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Der ethische Gehalt des Gorgias.

Inaugural-Dissertation

zur Erlangung der Doktorwürde

der hohen

philosophischen Fakultät der Kgrl. Universität Breslau

vorgelegt

and mit ihrer Genehmigung veröffentlicht

von

Elisabeth Thiel.

Dienstag, den 8. Aug-ust 1911, mittagfS 11 Uhr

in der Aala Leopoldina

Vontrag :

„Die Ekstase als Erkenntnisform bei PiotlD"

und

«

Promotion.

Breslau

Druck von H. Fleischmann

1911

I

Gedruckt mit Genehmigung der hohen philosophischen Fakultät der Königl. Universität Breslau.

Referent: Professor Dr. Baumgartner.

Dem Andenken meiner Mutter

gewidmet.

L

Vorwort.

Dass unter den grossen Lehrern der Menschheit Plato einer der grössten ist, darüber sind alle einig; was den eigentlichen Kern seiner Lehre und seiner geschichtlichen Wirksamkeit bildet, darüber wird gestritten. Wie lässt sich am ehesten dieser Streit entscheiden? Wir meinen, durch eine genauere Durchdringung der einzelnen Schriften des unvergleichlichen Mannes. Die letzten Jahre haben eine Reihe von Gesamtdarstellungen der platonischen Schriften gebracht. Welches Verdienst sie auch immer haben, dem Streite über Plat o's Grundanschauung haben sie kein Ende gemacht, sondern nur neue Nahrung zugeführt. In vielen Punkten scheint es, dass man von vorn beginnen muss. Solche Gesamtdarstellungen gehen von festen Voraussetzungen aus, die man sich bemüht in den einzelnen Schriften durch- zuführen und als zutreffend zu erweisen. Hat solche Arbeits- weise ihren Wert, so hat sie doch zugleich ihre Gefahren. Weil man voreingenommen ist, übersieht man, was dasteht und trägt hinein, was fremd ist. Vielfach vergisst man, dass Plato in seinen Schriften wesentlich als Künstler, als Darsteller wirken will; dass er Menschen, Gedankenrichtungen, Probleme zu konkreten Gestalten verdichtet; dass er von unerschöpflicher guter Laune, heiter, geistreich, aber auch streng und herbe, abweisend, vernichtend ; dass er über- haupt vielgestaltig ist und man niemals bei ihm an ver- schiedenen Stellen das Gleiche erwarten darf. Darum meinen wir, muss man, um den Philosophen philosophisch zu wür-

digen, diejenigen Schriften, die für seine Art die be- zeichnendsten sind, jede einzeln vornehmen und sich eng an das an dieser Stelle Dargebotene halten, um erst dadurch schrittweise zu einer Gesamtauff'assung der platonischen Philosophie vorzudi-ingen. Dazu haben wir uns zunächst an dem „Gorgias" versucht, die Untersuchung anderer Dia- loge uns vorbehaltend. So bitten wir denn, was wir hier als nach Kräften sorgsame Aufzeigung des philosophischen Gehalts dieses einzelnen platonisclien Werkes von hervor- ragender Bedeutung zu bieten vermögen, freundlich aufzu- nehmen, gewissermassen als Anzahlung auf eine ähnliche Durchforschung anderer Schriften des Meisters, die eine gesicherte Gesamtauflfassung vorzubereiten bestimmt ist.

Disposition der Abhandlung.

Seite Einleitung: 1. Die Ansichten über den Zusammenhang der

platonischen Schriften ......... 9

1. Methodiker; 2. Genetiker; 3. Isolierende 2. Piatos Absicht in seinen Dialogen 23

1. Der Dialog und die Darstellung einer wissen- schaftlichen Theorie.

2. Platonische Dialoge und platonische Lehre

3. Die wirkliche BeschalTenheit der platoni- schen Dialoge.

4. Der Wert der Berichte des Aristoteles über Piatos Lehre.

Abhandig: Der ethische Gehalt des ^Gorgias"

L Ueberblick über den Inhalt des „Gorgias" 28

IL Der wesentliche Gedankengehalt des „Gorgias" ... 82

1. Der Gegensatz zweier Richtungen.

2. Die Erörterung über die Redekunst.

3. Der Dialog „Gorgias" und die Sokratik.

4. Episoden und Illustrationen.

III. Die Personen des „Gorgias" 41

1. Gorgias; Polos; Kallikles.

2. Sokrates.

IV. Der Beweisgang im „Gorgias" 53

V. Die Gliederung des „Gorgias" 71

VI. „Gorgias" und die anderen platonischen Dialoge. . . 75

1. Urteil über die Rhetorik.

2. Urteil über die Staatsmänner.

3. Ansicht vom Jci^seits.

4. Die Gestalt des Sokrates.

5. Erkenntnislehre

Vn. Die Ergebnisse der Untersuchung 84

Schluss : Die bleibende Bedeutung des „Gorgias".

Einleitung

1. Die Ansichten über den Zusammenhang" der Platonischen Schriften.

Ehe wir an den eigentlichen Gegenstand dieser Ab- handlung, die Betrachtung des platonischen „Gorgias", heran- treten, sei es uns gestattet, einige Bemerkungen vorauszu- schicken über die Schwierigkeiten, die die platonischen Schriften schon durch die dialogische Einkleidung dem- jenigen bereiten, der aus denselben das System von Gedanken entnehmen will, das Plato als seinEigentum zuzuschreiben ist.

Wenn man neuere Schriften über Piatos Gesamt werk, wie diejenigen von Kühnemann, Natorp, Raeder, Constantin Ritter zur Hand nimmt, wir werden die Bücher dieser hervorragenden Männer nachher genauer be- zeichnen — , so ist der erste Eindruck der, dass man vielleicht allzu unmittelbar einen bestimmten Schatz von Ansichten, die in diesen Dialogen von den darin das Wort führenden Personen vorgetragen werden, als Piatos eigene Ansichten versteht, die er seinen Personen in den Mund gelegt habe. Zuweilen auch, und so besonders bei Natorp und Ritter, möchte man nachdem, was sie Plato als seine Lehre zuschreiben oder absprechen, auf die Vermutung kommen, diese Forscher hätten gedacht, eine Meinung, die sie für „phantastisch" halten, könne dem Plato unmöglich zugetraut werden, und eine Reihe von Sätzen, die ihnen festzustellen scheint, müsse notwendig sich bei Plato wieder-

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finden lassen. So erklärt man z. B. die Lehre von den Ideen, wie sie Aristoteles dem Plato zuschreibt, aus dem Grunde für ein völliges Missverständnis dessen, was Plato wirklich vorträgt, weil man sich nicht überzeugen kann, dass Plato so tief in der Metaphysik gesteckt habe. So sucht man nachzuweisen, dass Piatos Lehre von der Erkennt- nis und von dem Verhältnis des menschlichen Denkens zu dem objektiv Existierenden mit Kants transcen dentalem Kritizismus, zu dem man sieh selber bekennt, im wesent- lichen übereinstimmt. Wir erinnern an Ausführungen wie die von Natorp, Piatos Ideenlehre S. 3(56 436, oder von Ritter, Piaton S. 564—586. Die Bedenken, die wir er- heben gegen diese Art, platonische Schriften auszulegen, wollen wir zuvor andeuten, um den Weg, der uns der richtigere scheint, in der Erfüllung unserer besonderen Auf- gabe nachher um so sicherer betreten zu können. (Vgl. Lutoslavvski, Origin and growth of Piatons Logic. 1897 p. 236).

Seit mehr als 2000 Jahren stellt man Theorien über Theorien auf, um zu einem endgültigen, zusammenhängenden Verständnis der platonischen Philosophie zu gelangen. Immer neue Seiten des grossen verwickelten Geheimnisses „Platon" sind dadurch aus dem Ewigkeitsgehalte seiner Werke zu Tage gefördert worden; aber immer noch bleibt das Problem, an dem jedes Zeitalter nach dem Masse seines Veimögens und des erworbenen Materials an Erkenntnissen wird arbeiten müssen, um sich in stetem Fortschritt dem Ziel zu nähern.

üeber den Plan, der Plato bei Abfassung seiner Schriften leitete, über Echtheit und Zeitabfolge seiner Dialoge ist seit dem Altertum gestritten Avorden, und noch immer ist ein Ende jener wissenschaftlichen Streitigkeiten nicht abzu- sehen. Noch immer weisen die Ansichten der bedeutendsten Forscher in Bezug auf viele der wichtigsten Punkte des platonischen Systems wie über Plato und seine Lehre über- haupt weitgehende Discrepanzen fiuf. So ist, um nur einige

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Beispiele zn erwähnon, Plato nach Tennemaiin') der dunkle Esoteriker, der mystisch seine wahre Lehre verbirgt; nach Schleiermacher'^) der methodische Dialektiker; nach Ritter^) der anregende Didaktiker. Ast*) bezeichnet ihn als die Idee der Philosophie selbst: Bonitz^) betont das ver- mittelnde Band der einzelnen in sich abgeschlossenen Werke. K. F. Hemiann") sieht in Piatos Sciuiften das Spiegelbild seiner Geistesentwicklung; Munk') wie auch Patrizzi") er- blickt in dem Phih:»soj)lien hauptsächlich den Biographen des Sokrates. Susemihl'-'j nimmt mit Ueberw^eg'^j eine ver- mittelnde Stellung zwischen den Ansichten Schleier- machers und K. F. Hermanns ein. Zeller'^) lässt in Plato vor allem den der nichtigen Welt des Scheines ab- gewendeten, zum Schauen des absolut wahren Seins sich erhebenden Philosophen, den Verkimdiger der Welt der Ideen hervortreten; Teichm üUer*^) hält Piatos Lehre für eine mystische Erlösungslehre, seine Schriften grossenteils

') Tennemann, System der ph\t. Phil. I S. 125 152: be- sonders 128f; 137—141; 149 f. Geschichte der Phil. Bd. 2, S. 203—222.

*) vergl. F. Schleiermacher Einleitung zu Plutons Werken. Berlin 1855 Teil 1 Bd. I p. 30.

•"') C. Ritter neue Untersuchungen über Piaton. München 1910. p. 366.

*) Ast, Uebers. v. Piatons Werken I. Einltg. S. 16-28 41-48.

^) Platonische Studien 2 nam. Vorwort.

^) Hermann, Geschichte und System der platonischen Philo- sophie, S. 313 - 357, 368 - 384.

') Munk, die natürliche Ordnung der platonischen Schriften, S. 12; 25-58.

'') vgl, W. Lut oslawski, Origin and growlh of Plato's Logic. London l'JOö p. 43

^) Suse mihi, die genetische Entwicklung der platonischen Philosophie, Bd. I Vorwort S. 8 und 13: Bd. II, Vorw. S. 7-13.

^'^) F. l'eberweic, Grundriss der Geschichte d. Philosophie Bd. I 131 f.

") Zeller, Goschichte der Philosophie der Griechen, Bd. II, 13 S. 374-378: 445 ö', 470-477, 490 f, 541.

12) Teichmüllcr, Lit. Fehden im 4. Jahrh. v. Chr. Bd. I, S. 11, 13. Änm. S. G7, 75-90: Bd II, S. 10, 14. S."), 107, 235.

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für Streitschriften; während endlich Krohn^), der in Plato nur den grossen Ethiker erblickt, den Schwerpunkt des Piatonismus in die Transcendenz des Guten verlegt.

Welche von allen diesen Ansichten ist nun die zu- treffendeV Eine Entscheidung wird sich schwer herbei- führen lassen, da eine jede derselben sich mit fast ebenso guten Gründen verteidigen wie widerlegen lässt. Nur das ergibt sich daraus, dass trotz aller aufgewendeten Mühe es bislang noch nicht gelungen ist, die Pläne, welche Piatos Schriftstellertätigkeit bestimmten, sicher zu durchschauen. Manche offenbar falsche Auffassungen ergeben sich aus un- berechtigten Modernisierungsbestrebungen antiken Denkens, andere aus ungenügender Erwägung der Form der Darstellung und der Behandlung, die Plato dem Objekt seiner Unter- suchungen angedeihen lässt. Mit gutem Grund hat schon Schleiermacher^j darauf hingewiesen, dass Plato von den geläufigen Formen vollständig abweicht, „in denen sich die grösste Masse dessen, was gemeinhin Philosophie heisst, wohlgefällt. "

lieber die viel erörterte Frage, ob der Zusammen- hang der einzelnen Schriften Piatos auf weit zurückliegender Absicht und Berechnung beruht oder aus der von den geistigen Bewegungen seiner Zeit, von den überkommenen Tendenzen des griechischen Charakters und dem Einflüsse von Vorgängern und Zeitgenossen bestimmten geistigen Ent- wicklung des Verfassers sich von selber ergeben habe, oder ob beide Momente zusammengewirkt und den bestimmenden Einfluss auf die Abfassung der Schriften ausgeübt haben: über alles das gehen die Ansichten sehr weit auseinander. Man vergleiche darüber Jo s. S o c h e r, Ueber Piatos Schriften, 1820; G.W. F. Suckow, die wissenschaftliche und künstlerische Form der platonischen Schriften 1855.

') Krohn, Die platonische Frage, S. 130, 152, 160, 162. ^) Fr. S Chi cierma eher, Piatons Werke, Bd. I, S. 7 ff, Berlin 1804.

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Für das Verständnis der geistigen Entwicklung Piatos wie der ganzen platonischen Pliilosophie ist eine chrono- logische Anordnung der Dialoge gewiss die Voraussetzung; andererseits muss die Chronologie der Gespräche aus dem Verständnis, das man von dem Entwicklungsgange des Philo- sophen, wie er sich in seinen Schriften dartut, erarbeitet hat, erst erschlossen werden. Darin liegt die unermessliche Schwierigkeit des Gegenstandes.

Die Bestimmung der Abfassungszeit der einzelnen Dia- loge bildet demnach wie eine der wichtigsten, so auch eine der dornigsten Aufgaben der Platoforschung^).

Zu den Fragen über Keihenfolge und Abfassungszeit der platonisclien Schriften gesellen sich die Erörterungen über die Echtheit der Dialoge, und auch hier gehen die Meinungen der Gelehrten noch immer in vielen Punkten weit auseinander. Was das erste aubetriftt, so zieht man neben den Anhaltspunkten, welche Beziehungen auf Ereig- nisse aus Piatos Lebenszeit oder Hinweisungen der Gespräche auf einander darbieten, und die kein genügend sicheres Kriterium für die Anordnung der Gespräche bilden, in neuester Zeit sprachstatistische Untersuchungen heran, von der richtigen Voraussetzung geleitet, dass bei der fortge- setzten langsamen Umwandlung der Sprechweise eines geistig hochbedeutenden Mannes auch der in feste Formen gefügte Stil Modifizierungen erleiden muss, die den inneren Ent- wicklungsgang der Gefühls- und Denkweise irgendwie für einen geschärften Blick widerspiegeln. Das Studium des Stiles Piatos, das um vieles jünger ist als das seiner Philo- sophie, hat gleichwohl bereits zu manchen fruchtbaren Er- gebnissen und zu Schlussfolgerungen von Bedeutung ge- führt, die immerhin als Basis zu weiterer Forschung dienen können^).

') Fr. Ucberweg, Untersuchungen über Echtheit und Zeitfolge platonischer Schriften. 1861.

^) vergl. über diese Frage: Natorp über die Methoden d. Ohronologic plat. Schriften nach sprachlichen Kriterien Arch. f. G. d, Ph. XI (98) p. 461-64.

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Erschlossen ist dieses Untorsiicliungsgebict worden durch den verdienstvollen englischen Gelehrten Campbell in seinen 1 867 veröffentlichten sprachstatistischen Untersuchungen über die Dialoge „Sophistes" und „Politikos". Grösseres Aufsehen erregten in Deutschland die Untersuchungen von Ditten berger ^) und Schanz ^), sowie von L u t 0 s 1 a w s k i^), der seinen Untersuchungen sprachliche Argumente, aber daneben auch den Grad der in den Ge- sprächen zu Tage tretenden logischen Vollkommenheit zu Grunde legte: allerdings hat er dabei vernachlässigt, die einzelnen Dialoge als Teile einer abgeschlossenen Lebens- arbeit ins Auge zu fassen.

Es fragt sich nun, ob man überhaupt berechtigt ist, aus derartigen Untersuchungen chronologische Folgerungen zu ziehen. Zell er*) besonders hat behauptet, dass die Theorie der Spraclistatistiker sich auf unrichtige Voraus- setzungen gründe, und dass ihre Untersuchungen mit noch wenig genügendem Material geführt worden seien. Letztere Behauptung ist doch vielleicht nicht ganz zutreffend, da die sprachstatistischen Untersuchungen in den letzten Jahren einen beträchtlichen Umfang angenommen haben und schärfer geführt worden sind, sodass damit auch die Resul- tate an Sicherheit und Umfang gewonnen haben. Lifolge- dessen sind die sprachstatistischen Untersuchungen, die der Verschiedenheit subjektiver Auffassung doch nicht in dem Masse eine Handhabe bieten, wie die Untersuchung des p'hilosophischen Inhaltes, immerhin ein wichtiges Hilfsmittel für das richtige Erfassen der chronologischen Reihenfolge

') Dittenberger, Fr. Wilhelm, conf. K u k n 1 a sprachl. Kriterien für die Chronolog. d. plat. Dialoge, Hermes 1881, Z. f. Phil. 423. 1881.

2) Martin v o u Schanz, Zur Entwicklung d. platou. Stils, Hermes 1886, Z. Phil. 423. 1886.

') Lutoslawski, Wincenty. The origin and growth of Piatos Logic with an account of Piatos Style and of the Chronology of his writings. London 1897.

♦) Zoll er, Geschichte der Phil. d\ Gr. IW. II. S. 512. IV. 1889.

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platonischer Dialoge. Der Spraelistatistik in allen Fällen das entscheideiule Wort einzuräumen wäre allerdings verfehlt.

Bis auf Schleiermacher halten sieh alle Versuciie, Gruppen platonischer Gespräche nach Inhalt und Form aufzu- stellen, auf der Obertläche; die Anordnungen erfolgten nach implatonischen Gesichtspunkten, ohne die tieferliegenden Beziehungen der Werke zu einander in Betracht zu ziehen. Gewöhnlich wird angenommen, dass T e n n e m a n iT in seinem 17i)"2 bis 17'J5 veröffentlichten „System der platonischen Philosophie", in dem er den historischen mit dem platonischen Sokrates identifiziert und das Verdienst Piatos in der Auf- zeichnung des von Sokrates Gehörten sieht, zuerst den Ver- such gemacht habe, das Problem der platonischen Chrono- logie zu behandeln. Vor ihm hatte schon P a t r i z z i ') am Ende des IG. Jahrhunderts eine Anordnung der Dialoge aufgestellt: sie konnto aber nur den Anspruch erheben, als Führer in der Keihenfolge der platonischen Werke bei der •Lektüre zu dienen, nicht aber die Zeitfolge wiederzugeben, in welcher Plato seine Dialoge verfasst haben mochte.

Ks ist die epochemachende Bedeutung Schleiermachers, durch seine üebersetzung der platonischen Werke, durch die die Werke begleitenden Einleitungen und durch die Verwertung platonischer Gedanken in seinem eigenen wissen- schaftlichen System die platonische Frage ernstlich aufge- worfen zu haben. Mit Schleiermacher beginnt demnach seit 1804 der Streit der Genetiker und Methodiker. Obgleich Schleiermacher sich als Philosoph durch hochbedeutende Werke betätigt hatte, ging er bei der Behandlung der platonischen Frage mehr von philologischen, als von philo- sophischen (lesichtspunkten aus. Unter dem Einflüsse des in den ersten Jahren des 1!'. Jahrhunderts in Deutschland vorherrschenden Idealismus glaubte er in den Schriften Piatos, soweit sie sich nicht selbst als Gelegenheitsschriften auswiesen, einen fortlaufenden Zusammenhang philosophischer

') F. Patrizzi, Nova de universis philosophia libris quin- quaginta comprehensa. (Venetiis 1.593). Ein Abschnitt dieses Werkes heisst : „Plato et Aristoteles inystici atqae exoterici."

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Untersuchung und Gedankenbildung zu sehen, und je nach der Entwicklungsstufe, welche ein Gespräch in diesem Zu- sammenhange einnahm, auch die Zeit seiner Entstehung bestimmen zu können. Er nahm an, Plato habe, wie er überhaupt die schriftliche Belehrung hinter der mündlichen an Wert zurückgesetzt habe, danach getrachtet, durch fort- schreitende Untersuchungen seine schriftstellerischen Arbeiten dem mündlichen Vortrage möglichst ähnlich zu gestalten und in dieser Absicht nach einem von vornherein fest- stehenden Plane in sorgfältig bemessenen Schritten sein Gedankensystera in belebten Gesprächen planvoll niedergelegt.

Der Fehler dieser Annahme lag darin, dass Schleiermacher ein absichtsvoll nach systematischen Prinzipien durchdachtes Gesamtwerk als gegeben voraussetzte und in dieser Vor- aussetzung alle einzelnen Glieder des Ganzen nach Absicht und Komposition zu würdigen suchte.

Weder bietet die Beschaffenheit der Schriften selbst, die in den verschiedenen Perioden von Piatos Schriftsteller- tätigkeit über die fundamentalsten Punkte der Philosophie sehr verschiedene Lehren aufweisen, irgend einen Stütrzpunkt für die Schleiermachersche Hypothese, noch folgt die Eichtigkeit derselben aus der Art der Behandlung des Gegenstandes in den Dialogen, die so oft ohne Rücksicht auf Vorher- gehendes oder Nachfolgendes, häufig in polemischer Absicht herrschenden Zeitströmungen, literarischen Erscheinungen, gegnerischen Angriffen gegenüber Stellung nehmen oder auch gegen einzelne Schulhäupter gerichtet sind, sodass man nur in gezwungenster Deutung eine systematische Abzweckung in ihnen aufzufinden vermöchte.

Im Widerspruch mit der Schleiermacherschen Ansicht, die ja in der Tat mit den grössten Schwierigkeiten zu kämpfen hat, vertrat K. Fr. Hermann, indem er die Einheit eines von vornherein feststehenden schriftstellerischen Planes bei Plato leugnete, die Behauptung, die einzelnen Schriften seien als Dokumente der während jahrzehntelanger Schriftstellertätigkeit unter den Einflüssen seiner Zeit statt- gehabten Entwicklung, die die philosophische Denkweise

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Plato's genommen habe, zu betrachten, und ihr Zusammen- haDg sei deshalb nicht systematischer oder didaktischer, sondern historischer Natur.

Gewisse Mängel traten in der Hermannschen Auffassung immerhin hervor. Sie sind eine Folge einer gewissen Ein- seitigkeit in der Betrachtungsweise der Dialoge, und wurzeln darin, dass Hermann ohne Berücksichtigung der dialogischen Einkleidung und der indirekten Weise, in der Plato seine Gedanken vorträgt, den Entwicklungsgang des Philosophen unmittelbar aus seinen Dialogen herauslesen zu können vermeinte.

Der Streitpunkt zwischen der Schleiermacherschen und der Hermannschen Theorie ist also der, ob die Dialoge in zeitlicher Reihenfolge betrachtet einen absichtlich geordneten Lehrkursus darstellen, oder ob sie die von Plato selbst durchgemachte Entwicklung widerspiegeln. Es ist vielleicht möglich, dass aus der Verbindung beider Gesichtspunkte sich für die Anordnung der Gespräche annehmbare Resultate ergeben. Niemand zweifelt daran, dass Piatos geistige Ent- wicklung in den „sokratischen" Dialogen sich noch nicht als abgeschlossen darstellt, und dass er erst, als er zu philosophischer Reife gelangt war, einen Plan für seine künftige Tätigkeit hätte fassen können. So ergäbe sich die Annahme, dass sein System in den Grundzügen schon früh- zeitig festgestanden haben mag, die Ausbildung desselben in ihren Einzelheiten jedoch erst allmählich erfolgt sei.

Die Arbeiten Schleiermachers und Hermanns bildeten die Grundlage für die Platostudien der gesamten Folgezeit; insbesondere veranlasste die Ansicht Hermanns mehrere Forscher, eine genetische Darstellung der plato- nischen Philosophie zu unternehmen.

Hermanns Ansicht bezeichnet sicher einen grossen Fortschritt gegenüber dem Standpunkte Schleiermacher's. Sie bietet dem Verständnis der platonischen Philosophie viel geringere Schwierigkeiten dar, indem sie nicht zu gewalt- samen Deutungen nötigt und die Möglichkeit gewährt, jede einzelne der platonischen Schriften für sich auf ihren Lehr-

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gelialt hin und als aus einer iranz besonderen Situation im Entwicklungsgange des Denkers hervorgegangen zu betrachten. Aber man gerät auch bei iiir, wenn man sie aufs einzelne anwendet, in eine gewisse Verlegenheit. Denn die einzelnen Stadien einer zusammenhängt-nden Entwicklung in Piatos Dialogen nachzuweisen hat auch so seine stets sich er- neuernden Schwierigkeiten. Die Eigenart der einzelnen Dialoge nach Thema und Kehandlungsweise ruft immer wieder die ernstesten Meinungsverschiedenheiten bei den Forscliern hervor. In der Tat zeigt uns die Literatur, dass bis auf den heutigen Tag eine Einhelligkeit der Auffassung kaum über einen der unzählbaren Streitpunkte erreicht worden ist. Allerdings nimmt jeder aufmerksame Leser Stadien schriftstellerisclier Kunst, der Zu- oder AbEahme in der Freude an reicher Scenerie und Mannigfaltigkeit der Charakterschilderung wahr; aber der Hauptfrage gegenüber, der Frage nach dem Entwicklungsgange der platonischen Denkweise, ist das alles zunächst von geringerer Bedeutung. Gewiss können jene Momente auch durch die Art der wissen- schaftlichen Untersuchung, durch die Stimmung des Ver- fassers, die ganze Tendenz des Werkes mitbedingt sein, aber diese Kennzeichen für sich allein entscheiden nichts. Wenn man die Verwandtschaft der behandelten Themata und die in der Behandlung vorwaltende gedankliche Stimmung vorwiegend ins Auge fasst, so wird man Gruppen platonischer Gespräche mit grosser Wahrscheinlichkeit aufstellen können. Doch ohne Zwang führt auch dieser Weg bisweilen nicht zu einem einleuchtenden Nachweis bestimmter Entwicklungs- stufen des platonischen Lehrsystems. Die Arbeiten, die bis jetzt darüber vorliegen, iFranz Susemihls: Genetische Ent- wicklung der platonischen Philosophie. 1855 bis 1860; Sigurd Eibbings genetische Darstellung der platonischen Ideenlehre (1863 bis 1864); Paul Natorps platonische Ideenlehre (1903); H. Raeder, Piatos philosophische P^nt- wicklung (1905), um nur einige der meist genannten zu er- wähnen, geben wohl die Pfade an, die zu wandern sind, liefern aber keineswegs den Beweis, dass wirj den rechten

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Faden, um uns in dem vielverschlungenen Hau der plato- nischen Philosophie zurechtzufinden, wirklich schon in Hunden hätten.

Es liegt so nahe und geschieht so oft, dass die er- klärenden Kritiker in dem Bemühen, die Prinzipien irgend einer modernen Anschauungsweise durch die Worte Piatos bestätigt zu sehen, ihre eigenen Ansichten hineintragen, statt die des Verfassers in den Dialogen wiederzufinden. Und bei dem grossen Eifer, den man darauf verwendet, in den Ausführungen eines jeden Dialogs die hier vorliegende Ent- wicklungsstufe in Piatos Geistesentwicklung nachzuweisen, geschieht es wohl, dass man, oft mit Unrecht, einen unver- hältnismässigen Nachdruck legt auf nebensächliche oder selbstverständliche Bemerkungen, Unwesentliches hervorhebt und Wesentliches übersieht.

Mit einem bestimmten Vorurteil über das, was Plato hätte sagen können oder sagen müssen, tritt man an die Dialoge heran und weist ihnen ihren Platz innerhalb des Schriften- komplexes an, indem man ohne Grund eben das hineinlegt, was man zu finden erwartet. Bei einem nicht aufzuhebenden Widerspruch zwischen Erwartung und Wirklichkeit aber steht allezeit der bequemste Ausweg offen, das Werk, das man, an der eigenen Voraussetzung festhaltend, nicht ver- steht, kurzweg für unplatonisch zu erklären. SoSchaar- schmidt, „Die Sammlung der platonischen Schriften zur Scheidung der echten von den unechten. 1866"; und nach ihm üeberweg^i. Es sollen Dialoge wie der „Sophistes", der „Parmenides" als unecht gelten!

Nun gibt es aber einen dritten Weg, um das Ver- ständnis der platonischen Philosophie zu erreichen, der zu- gleich auch der angemessenste und aussichtsreichste zu werden verspricht. Man betrachtet jeden einzelnen Dialog als ein abgeschlossene^', für sich allein bestehendes Ganzes, ohne Voraussetzung über das zu Erwartende, ohne irgend eine feste Ansicht über Piatos Lehre, die auch hier vorge-

') Ueberweg, Grundriss der Gesch. d. Philosophie. 10. Auflage. Berlin 19C9. Hd. I S. 139.

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tragen werden müsse, und aus dieser Isoliertheit heraus sucht man das Gespräch zu verstehen und seinen wahren Gehalt zu erfassen. Als Vertreter dieses Verfahrens in der Untersuchung und in der Deutung sind zu bezeichnen: H. Ronitz, Platonische Studien 3. Aufl. (1886); Ferd. Hörn, Platon-Studien, (1893 und neue Folge (1904); Constan- tin Kitter, Piatos Dialoge (1903) und Piatos Staat (1909).

Mit dieser Methode ist man wohl am ersten auf dem richtigen Wege. Plato selbst scheint dadurch, dass er durch nichts auf die Absicht eines systematischen Zusammenhanges hindeutet, uns selber auf diese Betrachtungsweise seiner Schriften hinzuweisen. Vgl. Rudolf Hirzel, Der Dialog. 2 Bde. 1895.

Oft entwickelt sich die Unterredung aus scheinbar ganz zufälligen Veranlassungen, ohne dass ein bestimmtes Thema vorangestellt würde („Euthydemos"). Dann wieder wird ein solches aufgestellt, von vielen Seiten betrachtet, mit weit entlegenen Fragen in höchst künstliche Verbindung gebracht und sciiliesslich mit dem Bekenntnis der Unwissen- heit oder mit einer zweifelnden Frage unerledigt gelassen (Protagoras). Oder auch die Diskussion über ein formell aufgestelltes Thema führt zu ganz anderen Resultaten oder zur Lösung und Klarstellung ganz anderer Probleme als man erwartet hatte („Menon"). Sehr richtig und treffend bemerkt E. Kühneraann, Grundlehren der Philosophie. Studien über Vorsokratiker, Sokrates und Plato, 1899. S. 275: „Wir müssen wissen, dass von Plato oft die Form selbständig gebildet wird als ein Kunstwerk für sich, ohne dann die Herbeiführung und Begründung des Gedankens su sein. Dies ist ein -wirklich fremdartiger Zug, der die Schwierigkeit der Deutung sehr vermehrt." Manche Schriften tragen augenfällig den Stempel von Gelegenheitsschriften, („Euthyphron"), charakterisieren Zeitverhältnisse, Personen, Gesinnungen (beide „Hippias") oder behandeln mit Aus- führlichkeit^ Streitfragen, die offenbar zur Zeit die Menschen beschäftigten („Sophistes"). Oft auch tritt eine polemische Absicht hervor, um die bedenklichen Folgen gewisser Au-

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sichten der Zeitrichtung, insbesondere die Nichtigkeit der Anschauungen von Vertretern der Sophistik darzutun („Theaetet"). Zuweilen soll der Dialog die Untersuchung und Erörterung schwieriger Probleme nur vorbereiten, auf den rechten Weg hinweisen, ohne dass ein eigentlicher Abschluss erreicht oder auch nur angestrebt würde („Parme- nides"). Es darf keineswegs von vornherein als ausgemacht gelten, dass Plato überall eine bestimmte Lehre als seine eigene Lehre habe vortragen wollen. Nirgend spricht er zu uns in eigener Person; er referiert Gespräche, die der Zu- fälligkeit ihrer Veranlassung wie der Mängel der Gespräch- führenden wegen oft einen strikten Gedankengang gar nicht innehalten können. Nichts berechtigt uns zu der Annahme, dass das, was Plato anderen Personen oder selbst dem Sokrates, der in den meisten Dialogen der Leiter des Ge- spräches ist, in den Mund legt, ohne weiteres als Ausdruck von Piatos eigenen Ansichten zu nehmen wäre. Vieles ist augenscheinlich nur vorläufig bemerkt, anderes dient als Mittel zur Widerlegung gegnerischer Ansichten oder als Fallstrick für die dialektische Unfähigkeit von solchen, die in der Meinung der Menschen einen hohen Rang einnehmen. Wo aber Plato in den Aeusserungen einer von ihm vorge- führten Person seine eigene Meinung durchscheinen lässt, führt er sie oftmals nicht in ihrem systematischen Zu- sammenhange vor und nicht in der Beleuchtung, die sie erst als Ableitung aus seinen obersten Prinzipien empfängt. In den älteren Dialogen nimmt das dramatische Element, die Schilderung und Charakteristik von Personen und Richtungen, eine so selbstständige Bedeutung in An- spruch, dass vieles nur diesem Zwecke zu dienen scheint und nicht vorbehaltlos als Ausdruck platonischer Ueber- zeugungen oder überhaupt als lehrhaft gedeutet werden darf. Es lässt sich garnicht verkennen, dass manche Aus- führungen Piatos, von einem in übermütiger Laune ge- wählten Standpunkt aus, oft fremde Art in künstlerischer Meisterschaft nachahmen oder die äussersten Konsequenzen daraus bis zur Grenze der Absurdität ziehen, um in bewusster

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Absiebt die verderblichen Folgen mancher Zeitströmungen zu kennzeichnen.

Was die mythische Einkleidung mancher Gedanken- folgen anbetrifl't, so stand bei Schleiermacher der Grund.satz fest, dass die bildliche Darstellung philosophischer Walirbeiten der direkten bei Plato immer vorangehe. Doch findet sich bei Plato der Mythos nicht immer nur an Stelle begrifflicher Darstellungen, wo er eine wissenschaftliche Definition etwa noch nicht zu geben vermöchte, sondern sehr häufig soll diese Art der Einkleidung eine Anregung bieten zum Nachdenken, einen künstlerischen Schmuck, eine Unterhaltung der Phantasie ausmachen. Streift man aber die mythische Hülle ab, um den darunter verborgenen Lehrsatz herauszubringen, so läuft man Gefahr, nicht nur den Reiz zu zerstören, der über den Dialogen ausgebreitet ist, sondern auch den von Plato zu Grunde gelegten Ge- danken selbst zu trivialisieren. Vgl. besonders Volquard- sen, Piatos Theorie vom Mythus und seine Mythen 1871.

Es liegt also nach dem soeben Ausgeführten kein Grund vor, anzunehmen, Plato habe überall sein letztes Wort ge- sagt. Er spricht jedesmal aus einer gegebenen Situation heraus, kann daher ganz wohl vieles seiner eigenen Ueber- zeugung nicht Entsprechendes sagen, oder vieles verschweigen, was er längst als sein geistiges Eigentum bereit hat. Da- her ist es niciit angebracht, jedesmal aus dem, was ge- sprochen wird, oder aus dem, was ungesagt bleibt, ohne weiteres zu schliessen, das üebrige habe Plato noch nicht zu sagen vermocht, und danach die Stufe der Durch- bildung seines philosophischen Denkens zu bestimmen.

Als Ergebnis aus diesen üeberlegungen ist also Folgen- des festzuhalten:

Zu einem wirklichen Verständnis einer jeden platonischen Schrift wird man nur dadurch gelangen können, dass man jede einzelne Schrift ohne mitgebrachtes Vorurteil in ihrer Eigentümlichkeit zu erfassen sucht und aus ihrer besonderen Anlage ihre besondere Absicht herausholt.

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Unter diesen Gesichtspunkten wollen wir im Fitlgenden .den Dialog „Gorgias" auf s.einen wesentlichen Gehalt hin untersuchen.

2. Platos Absicht in seinen Dialogren.

Der platonische Dialog „Gorgias" ist ein sehr künstlich aufgebautes und zusammengesetztes Werk, dessen verschiedene Teile scheinbar nur in losem Zusammenhang mit einander stehen. Der Dialog beginnt mit der Untersuchung über Wesen und Ziele der Rhetorik, beschäftigt sich weiterhin mit der Frage über waiires und vermeintliches Glück und läuft aus in die Erörterung der höchsten Fragen des sitt- lichen Lebens. Es ist nun eine durchaus unzulässige Annahme, dass ein so bewusster Stilkünstler, wie Plato es war, innerlich weit Auseinandorliegendes ohne eine die verschiedenen Teile zur Einheit verbindende, das Ganze durchdringende Abzweckung rein äusserlich aneinanderge- reiht habe.

Man muss von vornherein festhalten, dass die platonischen Gespräche, selbst wenn sie einen ganz abstrakt philosophischen Inhalt aufweisen, ihrer ganzen Gestaltung nach nicht die Art philosophischer Abhandlungen, sondern dramatischer Soenen mit dichterischer Einkleidung an sich tragen. Als solche aber sind sie als Werk der Phantasie, nicht als ge- treues Abbild wirklicher Vorgänge gemeint. So darf man auch den „Gorgias" nicht für eine wissenschaftliche Ab- handlung in gewöhnlichem Sinne neiimen. Soviel allerdings muss als teststehend zugegeben werden, dass Plato selbst diese dialogisch dramatische Form als geeignet betrachtet hat, das Verständnis wissenschaftlicher Streitfragen und ihrer liehandlung zu erleichtern. Nun ist aber offenbar der Unterricht in der platonischen Akademie der Haupt- sache nach in der Form des Vortrages und nur gelegentlich in dialogischer Form betrieben worden. Tatsächlich tritt im Laufe der schriftstellerischen Tätigkeit, besonders in den späteren .Jahren des Philosophen, in den wichtigsten Dialogen die Gesprächsform völlig zurück. Aber man wird

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kaum mit K. Fr. Hermann'; annehmen können, dass der in den sokratischen Schulen heimische Dialog, allen vertraut durch die induktiven Reden des Meisters, aber auch in der künstlerischen Form durch die dramatische Poesie eines Epicharm, Sophron und Euripides geläufig geworden, ledig- lich des Herkoramens wegen von Plato gewählt und aus Pietät gegen die Sitte beibehalten worden sei.

Vielmehr wird man die dialogische Form von Piatos Schriften als eine Wiedergabe seines dialektischen Denkprozesses im Zusammenhang mit seiner ganzen philosophischen An- schauung zu erklären haben. Mit Unrecht will man aus jener vielbesprochenen Phädrusstelle^j herauslesen, dass Plato der dialogisclien Form der Unterredung wegen ihrer grösseren Kraft zu lehren den Vorzug gegeben habe vor lehrhaften Abhandlungen^). Die Phädrusstelle besagt nur, dass schriftliche Darstellung in keiner Weise den Wert lebendiger Unterredung zu ersetzen vermag, dass sie als blosses Eidolon der lebendigen Rede sich der Individualität des Lesers nicht anzupassen vermag, dass aber die dia- logische Form der Aufzeichnung wenigstens den Vorteil ge- währe, in der Wiedererinnerung den Vorgang der Belehrung sich wieder abspielen zu sehen, sodass der Gedankengehalt nicht nur als Resultat, sondern auch in der Art seiner Ge- winnung vorgeführt werde. Plato hat sicherlich nicht lediglich den schulraässigen Vortrag von Lehren im Auge gehabt; und wenn er sich der Form des Dialoges bedient hat, so geschah es, um den Gang der Untersuchung nach- ahmend in Erinnerung zu bringen*).

') K. Fr. Hermann, „Geschichte «. Systena der Platonischen Philosophie". Heidelberg 1839, 3. Bach. S. 355.

2) Phädrus 274b - 278b.

") Vgl. Piatons Werke von F. S c h 1 e ier m ac h e r. Berlin 1804, Teil I, Bd. 1, S. 19.

*) Vgl K. Fr. Hermann, Ueber Piatos schriftstellerische Motive (Gesammelte AbLamllgn. u. Beiträge etc Göltingen 1841^, S. 281 ff.)

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Tra „Gorgias" führt uns Pinto eine Gruppe von Personen vor. Er charakterisiert sie geistvoll nach Art des Dramatikers, sodass sie als Vertreter geistiger Richtungen und sittlicher Anschauungen typische Geltung erhalten. Ihre Anschauungen und die Situationen, in die sie gestellt sind, geben dem Dialog sein eigentümliches Gepräge.

In der Sammlung platonischer liriet'e finden sich an zwei Stellen Aeusserungen*), durch die sich Plato gegen die Ansicht verwahrt, seine eigentliche Lehre in seinen Dialogen allgemein zugänglich gemacht zu haben, mit der ausdrücklichen Erklärung, dies auch künftig nicht tun zu wollen. Die Echtheit dieser Briefe wird angezweifelt. Allein, selbst ihre Unechtheit vorausgesetzt, ist es kaum verständ- lich, wie ein Fälscher dem Plato zu einer Zeit, in der die platonischen Schriften der Oeffentlichkeit bereits vorlagen, jene Aeusserungen hätte in den Mund legen können, die er nicht wirklich getan oder die mit dem Tatbestande der vorliegenden Schriften in direktem Widersprucli gestanden hätten. Zum mindesten lässt sich aus jenen Briefstellon, einmal zugegeben, die Briefe seien gefälscht, die Tatsache entnehmen, dass bereits unmittelbar nach dem Tode Piatos vertraute Kenner seiner Philosophie der Ansicht waren, dass seine Dialoge nicht die eigentlichsten und tiefsten Gedanken seiner Lehre enthielten. Ueber die Echtheit der Briefe vgl. Eduard Meyer, Geschichte des Altertums. Bd. V. 1902. S. 500 ff. 2).

In der Mehrzahl der Gespräche wird über den eigent- lichen Gegenstand der Erörterung keine als Ausdruck der Lehre des Verfassers anzusehende Entscheidung herbeige- führt; sondern es werden nur gewisse Ansichten über den

'} Zweiter Brief p. 322(1: siebenter Brief p. 341c.

*; Dazu wei'cr: Christ, Plalon Studien p. 25 iT. Rciiihold, de Plat. epistnlis Quedlinburg iSSG. Burnet, Rhein. Museum 62 Plat. Briefe p. 312. C. Ritter, neue Untersuchungen p. 327/4-24. R. Ada m, über d. plat. Briefe. .\rch. f. G. d. Piiil. XVI, 1. H. Racd er, Über d. Echtheit der plat. Briefe. Rhein. Museum 61 p. 427/47) ; 511/542. S ill, ULtersnchuugen üler d. plat. Briefe Diss Halle 1931.

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Gegenstand der Kritik unterworfen, zuweilen in sehr heftigar Polemik widerlegt, wobei die Widerlegungsgründe ahnen lassen, in welcher Richtung etwa die Lösung des Problems zu suchen sein möchte. Oft auch bildet die aufgeworfene Frage garnicht den eigentlichen Gegenstand der Erörterung; sie dient nur, indem scheinbar absichtslos ein Gedanke den anderen nach sich zieht, als Anknüpfung für Ueberlegungen, die schliesslich in ganz anderer Eichtung verlaufen. Dann wieder scheint die Schilderung der Scenerie soweit im Vordergründe zu stehen, dass die Ausführungen über das zur Behandlung gestellte Thema lediglich als Beiwerk zur Steigerung der dramatischen Lebendigkeit der Schilderung dienen. Da Plato niemals selbst und im eigenen Namen redend auftritt, so gilt es also immer, erst durch eingehende Untersuchung festzustellen, wie weit seine eigene Ansicht von den redenden Personen vertreten wird, wie weit Plato nur die Denkweise dieser Personen schildern will, oder vielleicht durch das innere Ungenügen an dem bisher von ihm Erreichten oder durch die Einwirkung fremder Gedanken- gänge veranlasst, künstlich selbst Denkweisen geschaffen hat, um in der Erörterung derselben selber zu grösserer geistiger Klarheit über den jedesmaligen Gegenstand zu gelangen. Eben dieser Zweifel betrifft auch das von Sokrates Vorgetragene. An manchen Stellen ist mit aller Bestimmt- heit die Tendenz Piatos erkennbar, die eigentümliche Art und Persönlichkeit des verehrten Meisters mit feinstem Verständnis seiner Individualität auch durch die Ansichten, die er ihm in den Mund legt, zu charakterisieren, nicht aber seine, Piatos Lehre, zum Ausdruck zu bringen. E. Kühnemann in dem obengenannten Werk sagt darüber S. 274: „Durch Sokrates wurde der Mensch vor die Frage des eigenen Lebens gestellt, wie er lebt und gelebt hat. Dieser im tiefsten Sinne sittliche Sinn der neuen Wissen- schaft lebt in Plato fort, dass sie nämlich Selbsterkenntnis des Menschen ist und in der Selbsterkenntnis den Grund eines waiirhaft sittlichen Daseins ergiebt."

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Es lierrsoht oregenwärtig bei vielen die Neigung, den Zwiespalt hervorzuheben zwischen dem, was wir in Piatos Dialogen lesen, und dem von Aristoteles als Piatos Lehre Berichteten^), und man schliesst daraus auf Missverstüudnis oder absichtliche Verdrehung der platonischen Lehre durch Aristoteles. Teils meint man, er sei unfähig gewesen, Piatos . Lehre richtig zu verstehen; teils, es sei seine hämische Tadelsucht gross genug gewesen, um durch entstellende Berichte Plato lächerlich zu machen und sich vor der Mit- und Nachwelt als den überlegenen Geist zu erweisen. Diese Ansicht ist völlig unhaltbar; nur dadurch erklärt sie sich, dass man sich nicht entschliessen kann, den Tatbestand sicher ins Auge zu fassen. Aristoteles hat nicht allein dieselben Quellen gehabt wie wir, sondern noch andere, und diese Quellen sind die besten, die denkbar sind. Er hat 20 Jahre lang mit Plato gelebt in stetem Austausch, hat seine Vorlesungen gehört und mit ihm disputiert. Und dass er die Fähigkeit des Verständnisses und den guten Willen hatte, seinem grossen Lehrer gerecht zu werden, das zu bezweifeln gibt es keinen denkbaren Grund. Ueber diese Fragen des aristotelischen Berichtes über Piatos Lehre siehe E. Zeller, Platonische Studien 1839. S. 199-29L Alberti, die Frage nach Geist und Ordnung der plato- nischen Schriften beleuchtet aus Aristoteles. 1864 2).

') So bei P. Natorp, Piatons Ideenlehre, Leipzig 1903: Bericht über Robin, Stewart, Taylor. Dtsch. Literaturztg. 1910, Constantin Ritter, Plato, S. 579, 58 k

2j Vcrgl. weiter: M. Watson, Aristotles Criticisms of Plato. Oxford 1909. F. U e b e r w e g, Grundriss d. Geschichte d. Philosopliie 1909 X. Äuil. Bd. I p 132 135. L. Roh in, la theorie platoniciennc des idecs et des nombrcs d'apres Aristoto. Paris 03. Ch. Wer n e r, Aristote et ridöalisinc platonicien. Paris 09. Th. G o m p e r z, die angebliche plat. Schulbibliothek (Platonaufsätzc) Bd. II. Sitzungs- berichte der ^Viene^ Akademie. 1899. E. Z e 1 1 e r, über den Zusammen- hang der plat. arist. Schriften. Hermes XI, 70 p. 81 -9ü. Wähle, Beitiäge zar^Würdigung des Aristoteles und zur Erklärung plat. Lehrtn. Arch. f Geschichte d. Phil. XIV, 145.

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Für unsere Kenntnis der Lehre Piatos ist mitliin das Zeugnis des Aristoteles entscheidend. Er hat sich immer zu Piatos Schule gerechnet; er ist von dankbarer Ehrfurcht gegen seinen Lehrer erfüllt; sein Scharfsinn ist unvergleich- lich. Wir kennen Aristoteles aus seinen eigenen Werken, die die Bewunderung des menschlichen Geschlechtes geniessen. Es ist also Aristoteles sicher zu vertrauen; dagegen müssen ■wir mit der höchsten Behutsamkeit verfahren, wenn wir aus den Aeusserungen der Personen in den platonischen Dialogen auf Piatos eigene Ansichten schliessen wollen. Wo also sich ein Widerspruch zwischen Aussprüchen in platonischen Werken und Berichten des Aristoteles über Piatos Lehre zu ergeben scheint, da werden wir die Auf- fassung, die uns die platonischen Stellen an die Hand geben, durch die aristotelische Darstellung zu korrigieren haben.

L Der ethische Gehalt des „Gorg^ias".

Zur Grundlegung für alle weiteren Darlegungen wird es nötig sein, über den Inhalt des Dialogs einen kurzen Ueberblick zu geben, sodass von vornherein die Hauptsachen klar hervortreten und von allem bloss Episodischen, der Einkleidung Dienenden oder auf zeitlich interessierende Fragen Hinweisenden abgesehen wird.

Der berühmte Sprachkünstler Gorgias von Leontini ist in Athen. Sokrates kommt mit Chärephon, ihn zu hören. Gorgias, der eben unter gewaltigem Beifall eine Rede ge- halten hat, ist bereit, über einen beliebigen Gegenstand Auskunft zu geben. Aber Polos, sein Schüler, nimmt ihm die Last ab und bietet sich dem Chärephon zur Unter- redung dar. Als Polos auf Chärephons Frage, welches die Kunst sei, in der Gorgias sich betätige, antwortet, es sei die herrlichste von allen Künsten, wirft Sokrates ein, das sei keine Antwort auf die Frage. Gorgias erklärt darauf, sein Fach sei die Kunst der Rede, und weiter, nach der Aufgabe dieser Kunst befragt, bezeichnet er sie als die Kunst des sprachlichen Gedankenausdrucks, sodann als ihren

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Inhalt die bedeutsamsten Angelegenheiten der Menschen, lind weiter als ihren Zweck die Kunst der Ueberredung, und zwar die Kunst, in Volksversammlung und vor Gericht die Menschen zu bestimmten Ansichten über das Gerechte und Unc-e- rechte zuüberreden, allerdings nicht um sie zum Wissen, sondern bloss zum Glauben anzuleiten. Die Redekunst sei überaus wirksam. Gewiss könne man sie missbrauchen, aber das hebe ihren Wert nicht auf. Wissenschaftliche Erkenntnis sei zu solcher Ueberredung nicht erforderlich; aber über das was gut oder böse, gerecht oder ungerecht sei, müsse der Redner unterrichtet sein. Sokrates findet darin einen Widerspruch. Denn wenn der Redner wisse, was gerecht ist, werde "er auch ein gerechter Mann sein und die Rede- kunst nicht missbrauchen. Solchen Missbraucli aber habe Gorgias vorher als möglich zugegeben.

Da tritt Polos auf den Flau. Gorgias habe ein un- nötiges Zugeständnis gemacht; der Redner brauche kein Wissen zu haben; es genüge, dass ihm die Kunst der Rede die Macht über die Gemüter verleihe. Dann, führt Sokrates aus, ist die Redekunst eine blosse, durch Uebung erworbene Fertigkeit, sich die Gunst der Menschen zu erwerben, indem man ihren Neigungen schmeichelt. Wirkliche Macht aber ist nicht das Vermögen, zu tun, was einem beliebt, sondern zu tun, was man vernünftiger Weise wollen kann; Unrecht tun ist das grösste Uebel. Polos ist über diesen Satz ganz entsetzt und tritt den Beweis an, dass gerade die Ungerechten die Glücklichsten seien. Sokrates dagegen führt aus, dass das Glück in Herzensbildung und Gerechtigkeit bestehe, und dass auf die geraeine Meinung, die anders laute, nichts zu geben sei. So gebe es denn auch kein grösseres Unglück für den Ungerechten, als wenn er unbestraft bleibe ; denn die Strafe sei wenigstens noch ein Mittel, die Seele von dem schlimmsten Uebel, von der Ungerechtigkeit, zu be- freien.

Damit ist die Redekunst als (Gegenstand der Unter- haltung beseitigt. Die Erörterung wendet sich nunmehr ausschliesslich den von Sokrates vorgetragenen Ansichten

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über das Glück als das Heil der Seele zu, und im Verfolg dieses Streites kommt es zu einer Untersuchung über die obersten Prinzipien des sittlichen Lebens, die den Dialog bis zu Ende ausfüllt.

Polos muss, von Sokrates gedrängt, zugeben, dass Un- recht tun allerdings für das Gefühl dasWiderwärtigere und zugleich das Verwerflichere ist faib/iov xal xaxtov); daraus folgert dann Sokrates, dass Strafe leiden wirklich Erlösung vom Uebel der Ungerechtigkeit bedeutet, dass der elendeste Mensch unter allen der Mensch ist, der die Macht besitzt, ungestraft jeden Frevel zu üben, und dass die Redekunst, sofern sie solche Macht verleiht, den an ihr gerühmten Wert keineswegs besitzt.

Hier mischt sich Kallikles, der auch das Zugeständnis des Polos für übel angebracht und grundlos hält, in das Gespräch. Diese Aeusserungen des Sokrates gehen ihm über jeden Glauben; das kann unmöglich im Ernste ge- sagt sein; das wäre die völlige Umkehrung alles Lebens und aller Grundsätze der Menschen. In der Tat, erwidert Sokrates, so ist es; aber man darf sich nicht an die Meinungen der Menschen und an die tatsächliche Er- scheinung halten; nur Wissenschaft gibt Wahrheit, nur sie vermag zum rechten Leben anzuleiten. Nun kramt Kallikles alle Konsequenzen der gemeinen Meinung aus und sagt alles das offen heraus, wozu sich geradezu zu bekennen schwächere Gemüter eine falsche Scham hindere. Nur die Befriedigung aller Lüste und Triebe gibt dem Leben Wert ; sich darin durch Gesetze und konventionelle Ansichten hindern zu lassen, ist verächtliche Schwäche minderwertiger Naturen. Von Natur ist alles erfolgreiche Tun löblich, ganz gleich, ob es allen Gesetzen, die unter den Menschen herrschen, widerspricht oder nicht. Von Natur gilt nur das Recht des Stärkeren. Wissenschaft mag ja sonst ganz gut sein zu geistiger Uebung in den Jugendjahren; des rechten Mannes würdig ist nur die praktische Betätigung im öffent- lichen Leben. Sokrates werde selbst die Erfahrung machen, dass man mit Grundsätzen, wie er sie bekennt, hilflos einem

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schmälilichen Ende entgegengeht. Sokrates erhebt dagegen seine Einwendungen. Ist der Stärkere wirklich der Wert- vollere, der zur Herrschaft Berufene, zur Erfüllung seines Beliebens Berechtigte, so sind die vereinigten Schwachen als die Stärkerei) gegenüber jedem Einzelnen von Natur zur Durchsetzung ihres Willens berechtigt. Oder sollen als die Stärkeren die geistig höher Stehenden gelten? Denen kann man doch auf Grund ihrer üeberlcgenheit kein anderes Recht zugestehen, als das, was den Geringeron auch zu- kommt. Kallikles erwidert, er meine mit den Stärkeren die Willenstarken, die Mutigen und Einsichtsvollen, be- sonders in der Politik. Aber, wendet Sokrates ein, die Starken sind doch vielmehr diejenigen, die sich selbst be- herrschen. Solche Selbstbeherrschung weist Kallikles als eine leere und törichte Redensart ab. Sokrates meint, stark seien doch eigentlich die, die wenig bedürfen; das Streben, seine Begierden zu befriedigen, sei ganz ähnlich dem Streben, ein Fass ohne Boden zu füllen; dann wäre auch der niedrigste Sinnengenuss ein Element des Glücks. Zudem, Avenn man die Lust und das Gute als identisch setze, so ergebe sich der Widersinn, dass während Glück und Un- glück einander ausschliessen, in der Befriedigung der Be- gierde der Schmerz des Begehrens und die Lust der Be- friedigung beisammen sind, Begierde und Befriedigung auch zugleich aufhören. Und weiter : wenn gut ist, wer das Gute an sich hat, so wäre der gut, der die Lust an sich hat, falls die Lust das Gute ist, und schlecht wäre, wer die Unlust an sich hat. Es hiess ja aber vor- her, vielmehr die Willensstarken und Einsichtsvollen seien die Guten, und nicht die Feigen und Unverständigen, die Lust empfinden. Kallikles sieht sich dadurch zu dem Zu- geständnis gezwungen, dass es Lust von besserer und Lust von schlechterer Art gebe; er habe nur von der besseren Art von Lust gesprochen. Worin soll denn der Unter- schied liegen, fragt Sokrates, wenn nicht darin, dass die eine dauernd frommt, die andere schädlich ist? Also ist doch vielmehr nicht die Lust das Gute, sondern das Heil,

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das sie bringt, und um das lierauszuerkennen, dazu gehört richtiges Urteil. Mithin erwirbt sich nur der ein Verdienst um die Menschen, der sie besser macht. Nun ist überall, für den Staat, für den Einzelnen, für Leib und Seele, das Gute Ordnung, Mass, Gesetz. Darum kann es nicht die Aufgabe sein, dass man den Begierden, den eigenen wie denen der anderen, diene, sondern vielmehr gegebenen Falls dem anderen versage, was er begehrt, ihn strafe, um dem Heile seiner Seele zu dienen. Das Gute und Gerechte ist verwandt mit den mathematischen Gesetzen, den Gedanken, die das Universum im rechten Gange erhalten: darauf be- ruht auch das wahre Glück. Nicht das Leben zq erhalten ist das Ziel, sondern es mit würdigem Inhalt zu erfüllen. Das Streben nach Erfolg in der äusseren Welt zieht die Seele herab, die, um den Menschen zu gefallen, sich ihnen angleichen muss. Dagegen wahre Seligkeit gewährt die Ge- sinnung, in reiner Innerlichkeit nach nichts anderem zu streben als nach der Vollendung des eigenen Wesens.

Das so erlangte Ergebnis stellt Sokrates dann in mythischer Form als ein Gericht nach dem Tode dar, wo die unbestechlichen Richter die Seele in ihrer Nacktheit in der Form sehen, die sie durch ihren Wandel im irdischen Leben erreicht hat. Das seligste Los wird wohl demjenigen zufallen, der in philosophischem Geiste rein und lauter durchs Leben gegangen ist, unverwickelt in die irdischen Händel, nur damit beschäftigt, seine Seele in möglichst voll- kommenem Zustande hindurchzuretten.

IL Der wesentHche Gedankengrehalt des „Gopgias."

Suchen wir nunmehr die Einheit und hauptsächliche Absicht des „Gorgias" festzustellen.

Der Dialog ist im wesentlichen ein Gespräch, das Sokrates hinter einander mit drei Personen: Gorgias, Polos und Kallikles, führt. Ein fünfter Mitunterredner, Chärephon, tritt nur in der Einleitung auf, um die Anknüpfung des Gespräches zu vermitteln, und nimmt dann weiterhin an

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demselben keinen tätigen Anteil. Dieses wirklich Vorliegende gilt es streng im Auge zu behalten und keinerlei Vorurteil darüber, was für Lehren das Werk als Ansichten Piatos vortragen und dem Leser einprägen möchte, in dasselbe hinein zu tragen, wenn mau zu einem wirklichen Verständ- nis des Dialoges gelangen will.

Die im ,,Gorgias" auftretenden Personen sind in zwei Lager geteilt. In dem einen befindet sich Sokrates, dessen Bedeutung durch den Gegensatz, in dem er zu den Sophisten steht, bezeichnet wird : in dem anderen die drei als typische Vertreter sophistischer Ansichten und Lehren charakterisierten Personen, die der Reihe nach im Gespräche mit Sokrates diesem dann Anlass geben, seine ethischen Anschauungen im Gegensatze zu den Sophisten zu entwickeln.

Es sind zwei verschiedene Auffassungen vom Zweck und Inhalt des rechten Lebens, die in diesem Gespräche einander gegenübertreten. Die eine spricht sich dogmatisch entschieden voller Zuversicht und Selbstgewissheit aus, hält sich an die herrschende Meinung der Masse und trotzt auf ihre Selbstverständlichkeit; die andere, das persönliche Eigentum des Sokrates, sucht sich in eingehender Reflexion zu begründen. Die Widerlegung der entgegengesetzten Ansicht dient ihr dazu, für sich volle Sicherheit zu erlangen, und durch ernste Ueberlegungen zieht sie aus gesicherten Vordersätzen die aus ihnen mit logischer Notwendigkeit sich ergebenden Folgerungen, rücksichtslos und unbedenklich auch zu der äussersten Paradoxie bei der Bekämpfung der geläufigen Auffassungen fortschreitend. Es besteht kein Zweifel daran, dass Piatos Sympathien dem Standpunkte des Sokrates, mit dem er den Gegensatz zu den Sophisten gemein hat, zugewandt sind. Wie weit jedoch seine Anschauungen mit den von Sokrates im „Gorgias" geäusserten überein- stimmen, wie weit er seine eigenen durch Sokrates darlegen lässt, oder ob die hier ausgeführten Lehren nur zur Charakteristik des Sokrates dienen, das bleibt fürs erste noch eine offene Frage.

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Im Gegensatze zu den mehr episodisch gehaltenen kleineren Dialogen, die in keiner Weise den Anspruch erheben, irgend ein Thema abschliessend zu behandeln, gelangt der „Gorgias", ein Werk von grösserem Umfang, zu einem vollkommenen, das angeschlagene Thema völlig erschöpfenden Abschluss. Mit den sokratischen Dialogen hat der „Gorgias" die Sorgfalt in der Schilderung der Situation und die Charakteristik wirkungsvoll und in be- w'usster Absicht gruppierter Personen gemeinsam. Wie die kleineren und mehr spielenden Dialoge gewährt auch der „Gorgias" nicht den Anschein, als ob er verfasst sei, irgend einen theoretischen Lehrsatz zu beweisen und einzuschärfen. Er stellt dar: man dürfte nicht eigentlich sagen: er lehrt. Wir lernen die entgegengesetzten Anschauungen von Mensciien sehr verschiedener Art kennen, und diese Anschauungen suchen sie aucii dialektisch zu begründen : aber einen strengen wissenschaftlichen Beweis darf man darin nicht erblicken wollen. Dass die eine der streitenden Anschauungen Piatos Zustimmung in höherem Grade besitzt als die andere, ist von vornherein wahrscheinlich, und es wird wohl eben diejenige sein, die am Schlüsse als die siegreiche und abschliessende erscheint. Nur darüber, wieweit dieselbe sich mit derjenigen Piatos deckt, ist damit noch garnichts ausgemacht. Noch viel weniger aber darf man Erörterungen und Lehren, die aus der Diskussion sich ergebend im Gange der Untersuchung vorgetragen werden, dem Plato als Darlegung seiner eigenen Ansichten anrechnen. Es ist naiv und unmethodisch, in einer dramatischen Dar- stellung die von einer der auftretenden Personen geäusserten Ansichten für Ansichten des Verfassers selbst zu nehmen. Daher ist es geboten, auch das, was Plato dem Sokrates in den Mund legt, zunächst und bis auf weiteres als Be- standteil der Charakteristik dieser Lieblingsgestalt ihres Schöpfers aufzufassen ; eine weitere Untersuchung mag dann darüber entscheiden, ob die Aeusserungen des Sokrates bei Plato im Namen und aus dem Sinne Piatos getan sind.

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Aus der Tendenz des „Gorgias" darzustellen und nicht zu lehren, ergibt sich, dass es das AUerverkehrteste wäre, auf einzelne Aussprüche und gelegentlich gemachte längere Ausführungen einen unverhältnismässigen Nachdruck zu legen und daraus Schlüsse ziehen zu wollen, auf die zur Zeit der Abfassung des „Gorgias" von Plato erlangte geistige Entwicklungsstufe und auf seinen Gedankengang ^). Piatos Lehre konnte in vielen Punkten bereits weiter ausgebildet gewesen sein, als sie sich im „Gorgias" darstellt, wo die bestimmte Veranlassung nur Aeusserungen bestimmter Art hervorrief: andererseits enthält dieser Dialog möglicherweise manches, was keineswegs in vollem Ernst und als bleibender Bestandteil der systematischen Lehre Piatos gemeint ist.

Der Anlass lässt Menschen und Dinge unter besonderer Beleuchtung erscheinen, die bei anderem Anlass sich in ganz anderem Lichte darstellen würden. Das „haec fabula docet" stimmt ganz und gar nicht zu dem schriftstellerischen Charakter eines Meisters künstlerischer Darstellung wie Plato es war. Wer ihn verstehen will, muss suchen, das von ilim entworfene Gemälde als Ganzes auf sich wirken zu lassen und sich in die Gesamtanschauung hineinzuversetzen, aus der heraus das Kunstwerk entstanden ist. Pedantisch einzelne Aussprüche zu pressen, bis sich bestimmte Lehrsätze ergeben und man von einem erreichten Standpunkt unter mehr oder weniger scheinbarem Vorwande reden darf, ist doch nur ein Missverständnis.

Wer ohne vorgefasste Meinung an den „Gorgias" herantritt, dessen Interesse wird sich zunächst dem Gegensatz zwischen den vier als typischen Vertretern ihrer Anschauungen charakertisierten Personen zuwenden, die mit einander ihre Ansichten austauschen. Gorgias, der berühmte Meister der Rhetorik, ist in Athen angelangt, und Sokrates, wie er wenigstens selber sich äussert, hat in seinem eifrigen Streben nach Wahrheit den dringenden Wunsch, Gorgias kennen

') Vergl. Natorp, Pl.'s. Ideenlehre S. 41 fif. Constantin Ritter, Platu S. 391 ff.

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zu lernen, um sieh von ihm über Wesen und Aufgabe der Rhetoriiv belehren zu lassen. Bei der Unterredung zwischen Sokrates und Gorgias entspinnt sich aus der Erörterung der beiden vorgenannten Fragen zwischen Sokrates einerseits, Gorgias und dessen Anhänger Polos andererseits eine Unter- suchung über den Wert der Rhetorik. Das Gespräch nimmt eine allgemeinere und prinzipiellere Wendung, als Kallikles, der bis dahin nur als Zuhörer sich beteiligt hat, in dasselbe eintritt. Nunmehr handelt es sich um das letzte Ziel menschlicher Lebensführung überhaupt, und Sokrates stellt im schärfsten Gegensatz zu Kallikles seine Ansichten dar über das, was im Leben anzustreben ist.

Die Frage nach dem Wesen der Rhetorik, die den Aus- gangspunkt bildete, tritt im Fortgang mehr und mehr zurück hinter der Erörterung über den Wert derselben. Weiter- hin wird auch das Treiben der Sophisten und die Tätigkeit des Staatsmannes zum Gegenstande der Erwägung. Worin besteht nun der eigentliche Inhalt des Dialogs, die Einheit seiner ganz verschiedenen Teile und seine wirkliche Ab- sicht ?

Plato hat diese Einheit und diese letzte Absicht mit genügender Deutlichkeit bezeichnet; mau muss nur auf seine Andeutungen achten. Sokrates ermahnt den Kallikles, in der Untersuchung nicht nachzulassen, bis ein genügendes Er- gebnis erreicht sei; denn der Gegenstand, dem schliess- lich die Untersuchung gelte, sei die Frage, wie man sein Leben einzurichten habe, um volle Befriedigung zu er- reichen»). Und ebenso wird in den Aeusserungen des Kallikles und des Sokrates in aller Bestimmtheit bis zu den äussersten Konsequenzen der oberste Gegensatz der Anschauungen über den rechten Inhalt des Lebens vorgeführt»). Es ist der Gegensatz des Strebens nach geistiger Bildung und der Richtufig auf die Tätigkeit nach aussen; der Gegensatz der Arbeit an der inneren Vollendung der Persönlichkeit und

») Gorg. 492d. 500c. *) Gorg. 482-488.

ZI

der Sucht nach Befriedigung an den äusseren Gütern ; mit einem Worte: das aktive und das kuntemphitive Leben') werden einander gegenübergestellt, um ihren wahren Wert zu ermessen, und es wird der Beweis geführt, dass, unbe- kümmert um die Gestaltung des äusseren Lebens, nur in dem der iimeren Vollendung gewidmeten Leben der Mensch seine eigentliche Bestimmung erfüllen und vollkommenen inneren Frieden erlangen könne. Innere Durchbildung ist aber zAigleich aaeh Bildung des Intellektes und des Willens. Philosophie und Versittlichung gehen Hand in Hand und können nicht von einander getrennt werden. Die Aus- führungen, die Sokrates in diesem Sinne macht, sind ganz im Geiste des historischen Sokrates gehalten, und manches, was Xenophon denselben sagen lässt, klingt an das im „Gorgias" Vorgetragene an-). Doch ist damit noch nicht gesagt, dass es nicht zugleich auch Piatos Gesinnungen wiedergäbe. Im Gegenteil, es macht eher den Eindruck, als ob er sich zu den von Sokrates ausgedrückten Ueber- zeugungen bekenne. Die Art jedoch, wie Sokrates im „Gorgias" diese Ueberzeugungen begründet, ist nicht die spezifisch platonisciie. Sokrates geht nicht auf die letzten Prinzipien zurück, wie sie Plato seiner Behandlung der Ethik sonst zu Grunde legt, sondern beruft sich weit mehr auf äusserliche Reflexionen. Darum sind wir nicht zu der Annahme gezwungen, die Gründe, mit denen Sokrates die Aufstellungen der Sopliisten zu widerlegen oder seine eigenen Ansichten zu beweisen sucht, seien durchweg im Sinne Piatos gehalten. Vieles darin dient augenscheinlich nur zur Kenn- zeichnung der eigentümlichen Art des geschichtlichen Sokrates. Andererseits ist auch die Annalnne nicht berechtiort, der „Gorgias" gehöre deshalb, weil er die Prinzipien, die die geschichtliche Stellung Piatos bezeichnen und seine eigen- tümliche Grösse ausmachen, nicht vorträgt, der Frühzeit des Plato an, einer Zeit, in der er seine eigentümlichen Prinzipien

'; Gorg. 50Cc.

') Vgl. Gercke, Eialeitung zu S a u pp e 's, von ihm erneuerter, Ausgabe des „Gorgias". 1897. S. XXIX. ff.

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noch nicht gefunden liätte. Vielmehr bezeichnet der „Gorgias", eines der vollendetsten Werke, die menschlicher Geist jemals geschaffen hat, seiner ganzen Beschaffenheit nach in Form und Inhalt einen der Höhepunkte im Schaffen Piatos und gehört der Zeit der vollendeten geistigen Entwicklung und schriftstellerischen Meisterschaft des Philosophen an-). Am nächsten möchte man ihn auch der Zeit der Entstehung nach an „Phaedon" und „Gastmahl" anreihen, ihn also um 380—375 etwa entstanden denken. Die nähere Untersuchung dieses Punktes liegt unserer Aufgabe fern^).

In erster Linie muss der „Gorgias" als ein Kunstwerk und nicht als ein Lehrbuch betrachtet werden. Als seine Abzweckung erweist sich dem aufmerksamen Leser die Dar- stellung zweier entgegengesetzter Weltanschauungen in der Gestalt konkreter Persönlichkeiten und in lebendiger Aktion des Gedankenaustausches. Als eine dieser konkreten Ge- stalten tritt uns Sokrates entgegen, und vertritt Gesinnungen, die gewiss Piatos volle Zustimmung besitzen, ohne dass darüber die geschichtliche Eigentümlichkeit des Sokrates geopfert würde.

Man ist auf die sonderbare Vorstellung gekommen, der „Gorgias" wolle eine Art von Apologie für das philosophisciie Studium im allgemeinen und für das des Sokrates oder des

') Sasemihl, genet. Entwicklung der plat. Phil, Leipzig 1855 p. 113 verlegt die Abfassung des Gorgias in die Zeit unmittelbar nach dem Tode des Sokrates auf Grund von Gorg. p. 486 A f; 508 C. fif; p. 521 C. f. Lutoslawski, the origin and growth of Piatos Logic. London 1935 p. 189 hält den Gorgias für einen der spätesten Dialoge aus der sokratischen Periode. S chle icrmacher, Hd. II. I. S. 19 ff. verlogt seine Abfassung in etwa das 40. Lebensjahr Piatos: des- gleichen Zell er p. 525 Anm. 1 wegen der im Gorg. 525 B. ff gemachten Unterscheidung zwischen heilbaren und unheilbaren Sünden und zeitlichen und ewigen Strafen im Jenseits. Ebenso C. Ritter, Plato, München 1910 p. 449 wegen der ausführlichen Unterweisung des Polos in der Methode richtiger dialektischer Verständigung.

2) Wir verweisen für diese Frage auf die Untersuchungen von Natorp und auf die oben genannte Einleitung von Gercke.

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Plato im besonderen darstellen. ') Offenbar ist die Ab- zweckung des Werkes eine viel umfassendere, und die Stellen, die auf den Wert der philosophischen Durchbildung der Persönlichkeit gehen, sind rein episodisch zu deuten. Dass solche Aeusserungen gleichwohl einen zeitlichen Anlass haben, etwa den Gegensatz zu einer literarischen Richtung oder einem vielgelesenen Werke kennzeichnen können, man könnte dabei etwa auch an Xenophons Memorabilien denken i-t damit keineswegs geleugnet. Aber es liegt auch dazu kein Grund vor, anzunehmen, dass der „Gorgias" wie die „Apologie" und Xenophons „Memorabilien" etwa in den Streit um das Andenken des Sokrates eingreifen sollte. Man beruft sich dafür auf die Stellen, in denen von einer möglichen Anklage gegen Sokrates gesprochen wird und von seiner völligen Hilflosigkeit in einem solchen Falle. Aber diese Ausführungen erweisen sich ohne jeden Zweifel als gelegentliche Folgerungen aus dem, was als das eigentliche Ziel der Untersuchung den Kern des Werkes ausmacht, und für einen Rahmen, in den das üebrige eingepasst wäre, träte es schon seiner Ausdehnung wegen allzusehr zurück. Eine Verkennung der hohen Ziele Piatos würde es auch bedeuten, wollte man im „Gorgias" ein ausführliches Ein- gehen auf minderwertige literarische Erscheinungen der Zeit vermuten, um sich mit kleineren Geistern auseinanderzusetzen. In einem anderen seiner grossen Werke, dem „Symposion", hat Plato, wie wir allerdings meinen möchten, das entsprechende Werk des Xenophon mit dem gleichen Titel vor Augen gehabt. Dabei hätte er das, was bei Xenophon kleinlich und dürftig ist, in ein Gedicht von unermesslicher Tragweite an künstlerischer Kraft und Hoheit und an Reichtum der Gedanken umgewandelt^). Für den „Gorgias" ist eine solche

') Vgl. F. S u s e m i h 1, die genetische Entwicklung der plato- nischen Philosopic. I. 1855. S. 9Cff.

2} K. Fr. Hermann ist der Ansicht, Xenopb.'s „Synaposion" sei die frühere Schrift, und man dürfe dem Xenophon doch wohl schwerlich einen solchen Mangel an Urteilskraft zutrauen, wie er ihn mit der Abfassung seines Gastmahls bewiesen hätte, wenn ihm das

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noch nicht gefunden hätte. Vielmehr bezeichnet der „Gorgias", eines der vollendetsten Werke, die menschlicher Geist jemals geschaffen hat, seiner ganzen Beschaffenheit nach in Form und Inhalt einen der Höhepunkte im Sehaffen Piatos und gehört der Zeit der vollendeten geistigen Entwicklung und schriftstellerischen Meisterschaft des Philosophen an-). Am nächsten möchte man ihn auch der Zeit der Entstehung nach an „Phaedon" und „Gastmahl" anreihen, ihn also um 380—375 etwa entstanden denken. Die nähere Untersuchung dieses Punktes liegt unserer Aufgabe fern^j.

In erster Linie muss der „Gorgias" als ein Kunstwerk und nicht als ein Lehrbuch betrachtet werden. Als seine Abzweckung erweist sich dem aufmerksamen Leser die Dar- stellung zweier entgegengesetzter Weltanschauungen in der Gestalt konkreter Persönlichkeiten und in lebendiger Aktion des Gedankenaustausches. Als eine dieser konkreten Ge- stalten tritt uns Sokrates entgegen, und vertritt Gesinnungen, die gewiss Piatos volle Zustimmung besitzen, ohne dass darüber die geschichtliche Eigentümlichkeit des Sokrates geopfert würde.

Man ist auf die sonderbare Vorstellung gekommen, der „Gorgias" wolle eine Art von Apologie für das philosophische Studium im allgemeinen und für das des Sokrates oder des

I

') Sasemihl, genet. Eatwicklung der plat. Phil, Leipzig 1855 p. 113 verlegt die Abfassung des Gorgias in die Zeit unmittelbar nach dem Tode des Sokrates auf Grund von Gorg. p. 486 Ä f; 508 C. ff; p. 521 C. f. Lutoslawski, the origin and growth of Piatos Logic. London 1935 p. 189 hält den Gorgias für einen der spätesten Dialoge aus der sokratischen Periode. Schleiermacher, Bd. IL L S. 19 ff. verlegt seine Abfassung in etwa das 40. Leben&jdhr Piatos : des- gleichen Zell er p. 525 Äcm. 1 wegen der im Gorg. 525 B. ff gemachten Unterscheidung zwischen heilbaren und unheilbaren Sunden und zeitlichen und ewigen Strafen im Jenseits. Ebenso C. Ritter, Plato, München 1910 p. 449 wegen der ausführlichen Unterweisung des Polos in der Methode richtiger dialektischer Verständigung.

^) Wir verweisen für diese Frage auf die Untersuchungen von Natorp und auf die oben genannte Einleitung von Gercke.

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Plato im besonderen darstellen. *) Offenbar ist die Ab- zweckung des Werkes eine viel umfassendere, und die Stellen, die auf den Wert der philosophischen Durchbildung der Persönlichkeit gehen, sind rein episodisch zu deuten. Dass solche Aeusserungen gleichwohl einen zeitlichen Anlass haben, etwa den Gegensatz zu einer literarischen Richtung oder einem vielgelesenen Werke kennzeichnen können, man könnte dabei etwa auch an Xenophons Memorabilien denken i-t damit keineswegs geleugnet. Aber es liegt auch dazu kein Grund vor, anzunehmen, dass der „Gorgias" wie die „Apologie" und Xenophons „Memorabilien" etwa in den Streit um das Andenken des Sokrates eingreifen sollte. Man beruft sich dafür auf die Stellen, in denen von einer möglichen Anklage gegen Sokrates gesprochen wird und von seiner völligen Hilflosigkeit in einem solchen Falle. Aber diese Ausführungen erweisen sich ohne jeden Zweifel als gelegentliche Folgerungen aus dem, was als das eigentliche Ziel der Untersuchung den Kern des Werkes ausmacht, und für einen Rahmen, in den das Uebrige eingepasst wäre, träte es schon seiner Ausdehnung wegen allzusehr zurück. Eine Verkennung der hohen Ziele Piatos würde es auch bedeuten, wollte man im „Gorgias" ein ausführliches Fiin- gehen auf minderwertige literarische Erscheinungen der Zeit vermuten, um sich mit kleineren Geistern auseinanderzusetzen. In einem anderen seiner grossen Werke, dem „Symposion", hat Plato, wie wir allerdings meinen möchten, das entsprechende Werk des Xenophon mit dem gleichen Titel vor Augen gehabt. Dabei hätte er das, was bei Xenophon kleinlich und dürftig ist, in ein Gedicht von unermesslicher Tragweite an künstlerischer Kraft und Hoheit und an Reichtum der Gedanken umgewandelt^). Für den „Gorgias" ist eine solche

') Vgl. F. S u .s e m i h 1, die genetische Entwicklung der plato- nischen Phüosopic. I. 1855. S. 90ff.

2} K. Fr. H e r m a n n ist der Ansiebt, Xenoph.'s „Symposion" sei die frühere Schrift, und man dürfe dem Xenophon doch wohl schwerlich einen solchen Maugel an Urteilskraft zutrauen, wie er ihn mit der Abfassung seines Gastmahls bewiesen hätte, wenn ihm das

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Voiiuge nicht nachweisbar. Xenophons „Hiero", der wenigstens in der Darstellung des Gegensatzes zwischen äusserer Herrschaft und privatem Glück eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Inhalt des „Gorgias" besitzt, ist wie öfter nachgewiesen ist, erst viel später geschrieben.

Mit einigen Worten berühren wir die Ansichten der Gelehrten über die Zeit, in der das im „Gorgias" geführte Gespräch als stattgefunden vorgestellt werden könnte. Diese Ansichten gehen sehr weit auseinander, und in der Tat hat ja der Gegenstand seine grossen Schwierigkeiten, sodass man aus den Zeitbestimmungen für die Ereignisse, die im Dialog selber erwähnt werden, keinerlei Anhalt gewinnen kann für die Bestimmung der Zeit, in der der „Gorgias" geschrieben ist. Am genauesten und sorgfältigsten hat darüber A. Gercke in der Einleitung zu seiner Ausgabe des „Gorgias" (Berlin 1897, S. XIV ff.) gehandelt; an dem Ergebnisse seiner Untersuchung wird man wohl festhalten müssen. Plato hat offenbar gar keine bestimmte Zeit ins Auge gefasst oder ausdrücklich die Zeit, in der das Gespräch stattgefunden haben soll, als eine unbestimmte bezeichnet, dadurch, dass er Ereignisse aus ganz verschiedenen Zeiten heranzieht, auf die im Dialog Bezug genommen wird. Der ganze Dialog ist eine Dichtung, durch kleine, aber wohlüberlegte Mittel herausgehoben aus der historischen Sphäre realer Tatsachen und des Parteigetriebes in Athen. So Gercke, und dabei wird man sich beruhigen dürfen.

Fest steht, dass der Dialog nach 399, dem Tode des Sokrates, verfasst sein muss. Schon die irn Gorgias vor- schauend angebrachte Andeutung des Schicksals ^), das Sokrates zuteil werden wird, müsste als Beweis dienen für diejenigen, die es überhaupt für möglich halten, dass Plato

gleichnamige platonische Werk bereits vorgelegen hätte. Gegauteiliger Ansicht ist Böckh, De simultate quac inter Piatonom et Xenophontem intercessisse fertur. 1812 und in dessen kleinen Schriften Bd. IV. S. ö. Ebenso S c h a n z im Hermes XXI, 458. W.Christ, Geschichte der griech. Literatur, 4 Auü. II. S. 256.

') K. Fr H e r m a n n, Geschichte und System der platonischen Philosophie Bd. 3, S. 476.

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seinen lioeliverelirtini Lelirer iiocli bei dessen Lebzeiten als Person in steinen Dialogen habe auftreten lassen, was wir allerdings für völlig undenkbar erklären. Die Helege für die hohe Stnfe der Geistesentwicklung des Verfassers, die uns im „Gorgias" entgegentritt, mögen als Beweis für eine Abfassung 1) in höheren Lebensjahren nur eben angedeutet werden. Für die Jahre, in die die im „Gorgias" erwähnten Ereignisse fallen, verweisen wir auf die Ausführungen von (jercke 1. c. S. XV. Daraus würde sich eine Bestimmung für das Jahr, in das die Abfassung des Dialoges fallen könnte, auf keine Weise gewinnen lassen. Ebenso begnügen wir uns, was den Ort betritt>, der als Schauplatz des Gespräches zu gelten hat, auf die zutreffenden Ausführungen von Gercke 1. c. S. XIV hinzuweisen. Das Ergebnis ist, dass Plato keinen Wert darauf gelegt hat, den Ort der Unterredung ausdrücklich zu bezeichnen, dass aber wahrscheinlich der Ort eben der ist, an dem der Vortrag des Gorgias, der dem Gespräche vorangegangen ist, stattgefunden, hat, also etwa ein Gymnasium oder eine öffentliche Säulenhalle, aber ganz sicher nicht das Haus des Kallikles, wie manche gemeint haben.

IV. Die Personen im „Gorgias".

Aristoteles unterscheidet in seiner Ethik drei haupt- sächliche Lebensformen: das Leben des Genusses, das Leben in den Geschäften, und das theoretische, das kontemplative Leben ^). Ein Zweifel daran, dass er auch in diesem Punkte sich an Plato anschliesst, wäre unberechtigt. Allerdings nimmt Plato im „Gorgias" statt dieser Dreiteilung eine Zweiteilung vor. Die beiden Lebensformen, die er unterscheidet, sind das aktive und das kontemplative Leben. Offenbar zieht er das Leben des Genusses und das Leben in den Geschäften in eines zusammen unter dem Gesichtspunkt, dass beide als

•) P. N a t 0 r p, Ueber Grundabsicht und Entstehungszoit des platonischen Gorgias, Archiv f. Geschichte der PhilosopliieBd.'}, S. 2>9iS. Gercke in seinem Vorwort zu Sauppei Ausgabe S. XXXUI fl'.

«; Eth. Nicoui. I, 5. 1095 b, 17. VII, 7. li 77 b, 30.

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das Leben für den Dienst der äasseren Güter den gemein- samen Gegensatz bilden zu dem wahren Leben, dem Leben im Dienste der inneren Selbstvollendung. Um die innere Nichtigkeit des blinden Machtstrebens so vieler seiner Zeit- genossen und die tiefen Mängel der politischen Zustände Athens überhaupt darzustellen, nimmt er die Rhetorik, die eine der herrschenden Mächte des Zeitalters war, zur Ziel- scheibe. Seine Absicht ist darauf gerichtet, als das Kenn- zeichen des weltlichen Lebens und Treibens die tiefe Knecht- schaft unter Menschen, Dingen und Verhältnissen zu erweisen, und dem gegenüber die Seligkeit der inneren Freiheit zu preisen, deren der Philosoph, der frei ist von Begierden nach äusseren Ehren und Genüssen und von ähnlichen Affekten, teilhaft wird. Zu dem Buhlen um die Gunst der unverständigen Massen, um Macht, Ehre und Reichtum wird das Streben nach der Gesundheit der Seele und einem günstigen Urteil im jenseitigen Gericht in den schärfsten Gegensatz gestellt. Am Schlüsse wird als Form der Dar- stellung der Mythus verwandt. Die hier auftretende Vor- stellung vom jenseitigen Gericht sollte man nicht als Beweis dafür verwenden, dass Plato „orphisch-pythagoreische" An- sichten selbst geteilt oder dem Sokrates in den Mund gelegt habe. Wenn wir Rohde glauben, so ist jenen Kultgemeinden der Gedanke einer Vergeltung guter und böser Taten nach dem Tode im Jenseits vollständig fremd gewesen '). Dass Sokrates selbst solche Ansichten gelehrt habe, dafür fehlt es an jedem Zeugnis. In^Yahrheit ist der Mythus und die ganze Vorstellung vom jenseitigen Leben und jenseitigen Gericht eine einfache Konsequenz aus dem eingenommenen ethischen Standpunkt. Und damit ist der „Gorgias" zu betrachten als ein Evangelium vor dem Evangelium, und sein eigentlicher Gehalt lässt sich mit den Worten unseres Heilandes bezeichnen : ^) „Quid enim prodest homini, si mundum Universum lucretur, animae vero suae detrimentum patiatur, aut quam dabit horao commu-

') Vgl. Roh de, Psyche 2. Bd. I. p. 295. 2j Matthäus XVI, 26.

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tatioiuMii pro anima sua"-' „Tt.' y^fi w'^cX/,})/, 351011 oi^i^cjiozf.;, sav Tov x^3u.ov oXov xsp^T^T/), xrjv os 'l^/V aotou ^f^\xuu\ir^; r^ -'.

Die entgegengesetzte, die auf Betätigung in der äusseren Welt gerichtete Gesinnung wird in drei verschiedenen Ge- stalten dargestellt. Die erste derselben ist Gorgias, der vielgerühmte Redner und Lehrer der Sophistik, der sich selbst mit Stolz als einen ausgezeichneten Rhetor bezeichnet'). Gorgias in platonischer Darstellung ist ein Mann von ge- mässigter Haltung und elirbaren Grundsätzen; von dem platonischen Sokrates wird er mit unverkennbarer Hochachtung behandelt. Infolge seines ausserordentlichen Bewandertseins in Kenntnissen auf den verschiedensten Gebieten und seiner alle überragenden Fertigkeit im Reden und in der Darlegung seiner Wissenschaft fühlt er sich allen überlegen; sein Selbst- vertrauen ist ungemessen. ¥a' ist ein Freund wissenschaft- licher Untersuciiung, und die Unterhaltung mit einem so geschickten Dialektiker wie Sokrates bereitet ihm ganz besondere Freude. Was er als von ihm bewiesen anerkennen rauss, gibt er offen und bereitwillig zu, ohne dass es ihm Verdruss verursacht, im Gespräche überwunden zu sein. Er hat sich auch genügend sittliches Gefühl bewahrt, um den Einwänden des Sokrates, die aus der sittlichen Sphäre gegen seinen Preis der Rhetorik vorgebracht werden, ihr Recht zuzugestehen, und in ernstem wissenschaftlichem Interesse an der Erforschung der Wahrheit treibt er die andern aus- drücklich an, dem Sokrates auch ferner Rede zu stehen und seiner Kunst der Widerlegung im Suchen der Wahrheit Stand zu halten ^j. Augenscheinlich bereitet ihm die Ge- schicklichkeit, mit der Sokrates Gedanken entwickelt, die den seinigen ganz entgegengesetzt sind, ein hohes Vergnügen, und mit S{)annung wartet er ab, wie Sokrates seine Sache weiter und bis zu Ende durchführen wird. Auch dass es des Rhetors eigentliche Aufgabe sei, seine Kunst im Dienste

») Gorg. 449A. »J n 497ß.

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(los Rechtes und im Kampfe gegen das Unrecht zu gebrauchen, bekennt er ausdrücklicli als seine Ansicht und meint, wenn diese Kunst niciit zur Verteidigung, sondern zum Angriff", und nicht im Dienste des Rechtes, sondern im Dienste des Unrechtes verwendet werde, so solle man denjenigen, der so die Kunst missbraucht, nicht aber die Kunst selber tadeln ^). Dem Redner aber schreibt er ausdrücklich die Verpflichtung zu, sich die wissenschaftliche Erkenntnis von Recht und Unrecht zu erwerben, um seine Betätigung danach einrichten zu können^;.

Den Eindruck eines geistig weit minder bedeutenden Menschen von „sittlich-unsittlicher Halbheit" gewährt dagegen der zweite Unterredner, Polos von Akragas, des Gorgias getreuer Schüler. Mit grosser Konsequenz an seinem Prinzip hartköpfig festhaltend, nimmt er es auf sich, eine ganz ähnliche Ansicht vom Ziele des menschlichen Strebens zu vertreten, wie sein weltberühmter Meister. Gleich bei den ersten Worten jedoch, die er spricht, gewinnen wir den Eindruck, dass zwischen des Polus dreister Entschiedenheit und Gorgias ernster Gehaltenheit ein gewaltiger Unterschied sich auftut und erst Polos es ist, der die schlimmen Konse- quenzen des beiden gemeinsamen Standpunktes blosslegt. "Wenn Gorgias sich immerhin noch eine ehrenhafte Gesinuuug bewahrt hat, so ist dies offenbar nicht den theoretischen Anschauungen, die er hegt und in der Welt verbreitet, zu verdanken, sondern der persönlichen Eigenart und abge- klärten Stimmung des bejahrten und geistig regsamen Mannes zuzuschreiben. Welche Konsequenzen für die Lebensführung diese auf die äussere Welt gerichtete Anschauung wirklich mit sich bringt, das zeigt uns dagegen die Gestalt des Polos. Jung und leidenschaftlich, vertritt er seine Ansicht, die er sich doch nicht selbst gebildet hat, mit tönenden Worten; er hat sie fertig übernommen und steckt darin fest wie in einem ausgemachten Dogma. Diese Ansicht ist nach ihm

') Gorg. 457A— 157C. ^) 460A-460B.

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die einzig mögliche; wer eine andere hat, der ermangelt des gesunden Menschenverstandes i). Mit unbedingtem Selbst- vertrauen reisst er das Gespräch an sich und meistert seinen Meister, der Zugeständnisse mache ^), die weder geboten noch zweckmässig seien. Mit Sokrates, das steht ihm fest, und mit dessen sophistischen Künsten werde er leichtes Spiel haben ; das hindert nicht, dass er sich nachher dem Sokrates gegenüber überaus unsicher und ungeschickt erweist. Seine Hiltlosigkeit, die in so schlagendem Gegensatze steht zu der Höhe seines Selbstvertrauens, lässt erkennen, wie gross die Dürftigkeit des gesunden Menschenverstandes und des geraeinen Bewusstseins ist, avo es gilt, nicht eingelernte Sätze zu wiederholen, sondern den Gegenstand begrifflich za unter- suchen. In der Rolle des Fragenden^) erweist er sich als so ungeschickt, dass Sokrates, der ihn wegen seines logischen Unvermögens fortgesetzt mit grosser Geringschätzung, ja schliesslich mit bitterem Hohne behandelt, ihm erst beibringen muss, wie er weiter zu fragen habe^).

Polos kann die Gattung nicht von der Art unterscheiden, die Begriffe Wollen und Belieben nicht auseinanderhalten: er merkt nicht, dass die eine Frage, die er stellt, vielmehr zwei Fragen enthält^;: Hat einer Macht, zu tun was er will? und tut er was er will, wenn er vollbringt, was ihm beliebt? Schon seine ersten Worte zeigen, dass strenges, logisches Denken nicht seine Sache ist ; er liat sich auf Rhetorik eingeübt, der Dialektik aber ist er nicht Herr geworden. Gefragt, was die Rhetorik sei, antwortet er, wie beschaffen sie sei. Mit grosser Heftigkeit wirft er dem Sokrates, der den Gorgias abermals in die Enge getrieben hat, tölpelhaftes und unfeines Wesen vor; er habe hinterhaltig die Frage nach dem Wesen der Rhetorik auf das ethische Gebiet hinübergespielt ^j, wo man

-473 E.

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Gorg.

467 ß: 473 A-

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461B-461C.

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462 B.

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463 C.

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466 D.

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461 B.

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so leicht aus Scheu vor der lierrscliendcn Ansicht sich ver- leiten liisst, mit seiner wahren Meinung nicht offen lieraus- zukoniraen 'j. Er selber ist über ethische Rücksichten und altväterliche Vorurteile weit erhaben; Annehmlichkeit, Macht und Ansehen ist das, was ihm allein wertvoll erscheint^), und nur die Furcht vor der Strafe ist ihm der Grund, weshalb man sich des Bösen zu enthalten hat. Dabei ist es ein köstliches Schauspiel, diesen in der gemeinen Ansicht belangenen Menschen zögernd zugeben zu sehen, was ihn widerlegt; zu hören, wie er am entscheidenden Punkte, wo er Sokrates mit Antworten nicht mehr standhalten kann, diesen auffordert, in der Klarlegung des Gegenstandes doch allein fortzufahren. Dann wieder glaubt er diese Wider- legung durch die Bemerkung, ein Kind könne Sokrates widerlegen'), geleistet zu haben mit einem Beispiel"*), das er anführt, durch die Berufung auf die herrschende Ansicht der Menschen, durch die Erregung des Gefühles und dann wieder durch offenes Auslachen^). Das sind die Mittel, mit denen er nach Rhetorenart die Gründe des Sokrates entkräftet zu haben sich einbildet; und schliesslich erklärt er dessen ernste Ueberzeugung für so ungeheuerlich, dass er annehmen müsse, Sokrates hege sie sicher selbst nicht, sondern stimme im Grunde seines Herzens mit ihm, Polos, überein ^).

Indessen, die letzten Konsequenzen aus seinem grund- sätzlichen Standpunkte zu ziehen, davon hält auch Polos ein Rest von sittlicher Scheu zurück. Von Sokrates gedrängt, gibt er bei der Erörterung über die Frage, ob Unrecht-Tun oder Unrecht-Leiden schlimmer sei, wenigstens dies^zu, dass Unrecht-Tun etwas für das Gefühl verletzenderes habe, niediiger, unedler, unschöner^) (aia/;.r>v) sei, als Unrecht-

') Gorg.

461 C.

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469 A.

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4700.

*)

470 D.

6\ / 55

473 E.

•) 5,

471-473A.

')

476B.

- 47

Leiden. Damit aber hat ilin Sokrates gefangen, und lässt ihn, an diesem Zugeständnisse ihn festhaltend *), nicht eher los, als bis er auch die letzten Konsequenzen, die Sokrates daraus zieht, zugibt.

Nun aber tritt Kallikles als dritter Unter red ner in das Gespräch ein, und jetzt erst enthüllen sich die zer- störenden Folgen, die eine weltliche Gesinnung, wo sie un- eingeschränkt waltet, nach sich ziehen rauss, in ihrer ganzen Schroffheit und Hässlichkeit. Kallikles verschmäht es, seine Ansichten mit einem schönen, das Gefühl nicht verletzenden Gewände zu bekleiden. Mit edlen Gefühlen schön zu tun und sich dem Urteil der Menschen zu beugen, erscheint ihm als feige Schwäche. So spricht er seine An- sicht mit rücksichtsloser Aufrichtigkeit aus, die auf diesem (Jebiete geradezu das Gepräge schamloser Frechheit annimmt. Nach seiner allerdings sehr einfachen und durchsichtigen Anschauung ist der Zweck des Menschenlebens der, zu geniossen, so viel und so intensiv wie möglich-}; Befriedi- gung der Begierden und Gelüste, der niedrigsten wie der höheren, ist das Gebotene. Zu solcher Befriedigung aber bedarf man der Macht über die Menschen und über die Dinge, und damit wird Macht zu erwerben als Mittel zur Befriedigung der Begierden zur ersten Aufgabe des ver- nünftigen Menschen. Durch welche Mittel diese Macht er- worben wird, ist gleichgültig, wenn sie nur zum Ziele führen; wer aber die erlangte Macht anders benutzen wollte als zu seiner persönlichen Befriedigung, der wäre ein Tor^). Denn etwas Heiliges, Göttliches anzunehmen, ist verkehrt. Es gibt keine sittliche Forderung, die man zu achten hätte; es gibt auch kein anderes Eecht als das Recht der Stärke*). Von Natur ist Jeglichem Jegliches gestattet, wenn er nur die Macht, es zu vollbringen, besitzt^); der Schwächere aber

') Gorg. iliV ilbE: 475 B.

2) 491 E; 4Ü--' A: 494 C.

3) 491 E. *) 483 D. •) 492 C.

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hat keinen Anspruch auf zarte Schonung, wo er den Gelüsten des Stärkeren im Wege steht. Der höhere Mensch erweist sich gerade dadurch als charaktervoll und vernünftig, dass er den Schwächeren unbarmherzig zertritt, wo es seinen eigenen Nutzen gilt. Die unter den Menschen geläufigen Vorstellungen von Gerechtem und Ungerechtem und die denselben entsprechenden Gesetze und Einrichtungen im Staate sind lauter willkürliche Erfindungen^) und listige Auskunftsmittel der Niedrigen und Schwachen, um die Edlen und Starken auf künstliche Weise wider das Gesetz der Natur einzuschränken und zu bändigen^). Der starke Geist kümmert sich nicht um solche willkürlich aufgerichteten Schranken und ist erhaben über die Vorurteile der Masse. Macht will er erlangen, um zu geniessen; jedes Gut, das der Schwächere besitzt^), gehört von Rechts wegen ihm. Darum wendet er sich der politischen Tätigkeit zu, widmet sein Leben praktischen Aufgaben und hat für die Hingabe an ideelle Interessen nur Hohn und Verachtung*). Für junge Leute mag es ja ganz angebracht sein, eine Zeit lang sich dem Studium der Wissenschaften, der Geistesbildung über- haupt zu widmen; allein wenn ältere Männer in derjzleichen unnützen Spielereien ihre Kraft und ihre Zeit zu vergeuden fortfahren, so ist das für den Einsichtigen ein Gegenstand des Vorwurfs und des Mitleids-^). Ein Tyrann zu sein, seine Begierden so gross als möglich werden zu lassen^), nach Belieben andere schädigen und vernichten zu können, ohne dass man dafür Vergeltung zu fürchten braucht, das ist das seligste Ziel eines würdig zugebrachten edlen und treff- lichen Lebens'').

') Gorg.

483 C: 492 A.

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484 A.

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484 C.

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485 A.

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485 B.

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491 E.

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492A-492 C.

1

49

Diese Ansichten wurzeln nicht in blosser Laune und Stimmung, sondern sie sind vielmehr eine wohl befestigte Theorie, die ihre Begründung in der Erkenntnis hat, dass der Mensch als blosses Sinnenwesen von sinnlichen An- trieben regiert sei wie die Tiere, und seine Intelligenz ihm nur zur besseren Befriedigung seiner sinnlichen Begierden verliehen sei. Daher ist Kaliikles in seinen Ansichten auch völlig befestigt und unerschütterlich. Des Sokrates entgegengesetzte Ansicht so glaubt er könne unmög- lich im Ernste gemeint sein'j. Wo er jedoch durch des Sokrates Beweisgang in Bedrängnis gerät^), beschwert er sich, dass dieser eine kindische Freude an dem kleinsten scheinbaren Zugeständnis habe, und mit Beispielen, die von den niedersten Sphären hergenommen seien ^), den Gegner zu fangen suche; dass er Unverständliches rede, um den andern zu überlisten und zu übertölpeln und um selbst um jeden Preis Recht zu behalten*). Nur mit Widerwillen lässt er sich um der andern willen, die gern die Erörterung der Streitfrage bis zu Ende mit anhören möchten, dazu bestimmen, die Unterredung fortzusetzen und dem Unsinn, den Sokrates vorträgt, weiter sein Ohr zu leihen^). In seiner Ansicht ist er durch keinen noch so schlagenden Beweisgrund^ zu beirren; denn er weiss es besser, und für die tiefsinnigsten Ausführungen seines Gegners hat er nur ein überlegenes Lächeln. Das alles stimmt ja gar nicht zur Wirklichkeit, meint er, und die Gesichtspunkte des Sokrates seien voll- kommen weltfremd ; weder handeln die Menschen so, noch denken sie so^). Hierbei kommt dann schliesslich der tiefste Grund, in dem die ganze Anschauung des Kaliikles wurzelt, zum Vorschein: das Angenehme und das Gute sind eines und dasselbe; Wissenschaft dagegen und Willensstärke sind

') Gorg.

481 B.

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489 C.

')

494 E.

*)

497 B.

»)

501 C: 505

')

511 A.

50

verschieden uod haben weder miteinander noch mit dem Guten irgend welche Geracinschal't^). Zuletzt aber gerät Kallikles dem Gedankengange des Sokrates gegenüber doch in ein gewisses Schwanken und Zweifeln^), und nun behilft er sich, kleinlaut geworden, mit der Ausrede, er mache seine Zugeständnisse lediglich dem Sokrates zu Gefallen und um der lästigen Sache ein P^nde zu bereiten. Dann aber sich wieder fassend verbirgt er seine wachsende Verlegenheit hinter trotziger Verstocktheit und höhnischem Lachen.

Vergebene Mühe, einen Kallikles zu belehren oder zu bekehren! Diese Art, die ihren Standpunkt jenseits von Gut und Böse nimmt, war vor 2(100 Jahren ebenso unver- besserlich wie sie es heute noch ist, weil ihr der sittliche Ernst, die Fähigkeit des Erkennens der wahren Bestimmung des Menschen und des ausser aller Sinnlichkeit gelegenen absoluten Seins abgeht.

Die Meisterschaft, die sich in der Zeichnung dieser drei Gestalten, in dem humoristischen Behagen wie in der satirischen Schärfe oftenbart, mit der diese Klimax aufge- baut ist, bleibt tür alle Zeiten bewundernswert. Doch erst in der Schilderung des Sokrates, des eigentlichen Helden dieses Dramas, entfaltet der platonische Genius seine ganze Grösse. Sokrates trägt im „Gorgias" besondere Züge, welche in andern Dialogen nicht so hervortreten oder ihm abgehen, so viel Gemeinsames auch in der Gestalt des Sokrates, wo er in den platonischen Dialogen das Wort führt, immer wiederkehrt. Ueberall ist er der Meister der Dialektik, der die schwachen Stellen in den Ausführungen der Gegner schnell und sicher erfasst und diese mit einfachen, unschein- baren Wendungen in die Enge treibt. Ueberall macht er seine Deduktionen mit unzerstörbarer Heiterkeit des Gemütes, welche auch die Gegner versöhnt; seine leichte Ironie, seine Gutmütigkeit, Freundlichkeit und seine verbindlichen Formen lassen bei ihnen das Getühl des Verletztseins garnicht

') Gorg. 495 D. «) 513 C.

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aufkommen. Obwohl ihm seine eigenen üeberzeugungen fest und heilig sind, bleibt er doch meistens duldsam und nachsichtig gegen die Irrtümer der anderen, die er nicht sowohl belehren, als vielmehr zu Mitwirkenden bei der ernsten Arbeit der Untersuchung heranziehen zu wollen vor- gibt.

So tritt uns Sukrates im „Gorgias" entgegen; doch hier nimmt sein Wesen noch eine besondere Färbung an. Stolzes Selbstbewusstsein M ist an Stelle seiner sonstigen Bescheidenheit und vorgeschützten Unsicherheit getreten; nur einmal findet sich eine derartige Aeusserung^), wie man sie sonst so oft von ihm vernimmt, das Bekenntnis seines Nichtwissens. Seine Haltung ist durch die Art der Gegner bestimmt, vor denen er mit ausserordentlich geringem Respekt erfüllt ist. Den „Gorgias" behandelt er zwar noch mit sichtbarer Hoch- achtung und unter Vermeidung alles Verletzenden; er ehrt sein Alter und seine Mässigung, so geringwertig ihm auch das Handwerk erscheint, das „Gorgias" betreibt, und die Gesinnung, in der er es betreibt. Ihm gegenüber nimmt er auch den Anlauf zu wirklicher Untersuchung, und wo er Bemerkungen ausspricht zur Methodik der Forschung, gibt er ihnen nicht die Form einer Belehrung oder gar einer Zurecht- weisung seines Mitunterredners, sondern einer Rechtfertigung seines eigenen Verfahrens ^). Zwar sind die Gründe, deren er sich bedient, nicht eben tief, und die Gedanken, die er ausspricht, bleiben äusserlich. Sichtbariich aber ist es die Rücksichtnahme auf die Art des Gegners, die seine in den anderen Unterredungen zu Tage tretende gute Laune hier unterdrückt.

Ganz anders aber gestaltet sich des Sokrates Ver- halten zu Polos und gar zu Kallikles. Beide sind ihm ärgerlich, ja er behandelt sie mit offensichtlicher Nicht- achtung wegen ihres logischen und dialektischen Unver-

») Gorg. 427A; 482A: 521D.

») 461A f. vgl. sonst 509A.

») 453CD.

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mögens*), so sehr er sich aucli znsammenniramt, um die Unterredung mit ihnen zu Ende zu führen, damit diese Art von niedriger Gesinnung nicht unwidersprochen bleibe. Sckrates ist offenbar gereizt durch des Polos dreistes Selbst- vertrauen und des Kallikles frivole, mit eiserner Stirn schamlos vorgetragene Gesinnungen. So kommen im „Gorgias" alle die liebenswürdigen Züge, die Sokrates sonst im Disput zu tragen pflegt, wohl irgendwie zum Vorschein, doch sind sie getrübt und verdunkelt; ja er verleugnet seine gewöhnliche Gutmütigkeit und Freundlichkeit, indem er sich offenen Hohnes und verletzender Schärfe gegen seine Gegner bedient. „So widerlege mich dochl" herrscht er wiederholt den anmassenden Polos an. „Ich führe meinen Beweis in Be- griffen, und du lachst!^) Soll das eine. Widerlegung sein? Du berufst dich auf die Meinung der Leute, du führst ein Beispiel an: meinst Du damit die Sache auszumachen?" Viel matter, viel weniger heiter als sonst klingt es, wenn Sokrates auch hier den Anschein erwecken will, als erwarte er von dem anderen Belehrung, und weit geringer ist die Bescheidenheit, mit der er sich auf sein angebliches Nichtwissen zurückzieht. Ueberall merkt man ihm den Unwillen, die Verachtuug an'), die er den Gegnern selbst, und die er ihren Ansichten entgegenbringt; ja, unverhohlener, höhnischer Sarkasmus spricht sich in den an Kallikles gerichteten Worten aus, mit denen er ihm für die Freundschaft dankt, durch die jener ihn von seinen Irrtümern zu befreien gedenke, und ihn bittet, darin doch ja nicht abzulassen. Im „Gorgias" ist dem Sokrates das niedrigste Beispiel zur Widerlegung seiner Gegner nicht zu niedrig*), und so droht die Diskussion zwischen ihm und Kallikles nicht ganz ohne Verschulden des Sokrates zuweilen in persönliche Invektiven auszuarten^;. Sokrates will es offenbar garnicht vermeiden, diese unwürdigen oder unfeinen

') Gorg.

462C;463C;465C

') »

473E.

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497.

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494C E.

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495D.

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Gegner zu verletzen; so wenig entspricht seine Kampfesweise im „Gorgias" der milden, freundlichen und duldsamen Art, mit der der platonische Sokrates sonst von seiner Ueber- legenheit Gebrauch macht, um die Gegner zu überführen und zu belehren. Im „Gorgias" sucht er gerade die schärfste Zuspitzung des Gedankens, wählt ausdrücklich die ausge- sprochenste Paradoxio, um die seine Geringschätzung heraus- fordernde niedrige Gesinnung und Anschauung seiner Gegner in ihrer ganzen ünwünligkeit nud Verderblichkeit blosszu- stellen. Die dramatische Vorführung dieser Personen aus zwei verschiedenen Lagern ist für den Dialog „Gorgias" charakteristisch. Von dort aus will er verstanden sein.

V. Der Beweisgang" im „Gorgias".

Die Aufgabe dieser Abhandlung ist nicht, über Plato zu philosophieren, sondern mit Plato zu philosophieren. Es gilt, sich in ein bestimmtes Werk Piatos zu vertiefen und seinen Gehalt möglichst ungetrübt herauszuheben. Dieses Werk, den Dialog „Gorgias", wollen wir unter Ab- sehen von jedem vorgefassten Urteil und ohne andere plato- nische Werke oder geläufige Ansichten über Piatos Lehre heranzuziehen, nur aus sich selbst verstehen ; denn wir sind überzeugt, dass Piatos Dialoge jeder für sich geschlossene Kunstwerke sind, die jedes aus-sich selbst verstanden werden müssen, wenn man sich vor Missverständnis und vor der Verkennung der Absichten Piatos bewahren will. Erst nach- dem man so das Werk aus sich selbst verstanden hat, ist es gestattet und geraten, andere platonische Werke und deren Inhalt zur Vergleichung und Erläuterung heranzu- ziehen, um die Stelle des ins Auge gefassten Werkes inner- halb der Gesamtheit der platonischen Schriften verstehen und würdigen zu können.

Ein zweites Erfordernis ist dies: Wer ernsthaft die Auf- gabe verfolgt, den Philosophen zu v-erstehen, der darf keine eigenen Gedanken über den von dem Philosophen behandelten Gegenstand haben, und wenn er, wie es wohl meistens der

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Fall sein wird, eigene (jcdankeii darüber hat, so miiss er tun als hätte er sie nicht, um sich von dem Philosophen einfach darüber belehren zu lassen. Manche unter denen, die über Piatos „Gorgias'* geschrieben haben, hielten es für geboten, die von Plato geäusserten Ansichten mit denen, die sie selbst haben, zu vergleichen, und festzustellen, wo Piatos Ansicliten von den ihrigen abweichen. Da nun die Ansichten dieser Kritiker nach ihrer Meinung unzweifelhaft riciitig sind, so sind die abweichenden Ansichten Piatos ebenso unzweifelhaft falsch, und es ist dann ein besonderes Verdienst des Platoforschers. alle die falschen Schlüsse und die verkehrten Behauptungen, die ihm bei Plato entgegen- treten, aufzuzeigen und der Wahrheit zu ihrem so lange verkannten Rechte zu verhelfen. Wir halten diese ganze Stellung Plato gegenüber für prinzipiell falsch. Zunächst weil es sich doch um die historische Frage handelt, was Plato wirklich gelehrt hat, und es dafür völlig gleichgültig ist, wie der Kritiker über den Gegenstand denkt. Sodann aber auch deshalb, weil die Vermutung immer eher die ist, dass Plato mit seiner Ansicht wohl im Rechte sein wird und sein Kritiker mit der abweichenden Ansicht im Unrecht. Wir suchen also nur unter Beiseitelassen jeglicher Kritik Plato zu verstehen. Dass wir zum Scliluss unserer Be- wunderung für den grossen Denker und Menschendarsteller Ausdruck verleihen, wolle man uns freundlich ;i.gute halten, zumal da unsere religiösen üeberzeugungen uiid unsere sittlichen Ideale bei Plato eine kräftige Unterstützung finden.

Die eigentliche philosophische Arbeit auf diesem Gebiete bedeutet also doch, dass man den Denker versteht und seine Intentionen richtig heraushebt. Im „Gorgias" beruft sich Plato nicht auf oberste philosophische Prinzipien. Dass diese im Hintergrunde stehen und auch hier Piatos Ueber- zeugung aufs tiefste bestimmen, ist selbstverständlich. Da aber Plato im „Gorgias" sich nicht ausdrücklich auf diese Prinzipien beruft, so wird nur der den Philosophen philo- sophisch behandeln, der bei der Besprechung des „Gorgias"

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die philosophische Prinzipienlehre bei Seite zu lassen ver- mag. In einem platonischen Dialog tritt uns eine Menge von Einzelheiten entgegen. Zusammen bilden sie ein organisches Ganzes ; unter einander sind sie von abgestuftem Werte. Eines ist der Hauptgedanke; ihm dient alles andere. Unter ihm stehen Ausführungen, die mit dem Hauptgedanken in engerer Verbindung stehen, und solche, die vermittelnd auf ihn hinleiten. Es kommen dazu mehr episodische Gedankengänge, die zur Bereicherung und zum Schmucke dienen und das sinkende Interesse immer \vieder neu an- fachen; darunter sind auch solche, die bei guter Gelegen- heit anzubringen und einzuschärfen dem Verfasser besonders am Herzen lag, und andere, die nur nebensächliche Be- deutung in Anspruch nehmen. Alles das steht wirklich da, und so finden sich unzweifelhafte Belegstellen für die verschiedensten Auffassungen. Die richtige Auffassung er- gibt sich also nicht von selbst. In dieser Mannigfaltigkeit den springenden Punkt, das eine, alles beherrschende Interesse zu ergreifen, in der reichen Komposition die Teile nach dem Gewichte abzuwägen, das sie im Sinne des Urhebers haben sollten, das ist schwer; aber es ist Sache der Intuition mehr als eines umständlichen Beweisverfahrens. Wir wagen uns an die Aufgabe deshalb heran, weil wir meinen, in den Behandhingen des „Gorgias", die uns bekannt geworden sind, eine in aller Weise genügende Auffassung des Ganzen und der Teile noch nicht gefunden zu haben. Und so liaben wir für den von uns erneuerten Versuch, dem „Gorgias" gerecht zu werden, um eine freundliche Autnahme zu bitten auch da, wo m n unsere Auffassung nicht für die richtige hält.

Den Anfang des Dialogs bildet nach den Eingangs- worten, die nur die Veranlassung für das Gespräch bezeichnen, die Frage nach der Rhetorik, ihrem Wesen und ihrer Be- rechtigung. Darüber erlauben wir uns noch einige einleitende Worte. Im Dialog selber handelt es sich der Hauptsache nach um das Problem der rechten Lebensführung; dafür wird im Anfang das theoretische Verhalten ins Auge gefasst,

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sofern in diesem die Auffassung über die im praktischen Leben anzustrebenden Ziele wurzeln. Die Rhetorik, zu Piatos Zeit von grösster Bedeutung für politisches und privates Leben, steht im Gegensätze zu eigentlicher Wissenschaft und dem Streben nach reiner Erkenntnis. Wir würden heute an ihrer Stelle die populär wissenschaftliche Literatur nenuen, die durch oberflächliches und äusserliches Wesen, dur^h den Glanz der sprachlichen Darstellung und die auf die Instinkte der Masse berechnete Trivialität der Gedanken und Gesinnungen sich ein grosses Publikum zu gewinnen weiss. An die damalige Bedeutung der Rhetorik muss man sich erinnern, um Piatos Polemik zu würdigen. Im da- maligen Hellas verschaffte die Redekunst auch politische Macht, hohe Stellung und Ansehen. Die Lehrer der Rede- kunst nahmen an diesen Erfolgen Teil und leiteten ihre Jünger dazu an, sich solche Erfolge zu gewinnen, nicht durch wirkliche wissenschaftliche Einsicht, sondern durch ein die urteilslosen Massen blendendes Scheinwissen. Plato kommt in seiner Bekämpfung dieser Pupularphilosophen, zu der er sich gezwungen sieht durch die Macht, die sie über die Gemüter üben, und durch die von ihnen gepflegte Ab- wendung von aller strengen methodischen Wissenschaft, immer wieder darauf zurück, dass diese glänzenden Meister der Rhetorik von den Elementen einer logischen Methode keine entfernte Ahnung haben und einem Meister der Dia- lektik, wie es Sokrates ist, wehrlos preisgegeben sind. Dabei darf man nicht glauben, dass die Argumente, mit denen Sokrates als der Typus des wissenschaftlichen Charakters die Sophisten bekämpft, alle ernsthaft gemeint und von Plato als wertvoll und überzeugend hingestellt sind. Ganz im Gegenteil. Gerade, dass diese sophistischen Rhetoriker selbst den leichtest wiegenden Scheingründen unterliegen und sich Einwendungen gegenüber, die keineswegs für den ernsten Denker zwingend erscheinen, nicht zu helfen wissen, gerade dies beweist handgreiflich, wie dürftig bestellt es um diese stolze Populärphilosophie ist, die so hohen Ruhmes geniesst, und dass man zu ernster, strenger Wissenschaft

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seine Zuflucht nehmen muss, wenn man mit Gott und Menschen in heilsamen Anschauungen übereinstimmend Frieden der Seele und äusseres Glück an die Fahne be- festigen will, der man dient.

So tritt uns gleich zu Anfang Polos entgegen, der geistreiche, in tönenden Worten sprechende Sciiüler des Gorgias, der die Kunst der Lebensführung aus der Erfahrung ableitet. Die Höhe seines logischen Vermögens ist daran zu ermessen, dass er ernsthaft meint, die Frage nach dem Was des Gegenstandes mit einer Aussage über die Be- schaffenheit des Gegenstandes beantwortet zu haben (p. 448). Gorgias aber, das berühmte Vorbild und Muster der Rede- kunst und ihr gesuchtester Lehrer, der nun an Polos Stelle in die Unterredung eintritt, ist als Logiker kaum besser. Er zeigt sich selbst so unklar über sein eigenes Fach, dass er, über das Wesen der Redekunst befragt, nur anzugeben weiss, dass diese Kunst alle ihre Funktionen durch Reden vollziehe, und damit die Sache erschöpft zu haben glaubt (p. 450 b). Weiter aufgefordert zu sagen, von welchen Gegenständen denn die Reden handeln, zu denen die Rede- kunst gehört, weiss er nur zu erwidern, es seien die be- deutsamsten und vornehmsten Gegenstände im menschlichen Leben. Und als er auch noch angeben soll, welche denn diese bedeutsamsten und vornehmsten Dinge seien, begnügt er sich mit der Auskunft, es gelte für jeden Menschen. Freiheit für sich und Herrschaft über andere, und das werde erlangt durch die Kunst der Ueberredung in Gericht und Volksversammlung. Diesen unbestimmten Angaben gegen- über betont Sokrates, dass es ihm auf wirkliche Erkenntnis ankomme, und dass er dazu wissenschaftliche Strenge in begrifflicher Erörterung für erforderlich halte (p. 454. 458). Durch Sokrates gedrängt gibt dann Gorgias weiter an, es handle sich in der Redekunst um die Fragen über Recht und Unrecht, und ihr Ziel sei nicht, wissenschaftliche Er- kenntnis zu erwecken, sondern bloss zur Annahme einer Meinung zu überreden, und dazu bedürfe es keiner Sach- kenntnis. Gorgias ist naiv genug, gerade darin den hohen

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Wert der Redekunst /.n Indeo, dass sie die Kunst sei, aaf allen Gebieten andere zuüberreden, ohne auf irgend einem Gebiete sachverständig' a sein. Aber allerdings, fügt er gutmeinend hinzu, man ürfe diese Kunst ebensowenig miss- braucben wie sonst irgen« eine Art von üeberlegeuheit; "er das persönliche Uebergwicht missbrauche, sei zu ver- urteilen, aber nicht die lunst, die ihm das Uebergewicht verliehen, noch der Lhrer der ihm die Kunst über- liefert habe. An dieses lUgeständnis nun knüpft Sokrates geschickt an (p. 459) nd gewinnt Gorgias das weitere Zugeständnis ab, dass zr Ausbildung in der Redekunst auch die Kenntnis davongehöre, was recht und unrecht, schimpflich und löblicL gut und böse ist. (p. 460). Und nun schliesst er "eiter: Wer dasiiauHich kennt, ist ein Baukundiger: wer die Mu^^P^ifi Musiker; wer die Medizin, ein Hilverstündigei Recht kennt, ein Gerechtr, und da handelt, der Redekundige iber ein Gerechter ist, so wii tun. Wenn also Gürgia:^ or^ brauch der Redekunst al- er sicli in einen offenbaroj

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Sokrates ist gegen Polos üeraus unfreundlich. Er ist verdriesslich über Polos üngesaicklichkeit im Fragen und muss ihm erst Anweisung gebe, wie er seine Fragen zu stellen hat, um das Gespräch iiGang zu bringen. Er habe eine lange Ausführung gemacht,.agt Sokrates entschuldigend. Er habe es wohl gewusst; denn »s er sich kürzer ausgedrückt, habe ihn Polos nicht vei stauen. Polos, obwohl er noch jung sei, vermöge einen einfacbn Satz nicht genau aufzu- fassen, wie solle es erst werdn, wenn er älter geworden sei! Sokrates bekennt, nie zuwissen, was Polos eigentlich meine, nicht einmal dies, ob Plos eine Frage tue oder aber eine Ausführung beginne und sine eigene Ansicht vortragen wolle. Nicht einmal zwischen em, was einer will und dem, was einem beliebt, wisse Poloszu unterscheiden. Er stelle eine Frage, die eigentlich zw^e; Fragen seien, und wisse es ^ nicht; er bewege sich in )rtwährenden Widersprüchen gegen seine eigenen Aufstellunga. Diese Unfreundlichkeiten sind sehr autVallend. Schwerlili sind sie nicht gegen Polos von Akragas gerichtet, der Pia) wenig anging. Es ist eher anzunehmen, dass ein gleichze:igor Literat getroflfen werden sollte, auf (Ion die dem Po;> beigelegten Züge n:i.>^on.

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Wert der Redekunst zn finden, dass sie die Kunst sei, auf allen Gebieten andere zu überreden, ohne auf irgend einem Gebiete sachverständig zu sein. Aber allerdings, fügt er gutmeinend hinzu, man dürfe diese Kunst ebensowenig miss- brauchen wie sonst irgend eine Art von Ueberlegeuheit; wer das persönliche Uebergewicht missbrauche, sei zu ver- urteilen, aber nicht die Kunst, die ihm das Uebergewicht verliehen, noch der Lehrer der ihm die Kunst über- liefert habe. An dieses Zugeständnis nun knüpft Sokrates geschickt an (p. 459) und gewinnt Gorgias das weitere Zugeständnis ab, dass zur Ausbildung in der Redekunst auch die Kenntnis davon gehöre, was recht und unrecht, schimpflich und löblich, gut und böse ist. (p. 460). und nun schliesst er weiter: Wer das Baufach kennt, ist ein Baukundiger; wer die Musik, ein Musiker; wer die Medizin, ein Heilverständiger; also ist, wer das Recht kennt, ein Gerechter, und da der Gerechte gerecht handelt, der Redekundige aber das Recht kennt und mithin ein Gerechter ist, so wird der Redekundige kein Unrecht tun. Wenn also Gorgias vorher von dem ungerechten Miss- brauch der Redekunst als einer Möglichkeit sprach, so hat er sich in einen offenbaren Widerspruch verwickelt (p. 461). Die Argumentation ist schlau auf des Sophisten logische Unbeholfenheit berechnet. Aber selbst einem Fangschluss, wie dieser, dessen Kunstgriff so augenscheinlich ist, weiss ein Mann wie Gorgias sich nicht zu entziehen! Damit ist in Gorgias die ganze Populär- und Feuilletonphilosophie gekennzeichnet und abgetan.

Da tritt nun Polos, der Grossrednerische und Zuver- sichtliche, der jugendlich Hitzige, zornerfüllt auf den Plan und hält Sokrates sein unfeines und heimtückisches Benehmen vor (p. 461). Weil es so nahe liegt, dass man Anstand nimmt, ohne weiteres zu sagen, Redekunst sei gegen Recht und Unrecht indifferent, habe Sokrates damit Gorgias perfide aufs Glatteis gelockt. Und nun fragt er Sokrates, wofür denn dieser die Redekunst halte. Sokrates erwidert recht unhöflich, eine Kunst (tixvrj) sei sie seiner Ansicht nach

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überhaupt nicht, nur eine durch Routine erworbene Fertigkeit, (l|A7:£if>ia xal xpißr^) ; sie sei eine besondere Kiclitnng des Bemühens, sich die Gunst der Menschen zu erwerben, indem man ihren niederen Trieben schmeichelt (xoXoc/sia), nach Art etwa der Kochkunst, ein Afterbild eines Zweiges politischer Tätigkeit; so sei sie minderwertig und niedrig, weil sie nicht das Gute, sondern das Angenehme anstrebt, und dabei nicht einmal von den Mitteln, die sie in Anwendung bringt, ein Bewusstsein hat oder sie zu begründen weiss. Sophisten und Rhetoren stehen auch darum ganz nahe. Wie die Sophisten die hohe Aufgabe der Gesetzgebung, so ziehen die Rhetoren die der Rechtspflege in den Staub herunter. Wie Kinder und Unverständige den Kochkünstler dem Arzt vor- ziehen würden, lo lässt sich die grosse Menge durch den Rhetor blenden, der mit den Künsten der Rede um die Gunst der Massen buhlt, (p. 464).

Sokrates ist gegen Polos überaus unfreundlich. Er ist verdriesslich über Polos Ungeschicklichkeit im Fragen und muss ihm erst Anweisung geben, wie er seine Fragen zu stellen hat, um das Gespräch in Gang zu bringen. Er habe eine lange Ausführung gemacht, sagt Sokrates entschuldigend. Er habe es wohl gewusst; denn als er sich kürzer ausgedrückt, habe ihn Polos nicht vei standen. Polos, obwohl er noch jung sei, vermöge einen einfachen Satz nicht genau aufzu- fassen, wie solle es erst werden, wenn er älter geworden sei! Sokrates bekennt, nie zu wissen, was Polos eigentlich meine, nicht einmal dies, ob Polos eine Frage tue oder aber eine Ausführung beginne und seine eigene Ansicht vortragen wolle. Nicht einmal zwischen dem, was einer will und dem, was einem beliebt, wisse Polos zu unterscheiden. Er stelle eine Frage, die eigentlich zwei Fragen seien, und wisse es nicht; er bewege sich in fortwährenden W^idersprüchen gegen seine eigenen Aufstellungen. Diese Unfreundlichkeiten sind sehr auffallend. Schwerlich sind sie nicht gegen Polos von Akragas gerichtet, der Plato wenig anging. Es ist eher anzunehmen, dass ein gleichzeitiger Literat getroffen werden sollte, auf den die dem Polos beigelegten Züge passen,

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vielleicht einer aus der Schule des Isokrates. Wer es ist, wird sich nicht mehr ausmachen lassen; aber für die Absicht des Dialogs ist auch dieser Zug bedeutsam.

Alles Bisherige ist im Dialog nur einleitend gewesen; jetzt wird der Uebergang zum eigentlichen Gegenstande des Dialogs gemacht. Polos hat behauptet, die Meister der Redekunst hätten die grösste Macht im Staate und besässen damit das wertvollste Gut (p. 46G). Sokrates fragt, ob Macht ein Gut sei auch für den Menschen, der nicht den Verstand habe, sie recht zu gebrauchen? Man will doch den durch die Handlung zu erreichenden Zweck als das Gute. So könne es denn geschehen, dass einer, der keinen Verstand hat, weil er die Macht hat zu tun was ihm beliebt, das Schlechte tut, also das was er nicht will. Und so ist denn der, der die Macht hat, unter Umständen der Elendeste; denn Unrecht tun ist das grösste Uebel. Polos versteht das so, dass es nur deshalb- ein Uebel sei, weil wer Unrecht tut Strafe leide. Aber Archelaos, der König von Makedonien, habe straflos die grössten Verbrechen verübt und gelte deshalb nach aller Menschen Urteil als ein überaus glücklicher Mann (p. 470. 471). Dem gegenüber stellt Sokrates die Behauptung auf: wer Unrecht tue, sei noch viel elender, wenn er keine Strafe erleide; denn so bleibe er in seiner Schlechtigkeit, während die Strafe ihn heilen könnte.

Diese ungeheuerlichen Behauptungen, die dem populären Bewusstsein direkt ins Gesicht schlagen, könne ein Mensch so meint Polos, nicht im Ernst aufstellen. Ein Kind reicht ja aus, Sokrates zu widerlegen. Die Meinung der Menschen, die offenbarsten Tatsachen sprechen wider ihn. Sokrates aber findet, solche Gründe, die zu seiner Wider- legung vorgebracht werden, bewiesen, dass Polos nicht bloss in der Logik, sondern auch in der Rhetorik ungeschult sei. Die Wahrheit zu widerlegen sei überhaupt unmöglich; aber eine Widerlegung durch die Meinung der Menschen oder durch Tatsachen vollbringen wollen, das sei vollends wider- sinnig, und wenn Polos nun gar die fremde Ansicht verlachte, so sei das erst recht unwürdig. Es handle sich um den

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wichtigsten Gegenstand und die höchste der menschlichen Angelegenheiten, um die Frage: wie kommt der Mensch zu Glück und inneren Frieden? (p. 472). Damit hängt die Frage zusammen; Was ist das grössere Uebel: Unrecht tun oder Unrecht leiden? Polos gibt mit einem letzten Rest von menschlichem Gefühl wenigstens soviel zu, dass Unrechtun das weniger Edele, das für das Gefühl Verletzendere ist. Und da fasst ihn nun Sokrates, indem er sich auf Polos eigenes Terrain begiebt. Unrecht tun ist also hässlicher, sagt er: das heisst doch wohl, es erregt nicht Lust, gewährt keine Freude, keinen Nutzen (p. 474). Polos stimmt be- friedigt bei. Endlich meint er Sokrates auf seiner Seite zu haben, der den Wert gleichfalls an der Lust und dem Nutzen misst. Und so gibt er denn auch weiter eines nach dem anderen zu: Das Hässlichere ist das, was grösseren Schmerz und grösseres Uebel mit sich bringt: also bringt das Unrechttun, das Zugestandenermassen das Hässlichere ist, grösseren Schmerz und grösseres Uebel (p. 475), oder wenn nicht grösseren Schmerz, so jedenfalls das grössere Uebel. Das Unrechttun ist mithin das grössere Uebel, das Unrechtleiden also vorzuziehen. Polos kann sich der Folgerung nicht entziehen. Sokrates aber sagt: wie auch die Menschen darüber denken mögen, die Sache ist durch begriffliche Untersuchung ausgemacht worden, und das genügt zur Ge- wissheit (p. 476). Das Uebrige ergibt sich dann von selbst. Wer das Unrecht straft, tut Recht; wer die Strafe leidet, leidet gerecht; beides steht im Dienste des Angenehmen oder des Nützlichen: also zu gutem Zwecke. Wer die Strafe leidet, wird von dem schwersten aller Uebel, von der Ver- derbnis der Seele, der Ungerechtigkeit und Zuchtlosigkeit, geläutert (p. 477). Der Unglücklichste von allen ist also der, der das schwerste Unrecht begeht, aber von Strafe frei bleibt (479), und wenn die Redekunst das bewirkt, Straf- losigkeit bei aller Macht Unrecht zu tun, so ist sie nicht nützlich, sondern äusserst verderblich. Die Redekunst ge- braucht nur der richtig, der sein eigenes Unrecht durch sie eindringlich offenbar macht und die Strafe auf sich lenkt,

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und wenn er einem Feinde gründlich schaden will, durch sie des Feindes Unrecht zudeckt und ihn vor Schaden schützt.

Diese letzten Sätze sind denn doch dem Kallikles zu stark. Schon Polos hatte nur soviel zugegeben, dass sie als Folgerungen aus Sokrates Vordersätzen zwar verständlich seien ; aber an sich seien sie die reine Torheit. Wir selber können dazu nur bemerken, das diese Sätze in ihrer nicht zu überbietenden Schroffheit ausdrücklich darauf berechnet scheinen, die satte, selbstgefällige Trivialität des Gegners zu verblüffen. Und was den Beweisgang anbetrifft, so hätten ■weder der historische Sokrates noch der platonische oder gar Plato selber eine Argumentation wie diese, die unter dem Gesichtspunkt der Lust und des Nutzens geschieht, jemals in bitterem Ernste vollziehen können. Die Sache liegt viel- mehr so, dass Sokrates sich ausdrücklich auf den Standpunkt des Gegners stellt und diesem nachweist, dass des Sokrates Sätze, die ihm so entsätzlich und unerhört schienen, aus dem eigenen Voraussetzungen des Gegners folgen. Dieser Gegner aber hat nicht die genügende begriffliche Bildung, um sich der Schlussketten des Sokrates zu erwehren, dessen Schärfe des dialektischen Gedankenganges er hilflos unterliegt.

Kallikles, der so lange schweigend zugehört hat, tritt nunmehr in die Unterredung ein. Diese letzten Ausführungen übersteigen doch jeden Glauben. Das kann Sokrates nicht ernst gemeint haben; das wäre ja eine Umkehrung des ganzen menschlichen Lebens. Sokrates erwidert, er folge den Ergebnissen der wissenschaftlichen Untersuchung, die un- veränderlich bleiben; nur wer an ihnen festhalte, könne mit sich selber im Einklang bleiben, und das sei das eigentlich menschliche Gut. Sokrates habe erwidert Kallikles wie vorher den Gorgias, so jetzt den Polos arglistig gefangen, indem er ihn zu einem Zugeständnis im Sinne der herrschenden moralischen Vorurteile verleitet habe.

Der Einsichtige und Aufgeklärte aber wisse, dass diese moralischen Vorurteile, die man sich schwachmütig zu ver- letzen scheue, direkt wider die Natur sind. Nicht Unrecht tun, sondern Unrecht leiden ist das Schimpfliche; es be-

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zeichnet den Hilflosen, den Sklaven, den Ehrlosen. Die Gesetze und die Moralvorschriften stammen von den Schwachen, den Vielzuvielen, die damit die Starken unterzubekomraen trachten. Die Natur aber will das Recht des Stärkeren; das zeigen die Erscheinungen im Tier- und Menschenleben. Jetzt sind im Staate die Starken wie Löwen im Kähg; der Starke zerbricht solche Fesseln. Denn das Ziel des Menschen, das Glück, besteht im Geniessen, in sinnlicher Befriedigung, und dazu bedarf man der Macht. Das Streben nach geistiger Bildung ist innerhalb massiger Grenzen für junge Leute gewiss ein Schmuck, und macht sich sehr gut; im Ueber- mass aber und für die höheren Jahre ist es geradezu das Verderben. Es entfremdet dem Leben und macht zu den Aufgaben, in denen des Menschen Wert besteht, den Auf- gaben des Lebens in Staats- und Privatgeschäften, unfähig. Ein solcher Mensch ist hilflos jeder Verfolgung, jeder Schmach und Gefahr preisgegeben; seine edleren Anlagen verkümmern rulimlos, und er führt ein verächtliches Leben im Dunkel der Schulstube, (p. 486.)

Kallikles zeigt in dieser Weise den Mut, aus der Gesinnung der der äusseren Welt Zugewandten die letzten Konsequenzen zu ziehen, zu denen sich zu bekennen Gorgias und Polos noch nicht die Entschlossenheit besassen; Sokrates freut sich solcher Entschiedenheit und Folgerichtigkeit. Aber mit dem Recht des Stärkeren scheint es ihm, eben wenn man sich auf den Standpunkt des Kallikles stellt, sich doch nicht so zu verhalten. Denn die Vielen sind zusammen stärker als der Einzelne, und so käme es ja gerade den Vielen zu, die Gesetze und Rechte festzustellen (p. 488), und zwar geschähe das eben nach der Forderung der Natur Kallikles verbirgt die Verlegenheit, in die ihn der Ein- wand versetzt unter Schimpfen. Gleichwohl wird er seines eigenen Gedankens nicht mächtig, von Bestimmung zu Be- stimmung weiter getrieben. Sokrates, meint er, sei ein Wortjäger ; er, Kallikles, habe unter den Stärkeren (xpei-tov) natürlich die Tüchtigeren (^eätiov) gemeint. Aber wer sind diese Tüchtigeren? Nun, die Besseren (ä[j,£ivovx£;), meint

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Kallikles. Aber das ist ja wieder nur ein anderes Wort; sollten vielleicht die an Geisteskraft üeberlegenen (cppoviu.u>T£?oi) gemeint sein? Kallikles greift freudig das ihm von Sokrates gebotene Wort auf. Also der geistig üeberlegene soll der nun mehr an Speise und Trank, an Kleidern, Schuhen, an Aussaat für sein Land und dergleichen bekommen? Kallikles ist über diese Niedrigkeit in der Auswahl der Beispiele empört; er erwidert, unter den Üeberlegenen verstehe er natürlich die zu politischer Tätigkeit Geeignetsten, die Ein- sichtsvollen, Tatkräftigen, Beharrlichen (p. 491). Also doch wohl diejenigen, die sich selbst beherrschen? Ach, das sind ja gerade die Dummen, meint Kallikles. Denn die Auf- geklärten, die Freidenker, lassen ihren Begierden freien Lauf, und gerade deshalb werden sie von den feigen Schwäch- lingen, den Verfechtern^^^der Sklavenmoral, gehasst. „Die Ausgelassenheit, Zügellosigkeit und Unabhängigkeit des Tyrannen, der sich durch Machtmittel zu sichern gewusst hat, das ist wahrhaftes menschliches Verdienst und mensch- liche Glückseligkeit. Alles andere ist verlogene Ziererei, Unnatur, wertloses Geschwätz,"

Sokrates wendet gegen diese ganze Gedankenreihe ein : Die Begierde ist ihrer Natur nach unersättlich; im Dienste der Begierde gibt es keine Befriedigung. Wenn sinnlicher Genuss glücklich macht, dann ist der glücklichste der, der die Krätze hat und sich immerfort daran erfreuen kann, sich zu jucken; oder der Lüstling, der immerfort seinen Lüsten freien Lauf lassen kann (p. 494). Und so ergibt sich die Frage nach dem Unterschied in der Art der Lust. Kallikles, der unsicher geworden ist, gibt, auf Sokrates Frage, um nicht in einen Widerspruch za geraten, die Er- klärung ab, das Gute und das Lustbereitende sei dasselbe. Der Satz aber ist bedenklich, meint Sokrates. Denn Gutes und Schlechtes schliessen einander aus und sind^nicht bei- sammen ; aber der Schmerz des Begehrens und die Lust der Befriedigung treffen zusammen; also kann Lust nicht das Gute sein (p. 496). Die Unlust der Begierde und die Lust des Geniessens ferner hören zugleich auf; Gutes und Böses

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aber schwinden nicht zugleich; also ist wieder die Lust nicht das Gute (p. 497). Wäre die Lust das Gute, so würden diejenigen, denen die Lust beiwohnt, die Guten sein. Die Lust aber geniessen die Feigen wie die Tapferen, die Verständigen wie die Unverständigen, diejenigen, die nach Kallikles Ansicht die Schlechten sind, wie die Guten: also kann die Lust nicht das Gute sein (p. 499). Kallikles sträubt sich mit allen möglichen Umständen, das zuzugeben, und kann doch das Gewicht der Gründe nicht in Abrede stellen. Da verlällt er auf die Auskunft, dass die ver- schiedenen Arten von Genüssen auch verschiedenen Wert haben müssen, also gut oder schlecht sind je nach ihren Wirkungen. Dann muss also, meint Sokrates, die Lust um des Guten willen, nicht das Gute um der Lust willen an- gestrebt werden, und Kallikles hat sich selbst widerlegt (p. 500). Dann aber muss man das Gute und Rechte kennen; dazu bedarf es der Uebung, der Kenntnis, bewusster Kunst. Nun gibt es viele Künste, die nur der Lust der Masse dienen ; auch die Redekunst dient oft nur diesem Zweck, und selbst die Staatsmänner versäumen nur allzuoft die Aufgabe, die sittliche Zucht unter den Staatsbürgern zu erhöhen, (p. 503). Das sind dann blosse Schmeichel- künste. Wahre Kunst hat andere Ziele. Wie durch Ord- nung und rechtes Mass der Leib Gesundheit und Kräftig- keit gewinn! j so gewinnt die Seele eben dadurch Gerechtig- keit und gute Sitte. Darum ist der Seele strenge Zucht heilsam und Zuchtlosigkeit verderblich (p. 505).

Hier weigert sich Kallikles, am Gespräch sich weiter zu beteiligen, und Sokrates setzt, als hätte er sich selbst als Gegner gegenüber, die Untersuchung allein fort. Es ist ausgemacht worden, dass das Lustbereitende um des Guten willen zu suchen ist. Gut aber ist jegliches durch die Vollendung seiner Natur, und diese wird durch Regel und Ordnung hervorgebracht. Die geordnete Seele ist die gute Seele; sie ist gerecht gegen die Menschen, fromm gegen die Götter und stark in der Selbstbeherrschung. Lben darum ist der Gute auch glückselig, der Schlechte,

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der Zügellose aber elend. Man muss danach streben für sich und andere, der Züchtigung nicht zu bedürfen, bedarf man ihrer aber, so darf man sich ihr nicht entziehen wollen. Die Begierden muss man einschränken; sonst wird jedes Zusammenleben mit anderen, jedes Band der Freundschaft unmöglich. Die Welt ist eine geordnete Welt, sie ist gebunden durch mathematisches Gleichmass; so muss auch die Seele eine geordnete sein (p. 508). Wenn man dafür Verfolgung und Unrecht leidet, so ist der Schade grösser für den, der es dem Guten antut, als für den, der es leidet. Das alles, sagt Sokrates, ist nicht meine Meinung denn ich weiss ja selber nichts; aber es ist wissenschaftlich er- wiesen, und das muss man anerkennen, wenn man es nicht zu widerlegen vermag. Es ist keine Schande, Unrecht, das man erleidet, nicht abwehren zu können; aber Schande ist es, andern Unrecht zu tun, und um solche Schande zu ver- meiden, muss man das Vermögen erworben haben, sich vor dem ünrechttun zu hüten, und dazu gehört Einsicht und Bildung. Denn niemand tut mit Willen Unrecht (p. 509). Dagegen um sich gegen das Unrechtleiden zu schützen, rnui^s man entweder Tyrann sein oder sich durch Gleich- heit der Gesinnung dem Tyrannen empfehlen, ein Satz zu dem Kallikles mit besonderer Freude seine Zustimmung ausspricht. Sokrates aber fügt hinzu: Dadurch wird einer nun wohl vor dem Unrechtleiden geschützt, aber zum Un- rechttun nur noch mehr befähigt sein; er wird also das schwerste Uebel erleiden, das Uebel, an seiner Seele geschädigt und verderbt zu sein. Und wenn er gleich Macht hat, den besser Gesinnten seines Gutes und seines Lebens zu berauben, so bleibt diesem der Ruhm des edlen Charakters, und jener ist doch nur ein erbärmlicher Wicht (p. 511). Nicht das Leben solange als möglich zu erhalten, ist das rechte Ziel; denn für den schlechten Menschen ist das Leben kein Gut. Wer als Steuermann auf dem Schiff oder als Maschinenkünstler vielen Menschen Güter und Leben erhält, erlangt darum keineswegs hohe Schätzung oder hohen Lohn, selbst bei Leuten wie Kallikles, die eher auf die-

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jenigen, die so nützliche Dienste leisten, mit Geringschätzung herabsehen. Nicht danach soll man streben, reciit lange zu leben, sondern sein Leben mit würdigem Inhalt auszu- füllen, also nicht sich den herrschenden Zuständen im Staate anzugleichen und den Menschen zu Gefallen zu leben, sondern in jedem Geschäft der eigenen Natur der Sache zur Voll- endung zu verhelfen, also in politischer Tätigkeit die Ver- edlung der Bürger zu betreiben (p. 514). Die Menschen mit den äusseren Gütern des Lebens, mit Macht und Reich- tum, zu versehen, hat keinen Wert, wenn man nicht die Seelen sittlich tüchtig und fähig macht, die äusseren Güter würdig zu gebrauchen. Die Sophisten geben sich als Lehrer der Tugend aus, und doch beklagen sie sich über den Un- dank ihrer Schüler; beweist das nicht, dass sie ihre Auf- gabe verfehlt haben (p. 519)? Der Ehetor ist dem Sophisten eng verwandt; nur dass insofern die Sophistik höher steht, als sie zur Tugend anleitet, während die Rhetorik den Ver- stoss gegen das rechte Verhalten heilen lehrt. Beide aber sollten auf den Dank sicher rechnen können, wenn sie ihrer Aufgabe gerecht werden. Mir aber, dem Sokrates, kann es wohl geschehen, dass man mich vor Gericht zieht, ver- urteilt und tötet. Denn ich schmeichle der Masse nicht wie die andern; ich treibe in dieser Zeit als der einzige die wahre Staatskunst und sorge für das wahre Wohl des Staats. Darum wird man mich verurteilen, wie der Arzt von den Unmündigen verurteilt wird, wenn der Koch ihn beschuldigt Aber schaden kann niemand dem, der seine Hilfe darin gesucht hat, dass er sich vor jedem Unrecht in Worten oder Werken gegen Menschen und Götter bewahrt hat. Den Tod fürchten nur die Unverständigen; fürchten sollte man sich nur vor der Sünde (p. 522). Zur Bekräftigung gibt Sokrates eine mythische Schilderung des Gerichts nach dem Tode. Da erweist sich, dass die Macht den meisten zu sittlichem Verderben gereicht hat, während die auf innere Vollendung gerichtete Lebensweise zur Selig- keit führt. Dem ewigen Richter eine gesunde Seele darzu- stellen, ist darum das rechte Ziel des Streben s. Von äusserer

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Ehre gilt es abzusehen und sich der Erkenntnis der Wahr- heit UDd dem Wachstum im Guten zu widmen. So haben sich denn alle von Sokrates im Anfang aufgestellten Sätze durch dialektische Erörterung bewährt. Zum Schluss werden noch drei aus diesen Sätzen abgeleitete Forderungen einge- schärft: 1. dieEedekunst soll wie alle anderen Betätigungen im Dienste des Guten verwandt werden. 2. Das Martyrium im Dienste des Guten und der Vollendung der Innerlich- keit darf man nicht scheuen. 3. Erst wenn man zu festen, wissenschaftlich begründeten üeberzeugungen gelangt ist, darf man sich politischer Tätigkeit widmen, (p. 527).

So hat sich uns der Beweisgang in Piatos „Gorgias" ergeben, sehr verschieden von der Art, wie ihn andere^) dar- gestellt haben. W^ir stützen uns auf die unverkennbaren Andeutungen, die Plato selbst über seine Intentionen gegeben hat. Plato behandelt Gorgias selbst nicht als ebenbürtigen wissenschaftlichen Gegner, noch viel weniger Polos und Kallikles. Sie sind ihm Vertreter gedanklicher Oberfläch- lichkeit und Niedrigkeit der Gesinnung. Am schlimmsten kommt Kallikles fort. Sokrates behandelt ihn ganz rück- sichtslos. Von scheinbar gutmütiger Ironie geht er zu heiterem Spott und zu blutigem Hohn. Kallikles erscheint im übelsten' Lichte. Er ist der Typus der flachen Auf- klärung und leeren Freidenkerei, die jeden Glauben an das Ideale, jedes Verhältnis zum Jenseitigen, Göttlichen abgetan hat, nur noch die tierischen Analogien im Menschen aner- kennt und den Menschen an das äussere Leben und an sinnliche Befriedigung verweist. In solcher Gewöhnlichkeit

') vergl. hierüber: Natorp, über Grundabsicht u. Entstehnngs- zeit d. piaton. Gorgias, Arch. f. G. d. Phil. II p. 394-413. C. Schirlitz, Beiträge zur Erklärung der plat. Dialoge Gorgias und Thcätet. Prcuss. Neustettin 88: derselbe: noch^einmal die Gliederung d. platonischen Dialoges Gorgias, Jahrb. f. class. Philologie 1895 p. 343— 3G2. C ron, Beiträge zur Erklärung d. plat. Gorgias, Leipzig 1870. G. G logau, Gedankengang v. Piatons Gorgias, Arch. f. G. d. Phil. III (1S95) p. 153—189. Windelband, Piaton, Stuttgart 1910. 5. Auü. p. 52 I. S t e n d e r, Gorgias, Halle 1900. C. M e i s e r, zu Piatos Gorgias, Blätter für Gymniasialschulweseu Bd. 35 p. 415/418.

Ge- steckt er unwandelbar fest und riilimt sich mit ausserordent- licher Selbstgefälligkeit seiner Freiheit von solchen morali- sierenden Wahnvorstellungen und solcher idealistischen Verstiegenheit, wie Sokrates sie kundgibt. Er ist endgültig solchen Aberglauben los und will nur noch sein Leben geniessen. Mit unerschütterlichem Dogmatismus ist er gegen alle Einwendungen und Gegengründe gefeit. Er kann es gar nicht begreifen, wie andere Menschen nicht dieselben Ansichten und Grundsätze hegen können, wie er; denn seine Ansichten sind alle selbstverständlich, und wer sie nicht teilen kann, macht sich bloss lächerlich in den Augen eines aufgeklärten Menschen. Nun aber erweist sich im Gespräch, dass dieser so selbstsichere Mann im Grunde niemals ernst- lich nachgedacht hat, dass er seines Gedankens gar niciit mächtig ist, dass er voll von Vorurteilen steckt, dass er nur der herrschenden Strömung folgt. Sein logisches Ver- mögen ist äusserst schwach. Ev ist nicht zu widerlegen, weil er entschlossen ist, bei seinem Sinne zu verbleiben, und Gegengründe teils nicht versteht, teils einfach abwei.st. Kommt er in Verlegenheit, weil er das Gewicht der Gründe des Gegners nicht ableugnen kann, so verlegt er sich aufs Schimpfen; er wird heftig; er erklärt, er wolle nichts weiter hören, sich am Gespräch nicht länger beteiligen; es sei doch alles nur dummes Zeug, was Sokrates da vorbringe. Und als Gorgias ihn drängt, das Gespräch nicht vor dem Ende im Stich zu lassen, da sagt er Sokrates, er möge nur reden; ihn, den Kallikles, gehe das alles doch nichts an, und das ganze Gerede lasse ihn völlig gleichgültig. Nur als Sokrates einmal eine Aeusserung tut, die dem Kallikles zu seiner eigenen Denkweise zu passen scheint, da horcht er auf, wird lebhalt, lobt den Sokrates und spricht wieder für einige Zeit mit.

So zeichnet Plato den Mann, mit dem Sokrates zu streiten hat. Auch in unserer Zeit noch führt die Gesinnung eines Kallikles in der Literatur, in der Wissenschaft, wie auch in der Platoforschung das grosse Wort. Die Popular- philosophie und Verstandesaufklärung hat uns wieder auf

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den Standpunkt des 18. Jahrhunderts, auf die Anschauungen der vorkantischen Zeit zurückgebracht. (Man vergleiche statt vieler nur C. R i 1 1 e r, P 1 a t o n, S. 408j. Und damit wird es ganz unmöglich, Plato zu verstehen. Man darf sieh auch nicht darüber wundern, wenn zeitgenössische Schrift- steller wie Th. Gomperz Kallikles gegen Sokrates in Schutz zu nehmen. So geschieht es ferner, dass man den vom platonischen Sokrates eingeschlagenen Beweisgang in völlig falchem Lichte sieht. Plato lässt den Sokrates ausdrücklich auf die aufgeklärten Gedanken dieser schwachköpfigen Sophisten eingehen. Mit den ethischen Anschauungen, die er vorträgt, ist es ihm natürlich voller Ernst; die Beweis- gründe richtet er nach den Gegnern ein, zum Teil in mut- willigem Spott wie bei der Einteilung der Künste (p. 464), zum Teil mit schlauer Arglist, die diese Stümper in der Logik in leicht gedrehter Schlinge zu fangen weiss. Dass er den Polos und Gorgias auf diese Weise in Verwirrung versetzt und zu Zugeständnissen aus Schamgefühl veranlasst hat, (x7.l e^sTT/.r^Pa xal ai3/jjv£3i)ai i-rÄrflij gibt Sokrates dem Kallikles ausdrücklich zu (494 D). Und dass er in gewissem Sinne anders redet als er über den Gegenstand denkt, stellt er gleichfalls gar nicht ernstlich in Abrede (iiTtsp ::ctpa -Jj. SuxoOvxa aauTm i^tXt 495 aj. Des Polos Lob gewinnt er sich, indem er die Lust als das Gute und den Zweck bezeichnet und daraus argumentiert (p. 475 a); dem Kallikles gegenüber hält er daran fest, dass das Gute und das was Lust gewährt verschieden sind, und führt seinen Beweis unter dem Gesichtspunkt, dass es nur e i n Gutes gibt, die sittliche Selbstvollendung (p. 495 D; 500 A; und so weiter). Sokrates ist auch hier derselbe, der er sonst ist ; er weiss, dass er nichts weiss (p. 506 A). Aber diesen festgerannten Dogmatikern gegenüber ist er noch dogmatischer und behauptet seine Sätze als mit eisernen und stählernen Banden befestigt, die man erst lösen muss, ehe man sie für falsch zu erklären das Recht beansprucht (p. 509 A). Vor allem aber betont Sokrates diesen schönrednerischen Popularphilosophen gegenüber immerfort die Notwendigkeit

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wissenschaftlicher Untersuchung und die Pflicht begrifflicher Strenge. Niemand dürfe behaupten ohne strengen Beweis, niemand ablehnen, was streng bewiesen sei. Sokrates erklärt sich bereit, in jedem Augenblick dem triftig geführten Be- weise des Gegners sich zu unterwerfen. Wissenschaftliche Erkenntnis sei sein einziges Interesse; das Gleiche fordert er von jedem andern. Wer die von uns angeführten Gesichtspunkte zur Charakteristik der Unterredner und des Ganges der Unterredung nicht ins Auge fasst, der macht sich das Verständnis des platonischen Gorgias von vornherein unmöglich. Wir meinen, dass ein grosser Teil der bis- herigen Missverständnisse darauf zurückzuführen ist.

VI. Die Gliederung: des „Gopgrias".

Danach bleibt uns nur noch die Aufgabe, die Gliederung des Gespräches, das im „Gorgias« geführt wird, in den Hauptzügen nachzuzeichnen und die wesentlichsten Ergebnisse festzustellen.

Das Thema, von dem das Gespräch handelt, ist die Frage nach dem rechten Ziele menschlichen Lebens und St r eben s. 472c. Zwei gründlich ver- schiedene Ziele werden einander gegenübergestellt; zwischen beiden soll entschieden werden: wir können sie bezeichnen als das aktive und das kontemplative Leben; 500C jenes gerichtet auf die äusseren Güter dieser Welt und vollen Erfolg des Strebens zur Befriedigung im dies- seitigen Dasein, dieses auf das Heil der Seele und die Bildung der Persönlichkeit zu innerer Vollkommenheit für ein ewiges Leben. Jenes wird als das niedere, dieses als das höhere Ziel gemäss der wahren Auffassung der mensch- lichen Natur erwiesen.

Die Verhandlung über Wesen und Recht der Rhetorik bildet die Einleitung; sie dient als äusserer Anlass, um zu dem Thema überzuleiten. Man darf das Gespräch nicht mit vielen Interpreten nach den ünterrednern einteilen, wie sie nacheinander dem Sokrates gegenübertreten; denn über die Rhetorik wird vorbereitend mit Gorgias und

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dann auch noch mit Polos verhandelt, und das eigentliche Thema tritt zunächst in der Unterredung mit Polos hervor, um dann im Gespräch mit Kallikles zum Austrag zu kommen. Demnach würde sich eine Einteilung des Gesprächs in folgendem Sinne ergeben.

A. Einleitung. Die Einleitung reicht von p. 448 d. bis p. 468 d. Die Gewinnung eines bestimmten Urteils über die Rhetorik im Sinne des Gorgias und Polos führt zu der Frage nach dem rechten Ziele des Lebens. Dabei wird in der Einleitung ausgemacht:

1. dass die Rhetorik dieser Sophisten darauf ausgeht, zu überreden, nicht begründete Erkenntnis mitzuteilen, nur ein Meinen, nicht ein Wissen vom Gegenstande, von Recht und Unrecht zu vermitteln. (448d— 461c)

2. Daraus ergibt sich dann, dass die Rhetorik nicht wirkliche Wissenschaft, sondern blosse durch Uebung erlangte Fertigkeit ist, die man gebraucht, um den niederen Trieben der Menschen zu schmeicheln und um ihre Gunst zu buhlen. (461c 466a)

3. Der Gewinn, den der Rhetor durch den Gebrauch seiner Fertigkeit anstrebt, ist Ansehen, Macht und Einfluss bei der Menge, politische Bedeutung und das Ver- mögen, ungestraft jedes Unrecht zu tun und jeden nach Belieben verletzen zu dürfen ohne Furcht vor Vergeltung. (4ß6a 467b.)

Uebergang zum Thema. Die Behauptung, dass die Rhetorik Macht verleiht, führt zu der Frage, ob derjenige mächtig ist, der tun kann, was ihm beliebt. Die Er- örterung dieser Frage bildet den Uebergang zum eigentlichen Thema.

(467b— 468d.)

B. Hauptteil. Die Behandlung des Themas, die Frage nach dem rechten Ziele des Lebens, gliedert sich in folgende hauptsächliche Teile:

l. Die Sorge für Macht in der äusseren Welt ist verkehrt; denn der Besitz der Macht wie alle äusseren Güter gewährt dem Menschen keine wirk- liche dauernde Befriedigung. (468d— 481b)

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1. Wirkliche Macht ist nicht das Vermögen zu tuo, was einem beliebt, sondern zu tun, was dem vernünftigen Willen entspricht. Dem vernünftigen Willen aber entspricht allein, dass man das Rechte tue. (4(]8d bis 469b.)

2. Die Macht unrecht zu tun ist kein Gut, sondern ein Schaden. Denn Unrecht tun ist das grösste Uebe! und schlimmer als Unrecht leiden. (469b— 471c.)

3. Die Macht aber Unrecht straflos zu tun i.st eine Steigerung des Unglücks für den Täter des Unrechts. (471c— 481b).

4. Die Behauptung, dass von Natur der Stärkere ein Recht habe, auf alles, wozu er die genügende Macht besitzt, und dass das im Staate herrschende Gesetz willkürliche Satzung wider die Natur sei, hebt sich selber auf. (481b— 492c.)

5. Die Macht, seinen Lüsten zu fröhnen, ist vielmehr Ohnmacht und Sklaverei. Denn das rechte Ziel des Menschen ist nicht die Befriedigung der Lüste. (492c bis 499e).

a. Das Gute und das Angenehme sind zweierlei, und das zu Erstrebende ist das Gute, nicht das Ange- nehme. (492c -498a).

b. Um gut zu sein, bedarf man der Einsicht und der Willensstärke; denn es gilt seine Wahl zu treffen zwischen Lustempfindungen von edler, förderlicher Art und solchen von niederer und verderblicher Art. (499a- 500a).

IL Die wahre Aufgabe des Menschen ist die Sorge für das Heil seiner Seele. (500a 522c).

1. Im Gegensatze zu den meisten Menschen und den meisten Bestrebungen, die den Lüsten der Menge schmeicheln auf Grund blosser Erfahrung und ohne wissenschaftliches Bewusstsein, gilt es, in rechter Er- kenntnis von den Sachen und den Gründen für ihre Behandlung die rechte Tätigkeit mit Bewusstsein zu üben. (p. 500a -503c).

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2. Die Seele gesund und wohlgeordnet zu erhalten, be- darf es der Befolgung von Recht und Gesetz mit besonnenem und gerechtem Willen und der Unter- drückung der Lüste durch Strenge der Zucht, (p. 503c bis 505c.)

3. Der Mensch, der seiner Pflicht getreu mit festem Willen die rechte Ordnung innehält, ist eben dadurch sowohl der gute Mensch wie auch der glückliche Mensch; wer dagegen zuchtlos seinen Begierden folgt, ist schlecht und unglücklich zugleich, (p. 50Gc 508b.)

4. Man muss also nicht sowohl danach streben, mit un- beschränkter Macht unrecht handeln zu dürfen und vor dem Unrechtleiden sich zu schützen, als vielmehr danach, die Seele gesund zu erhalten, und das ohne Furcht vor Schmerz und Tod. Denn das Leben ist der Güter höchstes nicht, der Uebel grösstes aber ist die Verderbnis der Seele, (p. 508b— 513b.)

5. In öffentlicher Tätigkeit muss man danach streben, die Menschen sittlich besser zu machen, und dazu gehört vor allem, dass man selbst sittlich durchge- bildet sei. Den grossen Staatsmännern Athens kann man bei allen ihren sonstigen Verdiensten das nicht nachrühmen, so wenig wie man den Sophisten nach- rühmen kann, dass sie ihre Schüler besser machen, (p. 513c— 520a.)

G. Wer nach dem Grundsatze lebt, nur an das Heil der eigenen Seele und an die Besserung der anderen zu denken, der muss das Martyrium, das man ihm des- halb auferlegen möchte, Anklage, Verurteilung und selbst Hinrichtung mit Ergebung freudig auf sich nehmen, (p. 521a 522c.)

C. Schluss. Den Schluss bildet die Darstellung des Schicksales der Seele im Jenseits und die sich dar auf grün dende Ermahnung.

1. Die Seelen der Menschen unterliegen einem Gericht im Jenseits vor dem ewigen Richter von vollendeter

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Gerechtigkeit, und nach ihrem irdisclieii Warulel be- stimmt sich ihr ewiges Geschick, fp. 528a— r)2()C.)

2. Das Leben im Getriebe der Welt und im Besitze der Macht bringt die grössten Versuchungen und Ver- fehlungen mit sich; das stille Leben in privaten Ver- hältnissen, in ernsten Studien und sittlicher Uebung ist von diesen Versuchungen frei und deshalb vor- zuziehen.

3. Wen es aber nach einem Leben in den Geschäften, nach Macht und Ehren gelüstet, der trete wenigstens nicht an den Dienst der Oeftentlichkeit heran, bevor er seine Seele geläutert und iu aller Tugend geübt hat. (p. 526c -527e.)

VIL „Gorgrias" und die andern platonischen Dialoge.

Alle diese ganz besonderen Züge in den dargestellten Personen und in dem Gang der Verhandlung muss man wohl beachten, wenn man die Eigentümlichkeit des Dialoges wirklich verstehen will. Die Schrift ist in polemischer Ab- sicht verfasst; sie w^endet sich gegen weitverbreitete An- sichten, gegen eine herrschende Strömung unter den Zeit- genossen. Gorgias und Polos sind hinlänglich bekannte Figuren; in ihnen werden die Rhetoren und Sophisten über- haupt getroffen. Kallikles wird sonst nicht genannt; und man hat deshalb wohl geraeint, er sei eine erdichtete Person, um den extremsten möglichen Gegensatz zur Gesinnung des Sokrates darzustellen. Das ist doch kaum denkbar. Auch dass sein Name untergeschoben sei, um eine bestimmte historische Persönlichkeit etwa Kritias^), von dem er in der Tat Züge zu tragen scheint darunter zu verbergen, will nicht einleuchten. Denn es werden ganz bestimmte Angaben über ihn und seine Verhältnisse gemacht. Er stammt aus Acharnä^); ist von vornehmer Abkunft und be-

^) Krohn, „Beiträge zur Erklärung des platonischen Gorgias" Leipzig 1876 p. 1. 25. 2) Gorg. 495d.

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gütert'); Gorgias ist bei ihm abgestiegen 2); er liat sieh der politischen Tätigkeit zugewendet^); aucli werden drei Leute genannt'*), mit denen er befreundet ist. Teisander von Aphidnai, Andron und Nausikydes von Cholarge, und eines Gespräches wird Erwälinung getan, das er mit ihnen ge- führt hat^;; dann wird ein junger Mensch genannt, der sein Liebling und durch seine Schönheit bekannt hf'). Es wäre gegen Piatos sonstige Art und hätte an sicli etwas Be- fremdendes und Gekünsteltes, wenn alle diese Züge nur er- funden sein sollten, um eine Figur herauszubringen, mit der Sokrates disputieren kann. Zwar kennen wir die Namen vieler Athener aus jener Zeit. Dass uns jedoch alle Namen von nur irgendwie hervorragender Bedeutung überliefert wären, die in der Zeit von 427 375, denn soweit müssen wir möglicherweise die Grenzen für die Zeit des Gespräches abstecken, in Athen gelebt haben, Hesse sich nicht be- haupten, trotz aller Sorgfalt, die Kirchner in seiner Prosopo- graphia Attica aufgewendet hat, um alle Menschen, die uns genannt werden, zu identifizieren. Es ist eben derselbe Fall mit Thrasymachus im ersten Buche der „Republik", der ganz ähnliche Ansichten vertritt wie im „Gorgias" Kallikles und auch nicht weiter nachweisbar ist. Doch mag dem sein, wie ihm wolle, die Personen und die von ihnen vertretenen Ansichten sind keinesfalls blosse Erdichtungen, und als Ausläufer und Nachwirkungen der jüngeren Sophisten- scliule in dem damaligen Athen nicht auffallend. Man braucht nicht an bestimmte Schulrichtungen oder Schul- häupter zu denken, gegen die sich Plato im „Gorgias" ge- wendet hätte; es genügt anzunehmen, dass in gewissen Gesellschaftsklassen Ansichten, wie sie im „Gorgias" sich wiederspiegeln, populär und geläufig waren, um die von

») Gorg.

512c.

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481d.

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Plato geübte Polemik zu verstehen. Möglich ist es immer- hin, dass, falls zur Abfassung des Dialoges die Schrift eines andern, etwa Xenophons, den äusseren Anstoss gegeben hat, eine zur Zeit viel gelesene Schrift für die Ausmalung der gegnerischen Ansichten Piaton das Material für den „Gorgias" lieferte, und es liegt nicht fern, dabei an Isokrates zu denken, (gegen den ersieh auch im Euthydem gewendet hat')), etwa an dessen Rede gegen die „Sophisten", die in der Zeit aller- dings weiter zurücklag, und etwa 390 als Programm bei der Begründung seiner Ehetorenschule von Isokrates ge- schrieben sein muss.

Für die Stelle des „Gorgias" in der zeitlichen Reihen- folge der platonischen Schriften hat man zuweilen gewisse von Sokrates im ^Gorgias" vorgetragene Ansichten zeugen zu lassen gesucht, die von den in andern Dialogen vorge- tragenen Ansichten über denselben Gegenstand beträchtlich abweichen^). Daran hat man kaum Recht getan. Denn die im „Gorgias* vorgebrachten Urteile und Ansichten hängen auf's engste zusammen mit dem hier behandelten Problem und mit der Art der Behandlung, die es erfährt. Es handelt sich dabei hauptsächlich um folgende Punkte: Tm Gegensatze zu anderen Dialogen scheint Sokrates im „Gorgias" die Rhetorik schlechthin zu verwerfen. In Wahr- heit jedoch gilt in diesem Dialoge nur der Art von Rhetorik,, wie sie Gorgias und die Seinen betreiben, sein Verdammungs- urteil. •^)

Im Phädrus lautet das Urteil anders; denn hier ist gerade die Berechtigung der Rhetorik das eigentliche Thema. An einem verfehlten Modeprodukt, das sich hohe Bewunde- rung verschafft hat, wird dort nachgewiesen, wie eine Rede, ein Vortrag, eine Abhandlung nicht beschaffen sein dürfe; dann aber gezeigt, wie man vernünftigerweise ein Thema

') Eutbydem p. 304J.

') Vgl. z. B. G c r c k e in seinem Vorwort zu Sauppes Ausgabe p. 38-41. 1897.

3) Vgl. Rudolf H i r z 1, das Hhctorischc und seine Bedeutung bei Piaton 1871.

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zu wählen und das gewählte Thema zu behandeln habe. Von alledem ist im „Gorgias" nicht die Rede, weil Plato die Abzweckung dieses Dialoges auf ganz andere Dinge richtete. So ist denn auch die Ansicht verfehlt, zwischen der freundlicheren Beurteilung der Redekunst im „Phaedrus" und der völligen Verwerfung derselben im „Gorgias" bestehe ein unversöhnbarer Widerspruch oder eine Inkonsequenz, die von Unsicherheit des Denkens und der Parteinahme zeuge. Ein anderer Punkt, der hierhin gehört, ist die Ver- schiedenheit der Ansichten über das Verhältnis zwischen dem Guten und dem Angenehmen, wie sie einerseits im „Protagoras" und andererseits im ,, Gorgias" vorgetragen werden. Im „Protagoras" wird die Identität des Angenehmen mit dem Guten von Sokrates behauptet und damit der Ein- klang mit dem Sophisten erreicht; im „Gorgias" dagegen wird eben diese Identifizierung des Angenehmen mit dem Guten von Sokrates mit dem grössten Nachdruck abgewiesen und als ein ganz ungeheuerlicher Irrtum bezeichnet. Diesen Gegensatz der Ansichten auf einen Wechsel in Piatos Auf- fassung zurückzuführen, ist unmöglich. Man mag die Zeit, die zwischen der Abfassung des ,, Protagoras" und der des „Gorgias" verflossen ist, recht lang ansetzen; zur Erklärung einer Wandlung in Piatos Ansichten von so radikaler Art würde sie immer noch nicht ausreichen. Dass der „Prota- goras" der frühere von beiden Dialogen ist, wird nicht leicht bestritten werden. Dann wird man annehmen dürfen, dass er der echten Manier des Sokrates noch näher steht. Aber weder kann Sokrates jemals im Ernst sich des Satzes an- genommen haben, das Angenehme sei auch das Gute, noch kann es Plato jemals in den Sinn gekommen sein, dem Sokrates einen solchen Satz in den Mund zu legen, der der Gestalt des historischen Sokrates schnurstracks widerspricht. Dass die von Sokrates im „Gorgias" vorgetragene Ansicht durchaus ernst gemeint ist, steht ausser Zweifel. Also bleibt nur die Annahme übrig: der Satz im „Protagoras" von der Identität des Angenehmen mit dem Guten ist im Munde des Sokrates unmöglich ernst gemeint, er gehört

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wie das meiste im „Protagoras" zu den Mitteln, die Sokrates anwendet, um die völlige Unklarheit und begriffliche Un- sicherheit des viel angestaunten Sophisten in helles Licht zu stellen. Ja, wenn man wirklich annehmen dürfte, Sokrates mache die betreffende Ausführung im „Protagoras" in vollem Ernste und Plato habe sich damit gegen den historischen Sokrates keineswegs vergangen, so wären wir immer uoch gezwungen, zu bestreiten, dass Plato jemals eine solche Ansicht habe hegen, sie jemals als seine Ansicht habe vortragen können. Aber der ganze „Protagoras* be- ansprucht ja garnicht den Wert einer strengen, ernsthaften Untersuchung. Das glänzende Gemälde von Zeit, Personen und Tendenzen ist ganz und gar durchzogen von satirischen und ironischen Absichten, und es ist schlechterdings kein Grund, den Sokrates oder gar Plato gerade hier beim Worte zu nehmen, wo über das Gute in ethischem Sinne eine An- sicht vorgetragen wird, die der historischen Stellung des Sokrates wie des Plato direkt entgegengesetzt ist.

Plato hat gegen Ende seines Lebens noch einmal in den „Gesetzen" die Frage Lach dem Verhältnis des Ange- nehmen zum Guten behandelt. Da führt er aas: Lust- und Schmerzgefühl ist mit der Natur des Menschen aufs engste verbunden und ergibt für das Handeln der Menschen das mächtigste Motiv. Es wird also dem Gesetzgeber zu raten sein, dass er die Tugend empfehle wegen der an sie ge- knüpften Folgen, die Lustgefühle zu mehren, die Schmerz- gefühle zu mindern. Eine solche Empfehlung wäre auch dann nützlich und wohl angebracht, wenn man sie als eine fromme Täuschung ansehen müsste (Legg. V. p. 732 ff. 11, p. 663). Dabei ist zu bedenken, dass Plato hier von den Gesetzen für den „zweitbesten Staat" spricht, und dass er nur die Mittel für die Erziehung der Unverständigen im Auge hat, nur an die politische Abzweckung und den Dienst des gemeinen Wohles denkt. Im „Gorgias" dagegen handelt es sich um den idealen Begriff des sittlich Guten, utn die ewige Seligkeit und das Heil der Seele im Diesseits wie im jenseitigen Leben. So fällt einerseits der Widerspruch

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zwischen den „Gesetzen" und dem „Gorgias" fort, anderer seits erweisen sich alle Bemühungen, zwischen dem „Gorgias" und dem „Protagoras", in diesem Punkte eine Einheit künstlich herzustellen, als eitel und missverständlich.

Ein anderer Punkt, der Bedenken erregt hat, ist folgender: Im „Gorgias" wird über die grossen Männer, die den athenischen Staat in den ruhmvollsten Zeiten und mit dem glänzendsten Erfolge gelenkt haben, ganz anders geurteilt als im „Menon". Im Gorgias werden sie streng verurteilt und in sittlicher Hinsicht ganz unzulänglich ge- funden, auch die Wirkungen, die sie auf die sittlichen Zu- stände im Staate geübt liaben, werden im trübsten Lichte dargestellt. Im Menon klingt das Urteil ganz anders, und das grosse Verdienst jener Heroen wird mit Freudigkeit an- erkannt, — Der Gegensatz ist unleugbar vorhanden; aber auch er erklärt sich durch die Verschiedenheit des Zusammen- hangs, in dem die entgegengesetzten Urteile gefällt werden. Der Tadel, den Sokrates ausspricht, gilt nicht der Betäti- gung jener Männer im Dienste des Staates, in dieser Beziehung gibt Sokrates zu, seien sie ausgezeichnet gewesen und viel vorzüglicher als ihre Nachfolger, sondern der unzulänglichen Erfüllung der höchsten ethischen Aufgaben für sich und für das Gemeinwesen^). Das aber verträgt sich ganz wohl mit den anders gerichteten Aeusserungen im „Menon" 2), wie mit denen im „Staatsmann^)" und in der „Republik^)".

Wir behandeln noch die viel verhandelte Frage nach der Bestimmung und Abzweckung des Dialogs in Bezug auf gewisse Einzelheiten der Ausführung. Die scharfsinnige Beweisführung Alfred Gerckes legt die Annahme nahe, die Absicht des Dialogs sei die Entgegnung auf Angriffe wider Sokrates u. s. Schüler, wie sie etwa ums Jahr 494 oder 493 Polykrates aufs neue erhoben hat.

1) Gorg. 513 E bis 521 A. ») Menon 93 a bis 94e. 8) Staatsmann 30, 290, 11, 291. *) Republik VI, 496,

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Im „Gorgias" ivird in der Tat vou einer als denkbar vorge- stellten künftigen Anklage und Verurteilung des Sokrates gehandelt. Es geschieht auf Anlass eines in strenger Folge- richtigkeit durchgeführten Gedankens über die sittliche Pflicht, lieber Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun, ja auch dem Unrecht, das man erleidet, sich lieber willig zu fügen, als es durch Unrecht, das man selber tut, abzuwehren. Darin ist offenbar die eigentliche Abzweckung des Dialogs zu finden. Dieser dienen auch die Ausführungen am Schlüsse des „Gorgias" über das ewige Leben und das Gericht im Jenseits. Man darf sie nicht buchstäblich nehmen wollen, ebensowenig wie man Piatos Ansicht von der Seele aus dem Mythos im „Phädrus" erschliessen dürfte. Einkleidung und mythische Darstellungsform muss man als solche ge- niessen und würdigen; aber den Gedanken, der dargestellt werden soll, findet man erst, wenn man die Form der Ein- kleidung abstreift. Diese mythische Form aber nun gar als Beweismittel dafür zu verwenden, dass Plato orphischeu Mysterienkulten zugewandt gewesen sei, ist äusserst verfehlt. Diese Darstellungsformen sind nicht ernsthaft als Theorien gemeint, die in lehrhafter Absicht vorgetragen werden; sie dienen lediglich als Illustration des Gedankens durch ein anschauliches Gleichnis. Wir knüpfen daran weiter einige Bemerkungen über anderes, was neuere Erklärer am „Gorgias" als auffallende Eigentümlichkeit hervorgehoben haben ^). Alles das, um es von vornherein zu sagen, erklärt sich leicht, wenn nur erst die Absicht und das eigentliche Thema des Dialoges richtig gedeutet worden sind. Bei der Aus- malung des Gegensatzes der beiden Arten, sein Leben ein- zurichten und zu führen, dient Sokrates als hervorleuchtendes Beispiel einer Lebensführung, die ganz und gar auf den Ausbau der Innenwelt, auf das Heil der Seele gerichtet ist; da ist es eine einfache Konsequenz, dass daneben alles äussere Geschick und alles auf die Güter dieser Welt

•) Vgl. Constantin Ritter, Platon, s. Leben, s. Schriften, s. Lehre. 1. Bd. München 1010 p. 95 ff,

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gerichtete Streben für gleichgültig und hinter der Würde des Menschen zurückbleibend erklärt wird. Daher ist es keineswegs verwunderlich, wenn Kallikles, der den Genuss der irdischen Güter über alles stellt, und die Tätigkeit, sich ihrer um jeden Preis zu bemächtigen, für den eigentlichen Sinn und Zweck einer vernünftigen Lebensführung hält, den Sokrates, weil er sein Leben ausschliesslich mit allerlei Spekulationen begrifflicher Art, mit der Erfüllung seiner sittlichen Aufgabe und mit der Bildung seiner Persönlich- keit ausfüllt, gründlich verachtet und sein Leben als ein Leben im Winkel, im Dunkel der Schulstube, im Verkehr mit ein paar unmündigen jungen Leuten kennzeichnet') Mit diesem Vorwurf wird eben dieser Gegensatz betont. Der ist kein rechter Mann, der seine Kräfte nicht der öffent- lichen Tätigkeit, den Staatsgeschäften widmet. Allen anderen, auch solchen, die ein sonstiges nützliches Gewerbe betreiben, erweist diese Art von Hochstrebenden die gleiche Nicht- achtung, Daraus wird es auch verständlich, wenn im „Gorgias" des Sokrates letzte Geschicke, die Anklage wider ihn, die Art, wie er sich in Wirklichkeit verteidigt hat, seine Verurteilung, seine Hinrichtung gewissermassen vor- weg genommen werden, allerdings als zeitlose Hypothesen^). Wie des Sokrates Leben, so ist auch sein Tod die tätige Verwirklichung seiner Lehren und der Grundsätze, zu denen er sich stets bekannt hat. Er scheut nicht Schmerz, Verfolgung oder Untergang, wo es gilt, die Stärke und Hoheit der Seele zu bewähren. Freudig nimmt er den Märtyrertod auf sich, um nicht untreu befunden zu werden an den heiligsten Institutionen, an dem Vaterlande und seinen Gesetzen. Unbekümmert um die Schmach und das Leid, das die Unverständigen ihm antun, und um deren Gespött rechnet er sich seine Schwäche und Hilflosigkeit gerade zum Ruhme^). Sein ganzes Streben ist allein darauf gerichtet,

») p. 485 D.

2) p. 521 C. bis 522 D.

') Gorg. p. 473 E. f.

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des Wohlgefallens der Götter teilhaftig zu werden, und mit unbefleckter Seele dereinst vor dem ewigen Richter zu stehen. Das alles mag als Weiterbildung, als Ergänzung zu dem in der „Apologie" Dargestellten aufgefasst werden können; in keinem Falle bildet es einen Gegensatz dazu.

Selbstverständlich hängt das Prinzip für die praktische Lebensführung, das Plato im „Gorgias" den Sokrates ver- treten lässt, aufs engste zusammen mit der Lehre von der Erkenntnis un"d von dem Verhältnisse des Denkens zum Seienden, die Plato mit Sokrates gemein hat, wie mit der Fortbildung, die Sokrates Lehre durch Plato erfahren hat.

Das ist für die ganze Anschauungsweise die Voraus- setzung: der Mensch erkennt das wahrhaft Seiende; er se- langt zur Wahrheit durch begriffliches Denken, und das wahrhaft Seiende tiägt mithin selbst begrifflichen Charakter; der Mensch gehört seinem Wesen nach nicht der sinn- lichen Welt, sondern dem Reiche des ewig Seienden an, aus dem seine Begriffe stammen, und in diesem ewigen Reiche liegt seine Aufgabe und seine Bestimmung. Diese Gedanken bilden selbstverständlich auch im „Gorgias" die Grundlage und den Hintergrund, wenn auch Plato hier gegenüber den seichten Lehren der Sensualisten sich nicht veranlasst sieht, seine Ideenlehre zu begründen, sie auszu- bauen oder auch nur heranzuziehen. Der „Gorgias" will nicht streng wissenschaftlich ableiten, sondern Ueberzeugungen eindringlich vortragen und aus guten Gründen Wahrschein- lichkeit dafür erreichen.

Selbst die Frage nach dem Verhältnisse zwischen dem Wissen des Rechten und dem Tun des Rechten zu erörtern, wird als in diesem Zusammenhange zu weit führend abge- wiesen^). Nur was von der Lehre vom Begriffe auch dem einfachsten Verständnisse zugänglich ist, das will Sokrates diesen Gegnern zu begreifen zumuten. Die Guten heissen gut, weil ihnen das „Gute" beiwohnt, und die Trefllichen heissen trefflich, weil ihnen das „Treffliche" beiwohnt.

1) Gorg. p. 461 B; 467 C bis 468 E.

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Uebrigens genügt schon dieses Wenige, was hier beigebracht wird, um das seltsame Missverständnis, das wir hier nur streifen können, abzuweisen, als seien die Ideen im Sinne Piatos nicht als selbständig für sich seiende Begriffe, sondern als eine Art von Regeln oder Gesetzen zu ver- stehen, die nicht eigentlich ,, seien", sondern „gelten')." Man versteht dann die Auffassung, wonach die Ideen ge- trennt für sich existieren, so, als ob damit die Ideen als „Dinge" gekennzeichnet würden; denn nur Dingen kommen solche selbständige Existenzen zu. Dabei bleibt zunächst unklar, was mit dem „Gelten" gemeint sein soll, wenn etwas „gilt", aber nicht „ist". Die Münze, die beim Zahlen „gilt," muss doch wohl existieren, und die Bestimmung, die im Heere „gilt", gleichfalls. Der Lehrsatz, der „gilt", existiert, und das richterliche Urteil auch, das ausgeführt wird. Aber nicht alles allerdings, was selbständig für sich besteht, darf man als Dinge fassen. Aristoteles er- klärt sie für „ouat'ai" „Wesenheiten"; das heisst aber eben nicht „Dinge", sondern geistige Wesenheiten. Ob es „Dinge" im gemeinen Sinne nach Aristoteles gibt, kann überhaupt fraglich erscheinen. Denn nach ihm ist das Seiende Geist und das Sinnliche selbst übersinnlich. Die Streitfrage zwischen Aristoteles und Plato ist überhaupt nicht die, ob die Idee wirklich ist, darin stimmen beide völlig über- ein — sondern ob die Idee vom Sinnlichen getrennt für sich wirklich ist, und da wird Aristoteles, der dieses Getrenntsein bestreitet, wohl Recht behalten gegenüber Plato, der dieses Getrenntsein behauptet.

VII. Die Ergebnisse der Untersuchung'.

Zum Schluss fassen wir das Ergebnis aus unseren Er- örterungen in folgenden Sätzen zusammen:

1. Der Dialog „Gorgias" läuft aus in einer positiven Lehre von dem rechten Lebensziel und dem rechten Wege zum Ziel. Die Antwort auf die Frage, die in

') Natorp, Piatons Ideonlehre S. 6, 48 und durchgängig.

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dem Gespräche beliandelt wird, bleibt nicht unent- schieden, sondern wird mit voller dogmatischer Sicher- heit gegeben. Diese positive Entscheidung wird dem Sokrates in den Mund gelegt. Der Inhalt derselben Iä>jst sich ganz wohl verstehen als richtige Folgerung aus den Gedanken, die dem historischen Sokrates auch sonst zugeschrieben werden, bei Plato und aucii bei Xenophon. Die Form, in der diese Lehren von Sokrates im „Gorgias" vorgetragen werden, stimmt gleichfalls mit der Forin, in der Sokrates auch sonst seine Gedanken darzulegen pUogt, im ganzen überein. Das von der gewöhnlichen Art des Sokrates Ab- weichende ist zu erklären durch die Eigentümlichkeit der Gegner, mit denen Sokrates verhandelt. Gegen diese Sophisten hegt Sokrates die entschiedenste Ab- neigung; ihre Ansichten wie ilir ganzes Treiben sind ihm geradezu verächtlich; die ünsittlichkeit derselben erscheint ihm verwerflich ; der dreiste Hochmut, die unwissenschaftliche Oberflächlichkeit darin erregt seinen hellen Zorn. Daher die scharfe Paradoxie, zu der er seine Gedanken zuspitzt, das Zurücktreten seiner sonstigen gutmütigen, freundlich überlegenen, nach- sichtigen Manier und die rücksichtslose Strenge, mit der er die unwürdigen Gegner widerlegt. 2. Bei alledem darf man mit voller Sicherheit behaupten, dass Plato die Ansichten, die er durch Sokrates im „Gorgias" aussprechen und vertreten lässt, in der Hauptsache selbst geteilt hat. Der Beweis dafür liegt zunächst darin, dass auch in anderen Dialogen Piatos diese Ansichten vorgetragen werden, z. B. in den Getzen (II p. G61, Piatos letztem Werk); teils darin, dass Aristoteles, Piatos treuester Schüler, die gleichen oder nahe verwandte Lehren in seiner Ethik vertritt. Die Aehnlichkeit geht soweit, dass man fast zu jeder Ausführung das Gegenstück bei Aristoteles nachweisen kann. Insbesondere lässt auch Aristoteles die wahre Eudämonie, den letzten Zweck des menschlichen

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Handelns, in dem rein kontemplat-en Zustande, in der reinen Betrachtung (Eth. Nikm. x, 6) erfüllt werden und stellt die Gunst der Gtter als das zu erreichende Ziel dem Handelnden or Augen. Auch bei Aristoteles gibt der wahrhaft sittliche Mensch alle irdischen Güter, Macht, Ehre, hae Stellung preis, um das Eine zu erlangen, was not ist, den Frieden der Seele, dessen Bedingung die Higabe des ganzen Menschen an das Gute, das Pflichtgmässe ist. Was Aristoteles über den Vorzug des kotetnplativen vor dem aktiven Leben lehrt, das komm bei Plato nicht bloss im Gorgias (p. 500 ff.) sonden auch an vielen anderen Stellen vor, so im „Theätet"(p. 176), in der „Republik" (p. 441 ff.), im ^Timaei" (p. 86 ff.), im „Phaedon" (p. 64 ff. 79 ff.). Es ist nilhin als plato- nisch zu nehmen. 3. Damit ist freilich nicht gesagt, dass uch alle Gründe, die Sokrates vorbringt, alle Einzelheitn des Gedanken- ganges in den Ausführungen des Sokries ohne weiteres dem Plato als dessen eigene Anschien zugeeignet werden dürften. Vieles ist offenba von Plato nur als Mittel gemeint zur Charakteridk des Sokrates und zu schärferer Zeichnung des Gcensatzes, in dem Sokrates zu seinen sophisitischen Mituterrednern steht. Es gilt also Vorsicht zu üben uni nur auf gute Gründe hin Aeusserungen des platoischen Sokrates als Meinungsausdruck des Plato zu btrachten. (z. B. die Ausführungen über die xv/yjx p. G4 B oder den Satz, dass niemand mit Willen ünrect tut p. 509 c, oder die Argumentation, die Sokries zur Wider- legung des Gorgias anwendet, dass, ver weiss, was d^s Gerechte und Ungerechte ist, lotwendig auch gerecht sei und nicht als Rhetor das Ungerechte ver- treten könne p. 460 461). Aber es^ibt Leute, die auch das, was Sokrates in seiner Manir in satirischer, ironischer Absicht scherzend oder m den Gegner aufs Glatteis zu führen, vorbringt, gaz ernsthaft für

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Piatos eiene Meinung nehmen. Es gehört zum alier- sicherste, was wir von Plato wissen, dass er nie die Meinung gehabt haben kann, das Angenehme, Lust- bereitend sei auch das Gute. Aber auch von Sokrates selber gi, dass wenn er im „Protagoras" eine solche Ansicht ii vertreten scheint, das nicht im Ernste tut, als wäre^r solcher Meinung, sondern nur im Scherze, als Kamtinittel gegen den grossen und berühmten Sophistei dessen vollständige Unklarheit über die wichtigsln und prinzipiellsten Fragen garnicht besser aufgedect werden kann als durch solches scheinbare Eingehe! auf seine Manier und auf seine Lehren. Der Diaig handelt nicht eigentlich von dem Werte oder Un'erte der Redekunst, was schon ein alter Scholiastals Ansicht mancher berichtet. (Vgl. K. F. Hermam, Geschichte und System der piaton. Piiilo- sophie. 339. S. 477. 637. f.). Zunächst ist es nicht denkbar.dass Plato die Redekunst als solche sollte verwerfe, ihren Wert als Bildu\jgsmittel völlig ver- kannt, ire Bedeutung für das öffentliche Leben unterschtzt haben. Sein Schüler Aristoteles hat die Rhetorik mit grossem wissenschaftlichem Ernste in einem bchbedeutenden Werke behandelt, sicher auch das in latos Sinn und Geist. Wogegen sich Plato im „Go^ias" wendet, ist der Missbrauch der Rede- kunst, lissbrauch ist es, wenn man bei rhetorischen Künsten stehen bleibt und darüber gründliche dialek- tische litersuchung, die allein zum Wissen führt, vernachlssigt. (p. 455—457). Missbrauch ist es ferner, wenn de Redner selbstsüchtige Zwecke verfolgt, Macht und Eirluss zu gewinnen strebt, um die Gunst der Masse bhlt, den Menschen das sagt, wonach ihnen die Ohrn jucken, wenn er nicht Wissen verbreitet, sondern Leidenschaften wachruft und statt die Menschen zu bessrn, sie nur nach seinem Willen zu leiten sucht. (p. 462-466). Darum darf man es als aus Piatos Seele g^prochen betrachten, wenn Gorgias ausführt,

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Handelns, in dem rein kontemplativen Zustande, in der reinen Betrachtung (Eth. Nikom. x, 6) erfüllt werden und stellt die Gunst der Götter als das zu erreichende Ziel dem Handelnden vor Augen. Auch bei Aristoteles gibt der wahrhaft sittliche Mensch alle irdischen Güter, Macht, Ehre, hohe Stellung preis, um das Eine zu erlangen, was not ist, den Frieden der Seele, dessen Bedingung die Hingabe des ganzen Menschen an das Gute, das Pflichtgemässe ist. Was Aristoteles über den Vorzug des kontemplativen vor dem aktiven Leben lehrt, das kommt bei Plato nicht bloss im Gorgias (p. 500 ff.) sondern auch an vielen anderen Stellen vor, so im „Theätef (p. 176), in der „Republik" (p. 441 ff.), im „Timaeus" (p. 86 ff.), im „Phaedon" (p. 64 ff. 79 ff.). Es ist milhin als plato- nisch zu nehmen.

Damit ist freilich nicht gesagt, dass auch alle Gründe, die Sokrates vorbringt, alle Einzelheiten des Gedanken- ganges in den Ausführungen des Sokrates ohne weiteres dem Plato als dessen eigene Ansichten zugeeignet werden dürften. Vieles ist offenbar von Plato nur als Mittel gemeint zur Charakteristik des Sokrates und zu schärferer Zeichnung des Gegensatzes, in dem Sokrates zu seinen sophistischen Mitunterrednern steht. Es gilt also Vorsicht zu üben und nur auf gute Gründe hin Aeusserungen des platonischen Sokrates als Meinungsausdruck des Plato zu betrachten, (z. B. die Ausführungen über die xi/vai p. 404 B oder den Satz, dass niemand mit Willen Unrecht tut p. 509 c, oder die Argumentation, die Sokrates zur Wider- legung des Gorgias anwendet, dass, wer weiss, was dgis Gerechte und Ungerechte ist, notwendig auch gerecht sei und nicht als Rhetor das Ungerechte ver- treten könne p. 460 461). Aber es gibt Leute, die auch das, was Sokrates in seiner Manier in satirischer, ironischer Absicht scherzend oder um den Gegner aufs Glatteis zu führen, vorbringt, ganz ernsthaft für

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Piatos eigene Meinung nehmen. Es gehört zum aller- sichersten, was wir von Plato wissen, dass er nie die Meinung gehabt haben kann, das Angenehme, Lust- bereitende sei auch das Gute. Aber auch von Sokrates selber gilt, dass wenn er im „Protagoras" eine solche Ansicht zu vertreten scheint, das nicht im Ernste tut, als wäre er solcher Meinung, sondern nur im Scherze, als Kampfmittel gegen den grossen und berühmten Sophisten, dessen vollständige Unklarheit über die wichtigsten und prinzipiellsten Fragen garnicht besser aufgedeckt werden kann als durch solches scheinbare Eingehen auf seine Manier und auf seine Lehren. 4. Der Dialog handelt nicht eigentlich von dem Werte oder Unwerte der Redekunst, was schon ein alter Scholiast als Ansicht mancher berichtet. (Vgl. K. F. Hermann, Geschichte und System der piaton. Philo- sophie. 1839. S. 477. 637. f.). Zunächst ist es nicht denkbar, dass Plato die Redekunst als solche sollte verworfen, ihren Wert als Bildu^gsmittel völlig ver- kannt, ihre Bedeutung für das öffentliche Leben unterschätzt haben. Sein Schüler Aristoteles hat die Rhetorik mit grossem wissenschaftlichem Ernste in einem hochbedeutenden Werke behandelt, sicher auch das in Piatos Sinn und Geist. Wogegen sich Plato im „Gorgias" wendet, ist der Missbrauch der Rede- kunst. Missbrauch ist es, wenn man bei rhetorischen Künsten stehen bleibt und darüber gründliche dialek- tische Untersuchung, die allein zum Wissen führt, vernachlässigt, (p. 455—457). Missbrauch ist es ferner, wenn der Redner selbstsüchtige Zwecke verfolgt, Macht und Einfluss zu gewinnen strebt, um die Gunst der Masse buhlt, den Menschen das sagt, wonach ihnen die Ohren jucken, wenn er nicht Wissen verbreitet, sondern Leidenschaften wachruft und statt die Menschen zu bessern, sie nur nach seinem Willen zu leiten sucht. (p. 462—466). Darum darf man es als aus Piatos Seele gesprochen betrachten, wenn Gorgias ausführt.

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dass der Missbrauch, den, wie er zugibt, sophistischer Geist mit der Redekunst treibt, den echten Wert der Kunst und ihren rechten Gebrauch nicht aufhebt. (p. 456C-457C). In der Tat bekämpft Sokrates bei Piato nur die Begriflsbestimmung, die Gorgias von der Redekunst gibt, und aus der nachher Polos und Kallikles die strikten Folgerungen zum Besten geben. Darum heisst es: Sophist und Rhetor seien identische oder nahezu identische Begriffe (p. 465 C; 520 A), und die Sophistik würde immeriiiii erträglicher (xctUiov) sein, wenn nicht die Rhetorik ihr die Mittel zu un- heilvollem Tun lieferte (p. 520 B). Aristoteles aber hat seiner Zeit die gleiche Ansicht ausgesprochen: die Redekunst lasse sich missbrauchen, gerade wie jedes andere wertvolle Gut. (Rhetor. I, 1. 1355b 2). 5. Der Streit um die Redekunst hat also keine selbst- ständige Bedeutung und der Satz, dass Plato im „Gorgias" für alle Zeiten das Grundwerk der Be- kämpfung der Jledekunst im gewöhnlichen Sinne ge- schaffen habe, (vgl. Christ, Geschichte der griechi- schen Litteratur, 5. Aufl. bearbeitet von W. Schmid 1908. I., S. 635.) trifft nicht die Sache. Die Be- kämpfung des sophistischen Missbrauchs der Rede- kunst zu selbstsüchtigen Zwecken bietet nur die An- knüpfung für das eigentliche Thema des Dialogs. Statt der sophistischen Redekunst, die sich allerdings am bequemsten für den Zweck darbot, hätte auch jede andere auf äusseren Erfolg und die Gewinnung äusserer Güter auf Kosten des Gewissens gerichtete Tätigkeit eintreten können. Die Bekämpfung der Rhetorik ist kein selbständiger Teil des Dialogs ; sie bildet für das Werk nur die Einleitung'. Ob Plato p. 463 A als Anspielung auf die Rede des Iso- krates gegen die Sophisten (17j zu deuten ist (vgl. Räder, S. 124), ob nicht vielmehr Isokrates als der Spätere sich gegen Plato wendet, ist schwer auszu- machen; jedenfalls, für unsere Auffassung ist es uner-

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heblich, und wir können die Frage unerörtert hissen. Der Grund, aus dem Plato sich gegen die Redekunst als das Hauptstück im verderblichen Treiben der Sophisten gewandt hat, ist auch ohne das verständ- lich genug. Er hatte sich am meisten gegen die Gunst zu wehren, die das atlieniensische Publikum Männern wie Isokrates und Antisthenes zuwandte. (). Das eigentliche Thema des Dialogs ist ausdrücklich genug bezeichnet in den Worten, die Sokrates an Kallikles richtet p. 500 C. „Der Gegenstand unserer Unterredung ist wichtig genug, dass ein Mensch, der auch nur ein geringes Mass von vernünftiger Einsicht besitzt, um keinen anderen Gegenstand sich mit grösserem Ernste bemühen müsste, als um diesen. Es handelt sich um die Frage: wie soll der Mensch sein Leben einrichten y Auf die Weise, die du mir an- preisest, dass man solclies Werk eines reciiten Mannes vollbringen soll, als Redner in der Volksversammlung sich betätigen, sich in der Redekunst üben, die Staats- angelegenheiten betreiben in dem Stil, wie es euch geläufig ist? oder soll man sein Leben dem Streben nach edler Bildung {^tikoarj'Ma, -aiost'a) widmen? und wie unterscheidet sich diese letztere Lebensführung von jener?

So wird es denn das Beste sein, zunächst den Unter- schied, wie ich es eben unternommen habe, festzu- stellen, und ist dies geschehen und sind wir darüber einig, ob wirklich diese beiden Arten der Lebens- führung vorhanden sind, dann zu erwägen, welche von beiden man auf Grund ihres Unterschiedes er- wählen soll." Diese Frage erweist sich als die des sittlichen Lebens. Der Gedankengang, den Plato seinem Sokrates in den Mund legt, ist bekannt genug. Es ist derselbe, den wir bei Aristoteles wiederfinden: Alles Handeln hat einen Zweck (p. 477a); der höchste Zweck aber ist die Eudämonie, der innere Friede, (p. 472 C) und dieser kann , nur erreicht werden.

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wenn die Seele, des Mensclien eigentliches Wesen, gesund ist und ihr Werk tut (p. 474a). Das Kenn- zeichen der gesunden Seele und ihrer rechten Betäti- gung ist edle Bildung, Ordnung und Mass {)». nOö). Das allein macht selig. Darum strebt der rechte Mensch nicht nach äusseren Gütern, sondeYn nach dem Heil der Seele. Er erduldet lieber jedes äussere Uebel, als dass er Scliaden nähme an seiner Seele. Er folgt nicht dem Belieben der Willkür, sondern dem vernünftigen Willen, fp. 468) Nur dem ver- nünftigen W^illen gehorchen ist Macht, der Willkür folgen Ohnmacht und Knechtschaft. Besser also Un- recht leiden als Unrecht tun; jeden Schmerz und den Tod selber auf sich nehmen um des Gewissens willen; seine Begierden in seiner Gewalt haben, auf alles äussere Glück verzichten, um seine arme Seele zu retten, das heisst sittlich leben und zugleich inneren Frieden haben, wahrhaft glücklich sein (p. 506 508) und »Seligkeit geniessen. Dieses innere Gericht, das sich am Bösen vollzieht, dieser innere Lohn, den das Gute mit sich bringt, wird dann am Schluss in mythi- scher Form als ein im Jenseits nach dem Abschluss des irdischen Lebens sich vollziehendes Gericht dar- gestellt. Dieser Mythus ist zu verstehen als eine andere Ausdrucksform, als Mittel der Verdeutlichung eben desselben Gedankenganges, der den eigentlichen Inhalt des Dialogs bildet.

Ueber die Höhe dieser Gedanken auch nur ein Wort des Preises zu sagen, ist überflüssig. Wer von der Erhabenheit der im „Gorgias" vorgetragenen Lehre nicht im tiefsten Innern ergriffen wird, der wird überhaupt einer Erhebung der Seele zum wahr- haft Grossen nicht leicht zugänglich sein. Die Auf- fassung des sittlichen Lebens, die Sokrates hier vor- trägt, begegnet uns wieder im Christentum, sicher nicht ohne dass ein historischer Zusammenhang statt- gefunden hat, dem hier nachzugehen nicht wohl tun-

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lieh ist. Der beste Teil der Menschheit lebt seitdem von diesen Gedanken in der Form, die sie durch die grosse religiöse Bewegung in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung empfangen hat. Wir haben uns der Polemik gegen andere Schrift- steller über unseren Dialog möglichst enthalten; die Verschiedenheit der Meinungen über den Inhalt des „Gorgias", der uns bei den Gelehrten begegnet, kann schon allein für sich als Beweis dienen, welche Schwierig- keiten das Verständnis der platonischen Intentionen bietet. Zuweilen wird man an den gescheiten Schul- meister erinnert, der behauptete, als der erste das volle Verständnis des Goethe'schen „Faust" erschlossen zu haben, und den eigentlichen Inhalt des berühmten Gedichtes dahin festlegte: es sei die Schilderung des Lebens einer deutschen Stadt im 16. Jahrhundert, wofür er auch eine grosse Menge von Belegstellen aus dem Gedichte anzuführen vermochte. In Piatos „Gorgias" wird auf die Möglichkeit einer Anklage gegen Sokrates und einer Verurteilung hingedeutet, also, schliesst man, ist der Dialog bald nach Sokrates Tode verfasst und hat die nachträgliche Verteidigung des Sokrates zum Zweck ^). Da im Jahre 394 oder 393 Polykrates eine Schrift gegen Sokrates veröffentlicht hat, die das Urteil gegen Sokrates rechtfertigen sollte, so wird der „Gorgias" wohl als eine Entgegnung gegen Polykrates zu deuten sein. Das würde gelten, läge es nicht nach der Tendenz des „Gorgias" einem Sokrates-Schüler wie Plato so ausserordentlich nahe, auf Sokrates Leben und Schicksal zu exemplifizieren. Die Ausführung im „Gorgias" bleibt genau ebenso verständlich, wenn sie 50, als wenn sie 5 Jahre nach Sokrates Tode niedergeschrieben ist. Im „Gorgias" werden „die beiden berühmten Toten des Jahres 399" Archelaos von Makedonien und Sokrates erwähnt.

*) vgl. Alfred Gercke in der öfter zitierten Einleitung zur Ausgabe des Gorgias p. XVI.

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Also wird geschlossen ^): Der „Gorgias" will die Parallele ziehen zwischen beiden; also ist der „Gorgias" mög- lichst nahe an das Jahr 399 zu rücken. Die grossen Staatsmänner Athens werden im „Gorgias" aus dem Grunde schwer getadelt, weil ihre Wirksamkeit unter dem Gesichtspiinkte der Ethik schlimme Früchte ge- tragen habe. Das Urteil wird aus einer besonderen politischen Lage oder aus dem noch frischen Schmerz über das an Sokrates begangene Unrecht der Atiiener abgeleitet. Im „Meno" urteilt Plato über eben jene Staatsmänner ganz anders; also ist der „Meno" eine Art von Widerruf, später verfasst als der „Gorgias" und aus einer ganz anderen politischen Lage und politischen Stimmung Piatos zu erklären. Und doch ist es nach der Tendenz des „Gorgias" ebenso ver- ständlich, dass Plato die Sache hier mit dem Mass- stabe des Ethos misst, wie es nach der Absicht des Menon natürlich ist, dass hier die Menschen und die Sachen unter dem Gesichtspunkt der äusseren Wirk- samkeit beurteilt werden (vgl. oben S, 77. 78).

Es kommt auch solches vor, was man für ganz unmöglich halten sollte. F. Hörn, Piatonstudien, Wien 1893, S. 92 sagt: Die Sittenlehre Piatos im „Gorgias" ist „eine Glücksoligkeitsraoral oder was Kant eine hetcronoraische Moral nennt im strengsten Sinne des Wortes." „Wie Plato das Wesen des Guten im ., Gorgias" bestimmt hat, kann er nach Hörn seinem praktischen Gesetze die einfache und klare Fassung geben: Handle besonnen und gerecht!" So Hörn. Wer dann wieder bei Natorp (Piatos Ideenlehre 1903 S. 41—51) die Inhaltsangabe des Dialogs liest, wird sich kaum überzeugen lassen, dass damit Piatos „Gorgias" gemeint sein soll. F. Susemihl (die genetische Entwicklung der Platonischen Philosophie

') vgl. Dnmmler, kl. Schriften Bd. I p. 135 Absatz 47: ferner p. 3?4, 32.5. -Akadt-mica Gicsscn 1889 p. 42, 69; ebenso Bergk, Lite- raturgeschichte IV p. 404, 442.

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I. 1855. S. 90) meint mit Steinhart, der Mittelpunkt des Werkes sei „die Darstellung der Philosophie als der ethisch-politischen Lebenskunst." Th. Ziegler (die Ethik der Griechen und Römer, Bonn 1881, S. 78) meint, Plato biege am 5chluss noch einmal ab, um doch ein Stück äusserer Glückseligkeit zu retten, und vertröste in einem Mythos auf ein anderes künf- tiges besseres Leben. Das sei ein Sprung, den Plato ohne eigentlich genügenden Grund aus einem gewissen Schwanken und Unsicherheit oder aus dem Bedürfnis, wenigstens in mythischer Form noch einen höheren Standpunkt zu gewinnen oder aus beiden Gründen gemacht hat. Th. Goraperz endlich (Griechische Denker. IL 1908. S. 268 ff.) hält

„Den Gorgias, was die Beweise anbetrifft, für das Schwächste, was aus Piatos Feder geflossen ist. Die Kritik der herrschenden Moral und Politik seines Zeit- alters bildet den eigentlichen Kernpunkt des „Gorgias." Der Felller bei Plato sei gewesen „der zum Aber- glauben gesteigerte Kultus der Begriffe" (S. 282), „die Unzulänglichkeit der logischen Schulung und die unzureichende Emanzipation von den Banden der Sprache" (S. 285). Es ist wohl aus den sich schroff gegenüberstehenden Ansichten beider Denker zu er- klären, wenn Gomperz Plato nicht die rechte Würdi- gung zu teil werden lässt, indem er ihn logischer Schnitzer überführt, weil er, Plato, nicht formale, sondern metaphysische Logik treibt und auch in den Fragen der Ethik nicht als Nominalist und Sensualist, sondern als Realist und Rationalist spricht.

Die angeführten Proben werden genügen zu dem Erweis, dass unsere Untersuchung doch nicht wohl überflüssig erscheinen möchte, und dass der Gegen- satz unserer Auffassung zu anderen berechtigt ist. Nur eine Aeusserung von Wert wollen wir noch er- wähnen. Bei Ferd. Dümmler (Kleine Schriften I 1884. S. 135) heisst es : „Dem Eindruck, dass der „Gorgias"

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eine epoclieinachenfle Tat sei und <1ass er ein neues Evangelium einführt, wird sich kein Leser entziehen können." Dagegen den Scliluss, der daran geknüpft wird, der Dialog werde als Prograrann gefasst werden müssen einer ersten Schulgründung im Jahre 395 bald nach Piatos Rückkehr von der Reise können wir nicht mitmachen. Zum Programm ist der ,.Gorgias" ebensowenig geeignet wie der „Phaedrus", und auch die Meinung „Gorgias und Phaedrus" raüssten beide in die neunziger Jahre gehören wegen der Sophisten- reden, hat keine rechte Begründung. Wenn wir eine Ansicht äussern dürfen, so würden wir den ,, Phaedrus" beträchtlich später ansetzen, den „Gorgias" aber als ein Erzeugnis grösster Reife und höchster Kunst mit „Symposion" und „Phaedon" in derselben Epoche des Lebens entstanden glauben.

Indessen, darauf näher einzugehen ist nicht unsere Sache. Uns muss es an dem Versuche genügen, den Gedankengehalt des Gorgias von allem Episodischen und Polemischen rein abzusondern und aus seinen Hüllen herauszuschälen. Aristoteles hat in einem Dialoge aus seiner Jugendzeit erzählt, ein korinthischer Weinbauer habe nach der Lektüre des „Gorgias" Acker und Weinberg im Stich gelassen, sich der Philo- sophie zugewandt, und sei in Piatos Schule einge- treten. (Vgl. E. Rohde, Psyche. 1898. S. 263 ff.) Einen solchen Rut zur Bekehrung vernehmen auch wir heute noch in des grossen Atheners unsterblichem Werke. Es ist eine hohe Geistesfreude, eine so nahe- kommende Ahnung der christlichen Wahrheit bei dem grossen^Meister zu finden, der der Philosophie ihr Stichwort von ewiger Geltung im 4. Jahrhundert vor Christi Geburt gegeben hat.

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Vita.

Ego vulua Elisabeth, Juliana, Augusta Tliiel, nat. Moerke, nata sum priedie Idus Julius MDCCCJjXXVIU in vico Wieschowa prope oppiduni Tarnowit/ in Pruvincia Silesiae liorussicae, patre relice Moerke, qui in urbe Wratislaviensi ui socretaiius (hibernii vivit, matrc Anna a gente Lenipp, tiuain praematura morte ereptain vehemeu- tissime lugeo.

Primis litterarum elementis in scliola publica Wratis- lavviensi imbuta scliolam su[»eriorem jiueilaruni sie dictani usque septimuni decimum annuni frequentavi. Anno decinio nono vitae meae nupsi Ernesto Thiel, iudiei publicu (jubernii. Post eins mortem, qui iam post sex menses bub- secutus est, commoravi in domo parentum meorum. Anno MDCCCCIV seientias Gymnasii privatim navavi et iam post duos annos examini in scholam Primae inferioris (Unter- prima) Gymnasii publici ieliciter me subieci. Quod fuit in oppido Tarnowitz,

Mense Julii anni MDCCCCVIII maturitatis testimoniura accepi in Gymnasio publico Wuerzburg in regno Bavariae. Attamen iam ab anno MDCCCCVI usque MDCCCCVIII per quattuor semestria Philosophiae exercitationibus interfui et quidem Berlin, Wuerzburg. A mense Octobris MDCCCCVIII iusque nunc lectiones philosophiae audivi in Universitate Leipzig, Muenchen, Wuerzburg, Berlin.

Docuerunt me viri doctissimi, quibus omnibus prae- cipue professoribus doctissimis Geheimrat Lassen et reveren- dissimo professori Dr. M. 'Baumgartner gratias maximas ago et semper me obligatara esse dico.

Berlin: Frischeisen-Köhler, Lassen,

Würzburg: Külpe, Stölzle,

Leipzig: Heinze,

München: v. Hertling.