Bi fiederteiligen Laubblät- Ä ter und durch die Kron- blätter der Blüte, deren o Rand ebenfalls durch \ mehrere Einschnitte in 2 Lappen mit kleineren Fig. 63. Chelidonium maius. Die gewöhnliche : ilt ist Form. Nach DE VRIES. Neben dem Zweige sind eine Läppchen aa Ei; Blüte und ein Kronblatt für sich noch etwas größer Es wurde im Jahre abgebildet. 1590 vom Apotheker SPRENGER in Heidelberg zum ersten Male in seinem Garten entdeckt, in welchem er viele Jahre vorher das gewöhnliche Schöllkraut gezogen hatte. Es wurde von ihm in mehreren Exemplaren an einige Botaniker verschickt, welche es als eine neue Art anerkannten. Von Heidelberg aus ist das Chelidonium maius laciniatum, welches sonst an keinem anderen Standort beobachtet werden konnte, in vielen anderen Gärten Europas kultiviert, auch in England eingeführt worden, und wird jetzt auch in verwildertem Zu- stand beobachtet. Von Anfang an ist es samenbeständig gewesen, so daß es jetzt in jeder Beziehung als eine vollständig elementare Art Die Mutabilität der Organismen als Grundlage der Entstehung neuer Arten, 353 angesehen werden muß, die aller Wahrscheinlichkeit nach durch Mutation aus Chelidonium maius in Heidelberg entstanden ist. Eine dornenlose Abart der Gleditschia sinensis, welche 1774 aus China in Europa eingeführt worden ist, wurde 1823 in der Baumschule ‚von Caumzet unter zahlreichen Sämlingen einer Aussaat in 2 Exemplaren gewonnen. Es ist wahr- scheinlich, — kann aber N . . N A\l Sf nicht sicher nachge- N.) le wiesen werden, — daß EN viele Bäume mit zer- schlitzten Blättern, wie die schlitzblätterigen Ulmen, Erlen, Ahorne, Haselnüsse, Birken, Buchen u. a., in ähn- licher Weise wie das 5 Chelidonium laciniatum durch gelegentlich auf- Sm \ tretende Mutation ent- N standen sind Auch die Trauerform mancher Laubbäume und Coni- feren ist bei Aussaaten im Großen bei einem oder bei wenigen Exem- plaren als plötzlich aus- gebildete Neuheit be- obachtet worden, so £ - . Fig. 64. Chelidonium maius laciniatum, schlitz- Gleditschia triacanthos blätterige Mutation des Schöllkrauts. Nach DE VRIES. | pendula in einer Baum- Neben dem Zweige sind eine Blüte und ein Kronblatt, Schule ER Chätean- die das Varietätsmerkmal der grünen Laubblätter wieder- holen, für sich noch etwas größer abgebildet. Thierry, die Trauben- kirsche, Prunus Padus, mit hängenden Zweigen im Jahre 1821 und dieselbe Abart von der Weichselkirsche, Prunus Mahaleb, im Jahre 1847. Sehr groß ist die Zahl der in großen Gärtnereien als ‚‚sports‘‘ plötz- lich auftretenden Neuheiten ; doch liegen über sie nur in wenigen Fällen zuverlässige Angaben vor, wie z. B. über die weiße Varietät von Cy- clamen vernum und über die gefüllte Petunie. — Das weißblühende Cyclamen vernum wurde im Jahre 1836 zum ersten Male in einem einzigen OÖ. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl 23 354 Neuntes Kapitel. Exemplar unter vielen Sämlingen einer Gärtnerei bei Haarlem gefunden Es gab eine Menge von Samen, der wieder eine weißblühende Nachkom- menschaft lieferte. Erst 25 Jahre nach dem ersten Fund (1863) wurden die Knollen, das Stück zu 20 Mark, in den Handel gebracht. „Von der ersten gefüllten Petunie‘‘, erzählt DE VRIES, „weiß man, daß sie um 1855 zufällig und plötzlich aus gewöhnlichem Samen in einem Privatgarten in Lyon entstanden ist. Aus dieser einen Pflanze sind alle gefüllten Rassen und Varietäten durch natürliche und teilweise durch künstliche Kreuzungen entstanden. CARRIERE, der diese Tatsache be- richtet, fügt hinzu, daß es zu jener Zeit auch von anderen Arten bekannt gewesen sei, daß sie rasch neue gefüllte Varietäten hervorgebracht hätten. — Die gefüllten Fuchsien entstanden um dieselbe Zeit (1854), und Io Jahre später war der Kreis der gefüllten Varietäten dieser Pflanze so groß geworden, daß CARRIERE es unmöglich fand, sie alle aufzuzählen.“ Doch genug mit diesen Beispielen, deren Zahl sich leicht vergrößern läßt. Wernoch ausführlichere Angaben wünscht, findet sie in einer Zu- sammenstellung des Botanikers KORSCHINSKY in seiner Schrift ‚‚Hetero- genesis und Evolution“ in einem Teil seiner Angaben beruft. b) Sprunghafte Mutationen der Artzelle im Tierreich. Im Studium der Mutabilität hat zwar die Tierkunde mit der Botanik nicht gleichen Schritt gehalten, wie sich leicht verstehen läßt. Denn die Pflanzen sind viel geeignetere, weil leichter zu handhabende Ver- suchsobjekte als die Tiere, deren Aufzucht in der erforderlichen großen Menge mit viel mehr Schwierigkeiten und Kosten verknüpft ist. Doch fehlt es an zuverlässigen Angaben über plötzlich aufgetretene Mutationen auch nicht auf tierischem Gebiet. Mutation von Leptinotarsa. Den grundlegenden Untersuchungen von DE VRIES über die Mutanten im Pflanzenreich ist die vortreffliche Arbeit des amerikanischen Zoologen TOWER über den Coloradokäfer, Leptinotarsa, an die Seite zu stellen. In Kulturversuchen und Experimenten, die während vieler Jahre an einem sehr großen Beobachtungsmaterial ausgeführt wurden, hat TOWER durch Veränderungen der Außenbedingungen während bestimmter Ent- wicklungsperioden teils eigentümliche Variationen, teils Mutationen hervorrufen können. Seine Eingriffe bestanden in einer Erhöhung oder Erniedrigung der Temperatur über oder unter das natürliche Normal- maß oder in einer Vermehrung oder Verminderung der Feuchtigkeit und bei DE VRIES, der sich auf KORSCHINSKY- ee Die Mutabilität der Organismen als Grundlage der Entstehung neuer Arten, 355 der Luft oder in einer Verbindung von beiden Arten von Eingriffen. Hierdurch bilden sich charakteristische Veränderungen in der Pigmen- tierung und Zeichnung des Käfers, wie sie gelegentlich auch in der freien Natur bei abnormen Witterungsverhältnissen oder in verschiedenen Gegenden Nordamerikas mit wärmerem oder kälterem Klima beobachtet werden. Das Ergebnis fällt je nach dem Grade der Reizung, d. h. der Größe der Differenz zur Normaltemperatur, verschieden aus. Bei einer Abweichung von 5—7°C über oder unter der Norm n mmt die Pigmen- d e f Fig. 65. Mutationen vom Coloradokäfer Leptinotarsa. a Leptinotarsa undecimlineata, b ihr Mutant: angustovittata, c der Mutant: L. melanothorax von Lep tinotarsa multitaeniata, d Leptinotarsa decemlineata mit ihren Mutanten e tortuosa und f defectopunctata.. Mach TOWER aus GOLDSCHMIDT. tierung bis zu einem Maximum zu; es entstehen melanotische Formen mit entsprechender Veränderung der Pigmentflecke auf dem Brustkorb und der Streifen auf den Flügeldecken, so z. B. aus Leptinotarsa multi- taenjata die Modifikation melanothorax (Fig. 65c). Wenn die Tempe- raturdifferenz noch größer wird und 1o®’C und mehr beträgt, so ruft jetzt der stärker gewordene Reiz eine entgegengesetzte Wirkung, eine Abnahme der Pigmentierung und schließlich ıhre fast vollständige Unter- drückung hervor. Es entwickeln sich Käfer mit ausgeprägtem Albinismus, der häufig auch mit einer geringen Größenabnahme und stärkerer Sterb- 23* 356 Neuntes Kapitel lichkeit verbunden ist. Auf diesem Wege läßt sich von Leptinotarsa undecimlineata (Fig. 65a) die Varietät angustovittata (b) erhalten. Erniedrigung der Temperatur unter die Norm wird besser vertragen als Erhöhung derselben. Während bei dieser der Grenzwert schon bei 12°C erreicht wird, kann die Erniedrigung der Temperatur bis auf 20°C unter die Norm fortgesetzt werden. Ob Modifikationen (Varianten) oder Mutationen (Mutanten) her- vorgerufen werden, hängt von dem Stadium der Entwicklung ab, auf welchem sich die Jugendformen des Coloradokäfers zur Zeit des Eingriffs befinden. Wenn die extremen Temperaturgrade nur auf die Entwicklung des Eies bis zum Ausschlüpfen oder auch nur während der Puppen- periode einwirken, während die ausgekrochenen Käfer wieder unter normalen Bedingungen großgezogen werden, zeigen sich diese in der Färbung ihres Hautkleides in der oben angegebenen Weise verändert. Die melanotische oder albinotische Verfärbung wird aber nicht auf ıhre Nachkommen übertragen, die normal ausfallen, wenn sie sich unter gewöhnlichen Bedingungen weiterentwickeln. Daher sind durch unseren Eingriff nur oberflächliche Modifikationen vergänglicher Art geschaffen worden. Das Idioplasma der Keimzellen wurde durch den Reiz zu keiner korrespondierenden erblichen Veränderung veranlaßt. Dagegen kann es durch den Versuch mutiert werden, wenn derselbe über die Zeit des Ausschlüpfens noch ausgedehnt wird. Während jetzt nämlich die jungen Käfer heranwachsen, beginnen ihre Keimzellen in die Wachstums- und Reifungsperiode einzutreten. Während dieser sind sie allein durch äußere Reize beeinflußbar; sie befinden sich nach einer von TOWER eingeführten, jetzt allgemein angenommenen Erklärung und Bezeichnung in einer sensiblen Periode. Wie die Eltern, werden bei dieser zweiten Art der Versuchsanordnung auch ihre Nachkommen in der ersten und sogar in’den folgenden Generationen in der Färbung ihres Hautkleides verändert und liefern je nach der Größe der Temperaturdifferenz, also nach der Stärke des angewandten Reizes, melanotische oder albinotische Mutanten mit erblich gewordenen Eigenschaften, von denen uns die Zu- sammenstellung der Fig. 65 einige vorführt. Leptinotarsa undecimlineata (a) liefert den albinotischen Mutant, L. angustovittata (b), oder Leptino- tarsa multitaeniata die melanotische Form L. melanothorax (c). Von Leptinotarsa decemlineata (d) stammen die Mutanten L. tortuosa (e) und L. defectopunctata (f) ab. Die Veränderung erhält sich in der Nach- kommenschaft auch dann konstant, wenn sie wieder unter normale Be- dingungen gebracht worden ist. Unter Berücksichtigung der sensiblen Periode der Keimzellen Die Mutabilitätfder Organismen als Grundlage der Entstehung neuer Arten. 357 läßt sich noch eine dritte Art der Versuchsanordnung treffen und da- durch noch ein anderer Ausfall des Ergebnisses zustande bringen. Man kann nämlich die Entwicklung des Eies und die Puppenperiode sich unter normalen Bedingungen vollziehen lassen. Da sich jetzt schon die Pigmen- tierung des Hautkleides ausgebildet hat, schlüpfen aus den Puppen normal gefärbte junge Käfer aus, deren Färbung, da sie abgeschlossen ist, durch Hitze, Kälte, Feuchtigkeit nicht mehr nachträglich abgeändert werden kann. Wenn daher nach dem Ausschlüpfen die jungen Tiere erst den Bedingungen des Experiments unterworfen werden, so bleiben sie selbst zwar in ihrem Hautkleid unverändert, da aber ihre Keimzellen sich jetzt noch in der sensiblen Periode befinden, werden diese wie bei der zweiten Versuchsanordnung nicht nur von den extremen Reizen getroffen, sondern “auch in ihrem Idioplasma dauernd verändert. Infolgedessen bringen die Coloradokäfer, obwohl sie selbst das gewöhnliche Hautkleid besitzen, doch melanotische oder albinotische Mutanten hervor; und diese behalten auch in den nächsten Generationen die neuerworbenen Charaktere bei. Mutation von Schmetterlingen. Wie der von Tower studierte Coloradokäfer, so liefern überhaupt die Insekten ein sehr geeignetes Material für die experimentelle Er- zeugung von Varianten und Mutanten. Besonders hervorzuheben sind in dieser Richtung die wertvollen Untersuchungen an Schmetterlingen, welche STANDFUSS, WEISMANN, FISCHER, SCHRÖDER u. a. schon viele Jahre vor der Arbeit von TowER ausgeführt haben. Sie wurden schon früher im Kapitel über die Variabilität (S. 298, 299) besprochen, müssen aber an dieser Stelle durch einen Zusatz noch eine wichtige Ergänzung erhalten. Denn wenn auch bei der Behandlung der Puppen gewisser Schmetterlinge mit niederen oder hohen Temperaturen in der Mehizahl der Fälle nicht erbliche Aberrationen in der Färbung und Zeich- nung,in der Formund Größe der Flügelundin Gestalt der Schuppen erzielt wurden, so konnten doch STAnDFUSS und FISCHER bei ihren sehr ausge- dehnten Versuchen auch einzelne wirkliche Mutanten beobachten, die ihre neu erworbenen Eigenschaften durch das Ei auf ihre unter nor- malen Bedingungen aufgewachsene Nachkommenschaft übertragen hatten (Fig. 66). Von der Richtigkeit des Ergebnisses ist FISCHER so überzeugt, daß er bemerkt: ‚Wir begreifen zwar nicht, wie die an dem großen Falterflügel zutage tretenden Neubildungen, die sich ohne weiteres ad oculos demonstrieren lassen, durch das kleine befruchtete Ei auf die Kinder übertragen wurden. Daß aber dieser unbegreifliche Vorgang trotz ‚alledem doch stattfindet, das hat das Experiment direkt bewiesen!“ ‚(Vergleiche die Erklärung zu Fig. 66.) Neuntes Kapitel, Wie ich schon früher von Pflanzen berichtet habe, sind auch bei der seit Jahrhunderten betriebenen Tierzucht gelegentlich vereinzelte und plötzlich auftretende Mutanten beobachtet worden, die wegen auf- fälliger Eigenschaften, durch die sie von anderen Individuen einer Herde abwichen, die Aufmerksamkeit des Züchters erregten und wegen der Erblichkeit der neuerworbenen Charaktere zum Ausgang neuer Rassen wurden. Nur zwei derartige, besonders bekannte Fälle, die schon von DArwıIn in seiner Zusammenstel- lung beschrieben und seitdem öfters zitiert worden sind, mögen auch hier noch einen Platz finden. Der eine betrifft das Ancon- oder Ötter- schaf, der andere die Mauchamp- Merinorasse. ‚In einigen Fällen“, berichtet DARWwIN, „sind neue Rassen plötzlich entstanden. So wurde 1791 in Massachusetts ein Widderlamm mit kurzen, krummen Beinen und einem langen Rücken wie ein Dachshund geboren. Von diesem einen Lamm wurde die halb- monströse Otter- oder Anconrasse gezüchtet. Sie ist merkwürdig, weil a 4 : sie ihre ‚harak so 1 - niz66..- Kälteaberen ihren Charakter so rein fort dem deutschen Bärenspinner Arktia pflanzt. Da diese Schafe nicht Caja. Nach E. FiscHER aus A. LANG. A der normale Schmetterling, B ein Exem- de, plar, das aus einer auf — 8° abgekühlten SO glaubte man, sie würden wert- Puppe gezogen wurde, C Nachkomme von B, der als Puppe nicht abgekühlt wurde. über die Hürden springen konnten, voll sein.“ „Einen noch interessanteren Fall“, fährt DArwın fort, ‚findet man in den Reports der Jury der großen Ausstellung von 1851, nämlich die Geburt eines Merino-Widderlammes auf der Mauchamp-Farm im Jahre 1828, welches durch seine lange, glatte, schlichte, seidenhaarige Wolle merkwürdig war. Bis zum Jahre 1833 hatte Mr. Graux genug Widder erzogen, um seiner ganzen Herde zu dienen, und wenig Jahre später war er imstande, von seiner neuen Zuchtrasse zu verkaufen Die Wolle ist so eigentümlich und wertvoll, daß sie 25 Proz. höher Die Mutabilität der Organismen als Grundlage der Entstehung neuer Arten. 359 Preise erhält als die beste Merinowolle.‘‘ Der Fall ist auch dadurch inte- ressant, daß der Widder und seine unmittelbaren Nachkommen noch andere Abweichungen mit der eigentümlichen Beschaffenheit der Wolle verbunden zeigten; sie waren von geringer Größe, besaßen große Köpfe, lange Hälse, schmale Brüste und lange Seiten, fehlerhafte Eigenschaften, die allmählich durch sorgfältige Kreuzung und Selektion beseitigt wurden. Wegen der theoretischen Erklärung der Mutationen, die auf tieri- schem Gebiet beobachtet und besonders auf experimentellem Wege durch TOWER u. a. gewonnen worden sind, wird auf das Kapitel XIII über Vererbung verwiesen. Zehntes Kapitel. Die Stellung der Organismen im Mechanismus der Natur‘). Wie im IV. Kapitel nachgewiesen wurde, entwickeln sich während einer Ontogenie alle Zellen, alle Gewebe und Organe von der ersten Teilung des Eies bis zur Vollendung des Organismus nicht nur in engster Wechselwirkung miteinander, sondern zugleich auch in Abhängigkeit vom übergeordneten Ganzen. Entwicklung besteht somit in Verände- rungen eines harmonisch mechanischen Systems von zusammengehörigen, aufeinander wirkenden Teilen. Eineähnliche Aufgabe, wie im IV. Kapitel, tritt jetzt in veränderter und erweiterter Form wieder an uns heran, Es gilt die Stellung zu untersuchen, welche die zahlreichen Arten der Pflanzen und Tiere zu ihrer Umwelt während ihrer Entwicklung und im ausgebildeten Zustand einnehmen. Mit Kant und anderen Philosophen kann man die ganze Natur als einen einzigen großen Mechanismus auffassen, in welchem alle Natur- objekte als abhängige und sich gegenseitig bedingende Glieder einge- ordnet sind, oder man kann auch mit SCHELLING in ihr einen Universal- organismus sehen, dessen verschieden differenzierte und mit besonderen Aufgaben betraute, dem Ganzen integrierte Organe die einzelnen Lebe- wesen sind. Von diesem umfassenderen Standpunkt aus sollim X. Kapitel untersucht werden, wie sich alle Lebewesen unter einem System unendlich komplizierter Bedingungen befinden, mit denen die ganze Natur sie um- spannt, wie sie von überall her von den verschiedensten Reizen getroffen werden, auf welche sie gemäß ihrer eigenen Organisation in gesetzmäßiger Weise reagieren. Es handelt sich also hier um Verhältnisse, die man 1) Eine Zusammenstellung der wichtigsten Arbeiten, in welchen viele der in Kap. X besprochenen Verhältnisse nachgewiesen worden sind, findet sich in meiner Allgemeinen Biologie, 4. Aufl., 1912, in den Kapiteln XX, XXI, XXU p. 551—004: Die äußeren Faktoren der organischen Entwicklung. ; Die Stellung der Organismen im Mechanismus der Natur, 361 auch als die Anpassung der Organismen an ihre Umwelt zu bezeichnen pflegt. Ihr Studium bildet nicht nur eines der interessantesten, sondern auch umfangreichsten Kapitel der Biologie und bietet uns wie kaum ein anderes einen sehr reichen und verschiedenartigen Inhalt dar. Die Lehre von den Anpassungen ist schon seit langer Zeit von ein- zelnen Biologen bearbeitet worden ; aber von niemand wurde sie mit so viel Verständnis wie von CHARLES DARWIN gepflegt und in den Mittelpunkt biologischer Forschungen gerückt, zugleich wurde sie von ihm mit einer ‚außerordentlichen Fülle interessanter, mit scharfer und feiner Beobach- tungsgabe ermittelter Entdeckungen bereichert. Ist doch seit dem Er- scheinen seines Werkes: ‚Über die Entstehung der Arten‘ (1859) ein Leitmotiv, das sich durch alle seine weiteren Schriften hindurchzieht, der Satz: ‚daß die Struktur eines jeden organischen Gebildes auf die wesentlichste, aber oft verborgene Weise zu der a’'’er anderen organischen Wesen in Beziehung steht, mit welchen es in Konkurrenz um Nahrung oder Wohnung kommt, oder vor welchen es zu fliehen hat, oder von wel- chen es lebt‘. Auf diesem Wege ist Darwın dann weiter zu seiner im Kap. XIV—XVI besprochenen und von mir abgelehnten Lehre vom Kampf ums Dasein und von der natürlichen Auslese geführt worden, indem er die Frage aufwarf: ,‚‚Wie sind alle jene vortrefflichen An- passungen von einem Teile der Organisation an den anderen und an die äußeren Lebensbedingungen und von einem organischen Wesen an ein anderes bewirkt worden ?“ Seit dieser Zeit spielt das Studium und die Erklärung der Anpas- sungen eines der wichtigsten Kapitel der Selektionstheorie. Einer ihrer eifrigsten Interpreten unter den Nachfolgern Darwıns ist der Freiburger Zoologe WEISMANN geworden. ‚Alles ist Anpassung‘ heißt es in seiner letzten Schrift über die Selektionstheorie, ‚Anpassung von heute, von gestern oder von Urzeiten her; alle Teile des Organismus sind aufeinander abgestimmt, und ebenso ist das Ganze des Organismus seinen Lebens- bedingungen angepaßt und zwar in allen seinen Entwicklungsstufen und in allen seinen Lebensäußerungen.‘ Bei dem außerordentlichen Umfang und der Mannigfaltigkeit der zu unserem Thema gehörigen Erscheinungen wird es sich empfehlen, um uns den Überblick bei der Darstellung zu erleichtern, die äußeren Faktoren, die auf die Lebewesen einwirken und sie zu Reaktionen ver- anlassen, in zwei Gruppen zu zerlegen. In der ersten Gruppe sind die Beziehungen der Organismen zu den Einwirkungen der leblosen Natur, in der zweiten ihre Beziehungen zu anderen Organismen zu besprechen. Im Anschluß hieran sollen dann noch in einigen Zusätzen solche Erschei- 362 Zehntes Kapitel, nungen getrennt behandelt werden, welche schon seit Janger Zeit wegen der gemeinsamen Züge, die sie darbieten, unter besonderen Namen zusammengefaßt worden sind, wie Schutzfärbung, Mimiery, rudimentäre Organe, Pflanzen- und Tiergeographie. Endlich werde ich als Einleitung eine Betrachtung über die Empfindlichkeit biologischer Reaktionen, das heißt, über die Art und Weise vorausschicken, wie Lebewesen auf die Ein- wirkung äußerer Faktoren reagieren. Hier werde ich Gelegenheit nehmen, durch sichergestellte Tatsachen zu beweisen, daß alle Lebensphänomene, wenn sie auch durch ihre Komplikation. alle chemisch-physikalischen Vorgänge weit übertreffen, doch nicht minder allgemeinen Naturgesetzen unterliegen und sich zuweilen durch Zahl und Maß fast in ebenso ge- naue Formeln fassen lassen, wie gewisse Veränderungen, welche unorganische chemische Substanzen durch physikalische, der Verände- rung unterworfene Eingriffe erfahren. Erster. Abschnitt. Das Maß der Empfindlichkeit, mit der die Organismen auf äußere Faktoren reagieren. Am klarsten ist eine durch Zahl und Maß auszudrückende Gesetz- mäßigkeit bei geeigneten Versuchsobjekten an solchen Reaktionen nachzuweisen, diedurch Temperaturveränderungen bewirkt werden. Wie bekannt, zeigen viele pflanzliche Zellen bei Untersuchung mit stäı- kerer Vergrößerung die Protoplasmabewegung. Sie ist am besten an der in gleichmäßiger Richtung erfolgenden Ortsveränderung der Chloro- phylikörner wahrzunehmen, die in das Protoplasma eingebettet sind. Die Schnelligkeit derselben steht zu der wechselnden Temperatur der Umgebung in einer ebenso genau regulierbaren Abhängigkeit, wie das an der Thermometerskala abzulesende Steigen und Fallen des in ein feines Glasrohr eingeschlossenen Quecksilbers. NÄGELI hat für die Ge- schwindigkeitszunahme der Protoplasmaströmung in den Zellen von Nitella, einer Charaart, bei langsam steigender Temperatur folgende Zahlenwerte erhalten: Um einen Weg von 0,1 mm zurückzulegen, brauchte die Protoplasmaströmung in der Zelle 60 Sekunden bei ı °C, 24 Sekunden bei 5°C, 8 Sekunden bei 10°C, 53 Sekunden bei 15°C, 3,6 Sekunden bei 20°C, 2,4 Sekunden bei 26°C, 1,5 Sekunden bei 31°C, 0,65 Sekunden bei 37°C. Aus diesen Zahlen geht nicht nur hervor, wie die Protoplasma- bewegung auf bestimmte Temperaturgrade mit bestimmten Geschwindig- u ee 7 i Tv & 4 ® > ” e B Das Maß der Empfindlichkeit der Organismen, 363 keitsgraden reagiert und sich gleichsam auf dieselben genau einstellt, . sondern wie auch die Zunahme der Geschwindigkeit für jeden folgenden Grad einen kleineren Wert darstellt (NÄGELI, VELTEN). Wie die Protoplasmabewegung steht auch die Geschwindigkeit der Teilung des befruchteten Eies in einer genau regulierten Abhängig- keit zu der Temperatur der Umgebung, wie ich durch zahlenmäßige Bestimmungen in einer am befruchteten Froschei ausgeführten ex- perimentellen Untersuchung bewiesen habe. Von einem Optimum, das bei 24°C liegt, nimmt die Teilungsgeschwindigkeit des Eies von Rana fusca mit jedem Grad, welchen die Temperatur fällt, in einem meßbaren Verhältnis ab. So tritt bei Eiern, die sich bei 24° entwickeln, die erste Teilung nach 2 Stunden ıo Minuten, die zweite Teilung nach 2 Stunden 40 Minuten und die dritte Teilung nach 3 Stunden 25 Minuten auf. Bei allen diesen Angaben ist die Zeit immer von der Vornahme der Befruchtung an gerechnet. Bei einer Temperatur von 15° dagegen schicken sich die Eier zur ersten Teilung erst nach 3 Stunden, zur zweiten Teilung nach 4 Stunden ıo Minuten und zur dritten Teilung nach 5 Stunden 35 Minuten an. Hier ist also im Vergleich zu den bei 24° er- haltenen Werten die erste Teilung um 50, die zweite um go und die dritte um 130 Minuten später als die ihr entsprechende Teilung bei höherer Temperatur eingetreten. In noch beträchtlich rascherem Tempo nimmt die Geschwindigkeit des Entwicklungsprozesses bei weiter erniedrigten Temperaturen ab. Denn bei 5° wird die erste Furche nach 9 Stunden 15 Minuten, die zweite nach 14 Stunden 50 Minuten und die dritte nach ı8 Stunden 25 Minuten bemerkbar. Bei einem Versuch, die Abhängigkeit der Eiteilung von der Tem- peratur genauer zu erklären, ist zunächst hervorzuheben, daß es sich jedenfalls um sehr komplizierte Lebensprozesse, und zwar hauptsächlich um chemische Arbeit handelt, die je nach dem Grad der, Temperatur in einer verschiedenen Zeitdauer geleistet wird. Wenn wir diese chemische Arbeit noch genauer zu bestimmen versuchen, haben wir wieder unser Augenmerk auf die Kernsubstanz, besonders aber auf ıhr Chromatin zu richten. Denn dieses erfährt ja mit jedem Teilschritt des Eies, wie uns das Studium der Karyokinese in völlig einwandsfreier Weise lehrt, eine ganz gesetzmäßige Zunahme, und zwar vermehrt es sich bei der Entwicklung des Eies in geometrischer Progression mit dem Quotienten 2. Da nun vax T‘Horr nachgewiesen hat, daß Temperaturunterschiede auf die Reaktionsgeschwindigkeit chemischer Vorgänge einen gesetz- mäßigen Einfluß ausüben, der sich in einer mathematischen Formel ausdrücken läßt, scheint mir folgende Erklärung selır nahezuliegen: .| 364 Zehntes Kapitel. Die Beschleunigung der Teilungsprozesse des Eies bei Zunahme der Temperatur beruht in erster Linie darauf, daß die komplizierten Nuklein- resp. Chromatinverbindungen etc. im chemischen Laboratorium der Zelle in einer gewissen Proportion zum Wärmegrad gebildet werden. Wenn hierbei auch noch andere chemische Prozesse und andere Vor- gänge in der Zelle an dem Zustandekommen des Gesamtresultates mit- wirken, so werden sie jedenfalls von viel geringerer Bedeutung für dasselbe als die Kernvermehrung sein. Zu interessanten Ergebnissen führen auch Temperaturver- suche, die über einen Zeitraum von meh- reren Tagen während der Entwicklung des . Froscheies ausge- dehnt werden. Es entstehen dann in- folge der verschie- denen Teilungsge- schwindigkeit der Zel- len die allergrößten Differenzen im Ent- Fig. 67. Vier Froscheier (Rana fusca), welche sich nach der Befruchtung genau 3 Tage entwickelt haben. Nach Oscar HERTWIG. A Ei auf dem Ga- strulastadium mit rundem Blastoporus, ent- wickelt bei 10°C. B Ei mit Medullar- nn A platte, deren Ränder zu Medullarwülsten wıcklungsgra, erhoben sind, entwickelt bei I50C. CEm- zwischen Eiern, die bryo mit kleinen Kiemenhöckern, ent- h jeichsäle RN wickelt bei 20° ©. D Embryo mit Kie- gleichzeitig beiruch- menbücheln und langem Ruderschwanz, tet, aber bei ver- entwickelt bei 24° C. schiedenen, konstant gehaltenen Tempe- raturen gezüchtet wurden. Zur Veranschaulichung dieses überraschenden Verhältnisses habe ich aus meinen Versuchen an Rana fusca die Figur 67 zusammengestellt. Sie zeigt uns 4 Froscheier, die seit der Vornahme der künstlich ausgeführten Befruchtung genau 3 Tage alt, dabei sehr ungleich weit entwickelt sind. Denn das erste Ei (A) hat eben die Gas- trulation beendet, das zweite (B) hat die Medullarplatte entwickelt, deren Ränder sich als Medullarwülste über die Oberfläche deutlich ö n4 i Das Maß der Empfindlichkeit der Organismen, 365 zu erheben beginnen. Das dritte (C) hat sich schon zur Länge von 5 mm gestreckt. Hinten ist das Schwanzende, vorn der Kopf abgesetzt, an welchem sich bereits die Haftnäpfe angelegt haben und die Kiemen als kleine Höcker hervorsprossen. Der vierte Embryo (D) hat im Vergleich zum dritten eine Längenzunahme von 2,5 mm erfahren, ist also 7,5 mm lang geworden. Die Kiemenhöcker sind zu ansehnlichen Büscheln aus- gewachsen ; der 3,5 mm lange Ruderschwanz hat sich in einen aus Chorda, Rückenmark und vielen Muskelsegmenten zusammengesetzten Achsen- teil und in einen dünnen, durchsichtigen Flossensaum gesondert. Die erheblichen Differenzen in der Formbildung der vier genau gleich alten Eier sind einzig und allein dadurch bedingt worden, daß das erste sich bei einer konstanten Wassertemperatur von Io°®C, das zweite bei 15°C, das dritte bei 20°C und das vierte bei 24°C entwickelt hat. Um das Stadium, welches bei 24°C schon am Ende des 3. Tages angelegt ist, gleichfalls zu erreichen, braucht das Ei von Rana fusca bei 10°C 13—14 Tage, bei 15°C 7 Tage, bei 20°C 4 Tage. Auch im Hinblick auf derartige Versuchsergebnisse wird man den Ausspruch für berechtigt halten müssen, daß das Froschei durch eine un- gleich normierte Entwicklungsgeschwindigkeit auf verschiedene Tempe- raturen so empfindlich reagiert, wie Quecksilber durch seine Ausdehnung, und sich daher als ein biologisches Thermometer verwerten läßt. Denn es ist klar, daß, wenn man die Zeitdauer der Entwicklung und das hierbei erreichte Endstadium kennt, man danm auch bei Voraussetzung kon- stanter Verhältnisse den Temperaturgrad des Wassers, in welchem sich das Ei befunden hat, bestimmen kann. In ebenso empfindlicher Weise wie auf Temperaturen reagiert die lebende Zelle, wie sich durch Experimente an geeigneten Objekten beweisen läßt, auch aufchemische und photische Einwirkungen. Zum Nachweis der chemischen Wirkung wähle ich einen Versuch mit Sauerstoff, den ja mit wenigen Ausnahmen alle Organismen zur Unter- haltung ihres Lebensprozesses unbedingt brauchen, und einen zweiten Versuch mit Apfelsäure. Wenn in einen Tropfen einer bakterien- haltigen Flüssigkeit auf dem Objektträger eine kleine Alge oder Dia- tomee gebracht und das Präparat, mit einem Deckgläschen bedeckt, dem Licht ausgesetzt wird, so sammeln sich in wenigen Minuten alle Bakterien in einem dichten Schwarm um die einzellige Pflanze an. Sie werden durch den Sauerstoff angezogen, der im Licht infolge der Chloro- phylifunktion von der aufgenommenen Kohlensäure abgespalten und ausgeschieden wird. Die Apfelsäure hat PFEFFER zu seinen Experimenten über die Che- 366 Zehntes Kapitel.. motaxis gewählt und durch Zahlen nachgewiesen, wie gewisse chemische Substanzen in unendlich kleinen Quantitäten als Richtungsreize auf einzellige Organismen bei ihren Bewegungen wirken. So werden Samen- fäden der Farne noch durch eine 0,00I-proz. Lösung der Apfelsäure, die in Pflanzenzellen häufig gebildet wird, angelockt. Zur Vornahme des Versuches nach der Methode von PFEFFER füllt man eine feinste Glaskapillare von 4—10o mm Länge, deren eines Ende man zugeschmolzen hat, mit der Lösung an und schiebt dieselbe dann mit dem offenen Ende in einen Wassertropfen mit den Samenfäden, den man auf einen Objekt- träger gebracht hat. Wie unter dem Mikroskop verfolgt werden kann, schwimmen die Samenfäden der Farne fast augenblicklich ‚nach der Oeffnung der Kapillare, aus welcher die Apfelsäure in das Wasser zu diffundieren beginnt, und dringen einer nach dem andern in die Glas- röhre selbst hinein, bis sie schließlich mit vereinzelten Ausnahmen aus dem Wassertropfen eingefangen sind. Wie gering die Menge dieser Apfelsäure ist, mit der schon eine Wirkung auf die lebende Zelle erzielt wird, kann man am besten daraus ersehen, daß in einem Röhrchen mit einer 0,00I-proz. Lösung sich nach der Berechnung von PFEFFER nur 0,0000000284 mg oder der 35-millionste Teil eines Milligramm Apfel- säure befindet. Nicht minder fein ist die Empfindlichkeit gegen die Wirkung schwächerer und stärkerer Lichtstrahlen (die Phototaxis und der Heliotropismus) bei einzelligen Organismen ausgebildet, auch wenn sie kein besonderes Organ für ihre Wahrnehmung besitzen. Sehr lehr- reich in dieser Beziehung ist ein einfaches, von NÄGELI angestelltes Experiment. Man umwickelt eine 3 Fuß lange Glasröhre mit schwarzem, für Licht undurchlässigem Papier mit Ausnahme des unteren Endes, auf welches man Licht auffallen läßt. Wenn man hierauf mit Wasser, in welchem grüne Algenschwärmer von Tetraspora gleichmäßig verteilt sind, die Röhre anfüllt, so haben nach einigen Stunden alle Algenschwärmer den verdunkelten Teil verlassen und sich im offen gebliebenen, kleinen, belichteten Abschnitt in großer Masse angesammelt. Von hier können sie wieder dadurch weggelockt werden, daß man das untere Ende des Rohres mit schwarzem Papier umhüllt und dagegen das obere frei macht und belichtet. Denn jetzt beginnen sie unter dem sehr abgeschwächten Reiz der Lichtstrahlen, welche in dem 3 Fuß langen, verdunkelten Rohr nach vielfacher Reflexion an der geschwärzten Glaswand vom oberen bis an das entgegengesetzte Ende gelangen, allmählich nach dem Orte des Lichteinfalls hinzudringen und sich infolgedessen jetzt an der oberen Fläche des Wassers anzusammeln. Das Maß der Empfindlichkeit der Organismen, 367 Schon aus diesen wenigen Beispielen, deren Zahl sich bei Durch- sicht der Literatur noch erheblich vermehren läßt, geht klar hervor, in wie feiner Weise selbst die einfachsten einzelligen Lebewesen die > verschiedenartigsten Einwirkungen ihrer Umgebung, geringe Abstuf- “ungen der Temperatur, die Anwesenheit von kaum meßbaren Ouan- titäten chemischer Substanzen in gasförmigem und flüssigem Zustand, kleine Unterschiede in der Belichtung usw. als Reize wahrnehmen Bund auf sie durch Gegenwirkungen ebenso notwendig und gesetzmäßig reagieren, wie das Quecksilber im Thermometer auf die Temperatur, - oder wie zwei mit wechselseitigen Affinitäten begabte Substanzen bei # einer chemischen Reaktion, oder wie eine empfindliche photographische Platte auf den einfallenden Lichtstrahl. Die in allen Abstufungen zu - beobachtende Abhängigkeit von der Umwelt, die uns das Leben in seinen einfachsten Formen zeigt, ist die gleiche im ganzen Organismenreich nur noch viel mehr kompliziert und nach allen möglichen Richtungen weiter verwickelt, so daß es bei den höheren Pflanzen und Tieren kaum nöch möglich ist, alle zahllosen Fäden aufzudecken, “ durch die ihr Dasein mit dem Gesamtleben der Natur ver- - knüpft ist. Indem wir uns jetzt einen. wenn auch nur oberflächlichen Überblick auch über diese Beziehungen zu verschaffen suchen, be- spreche ich sie nach der schon oben (S. 361) gegebenen Einteilung in zwei Gruppen. Zweiter Abschnitt. Die Anpassungen der Organismen an die leblose Natur. a) Anpassungen im Pflanzenreich. Zu interessanten Betrachtungen gibt dem reflektierenden Natur- forscher der gesamte Aufbau der Pflanzen Veranlassung, wenn er die Struktur ihrer Organe und Gewebe aus ihrer Funktion und den ver- schiedenartigen Beziehungen zu der leblosen Natur zu begreifen sucht. Diese sind ja bei den Pflanzen viel innigere und unmittelbarere als bei den Tieren. Denn im scharfen Gegensatz zur tierischen Zelle besitzt ‚allein die pflanzliche das Vermögen, mit den ihr von der leblosen Natur gebotenen Mitteln lebende Substanz auf direktem Wege zu erzeugen. Sie bezieht aus der Luft als das einfachste, aber unentbehrliche Aus- gangsmaterial für die wichtigsten von ihr ausgeführten organischen Synthesen die Kohlensäure. Zu ihrer Zerlegung durch Abspaltung von Sauerstoff besitzt sie in ihrem Protoplasma den nur ihr eigentüm- 368 Zehntes Kapitel. lichen Chlorophyllapparat. Andere chemische Grundstoffe, wie Wasser und leicht diffundierende Salzlösungen, welche noch zur chemischen Herstellung von Kohlehydraten, Fetten und Eiweißkörpern in ihrem Laboratorium gebraucht werden, entnimmt sie bei den Landpflanzen dem Boden oder bei den Wasserpflanzen ihrer unmittelbaren Um- gebung. Endlich gebraucht sie noch die lebendige Energie des Sonnen- lichtes, da nur mit ihrer Hilfe der Chlorophyllapparat die von ihm aus- zuführende chemische Arbeit verrichten kann. In allen diesen Bezieh- ungen ist der ganze Lebensprozeß der Pflanze auf den unmittelbaren Verkehr mit der leblosen Natur begründet, während sich das Tier von ihr in viel größerer Unabhängigkeit, wenigstens in Hinsicht auf den Bezug des Nahrungsmaterials für seinen Stoffwechsel befindet; verwendet es doch für diesen nur bereits fertig hergestellte organische Substanzen, die es entweder von Pflanzen oder von anderen Tieren bezieht. Wenn man die oben angeführten, für die pflanzliche Ernährung maßgebenden Faktoren berücksichtigt, dann wird uns auch die Be- schaffenheit und Anordnung der Elementarteile in den vielzelligen Pflan- zen, wenigstens in ihren allgemeinen Grundzügen, verständlich werden, wie ich schon in meiner Allgemeinen Biologie klarzulegen versucht habe. Da dicke und feste Membranen, wenn sie nur einen gewissen Grad von Porosität besitzen, für den Durchtritt von Gasen und leicht diffun- dierenden Salzen kein Hindernis sind, so können die Pflanzenzellen ihren weichen Protoplasmakörper, ohne im Bezug ihrer Nährstoffe be- einträchtigt zu werden, mit einer Membran aus Cellulose umgeben. Eine solche aber gebrauchen sie zu ihrem Schutz gegen Eintrocknung und andere schädigende Einwirkungen ihrer Umgebung, auf welche sie für ihre Ernährung doch andererseits wieder angewiesen sind. Durch feste Membranbildungen gewinnen sie zugleich eine größere Selbständig- keit und Abgeschlossenheit gegeneinander, werden aber auch infolge- dessen wieder für eine Anzahl von Differenzierungen, wie namentlich für die Bildung von Muskel- und Nervenfibrillen, ungeeignet und ge- raten dadurch in einen noch größeren Gegensatz zu den tierischen Zellen, welche mehr oder minder nackte Protoplasmakörperchen bleiben, in ihrer Form leichter veränderlich, gegen direkte Berührung reizempfind- licher und zu gegenseitiger Anpassung geeigneter sind. Wenn die Pflanzenzellen bei ihrer Vermehrung sich zu umfang- reicheren Verbänden anordnen,‘ so kann dies mit Rücksicht auf die Natur ihres Stoffwechsels nur so geschehen, daß sie mit den umgebenden Medien, aus denen sie Stoff und Kraft beziehen, also mit Erde und Wasser, mit Luft und Licht, in möglichst unmittelbare Beziehungen treten. Anpassungen der Organismen an die leblose Natur, 369 Sie müssen daher bei ihrer Zusammenordrung eine nach außen gerichtete, - große Oberfläche dadurch entwickeln, daß sie teils vielfach verzweigte Fäden bilden, teils sich in der Fläche zu blattartigen Organen ausbreiten. Demgemäß erzeugen die Pflanzen, um aus dem Boden Wasser und Salz- - lösungen aufzusaugen, ein vielverzweigtes Wurzelwerk, welches nach allen Richtungen hin die Erde mit feinen Fädchen durchsetzt. Um Kohlen- säure aus der Luft aufzunehmen und dabei zugleich auch die Energie - der Sonnenstrahlen zu verwerten, breitet sich ihr oberirdischer Teil in einem reichgegliederten Zweigwerk dem Licht entgegen und erzeugt - an ihm als chlorophyllhaltige Organe die Blätter, die durch ihre Struktur vorzüglich für den Assimilationsprozeß geeignet sind. Die Bedeutung des Chlorophylis für den eigentümlichen Bau der “ Pflanzen hat schon JuLıus SAcHs in seinen Vorlesungen über Pflanzen- Bi physiologie in so vortrefflicher Weise auseinandergesetzt, daß sich kaum eine bessere Darstellung geben läßt. Ich bediene mich daher seiner eigenen _ Worte, die meinem Gedankengang vollständig entsprechen: | „Zwischen den Eigenschaften des Chlorophylis und der gesamten - äußeren und inneren Organisation der Pflanzen bestehen Beziehungen in der Art, daß man ohne Übertreibung behaupten kann, die gesamten Gestaltungsverhältnisse im Pflanzenreich, besonders das - ganz andere Aussehen der Pflanzen im Vergleich zu denen . der Tiere, beruhe auf den Eigenschaften und den Wir- kungen des Chlorophylls.“ ‚‚Die Erfahrung lehrt, daß schon eine _ sehr dünne Schicht von chlorophyllhaltigem Gewebe alle diejenigen Lichtstrahlen vollständig ausnutzt, welche die Assimilation bewirken. Eine dicke Schicht chlorophyllhaltigen Gewebes hat daher gar keinen Zweck, ja sie wäre eine Stoffverschwendung in der Pflanze. Dement- sprechend finden wir nun, daß überall im Pflanzenreich nur sehr dünne Schichten vor grünem Assimilationsgewebe zur Verwendung kommen, Schichten von ein oder einigen zehnteln Millimeter Dicke. Dagegen ist es für eine kräftige, ausgiebige Assimilation oder Erzeugung wachs- - tumsfähiger Substanz von größtem Gewicht, daß die dünnen, grünen _ Gewebsschichten möglichst ausgedehnte Flächen darstellen, ‚wenn es - überhaupt zur Bildung einer kräftig wachsenden Pflanze kommen soll.“ „In diesen Erwägungen liegt der Grund, daß es bei fortschreitender - Vervollkommnung der Pflanzenorganisation aus,ihren ersten Anfängen vor allem darauf ankommen mußte, Organe herzustellen, welche bei ‚sehr geringer Dicke eine möglichst große Fläche chlorophyllhaltigen - Gewebes besitzen. Bei niederen Algen wird dies dadurch erreicht, daD sie die Form haardünner, langer Fäden oder aber sehr dünner, flacher erh Pr OÖ. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl, 24 mn me 370 Zehntes. Kapitel], Lamellen annehmen, so daß in beiden Fällen das Körpervolumen im Verhältnis zu seiner Fläche ein sehr geringes bleibt.‘ „Allein viel vollkommener wird der .genannte Zweck erreicht, wenn sich die Sprosse in Blätter und Achsenstiele differenzieren, was schon häufig genug bei Algen, ganz allgemein bei den Laubmoosen und Gefäß- pflanzen einzutreten pflegt. Dadurch wird es dem Sproßsystem möglich, eine große Zahl chlorophylihaltiger, dünner Lamellen in zweckmäßiger Entfernung voneinander dem Licht, also dem Ernährungsprozeß dar- zubieten, und nur bei einer derartigen Differenzierung in einen Träger (Sproßachse) und aus ihm hervortretende, chlorophylihaltige Lamellen (Blätter) schwingt sich die Vegetation überhaupt erst zu ihren höheren Organisationsstufen und ganz besonders auch zu mächtigen, das trockene Land bewohnenden Formen empor, wie sie uns in den großen Farnen, Palmen, Koniferen, Laubhölzern und dikotylen Stauden bekannt sind. Wie sonst könnte das Problem gelöst werden, eine kaum 0,2—0,3 mm dicke Schicht von Assimilationsgewebe von oft vielen Quadratmetern Fläche so auszubilden und zu tragen, daß. dadurch das mächtige Assi- milationsorgan entsteht, wie wir es in der tausendblätterigen Baum- krone einer Buche oder Eiche, in den wenigen, aber großen Blättern einer Banane oder Palme vorfinden!“ „Die Pflanzenwelt, soweit sie durch grünes Gewebe sich selbständig ernährt, wird ganz und gar in ihrer Gesamtform von dem Prinzip be- herrscht, an relativ dünnen Trägern oder Sproßachsen möglichst zahl- reiche, möglichst dünne und große, grüne Flächenorgane (Blätter) zu entwickeln. Der daraus entspringende, im allgemeinen so überaus gra- ziöse Wuchs der chlorophyllhaltigen Pflanzen wird also eben durch ihren Chlorophyligehalt hervorgerufen, weil die Tätigkeit des Assi- milationsparenchyms nur in diesem Fall zu voller Geltung kommt. Den Gegensatz. bieten uns sofort die nichtchlorophylihaltigen Pflanzen, die Fruchtkörper der Pilze und die phanerogamen Schmarotzer und Hu- musbewohner. Gerade der Mangel des Chlorophylis ist es, der hier die Flächenausbreitung in Form von großen Blättern überhaupt über- flüssig macht; die vorwiegend als Sproßschsen entwickelten Pflanzen- körper erscheinen daher nackt, feist, plump und ungraziös.‘ Wie überhaupt die Wuchsform der chlorophylihaltigen Pflanzen von ihrer Stellung zum Lichteinfall abhängig ist, davon kann sich jeder leicht überzeugen, der mit Verständnis die ihn umgebende Natur be- obachtet. Zimmerpflanzen, deren Standort am Fenster nicht verändert wird, haben ihre Zweige und Blattflächen diesem zugekehrt und ent- wickeln in dieser Richtung ihre jungen Triebe, während die Schatten - Anpassungen der, Organismen an die leblose Natur, 371 seite kahl bleibt. Ebenso sind selbst bei solitär im Freien stehenden Coniferen die nach Norden gerichteten Seitenzweige weniger kräftig entwickelt, als im übrigen Umfang, da sie sich unter ungünstigeren Bedingungen der Belichtung befinden. Welchen sehr verschiedenen Anblick bieten alte Buchen dar, je nachdem sie auf einer Wiese ver- einzelt oder in einem Hochwald dicht zusammengedrängt herangewachsen sind! Dort entsenden sie schon in geringer Höhe über dem Boden starke und gut belaubte Äste nach allen Seiten, im anderen Falle gleichen die unten kahl gewordenen, hohen Stämme den Säulen eines Domes und baben erst hoch oben ein dichtes Laubdach entwickelt, welches das Licht nach unten nicht durchfallen und dadurch auch eine Entwicklung tiefer gelegener Seitenzweige und Blätter nicht aufkommen läßt. Die engen ursächlichen Beziehungen der Pflanzenpigmente zum Licht und ihre Anpassung an verschiedene Qualitäten desselben lassen sich noch an anderen interessanten Verhältnissen erkennen, auf welche ENGELMANN, GAIDUKOW und STAHL?) die Aufmerksamkeit gelenkt haben. Es tritı nämlich der Pflanzenfarbstoff, an welchen die assimilatorische Tätigkeit der Zelle gebunden ist, im Pflanzenreich in verschieden ge- färbten Modifikationen auf, die auf geringen Unterschieden in der che- mischen Konstitution beruhen, entweder als gelber, oder grüner, brauner, roter Farbkörper. Diese sind von verschiedener Wirksamkeit gegenüber den einzelnen Komponenten, in welche sich das Sonnenlicht zerlegen läßt. Wie nämlich ENGELMANN auf Grund scharfsinniger Untersuchungen über ‚Farbe und Assimilation‘ hat nachweisen können, sind bei den verschieden gefärbten Algenarten die zu ihrer eigenen Farbe kom- plementären Lichtarten die bei der Assimilation hauptsächlich wirk- samen. Einen experimentellen Beweis hierfür hat sein Schüler GAIDU- Kow geführt; er ließ auf Oscillarienarten, die in der Natur grün gefärbt sind, während längerer Zeit nur farbiges Licht einwirken, indem er die Sonnenstrahlen durch gefärbte Gläser’ oder Flüssigkeiten hindurch- gehen ließ und dadurch diesen oder jenen Teil ihrer Komponenten ab- sorbierte. Auf diesem Wege konnte er allmählich den grünen Farbstoff der Oscillarien in eine anders gefärbte Modifikation überführen, die je nach der Art des Versuches zu der des einwirkenden Lichtes kom- plementär war. Je nachdem rotes oder grünes oder blaues Licht eine entsprechende Zeit eingewirkt hatte, nahmen die Oscillarien eine grün- x 1) Engelmann, Th. W., Farbe und Assimilation. Botan. Zeit., 1883. — Gai- dukow, N., Über den Einfluß des farbıgen Lichts auf die Färbung lebender Oscillarien. Abhandl. d. Preuß. Akad. d. Wiss., 1902. — Stahl, E., Zur Biologie des Chlero- Phylis, Laubfarbe und Himmelslicht etc., Jena 1909. 24° 372 Zehntes Kapitel, liche oder eine rötliche oder eine braungelbe Färbung an und behielten dieselbe auch noch mehrere Monate, nachdem sie wieder unter die natürlichen Lichtverhältnisse gebracht worden waren. Die von ENGELMANN zuerst erkannten und von GAIDUKOW experi- mentell bewiesenen Beziehungen der verschieden gefärbten Pflanzen- pigmente zu den einzelnen Komponenten des weißen Lichtes sind ge- eignet, uns eine sehr einfache Erklärung für die eigentümliche Ver- bıeitungsweise der verschieden gefärbten Meeresalgen zu liefern. Nur dicht unter der Meeresoberfläche sind die Algen grün gefärbt; mit Zu- nahme der Tiefe machen sie den rot gefärbten Florideen und anderen roten Algenarten Platz. Es hängt dies damit zusammen, daß mit der Dicke der Wasserschicht sich die Qualität des durchgelassenen Lichtes ändert. ‚Schon in geringeren Tiefen haben‘, wie ENGELMANN bemerkt, „die grünen und blaugrünen Strahlen eine relativ viel größere (wenn- schon absolut geringere) Intensität, die roten und gelben eine relativ geringere Stärke als im ursprünglichen Licht.‘‘ Daher müssen die in größere Tiefe dringenden grünen und blaugrünen Strahlen des Spektrums in den hier lebenden Algenzellen eine komplementäre, also rote Färbung hervorrufen. Wirken doch ‚gerade die grünen Strahlen weitaus am energischsten assimilatorisch‘“ auf die rote Modifikation des Blattfarb- stoffes ein. In entsp.echender Weise sucht STAHL den Nachweis zu führen, daß die grüne Färbung der Landpflanzen als Anpassung an die Zusammen- setzung des diffusen Tageslicht zu erklären ist. ‚Die Landpflanzen absorbieren und machen sich diejenigen Strahlen dienstbar, die am kon- stantesten im diffusen Tageslicht vorhanden sind und ihnen mithin am häufigsten zur Verfügung stehen.‘ Es sind dies die zwei Strahlen- gruppen I. von Rot bis Gelb und 2. von Blau bis Violett. Ihnen entsprechen in der Zusammensetzung des Chlorophylis zwei Bestandteile, in welche es zerlegt werden kann, ein orangegelber (hauptsächlich Karotin) und ein bläulichgrüner Teil. Der orangegelbe Chlorophyliteil ist zum blauen Himmelsgewölbe komplementär gefärbt, dagegen der bläulichgrüne Teil zu den rotgelben bis roten Strahlen, ‚‚deren Vorherrschen in dem durch das trübe Medium der Atmospbäte hindurchgegangenen Licht sich unserem Auge erst bei schon niedrigem Sonnenstande verrät“. Der Chlorophyllapparat der Landpflanzen, welcher die grünen Strahlen so gut wie ungeschwächt durchläßt, ist nach der Ansicht von STAHL nicht der Ausnutzung des direkten, ungeschwächten Sonnenlichtes, sondern der bei ihrem Gang durch die Atmosphäre veränderten Strah- lung angepaßt. h Anpassurgen der Organismen an die leblose Natur. 373 „Die Pflanze verzichtet auf die Ausnutzung der grünen Strahlen, die ihr gewöhnlich bei diffuser Belichtung spärlich bemessen sind, ihr aber, bei direkter Insolation, infolge der hohen dieser Strahlengruppe eigenen Energie, durch zu starke Erwärmung der die Lichtabsorption vermittelnden Organe gefährlich werden könnten.‘ — Bestimmt durch den eigenartigen Stoffwechsel, bei dem die Chloro- phylifunktion von so hervorragender Bedeutung ist, wird die ganze Formbildung der Pflanzen, wie soeben nachgewiesen wurde, eine nach außen gerichtete und äußerlich sichtbare. Im Verhältnis zum Volum und Gewicht der lebenden Substanz ist die Entwicklung einer äußeren Oberfläche eine außerordentlich große; sie ist bei den Pflanzen gleichsam das ihre ganze Formbildung beherr- schende Prinzip im Gegensatz zum tierischen Körper, auf den ich später in dieser Frage noch zurückkommen werde. Ein zweites in der Organısation der Pflanzen hervortretendes Merk- mal ist ihre wenig ausgebildete histologische Differenzierung; sie fehlt entweder ganz/oder bleibt doch unter allen Umständen eine relativ be- schränkte. Wo sie aber auftritt, läßt sie auch wieder den direkten Ein- fluß äußerer Faktoren auf die Ausbildung der pflanzlichen Organisation ganz deutlich erkennen. Besonders gilt dies für zwei Gewebsformen, von denen die eine mechanischen Zwecken dient, die andere den Saft- strom zwischen den oberirdischen und den unterirdischen Teilen der Pflanzen vermittelt. In bezug auf beide bieten die wasser- und die landbewohnenden Pflanzen sehr scharf ausgeprägte Unterschiede dar, Daß diese in einem offenbaren Zusammenhang mit der Natur des sie umgebenden Mediums stehen, werden uns einige kurze Erwägungen lehren. Bei den Algen und anderen im Meer, in Seen und Flüssen lebenden Pflanzen hat ihr Körper nahezu das gleiche Gewicht wie das Wasser. Die Cellulosemembranen der einzelnen Zellen bieten unter diesen Lebens- bedingungen eine genügende Festigkeit dar, um die Sprosse und Blätter flottierend und schwebend im Wasser zu erhalten. Daher werden im allgemeinen bei den Wasserpflanzen besondere mechanische Gewebe vermißt, da ein Bedürfnis zu ihrer Ausbildung infolge der Beschaffenheit des umgebenden Mediums nicht vorhanden ist. Viel höhere Anforderungen in bezug auf mechanische Festigkeit werden an die landbewohnenden Pflanzen gestellt, je größer sie werden und je mehr sie über die Erdoberfläche in die Luft hineinwachsen und ihre assimilierenden Chlorophyllflächen dem Licht entgegen ausbreiten. Bei den Phanerogamen reichen daher die gewöhnlichen Cellulosemem- branen der einzelnen Zellen bei weitem nicht aus, um den tragenden 374 Zehntes- Kapitel. Ästen und Flächen eine genügende Festigkeit zu geben, damit sie frei in die Luft hineinwachsen und zugleich auch der Einwirkung von Wind und Sturm den entsprechenden Widerstand entgegensetzen können. Unter diesen Bedingungen sind besondere stützende Organe für die Ausbildung höherer Pflanzenformen eine ebensolche Notwendigkeit geworden, wie ein inneres Knochensystem für die Wirbeltiere. Sie ent- stehen dadurch, daß inmitten der übrigen mit anderen Funktionen be- trauten Pflanzengewebe einzelne Zellgruppen besonders stark verdickte Cellulosewände erhalten. Zugleich werden die einzelnen Zellen mehr in die Länge gestreckt und je nach Lage und Form als Bast-, Libri- form-, Holzzellen, Tracheiden etc. unterschieden. Alle derartigen Zell- verbände, welche sich durch ihre besonders gut entwickelte Zug- und Biegungsfestigkeit auszeichnen, sind von SCHWENDENER unter dem ge- meinsamen, passenden Namen des mechanischen Pflanzengewebes zusammengefaßt worden. Seine Leistungsfähigkeit ist keine geringere als diejenige eines entsprechend dicken Eisendrahtes. Denn ‚ein Faden frischer Bastzellen von ı qmm Querschnitt vermag je nach der Pflanzen- art, welcher er entnommen ist, ungefähr 15—20, in seltenen Fällen 25 kg zu tragen, ohne daß er nach Entfernung der Gewichte eine dauernde Veränderung erfahren hätte, weil seine Elastizitätsgrenze durch die Belastung nicht überschritten wurde“, Wenn die Entwicklung mechanischer Gewebe als eine Reaktion auf mechanische Reize, auf Zug und Druck er- folgt und dazu dient, die aufrecht wachsende Pflanze in den Stand zu setzen, einwirkenden Gewalten Widerstand zu leisten, so läßt sich auch erwarten, daß die Reaktion hauptsächlich an den Stellen erfolgen wird, welche in besonderem Maße dem Reiz ausgesetzt sind und somit mecha- nisch in Anspruch genommen werden. Das ist denn in der Tat auch, wie SCHWENDENER und seine Nachfolger nachgewiesen haben, der Fall. Im senkrechten Schaft von Stauden, von Grashalmen etc. sind die Stereomstränge mit sehr seltenen Ausnahmen so angeordnet daß sie möglichst dicht an der Oberfläche liegen und zusammen einen Hohlzylinder bilden, wie er bei Bauten als eiserner Träger nach de Regeln der Ingenieurwissenschaft Verwendung findet. Nach außen vom Skeletthohlzylinder, der in der schematischen Figur 68 schraffie (st) dargestellt ist, findet sich noch die Epidermis (a) und je nach de Pflanzenart, um die es sich handelt, eine bald dünnere, bald dicke Schicht von anderen dünnwandigen Gewebszellen; bei grünen Sten z. B. breitet sich noch das Assimilationsgewebe (a) aus, das ja wege seines Chlorophylis ebenfalls auf die Oberfläche angewiesen ist und Anpassungen der Organismen an die leblose Natur. 375 _ mit den mechanischen Geweben um den Raum konkurriert. Der Raum im Innern des Skelettzylinders enthält bei den Pflanzen eine Füllmasse, welche in allen Fällen mechanisch ohne Bedeutung ist, im übrigen aber eine sehr wechselnde Beschaffenheit zeigen kann. Bald besteht die Füllung aus dünnwandigen Parenchymzellen, in welchen zuweilen Gefäß- stränge (g) ihren Weg nehmen, bald aus einem leicht herauszulösenden Mark abgestorbener Zellen, wie beim Holunder und bei der Sonnen- blume; bald ist das Pflanzen- gewebe mehr oder minder durch Luft verdrängt, wie bei den Gräsern, deren Schaft im Innern hohl ist. Fig. 68. 9 Fig. 68. Querschnitt durch den Blütenschaft von Anthericum $ Ve Nach Poronif, Zwischen : U > er schraffierten Skelettpartie (s?) und EN ER ESLTRENI der Epidermis befindet. sich ein Ring NE NERRR Re Dates d von Assimilationsgewebe (a) Über EEE EEE den zentralen Teil des (Juerschnittes sind Mestombündel (g) zerstreut, von denen sich einige an die Innenfläche des Skelettzylinders anlegen. Fig. 69. Verteilung des Stütz- gewebes mit den Gefäßbündeln (Nervatur) in dem Blatt eines Crataegus. Nat. Größe. Nach Jost. & Auch in dem Bau des Blattes spielt das mechanische Gewebe eine Rolle in demselben Maße, als es eine beträchtlichere Größe erreicht. Da die Aufgabe der Blätter in der Assimilation, in der Aufnahme der Kohlen- säure und in ihrer Zerlegung mit Hilfe der Sonnenstrahlen beruht, be- steht ihr Hauptgewebe, das Mesophyll, aus chlorophyllihaltigen, dünn- wandigen Zellen. Diese müssen in dünner Schicht ausgebreitet sein, 376 Zehntes Kapitel, da sie nur unter der Einwirkung des Lichtstrahls ihre Funktion erfüllen können. Eine derartige dünne Platte bedarf aber ebensogat, wie der sie tragende Stiel, zweckmäßig verteilter mechanischer Stützen, einmal um zur Aufnahme der Sonnenstrahlen glatt ausgebreitet zu bleiben, zweitens um bei kräftigem Wind nicht zerrissen zu werden. Dieser Auf- gabe entsprechen der Mittelnerv des Blattes, die Seitennerven und die zwischen ihnen ausgebreitete feinere Nervatur (Fig. 69). Sie bilden zusammen ein zweckmäßig angeordnetes Netzwerk, das sich teils aus mechanischen Geweben, teils aus den zur Saftleitung dienenden, gleichfalls sehr wichtigen und notwendigen Gefäßen zusammensetzt. Durch die Nervatur wird die dünne, leicht zerreißliche Chlorophyll- platte, welche ihre Maschen ausfüllt, wie durch feine Speichen flach ausgebreitet erhalten. An abgefallenen, älteren Blättern fault auf der feuchten Erde das dünnwandige Mesophyl! rascher weg; es bleibt dann bloß die aus dickwandigeren, mechanischen Zellen zusammengesetzte Nervatur erhalten, von der man auf diese Weise infolge der Mazeration sehr zierliche Übersichtsbilder erhält. Noch in einer dritten Anordnungsweise tritt uns das mechanische Gewebe im Aufbau des Körpers der Phanerogamen in dem Wurzel- werk entgegen, mit welchem der Stamm oder Schaft der Pflanzen sich in der Erde befestigt und ausbreitet. Andere mechanische Anforderungen müssen hier erfüllt werden, als bei den oberirdischen Teilen. Während diese durch heftigen Wind gebogen werden, haben die Wurzeln den oft erheblichen Zugkräften, die vom oberirdischen Pflanzenteil auf sie aus- geübt werden, einen entsprechenden Widerstand entgegenzusetzen. Die Zugfestigkeit einer Konstruktion hängt nun aber von der Masse des verwandten widerstandsfähigen Materials, von der Größe seines QOuerschnittes ab; und es ist am zweckmäßigsten, wenn das Material auf einen einzigen Strang zusammengedrängt ist. Daher müssen die Pflanzenorgane, je nachdem sie auf Biegungsfestigkeit oder auf Zugfestigkeit konstruiert sind, in der Anordnung der mecha- nischen Gewebe Unterschiede darbieten. Während bei Biegungsfestigkeit die mechanischen Gewebe in der Peripherie des Schaftes zu einem Zylinder- mantel, wie oben gezeigt wurde, angeordnet sind, haben die auf Zug in Anspruch genommenen stärkeren Wurzeln dieselben zu einem Strang vereint, welcher eine zentrale Lage einnimmt. Zugfest müssen aber auch manche oberirdischen Pflanzenteile konstruiert sein, nämlich alle Stengel, welche schwere Lasten zu tragen haben, große, nach abwärts hängende Früchte, wie Birnen, Äpfel, Melonen, Kürbisse. Unter ähnlichen Be- dingungen können sogar Wasserpflanzen, in deren Aufbau im allge- — Arpassungen der Organ'smen an die leblose Natur. 377 meinen mechanische Gewebe keine Rolle spielen, solche entwickeln. Als Beispiel führe ich die Arten an, die, wie Ranunculus fluviatilis, in strömendem Wasser vorkommen und deren flottierende, die Blätter tragenden Stengel einen nicht unerheblichen und kontinuierlich wirkenden Zug erfahren. Wie sich der Einfluß äußerer Faktoren in der Ausbildung mecha- nischer Gewebe, namentlich bei einem Vergleich der Land- mit den Wasserpflanzen, in aller nur wünschenswerten Deutlichkeit erkennen läßt, so ist er nicht weniger gut auch bei den Geweben nachzuweisen, welche der Saftzirkulation dienen und schon als Beispiele für die Arbeits- | teilung und Korrelation im vierten Kapitel (S. 142 bis 144) besprochen worden sind. Auch hier besteht ein Gegensatz zwischen Land-und Wasser- pflanzen, verursacht durch die ungleichen Bedingungen, unter denen sie leben. Ein Gefäßsystem, das den ersteren eigentümlich und für den Stoff- austausch zwischen. ober- und unterirdischen Teilen notwendig ist, wird bei den meeresbewohnenden Algen vermißt, obwohl sie oft eine sehr ansehnliche Größe erreichen. Es fehlen eben bei den Algen wegen des Wasserlebens die notwendigen B.dingungen für dieEntwicklung eines Ge- fäßsystems. Es kann bei ihnen nämlich zu keinem nennenswerten Stoff- austausch zwischen ober-und unterirdischen Teilen kommen, da dieWurzel- bildung überhaupt auf ein sehr geringes Maß beschränkt bleibt. Sie ist in doppelter Hinsicht fast überflüssig geworden. Einmal können die Blätter aus dem Wasser die in ihm gelösten und zum Stoffwechsel er- forderlichen Salze gleich direkt aufnehmen und sind auch auf eine Wasser- aufnahme durch Wurzeln aus dem Boden beim Fortfall der Verdunstung nicht angewiesen; zweitens genügt den Wasseralgen auch ein wenig entwickelter Befestigungsapparat in der Erde oder auf Felsen, weil ein stärkerer Zug auf die im Wasser schwebenden Gewächse nicht ausgeübt wird. b) Anpassungen an die leblose Natur im Tierreich. Der fundamentale Gegensatz, der zwischen Pflanzen und Tieren in ihrer Ernährung besteht, findet seinen morphologischen Ausdruck auch in ihrer grundverschiedenen Formbildung. Wie im vorausge- gangenen Abschnitt für die Pflanzen, soll der Nachweis für die Abhängig- keit auch der tieri.chen Gestaltungsprozesse von den Bedingungen ihrer Ernährungsweise jetzt erbracht werden.!) 1) Vergl. hierüber auch Oscar Hertwig, Allgemeine Biologie, 4. Aufl, 1912, Kapitel XXX: Erklärung der Unterschiede pflanzlicher und tierischer Formbildung durch die Theorie der Biogenesis. 378 Zehntes Kapitel Der morphologische Grundplan für die tierische . Ernährung. Wie bekannt, besitzt die tierische Zelle nicht wie die pflanzliche das Vırmögen, aus elementaren Stoffen der unorganischen Natur Koble- hydrate, Fette, Eiweiß durch Synthese zu bilden. Sie muß dieselben schon im fertigen Zustand als Nahrung beziehen. Das Tier ist daher, um sich zu erhalten, auf schon bestehende Lebewesen, auf Pflanzen oder auf andere Tiere, die es sich als Nahrung erbeutet, angewiesen. Es muß dieselben, wenn sie noch leben, abtöten, sie in den eigenen Körper auf- nehmen und in ‚arteigene‘‘ Substanzen umwandeln, soweit sie hierzu brauchbar sind. Dies geschieht durch die Verdauung, die in einer Reihe sehr eigentümlicher, chemischer Prozesse abläuft. Es werden von dem lebenden tierischen Zellprotoplasma verschiedene Arten von Fermenten gebildet, Fermente zur Verdauung von Kohlehydraten, Fermente für Fette, Fermente für Eiweißkörper, wie Pepsin und Trypsin. Mit ihrer Hilfe wird die erbeutete, von anderen Lebewesen abstammende Substanz mehr oder minder weit ‚abgebaut‘, wie die physiologischen Chemiker den Vorgang bezeichnen. Die-so gewonnenen einfacheren Baustıine werden dann durch Synthese wieder zusammengesetzt, zum Wachstum des tierischen Körpers verwandt und auf diesem Wege erst ‚„arteigen“ gemacht. Auf Grund dieser allgemeinen Darlegungen läßt sich das Wesen der Einrichtungen bestimmen, welche für eine tierische Ernährungs- weise notwendig sind. Die festen Nahrungssubstanzen müssen durch eine Öffnung, den Mund, in einen Hohlraum des Körpers, in welchem die Verdauung vor sich geht, aufgenommen werden. In den Hohlraum müssen von den Wänden Sekrete mit Fermenten zum Abbau der Fremd- körper abgesondert werden ; hieran muß sich eine Aneignung oder Resorp- tion der brauchbaren Bestandteile und eine Ausscheidung des unbrauch- baren Restes anschließen. Schon bei einem Teil der Protisten, welche sich in der Art ihrer Ernährung den vielzelligen Tieren anschließen, läßt sich ein derartiger Grundplan in seiner primitivsten Form erkennen. Das beste Beispiel liefern die Infusorien (Fig. 70). Da ihr Protoplasma- körper von einer zum Schutz dienenden Cuticula umhüllt ist, besitzt diese an einer Stelle eine kleine, zuweilen noch von besonderen Geißeln umgebene, trichterförmige Öffnung (0), den Zellenmund, durch welchen Algenzellen, Bakterien und Teile abgestorbener, in Fäulnis übergegangener Organismen aufgenommen werden. Im Protoplasma der Infusorien bildet sich um den Nahrungskörper eine Verdauungsvakuole (na). Sie Anpassungen der O:ganismen an die leblose Natur! 379 übernimmt die Rolle des Magens vielzelliger Tiere; denn ihre Wandung sondert Fermente ab und resorbiert dann den mit ihrer Hilfe hergestellten Nahrungsbrei. Was nicht verdaut werden kann, wird später nach außen wieder ausgestoßen durch eine zweite Öffnung in der Cuticula, welche meist dem Mund gegenüberliegt und als Zellafter bezeichnet wird. Zur Zeit, als die Zellentheorie noch in ihren Anfängen stand, war EHRENBERG, der sich mit der mikroskopischen Untersuchung der In- fusorien sehr eingehend beschäftigt hatte, fest davon überzeugt, daß sie wirklich einen Mund, After, Darm und Magen wie die Tiere besäßen. In der Tat liegen auch auffällige Analogien in den Einrich- tungen, die zur Ernährung dienen, beim Ver- gleich zwischen. Infusor und Tier vor. Hier wie dort handelt es sich um die gleiche Auf- gabe. Nur die zu ihrer Lösung verwandten Mittel sind verschieden: hier eine einfache Zelle, dort ein Haufe derselben. Aber auch beim Zellenhaufen kann feste Substanz, wie fast selbstverständlich erscheint, nur in der Weise verdaut werden, daß sie gleich wie in das Protoplasma eines Infusoriums, in einen zentralen Hohlraum aufgenommen und che- misch verarbeitet wird. Also muß sich auch Fig. 70. Ein Infusor, beim Tier eine innere, nur jetzt von Zellen an begrenzte Verdauungshöhle und eine von n% Nebenkern, o Cytostom, außen in sie führende Öffnung, ein Urdarm 1%, ee RE ” und ein Urmund, ausbilden. Das ist die durch ausgedehnten Zustand, / Tri- die Natur der Dinge geforderte, einfachste ee | eg era Grundform der Tiere. Insofern kann es wahr- vakuole, „a! in Bildung haft nicht überraschen, wenn in dem großen begriflen. Stamm der Cölenteraten ihre meisten Re- präsentanten (Spongien, Hydrozoen, Anthozoen) sich auch im aus- gebildeten Zustand meist leicht auf die Form eines bald in dieser bald in jener Weise modifizierten Bechers zurückführen lassen (Fig. 7I); und nicht minder verständlich muß es unter diesem Gesichtspunkt er- scheinen, daß der Forscher in allen Stämmen und allen Klassen des Tierreichs auf ein Gastrulastadium (Fig. 72) stößt, nachdem sich das be- fruchtete Ei durch den Furchungsprozeß in einen Haufen zahlreicher Embryonalzellen umgewandelt hat. ‚ Mit der Ausbildung eines verdauenden, inneren Hohlraums aber „ FIEMERTVEETDN e- Ber er, 380 Zehntes Kapitel, ist zugleich zwischen den Zellen ein fundamental wichtiger Gegen- satz geschaffen worden, der dem Pflanzenreich fremd ist und als ein spezifisch tierischer bezeichnet werden muß. Die Zellen sind infolge der Einstülpung jetzt in 2 getrennten Schichten angeordnet. (Fig. 7I en u. ek, Fig. 72 ik u. ak), die in der Ontogenie als inneres und äußeres Keimblatt, Entoderm und Ektoderm, unterschieden werden. “Die Auf- gabe beider ist eine verschiedene und wird durch ihre Lage bestimmt. Die Zellen, welche zur Begrenzung des Körpers nach außen zu einer Oberhaut (Ektoderm) verbunden sind, vermitteln den Verkehr mit der Außenwelt, deren Wirkungen sie durch ihre Lage in unmittelbarer Weise Fig. 71. x Fig. 72. Fig. 71. Schematischer Längsschnitt durch einen Polypen. Nach RICHARD HERTWIG. er Entoderm, e£ Ektoderm (e#! der ‚Exumbrella, e#? der [Sub- umbrella), s Subumbrella, + Tentakeln, x Stützlamelle. Fig. 72. Gastrula des Amphioxus lanceolatus. Nach HATSCHEK. «ak äußeres Keimblatt, 2 inneres Keimblatt, z Urmund, zZ Urdarm. erfahren. In dieser Hinsicht sind sie mit Recht auch als Hautsinnesblatt bezeichnet worden. Dagegen dienen die Zellen, welche den Urdarm umgeben, dem Geschäft der Ernährung; sie bilden ein Darmdrüsenblatt, das, wie die Vakuolenwand bei den Infusorien, Fermente in die Darm- magenhöhle absondert und dann die so zubereiteten Nahrungssäfte resorbiert. Wie der hier nur kurz angedeutete, fundamentale Unterschied zwischen tierischer und pflanzlicher Ernährungsweise auch noch weiter die Formbildung bei den Repräsentanten der beiden Organismenreiche in vielen Einrichtungen bis ins Einzelste beeinflußt, ist von höchstem biologischen Interesse und verdient daher eine kurze Darlegung auch noch in anderen Richtungen. Auch in der Morphologie der Pflanzen spielt die Anordnung der = Anpassungen der Organismen an die leblose Natur, 381 #, Zellen zu Blättern eine wichtige Rolle, so daß das Blatt schon von CAsPAR __ FRIEDRICH WOLFF und von GOETRE als die pflanzliche Grundform be- zeichnet worden ist. Durch einen Vergleich mit Pflanzenblättern ist wohl - CASPAR FRIEDRICH WOLFF veranlaßt worden, den Schichten des tierischen Embryos den Namen der Blätter beizulegen. Gleichwohl besteht in der flächenartigen Anordnung hier und dort ein sehr wesentlicher Unter- schied, der mit der verschiedenen Natur der Zellen bei Pflanzen und - Tieren zusammenhängt. Bei den Pflanzen ist die Zelle mehr ein in sich ab- geschlossenes Gebilde, das sich gegen die Umgebung durch eine derbe Zellulosemembran abgegrenzt und isoliert hat; durch Aufnahme von viel Flüssigkeit ist sie ferner zu einem relativ großen und dabei proto- plasmaarmen Elementarteil umgewandelt. Dagegen sind die tierischen . Zellen klein, nur aus Protoplasma gebildet, entweder nackt oder nur von einer sehr zarten Grenzhaut umhüllt; sie legen sich daher im Epithel mit ihren Berührungsflächen dicht zusammen und stehen so in enger Fühlung zueinander. Dadurch wird eine aus embryonalen Zellen gebildete Epithellamelle oder ein Keimblati einungemein plastisches Material, welches zu einer viel mannigfaltigeren Verwendung als eine pflanzliche Zellschicht geeignet ist. Daher wird sie auch, wie uns das Studium der Entwicklungslehre zeigt, zum Ausgangspunkt für die Bildung sehr zahl- reicher, verschieden funktionierender Organe und Gewebsformen. Bei den Umbildungsprozessen der Keimblätter fällt dem inneren Keimblatt der weitaus größte Anteil zu, da die Ernährung ja schließlich die Grundbedingung für den Bestand, für das Wachstum, die Fort- pflanzung und die Arbeitsleistung eines jeden Organismus ist. Hierbei wird der Gegensatz zwischen pflanzlicher und tierischer Formbildung, je vollendeter dieselbe ist, um so schärfer ausgeprägt. Während bei der Pflanze auf Grund ihrer Ernährung eine Oberflächenentwicklung nach außen in der schon früher beschriebenen Weise (S. 368) stattfindet und sich in äußerlich hervortretenden Organen, in Blättern, Zweigen, Ranken und Blüten sowie in einem vielverzweigten Wurzelwerk be- merkbar macht, erfolgt sie beim Tier vorzugsweise im Innern des Körpers verborgen. Unter einer oft sehr einfachen Oberfläche und bei einer nur wenig gegliederten äußeren Form kann eine sehr verwickelte, innere Organisation durch anatomische Zergliederung nachgewiesen werden. Sie ist, wie sich noch jetzt in der Ontogenie verfolgen läßt, durch häufig wiederholte Aus- und Einstülpungen des primären inneren Keimblatts entstanden. Durch sie wird die innere Oberfläche, welche anfangs den einfachen Urdarm begrenzte, in ein verwickeltes System von Hohl- räumen und Kanälen umgewandelt, welche zur Aufnahme der Nahrung 382 Zehr.tes Kapitel zur Absonderung verschiedener Arten von Drüsensekreten, zur Resorp- tion etc. dienen. In sehr anschaulicher Weise läßt sich dieses Prinzip am Querschnitt durch eine Seerose, Actinie (Fig. 73) erkennen, die äußerlich einen ein- fachen Sack darstellt, aber im Innern durch sehr zahlreiche größere und kleinere Faltenblätter des Entoderms (Septen erster, zweiter, dritter und vierter Ordnung) ausgefüllt ist. Bei den Tieren wird aber die von innen aus erfolgende Organbildung noch weiter da- durch gesteigert, daß vom inneren Keimblatt auch Or- gane ihren Ursprung nehmen, die zwar selbst nicht zur Er- nährung dienen, aber doch zu ihr in näherer Beziehung stehen, weil sie auf Ernährung aus erster Hand angewiesen sind, um gut funktionieren Fig. 73. Querschnitt durch eine Actinie h i (Adamsea) unterhalb des Schlundrohrs. Nach zu können. So gesellen sich HERTwIG. 42 Richtungsfächer, zugleich Enden der Sagittalachse, welche die eine Symmetrie- denn zu Magen, Darm und ebene des Körpers bezeichnet, während die ihren sezernierenden Drüsen zweite dazu senkrecht steht. /—YV Zyklen der Septenpaare erster bis vierter Ordnung; 3 Binnen- noch manche andere Organe fach erster Ordnung; Z Zwischenfach erster Ord- hinzu, deren Mutterboden Dune Selchem Tau Angel nd Septenpaue gleichfalls das primäre innere nungf(g', 2", 2"). Keimblatt ist: die Leibes- höhlen und die aus ihrer Wand entstandenen Geschlechts- und Harnorgane, ferner die in die Rumpfwand eingebettete Muskulatur. Wenn man beim Tier versuchen würde, die inneren Oberflächen 3 zu berechnen, welche das Verdauungsrohr mit seinen Falten und Zotten, ferner die Drüsenkanälchen mit ihren feinsten Verzweigungen, endlich die serösen Höhlen zusammengerechnet ergeben, so würde man wohl zum Ergebnis gelangen, daß hier im Innern des Körpers auf kleinstem Raum eine Oberfläche entwickelt ist, welche in ihren gewaltigen Dimen- sionen noch die Oberfläche übertrifft, welche die Pflanze bei ihrer Gliede- rung in Zweige, Wurzeln und Blätter nach außen hin unter größerer Raumverschwendung, aber gleichfalls in zweckentsprechender Weise Anpassungen der .Organismen an .die leblose Natur 383 - für ihre ganz anders gearteten Bedürfnisse gebildet hat. Daher kann man zur kurzen Charakterisierung der pflanzlichen und vierischen Form- bildung sich wohl kurz dahin ausdrücken: die eine ist bei ihrer Ober- Jlächenentwicklung eine nach außen ‚die andere eine nach innen gerichtete. ( _ Ursächlich begründet aber ist diese diametral entgegengesetzte Bildungs- _ weise in der verschiedenen Art, wie Pflanzen und Tiere die Außenwelt zu ihrer Ernährung benützen und sich daher in verschiedener Weise "an sie angepaßt haben. Indem das Tier schon organisierte, feste Sub- _ stanzen von hohem Nährwert direkt in seinen Körper aufnimmt, ist es zugleich viel mehr als die Pflanze vom umgebenden Medium unab- hängig geworden. * Nicht minder deutlich wie in der Aufnahme und Verwertung der Nahrung tritt die Anpassung der Tiere an die leblose Umwelt in vielen anderen Einrichtungen hervor, unter denen ich noch einige von beson - derem Interesse und aus möglichst verschiedenen Gebieten zur Be- sprechung wähle: ı. die Atmungsorgane, 2. das Nervensystem, 3. die Sehorgane, 4. die Werkzeuge zur Fortbewegung, I. Die Atmungsorgäne. Außer organischer Substanz gebrauchen die Tiere zu ihrem Stoff- und Kraftwechsel Sauerstoff in reichlicher Menge. Seine ununter- brochene Zufuhr ist für das Leben der Zelle so wichtig, daß sie auch nicht für kurze Zeit unterbrochen werden darf. Zur Befriedigung seines Sauerstoffbedürfnisses kann das Tier, je nach dem Medium, in dem es lebt, den Sauerstoff entweder aus dem Wasser oder aus der Luft oder aus einem Wirts- und Mutterorganismus beziehen. Wenn es sich um ein- facher organisierte und im Wasser lebende Tiere ohne ein Blutgefäßsystem handelt, kann der Sauerstoffbedarf allein schon durch Aufnahme von. der ganzen Hautoberfläche aus ohne Ausbildung besonderer Atmungs- organe befriedigt werden, zumal wenn die Oberhaut aus einer dünnen Schicht kubischer oder platter Zellen besteht. Eine solche einfache Haut- atmung findet sich im ganzen Stamm der Cölenteraten, bei niederen Würmern (Chätognathen, Turbellarien) und bei einfacher gebauten Crustaceen. Die Hautatmung wird aber unzureichend, wenn bei höherer Organisation, bei Zunahme der im Inneren des Körpers gelegenen Or- gane und bei höherer geweblicher Differenzierung eine erheblich ver- 'mehrte Zellenmasse durch ihre Lage von dem direkten Verkehr mit der Außenwelt abgeschlossen ist, während das Atembedürfnis eine Steige- 384 Zehntes Kapitel, rung erfahren hat. Und noch mehr ist dies der Fall, wenn gleichzeitig die Körperfläche «ine für die Atmung ungeeignete Beschaffenheit, wie bei vielen höheren Tierklassen, angenommen hat. Ungeeignet kann sie dadurch werden, daß sie sich zur Abwehr aller möglichen Arten von schädigenden Einflüssen der Umwelt mit einer schützenden, für Sauer- stoff mehr oder weniger undurchlässigen Hülle bald in dieser bald in jener Weise umgeben hat. So sehen wir den Weichkörper bei den Tuni- caten durch einen dicken Zellulosemantel, bei vielen Abteilungen der Mollusken durch dicke Kalkschalen, bei Würmern und Arthropoden durch eine bald dickere, bald dünnere Chitinhülle geschützt. Bei Tieren, die auf dem Lande oder ın der Luft leben, bedarf die Oberhaut eines ausgiebigen Schutzes, damit ihre protoplasmatischen Zellen nicht durch die Sonnenbestrahlung und durch die Trockenheit der Luft direkt infolge Wasserverlustes zerstört werden. Daher sind bei den Reptilien, Vögeln und Säugetieren ihre oberflächlichen Zellagen in eine Hornsubstanz (Stratum corneum) umgewandelt, durch welche das darunter gelegene Stratum germinativum vor der Eintrocknung geschützt wird. Natur- gemäß wird aber durch alle derartigen, für besondere Zwecke nützlichen Einrichtungen der direkte Verkehr zwischen Oberhaut und Außenwelt beeinträchtigt. Und so wird auch die Hautatmung, die uns jetzt beschäf- tigt, mehr oder minder eingeschränkt oder ganz unmöglich gemachi, da dicke Zellulosemäntel, Chitinhäute, Kalkschalen oder Hornschichten ein Hindernis für den Durchtritt von Sauerstoff sind. Folglich muß unter diesen Umständen der für den Lebensprozeß erforderliche Sauerstoff- bedarf der betreffenden Tiere durch eigens für den Zweck. geschaffene Einrichtungen befriedigt werden. Es geschieht dadurch, daß der tierische Körper sich hierfür besondere respiratorische Oberflächen bildet, die‘ eine genügende Ausdehnung zur Befriedigung seines gesamten Be- dürfnisses an Sauerstoff besitzen. Respiratorische Oberflächen zeigen einige allgemeine, sie charakteri- sierende Eigenschaften, durch welche der Gasaustausch zwischen dem Körper und dem umgebenden Medium begünstigt wird. Erstens breitet sich in den Bindegewebsmembranen, die ihnen zur Grundlage dienen, ein reiches Gefäßnetz aus. Das durch den Körper des Tieres zirkulierende Blut (bei Wirbellosen die Hämolymphe) vermittelt den Gasaustausch: einerseits nimmt es in den inneren Organen und Geweben die durch Zerfall entstandene Kohlensäure auf und gibt sie an der respiratorischen Oberfläche als unbrauchbares Endprodukt des Stoffwechsels an die Außen- welt ab; auf der anderen Seite tauscht es hierfür als Ersatz Sauerstof ein, der dann bei der Zirkulation im Innern an die sauerstoffbedürftigen Anpassungen der Organismen an die leblose Natur. 385 Zellen abgegeben wird. Am vollkommensten erfüllt hierbei das Blut seine Vermittlerrolle, wenn in ihm chemische Verbindungen entstanden sind, die vermöge ihrer eigenartigen Struktur und labilen Affinität zum Sauerstoff ihn sowohl leicht aufnehmen als auch wieder leicht ab- geben können. Ein solcher Eiweißkörper ist das Hämoglobin der roten Blutkörperchen, das einerseits im reduzierten Zustand eine starke Affinität zum Sauerstoff in den Atmungsorganen zeigt, anderer- seits aber auch wieder als Oxyhämoglobin den Sauerstoff an die Ge- webe abgibt, die zu ihm mit stärkeren Affinitäten ausgestattet sind. So wird es ohne tiefergreifende Zersetzung in einfachster Weise auch wieder reduziert. Zweitens ist an den respiratorischen Flächen, je besser sie für ihren Zweck geeignet sind, um so mehr dafür gesorgt, daß das durch sie zirku- lierende Blut in möglichst unmittelbare, zum Austausch geeignete Be- ziehung zum umgebenden „sauerstoffhaltigen Medium tritt. Beide dürfen daher nur durch möglichst dünne Gewebsschichten getrennt sein. Das Blut zirkuliert unmittelbar unter dem Epithel in Hohlräumen, die nur durch eine Endothelhaut abgegrenzt sind, entweder in lakunären Bahnen oder in dichten Kapillarnetzen. Entsprechend ist auch die oberfläch- liche epitheliale Deckschicht des Körpers, mag sie vom äußeren oder inneren Keimblatt abstammen, nach Möglichkeit verdünnt, damit sie dem Gasaustausch kein Hindernis entgegensetzı (respiratorısches Epithel). Eine dritte Bedingung für eine ausgiebige Atmung ist der rasche Wechsel der miteinander in Austausch tretenden Stoffe. Beim Blut wird ein solcher durch seine Zirkulation herbeigeführt. Ebenso sind bei den äußeren Medien, die entweder Wasser oder Luft sind, verschieden- artige Vorkehrungen zu ihrer Erneuerung von seiten der Tiere getroffen. So sind bei Atmung im Wasser die respirierenden Oberflächen entweder mit Flimmerzellen, durch welche das Wasser in Bewegung erhalten wird, bedeckt oder sie sind selbst an beweglichen Körperanhängen, wie an den Extremitäten (Anneliden und Crustaceen), oder als Überzug von Hohl- räumen angebracht, durch die ein Wasserstrom hindurchgeleitet wird, wie die Kiemenhöhlen und Kiemenspalten (Tunicaten, Fische) lehren. Ebenso ist bei der Luftatmung in noch komplizierterer, später zu be- sprechender Weise für eine Erneuerung der Atemluft gesorgt. Unter Einhaltung dieser drei Bedingungen ist der Bau der Re- spirationsorgane selbst wieder von der Natur des umgebenden Mediums in leicht wahrnehmbarer Weise abhängig; er fällt daher verschieden aus, je nachdem es sich um echte Wasser- oder um Landbewohner handelt. Bei der Atmung im Wasser ist die Haut für die Entwicklung O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl. 25 386 Zehntes Kapitel. der respirierenden Flächen der zunächst gegebene Ort, da ja die Haut- atmung schon früher als die ursprünglichste Form bezeichnet werden mußte. Hier geschieht nun der erste Schritt zur Entstehung eines be- sonderen Organs in einfachster Weise dadurch, daß sich die allgemeine Atmung auf einzelne geeignete Bezirke lokalisiert und an diesen ge- steigert wird, indem sich die respierierende Fläche vergrößert und immer vollkommener den oben besprochenen drei Bedingungen entspricht. Wenn wir von einzelnen Besonderheiten =bsehen, entstehen auf diesem Wege im allgemeinen zwei Formen von Aimungsorganen, die für das Leben im Wasser berechnet sind un1sich in weiter Verbreitungundmannig- fach modifiziert in den Stämmen der Würmer, Mollusken, Crustaceen und im Stamm der Wirbeltiere, bei Fischen, Dipneusten und Amphibien finden. Die eine Form zeigt uns die Kiemenbüschel, die andere die Kiemenblättchen. Dort ist die respierierende Fläche in Fäden, die sich jenach Bedürfnis immer reicher zu einem Buschwerk verzweigen, dort in mehr oder minder dünnen Lamellen in das Wasser, aus dem der Sauerstoff bezogen werden soll, bineingewachsen. Zwei schöne Beispiele für die erste Form bieten uns die Kiemen- ° büschel der tubicolen Polychäten (der Terebelliden, der Sabelliden) und die äußeren Kiemenbüschel vieler Fisch- und Amphibienlarven. Dadurch, daß bei den tubikolen Ringelwürmern fast der ganze Körper zum Schutz in einer enganschließenden Röhre steckt, kommt er für die Atmung nicht mehr in Betracht; diese ist daher einzig und allein auf den vorderen Kopfabschnitt beschränkt, der aus dem Rohr nach außen hervorgestreckt und wieder zurückgezogen werden kann (Fig. 74). Die Kiemenbüschel (k), die den ganzen Körper mit Sauerstoff zu versorgen haben, sind auf das reichste wie ein Buschwerk verzweigt und werden schon durch den Strudel, der bei ihrem Ausstrecken und Einziehen entsteht, mit immer neuen Teilen sauerstoffhaltigen Wassers in Berüh- rung gebracht. In unserem zweiten Beispiel, bei Haifischembryonen, Amphibienlarven (Fig. 75), aber auch bei einzelnen ausgewachsenen perennibranchialen Amphibien, wie beim Olm der Adelsberger Grotte, sind die äußeren Kiemenfäden und Büschel (br) zu beiden Seiten des Halses von der Haut einzelner Schlundbögen (kb) in reicher Verzweigung (br) ausgebildet worden. Blattförmige Kiemen werden bei den Crustaceen und bei den nie- deren Wirbeltierklassen angetroffen. Bei den meisten Crustaceen ist die Lokalisierung der Atmung auf einzelne Hautbezirke, die in Blätter umgewandelt sind, infolge der Bedeckung ihrer Körperoberfläche mit einem Chitinskelett notwendig geworden. Nur im Bereich der Kiemen- Anpassungen der Organismen an die leblose Natur. 387 blätter ist die allgemeine Chitinisierung auf ein geringes, einen Gaswechsel noch gestattendes Maß beschränkt worden. In der Regel sind die Kiemen- blätter an der Basis oder an einem der folgenden Segmente der gegliederten Extremitäten, bald fast an allen. bald nur in einem bestimmten Körper- abschnitt, entstanden, oder sie liegen an der Seite des Rumpfes, aber auch in diesem Fall in der Nähe des Ursprungs der Gliedmaßen. In dieser Beziehung, wie auch in der Form der Kiemenblätter herrscht die größte Mannigfaltigkeit bei den Phvllopoden, Branchiopoden, Amphipoden, Fig. 74. Vielfach verzweigte Kiemenbüschel am Kopf von Terebella emmelina. Nach B. HaLLer. Z Kiemenbüschel, /f Fühlfäden. Schizopoden, Decapoden (Fig. 76). Der bei dieser Lokalisation vorhandene “Vorteil einer beständigen und ergiebigen Wassererneuerung liegt klar zutage. Im Hinblick auf die große Formenmannigfaltigkeit bemerkt GEGEN- BAUR in seiner Vergleichenden Anatomie (2. Aufl., 1870): ‚Die allmäh- liche Ausbildung der Kiemenorgane läßt sich von Stufe zu Stufe durch die ganze Reihe der Krustentiere verfolgen, und es sind die Funktionen der Atmungund der Ortsbewegung häufig so innig miteinander verbunden, daß es oft schwer ist, zu entscheiden, ob gewisse Formen der paarigen Körperanhänge als Kiemen oder als Füße oder als beides zugleich gelten 25° 388 Zehntes: Kapitel. müssen. Nicht selten ist diese Umwandlung der Lokomotionsorgane in Atmungswerkzeuge in der Reihenfolge der Gliedmaßen eines und desselben Individuums wahrnehmbar. Die Körpersegmente, an denen Fig. 76. a H I | ; N £ J Fig. 75A. Querschnitt durch die Kiemenregion einer Anuren- larve mit den äußeren Kiemen- büscheln. Etwas vergr. Nach FR. EILH. SCHULZE. B. Ende des Filters bei stärkerer Vergrößerung, #5 Quer- schnitt des knorpeligen Kiemenbogens, br verzweigte Kiemenäste, « Kiemenarterie, © Kiemenvene im (Juerschnitt, 55/ Basalplatte, zZ mittlere Lamelle,! /%r Filterapparat. ZFig.276. Querschnitt durch den Cephalothorax des Flußkrebses in der Gegend des Herzens und der Kiemenblätter. Schematisch. Nach HuxLEY aus LANG. %d Kiemendeckel, # Kiemen, #% Kiemen- oder Atemhöhle, e3 Seitenwand des Cephalotborax, #c Pericard, 7 Herz, sa Sternalarterie, 7 Hepatopancreas, d Darm, abm ventrale Längsmuskeln zum Abdomen, döm dorsale Längsmuskeln zum Abdomen, dr Bauchmark, s»z Subneuralgefäß, #/ Gehfuß, vs ventraler Sinus, ov Ovarium. Die Pfeile geben die Richtung des Blutstroms an. Kiemenbildungen auftreten, sind sehr verschieden, so daß man sagen kann, die Gliedmaßen jedes Segmentes seien befähigt, Kiemen vorzu- stellen oder, aus einem ihrer beiden primitiven Äste Kiemengebilde entwickelnd, als Träger derselben aufzutreten. Wie :der Ort, so Anpassungen der Organismen an die leblose Natur. 389 wechselt auch die Zahl und die spezielle Struktur dieser Atmungs» organe.““ Bei den kiemenatmenden Wirbeltieren haben sich die Kiemen- blättchen in großer Anzahl, angeordnet wie die Blätter eines Buches (Fig. 77 kb), an den Wänden der Schlundtaschen und -spalten entwickelt. Sie befinden sich in einer der Funktion günstigen Lage, insofern für ine genügende Erneuerung des Atemwassers bei der Durchströmung durch die Schlundspaiten gesorgt ist. Wenn wir das Gemeinsame, welches dem Bau aller für Atmung im Wasser eingerichteten Organe zugrunde liegt, in das Auge fassen, so läßt sich wohl sagen, daß die zur Respiration geeignete Ober- fläche des tierischen Körpers bei ihrem Wachstum den Sauerstoff aufsucht, indem sie reich vasku- larisierte, verzweigte Fäden (Fig. 74 u. 75) oder dünne Blätter (Fig. 76 u. 77) bildet und sie in das sauerstoffhaltige Medium hin- einsendet. Der Vorgang ist prin- zipiell kein anderer, als wenn das Plasmodium eines Schleim- pilzes durch Ausstrecken von Pseudopodien der Sauerstoffquelle entgegenwandert oder eine Pflanze mit ihren blattragenden Zweigen | nach dem Lichte hin wächst oder au Bi eenepbentel ER mit ihrem Wurzelwerk die Boden - sack, kb ‚vordere, kb‘ hintere Kiemenblätter- feuchtigkeit aufsucht. oe er Einen Gegensatz hierzu lassen muskulatur, - Epithel. die zur Luftatmung dienenden Organe erkennen. — Da bei landbewohnenden Tieren ihre Körper- oberfläche die zur Atmung geeignete Qualität aus früher besprochenen Gründen durch Verhornung verloren hat, wird der Gasaustausch ın das Innere des Körpers verlegt. Es wiederholt sich ein ähnlicher Vorgang wie bei der Ernährung. Die Atemluft wird in besondere, für sie bestimmte, innere Hohlräume aufgenommen, deren Wand die Eigenschaft einer respi- rierenden Fläche gewinnt und trotz ihrer beständigen Berührung mit der Luft sich gleichwohl feucht erhalten kann. Denn einmal wird die Epithel- fläche infolge ihrer Lage im Innern des Körpers durch den Gewebssaft 390 Zehntes Kapitel. angefeuchtet, und zweitens gewinnt auch die Atemluft bald nach ihrem Eintritt in den Körper schon an und für sich einen höheren Wassergehalt, indem sie über die ausgedehnten feuchten und auf Körpertemperatur gehaltenen Schleimhautflächen der Nase und des Bronchialbaums streicht. Die nach diesem Prinzip gebauten Respirationsorgane zerfallen, wenn wir von mehr untergeordneten Bildurigen absehen, wieder in zwei genetisch und anatomisch verschiedene Arten, in die Lungen und in die Tracheen. Wenn wir mit Übergehung der Tracheen, welche eine eigen- artige, isoliert dastehende Einrichtung der Myriapoden, Arachniden und Insekten sind, uns allein auf die Betrachtung der Wirbeltier-Lungen beschränken, so sind diese aus einem Organ entstanden, das schon bei Fig. 78. Schematisierte Längsschnitte durch Lungen, um die Größen- zunahme der respiratorischen Oberfläche zu zeigen. Nach RICHARD HERTWIG. ı Lunge eines jungen Salamanders, 2 einer Schildkröte, 3 des Menschen; 4 ein Bronchiolus der menschlichen Lunge, stärker vergrößert; „ Alveolargang, a Alveoli, e Endbläschen. Fischen, die nur durch Kiemen atmen, vorhanden ist und mit der Atmung ursprünglich nichts zu tun hat. Es ist die Schwimmblase, die sich als Ausstülpung aus dem vordersten Abschnitt des Darmrohres entwickelt. Mit Luft gefüllt, die wenig erneuert wird und viel Kohlensäure enthält, stellt sie ursprünglich einen aerostatischen Apparat, d. h. eine Einrich- tung dar, die das Gewicht des Körpers beim Aufenthalt im Wasser leichter macht. Beim Schwimmen in größeren Tiefen und beim Auf- steigen an die Oberfläche wirkt sie dadurch mit, daß ihr Umfang durch Kontraktion der muskulösen Wandung verkleinert und wieder vergrößert werden kann. Zur Lunge wird die Schwimmblase demnach durch einen Funk- tionswechsel, der sich bei den Dipneusten und Amphibien (Fig. 78,1) vollzieht und zum Teil direkt verfolgt werden kann. Bei der Schwimm- tn, Anpassungen der Organismen an die leblose Natur, 391 blase ist ja die Gelegenheit und Vorbedingung zur Ausbildung der Atem- funktion im vollen Maße und in leicht verständlicher Weise gegeben. Braucht doch bloß eine häufige und regelmäßige Emeuerung der ins Körperinnere aufgenommenen Luft einzutreten, damit die Wand des Hohlraums zu einer Atemfläche umgewandelt wird. Wer im Aquarium gezüchtste Perennibranchiaten, die gleichzeitig durch Kiemen und durch Lungen atmen, und Amphibienlarven, die vor ihrer Metamorphose das gleiche tun, aufmerksam beobachtet, kann feststellen, wie sie häufiger zur Wasseroberfläche hinaufschwimmen und durch Emporstrecken des Kopfes Luftblasen aus der Lunge ausstoßen und durch Einatmen sauerstoffhaltiger Luft ersetzen. Ein allmählicher Übergang von der einen zur anderen Atmungsweise kann sich unter diesen Umständen leicht und ohne Störung für den Körper vollziehen, wenn sich die innere Lungenoberfläche vergrößert. Je mehr durch sie das Sauerstoffbedürfnis des Körpers befriedigt wird, kann die für das reine Wasserleben berechnete, respirierende Oberfläche der Kiemen nach dem Prinzip des korrelativen Wachstums entsprechend abnehmen. Die Lungenbinnenfläche aber vergrößert sich bei den an ein reines Landleben angepaßten Wirbeltieren, im Vergleich zu der ursprünglich glatten Wand der Schwimmblase, um das Vielhundert- und Tausendfache durch fortgesetzte Faltenbil- dung (Fig. 78, I—4). Beim Menschen (Fig. 78, 3—4) führt dies schließlich dazu, daß ein reich verzweigter Bronchialbaum mit feinsten Bronchioli und ihren respiratorischen Endbläschen, den Alveolen, entstanden ist und daß das drüsenartig gebaute, blutstrotzende Organ vermöge seiner enormen Öberflächenentwicklung den ganzen Sauerstoffbedarf des Körpers zu decken vermag. Durch Verlegung der Atmung in das Innere des Körpers wird mit anderen Mitteln derselbe Zweck in ebenso vollkommener Weise wie durch die Kiemenatmung erreicht. In dem einen Fall} ist das Mittel eine nach außen gerichtete Vergrößerung der Oberfläche der Haut durch Faltenbildung, im anderen Fall die Umwandlung eines ursprünglich sackartigen, aus dem Darm entstandenen Hohlraums (Fig. 78, I) in ein äußerst zusammengesetztes Höhlensystem (Fig. 78, 2—4). Für einen ergiebigen Luftwechsel in demselben durch In- und Exspiration ıst die Mithilfe von verschiedenen anderen Organen, von Muskelgruppen 'n den Wandungen des Brustkorbs, vom Zwerchfell etc. erforderlich, damit die Lunge beim Einatmen ausgedehnt, beim Ausatmen wieder zusammen- gepreßt wird. Um die fein verzweigten Hohlgänge des Bronchialbaums für den durchtretenden Luftstrom offen zu erhalten, sind seine Wan- dungen durch halbringförmige Knorpelstückchen gestützt 392 Zehntes Kapitel. Bei den Tracheen wird derselbe Zweck durch einen feinen, von den Wandzellen abgesonderten Chitinfaden erreicht, der in Spiralwin- dungen die Wandungen bis in die feinsten kapillaren Luftröhrchen umspinnt und für den Luftstrom offen erhält. Die Abhängigkeit der tierischen Formbildung von äußeren Faktoren, welche an den Atmungsorganen wegen ihres relativ einfachen und durch die Funktion bedingten Baues deutlich hervortritt, läßt sich noch durch eine entwicklungsgeschichtliche und durch eine physiologische Betrach- tung nach zwei Richtungen weiter verfolgen. Zum Gegenstand der entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung wähle ich die Atmungsorgane der drei höheren Wirbeltierklassen. Die Entstehung von Schlundspalten (Fig. 20—24) in der Halsgegend kann mit Recht, wie schon im V. Kapitel (S. 178—ı82) hervorgehoben wurde, als Argument für die Ansicht geltend gemacht werden, daß auch die Vorfahren der Reptilien, Vögel und Säugetiere einmal als Wasserbewohner durch Kiemen geatmet haben. Da nun aber bei diesen zu keiner Zeit auch nur die geringste Spur von Kiemenblättchen an den Wänden der Schlundspalten gefunden wird, muß, wenn die vorausgeschickte Hypothese richtig ist, das ursprüngliche Atmungsorgan sich bis auf die Spalten voll- kommen rückgebildet haben. Der Ausfall aber wird verständlich, da unter den gegebenen Entwicklungsbedingungen eine Funktion der Kiemen- blättchen gar nicht würde eintreten können. Ist doch der Embryo der Amnioten durch den Amnionsack vom Verkehr mit der Außenwelt abgeschlossen und von der sauerstoffarmen Amnionflüssigkeit umspült, so daß jeder Anreiz zur Entwicklung einer respirierenden Oberfläche an dieser Stelle fehlt. In derselben Lage befindet sich freilich auch die Lunge, die sich früh als zukünftiges Atmungsorgan entwickelt, aber als solches nicht dienen kann, solange der Embryo in seine Hüllen ein- geschlossen ist. Ihre Ontogenese läßt sich daher, wie fast bei allen Or- ganen, nur durch Vererbung erklären. Daß in diesem Fall aber ein Unter- schied in der Vererbung der Kiemen und der Lungen besteht, kann wohl nicht in Abrede gestellt werden. Denn die ersteren sind für die Organisation der Amnioten überflüssig geworden und konnten daher auch aus dem Vererbungsprozeß ganz ausgeschaltet werden; die Lungen dagegen, die bei ihrer Anlage Organe von prospektiver Potenz sind, fallen ganz und gar in seinen Wirkungsbereich und müssen sich für zu- künftigen Gebrauch schon früzeitig anlegen, wie die Augen und die meisten anderen Organe, lange bevor sie wirklich eine funktionelle Bedeutung gewinnen. Das verschiedene Verhalten in der Entwicklung der Kiemen und u # k “ . Bi wird bei den Amnioten um so interessanter, als ohne Atmung auch ihr Embryo auf keinem Stadium seiner Entwicklung lebensfähig ist. Da nun weder durch das ursprüngliche Atmungsorgan der Vorfahren der Sauerstoffbedarf des Embryo befriedigt werden kann, wie es bei den im Wasser vorübergehend lebenden Larven der Anuren noch der Fall ist, und da auch die Lunge, obwohl sie angelegt wird, trotzdem unter den eigentüm'ichen Entwicklungsverhältnissen der Amnioten für längere Zeit nicht funktionieren kann, hat sich noch ein drittes, nur für die embryonale Periode bestimmtes und daher nur provisorisches Atmungsorgan bei den Embryonen der Reptilien, Vögel und Säugetiere entwickelt. Auch für seine Entstehung ist maßgebend der Ort, an welchem die Möglichkeit zu einem Gasaustausch zwischen Embryo und Außen- welt gegeben ist. Da der Embryo der Amnioten in Hüllen eingeschlossen ist, können diese allein für die Atmung in Betracht kommen, und unter ihnen eignet sich am besten der Harnsack, dessen Wand mit einem Gefäßnetz versorgt ist. Während des ganzen embryonalen Lebens fällt daher bei den Rep- tilien und Vögeln dem Allantoiskreislauf dieselbe Aufgabe wie dem Lungen- kreislauf zu. Der Harnsack wächst bei ihnen bis dicht unter die Eischale, wo sich die Luftkammer befindet, also gleichsam dem Sauerstoff ent- gegen, und breitet sich, nur von der dünnen, serösen Hülle bedeckt, in ‚großer Ausdehnung aus. Auch bei den Säugetieren vermittelt der Harnsack unter den Ver- ‚hältnissen, die bei ihnen bestehen, die embryonale Atmung. Da aber bei ihnen der Embryo, eingebettet in die Schleimhaut der Gebärmutter, überhaupt von jedem direkten Verkehr mit der Außenwelt vollständig abgeschlossen ist, kann er nur durch Vermittlung der Mutter den Sauer- stoff beziehen, welchen sie durch ihre Lungen von außen aufgenommen hat. Wie bei den Reptilien und Vögeln, dient auch hier für diesen Zweck das Gefäßsystem der Allantois auf Grund seiner oberflächlichen Lage. Beim Fötus des Menschen z. B. lagert sich das Chorion der von Blut durch- strömten Decidua basalis an und wächst in diese mit seinen von der Al- lantois erhaltenen Gefäßen hinein, dasmütterliche Blut aufsuchend; reich- verzweigte Zottenbüschel entstehen (Fig. 70), vergleichbar den Kiemen- büscheln wasserbewohnender Tiere (Fig. 74u. 75). Das sie durchströmende, durch eine Arteria chorialis in den Zottenstamm einströmende Blut des Embryo (Fig. 79 A ch) breitet sich in einem oberflächlichen Kapillarnetz aus und tritt mit dem Blut der Mutter, von dem es nur durch dünne Ge- websschichten getrennt ist, in einen Gasaustausch anstatt mit dem sauer- stoffhaltigen Medium der Umwelt. Beim Menschen, wo die intrauterine Anpassungen der Organismen an die leblose Natur. 393 7 Bo 394 Zehntes Kapitel. Ernährung durch die Placenta am vo!lkommensten geworden ist, tauchen gleichsam die Zottenbüschel in das mütterliche Blut, das in weiten La- kunen, den intervillösen Räumen, eingeschlossen ist, unmittelbar hinein, wie die mit ihnen verglichenen Kiemenbüschel (Fig. 74 u. 75) in das Wasser. Bei einem Überblick über die Placentaeinrichtungen, die in den Dec he DZ GE AT. ch x [rn —A.ch i V.ch t —— — A : t Fig. 79. Ein durch Zerzupfen isoliertes Zottenbäumchen aus dem Chorion Re | frondosum eines menschlichen Embryo der 8. Woche. Nach KoLLMAnN. Jedes Zottenbäumchen wurzelt auf der Membrana chorii (1/.ch), deren Epithel und deren Bindegewebe angegeben sind. Auf der Schnittfläche ist der eintretende Ast der Nabel- arterie (Arteria chorialis |A.c/ ) zu sehen. Die Zufubr des Blutes ist durch den Pfeil erkennbar. Aus den Zottenbäumchen kommt die rückführende Vene, Vena chorialis (T.ch).. 4A. Amnion, Dec. Decidua, 7”. Villi, Zotten. y verschiedenen Ordnungen der Säugetiere in großer Mannigfaltigkeit beobachtet werden, kann man unschwer wieder das allgemeine” Gesetz erkennen, daß die Größe der zum Gasaustausch dienenden Ober- H fläche des Chorion durch den Bedarf bestimmt wird. Je länger die enbiyd nale Entwicklung dauert und je größer und reifer die Embryonen bei ihrer Geburt sind, um so ausgedehnter wird die mit der Uteruswand” in Wechselwirkung tretende Chorionoberfläche, um so zahlreicher werden Anpassungen der Organismen an die leblose Natur. 395 _ die Zöttchen, um so reicher ihre Verzweigungen bis zur Entstehung eines Chorion frondosum; um so vollkommener gestalten sich zugleich alle übrigen Einrichtungen, durch welche der Austausch zwischen kindlichem und mütterlichem Blutstrom erleichtert wird. Zum Schluß noch eine physiologische Betrachtung, die ich meiner Allgemeinen Biologie entnehme und für geeignet halte, die Entstehung der morphologischen Verhältnisse, wie ich hoffe, unserem Verständnis ‚noch etwas näher zu bringen. Dadurch, daß die Zellen des tierischen Körpers bei ihrem Wachs- tum und bei ihrer Tätigkeit Kohlensäure produzieren und Sauerstoff absorbieren, veranlassen sie Diffusionsströme, die an verschiedenen Orten stattfinden, einmal zwischen den Zellen und den sie umspülenden Ge- webssäften (Lymphe und Blut) und zweitens zwischen dem Blut und dem Medium, in welchem der betreffende Organismus lebt. Durch die Diffusionsströme wird ein Ausgleich in der Gasspannung zwischen den ver- schiedenen Geweben, schließlich zwischen dem Organismus und seiner Umgebung herbeigeführt. Beiniederen Tieren findet der Ausgleich an der ganzen Körperoberfäche statt, bei höheren Tieren dagegen, bei denen ihre Oberhaut infolge anderer Einwirkungen die hierfür geeignete Be- schaffenheit verloren hat, wird er mehr und mehr auf bestimmte Stellen beschränkt, die je nach ihrem Bau als Kiemen, Lungen, Tracheen, Placenta bezeichnet werden. Nun muß, wie eine einfache Überlegung lehrt, ein jeder Organismus ein bestimmtes Atembedürfnis besitzen, dessen Größe von der Zahl der Zellen und der Lebhaftigkeit ihres Lebensprozesses abhängt. Soll es nicht zu einer Kohlensäureaufspeicherung im Körper und zu einem Sauer- stoffmangel kommen, so muß die Funktion der Respirationsorgane genau diesem Bedürfnis angepaßt sein. Für jeden Organismus muß daher die respirierende Oberfläche entweder der Kiemen oder der Lungen oder der Tracheen oder der Placenta eine genau entsprechende Größe besitzen, damit der Gasaustausch in entsprechender Weise stattfinden kann. Die Atmungsorgane müssen daher so lange wachsen und ihre Oberfläche vergrößern, sei es durch Falten- und Zottenbildung, wie bei den Kiemen und der Placenta, oder durch Alveolenbildung, wie bei den Lungen, bis der notwendige Ausgleich eingetreten ist. Wodurch wird dieses Wachstum des einzelnen Teiles in Korrelation zum Bedürfnis des Ganzen reguliert ? Der Gedanke von HERBERT SPENCER, daß es der Diffusionsstrom des Sauerstoffes und der Kohlensäure oder die Höhe der Gasspannung ist, welche auf die zur Atmung dienenden Körperstellen als Wachstumsreiz wirkt, scheint mir den Weg zu eineı 396 Zehntes Kapitel. naturgemäßen Erklärung anzuzeigen. Die respirierende Oberfläche wächst so lange, bis die Gasspannung zwischen dem Körper und dem umgebenden Medium auf einen bestimmten Grenzwert herabgesetzt ist. In dieser Weise erklären sich wohl die Beobachtungen, die SCHREI- BERS an Proteus anguineus angestellt hat, einem Amphibium, das sowohl durch Kiemen als durch Lungen atmet. SCHREIBERS hat beim Proteus bald die Kiemen, bald die Lungen zu mächtiger Entwicklung als Haupt- atmungsorgane gebracht, je nach den Bedingungen, unter denen er die Tiere züchtete. Wurden die Tiere gezwungen, in tieferem Wasser zu leben, so entwickelten sich die Kiemen bis zum Dreifachen ihrer gewöhn- lichen Größe, während die Lungen zum Teil atrophierten. Bei einem Aufenthalt in seichterem Wasser dagegen wurden die Lungen größer und gefäßreicher, weil jetzt die Tiere häufiger an die Oberfläche kamen und Luft einatmeten. Da durch die Lungen dem Atembedürfnis unter diesen Lebensverhältnissen besser genügt wurde, verschwanden die Kiemen mehr oder weniger vollständig. 2. Das Nervensystem. Nächst den schon besprochenen Organen der Ernährung und der Atmung befähigen uns das Nervensystem und die Sinnesorgane, die innigste Fühlung mit unserer Umgebung zu unterhalten und Kunde von den Veränderungen in ihr durch thermische, optische, chemische, akustische und mechanische Eindrücke zu gewinnen. Durch ihre voll- kommenere Ausbildung erhebt sich das Tier am meisten über die Pflanze und wird zu den höchsten Leistungen des Lebens befähigt. Zwar ist auch die Pflanze für viele Reize empfindlich; denn Reaktionsfähigkeit gegen die Umwelt gehört ja zu den allgemeinen Grundeigenschaften der lebenden Substanz. Aber in der Vervollkommnung dieser Reaktionsfähigkeit durch Ausbildung der wundervollsten Werkzeuge besteht eines der hervor- stechendsten Unterschiede der tierischen gegenüber der pflanzlichen Organisation. Wahrscheinlich ist der Unterschied von Anfang an in der ganzen Natur der pflanzlichen und der tierischen Zelle tief begründet in ähnlicher Weise wie der Unterschied zwischen pflanzlicher und tierischer Ernährungsweise. Wie schon früher hervorgehoben wurde, treten die tierischen Zellen, da sie bald nackt, bald nur durch sehr feine Mem- branen abgegrenzt sind, in einen viel unmittelbareren Verband und in eine viel innigere Pfihlung untereinander als die von derben Zellulose membranen eingeschlossenen, mit viel Flüssigkeit erfüllten, anatomisch und funktionell viel selbständigeren Pflanzenzellen. Infolgedessen sind Anpassungen der Organismen an die leblose Natur. 397 ‚sie ihrer ganzen Anlage nach nicht nur viel mehr befähigt, äußere Reize wahrzunehmen, sondern auch den an einem Punkt empfangenen Ein- druck von Zelle zu Zelle fortzuleiten und dem ganzen Zellverband zu _ übermitteln. | Wenn durch die Gastrulation sich eine äußere und eine innere Epithel- schicht gebildet haben, kann als selbstverständlich angenommen werden, daß die so entstandenen Beziehungen der beiden Keimblätter zur Umwelt auch als die wirklichen Ursachen für ihre Arbeitsteilung und Differen- _ zierung, wie sie im ganzen Organismenreich eingetreten ist, angesehen - werden müssen. Während die Gastrulahöhle durch Aufnahme von fester _ organischer Nahrung zu einer Magendarmhöhle und ihr Epithel zu einer _ sezernierenden und resorbierenden Fläche umgewandelt wird, ist das Ekto- “ derm durch seine Lage das prädestinierte Vermittlungsorgan für alle _ Eindrücke, welche die Oberfläche des tierischen Körpers treffen. Daher “erscheint es in der Natur der Dinge begründet, daß in allen Stämmen des Tierreiches Nervensystem und Sinnesorgane an der Körperoberfläche aus dem Ektoderm ihren Ursprung nehmen. Es ist Hautsinnesblatt nach der treffenden Namengebung von CARL E. v. BAER. Auch lassen sich bestimmte Gesetzmäßigkeiten in der Art und Weise nicht verkennen, in welcher sich die speziellen Formen des Zentralnervensystems und der einzelnen Sinnesorgane in den verschiedenen Stämmen des Tierreiches aus dem allgemeinen primitiven Hautsinnesblatt hervorgebildet haben. Da das hier vorliegende Forschungsgebiet durch vergleichend- anatomische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen sehr ge- fördert worden ist und für die Frage nach der Entstehung tierischer Organe unter dem Einfluß äußerer Faktoren hervorragende Wichtigkeit besitzt, sollen ihm einige unserem Zweck dienliche Betrachtungen ent- nommen werden. Ein ektodermales Nervensystem primitivster Art wird in den Stämmen der Cölenteraten !) und Echinodermen, sowie bei einigen Abteilungen niederer Würmer beobachtet (Fig. 80). Hier sind alle Sinnes- und Ganglienzellen (s und g), sowie alle Nerven- fibrillen noch Bestandteile der Epidermis selbst. Entwedeı finden sie sich mehr überall verteilt, oder sie sind, wie es am häufigsten der Fall ist, an bestimmten, hierfür besonders geeigneten Stellen, z. B. an der Spitze von Fortsätzen oder in der Umgebung der Mundöltnung, zusammengedrängt und gruppenweise vereint. Durch feine Ausläufer, 1) Hertwig, Oscar u. Richard, Das Nervensystem und die Sinnesorgane der Medusen, monographisch dargestellt, Leipaäg 1878. — Dieselben, Die Actınion, Jena 1879. 398 Zehntes Kapitel. die sich zu Nervenfibrillen differenziert haben, sind die Sinneszellen (s) mit anderen etwas größeren Epithelzellen (g) verbunden, die der unteren Lage des mehrschichtigen Ektoderms angehören. Sie müssen als Ganglien- zellen gedeutet werden, um so mehr, als sie auch durch Nervenfibrillen mit Muskelelementen (em) zusammenhängen, die ebenfalls nach Lage und Herkunft Bestandteile der Oberhaut sind und daher den Namen von Epithelmuskelzellen erhalten haben. em Fig. So. Schematische Darstellung vom ektodermalen Nerven-, Sinnes- und Muskelsystem der Cölenteraten. Nach HERTwIG. Über der Stützlamelle, welcher das Ektoderm (Epidermis) aufliegt, breitet sich eine Schicht Nervepfibrillen und‘ unter diesen eine Lage glatter oder quergestreifter Muskelfasern aus. Im Nervengeflecht sind größere und kleinere Ganglienzellen, die zur tieferen Schicht der Epidermis noch hinzugehören, eingebettet. Die Muskelfasern aber gehören dem basalen Ende von Epithelzellen an, von denen sie differenziert worden sind. Die übrigen Epithelzellen zerfallen in Stützzellen (s) und Sinneszellen (s). Letztere geben an ihrem basalen Ende in feine Nervenfibrillen über, die sich in dem subepithelialen Nervengeflecht ver- lieren. s Epithelsinneszellen, o Epithelganglienzellen, ez Epithelmuskelzellen, s? Epi- thelstützzellen, »» Muskelfasern. Die Sinneszellen, die Ganglienzellen und die Epithelmuskelzellen bilden wegen ihres Zusammenhanges mit Nervenfibrillen ein einheit- liches, zwischen indifferente Epidermiszellen (st) eingebettetes System, durch das Reize verschiedener Art wahrgenommen, im Körper von den Empfangsstellen aus nach allen Richtungen fortgeleitet und Muskelzellen übermittelt werden, die als Erfolgsorgane durch Kontraktionen darauf reagieren. E Nach dem Prinzip der Arbeitsteilung ist die Entstehung eines der- Anpassungen der Organismen an die leblose Natur. 399 artig zusammengesetzten Nervenmuskelsystems nicht schwer zu begreifen. jenn wir davon ausgehen, daß protoplasmatische Verbindungen schon im primären Keimblatt zwischen den benachbarten, flächenartig als _ Epithel ausgebreiteten, tierischen Zellen bestehen, so haben wir damit auch schon die einfache Grundlage für ein Nervensystem vor uns. Denn schon das Protoplasma ist eine reizleitende Substanz, so daß sich auch durch protoplasmatische Verbindungen Erregungen von einem Punkt der Körperoberfläche nach weiter abgelegenen Stellen fortpflanzen _ können. Bei jedem Reizvorgang, der sich in einer so primitiv organisierten Zellgemeinde abspielt, lassen sich drei Phasen als Reizempfang, als _ Reizfortleitung oder -übermittlung und als Reizerfolg unterscheiden. Hiermit ist eine physiologische Grundlage für eine dreifache histologische Differenzierung gegeben. Infolgedessen können sich im System an hierzu geeigneten Stellen besondere Zellgruppen zu Reizempfängern entwickeln. Es geschieht dies durch Ausbildung von Strukturen, die sie zur Reiz- aufnahme geeignet machen. Auch sie müssen wieder verschieden aus- fallen, je nachdem die von außen einfallenden Reize mechanische, pho- tische, chemische, thermische etc. sind. Schon seit langer Zeit hat uns die vergleichende Morphologie mit Tast-, Seh-, Hör-, Schmeck- und Riech- zellen bekannt gemacht, die, an besonderen Strukturen kenntlich, sich in den verschiedensten Stämmen, Klassen und Ordnungen des Tier- reichs in ähnlicher Weise wiederfinden. Die Morphologen sind von der Beweiskraft der Merkmaie, die von ihnen als Erkennungszeichen ange- nommen werden, so überzeugt, daß sie an der Richtigkeit der Deutung, es mit Tast-, Seh-, Hör- und Riechorganen zu tun haben, keinen Zweifel hegen, auch wenn für die meisten Abteilungen des Tierreichs der physio- logische Beweis hierfür nicht geführt ist. Tastorgane sind zu erkennen an Tastzellen mit Borsten, die über die Oberfläche hervorstehen, Augen an Sehzellen mit Stäbchen, die hinter einem lichtbrechenden Körper liegen und in Pigment eingehüllt sind, Gehörorgane an Hörzellen, die Hörhaare tragen und an der Wand einer Grube oder einer Blase mit einem ÖOtolithen angebracht sind. Reize, die durch Sinneszellen von außen aufgenommen und weiter fortgeleitet werden, rufen im vielzelligen Organismus in den Erfolgs- organen Reaktionen hervor, die entweder zu einer Sekretion oder zu einer Kontraktion führen und so zum Ausgangspunkt für eine neue Ar- beitsteilung werden. Demnach können auch die Erfolgszellen verschiedene Differenzierungen erfahren. Unter ihnen ist die Umwandlung einfacher Epithel- in Epithelmuskelzellen (Fig. 8o em) die wichtigste und am 400 Zehntes Kapitel. weiteseten verbreitete. Durch Ausscheidung kontraktiler, glatter oder quergestreifter Fibrillen wird das allgemeine Vermögen des Protoplasma, durch Zusammenziehung auf Reize zu reagieren, noch weiter vervoll- kommnet. Die indifferente Epithelzelle wird in eine Muskelzelle umge- wandelt. Die dritte Differenzierung in dem System der durch Protoplasma- fäden verbundenen Oberhautzellen hat zur Entstehung von Ganglien- zellen und Nervenfasern geführt. Zellen, die sich weder zu Sinneszellen durch Ausbildung besonderer Empfangsapparate noch zu Drüsen- oder Muskelzellen umgebildet haben, sind zur Reizfortleitung und -übermitt- lung geeignet. Auch diese Aufgabe ist einer weiteren Vervollkommnung fähig. Ebenso wie die allgemeine Kontraktilität der Zelle durch Differen- zierung der Muskelfibrille, kann ihre allgemeine Irritabilität durch Aus- bildung reizleitender Strukturen erheblich gesteigert werden. Eine solche Struktur ist die Nervenfibrille, durch welche Reize erheblich schneller als durch Protoplasmafäden fortgeleitet werden, wie durch physiologische Versuche über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Reizes in den Nerven zahlenmäßig festgestellt worden ist. Auf diese Weise, — kann man wohl annehmen, — sind in dem oberflächlichen Zellennetz Proto- plasmaverbindungen, die für Reizleitung stärker beansprucht wurden, in wirkliche Nervenbahnen und ebenso die in ihrem Verlauf gelegenen Vermittlungszellen, die sich durch Reichtum ihrer Verbindungen nach den verschiedensten Richtungen auszeichnen, aus Epithel- zu Ganglien- zellen differenziert worden. Wie ist aus dieser Urform das so abweichend gebaute und gelagerte Nervensystem der höheren Tiere, besonders aber der Säugetiere, ent- standen zu denken ? Liegen doch bei den Säugetieren Hirn und Rücken- mark tief unter der Epidermis des Rückens, eingehüllt in bindegewebige Häute, umschlossen von einer Schädelkapsel und Wirbelsäule und da- durch vor Verletzungen geschützt, zum Teil bedeckt von vielen Muskel- lagen und von der Lederhaut. Infolge dieser Lage nehmen auch die vom Zentralorgan entspringenden motorischen und sensiblen Nerven mehr oder minder weit von der Oberfläche entfernt ihren Verlauf, und es dringen nur die Endzweige der sensiblen Nerven bis zur Körperoberfläche heran, um mit peripheren Empfangsapparaten in Verbindung zu treten. Veı gleichende Anatomie und Entwicklungsgeschichte lehren auch die Kluft überbrücken. Was die Entwicklungsgeschichte betrifft, so nehmen in jeder ein- zelnen Klasse der Wirbeltiere Hirn, Rückenmark und die von ihnen ent springenden Nerven vom äußeren Keimblatt, d. h., von der äußere rZ ge Anpassungen der Organismen an die leblose” Natur. 401 Epithelschicht des embryonalen Körpers ihren Ursprung. Noch während des Anfangsstadiums der Gastrula entwickelt sich hier eine flach ausge- breitete Medullarplatte in der Medianebene des Körpers (Fig. $r A mp) und liefert das gesamte Zellenmaterial, von dem alle Ganglienzellen und Nerven- fasern des Rückenmarks und Gehirns abstammen. Schritt für Schritt läßt sich in der Ontogenese verfolgen, wie sich die Platte zur Rinne einkrümmt (Fig. 8ıBmf), wie sich diese zum Rohr schließt (Fig. SıCn) und bald darauf von ihrem Mutterboden abtrennt, wie das Nervenrohr dann mehr und mehr von anderen Organen, von Bindegewebe und von den Muskelplatten überwachsen und von der Körperoberfläche abgedrängt wird. Infolgedessen werden auch die vom Rücken- mark entspringendenNerven- wurzeln und die Spinal- knoten gleichfalls mit in tie- fere Schichten des Rumpfes hineingezogen. Bei .dem Ursprung des Zentralnervensystems aus dem äußeren Keimblatt und bei seiner späteren Verlage- rung in tiefere Schichten des Körpers handelt es sich um einen fundamentalen naturhistorischen Prozeß, der Querschnitte durch die Rücken- gegend von drei verschieden alten Triton- Fig. Sı. embryonen. Nach OÖ. Hrerrwis. A Die Anlage des Rückenmarks oder die Medullarplatte (2) grenzt sich gegen die Epidermis (e3) durch die Medullar- falten (m/f) ab. B Die Medullarplatte hat sich zu einer Rinne durch Vergrößerung und Zusammenneigen der Medullarfalten eingebogen. € Die Medullarrinne hat sich schließlich zum Rückenmarksrohr (nr) ge- schlossen. nf Medullarfalten, 5 Medullarplatte, » Nervenrohr, ch Chorda, e£ Epidermis oder Hornblatt, m): mittleres Keimblatt, rn"! parietales, mi* viscerales Mittelblatt, ’# inneres Keimbllatt, «5% Ursegment höhle, 7% Darmhöhle, ds Dotterzellen, 7% Lieibeshöhle. sich in allen Stämmen des Tierreichs in ähnlicher oder in etwas medi- fizierter Weise wiederholt. OÖ, Hertwig, Das Werden der Organismen. Denn ebenso wie für die Wirbeltiere lehrt das Studium der Ontogenese für die Wirbellosen , daß das obere und das untere . Aufl = 402 Zehntes‘ Kapitel. Schlundganglion, das Bauchmark und alle anderen Formen des Nerven- systems sich oberflächlich aus dem äußeren Keimblatt entwickeln. Sie behalten sogar ihre Lage in demselben auch später in einigen niedriger organisierten Abteilungen bei, wie bei den Asteriden unter den Echino- dermen oder bei den Chätognathen und einigen kleineren Gruppen der Würmer. Von solchen Ausnahmen abgesehen, trennt sich jedoch das Zentralnervensystem regelmäßig von seinem Mutterboden wie bei den Wirbeltieren ab. Allerdings vollzieht sich dieser Prozeß meist nicht durch Abfaltung in der oben beschriebenen Weise, sondern durch Abspaltung vom Ektoderm und durch Umwachsung von anderen Gewebsschichten. Infolgedessen fehlt den Ganglienknoten ein zentraler Hohlraum. Bei den Würmern kommt der Bauchstrang nach innen vom Hautmuskelschlauch zu liegen. Daß bei zunehmender Komplikation des Körpers die nervösen Zentralorgane und die Muskeln später den Ort ihres Ursprungs haben verlassen können, ist leicht verständlich. Denn wenn sie auch ursprünglich als Teile eines diffusen Neuromuskelsystems aus den früher erörterten Gründen in der oberflächlichen Epithelschicht des Körpers entstanden sind, so besteht doch zwischen ihnen und den eigentlichen Sinnes- organen der wesentliche und leicht verständliche Unterschied, daß nur diese als Empfangsorgane auf die Außenwelt, die mit den verschiedenen Reizqualitäten auf sie einwirkt, angewiesen sind. Dagegen hängen Ganglienzellen, Nerven- und Muskelfasern als Vermittlungs- und Er- folgsorgane von der Außenwelt bei ihrer Funktion nur insofern ab, als sie durch die Sinnesorgane Reize von außen zugeführt erhalten. Daher können Hirn, Rückenmark und Muskeln ohne irgendwelche Schädigung ihrer Funktion in tiefere Schichten des Körpers nachträglich verlagert werden. Bei dem Versuch, das Zentralnervensystem der höheren Tiere von einer Urform abzuleiten, bleibt uns jetzt noch der Vorgang zu erklären, wie aus der ursprünglich mehr diffusen Verteilung der einzelnen, oben unterschiedenen, neuromuskulären Elemente über die Oberfläche des Körpers die Lokalisation der Ganglienzellen und Nervenfasern auf einen bestimmten, enger begrenzten Bezirk, bei den Wirbeltieren z. B. auf die Nervenplatte, zustande gekommen ist. Hier ist zu berücksichtigen, daß nicht alle Bezirke der Körperoberfläche für die Aufnahme von Sinnes- eindrücken und ebenso auch für die Vermittlung zwischen Empfangs- "und Erfolgsorganen gleich gut gelegen sind. Von diesem Gesichtspunkt aus wird eine stärkere Ansammlung sensibler und nervöser Elemente an einzelnen geeigneten Punkten und eine Sonderung des gesamten Nerven- Anpassungen der Organismen an die leblose Natur. 403 systems in einen zentralen und einen peripheren Teil wohl verständlich. Als Prädilektionsstellen beobachten wir Hervorragungen der Körper- oberfläche, wie Fühler, mit denen die Umgebung abgetastet wird, das Kopfende, das vom Tier bei seinen Bewegungen vorangetragen wird und daher zur Orientierung im Raum in erster Linie geeignet ist, hauptsächlich aber die Umgebung des Urmunds. Denn dieser hat vor anderen Körperstellen zwei Vorzüge voraus. Einmal] treten an ihm die Nahrungsstoffe, welche gesehen, befühlt, berochen, geschmeckt und so auf ihre Brauchbarkeit ausgewählt werden, in das innere Hohlraum- system ein. Zweitens ist er die einzige Stelle, an welcher die beiden primä- ren Epithellagen des Körpers, Ektoderm und Entoderm, bei den niederen Abteilungen der Wirbellosen und in den frühen Entwicklungsstadien aller Tiere ineinander übergehen. So ist der Urmundrand von vorn- herein wie kein anderer Bezirk des Körpers zu einem nervösen Ver- mittlungsorgan zwischen den äußeren und inneren Flächen des Körpers gleichsam prädestiniert, und zwar besonders in solchen Tierklassen, in denen die Hauptmasse der Muskulatur aus dem inneren Keimblatt ihren Ursprung nimmt. Sowohl auf Grund derartiger Erwägungen als auch gestützt auf Tatsachen der vergleichenden Morphologie und Entwicklungsgeschichte läßt sich die Theorie aufstellen, daß die Grundform des Hirn- und Rücken- marks der Wirbeltiere und ebenso des Bauchmarks und des oberen Schlund- ganglions der Wirbellosen ein in die Länge gezogener Nervenring ist, der sich in der Umgebung der Urmundlippen gebildet hat. Ein der- artiger spaltförmiger Urmund, umgeben von einem im Ektoderm selbst gelegenen, gut ausgebildeten Nervenring, tritt uns im Tierreich als ein Dauerorgan noch bei den Anthozoen entgegen und ist hier bei den Actinien am genauesten untersucht worden. Ein solcher wird? auch bei Anneliden und Arthropoden an der Bauchfläche, bei den Wirbel- tieren am Rücken während der Anfangsstadien der Entwicklung ge- bildet, dann aber durch Verwachsung seiner Ränder bis auf einen ge- ringen Rest, der dort zum bleibenden Mund, hier zum After wird, geschlossen An der Verschlußstelle aber entwickeln sich das Bauch- mark der Wirbellosen und das Rückenmark der Wirbeltiere. Bei den Wirbeltieren läßt sich die Entstehung der Rückenmarksanlage aus zwei ursprünglich getrennten Hälften noch an der Anwesenheit der vorderen und der hinteren Kommissur erkennen. Die vordere Kommissur be- zeichnet die Nahtlinie der beiden Hälften des Nervenrings oder, mit anderen Worten, die Nahtlinie der linken und rechten Hälfte der Medullarplatte, deren Zellenmaterial vom Ektoderm der Urmundlippen .,,® 20 404 Zehntes Kapitel. abstammt. Ebenso ist die hintere Kommissur eine Nahtlinie, die sich bei der Umwandlung der Nervenrinne zum Nervenrohr (Fig. 81B und C) durch Verwachsung der Ränder der beiden Medullarwülste gebildet hat. Die Erklärung der Entwicklung des Hirns und Rückenmarks aus zwei getrennten Hälften findet in überrraschender Weise eine Be- stätigung durch das Studium der als Spina bifida bekannten Hemmungs- mißbildungen, die sich sogar auf experimentellem Wege leicht hervor- rufen lassen und schon auf S. 333 (Fig. 54—57) besprochen worden sind. = 3. Die Sehorgane. Noch viel klarer als beim Nervensystem tritt uns die Anpassung der Organismen an die Umwelt im Bau ihrer Sinnesorgane entgegen, in diesen wundervollen Werkzeugen, durch die wir von den verschie- densten Veränderungen um uns Kenntnis erhalten und so als Glieder in den großen Mechanismus der Natur durch unzählige komplizierte Beziehungen auf das innigste eingeordnet werden. Je nachdem die Or- gane zur Wahrnehmung einer bestimmten Reizart entstanden sind, bieten sie in den zahlreichen Klassen und Ordnungen des Tierreichs eine große Summe übereinstimmender Merkmale dar und werden einander in hohem Grade ähnlich, trotzdem sie, wie deutlich nachgewiesen werden kann, häufig in keinem genetischen Zusammenhang stehen. Sie gleichen sich nur in ihrer Funktion und in den zu ihrer Ausführung aufgewandten Mitteln. Solche Organe aber werden bekanntlich in der Morpho- logie als analoge von den homologen unterschieden, deren gleichartiger Bau von einer gemeinsamen Grundform abgeleitet wird. Die Entstehung analoger Organe aus verschiedenen Ausgangspunkten und bei fehlender Verwandtschaft wird in der Darwınschen Lehre als konvergente Naturzüchtung bezeichnet. Sie ist für den Biologen, besonders bei der Aufwerfung von Fragen, die den Wert der Zufalls- theorie und der natürlichen Auslese betreffen und uns später beschäf- tigen werden, ein Gegenstand von höchstem Interesse. Daher soll sie an einigen charakteristischen Beispielen aus dem Kapitel der Sehorgane erläutert werden. Schon das Protoplasma niedriger, einzelliger Organismen kann gegen Licht empfindlich sein. Auf Grund von Beobachtungen und Ex- perimenten muß dies der Forscher daraus schließen, daß viele Flagel- laten, Infusorien, Amöben, Algenschwärmer (vgl. S. 366) positive oder negative Phototaxis zeigen; denn sie bewegen sich entweder dem ein- fallenden Lichtstrahl entgegen oder von ihm weg. Bei manchen ist die wu u yo Anpassungen der Organismen an die leblose Natur. 405 Lichtempfindlichkeit sogar an eine besonders differenzierte Stelle des Protoplasma, an ein Zellorgan, das man Ocellus oder Augenfleck nennt, gebunden. Und dieses kann wieder einfach, wie bei Euglena viridis, oder ein wenig komplizierter, wie bei Erythropsis agilis, ge- baut sein. Euglena viridis ist gegen Licht in hohem Grade empfindlich. Ihr ovaler Körper (Fig. 82) besteht aus einem größeren, durch Chlorophyll Fig. 82. Fig. 83. Fig. 82. Euglena viridis (nach Stein). » Kern, c kontraktile Vakule, o Pig- mentfleck. Fig. 83. Die einzellige Erythropsis agilis, eine Cilioflagellate, mit sehr großem Ocellus (0) / Linse, % Zellkern, d Deckelapparat. Nach RıcHarn HERTWwIG, grün gefärbten Abschnitt und aus dem vorderen geißeltragenden Ende, das einen roten Pigmentfleck (o) in einem sonst farblosen Protoplasma eingebettet enthält. Wie nun ENGELMANN durch Experimente einwand- frei bewiesen hat,reagiert Euglena durch veränderte Richtung seiner durch Geißelschlag ausgeführten Bewegungen nur dann, wenn sein vorderes Ende mit dem Pigmentfleck vom Lichtstrahl getroffen oder wenn es plötzlich verdunkelt wird. — Auffallend groß und schon höher organi- siert ist das Lichtorgan von Erythropsis agilis!), einer eigentümlichen im Mittelmeer beobachteten Cilioflagellate (Fig. 83). Der durch rost- braun gefärbte Pigmentkörnchen ausgezeichnete Fleck des Protoplasma (0) hat die Form einer Schale, in deren Höhlung ein kugeliger, stark lichtbrechender Körper (!) liegt und mit seiner entgegengesetzten Fläche weit nach außen vorspringt. Wenn er als Linse wirkt, wie nach seiner Form, Durchsichtigkeit und oberflächlichen Lage zu schließen ist, würde die hinter ihm ausgebreitete, pigmentierte Kugelschale von Protoplasma 1) Hertwig, Richard, Erythropsis ayılis, Eine neue Protosoe. Morphol. Jahrb., Bd. X, 1884. - 406 Zehntes Kapitel. durch die durchfallenden und gebrochenen Lichtstrahlen eine stärkere Reizung erfahren. Von diesen primitiven Lichtorganen der Einzelligen bis zum wunder- bar zusammengesetzten Auge des Menschen finden sich im Tierreich alle möglichen Übergangsstufen. Ob man ein Lichtorgan vor sich hat oder nicht, läßt sich an folgenden Merkmalen erkennen: I. Es müssen Sehzellen vorhanden sein. Unter ihnen versteht man mehr oder weniger fadenförmige Sinneszellen, deren basales Ende sich in eine Nervenfibrille verlängert, während das periphere sich in ein Sehstäbchen umgewandelt hat. Dieses besteht aus einer vom Protoplasma ausgeschiedenen, diffe- renten Substanz, welche wie ein Cuticulargebilde dem freien Zellen- ende aufsitzt und gewöhnlich eine Zusammensetzung aus feinen, über- einander geschichteten Plättchen aufweist. 2. Zwischen und in der Umgebung der Sehzellen finden sich Zellen mit braunem oder rotem Pigment, welche die Lichtstrahlen absorbieren. 3. Vor der Gruppe der Sinnes- und Pigmentzellen liegt ein durchsichtiger Körper, welcher wie eine Linse geformt ist und die einfallenden Lichtstrahlen bricht und auf der lichtempfindlichen Hautstrecke sammelt. Während diese drei Merkmale allen Lichtorganen, auch solchen von einfacherer Form, eigentümlich sind, gesellen sich bei den Augen, die nach dem Prinzip der Camera obscura gebaut sind, noch weitere wichtige Hilfseinrichtungen hinzu: durchsichtige Medien, wie Glaskörper und Humor aqueus zur Ausfüllung der Kammerhöhle, eine Irisblende zur Regulierung der auf die Netzhaut auffallenden Lichtmenge, ein- hüllende Häute zur Ernährung und zum Schutz, eine Chorioidea und eine Sclera, verschiedene Muskeln, durch die der Augapfel in verschiedene Sehrichtungen eingestellt werden kann). Die primitivsten Sehorgane der vielzelligen Tiere werden auch Ocellen genannt. Sie finden sich bei vielen Medusen, Würmern und anderen niedrig organisierten Abteilungen verschiedener Tierklassen. Sie sind wohl nicht von viel größerer optischer Wirksamkeit als der Ocellus von Erythropsis, wie RICHARD HERTWIG, der Entdecker dieser Cilioflagellate, schon bemerkt hat. In der Tat besteht der Hauptunter- schied zwischen beiden Formen nur darin, daß bei den Ocellen der Meta- zoen (Fig. 84) hinter den meist bikonvexen Linsen (/) an Stelle der pig- mentierten Protoplasmaschale von Erythropsis sich viele kleine Seh- zellen mit Stäbchen (oc) befinden, und daß auch die Pigmentkörner 1) Grenacher, Die Sehorgune der Arthropoden, Göttingen 1877. — Carriere, Justus, Die Sehorgane der Tiere. München 1885. — Hesse, Untersuchungen über die Organe der Lichtempfindung bei niederen Tieren, Zeitschr. f. wiss. Zool. anne » 2 vi NEU ee RE a Anpassungen der Organismen an die leblose Natur. 407 in besondere kleine Pigmentzellen eingeschlossen sind und die an der Hinterfläche der Linse als Epithel ausgebreiteten Sehstäbchen vonein- k ander isolieren. Das Epithel kann man schon als eine kleine Retina be- zeichnen. Von ihr gehen Opticusfasern aus und setzen sich mit Ganglien- 3 zellen in Verbindung. € i Wenn man die Verbreitung derartiger einfach gebauter Ooelies in dem Tierreich untersucht, so wird niemand darüber in Zweifel sein, daß sie zu wiederholten Malen und unabhängig voneinander in den ver- schiedensten Tierstämmen, und auch hier wieder unabhängig in einzelnen ’4 Abteilungen entstanden sein müssen : bei einzelnen Cölenteraten (Fig. 84), bei verschiedenen Ordnungen der Würmer, Echinodermen und Arthro- - poden (Fig. 85). Es läßt sich dieser Schluß aus systematischen Gründen, Fig. 4. Fig. 84. Im Epithel gelegener Ocellus von Lizzia Koellikeri. / Linse, oc Ocellus. Fig. 85. Senkrechter Schnitt durch den Ocellus einer jungen Dytiscuslarve. Nach GRENACHER. 1 Chitinlinse, 2 Glaskörperzellen, 3 pigmentierte Hypodermis- zellen, 4 Retinazellen, 5 Stäbchen derselben, 6 Basalmembran, N.o. Nervus opticus. aus der Verschiedenheit der Körpergegenden, an denen sie beobachtet werden, und aus Unterschieden der Materialien, die zum Aufbau ver- wandt worden sind, rechtfertigen. Da bei den Hydroidpolypen z. B. keine Ocellen vorkommen, so müssen wir schließen, daß sie bei den Hydromedusen, die sich durch Umwandlung der Polypenform gebildet haben, neu erworben worden sind. Dies geht —, man darf wohl sagen unfehlbar — auch weiter noch daraus hervor, daß nur einige Arten deı Hydromedusen, die man deswegen systematisch als Ocellaten zusammen - faßt, Augenflecke besitzen, während andere Arten, gleichsam als Ersatz hierfür, Hörbläschen entwickelt haben und daher Vesiculaten heißen. Beiderlei Organe liegen in größerer Anzahl am Schirmrand unmittelbaı dem Ringnerv auf. Bei den Würmern werden Ocellen entweder paarweise oder in größerer Zahl zu Gruppen verbunden, gewöhnlich am Kopfende gefunden 408 Zehntes Kapitel. so bei Chätognathen, bei Turbellarien, bei Anneliden etc. Bei verschie- denen Arten der Röhrenwürmer: (Tubicolen) haben sie sich in vielfacher Zahl an den einzelnen Fäden der Kiemenbüschel des Kopfes entwickelt. Sind doch die Kiemenbüschel bei den in ihre Röhren zurückgezogenen Würmern die einzigen Organe, welche dem Einfluß des Lichtes für längere Zeit ausgesetzt sind. Bei Polyophthalmus treten Augen außer am Kopt auch noch paarweise an jedem Segmfnt ihres Körpers auf. Alles deutet wohl ebenso klar wie bei den Medusen auf einen mehrfachen und selb- ständigen Ursprung. In Übereinstimmung mit dieser Ansicht bemerkt auch GEGENBAUR in seiner Vergleichenden Anatomie, daß aus den Be- funden hervorgehe, ‚‚wie jene Sinnesorgane bei den Würmern noch eine geringere Beständigkeit besitzen. Die Vererbung spiele dabei eine minder wichtige Rolle als die Anpassung, der entsprechend wir Sehorgane nicht nur bald da bald dort auftreten, sondern auch wieder verschwinden sehen.“ Das Gleiche trifft für viele Abteilungen der Arthropoden zu, die sich durch den Besitz von Ocellen auszeichnen. Ähnlich wie GEGENBAUR in dem oben angeführten Zitat, bemerkt hierüber CARRIERE in seiner Mono- graphie „Die Sehorgane der Tiere‘: Die einfacheren Formen der Augen (Fig. 85), welche noch in der Epidermis selbst liegen, verdickte Stellen in ihr darstellen und aus einer Retina von Seh- (4 u. 5) und Pigment- zellen (3) und einer bikonvexen Linse (I) zusammengesetzt sind, ‚finden wir bei Vertretern von Familien, die teils wenig, teils keine verwandt- schaftliche Beziehung zueinander haben, bei den Larven von Schwimm- käfern (Fig. 85), bei dem Skorpion, Limulus, den Chilognathen in sehr verschiedener Ausbildung.‘ Ebenso sind die vielen Ocellen an den Rändern der In- und Ege- stionsöffnung einiger Ascidienarten oder das unpaare Auge in der Wand der Hirnblase ihrer Larven Organe selbständigen Ursprungs. Erstere erregen noch dadurch unser ganz besonderes Interesse, daß man durch experimentelle Eingriffe an den verschiedensten Stellen des Körpers ihre Entstehung hervorrufen kann. Wenn man nach dem von LOEB beschriebenen Verfahren in einiger Entfernung von der Mund- und der Auswurfsöffnung Schnitte durch die Körperwand anlegt und ihre Ränder durch Einführen eines Glasstabs verhindert, wieder zusammenzuwachsen, so bilden sich an diesen Stellen neue bleibende Mund- und Afteröffnungen aus und treten auch bald als gesonderte Röhren über die Oberfläche weiter hervor. ‚Macht man gleichzeitig bei demselben Tier an verschie- denen Stellen Einschnitte, so können gleichzeitig mehrere neue Röhren entstehen.‘“ An ihren Rändern aber bildet sich alsbald, — und darum Anpassungen der Organismen an die leblose Natur. 409 * wurde dieses Experiment hier angeführt, — eine Garmitur von vielen Y Augenflecken ringsum aus. Daraus läßt sich schließen, daß die Fähigkeit, Augenflecke zu bilden, der gesamten Oberhaut bei den Ascidien inne- wohnt und daß es bloß geeigneter Reize bedarf, um sie bald da bald dort “ anzuregen. An den offen gehaltenen Schnitträndeın aber sind die ge- _ eigneten Bedingungen gegeben, weil die neuen Öffnungen sich wie In- und Egestionsöffnung verhalten, weil an ihnen Ektoderm und Entoderm Fig. 86. Fig. 56. Grubenförmiges Auge von Nautilus. Nach Hensen. 1 Augengrube, 2 Stäbchenschicht der Retina, 3 Pigmentschicht derselben, 4 Sehzellenschicht,- 5 Ganglienzellen- schicht, 6 Bündel von Opticusfasern. Fig. 87 A u. B. Ein einfacheres und ein zusammengesetzteres Dunkelkammer- auge von 2 Anneliden. A von Phyllodoce laminosa ohne Linse, nach Hesse. B von Nau- S Phanie colex mit Linse, nach GRFEFF und HESSE. © Cuticula, # Epidermis, @ Glaskörper, Z Linse, > Sehstäbchen (Rhabdome) der Retina, 4 Sekret- zelle, die den Glaskörper ausscheidet, s Schzellen, o Sehnerv, p Pigment. ineinander übergehen und weil durch sie flüssige und feste Substanzen aufgenommen und wieder entleert werden. Also entwickeln sich aus der plastischen Substanz an den neuen Mundrändern unter den gleichen Bedingungen auch die gleichen Organe. Wenn schon die vielfach zu beobachtende, unabhängige Entstehung der Ocellen im Tierreich bemerkenswert ist, so muß es noch viel mehr zum Nachdenken anregen, wenn sich herausstellt, daß das Gleiche auch für die weit höher entwickelten Sehorgane gilt, die nach dem Prinzip einer Camera obscura gebaut sind. Während die Ocellen der Epidermis an- 4Io0 Zehntes Kapitel. gehören, liegen die Dunkelkammeraugen, wie sie von CARRIERE bezeichnet worden sind, meist unmittelbar unter ihr. Sie haben die Form einer bald kleineren bald größeren Hohlkugel (Fig. 87), deren vordere und hintere Hälfte in verschiedener Weise differenziert ist. Ihre hintere Hälfte ist zur Retina (r) umgebildet und durch Pigmentzellen (2), die sich entweder zwischen oder hinter den Sehzellen befinden, geschwärzt, wie die Wand einer Camera. Die der Epidermis zugekehrte Hälfte dagegen zeigt eine pigmentfreie Stelle zum Einlaß der Lichtstrahlen. 6 18 schematisierter y Schnitt durch das Auge von Sepia officinalis. Nach HENSEN und Lang. I+-3 aus äußerer (r) undinnererSchicht( 3) zusammengesetztes Corpus epitheliale, 2 Grund der Augen- blase, welche zur Re- tina wird, 22 Pigment- schicht der Retina, 4 Falte des Ekto- derms, welche die Iris bildet, 5 zweite Falte des Ektoderms, wel- che die Cornea liefert, 6+7 Linse, deren äußere Hälfte (6) von der äußeren Schicht (r) des Corpus epithe- liale, und deren innere Hälfte (7) von seiner inneren Schicht (3) ge- liefert wird, 8 Stäb- chenschicht der Re- tina, 9 vordere Au- genkammer, die sich noch durch ein kleines Loch (70) nach außen öffnet, z1 knorpelige Augenkapsel. r2 Ganglion opticum, 13 Nervus opticus. 5 Fig. S8. Etwas f Auch kann in ihr bei höher entwickelten Augen eine Linse (Fig. 87B L) oder vor dieser sogar noch eine Irisblende (Fig. 884) angebracht sein. Unter diesen Bedingungen wird dann, wie wir es von uns selbst wissen, ein wirkliches, umgekehrtes Bild von außer uns gelegenen Gegenständen auf dem Hintergrunde der Camera obscura entworfen und von der dort befindlichen Retina zur Wahrnehmung gebracht. Dunkelkammeraugen finden sich bei Anneliden, bei Mollusken und bei Wirbeltieren. Obwohl sie nach demselben Prinzip gebaut sind und oft eine überraschende Ähnlichkeit in vielen Details auf den ersten Anpassungen der Organismen an die leblose Natur. 4II Blick darbieten, so liefern doch manche Verhältnisse in ihrem feineren und in ihrer Entwicklung einen sicheren Beweis, daß sie in keinem genetischen Zusammenhang untereinander stehen. Um teils die Über- _ einstimmung, teils die Unmöglichkeit eines genetischen Zusammen- _ hangs zu zeigen, gehe ich auf eine kurze Besprechung und Vergleichung _ von einigen bekannten, typischen Dunkelkammeraugen ein und zwar ' von Mollusken, Anneliden und Wirbeltieren. Bei niederen Mollusken, wie bei den Gastropoden, sind meist zwei Augen am Kopfende vorhanden und zuweilen an besonderen, über die Oberfläche vorstreckbaren Augenstielen (OÖmmatophoren) angebracht. Sie stellen die einfachste Form eines Dunkelkammerauges dar. Sie sind einfache Epithelbiäschen, die sich durch grubenförmige Einstülpung eines kleinen Bezirks der Epidermis anlegen, wie ihr ontogenetisches Studium lehrt. Daher können wir schließen, daß dem bläschenförmigen Dunkelkammerauge zwei phylogenetische Vorstadien vorausgegangen sind. Das erste Stadium ist ein in der Epidermis selbst gelegener licht- empfindlicher Fleck, ein Ocellus, das zweite Stadium ist eine Sehgrube, in welche der Retinabezirk der Oberhaut mit seinem Sehnerv aufge- nommen worden ist. Beimanchen Mollusken, wie bei Patella und Haliotis, sind Sehgrübchen sogar als dauernde Einrichtungen beobachtet worden, ebenso bei Nautilus, der einer Gruppe der Cephalopoden angehört. Ein Durchschnitt durch das grubenförmige Auge desselben und seiner Retina mit den verschiedenen Schichten 2, 3, 4, 5 ist in Fig. 86 abge- bildet. Im dritten Stadium schließt sich darauf die Einstülpung zum Bläs- chen. Hier wird dann die Verschlußstelle, wie z. B. bei Helix, in eine eın- fache Lage vollkommen durchsichtiger Zylinderzellen umgebildet. Der Augengrund wird zur Retina und besteht aus zwei funktionell verschie- denen Elementen, aus Seh- und aus Schleimzellen. Die langgestreckten Sehzellen sind dunkel pigmentiert, doch so, daß die Pigmentkörnchen die Achse der Zelle, die zu einem durchsichtigen Sehstäbchen differenziert ist, freilassen. Die Sekretzellen sind farblos und flaschenförmig und produ zieren die schleimige oder gallertige Substanz, welche den Hohlraum des Kammerauges, gewissermaßen als eine Art Glaskörper, ausfüllt. Da eine Linse bei Helix nicht entwickelt ist, kann auch kein wirkliches Bild von außerhalb gelegenen Gegenständen erzeugt, sondern wahrschein- lich nur hell und dunkel unterschieden werden. Ähnliche Augenblasen ohne Linse, wie ich sie von einer Gastropode beschrieben habe, kommen auch bei einigen Familien der Anneliden, z. B. bei Phyllodoce vor (Fig. 87 A). Hier finden sich ebenfalls in dei 412 Zehntes Kapitel. Retina flaschenförmige Sekretzellen (d), welche die Glaskörperflüssigkeit ausscheiden. Aus der bloßenÄhnlichkeit kann aber auf einen genetischen Zusammenhang zwischen solchen Augen schon deswegen nicht ge- schlossen werden, weil sie nur auf einzelne Familien in den Stämmen der Mollusken und der Würmer beschränkt sind und namentlich bei ihren niederen Repräsentanten vermißt werden. Unter den Anneliden wird das Auge der Alciopiden (Fig. 87 B) um einen Grad vollkommener als bei Phyllodoce dadurch, daß sich an der Einfallstelle des Lichtes in die optische Kammer eine Linse (Z) entwickelt hat, ein durchsichtiger, unmittelbar unter der Epidermis gelegener kugeliger Körper. Auch die Retina ist, wie aus den Untersuchungen GREEFFS hervorgeht, viel höher differenziert, da an ihr mehrere retinale Schich- ten unterschieden werden können. So deutet der ganze Bau auf eine höhere Funktion und auf die Mög- lichkeit hin, daß vom Al- ciopidenauge schon’ Bilder, wenn auch noch in primi- tiver Weise, wahrgenommen werden können. Den höchsten Grad der Vollkommenheit aber er- Fig. 589. Horizontalschnitt durch das R } : menschliche Auge. Nach ToLpT und GROBBEN. reichen die Augen bei den C Cornea, / vordere, // hintere Augenkammer, Cephalopoden (Fig. 88) und L Linse, G Glaskörper, / Iris, Mc Musculus ciliaris, z : E j Pc Processus ciliaris, Z Zonula Zinnii, Cr Chori- bei den Wirbeltieren (Fig. oidea, Os Ora serrata, /Fovea centralis, X Retina, 89). Sie stimmen hier in so innere, 52 Selen: vielen feineren Verhältnissen der ganzen optischen Ein- richtung überein, daß es die Verwunderung aller Forscher, die sich mit ihrem Bau beschäftigen, erregt hat. Durch einen Einwurf von MıvArT veranlaßt, hat auch Darwin die hier vorliegende, wie er zugibt, überraschende Ähnlichkeit vom Gesichtspunkt der Selektionstheorie aus besprochen. In seiner Erörterung räumt er von vornherein ein, daß die Ähnlichkeit bei so weit auseinanderstehenden Gruppen nich der Vererbung von einem gemeinsamen Urerzeuger. zugeschrieben - Anpassungen der Organismen an die leblose Natur. 413 werden kann. Hierüber sind auch alle Forscher ohne Ausnahme der- selben Meinung. Um über die gleichartigen und die differierenden Momente in der _ Anatomie und Entwicklungsgeschichte der beiderlei Augen einen Über- ‚blick zu gewinnen, stelle ich zwischen ihnen einen kurzen Vergleich “an. Sowohl bei den Wirbeltieren (Fig. 89) wie auch bei den Cephalo- poden (Fig. 88) ist der große kugelige Augenbulbus in einen hinteren "und einen vorderen Bezirk geschieden. Der hintere Bezirk enthält die “Retina, die in beiden Fällen in Schichten gesondert ist. Die Zahl der hichten ist aber bei den Wirbeltieren eine größere als bei den Cephalo- poden. Denn an Stelle der 10 Schichten des Max ScHULTZEschen Schemas "unterscheidet man bei letzteren nur ihrer 5: nämlich r. eine Schicht sehr "langer Stäbchen, 2. eine schmale pigmentierte Schicht, 3. die zu den Stäbchen gehörenden kernhaltigen Abschnitte der Sehzellen, welche der äußeren Körnerschicht der Wirbeltiere entsprechen, 4. eine Schicht der Ganglienzellen und 3. eine Opticusfaserschicht. Interessant ist ein Vergleich der feineren Stäbchenstruktur in beiden Fällen. Bei den "Wirbeltieren sind Stäbchen und Zapfen cuticulare Absonderungen der zugehörigen Sehzellen und setzen sich aus feinen, übereinander ge "schichteten Plättchen zusammen. Bei den Cephalopoden zeigen sie "dagegen, wie bei den Schnecken, eine Sonderung in einen zentralen "Protoplasmastrang, in den einzelne Pigmentkörnchen eingebettet sind, "und in eine durchsichtige, cuticulare Rinde, die sich in übereinander ehuchtete, vom Achsenstrang durchbohrte, ringförmige Plättchen "zerlegen läßt. Ferner liegt bei den Wirbeltieren das Pigment in einer "besonderen Schicht epithelialer Zellen, dem Tapetum nigrum oder dem "Pigmentepithel der Retina, welches mit scheidenartigen Fortsätzen die "einzelnen Stäbchen und Zapfen umgibt. Bei den Cephalopoden ist es "ein Bestandteil der langgestreckten Sehzellen selbst und findet sich in ihnen an den beiden Enden der Stäbchen angehäuft. - Der wichtigste und interessanteste Unterschied zwischen den beiden "Netzhäuten besteht aber ohne Frage darin, daß die Aufeinanderfolge ‘der Schichten bei ihnen eine umgekehrte ist. Denn die Stäbchenschicht (Fig. 888) begrenzt bei den Cephalopoden den Glaskörper des Auges, liegt dagegen bei den Wirbeltieren an der äußeren Fläche der Retına; hier sind also die peripheren Enden der Stäbchen dem einfallenden „Lichte ab-, dort zugewandt. Bei den Cephalopoden findet sich die Nerven- - und Ganglienzellenschicht an der äußeren, beı den Wirbeltieren an der inneren, d. h. dem Glaskörper zugekehrten Fläche der Netzhaut. E Was den vorderen Bezirk des Augapfels betrifft, so ist er in beiden % 414 Zehntes Kapitel. Vergleichsobjekten in drei untereinander vergleichbare Gebilde ge- sondert: I. in einen zunächst an die Retina angrenzenden, ringförmigen Wulst, der bei den Wirbeltieren als Corpus ciliare, bei den Cephalopoden als Corpus epitheliale bezeichnet wird, 2. in die Linse und 3. in die vor ihr gelegene Iris mit der Pupille. Die Iris dient hier wie dort als Blende, da sich in ihr ein flacher Ringmuskel befindet, durch dessen Zusammen- ziehung und Erschlaffung das Sehloch verengt und wieder erweitert werden kann. Trotz dieser großen anatomischen und funktionellen Übereinstim- mung sind alle drei Organe in ihrer histologischen Struktur und ebenso, wie wir gleich sehen werden, auch in ihrer Entwicklung wesentlich von- einander verschieden. Es wird genügen, dies an der Struktur der beiderlei Linsen zu erläutern. Bei den Wirbeltieren wird die Linsensubstanz aus schalenförmig übereinander liegenden Lamellen zusammengesetzt, die aus lang ausgewachsenen, feinen Epithelzellen, den mit je einemKern versehenen Linsenfasern bestehen; bei den Cephalopoden dagegen zer- fällt sie durch eine feine Membran in eine vordere und eine hintere Hälfte. Jede von ihnen besteht zwar auch aus feinen Lamellen, die wie die Schalen einer Zwiebel übereinanderliegen, sich aber nicht in kernhaltige Linsen- fasern zerlegen lassen. Sie sind vielmehr cuticulare Absonderungen der zylindrischen und fadenförmigen Zellen, welche den Äquator der Linse als das oben erwähnte Corpus epitheliale umgeben und wie die zugehörige Linse durch eine Membran in eine äußere und eine innere Hälfte zerlegt werden. Die Übereinstimmung zwischen beiderlei Augen wird endlich noch dadurch weiter erhöht, daß Linse und Iris nach außen vom Integumen überzogen sind und daß dasselbe an dieser Stelle zu einer vollständig‘ durchsichtigen Hornhaut umgewandelt ist. Ein mit Flüssigkeit er-” füllter Hohlraum oder eine Augenkammer findet sich sowohl bei Wirbel- tieren wie bei Cephalopoden zwischen Linse und Iris auf der einen Seit und der Hornhaut auf der anderen. Bei den achtfüßigen Cephalopoden hat sich sogar, damit es auch noch an dieser Übereinstimmung nich fehlt, eine ringförmige muskulöse Hautfalte rings um die Hornhau gebildet. Durch die Kontraktionen dieses Augenlides kann die Außen- fläche des Bulbus wie durch den Verschluß der Lidspalte beim Mensche vollkommen verdeckt werden. Die Augen der Cephalopoden und der Wirbeltiere sind ein ausge zeichnetes Beispiel für konvergente Naturzüchtung und sind wie weni andere geeignet, um an ihnen zu erläutern, wie zwei sehr zu- sammengesetzte und für denselben Zweck eingerichtet Anpassungen der Organismen an die leblose Natur. 415 _ Apparate mit einer gleichartigen Anordnung ihrer gleich _ funktionierenden Teile trotzdem auf ganz verschiedenen Wegen ihren Ursprung nehmen können. Das Studium der Ent- _ wicklungsgeschichte läßt hierüber keinen Zweifel. Schon von der ersten Anlage an macht sich ein fundamentaler Unterschied zwischen beiden Objekten bemerkbar. Fig. 90. Schemata zur Entwicklung des Cephalopodenauges. Nach LANG. A Sehgrübchen des Etoderms. B Dasselbe im Verschluß zum Sehbläschen. C, D und E Sonderung des Sehbläschens und seiner ektodermalen Umgebung (4, 5) in die einzelnen Teile des entwickelten Auges (Fig. 88). 1 Ektoderm, welches zur äußeren Sehicht des Corpus epitheliale (Fig. 88 r-+ 3) wird, 2 Grund der Augengrube, welche zur Retina wird, 3 äußerer Wandteil der Augenblase, welche zur inneren Schicht des Corpus epitheliale (Fig. 88 r-+ 3) wird, 4 Falte des Ektoderms, welche die Iris bildet, 5 zweite Falte des Ektoderms, welche die Cornea liefert, % vom äußeren, 7 vom inneren Corpus epitheliale erzeugter Linsenabschnitt, & Stäbehenschicht der Retina. Das ganze Auge der Cephalopoden entsteht mit allen seinen Teilen aus einem einzigen, kleinen Bezirk des Ektoderms (Fig. 00 A); derselbe senkt sich wie bei anderen Mollusken mit einfachem Kammerauge (Helix) als Sehgrube in das darunter liegende Gewebe in einiger Entfernung von der Anlage des oberen Schlundganglions und schließt sich darauf zur Hohlblase. Ihr Epithel differenziert sich am Hintergrund zur Retina mit ihren Schichten, so daß die Sehzellen die freien Enden ihrer Stäbchen 416 Zehntes Kapitel. nach dem Binnenraum gerichtet haben. Die dem Augengrund abgewandte 7 Hälfte der Epithelblase mit det sie unmittelbar bedeckenden Ektoderm- schicht wandelt sich in das Corpus epitheliale und in die Linse um. In der Umgebung des ersteren liefern drei nacheinander auftretende, ring- förmige Faltungen der Oberhaut die übrigen Teile des Auges. Die erste Ringfalte (Fig. 90 C u. D 4) wird zur Iris, deren Faltenränder nicht ver- wachsen und so das Sehloch freilassen. Nach außen von der Ursprungs- stelle der Iris entwickelt sich eine zweite Ringfalte (D. u. E5), die sich über den Bulbus herüberschiebt und mit ihren Rändern verwächst. Der mittlere Bezirk dieser dünnen Haut wird durchsichtig und zur Horn- haut. Zugleich ist zwischen ihr, der Linse und der Iris ein Zwischen- raum entstanden, die Augenkammer, ein abgekapselter Teil der Ober- fläche. Bei einigen Cephalopodenarten bleibt sie sogar, weil die Ver- wachsung der Falten eine unvollständige ist, durch eine kleine Öffnung mit der Außenwelt in Verbindung, so daß Meerwasser einströmen kann. Die dritte letzte Falte liefert endlich das muskulöse ringförmige Augenlid. Wie ganz anders geht die Entwicklung des Auges bei den Wirbel- tieren vor sich. Sein wichtigster Teil, der zur Retina wird, stammt zwar auch in letzter Instanz vom Ektoderm ab, aber von demjenigen Bezirk, welcher das Gehirn liefert. Erst nachdem sich die Hirnplatte, welche auch das Sehepithel enthält, zum Rohr geschlossen und vom Ektoderm abgetrennt hat, beginnt sich der Sehbezirk nachträglich von der gemeinsamen Anlage abzusondern. Aus den Seitenwänden des primären Vorderhirnbläschens stülpen sich links und rechts die beiden Augenblasen (Fig. gr A au) aus und bleiben nur durch einen dünnen Stiel, den späteren Sehnerv (s2), mit dem späteren Zwischenhirn (zA) in Verbindung. E Ein derartiger Zusammenhang zwischen Sinnesorganen und dem” Zentralnervensystem wird auch sonst noch, wenn auch selten, in einigen Abteilungen des Tierreichs beobachtet. So liegen bei den Medusen die Ocellen und die primitiven Hörorgane im Sinnesepithel, welches den Ringnerv am Glockenrand überzieht. Bei den Ascidienlarven entstehen ein Ocellus mit Linse und ein Gehörorgan primitivster Art an der Innen-7 fläche der Hirnblase, die sich durch Abschnürung aus dem Ektoderm gebildet hat. Zur Linse und Hornhaut der Wirbeltiere wandelt sich ein zweiter, von der Hirnplatte getrennter Bezirk des Ektoderms um, nämlich die Stelle, mit der die laterale Wand der Augenblase in Berührung tritt (Fig. 97 A). Sie verdickt sich zur Linsenplatte, stülpt sich zu einer kleine Grube (lg) ein und schließt sich zuletzt zum Linsensäckchen (Fig. 91 B) Anpassungen der Organismen an die leblose Natur. 417 An der medianen Wand desselben wachsen die Epithelzellen zu Fasern aus und liefern das Linsengewebe. Der über dem Linsensäckchen nach seiner Abtrennung gelegene Abschnitt der Haut wandelt sich später in die durchsichtige Hornhaut um. Die Augenkammer aber entsteht aus gallertigem Mesenchymgewebe, welches zwischen die Hornhaut und die noch weiter in die Tiefe verlagerte embryonale Linse gewachsen ist. Linse und Augenkammer sind somit zwei Bildungen, die, nach ihrer Genese beurteilt, gar keinen Vergleich mit den nach Lage und Funk- tion entsprechenden Teilen des Cephalopodenauges zulassen. Auch die primäre Augenblase macht bei den Wirbeltieren (Fig. gı Aau) andere Wandlungen als bei den Cephalopoden durch. Sie wird zum sekundären Augenbecher, indem gleichzeitig mit der Linsenent- A lg B Ist ls ıu = 5 N ( 7 Z a NR st ab - sh Fig. 91. Zwei Schemata zur Entwicklung des Wirbeltierauges. A Die primäre Augenblase ax, durch einen hohlen Stiel s/ mit dem Zwischenhirn z% verbunden, wird infolge der Entwicklung der Linsengrube /g eingestülpt. B Die Linsengrube hat sich zum Linsensäckchen (Zs) abgeschnürt. Aus der Augenblase ist der Augenbecher mit doppelten Wandungen, einer inneren zÖ und einer äußeren ad, entstanden; /s/ Linsen- stiel, g2 Glaskörper. wicklung ihre laterale gegen die mediane Wand bis zur Berührung ein- gestülpt wird (Fig. grB). Dadurch geht der Hohlraum, der bei dem Auge der Cephalopoden mit Glaskörperflüssigkeit gefüllt ist, verloren. Der neuentstandene Binnenraum des doppelwandigen Bechers aber, welcher die vom zweiten Ektodermbezirk gelieferte Linse in seine Öffnung aufnimmt, füllt sich mit einem Glaskörper, der histologisch und genetisch etwas ganz anderes ist, als die ihm bei den Cephalopoden funktionell entsprechende Substanz. Denn der Glaskörper der Wirbeltiere ent- wickelt sich aus Mesenchymgewebe, welches von unten her gleichzeitig mit der lateralen Einstülpung die untere Wand der primären Augen- blase einstülpt. Auch die schon früher hervorgehobene, umgekehrte Folge der Schichten in der Retina der Wirbeltiere und Cephalopoden wird aus ihrer total verschiedenen Entwicklungsgeschichte verständlich. Denn während aus dem äußeren Blatt (ab) des doppelwandigen Bechers der OÖ. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aull, 27 418 Zehntes Kapitel. Vertebraten das Pigmentepithel hervorgeht, differenziert sich das ein- gestülpte innere Blatt (ib) in die verschiedenen Schichten der Retina. Da nun die Stäbchen sich, wie bei allen Metazoen, naturgemäß aus dem Ende der Sehzellen bilden, welches der ursprünglich freien Oberfläche der Haut zugekehrt ist, läßt sich ihre umgekehrte Lage im Vergleich zum Ce- phalopodenauge in sehr einfacher Weise aus den eigentümlichen Lagever- änderungen erklären, welche der Sehbezirk bei den Wirbeltieren erfährt. Denn im Bereich der Hirnplatte entstanden, wird dieser Abschnitt später in die Augenblase mit ausgestülpt. Infolge eines derartigen Ortswechsels kehren die Sehzellen jetzt selbstverständlicherweise ihr peripheres Ende dem Hirnventrikel, ihr in die Nervenfasern übergehendes basales aber der Hautoberfläche zu und nehmen so eine der ursprünglichen gerade entgegengesetzte Lage zum einfallenden Lichte ein. Dieses Verhältnis erhält sich nun aber auch bei allen ferneren Wandlungen, welche die Augenanlage der Wirbeltiere bei weiterer Entwicklung durchzumachen hat. Die Stäbchenschicht muß daher auch von dem dioptrischen Apparat abgewandt sein, da dieser aus dem zweiten Hautbezirk, dem die Augen- blase entgegenwächst, seinen Ursprung nimmt. Die Erklärung ist also eine sehr einfache und läßt sich in wenige Sätze dahin zusammenfassen : „Die entgegengesetzte Schichtenfolge in der Retina, wie sie uns bei den Würmern, Arthropoden und Mollasken einerseits, bei den Wirbel- tieren andererseits entgegentritt, wird dadurch bedingt, daß bei den ersteren alle Teile des Auges: Linse, Glaskörper und Retina, sich aus ein- und derselben Ektodermschicht durch Abschnürung anlegen, bei letzteren dagegen auf zwei räumlich gesonderte Ektodermbezirke zu- rückzuführen und daher erst sekundär durch einen komplizierten Orts- wechsel zusammengetreten sind. Dieser verschiedene Entwicklungs- modus erklärt sich wiederum in der Weise, daß bei den Wirbeltieren das Auge aus dem Sinnesepithel des Zentralnervensystems, bei den meisten Wirbellosen außerhalb dieses Bezirks ursprünglich entstanden ist“). Zum Schluß unseres Abschnittes über konvergente Naturzüchtung der Sehorgane will ich noch an zweien ihrer Bestandteile durch eine kurze Zusammenstellung nachweisen, wie sie bei gleicher Funktion aus ganz verschiedenen Materialien in einzelnen Tiergruppen entstanden 1) Anmerkung. Die oben aufgestellte Erklärung von der umgekehrten Schichten- folge und der Lage der Stäbchenschicht zum einfallenden Lichtstrahl im Auge der Ce- phalopoden und Wirbeltiere haben mein Bruder und ich in unserer Monographie „Das Nervensystem und die Sinnesorgane der Medusen“, 1878, p. 172—174 zum ersten Male gegeben. Derselbe Gedanke wurde später von CARRIERE und BOVERI (1904) in gleicher Weise ausgesprochen. CARRIERE, 1. c. p. 49—52. BOVERI, TH., Über die phylogene- tische Bedeutung der Sehorgane des Amphioxus. Zool. Jahrb., Suppl. VII, 1904. Anpassungen der Organismen an die leblose Natur. 419 sind. Pigment und linsenförmige Körper fehlen fast nie in dem Aufbau eines Sehorgans. Die Pigmentbildung aber kann eine verschiedene sein. Gewöhnlich werden Körnchen von Melanin in besonderen epithelialen Stützzellen ausgeschieden, die im Sehepithel zwischen den Sehzellen zerstreut liegen und sie voneinander isolieren (Medusen, Würmer, Arthro- poden), in anderen Fällen sind die Pigmentkörnchen in die Sehzellen _ selbst in verschiedenen Abschnitten eingelagert, wie bei Mollusken und und hier besonders im Cephalopodenauge; drittens endlich findet sich Pigment als ein besonderes Tapetum nigrum bei den Wirbeltieren. Hier ist es eine zusammenhängende Epithelschicht, das äußere Blatt des sekundären Augenbechers, von welchem die erforderliche Pigmentierung des Augenhintergrundes geliefert wird. Durch Wachstumsvorgänge die nur den Wirbeltieren eigen sind, haben sich hier zwei ursprünglich getrennte Epithelstrecken dicht aneinander gelegt; die eine hat Seh-, die andere Pigmentzellen geliefert; hierbei sind die ersteren mit ihren Stäbchen- und Zapfengliedern in die letzteren hineingewachsen und haben so eine isolierende Pigmentscheide erhalten. ’ Noch mehr verschieden nach Material und Entwicklung sind die Linsenbildungen im Tierreich. Bei Protisten (Erythropsis), bei Cölente- raten, Würmern etc. werden sie als homogene Cuticularbildungen diffe- renziert (Fig. 83, 84!) und bestehen aus einer chemischen Substanz, die wohl noch nicht untersucht worden ist. Bei Arthropoden hat die den Körper zum Schutze überziehende allgemeine Chitinhaut an Stellen, wo sich lichtempfindliche Bezirke in der unter ihr gelegenen Matrix entwickelt haben, zugleich auch der Linsenbildung unmittelbar gedient. Wie bei den Wirbeltieren die Haut sich über der Retina aufhellt und - zur Cornea wird, so verändert sich auch das Chitin an den Stellen, wo sich Sehorgane bilden, und wird pigmentfrei, homogener und durchsichtig (Fig. 85 I); es wird hierbei auch durch verstärkte Chitinausscheidung der unterliegenden Matrix in seiner Form zu plan- oder bikonvexen Körpern verändert. Diese sind in den einfachen Augen der Arachniden oder in den Facettenaugen der Krebse und Insekten Hornhaut und Linse zugleich. Bei den Kammeraugen endlich werden Linsen durch Umwand- lung von Epithelzellen gebildet, und auch hier wieder in verschiedener Weise bei den Cephalopoden und bei den Wirbeltieren, wie schon früher gezeigt wurde (Fig. 88 6 + 7, Fig. Sg L). Bei den Wirbeltieren kann die Linsenbildung sogar infolge eines einfachen experimentellen Eingriffes aus einem Zellenmaterial hervor- gerufen werden, welches für diesen Zweck in der normalen Entwicklung niemals gedient hat. Das theoretisch sehr wichtige Experiment ist von 27° 420 Zehntes K apitel. CoLuccı, WOLFF, ERIK MÜLLER u. a. mit demselben Erfolg ausgeführt worden. Wenn bei jungen Tritonlarven die Linse durch eine Art Star- operation vollständig, doch ohne weitere Beschädigung des Auges, entfernt worden ist, so wird sie nach wenigen Wochen durch eine neue ersetzt (Fig. 92); diese aber stammt jetzt weder von einem etwa zurück- gebliebenen Rest der alten Linse ab, die meist in toto durch die Schnitt- öffnung nach außen entleert wird, noch leitet sie sich von dem Horn- hautepithel her, woran man im Hinblick auf die normale Entwicklung zunächst denken könnte; vielmehr führt die neve Anlage ihren Ursprung auf das Epithel des Iris- randes, d.h. auf den Rand des sekundären Augen- bechers zurück. Die zum Ersatz dienende Linse ist also vom genetischen Standpunkt ausbetrachtet N ie Em g ein ganz neues Organ, R a En 48 BR welches mit dem alten N ; nur in seiner Funktion ur de Paul übereinstimmt. Beide Bil- dungen sind, wie ‘es die morphologische Nomen- c klatur ausdrückt, ein- Fig. 92. Meridionalschnitt durch ein ope- ander nur analog, nicht riertes Auge einer Tritonlarve. 13 Tage nach der x operativen Entfernung der Linse. Nach ERIK MÜLLER homolog. Denn die neue aus Nr Allgemeiner Biologie. Z Linsenblase, T jnse entwickelt sich ganz C geheilte Hornhautwunde. offenbar durch rer Au morphose aus einem Zellenmaterial, das von der Wand des primären Vorderhirnbläschens herrührt und in der ganzen Reihe der Wirbeltiere zu der Linsen- anlage niemals in irgendeiner Beziehung gestanden hat. Noch merkwürdiger aber wird die Heteromorphose dadurch, daß die Umwandlung eines Teils des Randes des Augenbechers (Fig. 9g2L) in eine Linse sich in sehr ähnlicher Weise vollzieht, wie die normale Ent- wicklung der Linse aus dem äußeren Keimblatt. Äußeres und inneres Blati des Augenbecherrandes, aus dem die vorhandenen Pigmentkörnchen allmählich ganz verschwinden, weichen an einer kleinen Stelle ausein- ander; es bildet sich so aus ihnen ein kleines Linsensäckchen. An ER Re PN | Rn = EN S PR z Er 2 j 3 5 "eis “ 5 re TE - Br Ey LE u ee Anpassungen der Organismen an die leblose Natur. 421 seiner hinteren Wand wachsen die Zellen zu langen Linsenfasern aus, während aus den Zellen der vorderen Wand ein Linsenepithel hervorgeht. Im Laufe der weiteren Differenzierung löst sich die Linsenanlage vom Irisrand ganz ab und wird regelrecht in die Mitte der Pupille aufge- nommen. 4. Die Werkzeuge zur Fortbewegung. Nur wenige Einrichtungen des tierischen Körpers sind so gut wie die Fortbewegungsorgane geeignet, um an ihnen zu beweisen, daß die Gebrauchsweise die Gestalt bestimmt, und daß die Natur für den gleichen . Zweck analoge Formen zu wiederholten Malen und zugleich mit den verschiedenartigsten Mit- teln in einzelnen Tier- klassen hervorgebracht hat. Wenn wir von selteneren Vorkommnissen absehen, dienen als ÖOr- gane zur Fortbewegung / ; N da der Tiere bewegliche, mit Dr Muskeln als Motoren k Fig. 93. Mesothorax eines Hirschkäfers mit ausgestattete Fortsatz- Elytren und Beinen. 7 Notum, 9/ Pleuren, sz Sternum, bildungen des Körpers, el Elytren, c Coxa, tr Trochanter, fe Femur, 7: Tibia, a tten-- Ihre ta Tarsus. Nach RICHARD HERTWIG. Verwendung kann eine ungemein verschiedenartige sein und dementsprechende Anpassungen zeigen. Im allgemeinen aber sind 3 Haupttypen zu unterscheiden: I) Extremitäten zur Fortbewegung auf einer festen Unterlage, 2) Flossen zum Schwimmen im Wasser, 3) Flügel zur Bewegung in der Luft. I) Zur Fortbewegung entweder auf dem Lande oder auf dem Boden der Gewässer sind die Extremitäten zu einem vielarmigen Hebel- werk umgewandelt. Sie bestehen aus mehreren aufeinander folgenden, stabartigen Abschnitten, die durch Gelenke beweglich miteinander ver- bunden sind und beim Gebrauch durch Muskeln in verschiedene Winkel zueinander gestellt werden. Ein wirkliches Hebelwerk bilden die Extremi- täten der Arthropoden und der vierfüßigen Wirbeltiere. Obwohl sehr verschiedenen Ursprungs und in sehr verschiedenen Materialien ausge- führt, bieten sie doch in der Form und Zahl der Hebelarme eine so große Ähnlichkeit dar, daß die Zoologen in früheren Jahrhunderten die ein- zelnen Abschnitte bei Insekten (Hexapoden) und bei Wirbeltieren mit den- selben Namen belegt haben. Bei den Insekten (Hexapoden, Fig. 93) 422 Zehntes- Kapitel. sind die 3 Beinpaare an den 3 Segmenten der Brust (Pro-, Meso- und Metathorax) angebracht und in 5 Abschnitte gegliedert: in ein kleines, in einer Pfanne des Thorax befestigtes Glied, Coxa (ec) mit einer kugeligen Gelenkfläche, in ein ringförmiges Stück, den Tro- chanter (fr), in ein drittes und ein viertes erheblich längeres Haupt- stück, Femur (fe) und Tibia (t), und in einen Endabschnitt, den Tarsus (ta), der sich aus 3 oder 4 oder 5 kleinen Gliedern, Phalangen, zusammen- setzt; das letzte von ihnen trägt die beiden Klauen. Femur (fe), Tibia (#) und Tarsus (fa) nehmen im Hebelwerk der Insekten die Stellung von Oberschenkel, Unterschenkel und Fuß im Plan der Extremitäten der landbewohnenden Wirbeltiere ein. Durch veränderte Winkelstellung dieser Abschnitte unter abwechselnd er- folgender Beugung und Streckung wird der von ihnen getragene Körper auf der festen Unterlage gleichsam fortgehebelt. Die durch ein System von antagonistischen Muskeln bewirkte Lageveränderung der Hebel- arme geschieht bei den Arthropoden wie bei den Wirbeltieren in ver- schiedenen Arten von Gelenken, von denen die wichtigsten entweder Kugel- oder Winkelgelenke sind. Am Ansatz der Extremität am Rumpf findet die Bewegung in einem Kugelgelenk statt. ° Trotz dieser Übereinstimmung in der allgemeinen Anordnung und Gebrauchsweise der Teile in beiden Tierstämmen ist die Ausführung im einzelnen fast in allen Punkten eine absolut andere. Bei den Arthro- poden beruht die Festigkeit der Hebelarme darauf, daß sie dem von der Oberhaut erzeugten Hautskelett angehören und harte Chitinröhren sind, die nur an den Gelenkstellen durch dünne und weich gebliebene Chitinmembranen wie durch Bänder beweglich verbunden sind. So ist auch das Kugelgelenk, das am vollkommensten bei den Coleopteren ausgebildet ist, dadurch entstanden, daß am Ansatz der Extremität am Brustsegment das Chitin im Bereich einer Ringfurche weich ge- blieben ist, sich als Falte nach einwärts eingestülpt und hierbei eine kopfartige Gelenkfläche am oberen Ende der Coxa und eine entsprechende Konkavität am Brustsegment gebildet hat. Im Bereich der Gelenk- flächen aber ist das Chitin alsdann entsprechend hart geworden. In der Mitte des Gelenks bleibt ein Zusammenhang zwischen Pfanne und Kopf durch einen chitinigen hohlen Strang besteben, welchen BERGMANN und LEUCKART dem Ligamentum teres der Säugetiere nach seiner Lage verglichen haben. Im Gegensatz zu den Arthropoden sind bei den Wirbeltieren innere Skelettstücke aus Knorpel (Selachier) oder aus Knochen im Innern der einzelnen Extremitätenabschnitte entstanden: sie sind gleichfalls f f a Anpassungen der Organismen an die leblose Natur. 423 - gegeneinander beweglich in Kugel- und Winkelgelenken, aber durch straffe Bindegewebsmembranen und Bänder zusammengehalten, die sich aus dem allgemeinen Bindegewebsgerüst des Körpers heraus- differenziert haben. Infolgedessen sind auch die zur Bewegung der Skelettstücke erforderlichen Muskelgruppen bei Arthropoden und Wirbel- tieren in entgegengesetzter Weise angebracht, bei den Arthropoden in Hohlräumen der röhrenförmigen Hebelarme, bei den Wirbeltieren auf der Oberfläche der zentral gelegenen Skelettstücke. Dort inserieren sie an der Innenfläche der hohlen Chitinstücke mit chitinigen Sehnen, bier mit Strängen von leimgebenden Bindegewebsfasern auf der Außen- fläche der Knorpel oder Knochen. In beiden Fällen ist also die Extremität, die zur Fortbewegung auf der Erde dient, als ein Hebelwerk nach demselben Prinzip ausgebildet worden, aber in zwei ganz verschiedenen Ausführungen für den gleichen Zweck. 2) Mechanisch viel einfacher als die Extremitäten zur Fortbewegung auf dem Erdboden sind die Flossen zum Schwimmen im Wasser kon- struiert. Bei der Besprechung der hier vorliegenden Beziehungen zwischen Form und Gebrauchsweise beschränke ich mich auf den Stamm der Wirbeltiere. Wenn wir von den unpaaren Bildungen absehen, so finden sich paarige Flossen bei den Fischen (Selachiern, Ganoiden, Teleo- stiern) und bei wenigen Abteilungen der Reptilien und Säugetiere. Für die Fische stellen sie die allgemein verbreitete, ursprüngliche und typische Form der Gliedmaßen dar, bei den Reptilien und Säugetieren dagegen kommen sie nur solchen Abteilungen zu, die vom Leben auf dem Lande “ wieder zum Aufenthalt im Wasser übergegangen sind, wie man aus Eigentümlichkeiten ihrer Organisation zu schließen berechtigt ist. Ich nenne die Seeschildkröten und die Pinnipedier. Im Fall der Fische sind die Flossen direkt zum Gebrauch im Wasser entstanden, im zweiten Fall dagegen handelt es sich um Gliedmaßen von Landtieren, die erst sekun- - där wieder die Flossenform infolge der veränderten Lebensweise ange- nommen haben. Dieses Verhältnis kommt auch im Bau ihres Skeletts zum Ausdruck. Wenn wir die den Landbewohnern typische Extremität als ein vielarmiges Hebelwerk bezeichnet haben, so können wir die Flosse einer Ruderschaufel vergleichen, die wie ein einarmigeı Hebel (Fig. 94) wirkt. Durch die breiten, beiderseits vom Rumpf abstehenden Platten, die nur durch zwei antagonistisch wirkende Muskelgruppen bewegt werden, wird das Wasser wie durch die Schaufel von einem Rudeı verdrängt. Infolgedessen wird der im Wasser in Schwebe befindliche 424 Zehntes Kapitel. Körper teils vorwärtsgetrieben, teils in seiner statischen Lage erhalten, teils durch ungleiche kräftige Bewegung der Flossen der linken oder rechten Seite zur Veränderung seiner Schwimmrichtung befähigt. Hier- bei ist allerdings nicht zu vergessen, daß noch mehr als die paarigen Flossen die Rumpfmuskulatur durch kräftige Kontraktionen des Schwanze mit seinem Flossensaum als propulsatorischer Apparat bei den meisten Wassertieren mitwirkt. Bei den Fischen setzt sich das Skelett, welches der Ruderplatte Festigkeit verleiht und die Hautduplikatur bei ihrem Gebrauch aus- | gebreitet erhält, aus gene- IN ; tisch verschiedenen Bestand- 2 teilen zusammen und wird in ein primäres und sekun- däres eingeteilt. Das pri- märe Skelett (Fig. 94) ist bei den Selachiern am besten entwickelt und besteht aus zahlreichen platten Knorpel- stückchen (I, 2, 3, r, a,) die von der Ansatzstelle aus in Reihen angeordnet sind. Fig. 94. Linker Brustgürtel mit Flosse Unter diesen unterscheidet 3 von Heptanchus. Nach WIEDERSHEIM-HERTWwIG. man eine Stammreihe und s Scapula der linken, s’ der rechten Seite, z un- zahlreiche Nebenreihen, wel- terer Teil des Gürtels, »2 Nervenloch, z, 2, 3 Pro-, gi ö Meso- und Metapterygium, a Stammreihe, » Neben- che der ersteren in schräger reihen der knorpeligen Flossenstützen, r Hornfäden , B A oder Flossenstrahlen, bei A’ durchschnitten, da sie Richtung aufsitzen. Ver sonst die Enden der Flossenstützen zudecken würden. bunden durch straffes Binde- gewebe in einer Syndes- mose bilden die Knorpelstücke in ihrer Gesamtheit eine feste Platte, die nur als Ganzes in zwei Richtungen in einem freien Gelenk bewegt werden kann. Das Gelenk hat sich zwischen dem größeren Anfangsstück der Stammreihe, Metapterygium (3), dem häufig noch zwei Stücke der Nebenradien, Pro- und Mesopterygium (r u. 2) hinzu- gesellt sind, und einer konkaven Grube des Extremitätengürtels (s) entwickelt. Bei den Ganoiden und Teleostiern ist dies primäre Skelett verkümmert und besteht nur aus wenigen Stücken, diein Knochengewebe - umgewandelt sind. Dagegen dient ihnen als Ersatz ein sekundäres Skelett, das sich von Hautverknöcherungen herleitet und aus Reihen H von straff miteinander verbundenen Knochenplättchen, den Flossen- strahlen, zusammengesetzt ist. Die knöchernen Flossenstrahlen sind EST 05 27 25 9 Er NUR DL f rn Anpassungen der Organismen an die leblose Nätur. 425 - jetzt zur Hauptstütze der Hautduplikatur geworden, während die Elemente des primären Skeletts nur am Ansatz der Flosse liegen und nach wie vor die Gelenkverbindung mit dem Extremitätengürtel liefern. Wenn wir mit diesem Grundtypus der Flossen die Extremitäten der Meerschildkröten (Chelonien) und der Pinnipedier vergleichen, so zeigen sie äußerlich mit ihnen eine große Übereinstimmung erstens dadurch, daß sie erheblich kürzer sind als die Gehwerkzeuge der land- bewohnenden Reptilien und Säugetiere, daß sie zweitens die Gliederung in Ober-, Unterschenkel und Fuß mehr oder minder verloren haben, daß sie drittens die Form von Schaufeln haben, die ebenfalls nur als einarmiger Hebel gebraucht und nur in dem Gelenk am Extremitäten- gürtel bewegt werden. Dagegen weicht ihr Skelett, das ein primäres ist, vom primären Flossenskelett der Fische in der Zahl. Form und An- ordnung der Stücke erheblich ab und zeigt eine weitgehende Überein- stimmung mit den gegliederten Extremitäten ihrer landbewohnenden Verwandten; denn es setzt sich zusammen aus einem Femur, einer Tibia und einer Ulna, aus den typischen Fußwurzelknochen und den Phalangen. Nur sind alle diese Elemente in auffälliger und vielfacher Weise an ihre besondere Aufgabe angepaßt, zur Stütze einer Flosse beim Schwimmen zu dienen. Erstens sind Femur, Tibia und Ulna außerordentlich ver- kürzt, zweitens sind sie und ebenso auch die kleinen Tarsalstücke und die Phalangen dorsov(ntral stark abgeplattet, drittens haben sie ihre Beweglichkeit gegeneinander cingebüßt, indem die freien Gelenke einer strafferen Vereinigung durch kurze, feste Bindegewebsbänder haben Platz machen müssen. Viertens sind die Endphalangen, wenn sie noch von den Weichteilen überzogen sind, durch Schwimmhäute untcreinander verbunden. In dieser Weise bieten die Extremitäten der Meerschild- kröten und Pinnipedier nach zwei entgegengesetzten Richtungen Ver- gleichspunkte von prinzipiell verschieden.m Wert dar, sowohl mit den landbewohnender Wirbeltieren als auch mit den Fischen. Mit den ersteren verknüpfen sie Merkmale, die auf genetischen Beziehungen beruhen und daher als homolog bezeichnet werden, mit den letzteren dagegen Merkmale, die aus Anpassung an die Gebrauchsweise, mithin als Ana- logieen. zu erklären sind. 3) Die dritte Art der Extremitäten, die zum Fliegen dienen, kommt in den einzelnen Klassen des Tierreichs in drei verschiedenen Arten der Ausführung vor: bei den Insekten (Fig. 93 el), bei den Vögeln. bei den fliegenden Säugetieren. Wie bei der Fortbewegung im Wasser handelt es sich beim Fliegen um zwei verschiedene mechanische Aufgaben. Einmal ist der Körper in dem viel leichteren Medium in der Schwebe 426 Zehntes Kapitel. dadurch zu erhalten, daß der Schwerkraft entgegengewirkt wird, und zweitens ist er während der Schwebe gleichzeitig auch vom Orte fortzu- bewegen. Die auf diese Leistungen zu verwendende Kraft muß eine erheblich größere sein, als im Wasser, und zwar in demselben Verhältnis, als die Luft ein viel leichteres Medium als das Wasse: ist. Solchen Anforderungen entsprechend sind auch die zum Fliegen benutzten Extremitäten eingerichtet. Sie übertreffen die Flossen durch ihre Dimensionen in der Fläche und bilden so im ausgebreiteten Zustand zu beiden Seiten des Körpers eine große Tragfläche, die durch Ver- drängung der unter ihr befindlichen Luft durch die Aktion der Flug- muskeln dem Gewicht des Körpers so viel entgegenwirkt, daß er in Schwebe erhalten wird. Esliegt auf der Hand, daß, je größer und schwerer der in der Luft zu tragende Körper ist, um so größer die Trag- oder Flugfläche der Flügel und die motorische Kraft de- dazu gehörigen Muskel- apparates bemessen sein muß. Eine. Gliederung in mehrere, distal sich folgende Abschnitte, die bei den Landtieren die Extir_mität zum viel!- armigen Hebelwerk macht, würde beim Flügel ebensowenig wie bei der Flosse zweckentsprechend sein, da die Flugfläche genügend fest sein muß, wenn sie zur Verdrängun; der Luf: im ganzen bewegt wird. Sie stellt daher ebenfalls einen einarmigen Hebel dar, der im Gelenk an der Ansatzstelle am Rumpf durch antagonistische Muskelgruppen in entgegengesetzter Richtung bewegt wird. Bei dem ersten Typus, der sich bei den Insekten (Fig. 93 el) findet, sind ein oder zwei Paar Flügel am Rücken der Brustsegmente ange- bracht. In morphologischer Beziehung sind sie einfache Hautdupli- katuren. Ihre Festigkeit beruht auf dem vom Ektoderm ausgeschiedenen Chitinüberzug; sie wird noch vermehrt durch die sogenannten Nerven, die sich regelmäßig verästeln und anastomosieren. Die Nerven sind stärkere, mit der Chitinhaut zusammenhängende Chitinröhren, die Tracheen und Blut enthalten und mit der Leibeshöhle an der Wurzel des Flügels kommunizieren. Sie versteifen gleichsam die Flugmembran ähnlich wie die auf S. 375 beschriebene Nervatur der Pflanzenblätter (Fig. 60). Die zur Bewegung erforderlichen Muskeln liegen nur in dem Brustkorb und setzen sich mit chitinigen, sehnenartigen Fortsätzen an die Flughaut an. Wenn 2 Paar von Flügeln vorhanden sind, so sind an ihnen gewöhnlich Einrichtungen angebracht, durch welche eine gemeinsame Aktion bei ihrem Schlagen ermöglicht wird. So sind in vielen Fällen die einander zugekehrten Ränder der vorderen und hinteren Flügel „unter sich befestigt, bald durch krämpenartig umgeschlagene Leisten, die ineinander greifen (Cicaden), bald durch gekrümmte Haken “ Anpassungen der Organismen an die leblose Natur. 427 oder Dornen, die den verdickten vorderen Rand der Hinterflügel umfassen (Bienen und Schmetterlinge). In anderen Fällen äberragen die Ränder ® der Vorderflügel die hinteren um eine solche Strecke, daß sie sich nicht _ aneinander vorbei bewegen könen.“ Für die beiden anderen Typen der Flugwerkzeuge, die den Vögeln ; und den fliegenden Säugetieren eigen sind, gilt die schon früher für die Flossen der Meerschildkröten und der Pinnipedier gemachte Bemerkung, _ daß sie durch einen Funktionswechsel und durch eine hiermit zusammen- hängende Umbildung aus der Extremität der Land- bewohner, die ursprünglich als Hebelwerk eingerichtet war, hervorgegangen sind. Bei den VögtIn und Fleder- mäusen ist dies wieder in einer wesentlich verschie- denen Weise geschehen. Die Vögel benützen nur das vordere Extremitätenpaar als Flügel. Die Aufgabe, an diesem eine genügend große Flugfläche herzustellen, ist mit Hilfe des Federkleides gelöst worden (Fig. 95). In derHaut des Schwan- „,,, 2%, %, Dat Gefiser yon Falco ta. ı zes und der vorderen Ex- Armschwingen, Z7 Ecktlügel, S? Schultertlügel Üfremitäten haben die Federn |Kuraplerum), 7, 2%, 27 Deckteden sıSttunieien _ eine sehr beträchtliche Größe, Zr Brust, 34 Bauch, A’ Kehle, #” Wange, // Hinter- eine regelmäßige Anordnung haupt, ‚St Schiteh 5 Sam, 177 achhan m "und einen sehr kunstvollen kante des Unterschnabels. Bau erhalten. Sie werden von den einfacheren Dunen als Konturfedern unterschieden und diese zerfallen wieder in Schwanz- und Flugfedern. An jeder Konturfeder ist schon ihre Fahne (Vexillum) für sich als eine kleine Flugfläche ausgebildet. Sie setzt sich aus zwei Reihen parallel verlaufender verhornter Äste (Rami) zusammen, die zu beiden Seiten des Feder- schaftes dicht nebeneinander in einer Ebene angeordnet sind. Da- mit nun die Fahne als eine zusammenhängende Tragfläche gegen * die Luft wirken kann, dürfen die kleinen Hornästchen durch den Luftdruck, dem die Vogelflügel beim Gebrauch ausgesetzt sind, 2 428 Zehntes Kapitel. nicht umgebogen und überhaupt nicht aus ihrer Lage gebracht werden. Auch hierfür ist durch eine besondere Einrichtung gesorgt. Bei mikroskopischer Untersuchung wiederholt nämlich jeder Ramus wieder „im kleinen das Bild, welches die gesamte Feder ergibt: wie diese mit den Ästen, sind die Äste in fiedriger Anordnung links und rechts mit den Radien ausgerüstet. Die Radien bedingen den festen Zusammen- schluß des Vexillums, da bei der großen Nähe benachbarter Äste die zugewandten Radien sich in ihrem Verlauf kreuzen und decken; dabei greifen die hinteren mit gebogenen Häkchen, den Radioli, von oben zwischen die vorderen ein.‘ (RıcH. HERTwIG.) Jedes Seitenblättchen des Schaftes wird so mit dem zunächstliegenden durch zahlreiche Häk- chen fest verbunden, und es wird durch diese Vorrichtung, wie BERG- MANN und LEUCKART bemerken, ‚nicht bloß dem Ganzen der nötige innere Zusammenhang gegeben — man kann sich an frischen Schwung- federn leicht von dem Aneinanderhängen der Blättchen überzeugen — sondern es wird auch der Weg, welchen die Luft zwischen den Blättchen hätte, großenteils verstopft“. Die Einrichtung bietet eine gewisse Analogie zu den früher (S. 426) besprochenen umgekrümmten Leisten und Haken dar, durch welche bei Insekten der vordere und hintere Flügel einer Seite zu einer einheitlichen Flugfläche miteinander ver- bunden werden. 55 ie Wie schon das Vexillum für sich eine kleine Flugfäche darstellt, ° so sind auch die Schwungfedern in der Haut der vorderen Extremität so angeordnet, daß sie zusammen wieder eine große Flugfläche in voll- kommener Weise bilden. Zu dem Zwecke sind sie in mehreren Reihen (D, D‘, D“), die sich dachziegelartig übereinander legen, in der Haut befestigt, in welche sie sich mit der Federspule tief einsenken. Hier 6 sind sie durch Sehnen untereinander verknüpft, so daß sie gleichzeitig, ohne aus ihrer Ordnung zu kommen, aufgerichtet und niedergelegt H werden können. Auch kleine, eigene Muskelchen, die sich an den Schaft ansetzen, treten mit in Wirksamkeit. Indem sich die Schwungfedern H sowohl mit ihren Fahnen als auch durch ihre Übereinanderlagerung in Reihen teilweise decken, wird die Flugfläche für Luft undurchlässig und widerstandsfähig genug, um auch bei kräftigem Eee die Luft wie die Flosse das Wasser, zu verdrängen. Ihre feste Stütze finden die Flügel in einem Knochengerüst, das die typischen Stücke der landbewohnenden Wirbeltiere aufweist, aber entsprechend dem eingetretenen Wechsel der Funktion seinen neuen Aufgaben in anderer Weise als bei der Flosse angepaßt ist (Fig. 96) Denn da die Flügel aus dem früher erwähnten Grunde eine viel größere % Anpassungen der Organismen an die leblose Natur. 420 Oberfläche als die Flosse besitzen müssen, so sind auch Humerus (A), _ Radius (r), und Ulna (x) sogar von erheblicher Länge, Metacarpus (m) und Phalangen (9, £, #‘‘) sind in der Zahl der Radien stark reduziert. Da ferner die Flügel als einarmige Hebel gleich der Flosse wirken, sind . die Gelenke, durch welche die Knochen in Ober-, Unterarm und Hand verbunden sind, in ihrer Beweglichkeit sehr beschränkt. Carpalknochen, _ Metacarpus und Phalangen sind, soweit sie keine Rückbildung erfahren E haben, sogar teilweise untereinander verschmolzen. Ein vollständig % freies Gelenk besteht nur zwischen Humerus und Schultergürtel. Dieser ist als Stützpunkt für den Flügel, dessen Bewegung besonders große - Muskelmassen erfordert (s. S. 158), in seinen einzelnen Teilen (Sternum _ mit Crista, Furcula und Coracoid) auch entsprechend kräftig ausge- bildet. Fig. 9%. Flügelskelett des Storches. Nach GEGENBAUR. / Humerus, r Radius, 4. Ulns, ‚0, c‘ Carpalia der ersten Reihe, »z verschmolzene Carpalia der zweiten Reihe und Metacarpen, 2, 2', #2" Phalangen der 3 ersten Finger. Bei den fliegenden Säugetieren dienen als Tragflächen zum Schweben in der Luft zwei mächtige Hautfalten, die sich zu beiden Seiten des Körpers zwischen der vorderen und der hinteren Extremität entwickelt haben (Fig. 97). Sie füllen aber nicht nur den Zwischenraum zwischen “ diesen aus, sondern setzen sich sowohl nach vorn bis zum Kopf als nach rückwärts bis zum Schwanzende der Wirbelsäule fort. Sie erzeugen so im ausgebreiteten Zustand eine noch viel größere Oberfläche als die beiden Flügel des Vogels mit ihren Konturfedern. Um die dünne, nach- giebige Flughaut im ausgebreiteten Zustand beim Gebrauch zu ver- steifen und den sie bewegenden Muskeln feste Angriffspunkte zu bieten, werden die Skeletteile der beiden Extremtäten verwandt. Dieselben sind zwar in morphologischer Beziehung die gleichen wie bei den Geh- werkzeugen der Landbewohner, aber an ihre besondere Gebrauchs- weise auch wieder wie bei der Flosse der Pinnipedier und Seeschild- kröten, nur in entgegengesetzter Richtung, angepaßt. Dies tritt besonders an der vorderen Extremität hervor, da hier die Flughaut die größte Ausdehnung erreicht und auch durch die Muskulatur der vorderen Gliedmaßen wie bei den Flügeln der Vögel in Bewegung versetzt wird. Ober- und Unterarmknochen sind daher wie bei diesen stark verlängert, aber noch mehr schließen sich an die kleinen Carpalstücke die enorm langen Knochen der Mittelhand und der Finger an, und 430 Zehntes Kapitel. nehmen wie die Speichen eines ausgespannten Regenschirms den großen Randbezirk der Flughaut zwischen sich. Da zum Gebrauch der Glied- maßen zum Fliegen eine kräftige Flugmuskulatur erforderlich ist, sind die Brustmuskeln, wie schon für die Klasse der Vögel auseinandergesetzt wurde (S. 158), gut ausgebildet; ferner ist in Korrelation hierzu auch eine Crista sterni, allerdings im Vergleich zur Crista der Vögel in geringe- ren Dimensionen als Ansatzfläche für die Muskulatur entstanden. . Daß die Gebrauchsweise die Gestalt der Teile bestimmt und in den verschiedenen Klassen des Tierreichs zu konvergenter Naturzüchtung } führt, läßt sich an den „Extremitäten in unzähligen Einzelheiten nach- weisen, von denen ich nur noch zwei kurz hervorheben will. | Bei der Fortbewegung auf dem Lande treten die beiden hinteren Gliedmaßen als Werkzeuge, um den Körper vorwärts zu stoßen, nach ihrer Lage vorzugsweise in Wirksamkeit, während die vorderen mehr zur Stütze f DR und häufig auch wegen a @ Ne 7 Aa ) KA ungen zum Kopf zur Aus- führung feinerer Manipula- tionen benutzt werden. Dementsprechend sind die ersten sowohl in ihrem Skelett als auch in der zur Bewegung erforderlichen Muskulatur kräftiger ent- | . Fig. 97. Skelett und Flughaut des wickelt, wie man an dem en une Hinterlauf der Hasen, die unter den Nagetieren die besten Läufer sind, deutlich erkennen kann. Am ausgeprägtesten aber wird dieser Unterschied, wenn die Fortbewegung auf dem Lande sich in eine sprungartige verwandelt. Denn das Springen be- ruht darauf, daß die hinteren Gliedmaßen durch besonders kräftige Muskelaktion von dem Erdboden abgestoßen werden, während die vorderen hierbei überhaupt nicht in Aktion treten. Daher sehen wir bei allen springenden Landtieren, mögen sie dem Stamm der Wirbel- tiere oder der Arthropoden angehören, die Hinterextremitäten in allen ihren Bestandteilen solche Dimensionen annehmen, daß sie oft um ein Mehrfaches die vorderen an Länge und Dicke übertreffen. Unter den Säugetieren ist dies bei den Springmäusen und in besonders hohem Grade 7° € er MS ax E14 ihrer nachbarlichen Bezieh- ® ke Anpassungen der Organismen an die leblose Natur. 431 bei dem Känguruh der Fall, bei dem ein auffälliger Größenunterschied ‚zwischen den kleinen, zum Laufen überhaupt nicht mehr benutzten, vorderen Extremitäten und den gewaltigen Sprungbeinen besteht. An diesen sind in Korrelation zu der sehr kräftigen Muskulatur auch alle Skelettstücke des Oberschenkels, des Unterschenkels und des Fußes a entsprechend länger und stärker ausgebildet. Ganz analoge Verhältnisse bieten hierzu die springenden In- sekten dar, die auch wieder den verschiedensten Ordnungen und Fa- milien angehören können und daher in keinem verwandtschaftlichen Zusammenhang miteinander stehen, wie die Heuschrecken (Fig. 98), die Flöhe etc. etc. Ihre hinteren Gliedmaßen (Fig. 98) zeigen eine dem Känguruh vergleichbare Umwandlung; sie sind in ihren einzelnen Ab- schnitten oft doppelt und dreifach so lang wie die vorderen und entsprechend kräftig gebaut. Zumal der Femur ist enorm dick, da in ihm die beim Springen in Aktion tretende, kräf- tige Streckmuskulatur ein- gebettet ist. | Sehr lehrreich sowohl Fig. 98. Weibchen von Locusta caudata. für die Anpassung der Ex- Nach BRUNNER von WATTENWYL. Nur die Beine tremitäten an ihre besondere der linken Seite abgebildet. Das hinterste Bein- paar ist zu Sprungbeinen umgebildet. / Legebohrer. Gebrauchsweise, als auch für konvergente Naturzüchtung ist die Ordnung der Huftiere (Fig. 99). Ihre meisten Vertreter zeichnen sich durch die Schnelligkeit ihres Laufes aus, obwohl ihre zwei Bein- ‚paare eine größere Körperlast zu tragen und fortzubewegen haben. Im Vergleich mit anderen Ordnungen der Säugetiere hat der Fußab- schnitt ihrer Gliedmaßen eine wichtige und eigenartige Veränderung dadurch erfahren, daß ‚‚die primitive plantigrade Lokomotion“, wie sich GEGENBAUR ausdrückt, in die „digitigrade‘‘ umgewandelt ist. Aus ursprünglichen Sohlengängern sind Zehengänger geworden. Anstatt der ganzen, durch Tarsus, Metatarsus und Phalangen gestützten FuB- fläche dienen nur die letzten Fußglieder zum Stützpunkt des schweren Körpers und sind im Zusammenhang hiermit in einen dicken, durch Verhornung der Epidermis entstandenen Huf eingeschlossen. Tarsus, Metatarsus und die ersten Phalangen beschreiben mit dem Boden, von dem sie durch Muskelaktion abgehoben sind, einen mehr oder minder 432 Zehntes Kapitel. spitzen Winkel und schließen sich dadurch in ihrer Richtung an die Unterschenkelknochen an. Indem die Metatarsen sich noch außerdem in der Längsrichtung stark vergrößert haben, rückt das Fußgelenk sehr weit vom Boden ab und wird vom Laien nicht selten mit dem Knie- gelenk verwechselt. Durch diese Einrichtung ist das zusammengesetzte Hebelwerk, welches die Extremität der Landbewohner darstellt, noch um einige weitere auf den Boden senkrecht gestellte Hebelarme (Meta- tarsus, Phalangen) vermehrt und noch komplizierter geworden ; zugleich ist der ganze Rumpf über den Boden mehr in die Höhe gehoben, und - der Mechanismus seiner Lokomotion vervollkommnet. Die Verlagerung des Stützpunktes des Körpers auf das letzte Zehen- glied hat dann noch weiter zur Folge, daß die 5 Zehen, in welche die pentadactyle Grundform der Säugetiergliedmaßen ausläuft, durch den Körper in ungleicher Weise belastet sind; denn die mittleren liegen mehr in der Drucklinie des Körpers als die seitlichen. Jene werden daher in höherem Maße als diese funktionell in Anspruch genommen. Und das äußert sich wieder bei der Gestaltbildung wie überall im Organismen- reich darin, daß die stärker beanspruchten, mittleren Zehen kräftiger entwickelt werden, während die anderen die entgegengesetzte Richtung einschlagen und schließlich infolge ihrer immer geringer werdenden Beanspruchung mehr oder minder stark oder ganz verkümmern. In erster Linie sind hiervon die erste und fünfte Zehe als die am meisten randständigen betroffen. Hier liegt nun wieder ein interessanter Fall konvergenter Naturzüchtung vor. Denn in den beiden Unterordnungen der, Ungulaten, bei den Perissodactylen und den Artiodactylen, ist die beschriebene Umgestaltung des Fußskeletts in ganz selbständiger Weise eingetreten, weil bei ihnen trotz gleichartiger funktioneller Um- wandlung zugleich auch ein wichtiger morphologischer Unterschied besteht, der uns von einer Erklärung aus Vererbung auf Grund gemein- samer Abstammung ganz abzusehen zwing.. Der Unterschied liegt : darin, daß bei den Perissodactylen (Fig. 99 A) die dritte mittlere Zehe (III) allein zur Hauptstütze, auf der die Last des Körpers ruht, geworden ist, bei den Artiodactylen (Fig. 99 B) dagegen teilen sich dritte und vierte Zehe (III und IV) gleichmäßig in diese Aufgabe und sind daher gleich stark entwickelt. Im Hinblick auf dieses scharfe Unterscheidungs- merkmal werden ja auch die einen als Unpaarhufer, die anderen als Paarhufer bezeichnet. In jeder der beiden Gruppen lassen sich die zu ihnen gehörigen Arten in einer Reihe anordnen, die uns gleichsam die einzelnen Statione in der Rückbildung der ursprünglich pentadactylen Grundform veran Anpassungen der Organismen an die leblose Natur, 433 schaulicht. In beiden Reihenstehen am Anfangder Umwandlung die Arten, deren Fußskelett sich aus 4 ungleich großen Zehen aufbaut (Fig.99 A ı und Br). In beiden ist die erste Zehe ganz rückgebildet. Unter den Paar- hufern gehören hierher die Schweinearten (Fig. 99 B r). Ihre zweit. (IT) und fünfte (V) ist viel kleiner als die dritte (/II) und vierte (IV), die gleich stark sind, am Fußrand erheblich weiter vorstehen und daher den Boden allein berühren. Auch die Metatarsalia 2 und 3 sind schwächer und kürzer und mit ihren die Zehen tragenden Gelenkflächen mehr nach oben gerückt. Unter den Wiederkäuern (Fig. 99 B 2 u. 3) hat die Rück- A Perissodactylen B Artiodactylen Tapir Nashorn Pferd Schwein Hirsch Kamel Fig. 99A u. B. Fußskelett der vorderen Extremität der Huftiere. Nach FLOWER aus R. HERTWwIG. A Fußskelett der Perissodactylen oder Unpaarhufer. B Fuß- skelett der Artiodactylen oder Paarhufer. U Ulna, & Radius, s Scaphoid (Radiale), Z Lunatum (Intermedium), c Triquetrum (Ulnare), 9 Pisiforme, im Trapezium, td Tra- pezoid, n Capitatum, z Hamatum, »n?, m’ Rudimente des Metacarpus II u. V. /7Z bis V die zweiten bis fünften Finger. bildung der seitlichen Zehen noch weitere Fortschritte gemacht, und es sind bei ihnen zugleich die dritten und vierten Metatarsalia unter- einander zu einem kräftigen Skelettstück verschmolzen, das an seinem distalen Ende zwei getrennte Gelenkflächen besitzt und die beiden Hauptzehen trägt. Bei dem Hirs« h (B 2), der Ziege u. a. sind die zweiten und fünften Metatarsalia mit den zugehörigen Zehenphalangen (// und V) so stark verkümmert, daß sie mit ihren Hufen, den Afterklauen, nur noch als nutzlose Anhängsel dem verschmolzenenen Metatarsus ansitzen. Bei den Tylopoden (Fig. 99 B 3) sind auch diese Reste ge- schwunden. Ihr Fußskelett besteht jetzt nur noch aus den verschmolzenen 28 O. Hertwig, Das Werden der Organismen. >. Aufl. 454 Zehntes Kapitel. dritten und vierten Metatarsen, die an getrennten Gelenkflächen die kräftige dritte und vierte Zehe (III und IV) tragen. Damit hat der Reduktionsprozeß in dieser Reihe seinen höchsten Grad und seinen Abschluß erreicht. Vergleichen wir hiermit als Pendant die Perissodactylen (Fig. 99 A). Ein vierzehiges Fußskelett findet sich beim Tapir (Fig. 99 A ı). Die dritte Zehe (I/II) ist die kräftigste und springt am vorderen Fußrand am weitesten nach außen vor; etwas schwächer und kürzer sind die zweite (II) und vierte (/V), einander gleich großen Zehen. Die fünfte (V) ist die kleinste und tritt am weitesten am lateralen Fußrand zurück. Wenn diese sich ganz rückgebildet hat, wie beim Rhinoceros, ist das Fußskelett ein dreizehiges geworden (Fig. 99 A 2). Nun beginnen auch die zweite und vierte Zehe dem Reduktionsprozeß, den sie beim Tapir I 2 3 4 5 6 nen vyUür mwUn Fig. 100. Vorderfuß der Stammform des Pferdes. ı Orobippus” (Eocän), 2 Mesohippus (unteres Miocän), 3 Miohippus (Miocän), 4 Protohippus (oberes Pliocän), 5 Pliohippus (Pleistocän), 6 Equus. //—V zweiter bis fünfter Finger. Nach WIEDERSHEIM. und Nashorn schon begonnen haben, ganz zu verfallen; beim Pferd (Fig. 99 A 3) sind sie schon vollkommen geschwunden, bis auf ihre beiden Metatarsalia (II u. IV), die sieh als sehr dünne, biegsame Knochen- stäbchen, ‚Griffelbeine‘‘ genannt, dem ansehnlichen Metatarsale der dritten Zehe (III) angelagert haben. So hat das Pferd auch das dem Kamel entsprechende Endstadium der ganzen Reduktionsreihe erreicht. Der auf vergleichend-anatomischem Wege festgestellte Umwand- lungsprozeß der pentadactylen Grundform in eine paarhufige oder unpaarhufige Endform beim Kamel resp. Pferd hat durch paläonto- logische Forschungen noch an Interesse gewonnen. Berühmt sind be- sonders die fossilen Formen aus der Familie der Equiden. In den ver- schiedenen Schichten des Tertiärs hat man Skelette von Pferdearten ge- funden, die, je nachdem sie einer älteren oder einerjüngeren Erdformation angehören, auch eine Reihe von Formen des Fußskelettes zeigen, die sich durch allmählich erfolgende Reduktion voneinander ableiten lassen (Fig. 100). Der im Eocän gefundene Orohippus (r) gleicht dem Tapir Anpassungen der Organismen an die leblose Natur. 435 (Fig. 99 A I) in seinem vierzehigen Fußskelett. Dreizehig wie das Rhi- noceros (Fig. 99 A 2) sind Mesobippus (Fig. 100, 2) aus dem unteren Miocän, Miohippus (3) aus dem Miocän und Protohippus (4) aus dem oberen Pliocän; sie zeigen aber noch untereinander kleine Unterschiede in der Reduktion, indem das Metatarsale (V) bei Mesohippus schon rudimentär, bei Miohippas noch kleiner geworden und bei Protohippus ganz geschwunden ist. ‚Im Pleistocän beginnen dann die einzehigen Pferdearten (Fig. 100, 5 u. 6.), zunächst die noch mit großen Griffel- beinen ausgerüstete Gattung Pliohippus (V), dann die Repräsentanten der Gattung Equus (6) selbst.‘ Um die Verschiedenheiten zwischen der Entwicklung der ver- schiedenen Strahlen des pentadactylen Typus bei den Perissodactylen und Artiodactylen kausal zu erklären, wurde auf Seite 432 die Annahme gemacht, daß statische Momente auf die Entwicklung der Knochen in der Art einwirken, daß die funktionell stärker beanspruchten kräftiger werden und umgekehrt die entlasteten schwächer. Für die Richtigkeit dieser Annahme spricht ein schon 1864 von SEDILLOT ausgeführtes, lehrreiches Experiment. Der französische Physiologe entfernte bei jungen Hunden von den beiden Unterschenkelknochen teilweise die Tibia, indem er das Mittelstück resezierte. Die ganze Last des Körpers, welche sich sonst auf Tibia und Fibula verteilte, wirkte jetzt allein auf letztere ein. Die Folge von derartigen Operationen war, daß nach längerer Zeit die Fibula, die normalerweise fünf- bis sechsfach schwächer als die Tibia ist, diese an Größe und Dicke erreicht hatte, ja endlich ‚selbst noch übertraf. 25° Elftes Kapitel. Die Stellung der Organismen im Mechanismus der Natur (Fortsetzung). Dritter Abschnitt. Anpassungen der Organismen aneinander. Aus seinen umfassenden und scharfsinnigen Beobachtungen der lebenden Natur hat DArwın, wie er selbst sagt, einen Folgesatz von größter Wichtigkeit abgeleitet, nämlich den Satz: „daß die Struktur eines jeden organischen Gebildes auf die wesentlichste, aber oft ver- borgene Weise zu der aller anderen organischen Wesen in Beziehung steht, mit welchen es in Konkurrenz um Nahrung oder Wohnung kommt oder vor welchen es zu fliehen hat oder, von welchen es lebt.“ In der Tat sind die Organismen nicht nur mit der unbelebten Natur, sondern ebenso auch untereinander durch ein ungemein verwickeltes Netz von Beziehungen verbunden. Bald sind die Beziehungen nur locker, bald mehr oder minder fest, so daß sie die ganze Lebensweise und selbst die Organisation und Struktur eines Geschöpfes wesentlich mitbestimmen und zuweilen über Leben und Tod desselben entscheiden. Sie entwickeln sich hier zwischen verschiedenen Pflanzenarten, dort zwischen Pflanze und Tier, dort wieder zwischen zwei Tierarten und führen dadurch zwischen den Lebewesen die mannigfachsten Zusammenhänge herbei, von denen man einige besonders auffällige mit eigenen Namen als Sym- biose, als Kommensualismus, als Parasitismus etc. bezeichnet hat. Somit bildet die Erörterung, wie die spezifische Gestaltung der Geschöpfe durch ihre Beziehungen zu anderen beeinflußt wird, eine wichtige Er+ gänzung zu dem vorausgegangenen Abschnitt. a) Anpassungen zwischen Pflanzenarten. r Die berühmteste Anpassung zweier Pflanzenarten aneinander liefern uns die Flechten. Wegen ihrer eigentümlichen Form und Leben Anpassungen der Organismen aneinander, 437 weise wurden sie in früheren Zeiten allgemein für eine artenreiche und weitverbreitete Klasse niederer, leicht unterscheidbarer Pflanzen ge- halten, bis durch die morphologischen Untersuchungen von DE Barry und SCHWENDENER und durch die experimentellen und entwicklungs- geschichtlichen Arbeiten von BARANETZKY, REES und Srtanı nach- gewiesen wurde, daß sie eine soziale Verbindung von zwei Pflanzen, die im System weit auseinanderstehen, eine Symbiose von Pilz- und Algenarten sind. Anstatt einer einfachen Organismenart, wie wir sie im System gewöhnlich vor uns haben, repräsentiert jede Flechts ein Fig. 101. Stark vergrößerter Durchschnitt durch ein Stück Flechte. Nach STAHL. Die Flechte setzt sich zusammen 1) aus den Pilzfäden (P), die, sich in allen Richtungen durchkreuzend, ein dichtes Geflecht bilden, und 2) aus den Algen- zellen /4), die, grün gefärbt und wie Stücke einer Perlschnur aneinandergereiht, im Pilzgeflecht liegen. merkwürdiges Doppelwesen. Ihre eine Komponente sind Pilzfäden aus der Abteilung der Ascomyceten; sie liefern durch ihre Verzweigung ein dichtes Geflecht, in dessen Maschen als zweite Komponente zahl- lose kleine Algenzellen bald mit grünen, bald roten, bald gelben Farb- „Stoffen eingeschlossen sind. Da die Algen wegen ihres Farbstoffes auf Licht und Luft zur Unterhaltung ihres Lebensprozesses angewiesen sind, nehmen die Flechten bei ihrem Wachstum ähnliche Formen an, wie die vielzelligen, chlorophylihaltigen Pflanzen. Entweder bilden sie, “wie die Laubflechten, flächenartig ausgebreitete Blätter und Krusten, oder sie stellen, wie die Bartflechten, vielfach verzweigte, kleine Büschel 438 Elites Kapitel. dar. Ihre zahlreichen verschiedenen Arten aber kommen dadurch zu- stande, daß immer eine bestimmte Pilzart sich nur mit einer bestimmten Algenart vergesellschaftet. Durch ihre Symbiose ergänzen sich die beiden artverschiedenen Komponenten der Flechten in ihrem Stoffwechsel, der ja bei Pilzen und Algen in einem gewissen Gegensatz erfolgt. Denn die Algenzellen allein sind wie die chlorophyllhaltigen Pflanzen befähigt, die Kohlen- säure der Luft aufzunehmen und zu zersetzen und aus diesem Ausgangs- material Kohlehydrate und mit ihrer Hilfe wieder andere organische Substanzen zu bilden; ‚dagegen sind die Pilze, da ihnen mit dem Chloro- phyll auch die Kohlensäureassimilation abgeht, zu ihrem Lebensunter- halt auf schon fertig vorhandene organische Substanz angewiesen. Die Pilze sind daher entweder Parasiten auf anderen Pflanzen oder vegetieren auf organischen, in Zersetzung begriffenen Substraten, z. B. als Humus- { bewohner. Als Bestandteile der Flechten aber sind die zur Gruppe der Ascomyceten gehörenden Pilze in ihrer Verbreitung von organischen Sub- straten unabhängig geworden, da sie das notwenige Nährmaterial sich direkt von den Assimilationsprodukten der Algen aneignen. Diesen dagegen werden Salze und Flüssigkeit wieder von dem auf einer Unterlage ausgebreiteten Pilzmycel zugeführt. Infolgedessen sind die Flechten befähigt, an Standorten vorzukommen, auf denen jeder Kom- ponent für sich allein zugrunde gehen würde. Vermögen sie doch selbst auf festen Gesteinen, auf Sand-, auf Ouarz- und Granitfelsen Krusten zu bilden, indem die Pilzfäden in sie eindringen und die Mineralien zer- setzen, während sie sich von den Algenzellen mit organischer Substanz versorgen lassen. Auch bei den Flechten besteht also zwischen ihren beiden Kom- ponenten eine physiologische Arbeitsteilung. Diese unterscheidet sich aber von den Fällen, die wir schon früher im vierten Kapitel (S. 136). eingehend besprochen haben, in einem sehr wesentlichen und wichtigen Punkte. Während bei Pflanzen und Tieren die arbeitsteilig gewordenen Zellen, auch wenn sie noch so stark voneinander differenziert worden sind, artgleich bleiben, erhält sich bei den Flechten die Artverschieden- heit der beiden Komponenten auch bei der innigsten Gemeinsch selbst dann, wenn die eine ohne die andere nicht existieren kann un wenn das von ihnen gebildete Doppelwesen den Eindruck eines ein heitlichen Organismus beim Beobachter hervorruft und vom Sys matiker daher auch als eine Species behandelt wird. In einem Pun tritt die doppelartige Natur der Flechten stets in voller Klarheit zu nämlich bei ihrer Fortpflanzung. Eine Pilzzelle besitzt niemals die Fähi Anpassungen der Organismen aneinander. 439 _ keit, eine Algenzelle, und diese ebensowenig die Fähigkeit, eine Pilz- zelle hervorzubringen. Die eine Zellenart kann auf die andere ihre Eigen- schaften nicht übertragen. Soll ein neuer Flechtenorganismus daher gebildet werden, so ist dies nur in der Weise möglich, daß der Pilzkörper und der Algenkörper ihre eigenen Fortpflanzungszellen liefern. Diese werden dann nach ihrer Abtrennung vom Mutterorganismus bei ihrer Keimung wieder durch Zufall zusammengeführt und vereinigen sich von neaem zu einem Mischgebilde. Aus der Pilzspore wächst ein Mycel- ‚faden hervor, der sich eine Zeitlang durch Sprossung vergrößern kann, aber schließlich zugrunde geht, wenn er nicht mit der als Partner ihm zugehörigen Algenart zusammentrifft. Ist dies aber geschehen, so legt er sich ihr innig an und umspinnt sie mit Seitenästen, die er treibt. Beide beeinflussen sich dann in der Art ihres Wachstums so sehr, daß sie zu- sammen eine durch bestimmte Merkmale genau charakterisierte Lebens- form bilden, welche weder mit Pilzen noch mit Algen eine entfernte Ähnlichkeit hat. Zu einer interessanten Anpassung kommt es übrigens auch bei der Fortpflanzung vieler Flechten Anstatt daß sich die Keime der beiden Symbionten getrennt aussäen und durch zufälliges Zusammen- treffen zu einem Doppelwesen von neuem vereint werden, können im Flechtenthallas auch gleich Fortpflanzungsprodukte, die beide Be- standteile enthalten, entstehen. Es sind kleine, sporenähnliche Körper- chen aus wenigen Algenzellen (Gonidien), die gleich von Pilzhyphen umsponnen sind. Sie werden Soredien genannt. Indem sie an manchen Stellen in größerer Zahl angelegt werden, treten am Thallus Wülste und Polster auf, die bei erlangter Reife aufbrechen und ihren Inhalt, ein feines, mehliges Pulver, ausstreuen. Durch den Wind über weite Strecken verbreitet, können die Soredien, wo sie geeignete Bedingungen auf einem Substrat finden, gleich zu einer neuen, jungen Flechte aus- wachsen, da sie ja schon beiderlei artverschiedene Fortflanzungszellen in sich vereinigen. So ist der Fortbestand des Doppelwesens schon gleich beim Fortpflanzungsakt durch die Soredien sichergestellt. Nicht minder deutlich als bei den Flechten läßt sich der Einfluß, den die Anpassung zweier Pflanzen aneinander auf ihre Lebensweise und Gestaltbildung ausübt, beim pflanzlichen Parasitismus, also bei den zahlreichen Fällen erkennen, in denen eine Art als Parasit von einer anderen als ihrem Wirt in irgendeiner Weise Nutzen zieht, Ohne auf die verschiedenartigen, oft sehr interessanten Anpassungs- erscheinungen der parasitischen Pilze einzugehen, wil! ich nur an einigen höher organisierten Pflanzen kurz nachweisen, wie die Anpassung an 440 Elftes Kapitel. eine Wirtspflanze die Beschaffenheit mancher Organe und Gewebe in mehr oder weniger auffälliger Weise abändert. Ich wähle die Mistel, die Cuscuta- und Orobanchearten, welche eine Stufenfolge interessanter, auf Parasitismus beruhender Metamorphosen darbieten. Die Mistel (Viscum album) schmarotzt auf den Ästen von Apfel- bäumen, Pappeln und anderen Arten, aus deren Holzkörper sie anstatt aus dem Boden Feuchtigkeit und Nährsalze aufsaugt. Zu dem Zweck durchbohren ihre Wurzeln die junge Baumrinde, in deren tieferen Schich- ten sie weiterwachsen und von bier aus unter rechtem Winkel zahlreiche kleine Seitenzweige, die Senker, in den Holzkörper hineintreiben. Mit ihrer Hilfe bezieht die Mistel aus dem Saftstrom des Wirtes ihren eigenen Bedarf. Die Ausbreitung der Viscumwurzeln im Wirtsgewebe anstatt in der Erde hat zur Folge, daß sie von dem charakteristischen Bau echter Wurzeln wenig erkennen lassen. ‚Selbst das so bezeichnende axile Gefäßbündel ist‘, wie SAcHs hervorhebt, ‚wesentlich reduziert; besonders auffallend aber ist die den Umständen angepaßte Eigentüm- lichkeit der Senker, daß ihr Vegetationspunkt sich in Dauergewebe umwandelt, während das, allerdings unbeträchtliche Längenwachstum an derjenigen Stelle fortgeführt wird, welche in der Cambiumschicht des ° Baumastes liegt.‘‘ Dagegen ist der oberirdische Teil der Mistel durch den Parasitismus nur wenig verändert, da er in Zweige und Blätter mit chlorophylihaltigen Zellen gegliedert ist, in derselben Weise wie andere Phanerogamen funktioniert und selbst durch Erzeugung von Kohlehydraten etc. zum Wachstum beiträgt. Viel intensiver sind manche andere Phanerogamen, wie Cuscuta, Orobanche etc., durch den Parasitismus verändert worden, indem sie sich in ihrer ganzen Ernährung von dem Wirt abhängig gemacht haben. Sie haben ihren Chlorophyllapparat eingebüßt und müssen daher außer Saft und Salzen auch noch fertige organische Substanzen, Kohle- hydrate, Zucker etc. in gelöstem Zustand von der zweiten Pflanze be- ziehen. In solchen Fällen äußert sich die parasitische Lebensweise nicht nur in einer noch intensiveren Veränderung der Wurzeln, sondern auch in einer weitgehenden Umgestaltung des oberirdischen Pflanzen- körpers. Die Wurzeln sind in Haustorien umgewandelt, welche an verschiedenen Stellen in den Wirtskörper eindringen und ihn bis ins Mark hinein durchsetzen. Hierbei verlieren sie noch mehr als bei der Mistel den typischen Bau der Wurzeln. Denn das Gewebe der Haustorien löst sich schließlich in einzelne Zellfäden auf, die sich auf das innigste mit dem Gewebe der Wirtspflanze und mit ihren Gefäßen im Holz- körper verbinden und dadurch befähigt werden, ihnen jetzt auch or- 2 Anpassungen der Organismen aneinander. 441 ganische Verbindungen zu entziehen. In anderen Fällen eines derartig weiter entwickelten Parasitismus (Rafflesiaceen) ist es dann nur bei sorgfältiger Untersuchung möglich, überhaupt eine Grenze zwischen _ den durcheinander gewachsenen Geweben der beiden Species nachzu- weisen. Der Parasit bestreitet jetzt seinen gesamten Haushalt äuf Kosten der Wirtspflanze, und dies macht sich dann auch wieder bei der ganzen Gestaltung seiner oberirdischen Teile geltend. Der Mangel des Chlorophylis, der die echten Schmarotzer, wie Orobanche, Cuscuta, Monotropa, Rafflesien, etc. kennzeichnet, wirkt der Oberflächenentwick- lung, welche chlorophyllhaltige Zellen nach den früher besprochenen Regeln pflanzlichen Wachstums (S. 368) notwendig machen, direkt entgegen und macht sie überflüssig. Daher ‚besitzt keine einzige chlorophyll- freie oder sehr chlorophyllarme Pflanze‘, wie L. Sachs (l. c. 1882. p. 444) zusammenfassend bemerkt, ‚den gewöhnlichen Habitus, am aller- wenigsten die großen Blätter, überhaupt die Flächenentwicklung und den schlanken Wuchs der normalen Pflanzen. Dies ist in so hohem Grade der Fall, daß jeder auch nicht mit botanischen Dingen Vertraute sofort in den chlorophyllfreien Schmarotzern und Koprophyten Organismen von ganz eigenartiger Struktur erkennt. Kein anderes biologisches Verhältnis bewirkt eine so tiefgreifende, die gesamte Organisation tref- fende Veränderung in den Pflanzen, wie der Chlorophylimangel und die Aufnahme organischer Substanz: dies geht soweit, daß auch die Fort- pflanzungsorgane in hcehem Grade degradiert und beeinflußt werden, daß alle chlorophyllfreien Pflanzen, selbst wenn sie von hochorgani- sierten, phanerogamen Typen abstammen, durch äußerst kleine, oft fast mikroskopische Samen ausgezeichnet sind und daß die Embryonen in diesen Samen oft nur wenigzellige, äußerlich nicht gegliederte Körper darstellen: bei den Rafflesien, Balanophoren, Orobanchen, Monotropa ohne jede Spur von Wurzel- und Sproßanlage, bei den Cuscuteen nur mit schwacher Andeutung einer solchen‘. b) Anpassungen zwischen Pflanze und Tier. 1. Die Anpassung der insektenfressenden Pflanzen, Auch Pflanzen und Tiere können in so innige Lebensbeziehungen zueinander treten, daß infolgedessen die wunderbarsten Anpassungen in der Gestaltung einzelner Organe zustande kommen. Bald ist hierbei die Pflanze, bald das Tier der veränderte und angepaßte Teil, bald ist bei beiden eine gegenseitige Veränderung nach Art eines korrelativen Verhältnisses eingetreten. 442 Elftes. Kapitel, Kann es wohl, wenn wir mit dem ersten Gegenstand unseres Thema beginnen, etwas Merkwürdigeres als die Einrichtungen geben, durch die sich die ‚„insektenfressenden Pflanzen‘ abweichend von fast allen Phanerogamen nach Art von Fleischfressern ernähren! Nachdem die ersten Beobachtungen und Experimente über Verdauung tierischer Substanzen durch einzelne Pflanzen schon früher von mehreren Forschern, Kanßy, TREAT, HOOKER (I866—ı1874) gemacht worden waren, hat Darwın in seiner Monographie ‚Insectivorous plants‘ 1875 das interes- sante Thema erschöpfender behandelt und zu einem Gegenstand von allgemein wissenschaftlichem Interesse gemacht. Jetzt kennt man nicht weniger als 500 insektenfressende Phanero- gamen, die 15 Gattungen angehören und für den gleichen Zweck zum Teil ganz ver- schiedenartige Einrichtungen unabhängig von- einander entwickelt haben. Um einen Ein- blick in dieselben zu gewinnen, soll hier nur auf Drosera, Pinguicula, Dionaea und Nepenthes kurz eingegangen werden. Unser einheimischer Sonnentau, Drosera rotundifolia, welcher auf Moorflächen gedeiht, besteht aus einer Rosette von wenigen ge- stielten kleinen Blättern, aus deren Mitte zur Blütezeit ein Blütenstengel senkrecht emporsteigt. Jedes Blatt (Fig. 102) ist kreis- rund und trägt auf seiner Oberfläche stil- Fig. 102. Blatt von Dro- artige Auswüchse, die sogenannten Ten- sera rotundifolia, von oben 2 & gesehen, mit eingekrümmten takel, die nach dem RandezanzasugezzuE en aut der linken Seite. nehmen. Die Tentakel sind an ihren Enden ä Er knopfartig verdickt und zu einer Art von Drüse umgewandelt, welche glänzende Tröpf- chen eines zähen, klebrigen Schleims ausscheiden und mit ihnen kleine Insekten, die auf das Blatt kriechen, festkleben und bis zu ihrem Tode festhalten. Hierauf wird durch den Reiz des festgeklebten Insekts eine saure und pepsinhaltige Flüssigkeit von den Drüsen- haaren ausgeschieden, zugleich aber werden durch ihn auch die in der weiteren Umgebung gelegenen Tentakel veranlaßt, sich umzukrümmen, sich über das Insekt herüberzulegen und es mit ihrem hervorquellenden Sekret zu übergießen. Durch allmählich erfolgende Umbiegung des ganzen Blattrandes wandelt sich schließlich das Blatt in eine mit dem sauren, peptonisierenden Ferment gefüllte Schale um. Wenn dann nach an et ie Anpassungen der Organismen aneinander, 443 J längerer Zeit alle verdaubaren Bestandteile des Insekts in Lösung über- ‚geführt und von den Pflanzenzellen resorbiert worden sind, richten sich die Tentakel allmählich wieder in ihre ursprüngliche Lage auf, und ebenso breitet sich das Blatt wieder glatt aus, an dessen Oberfläche die ausgesaugten Chitinhüllen solange anhaften, bis sie abfallen. Ähnliche Verhältnisse bietet das gleichfalls in Mooren vorkommende Fettkraut, Pinguicula vulgaris, dar (Fig. 103 A). Es besitzt eine \ | B> DW, u „et a Ba en Pu Fig. 103. Pinguicula vulgaris, Fettkraut. Nach Wrısmann. A Die ganze Pflanze mit eingerollten Blatträndern und einigen von ausgeschiedenem Schleim ge- fangenen Insekten. B Querschnitt durch ein solches Blatt, 5omal vergrößert, r Rand desselben, Dr, Dr' die zweierlei Drüsen, bei C 28omal vergrößert. Rosette von dicken, saftgrünen, zungenförmigen Blättern. Auf der sammetartigen Oberfläche ders:!ben (Fig. 103 C) finden sich zwei Arten von Drüsen, die ein peptonisierendes, saueres Sekret ausscheiden und sich mit einem Pilzhut vergleichen lassen, der bei der einen Art einem längeren Stiel aufsitzt, bei der anderen fast im Niveau der Blattfläche liegt. An der klebrigen Oberfläche festgehaltene Insekten werden allmählich in einen großen Tropfen Sekret eingeschlossen, abgetötet und verdaut, 444 , Elftes- Kapitel. Auch hier rollen sich die Blattränder infolge des Reizes langsam nach oben zusammen (Fig. 103 B). Die bei Drosera und Pinguicula noch wenig ausgebildete Fähigkeit der Blätter, sich an ihren Rändern einzukrümmen, hat zu einer weit vollkommneren, merkwürdigen Einrichtung bei der Fliegenfalle, Dio- naea muscipula, geführt. Ihre Blätter (Fig. 104 A) bestehen aus zwei symmetrischen Hälften, die durch eine breite, die Fortsetzung des Stiels bildende Mittelrippe voneinander getrennt sind. Im Zustand der Ruhe haben sie die Form einer, Rinne, deren Wände zusammen einen rechten Winkel bilden. Die Ränder der Blätter sind mit einer Reihe starker, langer Stacheln besetzt. Ferner erheben sich auf der oberen Fläche jeder Hälfte drei feine Borsten, die gegen jede Be- rührung äußerst empfindlich sind, wie die Tastborsten in der Oberhaut wirbel- loser Tiere. Ihre Berührung hat ein plötzliches und kräftiges Zusammen- klappen der beiden Blatthälften zur Folge (Fig. 104B). Wenn daher Fliegen oder selbst größere und kräftigere Tiere, wie Kellerrasseln, auf das Blatt kriechen und an die Tastborsten anstoßen, so werden sie sofort durch das Zusammen- Fig. 104. Blatt von Dionaea klappen der Blatthälften in eine Falle muscipula. Nach KERrNERr. A Blatt- eingeschlossen. Es besteht für- sie spreite Spr geöffnet, SZ Stiel, Sich h £ Rs 5 sensitive Stachel. B Durchschnitt UM SO weniger eine Möglichkeit, aus eines Blattes mit geschlossener Spreite. Jem Gefängnis zu entschlüpfen, als die oben erwähnten starken Stacheln der beiden Ränder wie die ineinander geschobenen Finger zweier Hände zu- sammengreifen und einen festen Verschluß herstellen, der sich nicht früher löst, als bis die eingefangene Beute verdaut ist. Denn in der Tat kann man jetzt das zusammengeklappte und zu einem Sack geschlossene Dionaea- blatt mit einem tierischen Magen vergleichen. Wird doch von zahl- reichen Drüsenhaaren mit scheibenförmigen Endköpfchen ein ähnliches Sekret wie bei Drosera etc. ausgeschieden. Je nach der Größe des ein- gefangenen Tieres kann es 3 bis 6 Tage dauern, bis die Verdauung be- endet ist und bis die beiden Blatthälften sich wieder öffnen und zur Ruhestellung zurückkehren. Während die bisher besprochenen Blätter mit Drüsenhaaren viel u. Anpassungen der Organismen aneinander. 445 Gemeinsames in ihrem Bau haben und sich von Pinguicula zu Drosera und von dieser zu Dionaea in einer immer vollkommener werdenden Reihe anordnen lassen, ist bei einer anderen Familie fleischfressender Pflanzen, bei den Nepenthesarten, die Einrichtung zur Fleischverdauung nach einem anderen Prinzip und in einer besonders merkwürdigen, komplizierten Weise ausgeführt. Auch die Nepenthes-Arten treten in Moorgebieten von Asien, Ceylon und Madagaskar am Rande von Wäl- dern auf; sie sind zugleich Kletterpflanzen, welche sich an Bäumen und Sträuchern emporwinden. Als Insektenfalle dient ihnen eine Kanne (Fig. 105 Fk), die bei manchen Arten eine Höhe von 4—Iocm, bei anderen aber sogar von 30 cm erreicht. Sie hat sich in höchst eigentümlicher Weise aus dem Ende einer Ranke (St) entwickelt, welche aus der Spitze der langen Blätter hervorwächst, die Zweige anderer Pflanzen umschlingt, dann eine Strecke weit frei in der Luft herab- hängt und zuletzt wieder nach oben scharf umbiegt. Das nach oben umgebogene Ranken- ende ist trichterartig erweitert (Fk), im Inneren ausgehöhlt und dadurch zur kannen- förmigen Insektenfalle umgewandelt, die sich’ in ihrem Aussehen mit der Blüte einer Aristolochia vergleichen läßt und durch ihre oftmals bunte Färbung die Aufmerksamkeit der Insekten erregt. Der Rand (R) der FR ron Ar Kanne ist nach unten umgeschlagen und mit Kerrxer. ‚7 Stiel des Blattes, einer Reihe nach abwärts gerichteter, spitzer ae Weiche Stacheln versehen. Da er Honig ausscheidet, krümmten Stacheln besetzte lockt er viele Insekten, unter ihnen auch Rand derselben. Ameisen, zum Besuch und zur Nahrungs- aufnahme an. Hierbei sind die Besucher der Gefahr ausgesetzt, in die Höhle der Kanne hineinzufallen. Denn die Innenwand derselben ist im oberen Bezirk unter dem umgebogenen und ge- zahnten Rand spiegelglatt. Wenn daher die nach Honig suchenden In- sekten beim Herumkriechen auf die gleichsam glatt polierte Fläche gelangen, verlieren sie den Halt und fallen in eine mehrere Zentimeter hohe Verdauungsflüssigkeit, mit welcher der Boden gefüllt ist. Sie ıst das Sekret von vielen tausend kleinen Hautdrüsen, welche den unteren 446 Elftes Kapitel. Bezirk der inneren Kannenwand bedecken. Auch sie enthält, wie bei den anderen insektenfressenden Pflanzen, ein pepsinartiges Ferment, zu dem noch von dem Moment an, wo eingefangene Insekten verdaut zu werden beginnen, eine von der Wand ausgeschiedene Säure hinzutritt. Bei anderen Nepenthesarten beobachtet man auch Kannen von etwas einfacherem Bau, als ihn die eben beschriebene Nepenthes villosa zeigt, so daß ein vergleichendes Studium uns hier ebenfalls mit einer Stufen- folge einfacher und dann immer vollkommener werdender Einrichtungen bekannt macht. Indessen muß man’sich hüten, im Hinblick auf die interessanten Ein- richtungen zum Einfangen und Verdauen von Insekten den hieraus erwachsenden Nutzen für die betreffenden Pflanzen zu überschätzen. Denn wie durch Versuche von verschiedenen Seiten festgestellt ist, können Drosera, Dionaea, Nepenthes etc. sich auch ohne Zufuhr animalischer Kost allein durch ihre Wurzeln und chlorophyligrünen Blätter während mehrjähriger Kultur wie gewöhnliche Pflanzen ernähren und erhalten. Nur kräftiger scheinen die Exemplare auszufallen, denen gleichzeitig Gelegenheit zum Insektenfang gegeben ist. Daher betrachtet SACHS (l.c. p. 452) die Verdauung kleiner Tiere nicht gerade als eine absolute Notwendigkeit für die Existenz der insectivoren Pflanzen, sondern nur als eine Nachhilfe zu ihrem kräftigeren Gedeihen. ‚Mir scheint‘, erklärt er, „daß wir bei den insectivoren Pflanzen den merkwürdigen Fall erleben, daß die Natur komplizierte Einrichtungen veranstaltet, um schließlich einen höchst unbedeutenden Effekt zu erzielen; denn wenn auch nicht bezweifelt werden darf, daß die kleinen Mengen eiweiß- artiger Substanz, welche die insectivoren Pflanzen aus tierischen Körpern in sich aufsaugen, ihrem Gedeihen nützlich sind, so fällt andererseits doch der Gegensatz auf zwischen den komplizierten Einrichtungen zu diesem Zweck und der offenbar höchst geringen biologischen Leistung derselben; denn es ist gewiß nicht zweifelhaft, daß gerade die hervor- ragendsten Insektenfresser, wie Dionaea und Nepenthes, auch ohne diesen gelegentlichen Zuschuß an organischer Substanz immerhin ge- deihen können.‘ 2. Die Anpassung der Mundwerkzeuge der[Insekten an die Art des Nahrungserwerbs. $* Viel mehr als die Planzen an die Tiere, sind diese an jene in ihrer Lebensweise und Organisation auf das allermannigfachste angepaßt. Vor allen Dingen gilt dies für die Klasse der Insekten. Die große Zahl Be ® Anpassungen der Organismen aneinander. 447 der Arten, die man auf 250000 schätzt, hängt damit zusammen, daß sehr viele in ihrer Existenz von ganz bestimmten Pflanzen abhängig sind, auf denen sie leben und sich ernähren. Der Systematiker hat dieses - Verhältnis häufig dadurch zum Ausdruck gebracht, daß er den Species- namen nach der Nährpflanze gewählt hat. So spricht man bei den- Schmetterlingen von einem Wolfsmilch-, einem Krapp-, einem Linden-, _ einem Pappel-, einem Ligusterschwärmer, einem Föhren-, einem Kiefern- spinner, einem Kohlweißling etc., oder in der Ordnung der Schnabel- kerfe von einer Aphis rosae, A. brassicae, A. tiliae etc., von einem Cher- mes abietis, Ch. laricis, einer Reblaus (Phylloxera vastatrix) etc., oder von einem Coccus cactei, der sich auf Kakteen, und einem C. lacca, der sich auf Ficus religiosa findet. Und wie an verschiedene Pflanzen, so können Vertreter der Insekten sich auch wieder an die verschiedenen Teile der Pflanzen, an ihre chlorophyllhaltigen Blätter, an ihre Blüten, an ihr Wurzelwerk angepaßt haben, indem sie von ihnen ausschließlich Nahrung beziehen. Zu den Organen der Insekten, die von der Lebens- weise auf bestimmten Pflanzenteilen am meisten beeinflußt werden, gehören die Extremitäten und ganz besonders die Mundwerkzeuge. Auch die letzteren sind, wie die vergleichende Anatomie lehrt, Extremi- täten der Kopfsegmente, die wegen ihrer Lage in der Umgebung der | Mundöffnung eine Verwendung im Dienste der Nahrungsaufnahme gefunden haben und dementsprechend umgebildet worden sind. Allen Insekten kommen 3 Paar Mundgliedmaßen zu, die nach ihrer Lage von vorn nach hinten als Mandibeln, als erste und zweite Maxillen bezeichnet werden. Da die zweiten Maxillen gewöhnlich in der Medianebene unter- einander zu einem unpaaren Stück verschmolzen sind, heißen sie auch Unterlippe oder Labium. Meist bestehen die Mundgliedmaßen aus mehreren, beweglich unter- einander verbundenen Stücken. Je nach der Ernährungsweise haben sie eine sehr verschiedene Form in den einzelnen Ordnungen der Insekten angenommen und können hiernach in beißende, leckende, saugende und stechende eingeteilt werden. Der gemeinsamen Grundform, auf welche sich dieselben trotz aller nicht unerheblichen Differenzpunkte zurückführen lassen, stehen die beißenden Werkzeuge der Coleopteren, der Orthopteren, der Schmet- terlingsraupen etc. am nächsten (Fig. 106). Sie werden zum Ergreifen der Nahrung, wie der Stengel und Blätter der Futterpflanzen und zum Abnagen benutzt. Zu diesem Zweck ist die Mandibel (md) zu einer kräf- tigen, mit gezähntem Rand versehenen Beißzange umgewandelt. Die erste Maxille (mx) besteht aus mehreren, gelenkig verbundenen Gliedern, 448 Elites Kapitel. der Cardo (c) und dem kräftigeren Stipes (si). Erst dieser trägt neben- j einander eine äußere und eine innere Kaulade (le u. 4), von denen gewöhnlich nur die innere mit Kauzähnen oder mit einer scharfen Schneide ausgestattet ist und wie die Mandibel mit zum Kauen dient. Zu beiden gesellt sich außerdem noch ein mehrfach gegliederter Taster (#m Palpus) Fig. 106. Fig. 106. Beißende (kauende) Mundgliedmaßen der Schabe (Periplaneta orientalis). Nach R. HERTWwIG. Fig. 107. Leckende Mundgliedmaßen der Hummel (Bombus terrestris). Nach R. HERTWiG. E Für die Figuren 106 und 107 gelten folgende Bezeichnungen: / Laden, Zr Ober- lippe. md Mandibeln, c Cardo, sZ Stipes, /!e und Zi Lobus externus und internus, Zm () Palpus der Maxille (9x), sr Submentum, »2 Mentum, ge? Glossen, Ag Paraglossen, p! Palpus labialis der Unterlippe (7a), Ay Hypopharynx. Ki hinzu. Ähnlich ist die zweite Maxille beschaffen, nur mit dem Unter- schied, daß hier die beiden ersten Gliedstücke, die Cardo und der Stipes, in der Medianebene untereinander zu einem unpaaren Stück (m) ver- schmolzen sind. 5 Während bei den meisten Insekten die Mundwerkzeuge zum Fressen von Blättern wie bei den Raupen der Schmetterlinge dienen und dem- entsprechend in der eben beschriebenen Weise zum Beißen eingerichtet # E Anpassungen der Organismen aneinander, 449 sind, haben sie sich bei anderen Abteilungen an eine Blumennahrung angepaßt, indem sie den von den Staubbeuteln sich leicht ablösenden Pollen oder den flüssigen, von den Nectarien abgeschiedenen Honig ‚aufnehmen. Sosind aus den beißenden dieleckenden und die saugen- _ den Mundgliedmaßen hervorgegangen, die in zwei verschiedenen Formen, die eine bei den Bienen und Hummeln, die andere bei den Schmetterlingen, vorkommen. Bei den Bienen und Hummeln (Fig. 107) ist die Umwandlung durch eine bedeutende Verlängerung der beiden ‚Maxillen herbeigeführt worden. An den zweiten Maxillen oder dem ‚Labium haben sich besonders die beiden Laden stark verlängert; gleich- zeitig sind hierbei die beiden inneren Laden (gl) im Anschluß an das Mentum (m) und Submentum (sm) in der Medianebene verschmolzen und zu einer tieferen Halbrinne umgebildet, welche Zunge oder Glossa (gl) heißt und der wichtigste zum Lecken und zum Saugen dienende Abschnitt ist. Auf ihrer ganzen Oberfläche wird die Zunge von kurzen, ‚feinen Borsten dicht bedeckt. Auch an den ersten Maxillen sind die Kauladen (!) stark in die Länge gewachsen und zu Halbrinnen einge- krümmt. Sie legen sich als Scheiden um die Zunge herum und ver- vollständigen sie so zu einem Saugrohr. Dagegen sind bei den Bienen und Hummeln die Mandibeln (md) nahezu unverändert geblieben; sie ‚werden noch für allerhand Nebenverrichtungen gebraucht. Noch weit vollkommener als die Bienen sind die Schmetterlinge in dem Bau ihrer Mundwerkzeuge an das Honigsaugen aus Pflanzen- _ blüten angepaßt (Fig. 108). Die ersten Maxillen (mx) sind bei ihnen zu einem außerordentlich langen Saugrüssel umgewandelt, der beim Nichtgebrauch wie eine Uhrfeder zu einer Spirale zusammengerollt werden kann. Eine jede Maxille bildet nämlich eine Halbrinne, die aus zahlreichen, durch Muskelfasern verbundenen und daher gegen- einander beweglichen, kleinen Gliedern zusammengesetzt ist. Durch ihre feste Zusammenlagerung entsteht ein geschlossenes, biegsames Saugrohr. (Man vergleiche den links abgebildeten Querschnitt mx! + mx?.) Dagegen sind alle übrigen Mundgliedmaßen nur wenig entwickelt oder zum Teil sogar rudimentär. Besonders gilt dies für die Mandibeln (md), aber auch das unpaare Labium (/a), das bei den Bienen (Fig. 107 gl) zur langen Glossa ausgewachsen ist, bleibt hier sehr klein, während die an ihm seitwärts ansitzenden Palpi labiales (P/) leidlich aus- gebildet sind. Noch in zwei Beziehungen verdienen die Mundwerkzeuge der Schmetterlinge als wichtige Zeugnisse für die hohe Anpassungsfähig- ‘keit tierischer Organe unsere besondere Beachtung. Einmal wird uns O0, Hertwig, Das Werden der Organismen, 2. Aufl. 29 450 Elftes Kapitel. ein Vergleich der Mundwerkzeuge des ausgebildeten Schmetterlings mit seinem Jugendzustand als Raupe zu einer wichtigen Folgerung führen. Denn wir lernen aus ihm, daß dieselben morphologischen Teile im Lebenslauf ein und desselben Individuums in einer ganz ver- schiedenen Form und Größe auftreten und in ganz verschiedener Weise bei der Nahrungsaufnahme verwandt werden. Während des Raupenstadiums findet ja das eigentliche Wachstum der Schmetter- linge statt. Die Raupen sind daher sehr gefräßige Tiere, die große Ouantitäten vegetabili- scher Nahrung durch Ab- nagen von Blättern auf- nehmen, dagegen kommen die Schmetterlinge, die gar nicht mehr wachsen, mit äußerst wenig Blüten- honig aus. Dementspre- chend haben jene beißende (Fig. 106), diese saugende Mundwerkzeuge(Fig.108); dort sind die Mandibeln kräftige Kau- und Beiß- ‘ stücke (Fig. 106 md), hier sind sie rudimentär oder ganz rückgebildet (Fig. ‚Fig. 108. Saugende Mundgliedmaßen eines 108 ınd). Mit den ersten Schmetterlings. Nach Savıcny. Bezeichnungen sind Maxillen aber verhält es wie in Fig. 106 u. 107. Anstatt der rechten Maxille ist _: 2 ein Stück des Rüssels dargestellt, um zu zeigen, wie die sich gerade umgekehrt: linke (mx') und die rechte Maxille (2x?) sich zu einem dort sind sie nur kleine Rohr vereinigen; am rechten Palpus /%2) ist die Be- : . re Be werelaneen Gebilde (ec, st, le, li,) hier dagegen zu dem langen Saugrüssel (Fig. 108 mx) umgestaltet. Wie man sieht, hat die verschiedene Lebensweise der Raupen- und Imagoform auch einen Funktionswechsel an den zur Nahrungs- aufnahme dienenden Mundgliedmaßen herbeigeführt, und mit dem Funktionswechsel geht wieder eine vollständig andere Gestaltung ein und desselben Organteils bei der Raupe und dem Schmetterling Hand in Hand. Wirklich ‚ein schöner Beweis, wie die Lebensweise des Tieres bestimmend auf den Bau der Organe einwirkt‘, sagt RICHARD HERT- "wıG von diesem Verhältnis. Der Fall ist auch geeignet, um an ihm einen erst später im Kapitel Anpassungen der Organismen aneinander. 451 XIII zu besprechenden Trugschluß von WEISMANN (Vorträge etc., 1902, Bd. II, p. 93) zu erläutern, daß die festen Chitinstücke der Gliedertiere als ein geradezu erdrückendes Beweismaterial gegen die Anschauungen - der Lamarckianer zu verwerten sind. Allerdings können sich die kräftigen " Beißzangen der Raupen, sofern sie erstarrte Chitinprodukte sind, nicht in die Mundgliedmaßen, die später an ihre Stelle treten, umwandeln. Aber unter dem Chitin liegt ja auch noch die bildungsfähige Substanz des Körpers, die auf Reize nach wie vor reagiert ; und diese ist es, welche sich umbildet, wenn die dem Raupenleben angepaßten Werkzeuge nicht mehr ihrer Aufgabe entsprechen und bei der Häutung abgeworfen werden. Im Puppenstadium liefert die bildungsfähige Substanz, indem sie ent- sprechende Metamorphosen eingeht, einen für andere Aufgaben dienenden Ersatz. So sind denn die Organe, die WEISMANN seinen Lesern als passiv vorführt, in Wahrheit ebenso aktiv, wie Muskeln und Drüsen, wenn man, wie sich von selbst versteht, nicht das Plasmaprodukt, sondern die zu ihm gehörige Matrix als das aktiv Veränderliche ansieht. Wie ‚könnte sich eine Entwicklung überhaupt an einem anderen als einem aktiven Substrat abspielen ! 3. Die Anpassung der Blüten der Phanerogamen an den Insektenbesuch. Wenn die zu einem langen biegsamen Rohr umgewandelten Maxillen der Schmetterlinge, wie wir sehen, zum Honigsaugen aus Blüten ein- gerichtet sind, so lassen sich auf der anderen Seite die Blüten der Phane- rogamen als Organe betrachten, deren Eigentümlichkeiten auch durch den Insektenbesuch mit ins Leben gerufen worden sind. In diesem Punkte stimme ich sowohl mit NÄGELI als auch mit WEISMANN überein, von denen der letztere bemerkt, daß die Blumen eine Reaktion der Pflanzen auf den Besuch von Insekten sind, daß sie hervorgerufen sind durch diesen Besuch (l. c. Bd. I, p. 202). ‚‚Es würde wohl Blüten, nicht aber Blumen, d. h. Blüten mit großen, farbigen Hüllblättern, mit Saft und mit Honig im Inneren geben, wenn die Blüten nicht seit langen Zeit- räumen schon von den Insekten aufgesucht worden wären.“ Gehen wir daher auf dieses sehr interessante Verhältnis von gegenseitiger Ab- hängigkeit pflanzlicher und tierischer Formbildungen noch etwas näher ein. Wie uns Systematik und Morphologie des Pflanzenreichs lehren, sind die Geschlechtsorgane ursprünglich unscheinbare und wenig auf- fällige Bildungen gewesen und werden als solche auch jetzt noch in allen 29*® 452 Elftes Kapitel. niederen Pflanzenabteilungen gefunden: bei den Kryptogamen und Gymnospermen, bei einem Teil der Mono- und Dicotylen, wie bei den Gräsern und den kätzchentragenden Bäumen. Alle diese Pflanzen sind zugleich ‚‚windblütig‘, d. h. die in den Beuteln der Staubfäden massen- haft gebildeten Pollenkörner werden zur Blütenzeit als feiner Staub durch den Wind auf weite Entfernungen verstreut und dienen zur Be- fruchtung der weiblichen Geschlechtsorgane, wenn sie durch Zufall auf den klebrigen Stempel derselben fallen. Um zu verstehen, wie sich aus so unscheinbaren Anfängen die Entstehung der Blüten und ihre Befruchtung durch Insekten ableiten läßt, muß man im Auge behalten, daß die Staubgefäße metamorphosierte Blätter und in ihrer niedersten Form auch noch wirklich kleine, schuppenförmige Blätter sind. Auch weiß man ja im Hinblick auf die gefüllten Blüten, die man bei sehr vielen Arten von Phanerogamen durch Gartenkultur erzielt hat, wie leicht sich oft Staubfäden in bunte Kronenblätter durch Ernährungsreize umwandeln lassen. Nicht unberechtigt ercheint daher die NÄGELT' sche Hypothese (l. c. p. 149), daß durch den stetig wiederkehrenden Reiz, welchen die ‚„‚blütenstaub- und säfteholenden Insekten“ (Fliegen, Bienen etc.) während zahlloser Generationen ausübten, die ursprünglich schüpp- chenartigen Blätter der Urblüten zum stärkeren Wachstum und zur Umwandlung in Kronenblätter angeregt worden sind. Sind doch die Stellen der Pflanze, an denen sich die Geschlechtszellen bilden, über- haupt durch einen größeren Reichtum an embryonalem Gewebe aus- gezeichnet und schon dadurch umbildungsfähiger als ausgewachsene Pflanzenorgane. Und daß die Stiche und Bisse der Mundgliedmaßen von Insekten beim Pollensammeln und das Anklammern mit ihren spitzen Extremitätenenden und ihr hastiges Herumkriechen als mechanische Wachstumsreize wirken können, ist auch nicht als unwahrscheinlich zu bezeichnen. Wenn wir ferner Honigdrüsen oder Nektarien, welche zuweilen auch an Laubblättern vorkommen, besonders häufig am Grunde der Blüten entstehen sehen, so dürfte es ebenfalls mit der von Insekten ausgehenden Reizung und mit der Zusammensetzung der vom Reiz betroffenen Pflanzenregion ‚aus einem weichen, saftigen Gewebe“ in ursächliche Beziehung zu bringen sein. Honigabsonderung wurde aber dann wieder ein Lockmittel für die nahrungssuchenden Insekten. Nach unserer Auffassung hat sich so Schritt für Schritt zwischen den Blüten der Urpflanzen und den sie besuchenden Urinsekten ein Gegenseitigkeitsverhältnis ausgebildet, welches in demselben Maße, als es ein festeres geworden ist, auch auf den Bau der an ihm beteiligten Lebewesen einen umgestaltenden Einfluß ausgeübt hat. Von einem F 2 j & Anpassungen der Organismen aneinander. 453 wirklichen Gegenseitigkeitsverhältnis auch in physiologischer Hinsicht - muß man sprechen, weil auch für viele beteiligte Pflanzen ein Nutzen für ihre Fortpflanzung aus dem Insektenbesuch erwachsen ist. Denn wie schon 1793 der scharf beobachtende KONRAD SPRENGEL in seiner berühmten Schrift: ‚Das entdeckte Geheimnis der Natur im Bau und in der Befruchtung der Blumen“ festgestellt hat, spielen die Insekten bei der Befruchtung der Phanerogamen, bei denen häufig die Übertragung des Pollens von den männlichen auf die weiblichen Geschlechtsorgane nicht mehr in der ursprünglichen Weise durch den Wind geschieht, eine wichtige Vermittlerrolie.e. Wenn Bienen, Hummeln und Schmet- terlinge auf den Blumen Nahrung suchen, streifen sie mit den Chitin- härchen, die sich in großer Zahl auf vielen Stellen ihrer Körperoberfläche _ erheben, von den Staubbeuteln reife Pollenkörner ab und bringen sie beim Besuch einer anderen Blüte mit der klebrigen Oberfläche ihres Pistills in Berührung. Sie führen so zwischen mehreren Pflanzenexem- plaren Kreuzbefruchtungen aus, die für das Gedeihen vieler Arten nach langjährigen Experimenten von Darwin förderlicher als Selbstbefruch- tung sind. Es gibt sogar viele Blütenpflanzen, bei denen ohne Insekten- besuch eine Befruchtung überhaupt unmöglich geworden ist. Dieser Fall tritt gewöhnlich dann ein, wenn ihre Pollenkörner im reifen Zu- stand nicht mehr, wie bei den windblütigen Pflanzenarten, einen trocke- nen Staub bilden, sondern durch eine klebrige Substanz zusammen- hängen, die durch Desorganisation und Verquellung ihrer oberflächlichen Celluloseschichten entstanden ist. Ob auch diese Veränderung, wie NÄGELI vermutet, durch einen von Insekten ausgeübten Reiz zu eı- klären ist, mag dahingestellt bleiben. Die vielen merkwürdigen Einrichtungen, die aus diesen innigen Lebensbeziehungen zwischen den nahrüngssuchenden Insekten und den auf ihre Vermittelung bei der Befruchtung angewiesenen Blüten- pflanzen zustande gekommen sind, pflegen in der modernen Literatur der Selektionstheorie mit Vorliebe und Ausführlichkeit behandelt zu werden. Einer wissenschaftlichen Erklärung im strengen Sinne sind sie meist nicht zugänglich. Daher sei nur auf eine interessante, leichter verständliche Korrelation eingegangen, die zwischen den röhrenförmigen Blütenkronen mancher Phanerogamen und der Länge der Rüssel der sie besuchenden Schmetterlinge beobachtet werden kann. Es läßt sich bier ein interessantes Verhältnis feststellen, das man recht gut als „eine doppelte Anpassung“ bezeichnen kann. manchen Pflanzenfamilien, wie bei den Winden, den Lippen- blütern, den Orchideen etc., sind die Kronenblätter zu einer bald kürzeren 7-4 N 454 Elftes Kapitel. bald längeren, engen Röhre verschmolzen, in deren Grund sich die Nek- tarien befinden. In diesem Falle können nur solche Schmetterlinge: aus ihnen den Honig gewinnen, deren Saugrüssel die nötige Länge be- sitzen, um bis zu den verborgenen Nektarien vorzudringen. Nach einer Zusammenstellung von WEISMANN (Vorträge, 1902, Bd. I, p. 22I) zeigen schon unsere Schwärmer, Macroglossa stellatarum und Sphinx Con- volvuli, eine erstaunliche Länge des Rüssels. Bei Sphinx beträgt die Länge 8 cm; aber bei Macrosilia Cluentius in Brasilien schon über 20 cm. Nun wächst in Madagaskar eine Orchidee, deren Nektarien 30 cm lang und im Grund fast 2cm hoch mit Honig angefüllt sind. Wenn auch diese Orchidee, wie zu erwarten ist, von einem Schwärmer besucht wird, der den Honig aussaugt und zugleich die Befruchtung vermittelt, so müßte sein Rüssel ebenfalls zu der enormen Länge von 30 cm ausgewachsen sein. Denn lange Röhren erfordern entsprechend lange Mundwerkzeuge, wenn diese die Nahrung an ihrem Grund erreichen sollen. Es liegt also hier ein ausgesprochenes Korrelationsverhältnis vor. Wie ist dasselbe zu erklären ? Hierbei ist bei der Verlängerung des Schmetterlingsrüssels zu be- rücksichtigen, daß er ein biegsames, muskulöses und darum auch einiger- maßen dehnbares Organ ist. Er ist daher bei stärkerer Beanspruchung - in besonderen Fällen auch fähig, sich über das gewöhnliche Maß zu verlängern. In dieser Beziehung liegt ein ähnliches Verhältnis vor, wie bei einer Drüse, z. B. bei der Niere, die in der Sprache der Physio- logen noch über eine Reservekraft verfügt. Darunter versteht man die Fähigkeit, bei erhöhter Beanspruchung mehr Harnstoff, selbst bis auf das Doppelte der normalen Leistung auszuscheiden, wie es nach der operativen Entfernung von einer der beiden Nieren geschieht (ver- gleiche Seite 162). Also kann sich bei Voraussetzung eines ähnlichen Verhaltens auch der Schmetterlingsrüssel, wie die Niere durch Aus- nützung ihrer Reservekraft, den veränderten Verhältnissen in gewisser Weise anpassen. Von der Niere ist dann weiter bekannt und experimentell bewiesen, daß sie bei fortgesetzter stärkerer Beanspruchung, wie nach einseitiger Nierenexstirpation, eine Funktionshypertrophie erleidet und sich allmählich fast bis auf das Doppelte des ursprünglichen Volums vergrößern kann. Es liegt daher nahe, auch eine dauernde Verlängerung des Schmetterlingsrüssels infolge dauernd erhöhter funktioneller Be- anspruchung als möglich anzunehmen. Was zweitens die Verlängerung der Blumenröhren betrifft, so ver- mutet NÄGELI, daß siein gleicher Weise entstehen wie die großen Blumen- blätter aus kleinen. „Durch die beständigen Reize, welche die kurzen Anpassungen der Organismen aneinander. 455 Rüssel der Insekten ausübten‘“, bemerkt er (l. c. p. 150), „wurden die kurzen Röhren veranlaßt, sich zu verlängern. Dieses Wachstum er- folgte als notwendige Wirkung ihrer Ursache, obgleich es zunächst für die Pflanzen sich als unvorteilhaft erwies. Mit der wachsenden Länge der Blumenröhre, welche, weil durch die nämliche Ursache bewirkt, eine allgemeine Erscheinung bei den Individuen einer Sippe war, ver- ‚minderte sich für die Insekten die Leichtigkeit des Nektarholens. Die- selben wurden zu größeren Anstrengungen gezwungen, und der damit verbundene Reiz, sowohl der physische, den das Organ bei der Arbeit erlitt, als der psychische, welcher in der gesteigerten Begierde nach dem Ziele lag, verursachte eine Verlängerung des Rüssels solange, als eine Verlängerung der Blumenröhre ihr vorausging. Dabei ist selbstver- ständlich, daß jede Pflanze nur zu einem begrenzten Wachstum der Blume und jedes Insekt nur zu einem begrenzten Wachstum des Rüssels sich befähigt zeigt.“ Wenn diese Erklärung richtig ist, so sind die erläuterten, pflanz- lichen und tierischen Einrichtungen in demselben Sinne zueinander koadaptiert, wie die zusammenpassenden Flächen eines Kugelgelenks, oder wie die Durchmesser des ernährenden Blutgefäßes zu der Größe eines von ihm versorgten Muskels oder einer Drüse. „Beide haben sich allmählich zu ihrer jetzigen Höhe entwickelt, die langröhrigen Blüten aus röhrenlosen und kurzröhrigen, die langen aus kurzen Rüsseln. Beide haben sich ohne Zweifel in gleichem Schritt ausgebildet, so daß stets die Länge der beiden Organe ziemlich gleich war‘ (NÄGELT, l.c. p.150). Leicht würden sich noch zahlreiche andere Anpassungen in der Lebensweise und Organisation zwischen Pflanze und Tier zusammen- stellen lassen; doch scheint mir die getroffene Auswahl schon einen genügenden Einblick in die hier vorliegenden interessanten Verhältnisse zu geben. c) Anpassungen zwischen zwei Tieren der gleichen oder] verschiedener Art. Je inniger die Lebensgemeinschaft ist, in welche einzelne Tiere der gleichen oder verschiedener Art zueinander treten, in um so höherem Grade erhalten sie auch Gelegenheit, sich gegenseitig aneinander an- zupassen und nicht nur funktionell, sondern auch in ihrer Organisation | sehr durchgreifende Veränderungen zu erfahren. Um über die Mannig- faltigkeit der hier vorliegenden Beziehungen und der durch sie bedingten Koadaptationen einen Überblick zu gewinnen, gehen wir kurz ein auf 456 Elftes Kapitel. I) die Tierstöcke und Tierstaaten, 2) die sich ergänzenden Individuen mit getrenntem Geschlecht, 3) auf die tierische Symbiose, 4) auf den Parasitismus. I... Die Tierstöcke und Tierstaaten. Tierische Individuen, die sich außer durch Keimzellen noch auf vegetativem Wege durch Knospen vermehren können, werden durch diese auch zur Bildung von Stöcken befähigt, wenn der Mutterorganismus mit seinen durch Knospung erzeugten Tochterindividuen in dauerndem Zusammenhang bleibt. Besonders die Cölenteraten zeigen uns die verschiedenartigsten Stufen in der Ausführung dieser neuen Art so- zialer Vereinigung. Während in einigen Stöcken noch ein Individuum dem anderen mehr oder minder gleicht, ist bei anderen eine Arbeits- teilung mit Differenzierung und eine so weitgehende Integration der Individuen erfolgt, ähnlich wie bei den in Gewebe und Organe differen- zierten Zellen eines vielzelligen Organismus. Am weitesten ist der Poly- morphismus der Individuen bei den Siphonophoren (Fig. 109) gediehen. In Anpassung an die einzelnen Aufgaben des Stockes sind einige Individuen, welche die ursprüngliche Grundform am getreuesten bewahren, entweder zu Freßpolypen (hy) oder nach Verlust des Mundes und bei reichlicher Ausstattung mit Sinneszellen zu Tastpolypen (P) geworden; andere haben sich in die Medusenform umgewandelt und dienen entweder als Schwimmglocken (sg) zur Fortbewegung des Stockes oder als Geschlechtsglocken (go) zur Erhaltung der Art durch Erzeugung männlicher und weiblicher Keimdrüsen. In bestimmten Verhältnissen und Zahlen an einem Stamm verteilt, funktionieren jetzt die Individuen, die wir bei anderen Arten des Cölenteratenstammes als selbständige Lebewesen, als solitäre Hydroidpolypen und als solitäre Medusen ver- breitet sehen, nur noch als unselbständig gewordene Organe eines ein- heitlichen Individuums höherer Ordnung. Je weiter der Polymorphismus durchgeführt ist, um so mehr erscheint der ganze Siphonophorenstock wie ein einheitlicher Organismus. Derartige Tierstöcke lehren uns zweierlei: Erstens kann wohl nicht daran gezweifelt werden, daß ursprünglich am Siphonephorenstock alle Individuen als Hydroidpolypen durch Knospung entstanden und einander gleich gewesen sind. Daher liegt hier der Fall einer neben- einander erfolgenden und sich ergänzenden Umbildung gleichgeformter Personen in sehr verschiedenen Richtungen vor. Bei diesem Prozeß kann eine Personalselektion (siehe später KapitelXV, Abschnitt c) — und Anpassungen der Organismen aneinander. 457 dies ist die zweite Lehre, auf welche ich ein besonderes Gewicht lege, — für die Umwandlung in eine Schwimm- oder Geschlechtsglocke oder in einen Tasterpolyp etc. nicht geltend gemacht werden. Denn ein Kampf ums Dasein zwischen den polypen eines Stockes und eine ihm folgende Vernichtung einzelner und Erhaltung anderer zweckmäßig veränderter Formen findet ja über- haupt nicht statt; er ist schon des- wegen völlig ausgeschlossen, weil die Einzelwesen eine sich ergänzende Lebensgemeinschaft ausmachen und wie Organe einer höheren Einheit zu- sammen wirken. So geben denn im Fall der polymorphen Tierstöcke nur die Prinzipien der Arbeitsteilung, der Differenzierung und der Koadaptation zwischen einer Anzahl sich bedingender organischer Einheiten, die nach ihrer Stellung im System verschiedenen Ein- flüssen unterliegen, eine Erklärung im Sinne der direkten Bewirkung, soweit eine solche überhaupt möglich ist. Nicht minder klar scheint mir das Verhältnis bei den sozialen Tier- staaten, den Bienen, Ameisen und Termiten, zu sein. Auch auf dieses ein- zugehen, liegt um so näher, als es schon DARwIN sehr ausführlich besprochen hat. Denn es schien ihm hier in der Tat die ernsteste spezielle Schwierig- keit für seine Theorie zugleich aber schien ihm auch die Beseitigung der Schwierigkeit der beste Beweis für die Macht der natürlichen Zuchtwahl zu sein. Ebenso spielen die sozialen Tierstaaten in WEISMANNS Hydroid- aus vorzuliegen, Schema einer Si- Aus LAnG. sd Luft- kammer, sg Schwimmglocken, ds Deckstücke, 2 Tentakeln, go Gono- phoren, Geschlechtsmedusen, Ay Freß- polypen, 9 Taster, s’ Stamm. A—H verschiedene Arten der Ausbildung und der Gruppierung der Individuen. Fig. 109. phonophore. Schriften eine große Rolle und werden von ihm zur Widerlegung des LAamaArckschen Prinzips verwertet. Obwohl in den Bienen-, Ameisen- und Termitenstöcken die einzelnen 458 Elftes Kapitel. Individuen morphologisch voneinander ganz getrennt und nur durch soziale Beziehungen verbunden sind, bieten sie trotzdem in ihrer Ge- stalt und Arbeitsweise fast ebenso große Unterschiede, wie in manchen Siphonophorenstöcken dar. Im Bienenstaat finden sich außer der Königin und den Drohnen, welche allein sich fortpflanzen und zur Er- haltung der Art dienen, noch die etwas abweichend gebauten, mit be- sonderen Instinkten begabten und unfruchtbaren Arbeiterinnen. Noch größer aber fallen die Unterschiede bei den Termiten und bei manchen Ameisenarten aus. Häufig sind hier die Arbeiterinnen in 2 oder 3 Fig. 110. Drei Arbeiterinnen der Ameisenart Pheidologeton diversus, aus Indien. Nach WEISMANnN. A Größte Arbeiterform, B mittlere, C kleinste Arbeiterform. Kasten geteilt. Wie weit dieselben voneinander abweichen Können, gebt aus den Abbildungen von Termes lucifugus (Fig. 40) und von einer indischen Ameisenart, Pheidologeton diversus (Fig. 110), hervor. Nicht nur die ganzen Tiere, sondern auch einzelne Körperteile, Kopf, Kiefer etc., zeigen ganz enorme Schwankungen in ihren Dimensionen, worüber Darwin eine sehr anschauliche Darstellung gibt. ‚Die Verschiedenheit ist ebenso groß, als ob wir eine Reihe von Arbeitsleuten ein Haus bauen sähen, von welchen viele nur 5 Fuß 4 Zoll und viele andere bis 16 Fuß groß wären (I :3); dann müßten wir aber noch außerdem annehmen, daß die größeren vier- statt dreimal so große Köpfe als die kleineren und fast fünfmal so große Kinnladen hätten. Überdies ändern die Kinn- Anpassungen der Organismen aneinander, 459 laden dieser Arbeiter verschiedener Größen wunderbar in Form, in Größe und in der'Zahl der Zähne ab. Aber die für uns wichtigste Tatsache ist, daß, obwohl man diese Arbeiter in Kasten von verschiedener Größe unterscheiden kann, sie doch unmerklich ineinander übergehen, wie es auch mit der so weit auseinanderweichenden Bildung ihrer Kinnladen der Fall ist.‘ Bei der Beantwortung der Frage, wie diese Verschiedenheiten zwischen den Individuen der Tierstaaten zustande gekommen sind, besteht auf den ersten Blick eine große Schwierigkeit darin, daß die Arbeiterinnen der Bienen, Termiten und Ameisen unfruchtbar sind. Ihre Geschlechtsorgane werden zwar angelegt, beginnen aber früh mehr oder minder zu verkümmern. Daher können ihre Eigentümlichkeiten — wie WEISMANN ganz mit Recht bemerkt offenbar nicht durch Ver- erbung der Resultate von Gebrauch oder Nichtgebrauch erklärt werden, „da die Arbeiterinnen keine Nachkommen liefern, auf die etwas ver- erbt werden könnte.‘‘ Auch hat schon Darwin (l. c. p. 310) sein Er- staunen ausgesprochen, daß noch niemand den lehrreichen Fall der geschlechtslosen Insekten der bekannten Lehre LAMARCKS von den ererbten Gewohnheiten entgegengesetzt hat. Denn DArwıIn und WEıs MANN sind der Ansicht: die einzige Möglichkeit der Erklärung bestehe in der Annahme, daß wie einzelne Personen auch ganze Tierstöcke Gegen stand der natürlichen Zuchtwahl sein können und daß solche bestehen geblieben sind, deren Geschlechtstiere durch Zufall die Fähigkeit er- langt haben, unfruchtbare, der Gemeinde nützliche Mitglieder mit ab weichenden Eigenschaften, bessere oder schlechtere Arbeiter hervor- zubringen. „Wir stehen hier‘, behauptet WEISMANN (Vorträge, 1902, Bd. II, p. ıır), „vor der Alternative, entweder diesen Faktor (das Se- lektionsprinzip) zu einer genügenden Erklärung auszubilden, oder aber auf jede Erklärung zu verzichten.“ Eine solche Alternative besteht nun aber keineswegs. DARWIN und noch mehr WEISMANnN haben, wie ich schon bei verschiedenen Ge- legenheiten klarzulegen versucht habe, die Bedeutung der Bedingungen bei der Entwicklung der Organismen übersehen; sie haben übersehen, daß ein und dieselbe Anlage im Laufe der Entwicklung sehr verschiedene Ergebnisse liefern kann, je nachdem diese oder jene Faktoren auf sie eingewirkt haben. Die in dieser Richtung sich darbietende Erklärung ist keineswegs nur eine hypothetische, sondern eine auf Beobachtungen und Experimente gestützte. Nach den Untersuchungen vom EMERY, GRAsSI u. a. wird der Polymorphismus der genannten Tierstaaten direkt durch die verschiedenartigen Einflüsse hervorgerufen, denen die Eier 460 Elftes Kapitel, Mi während ihrer Entwicklung in bezug auf Wohnung und Nahrung ausge- setzt werden. Wie wissenschaftlich gebildete Bienenzüchter festgestellt” haben, sind die befruchteten Eier der Bienenkönigin fähig, sowohl Ar- beiterinnen als wieder Königinnen zu werden. Es hängt dies lediglich davon ab, in welche Zellen des Bienenkorbs die Eier gebracht und in welcher Weise sie ernährt werden. In besonders großen Zellen (Weisel- wiegen) und bei reichlicher Ernährung werden sie zu Königinnen, bei, knapper Kost in engeren Zellen zu Arbeiterinnen. Es können sogar nachträglich Larven von Arbeiterinnen durch reichliches Futter, wenn es noch zeitig, genug geboten wird, in Königinnen umgewandelt werden. Auch für die Termiten ist dem italienischen Zoologen GRAssI der ' Nachweis gelungen, daß sie es in ihrer Macht haben, die Zahlenverhält- nisse der Arbeiter und Soldaten zu regulieren und letztere je nach Be- dürfnis zu züchten, ebenso wie sie die Geschlechtsreife anderer Indi- viduen durch eine entsprechende Nahrung zur Erzeugung von Ersatz’ geschlechtstieren beschleunigen können. In ähnlicher Weise erklärt EMERY die Arbeiterbildung® bei den Ameisen „aus einer besonderen Reaktionsfähigkeit des Keimplasma, welches auf die Einführung oder auf den Mangel gewisser Nährstoffe durch raschere Ausbildung gewisser Körperteile und Zurückbleiben anderer in ihrer Entwicklung antwortet. Arbeiternahrung muß die Kiefer- und Gehirnentwicklung gegen die der Flügel und der Geschlechts- teile bevorzugen, Königinnennahrung umgekehrt.“ Zwischen der Verkümmerung der Geschlechtsdrüsen und der stärkeren Ausbildung des Kopfes findet eine Korrelation statt, gerade so wie bei den Wirbel- tieren zwischen der Entwicklung der Geschlechtsdrüsen und manchen » sekundären Sexualcharakteren. Ganz passend hat daher EmERY die Verschiedenheit der Individuen bei Termiten, Bienen und Ameisen als Nahrungspolymorphismus bezeichnet. Auf Grund einer derartigen Erklärung läßt sich auch die vielfach festgestellte und schon von DArwIın erwähnte Tatsache verstehen, daß die verschiedenen extremen Individuen, wie es besonders bei manchen Arten der Ameisen (viele Myrmiciden, die meisten Camponotiden, Az- teka) beobachtet worden ist, durch Zwischenformen allmählich ineinander übergehen. Übergänge finden sich sowohl in bezug auf die Größen- verhältnisse als auch hinsichtlich der Verkümmerung der Geschlechts organe und auch hinsichtlich der sehr verschiedenen Struktur ihrer Kiefer etc. Sie erklären sich, wie SPENCER richtig hervorhebt, dadurch, daß die Entziehung der Nahrung bei allen Eiern nicht zu derselben u Aa & Zeit während ihrer Entwicklung stattgefunden hat. Daß man durch _ experimentelle Eingriffe, namentlich wenn sie sehr frühzeitig das sich _ entwickelnde Ei treffen, sehr große Veränderungen ganz bestimmter, Anpassungen der Organismen aneinander, 461 gesetzmäßiger Art erzielen kann, ist durch sehr zahlreiche Untersuch- ‚ungen an pflanzlichen und tierischen Objekten über jeden Zweifel nach- gewiesen worden. Zugleich aber sind selbst bei stark abgeänderten | Formen alle Organe und alle Körperteile einander koadaptiert, wie eben- ‚falls die Experimente, z. B. bei der künstlichen Erzeugung von Doppel- _ mißbildungen, gelehrt haben. Und auch hierfür liegt die Erklärung "nahe. Denn die sich entwickelnden Teile müssen, bei Störung des _ Prozesses durch äußere Eingriffe, sich in irgendeiner Weise aneinander anpassen schon auf Grund der im Keim von Haus aus gegebenen Ge- setzmäßigkeit. Daher ist eine solche selbst bei hochgradigen Monstrosi- täten immer noch in gewissem Maße zuerkennen. Auch hier braucht man nicht zu Selektionsvorgängen als zu dem für alles geeigneten Erklärungs- ‚mittel, das WEISMANN wieder vorschlägt, seine Zuflucht zu nehmen. Daß endlich die Instinkte bei den Arbeiterinnen von denen der -Geschlechtstiere sehr wesentlich abweichen, kann unserer Auffassung, ‚obwohl eine erbliche Übertragung ausgeschlossen ist, keine absolute Schwierigkeit bereiten. Denn durch die Rückbildung der Geschlechts- organe werden die Funktionen des Nervensystems und hierdurch auch ‚die Instinkthandlungen in hohem Grade beeinflußt und umgestimmt. Ich erinnere nur an die körperlichen und psychischen Veränderungen, die uns von den Kastraten einzelner Vogel- und Säugetierarten und auch des Menschen wohl bekannt sind und jederzeit auf experimentellem Wege wieder als Beweis hervorgerufen werden können. Auch darf nicht außer acht gelassen werden, daß in einer sozıalen Gemeinschaft mit höher entwickeltem Nervenleben ein Individuum das andere in seiner Tätigkeit mitbestimmt, und daß daher bei ihrem Zusammenarbeiten im gemeinsamen Dienste des Stockes die Tradition und Nachahmung eine gewisse Rolle mitspielen kann, wenn ihr exakter Nachweis auch mit Schwierigkeiten verbunden ist. 2. Die Anpassungen zwischen beiden Geschlechtern und zwischen Mutter und Frucht. In das uns jetzt beschäftigende Kapitel gehört auch das Verhalten ‚der beiden Geschlechter zueinander; und ebenso sind an dieser Stelle -die Beziehungen zu besprechen, die sich zuweilen zwischen Eltern und ihrer Nachkommenschaft bei ihrer Entwicklung ausbilden. Ohne Zweifel sind die Gegensätze, die wir als weibliche und männliche Form einer nr an en en 462 Elftes Kapitel. Species bezeichnen, aus einer gemeinsamen, indifferenten Grundiord phylogenetisch hervorgegangen. Sie haben sich nur bei solchen Organis- menarten ausbilden können, bei denen an Stelle der vegetativen Fort- pflanzung durch Knospen und Sporen die geschlechtliche Vermehrung durch Keimzellen getreten ist. Denn in dem Prinzip, auf dem alle Ge- schlechtlichkeit beruht, daß die Entwicklung einer neuen Generation mit der Verschmelzung zweier Zellen beginnt, ist jetzt auch die Möglichkeit zu einer physiologischen Arbeitsteilung und. Differenzierung gegeben, wie schon bei früheren Gelegenheiten (S. 57—60, 136) nachgewiesen wurde. Sind doch bei der Ausbildung der zu einer geschlechtlichen Entwicklung dienenden Zellen zwei sich gegenseitig ausschließende* Aufgaben zu erfüllen: I) die reichliche Ausstattung der zur Fortpflanzung bestimmten Zelle mit besonders reichem Ernährungsmaterial, damit sich die Anfangsstadien der Entwicklung unabhängig von äußerem Nahrungsbezug rasch und kontinuierlich abspielen können, und 2) die Möglichkeit der Befruchtung durch Annäherung und Vereinigung der beiden Zellen. Die eine Aufgabe verlangt eine große, gut ernährte Zelle, die zweite eine kleine und bewegliche (Fig. I—3). Hier liegt ein Gegensatz vor, der sich nach dem Prinzip der Arbeitsteilung innerhalb einer Zellengemeinschaft leicht dadurch lösen läßt, daß die einander widersprechenden Aufgaben von zwei Zellen durch ihre ungleiche Aus- bildung übernommen werden. Daher halte ich auch die Annahme für die wahrscheinlichste, daß dem getrennt geschlechtlichen Zustand der hermaphroditische in der Phylogenese vorausgegangen ist. Zu ihren Gunsten läßt sich noch geltend machen, daß im Pflanzen- und Tier- reich die tiefer stehenden Arten im allgemeinen hermaphroditisch, di höher entwickelten getrennt geschlechtlich sind und daß sich fast in allen Klassen neben getrennt geschlechtlichen auch hermaphroditische Arten bald in überwiegender, bald in geringerer Zahl vorfinden. Wie aber aus einer indifferenten eine Zwitterdrüse wurde, läßt sich in der Weise unschwer verstehen, daß infolge besserer Ernährung und anderer sich hinzugesellender Ursachen einzelne Zellen Eier und andere, deren Ernährung hierdurch benachteiligt war, männlich wurden. Von ver- gleichend-anatomischen Gesichtspunkten aus beurteilt, gestaltete sich dann der weitere Hergang bei der Sonderung der Geschlechter so, daß aus einer Zwitterdrüse durch Trennung ihrer verschieden differenzierten Bestandteile gesonderte männliche und weibliche Keimdrüsen wurden und daß schließlich die geschlechtliche Differenzierung im Pflanzen und Tierreich durch Trennung des Geschlechts auf zwei Individuer ihren definitiven Abschluß gefunden hat. ä y = | Anpassungen der Organismen aneinander. 463 - Indem die weibliche Zelle außergewöhnlich groß, dadurch unbe- weglich, passiv und bei der Befruchtung empfangend, die männliche ‚ Zelle dagegen klein, beweglich und aktiv wurde, ist der Gegensatz ge- schaffen worden, der in der Biologie alle Verhältnisse der Geschlecht- lichkeit beherrscht. Er läßt sich als ihre Grundursache in ähnlicher "Weise bezeichnen, wie die verschiedene Ausstattung der Eier mit Dotter in den einzelnen Klassen des Tierreichs (vgl. Seite 214—215) der Grund für die verschiedenen Arten des Furchungsprozesses, der Gastrulation, der Keimblattbildung, der Entstehung eines Dottersacks usw. ist, oder wie die Ernährung der pflanzlichen Zelle mittels ihres Chlorophyll- apparates die ganze Gestaltbildung der Pflanzen in der Weise, die früher (Seite 369) auseinandergesetzt wurde, in ihren Grundzügen wesentlich bestimmt. Um nur zwei Einrichtungen zu nennen, so äußert sich der schon in der Beschaffenheit der Keimzellen vorhandene Gegensatz sowohl in der verschiedenen Einrichtung der Ausführwege als auch in den Vorkehrungen, die in vielen Tierklassen für die Übertragung des Samens zur Sicherung der Befruchtung entstanden sind. Was den ersten Punkt betrifft, so liefert das Nierensystem bei den Wirbeltieren mit wenigen Ausnahmen die Gänge, die zum Samen- und Eileiter werden und erinnert uns dadurch an die bestehenden Einrich- "tungen, daß schon bei den Wirbellosen gewöhnlich die zur Ausführung ‚der Exkrete bestimmten Segmentalkanäle zugleich die Geschlechts- produkte aufnehmen und nach außen leiten. Der Urnierengang ist es, der sich bei den einzelnen Klassen der Wirbeltiere in verschiedener Weise in drei Längskanäle spaltet, in den MÜLLERschen Gang, den Samen- leiter und den Harnleiter. Der erste führt die Eier, der zweite den Samen, der dritte den Harn aus. Form und histologische Struktur eines jeden ‚steht in engstem ursächlichen Zusammenhang mit seiner Funktion, was sich am klarsten bei dem Eileiter nachweisen läßt. Während das Vas deferens wegen der mikroskopischen Kleinheit der abzuleitenden Samenelemente überall eine gleichmäßig enge Röhre bildet und durch das Zwischenglied der Vasa epididymidis direkt den Inhalt aus den Tubuli seminiferi aufnimmt, übertreffen es die MÜrrerschen Gänge "nicht nur durch ihre größere, dem Volum der Eier entsprechende Weite, sondern auch durch eine Sonderung in funktionell verschiedene, für die einzelnen Abteilungen der Wirbeltiere charakteristische Abschnitte, In diesen tritt die Anpassung an besondere Aufgaben, die durch die Be- “fruchtung und Entwicklung der Eier gestellt werden, auf das deutlichste hervor. Betrachten wir z. B. die Vögel und die Säugetiere. Bei den Vögeln sind nur der linke Eierstock und Eileiter ausgebildet. 464 Elftes Kapitel. Den Schwund der rechten Hälfte des gesamten weiblichen Geschlechts- apparates hat GEGENBAUR mit der mächtigen Ausbildung des Eivolums mit Recht in ursächlichen Zusammenhang gebracht, da, wie er bemerkt, ein längerer Aufenthalt in der engen Beckenhöhle nur einem einzigen | Ei wegen seiner Größe gestattet ist. Ferner macht die Ablage der Eier | an das Land teils schützende Hüllen notwendig, teils eine noch reich- lichere Ausstattung der aus dem Eidotter sich entwickelnden Jungen mit Nährmaterial. Zu dem Zweck ist der Eileiter in drei Abschnitte differenziert, I) in einen Anfangsteil, die Ampulle mit reich verästelten Schleimhautfalten, zwischen denen die Samenfäden sich nach einer Begattung anhäufen und die aus dem Follikel entleerten Eizellen be- -» fruchten, 2) in einen Abschnitt, dessen Wand mit vielen Eiweiß- drüsen versehen ist und das Ei noch mit einer dicken Schicht von Albumen umhüllt, 3) in einen Abschnitt, in dem sich kalkab- sondernde Drüsen differenziert haben und um das Ganze als Schutz noch eine feste Kalkschale (Testa) liefern. Die Sonderung des Eileiters der Vögel in drei Abschnitte und der zusammengesetzte Bau des ganzen Vogeleies bedingen sich so gegenseitig; sie sind ein- ander angepaßt. Die Säugetiere zeigen eine Umwandlung der MÜLLERschen Gänge in einer ganz anderen Richtung, doch auch hier wieder in Zusammen- hang mit dem Charakter des Eies und im Dienst seiner Entwicklung. Da das Ei dotterarm, sehr klein und ungeschützt ist, macht es seine. Entwicklung in einem Abschnitt der MÜLLERschen Gänge durch, der mit starken muskulösen Wandungen ausgestattet, zur Gebärmutter geworden ist und in vielen Abteilungen unpaar wird. Zwischen dem’ Uterus und dem wachsenden Embryo aber findet bei jeder Schwanger- schaft eine Reihe von korrelativen Veränderungen statt. Wie der Em- bryo, so wächst auch die Gebärmutter und dehnt sich aus, Die Arteriae’ uterinae nehmen an Stärke außerordentlich zu, auch die Muskulatur beginnt infolge der von der Frucht ausgehenden Reize zu hypertro- phieren. Durch die Verbindung der Uterusschleimhaut mit einem Be- zirk des Chorion entsteht ein Organ, das auf der innigen Vereinigung der Gewebe von zwei Organismen, von Mutter und Kind, beruht. Be- sonders beim Menschen, wo der höchste Grad der Vollkommenheit ım der intrauterinen Ernährung erreicht ist, funktioniert der Mutterkuchen oder die Placenta, die man nach ihrer Genese in eine Pars foetalis und eine Pars materna zerlegen kann, wieein einheitliches Organ. Esliegt hierwieder ein Beispiel einer vollendeten Doppelanpassung vor, wie wir sie schon in der Symbiose der Flechten, in der Anpassung der Schmetterlingsrüssel an = ä 4 4 = r j Anpassungen der Organismen aneinander. ‘465 Blumenkelche etc. kennen gelernt haben und noch in einigen anderen ri Fällen kennen lernen werden. Ä Durch das Studium der Placentation in den zahlreichen Ordnungen ‚der Säugetiere können wir aber außerdem noch die wichtige Lehre ziehen, daß die Placentabildung sich unabhängig hier und dort zu wieder- holten Malen für den gleichen Zweck, aber in verschiedenen Variationen vollzogen hat, daß ihre Ähnlichkeit auf einem allgemeinen Bildungs- _ prinzip und weniger auf gemeinsamer Abstammung beruht. Trotz funktioneller Gleichheit ist ihre Mannigfaltigkeit eine so große, daß ‚sich STRAHL, welcher wohl durch seine Untersuchungen den größten Überblick auf diesem Gebiet besitzt, in seiner neuesten zusammen- fassenden Darstellung zu dem Ausspruch veranlaßt sieht: ‚‚Wir finden wohl kaum ein zweites Beispiel in der Tierreihe dafür, daß physiologisch gleichartige Organe in einer solchen Weise in ihren gröberen Bauver- hältnissen voneinander abweichen, wie wir das bei den Placenten sehen, und staunt stets wieder, wenn man bis dahin ununtersuchte Placentar- dormen betrachtet, wie in unendlicher Variation immer neue Besonder- heiten auftreten, wie Säuger, welche die Systematik einander sonst nahestellt, gerade im Placentarbau die weitgehendsten Abweichungen aufweisen.‘ Außer an den Keimdrüsen selbst und ihren Ausführgängen findet in vielen Klassen der Wirbeltiere der Gegensatz zwischen der männ- lichen und der weiblichen Form auch in der Ausbildung der äußeren Geschlechtsorgane seinen Ausdruck. Dieselben werden nur in den niederen Wirbeltierklassen entweder ganz vermißt oder sind nur in einer sehr primitiven Weise ausgebildets Die Befruchtung der Eier erfolgt in diesem Fall nach oder während ihrer Ablage in das Wasser. Denn ‚da die Samenfäden im Wasser sich schwimmend fortbewegen, können sie auch auf diesem Wege mit den abgelegten Eiern zusammentreffen und sie befruchten. Dagegen sind mit dem Übergang zum Landleben besondere Einrichtungen zur Sicherung der Zeugung notwendig ge- worden. Weil in der Luft und auf dem Lande die Samenfäden durch Eintrocknen absterben, können sie durch dieses Medium nicht über- tragen werden, wie es bei den durch Cellulosehüllen geschützten Pollen- körnern der Phanerogamen der Fall ist. So müssen denn jetzt für diesen ‚Zweck entwickelte äußere Geschlechtsorgane die Übertragung der Keim- ‚zellen von einem auf das andere Geschlecht auf direktem Wege über- "mitteln, damit schon in den Ausführwegen die Befruchtung vor sich ‚gehen kann. Auch bei diesem Vorgang ist das weibliche Geschlecht das „empfangende, das männliche dagegen das aktiv übertragende, wie es OÖ. Hertwig, Das Werden der Organismen. z. Aufl, 30 466 Elftes Kapitel. schon bei der zwischen den beiderlei Keimzellen eingetretenen Arbeits- teilung der Fall ist (siehe S. 57). Hier wie dort entstehen an den Öff- nungen der Geschlechtswege Einrichtungen, die zur direkten Über- leitung des Samens dienen und, sich gegenseitig ergänzend, in einer Doppelanpassung zueinander stehen. In einfacherem Zustande schon bei den Reptilien und Vögeln vorhanden, erreichen sie eine höhere Aus- bildung allein bei den Säugetieren. Im männlichen Geschlecht entwickelt sich eine erektile Papille, die das Ende des Samenleiters in sich aufnimmt. Durch mehrere Hilfseinrichtungen, wie Schwellkörper, Muskeln usw. vervollkommnet, wird sie schließlich zu einem Begattungsorgan, dem Phallus, der eine sichere Überleitung des Samens in den weiblichen Geschlechtsapparat zur Befruchtung des Eies ermöglicht. Als Ergänzung zu ihm ist im weiblichen Geschlecht das Ende der verschmolzenen MÜLLERschen Gänge in eine Scheide (Vagina) zur Aufnahme des Phallus umgewandelt. Wie ein vergleichendes Studium auch für die Begattungsorgane lehrt, sind zwar die bei Wirbellosen und Wirbeltieren entstandenen Gebilde nicht einheitlichen Ursprungs und zuweilen morphologisch sehr verschiedenartig; sie haben aber alle das prinzipiell Gemeinsame, daß im männlichen Geschlecht sich Organe zur Übertragung, im weib- lichen Geschlecht dagegen solche zur Aufnahme des Samens ausgebildet haben. Ich nenne nur kurz die als Penis ausstülpbaren Schläuche bei Würmern, Mollusken, Arthropoden oder die zu Rinnen umgewandelten Gliedmaßen mancher Arthropoden und Selachier oder beim weiblichen (Geschlecht die verschiedenen Arten von Receptacula seminis und Taschen zur Aufnahme des Penis. Da das Männchen die Copula herbeiführt, sind in manchen Fällen noch besondere Hilfsapparate zum Ergreifen und Festhalten der Weib- chen im Dienste des Zeugungsgeschäftes, namentlich zur Ermöglichung einer längeren Dauer der Copula entstanden. Am besten bekannt sind die zur Laichzeit am kräftigsten entwickelten Daumenschwielen der Froschmännchen. Doch auch bei Insektenmännchen finden sich an einzelnen Gliedmaßen mannigfache Einrichtungen, die ebenfalls zum Ergreifen und Festhalten der Weibchen dienen oder eine längere dauernde Copula bewirken. Wenn wir dies alles erwägen, so lehrt uns auch die Verschiedenheit und die durch sie erzielte Ergänzung der beiden Geschlechter, daß überall wo sich innigere und dauerhafte Beziehungen zwischen zwei Lebewesen einstellen, durch sie auch funktionelle und gestaltliche Veränderungen bald an diesem, bald an jenem Teil ins Leben gerufen werden und daß i Anpassungen der Organismen aneinander. 467 sie als eine Folge funktioneller Reize durch direkte Bewirkung wohl erklärt werden können. Wenn sich zwischen zwei Lebewesen innigere | Wechselbeziehungen ausbilden, so müssen sie sich auch dementsprechend aneinander anpassen und Schritt für Schritt verändern wie zwei Organe eines Tieres, die in Korrelation zueinander stehen, und bei denen Ver- änderungen des einen auch solche an dem andern notwendigerweise ‚nach sich ziehen. 3. Der Kreislauf des Lebens und der Einfluß der Umwelt auf die Verbreitungsweise der Organismen. Da alle Lebewesen zueinander und zu der leblosen Natur in un- zähligen, kaum zu entwirrenden Beziehungen stehen, wie schon in ver- schiedenen Richtungen nachgewiesen wurde, muß sich der Lebens- prozeß eines jeden mit seinem Werden und Vergehen in den gesamten Lebensprozeß der Natur als ein abhängiges Glied nach gewissen Regeln und Gesetzen einordnen. In Fällen, wo dies mit besonderer Klarheit zutage tritt, kann man mit Recht von einem Kreislauf des Lebens sprechen. Gewiß das großartigste Beispiel hierfür ist der Kreislauf des Lebens, der zwischen Pflanzen- und Tierreich besteht. Denn mit ihrer ganzen Ernährung sind ja die Tiere auf die Pflanzen angewiesen. Nur diese sind durch ihre Organisation befähigt, direkt aus unorganischen Stoffen organische Substanz zu erzeugen, während sich die Tiere nur durch Zerstörung pflanzlichen Lebens ernähren können. Pflanze und Tier befinden sich daher mit ihren Lebensprozessen in einem Gegensatz zueinander und rufen einen Kreislauf des Stoffes hervor, der sich in folgender Weise formulieren läßt. In der grünen Pflanzenzelle wird aus Kohlensäure, aus Wasser und den in ihm gelösten Salzen organische Substanz erzeugt; bei der Assimilation wird zugleich die lebendige Kraft, welche der Pflanze durch das Sonnenlicht zugeführt wird, in Spannkraft umgewandelt. Die tie- rische Zelle dagegen benutzt zu ihrem Nährmaterial die bereits vom Pflanzenreich erzeugten Kohlehydrate, Fette und Eiweißkörper; teils verwandelt sie dieselben in arteigene Substanz zum eigenen Wachstum, teils verbrennt sie dieselben bei ihren Arbeitsleistungen durch Oxydation. Indem sie hierbei Arbeit verrichtet und Wärme erzeugt, wandelt sie die Spannkräfte, die in den hochmolekularen Verbindungen durch den Lebens- prozeß der Pflanzen angesammelt sind, wieder in lebendige Kräfte um, Die Pflanze nimmt während ihrer Chlorophyllfunktion Kohlensäure auf und spaltet aus ihr Sauerstoff ab; das Tier dagegen atmet Sauerstoff 30* ‘468 Elites Kapitel, ein und Kohlensäure wieder aus. In den chemischen Prozessen der Pflanze treten Reduktion und Synthese, beim Tier Oxydation oder Ver- brennung mehr in den Vordergrund. Wie infolge dieser Zusammenhänge die ganze Tierwelt ohne An- wesenheit des Pflanzenreichs nicht würde bestehen können, so wird naturgemäß auch die überhaupt mögliche Summe tierischen Lebens von der Menge der ihm vom Pflanzenreich gebotenen Nahrung reguliert. Mag die Anzahl tierischer Keime infolge der oft ungeheuren Zeugungs- kraft einzelner Arten eine noch so große sein, die Möglichkeit für ihre Entwicklung zum reifen Zustand hängt außer manchen anderen Ver- hältnissen in erster Linie von dem für sie vorhandenen Nahrungsquantum ab. Hier ltegt eine nicht zu bestreitende Wahrber: dee MArtHusschen Lehre, wenn wir auch ihre Formulierung und Nutzanwendung auf menschliche Verhältnisse nicht als richtig anerkennen können. Eine entsprechende Regulation, wie in diesem größeren Stoff- kreislauf, muß selbstverständlicherweise in allen ähnlichen Beziehungen wiederkehren, in denen ein Lebewesen auf das andere als Quelle seiner Nahrung angewiesen ist. Fleischfresser können nur in dem Verhältnis existieren, als Pflanzenfresser für sie als Beute in ausreichender Menge zu erreichen sind. Und ähnliches wiederholt sich in weiteren oder engeren Grenzen bis zur einzelnen Art herab. Viele Insekten haben sich, nament- lich im Raupenzustand (siehe S. 446), in ihrer Ernährung an eine ganz bestimmte Pflanze in dem Maße angepaßt, daß sie jede andere Nahrung verschmähen und ohne sie zugrunde gehen. Viele Parasiten können nur auf einer Wirtsart die ihnen zusagenden Existenzbedingungen finden. Daher hängt denn die Verbreitung und die Menge vieler In- sekten von dem Verbreitungsgebiet und der Anzahl ihrer Futterpflanzen und ebenso der Parasiten von ihren Wirten ab. Sterben aus irgend- einer Ursache bestimmte Futterpflanzen oder Parasitenträger ab, so verschwinden mit ihnen auch die zu ihnen gehörigen Insekten und Para siten entweder ganz oder nur in einzelnen Distrikten. So läßt sich wie im großen auch bis in die kleinsten Verhältnisse herab ein Kreislauf des Lebens nachweisen, der sich bald in engeren, bald in weiteren und mehr verschlungenen Bahnen abspielt. i Aus dem Zusammengreifen aller dieser verwickelten und uns meist unbekannten Beziehungen zwischen den Organismen untereinander und zur Umwelt entsteht ein mehr oder minder geordneter Mechanis- mus der im Haushalt der Natur nach dem Verhältnis von Ursache un Wirkung zu einem gewissen Ausgleich führt und dafür sorgt, daß, wo 2 Anpassungen der Organismen aneinander. 469 eine Störung in diesem durch irgendein Ereignis eintritt, sich doch all- mählich eine Regulation auf der veränderten Grundlage wieder vollzieht und zu einem Gleichgewichtszustand mit einer neuen Ordnung der Dinge führt. DARWwIN mit seiner scharfen Beobachtungsgabe besaß ein feines Verständnis für derartige Verhältnisse. Aus dem reichen Schatz, den er hierüber in seinem Buche ‚‚Über die Entstehung der Arten‘‘ zusammen- getragen hat, teile ich als ein verwickelteres Beispiel eine Beobachtung mit, die er auf einer großen, äußerst unfruchtbaren Heide gemacht hatte. In der Heide waren einige hundert Äcker vor 25 Jahren eingezäunt und mit Kiefern bepflanzt worden. ‚Die Veränderung in der ursprüng- lichen Vegetation des bepflanzten Teils war äußerst merkwürdig, mehr, als man gewöhnlich wahrnimmt, wenn man von einem ganz verschiedenen Boden zu einem anderen übergeht. Nicht allein erschienen die Zahlen- verhältnisse zwischen den Heidepflanzen gänzlich verändert, sondern es gediehen auch in der Pflanzung noch 12 solche Arten, Ried- und andere Gräser ungerechnet, von welchen sonst auf der Heide nichts zu finden war. Die Wirkung auf die Insekten muß noch viel größer gewesen sein, da in der Pflanzung 6 Species insektenfressender Vögel sehr gemein waren, von denen in der Heide nichts zu sehen war, welche dagegen von 2—3 anderen Arten solcher besucht wurde. Wir bemerken hier, wie mächtig die Folgen der Einführung einer einzelnen Baumart ge- wesen, indem sonst durchaus nichts geschehen war, außer der Abhaltung des Viehs durch die Einfriedigung. Was für ein wichtiges Element aber die Einfriedigung ist‘, fügt DArwın weiter hinzu, „habe ich deutlich in der Nähe von Farnham in Surrey gesehen. Hier waren ausgedehnte Heiden mit ein paar Gruppen alter Kiefern auf den Rücken der ent- fernteren Hügel; in den letzten 10 Jahren waren ansehnliche Strecken eingefriedigt worden, und innerhalb dieser Einfriedigungen schoß in- folge von Selbstaussaat eine Menge junger Kiefern auf, so dicht bei- sammen, daß nicht alle fortleben konnten. Nachdem ich mich verge- wissert hatte, daß diese jungen Stämmchen nicht gesät oder gepflanzt | worden, war ich so erstaunt über ihre Anzahl, daß ich mich sofort nach mehreren Aussichtspunkten wandte, um Hunderte von Acker deı nicht eingefriedigten Heide zu überblicken, wo ich jedoch außer den | gepflanzten alten Gruppen, buchstäblich genommen, auch nicht eine einzige Kiefer zu finden vermochte, Als ich mich jedoch genauer zwischen | den Pflanzen der freien Heide umsah, fand ich eine Menge Sämlinge und kleiner Bäumchen, welche aber fortwährend von den Herden ab- 4709 Elftes Kapitel, geweidet worden waren. Auf einem ein Yard im Quadrat messenden Fleck zählte ich 32 solcher abgeweideten Bäumchen, wovon einer mit 26 Jahresringen viele Jahre hindurch versucht hatte, sich über die Heide- pflanzen zu erheben, aber vergebens. Kein Wunder, daß, sobald das Land eingefriedigt worden war, es dicht von kräftigen, jungen Kiefern überzogen wurde. Und doch war die Heide so äußerst unfruchtbar und so ausgedehnt, daß niemand geglaubt hätte, daß das Vieh hier so dicht und so erfolgreich nach Futter gesucht haben würde. — Wir sehen hier also das Vorkommen der Kiefer in absoluter Abhängigkeit vom Nie Wie in dem eben beschriebenen, abgezäunten Bezirk Heide sich eine von der Umgebung verschiedene Lebewelt mit ihren Beziehungen zueinander in kurzer Zeit entwickelt, so geschieht es überall an der Erd- oberfläche mit ihrer Gliederung in sehr mannigfaltige geographische, geognostische und klimatische, größere und kleinere Bezirke. Ein Teich unterscheidet sich von einem kleinen Tümpel in seiner Flora und Fauna in manchen Beziehungen. In jedem von ihnen bildet sich ein besonderer Kreislauf des Lebens zwischen den einzelnen Arten von Lebewesen aus, die ihn nur in proportionalen Zahlen zueinander bevölkern können, um geeignete Lebensbedingungen zu finden. Ebenso stellt sich in einem Zımmeraquarium zwischen den in es eingebrachten verschiedenen Arten von Wasserpflanzen (Elodea, Algen) und zwischen den Tieren, Mollusken, & Arthropoden, Amphibien, Fischen, Protisten allmählich um so mehr ein Zustand des Gleichgewichts ein, je mehr die Bedingungen während einer Reihe von Jahren die gleichen geblieben sind. Eine neu angelegte fi Rodung im Walde, ein nur wenige Jahre unbenutztes Stück Brachland ’ in einer kultivierten Flur wandelt sich in einer erstaunlich kurzen Zeit zu einer von ihrer Umgebung abgegrenzten Insel mit ihrem besonderen - Kreislauf des Lebens um. a) Von Darwin verwertete Ergebnisse der Pflanzen- und Tiergeographie. Die von HumsoLpr begründete Wissenschaft der Pflanzen- a und Tiergeographie hat uns schon viele interessante Einblicke in die hier vorliegenden Verhältnisse gegeben. DAarwın hat sich mit ihnen besonders viel beschäftigt und auf sie die Aufmerksamkeit der‘ Forscher in höherem Grad gelenkt. Ich erinnere nur an gewisse Eigentümlich- keiten der Fauna kleiner Inseln, ferner an die Polar- und Wüstentiere oder an die pelagische Fauna. Wir können aus ihnen wieder lernen, daß Anpassungen der Organismen aneinander. 471 mit der Natur der Umwelt manche Eigenschaften der Lebewesen in einem engeren Zusammenhang stehen. Von manchen Naturforschern ist auf ihren Reisen beobachtet worden, daß kleinere ozeanische Inseln von einer auffallend großen Zahl von Insekten mit unvollkommenen oder ganz rudimentären Flügeln bewohnt werden. Von 550 auf Madeira gesammelten Käfer- arten konnten 200 nicht fliegen. Und noch größer als in Madeira selbst war die Zahl der flügellosen Käfer auf den kahlen, dem Wind besonders ausgesetzten Desertos. (DARwIn, Entstehung der Arten, 1872, p. 152.) „Auf den stürmischen Kerguelen sind sämtliche Insekten flügellos, darunter eine Schmetterlingsart, mehrere Fliegen, zahlreiche Käfer. Ihr auffälliges Überwiegen auf kleinen, dem Wind ausgesetzten Inseln läßt sich leicht daraus erklären, daß fliegende Insekten durch den Sturm sehr häufig vom Land abgetrieben werden, ins Meer fallen und zugrunde gehen. Ungeflügelte Arten haben daher vor ihnen den Vorteil voraus, auf diese Weise nicht vernichtet zu werden.‘ Sehr häufig und in der allerverschiedensten Weise läßt sich zwischen den Tieren und ihrer Umgebung eine mehr oder minder große Über- einstimmung in der Färbung beobachten, und diese übt wieder auf die Verbreitung der Lebewelt nach Gegenden und Standorten einen deutlich wahrnehmbaren Einfluß aus. Es hat sich auf dieser Grundlage in der Zoologie die „Lehre von der sympathischen Färbung“ ent- wickelt, welche in der Darwinistischen Literatur eine große Rolle ge- spielt hat und noch spielt. In den ausgedehnten Schneeregionen an beiden Polen sind alle dort lebenden Säugetiere rein weiß gefärbt, der Eisbär, der Eisfuchs, der Polarhase etc., ebenso einige Vögel, wie die Schneeeule und die Schneeammer. In den Wüstenregionen der heißen Zone, in denen die gelben Töne überwiegen, zeichnen sich auch ıhre Bewohner durch eine entsprechende Färbung aus, der Löwe, das Kamel, die Giraffe, die Antilopen, aber auch kleinere Vögel, Schlangen und Eiı- dechsen. Ganz offenbar sind alle diese Tiere in der Farbe ihrer Körper- oberfläche dem einförmigen Farbton ihrer Umgebung angepaßt und werden auch hiernach als Polar- und Wüstentiere unterschieden. Daß ihnen ihre Schutzfärbung, wie den Soldaten ihre feldgraue Uniform, von Nutzen ist, wird niemand bezweifeln. Denn je mehr die Tiere dem Schnee oder dem Wüstensand ihrer Wohngegend durch sympathische Färbung gleichen, um so leichter können sie sich auf der einen Seite vor ihren Feinden verbergen, auf der anderen Seite aber auch unbemerkt an ihre Beute heranschleichen. ‘ Ein schwarz gefärbtes Tier in einer Schneelandschaft würde schon auf so weite Entfernungen wahrgenommen 472 Elftes Kapitel, werden, daß es sich dem’ Angreifer schwer entziehen und das Beutetier kaum überraschen könnte. Weil die Schutzfärbung bei den Polar- und Wüsten- tieren besonders auffällig ist, wurde sie vorangestellt; sie spielt aber auch sonst noch in der Natureine Rolle. Viele Insekten, wie Heuschrecken, Schmetterlingsraupen, die sich auf Pflanzen aufhalten, sind grün ge- färbt. Manche Schmetterlinge, das Ordensband (Catocala), einzelne Arten von Spannern haben eine graue und braune Färbung des Leibes und der Flügeloberseite, auf der noch dunkele zickzackförmige Linien verlaufen. Infolgedessen sind sie von der Rinde von Bäumen, auf die sie sich zu setzen pflegen, kaum zu unterscheiden. Auch die pelagischen Tiere sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Fast alle, mögen sie den Stämmen der Cölenteraten, Würmer, Mollusken, Tunicaten etc. angehören, sind glasartig durch- sichtig und können daher im‘ Wasser, in dem sie herumschwimmen, kaum gesehen werden. Mit Ausnahme weniger Stellen, wie der Augen, fehlt jede Pigmentbildung. DARWwIN hat nicht gezögert, die sympathische Färbung zugunsten seiner Hypothese von der Entstehung der Arten durch Selektion zu ver- werten,da den Polar- und Wüstentieren ihre weiße,resp. sandgelbe Färbung‘ offenbar von Nutzen ist. Man wird aber gleich sehen, wie wenig Wert in unserem Fall die stereotype Formel hat, daß von Lebewesen, die kleine Farbenveränderungen ihres Integuments zeigen, jedesmal die den Verhältnissen am besten angepaßten im Kampf ums Dasein die’ Oberhand erhalten, bis endlich eine Art mit Schnee- oder Wüstenfarbe entstanden ist. Denn wie leicht zu erkennen ist, besteht die-Erklärung‘ der Tierfärbung und ihrer Beziehung zur Umwelt aus einer großen Anzahl der verschiedenartigsten Probleme, die entweder morphologische oder’ chemisch-physiologische oder biologische sind. Im morphologischer Hinsicht kann die Färbung von den verschiedensten Teilen des Körpers‘ ausgehen. Sie kann auf verschiedenfarbigen, in Zellen abgelagerten Pigmenten beruhen; sie kann hierbei vorübergehend durch amöboide B>wegungen der verschieden gefärbten Zellen, zuweilen sehr erheblich, verändert werden (Farbenwechsel des Chamäleon). Sie kann aber auch eine 'Interferenzerscheinung sein, die wieder auf die verschiedensten anatomischen Ursachen (Linienskulpturen auf der Oberfläche kleinster Hautanhänge, z. B. der Schmetterlingsschuppen, Ablagerung von Gu- aninkristallen in Zellen der Fische etc.) zurückzuführen sein. Die Natur pflanzlicher und tierischer Pigmente kann nur durch chemische Unter- suchungen festgestellt werden. Eine Erklärung von Interferenzfarben | Anpassungen der Organismen aneinander, 473 wird uns durch die Physik geliefert. Wie Pigmente im Stoffwechsel "ae Lebewesen und wie die physikalischen Bedingungen für Interferenz- farben durch mikro-histologische Verhältnisse entstehen, sind schwierige Fragen der Physiologie und Entwicklungsgeschichte. Daß hier wissen- schaftliche Aufgaben vorliegen, von denen wir eigentlich noch wenig "wissen, obwohl ihre Kenntnis über das Problem der Tier- und Pflanzen- färbung viel Licht verbreiten würde, wird niemand in Abrede stellen ; ‘er wird aber auch zugleich einräumen müssen, daß es von vornherein _ töricht wäre, für diese echt wissenschaftlichen Fragen das Selektions- _ prinzip heranziehen zu wollen. Was an dem ganzen Aufgabenkomplex ‚morphologisch, chemisch, physikalisch und physiologisch ist, kann nur mit morphologischen, chemischen, physikalischen und physiolo- ‚gischen Methoden gelöst werden. In allen diesen Richtungen versagt also gleich von vornherein das Selektionsprinzip. Somit bliebe für dieses nur noch die räumliche Verbreitung der Tiere nach ihrer Färbung als Gegenstand der Erklärung übrig. Istes nun irgendwie wahrscheinlich, daß durch Begünstigung kleiner, geeigneter Farbennuancen durch Naturzüchtung die in den Polar- und Wüstenregionen lebenden Tiere langsam, Schritt für Schritt in ihrer Färbung so verändert worden sind, bis sie weiß wie der Schnee oder gelb wie der Wüstensand aussehen ? Sollte sich der Prozeß nicht viel einfacher abgespielt haben? Wie jeder weiß, gibt es viele Säugetier- und Vogelarten, deren nebeneinander lebende Individuen in der Färbung ihrer Behaarung und ihres Gefieders aus unbekannten Ursachen beı der Pigmentbildung ungemein variieren. Ich erinnere an die weißen, grauen, schwarzen, gelbbraunen Mäuse, Kaninchen, Pferde, Hunde etc. oder an die Tauben und Hühner mit ihrem verschiedenfarbigen Gefieder. Es wird daher gestattet sein, einen ähnlichen Ausgangspunkt für die Vorfahren der Polar- und Wüstentiere anzunehmen. Dann könnten zweierlei Vorgänge stattgefunden haben. Im einen Fall bewohnten die Vorfahren der heutigen Polartiere das Gebiet, ehe es vereist und mit Schnee bedeckt war. Dann läßt es sich verstehen, daß mit Einbruch der Eis- zeit die in der Schneelandschaft durch ihre Färbung leicht wahrnehm- baren Individuen wegen der Ungunst der Existenzbedingungen in kurzer Zeit entweder von ihren Feinden oder durch die Schwierigkeiten der Nahrungsbeschaffung vernichtet wurden. Nur die sympathisch gefärbten Individuen bleiben schließlich erhalten, und da die abnormen Lebens- bedingungen auf ihre Isolierung gegenüber ihren Verwandten in der Fauna nicht vereister Gegenden hinwirkten, war zugleich der Grund zur Entstehung einer Lokalvarietät oder einer neuen Art gelegt. Im 474 Elites Kapitel. zweiten Fall könnte man aber auch eine allmählich erfolgende Besiede- lung der Polargegend von der verschiedenfarbigen Fauna der umgeben- den Gebiete annehmen. Dann würden nur die weißen Individuen der einwandernden Arten die besseren Aussichten für ihr Fortkommen ge- funden und den Ausgangspunkt für eine besondere Polarfauna abgegeben haben. Für die Erklärung der Farbenanpassung der Wüstentiere würde man zwischen denselben Alternativen zu wählen haben. In beiden Fällen hätte man es mit einer direkten Bewirkung zu tun, mit einer direkten Vernichtung der für die vorhandenen Lebensbedingungen nicht geeigneten Individuen. Hier liegt ein großer Unterschied gegenüber der mit kleinen Zufälligkeiten operierenden Selektionstheorie. Bei dieser soll die Erklärung viele Probleme lösen, hier wird sie auf einen bestimmten Punkt beschränkt. Denn es soll durch sie nicht die Entstehung der weißen, resp. gelben Farbe der Polar- und Wüstentiere, was ein besonderes chemisch-physiologisches Problem ıst, sondern nur die Verbreitung weiß oder gelb gefärbter Tiere über, bestimmte Wohngebiete erklärt werden. Wenn man nicht schärfer, als es gewöhnlich geschieht, ausein- anderhält, welche Aufgabe man mit der so geschmeidigen Selektions- formel des Darwinismus eigentlich lösen will, wird man aus Unklar- heiten und Widersprüchen zwischen den Ansichten verschiedener Forscher nicht herauskommen. So kann es geschehen, daß, während ich in der obigen Erklärung eine direkte Bewirkung und wohl mit Recht erblicke, WEISMANN (Vorträge, 1902, Bd. I. p. 75) im Gegenteil behauptet, „es handele sich bei der Weißfärbung der Polartiere sicher nicht um direkte Wirkung des Klimas, wie man öfters gemeint habe, sondern um indirekte, d.h. um den Erfolg von Naturzüchtung. Er habe das an diesem Beispiel klarlegen wollen, damit er es nicht bei allen folgenden immer zu wieder- holen brauche.‘ Der Gegensatz in unserer Stellungnahme, auf den ich aus demselben Grunde wie WEISMANN etwas ausführlicher eingehe, ist darauf zurück- zuführen, daß der Freiburger Forscher mehr beantworten will, als die in der geographischen Verbreitung der Tiere liegende Aufgabe eigentlich verlangt. Denn außer der Verbreitung der weißen Tiere auf weißem Grund will er auch die Entstehung der weißen Farbe bei Polartieren erklären, was eine zweite Aufgabe ist, die unter Umständen mit der ersten in gar keinem notwendigen Zusammenhang steht. Daher ver- wertet WEISMANN die weiße Farbe der Polartiere als einen Beweis zu- gunsten der Selektionstheorie, dagegen erkenne ich in ihr die Folgen Anpassungen der Organismen aneinander. 475 einer direkten Bewirkung. Denn schwarze und buntgefä.bte Tiere müssen auf weißem Grund allmählich der Vernichtung anheimfallen, ebenso wie Landtiere im Wasser und Wassertiere auf dem Lande nicht längere Zeit leben können, oder ebenso, wie auf kleinen stürmischen Inselchen geflügelte Insektenarten nicht gut fortkommen, weil sie ins Meer geweht werden, so daß flügellose Arten im Gesamtbild der Fauna in relativer Überzahl sind. Wenn ich die Frage der Entstehung der weißen Farbe bei Polar- tieren im Vorhergehenden als ein gesondertes, noch wenig spruchreifes Problem von meiner Erklärung ausgeschlossen habe, so will ich zum Schluß dieser Erörterung doch nicht unerwähnt lassen, daß nach einzelnen, von WEISMANN angeführten Beobachtungen (Vorträge, Bd. I, p. 73—75) die Kälte sogar die Entstehung weißer Haare direkt zu begünstigen scheint. Beim Alpenhasen (Lepus variabilis), der im Sommer braun und im Winter rein weiß ist, hat POULTON gezeigt, daß das Weiß da- durch zustande kommt, daß die dunklen Haare der Sommertracht im An- fang des Winters weiß weiter wachsen, und daß die Fülle neuer Haare, welche den Winterpelz vervollständigt, von vornherein weiß hervor- wächst. Letztere fallen in der warmen Jahreszeit wieder aus bei der Umwandlung des Winter- in den Sommerpelz. Ferner sollen nach Ver- suchen von Kapitän Ross, von denen PoULToN berichtet, gefangene und im Zimmer gehaltene Lemmings im Winter nicht eher weiß werden, als bis man sie der Kälte aussetzt. Durch die Kälte werden in diesen Fällen übrigens nicht bereits gefärbte Haare entfärbt, sondern nur durch ihre Einwirkung auf den Organismus die Haarkeime, von denen das Weiterwachstum und die Neubildung von Haaren ausgeht, veranlaßt weiß aussehende Haarsubstanz zu erzeugen. Bei dem Mangel genauerer Untersuchungen beschränke ich mich auf diesen kurzen Hinweis. Nach meiner Meinung würden derartige Vorkommnisse ebenfalls nicht zu- gunsten der Selektionstheorie, sondern für direkte Bewirkung zu ver- werten sein. Auf eine genauere Beurteilung aller dieser Verhältnisse wird erst im fünfzehnten Kapitel, welches von der Kritik der Selektions- und Zufallstheorie handelt, noch eingegangen werden, b) Die Lehre von der Mimicry und ihre Beurteilung. Die Besprechung der Farbenanpassung führt uns ganz natur- gemäß auf eine Summe von Erscheinungen, die als Beweismittel für Darwıns Lehre von der Entstehung der Arten unter seinen Anhängern 476 Elftes Kapitel, stets eine große Rolle gespielt haben und unter dem Namen der EB micry‘ zusammengefaßt worden sind. Wenn wir das Wort in dem um- fassenderen Sinn, den es allmählich erlangt hat, hier gebrauchen, so versteht man darunter die Tatsache, daß manche Tiere in vielen Eigen- tümlichkeiten ihrer Gestalt, ihrer Färbung und ihrer Zeichnung anderen Lebewesen oft auffallend ähnlich aussehen und diese Ähnlichkeit zum Schutz gegen Nachstellung von Feinden verwerten. Besonders häufig Fig. III. A Stabheuschrecke, Acanthoderus Wallacei 4’. B Blattheuschrecke Phyllium scythe 2. Aus R. HERTWIG. wird Mimicry in verschiedenen Ordnungen der Insekten beobachtet die entweder pflanzliche Teile, besonders Blätter und Stengel, od andere Tiere nachahmen. Manche Fälle, die den Familien der Ortho teren und der Schmetterlinge angehören, sind in der wissenschaftlich und populären Literatur so häufig besprochen worden, daß sie allgemei bekannt geworden sind und hier nur kurz zusammengestellt zu werde brauchen, um uns als Grundlage für weitere Erörterungen zu diene Unter den Orthopteren finden sich in den Tropen viele bi gestaltete Arten; einige (Fig. IIIA) gleichen wegen ihres langgestreckte _ Chitinduplikaturen mit Anpassungen der Organismen aneinander, 477 und braun gefärbten Körpers mit den seitwärts abgehenden langen Beinen einem kleinen, dürren Ästchen mit seinen abstehenden Zweigen : andere sehen wie ein grünes oder vertrocknetes braunes Blatt (Fig. ırıB)aus. Die einen werden daher auch als Stab-, die anderen als Blatt- 'heuschrecken bezeichnet, und unter diesen führt eine Art schon von langer Zeit her den Namen: „das wandelnde Blatt‘. Beı ihr sind Brust und Bauch plattge- drückt und verbreitert: selbst die Extremitäten sind blattartig, indem ihre beiden Kanten in gesägten Rändern aus- laufen; und dabei sind alle diese Teile blatt- artig gefärbt. Daher sind die Stab- und Blattheuschrecken beim Aufenthalt zwi- schen Pflanzen, von denen sie leben, nicht leicht zu unterschei- den und gegen Feinde besser geschützt. Noch viel täuschen- der ist die oft bis in kleine Details durchge- führte Ähnlichkeit bei den Blattschmetter- lingen, besonders bei : NZ Fig. ı12. Blattschmetterlinge. Callima para- der viel besprochen« N jecta (A u.a) nach WALLACHK; Siderone strigosa (B u. b Callima paralecta, wel- nach C. Sterse. A uw. B fliegend; a u. b an einer che in den Wäldern Pfanze sitzend. Aus R. Herrwic. Indiens verbreitet ist (Fig. 112 A). Wenn dieselbe sich an den Zweigen gewisser Sträucher niedersetzt und die Flügel nach oben zusammenschlägt, wie es Tagschmetterlinge zu tun pflegen, so gleicht sie auf das täuschendste einem trockenen Blatt (Fig. 112 a) nicht nur durch die gleichmäßig gelbe oder braunrote Grundfarbe der unteren Flügelfläche, sondern auch durch die Blattform, welche der Schmetterling angenommen hat. Wie 478 Elftes Kapitel. f nämlich die Vorderflügel in eine nach vorn gerichtete Blattspitze aus- laufen, so verlängern sich die Hinterflügel in einen nach hinten gerichteten Fortsatz, der sich einem Blattstiel vergleichen läßt und einen solchen besonders dann vortäuscht, wenn sein Ende an den Zweig der Pflanze anstößt, an der sich der Schmetterling niedergelassen hat. Dazu ge- sellen sich auch Eigentümlichkeiten der Zeichnung, welche die Ähn- lichkeit noch weiter erhöhen. Denn der stielförmige Fortsatz und die Spitze des vorderen Flügels werden durch einen dunkler gefärbten schmalen Streifen untereinander verbunden, und von diesem gehen wieder zahlreiche, schräge, dunklere Linien nach beiden Seiten und in gleichen Abständen bis zum Rand, so daß ein Bıld entsteht, wie die, Mittelrippe eines Blattes mit ihren Seitenrippen. Nur beim Sitzen des Schmetterlings wird die Blattähnlichkeit vorgetäuscht. Denn im Flug kommt die obere Fläche der ausgebreiteten Flügel zur Geltung, und diese ist ganz anders als die untere, wie bei sehr vielen Schmetterlingen, in mehreren leuchtenden Farben prächtig geschmückt und mit einem anderen Zeichenmuster versehen. Da jetzt die Callima leicht wahr- nehmbar sind, können sie sich nur durch die Schnelligkeit des Fluges ihren Verfolgern entziehen. Bei Besprechung der blattähnlichen Schmetterlinge darf übrigens nicht unerwähnt bleiben, daß es viele verschiedene Arten derselben gibt. Bei ihnen wird die Blattähnlichkeit durch Verwendung von spitzen Fortsätzen der Flügel und von farbigen Streifen, die Blattrippen vortäuschen, in anderer Weise als bei Callima und in sehr verschiedenen Graden der Vollkommenheit erreicht. In der Musterung und Form der Flüge! ist hierbei eine große Mannigfaltigkeit wahrzunehmen. Wie zwischen Pflanzen und Tieren, kommen täuschende Über- einstimmungen auch zwischen zwei Tierarten, und zwar in der Weise vor, daß die eine von ihnen aus ihrer Ähnlichkeit mit der anderen Nutzen zieht und sie zuihrem Schutze benutzt. Es ist dies die Mimicry im engeren Sinne, wie sie zuerst von BATES, WALLACE und FRITZ MÜLLER entdeckt und beschrieben worden ist. Am berühmtesten ist die vielbesprochene Mimicry zwischen Heliconiden und Pieriden, zwei Familien von Schmet- terlingen, die in Südamerika weit verbreitet sind. Die Heliconiden zeichnen sich durch die bunte Färbung ihrer Vorder- und Hinterflügel in leuchtendem Rot, Gelb und Braun aus, so daß sie leicht erkennbar sind. Obwohl sie in Schwärmen zusammenleben und schwerfällig fliegen, werden sie trotzdem von Vögeln, Eidechsen und anderen Feinden nicht verfolgt, weil sie einen widrigen Geschmack und Geruch besitzen, der von besonderen im Fettkörper aufgespeicherten Substanzen herrührt, ‚ lingsarten für ihre Feinde Anpassungen der Organismen aneinander, 479 Da sie mithin keine Feinde haben, die ihnen nachstellen, sind sie in ihrem Verbreitungsbezirk ziemlich gemein. In ihren Schwärmen werden nun sehr häufig Schmetterlinge einer zweiten Art aus der Familie der Weißlinge oder Pieriden aufgefunden, die von der betreffenden Heli- conidenart selbst vom kundigen Forscher schwer zu unterscheiden sind; so sehr gleichen sie ihnen in Größe, Form, bunter Färbung und Musterung der Flügel. Sie treten in einer geringeren Zahl von Individuen auf, und da ihr Fettkörper keinen widrigen Geschmack und Geruch hat, sind sie gleich der Mehrzahl der Schmetter- genießbar. Daher er- scheint die jetzt allge- mein angenommene Än- sicht von BATEs, daß sie durch ihre Vereini- gung mit den Heli- conidenschwärmen einen Schutz vor ihren Fein- den finden, nicht un- | begründet. Die Helı- coniden sind bei diesem Zusammenleben die |\nachgeahmten, immu- ınen Arten, die Pieriden die schutzbedürftigen Fig. 113. Mimicry zwischen Heliconiden und \ Nachahmer. Pieriden. Nach WaLLACE. Die Pieride Leptalis kopiert die übelschmeckende Heliconide Methone psidii | Ein genau ent ‚sprechender Parallelfall liegt zwischen den in Südafrika lebenden Danaiden und mehreren, mit ihnen nicht näher verwandten Arten, wie Papilio Merope, vor. Hieı sind die Danaiden die geschützten und nachgeahmten, dagegen die mit ihnen zusammenlebenden Individuen anderer Art die schutzbedürftigen |Nachäffer. Bei der Mimicry kommt es auch vor, daß Weibchen und Männchen \der nachahmenden Art verschieden sind, und daß bei diesem Dimot Iphismus des Geschlechts nur die Weibchen die schützende Nachahmung besitzen. Auch daß ein und dieselbe Art auf verschiedenen Wohn gebieten mehrere immune Arten nachahmt, wird berichtet. Nach den |Angaben von WEISMANN werden in Afrıka vier verschiedene Weibchen 480 Elftes Kapitel. # von Papilio Merope beobachtet, von denen ‚jedes eine geschützte Da- naidenart nachahmt. Sie sind nicht immer lokal getrennt, eine jede nicht etwa aufein Gebiet durchaus beschränkt, sondern ihre Verbreitungs- gebiete greifen häufig übereinander, und man hatz. B.am Kap aus einem Satz Eier Männchen und drei verschiedene Weibchenformen gezogen. Es besteht also hier bei den mimetischen Weibchen ein ganz überraschen- der Polymorphisnus. Offenbar gehören daher die nachahmenden Schmet- terlinge Arten mit großer Variabilität der Färbung und Zeichnung an, Für die richtige Beurteilung ist ferner beachtenswert, wie schon DAR- WIN (l. c. p. 300) betont hat, daß die nachgeahmte und die spottende Form immer dieselbe Gegend bewohnen; wir finden niemals einen Nach- ahmer, der entfernt von der Form lebt, die er nachbildet. Die Spötter sind fast ausnahmslos seltene Insekten; die verspotteten kommen fast in jedem Fall in großen Schwärmen vor.“ In der Darwınschen Literatur wird die Mimicry gewöhnlich als ein Paradestück von besonderer Beweiskraft aufgeführt. Schon von DArRwIN wurde sie bei ihrer nur kurzen Erwähnung ein ausgezeichnetes Beispiel des Prinzips der natürlichen Zuchtwahl genannt. WEISMANN widmet ihr aus diesem Grund in seinen Vorträgen über Descendenz- theorie zwei ausführliche Kapitel (IV und V). Versuchen wir daher im Anschluß an die Erörterung der sympathischen Färbung auch eine kritische Analyse der jedenfalls sehr überraschenden und interessanten Mimicryerscheinungen zu geben. Noch mehr als bei der sympathischen Färbung der Polar- und Wüstentiere handelt es sich bei der Mimicry um einen ungemein ver- wickelten Komplex sehr vieler Verhältnisse, die anatomisch und physio- logisch so verschiedenartig voneinander sind, daß die Entstehung eines jeden nur aus seiner besonderen Ursache erklärt werden kann. Um Klarheit zu schaffen, sind jedoch bei einer kritischen Analyse von vom- herein zweierlei Dinge reinlich auseinanderzuhalten. Erstens handelt es sich bei der sympathischen Färbung und bei der Mimiery um die Tatsache, daß manche Naturgegenstände trotz allgemeiner und wesent- licher, oder sagen wir dafür kurz, trotz innerer Verschiedenheiten sich in äußerlichen Merkmalen bis zum Verwechseln ähnlich sind. Zweiten sind diese nur äußerlich gleichen Gegenstände auch noch in einen engeren Zusammenhang zueinander dadurch gebracht, daß der eine — und zwar in diesem Falle stets das Lebewesen — aus dieser Ähnlichkeit einen Nutzen zieht. Es entsteht dadurch zwischen beiden ein kausaler Zu- sammenhang, der zugleich als ein zweckmäßiger für den einen Beteiligten bezeichnet werden kann. Denn bei der Mimicry benutzt der Nach- Anpassungen der Organismen aneinander, 481 ahmer die Ähnlichkeit mit dem nachgeahmten Gegenstand für seinen Zweck, indem er sich gegen seine Feinde in wirksamer Weise zu schützen sucht. Während nun auf der einen Seite klar auf der Hand liegt, daß man von sympathischer Färbung und von Mimiery nur dann sprechen kann, wenn auch die zweite Forderung erfüllt ist, muß auf der anderen Seite noch daran erinnert werden, daß sehr große Ähnlichkeiten zwischen zwei Gegenständen auch ohne Erfüllung des zweiten Moments häufig in der Natur zu beobachten sind und zwar sowohl zwischen zwei leblosen Gegenständen als zwischen zwei Lebe- wesen oder zwischen diesen und jenen. Dieser Umstand darf bei der Frage, wie die Übereinstimmung im Fall der sympathischen Färbungen und der Mimicery entstanden ist, gewiß nicht außer acht gelassen werden. Gleichwohl pflegen gewöhnlich die Forscher, welche das Selektionsprinzip als Erklärung be- nutzen, stillschweigend darüber hinweg- zugehen. Um so notwendiger ist es, auch einmal darauf hinzuweisen, daß bei dem ganz ungeheueren Formen-, Farben- Fig. 114: Leptodiscus medu- und Musterreichtum der lebenden Natur soides auf dem optischen Durch- sich leicht eine lange Liste von Ähn- per N lichkeiten zwischen Lebewesen mit an- / Geißel, m Mundöffoung, „» Kern, deren oder mit Gegenständen der leb- ein ee Kein ı ara losen Natur würde zusammenstellen lassen, die ohne jeden Bezug zueinander sind. Hierfür nur einige, besonders auffällige Beispiele. I) Die Cystoflagellate Leptodiscus medusoides lebt pelagisch, ist vollkommen transparent und gleicht, wie schon in ihrem Namen ausgedrückt ist, den kleinen Jugendformen von Medusen so vollständig, daß mein Bruder sie beim Einfangen aus dem Wasserglas anfangs für eine solche hielt und erst durch genauere mikroskopisch-histologische Untersuchung über die wahre Natur des einzelligen Organismus belehrt wurde (Fig. 114). Es bildet nämlich auch der Leptodiscus eine glocken- förmig gewölbte Gallertscheibe mit verdickter Mitte, allerdings nur von 1,5 mm Größe. Er schwimmt äußerst lebhaft wie eine Meduse durch Zusammenklappen der Scheibe, an deren unterer Fläche Muskelfibrillen O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl 31 # 482 Elftes Kapitel. a gerade wie bei den Medusen verlaufen. Nnch größer ist die Ähnlichkeit bei einer zweiten Art von Cystoflagellate, der Craspedotella pileolus, da hier am Glockenrand noch eine Bildung wie ein Velum nachweisbar ist. 2) Die zu den Protozoen gehörenden Thalamophoren oder Fora- miniferen, deren Protoplasmakörper in sehr verschieden geformte Kalk- gehäuse eingeschlossen ist, wurden von den älteren Systematikern, wie noch von LAMARCK, zu den beschalten Mollusken gerechnet. Unter ihnen besitzen viele Arten von Polythalamien vielkammerige Schalen, die wie ein Schneckenhaus eingerollt sind. Sie haben, wie RICHARD HERTwiG bemerkt, eine so überraschende Ähnlichkeit in ihrer Form mit den außerordentlich viel größeren Schalen der Nautiliden, daß selbst - hervorragende Forscher, wie D’ORBIGNY, veranlaßt wurden, die Fora- miniferen für kleine Cephalopoden zu halten. Hierzu tritt noch als ein weiteres übereinstimmendes Moment die Vermehrungsweise in der Zahl der Kammern. Sowohl bei den Polythalamien wie bei Nautilus ist zuerst nur eine vorhanden, an ihre Öffnung setzt sich dann, so lange das Wachstum dauert, eine zweite, dritte usw. an, wobei jede nachfolgende etwas größer wird und eine spirale Anordnung erfolgt. 3) Die Cirripedien oder Lepadiden (Fig. 30) sind zwar Krebs- tiere; sie sehen aber in ihrer äußeren Erscheinung und infolge ihrer fest- sıtzenden Lebensweise viel eher wie Muscheln aus. Denn ihr Körper ist, wie bei der Mießmuschel. in zwei dicke, verkalkte, weiß und braun gefärbte Schalenhälften eingeschlossen, die aus mehreren Stücken be- stehen und, wenn sie zusammengeklappt sind, das ganze Tier einschließen. Eine Art führt daher auch den deutschen Namen ‚Entenmuschel“ (Lepas anatifera). Wie von Laien, wurden die Cirripedien auch sogar von Forschern, unter diesen selbst noch von CUVIER, nach ihrem Aus- sehen für Mollusken gehalten, bis die Entdeckung der Larven durch THomPson und BURMEISTER ihre Crustaceennatur und insbesondere ihre nahe Verwandtschaft mit den Entomostracen unzweifelhaft machte, 4) Unter den Säugetieren wiederholen die Cetaceen den Fisch- typus in sehr vollkommener, täuschender Weise. Ihre ganze Körper- form ist wegen der mangelnden Gliederung und ihres zu einer typischen Flosse umgestalteten Schwanzendes fischartig; dazu kommt noch die haarlose und glatte, mit einer dicken Fettschicht ausgestattete Haut, die flossenähnlichen Vorderextremitäten und die den Fischen entsprechende Lebensweise, Daher erscheint es wohl begreiflich, daß einige Ver- treter als Walfische bezeichnet werden, und daß beim ersten Anblick schwimmender Delphine der Beobachter gewöhnlich große Fische zu erblicken glaubt. Anpassungen der Organismen aneinander. 483 5) Wie ganze Tierabteilungen sich in ihrer äußeren Gestalt in so auffälliger Weise gleichen können, so auch einzelne Arten, die getrennten Familien angehören und in weit voneinander entfernten Bezirken ge- funden werden. Aus der Klasse der Vögel ist Macronyx capensis, eine südafrikanische Art, schwer zu unterscheiden von Sturnella ludoviciana, welche in den Vereinigten Staaten vorkommt. Namentlich aber lehren , die Mimicrybeispiele selbst, daß dieselbe Färbung und Musterung über mehrere Schmetterlingsarten verbreitet sein kann. Denn das von den Pieriden nachgeahmte Muster ist nicht nur einer Danaisart eigentümlich, sondern findet sich auch noch in derselben Gegend bei 3—4 Arten, die anderen Familien angehören und ebenfalls wegen ihres widrigen Ge- schmacks immun sind, so daß die Übereinstimmung nicht auf Mimicry und Schutzbedürfnis zurückgeführt werden kann. So zeigt nach den Beobachtungen von FRITZ MÜLLER, die ich dem Buch von WEISMANN entnehme, die Danaide: Lycorea sp. dieselben Farben, Braun, Schwarz, Gelb in ähnlichem Muster wie die Heliconiden: Heliconius Eucrate und Eueides Isabella, ferner wie die Neotropinen: Mechanitis Lysimnia und Melineae sp. Man hat daher von einem Mimicryring gesprochen. Wie in Brasilien können auch in anderen Gegenden einheimische Arten zu entsprechenden Ringen zusammengefaßt werden, deren WEISMANN ‚ mehrere mitteilt. Da in einem solchen Ring schon jede Art durch ihren widrigen Geschmack geschützt ist, kann aus ihrem Vorhandensein wohl nur geschlossen werden, daß leicht variierende und bunt gemusterte Schmetterlingsarten überhaupt nicht selten überraschende Ähnlich- keiten darbieten. 6. Noch häufiger als im ganzen Habitus finden sich auffällige Ähn- lichkeiten zwischen Lebewesen verschiedener Stämme, Klassen und Ordnungen in bezug auf nur wenige Einzelteile ihrer Organisation. / Schon früher ($. 419) wurde erwähnt, daß die durchsichtigen Linsen, | welche in allen Stämmen des Tierreichs als Bestandteile von Sehorganen beobachtet werden, nach Form und Funktion als lichtbrechende Körper sowohl einander als auch einer künstlich fabrizierten optischen Linse gleichen, trotzdem aber entweder in ıhrer Substanz oder in ihrer histo- logischen Struktur oder in beiden Beziehungen grundverschieden sind. Entsprechendes beobachtet man in den Färbungen und Zeich- nungen der Körperoberfläche; bei ihnen zu verweilen, erscheint um so mehr geboten, als sie bei der sympathischen Färbung und bei den Erscheinungen der Mimicry die Hauptrolle spielen. Nichts ist vari- abler und ruft im Reich der Lebewesen eine größere Summe von Mannig- faltigkeit hervor, als die Färbung und Musterung. Hierbei trifft man 31" 484 Elites Kapitel. ähnliche Farben und Muster sowohl in fast allen Stämmen des Tier- reichs an, in besonders reicher Ausführung bei Arthropoden und Wirbel- tieren, als auch lernt man, daß nächstverwandte Individuen einer LINNE- schen Art in ihrer Färbung die größten Kontraste darbieten. Tauben und Hühner, Mäuse, Hunde und Pferde können weiß, grau, braun, schwarz oder an einzelnen Körperteilen verschieden gefärbt sein. Ungeheuer erhöht wird aber die schon hier bestehende Verschieden- heit durch ungleichfarbige Zeichnung und Musterung. Bald finden sich auf sonst gleich gefärbtem Grund in Kontrastfarben ausgeführte runde Farbflecke oder Bänder, Binden und Striche, die bald breiter, bald schmäler sind, oder gezackte Linien oder ein Netzwerk oder eine bald gröbere, bald feinere Felderung. Was für ein Reichtum an ver- schiedener Zeichnung auf diese Weise zustande kommt, lehren besonders die Schmetterlinge, die Eidechsen, die Vögel und manche Säugetiere. Auch hierbei ist bemerkenswert, daß dieselben Muster bei den Vertretern der verschiedensten Klassen wiederkehren. Als Beweis führe ich eines der schönsten und wirkungsvollsten Muster der Körperoberfläche, die augen-, ähnlichen Flecke, an (Fig. 115). Sie finden sich bald in einfacherer, bald in mannichfaltiger Ausstattung, bald an dieser, bald an jener Stelle des Körpers, ferner in verschiedener Größe und Zahl. Entweder sind es runde heile Flecke auf dunklem Grund oder umgekehrt. Bei reicherer Verzierung wird die Mitte des Flecks als besonders gefärbter Kern von einer Anzahl verschieden gefärbter, heller und dunkler Ringe umgeben. Die verschiedenen Farben, aus denen die Ringe bestehen, gehen durch Mischtöne wie die Streifen eines Regenbogens ineinander über. Unter den Schmetterlingen zeichnet sich nach den Angaben von EIMER Saturnia carpini durch die meisten Ringe aus, deren Zahl hier fünf beträgt. Augen- ähnliche Ornamente werden zuweilen in manchen Fischgruppen, die durch ihre prachtvolle bunte Färbung auffallen, besonders aber bei Schmetterlingen, und bei diesen seltener im Raupen- (Fig. II5 A), häufiger im Imagozustand (Fig. II5 B) beobachtet. Auch in der Klasse der Vögel kommen sie vor, wo sie in den Schwanzfedern des männlichen Pfaus und des Argusfasans wohl die wirkungsvollste Zierde bilden. Im Hinblick auf eine gewisse, häufig wiederkehrende Regelmäßig- keit komplizierter Ornamente haben schon einzelne Forscher, unter ihnen namentlich EIMER, der sich in seinen Schriften zur Orthogenesis” auf ein sehr reiches Beobachtungsmaterial stützt, die Ansicht ausge- sprochen, daß in ihr der Ausdruck von bestimmten Bildungsgesetzen zu suchen sei, welche die Zeichnung der Tiere beherrschen. Auch i der Augenfleckbildung der Schmetterlinge erkennt EIMER denselben Anpassungen der Organismen aneinander. 485 Vorgang, wie ihn Darwın (l. c. Bd. II, pP. II9—133) für die Augen- zierden des Argusfasans beschrieben hat; er läßt sie aus Streifen, aus Grundbinden entstehen, und das gleiche läßt er für die Augenflecke von Raupen stattfinden !), Wenn wir zurzeit auf diesem Gebiet auch noch ganz am Anfang der Forschung stehen, so wird die Hoffnung, daß auf ihm allgemeine Naturgesetzmäßigkeiten werden nachzuweisen sein. wie EIMER erwartet, Fig. 115 A u. B. Augenähnliche Zierflecke. A am Kopf einer erwachsenen Raupe des Weinschwärmers Chaerocampa Elpenor. B auf der Unterseite der Flügel des Schmetterlings Caligo. wohl in Zukunft in demselben Maße in Erfüllung gehen, je mehr wir in die chemische Entstehung und Ablagerung der Pigmente im Körper, über ihre Verteilungsweise auf bestimmte Hautregionen im Zusammen- hang mit ihrer Organisation tieferen Einblick gewinnen. Jedenfalls liegen hier viele, noch ganz ungelöste und wenig bearbeitete Aufgaben der Farbenphysiologie etc, vor. I) Eimer, Orthogenesis, Bd. II. — Darwin, Ch., Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, Ba. I u. ZI, 2. Aufl., 1871. 486 Elftes Kapitel. Indessen kommt es uns bei der uns jetzt beschäftigenden Frage zunächst nur auf die Feststellung der einfacher Tatsache an, daß das Gebiet der Färbungen und Zeichnungen der Tiere so reich an Abwechs- lungen, wie kaum ein anderes Organisationsverhältnis, ist. Es finden sich bei den allerverschiedensten Lebewesen so viele Farbenzusammen- stellungen und Muster, daß man nicht nur Ähnlichkeiten zwischen Re- präsentanten ganz entfernter Tierklassen, sondern auch mit gefärbten pflanzlichen Teilen oder mit anderen Naturgegenständen, zumal bei Aufwendung von.etwas Phantasie, leicht erkennen wird. So haben die besprochenen Augenornamente als Zeichnung nicht nur eine gewisse Ähnlichkeit mit einem wirklichen Sehauge, nämlich mit der Pupille und den sie umgebenden verschieden gefärbten Ringen, sondern auch untereinander, mögen sie bei Schmetterlingen, bei den Raupen der- selben oder bei Vogelfedern beobachtet werden. Nach dieser Feststellung wenden wir uns zu dem zweiten Punkt, der erfüllt sein muß, wenn wir die Übereinstimmung zwischen zwei Naturobjekten in Färbung, Musterung und Form als sympathische oder als Schutzfärbung und Mimicry bezeichnen wollen. Es muß, wie schon früher bemerkt wurde, zwischen einem Lebewesen und dem ihm in irgendeiner Beziehung ähnelnden Ding, mag es ein zweites Lebewesen oder ein anderer Gegenstand sein, ein Kausalnexus hergestellt werden, derart, daß das Lebewesen irgendeinen Vorteil für sich aus der bestehenden Ähnlichkeit zieht. Die weiße Farbe eines einheimischen Kaninchens oder einer Taube, die gegen ihre sommerliche Umgebung in einem auf- fälligen Kontrast steht, kann nicht als eine sympathische bezeichnet werden, und ebensowenig ist die Ähnlichkeit zwischen Leptodiscus” und einer Meduse, zwischen Foraminiferen und Nautilusschalen, zwischen Entenmuscheln und Mießmuscheln, zwischen Fischen und Walfischen eine Mimicry aus dem einfachen Grund, weil der hierfür erforderliche Kausalnexus fehlt. Also spitzt sich die eigentliche Frage dahin zu: wie wird der Kausalnexus zwischen dem geschützten oder dem nach- ahmenden Tier, mit dem schützenden oder dem nachgeahmten Gegen- stand hergestellt!) ? 1) Bates, Contributions to an insect Fauna of the Amazons walley. Linn. Soc. Trans., Vol. XXIII, 1862. — Doflein, Über Schutsanpassung durch Ähnlichkeit (Schutzfärbung und Mimicry). Biologisches Zentralblatt, Bd. XXVIII, 1908. — Eimer, Th., Die Entstehung der Arten auf Grund von Vererben erworbener Eigen- schaften nach den Gesetzen organischen Wachstums, Jena 1888. — Werner, Franz, Das Ende der Mimicryhypothese? Biologisches Zentralblatt, Bd. XXVII, 1907. — Derselbe, Nochmals Mimicry und Schutzfärbung. Ebenda, Bd. XXVIII, 1908. — Jacobi, A., Mimicry und verwandte Erscheinungen, Braunschweig, Vieweg u. Sohn, 1913. - Anpassungen der Organismen aneinander. 487 Zur Beantwortung derselben liegt eine Zahl von Beobachtungen vor, aus denen man schließen muß, daß instinktive Handlungen zur Herstellung des unbedingt notwendigen Zusammenhangs erforderlich sind. Einige derselben sind von DoFLEIN in einem be- achtenswerten Aufsatz beschrieben worden. Auf der Insel Martinique beobachtete er an den Abhängen des Mt. Pelee drei Eidechsenarten der Gattung Anolis in großer Zahl. Sie waren ganz verschieden von- einander gefärbt; die eine war bräunlich, die andere grün, die dritte hellgrau, mit dunkleren Flecken marmoriert; sie bewegten sich bei der Insektenjagd an den gleichen Orten durcheinander. Bei einer Störung waren sie dem Auge rasch entschwunden, indem sie sich zu ihrem Schutze versteckten. Wie DOoFLEIN bei diesem Vorgang feststellen konnte, war durch die Flucht eine eigenartige Sortierung der Individuen nach Arten erfolgt. Die grüne Form hatte grüne Rasenbüschel, die braune die dürren und die marmorierte schließlich hatte die hellen Baumstämmchen auf- gesucht, deren sonnenbeschienene Rinde mit den Blätterschatten ihrer Färbung vollkommen entsprach. Im Schutz der umgebenden verbergenden Farben hielten sich die Tiere ganz ruhig, so daß man den Eindruck er- hielt, als handelten sie mit dem Bewußtsein, dort gesichert zu sein. Ganz ähnliches beobachtete DoFLEın an der gleichen Lokalität bei zwei Heuschreckenarten, einer braunen und einer grünen. Schon vor DoFLEIN hat EIMER (l. c. p. 156) ähnliches von Schnarr- heuschrecken berichtet. Er schreibt: ‚‚Die bei uns im Sommer so häufige Schnarrheuschrecke mit den roten, schwarz gebänderten Hinterflügeln: Acridium germanicum (Oedipoda germanica) gleicht, wenn sie die Ober- flügel zusammengefaltet hat, durch deren Farbe da, wo das Tier auf dem rotbraunen Tübinger Keupermergelboden vorkommt, diesem Boden dermaßen in der Farbe, daß es von ihm nicht zu unterscheiden ist. Wenig über dem roten Keupermergelboden findet sich nun auf den hiesigen Höhen weißlicher Keupersandstein, zuweilen nur in der Breite eines Weges oder in etwas größeren Flächen, öfters inmitten des ersteren. Auf diesen kleinen Flächen helleren Bodens finde ich regelmäßig die Schnarrheuschrecke mit ganz hellen Oberflügeln, so daß sie, wenn sie auf ihm sitzt, kaum zu sehen ist. Und dieselbe wunderbare „Anpassung“ habe ich auch sonst bemerkt.“ Vor vielen Jahren machte ich eine entsprechende Beobachtung während eines Sommeraufenthalts in Schreiberhau im Riesengebirge. Auf einer Chaussee sah ich viele Motten mit weiß und grau gefärbten Flügeln. Sie ließen sich mit Vorliebe auf den grauen Chausseesteinen nieder, die mit weißer Kalkmilch bespritzt worden waren, und verschwan- 488 Elites Kapitel. den dann dem Blick wegen ihrer Ähnlichkeit mit der Farbe des Ruhe- sitzes. Da eine Anpassung durch Zuchtwahl an die mit Kalkmilch be- spritzten Steine nicht erfolgt sein kann, so müssen die Motten durch ihren Gesichtssinn und ihr Schutzbedürfnis bestimmt worden sein, ‘sich an dem Ort mit gleicher Färbung niederzulassen. Auch DorLeEin schließt aus seinen Beobachtungen, daß ‚ein psv- chischer Vorgang, im weiteren Sinne ein Reflex oder Instinkt die Tiere veranlassen müsse, die zu ihrem Schutz zweckmäßige Handlung vor- zunehmen‘, und er glaubt eine Schutzanpassung auch in der Weise erklären zu können, ‚daß das Aussehen eines Tieres ohne Zusammenhang mit der Nützlichkeit entstanden ist und erst nachträglich durch den Instinkt, durch die Fähigkeiten des Tieres ausgenutzt wird.“ In der Annahme der letzteren kann keine Schwierigkeit erblickt werden. Denn es kann doch nicht zweifelhaft sein, daß die Tierklassen, in denen Fälle von Mimicry beobachtet werden, ein oft sehr entwickeltes Wahr- nehmungs- und rasches Orientierungsvermögen besitzen und hierdurch zu bestimmten Handlungen veranlaßt werden. Ebenso gut wie sie ihre Futterpflanzen oder wie sie bestimmte Blüten, aus denen sie Honig und Pollen sammeln, oder wie sie bestimmte Stellen zur Ablage ihrer Eier erkennen und auswählen, können sie sich auch aus Schutzbedürfnis in ihrer Umgebung orientieren und in Zusammenhang hiermit instinktive und zweckmäßige Handlungen ausführen. Auf diese Weise lassen sich alle Fälle von sympathischer Färbung oder von Mi- micry nach einem gemeinsamen Prinzip erklären. Unter den vielen, in der Natur zu beobachtenden Farbkleidern der Schmetter- linge, der Eidechsen, der Heuschrecken etc. werden daher nur solche zu sympathischen, deren Träger sie auch zu benutzen verstehen, um sich an den ihnen ähnlichen Gegenständen zu verbergen: die Ordens- bänder auf der ähnlich gefärbten Oberfläche der Baumrinde, grüne Eidechsen in grünem Gras, braune in trocken gewordenem Gras etc. Nicht anders liegt es bei der Mimicry. Wenn sich eine rotbraun gefärbte Callima des früher beschriebenen Habitus auf einen Zweig mit sehr großen, runden oder mit schmalen Blättern von hellgrüner Farbe festsetzt, so bietet sie uns kein Beispiel von Mimiery; wohl aber dann, wenn sie sich zum Ruhesitz den Zweig eines Strauches mit Blättern aufsucht, die ähnlich wie ihre Flügel geformt sind. Wenn gleich gefärbte und gemusterte Arten von Pieris und Danais in getrennten Gegenden auf- treten, so liegt zwar eine überraschende zufällige Ähnlichkeit vor, wie man sie in nicht minder wunderbarer Weise auch sonst zuweilen beobach- tet, zu Mimicry aber wird sie erst dann, wenn beide Arten zusammen Anpassungen der Organismen aneinander. 489 vorkommen und wenn Pieris sich zwischen den Danaidenschwarm mischt, um sich dadurch in ihren Schutz zu begeben. Wenn ich in Übereinstimmung mit DoFLEINn zur Erklärung der sympathischen Färbung und der Mimicry einen psychischen Vorgang im schutzsuchenden Tier als erforderlich ansehe, da durch ihn erst der notwendige Causalnexus zwischen zwei sonst ohne Zusammenhang dastehenden Ähnlichkeiten hergestellt wird, so können als Beweis hierfür außer den schon angeführten Beobachtungen auch Experimente geltend gemacht werden. DOoFLEIn hat solche mit verschiedenen Arten von Crustaceen angestellt. Wie er auf seiner Reise in Ostasien beobachtete, „ähneln einzelne Arten von Epialtus und Pugettia in Farbe und Ober- flächenstruktur außerordentlich den dunkelgrünen Thallusteilen der Fucaceen; viele Actäiden haben eine Öberflächenstruktur von Panzer und Beinen, welche sie Korallen, Kalkalgen und korrodierten Steinen sehr ähnlich machen. Verschiedene Galatheiden glichen, die eine voll- kommen der rosenroten Pennatulide, die andere der orangefarbigen Gorgonide, die dritte den schwarzweiß geringelten Seeigelstacheln, welche ihren bevorzugten Aufenthalts- und Zufluchtsort bildeten. Auch die oxyrrhynche Krabbe, Humia proteus, welche sich häufig zwischen den Algen der Gattung Halimeda findet, ist ihnen in ihrem auffallenden äußeren Umriß, in Farbe und Oberflächenstruktur täuschend ähnlich.‘ Wenn nun DoFrLEIN solche Tiere und verschiedenartige Gegenstände in eines seiner Aquarien brachte, so waren nach wenigen Minuten die Tiere, wenn sie noch lebenskräftig waren, so verteilt, daß jedes die Unterlage aufgesucht hatte, welcher es selbst ähnlich war. „Es findet also in solchen Fällen sicher ein Unterscheiden und Wählen der geeigneten Umgebung statt. Dabei stürzt sich das einzelne Individuum in den Bereich der schützenden Umgebung, wie sonst ein Tier in ein Versteck.‘ Das Schutzbedürfnis kann auch von manchen Tieren, welche ihrer Umgebung in ihrem Äußeren nicht angepaßt sind, durch eine Instinkt- handlung, die man Maskierung benannt hat, befriedigt ‚werden. Mas- kierung kommt bei Krabben vor. Stenorhynchus z. B., die zwischen Ulven lebt, bedeckt sich auf seinem Rücken mit Ulven, die ihn in seiner gewohnten Umgebung verbergen. Er kann aber auch seine Maskierung in zweckmäßiger Weise je nach Umständen verändern. Als AURIVILLIUS Exemplare von Stenorhynchus zur Anstellung von Versuchen auf eine Wiese von Hydroidpolypen versetzte, rupften sie die Ulven, welche sie in der neuen Umgebung nicht mehr unerkennbar machten, aus und ersetzten sie durch Hydroidpolypen. Da solche Instinkthandlungen, wie sie in den angeführten Ex- 490 Elftes Kapitel, Anpassungen der Organismen aneinander. perimenten zu beobachten sind und zum Verständnis der sympathischen Färbung und der Mimicry herangezogen worden sind, schon ein höher entwickeltes Nervensystem und vollkommenere Sinnesorgane voraus- setzen, wird es uns jetzt auch verständlich sein, warum Mimiery und Schutzfärbung fast ausschließlich nur in den beiden Stämmen der Ar- thropoden und Wirbeltiere beobachtet werden. Auch auf diesen Punkt hat schon DoFLEIX aufmerksam gemacht. Zwar finden sich Ähnlichkeiten in Form, Färbung und Musterung mit anderen Gegenständen auch bei Protozoen (Leptodiscus, Foraminiferen), bei Cölenteraten, unter denen sich zahlreiche Actinienarten durch Farbenschmuck auszeichnen, bei Würmern, bei Echinodermen und Mollusken, deren Kalkgehäuse einen großen Reichtum von Farben und Mustern darbieten. Aber es werden hier Ähnlichkeiten, wo sie vorkommen, nicht in die für Schutzfärbung und Mimicry erforderliche Beziehung zueinander gebracht in der Weise, wie es bei den Beispielen aus dem Stamm der Arthropoden und der Wirbeltiere nachgewiesen wurde. Zwölftes Kapitel. Das Problem der Vererbung. Über das Vererbungsproblem wird seit der 1883 erschienenen Schrift von WEISMANN!) viel gestritten; besonders wird hierbei das Thema diskutiert: „Gibt es eine Vererbung erworbener Eigenschaften oder nicht?‘ Bei seiner Erörterung haben sich auf der von WEISMANN ge- gebenen Grundlage zwei Parteien unter den Biologen gebildet, von denen die eine die Vererbung erworbener Eigenschaften ebenso entschieden verneint, wie sie die andere bejaht. Der Streit ist in vieler Be- ziehung ein recht unfruchtbarer geworden. Da sich die Ver- erbung durch die Keimzellen und die Übertragung der erworbenen Eigenschaften auf einem für unsere Erkenntnismittel unsichtbaren Gebiet abspielt, haben selbstverständlicherweise alle Vorstellungen, die wir uns hierüber bilden können, einen hypothetischen Charakter. Je mehr verschiedenartige Hypothesen aber aufgestellt und je kom- plizierter sie ausgeklügelt werden, wie es z. B. von WEISMANN geschehen ist, um so schwieriger wird es, sıch auf dem Gebiet zurechtzufinden und sich über manche Dinge zu verständigen oft nur deswegen, weil sie durch die trübe Brille einer bestimmten Hypothese angesehen werden. Versuchen wir also möglichst hypothesenfrei vorzugehen! Um eine feste Grundlage zu gewinnen, ist es notwendig, sich zuvor über den Begriff zu verständigen, was man überhaupt unter einer erworbenen Eigenschaft zu verstehen hat. Erst wenn dies geschehen ist, kann man dann auch zur Erörterung des schwierigsten Problems der Biologie übergehen, auf welchem Wege von den Organismen neue Eigenschaften erworben und zum Erbe ihrer Nachkommen gemacht werden können, Wir werden uns dabei loszumachen haben von dem Netzwerk, in welches WEISMANN die Vererbungslehre durch seine Keimplasmahypothese und seine Germinalselektion während mehrerer Jahrzehnte verstrickt hat, 1) Weismann, Aug., Über die Vererbung, Jena 1883. 492 Zwölftes Kapitel. I. Was hat man unter dem Begriff der Vererbung erworbener Eigenschaften zu verstehen? Nach der schon vorausgegangenen, besonders aber im III. Kapitel gegebenen Darstellung kann über die Beantwortung der Frage kaum noch ein Zweifel herrschen. Denn wie früher bewiesen wurde, ist das Wesen jeder Pflanzen- und Tierart in der spezifischen Organisation ihrer Art- zelle begründet. Also bildet die Artzelle die Vermittelung zwischen den aufeinander folgenden Generationen und erhält die Kontinuität des für die Art eigentümlichen Lebens- und Gestaltungsprozesses. Daher konnte sie in bildlichem Sinne als die Trägerin des Erbes, das von einer auf die andere Generation überliefert wird, bezeichnet werden. In welcher Form aber dieses Erbe in der Keimzelle besteht, ist eine QOualıtas occulta ; sie wird als Anlage von dem, was am ausgebildeten Organismus in seinen Eigenschaften für unsere Sinne wahrnehmbar wird, bezeichnet. Anstatt von einer Generalanlage, kann auch von einer Summe sie bildender Einzelanlagen (Gene) gesprochen werden, da die Vielheit der uns wahr- nehmbar gewordenen Eigenschaften des ausgebildeten Organismus es uns nahe legt, daß bei voller Erkenntnis auch eine Zerlegung des Erbes in viele einzelne Anlagen würde vorzunehmen sein. Daß wir von einer solchen Erkenntnis zurzeit weit entfernt sind und kaum noch die An- deutung eines Weges, sie zu erwerben, vor uns sehen, braucht kaum hervorgehoben zu werden. Daher gilt für die einzelnen Anlagen erst recht, daß sie Oualitates occultae sind, daß wir uns von ihnen noch weniger als von ihrem Gesamtbegriff eine bestimmtere Vorstellung bilden können. Sie sind vergleichbar den Buchstaben der Algebra, die fiktive Größen, geeignet zur Ausführung von Denkoperationen sind, die aber doch erst durch Einsetzung bestimmter Zahlenwerte eine reale Bedeutung gewinnen und zu wirklichen Größen werden. Für unsere in der Überschrift aufgeworfene Frage läßt sich daher jetzt eine Antwort finden und in den Satz zusammenfassen: Wenn irgendein pflanzlicher oder tierischer Organismus eine neue Eigenschaft als bleibenden Bestandteil der Art er- wirbt, so kann es nur durch Veränderung ihrer Artzelle und zwar durch eine Veränderung der in ihr hierfür be- sonders disponierten Substanz (Idioplasma, Erbmasse) geschehen. Von der Veränderung des Idioplasma, die in einer oder in mehreren aufeinander folgenden Ontogenesen durch Entstehung neuer Anlagen in ihm eintritt, kann man dann in bildlicher Sprechweise sagen, daß sie zu dem unverändert gebliebenen Bestand des Erbes als ein neu- Erwerbung und Vererbung neuer Arteigenschaftsan. 493 erworbener Teil hinzugekommen und den folgenden Generationen über- liefert oder vererbt worden sei. In welcher Weise die Veränderung ent-- standen ist, bleibt hierbei zunächst ganz gleichgültig. Hiermit sowie mit dem Begriff ‚‚der latenten Anlage‘ und mit den Annahmen eines Ver- lustes, einer Neubildung, einer anderen Kombinierung von Genen etc. werden wir uns erst im nächsten Abschnitt zu beschäftigen haben. Mit unserer begrifflichen Auseinandersetzung hat die in der Über- schrift aufgeworfene Frage auch schon ihre Beantwortung gefunden. Die Lehre von der Vererbung erworbener Eigenschaften betrachte ich in dem von mir näher definierten Sinne als eine unanfechtbare Tatsache. Sie leugnen, hieße nichts weniger, als die Konstanz der Art proklamieren. Denn ohne Erwerb von neuen Eigenschaften und ohne ihre Vererbung auf nachfolgende Generationen kann es auch keine Fortentwicklung der Art geben. Es ist mir in vieler Hinsicht immer ein Rätsel geblieben, wie seit 30 Jahren die Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften zu einer Art Schlagwort und zum Gegenstand stets erneuter Debatten werden konnte. Eine Er- ‚klärung hierfür kann ich, wie schon angedeutet, nur in der Vermengung und Verwirrung mit der zweiten Frage finden, zu deren Erörterung wir jetzt übergehen. 2. Auf welchem Wege können neue Arteigenschaften erworben und als Anlagen vererbt werden ? Alle Rätsel der Biologie, an denen die größten Naturforscher aller Zeiten ihren Scharfsinn geübt haben, türmen sich vor uns bei der Frage auf: wie ist die Artzelle mit ihren Anlagen entstanden ? Denn um nichts weniger handelt es sich bei der Beantwortung des in der Überschrift aufgestellten Themas. Durch welche wunderbaren Prozesse hat auf natür- lichem Wege ein Substanz gebildet werden können, wie die Eizelle oder gar der Kopf eines nur mikroskopisch sichtbaren Samenfadens sie in kaum meß- und wägbarer Menge beherbergen ? Denn indem diese Substanz als Grundlage für die kompliziertesten, bestimmt gerichteten Ent- wicklungsprozesse dient, besitzt sie auch die Fähigkeit (Potenz), die zahlreichen, harmonisch zusammenwirkenden Organe hervorzubringen, unter diesen so sinnreich konstruierte, erstaunlich zusammengesetzte Werkzeuge, wie das Auge mit seinen Retinaschichten und seinen zur optischen Kammer zusammengefügten, für Nah- und Fernsehen ein- stellbaren Teilen, oder wie das Gehirn mit seinem unentwirrbaren Geflecht von Leitungsbahnen. 494 ‘ Zwölftes Kapitel. Wo strenge Wissenschaft versagt, beginnt das Reich der Hypo- thesen. Wie solche vor 500, vor 300 und vor Ioo Jahren beschaffen waren, wurde schon in den historischen Betrachtungen des ersten Ka- pitels dargestellt. Ich erinnere nur kurz an die Präformations- oder Evolutionstheorie von SWAMMERDAM, LEEUWENHO®K, LEIBNITZ und HALLER, an die Einschachtelungshypothese von MALESBRANCHE und BoNnET, an die Panspermie von BUFFON und OkEN, an die Epigenesis von CASPAR FRIEDR. WOLFF und BLUMENBACH. Mit der Entdeckung der Zelle sind in der gegenwärtigen Periode der Wissenschaft neue Hypo- thesen gezeitigt worden, aus deren kritischer Besprechung sich eine Klärung des Vererbungsproblems und vieler mit ihm zusammenhängender Fragen ergeben wird. Sie stehen in mancher Hinsicht in einem ähnlichen (regensatz zueinander, wie in früheren Jahrhunderten die Präformation und die Epigenesis. Sie können hiernach in zwei Gruppen getrennt und nach ihrer Zusammengehörigkeit besprochen werden. I. Die Hypothesen der Pangenesis von Darwin und des Keimplasma von Weismann!). Den Reigen moderner Hypothesen eröffnet Darwıns Pangenesis. Entstanden an einem Wendepunkt biologischer Forschung, trägt sie noch in vieler Hinsicht ein Gepräge der vorausgegangenen Periode an sich. So bietet sie auch viele Anknüpfungspunkte zu BUFFONS und ORENS (vergleiche Seite 9—ı2) Panspermie dar, wie von HUXLEY be- merkt und von DARWwINn selbst anerkannt worden ist. Um sie zu verstehen, muß man im Auge behalten, daß Darwın weit weniger Morphologe als Systematiker war und daß er sich mit Zellen- und Gewebelehre, ja auch mit Embryologie nie eingehender beschäftigt, nach eigenem Geständnis auf diesen Gebieten keine Erfahrungen und auch nur ein geringes Maß von Kenntnissen besessen hat. Nur so erklären sich die großen und offenkundigen Schwächen der Pangenesis-Hypothese, die ihm ein Verständnis der Vererbungserscheinungen in seinem Sinne eröffnen sollte. DARwIN erwähnt zwar öfters die Zellentheorie, läßt sie aber in seiner Pangenesis eine ganz nebensächliche Rolle spielen; auch hält er sie noch im Jahre 1873 für nicht vollständig begründet. 1) Darwin, Ch., Das Varüeren der Tiere und Pflanzen, Bd. II, Vererbung, Kap. 12—15; Provisorische Hypothese der Pangenesis, Kap. 27, 2. Ausgabe, 1873. — Weismann, Über Leben und Tod, 1884. — Die Kontinuität des Keimplasma Grundlage einer Theorie der Vererbung, Jena 1885. — Die Allmacht der Natur- züchtung, 1893. — Neue Gedanken zur Vererbungsfrage, Jena 1895. — Über Ger- minalselektion, 1890. — Vorträge über Descendenstheorie, Bd. ] u. II, I. Aufl., 1902. Erwerbung und Vererbung neuer Arteigenschaften, 495 Nach DArwıns Annahme besitzen alle Zellen bei Pflanzen und Tieren außer ihrem Vermögen, sich durch Selbstteilung zu vermehren, noch die Fähigkeit, zahlreiche kleinste, unsichtbare, lebende Teilchen, die er Keimchen (Gemmules) nennt, abzuwerfen. Dies geschieht nicht nur von jeder Zelle während des erwachsenen Zustandes, sondern in derselben Weise auch auf allen verschiedenen, zahlreichen Stadien des Entwicklungsprozesses. Außer ihnen birgt aber jedes Lebewesen viele Keimchen, die noch von den Großeltern und von noch viel ent- fernteren Vorfahren herrühren. Diese Annahme glaubte DArwIn machen zu müssen zur Erklärung von Erblichkeitserscheinungen, die er mit dem Namen Atavismus zusammengefaßt hat. Die abgeworfenen Keimchen besitzen auch selbst das Vermögen, sich durch Teilung zu vervielfältigen, wenn sie mit gehöriger Nahrung versorgt werden. Sie sammeln sich in den Säften des Körpers an und zirkulieren mit ihnen jederzeit durch alle Organe und Gewebe hindurch. Die Keimchen dienen zur Reproduktion von Tochterorganismen ; hierzu werden sie dadurch befähigt, daß sie eine gegenseitige Verwandt- schaft zueinander haben. Infolgedessen vereinigen sie sich an bestimmten Stellen des Körpers zu Keimzellen und Knospen. Bei Verletzungen vermitteln sie die Regeneration. Eier, Samenfäden und Knospen stellen daher gleichsam einen Extrakt von allen Zellen des Körpers auf seinen verschiedenen Entwicklungsstadien dar. ‚Nicht die Keimzellen sind es also, welche neue Organismen erzeugen‘, bemerkt DARWIN, „sondern die Zellen selbst durch den ganzen Körper.‘ Jede separate Zelle erzeugt ihre Art durch Abgabe eines freien Keimchens, welches fähig ist, eine ähnliche Zelle zu reproduzieren. Um die richtige Reihenfolge zu erklären, in der wähernd der Onto- genese die einzelnen Keimchen sich in die ihnen entsprechenden Zellen umwandeln, nimmt DAarwın eine besondere Wahlverwandtschaft jedes Keimchens für die besondere Zelle an, für die es in der ontogenetischen Reihenfolge bestimmt ist (l. c. p. 430). „Die Entwicklung eines jeden Wesens‘, heißt es in der Pangenesistheorie, ‚hängt von der Gegenwart von Keimchen ab, welche zu jeder Lebensperiode abgegeben werden, und von ihrer Entwicklung zu entsprechenden Perioden in Vereinigung mit vorausgehenden Zellen.‘ ‚Streng genommen wächst das Kind nicht zum Mann heran, sondern schließt Keimchen ein, welche langsam und sukzessiv entwickelt werden und den Mann bilden. Im Kinde erzeugt schon jeder Teil, ebenso wie im Erwachsenen, denselben Teil für die nächste Generation.‘ Bei dem außerordentlichen Ansehen Darwıns kann es nicht 496 Zwölftes Kapitel. Wunder nehmen, daß auch seine provisorische Hypothese der Pangenesis vorübergehend viele Verehrer fand. Trotzdem ist sie kaum von Ein- fluß für die Fortentwicklung der Vererbungswissenschaft geworden. Denn sie ist durchaus eine auf unwahrscheinlichen Prämissen künstlich aufgebaute Hypothese. Unhaltbare Annahmen sind: die Abgabe von Keimchen von allen Zellen auf jeder Stufe der Entwicklung, ihr Transport in den Säften durch alle Teile des Körpers, ihre wie ein Wunderwerk anmutende und zu ihrer planmäßigen Wiedervereinigung führende Affinität zueinander, ihr Schlummerzustand, in dem sie zum Teil auf unbegrenzte Zeit verharren können. Wer allerdings diese nur aus der Phantasie geschöpften Voraussetzungen annehmen will, wird die Hypo- these für leistungsfähig halten und das Gewünschte mit ihr erklären können. Denn wie NÄGELI ganz richtig bemerkt: ‚der den tatsächlichen Verhältnissen entsprechende Erfolg ist gesichert, wenn die Keimchen am richtigen Ort, in der richtigen Weise und zur richtigen Zeit sich ver- einigen und entwickeln“. Jetzt wird die Pangenesis kaum noch bei der Erklärung der Erblichkeitserscheinungen erwähnt, weil niemand mehr die Möglichkeit eines Keimchentransportes anerkennt. Einen viel größeren Einfluß auf die moderne Vererbungslehre hat WEISMANN ausgeübt als Urheber der Keimplasmatheorie und als Verfasser der Schriften über Germinalselektion und über die Allmacht der Naturzüchtung. Gleichwohl kann auch seine Keimplasmatheorie nur als eine durch Fortfall der Transporthypothese verbesserte, neue Auflage der Pangenesis bezeichnet werden. Denn beide zeigen in ihrer wichtigsten Grundlage Übereinstimmung. Wie DArwIn, nimmt auch WEISMAnN unendlich zahlreiche, sich durch Teilung vermehrende Keimchen als Repräsentanten für alle Zellen an, welche in ihren Eigen- schaften selbständig vom Keim aus veränderlich sind, sowohl während als am Abschluß der Ontogenese. Mit Rücksicht darauf, daß im fertigen Organismus und auch während seiner Entwicklung alle Zellen, Gewebe und Organe in einem gesetzmäßigen Zusammenhang untereinander stehen, läßt er auch im Ei und Samenfaden die Keimchen zu einer kom- plizierteren Architektur verbunden sein und bezeichnet die einzelnen oder ihre kleineren und größeren Gruppen mit besonderen Namen als Biophoren, Determinanten, Iden und Idanten, ihre Gesamtheit aber als Keimplasma. Diesen Namen wählte WEISMANN, weil er ursprünglich überhaupt die ganze Substanz von Ei- und Samenzelle als Keimplasma ansah; später verlegte er es im Anschluß an die vorher von mir und von STRASBURGER begründete Idioplasmakerntheorie (vergleiche Seite” 100—I1IS) in das Chromatin des Kerns. Erwerbung und Vererbung neuer Arteigenschaften. 497 Durch Verbindung der beiden auf verschiedenen Wegen entstandenen Hypothesen gewann WEISMANN ein Mittel, mit dessen Hilfe er zu er- klären versuchte, wie im Laufe der Entwicklung die einzelnen Em- bryonalzellen ihre Determinanten (Keimchen) vom Keimplasma er- halten und durch sie zu den Geweben und Organen des ausgebildeten Geschöpfes bestimmt werden. Das Mittel ist die Kernteilung; denn durch sie soll in einer wunderbar verwickelten Weise die Keimplasma- architektur in ihre einzelnen Bausteine, besonders in ihre Determinanten zerlegt werden. Auf diese Weise bleibt am Ende des Entwicklungs- prozesses von den vielen Millionen planmäßig vereinter Determinanten des ursprünglichen Keimplasma in jeder Zelle nur noch eine Art übrig, welche die Differenzierung und die schließliche Aufgabe der Zelle oder der Zellengruppe bestimmt. WEISMANN nennt eine Kernteilung, welche derartiges bewirkt. eine erbungleiche oder differentielle. Er ersetzt durch sie die Annahme Darwıns, daß die Keimchen als Träger be- sonderer erblicher Eigenschaften mit einer Affinität für bestimmte Zellen ausgestattet sind, sich dadurch mit diesen bei der Entwicklung verbinden und sie determinieren. Dieser Teil der Darwınschen Hypothese der Pangenesis ist in der WEISMAnNschen Fassung viel klarer und leichter verständlich geworden, gleichwohl aber, wie bald gezeigt werden wird, ebensowenig bei kritischer Prüfung aufrechtzuerhalten. Bis hierher liegen die Beziehungen der Keimplasmatheorie von WEISMANN zu der Hypothese der Pangenesis von DARWIN offen zutage. Dagegen gehen beide Wege diametral auseinander in der Frage, wie im Körper der Eltern wieder die Keime für die nächste Generation gebildet werden. Darwın hat sich hier durch seine abenteuerliche Trans- porthypothese geholfen, durch die Abgabe von Keimchen von allen Zellen zu jeder Zeit der Entwicklung, durch die Zirkulation derselben in den Säften und durch ihre Vereinigung zu Keimen an allen Stellen, wo sich Geschlechtsorgane oder Knospen bilden. WEISMANN, der diesen zweiten Teil der Keimchenlehre verwirft, ersetzt ihn durch die Annahme, daß von der Zerlegung in Determinanten, wie sie sich allmählich während der Entwicklung vollzieht, ein Teil des Keimplasma verschont bleibt und für die Zellen in den Reproduktionsorganen reserviert wird. WEIS- MANN nimmt also außer der erbungleichen oder differentiellen Teilung noch eine erbgleiche Teilung des vollständigen Keimplasma an, wie es in der befruchteten Eizelle gegeben ist. Die Annahme von zwei entgegengesetzten Arten der Kernteilung ist nur auf Grund der Hypothese möglich, daß es in der Keimzelle auch zwei verschiedene Arten von Keimplasma gibt, von O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl. 32 498 Zwölftes Kapitel. denen das eine nur das Vermögen, sich erbgleich, das andere nur das Vermögen, sich erbungleich zu teilen, besitzt. ‘WEISMANN bezeichnet das eine als inaktives oder gebundenes, das andere als ak- tives.oder zerlegbares Keimplasma. Von jedem läßt er mehrere Sortimente, die ein Id bilden, in Ei und Samenfaden vorhanden sein. Die aktiven Ide dienen zur Erklärung der embryonalen Vorgänge, welche von ihnen durch ihren Zerfall in einzelne Determinanten und durch ihre ungleiche Verteilung auf die verschiedenen Embryonalzellen in der eben angegebenen Weise geleitet werden. Dageger bleibt das inaktive oder das Nebenkeimplasma für die späteren Fortpflanzungszellen, sowie für die Bildung der Knospen reserviert; es wird vom befruchteten Ei aus in gebundenem Zustand neben anderem aktiv werdenden Keim- plasma durch mehr oder minder lange Zellfolgen hindurch mittels erb- gleicher Teilung weitergegeben, bis zu den Orten schließlich, wo die Geschlechtsorgane oder wo Knospen entstehen. Für diese Zellenfolge hat WEISMANN den Begriff der „Keimbahn“ eingeführt. Er will durch ihn, wie auch durch die von ihm geschaffenen Gegensätze eines gebundenen und eines aktiven Keimplasma, einer erb- gleichen und einer erbungleichen Kernteilung eine scharfe Sonderstel- lung der Keimzellen im Vergleich zu den Zellen: des übrigen Körpers zum Ausdruck bringen. Hierdurch bekennt er sich, wenn wir uns seiner eigenen Worte bedienen, als Anhänger der Lehre ‚von einer Spaltung der Keimsubstanz des Eies in eine somatische Hälfte, die die Entwick- lung des Individuums leitet, und in eine propagative, welche in die Keim- zellen gelangt und dort inaktiv verharrt, um später der folgenden Gene- ration den Ursprung zu geben‘. Die Lehre ist schon vor WEISMANN von GALTON, JÄGER, RAUBER und NUSSBAUM aufgestellt und. ist in ihr der „propagative Teil der Kernsubstanz des Eies‘‘ von GALTON als der „Stirp‘“, d. h. als der Grundstock für die Entwicklung bezeichnet worden, Um die Sonderstellung der Keimzellen zum übrigen Körper, der jetzt in griechischer Übersetzung als ‚Soma‘ bezeichnet wird, noch mehr zu verschärfen, als es schon durch die vorher besprochenen An- nahmen geschehen ist, hat WEISMANN in etwas sensationeller Weise den aus religiösen Vorstellungen entstandenen und der Metaphysik angehörigen ‚Begriff der Unsterblichkeit‘ auch in die Naturwissen- schaft mit hineingezogen (vgl. auch Kap. VI, $ 6). Es ist ja Jedem be- kannt, daß, während alle Lebewesen nach einer gewissen Lebensdauer dem Tod verfallen sind, die Art trotzdem auf ungemessene Zeit durch das Mittelglied der Keimzellen erhalten bleibt. Die. Keimzelle eines Erwerbung und Vererbung neuer Arteigenschaften. 499 jetzt lebenden Organismus ist auf der einen Seite das Endglied einer vorausgegangenen, in ihrer Länge nicht näher zu bestimmenden und daher für uns unendlichen Reihe von Zellengenerationen, von denen die eine aus der anderen durch Teilung entstanden ist (Omnis cellula a cellula), auf der anderen Seite besitzt sie in ihrem Teilungsvermögen die prospektive Potenz, unter günstigen Bedingungen wieder neue Keim- zellen hervorzubringen, von denen das Gleiche gilt. So blicken wir, wie in der Vergangenheit, auch in der Zukunft auf einen in infinitum sich fortsetzenden Prozeß, durch den sich — allerdings nur unter gün- stigen Bedingungen, die immer als Voraussetzung unerläßlich sind, — die Art erhält. Dagegen sind die pflanzlichen und die tierischen Indi- viduen, je höher sie organisiert sind, ım so sicherer nach einer gewissen Lebensdauer dem Tode verfallen. Wenn nicht Nachkommen aus ihren Keimzellen entstanden sind, kann die Kontinuität des Lebensprozesses nicht weiter unterhalten werden. Auf solches Raisonnement gestützt, zeichnet WEISMANN alle der Fortpflanzung dienenden Zellen gegenüber den sterblichen Somazellen durch das Attribut der Unsterblichkeit aus und steigert auch dadurch noch den schon anderweit geschaffenen Gegensatz. ‚Der Körper (Soma) sinkt fast‘‘, wie es in WEISMANNS Schrift an einer Stelle heißt, ‚‚zu einer bloßen Pflegestätte der Keimzellen herab, zu einem Ort, an dem sie sich bilden, unter günstigen Bedingungen ernähren, vermehren und Zur Reife gelangen.‘ An die Kette von Hypothesen, die verschiedene Seiten des Erb- lichkeitsproblems behandeln und schon von uns besprochen wurden, hat WEISMANN noch drei weitere Glieder gefügt und in einen engen logischen Zusammenhang gebracht: die Hypothese von der ‚„Nicht- vererbbarkeit erworbener Eigenschaften‘ und die beiden Hypothesen von der Germinalselektion und von der Allmacht der Natur- züchtung. Was den ersten Punkt betrifft, so wird WEISMANN zu dem ent- schiedensten Gegner der Lehre von der Vererbung erworbener Eigen- schaften. Denn er hält es wegen der fehlenden Beziehungen zwischen den Keimzellen und dem Soma, das ihnen nur zum Behälter dient, für unmöglich, sich einen Vorgang auszudenken, durch den eine Veränderung eines Organs im Soma auch eine korrespondierende Veränderung von entsprechenden Determinanten im Keimplasma des Eies zur Folge haben könne. Auch auf einen experimentellen Beweis beruft sich WEISMANN zur ‚Stütze seiner Ansicht. Er hat bei einer Mäusezucht, die er auf 22 Gene- 32° 500 Zwölftes Kapitel. rationen ausgedehnt hat, regelmäßig den neugeborenen Jungen die Schwänze abgeschnitten, aber trotzdem die Geburt schwanzloser Mäuse nicht erzielen können. Aus der Nichtvererbbarkeit von Verstümme- i lungen, für die sich ja auch die bei den Juden schon mehr als 2000 Jahre geübte Beschneidung als Beweis anführen läßt, zog WEISMANN nun gleich den allgemeinen Schluß, daß Veränderungen im Soma überhaupt nicht das Idioplasma der Keimzellen beeinflussen können und insofern für die Umgestaltung der Arten ganz gleichgültig sind. Daher leugnet WEISMANN, veranlaßt durch seine Stellungsnahme zum Vererbungsproblem, eine allmählich erfolgende Veränderung der Art durch funktionelle und direkte Anpassung der ausgebildeten Indi- viduen an ihre Umwelt, eine Frage, mit der wir uns im Kapitel XIV und XV noch eingehender beschäftigen werden. Er erklärt die ganze, an den Namen von LAMARCK geknüpfte Form der Entwicklungslehre für einen einzigen großen Irrtum. Für den in Mißkredit gesetzten Lamarckis- mus aber bemüht er sich einen Ersatz durch zwei neue Prinzipien zu liefern, die gleichsam den Schlußstein zu seinen Spekulationen über Determinanten, Architektur und Zerlegung des Keimplasma bilden. Die beiden Prinzipien sind die Germinalselektion und die All- macht der Naturzüchtung. Die Germinalselektion ist die notwendige Konsequenz von WEIS- MANNs Philosophie, die sich dabei von einer objektiven Naturbetrach- | tung immer mehr entfernt. Wenn sich das sterbliche Soma und die un- sterblichen Keimzellen nicht gegenseitig beeinflussen können, dann ist allerdings jeder Neuerwerb während eines individuellen Lebens für die allmähliche, nach der Deszendenztheorie angenommene Umwand- lung der Art ohne jede Bedeutung. Dann bleibt allerdings nichts anderes übrig als die Urquelle für alle Veränderungen, die die Lebewelt erfährt und jemals erfahren hat, in die vom Soma unabhängig erfolgende Varia- tion de Keimzellen selbst hinein zu verlegen. Sehen wir also, wie dieser Versuch in der Germinalselektion von WEISMANN durchgeführt ist und zu welchen Konsequenzen er uns bei logischer Durchführung hin- treiben muß, Um seine von DArRwINn abweichende Anschauung vom Werden der Organismen im Sinne seiner Keimplasmatheorie im einzelnen näher zu begründen, läßt WEISMANN sich das Determinantensystem der Keim- zellen, unabhängig vom Soma, aus sich selbst verändern und so die Um- gestaltung der Art, direkt vom Keim aus, bewirken. WEISMANN nennt diesen Vorgang, der die Vererbung erworbener Eigenschaften ersetzen soll, die Intraselektion oder Germimalselektion. Ihr Wesen besteht Erwerbung und Vererbung neuer Arteigenschaften. 50I darin, daß im Keimplasma Unterschiede zwischen den zahllosen Determinanten durch Unregelmäßigkeiten und Ungleichheiten in ihrer Ernährung und durch hiervon abhängige, beschleunigte und verlang- samte Vermehrung verursacht werden. Je nachdem die Assimilations- kraft der Determinanten zu- oder abnimmt, werden einige kräftiger, andere schwächer. Ihre einmal entstandene Variationsrichtung soll dann von selbst weitergehen, wenn nicht von irgendeiner Seite ein Hemm- nis eintritt. Daher müssen auch die aus den Keimen entstehenden Lebe- wesen in diesem Fall bestimmt gerichtete Variationen zeigen. Nach einer weiteren Annahme findet durch gegenseitige Beein- flussung der zum System verbundenen Determinanten oder durch einen Vorgang, den man im fertigen Organismus als Korrelation der Organe bezeichnet, noch eine innere Selbstregulierung des Keimplasma, eine Art von Selbststeuerung und Selbstkorrektion statt. Auf diese Weise glaubt WEISMANN in der durch Zufälligkeiten der Nahrungs- zufuhr bedingten, ungleichen Ernährung der Determinanten oder wie es an einer anderen Stelle heißt, in den hierdurch verursachten Schwan- kungen des Gleichgewichts des Determinantensystems den wahren Grund für die Entstehung aller erblichen Variabilität gefunden zu haben. Zugleich aber erblickt er darin, daß die Variationsrichtungen bestimmter Determinanten sich unbegrenzt weiter fortsetzen müssen, solange sich kein Hindernis entgegenstellt, einen besonderen Vorzug seiner Theorie, um die Möglichkeit der Anpassung der Organismen an die wechselnden Verhältnisse der Außenwelt zu erklären, wie es die Vorgänge der Natur- züchtung verlangen. Denn wenn auch nur ein kleinstes Teilchen des Keimplasma abändert, dann muß auch eine erbliche Abänderung eines ihm entsprechenden Teils des fertigen Organismus die notwendige Folge sein. Zum Schluß meiner Skizze von der Lehre der Germinalselektion weise ich noch auf eine Stelle in WEISMANNs Schrift hin, in welcher die hohe Bedeutung des von ihm angenommenen Kräftespiels ım Keimplasma betont wird: Es schaffe ganz unabhängig von den Beziehungen des Organismus zur Außenwelt Variationen und liefere in ihnen der Naturzüchtung das Material, aus welchem sie das Passende durch den Prozeß der Personalselektion auswähle. Das ist in ihren wesentlichen Zügen die Lehre von der Germinal- selektion von WEISMANN, eine Lehre, die wenigstens vorübergehend bei.seinen Anhängern lebhaften Beifall, von anderer Seite aber ebenso scharfen Tadel erfahren hat. So hält sie PLATE, der momentan als der Hauptwortführer des Darwinismus bezeichnet werden kann, in der 502 Zwölftes Kapitel. vierten Auflage seines Selektionsprinzips (I9I3, p. 377) ‚für gänzlich verfehlt, da sie von ganz unhaltbaren Voraussetzungen ausgehe“; er nimmt keinen Anstand, zu erklären, „daß er eher die ganze Selektions- lehre über Bord werfen, als sie auf Germinalselektion aufbauen würde‘‘. lI. Kritik und Ersatz der Keimchen- und Determinanten- hypothesen !). Die Pangenesis von DARWIN und WEISMANNsS Hypothesen bieten der Kritik vielfache Angriffspunkte dar. Indem ich mich ihnen jetzt zuwende, werde ich am Schluß jedes Einwandes zur Besprechung der Ansichten übergehen, welche mir als Ersatz der bestrittenen zu dienen geeignet scheinen und an das grundlegende Werk von NÄGELI über das Vererbungsproblem anknüpfen. I. Einwand. Die Methode von DARWIN und WEISMANN. Ich beginne mit der von DARWIN und namentlich von WEISMANN befolgten Methode, da auf die Art derselben in allen Naturwissenschaften mit Recht großes Gewicht gelegt wird. Die Methode läuft bei DARWwIN und WEISMANN darauf hinaus, für alle verschiedenen sichtbaren Merkmale, welche ein Organismus im ausgebildeten Zustand und während seiner Entwicklung uns darbietet, kleinste, unsichtbare, repräsentative Teilchen, Keimchen (DAarwın) oder Determinanten (WEISMANN) anzunehmen, sie im Keim zu vereinigen, und von ihm aus den ganzen Entwicklungs- prozeß leiten und den Bau des fertigen Organismus bestimmen zu lassen. Es liegt hierin eine gewisse Übereinstimmung mit der Methode der alten Evolutionisten. Nur ist jetzt an Stelle des im Ei oder Samenfaden prä- formierten Miniaturgeschöpfes eine präformierte Architektur von Deter- minanten getreten. Daher hat denn auch WEISMANN seine Keimplasma- theorie geradezu als eine evolutionistische bezeichnet und erklärt, daß man im ersten Kapitel seines Buches einen förmlichen Beweis für die Wirklichkeit der Evolution finden werde und zwar einen so einfachen und naheliegenden, daß er heute kaum begreife, wie er solange an ihm vorübergehen konnte. Mit einer wahren Virtuosität hat WEISMANN die genannte Methode bei Ausarbeitung seiner modernen Naturphilosophie gehandhabt und durch sie, wie er es selbst offen ausspricht (Vorträge, Bd. II, p. 174), 1) Nägeli, C., Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre, 1884. — Hertwig, Oscar, Zeit- und Streitfragen der Biologie. Heft ı. Präformation oder Epigenese. Grundzüge einer Entwicklungstheorie der Organismen. Jena 18 — Derselbe, Allgemeine Biologie. 2.—4. Aufl., besonders 4. Aufl., 19006, Kap. XIX D- 452—400. Erwerbung und Vererbung neuer Arteigenschaften. 503 „die beobachtbaren Beziehungen und Veränderungen der fertigen Teile des Körpers in die Sprache des Keimplasmas übersetzt‘. Mit ihrer Hilfe sucht er, ein Meister wissenschaftlicher Dia- lektik, sich auch allen gegen seinen Standpunkt gerichteten zutreffenden Einwürfen zu entziehen, indem er sie einfach dadurch bekämpft, daß er die ihnen zugrunde liegenden Tatsachen auch in den Sprachschatz des Keimplasma mit einverleibt. Man hat z. B. der Zufallstheorie von DARWIN mit Recht oft vorgeworfen, daß nicht durch zufälliges und planloses, sondern nur durch bestimmt gerichtetes Variieren eines Organismus eine neue bleibende Veränderung der Art herbeigeführt werden könne. Dem Einwurf begegnet WEISMANN durch Annahme eines Kräftespiels im Keimplasma, bei welchem die einmal entstandene Variationsrichtung einer Determinante von selbst weitergeht, wenn nicht von irgendeiner Seite ein Hemmnis eintritt. Auf diese Weise sucht er in seiner Germinal- selektion die Tatsachen, die EIMER in seiner Orthogenesis zusammen- gestellt und zugunsten des Lamarckismus verwertet hat, mit seiner Lehre in Einklang zu bringen. Dieselbe Methode wiederholt sich im Streit mit HERBERT SPENCER, welcher der Naturzüchtung vorwirft, daß sie nicht erklären könne, wie durch zufällige Variation eines Teiles die korre- lative Veränderung vieler anderer Teile,die mit ihm zu einem harmonischen System verbunden sind, also die Koadaptation oder Korrelation aller Organe im fertigen Organismus zustande kommt. Auch hier hat WEISMANN die Antwort nach dem bewährten Mittel bald gefunden. Wieder wird der Einwurf durch Übersetzung in die Sprache des Keimplasma widerlegt. Der Korrelation der Organe wird eine Korrelation der Determinanten im Kräftespiel des Keimplasma, eine Art von innerer Selbstregulierung‘‘ entgegengehalten. Ich glaube wohl kaum auf Wiederspruch zu stoßen mit der Be- hauptung, daß durch die von DARwIN und WEISMANN geübte Methode bei der Konstruktion der Pangenesis und der Determinantenlehre nur eine Scheinerklärung geliefert wird. Denn was an Keimchen und Determinanten mit ihrem Kräftespiel, was an bestimmt gerichteter Variation und an korrelativer Selbstregulierung in den Keim hinein- gewickelt wird, muß selbstverständlicher Weise aus ihm bei seinem Werden auch wieder schließlich herausgewickelt werden. Kein Wunder, wenn die Rechnung stimmt, wenn der Deter- minant im Keimplasma wieder sein ihm entsprechendes Determinat im fertigen Organismus liefert. Der Naturforscher, der mit wissenschaftlichen Methoden zu arbeiten gewohnt ist, darf wohl mit Recht fragen, was durch das in der Deter- 504 Zwölftes Kapitel. minantenhypothese und in der Germinalselektion getriebene Phantasie- spiel oder was dadurch gewonnen wird, daß der Naturforscher die wirklich zu beobachtenden Beziehungen und Veränderungen der sich entwickelnden Teile des Organismus ‚in die Sprache eines unsichtbaren Keimplasma“ nach der von WEISMANN ausgebildeten Methode übersetzt? Bei einer kritischen Untersuchung derartiger Scheinerklärungen ist weniger zu prüfen, ob die gewünschten Resultate sich aus den Annahmen ergeben, sondern es kommt vielmehr darauf an, sich klar zu werden, ob die An- nahmen, die, zur Konstruktion der Hypothese dienen, richtig oder wenigstens einigermaßen wahrscheinlich sind und als geeignet zur Grundlage für ein so kompliziertes Hypothesengebäude betrachtet werden können. II. Einwand. Die von der Hypothese verlangte übergroße Zahl der Keimchen und Determinanten und ihre sich hieraus er- gebende Kleinheit führt zu‘ physikalisch unmöglichen Vor- stellungen. Unser erster Einwand betrifft gleich die Annahme einer unfaßbar großen Zahl von repräsentativen Teilchen, welche die Theorieen von DARWwIN und WEISMANN erfordern, wenn alle Zellen des werdenden und des ausgebildeten Organismus im Keim vertreten sein sollen. Schon bei Besprechung der Pangenesis von DARWIn hat NÄGELIT (l. c. p. 71I—74) mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß eine Keimzelle gar nicht groß genug ist, um die Anzahlder Keimchen, die nach Darwıns Hypothese erforderlich ist, aufnehmen zu können. Nach Mitteilung einer Berechnung, die an einem Beispiel durchgeführt wurde, kommt NÄGELI zu dem richtigen Schluß: ‚Wird die Menge der Keimchen so hoch angenommen, als es die Darwınsche Theorie wirklich verlangt, so ergibt sich auch für kleinere Phanerogamen, daß ihre einzelligen Keime millionenmal größer sein müßten, um alle Keimchen bloß in der Form von Eiweißmolekülen oder kleinsten Mizellen aufzunehmen. Hierdurch ist die Unmöglichkeit der Pangenesishypothese mit Rücksicht auf die numerischen und quanti- tativen Verhältnisse dargetan. Sie wäre nur ausführbar, wenn man den Keimchen nicht physische, sondern metaphysische Beschaffenheit, Gewichtslosigkeit und Ausdehnungslosigkeit zuschreiben und damit die Frage auf ein für den Naturforscher undiskutierbares Gebiet hinüber- schieben wollte.“ Um wie viel größer aber wird die Unmöglichkeit, wenn wir statt einer einfachen Pflanze ein hochentwickeltes Säugetier nehmen und die für es erforderliche, noch größere Zahl der Keimchen in dem nur mikroskopisch sichtbaren Kopf seines Samenfadens unterbringen wollen. Erwerbung und Vererbung neuer Arteigenschaften. 505 NÄGELIS Betrachtungen treffen, wie die Darwınsche Pangenesis, so auch die Keimplasmatheorie von WEISMANN, da seine Determinanten aus schon früher angeführten Gründen im wesentlichen den Keimchen entsprechen, ja sie treffen sie noch in viel höherem Maße. Denn WEıs- MANN (Vorträge, Bd. I, p. 378—384) bezeichnet im Keimplasma von Ei und Samenfaden den Komplex aller Determinanten, welche die An- lage eines Organismus ausmachen, als Id; er läßt dabei dasselbe gleich in vielen Sortimenten vorhanden sein, z. B. als aktives, als inaktives und als Reservekeimplasma, als Ide für das männliche und das weib- liche Geschlecht, als Ide für die verschieden differenzierten Individuen von Tierstöcken (Siphonophoren, Ameisen, Termiten) als Ide endlich aus Ahnenplasma. Bei Erörterung dieser Verhältnisse spricht er es als Vermutung aus, daß vielleicht die Ide mit den Chromosomen identisch sind; er hält es daher für möglich, daß ‚‚man bei dem Salzkrebschen, Artemia salina, welches 168 kleine, körnerförmige Chromosomen besitzt, jedes dieser Chromosomen als Id zu betrachten habe‘. ‚, Jedes derselben müsse also vollständiges Idioplasma in dem Sinne sein, daß alle Teile eines Individuums virtuell in ihm enthalten seien; jedes derselben sei eine biologische Einheit, ein Id.‘‘ Demnach hält es WEISMANN für mög- lich, daß im Kopf eines Samenfadens von Artemia 84 Ide oder 84 Sorti- mente von allen Determinanten vereinigt sind, während es NÄGELI schon für physikalisch unmöglich erklärt, daß nur ein einziges Sortiment von Keinplasma in einer größeren ganzen Zelle Platz findet. Allerdings will WEISMAnN die Berechtigung des Arguments von NÄGELI nicht anerkennen. Denn ihm erscheint ‚‚der Schluß aus den Er- scheinungen der Vererbung und Variation auf eine ungeheuere Anzahl kleinster Lebensteilchen, die in dem engen Raum eines Id sich zusammen- scharen, erheblich sicherer und zwingender, als der umgekehrte Schluß aus der berechneten Größe von Atomen und Molekülen auf die Anzahl derselben, welche man in einem Id anzunehmen befugt sei“. Daher wirft er die Frage auf: „ob denn überhaupt die Größe der Atome und Molekel Tatsachen sind, oder nicht viel mehr sehr fragwürdige Ergebnisse aus unsicheren Rechnungsansätzen ?“ Und da er sich für das letztere ent- scheidet, hält er es für erlaubt, ‚eine bedeutendere Kleinheit derselben anzunehmen, wenn die Tatsachen anderer Wissensgebiete dies verlangen“. Denn sein Ceterum censeo lautet: „Wir müssen Determinanten annehmen, folglich muß das Keimplasma auch Platz für dieselben haben; die Veränderungen der Arten können nur aus Ver- änderungen des Keimplasmas erklärt werden, denn nur diese erzeugen erbliche Variationen. Auf diesem Grunde baut sich meine Germinal- 506 ‘Zwölftes Kapitel. selektion auf.‘“ In ähnlicher Weise äußert sich Darwın: es habe, philo- sophisch betrachtet, das Bedenken, welches auf den ersten Blick unüber- steiglich erscheine, nämlich das Bedenken gegen die Existenz so zahl- reicher und so kleiner Teilchen, wie sie eine Hypothese voraussetze, nur wenig Gewicht. Um das Dogmh ihrer repräsentativen Teilchen (Determinanten) unter allen Umständen aufrecht zu erhalten, greifen sowohl DARWIN wie WEISMANN bei ihrer Verteidigung hier zu einem Beweisverfahren, dessen sich schon die alten Evolutionisten bedient und zur Berechtigung der Einschachtelungstheorie als logisch konsequente Folge der Präfor- mation benutzt haben. Auch MALEBRANCHE folgert in seiner „Recherche de la verite‘‘ zur Begründung seiner Einschachtelungslehre in ähnlicher Weise wie WEISMANN, daß unsere Sinne beschränkt und unsere Begriffe von Größe und Ausdehung nur relativ sind, daß, wenn die Milbe im Ver- hältnıs zu uns als ein unendlich kleines Tier erscheine, es doch noch tausend- mal kleinere Tiere als die Milbe gebe, die ıns sogar die Erfahrung schon kennen gelehrt habe; daher denn auch kein Grund vorhanden sei, daß diese dann die kleinsten von allen seien. ‚‚Denn die Materie sei ins Un- endliche teilbar, und so könne es auch unendlich kleine Tiere geben, obwohl vor diesem Gedanken unsere Einbildung erschrecke‘ (vgl. auch Kap ls 7): Eine derartige Methode ist unwissenschaftlich und jedenfalls in den Naturwissenschaften ungebräuchlich. Sie führt den Naturforscher auf Abwege, und was das Schlimmste ist, sie bestärkt ihn in der Fest- haltung seiner Abwege, indem sie zugleich seine Forschungsweise zu einer dogmatischen macht. Für einen solchen Abweg halte ich aus den eben angeführten und anderen, noch gleich zu besprechenden Gründen die Lehre von den repräsentativen Keimchen und den Determinanten im Sinne von DARWINn und WEISMANN. Man beachte aber dabei einen Unterschied zwischen beiden Forschern. Während Darwin als Urheber dieser Gedankenrichtung seine Keimchen in vorsichtiger Weise nur zur Grundlage ‚einer provisorischen Hypothese der Pangenesis“ macht, behandelt der Dogmatiker WEISMANN seine Determinanten schon als festbegründete Tatsachen der Wissenschaft. Denn er erklärt ja kate- gorisch: ‚Wir müssen Determinanten annehmen, folglich muß das Keimpiasma auch Platz für dieselben haben (Vorträge, Bd. II, p. 178). Wie ich jetzt zu zeigen versuchen werde, läßt sich die durch eine falsche Methode gewonnene, dogmatische Vorstellung DArwıns und WEISMANNS von dem Bau der Substanz, welche als Träger der erblichen Eigenschaften dient, durch die von mir entwickelte Lehre von der Erwerbung und Vererbung neuer Arteigenschaften. 507 Artzelle ersetzen. Den Begriff derselben habe ich schon im dritten Kapitel entwickelt, auf welches ich daher an dieser Stelle wieder verweiser kann. Ich habe dort schon näher ausgeführt, auf welchem Wege die Vor- stellung gewonnen wurde, aus welchen Gründen wir in der Artzelle Substanzen von verschiedenem Wert für die Fragen der Erblichkeit, Idioplasma, Ernährungsplasma und Plasmaprodukte annehmen müssen und wie wir durch Experimente und durch die MEnnELschen Methoden der Bastardforschung in streng wissenschaftlicher Weise uns Aufklärung verschaffen können. Somit ist durch die Begründung und durch die sich allmählich vollziehende Vertiefung der Zellenlehre erst ein fester Grund und Boden für das Erblichkeitsproblem geschaffen worden. Durch sie läßt sich ein für allemal die Unhaltbarkeit aller älteren, bis jetzt erwähnten Hypothesen erweisen, sowohl die Unhaltbarkeit der Einschachtelungs- lehre, wie der Lehre WoLFFs vom unorganisierten Lebensstoff, der mit einer nur ihm eigentümlichen Wunderkraft, der vis essentialis, begabt ist, ferner die Unhaltbarkeit von BurFons Panspermie so gut wie von Darwıns provisorischer Hypothese der Pangenesis und von WEISMANNS Determinanten. Denn die Zelle ist, wie wir auf Grund der Zellentheorie wissen, nicht das präformierte Geschöpf im Sinne der Evolutionisten, da sie keine Organe und Gewebe, wie dieses, besitzt, ebensowenig aber ist sie eine nach der Ansicht der Epigenesisten unorganisierte Substanz, da sie nach ihrem mikroskopischen Bau und ihren Lebenseigenschaften als ein Elementarorganismus bezeichnet werden muß. Sie ist auch nicht, wie DARwIN meint, ein Extrakt aus allen Zeilen der Eltern, wodurch sie ihre Eigenschaften erworben hat und auf die nachfolgende Generation forterbt, sondern sie ist eine durch Teilung entstandene und aus dem elterlichen Verband losgelöste Zelle, die in der Folge der Generationen die Kontinuität des Lebensprozesses aufrechterhält. Im Hinblick auf die engen kausalen Beziehungen, die zwischen dem befruchteten Ei und dem aus ihm entwickelten Organismus bestehen (ontogenetisches Kausalgesetz), bezeichnet man die Keimzelle als eine Anlage oder als eine mit spezifischen Potenzen ausgestattete Substanz. In dieser Hinsicht kann man, ohne mißverstanden zu werden, sagen: Ei und Samenfaden repräsentieren das spätere Geschöpf als Anlage oder im Stadium der Artzelle. Insofern laufen schließlich in ihr alle biologischen Probleme zusammen, die sich mit dem Wesen der Vererbung oder mit der Entstehung der Arten beschäftigen. Mit dem Begnif der Anlage und der Artzelle verbinden wir auch die Vorstellung von einer außerordentlich zusammengesetzten Substanz und von einer Organisation, 508 Zwölftes Kapitel. die weit jenseits der Grenzen des mikroskopisch Sichtbaren liegt. Wenn wir trotzdem die von WEISMANN ausgearbeitete Lehre von der Archi- tektur des Keimplasma und seiner Zerlegung in Determinanten teils aus dem bereits erörterten, teils aus anderen noch später zu besprechenden Gründen nicht teilen können, so erhebt sich jetzt die Frage, ob sich etwas Besseres an ihre Stelle setzen läßt. Auf den richtigen Weg hat uns NÄGELI in seiner mechanisch-phy- siologischen Theorie der Abstammungslehre hingewiesen in dem Satz: „Wir bedürfen, um die Erblichkeit zu begreifen, nicht für jede durch Raum, Zeit und Beschaffenheit bedingte Verschiedenheit ein selbstän- diges, besonderes Symbol, sondern eine Substanz, welche durch die Zusammenfügung ihrer in beschränkter Zahl vorhandenen Elemente jede mögliche Kombination von Verschiedenheiten darstellen und durch. Permutation in eine andere Kombination derselben übergehen kann.“ Um diesen Sachverhalt klar zu machen, habe ich mich zweier Bilder in meiner Allgemeinen Biologie bedient. Obwohl die Buchstaben des Alpha- bets an Zahl gering sind, lassen sich doch durch ihre Kombination Worte und durch Kombination von Wörtern wieder Sätze von verschieden- artigstem Sinne bilden. Ebenso können durch zeitliche Aufeinander- folge einer kleinen Zahl von Tönen und ihre verschiedenartige Kombi- nation zahlreiche Harmonieen erzeugt werden. In der Chemie lehren uns die Eiweißkörper, wie durch die verschiedenartigste Verwendung einer kleinen Zahl von Elementen unzählige hochmolekulare Verbindungen mit charakteristischen Eigenschaften entstehen und wie diese durch Substitution eines Gliedes durch ein anderes leicht in bestimmter Weise verändert werden können. Zu wie viel größerer Mannigfaltigkeit muß dann die Substanz einer Artzelle befähigt sein, da sie sich nicht nur aus sehr vielen Eiweißverbindungen zusammensetzt, sondern diese selbst wieder das Material zu den noch höher zusammengesetzten und ebenfalls der verschiedensten Kombination fähigen biologischen Verbindungen liefern! (Siehe S. 28—30, 33 u. 34, 45—50.) t Man hat die letzteren in der modernen biologischen Literatur mit den verschiedensten Namen, als Mizellen, als Biophoren, als Bioblasten, als Erbeinheiten etc. bezeichnet. Auf den Namen kommt es nicht an, sondern darauf, daß allen diesen kleinsten hypothetischen Teilchen, die wir mit einem möglichst indifferenten Namen als biologische Ver- bindungen bezeichnet haben, zwei fundamentale, allgemeine Lebens- eigenschaften als unerläßlich zugeschrieben werden. Diese sind r. das Vermögen, durch Assimilation von Stoffen und Umwandlung in eigene Substanz zu wachsen, und 2. das Vermögen, sich durch Selbst- Erwerbung und Vererbung neuer. Arteigenschaften. 509 teilung zu vermehren. Auch hierin liegt wieder eine Quelle unerschöpf- licher Mannigfaltigkeit für die Substanz, welche wir als Artzelle und als die Grundlage aller Erblichkeit hinstellen. Denn unter den verschieden- artigsten Ursachen, die auf sie einwirken, können die biologischen Ver- bindungen, abgesehen von ihren Veränderungen durch Substitution, auch rascher oder langsamer assimilieren und wachsen und sich infolge- dessen auch rascher oder langsamer durch Selbstteilung vermehren. Auf diese Weise ist die Anlagesubstanz auch in unseren Augen nicht nur ein Mikroorganismus, der nach dem ontogenetischen Kausal- gesetz bei den unzähligen Organismen verschieden gebaut ist, sondern sie ist zugleich aus den oben angeführten Gründen auch aller der Verände- rungen fähig, welche in den einzelnen Ontogenesen durch die Differen- zierung der Zellen in Gewebe und Organe geleistet werden, nämlich durch Kombination und Substitution ihrer Elemente verschiedener Ordnung und durch stärkere und schwächere Assimilation und Ver- mehrung ihrer Bioblasten. Infolge ihrer Zusammensetzung ist sie also eine sehr reizbare Substanz ; sie reagiert als solche in weit höherem Grade und in ganz anderer Weise als die Proteinkörper der Chemie mit Verände- rungen mannigfachster Art auf die unbedeutendsten Reizstöße selbst bei geringem Wechsel der Bedingungen, unter denen sie sich befindet. Wenn somit auch die Keimzelle nach der hier entwickelten, von NÄGELI und mir vertretenen Vorstellung als außerordentlich zusammen- gesetzt und gleichsam als ein Mikrokosmus bezeichnet werden kann, so stoßen wir hierbei doch nirgends auf die oben hervorgehobenen che- misch-physikalischen Schwierigkeiten, zu denen die Hypothesen der Pangenesis und der Determinanten von WEISMANN hinführen. Denn indem wir nicht eine unendlich große Zahl von Keimchen und Determi- nanten anzunehmen gezwungen sind, bleiben wir auf dem Boden des naturwissenschaftlich Vorstellbaren und brauchen nicht zur Metaphysik von MALEBRANCHE, DARWIN und WEISMANN unsere Zuflucht zu nehmen. III. Einwand. Logische Unhaltbarkeit des von DArwın und WEISMANN formulierten Begriffs der erblichen Anlage. DARwINn sowohl wie WEISMANN haben in ihren Hypothesen gegen den schon von NÄGELI richtig formulierten und von mir auf S. 508 mit- geteilten Grundsatz verstoßen; sie haben für jede durch Raum, Zeit und Beschaffenheit bedingte Verschiedenheit des sich entwickelnden und entwickelten Organismus selbständige repräsentative Substanz- teilchen von unendlicher Kleinheit angenommen, die Keimchen und die Determinanten, und sie zur Erklärung der Erscheinungen der Erb- >10 Zwölftes Kapitel. lichkeit verwertet. So bezeichnet WEISMANN (Vorträge, Bd. I, p. 389) als „Anlagen‘‘ im Keimplasma differente lebende Teilchen, die Deter- minanten, von welchen jedes in bestimmter Beziehung zu bestimmten Zellen oder Zellenarten des zu bildenden Organismus steht, in dem Sinne, daß ihre Mitwirkung beim Zustandekommen eines bestimmten Teils des Organismus nicht entbehrlich ist. Dieser fertige Teil, den WEISMANN Determinat oder Vererbungsstück nennt, wird also durch jedes Teilchen des Keimplasma, den Determinant, in seiner Existenz wie in seiner Natur ° bestimmt und-so die Erblichkeit dem Anschein nach erklärt. Indem ich dieser Anschauung, wie auch NÄGELI, stets entgegengetreten bin, erklärt WEISMANN die von uns angenommene Beschaffenheit des Keimplasma als eine ‚anlagenlose‘“, selbst wenn sie aus vielen verschiedenartigen Teilen zusammengesetzt gedacht sei, da diese keine Beziehung zu be- stimmten Teilen des werdenden Tieres haben. Der einschneidende prinzipielle Differenzpunkt zwischen WEIS- MANN und mir, obwohl wir beide in der Annahme eines materiellen Trägers der Erblichkeit (Idioplasma, Keimplasma, Artzelle) übereinstimmen, besteht hier wesentlich darin, daß der Freiburger Zoologe Verhältnisse, die im Entwicklungsprozeß unter Mitwirkung äußerer Faktoren erst entstehen sollen und auf Konstellationen der sich durch Wachstum ver- mehrenden Teile beruhen, mit einem Wort, daß er das ganze System von Bedingungen, unter denen die Entwicklung erfolgt (siehe Kap. IV S. 1Ig etc.), als materiell gedachte Determinanten auch schon in die Anlage der Keimzellen mit hinein verlegt. An einem. sehr einfachen, der unorganischen Natur entlehnten Bei- spiel will ich den Gedanken gleich weiter erläutern und verständlicher machen. Die chemische Substanz Wasser besteht aus der Verbindung von 2 Teilen Wasserstoff mit ı Teil Sauerstoff; sie tritt uns aber in sehr verschiedenen Formzuständen, als Eis, als flüssiges Wasser und als Wasser- dampf entgegen, je nach der Temperatur ihrer Umgebung. In allen drei Zuständen ist die elementare Zusammensetzung des Wassers als H,O die- selbe geblieben. Nur die Konstellation der Wasserteilchen zueinander hat sich im gefrorenen, flüssigen und gasförmigen Zustand geändert; gleichzeitig sind aber auch die Eigenschaften oder Qualitäten der che- mischen Substanz Wasser für uns ganz andere geworden. Wenn wir uns hier der Sprache der Biologen bedienen wollen, so können wir auch sagen, daß die Substanz Wasser bestimmte Fähigkeiten oder Potenzen hat, beim Eintritt bestimmter Bedingungen in dieser oder jener bestimmter Form zu erscheinen. Wir lernen hieraus, daß die Eigenschaften, u nter denen wir das Wasser kennen, nicht nur auf seiner elementaren Zusammen- Erwerbung und Vererbung neuer Arteigenschaften. '5Il “ setzung, sondern auch auf den Bedingungen, unter denen es sich be- findet, und den hierdurch hervorgerufenen Konstellationen der Wasser- moleküle beruhen. So wenig es nun dem Physiker einfällt, die verschie- denen Eigenschaften des Wassers im festen, flüssigen und gasförmigen Zustand durch Annahme besonderer stofflicher Determinanten zu er- klären, die durch ihre Verbindung mit dem chemischen Stoff Wasser seinen gefrorenen, flüssigen und gasförmigen Zustand bewirken, so sollte auch der Biologe nicht unendlich kleine Stoffteilchen als Determinanten in die Artzellen hineindichten, zur Erklärung von Eigenschaften und Merkmalen, welche in der entwicklungsfähigen Substanz erst im Laufe des Ent- wicklungsprozesses, durch den Hinzutritt von Bedingungen und Konstellationen gesetzmäßig hervorgebracht werden. Der philosophische Begriff ‚der Anlage‘‘, in seinem weitesten Sinne ‚erfaßt, begreift zwei verschiedene Seiten in sich, auf die ich an anderer Stelle (S. 532) noch einmal zurückkommen werde. Nach diesen Vorbemerkungen will ich an. einigen konkreten Fällen zeigen, daß es bei sehr vielen Eigenschaften und Merkmalen des sich ent- wickelnden und des fertigen Organismus überhaupt gar nicht möglich ist, sich dieselben als kleinste Stoffteilchen, die schon als Deter- minanten in der Keimzelle präformiert sein sollen, vorzustellen. Ich beginne gleich mit dem Teilungsvermögen der Zelle, mit der hier- durch herbeigeführten Vermehrung ihrer Zahl, mit ihrer Anordnung im Raum oder mit Verhältnissen, die man als Systembedingungen der zu einem Ganzen verbundenen Teile, als ihre Konfiguration oder Kon- stellation bezeichnen kann. Schon daß der Teilungsprozeß als solcher nicht auf der Wirksam- keit eines besonderen determinierenden Stoffteilchens, sondern auf dem gesetzmäßigen Wachstum und der Vermehrung vieler Teilchen nebst anderen unbekannten Umständen beruht, liegt klar auf der Hand, aber ebenso klar ist es auch, daß in der ersten Zelle die aus ihr entstehenden späteren Zellen nicht bereits in irgendeiner Weise, z. B. als Keimchen, wie es DARWIN will, oder als Determinanten präformiert sein können. Denn da ihre Vermehrungsfähigkeit unbeschränkt ist, würde eine Keim- zelle bald keinen Raum mehr bieten für die Zahl der Determinanten von allen Zellengenerationen, die durch fortgesetzte Teilung aus ihr hervorgehen können. Die Vermehrung der Zellen ist also ein.rein epigenetischer Prozeß, der sich nicht in Ir en aan Formel der Präformation einzwängen- läßt: Auch ‚zur Erklärung der. Verschiedenheiten, die zwischen den Sich 512 Zwölftes Kapitel. vermehrenden Zellen ganz von selbst nach ihrer Lage entstehen, versagt der Determinantenbegriff. Wenn bei dem Teilungsvorgang, z. B. des Froscheies, die beiden Tochterzellen vereinigt bleiben und sich nach ihrer Lage im Raum als linke und rechte Halbkugel voneinander unter- scheiden lassen, so ist ohne Frage für eine derartige Anordnung die An- nahme besonderer Determinanten, wenn nicht überhaupt logisch unmög- lich, zum mindesten vollkommen überflüssig und ebenso für jede spätere _ Anordnung in 4, 8, I6 und mehr Zellen. Denn es ist doch nach der Raum- lehre überhaupt nicht anders möglich, als daß mehrere, aus einem größeren Körper durch Teilung entstandene, kleinere, zusammengehörige Teil- stücke nach den Dimensionen des Raumes orientiert sind, also links und rechts, vorn und hinten, oben und unten voneinander liegen müssen. 3 Dasselbe gilt für die Teilnahme der sukzessive kleiner werdenden Furchungszellen am Aufbau des tierischen Körpers im Verhältnis zu ihrer Größe. Wenn das befruchtete Ei das volle Bildungsmaterial für den Embryo ist, so können die Teilstücke, die auf den Stadien der 2-, 4, S-Teilung etc. entstehen, selbstverständlicherweise nur je als Hälfte, als Viertel, als Achtel usw. beteiligt sein. Insofern nimmt die prospektive Potenz der Embryonalzellen in bezug auf ihre quantitative Verwertung als Baumaterial mit jeder Teilung ab, so lange nicht durch ungleiches Wachstum hierin Veränderungen herbeigeführt werden. Es sind diess lauter Unterschiede im System der Zellen, welche, wie jeder gleich ein- sehen muß, auch ohne besondere determinierende Stoffteilchen und ohne ihre Sonderung durch erbungleiche Teilung von selbst eintreten müssen. Noch ein drittes Verhältnis ist in derselben Weise zu beurteilen. Wenn das sich teilende Froschei in der Anordnung seiner Substanz eine bilaterale Symmetrie aufweist, wenn infolgedessen auf Grund be- stimmter Teilungsregeln die erste Teilebene mit der Symmetrieebene zusammenfällt, wenn ferner sich zeigen läßt, daß bei normalem Verlauf der Entwicklung jeder der beiden Teilhälften die prospektive Potenz innewohnt, zur linken und zur rechten Körperhälfte des bilateral-sym- metrischen Tieres zu werden, so liegt auch hierin kein Beweis für die Behauptung der Determinantenlehre und der ihr verwandten Mosaik- theorie, daß durch die erste Kernteilung die verschiedenen Bildungs- materialien und die differenzierenden und gestaltenden Kräfte für die linke und die rechte Körperhälfte gesondert worden seien. Denn es er- klärt sich schon ohne Zuhilfenahme besonderer Determinanten allein aus dem bilateral-symmetrischen Bau der befruchteten Eizelle, daß ihre Symmetrieebene nicht nur mit der ersten Teilebene zusammenfällt, i B%; N pi Erwerbung und Vererbung neuer Arteigenschaften. 513 sondern sich auch von einem zum anderen Stadium der Entwicklung als solche erhalten und schließlich auch zur Symmetrieebene des bilateral- symmetrischen Organismus werden muß, so lange nicht störende Momente entgegenwirken. f Auch das vergleichend-embryologische Studium des Furchungs- prozesses und der sich ihm anschließenden Embryonalstadien liefert uns Gesichtspunkte, die zur Klärung der Keimchen- und Determinanten- lehre beitragen können. Wie bekannt, spielt sich die Furchung in den einzelnen Klassen des Tierreiches in verschiedenen Modifikationen ab, die als äquale und inäquale, als diskoidale und superfiziale beschrieben werden. Die Ursache hierfür ist in dem ungleichen Gehalt an Deuto- plasma, das sich die Eier bei ihrer Vorentwicklung im Ovarium ange- eignet haben, und in der besonderen Verteilungsweise desselben im Eiraum zu suchen. (Vgl. auch Seite 214— 215.) Nun beruht aber die Ausarbei- tung und Verteilung des Dotters in der Eizelle ohne Frage auf sehr vielen Faktoren in der spezifischen Organisation des Protoplasma und der Kernsubstanz und auf den mit ihr zusammenhängenden komplizierten chemischen Prozessen der Stoffaufnahme, Assimilation und formativen Tätigkeit. Während uns also hier die Determinantenlehre im Stich läßt, liefert uns die mikroskopische Untersuchung des Baues der Eizellen mit ihrer spezifischen Dotterverteilung nicht nur wirklich wissenschaft- liche Grundlagen, sondern führt uns auch zu einer ursächlichen Er- klärung für die verschiedenen Arten des Furchungsprozesses. Und ebenso verhält es sich bei dem Verständnis der vielen sich an den Furchungsprozeß anschließenden embryonalen Vorgänge, deren Eigenart sich auf den verschiedenen Dottergehalt der Eier als Ursache zurückführen läßt. Aus dem inäqualen Charakter der Furchung bei den Amphibien wird es uns verständlich, daß ihre Keimblase sich abweichend vom Amphioxus aus animalen und aus vegetativen Zellen zusammen- setzt und daß daher auch ihre Gastrulation einen entsprechend anderen Verlauf nimmt, daß die vegetativen Zellen in den Urdarm aufgenommen werden, ihn bruchsackartig ausweiten und so die Bildung eines Dotter sacks veranlassen. Es wird uns ferner verständlich, daß bei den mero- blastischen Eiern infolge der erheblich stärkeren Belastung der Eizelle mit Dotter eine schärfere Sonderung in Bildungs- und Nahrungsdotter eingetreten ist, daß eine Keimscheibe entstanden ist, daß endlich die Stadien der Keimblase und Gastrula, überhaupt die Keimblätterent- wicklung wieder einen ganz anderen Charakter als bei den Amphibien gewonnen haben. Was kann uns zur Erklärung von allen diesen Verhältnissen DAr- O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl. 33 514 Zwölftes Kapitel, wıns Pangenesis oder die WEISMANNsche Determinantenlehre nützen ? Sind es etwa repräsentative kleinste Teilchen im Keimplasma, welche es durch ihre ungleiche Verteilung auf die bei der Furchung entstehenden Zellen bewirken, daß diese zu anımalen, jene zu vegetativen, diese zur Decke, jene zum Boden der Keimblase werden, daß die Gastrulation in dieser und jener Weise verläuft, und daß zum Schluß die vegetativen Zellen oder der Nahrungsdotter in einen Sack des sekundären Darmkanals } aufgenommen wird? Das sind vollständig überflüssige und unhaltbare Annahmen. Denn wenn auch der eigenartige Verlauf des Furchungs- prozesses und alles, was in der Folge noch weiter mit ihm zusammen- hängt, letzterhand in der Organisation des befruchteten Eies begründet ist, so hat dies doch, wie aus den vorausgeschickten Erläuterungen wohl klar hervorgeht, keineswegs mit einer Zerlegung des Keimplasma in Determinanten und mit ihrer Verteilung durch Karyokinese auf die einzelnen Zellen etwas zu tun, damit sie den jeweiligen Charakter der- selben auf jeder Stufe der Entwicklung, bei der Morula, bei der Keimblase, | bei der Gastrulation etc. bestimmen. Was der wirkliche Grund ist, 1 soweit er sich überhaupt mit unseren beschränkten Mitteln der Forschung feststellen läßt, lehrt uns das vergleichende und experimentelle Studium der betreffenden Entwicklungszustände bei den verschiedenen Tierarten } in einer durchaus befriedigenden Weise. Der wirkliche Grund ist, wie gegenüber der Determinantenlehre nicht genug hervorgehoben werden kann, die in verschiedener Weise erfolgende Ausstattung der Eier mit Deutoplasma während ihres Wachstums im Ovarium. Dieselbe beruht aber auf der Lebenstätigkeit der ganzen Eizelle gemäß ihrer ererbten Eigenart, die für die einzelnen Tierspezies eine verschiedene ist. Gewiß beruht die ererbte Eigenart in erster Reihe auf der besonderen Beschaffen-" heit und Gruppierung der biologischen Verbindungen des Idioplasma, aber nachdem durch sie die spezifische Organisation der Eizelle mit ihrer Dotterverteilung während der Vorentwicklung im Ovarıum zustande gekommen ist, genügt die so geschaffene Situation schon für sich allein, um die verschiedenen Modifikationen des Furchungsprozesses der Morula der Keimblase und Gastrula, die verschiedene Entwicklungsweise 2E Keimblätter, die Ausbildung eines Dottersackes usw. bis zu einem be stimmten Grad zu erklären nach den Regeln, welche die vergleichend Embryologie schon seit längerer Zeit hierfür festgestellt hat. Wie ich an den besprochenen wenigen Fällen, deren Zahl sich be liebig vermehren ließe, bewiesen zu haben glaube, ist es eine wisse schaftlich absolut unerlaubte Methode, in der von WEISMANN geübten Manier alles, was an Formzuständen und ihnen entsprechenden physiolo- Erwerbung und Vererbung neuer Arteigenschaften. 515 gischen Leistungen durch den Entwicklungsprozeß geschaffen wird, als diskrete Stoffteilchen von metaphysischer Kleinheit (Determinanten) in die Keimzelle hineinzuverlegen und die so in ihrem Keimplasma konstruierte präformierte Entwicklungsmaschine nunmehr als Scheinerklärung der wirklichen Entwicklungsprozesse und zwar in jeder Beziehung und auch für die schwierigsten Fragen zu benutzen. Auf diesem Wege kommt WEISMANN dazu, um die erblichen Instinkte zu erklären, in der Eizelle Determinanten für einzelne Hirnpartieen an- zunehmen, ja er redet sogar von „hochgesteigerten Musikdetermi- nanten“ im Keimplasma musikalischer Genies (Vorträge, Bd. II, p. 168). Mit Ausführlichkeit bin ich auf eine Analyse der ersten Entwick- lungsstadien eingegangen, um an einem konkreten Beispiel einen logi- schen Grundirrtum in der Konstruktion des von WEISMANN aufgeführten Hypothesengebäudes und ähnlicher Hypothesen, die nach dem Muster von DArwıns Pangenesis ausgedacht worden sind, klarzulegen. Ich erblicke denselben darin, daß WEISMANN Situationen oder Konstellationen, die aus der Vermehrung des befruchteten Eies in immer zahlreicher wer- dende Zellen rein epigenetisch entstehen und auf dem allgemeinen Fort- pflanzungsvermögen der Zelle beruhen, in Form von Stoffteilchen, die zu Determinanten gemacht werden, in das ungeteilte Ei projiziert und zu einem starren, präformierten System in der Architektur des Keim- plasma verbunden sein läßt. Dieses Kunstgebilde benutzt er dann, um das schon aus der Situation sich ergebende Schicksal der einzelnen Zellen im Entwicklungsprozeß als das Werk der aus dem Keimplasma sich loslösenden Determinanten erscheinen zu lassen. Ein epigenetischer Vorgang wird so nach dem Muster der alten Evolutionisten durch die Hypothese der Keimplasmaarchitektur und ihrer Zerlegung zu einem schon im befruchteten Ei präformierten gemacht. Indem ich durch meine Kritik von WEISMAnNs Keimplasmatheorie die Fehler der präformistisch ausgedachten Determinantenlehre durch logische Erörterung einzelner Entwicklungsprozesse aufgedeckt habe, glaube ich zugleich auch die von mir im vierten Kapitel (S. 119—173) vorgetragene, entgegengesetzte Lehre, welche Präformation und Epi- genese zu verbinden sucht, noch weiter gestützt zu haben. IV. Einwand gegen Darwıns und WEıIsMmAanNs Transporthypo- thesen. | Je schlechter eine Hypothese in ihren Fundamenten ist,die wir soeben geprüft haben, um so mehr wächst gewöhnlich die Zahl der zu ihrer 33* 516 Zwölftes Kapitel. Durchführung notwendigen Hilfshypothesen. An zwei derselben sei ihre Unhaltbarkeit noch nachgewiesen. Unser erster Einwand richtet sich gegen den von DARWIN und WEISMANN angenommenen Transport der Keimchen, resp. Determinanten zu den Orten ihrer Wirksamkeit. Zwischen beiden Forschern ergibt sich hierbei ein prinzipieller Unter- schied. DARwINn nimmt einen doppelten Transport an. Der eine be- steht in der Abgabe von Keimchen von allen Zellen des werdenden und des fertigen Organismus, in ihrer Verteilung und Zirkulation in den Säften des Körpers, bis sie sich an bestimmten Stellen zu Keimzellen für die nächste Generation vereinigen. Der zweite Transport erfolgt dann in umgekehrter Richtung während der Ontogenese durch die Ab- gabe bestimmter Keimchen vom befruchteten Ei aus an die sich neu bildenden Zellen, die ihren Vorbildern in der vorausgegangenen Gene- ration entsprechen. Durch den einen Keimchentransport wird die Ver- ö erbung alter und neuerworbener Eigenschaften vom Elternorganismus auf die von ihnen gebildeten Keimzellen, durch den zweiten Transport die Übertragung und Entfaltung dieser Eigenschaften im Tochterorganis- mus erklärt. WEISMANN hat den ersten Teil der Pangenesis, den Transport der Keimchen zu den Keimzellen, und mit ihm die Vererbung er- worbener Eigenschaften preisgegeben und durch die Kontinuität” des Keimplasma ersetzt. Den zweiten Teil, die Abgabe bestimmter’ Keimchen des Keimplasma zur Determinierung der aus dem Ei ent-" stehenden Zellen hat er aber beibehalten und zugleich auch versucht ihm eine Fassung zu geben, welche den modernen Errungenschaften der Zellenlehre besser Rechnung zu tragen scheint. In der Karyokinese glaubt er ein solches Mittel gefunden zu haben, durch welches die Zer-" legung der im Keimplasma kunstvoll verbundenen Determinanten” und ihre Schritt für Schritt erfolgende Verteilung auf die durch sie deter- minierten Zellen (die Determinate) bewirkt wird. Ei Die Darwınsche Lehre von der Abgabe und Verteilung der Keimcher hat scheinbar in der neuen Form eine wesentliche Verbesserung erfahren, da sie an einen wirklich stattfindenden Vorgang anknüpft, Daß die aber bei einer kritischen Prüfung keineswegs der Fall ist, glaube ich ir früheren Schriften (l. c., 1894) und zusammenfassend in meiner Alk gemeinen Biologie und jetzt wieder im vierten Kapitel dieses Buches zur Begründung meiner Auffassung vom Werden der Organismen (S. 1I9— 173) nachgewiesen zu haben. Denn es kann wohl als ein & meines Gesetz in der Biologie gelten, daß das Vermögen der Zelle, sic Erwerbung und Vererbung neuer Arteigenschaften. 517 in 2 Tochterzellen zu teilen, zur Erhaltung der Art dient, und daß die Karyokinese der Kemsubstanz, wenn diese als Träger der Arteigen- schaften betrachtet wird, eine „erbgleiche‘‘ sein muß. Dies lehren uns, wie ich noch einmal hervorhebe, die unzähligen Arten einzelliger pflanz- licher und tierischer Lebewesen, die sich während langer Zeiträume durch Teilung fortgepflanzt und in ihren Merkmalen konstant erhalten haben. Eine heterogene Zeugung durch erbungleiche Teilung ist bei "ihnen in der Natur noch niemals festgestellt worden. Es ist daher eine rein willkürliche Annahme, wenn WeıIsmaxn seiner Determinanten- _ theorie zuliebe den Begriff der erbungleichen Teilung in die Vermehrungs- weise der Zellen bei den vielzelligen Organismen eingeführt hat. Denn - auch hier bringen doch die Teilungen des befruchteten Eies nur Zellen zum Entwicklungsprozeß der Art hervor, liefern daher ebensogut wie bei der Vermehrung der einzelligen Organismen durch erbgleiche Teilung nur Artzellen. Wenn diese sich während der Ontogenese allmählich in die verschiedenen Gewebe sondern und dementsprechende Eigen- schaften gewinnen, so geschieht dies nach dem Prinzip der Arbeits- teilung zwischen artgleichen Zellen und nach dem hiermit zusammen- Prinzip der histologischen Differenzierung, über welches schon im Kapitel IV (S. 136—ı144) gehandelt wurde. Bei einem ab- geschnittenen Weidenzweig sprossen Wurzelfäden aus dem in die Erde gesteckten Ende hervor durch Anpassung seiner Rindenzellen an die Be- dingungen der neuen Umgebung behufs Übernahme unentbehrlicher Funktionen zur Wiederherstellung einer lebensfähigen Pflanze, aber nicht dadurch, daß einzelne Zellen jetzt Wurzeldeterminanten durch erbungleiche Teilungen erhalten hätten. Wohl niemals hat ein Naturforscher eine voreilige Hypothese mit so vielen unwahrscheinlichen Hilfshypothesen ausstatten müssen wie WEISMANN. Seine Annahme von mehreren Sortimenten Keimplasma, eines aktiven, eines gebundenen und eines als Reserve dienenden in ein und derselben Zelle und seine hierzu als Ergänung gehörende Annahme von 3 verschiedenen Arten der Kemteilung, einer erbgleichen, einer erbungleichen und einer dritten, welche beides zugleich ist, sind wahre Muster von Verlegenheitshypothesen, die nötig wurden, um die Grundhypothese gegenüber den mannigfaltigen Erscheinungen der Orga- nismenwelt aufrechterhalten zu können. Die eine hebt die andere auf, und die dritte vermittelt zwischen beiden. Ihre Verwendung zur Er- klärung der Naturerscheinungen ist wie ein Spiel mit zwei sich gegen- _ seitig aufhebenden Behauptungen, von denen, je nachdem es eben paßt, bald die eine, bald die andere als Trumpf gezogen wird. 518 Zwölftes Kapitel, Wenn die Zusatzhypothesen im wesentlichen darauf hinauslaufen, den Teil der Anlagen, der durch erbungleiche Teilung und durch die Zerlegung des Keimplasma aus den Zellen herausbefördert wurde, jetzt wieder in der Gestalt von inaktivem, von Neben- und Reservekeim- plasma in sie hineinschlüpfen zu lassen, so ist wohl das Natürlichste und Einfachste, überhaupt nur an der erbgleichen Teilung des Keim- plasma als der einzig möglichen festzuhalten, wie wir es, gestützt auf viele Gründe, tun. So kommen wir denn auch bei unserem vierten Einwand zu dem Ergebnis, daß ebenso, wie DARWwIns Trans- porthypothese der Keimchen, auch WEISMANNs Verwendung! der erbungleichen Kernteilung als Transportmittel sich bei kritischer Prüfung nicht aufrecht erhalten läßt und daß somit unsere im IV. Kapitel entwickelte Lehre vom Werden der Organismen (vgl. S. III—I73) auch in diesem Punkt zu Recht besteht. V. Einwand gegen die künstlichen Gegensätze, in welche WEIS- MANN Keimzellen und „Soma‘‘ gebracht hat. Nach der Anschauung von WEISMANN stehen die Keimzellen zu allen übrigen Zellen des Körpers in einem prinzipiellen Gegensatz. Sie, sind in das Soma gewissermaßen nur wie in einem Behälter eingeschlossen und befinden sich außer Beziehung zu ihm, so daß sie .erblich von ihm gar nicht beeinflußt werden können. Sie allein sind durch erbgleiche Teilung im Besitze des vollen, die Art repräsentierenden Keimplasma und stammen direkt von dem befruchteten Ei durch eine kontinuier- liche Folge von Zellgenerationen ab, welche die Keimbahn bilden. Allein fähig, einem neuen Organismus wieder den Ursprung zu geben, | werden sie als unsterblich bezeichnet. In vollem Gegensatz zu ihnen bergen alle übrigen Zellen des Körpers nach der Hypothese von WEIıs- MANN nur Bruchstücke des vollen Keimplasma, die durch erbungleiche Karyokinese auf sie verteilt worden sind; nur für spezielle Arbeits- leistungen durch die ihnen zugeteilten Determinanten befähigt, sind sie, zumal nach Verlust ihres Teilungsvermögens,dem Tode unfehlbar verfallen, Gewiß bestehen auch in unseren Augen in vielen Beziehungen Unterschiede zwischen den Zellen, welche zur Fortpflanzung, und denen, welche zu den übrigen Verrichtungen des Körpers dienen, wie sie sich eben in einem System arbeitsteilig gewordener Glieder eines überge- ordneten Ganzen ausbilden müssen ; aber diese Unterschiede sind keine prinzipiellen Gegensätze in der von WEISMANN ausgeführten Weise. Das Vermögen, sich durch Teilung, eventuell in infinitum, zu vermehren, ist eine allen Zellen gemeinsame Grundeigenschaft, die nur unter besonderen Erwerbung und Vererbung neuer Arteigenschaften. 519 Entwicklungsbedingungen mehr oder minder gehemmt oder auch ganz aufgehoben sein kann, wie schon in Kapitel VI (S. 246—255) besprochen wurde. Selbst die Eier und Samenfäden sind nicht jederzeit vermehrungs- fähig und müssen zugrunde gehen: das Ei, wenn es nicht befruchtet wird, der Samenfaden, wenn er nicht Gelegenheit findet, in ein ‚‚reifes Ei‘ einzudringen. Andererseits gibt es auch im Soma, das dem Tode verfallen ist, viele Arten von Zellen, wie diejenigen des Rete Malpighii, des Periosts, der Lymphfollikel, des roten Knochenmarks etc., die sich noch ohne Schranken zu vermehren befähigt gewesen wären, wenn sie nicht ihre Existenzbedingungen durch den Tod ihres Trägers verloren hätten. In derselben Lage aber haben sich ebensogut auch alle Eier und Samenfäden befunden, welche dem abgestorbenen Individuum noch angehört haben. Der von WEISMANN versuchte Gegensatz zwischen Soma und Keim- zellen läßt sich bei den Pflanzen und den meisten niederen Tieren gar nicht konstruieren. Denn soweit unsere Erfahrungen reichen, lassen sich dieselben durch Knospen, Knollen, Stecklinge etc., also durch einen Vorgang, den die Botaniker vegetative Fortpflanzung nennen, ins Unbegrenzte vermehren. Die hierzu dienenden Zellen aber können vom Soma und namentlich von anderen indifferenten Zellen desselben in keiner Weise getrennt werden. Wo bleibt ferner die von WEISMANN und anderen so stark betonte Besonderheit der Keimbahn, wenn überhaupt alle Zellen nach unserer schon gegebenen Begründung durch erbgleiche Teilung aus deni Ei ihren Ursprung nehmen ? Mit demselben Recht, wie eine Keimbahn, kann man, wenn man es für zweckmäßig und der Untersuchung wert hält, eine Drüsen-, eine Muskel-, eine Ganglienzellen- und allerhand andere Zellbahnen unterscheiden. Denn nichts ist bei dem gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse gewisser, als dab alle diese verschiedenen Zellenarten nach dem Grundsatz ‚Omnis cellula a cellula“ sich von der .befruchteten Eizelle unmittelbar durch Zellbahnen ableiten. Aller- dings ist es, wie übrigens auch bei der Keimbahn, gewöhnlich mit Schwie- rigkeiten verbunden, die Zellenfolge wirklich zu bestimmen, durch die der an sich unzweifelhafte Zusammenhang hergestellt wird. Auch können Eier und Samenfäden keinesfalls als undifferenziert bezeichnet und dadurch in einen Gegensatz zu den übrigen Zellen des Soma gebracht werden. Nur für ihre jüngsten, gewißermaßen noch embryonalen Stadien, für die Oogonien und Spermatogonien, würde die Bezeichnung anwendbar sein; im reifen Zustand aber sind sie in derselben Weise, wie Drüsen-, Muskel-, Ganglienzellen etc., durch Ar- 520 Zwölftes Kapitel. Erwerbung u. Vererbung neuer Arteigenschaften. beitsteilung sogar zu hochdifferenzierten Bestandteilen des Soma ge- worden. Es hat vielfacher Untersuchungen und kritischer Erwägungen namhafter Forscher (GEGENBAUR) bedurft, ehe die Zellnatur des Ei- dotters der Vögel erkannt wurde. Auch das Riesenkeimbläschen vieler Eier ist ein so hochgradig differenzierter Kern, daß es, um wieder zur Karyokinese befähigt zu werden, eine vollständige Rückbildung durch Auflösung der Kernmembran, Zerfall der Keimflecke, Verteilung des Kernsaftes, also eine durchgreifende Entdifferenzierung durchmachen muß. Ebenso sind die Samenfäden zur Erfüllung ihrer Aufgabe bei der Befruchtung in so weitgehender und eigenartiger Weise differenziert worden, daß sie in diesem Zustand überhaupt ihre Teilbarkeit verloren | haben. Sie sind auf das Protoplasma einer zweiten Zelle, des Eies, an- gewiesen, um wieder in ihrer Kernsubstanz teilbar zu werden. Nicht viel anders verhält es sich schließlich mit dem Gegensatz, auf welchen WEISMANN sonderbarerweise gekommen ist, indem er die Keimzellen für unsterblich, die Somazellen für sterblich erklärt. Denn einerseits erreichep nur sehr wenige Exemplare von unzähligen Milli- arden von Samentäden oder Pollenkörnern bei vielen Geschöpfen mit reichlicher Keimesproduktion das Ziel, durch Befruchtung eines Eies wieder ein zur Fortpflanzung gelangendes Individuum hervorzubringen. Alle übrigen gehen zugrunde, sie sterben ; und auch von den befruchteten Eiern erfahren die meisten bei vielen Pflanzen und Tieren das gleiche Schicksal. Wenn es irgendwo berechtigt ist, vom Zufall zu sprechen, so gewiß im vorliegenden Fall. Ist doch die Wahrscheinlichkeit für eine tierische oder pflanzliche Keimzelle, im Sinne von WEISMANN unsterblich zu werden, noch viel tausendma] geringer, als in der Lotterie das große Los zu gewinnen! f Auf der anderen Seite lassen sich Pflanzen und niedere Tiere, wie schon oben erwähnt, auf vegetativem Wege, soweit unsere Erfahrungen reichen, ins Unbegrenzte vermehren, so daß ein Unterschied zwischen Soma- und Keimzellen in bezug auf ihre Dauerfähigkeit in diesen Fällen nicht besteht. Der wahre Sachverhalt in der Sprache der Natur- wissenschaft ausgedrückt ist also der, daß die Potenz, ihre Art durch Teilung zu erhalten, von Haus aus jeder Zelle” als allgemeine Eigenschaft der lebenden Substanz zu- kommt, daß sie aber durch die verschiedensten Umstände beschränkt und gehemmt werden kann, und daß auch bei L; voller Potenz doch nur wenige Zellen im Mechanismus H der Natur der Vernichtung entgehen und zur Erhaltung der Art dienen. ee Dreizehntes Kapitel. UI. Der gegenwärtige Stand des Vererbungsproblems. Wenn wir nach der vorausgeschickten Kritik der Darwınschen und der WEısmAanNxschen Hypothese jetzt auf Grund des in ı2 Kapiteln zusammengestellten Tatsachenmaterials und der neuzeitlichen, höchst erfolgreichen Forschungsergebnisse eine andere Erklärung und Formu- lierung des Vererbungsproblems zu gewinnen versuchen, so ist nicht zu vergessen, daß sich dasselbe augenblicklich in einer tiefgreifenden Umwälzung, wie kein anderes Gebiet der Biologie, befindet. Von ana- tomischer und physiologischer Seite wird es seit einigen Jahren gleich- mäßig in Angriff genommen. Daher machen sich auf ihm auch Gegen- sätze bemerkbar, die auf den Verschiedenheiten der anatomischen und der physiologischen Arbeitsmethode und Denkweise beruhen. Es sind dieselben Gegensätze, die uns auch im Kapitel II bei der Erforschung der unbelebten Natur in den chemischen und phvsikalischen Disziplinen entgegengetreten sind. Wie man hier einerseits, von der Lehre von den Atomen ausgehend, die stoffliche Konstitution der Körper, ihre Ent- stehung aus elementaren Stoffteilchen und ihre Umwandlungen durch Neukombination und Umgruppierung derselben untersuchen, anderer- seits sich aber auch in der physikalischen Chemie mit ihren Wirkungs- weisen, mit ihren Reaktionen, mit ihren physikalischen Eigenschaften und Merkmalen und mit der Frage, wie diese wieder aus den Eigenschaften der Elemente ableitbar sind, beschäftigen kann, so stehen uns auch in der Erblichkeitslehre entsprechende Forschungswege offen und sind je nach Vorbildung und Neigung von einzelnen Forschern beschritten worden. Bei Vertretern beider Richtungen ?) ist hierbei nicht selten ein 1) Johannsen, W., Elemente der exakten Erblichkeitsiehre, 1. Aufl., Yena 1909. — Derselbe, Experimentelle Grundlagen der Descendenslehre: Variabilität, Ver- erbung, Kreusung, Mutation, in Kultur der Gegenwart, Teil III, Abt. IV, Allgem. Biologie, 1915. — Hertwig, Oscar, Der Kampf um Kernfragen der Entwicklungs- 522 Dreizehntes Kapitel. mangelndes Verständnis für die Methoden und Ergebnisse des von ihnen nicht gepflegten Forschungsgebietes zu beobachten. Für die anatomische Richtung gilt als sicherstes Fundament der Vererbungslehre die These, daß die Artzelle mit ihrer spezifisch organi- sierten Erbmasse (Idioplasma) die Anlage eines Lebewesens bildet. Vererbt wird daher, was an Anlagen in der Artzelle enthalten ist. Damit ist für den Morphologen die Existenz eines materiellen Trägers der Ver- erbung eine ebenso gesicherte Tatsache, wie für den Chemiker die stoff- liche Natur der von ihm untersuchten Körper. Von der physiologischen Richtung wird diese fundamentale Grundlage der Erblichkeitslehre mit ihren sich hieraus weiter ergebenden Folgerungen nicht immer nach Gebühr eingeschätzt. Wenn ich als Beweis hierfür einige Äußerungen von JOHANNSEN anführe, so berufe ich mich auf ihn, weil er einer der ersten und bedeutendsten Vertreter der physiologischen Schule ist und - als solcher Ansichten ausspricht, die auch sonst in der Literatur vielfach wiederkehren. So beanstandet er die Auffassung der Vererbung als einer „Übertragung“ und erklärt (1915, 1. c. p. 645), ‚daß die Biologie eigent- lich hier eine große Schuld hat, indem sie das Wort Erblichkeit oder Vererbung aus dem täglichen Leben nahm. Und dieses Wort bedeutet wahrlich eine „Übertragung“. Wir müßten somit eigentlich ein neues Wort für die biologische Erblichkeit ausfindig machen!“ Vom ana- tomischen Gesichtspunkt aber ist die althergebrachte Auffassung der Vererbung als einer Übertragung von der elterlichen auf die kindliche Generation nicht nur voll berechtigt, sondern könnte bei bildlicher Sprechweise gar nicht anders ausgedrückt werden. Denn zwischen Eltern und Kindern findet doch in des Wortes voller Bedeutung eine Übertragung materieller Teile durch die Keimzellen statt. Diese sind in jeder Beziehung das elterliche Erbe, aus dem sich wieder ein den Eltern gleichender, kindlicher Organismus durch Entwicklung bildet. Das Fehlen gegenseitigen Verständnisses in der morphologischen und physiologischen Behandlung der Vererbungslehre läßt sich auch noch an manchen anderen Äußerungen von JOHANNSEN in seinen Ele- und Vererbungslehre, Jena 1909. — Derselbe, Allgemeine Biologie, 1.—4. Au 4. Aufl., 1912, Kap. XIII, XXVI—-XAXVIII, XXX. — Baur, Erw., Einführung in die ex berimentelle Vererbungslehre, Berlin 1911. — Lang, Arnold, Experimentelle Vererbungslehre, 1914. — Plate, L., Vererbnngsiehre, Leipzig 1913. — Klebs, Über künstliche Metamorphosen. Abh. d. Naturf Ges. zu Halle, 1900. — Derselbe, Über die Nachkommen künstlich veränderter Blüten von Sempervivum. Sitzungsber. d. Heidelb. Akad. d. Wiss., 1909, math.-naturw. Kl. — Woltereck, Beitrag zur Analyse der „Vererbung erworbener Eigenschaften“; Transmutation und Präinduktion bei Daphnia. Verhandl. d. Deutsch. Zoolog. Gesellsch. ‚ 1911. — Weismann, Aug, Äußere Einflüsse als Entwicklungsreize, Fena 1894. . . Der gegenwärtige Stand des Vererbungsproblems, 523 menten der exakten Erblichkeitslehre (1909) und in seiner Abhandlung aus der Kultur der Gegenwart (1915) erkennen. ‚Wie auch die weitere Ausbildung der Cytologie‘, heißt es (1909, 1. c. p. 481), „‚die Beziehungen der Erblichkeitserscheinungen zu den cytologischen Entdeckungen formen wird, so kann vorläufig nicht auf cytologischem Grunde eine ‚Erblichkeitstheorie‘ aufgebaut werden, wie das auch GALToN treffend motiviert hat.‘ Und bald darauf fügt JOHANNSEN hinzu: ‚Aus der weiteren Entwicklung der allgemeinen physikalischen Chemie werden wohl hauptsächlich die Gesichtspunkte für Theorieen über Wirkungen chemischer Erblichkeitsfaktoren zu erwarten sein. Die Auffassung der Gene als Organoide, als Körperchen mit selbständigem Leben und dergleichen ist aber nicht mehr von der Forschung zu berücksichtigen. Voraussetzungen, welche eine solche Auffassung nötig machen sollten, fehlen gänzlich. Ein Pferd in der Lokomotive steckend als Ursache der Bewegung — um LanGes klassischen Beispieles zu gedenken — ist eine ebenso ‚wissenschaftliche‘ Hypothese als die Örganoidlehre zur ‚Erklärung‘ der Erblichkeit.‘‘ In direktem Gegensatz hierzu muß von der morphologischen Richtung in der Vererbungslehre an der von JOHANNSEN be- kämpften Organoidlehre festgehalten werden, da sie auf sicher begründeten Beobachtungstatsachen beruht. Denn die Substanz, welche alles ent- hält, was an erblichen Anlagen von den Eltern den Kindern überliefert wird, ist schon selbst ein Elementarorganismus, ist die als Ei oder Samen- faden differenzierte Artzelle. Ihre anatomische Analyse aber führt zu einer Reihe weiterer grundlegender Vorstellungen, die, aus Beobachtungs- tatsachen erschlossen, ebenfalls unter den Begriff der ‚„Organoidlehre‘“ fallen. Denn erstens kann die in der Artzelle gegebene Anlage nur durch einen Entwicklungsprozeß verwirklicht und in den ausgebildeten Or- ganismus übergeführt werden. Entwicklung aber beruht in erster In- stanz auf Vermehrung der Artzelle durch stets sich wiederholende Teilung nach vorausgegangenem Wachstum. Daher konnte der ausgebildete Organismus von diesem Gesichtspunkte aus als potenzierte Artzelle von mir (S. 130) bezeichnet werden. Ohne Berücksichtigung dieser funda- mentalen Tatsache der Entwicklung ist ein wissenschaftliches Ver- ständnis für alle Erscheinungen der Erblichkeit, welche mit Wachstum verbunden sind, überhaupt nicht möglich, wie die Geschichte der Bio- logie seit 500 Jahren in beredter Sprache lehrt. Indem JOHANNSEN dieser morphologischen Errungenschaft nicht Rechnung trägt, bezeichnet er als eine Schwierigkeit der physiologischen Theorie der Erblichkeit das Anwachsen der Gene, unter welchen er die physiologischen Erb- 524 Dreizehntes Kapitel. faktoren versteht (1909, p. 484 und 485). ‚Nur dies können wir sagen, daß die Gene in irgend einer Weise anwachsen müssen, um mit der Fort- pflanzung Schritt zu halten. Wie dieses ‚Anwachsen‘ gedacht werden soll, ist noch ganz unsicher; der suchende Gedanke, nach Vorgängen analoger Art greifend, heftet sich an Erscheinungen wie die von BAUR in so interessanter Weise studierten Propagationen des Panachure- kontagiums bei Abutilon Thompsoni u. a.“ Demgegenüber scheint mir das morphologische Studium der Vererbung auf seinem Gebiet wohl die Schwierigkeit „des Anwachsens erblicher Anlagen‘ durch die Entdeckung der Vermehrungsweise der Artzelle durch Teilung und durch die hierdurch erzielte Potenzierung der Anlage, sowie durch die Annahme einer Zusammensetzung des Idioplasma aus biologischen Teilkörperchen (Bioblasten) in vollkommen befriedigender Weise ge- löst zu haben. Zu beiden Annahmen hat die anatomische Untersuchüng der Art- zelle und die weitere Analyse der biologischen Erbmasse geführt. Ich erinnere nur an die im III. Kapitel (S. 100) besprochene Unterscheidung von Substanzen mit verschiedenem Wert als Vermittler der Erblichkeit, an die Erkenntnis, daß das Kernidioplasma sich gleichfalls wie die Zelle durch Wachstum und Teilung in äquivalente Tochterhälften vermehrt, daß die Chromosomen sich durch Spaltung ihrer Länge nach halbieren, und daß sich in der Zelle auch sonst noch Teilkörper, die mit Eigen- wachstum und Selbstvermehrung ausgestattet sind, anatomisch unter- scheiden lassen. Im Hinblick auf solche unzweifelhafte, durch Beobach- tung festgestellte Tatsachen erscheint denn auch die Hypothese wohl gerechtfertigt, daß das Idioplasma der Artzelle aus einem gesetz- mäßigen Verband kleinster, jenseits unseres Wahrnehmungsvermögens gelegener, mit Wachstum und Teilbarkeit begabter Substanzteilchen besteht, die man in anatomischer Hinsicht als elementare Erbeinheiten betrachten kann. Ob man dieselben Micellen, Bioblasten, Determinanten benennen will, ist an sich ganz gleichgültig. In welcher Weise allerdings N diese hypothetischen Teilchen bei der Erzeugung der sichtbaren Merk- male des entwickelten Organismus im einzelnen zusammenwirken,. entzieht sich zurzeit noch so vollständig unserer Erkenntnis, daß es uns sogar verfrüht erscheint, auch nur eine Hypothese darüber auf- zustellen. Die Abwege, auf welche hier die spekulative Phantasie des Naturforschers geführt werden kann, hat uns die vorausgeschickte Kritik von Darwıns Pangenesis und von WEISMANNS Architektur des Keimplasma gelehrt. In diesem Punkt befinde ich mich auch in voller Übereinstimmung mit JOHANNSEN, wenn er erklärt: „Man be- Der gegenwärtige Stand des Vererbungsproblems. 525 trachtet nicht mehr, wie es früher vielfach geschehen ist, die verschiedenen, mehr oder weniger klar hervortretenden einzelnen ‚Merkmale‘ (Einzel- charaktere, Einfacheigenschaften usw.) — und erst recht nicht die ein- zelnen Organe, Gewebsgruppen oder Zellen — als analytische Ein- heiten einer Organisation.“ In meinen Schriften habe ich an diesem Gedanken, den NÄGELI zuerst klar ausgesprochen hat, stets festgehalten und öfters betont (1909, 1. c. p. I5): „daß man in der Vererbungslehre mit dem Wort Anlage doch nicht mehr als die unbekannte, in der Beschaffenheit der Erbmasse gelegene Ursache oder den unbekannten Grund für eine Er- scheinung bezeichnet, welche im Verlauf des Entwicklungsprozesses in einer bestimmten Organisation des Entwicklungsproduktes mit Ge- setzmäßigkeit zutage tritt. So berechtigt es nun auch auf der einen Seite zu sein scheint, den unbekannten Grund in der materiellen Beschaffen- heit der Erbmasse zu suchen, so willkürlich und darum fehlerhaft würde es sein, zu glauben, daß er dann nur auf der Anwesenheit eines be- stimmten materiellen Teilchens, eines besonderen Bioblasten oder Determinanten etc. beruhen könne ; kann er doch ebensogut auch ent- weder in der besonderen Stellung eines Bioblasten im System der übrigen, oder in einer besonderen Kombination zweier oder mehrerer Bioblasten zu einem enger zusammengehörigen Komplex, überhaupt also in dem, was man als die Konfiguration des materiellen Systems oder einzelner seiner zusammengesetzten Teile bezeichnen kann, ge- geben sein.‘ „Für tiefere Einblicke auf diesem Gebiete fehlen dem Biologen leider noch die dem Vorgehen des Chemikers entsprechenden und gleichwertigen Methoden exakterer Forschung, trotz der neuen vielversprechenden Forschungswege, welche durch MENDEL und seine Nachfolger in der Vererbungslehre mit so reichem Erfolg eingeschlagen worden sind. Ersinnen lassen sich aber solche schwierigen Verhältnisse stofflicher Organisation nicht, wie es WEISMANN in seiner Architektur des Keimplasma versucht hat‘ (1909, 1. c. p. I6). „Wenn wir uns die Frage vorlegen, welche Vorstellung wir uns von dem Aufbau der Erbmasse aus elementaren Anlagen (Erbeinheiten) machen können, so ist von vornherein zu betonen, daß der Biologe zur- zeit noch nicht in der Lage ist, eine Hypothese auszuarbeiten, welche sich der Hypothese des Chemikers und Physikers von den Atomen und Molekülen an die Seite stellen ließe. Wir bewegen uns bei der Erörterung derartiger Fragen auf einem noch sehr dunklen Gebiete, etwa wie die Naturforscher des vorigen Jahrhunderts, als sie für den tierischen Körper einen Aufbau aus elementaren Einheiten (den Zellen) nachzuweisen 526 Dreizehntes Kapitel. versuchten. Naturgemäß wird die Gefahr, auf Abwege zu geraden, um so größer werden, je mehr man beim Aufbau einer solchen Hypothese auf das Spezielle einzugehen versucht.‘ Bei dieser Sachlage könnte man sich wohl fragen, welcher Nutzen der Wissenschaft aus einer solchen Hypothese erwachsen kann. Hierauf läßt sich antworten: das Idioplasma entspricht vermöge seiner Zu- sammensetzung allen Anforderungen zur Erklärung der Erblichkeit, ohne doch den Ergebnissen zukünftiger Forschung in irgendeiner Weise vorzugreifen. Es unterscheidet sich erstens von den Verbindungen der Chemie dadurch, daß es sowohl im ganzen als in den es aufbauenden elementaren Einheiten die Haupteigenschaften des Lebens, Eigen- wachstum und Vermehrung durch Teilbarkeit, besitzt und zur Erklärung des organischen Wachstums als Grundlage dienen kann. Zweitens ist es eine Substanz, die, wie NÄGELI treffend bemerkt hat, ‚durch die Zusammenfügung ihrer in beschränkter Zahl vorhandenen Elemente jede mögliche Kombination von Verschiedenheiten darstellen und durch Permutation in eine andere Kombination derselben übergehen kann.‘ Hierdurch wird es in der Theorie nicht nur begreiflich, wie die vielen Millionen von Artzellen nach ihrer erblichen Anlage voneinander ver- schieden sein können, sondern es läßt sich auch verstehen, daß die in allen Embryonalzellen durch erbgleiche Teilung ausgebreitete Substanz wegen ihrer komplizierten Zusammensetzung in der verschiedensten Weise auf die Entwicklungs- und Umweltsfaktoren reagieren kann und befähigt ist, bei der Entstehung aller möglichen histologischen Differen- zierungsprodukte den Anstoß zu den hierfür erforderlichen formativen Prozessen zu geben. Drittens endlich besitzt die Hypothese einen heu- ristischen Wert. Denn es ist wohl zu hoffen, daß wir in Zukunft durch vollkommenere mikroskopische Untersuchungen in die Genese der verschiedenen Protoplasmaprodukte, der Muskel-, Nerven-, Binde- gewebsfibrillen, der Drüsensekrete etc. und in die Rolle, welche hierbei „Leilkörperchen der Zelle‘ spielen, noch einen tieferen Einblick gewinnen werden. Versuchen wir jetzt, auch der physiologischen Richtung in der Vererbungslehre, die sich zur anatomischen Richtung, wie schon erwähnt, in manchem Gegensatz befindet, gerecht zu werden. Denn die Entwicklung der Organismen und die Vererbung sind, wenn wir nach den treibenden Kräften und Wirkungskreisen (oder wie man auch sagt, nach der Entwicklung der Funktionen) forschen, auch wichtige physiologische Probleme, geradeso wie chemische Verbindungen sich auch zum Gegenstand einer physikalisch-chemischen - Betrachtungs- Der gegenwärtige Stand des Vererbungsproblems. 527 weise machen lassen. Durch die als Mendelismus bezeichnete Forschung und durch die so begründete methodische Bastardanalyse, die uns schon im III. Kapitel beschäftigt hat, konnte die physiologische Richtung in der Vererbungslehre seit 15 Jahren einen großen und noch viel ver- sprechenden Aufschwung nehmen. Ihre Vertreter gehören daher auch . hauptsächlich der zum weiteren Ausbau der MEnDELschen Entdeckungen entstandenen Schule an, wie BATESON, BAUR, CASTLE, CORRENS, LANG u. a. Zur Charakterisierung ihres Standpunktes gegenüber dem Ent- wicklungsproblem halte ich mich vorzugsweise an die von JOHANNSEN und BAur gegebene Darstellung. Nach der Erklärung von JOHANNSEN (IQI5,1.c.p. 599) betrachtet „die nach Exaktheit strebende Erblichkeitsforschung als ihr Ziel, sämt- liche Lebensmanifestationen von den einfachsten chemisch-physiolo- gischen Vorgängen bis zu den festesten morphologischen Merkmalen des ausgeformten Organismus als Reaktionen und eben nur als Re- aktionen gegebener molekularer Konstitution mit gewissen temporären oder bleibenden Außenbedingungen‘“. ‚‚Bei jeder mehr als rein mor- phologisch-deskriptiven Betrachtung der Lebewesen‘, heißt es dann weiter, „muß daran festgehalten werden, daß alle Lebensäußerungen, auch die Ausformung der sich entwickelnden Organe oder Gewebe, in letzter Linie als Reaktionen der in den grundlegenden Gameten ge- gebenen ‚inneren Konstitution‘ auf die verschiedentlich wechselnden Faktoren des ‚äußeren Milieu‘ aufzufassen sind.‘ Daher will JOHANNSEN auch den fertigen Organismus, insofern er das Produkt einer individuellen Entwicklung ist, als das Resultat einer Serie von sukzessiven Reaktionen zu erklären versuchen. Er nimmt also, wenn ich ihn recht verstehe, * ‚die innere Konstitution‘ der grundlegenden Gameten für die Erblichkeits- forschung als etwas Gegebenes, nicht weiter zu Erforschendes an, ebenso wıe der Physiker die molekulare Konstitution einer chemischen Ver- bindung als etwas „Gegebenes‘‘ annehmen und gleichwohl ihre physi- kalischen Eigenschaften gegenüber den Faktoren der Außenwelt, ihre Schwere, Löslichkeits- und Kristallisationsverhältnisse, Wärmekapazität, Kohäsion etc. untersuchen kann. Wie jeder aus diesen Sätzen leicht ersehen wird, handelt es sich bei dem Programm der anatomischen und der physiologischen Behand- lung des Erblichkeitsproblems um zwei sehr verschiedene Aufgaben, die sich etwa wie diejenigen des Chemikers und des Physikers zueinander verhalten. Bei der einen Aufgabe will der Forscher einen tieferen Ein- blick in die Konstitution der Substanz, welcher die erblichen Eigen- schaften anhaften, und in ihre anatomischen Veränderungen gewinnen, 528 Dreizehntes Kapitel. unter denen sich der Übergang der uns im Keim nicht erkennbaren erblichen Anlagen zu den sich aus ihnen entwickelnden, sichtbaren Organisationen vollzieht. Durch die andere Aufgabe will er ergründen, wie aus den Reaktionsweisen der Artzelle den Faktoren der Außenwelt gegenüber der fertige Organismus mit seinen funktionellen Eigenschaften „als das Resultat einer Serie von sukzessiven Reaktionen entsteht‘. Im ersteren Fall handelt es sich ohne Frage um eine schon weiter durchgeführte und auf viel breiterer Grundlage ruhende Wissenschaft. Denn darüber, wie aus der Keimzelle als dem einfacheren der kom- pliziertere, fertige Organismus entsteht, wie also die erbliche Anlage in formaler Hinsicht verwirklicht wird, hat uns das Studium der Organo- genese und der Histogenese schon eine reiche und sichere Erkenntnis gebracht. Dagegen ist die Physiologie von der Entwicklung der Funk- tionen überhaupt noch kaum in Angriff genommen, und selbst in ein- fachen Fällen würde es nicht gelingen, ein späteres Stadium der Ent- wicklung als Folge definierbarer Wirkungsweisen des vorausgegangenen Stadiums, z. B. die Gastrula als Produkt von bestimmten Reaktionen der Blastula darzustellen. Ohne Zweifel handelt es sich hier um viel schwierigere Fragen der Wissenschaft, als sie die anatomische Analyse des Entwicklungsprozesses darbietet. Auch die physiologisehe Richtung der Vererbungslehre arbeitet zurzeit mit dem Begriff ‚der Erbeinheiten‘‘. Nach meinem Urteil scheint sich mir keine ganz klare Vorstellung mit der Verwendung des physio- logischen Begriffs verbinden zu lassen. In der neueren Literatur des Mendelismus hat JOHANNSEN das Wort ‚Gen‘ für Erbeinheit eingeführt. Er lrat es in Anlehnung an Darwıns Pangen gewählt, indem er die erste Silbe wegließ; er wollte durch dasselbe ‚das schlechte, mehrdeutige Wort ‚Anlage‘ ersetzen“. Ob hierdurch jedoch eine größere Klarheit wirklich erzielt ist, will mir zweifelhaft erscheinen. Schon durch die Entlehnung von Darwıns Pangenesis kann leicht ein Mißverständnis erweckt werden. Denn Darwıns Pangene oder Keimchen sind kleinste körperliche Elemente. Nun hat zwar JOHANNSEN wie DE VRIES als den guten Kern in Darwıns Pangenesis den Gedanken bezeichnet, daß in jeder Gamete sich materielle Repräsentanten aller Teile des Organismus finden; er selbst ist aber weit davon entfernt, sich denselben zu eigen zumachen, und betont demgemäß an verschiedenen Stellen seiner Schriften, daß er mit dem Begriff „Gen“ nicht die Vorstellung von etwas Körperlichem verbinden will. ‚Die Gene‘, bemerkt er (1909, 1. c. p. 482), „sind nicht als Träger von erb- lichen Eigenschaften aufzufassen‘, oder auf p. 485: „Die Auffassung Der gegenwärtige Stand des Vererbungsproblems, 529 der Gene als Organoide, als Körperchen mit selbständigem Leben u. dgl. ist nicht mehr von der Forschung zu berücksichtigen‘ etc. Zugleich aber erklärt sich JOHANNSEN außerstande, seine negative durch eme positive Begriffsbestimmung zu ersetzen. Denn er sagt hierüber p. 482: „Was nun aber die ‚Gene‘ oder ‚Erbeinheiten‘ eigentlich sind, ist eine noch ganz offene Frage‘ und ebenso auf p. 484: ‚Die ‚eigentliche‘ Natur, das ‚Wesen‘ der genotypischen Grundlage der Organismen läßt sich also vorderhand gar nicht näher eruieren. In welcher Weise die ver- schiedenen genotypischen Einzelfaktoren, die Gene, wie sie wohl am ein- fachsten genannt werden können, wirken und zusammenwirken, wann Reaktionen sich abspielen, die sich uns als Eigenschaften darstellen, wissen wir nicht etc,“ Hier könnte durch die Andeutung, daß Gene wirken und zusammenwirken sollen, in vielen Lesern doch die Vor- stellung, daß es sich um etwas Körperliches handelt, wachgerufen werden um so mehr, als ihnen zugleich die Eigenschaft beigelegt wird, „daß sie in irgendeiner Weise anwachsen müssen, um mit der Fortpflanzung Schritt zu halten.‘ Das Unbestimmte im Begriff ‚Gen‘ tritt auch bei anderen Forschern der modernen Erblichkeitslehre hervor. So bemerkt LAnG in seinem soeben erschienenen Werk (1914, p. 35): „Die Bezeichnung ‚Gen‘ soll gänzlich frei von jeder spezielleren stofflichen oder dynamischen Deutung sein, nur anzeigen, daß ‚etwas‘ in den Gameten, bezw. in der Zygote vorhanden ist, was den Charakter des sich entwickelnden Organismus wesentlich bestimmt.“ Aber auch LanG neigt bei Abgabe dieser Er- klärung doch zu der Vorstellung, daß das Gen etwas Mate- rielles ist. Denn er bemerkt gleichzeitig: ‚Bei aller Vorsicht, die in der Tat geboten erscheint, ist doch zu sagen, daß die Annahme immer wahrscheinlicher wird, daß die Gene ausschließlich oder vorwiegend in der chromatischen Substanz der Zelle enthalten oder an dieselbe gebunden sind, wobei wiederum die Erkenntnis von ungeheuer weit- tragender Bedeutung ist, daß die chromatische Substanz durch während der Zellteilung erkennbare Einheiten, selbständige Chromatinindividuen, die Chromosomen, repräsentiert wird, die aber sicher nicht den Erb- einheiten entsprechen, sonderen deren mehrere bis viele enthalten‘ etc. Nicht selten findet man in der neueren Literatur die Aufgabe der Mendelforschung als eine ‚Eigenschaftsanalyse des Organismus‘ bezeichnet. Ihr Ziel sei, die ausgebildeten Merkmale oder Eigenschaften auf „Elementareigenschaften‘‘ der Geschlechtszellen, auf die „unit characters‘ der englischen Forscher zurückzuführen und aus ihnen zu erklären. In diesem Sinne wird auch von manchen Seiten das von O. Hertwig, Das Werden der Organismen. ». Aufl. 34 =29 Dreizehntes Kapitel, JOHANNSEN geprägte. Wort „Gen‘ als Bezeichnung für die zu erforschen- den „Elementareigenschaften‘‘ gebraucht. ‚‚Ein scheinbar einheitlich entwickeltes Merkmal, eine Außeneigenschaft‘‘ — bemerkt Lang [l. c. p. 35) — „kann durch mehr als ein Gen bestimmt werden, und umgekehrt können mehrere Außenmerkmale auf einem Gen beruhen.‘‘ Bei solchen Redewendungen ist indessen nicht zu übersehen, daß niemand an- geben kann, welche Vorstellung eigentlich mit dem Begriff einer Ele- mentareigenschaft zu verbinden ist. In dieser Hinsicht stimme ich ganz mit JOHANNSEN überein, wenn er betont (I909, l. c. p. 393): „Es wird klarer und klarer, daß es unmöglich ist, bei bloßer Inspektion zu ent- scheiden, was ‚Einzeleigenschaft‘ genannt werden soll oder nicht. Wie hier schon öfters gesagt wurde, ist die Kreuzungs- analyse nur eine relative; viele vermeintlich einfache Eigenschaften haben sich als komplex gezeigt, und es ist eigentlich, wie es BAUR sehr richtig pointiert, irrelevant, von Einzeleigenschaften über- haupt zu reden.‘ JOHANNSEN wendet sich daher auch gegen die Meinung, daß das Wort ‚„Gen‘ der Terminus technieus für eine Elementareigenschaft sein soll, ebenso wie er sich gegen ihre stoffliche Natur ausspricht. Auf diese Weise läßt sich also das Wort ‚Gen‘ weder in morpho- logischer noch in physiologischer Hinsicht näher definieren. ‚Gen‘ heißt es im oft genannten Werk von JOHANNSEN (I909, 1. c. p. 394), „sind nur die Einheiten, mit denen man bei den Erblichkeitsstudien zu operieren hat‘. Hierzu wird aber an einer anderen Stelle bemerkt: (p. 482): „was die Gene oder Erbeinheiten eigentlich sind, ist eine noch ganzsoffenerEragez Bei dieser Sachlage scheint mir die Behandlung des Erblichkeits- problems vom morphologischen Standpunkt aus in der Annahme einer Substanz von komplizierter biologischer Struktur, die ich nach dem Vorgang von NÄGELI als Idioplasma bezeichnet und in den Kern ver- legt habe, jedenfalls zu bestimmteren Vorstellungen und Fragen zu führen, als die physiologische Behandlung. Das Verhältnis ist ein ähn- liches wie in der Chemie zwischen der chemischen und der physikalischen Erklärung einer Verbindung. Ich gehe hierbei auf einen von BAUR ge- brauchten, von LAnG (1914, l. c. p. 477) erwähnten Vergleich ein. Der durch seine Mendelforschungen sehr verdiente Botaniker läßt „zwischen den Erbeinheiten, die durch die Bastardanalyse erkennbar Z\ werden‘, und den mit den Sinnen wahrnehmbaren Außeneigenschaften: eines Organismus „ähnliche Beziehungen bestehen, wie etwa zwischen dem molekularen Aufbau, der chemischen Formel, irgendeines u, u Der gegenwärtige Stand des Vererbungsproblems. 531 Stoffes und dessen Eigenschaften wie spezifisches Gewicht, Geruch, Farbe, Geschmack usw. ‚Wenn man dies im Auge behalte‘, findet es BAUR ‚nicht weiter auffällig, daß ein und dieselbe Erbeinheit eine ganze Reihe von verschiedenen Außeneigenschaften be- einflußt‘ ; denn ebenso werde ja z. B. „durch Einführung eines Wasser- stoffatoms in das Benzolmolekül nicht bloß eine Eigenschaft des Benzols, etwa sein Geruch, verändert, sondern sehr zahlreiche Eigenschaften“. Wenn der Vergleich zutreffend sein soll, muß Baur sich seine Erb- einheiten, obwohl er es nicht direkt sagt, als materielle Teilchen irgend- einer Art vorstellen, wie es doch die mit ihnen verglichenen Moleküle chemischer Verbindungen sind. Nun ist es nicht zu bezweifeln, daß die Chemie als morphologische Wissenschaft in der Analyse der Sub- stanzen einen hohen Grad von Vollkommenheit erreicht hat, während die physikalische Chemie zwar die durch unsere Sinne wahrnehmbaren Eigenschaften der Substanzen zum Teil auf das Genaueste ermitteln, aber nicht erklären kann, in welchem ursächlichen Zusammenhang diese erkennbaren Außeneigenschaften mit der Zusammensetzung der Moleküle aus den sie aufbauenden verschiedenen Atomen stehen, oder gar wie sie sich von den Elementareigenschaften der Atome oder von den Atomkräften ableiten lassen. Ich kann nur immer wieder im Hin- blick auf derartige wissenschaftliche Ziele auf den früher (S. 48) zitierten Ausspruch von NERNST verweisen. Wenn man sich in der Erblichkeitslehre eines möglichst indiffe- renten Wortes bedienen will, das weder mit morphologischen noch physio- logischen Hypothesen verknüpft ist, so scheint mir der gute, philo- sophische Begriff der Anlage am wenigsten Mißverständnissen aus- gesetzt zu sein; denn er bringt doch nur die einzelnen Stadien eines Entwicklungsprozesses zueinander und zu ihrem Endergebnis in einen rein logischen Zusammenhang als Grund und Folge (vgl. S. 532). Er kann daher bei seiner Indifferenz sowohl in anatomischer als auch in physiologischer Beziehung gleich gut gebraucht werden. Im Hinblick auf die verschiedenartigen Aufgaben und Methoden der beiden Richtungen der Vererbungslehre, die noch in den Jugend- jahren ihrer Entwicklung stehen, werden beide voraussichtlich ihre selbständigen Wege in der nächsten Zukunft gehen. Ich würde es ebenso wie JOHANNSEN für verfehlt halten, wenn jemand ein Chromosom oder einen Teil desselben zum Träger irgendeiner späteren Eigenschaft machen wollte, wie schon aus meiner Kritik von Darwıns und WEISMANNS Hypothesen klar hervorgeht. Fällt es doch auch dem physikalischen Chemiker nicht ein, beim Wasser, obwohl es nur aus 2 Elementen zu- 34° 532 Dreizehntes Kapitel. sammengesetzt ist, eines derselben für eine bestimmte Eigenschaft verantwortlich zu machen oder für den süßen Geschmack des Bleizuckers nach einem Träger in bestimmten Atomen seiner Elementarformel zu suchen. Selbständige Entwicklung der beiden Richtungen der Erb- lichkeitslehre schließt jedoch keineswegs aus, daß nicht die eine mit der anderen in möglichst inniger Fühlung bleiben sollte, um Anregungen für weitere Forschung zu gewinnen und Nutzanwendungen zu machen, wo sich Berührungspunkte darbieten. Daß es an solchen nicht fehlt, wurde schon früher nachgewiesen (S. I0I—II5). Ich erinnere an die Lehre von den Eigenschaftspaaren in den MENDELSchen Schemata der Bastardverbindungen und an die Äquivalenz der männlichen und der weiblichen Kernsubstanzen oder an MENDELs Spaltungsregeln und an die Reduktion -bei der Gametenbildung und die durch sie herbei- geführte Entstehung von Halbkernen, Auf einen neuen Berührungspunkt, der zur Aufklärung strittiger Fragen der Vererbungslehre dienen kann, will ich jetzt noch eingehen. Wie im vierten Kapitel an Beispielen genauer auseinandergesetzt wurde, kann die in der Artzelle gegebene Anlage, welche der Ausgangspunkt aller Erblichkeit ist, nur mittels eines Systems von Bedingungen schritt- weise entwickelt werden. Jeder Schritt ist ohne von außen kommende realisierende Faktoren unmöglich. Mit jedem Schritt in der Entwicklung vorwärts wird die an ihrem Anfang nur als Artzelle gegebene Anlage eine andere und reichere, — als Zellenhaufen, als Keimblase, als Gastrula etc., — und zwar in doppelter Hinsicht, einmal durch die Potenzierung der Artzelle, zweitens durch den Hinzutritt und die Aufnahme realisierender Faktoren, ohne die ja überhaupt nichts geschehen kann. Da die letzteren bei normalem Geschehen mit der- selben Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit wie die im befruchteten Ei gegebenen inneren Faktoren bei der Entwicklung in Wirksamkeit treten, hat man sie von philosophischer Seite auch der inneren, als die äußere Anlage oder dem inneren als den äußeren Grund des Geschehens gegenübergestellt. Beide Konten sind im Entwicklungsprozeß untrennbar in der Weise mit- einander verbunden, daß von dem Konto der äußeren immer mehr auf das Konto der inneren Anlagen abgeschrieben wird. Wie Kuno FISCHER mit Recht in seiner Logik betont hat, ist es für das Denken sehr wichtig, den Begriff der Bedingung in seiner Gewalt zu haben. ‚Gerade in dem Gebrauch dieses Begriffs unterscheide sich G Der gegenwärtige Stand des Vererbungsproblems. 533 für den Kenner sehr genau das korrekte Denken von dem inkorrekten.“ „Ohne inneren Grund (Anlage) folgt nichts, ebensowenig ohne äußere Gründe. Erst aus der Vereinigung beider ergibt sich unausbleiblich die Folge. Darum ist jede Begründung einseitig, die entweder nur innere oder nur äußere Gründe (nur Anlage oder nur Bedingungen) zu ihrer Richtschnur nimmt.‘ Daß DAarwın und WEISMANN (siehe S. 509—515) in die an erster Stelle aufgeführte Einseitigkeit in ihren Vererbungs- theorieen verfallen sind, ist schon bei verschiedenen Gelegenheiten von mir nachgewiesen worden. Bei dieser Sachlage, bei dem untrennbaren Zusammenhang, der zwischen den inneren Faktoren oder der Anlage im engeren Sinn und den Bedingungen oder den realisierenden Faktoren besteht, wird es verständlich werden, daß es nicht leicht, wenn nicht überhaupt unmöglich ist, beide rein auseinander zu halten und näher zu bestimmen, inwieweit und in welcher Weise denn nun eigentlich der fertig gebildete Organis- mus mit den uns sichtbaren Artmerkmalen in der Organisation der Artzelle (in ihrem Idioplasma) als Anlage präformiert ist oder was man bei physiologischer Betrachtung überhaupt unter Vererbung von Merk malen und Eigenschaften zu verstehen hat. Da es nicht mehr möglich ist, nach dem als falsch erwiesenen Verfahren von DArwIn und WEIS- MANN alle Merkmale des werdenden und des fertigen Organismus als Erbstücke in der Form von Keimchen oder Determinanten in die Art- zelle hineinzuschachteln und so zwar eine scheinbare, aber logisch falsche Erklärung zu geben, wird ohne Frage der Begriff der Anlage und der Erblichkeit für den Forscher schwieriger zu handhaben; er hat viel von der Bestimmtheit verloren, die ihm von Darwın und WEISMANN nach dem Vorbild der alten Evolutionisten gegeben worden ist und der auf viele so bestechend gewirkt hat. Was sollen wir z. B. — um uns gleich an den Erscheinungen der Natur selbst über die genannten Schwierigkeiten zu verständigen, als erbliche Merkmale bei den im VIII. Kapitel besprochenen Varianten der Species bezeichnen, die je nach den äußeren Faktoren, die während der Entwicklung eingewirkt haben, ein so verschiedenartiges Bild dar- bieten? Sollen wir bei den Standortsmodifikationen von Hieracium die Merkmale der alpinen oder die Merkmale der im Flachland gewach- senen Form als die Ausführung erblicher Anlagen betrachten ? Sollen wir beim Saisondimorphismus die Sommer- oder die Winterform als die ererbte bezeichnen; und wie sollen wir uns im Falle von Primula sinensis oder von dem mit rotem Pfeffer gefütterten Kanarienvogel verhalten? In der Tat sehen wir, daß in der Literatur eine offenbare 534 Dreizehntes Kapitel. Unsicherheit in der Beurteilung und noch mehr in der Erklärung ne Tatbestände bei namhaften Forschern herrscht. Die Unsicherheit tritt schon bei NÄGELI, dem Begründer der Idio- plasmatheorie, hervor. In seinem Werk ‚Über die mechanisch-physiolo- gische Theorie der Abstammungslehre‘‘ äußert er sich in eingehender Weise über die hier aufgeworfene Frage, die er ‚als einen der wunden Punkte in der Methode der heutigen Abstammungslehre‘“ bezeichnet. An einer Stelle {l. c. p. 263), die ich ihrer Wichtigkeit wegen wörtlich wiedergebe, heißt es: „Wie der Rassenbegriff nur dann deutlich und rein hervortritt, wenn man von ihm die vorübergehenden Merkmale ausscheidet, welche durch Ernährung und Klima unmittelbar hervorgebracht werden, so verhält es sich auch mit dem Begriff der Varietät; von demselben muß alles nichtvererbbare ausgeschlossen werden. Die wirklichen Varietätsmerkmale lassen sich nur dann sicher erkennen, wenn eine natürliche Form unter die verschiedensten äußeren Verhältnisse ge- bracht wird. Nur die be; einer solchen Behandlung konstant bleibenden Eigenschaften gehören der Varietät an; alle sich verändernden Eigen- schaften sind als Ernährungs- und Standortsmodifikationen zu elimi- nieren.““ „Neben Rassen und Varietäten muß also noch eine Kategorie von Formen unterschieden werden, die durch nicht erbliche Merkmale charak- terisiert ist, und die ich einstweilen in Ermangelung ‚eines anderen Wortes mit der bisher bereits gebrauchten Benennung Modifikation bezeichnen will. Die Modifikationen werden durch verschiedene äußere Einflüsse, durch Nahrung, Klima, Reize hervorgebracht und sind vor- züglich Standorts-, Ernährungs- und krankhafte Modifikationen. Sie bestehen in Erscheinungen, die am Individuum entstehen und wieder vergehen oder, wenn sie ihm bis zu seinem Ende anhaften, doch nicht auf die Kinder übertragen werden. Kommen sie auch den Kindern zu, so ist dies nicht Folge der Vererbung, sondern weil sie in ihnen durch die nämlichen Ursachen, wie in den Eltern, erzeugt werden.“ R „Die Modifikation unterscheidet sich also dadurch von der Varietät und Rasse, daß sie nicht erblich ist. Sie hat Bestand, so lange sie sich ä unter den nämlichen äußeren Verhältnissen befindet, we.l diese Einflüss z in jeder ÖOntogenie wieder die nämlichen Merkmale ee Es ist dies aber keine Konstanz im naturwissenschaftlichen Sinne; in das Idioplasma wird nichts Erbliches aufgenommen, und wenn die Sippe unter andere Einflüsse kommt, ist ihr daher von den Wirkungen der früheren Einflüsse nichts zurückgeblieben.‘ Der gegenwärtige Stand des Vererbungsproblems. 535 Die von NÄGELI vertretene Auffassung kann wohl auch jetzt noch als die herrschende bezeichnet werden. So hat sich in ihrem Sinn noch kürzlich PLATE in seiner Vererbungslehre ausgesprochen. Auch er will an dem Gegensatz zwischen erblichen und nichterblichen Eigenschaften festhalten, von denen die einen nach der Terminologie von WEISMANN durch die Determinanten des Keimplasma hervorgerufen werden und daher unter den verschiedensten äußeren Verhältnissen wiederkehren, ‚während die anderen allein oder überwiegend durch die äußeren Reize erzeugt werden und daher in ihrem Auftreten von diesen abhängen. Alle nichterblichen Eigenschaften nennt PLATE, um einen kurzen präg- nanten Ausdruck zu haben, Somationen, die erblichen dagegen Mu- tationen. Er hält die Unterscheidung zwischen erblichen und nicht- erblichen Merkmalen für die Medizin und Landwirtschaft, sowie in ‚deszendenz-theoretischer Hinsicht für so wichtig, daß man sie nicht ver- ‚wischen sollte; er gibt aber gleichzeitig doch zu, daß die Gegensätze nicht völlig scharf sind, da die Gene zu ihrer Betätigung realisierende Faktoren nötig haben, also nicht völlig unabhängig von der Außenwelt sind. PLATE spricht sich trotzdem gegen eine von KLEBS, WOLTERECK und Baureingeführte Betrachtungsweise aus, weilsieeine AufhebungderGegen- sätze „erblich“ und „nichterblich‘ zur Folge habe, während „die Gegen- sätze zweifellos in der Natur existieren und eine enorme Rolle spielen‘. Wenn wir uns den von PLATE bekämpften Forschern zuwenden, so suchen dieselben in den Begriff der Erblichkeit den Einfluß der äußeren Faktoren mitaufzunehmen und zwar auch in der Absicht, unklare Vor- stellungen, die schon viel Unheil angerichtet haben, auf diese Weise aus dem Wege zu räumen. Indem ich mich an die kurzgefaßten Darlegungen von BAUR halte, so ist nach seiner Definition in Übereinstimmung mit JOHANNSEN ‚‚das, was eine Spezies charakterisiert und was vererbt wird, stets nur eine bestimmte spezifische Art und Weise der Reaktion auf Außenfaktoren. Das Resultat der Reak- tion, d.h. die äußeren Eigenschaften eines jeden einzelnen Individuums hängen infolgedessen von zwei Dingen ab, erstens von der spezifischen ererbten Reaktionsweise der ‘Spezies, zu der dieses Individuum gehört, und zweitens von den Außenbedingungen, unter denen sich das betref- fende Individuum entwickelt hat.‘ Demnach ist das, was wir als äußere Eigenschaften mit unseren Sinnen wahrnehmen, nur das Re- sultat einer spezifischen Reaktion auf die zufällige Konstellation von Außenbedingungen, unter denen das untersuchte Individuum sich gerade entwickelt hat. 536 Dreizehntes Kapitel. Zur Erläuterung seiner Definition an einem bestimmten Beispiel bedient sich BAUR der schon früher (S. 306) erwähnten Primula sinensis rubra. Diese vererbt nicht eine bestimmte Blütenfarbe, sondern eine bestimmte Weise, auf die jeweiligen Einflüsse mit der einen oder der anderen Färbung zu reagieren, also bei 20° rote, bei 30° weiße Blüten zu bilden. Diese Reaktionsweise ist das vererbbare Merkmal, das sie von anderen Primelrassen unterscheidet, und nicht die Farbe. ‚Wenn z. B. Primula sinensis rubra auf Kultur bei 20 ' mit der Bildung von roten, auf Kultur bei 30° mit der Bildung von weißen Blüten, Primula sinensis alba dagegen auf Kultur bei 20° sowohl wie auch bei 30° mit weißen Blüten reagiert, so ist das konstante, unterscheidende Merkmal dieser beiden Rassen nicht ihre Farbe, sondern ihre spezifische charakteristische Art, auf die Temperatur und auf andere Außeneinflüsse mit der Blüten- farbe zu reagieren. Und ebenso sind nicht eine bestimmte Schwanz- länge, bestimmte Dichte der Behaarung, bestimmte Länge der Kiefern usw. die vererbbaren, für eine gewisse Mäuserasse charakteristischen Merkmale, sondern vererbt wird auch hier nur eine bestimmte typische Reaktionsfähigkeit auf die Außenbedingung.“ Nach dieser von KLEBS, WOLTERECK und BAURr vertretenen Auf- fassungsweise besteht der prinzipielle Unterschied zwischen Modifi- kationen und Mutationen etwa darin: die Modifikationen beruhen auf Unterschieden, die bei Keimzellen mit gleichartiger ‚Reaktionsnorm“ durch die Einwirkung verschiedenartiger äußerer Faktoren verursacht werden; sie sind nicht erblich. Mutationen dagegen entstehen durch eine Änderung oder Verschiebung der bisherigen konstanten typischen Art, auf Außeneinflüsse zu reagieren; also sind sie erblich. Die von mir zum Teil mit BAurs eigenen Worten wiedergegebenen Betrachtungen und Definitionen verdienen alle Beachtung. Sie berühren in der Tat einen schwachen Punkt in der von NÄGELI, WEISMANN, PLATE u. a. eingenommenen Stellung und überhaupt eine Unklarheit in dem populären Ausdruck: „eine erbliche Eigenschaft‘ oder „die Vererbung einer Eigenschaft‘. Denn bei logischer Prüfung kann eine be- stimmte, uns wahrnehmbar gewordene Eigenschaft eines ausgebildeten Organismus überhaupt nicht als solche durch die Keimzelle vererbt werden; sondern es wird, wenn wir uns wissenschaftlich genau ausdrücken wollen, nur die Anlage, eine solche wieder hervorzubringen, vererbt. Diese korrekte Fassung bedeutet aber etwas ganz anderes als der gebräuchliche Ausdruck. Denn die in der Keimzelle gegebenen erblichen Anlagen einer ÖOrganismenart be- Fr ) u r x Yz Der gegenwärtige Stand des Vererbungsproblems. 537 dürfen, um zu sichtbaren Eigenschaften und Merkmalen zu werden, noch der Inszenierung durch den Entwicklungs- prozeß unter Beihilfe der Außenwelt. Zu den erblichen Faktoren der Artzelle müssen sich noch zahlreiche äußere oder realisierende Faktoren hinzugesellen, um gemeinsam durch einen Entwicklungsprozeß das mit sichtbaren Merk- malen ausgestattete Lebewesen zu verwirklichen. In welcher "Weise und in welchem Maße aber die erblichen und die äußeren, der Veränderung unterworfenen Faktoren zum Endresultat beitragen, entzieht sich zurzeit vollständig unserer Kenntnisnahme. Nur das wissen wir, daß beide gleich notwendig sind. Daher ist es von vornherein logisch unrichtig, zu sagen, wenn es auch gewohnheitsgemäß geschieht, daß die Kinder irgendein Merkmal von einem Elter ererbt haben; denn ererbt haben sie nur eine im Keim gegebene Anlage, die unter bestimmten Bedingungen wieder zur Entstehung eines elterlichen Merkmals führen kann. Wer sich mit den Erblichkeitsfragen beschäftigt, sollte nicht ver- gessen, daß mit dem Begriff der erblichen Anlage bestimmter Eigen- schaften immer die Einschränkung oder der Vorbehalt verbunden ist, daß die Anlage durch Veränderungen des Entwicklungsprozesses in verschiedener Weise realisiert werden kann und dadurch ein Endprodukt liefert, das anstatt der erwarteten mehr oder minder modifizierten Eigen- schaften darbietet. Es liegt hier klar auf der Hand, daß in beiden Fällen die durch die Artzelle vererbte Anlage die gleiche ist, nur ihre Inszenierung hat sich, um in dem schon gebrauchten Bild zu bleiben, geändert. Es ist daher logisch nicht richtig, nur in der einen Art des Endproduktes den Ausdruck der Erblichkeit erblicken zu wollen, Bei dieser Stellungnahme können wir mit der Antwort auf die früher (S. 533) aufgeworfenen Fragen nicht länger zweifelhaft sein. Wir werden bei den Standortsmodifikationen weder die Merkmale der alpinen noch die Merkmale der im Flachland gewachsenen Form, beim Saisondimorphismus weder die Merkmale der Sommer- noch der Winter- form, bei der Primula sinensis weder die rote noch die weiße Blüten- farbe und beim Kanarienvogel weder die gelbe noch die durch Fütterung mit Pfeffer hervorgerufene rötliche Befiederung in einseitiger Weise als den ausschließlichen Ausdruck erblicher Anlagen bezeichnen. Denn die einen wie die anderen beruhen auf der gleichen erblichen Basıs, sie sind aus einem und demselben Idioplasma, oder in der Sprache der Mendelforscher aus den gleichen Genen hervorgegangen ; nur die defini- 338 ‘ Dreizehntes Kapitel. tive Ausführung ist beim Entwicklungsprozeß infolge der ungleichen Konstellation äußerer Faktoren eine verschiedene geworden. Bei der von mir durchgeführten Definition macht die scharfe Unter- scheidung des Begriffes Modifikation und des Artbegriffes nicht die geringste Schwierigkeit. Denn die Arten unterscheiden sich ja durch Verschiedenheit in der spezifisch-biologischen Struktur ihres Idioplasma voneinander, in der Organisation der Artzelle. Daher haben wir auch kein Bedenken getragen, die Arten des LınnEschen Systems in noch weiter untergeordnete Gruppen, in elementare und in MENDELsche Arten und in JOHANNSENS reine Linien zu zerlegen, sowie sich in irgend- einer Richtung der Beweis führen ließ, daß sich eine Gruppenbildung auf Grund geringer Verschiedenheiten in der erblichen Beanlagung (verschiedene Zahl und Art der erblichen Faktoren, verschiedene Zu- sammensetzung des Idioplasma der Artzellen) durchführen ließ. Das Vorhandensein der geringsten konstant auftretenden erblichen Anlage bei einer Anzahl von Individuen berechtigt uns, sie im System von anderen Individuen, die diese Erbeinheit nicht besitzen, als eine besondere Gruppe abzutrennen. Die Differenzen können dabei so geringfügige sein, daß sie vom Laien überhaupt nicht wahrgenommen oder gewöhnlich über- sehen zu werden pflegen. Im vollsten Gegensatz hierzu stehen die Modi- fikationen. Die Vereinigung der verschiedensten Formen unter einen gemeinsamen Artbegriff wird dem Laien vielleicht auf den ersten Blick unverständlich und widerspruchsvoll erscheinen; sie ist aber nur die konsequente Durchführung ein und derselben logischen Erwägung, die nicht die Gleichheit der äußeren Erscheinungsformen, sondern die Gleich- heit der Abstammung von identischen Keimzellen oder die Gleichheit der erblichen Veranlagung (des Idioplasma) zum obersten Einteilungs- prinzip im System der Organismen gemacht hat. Durch Prägung des Wortes ‚Artzelle‘‘ habe ich demselben in meiner Allgemeinen Biologie zum ersten Mal einen scharfen und leicht faßlichen Ausdruck gegeben. Trotzdem zwei oder mehr systematisch zusammengehörige Modifika- tionen einander sehr fremd aussehen und sich in sehr vielen Merkmalen oft scharf unterscheiden, so gehören sie doch nach dem genetischen Einteilungsprinzip zusammen, weil sie aus derselben Artzelle hervor- gegangen sind, also ihrem Idioplasma und ihren Anlagen nach gleich sind und sich daher auch ineinander umwandeln lassen. Man vergesse «och nicht, daß die aufeinander folgenden Stadien eines Entwicklungs prozesses (menschliche Embryonen mit Kiemenspalten, Eihäuten und Placenta) noch viel größere Formdifferenzen untereinander und mit «lem Endprodukt verglichen, darbieten. Im Zweifelsfall entscheidet Der gegenwärtige Stand des Vererbungsproblems. 539 über die Zusammengehörigkeit das Experiment, die Züchtung unter verschiedenen Kulturbedingungen in aufeinander folgenden Gene- rationen. Genau genommen bereiten für die Feststellung des Artbegriffs die Modifikationen keine größere Schwierigkeit, als in früherer Zeit die Tierarten mit einem ausgesprochenen Generationswechsel, wie die Hydromedusen, oder viele Familien von Eingeweidewürmern, die Ce- ‚ stoden z. B. Auch hier erscheinen im Entwicklungszyklus der Art zwei miteinander in einem Wechsel stehende ausgeprägte Formen, wie der Hydroidpolyp und die Meduse oder der Blasen- und der Band- wurm, so ungleich im Äußeren, daß sie vom Systematiker meist zu ganz verschiedenen Familien auf Grund ihrer äußeren Unähnlichkeit gerechnet ‚ wurden, bis sich erst beim Studium ihrer Entwicklung allmählich die | Erkenntnis durchbrach, daß, was äußerlich so verschieden erscheint, ' doch durch gemeinsame Abstammung innerlich zusammengehört, und daß es sich nur um verschiedene Erscheinungsformen im Entwicklungs- prozeß derselben Artzelle und desselben Idioplasma handelt. Aus logischen Gründen erscheint es uns nicht zulässig, beim Ver- gleich der einzelnen Modifikationen einer Pflanzen- oder einer Tier- ‚spezies nach dem Vorschlag von NÄGELI und PLATE erbliche und nicht- erbliche Merkmale und Eigenschaften zu unterscheiden, wie es ja auch bei den verschiedenen Formen des Generationswechsels nicht geschieht. Denn es handelt sich doch, wie schon gesagt, nur um verschiedene Re- , aktionsweisen ein und desselben Idioplasma gegenüber den äußeren Fak- toren. Wenn man eine Unterscheidung machen will, dann ist es richtiger und schließt eine irrtümliche Auffassung aus, wenn man anstatt dessen von konstanten und von variabelen Eigenschaften redet. Denn darin allerdings unterscheiden sich die einzelnen Spezies von- einander, daß einige in ihren Merkmalen auch unter sehr verschiedenen Bedingungen eine große Konstanz bewahren, während andere leichter und in verschiedenen Graden durch Änderung darauf reagieren. Und ebenso sind einzelne Merkmale von größerer Konstanz, andere mehr der Abänderung unterworfen, also variabel. Die Konstanz und Variabilität der Merkmale hängt aber nicht mit den Begriffen „erblich‘“ und ‚„nicht- erblich‘‘ zusammen, sondern beruht nur, wie es Baur sehr zutreffend ausgedrückt hat, auf der verschiedenen Art und Weise eines und des- selben Idioplasma, auf die Einwirkungen der Außenwelt zu reagieren. Bei Besprechung der Modifikationen und ihrer Stellung zur Erb- lıchkeitsfrage sieht sich JOHANNSEN fl. c. 1909. 5. 490) veranlaßt, die ‚Kategorie ‚der falschen Erblichkeit und der falschen Nichterblichkeit‘ 540 Dreizehntes Kapitel, in die Forschung einzuführen. Er definiert sie als eine „‚Übereinstim- mung derNachkommen mit den Vorfahren in bezug auf eine Eigenschaft, die nicht durch Anwesenheit (bzw. Abwesenheit) eines für die betreffenden (Generationen charakteristischen Genes bedingt ist“. „Echte Erblichkeit bzw. Nichterblichkeit beziehen sich allein auf Gene (Erbeinheiten), deren Anwesenheit oder Abwesenheit hier entscheidend ist; falsche Erblichkeit bzw. Nichterblichkeit beziehen sich allein auf Lebenslage- ' faktoren, welche das Realisieren einer Eigenschaft ermöglichen oder unmöglich machen können.“ Ebenso wie NÄGELIS Unterscheidung von erblichen und von nicht- | erblichen Merkmalen halte ich auch die Unterscheidung von einer echten, und einer falschen Erblichkeit für wenig zweckmäßig und empfehlens- wert. Denn beide werden gegenstandslos, wenn man gleich den Begriff der Erblichkeit von vornherein scharf und richtig faßt und sich „bei! wissenschaftlicher Behandlung des Gegenstandes‘ vornimmt, die ge- | bräuchliche, aber falsche Redewendung ‚Vererbung von Merkmalen“ durch den allein richtigen Ausdruck „einer Vererbung von Anlagen eines Merkmals“ zu ersetzen, wenn man ferner dabei im Auge behält, daß die gleichen Anlagen beim Entwicklungsprozeß je nach den Lebens- lagefaktoren oft in verschiedener Weise realisiert werden können. Daß‘ die Einwirkungen der Umwelt an und für sich nicht erblich sind, da sie keine Bestandteile der Erbmasse sein können, liegt ja auf der Hand, und darum sind sie von dem Begriff der Erblichkeit gleich von vornherein auszuschließen. Um Erblichkeitserscheinungen richtig beurteilen zu‘ können, bedarf es vergleichender Beobachtungen und experimenteller Analyse in der schon früher besprochenen Weise. h Im Grunde genommen ist dies auch der Standpunkt von NÄGELI und von JOHANNSEN ; hält dieser doch selbst seine Definition von ‚falscher und echter Erblichkeit‘“ für theoretisch wenig befriedigend ; „denn genau genommen“, — bemerkt er — ‚sind alle Reaktionen eines Organismus ja doch durch die genotypische Grundlage + die Lebenslagefaktoren direkt oder indirekt bestimmt.‘ Der Umstand, ‚daß im Leben der Orga- nismen die Gene und die Lebenslagefaktoren untrennbar zusammen- wirken, macht es in den einzelnen konkreten Fällen oft schwierig, die Erscheinungen der Erblichkeit in ihrer ‚Echtheit‘ oder ‚Falschheit in dem hier präzisierten Sinne zu deuten“, Im übrigen werden auch durch die Unterscheidung einer echten und einer falschen Erblichkeit die begrifflichen Schwierigkeiten gar nicht beseitigt. Man braucht sich bloß die Frage vorzulegen, zu welcher Kategorie man die verschiedenen Erscheinungsformen des Polymorphis- | Der gegenwärtige Stand des Vererbungsproblems. 54m mus, des Saison-, des Geschlechtsdimorphismus, der beständig um- schlagenden Varietäten bei den Pflanzen (Kap. VIII) etc. rechnen soll Unsere Auffassung trägt dem von BAUR, JOHANNSEN, KLEBS und WOLTERECK eingenommenen Standpunkt vollständig Rechnung, ver- meidet aber ihre unbestimmte Ausdrucksweise, die dadurch veranlaßt ist, daß sie ihren richtigen Gedanken, die Bedeutung der äußeren Faktoren bei der schärferen Fassung des Erblichkeitsbegriffes zur Geltung zu bringen, eine rein physiologische Formel gegeben haben. Denn das ist doch der Fall, wenn sie als das vererbbare Merkmal die typische Art und Weise der Reaktion auf äußere Faktoren oder, mit anderen Worten, ‚ die spezifische charakteristische Reaktionsart bezeichnen. Bei dieser Definition ist meiner Ansicht nach ein wesentlicher Bestandteil des zu erklärenden Verhältnisses ganz weggelassen. Denn wenn in der Natur eine spezifische Reaktionsweise überhaupt vor sich gehen, überhaupt möglich sein soll, so muß doch vorher eine Substanz vorhanden sein, ) welche sich in dieser Weise betätigen kann. So erfordert nach unserer Ansicht der Begriff der spezifischen Reaktion als unbedingt notwendige Ergänzung den Begriff einer spezifisch reagie- renden Substanz. Dieselbe ist eben das Idioplasma von NÄGELI oder die in der Artzelle enthaltene Erbmasse von spezifisch-biologischer Struktur. Daß eine Substanz von der komplizierten Zusammensetzung des Idioplasma sich in ihrer Grundlage unverändert erhält und trotzdem auf größere Unterschiede der realisierenden Faktoren, unter denen sie sich bei der Entwicklung befindet, durch Hervorbringung verschiedener Modifikationen reagiert, ist prinzipiell nichts Wunderbareres, als was wir in der Chemie und Physik schon an den einfachsten Substanzen der leblosen Natur beobachten können. Auch diese können in ihrer elemen- taren Zusammensetzung dieselben bleiben, trotzdem aber je nach der Einwirkung äußerer Faktoren, wie früher (S. 510) erwähnt, uns in ver- schiedenen Zuständen nach fest normierten Gesetzen erscheinen. Das Wasser, bei gewöhnlicher Temperatur flüssig, gefriert bei Temperaturen unter Null zu Eis oder in der Luft zu Schneeflocken oder bildet die zierlichsten Eisblumen, wenn es auf einer Fensterscheibe in sehr dünner Schicht ausgebreitet war. Es nimmt Dampfform bei Erhitzung über den Siedepunkt an. Als Eis, als Wasser und als Dampf ıst es in seinen | physikalischen, uns wahrnehmbar gewordenen Eigenschaften nach vielen Richtungen sehr verändert worden, aber in chemischer Hinsicht ist es doch immer dieselbe Substanz der Formel H,O. Daher geht denn auch sowohl das Eis wie der Wasserdampf wieder in gewöhnliches Wasser 342 Dreizehntes Kapitel. über, wenn die hierfür erforderlichen Außenbedingungen, die Tempera- turen von o bis IO0°C gegeben sind. Eis, Wasser und Dampf sind also nur verschiedene Zustände des chemischen Körpers H,O, seine Erschei- nungsformen, seine Reaktionsnormen und sind als solche den oben be- sprochenen Modifikationen des Idioplasma vergleichbar, die bei der Entwicklung unter verschiedenen Systembedingungen entstehen. Der chemische Körper H,O dagegen entspricht in seiner chemischen Konstanz, die von den angegebenen Temperaturen unberührt bleibt, dem Idio- plasma, das auch trotz aller Modifikationen, die es im Leben der Spezies hervorbringen kann, doch in seiner biologischen Struktur sich unverändert erhält, wie uns die Kulturversuche der Artzellen durch mehrere Genera- tionen unter wechselnden Bedingungen lehren. Unser Vergleich mit den chemisch-physikalischen Erscheinungen l!ebloser Substanzen ist auch geeignet, uns als ein weiteres Argument gegen die Keimchen- und Determinantenhypothese zu dienen. Denn cs läßt sich mit seiner Hilfe zeigen, wie weit sich DARWIN und WEISMANN von der in der Naturwissenschaft üblichen Denkweise entfernt haben. In seiner bekannten Fehde mit SPENCER hat WEISMANN (I894, l.c.) trotz der Einwürfe, die ihm von dem englischen Forscher und von mir gemacht wurden, hartnäckig an der seltsamen Behauptung festgehalten, daß die Entstehung der verschiedenen Formen eines polymorphen Tierstockes, wie z. B. eines Ameisenstaates, sich nicht anders als durch die Annahme erklären lasse, daß ım Ameisenei für sie bereits nebeneinander besondere stoffliche Anlagen, die Ide, vorgebildet seien, eine besondere Idart für die weibliche, eine andere für die männliche Ameise, eine andere für die Arbeiterin, eine andere für die Soldatenform. Die äußeren Fak- toren sollten bei der Entwicklung nur als ‚auslösende Reize‘ in der Weise mitwirken, daß entweder das weibliche oder das männliche oder das Arbeiterinnen- oder Soldaten-Id zur wirklichen Ausführung kommt. Das wäre etwa ebenso, als wenn in unserem Vergleich der Physiker in das flüssige Wasser als Erklärungsgrund noch etwas Eisartiges oder etwas Dampfartiges, das durch entsprechende Temperaturen nur zum Vorschein gebracht würde, hineinverlegen wollte. Wie sich der Physiker mit der genauen Feststellung der ursächlichen Zusammenhänge der Naturvorgänge begnügt, in unserem Falle also mit der Erkenntnis, daß Wasser unter der Einwirkung bestimmter Temperaturen zu Eis oder zu Dampf wird, so hat auch der Biologe, gestützt auf Beobach- tung und Experiment, seine Aufgabe mit der Aufklärung der ursäch- lichen Zusammenhänge erfüllt, durch welche die Artzelle unter wech- selnden Systembedingungen bei der Entwicklung diese oder jene not- ET 2 20 PR &/ Vererbung erworbener Anlagen. 543 wendige Erscheinungsform oder Modifikation annımmt. Hypothesen, wie sie DARwIın und WEISMANN aufgstellt haben, stehen abseits vom naturwissenschaftlichen Denken. Zum besseren Verständnis der Entstehung der Modifikationen und ihres Verhältnisses zur Erblichkeit wird auch ein Hinweis auf die im IV. Kapitel besprochenen allgemeinen Prinzipien beitragen, nach denen aus den Artzellen die vielzelligen Organismen entstehen. Es ist die Potenzierung der Artzelle, es sind die Differenzierungen und Korre- lationen der von ihr während der Entwicklung abstammenden Zell- generationen, welche je nach der Verschiedenheit der Entwicklungs- bedingungen verändert werden und so zu den verschiedenen Modifi- kationen (Somationen) führen. Hierbei bleibt die Artzelle als erbliche Grundlage unverändert; sie reagiert nur ihrer Natur gemäß in gesetz- mäßiger verschiedener Weise auf die ungleichen Entwicklungsreize. Vererbung erworbener Anlagen. Zum Schluß unserer Erblichkeitsstudien ist schließlich auf die vielumstrittene Frage, die in dem Schlagwort ‚Vererbung erworbener Eigenschaften‘ liegt, noch näher einzugehen. Daß man in früheren Zeiten, wo man sich mit den biologischen Grundlagen der Vererbung, mit dem Verlauf des Befruchtungsprozesses, mit exakten Bastard- studien, mit experimenteller Erblichkeitsanalyse in streng wissenschaft- licher Weise kaum beschäftigt hat, zu wunderlichen und verkehrten Vorstellungen gekommen ist, lehrt die unerfreuliche, ältere Literatur über unseren Gegenstand. Es ist nicht nur vom Laienpublikum, sondern auch von der Wissenschaft infolge mangelnder Einsicht Mißbrauch mit dem Worte „Vererbung dieser und jener Eigenschaft‘‘ getrieben worden. Daß sich WEISMANN (1883, l. c.) mit scharfer Kritik gegen solche Aus- wüchse gewandt hat, wird ihm als bleibendes Verdienst angerechnet werden, Aber schon früh hat seine Polemik, unterstützt von vielen anderen Forschern, weit über das berechtigte Ziel hinausgeführt. Um bei der unerquicklichen Lage ‚des unendlich viel diskutiert>n Problems‘‘ (LANG, 1914) zu einem vorläufigen Abschluß zu kommen, scheint es mir vor allen Dingen notwendig zu sein, es von den Fesseln, in die es WEISMANN durch die Verknüpfung mit seinen Hypothesen ‘der Keimplasmatheorie, der Germinalselektion und der Allmacht der Naturzüchtung geschlagen hat, wieder zu befreien und auf eine neue Basis zu stellen. Denn WEISMAnN hat die Vererbung erworbener Eigenschaften nur deswegen glatt in Abrede stellen können, weil er sich vondem Vorgang 544 Dreizehntes Kapitel ER ein nach seinen Hypothesen zurechtgelegtes Bild entworfen und dann die Richti&keit desselben auch wieder auf Grund seiner Hypothesen zu widerlegen versucht hat. Nach seinen eigenen Worten stellt sich ihm das Problem so dar (Vorträge, 1902, Bd. II, p. 7I u. 72): „Wollte man heute eine theoretische Ermöglichung der Vererbung erworbener Charaktere ersinnen, so müßte man annehmen, daß die Zustände sämtlicher Teile des Körpers in jedem Augenblick oder doch in jeder Lebensperiode sich in den entsprechenden Anlagen des Keim- plasmas, also in den Keimzellen abspiegelten. Da nun aber die Anlagen durchaus verschieden von den Teilen selbst sind, so müßten die Anlagen in ganz anderer Weise sich verändern, als die fertigen Teile sich ver- ändert hatten, vergleichbar etwa der stenographischen Niederschrift eines Aufsatzes in fremder Sprache.“ ‚Trotz dieser schier unüberwindlichen theoretischen Hindernisse haben doch verschiedene Schriftsteller den Gedanken ausgeführt, das Nervensystem, welches sämtliche Teile des Körpers mit dem Gehirm und dadurch auch unter sich in Verbindung setzt, teile diese Zustände auch den Fortpflanzungsorganen mit, so daß sehr wohl dort in den Keim- zellen Veränderungen eingeleitet werden könnten, welche mit denen weit entfernter Körperteile korrespondieren.‘“‘ „‚‚Gesetzt nun, es wäre nachgewiesen, daß jede Keimzelle des Ovariums oder Spermariums eine Nervenfaser erhielte, was könnte ihnen anders durch den Nerven überliefert werden, als ein stärkerer oder schwächerer Nervenstrom ? Qualitative Unterschiede desselben gibt es nicht; wie also sollen die Keimesanlagen durch den Nervenstrom einzeln oder gruppenweise und zwar korrespondierend mit den funktionellen Abänderungen der ihnen entsprechenden Organe und Teile des Körpers beeinflußt oder gar in entsprechender Weise abgeändert werden ? Oder sollen wir uns vorstellen, daß nach jeder der zahllosen Anlagen eine besondere Nervenbahn hinführt ? Oder wird die Sache dadurch leichter begreiflich, daß wir ein Keimplasma ohne Anlagen annehmen und uns vorstellen, daß nach jeder funktionellen Abänderung eines Teils auf dem Wege durch das Gehirn dem Keimplasma telegraphische Weisung zugehe, wie es seine ‚physikalisch-chemische Konstitution‘ abzuändern habe, damit die Nachkommen doch auch etwas von dieser Verbesserung za genießen bekommen ?“ 4 Um der Diskussion gleich von vornherein eine andere Wendung. zu geben, als sie in der von WEISMANN angebahnten Richtung geführt wurde, und um einen festen wissenschaftlichen Standpunkt zu gewinnen, ist zuerst der unrichtige Ausdruck ‚‚Vererbung erworbener Eigenschaften” | > R 5 Vererbung erworbener Anlagen. 545 _ zu verbessern. Denn wie auf den vorhergehenden Seiten schon des öfteren nachgewiesen wurde, werden durch die Keimzelle nicht Eigenschaften des ausgebildeten Organismus, sondern Anlagen vererbt, die, um wieder in der kindlichen Generation eine bestimmte Eigenschaft hervorzu- bringen, eines Entwicklungsprozesses und realisierender Lebenslage- faktoren bedürfen. Daher muß in wissenschaftlicher Fassung das Problem nicht lauten: ‚Vererbung erworbener Eigenschaften‘, sondern ‚Ver- erbung erworbener Anlagen‘. Das bedeutet aber etwas wesent- lich anderes und schafft gleich eine viel klarere Sachlage für die weitere Diskussion. Denn bei der zweiten Fassung ist es selbstverständlich, daß, wenn die Artzelle in ihrem Anlagebestand verändert ist, es auch einen für uns sichtbaren Ausdruck in einer Veränderung der Merkmale und Eigenschaften des aus ihr entwickelten Organismus finden muß. Dann aber ist die Vererbung neuerworbener Anlagen eigent- lich etwas Selbstverständliches und in dieser Form über- haupt kein Problem mehr; ein solches beginnt vielmehr erst dann, wenn wir die Frage aufwerfen, auf welchen Wegen können neue Anlagen in der Artzelle entstehen, oder noch besser und allgemeiner ausgedrückt: wie kann die Artzelle in ihrem Anlagebestand verändert werden? In dieser Frage liegt ein wirkliches und richtig gestelltes Problem. Die Erwerbung neuer Anlagen durch die Artzelle ist aber zugleich das schwierigste Problem der ganzen Biologie. Veränderung in dem Bestand der Anlagen einer Artzelle pflegt man jetzt in der Biologie als Mutation zu bezeichnen. Mit ihr haben wir uns zum Teil schon im X. Kapitel ‚Die Mutabilität der Organismen, als Grundlage der Entstehung neuer Arten‘ beschäftigt, müssen aber jetzt noch einmal auf sie zurückkommen, um sie im Zusammenhang mit dem Problem der Erblichkeit unter anderen Gesichtspunkten zu erörtern und dabei zu versuchen, uns in den Gegenstand noch etwas weiter zu vertiefen. Wie schon gleich am Beginn des X. Kapitels auseinandergesetzt wurde, kann man zwei Vorgänge unterscheiden, durch welche neue An- lagen von der Artzelle erworben werden können. Erstens kann eine Veränderung der Artzelle durch geschlechtliche Vermischung zweier artverschiedener Idioplasmen, also durch Bastardzeugung zwischen Vertretern von zwei Lıinx£@schen oder zwei MEnDELschen Arten oder von zwei reinen Linien herbeigeführt werden. Zweitens kann die Verände- rung in der Konfiguration des idioplasmatischen Systems unabhängig von der geschlechtlichen Vermischung aus sehr verschiedenen, gewöhnlich O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl, 35 3 46 Dreizehntes Kapitel, unbekannten Ursachen unter den dauernden Einflüssen der Lebens- lagefaktoren erfolgen. Hierbei kann man annehmen, daß die idioplas- matische Veränderung entweder ın einer Umgruppierung, oder in einem Schwund oder in einer Neubildung von Bestandteilen innerhalb der biologischen Verbindungen der Erbmasse oder, wenn wir in der Sprache der Mendelforscher reden, I. in einem Neuerwerb, 2. in einem Latent- werden oder 3. in einem gänzlichen Verlust von Erbeinheiten (Genen) besteht. Was den ersten Fall, die Neukombination zweier in ihrem Anlage- bestand mehr oder weniger verschiedener Idioplasmen betrifft, so ist er es, welcher das Laienpublikum am häufigsten beschäftigt und zur Untersuchung der Frage anregt, von welchem der beiden Erzeuger das Kind diese oder jene Eigenschaft erhalten oder ‚erworben‘ hat. Dem auf diese Art des Vererbungsproblems gerichteten, tief im Volks- bewußtsein ruhenden, allgemeinen Gedankengang hat GOETHE einen poetischen Ausdruck in seinem bekannten, feinsinnigen Gedicht über die Vererbung seiner eigenen Anlagen gegeben: „Vom Vater hab ich die Statur, des Lebens ernstes Führen, vom Mütterchen die Frohnatur und Lust zum Fabulieren.‘‘ Zum Gegenstand wirklich wissenschaftlicher Studien ist indessen die, Vererbung durch Neukombination zweier Idioplasmen erst durch die zielbewußte MENDELSsche experimentelle Bastardanalyse gemacht worden. Da wir uns mit ihren Ergebnissen schon im III. und IX. Kapitel aus- führlich beschäftigt haben, braucht auf diese Seite der Erwerbung neuer Anlagen durch Kreuzung ungleich beanlagter Stammeltern und auf die Folgen der Kreuzungen in den Generationen F!—Fn nicht weiter eingegangen zu werden. Ein Hinweis auf das früher Gesagte genügt, sowie auch darauf, daß auf diesem Wege zahlreiche neue Arten entstehen können, die wir, da sie voneinander nur Unterschiede geringeren Grades darbieten, als die MEnDELschen Arten, im Gegensatz zu den LinxEschen, ım VII. Kapitel bezeichnet haben. N Da erfahrungsgemäß eine Kreuzung, welche fruchtbare Nachkom- men liefert, nur zwischen sehr nahe verwandten Lebewesen möglich ist, liegt es auf der Hand, daß sie für die Entstehung der sehr großen Unter- schiede zwischen den einfachsten und den vollkommensten Arten der gegenwärtigen ÖOrganismenwelt nur von geringer Bedeutung ge sein kann. Denn wenn sie auch unter Umständen einen großen Reich- B Vererbung erworbener Anlagen. 547 tum von Zwischenformen schaffen kann, so wirkt sie doch nur aus- gleichend zwischen zwei Rassen oder zwei Lıixx£schen Arten, kann aber selbst nicht in größerem Maßstab schöpferisch sein. Erheblichere Fortschritte in der Vervollkommnung der Organi- sation der Lebewesen können nur durch die Entstehung wirklich neuer Anlagen in der Artzelle unter Mitwirkung äußerer Faktoren hervorge- rufen werden. Wir wenden uns daher zu dieser zweiten Aufgabe der Erblichkeitsforschung. Da zur Beantwortung derartiger Fragen dem Experiment ein be- sonders hoher Wert zukommt, ist in der Neuzeit der experimentelle Weg bei dem zunehmenden Interesse auch mehr und mehr betreten worden. Es kann dies in zwei Richtungen geschehen. Man kann erstens die Lebenslagefaktoren eines ausgebildeten Organismus in eingreifender Weise und für längere Zeit verändern, um ihn dadurch umzugestalten. Bei Erzielung eines positiven Ergebnisses kann man dann weiter prüfen, ob diese Umgestaltung auch eine Veränderung in der Anlage der Keim- zellen hervorgerufen hat und dadurch wieder auf die folgenden Genera- tionen vererbt wird. In einer zweiten Richtung kann man aber auch in der Weise experimentell vorgehen, daß man direkt auf die Keimzellen mit neuen Faktoren, mit geeigneten physikalischen und chemischen Agentien einwirkt und feststellt, inwieweit sie durch dieselben in ihrer idioplasmatischen Konstitution beeinflußt werden, und wie ihre geno- typische Veränderung sich hierauf bei der Gestaltung der von ihnen abstammenden Pflanzen und Tiere in sichtbaren Merkmalen und Eigen- schaften geltend macht. ı. Veränderung der Keimzellen und einzelligen Organismen durch experimentelle Eingriffe. Die Experimente der zweiten Art, die ich zunächst besprechen will, sind in der Literatur (MAcnouGALL, HERTWIG) noch sehr spärlich vertreten. Sie haben bisher nur Anomalieen und Monstrositäten aus leicht verständlichen Gründen geliefert. Muß doch der Experimentator auf diesem dunklen Gebiet bemüht sein, zunächst überhaupt nur Ver- änderungen durch den geplanten Eingriff in wahrnehmbarer Weise und in kurzer Zeit hervorzurufen. Hierbei wird jeder zur Änderung führende direkte Eingriff in den unbekannten, aber doch jedenfalls außerordentlich komplizierten Organismus einer Keimzelle als eine grobe und mehr oder minder planlos erzielte Störung von vornherein angesehen werden müssen. Am meisten scheinen mir Eingriffe auf männliche Keimzellen von Inte- 35* 548 Dreizehntes Kapitel. resse zu sein. Kann sich doch der gebildete Laie, aber auch, wie mir scheint, der biologische Forscher, noch immer nicht ganz von der von altersher überkommenen Vorstellung frei machen, daß das Kind doch wesentlich das fortgebildete Ei ist, und daß der Samenfaden nur eine Beihilfe als Entwicklungserreger, wie man häufig sagt, leistet. Dagegen sind im Lichte der neuen Zeugungs- und Vererbungslehre (vgl. S. Ior) Ei- und Samenzelle durchaus gleichwertige Faktoren, so daß in Wahr- heit das Kind die von beiden Eltern ausgehende Lebensbewegung in sich vereinigt, indem es von beiden gleichviel Erbmasse empfangen hat. Außerdem halte ich die Versuche an Samenfäden auch deswegen für wichtig, weil sie im Vergleich zum Ei geradezu verschwindend klein sind und daher nur aus einer für Übertragung erblicher Eigenschaften besonders wirksamen Substanz, also fast nur aus Idioplasma, bestehen müssen. | Besonders geeignete Agentien zur Beeinflussung der Keimzellen ohne direkte Zerstörung ihres Lebens sind alle radioaktiven Substanzen (Radium, Mesothorium etc.). Wie sich durch verschieden variierte Experimente zeigen läßt!), wirken f- und Y-Strahlen besonders auf die Konstitution der Kernsubstanzen und somit nach der Kernidioplasma- theorie auf die Grundlagen der Erblichkeit ein. Samenfäden von Frosch und Triton, die ich zu meinen Versuchen benutzt habe, verlieren selbst bei langer Bestrahlung ihre Beweglichkeit und Fähigkeit zur Befruch- tung nicht, werden aber in ihrer Konstitution und zwar proportional sowohl zur Stärke des angewandten Präparates von Radium oder Meso- thorium als auch zur Dauer seiner Einwirkung verändert. Die Verände- rungen am bestrahlten Samenfaden sind mikroskopisch direkt nicht zu erkennen, wie ja alle Beeinflussungen des Idioplasma nicht direkt wahrge- nommen werden können, da sie für uns unsichtbare Organisationen des Stoffes betreffen. Wohl aber können sie auf indirektem Wege er- schlossen werden aus den Veränderungen, welche die von den bestrahlten Samenfäden befruchteten Eier erfahren. Wenn letztere von einem ge- sunden Froschweibchen abstammen, was sich durch Kontrollbefruch- tung einer Eiportion mit nicht bestrahlten Samenfäden leicht feststellen läßt, trotzdem aber eine veränderte Entwicklung und sogar proportional zur Bestrahlung der zur Befruchtung verwandten Samenfäden ein- schlagen, so kann kein Zweifel darüber bestehen, daß durch den Samen 1) Hertwig, Oscar, Die Radiumkrankheit tierischer Keimzellen. Ein Beitrag zur experimentellen Zeugungs- und Vererbungslehre, Arch. f. mikr. Anat., Bd. LXXVII, und Separatausgabe IgII, — Derselbe, Allgemeine Biologie, 4. Aufl., 1912, P. 410 bis 416. E Vererbung erworbener Anlagen. 549 die Radiumwirkung auch auf die Eier übertragen worden ist und ihre Entwicklung mitbestimmt. Es gewinnt geradezu den Anschein, als ob das Ei selbst direkt vom Radium bestrahlt worden sei. Die Folgen hiervon machen sich immer mehr im Laufe der weiteren Entwicklung bemerkbar; denn diese wird, je nach dem Grade der vor- genommenen Bestrahlung der Samenfäden, eine um so mehr pathologische. Es entstehen Störungen in der Gastrulation und im Urmundverschluß, auf späteren Stadien verschieden stark mißgebildete Embryonen teils mit schwächeren oder stärkeren Graden der Spina bifida, teils mit Stö- rungen im Verschluß des Nervenrohrs, die zur Anencephalie führen. ‚Je stärker die Störung ist, um so früher sterben die durch den Samenfaden krank gemachten Eier ab. Weniger geschädigte Larven schlüpfen noch aus den Eihüllen aus und bilden je nach dem Grad der Radiumwirkung, die auf sie von einem schwächer bestrahlten Samenfaden übertragen worden ist, ein sehr mannigfaches Bild dar. Im Vergleich zu normalen Kontrolllarven sind sie im Wuchs kleiner geblieben: besonders ist der Schwanzabschnitt des Körpers verkümmert. Gehirn, Rückenmark und Auge sind hier und dort pathologisch und zeigen Neigung zum Zerfall einzelner Zellen. Bei der Differenzierung der Embryonalzellen "in die verschiedenen Gewebe macht sich die Radiumschädigung in ver- schiedener Weise geltend. Namentlich die höheren Gewebe, wie das Nerven- und Muskelgewebe, in zweiter Linie Herzmuskelfasern und Blut, haben in ihrer Ausbildung am meisten gelitten; Epithel, Stützgewebe (Chorda, Gallerte, Knorpel), Darm und Drüsen, Harnorgane bieten ein normales Verhalten dar. Die durch den bestrahlten Samenfaden in der Entwicklung des Eies hervorgerufene Wirkung muß für jeden unbefangenen Beobachter eine wahrhaft staunenerregende sein, wenn er den geradezu enormen Unterschied zwischen der bestrahlten und der nicht bestrahlten Sub- stanzmasse berücksichtigt. Denn der winzige Samenfaden ist, wenn wir uns eines Vergleichs bedienen wollen, im Verhältnis zum großen Frosch- ei eine so verschwindend kleine Substanzmenge, wie in einem mehrere Zentner schweren, mit Weizenkörnern gefüllten Sack ein einzelnes Weizenkorn. Eine so homöopathische Dosis müßte sich bei ihrer Vertei- lung im Ei — so sollte man erwa:ten — wie ein Tropfen Süßwasser im Meer spurlos verlieren. Für alle diese Erscheinungen aber bietet sich eine einfache Erklärung in der Tatsache dar, daß von den radioaktiven Substanzen, wie schon gesagt, das Chromatin des Samenfadens in erster Linie betroffen wird, und daß daher ebenso viel bestrahltes Chromatin durch den Samenkern in das Ei eingeführt wird, als es 550 Dreizehntes Kapitel. selbst normales Chromatin im Eikern nach dem Äquivalenzgesetz (vgl. S. 101) besitzt. Wenn man dann weiter berücksichtigt, daß die im Samenkern enthaltene Substanz befähigt ist, im Ei zu wachsen und sich auf dem Wege der Karyokinese periodisch zu vermehren, und daß diese Fähigkeit durch die Bestrahlung nicht zerstört wird, solange sie ein bestimmtes Maß der Dauer und Intensität nicht übersteigt, so hat die unverhältnis- mäßig große Wirkung, die ein kleiner, bestrahlter Samenfaden auch im größten Ei ausübt, durchaus nichts Wunderbares mehr. Denn durch Wachstum und Teilung wird die radiumkranke Substanz des Samen- kerns schließlich jeder Embryonalzelle als väterliches Erbe zugeführt. So wird es verständlich, daß sie, trotzdem sie ım bestrahlten Samen- faden nur eine homöopathische Dosis ist, schließlich die vieltausendmal größere Masse des Eies im Entwicklungsprozeß vergiftet. Sie wirkt, wenn ich mich eines früher gebrauchten, die Sachlage gut aufklärenden Vergleiches bediene, wie ein Contagium vivum, wie ein Bakterium, wenn es im tierischen Körper eine Infektionskrankheit verursacht. Ein einzelner Milzbrandbazillus, durch eine Wunde in den tierischen Körper gebracht, ist ein sehr harmloser Eindringling, solange er sich nicht vermehrt. Auch wenn er einem allergiftigsten Stamm angehört, kann er durch seine chemischen Eigenschaften allein auch nicht die geringste Krankheit hervorrufen, solange er vereinzelt bleibt; dagegen vernichtet er in wenigen Tagen das Leben, wenn er in rapider Vermehrung eine Nachkommenschaft erzeugt hat, welche mit dem Blut alle Organe und Gewebe des erkrankten Tieres überschwemmt. j Die durch den bestrahlten Samenfaden im Ei veranlaßte Ver- änderung des ganzen Entwicklungsprozesses ist eine Keimesschädi- gung, „eine Blastophorie‘, wie sie von manchen Forschern genannt wird. Alle Embryonalzellen sind ja bis zu einem gewissen Grade radium- krank geworden, weil sie als Erbe des Samenfadens in ihren Kernen bestrahltes, durch Teilung vervielfältigtes Chromatin erhalten haben, Ich brauche wohl kaum hervorzuheben, in wie hohem Maße auch diese Verhältnisse zugunsten der Kernidioplasmatheorie sprechen, und daß sie sich als ein weiterer Beweis den schon im III. Kap. (S. 101°) zusammen- gestellten anreihen lassen, In den bis jetzt angestellten Experimenten war die Schädigung der Samenfäden welche durch Bestrahlung hervorgerufen wurde so stark, daß die mit ihnen befruchteten Eier Embryonen ge liefert haben, die sich nicht bis zur Metamorphose, geschweige denn bis zur Geschlechtsreife haben großziehen lassen. Es waren “ Vererbung erworbener Anlagen. 551 nur lebensschwache Monstra und Krüppel gebildet worden. Bei weiter fortgesetzter, planmäßiger Ausdehung derartiger Experimente wäre zu prüfen, ob sich nicht durch geringe Grade der Bestrahlung bei kurzer Zeitdauer eine dementsprechend weniger starke Schädigung der Samen- fäden und der durch sie befruchteten Eier herbeiführen läßt, wie von vornherein wohl zu erwarten ist. Wird in diesen Fällen dann die Radiumwirkung noch auf späteren Stadien der Entwicklung in einer anomalen Bildung dieses oder jenes Organes oder in funktionellen Störungen zur Geltung kommen? Die Beantwortung dieser Frage ist mit größeren Schwierigkeiten verknüpft, da vereinzelte Bildungsanomalien, je später sie sich in der Entwicklung an den Kaulquappen oder gar an den in der Metamorphose begriffenen Tieren einstellen, leichter übersehen werden, als die auffälligen Monstrosi- 'täten in den ersten zwei Wochen. Ein je größerer Zeitraum ferner in der Entwicklung eines Organismus zwischen Reiz und Reizeffekt liegt, um so mehr kann auch ein Zweifel an einem ursächlichen Zusammenhang “ zwischen beiden aufkommen, so daß es eine größere Zahl übereinstim- mender Versuche erfordern wird, um etwa auftauchende Zweifel zu beseitigen. Von diesem Gesichtspunkt aus möchte ich auch die folgende Mit- teilung beurteilt wissen. Als ich bei Variierung meiner Experimente Samenfäden des Frosches nur 3 Minuten mit einem schwachen Radium- präparat bestrahlt und zur Befruchtung normaler Eier verwandt hatte, lieferten diese meist äußerlich normale, nach 2 Wochen lebhaft herum- schwimmende Kaulquappen, aber zwischen ihnen einige wenige Exem- plare mit geringfügigeren Anomalien. Bei einigen war die Gesichts- bildung in der Umgebung der Mundöffnung, an deren Eingang sich schon die Hornkiefer und Hornzähnchen entwickelt hatten, in auffälliger Weise gestört. In zwei Fällen war der Oberkieferrand durch einen medianen Einschnitt in einen linken und einen rechten Fortsatz mit den Horn- kiefern getrennt, die bei den Kaubewegungen abweichend von den nor- malen Kaulquappen von links nach rechts gegeneinander bewegt wurden. Durch diese eigentümlichen Kaubewegungen wurde meine Aufmerksam- keit überhaupt erst auf die betreffenden Exemplare gelenkt, deren Abnormität ich mit einer Kieferspalte vergleichen möchte. In einem vereinzelten Fall war ein Oberkieferfortsatz ganz rückgebildet, so daß nur auf einer Seite ein vorspringender Höcker die Mundöffnung von oben begrenzte. Bei wenigen Kaulquappen vermißte ich bei äußerlicher Untersuchung auf einer Kopfseite das Auge oder wenigstens die zu ihm gehörige Linse. Dreizehntes Kapitel. a St [88 Auch für diese Mißbildungen geringeren Grades, die erst spät in der Entwicklung wahrnehmbar werden, möchte ich die schwache Radium- bestrahlung der Samenfäden verantwortlich machen. Nach meiner Ansicht liegt hier ein Forschungsgebiet vor, das noch einer ausgedehnten, experimentellen Bearbeitung bedarf. Auch werden sich vielleicht für solche Studien noch geeignetere Untersuchungsobjekte, als es die Amphi- bien sind, finden lassen, z. B. Insekten mit kurzer Entwicklungsdauer oder andere Wirbellose, bei denen sich künstliche Befruchtung vor- nehmen läßt. y Nachdem durch das Radiumexperiment festgestellt war, daß die Konstitution des Idioplasma durch Strahlung verändert und dadurch anomale und monströse Entwicklung des Eies hervorgerufen werden kann, lag es nahe, zu prüfen, ob sich ein entsprechendes Ergebnis nicht auch auf anderem Wege, wie z. B. durch chemische Eingriffe erreichen ließ. In der Tat ist dies möglich, wenn auch etwas schwieriger als durch Bestrahlung. Das chemische Agens, soll es sich für den Versuch brauch- bar erweisen, muß zwei Bedingungen erfüllen. Auf der einen Seite darf es die Beweglichkeit der Samenfäden für längere Zeit nicht schädigen. Dieselben müssen nach der vorgenommenen chemischen Behandlung noch so beweglich und kräftig geblieben sein, daß sie, um z. B. das Froschei zu befruchten, die es umgebende dicke Gallerthülle durchdringen können. Etwa eine Stunde Zeit ist hierzu erforderlich. Auf der anderen Seite muß aber das chemische Mittel die Substanz, welche auf die Entwick- lung des Eies einen Einfluß ausübt, nämlich das Idioplasma des Samen- fadens oder das in seinem Kopfabschnitt enthaltene Chromatin, in seiner Konstitution während der kurzen Zeit des Versuches verändern. Beides hat sich bis jetzt mit passend hergestellten, verdünnten Lö- sungen von Methylenblau, Chloralhydrat und Strychnin erreichen lassen. Wenn mit reifen Samenfäden, die einige Zeit die Einwirkung geeigneter Chemikalien erfahren haben, normale Froscheier befruchtet werden, so bieten sie ähnliche Erscheinungen wie bei den Radiumexperimenten dar; sie entwickeln sich entsprechend der Stärke des chemischen Ein- griffes zu mehr oder minder anomalen Embryonen und Larven und sterben früher oder später ab. Bei diesem wie bei jenem Eingriff werden Störungen der Gastrulation und Bildung eines Riesendotterpfropfes, Spina bifida, Verdoppelung des Schwanzes, Anencephalie, Lähmungs- erscheinungen, Zwergwuchs usw. in gleicher Weise beobachtet. Für viele mag es auf den ersten Blick überraschend sein, daß es für den Ausfall der Versuche ziemlich gleichgültig ist, ob die Verände- rung der Samenfäden durch Radiumstrahlen oder durch chemische Vererbung erworbener Anlagen. 553 Eingriffe dieser oder jener Art herbeigeführt worden ist. Wer indessen selbst aus vielfacher Erfahrung mit der Eigenart biologischer Experimente vertraut ist, wird hierin- nichts überraschendes erblicken; er wird viel- mehr in dem gleichartigen Ausfall nur eine neue Bestätigung des Satzes finden, daß die auf physikalische oder chemische Eingriffe erfolgende Reaktion weniger durch die Natur der angewandten Mittel, als durch die Eigenart der organischen Substanz, also hier der Samenfäden und der Eizellen, bestimmt wird. Das Gleiche lehren uns ja auch die Experimente, durch welche Variationen und Mutationen in der Entwicklung von Leptinotarsa und von verschiedenen Schmetterlingsarten erhalten werden. Auch hier haben TOWER, STANDFUSS, FISCHER u. a. berichtet, daß sie die gleichen Aberrationen durch sehr verschiedenartige Eingriffe, durch übermäßige Temperatur oder durch langdauernde Abkühlung unter Null, aber auch durch Züchten in feuchter Umgebung, ferner in den Schmetterlingsexperimenten noch außerdem sowohl durch Zentrifu- gieren der Puppen als auch durch Behandlung mit Ätherdämpfen er- zielen konnten. Thermische Eingriffe rufen in diesen Fällen keine anderen Störungen in der Entwicklung des Eies als mechanische oder chemische Eingriffe hervor. Die Disproportionalität, welche sich zwischen Reizursache und ihrer Wirkung in allen derartigen Experimenten zeigt, läßt sich durch einen Vergleich mit komplizierter gebauten mechanischen Kunstwerken ' oder Maschinen einigermaßen verständlich machen. Wenn wir als Bei- spieleine Uhr wählen, so kann an ihr eine Verlangsamung, eine Beschleu- nigung oder ein Stillstand des Zeigers durch die verschiedenartigsten Umstände veranlaßt werden, dadurch, daß sich aus chemischen Ur- sachen an einem Rädchen Rost entwickelt, oder dadurch, daß sich ein kleines Körnchen zwischen zwei Rädchen eingeklemmt hat, oder dadurch, daß das Öl, welches die Reibung ım Räderwerk verringern soll, eingedickt ist. Somit reagiert die Uhr auf verschiedene physikalische und chemische Einflüsse in einer für uns sichtbaren Weise unterschiedslos durch Ver- |langsamung, Beschleunigung oder Stillstand des Zeigers. Es hängt dies eben mit der eigentümlichen Konstruktion der Uhr zusammen, vermöge deren sich allerlei Störungen ihres Mechanismus jedesmal im Gang des \Zeigers äußern. Ebenso reagiert das Ei, das alle mechanischen mensch- \lichen Kunstwerke durch seine eigenartige Konstruktion noch weit über- ‚\trifft, durch den gestörten Verlauf seiner Entwicklung, durch Produktion von Mißbildungen, die einander gleich sind, mögen die Anlässe dazu auch sehr verschiedenartige sein. Durch die mitgeteilten Versuche mit radioaktiven und mit chemisch 54 Dreizehntes Kapitel. . Di wirkenden Substanzen wurde der nicht anzufechtende experimente.il Nachweis erbracht, daß durch sie das Idioplasma der Keimzellen dauernd verändert werden kann, ohne seine Entwicklungsfähigkeit einzubüßen, daß aber infolgedessen sich der Entwicklungsprozeß des befruchteten Eies zu einem mehr oder minder pathologischen und monströsen gestaltet. Es liegt nahe, hieraus eine praktische Nutzanwendung zur Erklärung von Abnormitäten zu machen, die in der tierischen und speziell in der menschlichen Entwicklung nicht selten beobachtet werden. Wenn eine Schädigung des Keimes mit ihren Folgen in der früher beschriebenen Weise experimentell zu erzielen ist, warum sollte sie nicht auch innerhalb des elterlichen Körpers unter abnormen Verhältnissen möglich sein? Ärzte, die sich mit Strahlentherapie beschäftigen, werden nach ıhren Erfahrungen keinen Augenblick darüber in Zweifel sein, daß man mit Radium- oder Röntgenstrahlen Ei- und Samenzellen auch innerhalb der Keimdrüsen am lebenden Körper ebenso verändern kann, wie nach ihrer Isolierung im Experiment. Daß dann auch die weiteren Folgen dieselben sein müssen, wenn die beeinflußten Eier auf natürlichem Wege in der Ge- bärmutter zur Entwicklung gelangen, versteht sich gleichfalls von selbst. Es ist eine, zumal in der älteren medizinischen Literatur, weit- verbreitete Ansicht, die allerdings oft sehr kritiklos vorgetragen wird, daß Schädigungen, welche die Keimessubstanzen der Eltern aus diesen oder jenen Ursachen erfahren haben, auf ihre Nachkommenschaft ver- erbt werden und sich in einer Degeneration derselben geltend machen. Auch durch Experimente ist sie zu stützen versucht worden!). Am häu- figsten wird der Mißbrauch des Alkohols als Ursache für Keimesschädi- gung und Degeneration der Nachkommenschaft verantwortlich gemacht. Die hierüber vorliegende, sehr umfangreiche Literatur ist von HoPPE in seinem verdienstvollen Buch: ,‚,Die Tatsachen über den Alkohol” zusammengestellt worden. Wenn auch manche der mitgeteilten Berichte nicht einwandfrei sein mögen, so bin ich doch, wie HoPPE und viele andere Forscher, der Überzeugung, daß chronischer Alkoholmiß- brauch nicht nur die Leber und manche andere Organe, sondern auch die Keimdrüsen und die sich in ihnen bildenden Eier und Samenfäden und dadurch auch die Nachkommenschaft in manchen Fällen nachteilig beeinflussen kann. Einen kaum anzufechtenden Beweis hierfür hat der amerikanische ı) Hoppe, Hugo, Die Tatsachen über den Alkohol, 4. Aufl., 1912. — Stockard, An experimental study of racial degeneration in mammals treated wıth alcohol. Archz of internat. Medic., Vol. X. — Paul, Const., Etude sur Tintoxication lente par les sreparations de Blomb etc. Arch. gen. de med., 1860, Vol. 7. Vererbung erworbener Änlagen. 555 Forscher STOCKARD in einer kürzlich veröffentlichten Experimental- studie über den Einfluß des Alkohols auf die Keimzellen und die Em- bryonalentwicklung des Meerschweinchens geliefert. In ähnlicher Weise, wie ich in den mit meinem Sohn ausgeführten Radiumversuchen drei Gruppen von Experimenten als A-, B- und C-Serie unterschieden habe, , je nachdem beide Komponenten oder nur der Samenfaden oder nur das , Ei bestrahlt und dann durch Befruchtung vereinigt worden sind, ist 'STOCKARD in seinen Alkoholversuchen vorgegangen. Er hat einmal männliche Tiere von Meerschweinchen, die längere Zeit unter Alkohol- , wirkung durch Einatmung von Alkoholdämpfen gehalten worden waren, mit normalen Weibchen kopuliert, zweitens hat er alkoholisch gemachte ' Weibchen mit normalen Böcken belegt und drittens hat er alkoholische Weibchen mit alkoholischen Männchen verbunden. In allen drei Gruppen, am stärksten aber in der dritten Gruppe, machten sich die üblen Folgen des viele Monate fortgesetzten Alkoholgenusses durch Degeneration der Nachkommenschaft, durch frühzeitigen Abort, durch schwächliche und kleinwüchsige Junge bemerkbar. Das Gesamtergebnis seiner Ver- suche hat STOCKARD in folgende Sätze zusammengefaßt: Neun zur Kon- trolle vorgenommene Paarungen normaler Meerschweinchen ergaben sieben lebende Würfe. Diese bestanden im ganzen aus 17 Individuen, die sämtlich am Leben blieben und für ihr Alter kräftige Exemplare darstellten. Dagegen ergaben 42 Paarungen alkoholisierter Meerschwein- chen nur 18 lebende Junge, und von diesen lebten nur sieben, darunter , 5 Kümmerlinge, länger als einige Wochen. Es liegt nahe, zu vermuten, daß ähnliche schädliche Wirkungen, wie durch lange fortgesetzte übermäßige Alkoholaufnahme, auch durch andere giftige Substanzen auf die Keimzellen unter besonderen Be- dingungen ausgeübt werden können. Ich nenne die Bleivergiftung, welcher sich Arbeiter in einer Anzahl von Gewerben aussetzen. Die schädliche Wirkung auf die Nachkommenschaft ist durch Coxst. Pauvı in einer statistischen Zusammenstellung eines größeren Materials ein- gehend besprochen worden. Dieselbe tritt am deutlichsten bei Blei- arbeiterinnen hervor. In einer Zusammenstellung, die 7 Frauen betraf, wurden in einem Zeitraum von einigen Jahren 32 Schwangerschaften festgestellt. Von diesen führten ır zu frühzeitigem Abort, ı Kind wurde tot geboren; von den 20 lebend geborenen starben 8 im ersten Jahr, 4 im zweiten, 5 im dritten, und nur ein einziges Kind wurde großgezogen ‚Aus seinen Beobachtungen kommt €. Paur auch zu dem für uns beson- ders wichtigen Ergebnis: „L’influence du plomb transmise par le pere ä l’enfant est tout aussi reelle que quand c'est la mere qui s’est exposde.” 556 Dreizehntes Kapitel. , Doch sind die von ihm angeführten Fälle, in denen ein unter Bleikrank- heit leidender Vater mit einer gesunden, in einem anderen Gewerbe be- schäftigten Frau eine geschädigte Nachkommenschaft zur Welt gebracht “hat, so spärlich, daß sich nicht jeder von der Beweiskraft seines Schlusses überzeugt fühlen wird. £ Gleichwohl halte ich eine durch Bleikrankheit des Vaters hervor- gerufene Schädigung der Samenfäden und eine Übertragung derselben durch die ‚Befruchtung auf das normale Ei einer gesunden Mutter im Prinzip für ebensogut möglich, wie die Übertragung einer Radiumschädi- gung durch die Samenfäden auf das Ei. : Von vornherein ist daher auch die Möglichkeit nicht von der Hand - zu weisen, daß manche chemische Substanzen, die als Heilmittel vom Arzt verwendet werden, wie Quecksilber- und Arsenpräparate außer ihren beabsichtigten nützlichen Wirkungen noch auf diese und jene Or- gane des Körpers und unter ihnen besonders auf die in Bildung begriffenen und eventuell in einer sensiblen Periode befindlichen Keimzellen eine schädigende Wirkung ausüben. Eine solche könnte sich dann in letz- terem Fall entweder in Sterilität oder in frühzeitigem Absterben der befruchteten Eier und dadurch veranlaßten Fehlgeburten oder in erb-- lichen Fehlern und Leiden der heranwachsenden Nachkommen äußern. Der direkten Veränderung der isolierten Keimzellen durch äußere Eingriffe stehen methodologisch einige Experimente am nächsten, die von verschiedenen Forschern an einzelligen Organismen ausgeführt wurden in der Absicht, sie in ihren Eigenschaften dauernd umzuprägen und so gleichsam neue Rassen künstlich zu züchten. Wenn dies gelingt, so liegt nach unserer Definition (S. 492) auch eine bei Einzelligen er- zielte „Vererbung erworbener Eigenschaften“ vor. Wegen ihrer theore- tischen Bedeutung sei daher mit einigen Sätzen auf einige derartige Ver- suche eingegangen, deren Fortsetzung wohl noch manche wichtige Er- kenntnis in Zukunft erwarten läßt. Ich gebe hierüber eine kurze Zu- sammenstellung aus meiner Allgemeinen Biologie (1912, p. 686 bis 689): Wie durch PASTEUR und andere experimentell festgestellt ist, können virulente Bakterienarten, wie der Milzbrandbazillus, die Mikroorganismen der Hühnercholera etc., ihre giftigen Eigenschaften verlieren, we sie unter außergewöhnlichen Bedingungen in besonderen Nährlösungen oder bei hoher Temperatur gezüchtet werden. Die so durch äußere Ein- griffe neuerworbenen Eigenschaften haften in manchen Fällen den Bak- terien so fest an, daß sie dieselben auch auf ihre Nachkommen übertragen. Es müssen also auch hier wieder materielle Veränderungen in ihnen ein- getreten sein, die erblich sind, so daß man von einer neuen, künstlich En yi y Vererbung erworbener Anlagen. 557 ‚erzeugten „physiologischen Varietät‘‘ des Milzbrandbazillus etc. sprechen ' kann. Die Varietät behält auch ihre Eigenschaften in vielen Generationen bei, wenn die abnormen Zuchtbedingungen schon längst aufgehört haben, ‚z.B. wenn sie sich in einem für Milzbrand sonst empfänglichen Ver- suchstier entwickelt; sie kann sogar dieses gegen die virulente Varietät immun machen. Ferner lassen sich aus farbstoffbildenden Bakterien unter geeigneten Kulturbedignungen farblose Rassen züchten, in denen der neuerworbene "Charakter, auch wenn sie sich wieder unter normalen Verhältnissen befinden, für längere Zeit erblich fixiert ist. Eine neue Rasse erhielt ‚auf diese Weise SCHOTTELIUS durch Kultur des Micrococcus prodigiosus |bei4r°C. Gleichzeitig war beiihr auch die Produktion von Trimethylamin unterdrückt. Ebenso züchteten CHARRIN und PHisarıx den Bacillus pyocyaneus und LAURENT den roten Kieler Bazillus in farblose Rassen um. Die Eigenschaft, Sporen zu bilden, welche viele einzellige Organismen zeigen, kann ebenfalls unterdrückt, und durch erbliche F ixierung können sporenlose (asporogene) Rassen gezüchtet werden. Roux gewann eine solche durch Zusatz von etwas Karbolsäure zu einer Kultur von Bacillus anthracis, PHISALIx durch Erwärmung auf 42°C. ‚Die fixierte asporogene Rasse gewann die Fähigkeit zur Sporenbildung auch dann nicht zurück, als durch geeignete Bedingungen (Passage durch den Tierkörper) die Virulenz restauriert wurde, die in den genannten Experimenten zugleich mit der Fähigkeit zur Sporenbildung unterdrückt worden war.‘ j Besonders sorgfältig sind die wichtigen Versuche an verschiedenen Arten von Hefepilzen (Saccharomyces), welche HAnseEn über eine Reihe von. Jahren ausgedehnt hat, wobei er sich der Zucht ‚in reinen Linien‘ bediente. Dadurch, daß er die Hefezellen bei höheren Temperaturen, bei denen Wachstum noch stattfindet, einige Zeit kultivierte, gelang es hm, die Sporenbildung zu unterdrücken. Diese kehrte auch dann nicht zurück, wenn die so behandelten Objekte wieder unter Bedingungen gebracht wurden, unter denen es normalerweise zur Sporenbildung kommen würde. Die neu entstandene asporogene Form war derartig erblich gefestigt, daß die neuerworbene Eigenschaft bei fortgesetzter einkultur unter normalen Verhältnissen sich als völlig konstant erwies. „Es hat hier offenbar,‘“ bemerkt auch JOHANNSEN (1909, 1. c. p. 344, nd 1915, 1. c. p. 654) zu diesem Versuch, „die hohe Temperatur eine törung in der genotypischen (d. h. erblichen) Grundlage der genannten ganismen hervorgerufen.“ Auch als „künstlich erzeugte Mutation‘ bezeichnet er sie. | i 58 Dreizehntes Kapitel, Qi : Es gibt einige Forscher, welche in den mitgeteilten Versuchen und Beobachtungen keinen Beweis für eine „Vererbung erworbener Eigen- 4 schaften‘ erblicken wollen, wie WEISMANN, PLATE und ihre Anhänger, So erklärt PLATE (Selektionsprinzip, 1913, 1. c. p. 443, 445): „Für irrig halte ich die Auffassung von O. HERTWIG, welcher in jeder dauernden | Veränderung des Keimplasmas eine Vererbung einer erworbenen Eigen- | schaft sieht. Das Vorkommen solcher Mutationen wird weder von WEIS- MANN noch von sonst irgendeinem Forscher geleugnet, berührt aber gar nicht unser Problem, ob eine Eigenschaft, die bei den Eltern als Somation auftrat, in einer späteren Generation als Mutation wieder erscheinen kann.‘ „,Jedenfalls ist es ein Irrtum, wenn manche Forscher (0. HERTWIG, SEMON) alle möglichen Änderungen an Bakterien, Hefe- pilzen, Flagellaten u. dgl., welche experimentell hervorgerufen werden. können und dann auch unter normalen Lebensbedingungen wiederkehren, als Beweis für eine Vererbung erworbener Eigenschaften ansehen, z. B., wenn Saccharomyces durch Verwendung höherer Temperaturen die Fähigkeit zur Sporenbildung verliert etc. In einem solchen Falle kann der experimentelle Eingriff direkt das Keimplasma verändert haben.“ „Ebenso liegt nicht der ‚einfachste Fall‘ einer Vererbung einer erwor- benen Eigenschaft vor, wenn Froscheier mit Radium bestrahlt werden. und dann alle möglichen pathologischen Bildungen erzeugen. Hierbei handelt essich überhaupt nicht um Vererbung ; denn diese setzt mindestens zwei Generationen voraus.‘ | Es ist dieselbe Argumentation, die in WEISMANNS Schriften stets wiederkehrt, seitdem er seine Keimplasmatheorie ausgearbeitet hat. „Wenn die verschiedenen Leiden des Nervensystems, die man bei Kindern von Trinkern häufig beobachtete,‘ heißt es in seinen Vorträgen über Deszendenztheorie (1912, Bd. Il, p. 78) „wirklich ihre Ursachen im Trinken der Eltern hätten, so dürfte doch nicht übersehen werden, daß es sich‘ hier nicht um die erbliche Übertragung somatischer Veränderungen han- delt, sondern um diejenige von direkt erzeugten Verände- rungen im Keimplasma der Fortpflanzungszellen; denn diese sind dem Einfluß des im Blute des Trinkers zirkulierenden | Alkohols so gut ausgesetzt, wie irgendein Teil des Körpers, | Daß dadurch Veränderungen im Keimplasma gesetzt werden können, | die im Kinde zu krankhaften Dispositionen führen mögen, kann und | soll jedenfalls a priori nicht geleugnet werden. Wir kennen ja noch manche andere Einflüsse, z. B. klimatische, welche das Keimplasma direkt treffen und verändern. Ob dies im Falle der Trunksucht sich so verhält und auf welche Weise es geschieht, das muß die Zukunft entscheiden; die Vererbung erworbener Anlagen. 559 ganze Frage gehört nicht hierher; sie kann das uns jetzt beschäftigende Problem nicht aufklären helfen.“ Auf die zitierten Aussprüche von WEISMANN und PLATE bin ich an ‘ dieser Stelle näher eingegangen, weil sie ihre von der meinigen abweichende Stellungsnahme zum Vererbungsproblem klar zum Ausdruck bringen. Beide haben die Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften oder, wie es wissenschaftlich richtiger heißen muß, ‚‚erworbener Anlagen‘, in ihrer Weise dadurch eingeschränkt und verklausuliert, daß sie dieselbe mit der Frage nach der Übertragung somatischer Veränderungen ver- quickt haben. Beides sind aber ganz getrennte Fragen, von denen die ‚ erste, die Vererbung erworbener Anlagen die allgemeinere ist, die zweite nur einen strittigen oder besonders zu erklärenden Spezialfall darstellt. Über die erste allgemeine Frage, wie sie von NÄGELI und mir stets ‚ vertreten worden ist, kann meiner Meinung nach eine ernstliche Dis- ' kussion wohl kaum entstehen. Bei der Fortpflanzung durch Keim- zellen kann selbstverständlicherweise nur durch sie eine erbliche Über- tragung von der elterlichen auf die kindliche Generation geschehen. ‚ Wenn also eine neue Anlage vererbt wird, muß die Keimzelle dieselbe , zuvorerworbenhaben. Sie muß in ihrer idioplasmatischen oder, wie man , mit JOHANNSEN dafür auch sagen kann, genotypischen Beschaffenheit ver- ‚ ändert worden sein. In diesem und nur in diesem Sinne gebrauche ich den Ausdruck ‚Vererbung erworbener Anlagen‘ (resp. Eigenschaften). Damit gebrauche ich ihn aber auch in seinem ursprünglichen Sinn und "in Übereinstimmung mit NäceLı. Denn NÄGEL!'s Vererbungstheorie ‚ eröffnet den Reigen der übrigen, über welche jetzt gewöhnlich disku- tiert wird. | Da man jetzt allgemein eine dauerhatte idioplasmatische oder ‚ genotypische Veränderung der Keimzellen als eine Mutation bezeichnet, \schaften. Daher kann auch kein logisches Bedenken dagegen erhoben | werden, die Übertragung der Radiumwirkung auf das Ei durch den zur | Befruchtung verwandten Samen, mag er noch in der Keimdrüse des lebenden Tieres oder nach seiner Entleerung bestrahlt worden sein, als eine Vererbung einer erworbenen Anlage zu bezeichnen; denn der be- strahlte Samenfaden ist in seiner idioplasmatischen Konstitution ver- | ändert worden und ruft dementsprechend auch eine monströs entwickelte | Larve hervor. Daß die Einzelligen, da die aufeinander folgenden Gene- | rationen immer nur den Formwert einer Zelle haben, den einfachsten | | | 360 Dreizehntes Kapitel, Fall der Vererbung darstellen, ist schon von HAECKEL betont worden. Wenn daher von ihnen neue Rassen durch experimentelle Eingriffe ge- züchtet werden, sind diese Mutationen ebenfalls als einfachste Fälle- einer Vererbung neu erworbener Anlagen zu bezeichnen. Ich wüßte nicht, wie gegen die Folgerichtigkeit dieser Darstellung irgendein logischer Einwand erhoben werden könnte ; gibt doch Weıs- MANN selbst zu, daß das Keimplasma direkt durch klimatische Einflüsse und eventuell auch durch den im Blut des Trinkers zirkulierenden Alkohol verändert werden könnte. Auch JoHANNSEN nennt die durch hohe Tem- peratur erzielte Veränderung der Hefezelle eine genotypische und erklärt sie für eine „künstlich erzeugte Mutation“. Resümierend erklärt A. LAnG in seinem Referat und in seinem IgI4 erschienenen Sammelwerk über „EeX- perimentelle Vererbungslehre‘“: ‚,‚Erbliche Eigenschaften, höchstwahr- scheinlich auch erbliche, neue Eigenschaften können als direkte Reak- tionen auf äußere Reize auftreten. Es gibt also eine Vererbung erworbener Eigenschaften. Aber soweit die experimentelle Erfahrung reicht, sind alle erblichen Neubildungen blastogen.‘‘“ Wenn daher Weıs- MANN (wie auch PLATE u. a.), trotzdem die besprochenen Fälle nicht als beweisende Beispiele gelten lassen will und sie als nicht zur Frage gehörig betrachtet, so liegt dies einzig und allein daran, daß er mit dem Begriff der Vererbung erworbener Eigenschaften, wie er ursprünglich in der Wissenschaft gebraucht wurde, eine auch von unserem Standpunkt aus sehr anfechtbare, unklare Zusatzhypothese über die Entstehung erblicher Anlagen verbunden hat und, indem er letztere zu widerlegen sucht, nun gleich das Ganze beseitigt zu haben glaubt. Daher gehe ich von den Experimenten, die bei den Einzelligen an- gestellt wurden, zu den viel komplizierteren und schwerer zu erklärenden Erblichkeitsverhältnissen bei den vielzelligen Pflanzen und Tieren über. Sie bilden ja auch den eigentlichen Ausgangspunkt der uns jetzt be- schäftigenden, vielumstrittenen Fragen. 2. Die Entstehung und Vererbung neuer Anlagen bei vielzelligen Organismen. Bei einer Behandlung des Gegenstandes nach den naturwissen- schaftlichen Prinzipien, die im II. Kapitel besprochen wurden, kann von vornherein kein Zweifel darüber bestehen, daß, wenn das Idioplasma einer Pflanze und eines Tieres in seinem Anlagebestand in irgendeiner Weise verändert werden soll, eine Ursache auf dasselbe eingewirkt haben muß. Es können hier keine anderen Naturgesetze gelten, wie für che- Vererbung erworbener Anlagen. 561 mische Substanzen, die sich auch nur dann verändern, wenn die chemischen und physikalischen Faktoren ihrer Umwelt (unter letzteren auch Tempe- ratur, Druck etc.) andere geworden sind. Wenn wir also eine natur- wissenschaftliche Erklärung für die Vererbung erworbener Anlagen geben wollen, müssen wir nach den Umweltsfaktoren suchen, welche eine Veränderung im Anlagenbestand des Idioplasma einer Artzelle verursacht haben. Den Begriff Umweltsfaktoren gebrauche ich hierbei im umfassendsten Sinne als die Konstellation aller Bedingungen, unter denen sich das Leben eines Organismus abspielt. Nun stößt aber die Beurteilung ihrer Wirkungen, zumal bei den höheren Tieren, auf die allergrößten Schwierig- keiten, teils weil der Organismus ein so außerordentlich kompliziertes System zahlloser, zusammenwirkender, verschiedenartiger Teile (Organe, Gewebe, Zellen etc.) ist, teils weil er nicht bloß aus Idioplasma, welches allein erblich beeinflußt werden kann, sondern auch aus Protoplasma und seinen Bildungsprodukten (Grundsubstanzen, Muskel-, Nerven- fasern, Sekreten etc.) zusammengesetzt ist. Gerade die letzteren aber machen meist die Hauptmasse des lebenden Körpers aus und bestimmen in erster Linie seine uns sichtbaren Eigenschaften und die Art seiner Reaktion auf äußere Faktoren. Zur Beurteilung der verwickelten Verhältnisse sind drei Gesichts- punkte nicht aus dem Auge zu verlieren. Erstens wirken die Umwelts- faktoren, denen wir den größten Einfluß zuschreiben müssen, in der Regel nicht nur rein lokal auf einen bestimmten Körperteil, sondern auf das ganze physiologische Getriebe des betroffenen Organismus ein und setzen dadurch eine ganze Reihe innerer Faktoren in Tätigkeit. Erst aus ihrem Ineinandergreifen ergibt sich eine Gesamtreaktion, die sich wegen der großen Komplikation der sie bedingenden inneren Vor- gänge meist einer erschöpfenden Analyse entzieht. Weniger der äußere Faktor, als das durch ihn hervorgrufene, innere Kräftespiel, dessen Ablauf durch die bereits vorhandenen Einrichtungen des Organismus wesentlich bestimmt wird, ist es, welches erblich wirkt. Daher können dieselben äußeren Faktoren, wie kein Biologe bei vorurteilslosem Ab- wägen in Abrede stellen wird, sehr verschiedene Wirkungen, je nach der Verschiedenheit der Organismen, in ihnen hervorrufen und zu sehr verschiedenen erblichen Folgen führen, sofern sie von solchen begleitet sein sollten. Es handelt sich hier um dasselbe physiologische Gesetz, auf das ich schon auf S. 553 die Aufmerksamkeit gelenkt habe: um das Gesetz der spezifischen Energie, nach welchem weniger die Natur der äußeren Reizursache, als die spezifische Organisation des Lebewesens O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl. 36 562 Dreizehntes Kapitel. über den Reizerfolg entscheidet, gerade wie auch die Arbeit der Maschine durch die ihr eigentümliche Konstruktion bestimmt wird. Hierzu gesellt sich ein zweiter Gesichtspunkt, der bei der Beurtei- lung des Erblichkeitsproblems ebensowenig unbeachtet bleiben darf. Wenn durch veränderte Faktoren der Umwelt ein kompliziertes Kräfte- spiel im ganzen Organismus wachgerufen wird, so kann dasselbe zu Ver- änderungen führen, die in neuen Eigenschaften dieses oder jenes Organs einen für uns wahrnehmbaren Ausdruck finden. Es läßt sich. dann diese Stelle als der Reaktionsort bezeichnen, an dem sich, wenn es sich um erbliche Wirkungen handelt, der durch veränderte Faktoren erzielte Eingriff bemerkbar macht. Anstatt einer können aber auch mehrere Reaktionsorte verschiedener Art zustande kommen. Der dritte Gesichtspunkt ist eigentlich selbstverständlich, trotz- dem über ihn soviel gestritten worden ist. Es muß, wie ich schon früher betont habe, die idioplasmatische oder genotypische Grundlage der Art- zelle direkt oder indirekt durch äußere Faktoren verändert worden sein, wenn eine neue erbliche Anlage entstehen soll. Versuchen wir jetzt, die Nutzanwendung von diesen theoretischen Vorbemerkungen auf die durch Beobachtung und Experiment ermittelten Tatsachen, zuerst bei Pflanzen, dann bei Tieren zu machen. Wie die Gärtner, so sind auch die Botaniker, welche sich besonders intensiv mit der experimentellen Hervorbringung von Mutationen beschäftigt haben (DE VRIEs, KLeBs), der Überzeugung, daß die äußeren Kultur- bedingungen, namentlich die durch intensive Düngung des Bodens veränderte Ernährung, erbliche Abänderungen in normaler oder anormaler Richtung veranlassen können. „Mutation kommt — selbstverständlich — nicht von selbst‘, erklärt JOHANNSEN (I909, 1. c. p. 464). „Die genotypi- schen Änderungen, welche das Wesen der Mutation ausmachen, entstehen offenbar durch Eingriffe der Lebenslagefaktoren; und diese Einflüsse müssen unzweifelhaft direkt die genotypische Grundlage betreffen; wie sie aber einwirken, ist uns völlig unverständlich.“ Wenn eine gefüllte Blüte bei Chrysanthemum segetum oder eine Pelorie bei Linaria oder eine Pistilloidie bei Papaver unter den Bedin- gungen des Experiments erhalten wird (vgl. Kap. IX, S. 345), so haben die abändernden Faktoren offenbar nicht direkt auf das abgeänderte Organ, sondern durch Beeinflussung des Stoffwechsels indirekt auf die ganze Pflanzenkonstitution und auf das in allen Zellen verteilte Idioplasma eingewirkt. Wenn man im Leben der Pflanze eine Periode besonderer Sensibilität, in der sie auf äußere Einflüsse am stärksten reagiert, unter- scheiden will, so umfaßt sie die Zeit, wo das Idioplasma im Verhältnis Vererbung erworbener Anlagen. 563 zum Protoplasma und seinen Produkten am reichlichsten vertreten ist, also das Jugendstadium des Keimes, sowie die Vorgeschichte desselben, in der er erst als Samen in der Mutterpflanze angelegt wird. Insofern kann, wie auch DE VRIES (1906, 1.c. p. 238) vermutet, eine an irgendeinem Organ der Pflanze zutage tretende Verschiedenheit ‚zum Teil und vielleicht gänzlich das Ergebnis der Lebensverhältnisse ihrer Eltern und selbst ihrer Großeltern sein“. Das abgeänderte Organ ist daher nach der früher ge- gebenen Auseinandersetzung nur der Reaktionsort, an dem die durch die Umweltsfaktoren hervorgerufene Veränderung der genotypischen "Konstitution und ihre Fixierung als erbliche Anlage im Idioplasma aller Zellen zu einer für uns sichtbaren Erscheinung wird. A priori liegt kein Grund vor, das Tierreich in Fragen der Erblich- eit von anderen Gesichtspunkten aus zu beurteilen, als das Pflanzen- reich. Indessen wirken zwei Umstände für das Verständnis erschwerend. Erstens ist die Organisation des Tieres eine viel verwickeltere als bei der Pflanze, und in demselben Maße ist auch der Einblick in ihre natür- liche Entstehung eine schwierigere geworden. Zweitens aber liegen bis jetzt nur sehr spärliche Experimente vor, durch welche Mutationen bei Tieren infolge Änderung der Umweltsfaktoren haben nachgewiesen werden können. Über ihre Erklärung aber gehen die Ansichten der Biologen zurzeit noch sehr auseinander. Die am häufigsten diskutierten Fälle sind schon im Kapitel IX, S. 354, zusammengestellt worden. Indem ich auf die dort gegebene Beschreibung verweise, handelt es sich jetzt noch darum, aus ihnen einige Folgerungen für das Erblichkeitsproblem zu ziehen und an ihnen gleichfalls die Frage zu erörtern, auf welchem Wege neue Anlagen in der Artzelle, also Mutationen, bei tierischen Organismen entstehen ? Um die von verschiedenen Forschern und namentlich von TOWER angestellten Experimente richtig zu würdigen, ist immer im Auge zu behalten, daß äußere Faktoren eine Änderung in den sichtbaren Merk- malen des Körpers gewöhnlich nur dann hervorrufen, wenn sie sich noch in ihrer frühesten Ausbildung befinden. Durch den Reiz kann zwar die ‚formative Tätigkeit der Zellen, nicht aber ihr schon fertig hergestelltes Bildungsprodukt abgeändert werden. Es ist etwas Grundverschiedenes, ob man die Anlage eines Organs oder ein schon fertig gebildetes Organ experimentell umzuwandeln beabsichtigt. Wer daher die Entwicklung eines Merkmals in neue Bahnen lenken will, muß den Reiz in einen: der Ausbildung vorausgehenden Stadium, welches man jetzt als die sensible Periode zu benennen pflegt, einwirken lassen. Wie schon in der Botanik seit langer Zeit bekannt ist, können zwar indifferente Knospen durch 30*® 564 Dreizehntes Kapitel. äußere Faktoren bestimmt werden, entweder zu Blüten- oder zu Laub- sprossen zu werden, nur muß die Entscheidung hierüber auf einem sehr frühen Indifferenzstadium, in der sensiblen Periode, erfolgen. Nach ihrem Ablauf kann die schon im Gang befindliche einseitig gerichtete Entwick- lung nicht wieder rückgängig gemacht werden. Hieraus erkärt sich der auf S. 357 beschriebene Spezialfall der Towerschen Experimente, in welchem die ausgeschlüpften, aber schon definitiv gefärbten jungen Käfer den umändernden Lebensbedingungen längere Zeit ausgesetzt wurden. Obwohl sie selbst normal gefärbt blieben, wurden ihre in Bildung begriffenen Eier so beeinflußt, daß die später aus ihnen gezüchtete Tochtergeneration, auch wenn sie sich wieder unter normalen Verhältnissen entwickelte, melanotisch oder albinotisch um- geändert war. Von manchen Forschern ist das Experiment gegen die Lehre von der ‚Vererbung erworbener Eigenschaften“ verwertet und der Schluß gezogen worden, daß die Hitze, Kälte, Feuchtigkeit zwar direkt auf die in ihrer sensiblen Periode befindlichen Geschlechtszellen, nicht aber auf das Soma eingewirkt und daß infolgedessen die von SEMON angenommene „somatische Induktion‘ nicht . möglich sei. Mit Recht hat sich gegen diese Deutung des Experiments SEMON gewandt und tref- fend bemerkt: ‚‚Diese Folgerung ist genau ebenso begründet, wie die, daß ein Mensch, der eine starre Maske trägt, oder sein Gesicht mit einer starren Emailschicht überzogen hat, und dessen Gesichtsfarbe und Ge- sichtszüge deshalb keine Veränderung zeigen können, von freudigen oder schmerzlichen Eindrücken unberührt bleiben müsse. Eine kurze Überlegung zeigt dagegen, daß unter der starren unveränderlichen Hülle der Imagocuticula die reizbare Substanz des Somas nach wie vor von Reizen beeinflußt werden kann und trotz der Maskierung durch jene starre unveränderliche Hülle, trotz des dadurch bedingten Ausfalls einer äußeren Manifestation sogar notwendigerweise beeinflußt werden muß.“ Gegen den Schluß läßt sich gewiß nichts einwenden; und ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß, wehn Leptinotarsa sich, wie andere Arthropoden, noch im Imagozustand mehrmals häuten würde, ihre Flügel- hypodermis die neue Chitinhaut in einer veränderten melanotischen oder albinotischen Form reproduzieren würde, wenn sie vor der Häutung eine entsprechend lange Zeit den früher erwähnten Einflüssen ausgesetzt gewesen wäre. Ohne Häutung bleibt die Beeinflussung der Hypodermis, trotzdem sie erfolgreich gewesen ist, nur deswegen für den Beobachter latent, weil die Gelegenheit fehlt, bei welcher das entsprechende Reaktions produkt mit seinen uns sichtbar gewordenen, veränderten Merkmalen, die abweichend gefärbte Chitincuticula, ausgeschieden wird. Vererbung erworbener Anlagen. £ 565 Abgesehen von dem zuerst besprochenen Spezialfall, den ich auf seine wirkliche Bedeutung zurückzuführen versucht habe, ist außer- dem durch die Experimente von TOwERr an Lepinotarsa und durch ent- sprechende Experimente von STANDFUSS, FISCHER und SCHRÖDER an Schmetterlingen festgestellt worden, daß bei längerer Einwirkung ex- tremer Temperaturen auf die Puppen einzelner Schmetterlinge, sowie auf das Larven- und Puppenstadium von Leptinotarsa, nicht nur ab- weichend gefärbte Tiereentstehen, sondern auchihre Nachkommen in mehr oder weniger zahlreichen Exemplaren dieselbe Veränderung zur Schau tragen. Hieraus muß geschlossen werden, daß die Keimzellen in gleicher Richtung wie die Elternformen durch die Umweltsfaktoren beeinflußt worden sind. Über das Zustandekommen dieser gleichsinnigen Be- einflussung sind zwei verschiedene Hypothesen aufgestellt worden, deren kritische Besprechung um so mehr geboten ist, als sie mit einer prinzipiell verschiedenen Beurteilung des ganzen Vererbungsproblems zusammenhängen. Die eine Hypothese hat man als die somatische Induktion, die andere als die Parallelinduktion (DETTo) oder als die simultane Reiz- leitung bezeichnet. a) Die Hypothese der somatischen Induktion. Nach der Auffassung ihres hauptsächlichen Vertreters SEMON zerfällt der Vererbungsvorgang in zwei aufeinander folgende Perioden. Zuerst muß durch einen „Originalreiz‘ eine lokalisierte Veränderung an einer bestimmten Stelle des Körpers — also in den oben angeführten Experimenten durch ungewöhnliche Temperatur eine melanotische oder albinotische Färbung in bestimmten Gegenden des Integuments — her- vorgerufen worden sein. Alsdann erst wird durch einen Leitungsreiz, wie es nach der Terminologie von PLATE heißt, die örtlich durch äußere Faktoren veranlaßte Veränderung auf dem Umweg durch das Soma zu den Keimzellen fortgeleitet und ruft in ihnen eine gleichsinnige Ver- änderung durch Entstehen einer neuen Anlage hervor. Infolgedessen zeigen dann die aus den so veränderten Keimzellen entwickelten Nachkommen die vom Soma der Eltern erworbene neue Eigenschaft als ihr neu hinzugekommenes Erbstück. In mancher Hinsicht erinnert diese Vorstellung an die Pangenesis von Darwin, die hier gleichsam ins Dynamische übersetzt ist. Denn an Stelle des Transports der Keimchen ist hier die Übertragung durch Leitungsreize als vermittelndes Zwischenglied getreten. Man hat eine 566 £ Dreizehntes Kapitel. derartige Erklärung auch als Übertragungs- oder Abbildungs- theorie bezeichnet. Hierzu hat wohl die von WEISMANN gegebene, auf S. 544 wörtlich zitierte Definition den Anstoß gegeben. Gegen die Hypothese der somatischen Induktion hat sich WEıs- MANN, dem sich die meisten modernen Vererbungstheoretiker ange- schlossen haben, stets auf das energischste gewandt, indem er auf die unübersteiglichen theoretischen Schwierigkeiten hinwies, zu welchen die Vorstellung einer Übertragung von Eigenschaften des Soma auf die Keimzellen führe. Noch mehr aber als diese Schwierigkeit hat wohl bei ihm den Ausschlag seine von GALTON übernommene, vorgefaßte Meinung gegeben, welche er zum Fundament seiner Vererbungs- und Determinantenlehre gemacht hat und nach welcher Keimzellen und Soma zwei voneinander unabhängige Teile sind. Daher besteht nach WEISMANNs eigener Definition das Wesen der Vererbung darin, „daß von der wirksamen Substanz des Keimes, dem Keimplasma, stets ein Minimum unverändert bleibt, wenn sich der Keim zum Organismus entwickelt, und daß dieser Rest des Keimplasmas dazu dient, die Grund- lage der Keimzellen des neuen Organismus zu bilden. Daraus erfolgt nun die Nichtvererbbarkeit erworbener Charaktere.“ b) Die Hypothese der Parallelinduktion (DETTo) oder der simultanen Reizleitung (PLATE). Nach WEISMANN und seinen Anhängern sind die an Schmetter- lingen und an Leptinotarsa ermittelten experimentellen Tatsachen in der Weise zu erklären, daß die äußeren Faktoren, Kälte, Wärme etc., gleichzeitig nicht nur bis zu den Anlagen der sich entwickelnden oberflächlichen Körperteile der Puppen und Larven, sondern auch bis zu den tiefer gelegenen Keimzellen durchgedrungen sind, sie also direkt beeinflußt und gleichsinnig umgeändert haben. WEISMANN spricht sich zugunsten der Parallelinduktion aus, da er mit ihrer Hilfe die ange- führten experimentellen Ergebnisse am besten mit seiner Vererbungs- lehre glaubt in Einklang bringen zu können. Denn durch die Parallel- induktion, meint er, komme nur der Schein einer Vererbung er- worbener Charaktere zustande; ‚in Wahrheit sei es nicht die soma- | tische Abänderung selbst, welche sich vererbt, sondern die ihr korre- spondierende, von demselben äußeren Einfluß hervorgerufene Abände- rung der entsprechenden Determinanten im Keimplasma der Keimzellen, der Determinanten der folgenden Generation.‘‘ Seiner Ansicht hat sich auch TOWER angeschlossen in dem Ausspruch: ‚The apparent inheri- Vererbung erworbener Anlagen. 567 tance Of somatic modifikations is due to the direct result of stimuli applied to the germ cells and not to the inheritance of somatice modifications.‘ c) Die Untauglichkeit der beiden Hypothesen und die Schwierigkeiten einer befriedigenden Lösung des Erblich- keitsproblems. Nach meiner Ansicht ist bei beiden Hypothesen sowohl bei der soma- tischen als der Parallelinduktion, wenn sie auf die vorliegenden Fälle Anwendung finden sollen, ein Punkt nicht genügend scharf durchdacht worden, nämlich die Art und Weise, wie überhaupt die äußeren Faktoren, Kälte, Wärme, Feuchtigkeit etc., die Versuchsobjekte beeinflußt haben können. Liegt denn hier wirklich, wie es dargestellt wird, eine direkte Wirkung der äußeren Faktoren, eine Induktion, ein Originalreiz auf bestimmte Körperteile, wie die Haut, die Keimdrüsen etc., vor? Bei näherer Überlegung kann dies wohl nicht gut möglich sein. Einmalhandelt es sich in den Experimenten um keine spezifische Wirkung der ange- wandten Faktoren: denn dasselbe Ergebnis kann sowohl durch bestimmte Wärme- wie Kältegrade, und bei Leptinotarsa sogar durch Vermehrung ‘oder Verminderung der Feuchtigkeit der Luft, und bei Schmetterlings- puppen durch chemische oder mecharische Eingriffe erreicht werden. Bei Tieren, die keine konstante Eigenwärme besitzen, ist allerdings zu erwarten, daß Temperaturen bei genügend langer Dauer auch in die Tiefe wirken und, wie die äußeren, auch die inneren Organe gleichmäßig treffen ; aber diese Vorstellung wird unmöglich in den Parallelversuchen, in denen durch vermehrte oder verminderte Feuchtigkeit der Luft eben- falls Melanismus und Albinismus hervorgerufen wurde. Denn wie soll der Feuchtigkeitsgehalt der Luft auf die in dem feuchten Körperinnern gelegenen Keimzellen überhaupt eine direkte Einwirkung auszuüben vermögen? Auch gegen die direkte Wirkung der Kälte spricht die von PLATE (Selektionsprinzip, 1013, p. 442) erwähnte Beobachtung, daß man die Schmetterlingseier starker Kälte aussetzen kann, ohne daß sich später die Flügelfarbe der aus ihnen entwickelten Schmetterlinge verändert. Wie mir aus alledem bei kritischer Prüfung hervorzugehen scheint, muß der ursächlicheZusammenhang aller dieser Vorgänge in einer anderen, etwas komplizierteren Weise gedeutet werden. Die verschiedenen, in den Experimenten benutzten Umweltsfaktoren (Kälte, Wärme, Feuch- tigkeit usw.) haben nicht direkt auf einzelne Körperstellen, sondern auf den ganzen Lebensprozeß der sich entwickelnden Versuchsobjekte, 568 Dreizehntes Kapitel. namentlich auf ihren Stoffwechsel und ihre ganze Konstitution einge- wirkt. Es geht dies auch daraus hervor, daß bei Leptinotarsa der Albi- nismus mit einer geringen Größenabnahme verbunden ist. Erst durch die im Körper eingetretenen Veränderungen ist auch das Idioplasma seiner Zellen vorübergehend oder dauernd beeinflußt und dann in seiner Konstitution verändert worden. Beim entwickelten Tiere findet dies einen für uns sichtbaren Ausdruck in der veränderten Pigmentierung und Musterzeichnung der Chitinhaut (Melanismus und Albinismus). Diese entspricht also dem, was ich früher in der theoretischen Ausein- andersetzung als den Reaktionsort der im Idioplasma eingetretenen Veränderungen genannt habe. Nicht unmöglich ist es, daß bei genauer mikroskopischer Untersuchung der Versuchsobjekte auch noch an anderen Körperstellen Veränderungen zu erkennen sind, die auf denselben Ur- sachenkomplex als Reaktionen zurückzuführen sind. Nach unserer Darstellung schiebt sich eben zwischen die Reiz- ursache und den Reizerfolg die ganz Maschinerie des Organismus mit ihrem unendlich verwickelten Kräftespiel. Im Hinblick hierauf ist es überhaupt in derartigen Fällen wohl richtiger, von einer indirekten Wir- kung der Umweltsfaktoren zu sprechen, während in der Hypothese der Parailelinduktion ihre Wirkung als eine direkte vorgestellt wird. Wenn durch die Umweltsfaktoren in dem Leptinotarsa- und Schmetterlingsexperiment auch die Keimzellen mitbetroffen worden sind, wozu gewöhnlich eine längere Zeitdauer erforderlich zu sein scheint, so hat dies nichts Überraschendes bei der Überlegung, daß sie doch ebensogut wie die Hypodermiszellen etc. integrierte Bestandteile des Organismus sind und daher dem Einfluß der in ihm eingetretenen Ver- änderungen ebensogut unterliegen. Nur darin besteht zwischen ihnen ein Unterschied, daß bei den Keimzellen die neuerworbene Anlage latent bleibt, während sie sich in den Matrixzellen des Integuments sofort manifestieren kann, weil sie sich hier unter Bedingungen befindet, unter denen mit Beginn der Chitinabsonderung auch die neue Art der Pigmentierung und Zeichnung möglich geworden ist. Die Latenz- periode in der veränderten Anlage der Keimzellen aber dauert‘ so lange, bis der Entwicklungsprozeß in der Aufeinanderfolge der Zell- generationen wieder Matrixzellen des Integuments gebildet und so die Bedingungen geschaffen hat, unter denen die durch das Experiment in den Keimzellen bewirkte idioplasmatische Veränderung endlich ebenfalls in der Erzeugung des Hautkleides mit seinen für uns sicht- baren Eigenschaften der Pigmentierung und Musterzeichnung wahr- nehmbar wird. Vererbung erworbener Anlagen. 569 Die an Tieren ausgeführten Vererbungsexperimente erkläre ich somit weder durch Parallelinduktion, wenigstens nicht in der WEISMANN-DETTOoschen Fassung, noch — für diese speziellen Fälle — nach SEMmoNns Ansicht durch Lei- tungsreize vom Reaktionsort (der sichtbar veränderten Hautstelle) zu den Keimzellen. Vielmehr ist die neuer- worbene Anlage, die am Reaktionsort für uns nur zu einer wahrnehmbaren Eigenschaft geworden ist, der Ausdruck für eine erbliche Veränderung des ganzen Organismus, der den Einflüssen der Außenwelt als eine geschlossene Lebenseinheit entgegentritt und. in allen seinen Zellen genotypisch oder idioplasmatisch ein etwas anderer wird. Es ist dieselbe Erklärung, die ich auch schon für die Ent- stehung pflanzlicher Mutationen gegeben habe. Denn die Ernährungsreize, welche nach der Ansicht der Bota- niker bei Kulturpflanzen den Anstoß zu Mutationen (Fül- lung der Blüten, Pelcrie, Zwangsdrehung, Fasziation etc.) geben, wirken ja auch nicht direkt auf das veränderte Organ, welches, wie die Blüte, bei Beginn des Experi- ments noch gar nicht vorhanden ist, sondern auf die Kon- stitution der ganzen Pflanze ein und wandeln sie geno- typisch um. Die Richtigkeit dieses Gesichtspunktes, auf den ich für das Ver- ständnis der Erblichkeitserscheinungen den größten Wert lege, läßt sich bei manchen pflanzlichen Mutationen auch daran erkennen, daß sie sich von der Stammform, von der sie durch Kultur gewonnen worden sind, durch eine größere Zahl an mehreren Reaktionsorten auftretender kleiner Merkmale unterscheiden. DE VRIES, der jedenfalls die größten Erfahrungen auf diesem Gebiet der experimentellen Biologie besitzt, hat diesen Punkt in seinem Buch: ‚Arten und Varietäten in ihrer Ent- stehung durch Mutation‘ (1906) ausdrücklich hervorgehoben an einer Stelle (S. 346), die ich wörtlich widergebe: ,‚Oenothera gigas und rubrinervis, oblonga und albida zeigen deutlich die Eigentümlichkeiten progressiver elementarer Arten. Sie sind von Lamarckiana, von der sie durch Mutation entstanden sind, nicht durch einen oder zwei Haupt- züge verschieden. Sie unterscheiden sich von derselben in fast allen Organen, und in allen in einem bestimmten, wenngleich geringen Grade. Sie können erkannt werden, sobald sie ihre ersten Blätter ent- wickelt haben, und sie bleiben während ihres ganzen Lebens unterscheid- bar. Ihre Merkmale betreffen hauptsächligh die Belaubung, aber nicht 570 Dreizehintes Kapitel. weniger den Wuchs, und selbst die Samen haben Eigentümlichkeiten. Es kann kaum zweifelhaft sein, daß alle Besonderheiten jeder neuen Art sich von einer einzigen prinzipiellen Ver- änderung herleiten. Aber warum diese die Belaubung in der einen, die Blüten in einer anderen und die Früchte in einer dritten Weise be- einflußt, bleibt dunkel. Um wenigstens einen kleinen Einblick in das Wesen dieser Veränderungen zu gewinnen, ist es am besten, die Unter- schiede unserer Nachtkerzen mit denjenigen zwischen den zweihundert. elementaren Arten von Draba und anderen ähnlichen Fällen zu vergleichen. Wenn wir dastun, finden wir denselben wesentlichen Zug, kleine Unter- schiede in fast allen Punkten.“ Wenn ich mich in den angefühtrten Experimenten gegen die Er- klärung durch Leitungsreize vom veränderten Organ zu den Keim- zellen ausgesprochen habe, weil es sich nach meiner Ansicht um Reize handelt, welche die allgemeine Konstitution des Organismus getroffen und sein im Körper verteiltes Idioplasma im ganzen mutiert haben, so bin ich doch keineswegs ein Gegner der Hypothese einer lokalen In- duktion durch Leitungsreize: ich halte sie vielmehr zur Erklärung vieler Verhältnisse bei der Organbildung gleichfalls für unentbehrlich, ohne dabei die Schwierigkeiten zu verkennen, für sie einen unzweideutigen experimentellen Beweis zu liefern. Ich halte sie schon deswegen für not- wendig, weil es außer den Reizen, welche in der oben besprochenen Weise wirken, ohne Frage auch solche gibt, die nur eine begrenzte Stelle des Körpers treffen und durch ihre konstante Wiederkehr an ihr eine” organische Veränderung als Reaktion hervorrufen, die bei späteren Generationen unabhängig vom Originalreiz in gleichartiger Weise wieder auftritt und daher als erblich geworden bezeichnet werden muß. Als Beispiel wähle ich die Zahnleiste der Wirbeltiere, an der sich die Zähne, in der Schleimhaut verborgen, im Bereich des Ober- und des Unterkiefers anlegen, um später durchzubrechen und in Funk- tion zu treten. Über die Ursachen ihrer phylogenetischen Entstehu können wir uns wohl eine Vorstellung durch das Studium des Zahn- systems niederer, polyphyodonter Wirbeltiere, z. B. der Selachier bilden Denn wir erfahren aus ihm, daß hier die Zähne in der Schleimhaut der Kieferränder nur wenig befestigt sind, daher einer raschen Abnutzu unterliegen und häufig durch neue ersetzt werden. Infolgedessen befinde sich hinter den in Funktion befindlichen Zahnreihen schon 3 oder me zum späteren Ersatz bestimmte Reihen, die, je weiter sie vom Kiefer rand entfernt sind, auf einer um so jüngeren Stufe ihrer Ausbildu stehen. Alle diese Ersatzzähne liegen in größerer Tiefe der Schleimhaut ein- Vererbung erworbener Anlagen. 571 gebettet im Bereich einer Epithelleiste, die vom Epithel der Mundschleim- haut den Kieferrändern entlang in die Tiefe gewachsen ist und als ein für die Bildung und den Ersatz der Zähne bestimmtes Organ bezeichnet werden kann. Ist doch zu der Entwicklung der Zähne außer einer binde- gewebigen Papille auch eine vom Epithel gelieferte Umhüllung erfor- derlich, welche sowohl die äußere Form der Zähne mitbestimmt, als auch ihren Schmelzüberzug erzeugt. Auf dieser vergleichend-anatomischen Grundlage läßt sich die phylogenetische Entstehung der Zahnleiste auf allgemeine Wachstums- ursachen, die man bei den verschiedensten Arten der Organbildung anzunehmen berechtigt ist, zurückführen. Wenn Epithelstrecken durch funktionelle Reize stärker als ihre Umgebung in Anspruch genommen werden, in unserem Fall also für die Produktion der einer häufigen Er- neuerung unterworfenen Zähne der Kieferränder, so werden sie zu Orten einer außerordentlich gesteigerten Zellvermehrung, sie werden dadurch von ihrer mehr in Ruhe befindlichen Umgebung different und müssen sich, um Platz zu gewinnen, in das unterliegende Bindegewebe hinein- senken. Es braucht wohl kaum hervorgehoben zu werden, daß zur Er- klärung solcher Wachstumsvorgänge das Selektionsprinzip von vornherein überflüssig erscheint und gar nicht in Frage kommen kann. Es handelt sich eben um allgemeine Wachstumsgesetze. Das geht auch schon daraus hervor, daß sich in ganz derselben Weise Zahnleisten noch an anderen Stellen der Mundschleimhaut bilden, an welchen einwärts von den Kiefer- rändern Knochen mit Zahnreihen und einem lebhaften Ersatz vorkom- men. Als solche nenne ich den Vomer, das Palatinum, das Pterygoid und Operculare vieler Fische, vieler Amphibien und einzelner Reptilien. Nun ist aber die phylogenetische Erklärung, wie sich leicht ein- sehen läßt, nicht mehr zutreffend und anwendbar, wo es sich um eine erblich gewordene Bildung und um ihre ontogenetische Anlage handelt. Auch die Zahnleiste ist ein erblich gewordenes Organ. Sie entsteht sehr frühzeitig beim Embryo und zwar bei den höheren Wirbeltieren schon längere Zeit vor der Anlage der Zähne, also unabhängig von funktionellen Reizen, die einen stärkeren Zahnersatz hervorgerufen haben; sie ent- wickelt sich sogar bei manchen Wirbeltieren, deren Zahnbildung über- haupt rudimentär geworden ist. Daher müssen jetzt für die Erklärung der Zahnleiste während des embryonalen Lebens innere oder blastogene Ursachen maßgebend sein. Wir werden dadurch zu der Annahme gezwungen, daß die Ver- änderungen, die an bestimmten Stellen in der Mundhöhle vor sich gehen, auch in irgendeiner Weise auf die idioplasmatische Beschaffenheit der 572 Dreizehntes Kapitel. Keimzellen einen Einfluß ausüben. Dieser muß in ihnen bewirken, daß bei einer neu beginnenden Ontogenese die später entstandenen Zellengenerationen wieder eine Zahnleiste erzeugen, wenn die hierfür erforderlichen Bedingungen (Bildung einer Mundhöhle, eines Kieferrandes etc.) durch den Entwicklungsprozeß geschaffen worden sind. Worin die Veränderung im Idioplasma besteht, und in welcher Weise sie bewirkt worden ist, bleibt eineoffene Frage, da sie für die Naturforschung mit ihren derzeitigen beschränkten Hilfsmitteln unlösbar ist. Es kann nur im Allgemeinen ein ursächliches Verhältnis, eine irgendwie beschaffene Beeinflussung der Keimzellen, die von den an einer bestimmten Körperstelle vor sich gehenden Prozessen ausgeübt wird, als Erklärungsprinzip angenommen werden. Zur Begründung ihrer mit der unserigen übereinstimmenden An- schauung haben SEMON und LECHE!) zwei andere Fälle genauer analy- siert. SEMON benutzt dazu die Verschwielung der menschlichen Haut an der Fußsohle. Wie ihr Studium lehrt, ‚bewirkt jeder fort- gesetzte Druck, ganz gleich, ob er Sohle oder Hohlhand oder andere normalerweise nicht einem solchen Druck ausgesetzte Hautstellen trifft, eine mit seiner Stärke zunehmende Verschwielung‘; und diese drückt sich aus „erstens in einer Verdickung und eigenartigen Differenzierung der Hornschicht, zweitens in einer entsprechend starken Tiefenentwick- lung der Leisten des Rete Malpighii sowie einer Vermehrung der Zahl dieser Leisten“. Hierbei entspricht der Grad der Verschwielung an den verschiedenen Stellen der Fußsohle in seiner topographischen Ab- stufung genau der Abstufung des die verschiedenen Punkte verschieden stark treffenden Druckes, ein Verhältnis, das sich nur als Ausdruck der verschieden starken funktionellen Beanspruchung verstehen läßt. In genau entgegengesetztem Sinne wirkt der Fortfall des normalerweise auf die Fußsohle wirkenden Druckes, indem er eine Abschwächung der Verschwielung z. B. an der ursprünglichen Fußsohle des Klumpfußes hervorruft, da sie infolge der Verkrümmung nicht mehr den Fußboden berührt. SEMoON hält mit Recht auch diese Verhältnisse der Verschwielung für sehr geeignet, um aus ihnen mit dem höchsten Grade von Wahr- scheinlichkeit auf die Vererbung eines lediglich durch die Funktion herausgebildeten Komplexes von Charakteren zu schließen. Denn er findet in seinen hierauf gerichteten Untersuchungen schon während 1) Semon, R., Die Fußsohle des Menschen. Arch. f. mikrosk. Anat., Bd. LXXXII, Abt. 2, 1913. — Leche, W., Ein Fall von Vererbung erworbener Eigenschaften. Biol. Zentralbl., 1902, P- 79- Vererbung erworbener Anlagen. 573 der Entwicklung der Fußsohle eine ganz entsprechende und nur in ihren Proportionen abgeschwächte Abstufung in der Verschwielung bereits ontogenetisch vor Einwirkung der Funktion. Auch beim Klumpfuß bildet sich eine Verschwielung aus und erhält sich trotz dauernden Aus- bleibens des normalen Druckes abgeschwächt bis in das späte Lebens- alter. Den Fall hält SEMmoN ‚gerade deshalb für so beweisend, weil die - feinen, rein graduellen Unterschiede der Funktionswirkung sich so ge- “x treulich in den graduellen Unterschieden der erblichen Verschwielungs- dispositionen widerspiegeln“. ‚Daß hier der von WEISMANnN mit Vor- liebe vorgebrachte Zuchtwahleinwand nicht stichhaltig ist‘, fügt SEMON sehr richtig hinzu, ‚liegt auf der Hand. Denn vom Standpunkt der Nütz- lichkeit, also des Selektionswertes aus, sind diese Dispositionen zumal in ihrer feineren Abstufung bedeutungslos.‘ In ähnlicher Weise hat auch WILHELM LEcHE als einen Fall von Vererbung erworbener Eigenschaften die dicken, stark verhornten Schwielen aufgeführt, die sich beim Warzenschwein an den Hand- gelenken ausbilden und jeglicher Haarbekleidung entbehren. Er bringt die Entstehung der Carpalschwielen in direkten kausalen Zusammenhang mit der rutschenden Fortbewegung dieser Tiere auf ihren Handgelenken beim Äsen. Aber auch beim Embryo wird die Schwiele schon deutlich angelegt, obwohl hier eine funktionelle Beanspruchung der betreffenden Gegend des Handgelenkes noch nicht stattfinden kann. Die betreffende Schwielengegend ist nämlich bei ihm ausgezeichnet sowohl durch ihre beträchtlich dickere Oberhaut, als auch durch die völlige Abwesenheit von Haaranlagen, welche dagegen in der umliegenden Hautpartie schon vorhanden sind. Aus diesen Tatsachen zieht LECHE gleichfalls den Schluß, daß die Carpalschwielen beim Warzenschwein im erwachsenen Zustand erworbene Bildungen sind, welche, da sie schon beim Embryo auftreten, vererbt werden. Unzählige derartige Fälle, teils einfacher teils mehr verwickelter Art, lassen sich beim Studium der vergleichenden Anatomie und Ent- wicklungsgeschichte als Zeugnisse für die Auffassung zusammenstellen, daß, wasim Leben des Individuums durch seine Beziehungen zur Umwelt an organischen Einrichtungen erworben wird, sich auch in seiner Nach- kommenschaft durch Vererbung noch forterhält. Das Rudimentärwerden einzelner Organe durch Nichtgebrauch und ihre Erhaltung als Erb- stücke, der Funktionswechsel, die funktionelle Selbstgestaltung der Organe, die wunderbare, bis ins feinste durchgeführte Koadaptation aller zu einem System verbundener Organe, die sich nur durch ihre gegen- seitige Anpassung beim Gebrauch erklären läßt, zusammengehalten 574 Dreizehntes Kapitel. mit der Tatsache, daß schon während der Entwicklung ihr korrelativer Zusammenhang sich vor jeder Funktion ausbildet, gleichsam für den späteren Gebrauch auf das genaueste. vorausberechnet, sind überaus lehrreiche Kapitel der Biologie. Sie sprechen dafür, daß die Erb- substanz unter dem dauernden umgestaltenden Einfluß des Lebensprozesses des ausgebildeten und funktionierenden Organismus. steht. Allerdings wirken Fälle, wie die mitgeteilten, auf die meisten Naturforscher, wenigstens gegenwärtig, nicht so über- zeugend ein, wie die Ergebnisse eines richtig angestellten Experiments. Zum Schluß der Erwägungen, wie sich eine Vererbung erworbener Eigenschaften vorstellen läßt, muß ich noch auf einen Einwand ein- gehen, der von WEISMANN und seinen Anhängern als ein besonders beweiskräftiger öfters erwähnt wird. Der Einwand betrifft die passiv wirkenden Organe. Als solche bezeichnet Aug. WEISMANN (Vorträge, 1902, 1. c., Bd. II, p. 87) alle Organe, die ‚durch ihr Dasein, nicht durch eine wirkliche Tätigkeit, dem Organismus von Nutzen sind“, im Gegen- satz zu anderen, die sich durch ihre Tätigkeit verändern und sich durch . häufigen Gebrauch vervollkommnen, wie Muskeln, Drüsen etc. Er erwähnt als lehrreiche Beispiele hierfür die Skeletteile der Gliedertiere, da ihre harten Chitinstücke durch den Gebrauch nicht mehr verändert werden können; ‚sie sind fertig‘‘, heißt es von ihnen, ‚ehe sie gebraucht werden, und treten erst in Gebrauch, wenn sie schon an der Luft erhärtet und nicht mehr plastisch sind. So kann nirgends am ganzen Körper des Gliedertieres die Anpassung des Skelettes in bezug auf Dicke und Wider- standskraft durch die Funktion selbst geregelt worden sein, sondern nur durch Selektionsprozesse, die jeder Stelle desselben die Dicke zu- j sprechen, die sie braucht, damit der Teil leistungsfähig sei, mag es sich nun um den Widerstand gegen Muskelzug, oder um Biegsamkeit einer Gelenkfalte, um Härte zum Zerbeißen der Nahrung, oder zum Bohren in Holz oder Erde handeln, oder etwa um bloßen Schutz gegen äußere Schädlichkeiten‘“ (l. c. p. 4). WEISMANN erblickt daher im Chitinskelett der Gliedertiere ein geradezu erdrückendes Beweismaterial gegen die Anschauungen der Lamarckianer. Denn wenn Veränderungen passiver Organe, folgert er, nicht durch Vererbung erworbener Eigenschaften, sondern ledig- lich durch Naturzüchtung auf Grund der allgemeinen Variabilität aller Teile entstehen können, so läge auch kein Grund mehr vor, eine uner- wiesene Vererbungsform zur Erklärung der Veränderungen aktiver Organe heranzuziehen (l. c. p. 97). Vererbung erworbener Anlagen. > 575 In der Argumentation von WEISMANN liegt wieder derselbe Fehler vor, der uns schon bei der Deutung der Versuche mit dem Colorado- käfer beschäftigt hat. Allerdings kann der fertig gebildete Arthropoden- panzer, soweit er aus Chitin besteht, als ein passives oder richtiger als ein wenig veränderliches Organ bezeichnet werden, so daß ihn SEMON einer starren Maske verglichen hat; er gehört ja in histogenetischer Hin- sicht in die Reihe der Bildungsprodukte des Körpers. Diese aber sind, was von WEISMANN ganz mit Stillschweigen übergangen wird, von einer bildenden Substanz, einer Schicht von Zellen mit ihren Kernen abhängig (siehe S. 563). Unter der Chitinhaut breitet sich die zu ihr gehörige Hypodermis aus, die gegen Reize der Außenwelt nicht minder empfind- lich ist, als die menschliche Oberhaut, trotzdem sie auch von einer bald dünneren, bald dickeren Schicht verhornter Epidermiszellen zum Schutz überzogen wird. In Wahrheit ist also das Hautskelett der Arthropoden, wenn man zu ihm, wie sich von selbst versteht, noch die darunter ge- legene Hypodermis rechnet, gar kein rein passives Organ, sondern ist mit einer aktiven Bildungsschicht, der Matrix der Histologen älterer Zeit, ausgestattet, und diese besitzt das Vermögen, die Ausbildung des Skeletts ‚in bezug auf Dicke und Widerstandskraft durch die Funktion“ aktiv zu regeln und so Verhältnisse zu schaffen, für welche WEISMANN die „Allmacht der Naturzüchtung‘ in Anspruch nimmt. An einigen konkreten Fällen sei diese aktive Rolle der Hypodermis bei der Erzeugung des Hautskeletts der Arthropoden noch etwas näher erläutert. Die Arthropoden gehören zu den gegliederten Tieren. Dies macht sich auch bei manchen Arten in sehr auffälliger Weise an ihrem Chitinskelett bemerkbar. Ist es doch aus festeren Chitinringen zusammen- gesetzt, die durch weichere, biegsame, chitinige Zwischenstücke in ähn- licher Weise untereinander verbunden sind, wie an der Wirbelsäule des Menschen die knöchernen Wirbel durch die bindegewebigen Ligamenta intervertebralia und intercruralia. In beiden Fällen wird durch die Gliede- rung dasselbe Ergebnis erreicht. Der Körperabschnitt behält einen ge- wissen Grad von Beweglichkeit, während er bei gleichmäßiger Ver- knöcherung des Achsenskeletts oder bei gleichmäßig dicker Chitinisie- rung der Haut sie verloren haben würde. Wer sich nun die Frage nach der Entstehungsursache der beiden verschiedenen Arten der Gliederung vorlegt, wird über sie kaum in Zweifel sein können. Sie liegt in dem ge- gliederten Bau des ganzen Körpers, welcher zu den wichtigsten syste- matischen Merkmalen der Wirbeltiere, der Arthropoden und der Anneliden gehört. Die Gliederung, welche sich sehr frühzeitig ausbildet, betrifft auch die Muskelanlage und zerlegt das ihr dienende Zellmaterial in viele ti . N 576 Dreizehntes Kapitel. aufeinander folgende Muskelsegmente. Indem aber die segmentweise abgeteilten Muskelfasern mit ihren Enden sich an das innere Achsenskelett bei den Wirbeltieren oder an die chitinisierte Haut bei den Wirbellosen ansetzen, sind sie imstande, nicht nur dieselben zu biegen, solange sie noch nicht vollkommen starr geworden sind, sondern auch dem Ein- tritt einer gleichmäßigen Erstarrung durch ihre Wirksamkeit recht- zeitig entgegenzuwirken. Denn je nach dem Ansatz der segmentweise angeordneten Muskelfasern werden einzelne Strecken des Achsenskeletts sowie der chitinisierenden Haut gedehnt, so daß dort die Verknöcherung, hier die verstärkte Chitinausscheidung unterbleibt. Von diesen Gesichtspunkten aus betrachtet, liegen sehr handgreif- liche, in der vorausgegangenen Organisation der Arthropoden begründete Ursachen vor, welche es bewirken, daß in der Mitte der Segmente, deren Haut weniger gedehnt wird, die Chitinabsonderung eine dickere und festere wird, als an den dazwischen gelegenen Strecken, die durch den Hautmuskelschlauch einer Dehnung und Erschlaffung ausgesetzt sind. Die Hypodermis mit ihrer chitinabsondernden Funktion wird also in ihren verschiedenen Bezirken in sehr ungleicher Weise durch die auf sie wirkenden Reize in Anspruch genommen. So kommen wir denn zu dem ganz entgegengesetzten Schluß als WEISMANnN, daß das Hautskelett der Arthropoden in bezug auf Dicke und Widerstandskraft durch die Funktion selbst geregelt wird, nicht aber durch das umständliche und für solche Aufgaben ganz ungeeignete Selektionsprinzip. Der Gleiche gilt für einen zweiten von WEISMANN erörterten Fall. Es gibt verschiedene, außer jedem verwandtschaftlichen Zusammen- hang stehende Arten von Arthropoden und Insekten, die Einsiedlerkrebse und die Larven der Köcherfliegen, welche die Gewohnheit angenommen haben, einen großen Teil ihres Körpers durch ein künstliches Gehäuse zu schützen. So bergen die Einsiedlerkrebse ihren Hinterleib in einer leeren Schneckenschale, und die im Wasser lebenden Larven der Köcher fliege fertigen sich aus Pflanzenteilen ein Gehäuse an, aus welche sie nur die vorderen Körpersegmente herausstrecken. Hier wie do hat die besondere Lebensgewohnheit die gleiche Folge gehabt, daß die Chitinhaut der künstlich geschützten Körpergegenden, im Gegensatz zum unbedeckten Abschnitt, dünner und weicher geworden ist. Di verschiedene Beschaffenheit des Chitins fällt schon auf den ersten Blic dem Beobachter auf. Auch hier sucht WEISMANN wieder die Erklärung in der Naturzüchtung, während nach unserer Ansicht beide Fälle in d Kapitel der rudimentären Organe gehören. Zu einer festen Chitini- sierung der Oberfläche kommt es nämlich an dem geschützten Körper Vererbung erworbener Anlagen. 577 teil nicht mehr aus dem einfachen Grund, weil durch die künstlich ge- schaffene Bedeckung die normalen Hautreize wegfallen, durch welche die Hypodermis an den unbedeckten Körperabschnitten zur Chitin- produktion angeregt wird. Die Sachlage ist genau dieselbe, wie bei dem Oberflächenepithel der Lippe an ihrer äußeren und inneren Fläche. Je nachdem es direkt dem Einfluß der Luft unterliegt oder durch den Mundspeichel feucht erhalten wird, trägt es dort den Charakter der Epidermis mit ihren be- kannten Schichten, hier den Charakter des geschichteten Plattenepithels einer Schleimhaut; der Übergang zwischen beiden vollzieht sich am angefeuchteten Lippenrand. Würde man ein Stück der Lippe dauernd nach außen umklappen, so daß sie nicht mehr durch Speichel feucht erhalten wird, so würde das geschichtete Plattenepithel unter dem Reiz der Luft bald eine andere Beschaffenheit gewinnen und sich mit einer stärker verhornten Schicht überziehen. In derselben Weise erklärt sich die Chitinveränderung an den geschützten Körperteilen der Einsiedler- krebse und der Phryganidenlarven. Sie ist eine direkte Folge der ver- änderten Umweltsfaktoren; sie ist durch Vererbung von Generation zu Generation in der Spezies noch weiter fixiert worden. Bei dem ganzen Vorgang hat nicht das abgeschiedene passive Chitin, sondern die unter ihm gelegene aktive Bildungsschicht gemäß den sie neutreffenden Reizen reagiert. Ebenso wird nicht das Bildungsprodukt, der Chitinpanzer, _ sondern nur die Fähigkeit, einen solchen im Einklang mit den gegebenen Bedingungen zu bilden, oder, wie schon früher gezeigt wurde, es wird nicht ein Merkmal des ausgebildeten Organismus, sondern nur die An- lage zu seiner Hervorbringung im Entwicklungsprozeß vererbt. Überall im Körper ausgebreitet und in den Kernen der lebenden Zellen lokali- siert findet sich ja das aktive Idioplasma, welches auf die allerverschie- densten, inneren und äußeren Reize reagiert und durch Beeinflussung des Stoffwechsels der Zelle und ihrer formativen Tätigkeit die dem Reiz entsprechenden zweckmäßigen Reaktionsprodukte hervorbringt. Wenn es sich hierbei selbst bei dauernd wiederkehrenden Reizen an einem Ort verändert und neue Anlagen erwirbt, so können diese allnfäh- lich zu einem Gemeingut des ganzen idioplasmatischen Systems werden, dem der vom Reiz zunächst betroffene lokale Teil angehört. Somit gibt es unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung und der Erblichkeit über- haupt keine passiven Organe in der von WEISMANN angenommenen Bedeutung. Nur dadurch, daß WEISMANnN diesen kardinalen Punkt ganz übersehen hat, konnte er in den als passiv von ihm bezeichneten Organen, wie er meint, ein unwiderlegliches Argument gegen den La- O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl. 37 marckismus und gegen die Vererbung erworbener Eigenschaften erblicken. Wir kommen zum Schluß. Um zum Träger erblicher Erscheinungen zu werden, muß die Zelle ein auf das feinste abgestuftes Reaktions- vermögen für alle Vorgänge haben, die sich teils im Innern eines viel- zelligen Organismus abspielen, teils auch als Umweltsfaktoren auf sie einwirken. Wir stehen hier wohl vor Problemen der Naturforschung, deren mechanische Erklärung wir gegenwärtig um so weniger erhoffen können, als schon die jedenfalls viel einfachere Erklärung der chemischen Affinität für den Physiker eine noch kaum angreifbare Aufgabe dar- stellt. Als integrierter Bestandteil eines Organismus muß jede Keimzelle — so viel können wir wohl, ohne zu irren, behaupten — auch an seinem Lebensprozeß in irgendeiner Weise teilnehmen, gleichwie in einem einfacheren mechanischen System ein jeder Teil von den Veränderungen des Ganzen betroffen wird. Dementsprechend hat schon NÄGELI angenommen, daß die zum Idioplasma organisierten Eiweißkörper ein Bild ihrer eigenen lokalen Veränderung nach anderen Stellen im Organismus führen und dort eine mit dem Bilde übereinstimmende Veränderung bewirken. ‚Jede Ver- änderung, die das Idioplasma an irgendeiner Stelle erfährt‘, bemerkt er, „wird überall wahrgenommen und in entsprechender Weise verwertet. Wir müssen sogar annehmen, daß schon der Reiz, der lokal einwirkt, sofort überallhin telegraphiert werde und überall die gleiche Wirkung habe; denn es findet eine stete Ausgleichung der idioplasmatischen Spannungs- und Bewegungszustände statt. Diese fortwährende und allseitige Fühlung, welche das Idioplasma unterhält, erklärt den sonst 578 Dreizehntes Kapiıtei., | | > auffallenden Umstand, daß dasselbe trotz der so ungleichartigen Er- nährungs- und Reizeinflüsse, denen es in den verschiedenen Teilen eines Organismus ausgesetzt ist, doch sich überall vollkommen gleich ent- wickelt und gleich verändert, wie wir namentlich aus dem Umstande ersehen, daß die Zellen der Wurzel, des Stammes und des Blattes ganz dieselben Individuen hervorbringen‘“ (l. c. p. 59). ,‚Das Idioplasma in einem beliebigen Teil des Organismus erhält Kunde von dem, was in den übrigen Teilen vorgeht. Dies ist dann möglich, wenn seine Ver- änderungen und Stimmungen auf materiellem und dynamischem Wege: überallhin mitgeteilt werden.“ Und an dritter Stelle heißt es: ‚Die von außen kommenden Reize treffen den Organismus gewöhnlich an einer bestimmten Stelle; sie bewirken aber nicht bloß eine lokale Um- änderung des Idioplasma, sondern pflanzen sich auf dynamischem Wege auf das gesamte Idioplasma, welches durch das ganze Individuum‘ | = I ß Vererbung eıwoıbener Anlagen. 579 ı sich in ununterbrochener Verbindung befindet, fort und verändern es überall in der nämlichen Weise, so daß die irgendwo sich ablösenden Keime jene lokalen Reizwirkungen empfunden haben und ererben.“ Im Sinne unseres ontogenetischen Kausalgesetzes können wir das Verhältnis auch in der Weise ausdrücken: Der Lebensprozeß jeder ein- zelnen Zelle muß unter den verschiedenartigsten Einwirkungen, denen er unterliegt, auf das Gesamtleben des Organismus, an dem er teilnimmt, gleichsam abgestimmt sein und bleibt es auch dann, wenn die einzelnen Zellen durch Arbeitsteilung und Differenzierung spezielle Leistungen ausgebildet haben, was doch auch nur im Dienste des ganzen und in Beziehung zu ihm geschehen ist. Unter diesenGesichtspunkten betrachtet, kann jede einem bestimmten Organismus zugehörige einzelne Zelle als der einfachste Repräsentant seiner Eigenart bezeichnet werden; sie kann, wenn sonst die hierfür notwendigen Bedingungen noch erfüllt sind, auch abgetrennt vom Ganzen, durch ihr Wachstum wieder dasselbe reproduzieren oder wieder zum Ausgangspunkt eines Lebensprozesses derselben Art werden, an dem sie früher teilgenommen hat. Insofern ist die Keimzelle auch die präformierte Anlage für die nächste Gene- ration, die durch sie gleichsam das von der vorausgegangenen Generation überlieferte Erbe antritt. Gewiß handelt es sich hier um eine Art der Reproduktion von so unfaßbarer Kompliziertheit, daß sie in der gesamten Natur nicht ihresgleichen findet. Und doch hat die technische Wissenschaft im letzten Jahrhundert schon mit verhältnismäßig einfachen chemisch- physikalischen Mitteln Reproduktionsmethoden ausfindig gemacht, die zur Zeit ihrer Entdeckung allgemeine Verwunderung hervorriefen. Auf einer chemisch hergerichteten Glasplatte können wir uns naturgetreue Bilder von Personen und Landschaften, selbst in verschiedenen Farben verschaffen und sie dann wieder in einfacher Weise und nach verschiedenen Methoden unzählige Male vervielfältigen; mittels einer mitschwingenden Membran und einer an ihr angebrachten Übertragungsvorrichtung können wir das Lied einer Sängerin oder die Töne eines aus vielen Instru- menten zusammengesetzten Orchesters auf eine präparierte Wachs- platte als Engramm übertragen und von dieser wieder durch den Phono- graphen beliebig oft und nach Jahren in einer so großen Vollendung pro- duzieren, daß die Illusion, am Konzert teilzunehmen, in uns wachgerufen werden kann. Mittels des Telephons kann das in einer Stadt gesprochene _ Wort auf weite Entfernungen durch einen feinen Kupferdraht fortge- leitet und am anderen Orte durch eine schwingende Membran wieder so deutlich reproduziert werden, daß wir mit dem weit entfernten Be- 37° 580 Dreizehntes Kapitel. kannten ein Gespräch führen und selbst den Ton seiner Stimme unter- scheiden können. Wenn wir so sehen, wie durch relativ einfache Stoffe der unbelebten Natur, durch einen Kupferdraht, eine chemisch präparierte Glasplatte, eine Wachstafel, die kompliziertesten Verhältnisse: ein Konzertstück, das Lied einer Sängerin, eine Landschaft, eine menschliche Figur mit ihrem Gesichtsausdruck entweder bloß übermittelt (Telephon) oder dauernd als Engramm festgehalten und in diesem Fall durch geeignete Vorkehrungen beliebig oft reproduziert werden können (Phonograph, photographische Platte), liegt es dann nicht nahe, zur Erklärung der Erblichkeit ein noch höher und feiner ausgebildetes Reproduktionsver- mögen auch bei der am höchsten organisierten Substanz der Natur, dem lebendigen Organismus der Zelle, anzunehmen ? Eine Erklärung der Erblichkeit in dieser Richtung zu suchen, wird uns um so mehr nahegelegt, als wir aus innerer Erfahrung wissen, daß wir schon ein ähnliches Vermögen in unserem Gedächtnis besitzen. Nach dem von FECHNER aufgestellten Funktionsprinzip besitzt unsere Hirnsubstanz das Vermögen, Zustände der Außenwelt, die ihr auf den verschiedensten Wegen durch Sinnesorgane für chemische, photische, mechanische, akustische, thermische Reize in Bildern, Tönen und anderen Empfindungen zugetragen werden, in das ihr eigene, aus Ganglienzellen und Nervenfibrillen zusammengesetzte materielle System aufzunehmen und aufunbekannte Weise inihm durch Zeichen (Engramme) festzuhalten. Diese können dann für kürzere oder längere Zeit unter der Schwelle des Bewußtseins in uns fortbestehen, bis sie gelegentlich entweder durch einen äußeren Anstoß oder aus inneren Ursachen wieder reproduziert werden, als Erinnerungsbilder auftauchen und als Grund- lage für andere komplizierte psychophysische Prozesse unseres Denkens und Wollens dienen. Schon im Jahre 1870 hat der berühmte Physiologe HERING diesen Gedanken in einem geistreichen Vortrag in der Wiener Akademie: „Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie“ näher ausgeführt. Auf denselben habe ich wieder 1898 die Aufmerk- samkeit gelenkt in meiner Allgemeinen Anatomie und Physiologie, die in späteren Auflagen unter dem Titel der Allgemeinen Biologie er- schienen ist. Ich nahm hierbei den Standpunkt ein, daß sich in der Tat interessante Analogien zwischen den Erscheinungen der Erblichkeit und des Gedächtnisses erkennen und zum besseren Verständnis des schwierigen Problems verwerten lassen. Den HerınGschen Gedanken hat darauf R. SEMON 1904 in scharfsinniger Weise weiter durchzufüh, 0 & EUR ne A; Re a; en Bei - Vererbung erworbener Anlagen. 581 und zu vertiefen gesucht in seinem Buch: ‚Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens‘). Bei aller Anerkennung der Berechtigung des Herınsschen Er- klärungsversuches habe ich indessen von Anfang an nicht unterlassen, auch darauf aufmerksam zu machen, daß man sich hüten müsse, in ge- wissen Übereinstimmungen, die ein Vergleich zwischen den wunder- baren Eigenschaften des Idioplasma und den nicht minder wunderbaren Eigenschaften der Hirnsubstanz aufdeckt, mehr als eine Analogie er- blicken zu wollen. Daß diese Analogie keine Identität ist, fügte ich hinzu, brauche für den Einsichtigen kaum bemerkt zu werden. Auch jetzt noch bin ich dieser Ansicht. Denn wie die materiellen Grundlagen des Gedächtnisses und der Erblichkeit, nämlich die Hirn- | | substanz und das Idioplasma, verschieden sind, so auch die in beiden ablaufenden Prozesse. Von Gedächtnis spricht man in der Physiologie und Psychologie doch nur bei Organismen mit einem schon hochent- wickelten Nervensystem und nimmt zugleich an, daß es an die Ent- wicklung des Großhirns gebunden ist. Daß Pilanzen oder die einzelligen Infusorien, Algen und Pilze ein Gedächtnis haben, wird kaum jemand behaupten, oder er gibt von vornherein dem Begriff „Gedächtnis“ eine viel weitere Fassung, als es in der Physiologie üblich ist. Das Vermögen der Erblichkeit kommt aber allen Organismen und jeder Zelle zu. Daher kann ich im allgemeinen auch nicht empfehlen, daß für die Hirnphänomene gebrauchte Wort ‚Gedächtnis und ‚Erinnerung‘ auf das Vermögen der Erbmasse, Reihen von Zuständen festzuhalten und wieder zu re- produzieren, einfach zu übertragen. Es scheint mir richtiger, anstatt dessen den Begriff ‚‚Reproduktionsvermögen“ für die Erscheinungen der Erblichkeit zu verwenden. Dagegen halte ich den Vergleich für außerordentlich lehrreich, weil er uns auf Eigenschaften der organisierten Substanz hinweist, von denen uns die anatomisch-physiologische Unter- suchung nichts lehren kann, von denen uns aber das Studium unserer eigenen Bewußtseinsvorgänge oder die Physiologie Kunde gibt. Die beim Gedächtnis und bei der Erblichkeit sich ab- spielenden Vorgänge fallen unter den allgemeinen Begriff der Reproduktion. Insofern zeigen sie eine Reihe von Übereinstim- ‚ mungen und lassen sich unter eine allgemeinste Formel bringen, wenn ı) Hering, Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie. Almanach d. Kais. Akad. d. Wissensch., 20. Yahrg., Wien 1870. — Fechner, Elemente der Psychophysik, 2. Aufl., 1889. — "Hertiwig, Oscar, Die Zelle und die Gewebe, Bd. II, 10 P. 242—250.— Derselbe, Allgemeine Biologie, 4. Aufl., 1912, Kap. 28. — ltichard, Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen rar Leipsig 1904, 2. Aufl., 1908. Veränderungen irgendeiner Art als ‚„‚Engramme‘ (SEMoN) in ihm auf- bewahrt und zu inneren Ursachen werden, die sich in der Folge wieder in abgeleiteten Wirkungen innerhalb des Systems manifestieren und zu. ihrer Erklärung herangezogen werden müssen. Bei dieser Über- einstimmung zwischen dem Gedächtnis und dem Vermögen der Erb- lichkeit handelt es sich aber — was nicht aus dem Auge verloren werden darf — keineswegs um eine wirkliche Identität. Denn die miteinander verglichenen Prozesse laufen — abgesehen davon, daß sie auch sonst Verschiedenheiten darbieten — schon an einem wesentlich anders be- schaffenen organischen Substrat ab, die einen an einem System von Gang- lienzellen und Nervenfibrillen und den dazu gehörigen Sinnesorganen, welche die Originalreize zuleiten, die anderen dagegen an dem reizbaren Idioplasma der Zelle. Wenn also ein Erinnerungsbild an Ereignisse, die längst abgelaufen sind und jetzt nicht mehr unmittelbar auf uns wirken können, trotzdem aus inneren Ursachen von der Hirnsubstanz repro- duziert wird, so offenbart sich uns darin die Macht des Gedächtnisses oder des an das Vorhandensein eines Nervensystems gebundenen Er- innerungsvermögens der organischen Substanz. Wenn dagegen embryo- nale Prozesse aus inneren Ursachen, die auf der eigentümlichen, im Laufe der Stammesgeschichte langsam erworbenen Organisation der Erbmasse beruhen, in zweckmäßiger Weise Organe schaffen, die, wie Auge und Ohr, für äußere, erst später eintretende Einwirkungen im voraus berechnet sind, so offenbart sich uns darin das Wesen der Vererbung, jener Fähig- keit der organisierten Substanz, häufiger wiederkehrende Einwirkungen der Umwelt durch molekulare Veränderungen in ihr System aufzunehmen und so in eine Anlage umzuwandeln, bereit, sich bei Gelegenheit zu ö entfalten, gleichwie das im Gedächtnis der Hirnsubstanz aufbewahrte Erinnerungsbild wieder lebendig werden kann. H Oder mit anderen Worten ausgedrückt: Während der Entwick lung einer Artzelle nehmen die sich bildenden Teile schon lange Zeit. vor ihrem Gebrauch diese und jene für besondere Gebrauchweici berechneten Formen an, weil diese im Laufe der Stammesgeschichte‘ von den vorausgegangenen Generationsreihen allmählich erworben und als Engramme nach der Sprechweise von SEMON in dem materiellen System der Erbmasse festgehalten worden sind. Zurzeit sind wohl alle Versuche als aussichtslos zu betrachten, eine Struktur und einen Mechanismus der organisierten Substanz aus- zuklügeln, vermöge deren sich die Erscheinungen des Gedächtnisses 582 Dreizehntes Kapitel wir sagen: Äußere Ursachen (Originalreize SEMoNs) üben auf ein zu- sammengesetztes organisches System Wirkungen aus, die als materielle Ü Wer ir Vererbung erworbener, Anlagen. 583 und die Erscheinungen der Vererbung mechanisch erklären lassen. Wenn wir auch in den feineren Bau des Gehirns, in die Form und Ver- bindung der Ganglienzellen durch Nervenfibrillen und in die Anordnung der letzteren zu Leitungsbahnen schon tiefer eingedrungen sind, so bleibt es uns gleichwohl ein Rätsel, wie in diesem materiellen Substrat Ein- drücke der Außenwelt in Zeichen festgehalten und nach langer Zeit wieder als Erinnerungsbilder reproduziert werden können; es bleibt uns unerklärlich, wie im Gedächtnis eines Klavierspielers sich in Blitzeseile Akkord an Akkord anschließt und gleichzeitig durch Willensimpulse Muskelgruppen der Hand zu den kompliziertesten Bewegungen in rascher und absolut sicherer Folge veranlaßt werden. Noch mehr ist es unmöglich, sich von der feineren Organisation des ‚Idioplasma, da sie ganz dem unsichtbaren Molekulargebiet angehört, eine irgendwie begründete Vorstellung zu machen, wie es WEISMANN durch eine erkünstelte und mit willkürlichen und falschen Annahmen konstruierte Determinantenlehre getan hat. Ich stehe hier auf demselben Standpunkt, den NERNST bei ähnlichen Problemen der theoretischen physikalischen Chemie eingenommen hat (Seite 48), und halte die über sie angestellten Spekulationen für verfrüht. Es ist genug, wenn wir annehmen, daß das Idioplasma eine sehr komplizierte molekulare Organi- sation besitzt und sich aus zahllosen kleinsten, mit Wachstum und Teil- barkeit ausgestatteten lebenden Teilkörperchen zusammensetzt, daß es daher auch in physiologischer Beziehung eine sehr reizbare Substanz ist, die auf die verschiedenartigsten Reize in feinsten Abstufungen zu reagieren befähigt ist. Wer darüber hinaus sich noch detailliertere Vor- stellungen über ihren Bau und ihre Wirkungsweisen zu bilden versucht, scheint mir Gefahr zu laufen, den festen Grund und Boden der Natur- wissenschaft ganz zu verlieren. Weniger schwierig ist es dagegen, wenigstens prinzipiell zu ver- stehen, daß die in der Erbmasse vorhandenen Anlagen sich zeitlich in einer gewissen Reihenfolge entfalten müssen. Denn hier bietet uns der Entwicklungsprozeß selbst einen Anhalt, indem er lehrt, daß sich die Anlagen in demselben Maße entfalten, als die Anlagesubstanz durch Vermehrung der Zellen, durch Potenzierung der Anlage {man vergl. hierüber Kap. IV) wächst. Denn hierdurch werden die einzelnen Zellen zueinander und zu ihrer äußeren Umgebung in neue Bedingungen ge- bracht, durch welche die in ihnen latenten Anlagen geweckt werden. Es werden durch das mit Vermehrung der Zellen einhergehende Wachs- tum immer neue Zustände in derselben Reihenfolge geschaffen, wie sie in der Stammesgeschichte entstanden sind. Die im Laufe der Ent- 584 Dreizehntes Kapitel. Vererbung erworbener Anlagen. wicklung eintretende morphologische und histologische Sonderung wird daher durch den morphologischen Ort bestimmt, den die Zellen an. der zusammengesetzten Lebenseinheit infolge ihres Wachstums ein-- nehmen; sie ist daher, wie man kurz sagen kann, ‚eine Funktion des Orts“ (VÖCHTING, DRIESCH). In demselben Sinne hat auch NÄGELI bemerkt: ‚Mit dem wich- tigen Umstand, daß die idioplasmatischen Anlagen in derselben Folge zur Verwirklichung kommen, in der sie entstanden sind, steht der andere, vielleicht nicht minder bemerkenswerte Umstand in Verbindung, daß das Idioplasma bei der ontogenetischen Entwicklung sich sukzessive in anderer morphologischer, teilweise auch in anderer physiologischer Umgebung befindet, und zwar jeweilen in derjenigen Umgebung, welche mit jener analog ist, in der die Anlage, die sich zunächst ent- falten soll, entstanden ist. Es ist aber selbstverständlich, daß die Beschaffenheit der umgebenden Substanz nicht ohne Einfluß auf die Entfaltung der idioplasmatischen Anlagen sein kann.“ Mit den vorausgeschickten Betrachtungen ist die Biologie nach meiner Ansicht schon bis an die äußersten Grenzen der für naturwissen- schaftliche Forschung zulässigen Spekulation vorgedrungen. Was uns zurzeit auf dem Gebiet der Erblichkeitslehre not tut, sind nicht will- kürlich zurechtgelegte Hypothesen, die oft wie Eintagsfliegen vergehen, sondern sorgfältig ausgeführte Beobachtungen, und vor allen Dingen an geeigneten Objekten kritisch angestellte Experimente. Noch sind dieselben spärlich. Aber der Anfang ist gemacht; und so wird auch der weitere Erfolg auf dem betretenen Weg nicht ausbleiben! Vierzehntes Kapitel. Die Geschichte der Deszendenztheorien. Lamarckismus und Darwinismus'). Wie uns die historische Einleitung im I. Kapitel gezeigt hatte, haben sich hervorragende Naturforscher und Philosophen schon lange Zeit vor LAMARCK und DArwın mit der Frage nach der Entstehung der Organismen beschäftigt. Die alten Evolutionisten sowohl wie die An- hänger der Epigenesis und die Vertreter der Panspermie konzentrierten hierbei ihr Augenmerk mehr auf die eine Seite des Problems, welche die Entstehung der Tochter- aus den Mutterorganismen, also die Gestal- tung des Individuums aus den Zeugungsstoffen, betrifft. Indessen gibt es neben diesem ontogenetischen Problem, wie man esnach HacEckELs Ter- minologie bezeichnen kann, noch ein zweites, das phylogenetische Pro- blem. Es handelt von der natürlichen Entstehung des Pflanzen- und 1) Lamarck, Jean, Zoologische Philosophie. Nebst einer biographischen Ein- leitung von Ch. Martins. Übersetzt von A. Lang, Jena 1876. — Darwin Charles, On the origin of species by means of natural selection, London 1859. Zitate aus der 5. Aufl. der deutschen Übersetzung: Über die Entstehung der Arten durch natür- liche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe ums Da- sein, 1872. — Derselbe, The variation of animals and plants under domesticatıon, London 1868. Zitate aus der 2. Aufl. der deutschen Übersetsung: Das Variieren der Tiere und Pflanzen im Zustande der Domestikation, Bad. I u. II, 1873. — Derselbe, The descent of man and selection in relation to sex, 1871. Zitate aus der 2. Aufl. der deutschen Übersetzung: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zucht- wahl, Bd. I u. II, 1871. — Haeckel, Ernst, Generelle Morphologie der Organismen, Bd. I u. II, Berlin 1866. — Derselbe, Natürliche Schöpfungsgeschichte, 1808, 10. Aufl., 1902. — Derselbe, Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen, 1874, 5. Aufl., 1903. — Spencer, Herbert, Die Prinzipien der Biologie. Übersetst von Vetter, Bd.I u. II, 1876, 1877. — Nügeli, Carl, Mechanisch- physiologische Theorie der Abstammungsichre, München 1894. — Hertwig, Richard, Die Abstammungslehre. In: Die Kultur der Gegenwart. Organische Naturwissensch., Bd. IV, 1914. — Weismann, Aug., Die Allmacht der Natursüchtung. Eine Er- widerung an Herbert Spencer, Jena 1893. — Derselbe, Die Selektionstheorie, Jena 1909: =86 Vierzehntes Kapitel Tierreichs im Verlaufe der Erdgeschichte oder, wie es DARWIN ausge- drückt hat, von der „Entstehung der Arten“. Durch dasselbe ist zu erklären, wie die unzähligen Lebewesen, die jetzt in den verschiedensten Arten Erde und Wasser bevölkern, aus natürlichen Ursachen sich im Laufe der Zeiten gebildet und ihre besondere Stellung im Haushalt der Natur eingenommen haben. Es liegt klar auf der Hand, daß beide Probleme sich methodologisch nicht unerheblich voneinander unterscheiden. Die Ontogenese der Organismen ist einer direkten naturwissenschaftlichen Untersuchung mit ihren exakten Methoden zugänglich; sie spielt sich tagtäglich bei jeder Organismenart vor unseren Augen ab. Sie kann jederzeit zum Gegenstand mikroskopisch-anatomischer, chemischer, physikalischer Ana- lysen gemacht werden. In der Tat ist hier in einem Jahrhundert emsiger wissenschaftlicher Arbeit auf solider Grundlage ein imposantes Lehr- gebäude aufgeführt worden, welches eine Fülle reicher und gesicherter Naturerkenntnis birgt. Die Stammesgeschichte der Organismen oder ihre Phylogenie da- gegen ist in dieser Weise einer naturwissenschaftlichen, direkten Unter- suchung nicht zugänglich. Denn wie die Vorfahrenketten der jetzt lebenden Organismen nicht mehr existieren, so sind desgleichen auch alle Naturprozesse, durch welche sie entstanden sind, die inneren und äußeren Bedingungen abgelaufen, deren Kenntnis zum ursächlichen Verständnis aller biologischen Entwicklungsprozesse unerläßlich ist. Das Studium der Stammesgeschichte kann daher selbst- verständlicherweise nur ein naturhistorisches und ein natur- philosophisches sein. In der ersten Beziehung erstreckt es sich auf die Urkunden, die als Reste ausgestorbener Lebewesen durch die paläontologische Forschung in unsere Hände gelangen. Es gleicht hierin der Geschichtsforschung, wenn sie die auf unsere Zeit gekom- menen Überlieferungen verschiedenster Art, Darstellungen alter Schrift- steller, Denkmäler, Münzen, Steininschriften, Hieroglyphen, Keilschriften etc. benutzt, um uns ein Bild von früheren Staatsaktionen und von dem Leben der alten Völker zu geben. Bei einem Vergleich dieser Urkunden der einen und der anderen Forschungsrichtung ist aber nicht zu ver- kennen, daß die Geschichtsforschung, soweit sie nicht zu weit in die Vorzeit einzudringen versucht, über ein ungleich besseres und sichereres Ouellenmaterial verfügt, als die Paläontologie. Denn wenn uns diese eine teilweise Vorstellung von Lebensformen gibt, die in einer für unsere Begriffe unendlich weit zurückgelegenen Zeit, während der Kreide-, der Juraformation etc. gelebt haben, so sind es doch nur kümmerliche Lamarckismus und Darwinismus. 587 Reste; denn sie betreffen meist nur das für den Lebensprozeß am wenig- sten wichtige Organsystem, das Knochen- und Schalengerüst. Dazu fehlt uns noch jede Möglichkeit eines Nachweises, daß überhaupt ein genealogischer Zusammenhang zwischen den heutigen Lebewesen und den fossilen Resten besteht. Kann doch die Deszendenz der letzteren auch im Laufe der Jahrtausende, wie wir es bei menschlichen Familien erleben, ausgestorben sein. Das ist eine Möglichkeit, mit der in jedem Falle immerhin gerechnet werden muß. Im Vergleich zum naturhistorischen ist das naturphilosophische Studium der Stammesgeschichte umfassender und ergebnisreicher. Denn gestützt auf die gesamten Kenntnisse, welche wir von der Onto- genie, vergleichenden Anatomie und Systematik der lebenden Organismen, von ihrer Physiologie und Biologie durch Beobachtung und Experimente auf streng naturwissenschaftlichem Wege gewonnen haben, versucht der Forscher, die ihnen zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten in jeder . Richtung festzustellen, und dann benutzt er wieder die so gewonnenen Einsichten in die Natur der Lebewesen, um deduktiv sich ein Bild von ihrer Entwicklung im Laufe der Erdgeschichte zu entwerfen. Das Ver- fahren ist somit im Grunde dasselbe, welches den Naturphilosophen in der Astronomie zur Konstruktion einer Kosmogonie geführt hat, zu einer Weltenentstehung, die nur aus den uns bekannten astronomischen Gesetzen gefolgert wird. Nur darin besteht eine Verschiedenheit, daß die biologischen Gesetzmäßigkeiten komplizierter, verschiedenartiger, noch weniger durchforscht und vor allen Dingen nicht in mathematische Formeln zusammenfaßbar sind, wie die astronomisch-mechanischen. Das Studium der Phylogenie kann daher seinem ganzen Wesen nach nur zu sehr hypothetischen Vorstellungen von der natürlichen Ent- stehung der Organismenwelt im Laufe der Erdgeschichte führen; es nimmt dadurch im System der Wissenschaften eine ganz andere Stellung als alle übrigen biologischen Disziplinen ein, die sich mit naturwissen- schaftlichen Methoden bearbeiten lassen und daher uns ein auf wirklicher Erfahrung beruhendes Wissen verschaffen. Mit dem phylogenetischen Problem haben sich schon die natur- philosophischen Richtungen in der Biologie am Ende des 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts beschäftigt. Ich erwähne nur OKEN, der in seiner Naturphilosophie die Lehre vom Urschleim aufstellte und die Pflanzen und Tiere des Landes von Organismen des Meeres ableitete, oder KIELMEYER, der die höheren Tiere in ihrer Entwicklung die Stufen des Tierreichs durchlaufen ließ, oder GOETHE, der über die Metamorphosen der Pflanzen und Tiere schrieb. Wie in Deutschland, philosophierten 588 Vierzehntes Kapitel, gleichzeitig über die Entstehung der Organismenwelt, in Frankreich LAMARCK und G. ST. HILAIRE und in England ERASMUS DARwIN, der berühmte Großvater seines noch berühmteren Enkels. Unter diesen Forschern ragen an allgemeiner Bedeutung LAMARCK und CHARLES DARWIN ohne Frage weit hervor und beherrschen durch die von ihnen formulierten Ideen, die in mancher Beziehung in einem schroffen, wenn auch erst später schärfer hervortretenden Gegensatz zueinander stehen, noch auf das Nachhaltigste die biologische Forschung der Gegenwart. Lamarckismus und Darwinismus sind zwei Schlag- worte geworden, unter denen man zwei entgegengesezte und sich in vielen Punkten bekämpfende Richtungen in der wissenschaftlichen Behandlung des phylogenetischen Problems bezeichnet. Ehe ich auf die Streitfragen, auf meine Stellung zu ihnen und auf meine Auffassung von der natür- lichen Entwicklung der Organismenwelt eingehe, schicke ich eine Skizze der Lehren von LAMARCK und von CHARLES DARWIN, sowie von ihren bedeutendsten Anhängern voraus, in derselben Weise, wieich im I. Kapitel eine kurze Darstellung von der Theorie der Präformation, der Epigenese und der Panspermie gegeben habe. ı. Die Lehre von Lamarck. In seiner 1809 erschienenen Philosophie zoologique hat LAMARCK in voller Klarheit den Grundsatz aufgestellt und durch Beweise zu stützen gesucht, „daß alle Organismen unseres Erdkörpers wahre Naturerzeug- nisse sind, welche die Natur ununterbrochen seit langer Zeit hervorge- bracht hat“ (p. 30). ‚Die Natur hat mit den unvollkommensten oder einfachsten begonnen und mit den vollkommensten aufgehört“ (p. 138). Sie hat die einfachsten durch Urzeugung aus lebloser Materie „an passenden Orten und unter günstigen Umständen, ausgestattet mit dem Keime des beginnenden Lebens und der organischen Bewegung“ (p- 30), geschaffen. LAMARCK bekämpft daher auf das Entschiedenste die Lehre von der Unveränderlichkeit und der Konstanz der Art. Denn „je mehr Naturerzeugnisse gesammelt und je reichhaltiger unsere Samm- lungen werden, um so mehr sehen wir, wie beinahe alle Lücken sich aus- füllen und unsere Scheidelinien sich verwischen‘“ (p. 26). Wenn man die Arten der einzelnen Gattungen nach ihren Beziehungen in Reihen anordnet, so „unterscheiden sich dieselben von den ihnen nächststehenden so wenig, daß alle Abstufungen vorhanden sind, und daß sie gewissermaßen in- einander übergehen‘ (p. 27). Auf Grund dieser systematischen Verwandt- schaften schließt LAMARCK, daß die heute lebenden Arten von ausge- storbenen, einfacheren Arten abstammen. Lamarckismus und Darwinismus. 589 Die von CuVvIER begründete Katastrophentheorie verwirft LAMARCK und ersetzt sie durch die Lehre einer allmählich vor sich gehenden Ver- änderung der Erde, wie sie später durch LYELL weiter ausgebildet wurde. „Wenn man erwägt‘, heißt es auf S.38, „daß die Natur bei allem, was sie wirkt, nichts sprungweise macht und daß alles in ihr langsam und in allmählichen Übergängen vor sich geht, wenn man ferner bedenkt, daß die besonderen oder örtlichen Ursachen der Verwüstungen, Umwäl- zungen oder Verrückungen usw. über Alles, was man auf unserer Erdober- fläche beobachtet, Aufschluß geben können und nichtsdestoweniger doch ihren Gesetzen und ihrem allgemeinen Gange unterworfen sind, so wird man erkennen, daß man keineswegs nötig hat, anzunehmen, daß eine allgemeine Katastrophe alles umgestürzt und einen großen Teil der eigenen Werke der Natur vernichtet hat“. „Denn für die Natur ist die Zeit nichts und nie eine Schwierigkeit; sie steht ihr immer zur Verfügung und ist für sie ein unbeschränktes Mittel, mit dessen Hilfe sie die größten wie die geringsten Resultate erlangt.‘‘ In gleicher Weise nimmt LAMARCcK auch für die Organismen eine langsam vor sich gehende Umbildung an. „Mit Hilfe erstens genügender Zeiträume, zweitens notwendig günstiger Umstände, drittens der Veränderungen, welche der Zustand aller Punkte der Erdoberfläche ununterbrochen erlitten hat, mit einem Wort, mit Hilfe der Wirkung, welche die neuen Standorte und die neuen Gewohnheiten auf die Veränderung der Organe der Tiere und Pflanzen ausüben, sind alle jetzt existierenden Organismen unmerk- lich so gebildet worden, wie wir sie wahrnehmen.“ Im VII. Kapitel seiner Philosophie zoologiuue versucht dann LaA- MARCK zu beweisen, „daß die Natur die Mittel und die Fähigkeiten be- sitzt, die nötig sind, um aus eigener Kraft das, was wir bewundern, hervorbringen zu können“ (p. 32). Denn „die Verhältnisse wirken auf die Gestalt und auf die Organisation der Tiere ein, d. h. sie verändern mit der Zeit, wenn sie sehr verschieden werden, so- wohl diese Gestalt als sogar auch die Organisation durch entsprechende Modifikationen.“ Das Hauptgewicht seiner Deduktion legt hierbei LAMARCK auf Veränderungen in den Bedürfnissen der Lebewesen, auf Gebrauch und Nichtgebrauch ihrer Organe. Drei Punkte sind hier zu unterscheiden: Erstens führt nach seiner Auffassung (p. 120) „jede ein wenig beträchtliche und anhaltende Veränderung in den Verhält- nissen, in denen sich jede Tierrasse befindet, eine wirkliche Verände- rung der Bedürfnisse derselben herbei. Zweitens macht jede Verände- rung in den Bedürfnissen der Tiere andere Tätigkeiten, um diesen neuen Bedürfnissen zu genügen, und folglich andere Gewohnheiten nötig. 590 Vierzehntes Kapılei. Drittens erfordert jedes neue Bedürfnis, indem es neue Tätigkeiten zu seiner Befriedigung nötig macht, von dem Tiere, das es empfindet, entweder den größeren Gebrauch eines Organes, von dem es vorher geringeren Gebrauch gemacht hatte, wodurch dasselbe entwickelt und beträchtlich vergrößert wird, oder es erfordert den Gebrauch neuer Organe, welche die Bedürfnisse in ihm unmerklich durch Anstrengungen seines inneren Gefühls entstehen lassen.‘ Die Summe seiner Anschauungen faßt LAMARCK in zwei Natur- gesetze zusammen und gibt ihnen folgende Fassung: „Erstes Gesetz: Bei jedem Tier, welches das Ziel seiner Entwicklung noch nicht über- schritten hat, stärkt der häufigere und bleibende Gebrauch eines Organs dasselbe allmählich, entwickelt und vergrößert es und verleiht ihm eine Kraft, die zu der Dauer dieses Gebrauchs im Verhältnis steht; während der konstante Nichtgebrauch eines Organs dasselbe allmählich schwächer macht, verschlechtert, seine en fortschreitend vermindert und es endlich verschwinden läßt.‘ „Zweites Gesetz: Alles, was die Tiere durch den Einfluß der Verhältnisse, denen sie während langer Zeit ausgesetzt sind, und folglich durch den Einfluß des vorherrschenden Gebrauchs oder konstanten Nicht- gebrauchs eines Organs erwerben oder verlieren, wird durch die Fort- pflanzung auf die Nachkommen vererbt, vorausgesetzt, daß die erworbenen Veränderungen beiden Geschlechtern, oder nn welche diese Nach- kommen hervorgebracht haben, gemein seien.‘ „Es sind dies“, bemerkt LAMARCK bei der Aufstellung seiner beiden (sesetze, „zwei bleibende Wahrheiten, welche nur von denen verkannt werden können, welche die Natur in ihren Verrichtungen noch nie beob- achtet und verfolgt haben.“ LAMARCcKs Philosophie zoologique hatte bei ihrem Erscheinen keinen durchschlagenden Erfolg. Weder seine Lehre von der Veränderlichkeit der Arten noch seine Deszendenztheorie, die niemand vor ihm so klar und scharf ausgesprochen hatte, noch weniger aber sein Erklärungs- prinzip der funktionellen Anpassung, wie es Roux bezeichnet hat, konnte sich in Frankreich gegenüber der Autorität von CUVIER durchsetzen, Wenn aber auch der Augenblickserfolg gering war, so haben LAMARCKS leitende Ideen doch in der Geschichte der Biologie fortgewirkt und sich immer mehr, soweit sie auf Wahrheit beruhten, siegreich durchgesetzt: re ee seine Ansicht von der Veränderlichkeit der Arten, seine Abstammungs- lehre und seine kausale Erklärung derselben durch direkte Anpassung an veränderte Lebensbedingungen. CH. Darwin hat in seinen Schriften neben dem Prinzip vom Kampf. Lamarckiısmus und Darwinismus 591 ums Dasein und von der natürlichen Zuchtwahl auch ein großes Ge- wicht auf den LAmAarckschen Faktor gelegt. Eine große Rolle spielt dieser auch bei HERBERT SPENCER, der sich von umfassenden philo- sophischen Gesichtspunkten aus mit der Entwicklungstheorie der Orga- nismen beschäftigt und in systematischer Weise die Gesetze der organischen Formbildung und die Bedeutung äußerer und innerer Faktoren beim Entwicklungsprozeß klarzustellen versucht hat. Ebenso hat HAECKEL in Deutschland mehr als andere Vertreter des Darwinismus die große Tragweite der Lamarckschen Lehren stets hervorgehoben. Er formu- liert in seiner Generellen Morphologie als „oberstes Grundgesetz der Anpassung‘ den Satz: „Jede Anpassungserscheinung (Abändeıung) der Organismen ist durch die materielle Wechselwirkung zwischen der Materie des Organismus und der Materie, welche denselben als Außen- welt umgibt, bedingt, und der Grad der Abänderung (d. h. der Grad der morphologischen und physiologischen Ungleichheit zwischen dem ab- geänderten Organismus und seinen Eltern) steht in geradem Verhältnis zu der Zeitdauer und der Intensität der materiellen Wechselwirkung zwischen dem Organismus und den veränderten Existenzbedingungen der Außenwelt.“ Am konsequentesten unter allen Forschern in Deutschland hat NÄGELI in seinen Schriften, zumal in seiner mechanisch-physiologischen Theorie der Abstammungslehre, in scharfsinniger Weise zu begründen versucht, daß ‚die Eigenschaften der Organismen die notwendigen Folgen von bestimmten Ursachen seien“. Im Gegensatz zum DARWIN- schen Prinzip, das von beliebigen richtungslosen Veränderungen ausgeht, und diese allein durch Selektion zur Erzeugung zweckmäßiger und der Umgebung angepaßter Naturprodukte gerichtet und geordnet werden läßt, bezeichnet NÄGELI seine Auffassung von der Entwicklung der Organismen als „die Theorie der bestimmten und direkten Bewirkung“. NÄGELIs Standpunkt ist auch der meinige. Er liegt der Reihe meiner vergleichend-morphologischen und experimentellen Unter- suchungen, namentlich aber der Darstellung eines umfangreichen Materials von Beobachtungen und Experimenten in den verschiedenen Auflagen meiner „Allgemeinen Biologie‘ zugrunde. 2. Die Lehre von Charles Darwin. Von der Besprechung LAMArRcKs und seiner Richtung gehe ich zu. DARwıN über, der in der Geschichte der Biologie neben ihm als Be- gründer der modernen Entwicklungslehre gefeiert wird. Mit LAMARcK 392 Vierzehntes Kapitel. stimmt DARWwIN in der Annahme einer sich langsam vollziehenden Um- wandlung der Arten und in der Annahme ihrer Entstehung aus einfachen Urformen, also in der jetzt allgemein gültigen Deszendenztheorie überein; in der Erklärung der Artbildung aus natürlichen Ursachen aber schlägt er einen eigenen Weg ein. Zwar benutzt er in manchen Fällen auch den Lamarckschen Faktor der funktionellen Anpassung zur ursächlichen Erklärung vieler Verhältnisse, aber er versucht ihn doch, soweit es geht, in seiner Wirksamkeit einzuschränken und durch seine Lehre von der natürlichen Zuchtwahl im Kampfe ums Dasein, oder durch die Selektionstheorie zu ersetzen. Der zu LAMARCK bestehende Gegensatz, der später durch WEIs- MANN und NÄGELI in größerer Schärfe ausgebildet worden ist, tritt schon in Darwıns Einleitung zu seinem Hauptwerk hervor in den Sätzen (l.c. 1872, p. I5): „Die Naturforscher verweisen beständig auf die äußeren Bedingungen, wie Klima, Nahrung usw., als die einzigen möglichen Ur- sachen ihrer Abänderung. In einem beschränkten Sinne mag, wie wir später sehen werden, dies wahr sein. Aber es wäre verkehrt, lediglich äußeren Ursachen z. B. die Organisation des Spechtes, die Bildung seines Fußes, seines Schwanzes, seines Schnabels und seiner Zunge zuschreiben zu wollen, welche ihn so vorzüglich befähigen, Insekten unter der Rinde der Bäume hervorzuholen. Ebenso wäre es verkehrt, bei der Mistel- pflanze, die ihre Nahrung aus gewissen Bäumen zieht, und deren Samen von gewissen Vögeln ausgestreut werden müssen, mit ihren Blüten, welche getrennten Geschlechtes sind und der Tätigkeit gewisser Insekten zur Übertragung des Pollens von der männlichen auf die weibliche Blüte bedürfen, — es wäre verkehrt, die organische Einrichtung dieses Para- siten mit seinen Beziehungen zu mehreren verschiedenen organischen Wesen als eine Wirkung äußerer Ursachen oder der Gewohnheit oder des Willens der Pflanze selbst anzusehen.“ Die Erklärung für derartige Verhältnisse findet DArwın in der Selektionstheorie. Er ist zu derselben durch jahrelanges Studium der Haustiere und Kulturpflanzen geführt worden. Auf die Erfahrungen und die Erfolge der Züchter bei ihren Versuchen legt er einen großen Wert. Denn nach seiner Ansicht vollzieht sich bei der künstlichen Züch- tung die Entstehung neuer Varietäten und Arten gewissermaßen unter den Augen der Menschen und läßt sich daher genauer verfolgen. Die Wirksamkeit von zwei Faktoren glaubt Darwın hierbei unterscheiden zu müssen. Den einen Faktor erblickt er in der Neigung aller Organismen, aus Ursachen, die teils in ihrer Natur, teils in Veränderungen der äußeren Bedingungen liegen und uns in ihrem Wesen nur wenig bekannt sind, Lamarckismus und Darwinismus, 593 in unbedeutender Weise zu variieren. Infolgedessen sind die Kinder von ihren Eltern und untereinander an geringfügigen Merkmalen zu unterscheiden. Das Variieren erfolgt hierbei bald in dieser, bald in jener Richtung; es ist — was zum Verständnis der Selek- tionstheorie wohl zu beachten ist — von Natur aus richtungslos. Als zweiten Faktor betrachtet Darwın die Tätigkeit des Züch- ters. Denn nach seiner Meinung gibt dieser den ihm durch die Natur gebotenen Variationen der Tiere und Pflanzen erst eine bestimmte Richtung, indem er bald bewußt, bald unbewußt zu seinem Nutzen oder zu seiner Liebhaberei die ihm auffallenden und geeigneten Varietäten zur Nachzucht auswählt und die ungeeigneten vernichtet. Der zugrundeliegende Gedankengang, noch etwas schärfer gefaßt, ist folgender: Dadurch, daß sich die besser oder die ganz neu ausgebildete Eigenschaft auf die Nachkommen vererbt, in diesen wieder variiert und nach denselben Gesichtspunkten ausgewählt wird, und so von Jahr zu Jahr durch eine Reihe aufeinanderfolgender Generationen, kann sie allmählich in jedem beliebigen Grad gesteigert werden, bis das Produkt der Züchtung eine auffällige Neuheit: eine besondere Rasse, Varietät oder gar Art, geworden ist. So findet denn Darwin die Erklärung für die zahlreichen domesti- zierten Arten und Rassen der Tauben und Hühner, der Pferde, Rinder, Schafe und Hunde, endlich für das Heer der Acker-, Obst-, Küchen- und Zierpflanzen ‚in dem akkumulativen Wahlvermögen des Menschen: die Natur liefert allmählich mancherlei Ab- änderungen, der Mensch summiert sie in gewissen ihm nütz- lichen Richtungen. In diesem Sinne kann man von ihm sagen, er habe sich nützliche Rassen geschaffen.“ Daher nennt DARWwIN, indem er sich auf einen Ausspruch des Züchters YOUATT beruft, das Prinzip der künstlichen Zuchtwahl ‚einen Zauberstab, mit dessen Hilfe der Züchter jede Form ins Leben ruft, die ihm gefällt“. Wie DArRWwINn von der so gewonnenen Grundlage aus dann weiter zu beweisen sucht, wird das Verfahren, welches der Mensch in seinem beschränkten Kreis anwendet, von der Natur bei der Umwandlung der Organismenwelt und bei der Erzeugung neuer Arten im Großen ausgeübt. Der künstlichen muß daher eine natürliche Zucht- wahl an die Seite gestellt werden. Der Beweis hierfür wird in folgender Art zu führen versucht: Ebenso wie die Pflanzen und Tiere unter der Kultur des Menschen, so variieren sie auch im Naturzustande in allen Teilen ihrer Organisation in dieser und jener Richtung. Die Rolle des Züchters aber über- O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl. 38 594 Vierzehntes Kapitel. nimmt in der Natur der Kampf ums Dasein. Ein solcher muß, nach der Lehre von MALTHUS, die DARWIN auf das gesamte Tier- und Pflanzenreich überträgt, sich in der Natur unaufhörlich und meist un- bemerkt abspielen, weil infolge der enormen, in geometrischer Progression vor sich gehenden Vermehrungsfähigkeit aller Organismen viel mehr Individuen erzeugt werden, als eine Existenzmöglichkeit infolge der auf ein gewisses Maß beschränkten Nahrung und des vorhandenen Raumes für sie existiert. In diesem Kampf ums Dasein müssen viele Individuen zugrunde gehen, und es werden im allgemeinen nur die- jenigen am Leben bleiben, die besser den Bedingungen der Umwelt angepaßt sind. Besser angepaßt aber sind solche Individuen, welche in- folge stattgefundener Variation geringfügige Abänderunger erfahren haben, die ihnen in den unendlich verwickelten Beziehungen zu anderen organischen Wesen und zu den physikalischen Lebensbedingungen irgend- einen, wenn auch noch so geringen Vorteil vor anderen verschaffen. Indem nun die Überlebenden ihre begünstigten Abände- rungen auf ihre Nachkommen vererben, und auch unter diesen wieder die besser abgeänderten bei der Fortpflanzung am meisten Aussicht zum Überleben haben, muß auch in der Natur eine entsprechende akku- mulative Wirkung ebenso die Folge seir, wie bei der künstlichen Zuchtwahl durch die planvolle Tätigkeit des Züchters. So verwandelt sich in den Augen von DARWIN die natürliche Zucht- wahl gleichsam in ‚eine unaufhörlich zur Tätigkeit bereite Kraft, die den schwachen Bemühungen des Menschen so unermeßlich überlegen ist, wie es die Werke der Natur überhaupt denen der Kunst sind.“ Denn natürliche Zuchtwahl vermag durch Häufung bloß individueller Ver- schiedenheiten in einer und derselben Richtung viel leichter größere Erfolge zu erzielen, „da ihr unvergleichlich längere Zeiträume für ihre Wirkungen zur Verfügung stehen‘. Eine wie hohe Vorstellung DARwIın von der Leistungsfähigkeit seines Erklärungsprinzips hat, geht am besten aus folgender Stelle her- vor, in welcher er zwischen der natürlichen und künstlichen Zuchtwahl einen kurzen Vergleich zieht. ‚Da der Mensch durch methodisch und \ unbewußt ausgeführte Wahl zum Zwecke der Nachzucht so große Er- folge erzielen kann und gewiß erzielt hat, was mag nicht die natürliche Zuchtwahl leisten können? Der Mensch kann nur auf äußerliche und sichtbare Charaktere wirken; die Natur (wenn es gestattet ist, so die natürliche Erhaltung oder das Überleben des Passendsten zu personifi- zieren) fragt nicht nach dem Aussehen, außer wo es irgendeinem Wesen nützlich sein kann. Sie kann auf jedes innere Organ, auf jede Schat- Lamarckismns und Darwinismus. . 595 tierung einer konstitutionellen Verschiedenheit, auf die ganze Maschinerie des Lebens wirken. Der Mensch wählt nur zu seinem eigenen Nutzen; die Natur zum Nutzen des Wesens, das sie erzieht.‘‘ ‚Wie flüchtig sind die Wünsche und die Anstrengungen des Menschen! Wie kurz ist seine Zeit! Wie dürftig werden mithin seine Erzeugnisse denjenigen gegenüber sein, welche die Natur im Verlaufe ganzer geologischer Perioden an- gehäuft hat! Dürfen wir uns daher wundern, wenn die Naturprodukte einen weit „echteren‘‘ Charakter als die des Menschen haben, wenn sie den verwickeltsten Lebensbedingungen unendlich besser angepaßt sind und das Gepräge einer weit höheren Meisterschaft an sich tragen?“ — „Man kann figürlich sagen, die natürliche Zuchtwahl sei täglich und stündlich durch die ganze Welt beschäftigt, eine jede, auch die geringste Abänderung zu prüfen, sie zu verwerfen, wenn sie schlecht, und sie zu erhalten und zu vermehren, wenn sie gut ist. Still und unmerkbar ist sie überall und allezeit, wo sich die Gelegenheit darbietet, mit der Vervollkommnung eines jeden organischen Wesens in bezug auf seine organischen und anorganischen Lebensbedingungen beschäftigt.‘ Der Erfolg von Darwıns Buch: ‚Die Entstehung der Arten“ war bald nach seinem Erscheinen ein überraschend großer. Die in dem Werk geäußerten Lehren haben bis in die Gegenwart die Anschau- ungen über die wichtigsten Fragen des Lebens unter den Gelehrten, aber auch in den weitesten Volkskreisen auf das nachhaltigste beein- flußt. Darwıns wissenschaftliches Ansehen erreichte bald eine solche Höhe, daß von manchen Seiten seine Selektionstheorie dem Gravitations- gesetz als ebenbürtig an die Seite gestellt und daß er als der Newton der Biologie gefeiert wurde. Angesichts solcher Erscheinungen drängt sich gewiß die Frage auf: wie ist diese so grundverschiedene Wirkung zweier bedeutender Werke, wie es ohne Frage die „Philosophie zoologique“ und „The origin of species‘ sind, zu erklären ? Die Antwort ergibt sich teils aus der Stimmung der Zeit, teils aus gewissen Vorzügen der Darwınschen Beweisführung. LAMARcKS Zeit war durch politische Verhältnisse, durch verwüstende Kriege in einem Maße heimgesucht, daß wissenschaftliche Fragen bei weitem nicht die Rolle wie 50 Jahre später spielen konnten. Selbst wenn die Entwick- lungslehre LAMARCKs unter den Fachgenossen, deren Zahl damals doch eine viel beschränktere als ein halbes Jahrhundert später war, eine größere Beachtung gefunden hätte, so fehlte ihr jedenfalls der Resonanzboden des großen Publikums. Sie war daher, wie man häufig zu sagen pflegt, noch unzeitgemäß, sie war wie ein gutes Samenkorn, das auf einen un- vorbereiteten und trockenen Boden fiel. So war LAMARCK zur Rolle des 38" 596 Vierzehntes Kapitel. Propheten in der Wüste ausersehen. Die letzten ro Jahre seines Lebens erblindet, starb er als 85jähriger Greis und wenig einflußreicher Gelehrter in fast kümmerlichen Verhältnissen, auch in dieser Beziehung ein Gegen- stück zu dem englischen Forscher, der sein Lebenswerk wieder aufge- nommen und in eigenartiger Weise fortgeführt hat. Wie viel günstiger lag für Darwıns Werke die Zeit nach 1850. Sie war eine Periode verhältnismäßigen Friedens; selbst die von Deutsch- land geführten Kriege haben bei ihrer kurzen Dauer und angesichts der mächtigen Impulse, die von ihnen für die wissenschaftliche und wirt- schaftliche Entwicklung Deutschlands ausgingen, das Aufblühen der Wissenschaft sehr gefördert. Wissenschaft und Technik wurden in den wichtigsten Ländern Europas in allen ihren Zweigen so eifrig und erfolg- reich betrieben, daß man nicht mit Unrecht das 19. Jahrhundert als das naturwissenschaftliche Zeitalter mit Vorliebe zu bezeichnen pflegte. Mit Handel und Industrie gelangte das Bürgertum zu der lange erstrebten politischen Macht im Staat; vor allen Dingen beherrschte es die Presse; es brachte den Erfolgen der Wissenschafter, denen es nicht zum wenigsten den eigenen Fortschritt verdankte, vielseitiges Interesse entgegen. Politisch liberal und religiös aufgeklärt, war es allen Bestrebungen, die eine neue Weltanschauung fördern konnten, von vorrherein zugeneigt. Hierzu kommen große Vorzüge, die DARWIN mit seiner Forschungs- methode darbot. Er schlug einen der Richtung der modernen Natur- wissenschaften besser zusagenden Weg der Beweisführung zur Begründung seiner Ideen ein, als LAMARCK. Dieser ging mehr nach der Art der deut- schen Naturphilosophie bei der Mitteilung seiner Lehre vor; er stellte allgemeine Grundsätze und an sie angereihte Reflexionen auf, unterließ es aber, die Beobachtungen und Tatsachen in solcher Fülle und Genauig- keit mitzuteilen, daß sich aus ihnen seine Lehrsätze gleichsam von selbst als notwendige Folgerungen hätten ergeben müssen. Im Verhältnis zu der großen Tragweite der Prinzipien, durch welche eine ganz neue Auffassung vom Wesen der Art, von der Bedeutung der Systematik, vom Werden der Organismen eröffnet wurde, muß das von LAMARCK gelieferte Tatsachenmaterial, aus welchem die neue Lehre gezogen wurde, als ein dürftiges bezeichnet werden. Diese Unterlassung ist um so mehr zu verwundern, als LAMARCK über sehr ausgedehnte Kenntnisse von der Systematik der Pflanzen und wirbellosen Tiere gebot und auch durch anatomische Untersuchungen nach vielen Richtungen bahnbrechend gewirkt hat. Auf diese schwache Seite der Philosophie zoologique hat der Biograph Lamarckismus und Darwinismus. 597 von LAMARCK, CHARLES MARTINS, schon aufmerksam gemacht, wenn er sagt: „Indem LAmArcK mehr durch Vernunftschlüsse als durch posi- tive Tatsachen zu überzeugen suchte, hat er die verkehrte Mode der deutschen Naturphilosophen GOETHE, OKEN, GARUS, STEFFENS geteilt. Heutzutage vernünftelt man weniger, verlangt der Leser handgreifliche Beweise, sicher konstatierte, materielle Tatsachen, und er gibt nicht nach, bis er durch das Gewicht der Evidenz sozusagen überwältigt ist.“ Wie ganz entgegengesetzt ist das von DARwIN angewandte Ver- fahren. Um die Richtigkeit der ihn beschäftigenden Gedanken zu prüfen und Beweismaterial für sie zu sammeln, studiert er mit bewunderns- werter Geduld zahlreiche wissenschaftliche Zeitschriften, sammelt zer- streute Beobachtungen, die ihm als Beweise dienen können, setzt sich mit zahlreichen Züchtern in nähere Verbindung. Er sucht in die Lebens- verhältnisse der Pflanzen und Tiere, in ihre verwickelten Beziehungen zur Umwelt und zueinander, in das Variieren der Arten in der Natur und im Zustand der Domestikation einen Einblick zu gewinnen; er beschäftigt sich mit der Befruchtung der Blumen durch die Insekten, mit der Rolle der Kreuz- und Selbstbefruchtung, mit den Anpassungs- erscheinungen, der Schutzfärbung und der Mimicry, mit den Verschieden- heiten der beiden Geschlechter, mit den Gewohnheiten und Instinkten der Tiere. In allen diesen Richtungen zeigt sich Darwın als Meister scharfsinniger Naturbeobachtung und sammelt auf Gebieten, die der reine Systematiker, Anatom und Physiolog zu vernachlässigen pflegte, eine so große Fülle verschiedenartiger Tatsachen, daß allein schon diese bleibenden Entdeckungen genügt hätten, ihm eine erste Stelle unter den Naturforschern zu sichern. Das weitausgedehnte Reich der Biologie sucht er so seinen Zwecken dienstbar zu machen. Wo Darwın allgemeine Schlüsse zieht, tut er es in allen seinen Schriften, ausgerüstet mit einem umfangreichen Beweismaterial, welches schon von vornherein dem Leser Achtung einzuflößen geeignet ist. In dieser Hinsicht entspricht er bei Niederschrift seines Werks in jeder Beziehung den strengeren Anforderungen, welche die exakte Natur- wissenschaft stellt, und er verdankt wohl nicht zum wenigsten diesem Umstand seinen durchschlagenden Erfolg. Aber auch dadurch konnte er den schon von LAMARCcK erörterten Problemen eine viel bessere Be- gründung geben, daß in den seit 1809 verflossenen 50 Jahren das Studium der Entwicklungsgeschichte, der vergleichenden Anatomie, der Zellen- theorie und nicht zum wenigsten auch der Physiologie einen mächtigen Aufschwung genommen hatte. So traten jetzt die Ideen LAMARCKS In Darwıns Buch von der Entstehung der Arten gleichsam wieder in neuer 398 Vierzehntes Kapitel. Rüstung auf den Kampfplatz auf und schlugen hier bald siegreich jeden Widerstand nieder. Endlich hat Darwın als Ersatz für die Lehre LAmArcks von der funktionellen Anpassung die Deszendenztheorie mit einem neuen origi- nellen Gedanken, mit der Selektionstheorie, ausgestattet. Diese sagte in mancher Hinsicht dem wissenschaftlichen Geist der Zeit mehr zu und schien besonders der in der Physiologie vorherrschenden mechani- stischen Forschungsrichtung auf das beste zu entsprechen. Der Hin- weis auf die Tätigkeit des Züchters, der nach der Darstellung von DArR- wIN neue Rassen von Kulturpflanzen und domestizierten Tieren im Laufe einer kurzen Kulturperiode gleichsam geschaffen hat, war für viele von bestechender Wirkung. Der Ersatz der künstlichen durch die natürliche Zuchtwahl empfahl sich als ein origineller wenn auch wenig klar durchdachter Gedanke, durch den die Natur selbst zum Züchter ihrer mit den verschiedensten Vorzügen ausgestatteten Organismen ge- macht wurde. Hierbei war die Personifikation der Natur zu einem gött- lichen Wesen, das nach vorbedachten Zwecken handelt und nach ihnen die Lebewesen gestaltet, durch die Zufallstheorie mit ihren Lehren vom Kampf ums Dasein und vom Überleben des Passenden vermieden. Beide Gedanken lagen durchaus in der Richtung der Zeit. Bei der überraschend schnellen Ausbreitung des Handels, welcher auf natur- wissenschaftliche Technik, auf Massenfabrikation und Umsatz in über- seeischen Ländern gestützt, namentlich in England emporblühte, machte sich in der Mitte des 1g. Jahrhunderts in der Tat ein brutaler Daseins- kampf geltend; das von MALTHUS aufgestellte, vermeintliche Gesetz, dessen uneingeschränkte Geltung von der heutigen Nationalökonomie ebensowenig wie das eherne Lohngesetz von LASALLE mehr anerkannt wird, wurde von DARWIN zu einem allgemeinen Naturgesetz gestempelt und als solches auch zur Grundlage seiner Selektionstheorie gemacht. Die harten Tatsachen der sozialen Entwicklung, die viele am eigenen Leibe verspüren konnten, schienen für die Wahrheit der wichtigsten Annahmen der Darwınschen Selektionstheorie zu sprechen. Da eine Zeitlang im Handel die freie Konkurrenz als die Mutter jeden Fort- schritts gepriesen wurde, wird in manchen Schriften des Darwinismus auch die Bezeichnung ‚die Konkurrenz in der Natur‘ für den Kampf ums Dasein einzuführen versucht. Wer die Zeit von 1866 bis jetzt selbst mitdurchlebt hat und ihre Literatur in Wissenschaft und Kunst nur einigermaßen kennt, weiß aus Erfahrung, wie eine Zeitlang die Bezeichnung ‚Kampf ums Dasein“ zum Schlagwort für viele Verhältnisse geworden war, Die National- Lamarckismus und Darwinismus, 599 ökonomen wetteiferten in seinem Gebrauch. Während Darwin es nur für die Beziehungen zwischen den einzelnen tierischen und pflanzlichen Individuen, die in irgendeiner Weise miteinander konkurrieren, gebraucht hat, hielten viele Biologen es für notwendig, dem Begriff eine weitere Fassung zu geben, da Darwıns Fassung für die Erklärung mancher Erscheinungen in der Biologie nicht auszureichen schien. Denn ähnliche, aufZweckmäßigkeit beruhende Abhängigkeitsverhältnisse, wie zwischen den verschiedenen Arten im Tier- und Pflanzenreich, lassen sich auch innerhalb des einzelnen Organismus in der Struktur seiner Organe und seiner Gewebe beobachten. Daher schrieb Roux seine Schrift über den „Kampf der Teile im Organismus‘“ 1881. WEISMAnN dehnte darauf den Kampf auch auf die Teile innerhalb der Zelle aus, veranlaßt durch seine Determinantenlehre und durch sein Dogma von der Nichtvererb- barkeit erworbener Charaktere. Je nachdem der Kampf ums Dasein zwischen den kleinsten, unsichtbaren Teilchen im Innern einer Zelle oder zwischen den Zellen im geweblichen Verband oder zwischen den Individuen nach der ursprünglichen Lehre von Darwın oder zwischen den durch ihre Vereinigung wieder entstandenen Tier- und Pflanzen- stöcken stattfindet, hat WEISMANN demgemäß auch vier Formen der * Auslese: als Germinal-, Histonal-, Personal- und Kormalselektion unter- schieden. Schon bald nach dem Erscheinen von Darwıns Entstehung der Arten trat überhaupt unverkennbar in der Literatur die Neigung hervor, aus dem Kampf ums Dasein ein universales Erklärungsprinzip zu machen; oft wurde an HERAKLITSs Ausspruch erinnert, nach welchem der Kampf der Vater aller Dinge ist. Kaum ist ein größerer Kontrast denkbar als zwischen der Weltanschauung der vorausgegangenen Jahrhunderte, mit ihren auf christlicher Liebe beruhenden Lehren und der Weltanschauung, die aus dem erbitterten Kampf ums Dasein und der auf Wissenschaft begründeten Selektionstheorie eine Orientierung auf neue Lebensziele zu gewinnen suchte. Wenn so die Lehren DAarwıns mit einem schon seit längerer Zeit vorbereiteten Wechsel in der Weltanschauung der modernen Menschen zeitlich zusammenfielen, so ließen sie sich auch leicht in die zur Herrschaft gelangte mechanistische Richtung der Naturwissenschaften einfügen. Denn der Kampf ums Dasein, verbunden mit der Auswahl des Passenden, erklärt, wie man sehr häufig mit lobendem Nachdruck hervorgehoben findet, das Zweckmäßige ohne Zuhilfenahme des 600 Vierzehntes Kapitel. Zweckbegriffs. Es schien dadurch dem Naturforscher ein Weg gewiesen, „das Zweckmäßige als das Produkt unbe- wußt wirkender, mechanischer Kräfte zu begreifen“. 3. Die Nachfolger und Anhänger Darwins, E. Haeckel und A. Weismann. Die durch DArwın hervorgerufene Bewegung, die bald dem engeren Bereich der Biologie entwuchs und wegen ihres tiefen Einflusses auf das ganze Geistesleben unserer Zeit als Darwinismus bezeichnet worden ist, verdankt einen großen Teil ihrer treibenden Kraft der entschlossenen Mit- wirkung zweier deutscher Forscher, ERNST HAECKEL und A. WEISMANN. Beide trugen wesentlich zur raschen Verbreitung und allgemeineren An- erkennung des Darwinismus bei; zugleich gingen sie über die Lehre des Meisters noch in vielen Beziehungen hinaus; sie erweiterten, modifi- zierten sie und fügten zum Teil ganz neue Bestandteile hinzu. Ein volles Verständnis der als Darwinismus bezeichneten Richtung ist daher nur zu gewinnen, wenn man zugleich auch die Lebensarbeit von HAECKEL und WEISMANN berücksichtigt. Die Stellung von HAECKEL und WEISMANN innerhalb des Darwi- nismus ist eine sehr verschiedenartige und in vielen wichtigen Fragen einander entgegengesetzte. HAEcKEL hält an den Richtlinien der von Darwınx entwickelten Lehre, namentlich auch an der Vereinigung der Selektionstheorie mit den Er- klärungsprinzipien von LAMARCK, also an der funktionellen Anpassung und der Vererbbarkeit erworbener Charaktere fest. Während DARwINn als Systematiker und Biologe, ist HAECKEL als Morphologe und Embrvolo- loge der überlegene und sucht auf den von ihm beherrschten Gebieten die Deszendenztheorie durch seine Gasträatheorie und das biogenetische Grundgesetz, durch die Ausarbeitung von Stammbäumen und durch das Studium verbindender Zwischenformen (missing links) weiter aus- zubauen. Keiner hat soviel wie er durch sein überzeugtes und enthu- siastisches Eintreten für DARWIN zur raschen Ausbreitung der neuen Lehren beigetragen. An den Kreis der Fachgelehrten richtete er seine Generelle Morphologie, an ein größeres Publikum seine populären Schriften, die Natürliche Schöpfungsgeschichte und die Anthropogenie, die durch ihre gewandte und bestechende Darstellung eine weite Verbreitung fanden und, in viele Sprachen übersetzt, in allen Kulturländern für den Darwi- nismus Propaganda machten. Wo Darwın sich mit Vorsicht ausdrückte, auch wohl Bedenken Lamarckismus und Darwinismus. 60I oder Zweifel äußerte, trat HAECKEL mit Bestimmtheit, die jeden Ein- wand abschnitt, zugleich agitatorisch und Anhänger werbend auf. Fragen der Wissenschaft machte er zu solchen der Überzeugung und des Glaubens. In der auf biologischem Boden erwachsenen Erkenntnis vom Wesen der Organismen fand er ein geeignetes Rüst- zeug zum Kampf gegen eine auf kirchlicher Überlieferung gegründete dualistische Weltanschauung. Ihre Bekämpfung wurde für ihn, je mehr er durch seine populären Schriften mit weiteren Kreisen Fühlung ge- nommen hatte, bald die wichtigste Lebensaufgabe. Denn wie er sich in seiner Natürlichen Schöpfungsgeschichte (10. Aufl., p. 3I) ausspricht, „muß die von DArwın ausgebildete Entwicklungstheorie, welche wir hier als natürliche Schöpfungsgeschichte zu behandeln haben, und welche bereits von GOETHE und LAMARcK angebahnt wurde, bei folgerichtiger Durchführung schließlich notwendig zu der monistischen oder mecha- - nistischen (kausalen) Weltanschauung hinleiten“. ‚‚Wo der teleologische Dualismus in den Schöpfungs-Wundern die willkürlichen Einfälle eines launenhaften Schöpfers aufsucht, da findet der kausale Monismus in den Entwicklungsprozessen die notwendigen Wirkungen ewiger und unabänderlicher Naturgesetze.‘ Indem HAEcKEL die wissenschaftliche zugleich auch zu einer politisch-religiösen Frage machte, hat er zwar viele An- griffe gegen seine Lehre von Vertretern des katholischen und protestan- tischen Kirchentums hervorgerufen, aber dadurch im wesentlichen doch erreicht, daß Deszendenz- und Selektionstheorie in immer weitere Kreise eindrangen und überzeugte Anhänger fanden. Anstatt zum Nachteil, gestaltete sich die Gegnerschaft der Kirche vielmehr zum ausgesprochenen Vorteil der neuen Bewegung. Denn Darwinianer und aufgeklärt sein, fiel jetzt in eins zusammen, und bald galt als reaktionär, wer den unter dem Sammelnamen des Darwinismus zusammengefaßten Lehren nicht in allen Punkten zustimmte Eine ganz andere Stellung wie HAECKEL nimmt A. WEıs- MANN dem Darwinismus gegenüber ein. Er kann als Theo- retiker desselben bezeichnet werden. Obgleich schon frühzeitig ein überzeugter Anhänger der Lehren Darwıns, weicht er doch später in vielen Punkten von ihnen ab und gibt ihnen eine so sehr abgeänderte Fassung, daß man von einem Neudarwinismus oder Weismannismus gesprochen hat. Veranlaßt durch seine Keimplasmatheorie und seine Experimente über Vererbung von Verstümmelungen leugnet WEISMANN die Vererbung erworbener Eigenschaften, welche zu den Grundsätzen sowohl von 602 Vierzehntes Kapitel. LAMARCcK als von DARWIN und HAECKEL gehört. Er leugnete sie, teils weil er es für unmöglich hielt, sich eine mechanische Einrichtung auszu- denken, durch welche Veränderungen an einzelnen Teilen des Körpers auf die Keimzellen übertragen werden könnten, teils weil er glaubte, eine scharfe Trennung zwischen Keimzellen und Somazellen annehmen zu müssen (siehe Kap. XII, S. 327). Wenn aber erworbene oder somatische Eigenschaften nicht vererbt werden, dann sind sie auch für die Fort- bildung der Art ohne Einfluß. Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe, Anpassung des Individuums an seine Umgebung infolge direkter Ein- wirkungen derselben verlieren dann dieihnen von LAMARCK zugeschriebene und auch von DArwın und HAEcKEL übernommene Bedeutung. Zur Umgestaltung der Art können nur Veränderungen dienen, die vom Keim selbst ausgehen, unabhängig vom Soma und von den Einflüssen der Außen- welt. Sie liefern allein das Material, aus dem die variierenden Individuen entstehen, die im Prozeß der Naturzüchtung ausgewählt oder verworfen - werden, je nachdem sie in ihren variierten Eigenschaften ihrer Umgebung und Lebensaufgabe besser angepaßt sind. Indem der LAMmArcksche Faktor für unmöglich erklärt wurde, blieb als Erklärungsprinzip für die innere und äußere Zweckmäßigkeit in der Organi- sation der Lebewesen nur noch die Allmacht der Natur- züchtung in der Richtung der bis zum Extrem durchge- führten Zufalls- und Selektionstheorie übrig. Gewiß hat durch dieses theoretisch konsequente Vorgehen von WEISMANN Darwıns Lehre an Klarheit und Schärfe gewonnen, zugleich aber auch ihre ursprüngliche Anpassungsfähigkeit und Geschmeidig- keit eingebüßt, der sie so viele Erfolge verdankte. Von jetzt war die ursächliche Erklärung für die zweckmäßige Veränderung der Organismen nur noch auf eine einzige Karte gesetzt. Freilich ist diese Karte Darwıns Selektionstheorie. Aber mit diesem scheinbaren Sieg, den man in der Verkündung der Allmacht der Naturzüchtung erblicken könnte, würde DARWIN, wenn er ihn erlebt hätte, wenig zufrieden gewesen sein. Denn er selbst hat sich entschieden dagegen verwahrt, daß er die Modifikation der Spezies ausschließlich der natürlichen Zuchtwahl zuschreibe.. Zu seiner Verwahrung hat er später noch die Bemerkung hinzugefügt: „Die Kraft beständiger falscher Darstellung ist zäh; die Geschichte der Wissenschaft lehrt aber, daß diese Kraft glücklicherweise nicht lange anhält“ (l. c. 1872, p- 558). Wie man leicht sieht, ist die wissenschaftliche Richtung in der Biologie, die man häufig mit einer gewissen Oberflächlichkeit als Dar- k Lamarckismus und Darwinismus. 603 winismus bezeichnet, nichts weniger als eine einheitliche. Wenn man historische Gerechtigkeit üben will, so sind vom Darwinismus die Frage nach der Veränderlichkeit der Arten, die Deszendenztheorie und die Lehre von der funktionellen Anpassung auszuscheiden. Denn Darwın hat dieselbe von LAMARcK und anderen übernommen und nur noch weiter ausgebildet. Dagegen hat er als wirklich neues Erklärungsprinzip, wie HAECKEL von allem Anfang an in seiner Generellen Morphologie und Natürlichen Schöpfungsgeschichte mit Recht betont hat, die Selektions- theorie mit dem Kampf ums Dasein und dem Überleben des Passenden hinzugebracht. 4. Zusammenfassung der drei Parteistandpunkte in der Frage vom Werden der Organismen. In der Vereinigung der erwähnten Elemente zu einer einheitlichen Erklärung der Erscheinungen im Organismenreich bestehen die aller- größten Verschiedenheiten unter den Biologen der Gegenwart. Doch lassen sich drei Hauptrichtungen unterscheiden: I. Die Richtung von DArwINn und HAECcKEL verbindet mit der Sclek- tionstheorie dem Lamarckschen Faktor und hält an der Vererbung er- worbener Charaktere durch den Keim auf die Nachkommen fest. 2. Die zweite Richtung von WEISMANN und seinen Anhängern leugnet die Vererbung erworbener Eigenschaften, gibt das LAMARcKsche Prinzip preis und lehrt die Allmacht der Naturzüchtung. 3. Die dritte Richtung wird von LAMARCK, NÄGELI, von mir and anderen vertreten. In ihr wird der Schwerpunkt bei der Frage nach der natürlichen Entwicklung der Organismen auf die Theorie der direkten Bewirkung und auf ‚die Vererbung erworbener Anlagen‘ im früher (Kap. XIII, S. 543) festgestellten Sinn gelegt. Das Prinzip der Selektion gewinnt hierbei eine veränderte Fassung und eine sehr viel untergeord- netere Bedeutung. Wenn wir von mehr nebensächlichen Fragen absehen, so handelt es sıch bei der zukünftigen Entwicklung der Biologie um die Stellungs- nahme zur Selektionstheorie und zur Theorie der direkten Bewirkung. Welche Rolle spielen sie beim Werden der Organismen? Inwieweit tragen sie zu seiner kausalen Erklärung bei? Das nächste Kapitel soll sich mit diesen Aufgaben beschäftigen. Fünfzehntes Kapitel. Kritik der Selektions- und Zufallstheorie.') In seiner Schrift, in der er die Allmacht der Naturzüchtung ver- kündet, macht WEISMANN zugleich das offene Eingeständnis, daß wir „durch Erfahrung niemals den Vorgang der Naturzüchtung feststellen können“ (l. c. p. 42). Das Eingeständnis ist wichtig für die Beurteilung der Selektionstheorie vom Standpunkt der Naturwissenschaft aus. Denn die Stärke einer naturwissenschaftlichen Theorie beruht doch in erster Hand darauf, daß sie aus Erfahrungen und Tatsachen, die sich wirklich beobachten lassen, ableitbar ist. Und wenn in der Physik und Chemie schon durch eine einzige Tatsache, die sich nicht erklären läßt, eine Theorie in ihrem Geltungsbereich einzuschränken ist, so wird sie vollends unhaltbar, wenn sie sich überhaupt gar nicht auf Tatsachen und Erfahrungen begründen läßt. Eine naturwissenschaftliche Theorie ist kein Glaube, der auf der inneren Überzeugung beruht und auch unabhängig von Erfahrungen und Tatsachen bestehen kann. WEISMANN schließt denn auch an sein Geständnis unmittelbar die Frage an (l.c. p. 42): ‚‚Was ist es denn aber, was uns diesen Vorgang I) Wagner, Moritz, Die Darwinsche Theorie und das Migrationsgesets der Organismen, Leipzig 1808. — Wiegand, Der Darwinismus und die Naturforschung Newtons und Cuviers, Bd. I-III, Braunschweig 1874. — Roux, W., Der Kampf der Teile im Organismus. ‘ Ein Beitrag zur Vervoliständigung der mechanischen Zweckmäßigkeitsiehre, Leipzig 1881. — v. Hartmann, Eduard, Wahrheit und Irrtum im Darwinismus. Eine kritische Darstellung der organischen Entwicklungstheorie, Berlin 1875. — Derselbe, Grundriß der Naturphilosophie, 1907. — Wolff, Gustav, Beitrag zur Kritik der Darwinschen Lehre. Biol. Zentraibl., Bd. X, 1890. — Plate, L., Selektionsprinzip und Probleme der Artbildung. Ein Handbuch des Dar- winismus, 4. Aufl., 1913. — Eimer, Die Entstehung der Arten, 1868. Orthogenesis, Bd. /I. — Krapotkin, Peter, Gegenseitige Hilfe in der Entwicklung. Übersetzt von Landauer. Leipzig 1904. — Pauly, A., Darwinismus und Lamarckismus, München 1905. — Johannsen, W., Experimentelle Grundlagen der Descendenz- lehre; Variabilität, Vererbung, Kreuzung, Mutation. Dıe Kultur der Gegenwart, IV. Abt., Organische Naturwissenschaften, Bd. I, Allgemeine Biologie, 1915. Vgl. auch Literatur zu Kap. XIV. Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 605 mit so großer Sicherheit als wirklich annehmen läßt?“ Und er gibt hierauf die Antwort. „Nichts anderes als die Macht der Logik; wir müssen Naturzüchtung als das Erklärungsprinzip der Umwandlungen annehmen, weil uns alle anderen scheinbaren Erklärungsprinzipien im Stich lassen und weil es nicht denkbar ist, daß es noch ein anderes Prinzip geben könne, welches die Zweckmäßigkeiten der Organismen erklärt, ohne ein zwecktätiges Prinzip zu Hilfe zu nehmen. Es ist mit anderen Worten die einzig denkbare natürliche Erklärung der Organismen, als Anpassungen an die Bedingungen aufgefaßt.‘ Was indessen WEISMANN selbst von der ‚Macht dieser Art Logik‘ hält, darüber spricht er sich an einer Stelle einer späteren Schrift über die Salektionstheorie (1909, p. 47) aus: ‚Wir dürfen wohl sagen, daß der Selektionsprozeß mit logischer Notwendigkeit aus der Erfüllung der drei Voraussetzungen der Theorie: Variabilität, Vererbung und Kampf , ums Dasein mit seiner bei allen Arten enormen Vernichtungsziffer her- vorgehe‘ etc. „Diesem logischen Beweis kann man indessen eine gewisse Unsicherheit vorwerfen, eben wegen unseres Un- ‚ vermögens, den Selektionswert der Anfangs- und Steigerungsstufen im einzelnen nachzuweisen. Wir sind also auf einen Wahrschein- lichkeitsbeweis angewiesen. Derselbe liegt in der Erklä- rungskraft der Theorie.‘ Über diese aber bemerkt WEISMANN gleich darauf: ‚Der stärkste Beweis für die Kraft des Selektionsprinzips liegt in der Unzahl von Erscheinungen, die auf keine andere Weise (?) erklärt werden können. Dahin gehören alle Bildungen, welche dem Orga- | nismus nur passiv von Vorteil sind, weil sie alle aus dem vermeintlichen ‚Lamarckschen Prinzip‘ nicht hervorgegangen sein können.“ (Hierzu | vergleiche man Seite 573 bis 578.) In seiner Beweisführung für die ‚Allmacht der Naturzüchtung‘ setzt also WEISMANnN an Stelle des zuerst verkündeten „logischen Be- weises“ den „Wahrscheinlichkeitsbeweis‘, der in der Erklärungskraft der Theorie liegt. Der Wahrscheinlichkeitsbeweis ist aber bei näherer Betrachtung nichts mehr als eine Art apagogischer Beweis, wie solcher früher in der kirchlichen Scholastik mit unter den Beweismitteln für das Dasein Gottes aufgeführt und in den Schulen gelehrt wurde. Denn ist es nicht ein „apagogischer Beweis‘, wenn WEISMANN an einer anderen Stelle (l. c. p. 61) derselben Schrift bemerkt: „Auch wenn wir nicht imstande wären, einen förmlichen Beweis für die Wirklichkeit zu er- bringen, d. h. durch direkte Beobachtung zu zeigen, daß die kleinen individuellen Variationen im einzelnen Fall den Ausschlag geben und 606 Fünfzehntes Kapitel. darüber entscheiden können, wer in Nachkommen weiterleben soll und wer nicht — selbst dann müßten wir Selektion doch annehmen, weil sie dieeinzige mögliche Erklärung ist, welche wir für ganze Klassen von Erscheinungen geben können, und weil sie sich andererseits aus Fak- toren zusammensetzt, welche als tatsächlich vorhanden nachgewiesen werden können, und welche, wenn vorhanden, mit logischer Not- wendigkeit so zusammenwirken müssen, wie die Theorie es verlangt. Wir müssen sie annehmen, weil die Erschei- nungen der Entwicklung und der Anpassung einen natür- lichen Grund haben müssen.“ Aus derartigen Bekenntnissen WEISMAnNs geht wohl für jeden, der hören und sehen will, mit genügender Klarheit hervor, daß die Selek- tionstheorie auch jetzt, wo mehr als 60 Jahre seit dem Erscheinen von Darwıns Entstehung der Arten verflossen sind, als Theorie nicht der- artig gesichert ist, daß nicht Zweifel über die große, ihr zugeschriebene Tragweite berechtigt wären. Anstatt von einer „Allmacht‘ wird von sehr angesehenen Forschern auch von einer „Ohnmacht der Natur- züchtung‘‘ gesprochen (SPENCER), und DARWINs Freund und Verehrer HuxLEY machte schon zur Zeit des größten Enthusiasmus für die neue Lehre einen scharfen Unterschied zwischen Entwicklungslehre und Selek- tionstheorie in bezug auf die ihnen innewohnende Sicherheit. Denn er bemerkt: ‚Wenn die Darwınsche Hypothese auch weggeweht würde, die Entwicklungslehre würde noch stehen bleiben, wo sie stand.‘ DArwın selbst war sich der Schwächen seiner Theorie wohl be- wußt und ist, wenn ich seine Schriften recht verstehe, weit von der Sicherheit WEISMANNs und HAEcKELs entfernt. Häufig hat er Zweifel empfunden, die ihn veranlaßten, sich nach neuen Beweisen umzusehen. „Einige Schwierigkeiten‘, bemerkt er noch in der 5. Auflage seines Hauptwerks, „sind von solchem Gewicht, daß ich bis auf den heutigen Ye nicht an sie denken kann, ohne in gewissem Maße wankend zu erden“ (l.c. 1872, p. 184). Vor allen Dingen hat er sich, wie früher sc Dr hervorgehoben wurde, energisch dagegen verwahrt, daß er die natürliche Zuchtwahl für das einzige Mittel zur Abänderung 4 | der Lebensformen halte, Im Gegenteil, er sucht überall auch noch nach anderen Hilfsprinzipien, die er häufig mit der Selektion kombi- niert wirken läßt. Daher finden sich nicht selten Aussprüche, wie folgende: „Etwas mag der bestimmten Einwirkung der äußeren Lebensbedingungen zugeschrieben werden; wie viel aber, das wissen wir nicht. Etwas, und = vielleicht viel, mag dem Gebrauch und Nichtgebrauch der Fe zugeschrieben werden. Dadurch wird das Endergebnis unendlich ver- ar ) Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 607 wickelt“ (l.c. 1872, p.53). Die Variabilität läßı er durch viele unbekannte Gesetze geregelt werden, er mißt eine große Bedeutung ‚‚den Gesetzen der Korrelation und des Wachstums‘ bei. An einer anderen Stelle (p. 150) bekennt Darwın offen: ‚Wenn eine Abänderung für ein Wesen von dem geringsten Nutzen ist, so vermögen wir nicht zu sagen, wieviel davon von der häufenden Tätigkeit der natürlichen Zuchtwahl und wie- viel von dem bestimmten Einfluß äußerer Lebensbedingungen herzu- leiten ist. So ist es‘, fügt er als Beispiel hinzu, „den Pelzhändlern wohl bekannt, daß Tiere einer Art um so dichtere und bessere Pelze besitzen, je weiter nach Norden sie gelebt haben. Aber wer vermöchte zu sagen, wieviel von diesem Unterschied davon herrühre, daß die am wärmsten gekleideten Individuen viele Generationen hindurch begünstigt und erhalten worden sind, und wieviel von dem direkten Einfluß des Klimas? Denn es scheint wohl, als ob das Klima einige unmittel- bare Wirkungen auf die Beschaffenheit des Haares unserer Haustiere ausübe.‘‘ Und wieder an anderen Stellen heißt es (p. 227): „In vielen Fällen sind Modifikationen wahrscheinlich das direkte Resultat der Gesetze ‚der Abänderung oder des Wachstums, unabhängig davon, daß dadurch ein Vorteil erreicht wurde‘, oder (p. 228): „Die An- passungen können in vielen*Fällen durch den vermehrten Gebrauch oder Nichtgebrauch, unterstützt durch direkte Einwirkung äußerer Lebensbedingungen, leicht affiziert werden und sind in allen Fällen den verschiedenen Wachstums- und Abänderungsgesetzen unterworfen.‘ Die Notwendigkeit und Mitwirkung der Zuchtwahl für die Bildung neuer Formen wird sogar ausgeschlossen in der Bemerkung (p. 233): „Für jede unbedeutende individuelle Verschiedenheit muß es ebensogut wie für stärker ausgeprägte Abänderungen, welche gelegentlich auf- treten, irgendeine bewirkende Ursache geben, und wenn die unbekannte Ursache dauernd in Wirksamkeit bleiben sollte, so ist es beinahe gewiß, daß alle Individuen der | Spezies in ähnlicher Weise modifiziert werden würden.“ Man vergleiche hiermit auch die ähnlichen Aussprüche auf p. IST, 233, | 236, 550, 568. | Indessen kann es trotz solcher Aussprüche keinem Zweifel unter- ‚\liegen, daß Darwın bei der Frage nach der Entstehung der | Arten stets den Schwerpunkt auf seine Selektionstheorie legt. Denn wie er öfters in dieser oder jener Fassung bemerkt (p. 53), |ist „die über alle diese Änderungsursachen bei weitem vorherrschende Kraft die fortdauernd anhäufende Wirkung der Zuchtwahl, mag sie 608 Fünfzehntes Kapitel. nun planmäßig und schneller, oder unbewußt und langsamer, aber wirk- samer in Anwendung kommen“. Infolge der von DAarwıIn geübten Kombinierung verschiedener Prinzipien wird der Leser gewöhnlich im unklaren gelassen, was auf das Konto des einen oder des anderen zu setzen ist. Aber gerade durch diesen Umstand hat die Selektionstheorie, was für die Geschichte ihrer Verbreitung sehr ins Gewicht fällt, in der von DARWIN vorgetragenen und auch von HAECKEL, PLATE u.a. festgehaltenen, sehr unbestimmten und oft recht unklaren Fassung einen höheren Grad von Anpassungs- fähigkeit auf verschiedenartige Fälle und eine größere suggestive Kraft erhalten; zugleich rührt aber von diesem Verfahren auch die Unbestimmt- heit und Unklarheit her, welche mit den Schlagworten „Anpassung im Kampf ums Dasein, Auswahl des Passenden‘“ verknüpft ist; sie ist erst durch die dogmatische und schärfer gefaßte Darstellung WEISMANNS beseitigt worden. Wie man vom Standpunkt des objektiven Naturforschers und Psychologen im Hinblick auf die Geschichte des Darwinismus und auf die angeführten Aussprüche seines Begründers und seiner Anhänger wohl sagen kann, ist die Selektionstheorie in der Seele Darwıns als ein geistreicher Einfall entstanden. Nach dem Vorbild des menschlichen Züchters wurde die natürliche Züchtung als eine Formel ausgedacht, um die Entstehung der Arten zu erklären. Sie wirkte fortan als treibendes Motiv in DarwıIns Betrachtungsweise der Beziehungen der Lebewesen zu ihrer Umwelt. Da nach der Selektionsformel die Entstehung der Eigenschaften der Organismen durch den Nutzen und Vorteil, welchen sie ihren Trägern verschaffen, bestimmt wird, so wurde das Aufspüren des Nutzens zur Hauptaufgabe für die Erforschung des Ursprungs der Arten; und da nun schließlich jedes Organ und jeder Bestandteil von Pflanze und Tier sich von irgendeinem Gesichtspunkte aus als nützlich, vorteilhaft und zweckmäßig beurteilen läßt, so wurde hierin wieder ein Beweis für die Richtigkeit der ausgedachten Formel erblickt. Unter diesem leitenden Motiv wandelte sich die Forschungsmethode DARWINS mehr und mehr zur reinen Manier um, diein dem Buch über die geschlecht- liche Zuchtwahl schließlich ihren Gipfelpunkt erreicht hat. Unter deut schen Forschern aber ist niemand mehr als WEISMANN in die a seines Meisters getreten. Schon oft und von verschiedenen Seiten, darunter auch von her- > vorragenden Naturforschern und Philosophen, sind gegen die Tragweite der Selektionstheorie sehr berechtigte Einwände erhoben worden, von C. E. v. Baer, von WıGanD, von ED. v. HARTMANN, dem Verfasser vs Ben - v ! Kritik der Selektions- und Zufailstheorie. 609 der Philosophie des Unbewußten, von NÄGELI, KRAPOTKIN, DRIESCH, WOoLFF, PAuLy u. a. Die Einwände haben sich von Jahr zu Jahr so verdichtet, daß man von einer Krisis des Darwinismus gesprochen hat. Eine wirkliche Klärung der Meinungen ist aber auch unter den Biologen bis zur Stunde nicht eingetreten, vielmehr hat sich, wie in frühe- ren Perioden bei der Herrschaft der Präformationstheorie, der Lehre von der Konstanz der Arten usw., gezeigt, wie Ansichten, wenn sie den Charakter von Glaubenssätzen angenommen haben, nicht so leicht wieder infolge eines der menschlichen Natur eigenen Trägheitsgesetzes aufgegeben werden. Um so mehr aber ist es unabweisbare Pflicht der Wissenschaft, immer wieder von neuem den Kampf für Aufklärung und Wahrheit mit besserem Rüstzeug aufzunehmen. Denn was nicht mit den Gesetzen und den wirklichen Vorgängen in der Natur übereinstimmt, das kann sich, auch wenn es durch Autoritäten gestützt und von der Menge gläubig aufgenommen wird, gewiß nicht auf die Dauer behaupten. Es kommt die Zeit, wo es aus der lebendigen Wissenschaft wieder ausgeschieden wird und dann nur noch in der Geschichte, wie die Einschachtelungs- theorie, weiterlebt. A. Kritik der Selektionstheorie in ihrer Anwendung auf die domestizierten Rassen. DARWwIN ist zur Aufstellung seiner Selektionstheorie durch das Studium der domestizierten Pflanzen und Tiere veranlaßt worden. Sein Hinweis auf diese hat für die Annahme seiner Lehre sehr bestechend gewirkt. Denn an und für sich kann ja nicht bezweifelt werden, daß unter Mitwirkung des Menschen sehr viele auffällige und mit besonderen Eigenschaften ausgestattete Lebensformen entstanden sind, die ohne ihn in der Natur zum großen Teil nicht existieren würden. Es fragt sich nur, auf welchem Wege sie sich verändert haben und welche Rolle die Selektion dabei gespielt hat. An diesem Punkt hat daher auch die Kritik zuerst einzusetzen. Bei Beurteilung der künstlichen Zuchtwahl kommen drei Faktoren in Betracht: ı. der Organismus, der domestiziert wird, 2. die Einwirkung der Umwelt, 3. die Selektion des Züchters. Der erste ist der wichtigste Faktor. Denn jeder Organismus ist ein eigenartiges, sehr kompliziertes System von reizbaren und leicht veränderlichen Teilen (Organen, Ge- weben, Zellen); er reagiert daher auf äußere Eingriffe seiner Art gemäß oder spezifisch. Doch ist der zweite Faktor für den Lebens prozeß gleich unentbehrlich und notwendig ; er greift in die ganze Maschinerie des Lebens beständig mit ein. Somit hängen vom Zusammengreifen beider Faktoren O. Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl. 39 610 Fünfzehntes Kapitel. naturgemäß auch alle Veränderungen ab, welche ein Organismus über- haupt erfahren kann. Der Züchter kommt, solange er nur Selektion treibt, erst an dritter und letzter Stelle in Betracht. Es ist daher die einfache, gewöhnlich nicht klar durchdachte Frage zu erwägen, obdie durch dasZusammenwirken der beiden ersten Faktoren veranlaßten Veränderungen unbestimmte oder fest bestimmte, in anderen Worten, ob sie zufällige oder gesetzmäßige sind. Je nachdem das eine oder das andere der Fall ist, wird auch die Rolle des Züchters eine ver- schiedene sein müssen. Denn im ersten Fall könnten die Variationen, wenn sie vom Zufall abhängen und richtungslos sind, in einer bestimmten Richtung, wie es DArwıns Lehre annimmt, durch den Prozeß der Selektion, durch die „akkumulative Auswahl‘ des Züchters geleitet werden. Da ohne sein Zugreifen der Organismus aus dem richtungslosen Variieren nicht herauskäme, dem Spiel des Zufalls als direktionsloses Gebilde der Natur preisgegeben, so würde der Züchter beim Werden des Organis- mus dadurch, daß er ihm erst Ziel und Richtung gibt, in einem gewissen Sinne bestimmend mitwirken. Im zweiten Fall könnte er zwar durch Veränderung der Lebensbedingungen, also indirekt, mitgewirkt haben, würde aber sonst durch Selektion die durch die Umweltsfaktoren her- vorgerufenen und bereits gesetzmäßig fixierten Variationen nur iso- lieren und für ihre bessere Vermehrung und Erhaltung sorgen. Beim Werden des Organismus spielt er dann etwa eine dem Chemiker vergleich- bare Rolle, der nach bestimmten, durch Erfahrung ermittelten Methoden zwar verschiedene Elemente synthetisch zu neuen Verbindungen ver- einigen kann, aber dabei doch immer nur die Bedingungen schafft, unter denen auf Grund des Naturgesetzes die Affinitäten chemischer Körper in Wirkung treten und zu Neubildungen führen müssen. Beim Streit um die Selektionstheorie handelt es sich daher in erster Linie um die Erforschung der Bedingungen F und Ursachen, unter denen die Organismen variieren; und um die Beantwortung der Frage, ob die Organismen je nach ihrer spezifischen Natur auf bestimmte und wäh- rend längerer Dauer einwirkende Reize in ihren Funktionen und in ihrer Organisation in bestimmter oder in beliebiger Richtung reagieren und variieren. Darwın selbst hat diese Kardinalfrage, von der die Beurteilung | der Selektionstheorie im wesentlichen abhängt, unbeantwortet gelassen. Seiner unsicheren Stellung zu derselben gibt er aber einen nicht un- interessanten Ausdruck in der Bemerkung (l. c. p. 148): ‚Ich habe bisher von den Abänderungen zuweilen so gesprochen, als ob dieselben vom Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 611 Zufall veranlaßt wären. Dies ist natürlich eine ganz inkorrekte Aus- drucksweise; sie dient aber dazu, unsere gänzliche Unwissenheit über die Ursache jeder besonderen Abweichung zu beurkunden.‘“ Da dies aber das Alpha und Omega ist, ob durch das Zusammenwirken von Organismus und äußeren Faktoren bestimmt gerichtete oder beliebige, unbestimmte Variationen entstehen, so entbehrt die Selektionstheorie von vornherein, solange diese Vorfrage nicht entschieden ist, einer festen, wissenschaftlichen Grundlage und hat während 60 Jahren nur als Mei- nungs- oder Glaubenssache ihr Dasein fristen können. Ganz im Gegensatz zu DARWwIn, der sich noch mit einer gewissen Vorsicht und zuweilen ausweichend ausgesprochen hat, haben manche seiner Anhänger die richtungslose Variation und die Rolle des Zufals ohne weitere Prüfung als Dogma und gleichsam als etwas Selbstverständ- liches behandelt. Nicht selten wird man in den Schriften von HAECKEL, WEISMANN u.a. Aussprüchen, wie dem folgenden, begegnen: ‚„Vollends wenn wir die ganze Entwicklungsreihe verwandter Formen vergleichend ins Auge fassen, erkennen wir klar, wie die natürliche Züchtung, nach allen Richtungen planlos wirkend, eine allmähliche Ver- vollkommnung langsam herbeiführt, aber erst nach vielen vergeblichen Versuchen zuletzt etwas halbwegs ‚Zweckmäßiges‘ zufällig erreicht‘ (HAEcKEL, N. S., 10. Aufl., p. 775). Als Darwın seine Aufmerksamkeit dem Züchtungsproblem zu- wandte und zum Ausgangspunkt seiner Theorie machte, fehlten auf diesem Gebiet noch methodisch und nach wissenschaftlichen Gesichts- punkten durchgeführte Untersuchungen. Es lagen nur die oft wenig zuverlässigen und nicht auf den Grund der Sache eindringenden Angaben von Pflanzen- und Tierzüchtern vor, auf die sich DARwIN häufig beruft. Erst in den letzten Jahrzehnten hat sich die biologische Wissenschaft, zum Teil durch Darwın angeregt, mehr des Gegenstandes bemächtigt. Durch die bahnbrechenden experimentellen Untersuchungen von NÄGELI, DE VRIES, KLEBS, JOHANNSEN u. a., sowie durch die neu geschaffene Mendelforschung ist ein besseres Verständnis gewonnen worden. Wir wissen jetzt, daß der Züchter auf zwei Wegen neue Kulturformen von Lebewesen gewinnen kann. 1. Die beiden experimentell festgestellten Wege, auf denen abgeänderte Organismen entstehen. a) Die Kombination zweier Idioplasmen. Der eine Weg, mit dem ich beginnen will, weil hier die schon im III. Kapitel besprochenen Verhältnisse für die Kritik am klarsten liegen, 39° 612 Fünfzehntes Kapitel. ist die Kombinierung von zwei Idioplasmen mit wenigen differenten Merkmalen durch Bastardierung von Eiern und Samenfäden, die von zwei durch wenige Merkmale unterschiedenen Varietäten oder nahe ver- wandten Spezies herrühren. Schon von den ältesten Zeiten an haben Kreuzungen eine sehr wichtige Rolle bei der Vermehrung der domesti- zierten Pflanzen und Tiere gespielt und haben wohl mit am meisten dazu beigetragen, die ungeheure Mannigfaltigkeit, die sie uns in der Gegen- wart zeigen, hervorzubringen. Durch die neue Wissenschaft der Mendel- forschung, durch ihre Lehre von der Selbständigkeit der Erbeinheiten, durch die Spaltungsregel, durch die Lehre von der Mischbarkeit und Kombination der Erbeinheiten nach dem Wahrscheinlichkeitsgesetz ist auch schon ein tiefer Einblick in das Gesetzmäßige der Erscheinungen gewonnen worden, wie uns das III. Kapitel (S. 71—94) gelehrt hat. So kommen z. B. bei Vermischung von 2 Varietäten mit Io differenten Merkmalspaaren (Polyhybriden) 1024 äußerlich verschiedene Lebens- formen nach einigen Generationen rechnungsmäßig zustande. Auf diesem Wege erhält der Züchter die beste Gelegenheit, für seine Zwecke geeig- nete Formen zu weiterer Fortzucht und Reinkultur auszuwählen. In großen Gärtnereien und Samenzüchtereien werden so z. B. besonders gefärbte, aus ästhetischen Gründen beliebte und daher vom Händler gewünschte Varietäten aus Kulturen von Mischlingen ausge- lesen, nach Vernichtung der übrigen durch Samen weiter vermehrt und nach wenigen Generationen bei konsequent durchgeführtem Ver- fahren als samenbeständige Neuheiten in den Handel gebracht. Wenn ein Mischling mit homozygoten Merkmalspaaren isoliert worden ist und dann durch Verhütung neuer Kreuzungen in reinen Linien fortge- züchtet wird, so wird er sich konstant erhalten. Wenn es sich dagegen um einen heterozygoten Mischling handelt, so muß er trotz fortgesetzter Selektion und Reinzucht eine verschiedenartige Nachkommenschaft E| liefern, da nach der MEnpeELschen Spaltungsregel immer wieder von neuem Spaltungen eintreten. Infolge seiner Studien ist daher BATESON in eine Oppositions- stellung zur Selektionstheorie gedrängt worden. „Selektion wird nie- mäls“, bemerkt er sehr zutreffend, ‚die blauen Andalusier (heterozygo- tische Mischlinge einer schwarzen mit einer weißen schwarzfleckigen Hühnerrasse) konstant machen können; eine solche Konstanz könnte E nur dadurch erfolgen, daß ein blaues Tier entstände, dessen Gameten selbst den „blauen Charakter‘ trügen; ob dies möglich ist oder nicht, ist eine Frage für sich. Falls der Selektionist nur über diese Erfahrung nachdenkt, wird er direkt ins Zentrum unseres Problems geleitet; es # Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 613 werden ihm sozusagen die Schuppen von den Augen fallen, und mit einem Schlage wird er die wahre Meinung von Typenfestheit, Variabilität und Mutation sehen, welche nicht mehr luftige Myvsterien sind.“ Es ist wichtig, sich nach allen Richtungen darüber vollkommen klar zu werden, warum die Ergebnisse der Mendelforschung mit DAR- wıns Selektionstheorie nicht in Einklang gebracht werden können, obwohl der Züchter in diesem Fall doch auch eine Auswahl oder Selektion trifft. Aber diese ist etwas ganz anderes als die Selektion, welche das Wesen der Darwısschen Theorie ausmacht. Denn weder schafft sie etwas Neues noch vervollkommnet sie bei der Fortzucht das Ausgewählte Schritt für Schritt durch Häufung kleiner, zufälliger Verbesserungen in der Beschaffenheit des gewünschten Merkmals. Der Zufall ist bei dem ganzen Vorgang ebenso ausgeschaltet, als wenn zwei, mit gegen- seitigen Affinitäten begabte, chemische Substanzen sich zu einer dritten Substanz untereinander verbinden. Wie in der Chemie die Verbindungen, so entstehen auch durch Vermischung zweier Idioplasmen neue Lebens- formen nach feststehenden und uns zum Teil bekannten Gesetzen. Durch die Selektion werden neu aufgetretene Formen, welche ohne Wirkung neuer Ursachen unveränderlich und nicht mehr verbesserungsfähig sind, nur aus einem Gemisch mit anderen isoliert, zugleich wird für ihre raschere Ver- mehrung gesorgt. Wenn hierbei die nicht gewünschten Formen zugleich vernichtet werden, so kann das Verhältnis zwischen den ausgewählten und den verworfenen mendelnden Individuen auch als ein ‚Überleben des Passenden‘“ oder als ‚Kampf ums Dasein‘ (bei dem der auswählende Mendelforscher zugleich der Kampfrichter ist) bezeichnet werden. Auch von Anpassung kann man reden und zwar an den Geschmack und die Wünsche des Züchters. Denn unter dem Einfluß von DArwıNn sind die in der Darwinistischen Literatur eingebürgerten, sattsam be- kannten Schlagwörter, welche meist menschlichen Verhältnissen ent- lehnt und in weitestem bildlichen Sinne gebraucht werden, so dehnbare Begriffe geworden, daß sie sich für alle möglichen Naturvorgänge ver- wenden lassen. Demnach ist aus dem Studium der Bastardbefruchtung und im Hinblick auf die Ergebnisse der Mendelforschung folgende Lehre zu ziehen: Die vom Züchter auf diesem Gebiet ausgeübte Se- lektion ist ohne jeden Einfluß auf die Entstehung neuer Formen von Lebewesen, da diese ja nachgewiesenermaßen von ganz anderen Faktoren abhängt und daher in anderer Weise ihre naturwissenschaftliche Erklärung findet. Seine Tätigkeit ist vielmehr auf ein engeres Gebiet beschränkt. 614 Fünfzehntes Kapitel. Geleitet durch die verschiedensten Beziehungen, die sich zwischen dem Menschen und den ihn umgebenden Lebe- wesen bilden, übt der Züchter in unserem Fall einen Ein- fluß auf die Erhaltung, Verbreitung und die Zahlenver- hältnisse der seinem Machtbereich unterworfenen Lebe-* wesen aus. Dadurch, daß er die einen erhält und ihre Ver-& mehrung begünstigt, die anderen zurückdrängt oder ver- nichtet, verändert er in beschränkter Weise das Gesamt-= bild der Lebewelt, aber nicht dadurch, daß er neue Lebens- formen schafft; denn diese werden ihm ja durch die Natur schon fertig geliefert. Hier liegt ein logisches Verhältnis über welches sich die unentwegten Darwinianer vor allen Dingen recht klar werden sollten. Denn ohne Zweifel fällt hier die ganze Tätigkeit des Züchters bei der Selektion auch unter den Begriff der direkten Bewirkung; und zwar 2 sind dabei die bewirkenden Ursachen die aus den verschie- densten Motiven hervorgehenden Eingriffe des Menschen in den Bestand der Lebewelt, die auf diese Weise seinen Bedürfnissen, seinen Wünschen und seinen Launen ange- paßt wird. b) Durch Mutation des Idioplasma entstehende, abgeänderte Organismen. i R Nachdem wir beim Studium der durch die Bastardierung erhaltenen neuen Formen von domestizierten Lebewesen erkannt haben, daß bei der Entstehung neuer Eigenschaften und ÖOrganisationsverhältnisse” ein akkumulatives Wahlvermögen des Züchters im Sinne DARwInS nicht mitwirkt, wenden wir uns dem zweiten Wege zu. Auf diesem können neue Kulturformen von Pflanzen und Tieren zustande kommen, wenn geeignete wilde Arten unter mehr oder weniger veränderte Lebensbe- dingungen gebracht werden. Pflanzen beginnen zu variieren, abgesehen von anderen Umständen, infolge intensiver Düngung des Bodens, also durch chemische Eingriffe, besonders wenn diese während der Entwick im Treibhaus, im gut vorbereiteten, nahrungsreichen Boden verdan et der Gärtner einen großen Teil seiner Erfolge. Seit den klaren und ex= perimentell gut begründeten Auseinandersetzungen von NÄGELI, von DE VRIES, KrLEgs u. a. lassen sich die so entstehenden Abänderungen Kritik der Selektions- und Zufallstheorie, 615 in zwei wesentlich verschiedene Gruppen trennen, in die schon früher besprochenen Mutationen und in die Modifikationen (Varianten). Mutationen, über welche das wichtigste Tatsachenmaterial schon im IX. Kapitel mitgeteilt worden ist, sind erblich gewordene und im Idioplasma fixierte Abänderungen, welche innerhalb einer Art plötzlich und ohne Übergänge in die Erscheinung treten und auch unter verän- derten Kulturbedingungen erhalten bleiben. Aus dem Samen einer Mu- tation gehen immer wieder in derselben Richtung mutierte Nachkommen hervor. Nach NÄGELI muß auf dem Gebiet der Mutationslehre DE VRIES wegen seiner langjährigen und gründlichen Experimente als erste Autorität geschätzt werden, so daß auf sein Urteil das größte Gewicht zu legen ist. Nach seinen Erfahrungen finden Mutationen mit einem Male statt und stellen einen plötzlichen Sprung von der normalen Pflanze zu der veränderten und zugleich erblich gewordenen, neuen Form dar (l. c. 1906, p. 290, 291, 346). Sie treten bei Arten, die zu Mutationen neigen, öfters sowohl zu verschiedenen Zeiten als auch gleichzeitig in einer größeren Zahl verschiedener Indi- viduen auf. Alles deutet darauf hin, daß eine gemeinsame Ursache für ihr Entstehen vorhanden sein muß, daß die Mutabilität der Ausdruck eines verborgenen Zustandes oder einer verborgenen Tendenz, also etwas durchaus ge- setzmäßiges sein muß (l. c. 1906, p. 346 u. 29T). Der neue Zu- stand äußert sich gewöhnlich in mehreren Merkmalen, die durch die- selbe Ursache zusammen beeinflußt worden sind, so daß die ganze Konstitution eine etwas veränderte geworden ist. Auch nach den Berichten, die Gärtner über die Herkunft der von ihnen in den Handel gebrachten Neuheiten seit 100 Jahren veröffentlicht haben und die von DE VRIES und KORSCHINSKY sorgfältig zusammenge- stellt sind, ist das plötzliche Auftreten der Abarten, ihre Samenbestän- digkeit und ihre Konstanz bei fortgesetzter Reinkultur die Regel. Daher sprechen sowohl DE VRIES, wie KORSCHINSKY U. a. als ihre feste Über- zeugung aus, daßin derartigen Fällen neue Arten unabhängig von natürlicher Auslese entstanden sind. DE VRrIES bezeichnet dies als den Grundgedanken seiner Mutationstheorie (l. c. 1906, p. 140). Demselben haben übrigens einzelne Züchter, gestützt auf ihre ausge- breiteten Erfahrungen, schon ehe sich die Wissenschaft des Gegen- standes bemächtigt hat, einen unzweideutigen Ausdruck gegeben, wie ich zwei literarischen Angaben von DE VRrIES entnehme. Der belgische Züchter DE Mons, welcher in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele der jetzt am meisten bekannten Sorten in den Handel gebracht 616 Fünfzehntes Kapitel. hat, sagt ausdrücklich, daß er selbst keine neue Formen hervorgebracht | hat, „La nature seule cr&e‘‘ (DE VRIES, l. c. 1goI, Bd. I, p. 126). Den gleichen Gedanken spricht ein von JORDAN mitgeteiltes, von Züchtern zuweilen gebrauchtes Scherzwort aus: ‚Die erste Bedingung, um eine Neuheit hervorzubringen, ist, sie bereits zu besitzen.‘ Demnach kann es beim heutigen Stand der Wissenschaft nicht mehr zweifel- haft sein, daß Mutationen unabhängig von Selektion ent- stehen Wenn mit ihnen dann noch eine Selektion vom Züchter getrieben wird, so ist sie für die Frage nach dem ‚Werden der Organismen“ etwas ganz Unwesentliches. 2. Auswahl und Sortierung von Varianten. Zu den Mutanten bilden die im VIII. Kapitel eingehend bespro- chenen Artvarianten oder die Modifikationen einen Gegensatz, indem sie nicht wie jeneim Idioplasma unabänderlich fixiert sind; sie beginnen wieder zu schwinden, wenn die Kulturbedingungen, infolge deren sie aufgetreten sind, nicht mehr einwirken. Manche Kulturformen verwil-: dern wieder oder schlagen, wie sich der Botaniker ausdrückt, in den Naturstand zurück. Äpfel- und Birnbäume bringen dann anstatt saftiger, wohlschmeckender Früchte nur wieder Holzäpfel und Holzbirnen hervor, Treibhausprimeln und großblumige Stiefmütterchen bilden auf magerem Sandboden bald nur erheblich kleinere Blüten. Es ist derselbe Fall wie bei den Standortsmodifikationen, z. B. bei der Versetzung mancher Pflanzen aus der Ebene ins Hochgebirge und umgekehrt. Die Haupt- aufgabe des Gärtners, um die domestizierte Form mit ihren Vorzügen zu erhalten, läuft hier im wesentlichen darauf hinaus, für den Fortbe- stand gleich günstiger Kulturbedingungen zu sorgen. Für Darwın haben die Modifikationen, für deren leicht schwan- kende Abänderung der Begriff der fluktuierenden Variabilität einge- führt wurde, eines der wichtigsten Beweismittel für die Entstehung der Arten nach den Prinzipien der Selektionstheorie gebildet. Jetzt ist auch diese Hauptstütze durch planmäßig durchgeführte experimentelle For- schungen erschüttert worden. Geradezu bahnbrechend haben hier die Studien von JOHANNSEN über die fluktuierende Variabilität gewirkt. Nach ihnen kann es fast als erwiesen betrachtet werden, daß die Züchter ihre Kulturpflanzen nicht durch planmäßige Häufung kleiner Verände- rungen Schritt für Schritt und durch Auswahl des Passenden nach DARWIN verbessern, sondern nach VILMoRINs Prinzip der individuellen Nachkommenbeurteilung. Das heißt: die Züchter arbeiten mit Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 617 einem unreinen Ausgangsmaterial, das schon aus genotypisch verschieden- artigen Bestandteilen, aus mehreren reinen Linien, zusammengesetzt ist; sie nehmen bei ihrem Eingreifen eine Sortierung des Gemisches vor, indem sie die für ihre Zwecke am meisten taugliche Linie (vgl. Kap. VII, S. 295) auswählen und sie durch Reinzucht erhalten. Ist dieselbe einmal aussortiert und dadurch eine bessere Rasse von Bohnen, von Zuckerrüben, von Gerste, von Hafer etc. gewonnen worden, so kann auch durch fortgesetzte Selektion der Charakter der reinen Linie nicht mehr geändert werden. Ich verweise auf das VIII. Kapitel über fluktuierende Variabilität und ergänze es nur noch durch die wichtigen Schlußfolgerungen, welche sich durch ihr genaueres Stu- dium für die Beurteilung der Selektionstheorie ergeben. Wie wir früher gesehen haben, lassen sich aus einem Bohnengemisch durch sorgfältige, über längere Zeit ausgedehnte Reinkulturen mehrere „reine Linien‘ heraussortieren. Eine solche ist „der Inbegriff aller Indi- viduen, welche von einem einzelnen, absolut selbst befruchtenden, homozygotischen Individuum abstammen“. Sie bildet die einzige zu- verlässige Grundlage für eine exakte Erblichkeitsforschung. Auch inner- halb einer reinen Linie zeigen die einzelnen Bohnensamen eine fluktu- ierende Variabilität in bezug auf Größe, Gewicht und andere Merkmale; sie variieren um ein bestimmtes Mittel und werden hiernach als Plus- und Minusvarianten unterschieden. Diese Unterschiede sind aber nicht erblich (genotypisch) ; sie sind nur durch die verschiedene Lebenslage be- dingt. Wenn man daher unter gleichen Bedingungen kleinere und größere, oder leichtere und schwerere Bohnen aussät, so erhält man Pflanzen, die sich in bezug auf die neue Ernte nicht voneinander unterscheiden. Sowohl die aus leichteren wie die aus schwereren Bohnensamen gezüch- teten Pflanzen liefern eine Ernte von Plus- und Minusvarianten, die genau wieder um dasselbe Mittel schwanken, wobei es gleichgültig ist, ob die Pflanzen aus einem leichteren oder schwereren Bohnensamen stammen. Und dieses Ergebnis bleibt konstant, auch wenn man die Kulturen über eine längere Reihe von 6 Generationen ausdehnt. JOHANNSEN faßt daher das Resultat seiner Versuche in die Sätze zusammen: „In reinen Linien ist keine Wirkung von Selektion der Plus- und Minusabweicher zu spüren, sie ist auch bei länger fortgesetzter Kultur fast gleich Null; Ausschläge der fluktuierenden Variabilität sind nicht erblich.“ Zu demselben Ergebnis führten Experimente, bei welchen die Form der Bohnensamen, bestimmt nach ihrem Längs- und Breitendurchmesser, zum Gegenstand der Untersuchungen gemacht wurde. (Man vergleiche hierzu Kapitel VIII, Seite 306— 326.) 618 Fünfzehntes Kapitel. Ausdehnung der Zucht in reinen Linien auf andere Pflanzenarten hat zu entsprechenden Resultaten geführt. So haben Versuchsreihen mit „schartiger Gerste‘, welche eine Abnormität ist, ebenfalls keine Wirkung der Selektion in reinen Linien ergeben. Für die Richtigkeit dieser Auffassung fallen namentlich schwer ins Gewicht diein I5 Jahren ge- sammelten Erfahrungen von H. NILsson, welcher als Direktor der Zucht- anstalt in Svalöff die Methoden zur Verbesserung der Getreide- und Hülsenfruchtrassen geprüft und schon seit 1892 den Standpunkt ver- treten hat, daß ‚seine Pedigreekulturen (d. h. Kultur in reinen Linien) durch Selektion nicht geändert werden, und daß neue Typen ganz un- abhängig von einer Selektion durch stoßweise Änderungen — eventuell auch durch Kreuzung — entstehen“. Besonders schön hat sich dieses — wie JOHANNSEN in seinem Werk hervorhebt — bei Untersuchung der Winterfestigkeit der Weizenrassen gezeigt. ‚Bei reinen Linien war eine Selektion derjenigen Individuen, welche den ungünstigen Winter überlebt haben, nicht imstande, die ‚Festigkeit‘ der betreffenden Linien zu verbessern. Arbeitet man aber mit einer gemengten Population, welche Linien verschiedenen Festigkeitsgrades enthält, dann ist es leicht, durch Selektion die winterfestesten Formen herauszuzüchten, ganz wie wir es für die Bohnenpopulation in bezug auf Größe oder Breiten- index erwähnt haben. Selektion verschiebt aber nicht den Typus ‚der zeinen. Einienz Nach dem Urteil von JOHANNSEN, welcher über den fraglichen Gegenstand auf Grund langjähriger Experimente am scharfsinnigsten nachgedacht hat (l. c. p. 166), ist bis auf den heutigen Tag keine einzige Tatsache bekannt, welche andeuten könnte, daß ‚durch Auswahl von Plus- oder Minusvarianten einer genotypisch einheitlichen Population erbliche Unterschiede erzeugt werden‘. Zu demselben Resultat gelangte der Botaniker KORSCHINSKY, der, um den Wert der Selektionstheorie zu prüfen, sich mit dem Studium der Entstehung neuer Formen in der Gartenkultur beschäftigte, da Darwin auf ihr seine Lehre in der Hauptsache aufgebaut hat. Er mußte sich aber bald überzeugen, wie er bemerkt (l. c. p. 24r), daß die Schluß- folgerungen, zu denen DArwIn in bezug auf die Entstehung der kulti- vierten Formen gelangt war, auf einer unrichtigen Auffassung der Tat- sachen beruht. ‚Wenigstens kann ich“, erklärt er, ‚in bezug auf die Gartenpflanzen entschieden behaupten, daß kein einziger Züchter je- mals zur Gewinnung von neuen Rassen mit individuellen Merkmalen operierte, und daß niemals eine Häufung der letzteren beobachtet wurde.‘ Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 619 3. Zusammenfassung der Kritik. Wenn wir daher zum Schluß aus unserer Kritik der künstlichen Zuchtwahl, von welcher Darwın dann zur natürlichen Zuchtwahl ge- führt worden ist, das Ergebnis in wenigen Worten zusammenfassen, so kann dasselbe nur lauten: Der Züchter kann durch Selektion nicht Neues produzieren. Seine Kunst besteht ausschließ- lich im Auffinden und in der geschickten Auswahl für seine Zwecke geeigneter erblicher Abänderungen von Lebewesen, welche die Natur entweder durch Kombination zweier verschiedenen Idioplasmen oder durch Mutation eines bestehenden Idioplasma hervorgebracht hat. Wie schon früher erwähnt wurde, ist „die erste Bedingung, um eine Neuheit hervorzubringen, sie bereits zu besitzen“. Wer auf diese neuzeitlichen Fortschritte der Wissenschaft gestützt, in Darwıns Buch von der Entstehung der Arten das erste Kapitel: „Abänderung im Zustand der Domestikation“, wieder aufmerksam durchliest, wird über die ganze außerordentliche Schwäche der Fundamente, auf denen die Selektionstheorie von ihm aufgebaut worden ist, erstaunt sein. Zwar hat Darwın auch die Entstehung neuer Rassen durch Bastardierung in Erwägung gezogen. Er rechnet mit der Möglichkeit, daß unsere Rinder-, Hunde-, Hühner- und Taubenrassen von mehreren wilden Arten durch Kreuzung ab- stammen. Mit der Zucht von Taubenrassen hat er sich selbst eingehend beschäftigt; aber er ist auf diesem Wege zu keinem, die Frage nach der Entstehung einer Tierart irgendwie klärenden Ergebnis gekommen. So sagt er z.B.: ‚‚Wir wissen nichts über den Ursprung und die Geschichte irgendeiner unserer Hausrassen‘‘ (l. c. p.49) oder: „Die Veredelung rührt im allgemeinen keineswegs davon her, daß man verschiedene Rassen miteinander gekreuzt hat. All die besten Züchter sprechen sich streng gegen dieses Verfahren aus, es sei denn zuweilen zwischen einander nahe verwandten Unterrassen“ (p. 4I). In Darwıns erstem Kapitel wird man vergeblich nach Beweisen suchen, welche uns zur Annahme seiner Behauptung veranlassen könnten: „Der Schlüssel (für die Ent- stehung der domestizierten Rassen) liegt in dem akkumulativen Wahlvermögen des Menschen; die Natur liefert allmählich mancherlei Abänderungen; der Mensch summiert sie in gewissen ihm nützlichen Richtungen. In diesem Sinne kann man von ihm sagen, er habe sich nützliche Rassen geschaffen“ (p. 40). 620 Fünfzehntes Kapitel. Ebenso gibt das von DArwIn zusammengestellte Material von Tat- sachen keine Berechtigung zu dem allgemeinen Satz, mit dem er das erste Kapitel seines Buches in einer kurzen Zusammenfassung abschließt: Die über alle diese Änderungsursachen bei weitem vorherrschende Kraft ist die fortdauernd anhäufende Wirkung der Zucht- wahl, mag sienun planmäßig und schneller, oder unbewußt und langsamer aber wirksamer in Anwendung kommen“ (P- 53). So also sieht es mit der wichtigsten Grundlage und mit dem Ausgangspunkt von DarwıIns Selektionstheorie aus. Es wäre gewiß recht wünschenswert, wenn seine Anhänger über. diese Sachlage einmal gründlich und ohne Voreingenom- menheit nachdenken wollten. 4. Der logische Irrtum in der Begründung der Lehre von der künstlichen Zuchtwahl. Um unseren ablehnenden Standpunkt auch für Fernstehende noch überzeugender zu machen, wird es, wie ich glaube, beitragen, wenn ich auf die Ursache eingehe, warum der Gedanke der künstlichen Zucht- wahl auf DArwın, auf die vonihm beeinflußten Biologen und wissenschaft- lich interessierten Laien einen so starken Eindruck gemacht hat und noch zur Stunde macht. Offenbar können sich manche Forscher, die sich in ihm verstrickt haben, nur schwer von ihm wieder lossagen. Die Ursache beruht nicht bloß in der richtigen Einschätzung der durch Be- obachtung und Experiment festgestellten Tatsachen, sondern auch und vielleicht noch mehr in begrifflichen Unklarheiten, die sich bei der Bewertung der Leistungsfähigkeit der künstlichen Zuchtwahl und beim Gebrauch so wenig scharf umschriebener Ausdrücke, wie Se- lektion, akkumulatives Wahlvermögen, Entstehung der Arten, leicht einstellen. Daher soll jetzt auch noch eine Klärung in dieser Richtung versucht werden. Ich räume ein, daß man durch Selektion und Zuchtwahl im Art- bild Veränderungen erzielen kann; füge aber gleich einschränkend hinzu, daß diese mit dem Werden der Organismen und mit den hierbei wirk- samen Faktoren in keinem Zusammenhang stehen und daher auch nicht geeignet sind, hierfür eine kausale Erklärung zu liefern. Selektion ist für das Werden der Organismen nur ein rein negativer Faktor, der durch Vernichtung von Lebewesen oder durch Verhinderung ihrer Vermehrung durch Zeugung die Zusammensetzung der Lebewelt verändert, aber in der Organisation der von ihr Ausgewählten auch nicht die geringste Veränderung hervorbringen kann. Neue Eigenschaften der Organismen u nn Kritik der Szlektions- und Zufallstheorie, 621 inihrem Bau undihrer Funktion können nur nach dem Prinzip der direkten ewirkung und auf Grund der allgemeinen Naturgesetze entstehen, denen das Werden der Organismen ebensogut wie alles physikalische und chemische Geschehen unterliegt. Ein Beispiel soll uns gleich zur Erläuterung des Gesagten, in dem man einen Widerspruch erblicken könnte, dienen: Die Spezies ‚Pferd‘ setzt sich aus weiß, schwarz, fuchsig und anders gefärbten Individuen zusammen. Unter diesen Verhältnissen ist nichts leichter, als daß ein Tierzüchter auf einer größeren Insel oder in einem gegen die Umgebung isolierten Land durch konsequente, während mehrerer Generationen durchgeführte Abschlachtung aller Rappen und Füchse und durch Be- schränkung der Fortzucht nur auf die weißen Individuen eine reine Rasse von Schimmeln züchtet; ebensogut könnte nach derselben Methode der künstlichen Zuchtwahl auf zwei anderen abgegrenzten Gebieten hier eine reine Rasse von Füchsen, dort von Rappen gezüchtet werden. Nach Ablauf längerer Zeit würde der Systematiker, dem der wirkliche Hergang unbekannt geblieben ist, berechtigt sein, von drei verschieden gefärbten Pferderassen (Lokalvarietäten) zu sprechen, die drei getrennten Gebieten eigentümlich sind. Ohne Zweifel hat in diesem Beispiel der Eingriff des Menschen das Artbild des Pferdes durch Trennung der ursprünglich gemischt vorkommenden, verschiedengefärbten Individuen in drei räumlich getrennte Gruppen umgewandelt; dagegen hat er weder hier noch dort auch nur das Allergeringste in der Organisation der ein- zelnen Individuen der Spezies Pferd verändert. Die von ihm geübte künstliche Zuchtwahl hat mit der wissenschaftlichen Frage nach der Entstehung der weiß, der schwarz oder der fuchsig gefärbten Pferde über- haupt nichts zu tun. Der Züchter hat ja nichts anderes geleistet, als daß er unter den ihm fertig gegebenen Naturprodukten die ihm nicht passenden ausgemerzt hat; aber ein neues Merkmal in der Organisation des Pferdes, das nicht auch ohne seinen Eingriff vorhanden sein würde, hat er nicht geschaffen. Zwar könnte er im Hinblick darauf, daß er durch seine Tätigkeit und sein Verfahren dazu beigetragen hat, daß in dem ab- geschlosssenen Landbezirk nur weiße Pferde vorkommen, versucht sein, von sich zu sagen, er habe dort die weiße Pferderasse geschaffen. — Man vergleiche als Pedant hierzu den auf S. 619 ziterten Ausspruch DARr- wıns. — Das Inkorrekte in dieser oberflächlichen Ausdrucksweise läßt sich indessen bei wissenschaftlicher Prüfung leicht nachweisen. Denn man braucht dem Züchter nur ein aus reinen Linien stammendes Rappen- paar zu geben und ihm die Aufgabe zu stellen, von seiner Kunst, eine Schimmelrasse aus ihm hervorzubringen, eine beweiskräftige Probe 622 Fünfzehntes Kapitel. abzulegen. Dann freilich wird er sich nicht ohne Beschämung zu dem Eingeständnis bequemen müssen, daß es über seine Kraft und Kunst gehe, einen Rappen in einen Schimmel umzuwandeln. Wie in diesem besonderen, so verhält es sich auch in allen anderen Fällen, auf die sich DArwın beruft. Wenn trotzdem hervorragende Ver- treter der Biologie mehr als ein Menschenalter die Selektionstheorie als ein die Organismen veränderndes oder als ein artbildendes Prinzip gläubig hingenommen haben, so sind sie zu Opfern einer doppelten Täu- schung geworden, in die sie DARWIN, sich selber unbewußt, durch seine Darstellung versetzt hat. Die eine Täuschung erklärt sich aus dem Gebrauch des Wortes „Art“. Denn wie schon im VII. Kapitel, das uns jetzt für die Kritik des Darwinismus zu einer nicht unwichtigen Grundlage dient, nachge- wiesen wurde, ist das Wort ‚Art‘ nur ein Begriff, unter dem man je nach seiner weiteren oder engeren Fassung Individuen vereinigt, die in mehr oder weniger zahlreichen, mehr oder weniger bedeutenden Merk- malen voneinander abweichen. Inhalt und Umfang des Artbe- griffs kann man nun allerdings auf Grund einer Sortierung und Selektion der unter ihm zusammengefaßten Naturob- jekte, aber nicht diese selbst verändern. Denn sie bieten ja dem Züchter die selektionswertigen Unterschiede schon vor der Selektion und aus Ursachen dar, die mit der Selektion in gar keinem inneren Zu- sammenhang stehen. Wie schon früher bei der Erörterung des wissenschaftlichen Spezies- begriffes näher ausgeführt wurde, sind aus derartigen Gründen die Systematiker veranlaßt worden, die LinxEsche Großart in elementare oder Kleinarten zu zerlegen wie Draba verna, Viola tricolor und soviele andere (vergleiche S. 272 bis 276). Bei noch weiter und tiefer ein- dringender wissenschaftlicher Erkenntnis in das Wesen der Organismen und bei der dadurch notwendig gewordenen „systematischen Selektion‘ hat man die begriffliche Kategorie der Varietäten oder MENDELschen Arten geschaffen (S. 276 bis 278), hat endlich JOHANNSEN durch eine noch genauer durchgeführter Analyse des Speziesbegriffs die in ihm früher unbemerkt gebliebenen ‚‚reinen Linien‘ entdeckt und die Methoden, sie systematisch abzugrenzen und zu isolieren, in scharfsinniger Weise aus- gebildet (Seite 278 bis 285). Wenn sich auf solchem Wege unsere Vorstellung vom Wesen einer ÖOrganismenart ändert, so läßt sich daraus nur folgern, daß neue Arten hier auf dem Wege der Begriffsbildung, durch engere oder weitere Speziali- sierung, entstanden sind. Auch in dieser Hinsicht läßt sich die Selektion, Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 623 man mag sich stellen wie man will, nicht als eine Kraft bezeichnen, welche von DARWIN in seiner bildlichen Ausdrucksweise zu den Änderungs- ursachen der Organismen gerechnet und ihnen sogar als überlegen hin- gestellt wird (vgl. S. 594, 595). Denn eine Auswahl kann nur zwischen schon vorhandenen Gegenständen vorgenommen werden. Die Gegen- stände selbst aber, auch wenn sie leicht veränderliche Lebewesen sind, werden dadurch keine anderen. j Von den soeben entwickelten Gesichtspunkten aus wird man es verstehen, wenn ich den von Darwın gewählten Titel ‚Entstehung der Arten‘ als keinen glücklichen bezeichne. Denn schon hierdurch ist das eigentlich wissenschaftliche Problem, welches die Ent- stehung oder das Werden der Organismen betrifft, verschleiert und zu einer Quelle von Mißverständnissen gemacht worden. Schon mit der Wahl des Titels beginnt die Vermengung von zwei ganz ver- schiedenartigen Verhältnissen. Denn wie aus meiner Darlegung hervorgeht, kann, während die Organismen selbst durch die Selektion keine Ände- rung erfahren, doch die Linn£sche Kollektivart oder, was noch deut- licher ist, das Artbild als der Inbegriff aller unter einer systematischen Kategorie zusammengefaßten, voneinander etwas differenten Indi- viduen durch Ausrottung einzelner Typen verändert werden. Nichts mehr als dieses eine Verhältnis wird durch das riesige Tatsachen- material, das Darwın in seinen Werken zusammengetragen hat, be- wiesen. Gegen diese Wirkung der Zuchtwahl wird wohl niemand, da sie offen zutage liegt und etwas Selbstverständliches als Folge jedweder Sortierung ist, einen Zweifel erheben. Mit ihrer Hilfe hat der Mensch inder Tat die größten Wirkungen hervorgebracht und im Laufe der Zeiten das Antlitz der Erde von Grund aus verändert. Indem er ohne Unterlaß Unmassen von Pflanzen vernichtete, Wälder ausrottete, Brachland umpflügte und umgrub, hat er sich weite Kulturflächen geschaffen, sie mit den Arten seiner Auswahl bepflanzt und ihre Vermehrung durch seine Pflege und unter Benutzung der im VI. Kapitel besprochenen orga- nischen Zeugungskraft (S. 226—230) ins Riesenhafte gesteigert. Und wie das Pflanzenreich hat sich unter der Hand des Menschen auch das Tierreich in seinem Bestand durch Begünstigung einiger auserwählter Arten auf Kosten aller übrigen umgewandelt. Daher läßt sich, wenn man Natur und Menschen einander gegenüberstellt, wohl sagen, daß seine Zuchtwahl die wilden Pflanzen und Tiere durch die von ihm kulti- vierten Arten immer mehr verdrängt hat, und daß auf diesem Wege das ganze System der Pflanzen und Tiere im Haushalt der Natur umge- 624 Fünfzehntes Kapitel. staltet worden ist. Insofern würde sich die vom Menschen geübte Se- lektion — immer in der bildlichen Ausdrucksweise von DARWIN (vgl. S. 594) — als eine Kraft bezeichnen lassen, welche die Zusammensetzung der Organismenwelt als Ganzes im höchsten Grade umgewandelt hat. Irotzdem ist sie keine Kraft, durch die der pflanzliche und der tierische Organismus selber irgendwie verändert worden ist. Zwar sind die domesti- zierten Pflanzen und Tiere unter der Herrschaft und dem Einfluß des Menschen andere geworden und haben sich besondersin den Eigenschaften, welche sie dem Menschen wertvoll und zur Kultur geeignet machen, oft sehr erheblich vervollkommnet, Obstsorten in der Größe und dem Geschmack ihrer Früchte, Kartoffeln in dem- Stärkereichtum ihrer Knollen, Zierblumen in der Größe, Form, Zeichnung und Färbung der Blüten, aber diese Folge der Kultur ist keine Wirkung der künstlichen Auslese, wie oben wohl überzeugend nachgewiesen wurde, sondern eine direkte Wirkung der vollständig veränderten Umweltsfaktoren, unter welche der Mensch seine Kulturprodukte gebracht hat, z. B. die Pflanzen durch intensive Bodenkultur, durch Bereitung von Acker- und Garten- erde, durch planmäßige Düngung und Bewässerung, durch Bekämpfung der Schädlinge, durch vielfache Kreuzungen etc. Wie durch alle diese verwickelten Verhältnisse neue Eigenschaften allmählich und für uns unerwartet entstehen können, wurde an mühsamen, methodisch durch- geführten, wissenschaftlichen Untersuchungen im III. und IX. Kapitel nachzuweisen versucht und zur Widerlegung der Selektionstheorie auf S. 61I—618 verwertet. Wie bei der Theorie von der künstlichen Zuchtwahl eine Selbst- täuschung durch den unkritischen Gebrauch des Begriffes ‚Art‘ mitspielt, so ist noch eine zweite Täuschung durch die Darstellang der Zucht- wahl als eines akkumulativen Prozesses hervorgerufen , worden. Wenn in unserem oben gewählten Beispiel der Züchter durch Abschlachten aller anders gefärbten Pferde nur eine Schimmelrasse, weil sie ihm besser gefällt, hat überleben lassen, so ist es leicht zu ersehen, daß man nicht sagen kann, die Schimmel seien durch die zielbewußte Tätigkeit des Züchters entstanden. Denn hier erkennt gleich jedermann, daß sie schon lange vorher da waren. An diesem Verhältnis, an dessen Richtigkeit ein Zweifel gar nicht aufkommen kann, wird nichts geändert, wenn Darwın das Wahlvermögen zu einem akkumulativen Prozeß gestaltet. Darwin geht hierbei von der Erfahrung aus, daß die Organismen in der Ausbildung vieler Merkmale eine fluktuierende Variabilität zeigen, daß infolgedessen sich viele Gegensätze in der Organisation verwandter Lebewesen durch unzählige Zwischenstufen überbrücken lassen. Daher Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 625 könne eine Umwandlung eines Organismus in der Richtung dieses oder jenes Extrems der fluktuierenden Variabilität allmählich erreicht werden. wenn nur ein Faktor vorhanden sei, der das an sich richtungslose Variieren auf ein bestimmtes Ziel lenke, und dieser Faktor sei eben der zielbewußte Züchter. Demgegenüber ist zu betonen, daß doch der Vorgang der Se- lektion durch seine Zerlegung in Differentiale und durch seine so notwendig gewordene unaufhörliche Wiederholung in seinem Wesen nicht verändert wird. Ausgewählt kann auch unter diesen Verhältnissen nur zwischen Objekten werden, die schon vor der Wahl in ihren Eigenschaften gegeben sind. Die Frage, die schon früher nach der Entstehung des großen Unter- schiedes erhoben werden mußte, ist jetzt bei der Entstehung jedes Teil- unterschiedes von neuem zu wiederholen; sie ist durch Darwıns Dar- stellung nur verschleiert worden. Sofern der Züchter nur wählt oder Selektion treibt, hat er mit der Entstehung der Eigenschaften der Orga- nismen auch bei der Annahme einer akkumulativen Selektion nicht das Geringste zu tun. Das Werden der Organismen ist ein Problem der Bio- logie für sich. Ihm gegenüber kann man nur von einer „Ohnmacht der Selektion‘ sprechen. Indem DArwın es an der notwendigen begrifflichen Analyse in seinem Werk über die Entstehung der Arten hat fehlen lassen, hat er zwar eine Zuchtwahltheorie entworfen, welche auf den Leser bestechend wirkt und einen großen vorübergehenden Erfolg gehabt hat, aber wegen unrichtiger Verknüpfung von Ursachen und Wirkungen sich bei einer wissenschaftlichen Kritik nicht ferner aufrecht erhalten läßt. B. Kritik der natürlichen Zuchtwahl (natural selection). Wenn nach unserer Darstellung die Selektionstheorie schon auf dem Gebiet, das zu ihrer Aufstellung den Anstoß gegeben hat, auf dem Ge- biet der Domestikation, als erklärendes Prinzip versagt, so erhebt sich die berechtigte Frage, ob nicht auch die von ihr erst abgeleitete ‚‚natür- liche Zuchtwahl‘ zu verwerfen ist oder ob sie bloß deswegen festgehalten werden muß, weil es nach WEISMANNs Ansicht keine andere Erklärung für eine natürliche Entstehung der Organismen gibt ? Wenn man künstliche und natürliche Zuchtwahl miteinander in Vergleich stellt, so sind von den drei hierbei zu analysierenden und schon früher (5. 609) besprochenen Faktoren zwei die gleichen, nämlich der Organismus und die auf ihn einwirkenden Umweltsfaktoren; zu be- sprechen ist daher nur der dritte Faktor, welcher bei der natürlichen Zuchtwahl die Rolle des Züchters vertritt, den Ausleseprozeß zwischen OÖ, Hertwig, Das Werden der Organismen. 2». Aufl, 40 626 Fünfzehntes Kapitel. den kleinen zufälligen Variationen besorgt und ihn in einer bestimmten Richtung, wie das ‚„akkumulative Wahlvermögen des Menschen“, leiten soll. Für den Forscher, der nicht auf dem dualistischen Standpunkt eines Theismus steht, kann der Züchter zunächst nur die Natur selbst sein. Doch erhebt sich hier gleich die Schwierigkeit, daß dieselbe nicht als ein persönliches, von Wünschen geleitetes, nach Zwecken handelndes und nach Zielen strebendes Wesen vorgestellt, also anthropomorphisiert werden kann. Die Lösung dieser Schwierigkeit glaubte DArRwıIn bei der Lektüre von MALTHUS in einer geistreichen Konstruktion gefunden zu haben, die er als Ersatz für einen persönlichen Züchter benutzt hat. Im Organismus — so folgerte er — haben nur die Abänderungen Bestand, welche für ihn von Vorteil sind. Da bei der starken Vermehrung der Lebewesen zwischen ihnen ein ununterbrochener Kampf ums Dasein stattfindet, der mit dem vorzeitigen Tod der Mehrzahl endet, müssen die in vorteilhafter Weise abgeänderten Individuen mehr Aussicht auf Erhaltung und Fortpflanzung haben, als die übrigen, und ebenso ihre Nachkommen, die von ihnen den Vorzug geerbt haben. Durch die in langen Zeiträumen erfolgende Summierung kleinster Vorteile in der- selben Richtung bei einem Teil der Individuen und durch das nebenher gehende Aussterben minder geeigneter Lebensformen, die keine Nach- kommen haben hinterlassen können, muß der Charakter der Art all- mählich geändert werden. Der Weg ist allerdings ein sehr beschwerlicher, muß aber doch bei Zuhilfenahme außerordentlich langer Zeiträume, über die man frei verfügen kann, zum Ziele führen. Es muß auf diese Weise auch eine Trennung einer ursprünglich einheitlichen Art in mehrere Unterarten erfolgen können, wenn ein Teil der Individuen in dieser, ein anderer in jener für sie vorteilhaften Weise abändert. An Stelle des menschlichen Züchters mit seinem akkumulierenden Wahlvermögen tritt also jetzt als züchtendes Prinzip das Überleben des Passenden und der Kampf um das Dasein mit seinen in gleicher Weise sich einstel- lenden akkumulierenden und auf ein bestimmtes Ziel gerichteten Wir kungen. Das von DARWIN ausgesonnene, neue Entwicklungsprinzip ist kaum scharf zu definieren und klar vorzustellen. Die hierbei gebrauchten Redewendungen, wie Auswahl (Selektion), Kampf ums Dasein, Nütz- lichkeit, Vervollkommnung, sind menschlichen Verhältnissen entlehnte Begriffe und werden bei ihrer Übertragung auf Naturvorgänge häufig in bildlichem Sinne gebraucht, was für die schärfere Durcharbeitung einer naturwissenschaftlichen Theorie jedenfalls nicht von Vorteil ist. Auf den Begriff einer „natürlichen Zuchtwahl‘ würde Darwın wohl 3 ä 2 Ei Pe N Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 627 bei seinem Versuch, die Entstehung der Arten zu erklären, nie gekommen sein, wenn er nicht von den falsch beurteilten Verhältnissen des Tier- und Pflanzenzüchters ausgegangen wäre. Ebenso ist der seit 1859 zum Schlagwort gewordene Ausdruck: „der Kampf ums Dasein‘ mensch- lichen Verhältnissen entlehnt. Es wird von ihm in dem Buch von der Entstehung der Arten ein vielseitger und dementsprechend unbestimmter Gebrauch gemacht. Denn wie Darwın ausdrücklich (p. 75) bemerkt, verwendet er ihn „in einem weiten und metaphorischen Sinn, unter dem sowohl die Abhängigkeit der Wesen voneinander als auch, was wichtiger ist, nicht allein das Leben des Individuums, sondern auch Erfolg in bezug auf das Hinterlassen von Nachkommenschaft einbegriffen wird“. „Daher kann man auch sagen, eine Pflanze kämpfe am Rande der Wüste um ihr Dasein gegen ‘die Trocknis, obwohl es angemessener wäre zu sagen, sie hänge von der Feuchtigkeit ab. Von einer Pflanze, welche alljährlich tausend Samen erzeugt, unter welchen im Durschchnitte nur einer zur Entwicklung kommt, kann man noch richtiger sagen, sie kämpfe ums Dasein mit anderen Pflanzen derselben oder anderer Arten, welche bereits den Boden bekleiden etc.‘ In diesem metaphorischen Sinn werden unter dem Ausdruck „Kampf ums Dasein‘ fast alle Beziehungen begriffen, in denen sich ein Lebewesen zu den übrigen Organismen und auch zu seiner leblosen Umwelt befindet. Überhaupt läßt sich, wenn die leblose Natur anthropomorphisiert wird, schließ- lich jedes Kausalverhältnis von Ursache und Wirkung bildlich als ein Kampf darstellen. Zuweilen wird in der Darwinistischen Literatur anstatt ‚Kampf ums Dasein‘ auch der Ausdruck Konkurrenz für die Beziehungen ge- braucht, in welchen sich die Organismen zueinander und zu ihrer Um- welt befinden. Solche Schlagwörter, indem sie in jedermanns Mund geraten und oft ohne Verständnis gebraucht werden, können vorüber- gehend sehr wirkungsvoll werden. Wie sehr sich aber auch die Wert- schätzung und Bedeutung derartiger allgemeiner Ausdrücke, die oft sehr komplizierte Zusammenhänge behandeln, in kurzer Zeit ändern kann, lehrt die Beurteilung der Rolle der Konkurrenz von seiten der Vertreter des Handelsstandes und der Nationalökonomie. Gerade zu DARwINns Zeit wurde die Konkurrenz und das freie Spiel der Kräfte als das Prinzip, auf welchem aller Fortschritt ökonomischer und sozialer Entwicklung beruht, nach allen Richtungen gepriesen. In unserer Gegenwart hat sich eine fast entgegengesetzte Ansicht geltend ge- macht, welche durch Trusts, durch Syndikate und Staatsaufsicht die schädlichen Wirkungen der Konkurrenz beseitigen will und in der 40*® ’ 628 Fünfzehntes Kapitel. besseren Organisation das hauptsächliche Mittel zum Fort- schritt sieht. Nützlich, zweckmäßig, passend sind ebenfalls allgemeine Ausdrücke, die einer verschiedenartigen Beurteilung unterworfen sind; in der Dar- winistischen Literatur spielen sie eine sehr große Rolle, während sie in der übrigen Naturwissenschaft kaum gebraucht werden. Wenn Leben und Tod eines Individuums im Kampf ums Dasein von der geringeren oder größeren Nützlichkeit einer Veränderung abhängig gemacht wird, wie es durch die Selektionstheorie geschieht, so ist nicht zu vergessen, wie sehr diese Verhältnisse sich unserer wissenschaftlichen Beurtei- lung entziehen, und wie man von sehr vielen Einrichtungen, namentlich aber von vielen rein morphologischen Merkmalen, geschweige von ihren Varietäten, angeben kann, in welchem Maße, wodurch und ob sie über- haupt für den Organismus nützlich, zweckmäßig und dadurch selektions- wertig sind. Diese Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit ihrer Annahmen, die Willkürlichkeit bei ihrer Verwertung zur Erklärung bestimmter Ver- hältnisse macht sowohl die Stärke wie die Schwäche der Selektionstheorie aus. Ihre Stärke beruht ja darin, daß sie sich eben wegen ihrer Allgemein- heit fast für alle Verhältnisse der Organismenwelt als Erklärungsprinzip ausnutzen läßt. Denn von allen Organismen kann man schon aus der einfachen Tatsache, daß sie existieren, schließen, daß sie existenzfähig und an ihre Umgebung angepaßt sind, wie auch der umgekehrte Schluß, daß Arten ausgestorben sind, weil sie sich nicht mehr den veränderten Verhältnissen anpassen konnten, nicht widerlegt werden kann. Noch eingehender als an dieser Stelle habe ich mich über die Unklarheiten in den Bagriffsbestimmungen und über die Unbestimmtheit in den Rede- wendungen von DARWwIn im Kampf ums Dasein, Wettbewerb oder Kon- kurrenz in der Natur, Zuchtwahl, künstliche und natürliche Auslese in einer I818 erschienenen kleinen Schrift: „Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des biologischen Darwinismus‘“ (Jena, Fischers Verlag) ausgesprochen. Ihr erster Teil ‚Der biologische Darwinismus“ (S. 8° bis 24) dient hauptsächlich diesem Zweck. So ist es gekommen, daß der Ausdruck „Auswahl des Passenden im Kampf ums Dasein“ ein halbes Jahrhundert lang in der Gelehrten- und Laienwelt wie eine Zauberformel wirkte, welche sich als Erklärung für alles verwerten ließ. Mit Hilfe genügend langer Zeiträume und kleiner Veränderungen, von denen immer die besten im Kampf ums Dasein bestehen blieben, glaubte man für die kompliziertesten Verhältnisse der Organisation einen einfachen Schlüssel zur Erklärung gefunden Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 629 zu haben. Und so lautete denn fortan, wenn die Frage nach der Ent- stehung der Organismen, ihrer Organe, ihrer Funktionen, nach ihren Beziehungen zueinander und zur Außenwelt aufgeworfen wurde, die Ant- wort: durch Selektion und abermals durch Selektion und so im endlosen Einerlei fort. Auch wurde jetzt bald das Verhältnis umgekehrt. Da sich alle wirklichen und scheinbaren Anpassungerscheinungen durch die Formel der Selektion, obwohl sie wissenschaftlich nicht bewiesen war, erklären ließen, so wurde schon in der bloßen Möglichkeit einer auf diesem Wege zu erzielenden Erklärung auch ein Beweis für ihre Richtigkeit erblickt und aus diesem Umstand ‚‚die Allmacht der Naturzüchtung‘ als wissenschaftliches Dogma von WEISMANN verkündet. Die biologische Wissenschaft hat etwas Ähnliches schon einmal in der Aufstellung des Prinzips der Lebenskraft erfahren, welches nach der trefflichen Bemerkung von Du BoIs-REYMOND in seiner berühmten Vorrede zur Schrift über tierische Elektrizität die Rolle ‚eines Mädchens für alles“ in der Physiologie gespielt hat. Damals war es die Lebenskraft, die das Eigentümliche des Lebens ausmacht, die in den Stoffwechsel in besonderer Weise eingreift und verursacht, daß die organischen Sub- stanzen von denen der unbelebten Natur so verschieden sind, die den kranken Körper wieder zur Gesundheit verhilft, die sich bei der Ent- wicklung des Eies zum Embryo regt und als Nisus formativus alle seine Formverwandlungen hervorruft. Wenn man das Prinzip der natürlichen Zuchtwahl als Kraft bezeichnet, wie es von DaRrwIn nach dem auf S. 594 zitierten Satz geschehen ist, so gleicht sie jedenfalls der Lebenskraft darin, daß auch ihr alle möglichen Wirkungen zugeschrieben werden. Denn für die Selektionstheorie gibt es keine Schwierigkeit, die nicht angeblich durch ihre Formel erklärt würde. Aber in dieser Stärke, durch welche sie die Laienwelt geblendet hat, liegt zugleich für den Forscher auch ihre Schwäche und für den Fortschritt der Wissenschaft eine große und ernste Gefahr. Denn während sie den Schein erweckt, alles zu erklären, vermag sie doch in keinem Fall uns über den Verlauf und die wirklichen Ursachen eines Vorgangs zu belehren. Wie viel mehr ist im Vergleich zu ihr unser wirkliches Wissen und unsere hierauf gegründete Erkenntnis vom Werden der Organismen durch das methodische Studium der Entwicklungsgeschichte, durch die Erforschung der Zeugungsprozesse, durch die Begründung einer exakten Erblichkeitslehre, durch die Mendelforschung usw. in 50 Jahren gefördert worden, als in demselben Zeitraum durch die über die Selektionstheorie handelnde Literatur, in welcher immer wieder dieselben unbeweisbaren und, wie noch weiter gezeigt werden wird, 630 Fünfzehntes Kapitel. oberflächlichen Behauptungen wiederholt und durch Anhäufung neue Beispiele von Anpassungen um nichts besser bewiesen werden! Wir gehen nach diesen Vorbemerkungen zu den wichtigsten Ein- wänden gegen die Richtigkeit der natürlichen Zuchtwahl (natural selec- tion) selbst über. Die Einwände lassen sich in folgende 5 Gruppen zu- sammenfassen: I. Kleine Organisationsunterschiede besitzen, auch wenn sie vorteilhaft sind, keinen Selektionswert. 2. Viele morphologische für das System der Organismen sehr wichtige Verhältnisse sind ohne Selektionswert, da sie für die Lebewesen von keinem entsprechenden Vorteil sind. 3. Es gibt viele Organisationsverhältnisse, die wegen ihrer Gesetzmäßigkeit und Wiederholung durch das Selektionsprinzip nicht zu erklären sind. 4. Einwände, welche der Genealogie entnommen sind. 5. Die Stellung der Selektionstheorie zum Zweckbegriffe. Erste Gruppe der Einwände: betreffend den Selektionswert kleiner Organisationsvorteile. Schon von vielen Forschern (HUBER, MIVART, KÖLLIKER, WIGAND, NÄGELI, SPENCER, BATESON, REINKE, KASSOWITZ u. a. nach einer Zu- sammenstellung von PLATE) ist mit Recht betont worden, daß kleine Veränderungen, wie sie gewöhnlich bei der Variabilität innerhalb einer bestimmten Art beobachtet und von DArWwIn als Material für die Aus- lese angenommen werden, keinen Selektionswert besitzen. Das heißt: die angenommenen kleinen Unterschiede zwischen den einzelnen Indi- viduen können bei der Entscheidung über Leben und Tod keinen Aus- schlag geben und können daher auch nicht durch Selektion gesteigert werden. Denn wie NÄGELI bemerkt, können ‚nützliche Veränderungen erst, wenn sie eine bemerkbare Höhe erreicht haben und in zahlreichen Individuen vorhanden sind, eine ausgiebige Verdrängung der Mitbewerber bewirken. Da sie aber im Anfange durch eine lange Reihe von Genera- tionen jedenfalls noch sehr unbedeutend und nach der Selektionstheorie auch nur in einer kleinen Zahl von Individuen vertreten sind, so bleibt die Verdrängung aus und eine natürliche Zuchtwahl kommt, da ihr der wirksame Hebel mangelt, überhaupt nicht zustande‘ (NÄGELI, 1. c. p. 289). Aber auch für den Fall, daß es sich um eine schon größere nütz- liche Veränderung handelt, die — nehmen wir einmal an — 3 Individuen unter 10000 erfahren haben, so bleibt die Verdrängung dieser durch jene immerhin noch ein kaum vorstellbarer Prozeß. Denn die 10000 müssen an ıhre Daseinsbedingungen, unter denen sie sich schon während langer Zeiträume entwickelt haben, jedenfalls ebensogut wie vorher noch an- Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 631 gepaßt und daher auch erhaltungsfähig sein. Auch von diesem Gesichts- punkt aus läßt sich nicht absehen, wie von den 3 abgeänderten Individuen den 10000 unverändert gebliebenen eine lebensgefährliche Konkurrenz gemacht werden könnte. Wenn, um ein Beispiel zu gebrauchen, unter 10000 gut gedeihenden, konstant weißblühenden einjährigen Pflanzen plötzlich drei blau gefärbte, also schon stark und auffällig abgeänderte Mutanten auftreten und wenn die Bienen diese Farbe mehr als die weiße bevorzugen, daher die blau gefärbten Blüten häufiger als die weißen aufsuchen und die Befruchtung vermitteln, so würde doch hieraus weder den blauen ein erheblicher Vorteil, noch den weißen ein erheblicher - Nachteilim Kampf ums Dasein erwachsen. Denn auch die weiß blühenden Pflanzen würden von den Bienen, da sie ihren Bedarf an Honig und Pollen von den drei blau gefärbten nicht decken können, aufgesucht und be- fruchtet werden müssen. Wenn das Verhältnis umgekehrt wäre und auf 10000 blau blühende 3 Pflanzen mit weißen Blüten kämen, die weniger gern von den Bienen aufgesucht werden, dann würde ihre Fortexistenz wegen ihrer unvorteilhaften Blütenfarbe bedroht sein, aber gewiß nicht umgekehrt! Ferner darf man, um den Selektionswert eines Merkmals richtig einzuschätzen, auch nicht übersehen, daß ein Organismus, je höher er entwickelt ist, um so mehr aus sehr vielen Organen zusammengesetzt ist und zahllose Eigenschaften und Merkmale darbietet, daß die Er- haltung des Lebens vom Zusammenwirken aller abhängt und ein Merk- mal dabei oft nur in verschwindender Weise einen Anteil nimmt. Auch unter diesem Gesichtspunkt kann der Selektionswert eines Merkmals, selbst wenn es sehr erheblich und nützlich abgeändert ist, gleich Null bleiben. Man halte sich nur die menschlichen Verhältnisse vor Augen, da sie jeder aus seiner eigenen Erfahrung am besten kennt. Wie schwer ist es einem Kind die Prognose für seinen Erfolg im Leben zu stellen! Wie oft bleiben die mit vorzüglichen Eigenschaften des Geistes und des Körpers ausgestatteten Schüler auf ihrer weiteren Lebensbahn hinter manchen weit weniger gut beanlagten Altersgenossen mit geringerem Selektionswert zurück ! Daß ähnliche Überlegungen schon bei Darwin (l. c. p. 224) ein Ge- fühl der Unsicherheit erzeugt haben, geht aus seinen eigenen Worten hervor: ‚Diese Schwierigkeit schien mir manchmal beinahe ebenso groß zu sein als die hinsichtlich der vollkommensten und zısammenge- setztesten Organe.‘‘ Auch PLATE bekennt in seiner Verteidigung der Selektionstheorie (1913, ]. c. p. 179) bei Erörterung der verschiedensten Einwände: ‚Es ist fast ausnahmslos unmöglich, in einem speziellen Fall 632 Fünfzehntes Kapitel. das Maß des Selektionswertes anzugeben und vielfach sogar unmöglich, festzustellen, ob ein anscheinend nützliches Organ selektionswertig ist oder nicht. Der hieraus sich ergebende Schluß ist, daß die Richtigkeit der Selektionslehre nur selten aus der Beobachtung spezieller Fälle in der Natur sich ergibt, sondern daß sie in der Hauptsache eine logische Folgerung aus den allgemeinen Erfahrungstatsachen der Variabilität, des Geburtenüberschusses und des Kampfes ums Dasein darstellt.“ Und er fügt später hinzu (l. c. p. I81): ‚In der Erkenntnis der Unmög- lichkeit, die Rolle der Slektion für die Vergangenheit und für jeden gegen- wärtigen Fall exakt rekonstruieren zu können, liegt gewiß etwas Deprimierendes, aber deshalb. bleibt sie nicht "weniger Eichtigs- Das Gegenteil von der letzten Bemerkung dürfte eher näher liegen. Denn das Deprimierende bei der Prüfung des Selektionswertes wächst noch gerade dadurch, daß im Gegensatz zu der angeführten Bemerkung PLATES die Richtigkeit der Selektionstheorie überhaupt in keinem einzigen Fall gezeigt worden ist (vgl. S. 604) und daß auch der logische Beweis, wie selbst WEISMANN zugibt (S. 605) noch aussteht. Außer dem zuerst besprochenen Haupteinwand lassen sich noch weitere wichtige Bedenken gegen die Rolle des Selektionswertes in Darwıns Theorie zusammenstellen. Ein solches Bedenken erwächst aus der geschlechtlichen Vermehrung der Organismen und ihren Folgen. Wenn wir wieder unser schon oben erörtertes Beispiel nehmen von den 10000 Individuen einer Pflanzenart mit weißen Blüten, unter denen sich 3 variierte Individuen mit blauen Blüten finden, so müssen sehr häufig Kreuzungen bei unbehinderter Möglichkeit gegenseitiger Befruch- tung stattfinden. Die Hybriden werden nach den MEnDELschen Spal- tungsregeln in die Stammformen wieder zurückschlagen, und da mit jeder neuen Generation die blauen Mutanten immer wieder neue Kreu- zungen mit den weißen unter gleich ungünstigen proportionalen Ver- hältnissen eingehen, werden sie trotz nützlicher Veränderung keine Mög- lichkeit zu ihrer rascheren Verbreitung und zur Verdrängung der weißen Individuen finden. Im Gegenteil sind sie der Gefahr des Aussterbens wegen ihrer numerischen Schwäche trotz ihres Selektionswertes aus- gesetzt. Nur wenn die 3 blau blühenden Pflanzen sich durch Reinzucht stets untereinander befruchteten, würde die Möglichkeit gegeben sein, daß sie sich unter Erhaltung ihrer guten Eigenschaft vermehren und schließlich nach längerer Zeit bei genügender Zunahme als nützliche Mutation die Stammform verdrängen. Wenn es nun aber zu keiner Rein- zucht, kann es auch zu keiner Verdrängung kommen. Somit ist es auch Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 633 von diesem Gesichtspunkt aus gar nicht auszudenken, wie eine vor- teilhafte Mutation, wenn sie nur bei wenigen Exemplaren zufällig erfolgt, nach dem Selektionsprinzip weiter verbessert und gesteigert werden könnte. Bei der künstlichen Zuchtwahl liegt der Fall in dieser Beziehung viel günstiger; denn hier kann der Züchter die ihm zweckmäßig erscheinende zufällige Mutation isolieren und durch Inzucht rasch vermehren. In der Natur aber würde dies nur dann geschehen können, wenn alle 10.000 Pflanzen unseres Beispiels mit ursprünglich weißen Blüten überhaupt nicht zur Fortpflanzung gelangen oder sonstwie plötz- lich absterben würden, wozu natürlich jeder vernünftige Grund fehlt. Daß hier ein schwacher Punkt der Selektionstheorie vorliegt, ist schon früh, selbst von Anhängern Darwıns empfunden und durch die Hilfstheorien der Migration und geographischen Isolierung abzustellen versucht worden. Wie verfehlt indessen dieser Versuch ist, kann mit ein paar Sätzen leicht bewiesen werden. Es läßt sich nämlich logischer- weise die Migrationstheorie gar nicht zur Stütze der Selektionstheorie verwerten. Denn aus welchem Grund und in welcher Weise sollten die wenigen variierten Individuen einer Art, wenn man von besonderen Aus- nıhmefällen absieht, beim gewöhnlichen Verlauf der Dinge von den übrigen getrennt und an einen anderen Standort versetzt werden, wie die 3 blau blühenden Varietäten unseres Beispiels? Und wie sollte dies vollends zu häufig wiederholten Malen geschehen können, was doch der Fall sein müßte, da die Darwınsche Auslese ein akkumulativer Prozeß ist, der sich fortwährend jahraus, jahrein wiederholen muß, um überhaupt eine bemerkenswerte Veränderung hervorzubringen? Eine mit jedem Schritt der Selektion Hand in Hand gehende, also gleich- falls jahraus, jahrein sich wiederholende Migration und Isolation ist gewiß a priori ganz undenkbar. Unwiderleglich ist daher die Bemerkung NÄGerıs (l. c. p. 316), daß „das Heilmittel viel schlimmer ist als das Übel“. ‚Denn die Unmöglichkeit der Migration ist viel leichter einzusehen, als die Unmöglichkeit der natürlichen Se- lektion. Jener schwache Punkt dieser letzteren, daß werdende Vorteile noch keine Verdrängung zu bewirken vermögen, läßt sich durch all- gemeine Phrasen umgehen und verdecken. Aber die Vorstellung, dab die abändernden Individuen sich zur Reinzucht isolieren, ist so bestimmt und zugleich so unnatürlich, daß kein Zoologe oder Botaniker sie seinem Publikum ohne ganz entscheidende Belege und neue theoretische Er- klärungen bieten dürfte. Immerhin gehört die Migrationstheorie, weil sie eine biologische Folge der Selektionstheorie ist, zu den stärksten Widerlegungen der letzteren.“ 634 Fünfzehntes Kapitel. Um Mißverständnissen gleich von vornherein die Spitze abzu- brechen, will ich nicht unerwähnt lassen, daß obige Bemerkungen nicht gegen manche Ergebnisse der Pflanzen- und Tiergeographie und auch nicht gegen die Bedeutungslosigkeit geographischer oder anderer Formen der Isolation gerichtet sind, durch welche eine Art in zwei Abteilungen getrennt und so in verschiedene Lebenslagen gebracht wird. Wenn in diesem Fall eine Spaltung der ursprünglichen Art in zwei neue Unter- arten nach längeren Zeiträumen eintritt, so handelt es sich nicht um die Folgen einer Selektion, sondern um eine aus der verschiedenen Situation sich ergebende direkte Bewirkung (vgl. auch S. 469-475). Zur Vervollständigung unserer Kritik ist ferner noch daran zu er- innern, daß über Leben und Tod der einzelnen Individuen sehr viele Faktoren entscheiden, und daß unter diesen fast alle weitaus wichtiger sind als der von den Darwinisten angenommene Selektionswert kleiner, zufälliger Organisationsvorteile. Man vergesse doch nicht, daß die Mehrzahl der Organismen der Vernichtung während der Anfangsstadien ihrer Entwicklung und im jugendlichen Zustand anheimfällt. Wenn nun bei ihnen der Selektions- wert eines Organes sich erst im ausgebildeten Zustand, wie es meist der Fall ist, geltend macht, so kann er in der Hauptvernichtungsperiode jedenfalls keine Rolle spielen. Der Gefahr, ganz vernichtet zu werden, sind daher unter den gewöhnlichen Lebensverhältnissen die Keime weniger Individuen mit einem Selektionswert, der noch nicht wirken kann, mehr ausgesetzt, als die Keime, die den Vorteil der großen Zahl für sich haben. In diesem Fall muß der Sieg immer auf seiten der ungeheueren Quantität gegenüber einer sehr schwach vertretenen und nur für eine noch ferne Zukunft besser veranlagten Minorität liegen. Aber auch an- genommen, daß die selektionswertige Eigenschaft schon entwickelt ist, sind die Chancen des Aussterbens, wenn 3 gegenüber I0000 stehen, | bei diesen noch immer viel größer als bei jenen. Die Masse an sich muß eine besser organisierte, aber verschwindend kleine Minorität schließ- ' lich immer erdrücken. Wie man schon hieraus erkennen wird, gibt ein Organisations- vorteil überhaupt im Kampf ums Dasein nicht allein den Ausschlag. Über Leben und Tod der Organismen entscheiden noch viele andere Fak- toren. Unterihnen willich einen, auf den besonders WOLFF in seinen Bei- trägen zur Kritik der Darwınschen Lehre die Aufmerksamkeut gelenkt hat, kurz besprechen. WOoLFrr nennt ihn den Situationsvorteil. Individuen, welche sich unter einer zufällig günstigeren Situation be- finden, als andere, haben vor diesen mehr Chancen, erhalten zu bleiben. | | | Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 635 Der Situationsvorteil kann unter Umständen sogar so sehr den Aus- schlag geben, daß auch die größten Organisationsvorteile ihm gegenüber ganz zurücktreten. ‚Bei einem Eisenbahnunglück‘‘ — bemerkt WoLFF — „bleiben nicht diejenigen unverletzt, die zufällig die festesten Knochen haben, sondern diejenigen, welche zufällig die günstigsten Plätze ein- nehmen. Ein etwaiger Organisationsvorteil ist hier im Verhältnis zur Größe der Gefahr viel zu klein, als daß er den weit größeren Situations- vorteilen gegenüber in Betracht kommen könnte. Er käme nur in Be- tracht ceteris paribus, d. h. wenn alle Individuen sich der Gefahr gegen- über in völlig gleicher Situation befänden. Ein solches ceteris paribus setzt der Darwinismus überall voraus. Dies ist aber völlig unberechtigt. Ich kann mir nur wenige Fälle denken, in denen eine zufällige Organi- sationsvariierung einen Vorteil bietet, dem ich nicht auch einen Situations- vorteil gegenüberstellen könnte.‘ Wenn so schon die größten Schwierigkeiten bei der B>urteilung des Selektionswertes einer einzigen Organveränderung und einer hier- durch erzielten Vervollkommnung bestehen, wie riesengroß und gar nicht vorstellbar, müssen sich dann die Schwierigkeiten gestalten bei der Erklärung, wie durch Selektion gehäufte kleine, zufällig entstandene Variationen allmählich ein so wunderbar zusammengesetztes Organ, wie das Wirbeltierauge, zustande bringen sollen. Denn hier müßten zahl- reiche verschiedene Teile — die Netzhaut mit ihren vielen Schichten, die Chorioidea, die Sklera und die Hornhaut, die Linse mit dem Corpus ciliare und der Irisblende, der Glaskörper, die Augenlider mit der Tränen- drüse undihren Abführwegen, die verschiedenen Augenmuskeln, ja schließ- lich auch die Sehzentren im Gehirn — ein jeder Teil einzeln, durch un- gezählte zufällige kleinste Variationen und durch jedesmalige Auswahl der besten davon entstanden sein; und diese Zufallsprodukte müßten dann wieder durch Zufall und akkumulative Selektion zusammengepaBßt worden sein (vgl. S. 156) solange, bis endlich das zweckmäßig eingerich- tete Wirbeltierauge nach unzähligen Versuchsproben fertig geworden ist. Noch mehr aber steigt die Leistung des Zufalls gerade ins Unendliche, wenn man sieht, daß die Cephalopoden (vgl. S. 417) ein ebenso kompli- ziert eingerichtetes Auge wie die Wirbeltiere besitzen, obwohl sie mit ihnen in keinem genetischen Zusammenhang stehen, und daß auch dieses Auge, obwohl es aus einem anderen Zellenmaterial und auf anderen onto- genetischen Wegen gebildet worden ist, doch nach demselben Grund- plan mit Retina, Glaskörper, Linse, Ciliarkörper, Iris, Hornhaut, Augen- lidern, Augenmuskeln ausgeführt ist. Ich verweise auf den Vergleich zwischen dem Auge der Wirbeltiere und der Cephalopoden, welchen 636 Fünfzehntes Kapitel. ich als eines der schönsten Beispiele konvergenter Naturzüchtung auf Seite 47 4— 418 genauer beschrieben habe, schon damals in der bestimmten Absicht, das Beispiel später bei der Kritik der Selektionstheorie noch besonders zu verwerten. Auch DArwın hat den schon von MIvarT als Einwand benutzten Fall erörtert, meint aber, daß, wenn man die Entwicklung des Auges durch natürliche Zuchtwahl in einem Fall zugebe, sie dann offenbar auch in dem anderen möglich sei. Das heißt doch in Wahrheit nichts anderes, als daß ein Forscher, der das erste Wunder zugegeben häbe, auch das zweite anzunehmen kein Bedenken mehr zu tragen brauche. Wir sind dagegen der Ansicht, daß zwei so zusammen- gesetzte Organe, die trotz ihrer verschiedenen Abstammung doch in so übereinstimmender Weise für gleichartige Funktion nach dem Kon- vergenzprinzip gebaut sind, wie das Wirbeltier- und Cephalopoden- auge, nicht als Zufallsprodukt nach dem Prinzip der Selektionstheorie, sondern nur auf Grund von verwickelten, uns gänzlich unbekannten Naturgesetzmäßigkeiten durch fortdauernde Einwirkung ein und derselben konstanten Ursache, nämlich der Lichtwirkung, auf zwei ver- schieden beschaffene,durch Licht reizbare Substrate des Lebens entstanden sein können. Wie das Beispiel vom Wirbeltier- und Cephalopodenauge sind natür- lich auch alle anderen zahllosen Fälle von konvergenter Naturzüchtung, von denen ich einige besonders lehrreiche im zehnten Kapitel aus den verschiedensten Gebieten der Morphologie herausgegriffen und auf den Seiten 378—432 besprochen habe, nicht minder wichtige Beweise gegen das auf der Zufallstheorie aufgebaute Hypothesengebäude des Darwinis- mus. Daher empfehle ich von diesem Gesichtspunkte aus das im zehnten - Kapitel zusammengestellte Beweismaterial noch einmal kritisch zu durchdenken. Zweiter Einwand: Der fehlende Selektionswert vieler morphologischer Merkmale. Alle rein morphologischen Merkmale der Pflanzen und Tiere, die von keinem Nutzen für den Organismus sind und deren Zahl sehr groß ist, können nicht nach dem Selektionsprinzip erklärt werden. Denn es fehlt ja allen Veränderungen, die zu ihrer Entstehung geführt haben, von vornherein der Selektionswert. Gerade die rein morphologischen Charaktere, wie sie NÄGELI genannt hat, sind nun aber für die Systematik viel wichtiger als die Anpassungsmerkmale. — Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 637 Bei den Pflanzen ist es für die Chlorophylifunktion ganz gleich- gültig, ob die Blätter rund oder oval oder lanzettförmig, ob sie glatt- randig, gezackt oder gesägt, ob sie am Zweig gegenständig oder spiral angeordnet sind. Auch die Formen der Blüten, die Zahl und Anordnung der Staubfäden, welche Livne einst als Einteilungsprinzip für sein System benutzt hat, bieten dem Nützlichkeitsforscher nur wenig Angriffspunkte, da Lippen-, Glocken- und anders geformte Blüten Eier und Pollen in genügender Menge produzieren und von Insekten, welche die Befruchtung vermitteln, aufgesucht werden. Bei den Fischen kann es wohl auch nicht über Leben und Tod entscheiden, ob ihre Haut mit Plakoidschuppen, wie bei Selachiern, mit Schmelzschuppen, wie bei Ganodien, oder mit Ktenoid- und Zykloidschuppen, wie bei Teleostiern, bedeckt ist. Solche Beispiele würden sich leicht in die Hunderte vermehren lassen. Wenn dies schon vom ausgebildeten Organ gilt, um wie viel mehr von allen kleinen Veränderungen, welche im Laufe der Stammesgeschichte dem jetzt bestehenden Zustand vorausgegangen sind! Darwin selbst (l. c. p. 232) hat diesen Einwand von NÄGELI als einen sehr wichtigen bezeichnet. Denn da diese morphologischen Charak- tere, wie er zugibt, „die Wohlfahrt der Art nicht berühren, so können auch unbedeutende Abänderungen an ihnen nicht von natürlicher Zuchtwahl beeinflußt oder gehäuft worden sein‘. Er nennt es geradezu „ein merk- würdiges Resultat, zu dem wir gelangen, daß Charaktere von geringer vitaler Bedeutung für die Art dem Systematiker am wichtigsten sind“ (p- 239). So nimmt den Darwın zu ihrer Erklärung die uns noch unbe- kannten Gesetze des Wachstums und die Folgen direkter Bewirkung in Anspruch. Auch hier zeigt sich wieder, wie DARrwIn mit zwei ent- gegengesetzten Prinzipien arbeitet, die er gar nicht scharf voneinander zu trennen sucht, sondern bald so, bald so, entweder jedes für sich oder beide kombiniert anwendet. Denn ganz in unserem Sinn fügt er hinzu, „für jede unbedeutende individuelle Verschiedenheit muß es ebensogut wie für stärker ausgeprägte Abänderungen, welche gelegentlich auf- treten, irgendeine bewirkende Ursache geben, und wenn die unbekannte Ursache dauernd in Wirksamkeit bleiben sollte, so ist es beinahe gewiß, daß alle Individuen der Spezies in ähnlicher Weise modifiziert werden würden“ (l. c. p. 233). Darwın selbst spricht sich in diesen Worten ganz offen für das Prinzip der direkten Bewirkung aus, gibt also für der- und PiATE. Dieser bemüht sich, dieselbe bei Besprechung des gleichen Einwandes voll aufrechtzuerhalten (Selektionsprinzip, 1913, p. 84). 628 Fünfzehntes Kapitel. Dritte Gruppe von Einwänden: Allgemeine Gesetzmäßigkeiten in der Organisation der Lebewesen, die sich nicht durch Selektion von zufälligen Organisationsvorteilen erklären lassen. Es gibt Organisationsverhältnisse der Lebewesen von so allgemeiner Gesetzlichkeit, daß ihre Entstehung nicht durch Zuchtwahl aus kleinen Organisationsvorteilen logischerweise erklärt werden kann. Hierher gehören, um mit ihnen gleich zuerst zu beginnen, die fundamentalen Eigenschaften der lebenden Substanz, sich zu ernähren, zu wachsen, fortzupflanzen, Arbeit zu verrichten und die verschiedensten Reize zu empfinden. Nehmen wir nur die Vermehrung der über das individuelle Maß hinausgewachsenen Zelle durch Teilung. Da sie eine unentbehr- liche Voraussetzung für die Erhaltung des Lebens auf unserer Erde ist, muß mit’ der Entstehung lebender Substanz auch ihre Fähigkeit, sich durch Ernährung, Wachstum und Teilung zu erhalten, gegeben sein; denn ohnedem würden auch die einfachsten Lebewesen keine Dauerfähigkeit besessen haben. Ein allmählicher Erwerb durch akkumulative Selektion ist ausgeschlossen, da hier die logische Sachlage ein Entweder — Oder verlangt. Denn Fälle einer zufällig beginnenden, aber nur in Bruchteilen von Yg, Ya, Y, etc. durchgeführten Teilung haben für die Erhaltung der Art nicht mehr Selektionswert, als die Fälle, in denen überhaupt keine Schritte zur Teilung gemacht werden. Zu dem Begriff der lebenden Sub- stanz gehören die fundamentalen Lebenseigenschaften als unentbehr- liche Attribute in derselben Weise hinzu wie zum Wesen des Sauerstoffs seine Fähigkeit gehört, sich in bestimmten Verhältnissen mit dem Wasser- stoff zu Wasser nach der Formel H,O zu verbinden. Wie die Chemiker bei den Eigenschaften der Elemente, müssen auch wir Biologen bei den Eigenschaften der biologischen Verbindungen uns mit der Feststellung des Gesetzmäßigen in den beobachteten Erscheinungen begnügen, da es von vornherein als ein törichtes Unternehmen zu betrachten wäre, noch über die Feststellung ihrer Gesetzmäßigkeit hinaus die Selektions- formel als eine weitere Erklärung in Anwendung bringen zu wollen. Entsprechende Gesetzmäßigkeiten, bei denen eine Erklärung durch zufällige, nützliche Veränderungen, die durch akkumulative Selektion gerichtet werden, von vornherein ausgeschlossen ist, lassen sich auch bei höher organisierten Pflanzen und Tieren in Fülle zusammenstellen, wie es WOLFF in seiner schon erwähnten lesenswerten Kritik der DARWIN- schen Theorie getan hat. So sind bekanntlich die Tiere nach einigen wenigen Grundplänen organisiert, von denen man die beiden wichtigsten Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 039 als den bilateral-symmetrischen und als den radiären bezeichnet. Beim bilateralen Typus besteht der Körper aus zwei Hälften, die spiegel- bildlich zueinander sind, links und rechts von einer Medianlinie liegen und Gegenstücke oder Antimeren heißen. Beim einfach radiären Typus dagegen ist der Körper in so viele, einander gleichwertige Antimeren zerlegbar, als Radien durch die Hauptachse gezogen werden können. Gewöhnlich sind nun in jedem einzelnen Antimer genau dieselben Organe mit großer Gesetzmäßigkeit entwickelt, also beim bilateral-symme- trischen Typus in doppelter, beim radiären in größerer Zahl je nach der Summe ihrer Radien. Wir finden daher bei den Wirbeltieren 2 Augen und 2 Gehörwerk- zeuge, eine linke und eine rechte Hirnhälfte mit symmetrischer Vertei- lung der Ganglienzellen und der komplizierten Nervenfaserbahnen, eine linke und eine rechte vordere und hintere Extremität, linke und rechte Zahn- und Muskelgruppen, alles Gebilde, die trotz ihres sehr kompli- zierten Baues meist bis in das kleinste Detail einander entsprechen. Wenn daher solche in doppelter Zahl vorhandenen Organe durch akku- mulative Selektion zahlloser zufälliger Veränderungen erklärt werden sollten, so müßten die letzteren in jedem Antimer immer in gleicher Weise und zu gleicher Zeit entstanden sein. Wir würden dann eine prä- stabilierte Harmonie vonlinksundrechtserfolgten Zufälligkeiten annehmen müssen; eine contradictio in adjecto. Da somit der Zufall ausgeschlossen ist, weist die Entstehung bilateral-symmetrischer Organe auf Gesetze hin, die, unabhängig vom Zufall, der Formbildung der Organismen, wie der Kristallbildung vieler Substanzen in der unbelebten Natur, zugrundeliegen. Der gleiche Gesichtspunkt besteht aber auch zu Recht für alle Organe, die sich in noch größerer Zahl im Aufbau des Körpers wieder- holen und selbständig angelegt werden; ich meine die metamere Wieder- holung vieler Organe bei den Wirbeltieren, wie der Körpersegmente mit ihren zahlreichen homodynamen Einrichtungen, den Wirbeln, den Muskelgruppen, Blutgefäßen, Nerven, Sinnesorganen, Drüsen etc., oder die Wiederholung der Extremitäten und Sinnesorgane bei Anne- liden und Arthropoden, oder auch die Wiederholung mehr oder minder zusammengesetzter Organe des Integuments, wie die Plakoidzähne der Selachier, der Knochenschuppen der Fische, der Hornschuppen der Reptilien und der Federn der Vögel. Nicht zu widerlegen ist der Einwand von WOLFF (l. c. p. 452): „Alle Gebilde, die an demselben Organismus vorhanden und gleich sind, spotten der Erklärung durch die Szlektionstheorie. Da sie für die Erscheinungen, die sie erklärt, nur dadurch zu einer Erklärung wird, daß sie das Kompli- 640 Füntzehntes Kapitel. zierte aus dem von jeder Kompliziertheit Freien, daß sie das Regelmäßige 7 aus dem Regeliosen ableitet, so kann sie hier, wo ihre Voraus- setzungen schon die Regel fordern, nicht anwendbar sein.“ Man kann in diesen Verhältnissen, wie schon WoLFF bemerkt hat, nichts anderes erblicken als einen Hinweis, „daß die Veränderung der Formen von einem Gesetz beherrscht wird, welches wir nicht kennen, welches aber zu erforschen jetzt die vornehmste Aufgabe für alle denkend be- triebene Biologie bilden muß.“ Vierter Einwand, welcher der Genealogie der Organismen entnommen ist. In der Literatur der Deszendenztheorie wird nicht selten die Frage aufgeworfen, ob die Individuen, welche wegen ihrer Ähnlichkeit nach Form und Entwicklung unter den Begriff der Art zusammengefaßt werden, von einem einzigen oder von vielen Vorfahren abstammen. Ihre Beant- wortung kann selbstverständlicherweise nur eine hypothetische sein, da eine strenge Beweisführung über genealogische Verhältnisse, soweit sie sich im Dunkel der Vorzeit verlieren, nicht möglich ist. Man spricht daher, je nachdem man sich für die erste oder zweite Annahme entscheidet, auch nur von einer monophyletischen oder von einer polyphyletischen Deszendenzhypothese. Wie für die Angehörigen der Arten kann die Abstammungsfrage dann ebenso für die Angehörigen der übergeordneten Kategorien des Systems, also der Gattungen, der Familien, der Klassen und der Stämme, ja schließlich des Pflanzen- und Tierreichs und zuletzt der ganzen Organismenwelt gestellt und entweder im monophyletischen oder im polyphyletischen Sinne zu entscheiden versucht werden. Es ist von psychologischem Interesse, zu sehen, wie sich die An- hänger des Darwinismus mit einer fast unwiderstehlichen Gewalt zur monophyletischen Hypothese hingezogen fühlen. Es liegt hier, was die Abstammung der Angehörigen einer Art betrifft, ein Punkt vor, wo sich die Darwinisten mit der Linnfischen Lehre und der Mosaischen Schöpfungs- geschichte, nach der die jetzt lebenden Repräsentanten der Art die Nach- kommen eines Paares von Stammeltern sind, in Übereinstimmung be- finden. Zwar besteht zwischen beiden Standpunkten ein, wenn auch wichtiger, Unterschied insofern, als hier das Ahnenpaar der Art an einem F Schöpfungstag erschaffen, dort aber auf einem natürlichen phylogene- i Y a tischen Wege entstanden ist. Aber die Idee der Abstammungseinheit für die Individuen einer Art, auf die es uns bei der vorliegenden Frage ankommt, wird vom Darwinisten mit nicht geringerem Eifer als vom Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 641 Anhänger der Mosaischen Schöpfungsgeschichte aufrecht erhalten. Eine sonderbare Erscheinung! Daher gehören denn Ausdrücke, wie „der gemeinsame Stammvater einer Gruppe‘, einer Spezies, einer Gat- tung etc., oder ‚der entfernte Urahn“ oder „Blutsverwandtschaft“ zu dem festen Bestand der Darwinistischen Literatur. Unter der Herrschaft dieser Gedankenrichtung werden Zusammen- hänge, die sich bei der Klassifikation der Lebewesen durch ihre Einord- nung in die übereinander geordneten Kategorien des Systems ırgeben, zugleich auch als der Ausdruck einer näheren oder entfernteren Bluts- verwandtschaft angesehen, die auf der gemeinsammen Abstammung von näheren oder entfernteren Vorfahren beruht. Ebenso werden Über- einstimmungen, die in Bau und Anordnung der Organe zwischen Gruppen von Organismen hervortreten und die als Homologien von der älteren vergleichenden Anatomie bezeichnet wurden, jetzt nicht nur als Erbteile von einem gemeinsamen Vorfahren gedeutet, sondern sie werden durch einfache Umkehrung des Grundgedankens sogar auch als Beweise für eine bestehende Blutsverwandtschaft in Anspruch genommen. Dagegen hält man es nicht für notwendig und der Mühe wert, nach einem wissen- schaftlichen Beweis für die Annahme zu suchen, daß Homologie auch wirklich auf gleicher Abstammung beruht. Ich habe mir die Frage vorgelegt, wodurch sich wohl die unverkenn- bare Vorliebe für die monophyletische Hypothese mit den von ihr ab- geleiteten wichtigen Konsequenzen erklären mag. Drei unbewußte Motive scheinen mir der Nährboden für den Glauben zu sein, von welchem die im Zeitalter des Darwinismus erwachsene Generation noch immer beherrscht wird. Einmal mußte wohl in dieser Richtung der originelle Grund- gedanke der Selektionstheorie wirken, daß man sich die Natur unter dem Bilde eines menschlichen Pflanzen- und Tierzüchters vorstellen könne. Nun mag es ja bei der Tätigkeit des Züchters vorkommen, daß, wenn er in seinen Zuchten ein seinen Zwecken entsprechendes ‚abweichend gebautes Individuum‘ findet, er dieses auswählt und von ihm durch Reinzucht eine ihm gleiche Nachkommenschaft zu erhalten sucht. Die übrigen, ihm weiter nur zur Last fallenden Exemplare werden zuweilen bei diesem Selektionsprozeß vernichtet. So hat z. B. der berühmte amerikanische Pflanzenzüchter BURBANK, wie uns DE VRIES (1006, p. 471) erzählt, aus 40000 selbstgezüchteten Brombeer- und Himbeer- hybriden eine einzige Sorte als die beste ausgewählt und unter dem Namen „Paradox“ in den Handel gebracht. Alle anderen Exemplare samt ihrer Ernte reifender Beeren wurden ausgerissen, auf einen großen Haufen zusammengetragen und verbrannt. „Nichts blieb übrig von jenem kost- O, Hertwig, Das Werden der Organismen. 2. Aufl, 41 642 Fünfzehntes nn spieligen und langwierigen Versuch, außer der einen Elternpflanze der 5 neuen Varietät.“ Ähnlich wie BURBANK werden auch andere Gärtner häufiger handeln, wenn sie auf ihren Kulturbeeten eine ‚Neuheit‘ ent- deckt haben und sie durch Reinzucht vermehren wollen, um sie in den Handel zu bringen. In solchen Fällen kann man es in der Tat als glaub- würdig ansehen, daß alle Exemplare, welche plötzlich unter einem be- sonderen Namen als neue Varietät auf dem Markt auftauchen, von einem Exemplar als der gemeinsamen Stammform herrühren. Aber was können solche Geschichten für die monophyletische Ent- stehung der Arten beweisen? Ist es nicht vielmehr ganz unstatthaft, solche durch menschliche Eingriffe ausnahmsweise geschaffenen Bei- spiele monophyletischer Entstehung einer Varietät oder gar einer Spezies zu verallgemeinern und als das Verfahren der Natur ausgeben zu wollen? - Denn außer den schon früher zusammengestellten und den noch weiter zu erörternden Gründen, welche gegen die Selektionstheorie sprechen, bedarf es nur eines kleinen Hinweises, um zu erkennen, wie das vom menschlichen Züchter eingeschlagene Verfahren nicht das Verfahren der Natur bei der Erzeugung neuer Arten von Lebewesen sein kann und wie sehr daher der Vergleich hinkt. Denn alle vom Züchter vernichteten Pflanzen, aus denen er nur ein Exemplar zur weiteren Vermehrung ausgelesen hat, sind ja ebensogut, manche vielleicht sogar in noch höherem Grade existenzfähig als das ausgewählte. Auch ist dieses in dem zitierten Beispiel durch Bastardierung ent- standen und demnach kein Zufallsprodukt, sondern es würde bei anderen, in entsprechender Weise vorgenommenen Versuchen. immer wieder in derselben Weise entstehen. So stimmt die Rechnung bei den aus dem Vergleich abgeleiteten Folgerungen weder in der einen nochin deranderen | Richtung. Ein zweites Motiv dürfte wohl das größere Gefühl der Beftiediguniil sein, zu welchem unser Kausalitätsbedürfnis in Fällen gelangt, in denen es glückt, eine Reihe verschiedener Erscheinungen auf eine gemeinsame Ursache zurückzuführen. Dadurch mag schon der Verfasser vom ersten. 5 Buche Moses unbewußterweise bestimmt worden sein, die Entstehung des. | Menschengeschlechts nur von einem Adam und von einer Eva abzu- leiten. Denn ein Schöpfungsakt erklärt an sich die Herkunft des Menschen geschlechts ebenso vollständig, als die Annahme seiner Wiederholung, welche daher auch entbehrt werden kann. Damit werden Fragen, di bei der mehrfachen Schöpfung noch gestellt werden könnten, von vorn- herein abgeschnitten. B Als drittes Motiv läßt sich, wie mir scheint, die suggestive BR & Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 643 bezeichnen, welche die Darstellung der einander übergeordneten Kate- gorien des Systems unter dem Bilde eines Baumes und der Vergleich ' desselben mit dem genealogischen Stammbaum eines Adelsgeschlechts m ee nn un ausübt. Man übersieht hierbei, daß eine solche graphische Darstellung auch dann möglich ist, wenn man durch dieselbe einen wirklich genea- logischen Zusammenhang gar nicht auszudrücken beabsichtigt, sondern sich nur ein Hilfsmittel der Übersicht verschaffen will. Denn wie schon im VI. Kapitel (S. 245) auseinandergesetzt wurde, kann man die syste- matischen Begriffe der Stämme, Klassen, Ordnungen, Familien, Gattungen und Spezies, da der speziellere immer in dem von ihm vorausgehenden allgemeineren Begriff mit enthalten ist, in der Form eines Baumes an- ordnen, wenn man den allgemeinsten Begriff zum Stamm und die ihm untergeordneten Begriffe je nach ihrer Rangordnung zu Haupt- und Nebenästen, zu feineren und feinsten Zweigen macht. An dem zu einem Baum auf diese Weise umgestalteten und genealogisch gedeuteten System kann dann dem Leser in der anschaulichsten Weise trotz des vollständigen ‚ Mangels.einer naturwissenschaftlichen Grundlage mit etwas Phantasie demonstriert werden, wie die einzelnen Abteilungen des Tierreichs von- ' einander abstammen, wie alle Säugetiere, Vögel, Fische usw. ein und dasselbe Vorwirbeltier zum Stammvater haben und wie schließlich auch Pflanzen, Tiere und einzellige Lebewesen von einem Moner als dem denkbar einfachsten Geschöpf der ganzen organischen Welt ihren Ur- sprung herleiten. Allerdings wird von manchen Seiten für die allernie- drigsten Organismen auch die Möglichkeit eingeräumt, daß sie sich mehrfach sowohl gleichzeitig als auch in verschiedenen Erdperioden durch Urzeugung entwickelt haben können. Im ganzen aber bleibt diese Ausnahme von der monophyletischen Konstruktion des ÖOrganismen- reichs doch mehr eine Inkonsequenz und ohne Einfluß auf den prinzi- piellen Standpunkt, von dem aus die Deszendenz der Organismen be- handelt und als eine streng monophyletische für alle zusammengesetzteren Formen der Pflanzen und Tiere dargestellt wird. Zu ganz entgegengesetzten Resultaten gelangt man, wenn man nach den strengeren Anforderungen einer wirklich genealogischen Wissenschaft in das Deszendenzproblem einzudringen versucht. Dann wird man sich nicht mehr mit der Aufstellung ‚eines Stammbaums von Begriffen‘ begnügen, sondern wird von den konkreten Individuen, die sich durch Fortpflanzung vermehren, als der einzig möglichen Grundlage einer genealogischen Wissenschaft der Biologie ausgehen. Hierbei wird man dann auch dem Umstand Rechnung tragen müssen, daß bei fast allen Arten von Pflanzen und Tieren mit wenigen Ausnahmen die sie repräsen- 41* 644 Fünfzehntes Kapitel. tierenden Individuen getrennten Geschlechts sind, daß daher die Form des Stammbaums bei Erforschung ihrer Aszendenz überhaupt nicht anzuwenden ist, daß vielmehr nur die Ahnentafel eine richtige und er- schöpfende Kunde von den Vorfahren eines „Probandus‘“ gibt. Da alle diese Verhältnisse schon nach dem heutigen Standpunkt der Wissenschaft von der Genealogie objektiv und ausführlich im VI. Kapitel erörtert worden sind, genügt an dieser Stelle ein kurzer Hinweis auf das früher Gesagte. Dasselbe steht aber in direktem Widerspruch zu der mono- phyletischen Hypothese der Darwinisten. Denn nach der Ahnentafel | sind alle jetzt lebenden Individuen sowohl des Menschengeschlechts als auch aller Pflanzen- und Tierarten, die sich nur auf getrennt geschlecht- lichem Weg fortpflanzen, von einer ungeheuren Vielheit von Ahnen abzuleiten. Wollen wir aber für dies Verhältnis ein Bild gebrauchen, so ist es nicht der oberirdische, sondern der unterirdische Teil eines Baums, Durch ein unendlich viel und dichotom verzweigtes Wurzelwerk ist jeder einzelne geschlechtlich erzeugte Organismus in dem Boden der Ver- gangenheit verankert. Bu] Auf den Widerspruch, in den die modernen Deszendenztheoretiker bei ihrer Darstellung der monophyletischen Hypothese unter dem Bilde eines Stammbaumes mit den Tatsachen der nackten Wirklichkeit geraten, | hat schon der Historiker OTTOKAR LORENZ (l. c. 1898, p. 31) aufmerksam gemacht, wenn er bemerkt: „Für die Naturforschung ergeben sich aus Er 4 der Betrachtung der Ahnentafel jedes einzelnen Individuums gewisse Probleme, deren Lösung vielleicht kaum noch in Betracht gezogen ist. | Denn wenn die Ahnenforschung des Menschen zu einer unendlichen Vielheit von Individuen führt, so kann der Deszendenzlehre umgekehrt die Frage nicht erspart bleiben, wie der Übergang der Arten von einer & | Form zur anderen gedacht werden kann, wenn die Genealogie doch lehrt, daß jedes Individuum eine unendliche Menge von gleichartigen und gleichzeitig zeugenden Ahnen voraussetzt und die Vorstellung einer Ab- stammung des Menschen durch Zeugungen eines Paares an der unzweife- haft feststehenden Tatsache scheitern muß, daß jedes einzelne Dasein vielmehr eine unendliche Zahl von Adams und Evas zur Bedingung hat. Die Einheitlichkeit des Abstammungsprinzips steht daher zunächst im vollen Widerspruch zu den genealogischen Beobachtungen.“ Auch der Biologe wird, wenn er der genealogischen Wissenschaft Rechnung trägt, über die Unhaltbarkeit der monophyletischen Stamm- baumhypothese kaum noch in Zweifel sein können und daher nach einer anderen wissenschaftlicheren Form der natürlichen Entwicklungs- und ’ Abstammungslehre suchen müssen. Auch von dieser Seite her bietet sich e Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 645 eine wichtige Widerlegung der auf dem Prinzip des Zufalls basierten Selektionstheorie des Darwinismus, besonders in der von WEISMANN ‚ schärfer gefaßten Form, | Denn die wissenschaftliche Untersuchung der Abstammungsver- ‚ hältnisse von einer Pflanzen- und Tierart, die sich auf dem Wege der geschlechtlichen Zeugung vermehrt, lehrt uns unwiderleglich zweierlei. Erstens ist jeder jetzt lebende Repräsentant der Art, je weiter wir seine Genealogie in die Vergangenheit zurückverfolgen, im Hinblick auf die geschlechtliche Zeugung das Endprodukt einer Unzahl von Ahnenreihen. Also bedingt geschlechtliche Zeugung, wo sie die herrschende Form für die Erhaltung der Art geworden ist, eine polyphyletische Abstammung. Zweitens finden die komplizierten genealogischen Verhältnisse, die sich innerhalb eines von einer Art bevölkerten Bezirkes oder in einer Popu- lation (JOHANNSEN) durch Zeugung, durch Aszendenz und Deszendenz ausbilden, ihren richtigen Ausdruck einzig und allein in der Form des genealogischen Netzwerks, wie es von mir auf S. 237 konstruiert worden ist. Denn die Deszendenz eines jeden Geschlechtspaares kann mit anderen Generationsreihen der Art in den verschiedenartigsten Kom- binationen geschlechtliche Verbindungen eingehen. Da nun die Indi- viduen einer Population, je höher organisiert die betreffende Art ist, um so mehr in geringfügigen Merkmalen voneinander variieren, so ist mit jeder Verbindung zweier genealogischer Linien eine Neukombination der individuellen Merkmale der Erzeuger in ihren Deszendenten die not- wendige Folge, und zwar gelten hierfür vorläufig die von MENDEL und seinen Nachfolgern ermittelten Regeln. Von diesem Gesichtspunkt ausgehend wählen wir als Beispiel den Menschen. Bei ihm sind die Ehegatten in keiner Ehe als einander gleich beanlagt zu betrachten und ebensowenig ihre Ahnen in den voraus- gegangenen Ehen. Folglich wird sich die in.einer menschlichen Ehe er- zeugte Nachkommenschaft in bezug auf die Kombination väterlicher und mütterlicher Eigenschaften zu Merkmalspaaren wohl Polyhybriden vergleichen lassen. Hieraus können wir den Schluß ziehen, daß in dem genealogischen Netzwerk die ehelichen Verbindungen, die zwischen ver- schiedenen Linien im Laufe der aufeinander folgenden Generationen stattfinden, zu fortwährenden Veränderungen in den erblichen Grund- lagen der durch Zeugung vereinten Idioplasmen führen müssen ; und zwar müssen sich diese verändern teils durch stets wiederholte Spaltung von heterozygoten Merkmalspaaren und darauf wieder folgenden Neukom- binationen in der nächsten Generation, teils auch durch den Erwerb neuer Anlagen, welche z. B. in eine Linie x durch Ehe mit einer etwas 646 Fünfzehntes Kapitel. differenten Linie y eingeführt worden sind. Nach den Ergebnissen, die durch mühsam und sorgfältig durchgeführte Experimente bei poly- hybriden Pflanzen ermittelt worden sind, lassen sich diese Vorgänge gar nicht kompliziert genug vorstellen. Wie läßt sich mit diesen Erwägungen die Darwınsche Selektions- theorie und die nach ihr wieder geformte monophyletische Deszendenz-- theorie irgendwie in Einklang bringen ? Wie sollte eine geringfügige, aber vorteilhafte Veränderung, die bei einem oder bei einigen wenigen Individuen unter Millionen durch Zufall entstanden ist, einen Selektions- wert in der früher besprochenen Bedeutung gewinnen können, wenn eine Reinzucht derselben wegen der nach verschiedenen Richtungen stets wieder stattfindenden Kreuzungen im genealogischen Netzwerk eine einfache Unmöglichkeit ist? Wie sollte unter solchen Bedingungen ein durch Zufall um ein geringes, wenn auch vorteilhaft abgeändertes Individuum — oder nehmen wir sogar einige wenige gleich abgeänderte an —, wie sollten diese als Stammeltern einer neuen Art den Ursprung geben können dadurch, daß sie die übrigen im Kampf ums Dasein ver- drängen? Ist das nicht ein ganz unglaublicher Vorgang, der allem wider- x spricht, was man in der Tier- und Pflanzenzucht, oder in der mensch- lichen Genealogie bei dem Studium der Geschichte einzelner Familien Pr beobachten kann ? 2 Führende Geschlechter, die durch ihre bes Beanlagung aus der großen Masse hervortreten, verschwinden wieder in dieser im Laufe * von Generationen, während neue Familien mit unbekannten Vorfahren allmählich aus der Tiefe aufsteigen und ihre Stelle ersetzen. Durch ein 2 Menschenpaar, wenn es auch wegen seiner zufällig erlangten außer- 2 ordentlichen Eigenschaften alle übrigen weit übertreffen würde, wird gewiß noch keine neue Rasse von Übermenschen geschaffen, die im R Kampf ums Dasein die Minderwertigen verdrängt, bis schließlich eine neue Spezies Mensch die Erde bevölkert!). Wenn sich die Organismen- welt ım Laufe der Zeiten in den Eigenschaften ihrer Arten verändert, so wirkt bei diesem Vorgang die schöpferische Natur — das sollte endlich doch zu einem Gemeingut aller Gebildeten werden — nicht wie ein Pflanzen- oder Tierzüchter, der mit den von ihm ausgewählten Indi- viduen durch Isolierung und andere künstliche Vorkehrungen Rein- kultur treibt und die ihm nicht erwünschten Exemplare zuweilen ver- 1) Die nähere Ausführung dieses den Menschen betreffenden Verhältnisses habe ich auf der Grundlage statistisch-sozialer Untersuchungen in meiner 1918 veröffentlichten Schrift: „Zur Abwehr des ethischen, des sozialen und des politischen Darwinismus“ gegeben (besonders auf Seite 76 bis 96). q Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 647 nichtet. Daher hat bei der Beurteilung der Selektionstheorie NÄGELI vollkommen recht mit seiner Bemerkung (p. 310): „Man kann ihr gewiß nicht den Vorwurf machen, daß sie in der Studierstube entstanden sei, — wohl aber, daß sie Stall und Taubenschlag zwar gründlich untersucht, die freie Natur dagegen, namentlich das Pflanzenreich, aus der Vogel- perspektive angesehen habe.‘‘ Das Gesagte gilt ebenso und noch mehr in bezug auf menschliche Verhältnisse. Wenn wir somit die monophyletische Deszendenz und die zu ihrer Begründung dienende Selektionstheorie fallen lassen müssen, so scheint mir ein Ersatz für letztere nicht fern zu liegen. Ineinemgenealogischen Netzwerk können nur Ursachen, die gesetzmäßig und in längerer Dauer mehr oder minder auf alle Glieder einer Population einwirken, bestimmt gerichtete Veränderungen in ihnen hervorrufen; nur solche können für die Artbildung von Bedeutung werden. Die Veränderungen müssen ferner die erblichen Grundlagen der Art oder ihr Idioplasma in vielen Individuen treffen. Also müssen die Artzellen mit ihren erblichen Eigenschaften selbst in einer bestimmten Richtung allmählich verändert werden. Während die ausgebildeten Repräsentanten der Art mit ihren sichtbaren Merkmalen altern und absterben, bleibt in den Geschlechtszellen das Erbgut der Art erhalten und wird von einer zur anderen Generation überliefert; indem es dabei allmählich neue Eigen- schaften erwirbt, verändert es im Laufe der Zeiten auch das sichtbare Artbild. Von wie geringer Bedeutung ist die vorzeitige, auf vielerlei Zufällig- keiten beruhende Vernichtung von Individuen, welche Darwın nach der Lehre von MALTHUS zur Auswahl des Passenden im Kampf ums Dasein verwertet und zu einem Grundpfeiler seiner Selektionstheorie gemacht hat, wie untergeordnet ist sie dem großen Naturprozeß gegenüber, in welchem alle voll ausgebildeten Lebewesen, wenn ihre Zeit erfüllt ist, dem allgemeinen Tod ohne Unterschied und ohne Ausnahme früher oder später, aber sicher verfallen? In dieser Beziehung sei noch einmal auf die Darlegungen im VI. Kapitel (S.222—255): „‚Die Erhaltung des Lebens- prozesses durch die Generationsfolge‘‘, besonders auch auf den letzten Abschnitt des Kapitels über ‚Tod und Verjüngung‘‘ (S. 246—255) ver- wiesen. » Fassen wir also unseren vierten Einwand in wenige Worte zusammen, so weisen auch unsere Betrachtungen über die Genealogie der Organismen nicht auf eine monophyletische Entstehung der Art auf Grund der Zu- fallstheorie, sondern auf eine polyphyletische Deszendenz unter 648 Fünfzehntes Kapitel. der Wirkung von Naturgesetzmäßigkeiten und unter Preis- gabe der natürlichen Zuchtwahl hin. Fünfte Gruppe von Einwänden. Die Stellung der Selektionstheorie zum Zweckbegriff und die sich hieraus ergebenden Folgen. Um den gewaltigen Einfluß zu begreifen, welchen die Selektions- theorie auf die biologischen Wissenschaften und durch sie auf die geistigen Strömungen eines halben Jahrhunderts ausgeübt hat, läßt es sich nicht umgehen, auch noch die Stellungnahme vieler Ge- lehrter zum Zweckbegriff innerhalb der modernen Naturwissenschaften zu besprechen. Auf viele Übertreibungen durch Auswüchse der SCHELLINGschen Naturphilosophie, die weniger SCHELLING als seinen Anhängern zur Last fallen, war von seiten der Naturforscher eine tief gehende und nur allzu berechtigte Reaktion gefolgt. Namentlich auf den Gebieten der Physik und Chemie wurde die Erforschung der Natur mit exakten Methoden als die allein berechtigte Aufgabe der Wissenschaft hingestellt. Und da der Zusammenhang der Erscheinungen am klarsten in den Fällen erkannt ist, wo es nach mechanischen Prinzipien, womöglich in der scharf formulierten Sprache der Mathematik geschehen kann, wurde eine Wissenschaft um so vollendeter angesehen, je mehr sich ihre Erklärungen als mechanische bezeichnen ließen. Wenn nun schon die Chemie von diesem Ziel der Naturwissenschaft weit entfernt blieb, so war dies doch in noch viel höherem Grade bei der Biologie der Fall. Denn die Orga- nismen, zumal in ihren vollkommensten Formen, sind so außerordentlich zusammengesetzte Naturprodukte und ihre zahllosen Teile sind von den größten bis zu den allerkleinsten zu einem Gebilde von so wunderbarer Zweckmäßigkeit verknüpft, daß eine mechanische Erklärung nach dem Vorbild der anorganischen Naturwissenschaften aussichtslos erscheinen mußte. Als Du BoIs-REYMOND seinen erfolgreichen Feldzug gegen den Verlegenheitsbegriff der Lebenskraft eröffnete, geschah es in der aus- gesprochenen Absicht, wenigstens den physiologischen Teil der Biologie den exakten Naturwissenschaften anzugliedern ; er wollte die zusammen- gesetzteren Lebenserscheinungen aus den einfacheren chemischen und physikalischen Kräften der leblosen Natur erklären. | Unter der Vorherrschaft dieser Richtung fand der Darwinismus einen gut vorbereiteten Boden für sein Gedeihen. Denn jetzt schien auch von der morphologischen Seite her der Anschluß an die exakten — 0000.00 .asjprrsee tt ss nn nn Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 649 Naturwissenschaften gewonnen zu sein. „Wir erblicken in DARwINs Entdeckung der natürlichen Zuchtwahl im Kampf um das Dasein“, erklärt HAECKEL in seiner generellen Morphologie (1866) „den schlagend- sten Beweis für die ausschließliche Gültigkeit der mechanisch wirkenden Ursachen auf dem gesamten Gebiet der Biologie, wir er- | blicken darin den definitiven Tod aller teleologischen und vitalistischen Beurteilung der Organismen.“ „Die unschätzbaren Entdeckungen DaArwıns haben das Gesamtgebiet der organischen Natur plötzlich durch einen so hellen Lichtstrahl erleuchtet, daß wir fürderhin keine Tatsache auf demselben mehr als unerklärbar werden anzusehen haben.‘ Alle zweckmäßigen Einrichtungen in der Organismenwelt wurden jetzt „als das unbewußte Ergebnis der blind wirkenden Selektion erklärt‘ (HAECKEL, Nat. Schöpf., 1902, p. 288). In unzähligen Wiederholungen tritt uns fortan dieser Gedanke in der biologischen Literatur von 5 Jahrzehnten entgegen. Denn wie IS66 HAECKEL, so erklärt auch 1909 noch WEISMANN (I909, 1. c. p. 4 u. 5): „Mit dem Selektionsprinzip war das Rätsel gelöst, wie es denkbar sei, daß das Zweckmäßige ohne Eingreifen einer zwecksetzenden Kraft zustande kommt, das Rätsel, welches die lebende Natur von allen Enden und Ecken her unserem Begreifen ent- gegenhält, und welchem gegenüber auch der Geist eines KAnT keinen Ausweg wußte und ein Verständnis für unmöglich und nicht zu hoffen hielt.“ ‚Wie das zu denken sei, das lehrt uns die Selektionstheorie, in sofern sie uns begreifen läßt, daß zwar fortwährend Unzweckmäßiges so gut als Zweckmäßiges sich bildet, daß aber allein das Zweckmäßige über- dauert, das Unzweckmäßige aber schon in seiner Entstehung wieder zugrunde geht.“ ‚Ohne Selektionsvorgänge müßten wir eine ‚prä- stabilierte Harmonie‘ nach dem berühmten Leısnizschen Muster an- nehmen, durch welche die Uhr der Entwicklung der Lebensformen aufs genaueste gleichginge mit der der Erdgeschichte.“ Um solchen Vorstellungen ein noch größeres Gewicht und zugleich eine größere Werbekraft in weiteren Kreisen zu geben, wurde die Meinung verbreitet, daß die Annahme von einer Zweckmäßigkeit der Organismen, wenn man sie nicht durch Selektion erkläre, zu einer dualistischen Weltanschauung führe, zur Annahme eines Schöpfers, welcher, wie der Mensch seine Maschinen, so die Orga- nismen nach seinen Plänen zweckmäßig geschaffen habe, daß es daher von der Teleologie zum Wunderglauben nur ein kleiner Schritt sei. So begann jetzt eine Periode, in der zum Vitalist, zum Reaktionär und Dualist gestempelt wurde, wer sich gegen die Selektionstheorie aussprach. 650 Fünfzehntes Kapitel. Es wurde in Verbindung mit Darwıns Lehre eine „Teleophobie‘“ groß gezogen, welche der Philosoph v. HARTMANN (1907, 1. c. p. 37) als „eine, in der modernen Naturwissenschaft grassierende Kinderkrankheit‘“ be- zeichnet. Daher ist zu dieser Frage jetzt auch noch Stellung zu nehmen. Hierbei muß zunächst gleich betont werden, daß in der Frage nach der Entstehung des Zweckmäßigen sich die extremen Anhänger DAR- WwINs, wie schon in anderen Dingen, ineinem logischen Widerspruch mitsich selbst befinden. Das tritt schon in den zwei zitierten Aus- sprüchen WEISMANNS klar zutage. Denn in dem einen Satz behauptet er, daß das Selektionsprinzip das Zustandekommen des Zweck- mäßigen ohne Eingreifen einer zwecksetzenden Kraft erklärt, dagegen heißt es im zweiten Satz: daß die Selektionstheorie uns nur be- greifen läßt, „daß zwar fortwährend sich Unzweckmäßiges so gut als Zw ee bildet, daß aber allein das Zweckmäßige überdauert, das en Unzweckmäßige aber schon in seiner Entstehung wieder zugrunde geht.“ 22 Das sind aber zwei miteinander ganz unvereinbare Behauptungen. Denn -. der zweite Satz besagt etwas ganz anderes als der erste; im zweiten wird das Zweckmäßige als ein von der Natur Gebildetes, also als bereits vor- “ handenes und nicht näher Erklärbares von der Selektionstheorie voraus- gesetzt, nicht aber wird sein Zustandekommen erklärt. Wie jeder bei der Lektüre von Darwıns Schriften sich leicht überzeugen kann, besteht das Wesentliche bei der Selektionstheorie nur darin, da durch Summation von kleinsten, durch die Natur erzeugten Zweckmäßigkeiten das größere Zweckmäßige geschaffen werden soll. Wenn kleine Organisationsvorteile im Kampf ums Dasein erhalten und summiert werden, weil sie zweckmäßig sind, so se tz Darwın die Zweckmäßigkeit als etwas schon in der Natur der Organismen vorhandenes voraus. In seiner Absicht hat es überhaupt gar nicht gelegen, das Problem der Zweck a mäßigkeit, welches ebenso wie das der Kausalität ein meta- physisches ist, zu lösen. DARwINn war alles andere als ein Metaphy- siker ‚er war ein scharfsinniger, erfolgreicher Beobachter, in seinem Denken ein Realist und, wie die meisten seiner Landsleute, ein Utilitarier, aber in der logischen Fassung seiner Gedanken läßt er es aller Orten an der wünschenswerten Schärfe fehlen, wie schon früher gezeigt wurde. Durch ihre oben zitierten Behauptungen haben sich die Teleophoben noch in einen zweiten Widerspruch verwickelt. Es lassen nämlich DARWwIN und die meisten seiner Anhänger, wenn wir von WEISMANN mit seiner Lehre von der ‚„Allmacht der Naturzüchtung‘“ absehen, n | | 1) I Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 651 einen Teil der organischen Zweckmäßigkeit durch Selektion, einen anderen Teil aber nach dem Lamarckschen Prinzip durch direkte Bewirkung gebildet werden. j * Zu dem Zwecke will ich zwei Fälle von direkter Bewirkung in bezug auf ihre Kausalität etwas näher analysieren. Wie tägliche Erfahrung lehrt, werden durch konsequent durchgeführte, längere Übung einzelne Muskelgruppen des Menschen wie diejenigen des Oberarms, gestärkt; sie nehmen oft sehr erheblich an Volumen, an Zahl und Dicke der Muskel- fasern und an Leistungsfähigkeit zu. Die Übung oder der Gebrauch ist also in diesem Fall die Ursache und ihre Wirkung ist die veränderte morphologische und funktionelle Beschaffenheit des Muskels. Insofern liegt zunächst ein einfaches kausalmechanisches Verhältnis vor. Aus diesem läßt sich leicht, wenn wir einen Schritt weiter gehen, ein zweck- mäßiges Verhältnis ableiten, da die größere Leistungsfähigkeit des Muskels ihn für schwerere Arbeit, wie beim Schmied. für die erfolgreiche Verwendung des schweren Hammers beim Schmieden geeignet macht. Wir bezeichnen dann den gestärkten Muskel als das Mittel, durch welches eine bestimmte Arbeit als Zweck ermöglicht wird, und erblicken in dem Verhältnis, das durch Stärkung des Muskels für seinen Gebrauch ge- schaffen worden ist, ein zweckmäßiges. In ähnlicher Weise lassen sich alle Fälle von funktioneller Anpassung analysieren. Bei der pathologischen Herzhypertrophie ist die durch einen Klappenfehler gesetzte Zirkulationsstörung die Ursache und ihre Wirkung ist die Vermehrung der Muskelfasern des Herzens in einer oder beiden Kammern. Die hierdurch ermöglichte kräftigere Herzaktion wird dann wieder das Mittel, durch welches die Regulierung der Zir- kulationsstörung als Zweck erreicht wird. Insofern ist die Herzhyper- trophie wieder eine zweckmäßige Veränderung. Da jeder Zweckmäßigkeit mechanische Kausalität zugrunde liegt, lassen sich die Begriffe Mittel und Zweck auch durch die Worte ‚Ursache und Wirkung“ ersetzen, und wir können dann den Zweck bei unserer Urteilsbildung ebensogut ganz aus dem Spiel lassen. So kann man den durch Übung gestärkten Armmuskel auch als die Ursache für die größere Arbeitsleistung des Schmiedes, ebenso wie die Herzhypertrophie als die Ursache für die regulierte Blutzirkulation bezeichnen, wie es häufig geschieht. Jedenfalls aber geht aus unserer Darlegung das eine hervor, daß die Selektion an dem Zustandekommen des Zweckmäßigen in den “besprochenen zwei Fällen keinen Anteil hat. Nicht minder deutlich spricht hierfür die Zweckmäßigkeit, welche schon den fundamentalen Lebenseigenschaften auch der niedersten 652 Fünfzehntes Kapitel. Organismen innewohnt. Denn sie läßtsich gleichfallsnichtdurch Selektion erklären, wie schon früher gezeigt wurde. Nehmen wir z. B. das Vermögen ° aller Zellen, sich durch Teilung periodisch zu vermehren. Schon von den Bakterien an ist es eine Grundeigenschaft der organischen Substanz. Da nun die Teilung der Zelle nur durch ihre vorausgegangene Ernährung und durch ihr Wachstum ermöglicht wird, sind diese die Ursache und ihre Wirkung ist die gelegentlich und zeitweise erfolgende Teilung. i Außerdem aber verhindert dieselbe auch das Aussterben der Art; sie ist also ein Mittel zum Zweck der Erhaltung des Organismenreichs und muß daher, von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, als ein sehr zweck mäßiges Vermögen der lebenden Substanz bezeichnet werden, wobei zu- gleich die Erhaltung des Organismenreichs als ein Naturzweck aufgefaßt wird. Wie sollte nun an dem Zustandekommen dieser größten Zweck- . mäßigkeit, von welcher das Dasein der Organismenwelt abhängt, natür- “| liche Zuchtwahl überhaupt beteiligt gewesen sein. Denn wo wäre hier der Hebel zu finden, an dem eine akkumulative Selektion hätte angreifen und wirken können ? Ist doch mit einer Auswahl bloß von kleinen An- sätzen zu einer Teilung nichts gewonnen, da nur die Teilung selbst die Art vor dem Aussterben bewahren kann. Wie in diesem Fall mit voller Klarheit zu erkennen ist, sind Selektionswert und Häufung durch akku- mulative Züchtung, deren Wirksamkeit auch schon aus vielen anderen Gründen in Zweifel gezogen werden mußte, jedenfalls für das Zustande- kommen des Zweckmäßigen und also auch für seine Erklärung ohne jede Bedeutung. Schon aus rein logischen Gründen kann auf diesem Wege der geforderte Zweck überhaupt nicht erreicht werden. 3 Was für die Teilbarkeit, gilt genau ebenso von allen anderen funda- mentalen Eigenschaften der lebenden Substanz. Auch sie tragen schon | bei den niedersten Lebewesen den Stempel des Zweckmäßigen ebenso deutlich an sich als die viel komplizierteren Vorgänge und die ihnen dienenden Einrichtungen bei den höchsten Pflanzen und Tieren. Eine zweckmäßige Bewegung ist es, wenn die grünen Algenzellen sich nach dem Lichte hin bewegen, ohne welches ihr Chlorophyllapparat nicht zu assimilieren vermag (vgl. S. 366), oder wenn die Lohblüte aus sauerstoff- freiem Wasser durch Aussendung ihrer Pseudopodien in eine sauerstoff- haltige Umgebung kriecht, oder wenn Fäulnisbakterien im Licht sich in der Umgebung einer sauerstoffabscheidenden Diatomee (S. 365) an- sammeln, während sie dieselbe im Dunkeln bald verlassen, da sie jetz keinen Sauerstoff für ihren Stoffwechsel mehr erhalten. Zweckmäßig ist es, wenn Rhizopoden, Infusorien usw. feste Nahrungsstoffe in ih Inneres aufnehmen, wobei sie oft sogar eine besondere Auswahl treffen Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 653 da sie ohne Nahrung nicht würden bestehen können. Zweckmäßig endlich ist es, wenn viele Einzelligen Dauersporen zu erzeugen vermögen; denn dieser Zustand gibt ihnen Gelegenheit, sich unter ungünstigeren Bedin- gungen, während deren sie im aktiven Zustand absterben würden, zu erhalten. Er ist ihnen ferner ein Mittel zur weiteren räumlichen Ver- breitung; denn eingetrocknete Sporen können infolge ihres geringen Gewichtes wie Staub durch die Luft weit fortgeführt werden, bis sie auf einen geeigneten, genügend feuchten Standort geraten, der ihnen wieder zu keimen gestattet. Ist es möglich, diese Eigenschaften der lebenden Substanz, die sich leicht noch weiter vermehren lassen und die als Beispiele vollendeter Zweckmäßigkeit ebensogut wie die zweckmäßigen Einrichtungen höherer Organismen gebraucht werden können, durch die Selektionstheorie zu erklären? Die Frage aufwerfen, heißt sie in allen diesen Fällen auch gleich verneinen. Die soeben erörterte Stellung des Darwinismus zum Zweckbegriff kann uns als Übergang zu dem dritten Abschnitt unserer Kritik der Selektions- und Zufallstheorie dienen. €. Kritik der Intraselektion oder des Kampfs der Teile im Organismus (Roux). Die Verbindung der Selektionstheorie mit dem Zweckbegriff, die bald nach dem Erscheinen von Darwıns Werk „Über die Entstehung der Arten“ erfolgte, ließ unter den Biologen die rasch um sich greifende Ansicht aufkommen, daß es gelungen sei, „alle zweckmäßigen Einrich- tungen in der Organismenwelt als das unbewußte Ergebnis der blind wirkenden Selektion zu erklären‘. Dies gab dann wieder den Anhängern Darwiıss den Anstoß, seine Theorie noch über ihr ursprüngliches Geltungs- bereich auszudehnen. Da die natürliche Zuchtwahl in der Fassung ihres Urhebers nur von dem züchtenden Kampf ums Dasein zwischen den Individuen der Arten und der durch ihn erzielten Erhaltung des Passenden handelt, wurde von anderer Seite jetzt geltend gemacht, daß ‚durch sein Prinzip nur ein TeilderZweckmäßigkeit im Organismus seine Erklärung gefunden habe“. Auf diese vermeintliche Lücke hat zuerst Roux in einer treff- lichen und ideenreichen Schrift: ‚Der Kampf der Teile im Organismus, ein Beitrag zur Vervollständigung der mechanischen Zweckmäßigkeits- lehre“, 1881 hingewiesen. Durch die vorausgegangenen Untersuchungen, bemerkt er (l. c. p. 4), „wurde weniger für die Erforschung der Ent- 654 Fünfzehntes Kapitel. stehungsweise und -ursachen der zweckmäßigen Einrichtungen im Innern, sowohl zum Teil derjenigen, welche Speziescharaktere darstellen, als besonders der allgemeineren, ganzen Klassen oder Ordnungen gemein- samen getan, und daher auch die Lehre im einzelnen noch nicht eingehend geprüft, ob sie fähig sei, alle vorhandenen inneren Zweckmäßigkeiten der Organisation als notwendige Folgerungen der bisher aufgestellten mechanischen Prinzipien hervorgehen zu lassen“. Roux macht auf viele Einrichtungen der funktionellen Anpassung aufmerksam, auf Bildungen im Knochen-, Binde- und Muskelgewebe. Denn nach seiner Meinung könne ‚die Auslese aus formalen Einzelvarıationen dieselben nie hervor- bringen, da hier schon Tausende zufällig in dieser Weise zweckmäßig geordneter Fasern resp. Bälkchen nötig gewesen wären, um nur den geringsten im Haushalt bemerkbaren und durch die Auslese züchtbaren ° Vorteil durch Materialersparnis hervorzubringen“ (l. c. p. 30). Durch diese Überlegungen hätte nun eigentlich Roux an der Se- lektionstheorie irre werden müssen ; anstatt dessen sucht er die vermeint- liche Lücke durch Übertragung des DarwıInschen Prinzips auf die In- dividualitätsstufen niederer Ordnungen, aus denen sich Pflanzen und Tiere zusammensetzen, auszufüllen. Unter Berufung auf den Ausspruch von HERAKLIT: ‚Der Streit ist der Vater der Dinge‘, und auf die von DArRwIn und WALLACE hieraus abgeleiteten Folgerungen meint Roux 3 (l. ce. p. 65): „Wie bei diesen der Kampf des Ganzen (Personen) zum Übrigbleiben des Besten führe, könne er es wohl auch unter den Teilen getan haben und noch tun, wenn Gelegenheit zu einer derartigen Wechsel- wirkung der Teile im Innern gegeben sei.“ Er nimmt dann weiter eine von Anfang an bestehende Ungleichheit der Teile als Grundlage eines. Kampfes zwischen ihnen an (l. c. p. 69); „aus der Ungleichheit ergebe sich der Kampf von selber infolge des Wachstums und auch schon einfach infolge des Stoffwechsels. Denn da alle Teile sich im Stoffwechsel ver- zehren, so werden sie zur Erhaltung und zur Produktion sich ernähren müssen und dabei werden diejenigen Teile, welche mit der vorhandenen Nahrung oder aus sonst einem Grunde weniger gut, d. h. weniger rasch und weniger vollkommen sich zu regenerieren vermögen, bald in erheb- lichen Nachteil gegen andere günstiger angelegte kommen.“ Auf diesem Wege will Roux die auf der Auswahl der Personen ge gründete Selektionstheorie durch die auf demselben Prinzip fußende Intraselektion, die innerhalb jedes Organismus durch den Kampf seiner Teile geschieht, noch weiter ergänzen. Wie sich das Organismenreich in eine Folge niederer und höherer übereinandergeordneter Stufen der Indi- vidualität gliedert, so auch der Prozeß der Selektion in eine Kormalk- Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 655 Personal-, Histonal-, Zellular- und Molekularselektion. Entsprechend ' den einzelnen Individualitätsstufen läßt sich daher nach der so erweiterten ‚ und angeblich verbesserten Lehre Darwıns auch ein züchtender Kampf der Zellen, ein Kampf der Gewebe, ein Kampf der Organe miteinander unterscheiden. — Beim Kampf der Molekel und beim Kampf der Zellen soll es dann ebenfalls, wie beim Kampf der Personen, untereinander zu einer Auslese des Besseren kommen (l. c. p. 96). Indem später WEISMANN den Gedanken Rouxs vom züchtenden Kampf der Teile im Organismus aufnahm, übertrug er ihn auf das Keimplasma und stellte seine Ger- minalselektion auf, welche ich hier nicht weiter zu besprechen brauche, da sie uns schon früher beschäftigt hat (Kap. XII, S. 500). Bei einer Beurteilung der Roux-WEIsmannschen Versuche, die Selektionstheorie noch über das von ihrem Urheber behandelte Gebiet auszudehnen, ist gleich von vornherein hervorzuheben, daß die Vor- stellung einer Intraselektion an denselben Mängeln leidet, wie DARWINS Selektion der Personen, nur noch in etwas höherem Maße. Wenn schon von DArwın der Ausdruck „Kampf der Individuen‘ nur in einem er- weiterten und vielfach bildlichen Sinn gebraucht wird, so ist dies noch mehr bei der Unterscheidung einer Intraselektion der Fall, die auf einem Kampfder Organe ‚der Gewebe, der Zellen beruhen soll. Von einem solchen ist ja durch Beobachtung auch nicht die Spur zu sehen, er wird nur der Theorie zuliebe vorausgesetzt, ebenso wie sich der Kampf der Molekel in der Zelle der Beobachtung entzieht und wie seine Annahme zum Ver- ständnis der chemischen Prozesse, die sich in der mannigfaltigsten Weise in der lebenden Zelle abspielen, auch nicht im geringsten beiträgt. Wenn auch seit DARwın der Kampf ums Dasein zu einem Schlagwort geworden ist, das auf alle möglichen Verhältnisse angewandt worden ist, so hat doch der Chemiker bisher nicht daran gedacht, an Stelle der Affinitäten und Valenzen zur Erklärung der von ihm dargestellten chemischen Verbin- dungen den Kampf der ‚Moleküle im Reagenzglas‘‘ zu verwenden, wie ich schon bei einer anderen Gelegenheit bemerkt habe. Seine Wissen- schaft würde wohl auch keinen Gewinn aus dieser Bildersprache gezogen haben. Bei näherer Prüfung ist die Intraselektion oder die Auslese und Züchtung des Passenden durch Akkumulation zufälliger Organisations- vorteile in bezug auf Zellen, Gewebe und Organe ein eigenartiger Versuch, Verhältnisse zu erklären, die man sonst auf den Prinzipien der Arbeits- teilung, Differenzierung und Koadaptation beruhen läßt. Beide Vor- stellungsweisen sind nicht miteinander vereinbar. Arbeitsteilung mit ihren Folgeerscheinungen setzt keinen Kampf voraus. Wo sie statt- 656 Fünfzehntes Kapitel. 2 findet, gibt es weder Sieger noch Besiegte; vielmehr ziehen die arbeits- teilig gewordenen lebenden Einheiten niederer und höherer Ordnung aus der Teilung der Arbeit gleichermaßen Nutzen, und noch mehr das Ganze, dessen Teile sie sind. Indem sie sich in ihren Funktionen ergänzen und dadurch von selbst voneinander und vom ganzen abhängig werden, sind sie zugleich infolge der Arbeitsteilung auch zueinander und ans Ganze angepaßt, dessen integrierte Teile sie ge- worden sind (vgl. hierzu Kap. IV, S. 136—144). Schon im elften Kapitel, das über Anpassungen der Organismen aneinander. handelt, habe ich dieses Verhältnis bei Besprechung der Tierstöcke und Tierstaaten (S. 456—46I) durch kritische Analyse einiger Beispiele, wie der Siphonophoren, der Bienen, Ameisen und Termiten erörtert. Daher sei auch an dieser Stelle auf das dort Gesagte noch einmal verwiesen, um den Gegensatz zwischen dem Darwinismus und der Lehre von der direkten Bewirkung auf einer möglichst breiten Grundlage durch- zuführen. Noch besser als durch das Studium des pflanzlichen und des tierischen Organismus erfahren wir, wie sich Arbeitsteilung und Koadaptation entwickelt, an uns selbst, als Gliedern der menschlichen Gesellschaft, von welcher ja der Begriff Arbeitsteilung erst in die Biologie übernommen ist. Wie jeder weiß, fügen sich die einzelnen mehr oder minder unbewußt und durch vielerlei Umstände veranlaßt, in die einzelnen Berufe ein und übernehmen dementsprechende Funktionen in der Gesellschaft. Wenn hierbei zuweilen auch Zwang und Kampf mit unterläuft, so handelt es sich doch nicht um einen Kampf im Sinne der Selektionstheorie, um einen Kampf auf Leben und Tod und um ein Überleben des Passenden; denn selbst im unfreiwilligen Beruf sind die einzelnen in der Lage, sich und ihre Art zu erhalten. Daß hierbei das Überfülltwerden einzelner Berufe durch Abströmen der Überschüssigen auf andere Berufe sich allmählich von selbst reguliert, lehrt ebenfalls die Erfahrung. Auch das Wort Auslese, das für manche Fälle der Berufsentscheidung, wie bei amtlichen Anstellungen etc., gebraucht werden kann, gewinnt hier eine andere Bedeutung als in der Selektionstheorie ; denn da die mit der Aus- wahl des einzelnen verbundene Berufung sich nicht auch auf seine Nach- kommen erstreckt und das Amt sich nicht mit auf diese vererbt, ist von vornherein die akkumulative Wirkung ausgeschlossen, durch welche k Darwın die Entstehung neuer Formen allmählich Schritt für Schritt stattfinden läßt. (Vgl. hierüber meine früher zitierte Schrift: „Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus“, S. 76—92.) De a ER i ———— Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 657 Die mit der Arbeitsteilung von selbst verbundene Koadaptation und das durch sie erzielte unbewußte Zusammenwirken unzähliger Glieder führt zu einem Endergebnis, das als ein im ganzen harmonisch reguliertes System bezeichnet werden muß und dessen Entstehung auf einer ganz anderen Grundlage und anderen Verhältnissen beruht, als sie in der Selektionstheorie gegeben sind. Das harmonische System ist zugleich auch ein zweckmäßiges; denn seine einzelnen Glieder stehen nicht nur zueinander in kausalen Zu- sammenhängen, sondern auch im Verhältnis von Mittel und Zweck, also in Zweckverbänden. Die durch Arbeitsteilung geschaffenen Verhältnisse lassen sich daher sowohl vom kausalen, wie vom teleologischen Gesichts- punkt aus betrachten, wie alle Verhältnisse im Organismenreich. So sind sie ebenfalls, wie die schon früher (S. 648) angestellte Betrachtung eine handgreifliche Widerlegung der Meinung, daß die Entstehung der Zweckmäßigkeit der Lebewelt durch die Selektionstheorie auf mecha- nischem Wege als Zufallswirkung erklärt worden sei; denn die eben her- vorgehobene, durch Arbeitsteilung entstandene Zweckmäßigkeit der menschlichen Gesellschaft, läßt sich weder durch Selektion noch durch Zufall erklären. Ebensowenig ist dies möglich bei allen Prozessen im Organismenreich, die sich unter den Prinzipien der Arbeitsteilung, Differenzierung und Koadaptation zusammenfassen lassen und dadurch eo ipso zugleich mit Zweckmäßigkeit verbunden sind. Wenn DARWwIN, durch eine irrtümliche Auffassung der künstlichen Zuchtwahl veranlaßt, nicht seine Selektionstheorie aufgestellt und wenn diese nicht damals in so weiten Kreisen der Wissenschaft Beifall ge- funden hätte, so würde gewiß niemand auf den Gedanken verfallen sein, die zweckmäßigen Einrichtungen im Innern des pflanzlichen und tierischen Organismus oder gar im Innern der Zelle durch die Hypothesen vom Kampf der Teile im Organismus, von der Intraselektion und der Ger- minalselektion zu erklären, in der Weise, wie es ROUx und WEISMANN getan haben. Nach dem Vorbild von Darwın arbeitet auch Roux mit zwei sich gegenseitig aufhebenden Prinzipien. Wer im ersten Teil seiner Schrift seine zutreffenden Bemerkungen über die Wirkung des vermehrten und verminderten Gebrauchs, über die funktionelle Selbstgestaltung der zweckmäßigen Struktur, über die Architektur der Knochenspongiosa, über die Anpassung bindegewebiger Teile und der Gefäßwand an ihre Aufgabe durchliest, wird glauben, daß Roux sich vollkommen auf dem Boden des Lamarckismus bewegt und ein Anhänger der direkten Be- wirkung ist. Anstatt dessen erfolgt im zweiten Teil der Schrift eine O. Hertwig, Das Werden der Organismen, 2. Aufl. 42 658 Fünfzehntes Kapitel. überraschende und kaum motivierte Wendung, indem er die zweck- mäßigen Einrichtungen im Innern des Organismus, die sich nach seiner richtigen« Einsicht durch Personalselektion nicht erklären lassen, nun trotzdem durch Ausdehnung des Selektionsprinzips auf die unter- geordneten Individualitätsstufen, also durch Intraselektion und dadurch ebenfalls im Sinne DARWwInNS zu begreifen sucht. Es geschieht dies in den beiden Kapiteln über den Kampf der Teile im Organismus und über den Nachweis der trophischen Wirkung der funktionellen Reize. Schon PAurY (l. c. p. 84—86) hat den hierin liegenden Widerspruch in Rouxs Denken erkannt und ihn als ‚eine höchst merkwürdige und beklagens- werte Wendung bezeichnet, welche zu den größten psychologischen Seltsamkeiten in der Geschichte des Darwinismus gehöre“. Er führt sie auf die Befangenheit Rouxs in der seine Zeit beherrschenden mecha- nischen Richtung in den Naturwissenschaften und auf die Stellungsnahme derselben zum Zweckbegriff zurück. Auch unter den Anhängern DArwıns wurden energische Einsprüche gegen diese Überspannung des Selektionsprinzips erhoben. H. SPENCER spricht im Gegensatz zu der von WEISMANnN verkündeten „Allmacht der Naturzüchtung‘‘ von einer ‚Ohnmacht derselben“. PLATE erhebt zahlreiche Einwände gegen den Kampf der Teile von Roux (1907, 1. c. p- 337-351); noch mehr aber greift er WEISMAnNs Germinalselektion (l. c. p. 378—384) an und gesteht, wie schon früher (p. 502) bemerkt, offen ein, „daß er eher die ganze Selektionslehre über Bord werfen, als sie auf der Germinalselektion, die er für gänzlich verfehlt hält, auf- bauen würde‘. D. Ein letztes, wenn auch mehr untergeordnetes Argument. Zum Schluß meiner Kritik der Selektionstheorie und des Kampfes ums Dasein berühre ich noch kurz ein Argument, welches mir auch gegen die oft gehörte Meinung zu sprechen scheint, daß die DARwINsche Formel ein allgemeines biologisches Naturgesetz sei. Das Argument ergibt sich aus der gewiß auffälligen Erscheinung, daß die Lehren DAR- wıns in den Untersuchungen und in den zusammenfassenden Lehr- und Handbüchern der Physiologie, der Anatomie, der Entwicklungsgeschichte, der Gewebe- und der Zellenlehre gar nicht zum Ausdruck und zur Geltung kommen. Hier werden vielmehr die wissenschaftlichen Ergebnisse und Probleme in einer Form behandelt, die gar keine Beziehung zum Dar- winismus hat. Wie die Astronomie, Chemie und Physik, so entwickeln sich auch kr e | . ‘ Kritik der Selektions- und Zufallstheorie. 659 1 die Spezialgebiete der Biologie in ihrer eigenen Art weiter, wobei es ganz ' gleichgültig ist, ob sich der einzelne Forscher ablehnend oder zustimmend ' zur Darwınschen Formel und ihren Ergänzungen verhält. Was für eine ganz andere Stellung nehmen dagegen die NEwToxschen und Keprerschen Gesetze ein, welche die unentbehrliche Grundlage für das ., ganze Lehrgebäude der Himmelskörper bilden! Ist dies nicht auch ein Beweis, daß die Selektionstheorie eben kein aus den zu beobachtenden Erscheinungen des Organismenreichs abgeleitetes, unentbehrliches Natur- gesetz von allgemeiner Bedeutung ist? Ba Sechzehntes Kapitel. Zusammenfassung. „if the Darwinian hypothesis was swept away, evolution would still stand where it was.“ Ausspruch von AHuxLey, zitiert nach WEISMANN: Neue Gedanken zur Vererbungsfrage. 1895. Durch meine Darstellung vom Werden der Organismen und durch die im XV. Kapitel gegebene Kritik des Darwinismus wird der vor- urteilslose Leser die Überzeugung gewonnen haben, daß die Selektion oder die Naturauslese nicht das universale Erklärungsprinzip für die „Artentstehung‘“ ist, zu dem sie DARWwIN und seine einflußreichsten Anhänger, HAECKEL und WEISMANN, mit so großem Erfolg zu erheben versucht haben. Die Theorie krankt von vornherein an einem inneren logischen Widerspruch. Denn für sich allein betrachtet kann eine Auswahl bei den Organismen, bei denen sie vorgenommen wird, keine neuen Eigen- schaften hervorrufen. Diese müssen bereits vorhanden sein, ehe eine Auswahl beginnen kann; sie müssen also durch Ursachen bewirkt sein, die ganz außerhalb des Machtbereichs der Selektion liegen. In derselben Weise wie die leblose Welt, unterstehen auch die Lebewesen, ihre Ent- Entwicklung und ihre Erhaltung, dem allgemeinen Kausalitätsgesetz. Und da niemand diesen Grundsatz leugnen wird, kann auch die Aufgabe des Biologen nur in der Erforschung der zahllosen, verschiedenen Ursachen bestehen, welche die Veränderungen bei der Entwicklung und beim Werden der Organismen, unabhängig von jeder Auswahl, bewirken. In dieser allgemeinsten Hinsicht ist die wissenschaftliche Aufgabe des Biologen dieselbe wie die Aufgabe des Chemikers und Physikers, nur an einem anderen Objekt. Er hat also, wie es schon NÄGELI (p. 294) ausgesprochen hat, von dem Grundsatz auszugehen, daß „Bau und Funktion der Orga- Zusammenfassung. 661 nismen in den Hauptzügen eine notwendige Folge von den der Substanz innewohnenden Kräften und somit unabhängig von äußeren Zufällig- keiten ist.‘‘ Daher muß auch jeder Versuch, das Werden der Organismen zu verstehen, auf eine Theorie der direkten Bewirkung hinauslaufen. Die Gestaltung und Organisierung des Stoffes vermöge der ihm inne- wohnenden Kräfte läßt sich auf allen Gebieten der Naturwissenschaften als das große allgemeine Problem bezeichnen. Von diesem Standpunkt aus ist der wissenschaftlichen Erforschung der Organismenwelt nicht mit allgemeinen und inhaltsleeren Phrasen gedient, wie Kampf ums Dasein, Auswahl des Passenden, Allmacht der Naturzüchtung, Personal- und Intraselektion und was sonst noch das Vokabularium des Darwinismus an ähnlichen Redewendungen enthält. Wie zur wissenschaftlichen Naturerklärung keine Universal- ursache ausreicht, so gibt es auch keine einzige allgemeine Formel, aus der sich das Werden der Organismen begreifen, ja nicht einmal der Schein, es begriffen zu haben, erwecken läßt. Astronomen, Physiker, Chemiker u.a. leiten aus dem Studium ihrer Gebiete sehr viele verschiedene Regeln und Gesetze ab, unter welche sich die von ihnen beobachteten Natur- erscheinungen einordnen lassen. Und je mehr und vollkommener dies geschieht, einen um so höheren Grad der Vollendung und einen um so reicheren Inhalt hat die einzelne Wissenschaft empfangen. Ebenso kann auch für die Biologie die Aufgabe nicht in der Aufstellung einer Universalformel bestehen, wie sie durch den Darwinismus in seiner Selektionstheorie gefaßt worden ist. Durch eine solche läßt sich bei der Erforschung der Lebewesen noch weniger als in den unorganischen Wissenschaften ausrichten, da die Lebenserscheinungen noch ungleich mehr verwickelt und vielgestaltig sind. Auch hier kann das für die biologische Wissenschaft Erreichbare nur zu der Erkenntnis von Regeln und Gesetzen führen, unter welche sich Gruppen von Lebenserscheinungen vereinigen und aus denen sich die unter sie fallenden einzelnen Lebens- erscheinungen dann erklären lassen. In diesem Sinne faßt die Theorie der direkten Bewirkung die Aufgaben des Biologen auf. Alsdann aber wird die Biologie als Wissenschaft, wenn wir uns eines prächtigen Aus- spruchs von C. ERNST v. BAER bedienen, „ewig in ihrem Quell, uner- meßlich in ihrem Umfange, endlos in ihrer Aufgabe, unerreichbar in ihrem Ziele“. Bei kritischer Prüfung beruht die Erklärung, die man durch die Selektionstheorie gewonnen zu haben glaubte, auf einer eigenartigen Selbsttäuschung, in welche sich ihre Begründer versetzt, und welche sie auch in dem weiten Kreis ihrer Anhänger durch ihre Darstellung 662 Sechzehntes Kapitel. hervorgerufen haben. Denn nur so wird es verständlich, daß DARWIN trotz mancher stets wieder neu aufsteigender Bedenken doch seine „Natural Selection‘ als ‚die weitaus wichtigste Kraft‘ für die Ent- stehung der Arten bezeichnet, daß HAECKEIL in ihr die eigentlich kausale oder mechanische Basis der gesamten Transmutations- und Deszendenz- theorie oder schlechtweg ihre kausale Begründung erblickt (l. c. 1866, Bd. II, p. 166 u. 290), und daß WEISMANN für die Biologie die „‚Allmacht der Naturzüchtung‘‘ verkündet (1893, 1. c.). Die Selbsttäuschung und die auf andere ausgeübte Suggestion ist, wenn ich früher entwickelte Gedankengänge noch einmal kurz zusammenfasse, auf zwei Wegen zustande gekommen. Auf der einen Seite ist das zu ergründende Problem, die natürliche Entstehung der Organismenwelt, durch die Kombinierung des Begriffs der Auslese mit Prinzipien der direkten Bewirkung verschleiert worden, indem es bei der Darstellung gewöhnlich unentschieden gelassen wird, wieviel auf Konto des einen oder des anderen Postens bei der Abrechnung zu setzen ist. Daher werden in der eigenartigen Sprache des Darwinismus auch vieldeutige und nicht schärfer definierte Ausdrücke, bei denen sich jeder das Seine denken kann, wie Naturzüchtung etc. mit Vorliebe gebraucht. Nun bedeuten aber Zuchtwahl und Naturzüchtung (natural selection) viel mehr als die Ausdrücke Selektion und Auswahl für sich und geben ihnen, wenn das Hauptgewicht auf das Wort züchten gelegt wird, einen ganz anderen Sinn. Denn ‚„Züchten‘“ kann ja auch heißen, daß die Lebewesen unter abändernde Ursachen gebracht werden; dann hängt es mit dem Prinzip der direkten Bewirkung zusammen. Wenn aber in diesem Sinne die Natur als Züchter personifiziert wird, dann bedeutet Naturzüchtung nur so viel als natürliche Schöpfung. In diesem Fall würde auch für mich kein Hindernis bestehen, mit WEISMANN von einer „Allmacht der Naturzüchtung‘ zu sprechen. Besagt doch-dann- der Ausdruck nur etwas, was sich für den Naturforscher von selbst ver- steht, daß die Natur ihre Geschöpfe hervorgebracht hat. So sagen auch einsichtsvolle Züchter ‚La nature cree‘‘ (vgl. p. 616), indem sie das geheimnisvolle Wirken der Natur sich nicht selbst als eigenes Verdienst zugute rechnen. Indessen verbindet WEISMANN nicht diesen zunächst- gelegenen Sinn mit dem Begriff der Naturzüchtung. Denn wie jeder aus seinen Schriften weiß, vertritt er den extremsten Standpunkt der. von DArwıIn ausgedachten Selektionstheorie und macht zum einzigen Entwicklungsfaktor die Auswahl (Selektion) zwischen Organismen, die durch Zufallsursachen verschieden und richtungslos variiert haben. An diesem Punkt ist das Problem vom Werden der Organismen Er F Zusammenfassung. 663 abermals in einer zweiten Weise verschleiert worden. Denn, wie jeder leicht einsehen wird, verändert eine zwischen verschiedenen Gegen- ständen getroffene Auswahl nicht die Eigenschaften derselben; sie ist ja weder eine in den Gegenständen wirkende noch sie von außen beein- flussende Kraft; sie ist in keiner Beziehung eine Ursache, die in den zur Wahl gestellten Gegenständen eine Veränderung bewirken könnte; sie kann daher auch das Werden der Organismen nicht erklären. Was ist nun geschehen, um trotzdem die Selektion als eine schöpfe- rische Kraft erscheinen zu lassen? Es wurde durch einen Kunstgriff das eigentlich naturwissenschaftliche Problem, das Werden der Orga- nismen aus seinen Ursachen zu begreifen, in den Hintergrund gedrängt und herabgesetzt, dagegen die Macht der Selektion ins Wunderbare gesteigert. Zu dem Zweck wurde die Hypothese aufgestellt, daß die Variationen der Organismen, mit welchen die nie rastende allgegen- wärtige Selektion, dieser mystische Spiritus rector, arbeitet, an sich geringfügige und für uns kaum wahrnehmbare sind; die Variabilität wurde in kleinste Differentiale zerlegt. Und was hierbei noch wichtiger ist, es wurden die an den Lebewesen sich abspielenden Ver- änderungen zugleich als an sich richtungslos erklärt, d. h.: es wurde mit der ersten noch die zweite Hypothese verbunden, daß die Ver- änderungen in vielen verschiedenen Richtungen, ohne ein ihnen zugrunde liegendes Prinzip, also regellos, erfolgen und so erst ein für die Selektionstheorie geeignetes Aus- gangsmaterial liefern; denn wenn sie schon an sich gerichtet wären, so würde ja von vornherein der Hebel fehlen, an welchem die Auswahl im DARWIN-WEISMAnNschen Sinn hätte angreifen können, und ihre Theorie wäre gegenstandslos und überflüssig geworden. Dagegen wurde von ihnen die Selektion nun selbst zum richtenden Prinzip beim Werden der Organismen erhoben; sie wurde — man verzeihe den Ausdruck, da er auch im Bereich der Darwınschen Redeweise liegt — zu einer Naturkraft gemacht, die auch die geringsten Abstufungen und verschiedensten Ausschläge in der Variabilität der Organismen erkennt, sie dabei nach ihrem Wert für den Vorteil und Nutzen ihrer Träger abschätzt und hiernach über Leben und Tod der- selben entscheidet. Durch die Selektionstheorie, besonders in der ver- schärften Fassung von WEISMANN ist die Biologie zu den Zweigen der Naturwissenschaft, die von der unbelebten Natur handeln, in einen ausgesprochenen Gegensatz ge- bracht worden, worüber sich die eingefleischten Darwinisten doch 664 Sechzehntes Kapitel. endlich einmal klar werden sollten. Chemie und Physik gehen von der Voraussetzung aus, daß die unter der Herrschaft des Kausalitätsgesetzes sich vollziehenden Veränderungen nach Naturgesetzen erfolgen, daß bestimmte Ursachen in den von ihnen betroffenen Gegenständen auch estimmte Wirkungen hervorrufen und daß es die Aufgabe des Forschers ist, die hierbei bestehenden Gesetzmäßigkeiten zu erkennen und ihnen in möglichst einfachen Formeln, in Gesetzen und Regeln, einen Ausdruck zu geben. Nach der Selektionstheorie dagegen sind die kleinen Variations- differentiale der Organismen, die das Ausgangsmaterial für die Zucht- wahl bilden, richtungslos und regellos. Sie werden daher auch als zu- fällige bezeichnet. Indem die Vertreter der Selektionstheorie sich auf diesen, von WEISMANN am schärfsten durchgeführten Standpunkt stellen, machen sie den Zufall zur Grundlage für die Erforschung der Organismenwelt. Sie arbeiten dadurch von vornherein mit einem Begriff, der für den Naturforscher einer der inhalt- ärmsten ist und für ihn die wenigste Befriedigung darbietet. Nur durch die Wahrscheinlichkeitsrechnung können die Begebenheiten, die uns als zufällige erscheinen, zum Objekt naturwissenschaftlicher Forschung gemacht und aus ihnen Regeln hergeleitet werden, durch welche auch das ‚zufällige Geschehen“, wenn auch in der unvollkom- mensten Weise, dem allgemeinen Naturgesetz einzuordnen versucht wird, Gegen die Rolle, welche Darwın den Zufall bei der Erklärung der zweckmäßigen Organisation der Lebewesen spielen läßt, haben bald nach dem Erscheinen seines Buchs ‚Von der Entstehung der Arten“ hervorragende Forscher Verwahrung eingelegt, K. E. v. BAER, FECHNER, WiıGAnD, der Philosoph EDUARD v. HARTMANN und viele andere. In der Tat liegt hier meines Erachtens ein noch zu wenig beachteter Punkt vor, an welchem sich der Darwinismus in einen scharfen Gegensatz zu den Aufgaben und Zielen der exakten Naturwissenschaften und auch zu ihren Forschungsmethoden gestellt hat. Für mich ist diese Er- wägung auch bestimmend gewesen, um gleich das Wich- tigere im Titel meines Buches hervorzuheben, anstatt von Selektionstheorie von einer Widerlegung der Darwınschen Zufallstheorie zu sprechen und ihr als Gegensatz gleich das Gesetz in der Entwicklung entgegenzuhalten, als die’ Aufgaben und Ziele, welche auch die Wissenschaft von der Biologie zu den ihrigen zu machen hat. In einer Theorie der direkten Bewirkungen, wie wir sie auffassen, fÜ lt dem Prinzip der Auslese auch eine regulierende Rolle bei dem Werden der Organismen zu, allerdings von anderer und mehr untergeordneter Zusammenfassung. 665 Bedeutung als beim Darwinismus. Beim Einordnen in den Mechanismus der Natur haben die Eigenschaften der Lebewesen, durch die sie unter- einander in Konkurrenz treten und durch die sie sich mit der ganzen leblosen und lebenden Umwelt in Einklang zu setzen haben, auch eine mehr oder minder entscheidende Bedeutung für ihr Gedeihen und geben dabei nicht selten über Leben und Tod den Ausschlag. Lebewesen, die zuweilen schon vom Ei an unter ungünstigen Verhältnissen aufwachsen, schwächlich beanlagt, krank oder gar mißgebildet sind, gehen zugrunde. während kräftigere gedeihen, wie es aus der menschlichen Gesellschaft zur Genüge bekannt ist. Geographische und klimatische Veränderungen in Landgebieten beeinflussen auch die Zusammensetzung und den Cha- rakter ihrer Pflanzen- und Tierwelt. Austrocknung eines Teiches ver- ‚nichtet alle für Wasserleben angepaßten Organismen und schafft nun Siedlungsgebiete für Landbewohner. Durch irgendeinen Umstand be- günstigste Vermehrung der Raubtiere führt zu Verdrängung, namentlich von solchen Pflanzenfressern, die sich gegen die größere Nachstellung nicht zu schützen wissen. Systematische Ausrottung wilder Pflanzen- arten, welche die Folge der Kultur einer Gegend durch Menschenhand ist, verhindert z. B. in derselben auch das Fortkommen von Insekten- arten, welche die ihnen zusagende Nahrung verloren haben. Da Tiere vor ihren Feinden Schutz bedürfen, suchen sie je nach ihrer Färbung, Zeichnung und Form die sie am besten schützenden Lokalitäten auf, wie die Anpassungen der Polar- und Wüstentiere und die Mimicry lehren (vgl. hierüber auch S. 623, 467 bis 490). In diesem Zusammenhang aufgefaßt handelt es sich bei den Parade- beispielen der Selektion auch nur um Fälle direkter Bewirkung, bei denen die Zusammenhänge in der Kette von Ursachen und Wirkungen zuweilen komplizierter und schwieriger zu erkennen sind. Daher ordnet sich nach unserer Auffassung auch die Selektion als ein Glied der direkten Bewirkung mit in die Kausalzusammen- hänge des großen Naturganzen ein. In eine ganz eigentümliche und unhaltbare Stellung haben sich endlich die Darwinisten in ihrem Verhalten gegenüber dem Zweck- begriff durch die Erklärung gebracht, daß es jetzt der Naturwissen- schaft gelungen sei, alle zweckmäßigen Einrichtungen in der Organismen- welt als das unbewußte Ergebnis der blind wirkenden Selektion zu begreifen. In der Theorie geben sie sich nach der Bezeichnung des Philo- sophen v. HARTMANN als Teleophoben (S. 650); sie haben Worte des Tadels, wenn in der Biologie vor Darwın der Zweckbegriff gebraucht wurde, weil darın die Anerkenntnis einer zwecksetzenden Kraft oder 666 Sechzehntes Kapitel. sogar eines Weltenschöpfers zu erblicken sei. Praktisch aber handeln sie selbst bei ihren Untersuchungen der Organismenwelt als die aller- größten Teleologen. Denn niemand hat die organischen Einrichtungen unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit und der Nützlichkeit mehr untersucht als DARWIn selbst und seine Anhänger. Nachdem man die Selektionsformel gefunden hatte, war für sie der vordem wegen seiner leichten Mißdeutung verpönte Zweckbegriff rasch wieder in der Wissenschaft salonfähig geworden. Das Nützlichkeitsprinzip, welches im englischen Geistesleben eine so ausschlaggebende Rolle im letzten Jahrhundert gespielt hat und zum Teil bis in die Gegenwart noch spielt, ist als ein erstklassiges Erklärungsmittel von DArwıIn in die Biologie eingeführt worden. Seine Anhänger, unter ihnen am meisten WEIS- MANN, haben in der früher erörterten, schablonenhaften Weise den aus- giebigsten Gebrauch von ihm gemacht. Mit feiner Ironie hat NÄGELL (l. c. p. 296) gegenüber dem Nütz- lichkeitsstandpunkt des Darwinismus und den durch ihn hervor- gerufenen willkürlichen Auffassungen bemerkt: „Statt wissenschaftlich zu bleiben, wird das Verfahren zur Manier. Es braucht ja nicht gar sehr viel Scharfsinn, um aus irgendeiner organischen Erscheinung einen wirklichen oder eingebildeten Nutzen für ihren Träger herauszuklügeln. Aber welche Berechtigung liegt in einem solchen Erfolge, wenn man sich gestehen muß, daß, wenn die Erscheinung anders wäre, der Nutzen 1 ebenso deutlich oder noch deutlicher hervorträte. — Man muß sich überhaupt damit bescheiden, daß die Dinge in der organischen Welt, gerade so wie in der unorganisierten Natur, da sind, weil sie eben da sind, weil nämlich die sie bewirkenden Ursachen ihnen vorausgingen, und daß ihr Bestehen weiter nichts als ihre Existenzfähigkeit und den Mangel anderer verwandter Dinge mit größerer Existenzfähigkeit beweist. Wenn man das Verfahren der Selektionstheorie auf die unorganische Natur anwenden wollte, was ließe sich nicht alles über nützliche Anpassungen der Erscheinungen sowohl an andere unorganische als an organische Erscheinungen sagen ? Welche Betrachtungen könnten nicht allein über die teilweise exzeptionellen Eigenschaften des Wassers angestellt werden. Glücklicherweise begnügen sich Physik und Chemie damit, die Ursachen zu erforschen, und niemand stellt Spekulationen darüber an, welche Vorteile und Nachteile die sechseckige Form der Schneeflocken und die kugelige Gestalt der Regentropfen gewähren.‘ e Wenn ich die Zufalls- und Selektionstheorie DARWINS, die oft kritik- lose und einseitige Verwertung des Nützlichkeits- und Zweckmäßigkeits- } | \ I } \ Zusammenfassung. 667 prinzips, die phylogenetischen Spekulationen und die daraus abgeleitete Umdeutung des Systems als Stammbaum, für Lehren, die nicht mehr aufrecht zu erhalten sind, und für Abwege der wissenschaftlichen For- schung halte, so möchte ich doch auf der anderen Seite nicht den mäch- tigen Impuls unterschätzen, welchen DARWIN, HAECKEL, WEISMANN u.a. der Biologie auf den verschiedensten Gebieten gegeben haben. Der Entwicklungsgedanke, der wie nie zuvor als Richtlinie für die Erforschung des Lebens mit echter Begeisterung verkündet wurde, und auch von mir nach wie vor entschieden aufrecht erhalten wird, hat auf die studierende Jugend vieler Jahrzehnte zündend gewirkt; er hat in ihr ein tieferes Interesse für die Biologie geweckt, hat viele Forscher in ihren Dienst gestellt und zu unzähligen Untersuchungen in vielen Richtungen den Anstoß gegeben. Indem die führenden Männer der neuen Lehre auch Nachbargebiete zu befruchten und noch weiter greifend die ganze Weltanschauung der Menschen umzugestalten suchten, indem sie ferner auch weitere Kreise außerhalb der Fachgelehrten zu erfassen und ihrem Einfluß zu unterwerfen strebten, ist der Darwinismus zu einer allgemeineren Kulturbewegung von weittragender Bedeutung geworden. Durch Übertragung biologischer Gesichtspunkte auf moralische, ethische und religiöse Gebiete wurde der Versuch unternommen, auf dem Fundament des Darwinismus eine Art von Naturreligion zu begründen. So nahm die von DArRwIN ausgehende, ursprünglich wissenschaftliche Umwälzung teilweise sogar den Charakter einer religiösen Bewegung an, gewann aber hierbei auch vielfach Züge des Fanatismus und der In- toleranz, welche der Wissenschaft als solcher fremd sind. In vielen Beziehungen wird hier ein ernster Wandel eintreten müssen, und er wird in demselben Maße rascher eintreten, als unter den Forschern und dann allmählich auch in Laienkreisen sich die Erkenntnis Bahn brechen wird, daß die Selektionstheorie und viele aus ihr gezogenen Folgerungen unhaltbar geworden sind. Dann wird die biologische Wissenschaft sich wieder der auch ihr gesteckten ‚‚Grenzen der Naturerkenntnis‘‘ bewußt werden und sich innerhalb derselben an der Bewältigung ihrer eigent- lichen Aufgaben betätigen, wie dies bei den exakteren Wissenschaften der Physik, Chemie und Physiologie schon längere Zeit der Fall ist. Der Umschlag wird auch dadurch erleichtert werden, daß wichtige Gebiete der Biologie sich schon immer ganz unabhängig von der eigent- lich darwinistischen Bewegung entwickelt und zum großen Fortschritt der biologischen Wissenschaft im letzten Jahrhundert und zu dem An- sehen, des3en sie sich jetzt erfreut, nicht zum wenigsten beigetragen haben, Ich erinnere nur an die ganz abseits vom Darwinismus gelegenen 668 Sechzehntes Kapitel. b- vielseitigen Fortschritte der Zellenlehre, an die bahnbrechenden Ent- deckungen auf dem Gebiet der Morphologie und Physiologie der Zeugung, an die Vollendung des Gebäudes der vergleichenden Ent- wicklungsgeschichte auf den von v. BAER gelegten Fundamenten, an die von MENDEL begonnene Bastardforschung und den Ausbau der- selben mit ihren vielversprechenden weiteren Zielen; ich erinnere ferner an die Erforschung der niedersten Lebewesen und ihre außerordentlich bedeutsame Rolle, die sie im Haushalt der Natur in verschiedener Weise, zumal auch als Ursache vieler Infektionskrankheiten spielen. Hier liegen bleibende und glanzvolle Errungenschaften der biologischen Wissenschaft und zugleich auch große Gebiete vor, auf denen sich für den methodisch vorgehenden und mit den technischen Hilfsmitteln vertrauten Forscher noch weitere Fortschritte erwarten lassen. Über viele Fragen, namentlich auf dem Gebiet der Vererbung, der Variabilität, der Mutabilität, der Beeinflussung der Entwicklung durch äußere Faktoren etc., wird das biologische Experiment noch wichtige Aufschlüsse bringen. Auch hier sind schon verheißungsvolle Grundlagen nach manchen Richtungen gelegt worden. Bei diesen Fortschritten werden allmählich auch die aus dem Dar- winismus erwachsenen Irrtümer, seine unzulänglichen Aufgaben und Ziele beseitigt werden. Unter ihnen haben am meisten die Fächer der Morphologie gelitten, welche sich der vergleichenden Methode bedienen, Ohne Frage hat in den letzten Jahrzehnten die vergleichende Anatomie und die vergleichende Entwicklungsgeschichte einen Stillstand inmitten des allgemeinen Fortschritts fast aller Wissenschaften erfahren. Be- sonders die vergleichende Anatomie, welche einst als die Königin der biologischen Wissenschaft geschätzt wurde, hat am meisten unter den ihr vom Darwinismus gesteckten Zielen gelitten. Sie begann ein Tummel- platz der verschiedenartigsten, sich widerstreitenden phylogenetischen Spekulationen zu werden. Hier muß man, wie ich schon im Schluß- kapitel des Handbuchs der vergleichenden Entwicklungslehre der Wirbel- tiere näher begründet habe, vor allen Dingen mit der vom Darwinismus großgezogenen Ansicht brechen, daß die vergleichend anatomischen Methoden als phylogenetische gehandhabt werden müßten und daß die durch Vergleichung nachgewiesene Homologie der Organe als Bluts- verwandtschaft zu erklären und im Rahmen eines phylogenetischen Systems zu verwerten sei. \ Gewiß blickt die heute lebende Organismenwelt auf eine Ahnen- geschichte von unendlicher Dauer zurück und auch von unserem Stand- punkt aus ist sie auf phylogenetischen Wegen aus einfachen Grundlagen 0 Zusammenfassung. 669 in ihrer heutigen Komplikation hervorgegangen. Aber für eine wirklich wissenschaftlich zu erforschende Genealogie fehlen, wie jeder einsehen muß, alle notwendigen Voraussetzungen. Darum ist in jeder Beziehung der Ausspruch von ALEXANDER BRAUN vollberechtigt: ‚Nicht die Deszendenz ist es, welche in der Morphologie entscheidet, sondern um- gekehrt, die Morphologie hat über die Möglichkeit der Deszendenz zu entscheiden.“ Ihre Aufgaben sind von der Abstammungslehre ganz unabhängig. Wie alle Naturwissenschaften, hat auch die Morphologie von dem Axiom auszugehen, daß alles Naturgeschehen sich nach bestimmten Gesetzen vollzieht, deren Erkenntnis Aufgabe der Forschung ist. Zwischen der leblosen Natur und dem Reich der Lebewesen besteht nach dieser Richtung kein prinzipieller Unterschied, sondern nur ein Unter- schied insoweit, als dort die Verhältnisse einfacher sind und sich leichter auf durchgreifende Gesetze zu- ruckführen lassen, während sie sich hier sehr viel mehr verwickeln und daher schwieriger in allgemein passende Formeln einkleiden lassen. Gleich den chemischen Körpern, deren Zusammensetzung sich in bestimmten Strukturformeln ausdrücken läßt, sind auch die so viel komplizierter gebauten pflanz- lichen und tierischen Gestaltungen in letzter Instanz nur der Ausdruck allgemeiner Bildungsgesetze, von welchen das organische Gestalten beherrscht wird. Ihre Ermittlung ist unser Ziel, mögen wir die Embryonalstadien verschiedener Tiere (vergleichende Entwicklungslehre) oder die ausgebildeten Endformen (vergleichende Anatomie) oder Embryonalstadien mit ähnlichen, ausgebildeten Form- zuständen in der Tierreihe vergleichen. Unter der Herrschaft der darwinistisch-naturphilosophischen Be- wegung ist auch in der Verwertung der Hypothese viel gesündigt worden. Es begann mit dem Jahre 1859 wieder eine Zeit übertriebener und ausartender Spekulation an Stelle besonnener Naturerklärung und damit auch eine Zeit einer überstürzten und sich steigernden Hypothesen- fabrikation, wie es in einer früheren Periode unter dem Einfluß der ÖOKEN-SCHELLINGschen Naturphilosophie der Fall war. Nun sind zwar Hypothesen ohne Frage für die Entwicklung der meisten Naturwissen- schaften berechtigt und notwendig; am wenigsten können sie in der Biologie, die es mit so vielgestaltigen Verhältnissen zu tun hat, entbehrt werden. Doch gibt es auch hier ein Maß in den Dingen und eine Grenze, wo ihre Berechtigung aufhört. 670 Sechzehntes Kapitel. Zusammenfassung. Im allgemeinen sollen durch eine Hypothese Reihen gleichartiger, gut beobachteter Tatsachen unter einen gemeinsamen Gesichtspunkt zusammengefaßt, der Gesamtwissenschaft eingeordnet, auf eine! ihnen gemeinsame Ursache zurückgeführt und aus ihr nach Möglichkeit erklärt werden. Man soll daher in der Regel nicht eine vereinzelte Beobachtung zum Ausgangspunkt einer Hypothese machen, am wenigsten dann, wenn die Beobachtung für sich nicht einmal als wirklich sichergestellt betrachtet werden kann. Ein gewissenhafter Forscher sollte eine Scheu davor haben, jeden Einfall als Hypothese — und sei es auch als Arbeits- hypothese — der Nachwelt zu überliefern, wenn er sich überlegt, zu wieviel Einfällen die so ungemein verwickelten Verhältnisse der Orga- nismenwelt bei morphologischen und bei physiologischen Untersuchungen für eine nur etwas rege Phantasie Gelegenheit bieten. Forscher, die fast jedes Jahr ihre Ansicht wechseln und über dieselbe Frage eine lange Reihe von Hypothesen aufgestellt haben, gehören nicht zu den Selten- heiten; bei ihnen bedarf es oft eines zeitraubenden Studiums, um der Metamorphosenreihe ihrer Ideengänge nachzugehen, zumal wo es sich dabei noch um eine Erhebung von Prioritätsansprüchen aus ihnen handelt. Auch in dieser Richtung wird uns die „Krisis des Darwinismus“ wohl einen heilsamen Wandel bringen. Die Notwendigkeit eines solchen wird schon von manchen Seiten empfunden. Bereits 1884 (l. c. p. 6) warnt NÄGELI vor den Auswüchsen der Spekulation: ‚Man hätte er- warten können, daß nach der naturphilosophischen Periode, welche in Deutschland viele der besten Kräfte für den Fortschritt der Wissenschaft unbrauchbar machte, die Ernüchterung hinreichend gewesen wäre, um uns auf dem eigentlich naturwissenschaftlichen Felde vor philosophischer Spekulation zu bewahren. Wir machen aber die Erfahrung, daß im großen und ganzen die philosophische, philologische und ästhetische Bildung immer noch so sehr die Oberhand hat, daß eine gründliche und exakte Behandlung naturwissenschaftlicher Fragen nur auf enge Kreise beschränkt bleibt, und daß auch ein größeres Publikum sich mit Vorliebe von einer sogenannten idealen, poetischen, spekulativen Darstellung angezogen fühlt.‘“ Noch viel bestimmter erhebt JOHANNSEN die Forde- rung: „Treatment — mathematical, philosophical and fantastical — may be disputable ; what we want in much higher degree than commonly admitted — are well analysed, pure and clear elementary premises.‘ Indem BAUR (IQI1, 1. c. p. 268) diese Worte anführt, fügt er ihnen eben- falls noch die kurze Aufforderung hinzu: ‚Viel mehr Experimentieren und weniger Theoretisieren ist die Parole für die nächste Zeit!“ Nachwort zur ersten und zweiten Auflage. In Anknüpfung an Gedanken der Einleitung schließe ich mein Buch über das Werden der Organismen noch mit einem kurzen Nach- wort an den Leser, der mir durch die verschiedensten Gebiete der Biologie gefolgt ist. Wenn er jetzt zum Schluß auf die mitgeteilten Ergebnisse der experimentellen Forschung und der vergleichenden Beobachtung zurückblickt, wenn er zugleich auch in der kritischen Analyse der Grund- lehren von DArwIn mit mir und anderen Naturforschern und Philo- sophen, die schon früher Ähnliches geäußert haben, übereinstimmt, wird er erstaunt sein, wie fast ein Menschenalter hindurch sich die Bio- logie von der Zufalls- und Selektionshypothese hat beherrschen lassen. Vielleicht wird ihm als Weg zur Erklärung die Andeutung dienen, daß Darwıns Lehre zu vielen Erscheinungen der modernen Entwicklung und des modernen Geisteslebens innere Berührungspunkte darbietet. Das Nützlichkeitsprinzip, die Überzeugung von der Notwendigkeit un- beschränkter merkantiler und sozialer Konkurrenz, materialistische Richtungen der Philosophie sind Mächte, die auch ohne DArwIN eine große Rolle in der neuzeitlichen Entwicklung der Menschen gespielt haben und noch spielen. Wer schon unter ihrem Einfluß stand, begrüßte gern den Darwinismus als eine wissenschaftliche Bestätigung ihm schon anderweit vertrauter, lieb gewordener Ideen. Er konnte sich jetzt selbst gleichsam im Spiegel der Wissenschaft schauen. Die Auslegung der Lehre Darwıns, die mit ihren Unbestimmtheiten so vieldeutig ist, gestattete auch eine sehr vielseitige Verwendung auf anderen Gebieten des wirtschaftlichen, des sozialen und des politischen Lebens. Aus ihr konnte jeder, wie aus einem delphischen Orakelspruch, je nachdem es ihm erwünscht war, seine Nutzanwendungen auf soziale, politische, hygienische, medizinische und andere Fragen ziehen und sich zur Bekräftigung seiner Behauptungen auf die Wissenschaft der dar- winistisch umgeprägten Biologie mit ihren unabänderlichen Natur- 672 Nachwort gesetzen berufen. Wenn nun aber diese vermeintlichen Gesetze keine solchen sind, sollten da bei ihrer vielseitigen Nutzanwendung auf andere Gebiete nicht auch soziale Gefahren entstehen können? Man glaube doch nicht, daß die menschliche Gesellschaft ein halbes jahrhundertlang Redewendungen, wie unerbittlicher Kampf ums Dasein, Auslese des Passenden, des Nützlichen, des Zweckmäßigen, Vervollkommnung durch Zuchtwahl etc. in ihrer Übertragung auf die verschiedensten Gebiete, wie tägliches Brot, gebrauchen kann, ohne in der ganzen Richtung ihrer Ideenbildung tiefer und nachhaltiger beeinflußt zu werden! Der Nachweis für diese Behauptung würde sich nicht schwer aus vielen Erscheinungen der Neuzeit gewinnen lassen. Eben darum greift die Entscheidung über Wahrheit und Irrtum des Darwinismus auch weit über den Rahmen der biologischen Wissenschaften hinaus. Ich beschränke mich darauf, diesen Gesichtspunkt hier noch an- gedeutet zu haben. Es liegt mir fern, in einem Buche, in dem ich die Frage nach dem Werden der Organismen vom Standpunkt und inner- halb der Grenzen des Naturforschers mit den ihm eigenen Methoden behandelt und den Irrtum der Zufalls- und Selektionstheorie aufzu- klären versucht habe, das Gebiet der biologischen Wissenschaft zu überschreiten. Auch in der zweiten Auflage bin ich diesem Grundsatz treu geblieben. Dagegen habe ich inzwischen die in den vorausgegangenen Sätzen angedeutete Ergänzung zu meinem „Werdender Organismen“ in einer zweiten kleineren, im Januar 1918 erschienenen Schrift (Jena, Gustav Fischers Verlag) geliefert und ihr den Namen: „Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus“ gegeben. Schon der Name zeigt das Programm und den Inhalt der Er- gänzungsschrift an. Ich halte dieselbe für eine Notwendigkeit, weil die von DARWIN entwickelten Prinzipien schon bald nach ihrer Veröffent- lichung im Jahre 1859 nicht auf das engere Gebiet der Entstehung der pflanzlichen und tierischen Art beschränkt geblieben, sondern zwar nicht von DArRWwINn selbst, aber doch von seinen Anhängern zu vielen verschiedenartigen Nutzanwendungen verwertet worden sind, von denen kaum ein Gebiet der menschlichen Kultur unberührt geblieben ist. Register. A. Abortiveier 111. _ Acridium (Färbung) 487. Actinie 382, 403. Äquivalenz der weibl. u. männl. Kern- masse IOI, 532, 550. Affinität 29, 48, 49, 168. Afterklaue 203, 433. Ahnen 230. Ahnenreihe 212, 230. Ahnenplasma 241. Ahnenprobe 232. Ahnentafel 223, 230, 644. Ahnenverlust 225, 23I, 232. Alkoholmißbrauch 554. Allelomorphs 76. Algen (Chlorophyllfärbung) 372. Ameisenstaat 458. Amphimixis 98. Amphioxus 126. Andalusier, blau 672. ‚Anencephalie 335, 549. Animalkulisten 8, 98, 135. Anlage 33, 55, 57, 69, 74, 207, 492, 525, 531, 532, 545- Anpassung, doppelte 305, 453, 464, 400. Anpassung, ontogenetische 214, Bei- spiele 214. Anpassung der Organismen an die Um- welt 361, im Pflanzenreich 367, Be- deutung des Chlorophylis für den Bau der Pflanzen 369, der mechanischen Gewebe 374, im Tierreich 377, Beispiel tierischer Ernährung 378, Atmungs- organe 383. O. Hertwig, Das Werden der Organismen. Anpassung zweier Organismen an ein- ander 436, 44I, 455, der Mundwerk- | zeuge der Insekten 446, der Blüten an Insektenbesuch 451, zwischen beiden | Geschlechtern 461. | Arbeitsmittel 139, 142. | Arbeitsteilung (physiologische) 58, 119, | 136, 289, 398, 438, 457, 655, 657. ı Argusfasan (Augenflecke) 484. Art (Linn&sche) 272, 622, elementare 273, 274, Unter- oder MENnDELsche 273, 276, 622. Artbegriff, Art, siehe Spezies 256, 259, 622. \ Artdiagnose 261. ‚ Artkonstanz, siehe Konstanz der Arten. | Artzelle 26, 5I, 70, II, 204, 492, 507, 522, | 345. Artemia salina 505. ‚ Artiodactylen 432. ‚ Ascaris megalocephala 102. Aszendenten 230. Atavismus 495. Atavisten 348, 351. Atmung 155. Atmung im Wasser durch Kiemen 385, in der Luft durch Lungen 389, im em- bryonalen Leben durch Allantois und Placenta 393. | Atome 25, 37. Auge von Euglena 405, von Erythropsis 405, von Medusen 407, von Polyophthal- ' mus 408, von Ascidien 408, von Nau- | tilus 4ıı, von Helix gıı, von Phyllo- doce q4ıı, von Alciope 4ı2, Vergleich 2. Aufl. 43 674 zwischen den Augen der Cephalopoden und der Wirbeltiere 412—418, 635. Augenflecke, augenähnliche Flecke 484. Auslese, Auswahl 599, 610, 616, 664, 665. B. Bacillus pyocyaneus 557. Bakterien (Urzeugung von) mehrung 220. Bastarde 72, 545. Bausteintheorie 54. Befruchtungsprozeß 94, Biologische Theorie der Befruchtung 98. Bienen :299. Bienenstaat 458. Bildungstrieb 15, 55. Binomialformel 321. Biogenetisches Grundgesetz 174, 600, Umwertung desselben 187, 204. Biologie (Stellung zu Chemie und Physik) 23° Biologische Verbindungen 34. Biotypen 278. Blastophorie 550. Blattheuschrecken 477. Blattschmetterlinge 477- Bleivergiftung 555. i Blutsverwandtschaft 168, 641. 4, Ver- 184, ca Callima paralecta 477- Centrosome 28, 64, IIO. Cetaceen 482. : Chemotaxis der Samenfäden 3060. Chitinskelett 574, 575. Chorophyll-Körner, -apparat 67, 143, 309, 637. Chromatin 549 Chromosome. 28, 62. Cirripedien 198. Crista sterni 158, 430. Cuscuta 440. D. Darwinismus 585, 59I, 648, sozialer und politischer 672. Descendenztheorien 585, 592, 598, 603. Determinanten 496, 497, 502, 505, 507, 5II, 583. ethischer, . Register. Differenzierung I1g, 136. Dihybride 72, 85. Dimorphismus 290. Dinophilus 297. Dionaea 444. Direkte Bewirkung 614. Dominanten 20, 145. Draba verna 274. Drosera 442. Dualismus 601. Dunkelkammeraugen 410. Duplicitas ant. 129. E,, Eier 57. Eikern 97. Eireife 102, 110, II, Eidechsen (Färbung) 487. Eigenschaftsanalyse 529. Einschachtelungstheorie 6, 55, 135, 506, 507. Einsiedlerkrebs 576. Elektrone 26. Elementareigenschaften 529. Elementarorganismus 28, 53. Empfängnishügel 95. Energiden 134. Engramm 582. Entdifferenzierung 152. Entelechienlehre 20. Entenmuschel 482. Entwicklungsgesetze allgemeine, s.Gesetz, Epigenesis 3, 12, 55, 135,511. ‚Epithelmuskelzellen 398. Equiden (Extremität) 434. Erbeinheiten 29, 75, 338, 528. Erbträger 74. Erbformeln 77. Erythropsis agilis 405. Euglena viridis 405. Evolution 3. Evolutionisten 502, 5006. F. Faktoren 75, realisierende, äußere 532, 537- Färbung der Haut bei Tieren 483. Fasziation 330. “ Register. ‘Federn der Vögel 427. Flechten (Symbiose) 436. Fleischiresser 468 Flossen 178, 423. Flugwerkzeuge bei fliegenden Säugetieren 425. Fortbewegungswerkzeuge zu Land, Wasser und Luft 421. Funaria hygrometrica 124. Insekten, Funktion 138, funktionelle Anpassung 598, 603. Funktionswechsel 15I, I9I, 195, 2II, 390, 450. Furchungsprozeß 177, 513. G. Gameten 57. Gasträatheorie 600. Gastrula (Gastrulastadien) 183, 207, 379. Gedächtnis 580. Gehörknöchelehen (Entstehung durch - Funktionswechsel) 191, 195, 212. Gene 29, 33, 75, II5, 338, 523, 528. Genealogie (Wissenschait der G.) der Organismen 640, 669. Genealogisches Netzwerk 223, 230, 045. Generatio aequivoca 4. Generationswechsel 121, 209, 205, 339. Generationsfolge 222. Germinalselektion 491, 499, 500, 599, 655, 657. Gerste 618. Geschlechtsbestimmung (experimentelle) 91. Geschlechtschromosomen 295. Geschlechtsmerkmale (äußere) 290. Gestaltungsgesetze 147, 638. Gesetz des Zellteilungsprozesses 60, der Kontinuität der Kerngenerationen 61, des proportionalen Kernwachstums 64, Gesetze der Entwicklung 71, 136, 177, 220, 254, 636, 638. Inneres Entwick- lungsgesetz 200. Gewebe 139. Gnaphalium leontopod. 302. Granula 28, 66. Gregarine, Entwicklung derselben ı21. Grundwissenschaften 23, 24, 25, 35. Vögeln, 675 H. Hämoglobinurie 169. Halbkern ıı2, I13. Haustorien 440. Hefepilz 557. | Heliconiden (Mimiery) 478. in | Hemikranıe 335. Hemmungsmißbildungen 335, 404. Hermaphroditismus 290. Herzentwicklung 180, ‘und Kreislauf (Kiemen- u. Lungenkreislauf) 182. Heterochromosomen 295. Heterochronie 214, Beispiele dafür 217 bis 221. Heteromorphose 420. Heterozygote 76, 83, 612. Hieracium 301. Höhlenfauna 202. ‚ Homologie 641. Homozygote 76, 82, 612. Hormone I61I, 170. Hyalodaphnia 325. Hybride 72. ‚Hydatina senta 292. Hypothese 669, 670. ıE ı Id 498. | Idioplasma 70, 117, 492. ' Idioplasma, Kombination von zwei Arten 338, 339, 611. Idioplasmatheorie 100, 490. Individualität 53. | Infusorien (Urzeugung von) 4. Insektenbesuch von Blüten 451. Insektenfressende Pflanzen 441. Integration 119, 144. Interpolation larvaler Organe 214, 210. Intraselektion 500, 653, 057. Inzucht 70. Irisblende 410. K. Kampf ums Dasein 592, 594. ‚ Kampf der Teile im Organismus 653. Karyokinese 62, 104. | Keimbahn 498, 518. ‚ Keimblätter 380. Keimchen (DARWwIN) 495, 502, 504. 43° 676 Keimkern 97. Keimplasma 496, aktives und inaktives 498. Keimplasmahypothese (WEISMANN) 49I, 494, 496, 505. Keimzellen 33, 53, 55, 57, 08, 71, 94, 518, 547- Kern 61, generative und nutritive Funk- tion desselben 65, Kern der Infusorien 66. Kernspindel 62. Kernidioplasmatheorie 496, 548, 550. Kernteilung 61, 62, erbgleiche 497. Kiefergelenk, primäres 193, sekundäres 194. Kiemen-Atmung 3806. Kiemenkreislauf 182. Koadaptation siehe Korrelation. Köcherfliege 576. Kombination zweier Idioplasmen 611. Konkurrenz 598, 627. Konstanz der Arten 286, 338, der Eigen- schaften 539. Kontinuität der Zellgenerationen 60, Kerngenerationen 61. Naturzüchtung, 100, 117, 132, Konvergente Konver- genz 404, 414, 430, 432, 636. Korpuskel (radioaktive) 37. Korrelation, Koadaptation 119, 156, 655, Beispiele vom ausgebildeten Organis- mus 157, von Individuen eines Tier- staates 457, von ober- und unter- irdischen Teilen der Pflanzen 157, Crista sterni 158, Sekundäre Ge- schlechtscharaktere 160, Beispiele vom sich entwickelnden Organismus 163. Kraft (Begriff) 19, 38. Kreislauf des Lebens 467. Kreuzung 72. 167 Lamarckismus 500, 585, 588. Lebenskraft 19, 39, 49, 629. Lepas anatifera 482. Leptinatarsa 354, 553. Leptodiscus medusoides 481. | Register. Linsenbildungen verschiedener Art im Tierreich 419, 483. Lithiumlarven 332. Lungenatmung 389. Lungenkreislauf 182. M. Makrosporen 298. Maschine (Vergleich mit Lebewesen) 41. Maskierung 489. Mechanismus 19, 43. Mechanistische Richtung der Biologie 21. MENDELS Forschungsrichtung 71, 612. MENDELS Kreuzungsregeln 78, 339. Merkmale bei der Vererbung (domi- nierende, latente oder rezessive) 73. Merkmalspaare 76. Metamorphosen in der Entwicklung 175, Beispiele vom Achsenskelett, Niere, Herz 176, von Sacculina 196. Micellen Io1. Micellartheorie 101. Migration 633. Mikrokosmus der Keimzelle 69. Mikrosporen 298. Milzbrandbazillus 556. Mimicry 362, 475, 48I, 488, 490. Mirabilis Jalapa 72. Mischlinge 72. Mißbildungen 129, 165, bei Pflanzen 327, bei Tieren 332. Mistel 440. Mittelwerte 323. Mneme 581. ı Modifikationen 287, 533, 534, 538. ‚Mohn (Pistillodie) 328. Moleküle 25, Konstitution derselben 30, 41. Monismus 601. Monohybriden 72, 78. Monophyletische Deszendenz 640. ' Monstrositäten 165, 326, 547, bei Pflanzen 326, bei Tieren 332. Morphologie (als Grundwissenschaft) 23, ihre Stellung zur Chemie 35. Morphologische Merkmale (Selektions- wert) 636. Mosaikarbeit 165. Register. Mosaiktheorie der Vererbung 242, 512. Mundwerkzeuge der Insekten 446, bei- Bende 447, leckende und saugende 449. Musterung der tierischen Haut 483. Mutabilität 288, 338. Mutanten 287. Mutation 338, 339, 344, 535, 536,, 545, 558, 563, 569, 614, im Pflanzenreich 345, von Chrysanthemum 347, von Linaria vulgaris 349, von Chelidonium maj. lacin. 352, im Tierreich 354, von Leptinotarsa 354, von Schmetterlingen 357, vom Ancon- oder OÖtterschaf 358. N. Nahrungspolymorphismus 301. Natürliche Zuchtwahl 592, 594, 625. Naturreligion 667. Naturwissenschaftliche Erkenntnis, Gren- zen derselben 45. Naturzüchtung, Allmacht derselben 499, 500, 602. Nautilus 482. Neovitalismus 20. Nepenthes 445. Nervenring 403. Nervensystem 156, 3906. Neudarwinismus 601. Neuromuskelsystem 402. Niere 162, 176. Nisus formativus 16, 55. Nomenklatur, binäre 260, 273, ternäre 275. Nukleolen 64, 65. Nützlichkeitsprinzip 666, 671. 0. Ocellus 405, 406, 408. Ontogenetische Anpassung 214. Ontogenetisches Kausalgesetz 33, 68, 206, 263, 579. Ontogenie 213, 214. Organisation (Wesen und Bedeutung) 23, 43, 628. Originalreiz 565. Orobanche 440. Orthopteren (Mimicry) 479. Öscillarien 371. Ovisten 8, 98, 135. Ovogenese 94, 106. 677 52 Paarhuter 432. Pangenesis 494, 507. Panspermie 3, 9, 55. Papaver somnif. (Pistillodie) 328. Parallelinduktion 565, 566, 569. Paramaecium 311. Parasiten, pflanzliche 439, tierische 468. Passiv wirkende Organe 574. Paukenhöhle 196. Pedigreekultur 281. Pelagische Fauna 472. Pelorie 330. Pentadaktylie, Grundform der Wirbel- tierextr. 432. Perissodaktyla 432. Personalselektion 501, 599, 658. Petalodie 328. Petalomanıe 328. Pfau (Augenflecke) 484. Pferd 621. Pferdespulwurm 102. Pflanzenfresser 468. Pflanzengeographie 362, 470. Phaenotypus 90. Phototaxis 366, 404. Phylloxera 297. Phylogenie 586. Physiologie (als Grundwissenschaft) 23, ihre Stellung zur Physik 38. Pieriden (Mimicry) 478. Pigment (verschiedene Verteilung Auge) 419. Pinguicula vulg. 443. Pinnipedier (Flosse) 423, 425. Pistillodie 328. | Placenta 404. ı Podophrya gemmipara 121. | Polartiere 470, 471. ‚ Polygonum amphibium 305. Polyhybriden 72, 89. Polymerisierung 32. Polymorphismus der Individuen 264, 289, 298, 450, 459. Polyphyletische Deszendenz 640. Polypodium vulgare 304. Polythalamien 482. Polzellen 106, 110. im "678 Potenzierung der Artzellen 119, 130. Präformierte Anlage 134. Präformation 3, 55, 99, 134. | Seeigelei, ‚Register. .Schwielen 573. das Studienobjekt für Be fruchtung 94. Primula 274, Pr. sinensis 306, 533, 536, | Seeschildkröten (Flossen) 423, 425. 537- Prinzip der individuellen Nachkommen- beurteilung 280, 616. Prinzipien der Entwicklung 119. Probien 29. Prospektive Potenz 165, 212, 499, 512. Proteus anguineus 396. Prothallien 291. Protoplasmaprodukte 141. R. Radioaktive Substanzen (Radium, Meso- thorium) 548. 294. Reaktion der Organismen I. peraturveränderungen 362, bei Proto- plasmabewegung. 362, 363, bei embryonalem Wachstum 364; auf chemische und photische Reize 365. Reduktionsprozeß 102, Regeneration 125, 151. Reizstoffe I6I, 170. Reine Linien 225, 278,. 316, 617, 622. Reinzucht 632. Rekapıtulationstheorie 184, 204, 2IO. Reproduktion 579, 581. Reservekraft 162. Rhizocephalen 197. Richtungskörper Io6, IIO. Rudimentäre Organe 200, 302. 2 105, 113, 532. S. Saccharomyces 557. . Sacculina 196. Saisondimorphismus 289, 298, 533, 537- Samenfäden 57, 348. Samenkern 97. Samenreite Io2, IO6, 113. Schlundspalten, -bögen 178, 190, 196, 208, 211. Schmetterlinge 298. Schutzfärbung 362, 488, 490. bei Zellteilung | Selektionstheorie 254, Sehorgane 404. Selbstregulierung 503. ‚Selektion 599, 610, 616, 664, 665. 571, 592, 598, 603, 604, 619. . Selektionswert 630. Sensible Periode der Keimzellen 356, 563. Serumforschung 168. Simultane Reizleihung 565, 566. Siphonophoren 456. Situationsvorteil 634. Skelett 178, 179. , Somatische Induktion 565. Rana esculenta (Geschlechtsbestimmung) Somatische Zellen 120. Somationen 287, 535, 558. auf Tem- | Sonderung, morphologische und histo- logische 141, siehe auch Arbeitsteilung und Differenzierung. i Soredien 439. Spaltungsregel von MENDEL 34, 8I, 14, 532% ‚ Spermiogenese 94, 106. , Spezies, Konstanz derselben 259, 273, Lınn&sche 272. Speziesbegriff 256, 622. Spina bifida 333, 404, 549. Sporen 57. Stabheuschrecken 477. Stammbaum, Stammtafel 222, 223, 245. Stammesgeschichte 586. Standortsmoditikationen (Varietäten) 289, 301. Stereochemie 25, 30. Stirp. (GALTON) 498. Strukturchemie 25. Summierung der Erbmasse 102, 105. Symbiose 437. Sympathische Färbung 471, ss. , Synapsis 107. System der Org 2506. Sk Taraxacum 302. ’ Teilung der Zelle, erbgieiche 120. BE: Register. 679 a '3, 12, Evolution 3, Panspermie 3, 9, _ Präformation 3. _ Tiergeographie 362, 470. _ Tierstaaten, Tierstöcke (Bienen, Ameisen, Pf Termiten) 456, 457- Tod der Lebewesen 246 bis 255. _ Transfusion 169. Transplantation 168. _ Transporthypothese von DARWIN 497, = 515. Tritonei 129. Trommeltfell 196. U. r Überleben des Passenden 626. Umschlagsvarianten 289, 301. Unpaarhufer 432. Uratome 27. Urdarm, Urmund 184, 379, 403. Ureier 60. Ursamenzellen 60. Urniere 176, 203. Urtica pilulifera und Dodartii 72. Urzeugung 3, 4, 12. V. Variabilität 279, 287, 288, 539, Beispiele der fluktuierenden Variabilität beim Mensch 311, bei Bohnensamen 312, bei Chrysanthemum 315, Ursachen der | fluktuierenden Variabilität 317, 610. | Varianten 279, 287, 288, 616, des Ge- schlechts 289, des Standorts 289, 301, | fluktuierende oder lineare 289, 306, monströse 289, 326. Variation, lineare oder fluktuierende 278, 306, 308, 610. Variationskurve 310. Variationspolygon 310. Varietäten 276. Vegetative Affinität 168. 'Vegetative Vermehrung 150. Verbänderung' 330. Verbindungen, biologische 34, 54, II7, harmonische und disharmonische 169. Verbreitungsweise 'der Organismen 467. Vererbung 73, in reinen Linien 225, Pro- blem der Vererbung 491, 507, 521,-560. Verjüngung 246. Verwandtenheiraten 23I, 233. Vierergruppen 107, II3. Vis essentialis 15. Visceralbögen 190. Visceralskelett 190, 193. Viscum album 440. Vitalismus 19, 39, 43. Vollkern 114. Vorentwicklung 132. Vorniere 176. W. Wachstum, formatives und Massenwachs- tum 132, ungleiches 172. Wachstumsreize, formative, organbil- dende, strukturbildende 140. Walfische 482. Wahlvermögen, akkumulatives 593, 619. Wahrscheinlichkeitsrechnung 318, 321. Warzenschwein 573. Wasserknöterich 305. Weismannismus 601. Weizenrassen 618. Weltanschauung 23, 601. Wirbelsäule 178. Wüstentiere 470, 471. Z. Zahlengesetz der Chromosomen 62, 112. Zahnleiste der Wirbeltiere 570. Zahnsystem 201. Zelle 26, 5I, 53, 54, 149. Zelleneigenschaften 74. Zellenkern 28. Zellenstaat 53. Zellteilung, Zellvermehrung 60, 119, Mechanismus derselben 171. Zeugung, heterogene 120. Zeugungslehre 54. Zeugungskreise ‚262, 265. u 680 . Register. Zeugungstheorien I, 16. ‚ Zwangsdrehung der Stengel 330. Zeugungsvermögen 226, Beispiele für Zweckbegriff 600, 648, 665. dasselbe 226—230. Zweckmäßigkeit, Zweckverbände 657. Zuchtwahl 609, 620, 624, 625. Zygote 76, 114. Zufallskurve 323. ‚ Zyklomorphose 325. Zufallstheorie, Zufall 602, 604, 664. Zyklopenauge 336. G. Pätz’sche Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. () R I . = y { ‘ ’ « - ne P) s e Y u # u BIN E ig u En N ? ' BER i e- u ‚ “je ’ x ö « \ i Kr e - W _ N, 5 a A / u ’ Ä ) ” = 2 - . of j - ’ . a . I ’ N ’ x ' au 7 2 “ ‘ PLEASE DO NOT REMOVE CARDS OR SLIPS FROM THIS POCKET UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY QH Hertwig, Oskar 366 Das Werden der Organismen H52 1918 Biologie Try een 2 ee ee uk ehrbeen bien stegeineen. uhr ae premend IHRE mer stet 41, Hein nern Ba en or ee DEI HEIE r abe. eher Denen “res: ET FR ae Aare ren DIE TE ce A -4 ee! une nl here tan IE BLOSLBLSSEE TER EINE “ he NE ehBENTE + ICHIMEE Tue - rel u ? 124.41 ed erh hraran at hoher er en Kann nr ai ar 7 ir HEHE beeER. Yerh en y ..rn.n.. Fripie meinen r . EZ LEIwer TE a Mu x a 2; eltiejeitur?, BE te a TT HH Huhn er unteren e each (m al un min ar one Eh 6 ne DE Re ' Bot Arme: Bat Bet A RN En I. 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