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VOLKES & DERAUSWEG AUS DEMKRIEG

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DER GEIST DES - CHINESISCHEN VOLKES

UND DER AUSWEG AUS DEM KRIEG

DRITTES UND VIERTES TAUSEND

_ VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS IN JENA | 1917

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ZUR EINFÜHRUNG

Ku Hung-Ming wurde im Anfang der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in Singapore geboren. Er entstammt einer reichen Kaufmannsfamilie. Mit 16 Jahren kam er nach Großbritannien, wo er in Edin- burg studierte und den Titel eines magister artium er- warb. Darauf hielt er sich mehrere Semester in Deutsch- land auf, war in Leipzig auf der Universität einge- schrieben, benutzte jedoch seine Studienzeit zu viel- fachen Reisen innerhalb des Landes. Besonders häufig hat ersich in Jena aufgehalten. Nach seiner Heimkehr trat er in den chinesischen Staatsdienst ein. Er war Sekretär des Vizekönigs von Wuchang, Chang Chih-. Tung. Seine Beobachtungen in dieser Stellung legte er nieder in einem Buch: Papers ofa Viceroys Yamen. (Yamen nennt man das Amtsgebäude eines Vizekönigs.) Durch den Sturz der Mandschudynastie wurde seine Staatslaufbahn abgebrochen, da er sich weder mit der Republik, noch mit Yuanshikai zu versöhnen ver- mochte. Er lebt jetzt als Privatmann in Peking.

In Deutschland ist er bekannt geworden durch ein bei Eugen Diederichs, Jena, erschienenes Büchlein: „Chinas Verteidigung gegen europäische Ideen, kri- tische Aufsätze.‘‘ Es ist von Alfons Paquet mit einem sehr lesenswerten Vorwort versehen und herausge- geben worden.

In jenem Büchlein vergleicht der Verfasser den mo- dernen Kreuzzug der europäischen Kolonialpolitik mit den religiösen Kreuzzügen des Mittelalters und erhofft von dieser neuerlichen Berührung von Ost und West eine tiefere Durchdringung und Befruchtung der beiden Kulturen, denen er mit sachlicher Kritik gegenüber-

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steht. Man braucht bloß das Buch durchzulesen, um sich zu überzeugen, daß dieser Gedanke keine Utopie ist, denn Ku Hung-Ming verwirklicht ihn als erster in seiner Person. Er gehört zu den ganz seltenen Naturen, die ebenso frei sind von völkischer Beschränktheit wie von charakterlosem Internationalismus. Er ist viel- mehr ein national gesinnter, an der heimischen Kultur haftender Chinese, der mit äußerstem Unwillen die Europäisierung seines Landes betrachtet, sich aber vollkommen bewußt ist, daß China durch die Kenntnis der europäischen Kulturen sich befruchten kann, so- lange es nicht seiner eigenen Überlieferung dadurch un- treu wird. In Ku Hung-Ming hat sich jedenfalls diese Befruchtung bei vollkommener Erhaltung der heimi- schen Art vollzogen.

Jener ‚Keim von Vernunft“, der sich im Gegensatz zu der mittelalterlichen Welt in Europa schließlich zu dem weiter entwickelte, was man liberale Ideen nennt, findet sich nach Ku Hung-Ming bereits in der konfu- zianischen Weltanschauung, deren unmystische Ver- nünftigkeit bekannt ist. Die chinesische Vernünftig- keit istaber keineswegs gleichbedeutend mit berechnen- dem Materialismus, sie erkennt vielmehr durchaus die geistigen und sittlichen Werte an, tritt ihnen jedoch mit einer gewissen nüchternen Ruhe entgegen. Was die liberalen Ideen des 18. Jahrhunderts in Europa ursprünglich wollten, war nichts anderes als eine Reihe unvernünftig gewordener Einrichtungen, die aus dem Mittelalter stammten, zu verändern und schließlich verschwinden zu lassen. Materialismus und Radikalis- mus sind erst die späteren Formen der liberalen Welt- anschauung, zu deren Hauptträger sich schließlich der erwerbende ideallose Mittelstand gemacht hat. In jenen

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echt liberalen Ideen des 18. Jahrhunderts erkennt nun Ku Hung-Ming die Übereinstimmung bedeutender europäischer und chinesischer Geister. Nach seiner Meinung stammen sie aus China und wurden in Europa zu dem Utilitarismus der ‚‚gedankenlos praktischen Engländer“ entwürdigt, die daran gewöhnt sind, die Höhe der Lebenshaltung als Maßstab an die Kultur eines Volkes anzulegen. In dieser entarteten Form kamen jene liberalen Ideen unter dem Deckmantel europäischer Kultur im 19. Jahrhundert wieder nach China zurück, und mit einer betrübenden Bereitwillig- keit hat der Osten diesen Pseudo-Liberalismus ange- nommen, ihm seine alte Kulturüberlieferung geopfert. Von solchem Gesichtspunkt aus bekämpft Ku Hung- Ming Europa, während er seinen wahrhaft großen Geistern die höchste Verehrung zollt. Sein Standpunkt drückt sich in folgenden Worten jenes empfehlens- werten Büchleins aus: ‚Der europäische Liberalismus des 18. Jahrhunderts hatte Kultur, der Liberalismus von heute hat seine Kultur verloren. Der Liberalismus der Vergangenheit las Bücher und verstand Ideen, der moderne Liberalismus liest höchstens Zeitungen und benutzt die großen liberalen Fragen der Vergangenheit als Schlagwörter für seine selbstischen Interessen. Der Liberalismus des 18. Jahrhunderts focht für Recht und Gerechtigkeit, der Pseudoliberalismus von heute ficht für Rechte und Handelsprivilegien. Der Liberalismus der Vergangenheit kämpfte für die Sache der Mensch- heit, der Pseudoliberalismus von heute sucht die in- vestierten Interessen der Kapitalisten und Finanz- leute zu fördern.“

Zwei Jahre vor Ausbruch des Weltkrieges schrieb mir Ku Hung-Ming, er glaube Europas Kultur eile

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durch den Sieg des englischen Utilitarismus dem schnellen Untergang entgegen, wenn nicht durch Deutschland Rettung komme. Freilich sei Deutsch- land wiederum innerlich so uneinig, daß er wenig Hoffnung hege. Inzwischen hat die sogenannte angel- sächsische ‚Zivilisation auch im Osten große Siege davongetragen. China ist Republik geworden, in Japan herrscht der Gladstone des Ostens, Graf Okuma, oder wie ihn Ku nennt: ‚‚der größte Pöbelverehrer Asiens“. Was wird Ku Hung-Ming zu alledem und besonders zu dem Weltkrieg sagen? fragte ich mich oft; da erhielt ich über Holland eine neue Schrift von ihm: ‚The spirit of the Chinese People, with an Essay on The War and the Way-out.‘“ (Peking, im Verlag der Peking Daily News 1915.) Das Buch folgt hier in deutscher Übersetzung.

Ku schreibt für Neutrale, und seine ausgesprochene Neigung für Deutschland wird vielleicht gerade da- durch um so wirksamer, daß er (freilich immer von dem Standpunkt aus: Alles verstehen heißt alles verzeihen) unsere Fehler nicht verkleinert, sondern sogar betont. Er meint mit unseren Fehlern natürlich eine gewisse Art des deutschen Auftretens gegenüber dem Ausland, die, wie wir längst eingesehen und in Wort und Schrift der Kriegsmonate oft genug eingestanden haben, unsere allgemeine Unbeliebtheit mitverursacht hat. Nur hatte dieses Auftreten nichts mit einem über- spannten Machtbewußtsein zu tun, wie Ku manchmal annimmt, sondern eher mit dem Gegenteil, mit dem Gefühl, daß wir eben die unserer Volksleistung auf allen Gebieten entsprechende zum Gedeihen unerläß- liche Macht noch nicht besaßen. Wir glichen dem Jüngling in den Flegeljahren, der selbst seine kräftige

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Mannheit körperlich und geistig spürt, aber ihre An- erkennung noch nicht ganz durchgesetzt hat und dar- um oft zwischen Schüchternheit und Anmaßung, Treu- herzigkeit und Mißtrauen schwankt. Deutschlands Schicksal, seine Tragik und zugleich sein Segen ist es, daß es sich immer neu beweisen und bewähren muß. Das läßt uns nie -erstarren, macht uns wohl aber anderen bisweilen unbequem. Die Behauptung, daß niemand soviel von Macht spricht wie wir, ist richtig, weil keinem Volk das Wissen davon so nottut, wie unserem mitten in Europa zwischen feindlichgesinnten Nachbarn eingezwängten Volk. Wenn auch Ku viel- leicht recht hat, daß die Verkörperung unseres Macht- begriffes, der Militarismus, mittelbar der Anlaß zu dem Krieg war, so war er dies doch nicht deshalb, weil er die Anderen bedrohte, sondern weil die Andern in ihrem Hochmut verschmähten, unser Wesen zu er- fassen und in diesem Militarismus das notwendige Ver- teidigungsmittel eines sich selbst erhalten müssenden Volkes mit lang hingezogenen Grenzen zu erkennen. ‚Dagegen war der Militarismus unserer Gegner der Wille zum Angriffskrieg, da er ganz und gar außer Verhält- nis zu ihren Bedürfnissen stand. Daß Ku auch dafür Verständnis hat, zeigt sein geschichtlicher Überblick über den preußisch-deutschen Militarismus, dem jeder Deutsche nur beistimmen kann.

Berlin, März 1916 Oscar A, H. Schmitz

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Es gibt zwei friedliche Gewalten Das Recht und die Schicklichkeit Goethe

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VORWORT

Der Gegenstand dieses Buches ist, den Geist der chi- nesischen Zivilisation zu erklären und ihren Wert zu zeigen. Nun, mir scheint, um den Wert einer Zivilisa- tion einzuschätzen, ist die Frage, die wir schließlich stellen müssen, nicht, was für große Städte, prächtige Häuser, schöne Straßen sie gebaut hat und zu bauen fähig ist; was für herrliche und bequeme Möbel, kluge und nützliche Geräte, Werkzeuge und Instrumente sie gemacht hat und zu machen fähig ist; nein, nicht ein- mal was für Einrichtungen, Künste und Wissenschaften sie ersonnen hat; die Frage, die wir stellen müssen, um den Wert einer Zivilisation zu beurteilen, ist, was für einen Menschheitstypus, was für eine Art von Männern und Frauen sie hervorzubringen fähig war. Wirklich zeigt der Mann und die Frau, der Typus der menschlichen Wesen, die eine Zivilisation hervorbringt, den Geist, die Persönlichkeit, sozusagen die Seele dieser Zivilisation, so wie die Sprache, die ein Mann und eine Frau sprechen, den Geist, die Persönlichkeit, die Seele des Mannes und der Frau zeigt. Der Franzose sagt in bezug auf literarische Werke: ‚‚Le style, c’est l’homme.‘‘ Ich habe daher diese drei Dinge: den wirk- lichen Chinesen, die chinesische Frau und die chine- sische Sprache zum Gegenstand der drei ersten Auf- sätze in diesem Band genommen, um den Geist der chi- nesischen Zivilisation zu beleuchten und ihren, Wert zu zeigen.

Diesen habe ich noch zwei Aufsätze beigefügt, in welchen ich zu zeigen versucht habe, wieso und warum Männer, Fremde, die als Autoritäten in diesen Dingen angesehen werden, den wirklichen Chinesen und die chinesische Sprache nicht wahrhaft verstehen. Der Rev. Arthur Smith, der die chinesischen Charakteri- stiken schrieb, versteht wie ich zu zeigen versucht habe— den wirklichen Chinesen nicht, weil er als Amerikaner nicht tief genug dazu ist. Dr. Giles da- gegen, der als großer Chinesenforscher angesehen wird, versteht die chinesische Sprache nicht wirklich, weil er als Engländer nicht umfassend genug ist, nicht die philosophische Einsicht und die Weite hat, die diese Einsicht gibt. Ich hätte gern in diesen Band einen Auf- satz aufgenommen, den ich über das Buch von ]J. B. Bland und Blackhouse über die berühmte verstorbene Kaiserin-Witwe geschrieben habe, aber unglücklicher- weise ist es mir nicht möglich gewesen, eine Abschrift dieses Aufsatzes zu beschaffen, der vor ungefähr vier Jahren in der ‚National Review“ in Shanghai veröf- fentlicht wurde. In diesem Aufsatz habe ich versucht zu zeigen, daß solche Männer wie J. B. Bland und Blackhouse die wirkliche Chinesin nicht verstehen und nicht verstehen können den höchsten Frauentypus, den die chinesische Zivilisation hervorgebracht hat, nämlich die verstorbene Kaiserin-Witwe weil sie nicht einfach genug sind, die Schlichtheit des Geistes nicht haben, da sie zu gescheit sind und, wie alle mo-

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dernen Menschen, einen verzerrten Verstand haben.* Um den wirklichen Chinesen unddie chinesische Zivilisa- tion zu verstehen, muß ein Mensch tatsächlich tief, um- fassend und einfach sein, denn die drei Merkmale des chi- nesischen Charakters sind: Tiefe, Weite und Einfachheit.

Die Amerikaner es möge mir erlaubt sein, das hier auszusprechen finden es schwierig, den wirk- lichen Chinesen und die chinesische Zivilisation zu ver- stehen, denn das amerikanische Volk ist in der Regel umfassend, einfach, aber nicht tief. Die Engländer können den wirklichen Chinesen nicht verstehen, weil sie in der Regel tief, einfach, aber nicht umfassend sind; die Deutschen dagegen können ihn nicht verstehen, weil sie— besonders die gebildeten—in der Regel tief, umfassend, aber nicht einfach sind. Die Franzosen, nun wohl, die Franzosen sind das Volk, das ihn, wie mir scheint, am besten verstehen kann und verstanden hat.** Die Franzosen, es ist wahr, haben weder die Gemütstiefe der Deutschen, noch den umfassenden Geist der Amerikaner, noch die Einfachheit des Geistes der Engländer, aber die Franzosen haben eine Geistes- eigenschaft in hervorragendem Grad, die alle Völker, daß sie immer die Dinge verzerren. ** Das beste Buch, das in irgendeiner europäischen Sprache über den Geist der chinesi- schen Zivilisation geschrieben worden ist, ist ein Buch betitelt: La Cite Chinoise von G. Eug. Simon, der einst französischer Konsul in China war. Dieses Buch gab Prof. Lowes Dickinson

aus Cambridge, wie er mir selbst sagte, die Anregung, sein be- rühmtes Buch: Briefe des John Chinaman, zu schreiben.

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die ich oben erwähnt habe, in der Regel nicht besitzen und die vor allen Dingen notwendig ist, um den wirk- lichen Chinesen und die chinesische Zivilisation zu ver- stehen, nämlich: Zarigefühl. Denn zu den drei Merk- malen des wirklichen Chinesen, die ich bereits erwähnt habe, muß ich hier noch eines hinzufügen, und das ist das Hauptmerkmal, nämlich Zartgefühl, und zwar in so hervorragendem Grad, wie man es nirgendwo sonst finden wird, außer vielleicht bei den alten Griechen und ihrer Zivilisation.

Aus dem oben Gesagten wird ersichtlich sein, daß das amerikanische Volk, wenn es die chinesische Zivili- sation studieren wird, Tiefe gewinnt, das englische Weite und das deutsche Einfachheit; und sie alle wer- den durch das Studium chinesischer Bücher und Lite- ratur eine Geisteseigenschaft erlangen, die sie ich nehme mir die Freiheit, es hier zu sagen in der Regel nicht in hervorragendem Grad besitzen, nämlich: Zart- gefühl. Das französische Volk endlich wird durch dieses Studium alles gewinnen Tiefe, Weite, Ein- fachheit und ein noch schöneres Zartgefühl, als es jetzt hat. So wird das Studium der chinesischen Zivilisa- tion, chinesischer Bücher und Literatur, glaube ich, eine Wohltat für alle Völker Europas und Amerikas sein.

Als Letztes habe ich als Anhang einen Aufsatz über praktische Politik beigefügt, einen Aufsatz über den „Ausweg aus dem Krieg‘. Obgleich ich sehr wohl die Gefahr kenne, den Kampfplatz der praktischen Politik

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zu betreten, tue ich es trotzdem; denn um den Wert der chinesischen Zivilisation zu beweisen, möchte ich zeigen, inwieweit ihr Studium zur Lösung der Frage beitragen kann, der die Welt heute gegenübersteht, der Frage, wie die europäische Zivilisation vor dem Zu- sammenbruch gerettet werden kann. Tatsächlich möchte ich zeigen, daß das Studium des Chinesischen, chinesischer Bücher und Literatur nicht nur ein Steckenpferd für Chinaforscher ist.

In diesem Aufsatz habe ich versucht, die moralischen Ursachen dieses Krieges zu zeigen, denn ehe die wahren moralischen Ursachen dieses Krieges verstanden und ihnen abgeholfen worden ist, kann keine Hoffnung be- stehen, einen Ausweg daraus zu finden. Die mora- lischen Ursachen dieses Krieges sind, wie ich in mei- nem Aufsatz zu zeigen versucht habe, die Pöbelvereh- rung in Großbritannien und die Machtverehrung in Deutschland. Ich habe mehr Nachdruck auf die Pöbel- verehrung in Großbritannien gelegt, weil mir bei un- parteiischer Betrachtung der Frage scheint, daß sie für die Machtverehrung in Deutschland verantwortlich ist; tatsächlich war es die Pöbelverehrung in allen euro- päischen Ländern und besonders in Großbritannien, die den ungeheuren deutschen Militarismus geschaffen hat, den jeder jetzt haßt und anklagt.

Nun lassen Sie mich vor allem andern sagen, daß die moralische Ader in der deutschen Nation, ihre hoch- gradige Liebe zur Gerechtigkeit und infolgedessen ihr

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ebenso hochgradiger Haß gegen Ungerechtigkeit, gegen jegliche Unsauberkeit und Unordnung das deutsche Volk veranlaßt, die Macht zu verehren und an sie zu glauben. Alle Menschen mit starker Liebe zur Gerech- tigkeit und heftigem Haß gegen die Ungerechtigkeit neigen dazu, an die Macht zu glauben und sie zu ver- ehren. Der Schotte Carlyle zum Beispiel glaubte an die Macht und verehrte sie. Warum? Weil Carlyle die moralische Ader der Deutschen in sich hatte und die Ungerechtigkeit stark haßte. Nun ist der Grund, war- um ich sage, daß die Pöbelverehrung in Großbritannien für die Machtverehrung in Deutschland verantwortlich ist, der, daß die moralische Ader, der hochgradige Haß gegen Ungerechtigkeit, Unsauberkeit und Unord- nung die deutsche Nation veranlaßt, den Pöbel, die Pöbelverehrung und -verehrer in Großbritannien zu hassen. Nachdem sie gesehen hat, wie der Pöbel und die pöbelverehrenden Staatsmänner Großbritanniens den Burenkrieg in Afrika gemacht haben, machte ihr eingeborener hochgradiger Haß* gegen den Pöbel, seine Verehrung und Verehrer in Großbritannien die deut- sche Nation gewillt, schwere Opfer zu bringen, Entbeh- rungen auf sich zu nehmen, um eine Kriegsflotte zu schaffen in der Hoffnung, den Pöbel und seine Ver-

* Das berühmte Telegramm des deutschen Kaisers an den Präsidenten Krüger war ein Zriebhafter Ausbruch von Ent- rüstung der wahren deutschen Seele mit ihrer moralischen Ader gegen Chamberlain und seineCockneyleute in England, die den Burenkrieg angezettelt haben.

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ehrer in Großbritannien niederzudrücken. Tatsächlich fand sich die deutsche Nation, ich möchte sagen, von allen Seiten umgeben von Pöbel, Pöbelverehrung und -verehrern, die in ganz Europa durch Großbritannien ermutigt wurden, und dadurch glaubte sie mehr und mehr an die Macht und verehrte sie als das einzige Heil der Menschheit. Diese Machtverehrung in Deutsch- land, hervorgerufen durch den Haß gegen die Religion der Pöbelverehrung in Großbritannien, erschuf den un- geheuren deutschen Militarismus, den jeder jetzt haßt und anklagt.

So ist, ich sage es nochmals, die Religion der Pöbel- verehrung in allen europäischen Ländern, besonders in Großbritannien, verantwortlich für die Machtverehrung in Deutschland. Wenn demnach das Volk Großbri- tanniens und die Völker aller europäischen Länder und Amerikas den deutschen Militarismus unterdrücken möchten, so müssen sie vor allem versuchen, die Re- ligion der Pöbelverehrung in ihren eigenen Ländern zu unterdrücken.* Den Völkern Europas und Amerikas, auch denen Japans und Chinas, die heute von Freiheit

* Konfuzius sagte zu einem Schüler: ‚Wenn fremde Nationen unzufrieden mit Euch sind, solltet Ihr bürgerliche und ein- heimische Tugenden pflegen.‘ Die britische Aristokratie in- dessen ist, wie die Mandschuaristokratie in China jetzt hilflos gegen den Pöbel und die Pöbelverehrer in England. Aber es ist ein gutes Zeugnis für die englische Aristokratie, muß ich sa- gen, daß nicht einer von ihnen, soviel ich weiß, in diesem Krieg zu dem englischen Pöbel bei seinem Jubel, Geheul und Geschrei gehalten hat.

sprechen und die Freiheit brauchen, will ich es hier zu sagen wagen, daß das einzige Mittel, um wirkliche Frei- heit zu erlangen, ist, sich gut zu benehmen; zu lernen, sich anständig zu betragen. Sehen Sie China an vor dieser Revolution. Es gab mehr Freiheit für das chine- sische Volk weder Priester noch Schutzleute, weder Gemeindegebühren noch Einkommensteuer zu seiner Plage als für irgendein anderes Volk der Welt; und warum? Weil sich das chinesische Volk vor dieser Revolution gut aufführte; weil es wußte, wie es sich als gute Staatsbürger zu betragen hatte. Aber warum herrscht jetzt, nach dieser Revolution, weniger Freiheit in China? Weil der moderne, zopflose Chinese, die zurückgekehrten Studenten von den Völkern Europas und Amerikas, von dem europäischen Pöbel in Shang- hai gelernt haben, wie sie sich nicht benehmen sollen, sich nicht als gute Bürger zu betragen, sondern als Pöbel, der von den britischen Diplomaten und vom britischen Generalinspektor des Zollamts in Peking er- mutigt, verhätschelt und verehrt wird.* Was ich tat-

* Um zu zeigen, was für Pöbel die zurückgekehrten chinesi- schen Studenten geworden sind, möchte ich hier erwähnen, daß einige von ihnen voriges Jahr persönlich Briefe an die ‚Pekin- ger Zeitung‘ schrieben, die von einem gescheiten chinesischen Babu namens Eugen Chen geführt wird, worin sie offen droh- ten, einen öffentlichen Angriff gegen mich zu organisieren und durchzuführen, weil ich das neue chinesische Weib in meinem Aufsatz über ‚die chinesische Frau‘‘ getadelt hatte. Dieser gescheite chinesische ‚‚Babu‘‘ Eugen Chen, der Aufhetzer zu diesem beabsichtigten Stück Rowdytum, ist ein geachtetes Mit- glied des Komitees des englisch-chinesischen Freundschafts-

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sächlich hier sagen möchte, ist, daß, wenn die Völker Europas, das Volk Großbritanniens den deutschen, den preußischen Militarismus unterdrücken möchten, sie vor allem den Pöbel in ihren eigenen Ländern in Ordnung halten müssen, dafür sorgen müssen, daß er sich anständig aufführt; sie müssen tatsächlich die Re- ligion der Pöbelverehrung und die Pöbelverehrer in ihren eigenen Ländern unterdrücken.

Doch nun, währendich dies sage, muß ich gleichzeitig bei unparteiischer Betrachtung der Frage betonen, daß, wie mir scheint, die unmittelbare Verantwortung für diesen Krieg mehr als irgend jemand anderm dem deut- schen Volk, der deutschen Nation zugeschrieben wird.

Um das zu verstehen, lassen Sie mich zuerst hier die Geschichte des deutschen Militarismus in Europa er- läutern. Nach der Reformation und dem Dreißigjähri- gen Krieg wurden die Völker der germanischen Rasse mit ihrer moralischen Ader, ihrer hochgradigen Liebe zur Gerechtigkeit und ihrem heftigen Haß gegen Un- gerechtigkeit, Unsauberkeit und Unordnung, das ger- manische Volk mit dem Militarismus als Schwert in- der Hand der rechtmäßige Hüter der Zivilisation in Europa. Mit anderen Worten, es bekam die Verant- wortung, Zucht und Ordnung in Europa einzuführen, die sittliche Führung Europas sozusagen kam in seine Hände. Nach der Reformation mußte Friedrich der

bureaus unter dem Schutz des britischen Ministers und des Generalinspektors des chinesischen Zollamtes,

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Große, so wie Cromwell in England, das Schwert des deutschen Militarismus ergreifen und gebrauchen, um Zucht und Ordnung in Europa einzuführen, und das glückte ihm auf alle Fälle im nördlichen Teil Europas. Was geschah nun nach Friedrichs des Großen Tod? Sein Nachfolger verstand nicht das Schwert des deut- schen Militarismus zu führen, um die Zivilisation in Europa zu bewahren und zu schützen, er war unfähig, die sittliche Führung Europas zu behalten. Das Er- gebnis war, daß ganz Europa, sogar die Höfe in Deutschland, ein bodenloser Abgrund von Greuel wur- den, der nur mit einem Firnis von Zivilisation über- deckt war; so sehr, daß schließlich die leidende Bevöl- kerung, das einfache Volk in Frankreich mit Piken aufstand, um sich dagegen aufzulehnen. Sie wurde bald zum Pöbel, und fand schließlich einen großen, fähigen Führer, Napoleon Bonaparte,* der sie anstif- tete, in ganz Europa zu rauben, morden, töten und verwüsten, bis die europäischen Nationen sich wieder um den kleinen Rest des gesunden, deutschen Mili- tarismus zusammenscharten und der Laufbahn des großen Pöbelführers bei Waterloo ein Ende machten. Danach wäre die sittliche Führung Europas zu der germanischen Rasse der Preußen zurückgekehrt, dem * Emerson sagt mit großer Kenntnis: „Was Napoleon nach St. Helena brachte, war nicht der Verlust von Schlachten, son- dern der Emporkömmling, der gemeine Ehrgeiz in ihm, der

gemeine Ehrgeiz, eine wirkliche Prinzessin zu heiraten, eine Dynastie zu gründen.“

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Rückgrat der deutschen Nationen. Aber die Eifer- sucht der andern Rassen, die das österreichische Kaiser- reich bildeten, verhinderte dies. Die Folge war, daß ohne die deutsche Nation mit ihrer moralischen Ader und das Schwert des deutschen Militarismus, um den Pöbel niederzuhalten, dieser 1848 wieder wütend aufstand, um die europäische Zivilisation zu zerbrechen. Dann rettete wieder die germanische Rasse der Preußen mit ihrer moralischen Ader und dem Schwert des deutschen Militarismus die europäische Zivilisation, das König- tum (Bismarck nannte es die Dynastie) vor dem Pöbel.

Aber nun wurden die andern Rassen, die das öster- reichische Kaiserreich bildeten, wieder eifersüchtig und wollten dem Rückgrat der germanischen Nationen, Preußen, nicht erlauben, die sittliche Führung Euro- pas zu übernehmen, bis 1866 der preußische König Wilhelm mit Bismarck und Moltke die österreichische Eifersucht mit Gewalt niederzwang und die Führung wieder übernahm. Danach versuchte Louis Napoleon, der nicht wie sein großer Oheim ein Führer, sondern ein Betrüger des Pöbels war, oder wie Emerson ihn nennt, ein erfolgreicher Dieb, mit dem Pariser Pöbel hinter sich die sittliche Führung Europas der deutschen Nation zu bestreiten und zu entwinden. Die Folge da- von war, daß der Kaiser Wilhelm, mit dem scharfen Schwert des deutschen Militarismus in der Hand, nach Sedan marschieren mußte, um den armen, erfolgreichen Dieb und Pöbelbetrüger niederzuwerfen. Dem ein-

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fachen Volk in Paris, das sein Vertrauen auf den Pöbel und den Pöbelbetrüger gesetzt hatte, wurden die Häu- ser geplündert und niedergebrannt, und zwar nicht durch den deutschen Militarısmus, sondern gerade durch den Pöbel, auf den es sein Vertrauen gesetzt hatte. Nach 1872 ging nicht nur die sittliche, sondern auch die gegenwärtige politische Führung Europas in die Hände der deutschen Nation über, und dank der mora- lischen Ader in der deutschen Nation und dem Schwert des deutschen Militarismus hat Europa sich jetzt seit 1872 dreiundvierzig Jahre lang des Friedens erfreut. So sollten jene Völker, die den deutschen, den preußischen Militarismus schmähen und anklagen, sich daran erin- nern, wieviel Europa diesem Militarismus schuldig ist.

Ich habe mir die Mühe gemacht, diese rohe, kurze Skizze des deutschen Militarismus in Europa zu zeich- nen, um dem deutschen Volk zu zeigen, daß ich nicht voreingenommen gegen es bin, wenn ich sage, daß die gegenwärtige, unmittelbare Verantwortung für diesen Krieg mehr dem deutschen Volk zugeschrieben wird als irgend jemand sonst; und warum? Weil Macht Ver- antwortung bedeutet.*

Ich sage, daß es die hochgradige Liebe zur Gerech- . . tigkeit, der heftige Haß gegen Ungerechtigkeit, Un- sauberkeit und Unordnung im deutschen Volk sind, die

* Konfuzius sagt: Machtbesitz ohne Milde und Großmut ist etwas, was ich nicht zu sehen ertragen kann.‘ Shakespeare sagt: „Es ist glorreich, eines Riesen Kraft zu besitzen, aber es ist tyrannisch, sie wie ein Riese zu gebrauchen.“

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es an die Macht glauben und sie verehren lassen. Nun möchte ich hier sagen, daß dieser Haß, wenn er allzu heftig, wenn er übertrieben wird, auch eine furchtbare, schreckliche Ungerechtigkeit wird, etwas, was sünd- hafter und unrechter ist als sogar Unsauberkeit und Unordnung. Dieser von hochgradiger Gerechtigkeits- liebe hervorgerufene übermäßige, eindringliche, enge, harte, strenge Haß gegen die Ungerechtigkeit war es, der das alte hebräische Volk zum Übermaß führte, dasselbe Volk, dem die Völker Europas ihr Wissen von der Gerechtigkeit und die Liebe zu ihr verdanken; das vernichtete die jüdische Nation. Um sein Volk von diesem übermäßigen, harten, strengen Haß gegen die Ungerechtigkeit zu erretten, kam Jesus Christus. Chri- stus mit seiner von Matthew Arnold so genannten un- aussprechlich sanften Vernünftigkeit sagte zu seinem eigenen Volke: ‚Lernet von mir, daß ich mild und de- mütig bin, und ihr sollt Frieden haben in euren Seelen.“ Aber die Juden, sein eigenes Volk, wollten nicht auf ihn hören, sondern kreuzigten ihn, worauf die jüdische Nation unterging. Zu den Römern, den damaligen Hütern der europäischen Zivilisation, sagte Christus: „Alle, die das Schwert ergreifen, sollen durch das Schwert umkommen.‘‘* Aber die Römer hörten nicht auf ihn, sondern erlaubten den Juden, ihn zu kreuzi-

rohe Gewalt stellen und von ihr abhängen oder, wie Emerson sagt, die an die gemeine Musketenverehrung glauben.

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gen, und als Folge davon ging das römische Reich und die alte europäische Zivilisation unter und verschwand. Goethe sagte: ‚Welchen Weg mußte nicht die Mensch- heit machen, bis sie dahin gelangte, auch gegen Schul- dige gelind, gegen Verbrecher schonend, auch gegen Un- menschliche menschlich zu sein. Gewiß waren es Männer göttlicher Natur, die dies zuerst lehrten, die ihr Leben damit zubrachten, die Ausübung möglich zu machen und zu beschleunigen.“

Mit diesen Worten ihres großen Goethe will ich hier die deutsche Nation anrufen und ihr sagen, daß sie, wenn sie nicht einen Weg findet, um ihren engen, harten, strengen, übermäßigen Haß gegen die Un- gerechtigkeit zu bezwingen, der sie zu dieser unbe- dingten Machtverehrung veranlaßt, wie die jüdische Nation untergehen wird, und was noch mehr ist, daß die moderne europäische Zivilisation aus Mangel an einem ernsten Hüter verfallen und vergehen wird, so wie die alte europäische Zivilisation vergangen ist. Denn dieser unbedingte Glaube an die Macht und ihre Verehrung ist schuld, daß die deutsche Nation, ihre Staatsmänner, Beamten und das ganze deutsche Volk so unbesonnen und taktlos in seinem Benehmen gegen andere Völker ist. Wenn meine deutschen Freunde mich um einen Beweis für die deutsche Machtver- ehrung, für die deutsche Taktlosigkeit baten, habe ich sie einfach auf das Kettlerdenkmal in Peking aufmerk- sam gemacht. Dieses ist ein dauerndes .Erinnerungs-

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zeichen der deutschen Machtverehrung, der Taktlosig- keit der deutschen Diplomatie in ihrem internatio- nalen Umgang mit anderen Nationen.* Es hat daher auch den Kaiser von Rußland zu dem Ausspruch ver- anlaßt: „Wir haben das sieben Jahre lang ertragen, jetzt muß es aufhören!‘“ Diese Taktlosigkeit der deut- schen Diplomatie war schuld, daß der wirklich fried- liebende Kaiser von Rußland und das beste, gesün- deste, liebenswürdigste, freundlichste und großmütig- ste Volk von Europa, die Russen, sich auf die Seite des Pöbels und der Pöbelverehrer in Großbritannien und Frankreich stellten, die die Triple-Entente schufen; daß die Russen sich schließlich auf die Seite des an- archistischen Pöbels in Serbien stellten, was dann zu diesem Krieg führte. Kurz, der Taktlosigkeit der deut- schen Diplomatie und des deutschen Volkes wird die un- mittelbareVerantwortung für diesen Krieg zugeschoben.

Ich sage deshalb, wenn die deutsche Nation, die jetzt

* Der deutsche Minister, Baron Kettler, wurde während des fanatischen Boxeraufstandes in China durch einen unglück- lichen Zufall von einem Verrückten unter den fanatischen Sol- daten getötet. Als Strafe für diese Tat eines Verrückten be- standen die deutschen Staatsmänner darauf, die ganze chine- sische Nation auf der Stirn mit einem unauslöschlichen Zeichen der Demütigung zu brandmarken, indem sie dieses Kettler- denkmal in der Hauptstraße der chinesischen Hauptstadt er- richteten. Der verstorbene Graf Cassini, der russissche Mi- nister in Peking gerade vor dem Boxeraufstand, sagte in einem Gespräch mit einem amerikanischen Zeitungsschreiber: ‚Die Chinesen sind ein höfliches Volk, aber die Unhöflichkeit der britischen und der deutschen Minister vor allem des deut- schen Ministers in Peking ist etwas Kränkendes.‘

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die wahre, rechtmäßige und gesetzmäßige Hüterin der modernen europäischen Zivilisation ist, nicht unter- gehen und die Zivilisation gerettet werden soll, muß sie ein Mittel finden, um ihren übermäßigen, strengen, harten, engen Haß gegen die Ungerechtigkeit zu über- winden, der sie so unhedingt an die Macht glauben und sie verehren läßt, wodurch sie oft so unüberlegt und taktlos erscheint. Und dieses Mittel wird die deutsche Nation finden in diesen Worten ihres großen Goethe: „Es gibt zwei friedliche Gewalten in der Welt, das Recht und die Schicklichkeit.“

Nun sind das Recht und die Schicklichkeit das Wesen der Religion des guten Bürgers, die Kon- fuzius uns Chinesen hier in China gab; dieser Takt, diese Schicklichkeit besonders, ist das Wesen der chine- sischen Zivilisation. Die jüdische Religion lehrte das Wissen vom Recht, aber nicht die Schicklichkeit. Die griechische Zivilisation lehrte das Wissen von der Schicklichkeit, aber kein Recht. Aber die Religion in der chinesischen Zivilisation lehrt uns beides das Recht und die Schicklichkeit. Die hebräische Bibel, der Plan, nach dem die Völker Europas ihre gegen- wärtige Zivilisation aufgebaut haben, lehrt sie, die Ge- rechtigkeit zu lieben, rechtliche Menschen zu sein, recht zu tun. Aber die chinesische Bibel, die fünf Ka- nons und vier Bücher in China, der Zivilisationsplan, den Konfuzius für uns bewahrte, lehrt dasselbe, aber fügt hinzu: „liebt die Gerechtigkeit, seid rechtliche

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Menschen, tut recht aber mit gutem Geschmack. Kurz, die europäische Religion sagt: ‚Sei ein guter Mensch.‘‘ Aber die chinesische Religion sagt: ‚‚Sei ein guter Mensch mit gutem Geschmack.‘ Das Christen- tum sagt: „Liebe die Menschheit.‘ Aber Konfuzius sagt: „Liebe die Menschheit mit gutem Geschmack.“ Diese Religion der Gerechtigkeit mit gutem Ge- schmack, die ich die Religion des guten Bürgers ge- nannt habe, ist die neue Religion, die die Völker Eu- ropas, besonders die Völker der jetzt kriegführenden Länder, in diesem Augenblick brauchen, nicht nur, um diesen Krieg zu beenden, sondern auch, um die Zivili- sation Europas der Welt zu retten. Diese neue Re- ligion werden die Völker Europas hier in China finden, in der chinesischen Zivilisation. Ich habe deshalb in diesem kleinen Buch den Versuch gemacht, den Wert dieser Zivilisation zu zeigen und zu erklären. Ich tue es in der Hoffnung, daß alle gebildeten, ernsthaft denkenden Leute, die mein Buch lesen, dadurch die moralischen Ursachen dieses Krieges besser verstehen und dazu helfen werden, diesen grausamen, nutzlosen, unmenschlichen und ungeheuersten Krieg, den die Welt je gesehen hat, zu Ende zu bringen.

Dazu müssen wir vor allem versuchen, zuerst die Pöbelverehrung und dann die Machtverehrung in der heutigen Welt zu bekämpfen. Die Pöbelverehrung können wir nur dadurch niederdrücken, daß wir in un- serm täglichen Leben, in allem, was wir sagen und tun,

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jeder von uns nicht an Vorteil und Nutzen denken, nicht daran, ob es sich bezahlt macht, sondern an das Wort in Goethes Ausspruch: Recht. Konfuzius sagt: „Der vornehme Mensch versteht sich auf das Recht, der gewöhnliche Kerl versteht sich auf den Vorteil, darauf, ob es sich bezahlt macht.‘“ Ferner müssen wir zur Bezwingung der Pöbelverehrung den Mut ha- ben, so zu handeln, auch wenn es keinen Vorteil bringt, uns zu weigern, uns dem Pöbel anzuschließen. Vol- taire sagt: „Es ist das Unglück der anständigen Men- schen, daß sie Feiglinge sind.‘“ Denn es ist die Selbst- sucht und die Feigheit in uns allen, die den Pöbel und seine Verehrung in der heutigen Welt geschaffen hat, die Selbstsucht, die uns an Nutzen, an Vorteil denken läßt, daran, ob es sich bezahlt macht, anstatt an das Recht, und die Feigheit, die uns abschreckt, allein gegen die Menge, den Pöbel, aufzustehen.

Die Leute sagen, der deutsche Militarismus sei der Feind und die Gefahr der heutigen Welt. Aber ich sage, daß es die Selbstsucht und die Feigheit in uns allen ist, die miteinander verbunden den Kommerzialismus er- geben. Dieser Geist des Kommerzialismus in allen Ländern, insbesondere in Großbritannien und Amerika, und nicht der preußische Militarismus ist der wahre, der größte Feind der heutigen Welt. Denn der Kom- merzialismus, diese Verbindung von Selbstsucht und Feigheit, hat die Religion der Pöbelverehrung in Groß- britannien geschaffen, die die Ursache der Religion der

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Machtverehrung in Deutschland wurde, des deutschen Militarismus, der schließlich zu diesem Krieg geführt hat. Nicht der Militarismus, sondern der Kommer- zialismus ist daher die Quelle und der Ursprung dieses Krieges. Wenn wir also helfen wollen, diesen Krieg zu Ende zu bringen, müssen wir zuerst, wir alle, diese Verbindung von Selbstsucht und Feigheit, den Geist des Kommerzialismus in uns überwinden, kurz, wir müssen an das Recht denken, nicht an den Vor- teil und dann den Mut haben, gegen die Menge, den Pöbel, aufzustehen. Auf diesem, nur auf diesem Weg können wir helfen, die Religion der Pöbelverehrung: zu unterdrücken, diesen Krieg zu Ende zu bringen. Dann wird es ein leichtes sein, die Machtverehrung, den deutschen, den preußischen Militarismus ver- schwinden zu machen. Das einzige, was wir zu diesem Zweck zu tun haben, ist, an das andere Wort in Goethes Ausspruch zu denken, nämlich an die Schicklichkeit. Guter Geschmack, und, indem man daran denkt, sich mit Schicklichkeit und gutem Geschmack benehmen, kurz, sich anständig benehmen; denn Macht und jeder Militarismus der Welt wird sich bald nutzlos und un- nötig erweisen gegen ein Volk, das sich anständig zu benehmen versteht. Das also ist der Geist der Religion des guten Bürgers, das Geheimnis der chinesischen Zivilisation. Es ist auch das Geheimnis der neuen .europäischen Zivilisation, die der Deutsche Goethe den Völkern Europas gab, und es lautet: die Gewalt

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zu überwinden nicht durch Gewalt, sondern durch Recht und Schicklichkeit; tatsächlich die Gewalt und alles, was in dieser Welt böse ist, nicht durch Gewalt zu bezwingen, sondern unser Betragen richtig zu re- geln und uns anständig zu benehmen, das heißt: recht zu tun und sich mit Schicklichkeit und gutem Geschmack aufzuführen.* Dies ist das Geheimnis, die Seele der chi- nesischen Zivilisation, das Wesentliche im Geist des chinesischen Volkes, den ich in diesem Buche zu er- klären und zu erläutern versucht habe.

Schließlich will ich hier aufhören mit den Worten, mit denen ich das Buch: ‚Denkwürdigkeiten aus dem Yamen eines Vizekönigs‘‘ beschlossen habe, das ich nach den chinesischen Boxerunruhen schrieb. Es sind die Worte des französischen Dichters Beranger, und ich denke, daß sie dem gegenwärtigen Augenblick sehr angemessen sind:

J’ai vu la paix descendre sur la terre, Semant de l’or des fleurs et des £pis;

L’air &tait calme et du Dieu de la guerre Elle etouffait les foudres assoupis;

Ah! disait-elle, egaux par la vaillance Anglais, Francais, Belge, Russe ou Germain, Peuples, formez une sainte alliance

Et donnez vous la main!

Ku Hung-Ming

* Konfuzius sagt: ‚Der moralische Mensch, der vornehme Mensch, kann dadurch, daß er ein Leben von schlichter Wahr- heit und Ernsthaftigkeit lebt, der Welt Frieden bringen.“

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EINLEITUNG Die Religion des guten Bürgers

Sage, tun wir nicht recht? Wir müssen den Pöbel betrügen, Sieh nur, wie ungeschickt, sieh nur, wie wild er sich zeigt! Ungeschickt und wild sind alle rohen Betrognen;

Seid nur redlich und führt ihn zum Menschlichen an.

Goethe

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er große Krieg nimmt in diesem Augenblick die Aufmerksamkeit der ganzen Welt mit Ausschluß alles andern in Anspruch. Aber nun denke ich, daß durch diesen Krieg ernsthaft denkende Leute veranlaßt werden, ihre Aufmerksamkeit dem Problem der Zivili- sation zuzuwenden. Alle Zivilisation beginnt mit der Eroberung der Natur, das heißt, mit der Unterwerfung und Beaufsichtigung der furchtbaren physischen Kräfte in der Natur, so daß sie den Menschen keinen Schaden zufügen können. Der europäischen Zivilisation ist heute die Eroberung der Natur mit solchem Erfolg ge- glückt das muß zugegeben werden wie keiner andern je zuvor. Aber es gibt in der Welt eine Kraft, die fürchterlicher ist als diese Naturkräfte, nämlich die Leidenschaften in den Menschenherzen. Der Schaden, den die physischen Naturkräfte der Menschheit zufügen können, ist nichts verglichen mit dem, den menschliche Leidenschaften anrichten kön- nen. Ehe diese deshalb richtig geregelt und beauf- sichtigt sind, kann nicht nur keine Zivilisation, son- dern auch kein Leben für menschliche Wesen mög- lich sein. u In der ersten frühen und rauhen Stufe der Gesell- schaft mußte die Menschheit die physische Kraft da- zu verwenden, die menschlichen Leidenschaften zu bezähmen und zu unterwerfen. Ganze Horden Wilder mußten durch sie unterworfen werden. Aber mit dem Fortschreiten der Zivilisation entdeckte die Menschheit

ER

etwas Gewaltigeres und Wirksameres, nämlich die moralische Kraft. Die moralische Kraft, die in der Vergangenheit wirksam war, um die menschlichen Leidenschaften der europäischen Bevölkerung zu be- zwingen und zu beaufsichtigen, ist das Christentum. Aber der jetzige Krieg und die ihm vorhergehende Rüstung scheint zu zeigen, daß das Christentum als moralische Kraft nicht mehr wirksam genug gewesen ist. Deshalb mußten die Völker Europas wieder phy- sische Kraft anwenden, um die bürgerliche Ordnung zu erhalten. Wie Carlyle richtig sagt: „Europa ist Anarchie plus einem Polizisten.‘‘ Der Gebrauch der physischen Kraft zur Aufrechterhaltung bürgerlicher Ordnung führt zum Mi.itarismus. Er ist heute tat- sächlich in Europa aus Mangel an einer wirksamen moralischen Kraft notwendig. Aber Militarismus führt zum Krieg, und der bedeutet Zerstörung und Ver- wüstung. So stecken die Völker Europas in einem Zwiespalt. Schaffen sie den Militarismus ab, dann zerstört die Anarchie ihre Zivilisation, behalten sie ihn aber bei, dann geht die Zivilisation durch die Ver- heerung und Verwüsfüng des Krieges zugrunde. Aber die Engländer sagen, daß sie dazu berufen sind, den preußischen Militarismus zu bezwingen, und Lord Kit- chener glaubt, daß er ihn mit drei Millionen gedrillter, bewaffneter Engländer zerstampfen kann. Aber dann würde sich, so scheint es mir, ein anderer, nämlich der britische Militarismus erheben, der auch wieder zer-

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stampft werden müßte. Hier scheint mir kein Ausweg aus diesem verderblichen Kreislauf.

Und doch gibt es einen Ausweg. Der Amerikaner Emerson sagte vor langer Zeit: ‚Ich kann leicht den Zusammenbruch der vulgären Musketenverehrung mit ansehen obgleich große Männer Musketenverehrer sein mögen. Und es ist so gewiß, wie Gott lebt, daß die Waffe, die keiner anderen Waffe bedarf, nämlich das Gesetz der Liebe und Gerechtigkeit allein eine sittlich einwandfreie Umwälzung bewirken kann.‘“ Wenn nun die Völker Europas wirklich den Militarismus ab- schaffen wollen, gibt es nur ein Mittel dazu, nämlich das, was Emerson die Waffe nennt, die keiner anderen Waffe bedarf, das Gesetz der Liebe und Gerechtigkeit, tatsächlich die moralische Kraft. Damit wird der Mili- tarismus unnötig werden und von selbst verschwinden. Da aber jetzt das Christentum nicht mehr wirksam genug ist, ist die Frage: wo werden die Völker Europas eine neue wirksame moralische Kraft finden, die den Militarismus unnötig macht?

Ich glaube, daß sie sie in China, in der chinesischen Zivilisation finden werden, in der Religion des guten Bürgers. Aber man wird mir vorhalten, daß es auch in China Kriege gegeben hat. Das ist wahr, aber seit Konfuzius Zeit, seit 2500 Jahren gab es in China keinen Militarismus wie im heutigen Europa. In China ist der Krieg ein Unglücksfall, in Europa ist er zur Notwendig- keit geworden. Wir Chinesen sind dem Kriege aus-

3 KuHung-Ming, Geist des chines, Volkes 3 3

gesetzt, wir leben aber nicht in beständiger Erwartung des Krieges. Das unleidlichste im europäischen Staat ist, wie mir scheint, nicht so sehr der Krieg als die Tat- sache, daß jeder Angst hat, sein Nachbar würde, so- bald er stark genug dazu ist, kommen, um ihn zu be- rauben und zu ermorden, und daß er sich deshalb be- wafinen oder einen bewaffneten Schutzmann bezahlen muß, der ihn verteidigt. So ist das, was auf den Völ- kern Europas lastet, nicht so sehr der Unglücksfall eines Krieges, als die beständige, unbedingte Notwen- digkeit, sich zu bewafinen und die physische Kraft zu ihrem Schutz auszunützen. |

Nun fühlt in China, weil wir die Religion des guten Bürgers haben, der Mensch diese Notwendigkeit nicht, er hat sogar selten nötig, die physische Kraft des Schutz- mannes, des Staates, zu seinem Schutz anzurufen. In China ist der Mensch geschützt durch den Gerechtig- keitssinn seines Nachbarn, durch die Bereitwilligkeit seines Mitmenschen, dem Gefühl der moralischen Ver- pflichtung zu folgen. Er ist sicher, daß Recht und Ge- rechtigkeit von jedermann als eine Kraft, die höher steht als die physische, anerkannt werden, und daß die moralische Verpflichtung als etwas anerkannt wird, ‚dem gehorcht werden muß. Wenn man nun die ganze Menschheit dazu bringen kann, das anzuerkennen, so wird der Gebrauch der physischen Kraft unnötig werden, und es wird keinen Militarismus mehr in der Welt geben. Aber es wird in jedem Land einige Leute,

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Verbrecher, geben und überall ein paar Wilde, die das nicht anerkennen wollen oder unfähig dazu sind. Gegen diese wird ein gewisses Aufgebot von physischer oder Polizeikraft und Militarismus immer in jedem Land notwendig sein.

Aber man wird mich fragen, wie ich die Mensch- heit dazu bringen will, Recht und Gerechtigkeit als eine Kraft anzuerkennen, die höher steht als physische Kraft. Dazu muß man zuerst die Menschheit von der Wirksamkeit von Recht und Gerechtigkeit überzeugen, sie von der Macht der Güte überzeugen. Um das zu erreichen, lehrt die Religion des guten Bürgers in China jedes Kind, sobald es fähig ist, den Sinn der Worte zu fassen, daß die Natur des Menschen gut ist.*

Nun liegt, scheint mir, die grundlegende Ungesund- heit der heutigen europäischen Zivilisation in ihrer verkehrten Vorstellung von der menschlichen Natur, in ihrer Auffassung, daß diese böse ist, und deshalb hat der ganze Aufbau der Gesellschaft in Europa stets auf der Kraft beruht. Die beiden Dinge, von denen die Völker Europas abhängig waren, um die bürgerliche Ordnung aufrecht zu erhalten, sind Re- ligion und Gesetz, Gottesfurcht und Gesetzesfurcht. Furcht enthält in sich den Gebrauch der Kraft. Des- halb mußten die Völker Europas zur Erhaltung der Gottesfurcht zuerst eine große Anzahl kostspieliger,

* Das ist der erste Satz des ersten Buches, das in die Hand eines jeden Kindes in China gelegt wird, das zur Schule geht.

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müßiger Personen, Priesier genannt, erhalten. Das, um von nichts anderm zu sprechen, bedeutete schließ- lich eine so große Ausgabe, daß es eine unerträgliche Last für das Volk wurde. Sie versuchten auch tatsäch- lich im dreißigjährigen Reformationskrieg, die Priester loszuwerden, die die Bevölkerung durch die Gottes- furcht in Ordnung gehalten hatten. Nachdem dies ge- schehen war, versuchten die Völker Europas die bürger- liche Ordnung durch Gesetzesfurcht aufrecht zu er- halten. Dazu mußten sie aber eine andere Klasse noch kostspieligerer, müßiger Personen, genannt Schuiz- leute und Soldaten, unterhalten. Sie sahen aber ein, daß das noch verderblicher kostspielig ist. So wie die Völker Europas im Dreißigjährigen Krieg tatsäch- lich die Priester losgeworden sind, ist, was sie im gegen- wärtigen Krieg wirklich brauchen, den Soldaten los zu werden.

Dazu müssen sie aber entweder die Priester zurück- rufen, um die Gottesfurcht zu erhalten, oder etwas anderes zur Aufrechterhaltung der Ordnung finden. Das ist, was jeder zugeben wird, das große Problem der Zivilisation nach diesem Krieg.

Nun denke ich, daß die Völker Europas nach der Er- fahrung, die sie mit den Priestern gemacht haben, diese nicht zurückzurufen wünschen. Bismarck hat gesagt: „Nach Canossa gehn wir nicht.“ Außerdem würden die Priester nutzlos sein, denn die Furcht Gottes ist von den Völkern Europas gewichen. Sie müssen also

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etwas anderes zur Aufrechterhaltung der bürgerlichen Ordnung finden, und dieses Etwas werden sie, glaube ich, in der chinesischen Zivilisation, in der Religion des guten Bürgers finden. Diese kann die Bevölkerung eines Landes ohne Priester, Schutzleute und Soldaten in Ordnung halten. Tatsächlich wird die chinesische Bevölkerung, die so groß, wenn nicht größer ist als die ganze Bevölkerung des europäischen Festlandes, wirk- lich und praktisch mit dieser Religion des guten Bür- gers ohne Priester, Schutzleute und Soldaten in Ord- nung gehalten. Diese Leute spielen, wie jeder weiß, der in China gewesen ist, dort eine sehr untergeordnete, . bedeutungslose Rolle. Nur die allerunwissendste Klasse in China braucht den Priester, und nur die schlechteste, die Verbrecherklasse, braucht den Schutzmann oder Soldaten, um in Ordnung gehalten zu werden. Darum sage ich, daß die Völker Europas, wenn sie wirklich den Militarismus, die Priester und Soldaten los werden wollen, die so viel Unruhe und Blutvergießen verur- sacht haben, nach China kommen müssen, um das zu erlangen, was ich die Religion des guten Bürgers ge- nannt habe.

Kurz, das, worauf ich die Aufmerksamkeit der Völ- ker Europas und Amerikas gerade in diesem Augen- blick lenken möchte, wo die Zivilisation mit dem Zu- sammenbruch bedroht ist, ist das Vorhandensein eines unschätzbaren, bisher unverdächtigten Erbes von Zivi- lisation hier in China. Es besteht nicht im Handel, der

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Eisenbahn, dem Reichtum an Mineralen, Gold, Silber, Eisen oder Kohle, in diesem Land. Das Erbe der Zivili- sation für die heutige Welt ist vielmehr der Chinese, der unverdorbene, wahre Chinese mit seiner Religion des guten Bürgers. Er ist darum unschätzbar für die Zivi- isation, weil er ein Wesen ist, das der Welt wenig oder nichts kostet, um in Ordnung gehalten zu werden. Ich möchte in der Tat hier die Völker Europas und Ame- rikas davor warnen, dieses unschätzbare Erbe der Zi- vilisation zu zerstören, den wahren Chinesen zu ändern und zu verderben, wie sie es jetzt mit ihrer ‚‚neuen Bil- dung‘‘ versuchen. Gelingt es ihnen, den chinesischen Menschheitstypus zu zerstören, den wahren Chinesen in einen Europäer oder Amerikaner zu verwandeln, das heißt sozusagen in eine Person, die einen Priester oder Soldaten braucht, um in Ordnung gehalten zu werden, dann vergrößern sie sicher die Bürde entweder der Re- ligion oder des Militarismus für die Welt, welch letz- tere schon im Begriff ist, eine Gefahr und Bedrohung der Zivilisation und der Menschheit zu werden. Aber nehmen wir andrerseits an, es wäre mit diesem oder jenem Mittel etwa möglich, den europäischen oder amerikanischen Menschheitstypus zu verändern, ihn in einen wahren Chinesen zu verwandeln, der weder Priester noch Soldaten brauchen würde, um in Ord- nung gehalten zu werden, man denke, was für eine Last dann von der Welt genommen würde!

Aber um nun in wenigen, einfachen Worten das

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große Problem der Zivilisation in Europa, das aus diesem Krieg aufsteigt, zusammenzufassen: Nachdem die Priester sich zur Aufrechterhaltung der bürgerlichen Ordnung in Europa ungeeignet und zu kostspielig ge- zeigt hatten, riefen die Völker Europas nach dem Drei- Bigjährigen Krieg die Schutzleute und Soldaten zu die- sem Zweck herbei. Diese verursachten aber noch mehr Ausgaben und Unruhe. Was sollen nun die Völker Europas tun? Die Soldaten wegschicken und die Prie- ster zurückrufen? Nein, ich glaube nicht, daß sie das Bedürfnis danach haben. Außerdem wären die Prie- ster jetzt nutzlos. Aber was sollen sie tun? Ich sehe, daß Prof. Lowes Dickinson aus Cambridge in einem Artikel in der Antlantic Monthly, betitelt ‚Der Krieg und der Ausweg daraus“, sagt: ‚„Ruft den Pöbel her- bei!‘ Ichfürchte, daß der Pöbel, wenn man ihn einmal herbeigerufen hat, am meisten Unruhe verursachen wird. Priester und Soldaten haben Kriege in Europa herbeigeführt, aber der Pöbel wird Revolution und An- archie bringen, und dann wird der Zustand Europas viel schlimmer sein als zuvor. Nun, mein Rat an die Völker Europas ist: ‚„Ruft die Priester nicht zurück und ums Himmels willen ruft den Pöbel nicht herbei; aber ruft den Chinesen, den wahren Chinesen mit seiner Religion des guten Bürgers und seiner Erfahrung von 2500 Jah- ren, wie man ohne Priester und Soldaten in Frieden leben kann!“

Ich glaube wirklich, daß die Völker Europas die Lö-

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sungdesgroßen Zivilisationsproblemsnach diesemKrieg hier in China finden werden. Es gibt hier in China, ich sage es nochmals, ein unschätzbares, aber bisher unver- dächtigtes Erbe von Zivilisation, nämlich den wahren Chinesen. Er besitzt das Geheimnis einer neuen Zivilisa- tion, das die Völker Europas nach diesem großen Krieg brauchen werden, nämlich das, was ich die Religion des guten Bürgers genannt habe, deren erster Grundsatz ist, zu glauben, daß die menschliche Natur gut ist; an die Macht der Güte zu glauben, an die Macht und Wirk- samkeit dessen, was der Amerikaner Emerson das Ge- setz der Liebe und Gerechtigkeit nennt. Was ist aber das Gesetz der Liebe? Wie uns die Religion des guten Bürgers lehrt, bedeutet es, seinen Vater und seine Mutter zu lieben. Und was ist das Gesetz der Gerechtigkeit? Nach der Lehre der Religion des guten Bürgers be- deutet es, wahr, redlich und treu zu sein; daß das Weib in jedem Land selbstlos und seinem Ehemann unbe- dingt treu sein muß, daß der Mann in jedem Land selbst- los, unbedingt treu seinem Herrscher sein muß, seinem König oder Kaiser. Tatsächlich ist die höchste Pflicht in dieser Religion, das muß ich hier aussprechen, die Pflicht der Treue, Treue nicht nur in der Tat, sondern auch im Geist, oder wie Tennyson es ausdrückt:

Den König zu verehren, als wenn er ihr Gewissen wäre, und ihr Gewissen wie ihren König, um die Heiden zu unterwerfen und das Christentum zu fördern.

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DER GEIST DES CHINESISCHEN VOLKES

Eine Abhandlung, die zur Vorlesung in der orien- talischen Gesellschaft in Peking bestimmtwar

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assen Sie mich vor allem erklären, was ich mit

Ihrer Erlaubnis heute nachmittag zu besprechen vorhabe. Den Gegenstand unsrer Abhandlung habe ich genannt: „Der Geist des chinesischen Volkes.‘ Ich gedenke hier nicht nur über den Charakter der Chi- nesen zu sprechen. Der ist früher schon häufig be- schrieben worden, ohne daß es gelungen wäre, uns durch solche Beschreibung oder Aufzählung von Cha- rakterzügen ein rechtes Bild vom innern Wesen des Chinesen zu geben. Auch kann man dabei nicht ver- allgemeinern, denn der Charakter des Nordchinesen ist ebenso verschieden von dem des Südchinesen, wie der Charakter des Deutschen verschieden ist von dem des Italieners.

Was ich aber unter dem Geist des chinesischen Vol- kes verstehe, ist der Geist, durch den das chinesische Volk lebt, etwas konstitutionell Unterscheidendes im Temperament und Gemüt, das es von allen andern Völkern, besonders von denen des modernen Europa und Amerika, unterscheidet. Vielleicht kann ich am besten ausdrücken, was ich meine, wenn ich den Ge- genstand unsrer Besprechung den chinesischen Mensch- heitstypus nenne, oder einfacher: den wirklichen Chi- NeseN.

Was ist nun der wirkliche Chinese? Jeder wird zu- geben, daß das ein interessanter Gegenstand ist, be- sonders im gegenwärtigen Augenblick, wo aus allem, was wir in China vorgehen sehen, zu erkennen ist, daß

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der chinesische Menschheitstypus der wirkliche Chi- nese zu verschwinden droht und wir an seiner Stelle den fortschrittlichen modernen Chinesen bekommen sollen. Ich schlage deshalb vor, daß wir, ehe der wirk- liche alte Chinese gänzlich von der Welt verschwindet, einen letzten, gütigen Blick auf ihn werfen, um zu se- hen, ob wir nicht irgend etwas organisch Unterschei- dendes in ihm finden, das ihn so verschieden macht von allen andern Völkern und von dem neuen Mensch- heitstypus, den wir im heutigen China entstehen sehen.

Nun, ich denke, das erste, was einem an dem alten chinesischen Menschheitstypus auffällt, ist, daß nichts Wildes, Rohes oder Ungebändigtes in ihm ist, daß er ein zahmes Geschöpf ist. Nehmen Sie einen Menschen aus der untersten Klasse der chinesischen Bevölkerung, und Sie werden mit mir übereinstimmen, daß weniger Tierisches, weniger vom wilden Tier, von dem, was die Deutschen ‚‚Roheit‘ nennen, in ihm ist als in irgend einem Menschen derselben Klasse in der europäischen Gesellschaft. Der Eindruck, den der chinesische Mensch- heitstypus macht, wird am besten durch das englische Wort „gentle‘‘ ausgedrückt. Mit ‚gentleness‘“ meine ich nicht Sanftheit der Natur oder schwächliche Unter-. würfigkeit. ‚‚Die Lenkbarkeit des Chinesen“, sagt der verstorbene Dr. D. J. Macgowan, ‚‚ist nicht die Lenk- barkeit eines entnervten Volkes mit gebrochenem Her- zen.“ Mit dem Wort ‚„gentle‘‘ meine ich Mangel an Härte, Barschheit, Rauheit oder Heftigkeit, in der Tat

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an allem, was Mißtöne hervorruft. Im wahren chinesi- schen Menschheitstypus weht ein Hauch sozusagen von ruhiger, sanfter, geläuterter Weichheit, wie man ihn in einem Stück gutgewärmten Metalls findet. Die wirk- lichen physischen und moralischen Unvollkommen- heiten des wirklichen Chinesen werden tatsächlich, wenn nicht gut gemacht, so doch stark gemildert durch diese Eigenschaft der Sanftheit in ihm. Der wirkliche Chinese mag derb sein, aber es ist keine Grobheit in dieser Derbheit; er mag häßlich sein, aber es ist keine Gehässigkeit in seiner Häßlichkeit; er kann gemein sein, aber es ist nichts Herausforderndes, Lärmendes in seiner Gemeinheit; er mag dumm sein, aber es ist keine Abgeschmacktheit in seiner Dummheit; er mag listig sein, aber es ist keine tiefe Bösartigkeit in seiner List. Selbst in seinen Fehlern und Gebrechen ist also nichts Empörendes. Selten kann man einen wirklichen Chinesen der alten Schule, selbst vom niedersten Ty- pus, finden, der schlechterdings abstoßend ist.

Die Haupteigenschaft des chinesischen Menschheits- typus ist, wie ich sagte, seine Freundlichkeit, seine un- aussprechliche Freundlichkeit, die das Ergebnis der Verbindung von zwei Dingen ist, nämlich: Sympathie und Intelligenz. Ich möchte den wirklichen Chinesen mit einem Haustier vergleichen. Was unterscheidet dieses von einem wilden Tier? Es ist etwas in ihm, was wir als ausgesprochen menschlich erkennen im Unter- schied zu dem tierischen, nämlich die Intelligenz. Die

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Intelligenz eines Haustieres ist aber keine denkende, keine aus der Überlegung kommende Intelligenz, auch keine aus dem Instinkt kommende wie die des Fuchses, die listige Intelligenz, die weiß, wo eßbare Hühnchen zu finden sind. Diese aus dem Instinkt kommende Fuchs- intelligenz haben alle, sogar wilde Tiere. Aber das, was man menschliche Intelligenz eines Haustieres nennen kann, ist etwas davon ganz Verschiedenes. Diese In- telligenz eines Haustieres kommt nicht aus der Über- legung oder dem Instinkt, sondern aus der Sympathie, aus einem Gefühl der Liebe und Anhänglichkeit. Ein gutgezogener Araberhengst versteht seinen englischen Herrn nicht, weil er die englische Satzlehre studiert hat oder einen Instinkt für die englische Sprache hat, sondern weil er seinen Herrn liebt und ihm anhänglich ist. Das nenne ich menschliche Intelligenz zum Unter- schied von der nur fuchsarligen oder tierischen. Durch sie unterscheiden sich Haustiere von wilden Tieren. Ebenso gibt der Besitz dieser mitempfindenden, wah- ren menschlichen Intelligenz dem wirklichen Chinesen seine unaussprechliche Freundlichkeit.

Ich las einmal in dem Bericht eines Ausländers, der in beiden Ländern gelebt hatte, daß, je länger ein. Fremder in Japan lebt, desto weniger er die Japaner liebt, je länger hingegen ein Fremder in China lebt, desto mehr er die Chinesen liebt. Ich weiß nicht, ob das, was hier von den Japanern gesagt ist, wahr ist, aber ich weiß, und alle unter Ihnen, die in China gelebt

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haben, werden mir da beistimmen, daß das, was hier über die Chinesen gesagt ist, wahr ist. Es ist eine wohl- bekannte Tatsache, daß die Neigung oder der Ge- schmack für die Chinesen bei dem Fremden zu- nimmt, je länger er in China lebt. Es ist ein unbe- schreibliches Etwas im chinesischen Volk, was es, trotz seines Mangels an Reinlichkeit und Verfeinerung, trotz seiner vielen geistigen und Charakterfehler bei den Fremden so beliebt macht wie kein anderes Volk. Es mildert und lindert die körperlichen und sittlichen Ge- brechen des Chinesen in den Herzen der Fremden, wenn es sie nicht ganz aufhebt. Diese chinesische Freundlichkeit ist ein Erzeugnis dessen, was ich mit- fühlende oder wahre menschliche Intelligenz nenne, die weder aus der Überlegung noch aus dem Instinkt, son- dern aus der Sympathie kommt, aus der Macht der Sympathie. Was ist nun das chinesische Geheimnis dieser Macht?

Ich will hier wagen, eine Erklärung zu geben, oder nennen wir es eine Hypothese. Das chinesische Volk besitzt diese starke Macht der Sympathie, weil es fast gänzlich ein Leben des Herzens lebt. Sein ganzes Le- ben ist ein Gefühlsleben, nicht Gefühl im Sinne von Empfindung, die von den körperlichen Organen aus- geht, noch im Sinne von Gemütsbewegung, die aus dem Nervensystem fließt, sondern im Sinne von menschlicher Herzensregung, die aus den tiefsten Tiefen unsrer Natur, der Secle, kommt. Der wirkliche Chi-

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nese lebt so sehr ein Leben des Herzens, der Seele, daß er manchesmal sogar mehr, als gut ist, die notwendigen Erfordernisse des Sinnenlebens eines Menschen ver- nachlässigt, der in der Welt lebt und aus Leib und Seele besteht. Dies ist die wahre Erklärung der Un- empfindlichkeit des Chinesen den leiblichen Unbe- quemlichkeiten, der unsauberen Umgebung und dem Mangel an Verfeinerung gegenüber.

Das chinesische Volk, sagte ich, hat die Macht der Sympathie, weil es ganz und gar ein Leben des Herzens, der Gemütsbewegung lebt. Lassen Sie mich Ihnen zwei Erläuterungen dazu geben. Einige von Ihnen mögen einen alten Freund und Kollegen von mir in Wuchang persönlich gekannt haben, als er Minister im Mini- sterium des Äußern in Peking war, Herrn Liang Tun- yen. Herr Liang sagte mir, als er die Ernennung zu den Zöllen Taotai in Hankow bekam, daß das, was ihn wünschen und anstreben ließe, ein großer Mandarin zu werden, den roten Knopf zu tragen, und was ihn eben beim Empfang der Ernennung freue, nicht sei, daß ihm an dem roten Knopf etwas lag, oder daß er von nun an reich und unabhängig war und wir waren damals alle sehr arm in Wuchang sondern er freue sich, weil diese Ernennung und Beförderung das Herz seiner alten Mutter in Canton erfreuen werde. Das meine ich, wenn ich sage, daß das chinesische Volk ein Leben des Herzens, der Gemütsbewegung lebt.

Meine andere Erläuterung ist diese. Einer meiner

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schottischen Freunde beim Zollamt erzählte mir, daß er einmal einen chinesischen Diener hatte, der ein voll- komener Taugenichts war, der log, erpreßte und stets spielte; aber als mein Freund in einem abseits liegenden Hafen, wo er keinen ausländischen Freund zu seiner Wartung hatte, an einem typhösen Fieber erkrankte, pflegte sein abscheulicher Taugenichts von chinesi- schem Diener ihn mit solcher Sorgfalt und Hingebung, wie er sie von einem vertrauten Freund oder nahen Verwandten nicht hätte erwarten können. Was einst von einem Weib in der Bibel gesagt wurde, kann mei- ner Meinung nach nicht nur von dem chinesischen Diener, sondern auch vom chinesischen Volk im all- gemeinen gesagt werden: ‚Ihnen wird viel vergeben werden, weil sie viel geliebt haben.‘ Die Augen und der Verstand des Fremden bemerken in China viele Fehler und Mängel in Gewohnheiten und Charakter des Chinesen, aber sein Herz fühlt sich hingezogen zu ihm, denn der Chinese hat ein Herz, lebt ein Leben des Herzens, des Gemüts.

Jetzt haben wir einen Schlüssel zum Geheimnis der Sympathie beim chinesischen Volk gefunden, zu der Macht der Sympathie, die dem wirklichen Chinesen diese mitempfindende oder wahre menschliche Intelli- genz verleiht, die ihn so unaussprechlich freundlich macht. Diesen Schlüssel oder diese Voraussetzung las- sen Sie uns auf die Probe stellen. Lassen Sie uns sehen, ob wir d:mit nicht nur einzelne Tatsachen, wie die

4 KuHuug-Miug, Geist des chines, Volkes 49

beiden erzählten Beispiele, sondern auch allgemeine Charakterzüge aus dem tatsächlichen Leben des chi- nesischen Volkes erklären können.

Betrachten wir die chinesische Sprache. Sie ist auch eine Sprache des Herzens. Kinder und ungebildete Leute unter den Fremden lernen die chinesische Spra- che sehr leicht, viel leichter als Erwachsene und Ge- bildete. Die Ursache ist, daß Kinder und ungebildete Leute in der Sprache des Herzens reden und denken, während gebildete Menschen, besonders solche mit der modernen intellektuellen Erziehung Europas, mit der Sprache des Kopfes oder des Verstandes sprechen. Tat- sächlich ist der Grund, warum gebildete Ausländer es so schwierig finden, chinesisch zu lernen, daß sie zu gebildet sind, geistig und wissenschaftlich zu gebildet. Was vom Himmelreich gesagt ist, kann man auch von der chinesischen Sprache sagen: ‚‚Wenn ihr nicht wer- det wie die Kinder, so werdet ihr nicht hineinkommen.“

Betrachten wir nun eine andere, wohlbekannte Tat- sache aus dem Leben des chinesischen Volkes. Be- kanntlich haben die Chinesen ein wundervolles Ge- dächtnis. Das Geheimnis davon ist, daß sie sich der Dinge mit dem Herzen erinnern, nicht mit dem Kopf. Das Herz mit seiner Macht der Sympathie wirkt als Bindemittel und kann die Dinge viel besser behalten als der Kopf oder Verstand, der hart und trocken ist. Deshalb erinnern wir uns alle an Dinge, die wir als Kinder gelernt haben, viel besser als an Dinge, die wir

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im reifen Lebensalter erfahren haben, weil wir uns als Kinder wie die Chinesen mit dem Herzen erinnern, nicht mit dem Kopf.

Betrachten wirnuneine andere, allgemein zugegebene Tatsache im Leben des chinesischen Volkes, nämlich seine Höflichkeit. Was ist nun das Wesen der wahren Höflichkeit? Rücksicht auf die Gefühle anderer. Die Chinesen mit ihrem Leben des Herzens sind höflich, weil sie ihre eigenen Gefühle kennen, wodurch es ihnen leicht wird, Rücksicht auf die Gefühle anderer zu neh- men. Die chinesische Höflichkeit ist zwar nicht so fein ausgeklügelt wie die der Japaner, aber sie gefällt, _ weil sie, wie es die Franzosen so schön nennen: la poli- tesse du coeur, die Höflichkeit des Herzens ist. Die fein ausgeklügelte Höflichkeit der Japaner aber gefällt nicht, und ich habe Ausländer ihr Mißfallen darüber ausdrücken hören, denn sie ist einstudiert, auswendig gelernt wie in einem Theaterstück. Sie ist nicht un- willkürlich und kommt nicht unmittelbar aus dem Herzen. Sie ist tatsächlich wie eine Blume ohne Wohl- geruch, während die wahrhafte Höflichkeit eines Chi- nesen einen Geruch hat wie der Duft einer köstlichen Salbe instar unguenti fragrantis der von Herzeg kommt.

Lassen Sie uns als letzten noch einen Charakterzun des chinesischen Volkes betrachten, wobei wir dem Aufmerksamkeit schenken, womit der Rev. Arthur Smith seinen Ruf begründete, nämlich: Mangel an

4* AT

Genauigkeit. Der Grund dieses Mangels an Genauig- keit im Wesen des Chinesen ist, daß er ein Leben des Herzens lebt. Das Herz ist eine sehr zarte, empfind- liche Wage. Es ist nicht wie der Kopf oder Verstand ein hartes, starres, strenges Werkzeug. Mit dem Her- zen kann man nicht so streng und genau denken wie mit dem Kopf oder Verstand. Es ist wenigstens außer- ordentlich schwer, es zutun. Man kann in der Tat die chinesische Schreibfeder oder den Pinsel, der eine zarte Bürste ist, als Symbol des chinesischen Geistes nehmen. Es ist sehr schwer, damit zu schreiben oder zu zeichnen. Beherrscht man aber seinen Gebrauch einmal, so kann man schöner und anmutiger damit schreiben und zeich- nen als mit der derben Stahlfeder.

Mit diesen einfachen Tatsachen aus dem Leben des chinesischen Volkes, die jeder auch ohne besondere Kenntnis des Chinesischen beobachten und verstehen kann, glaube ich meine Voraussetzung, daß die Chi- nesen ein Leben des Herzens leben, gut bewiesen zu haben.

Weil nun die Chinesen ein Leben des Herzens, ein Kinderleben leben, sind sie in vielen Beziehungen so primitiv, was für ein Volk, das so lange in der Welt als große Nation gelebt hat, höchst bemerkenswert ist. Diese Tatsache hat oberflächliche fremde Beobachter auf den Gedanken gebracht, daß die chinesische Zivili- sation keine Fortschritte macht, daß sie stillsteht. Allerdings muß zugegeben werden, daß die Chi-

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nesen, soweit als das rein intellektuelle Leben geht in gewissem Grad ein Volk von gehemmter Entwick- lung sind. Weder in der Naturwissenschaft, noch in den abstrakten Wissenschaften, wie Mathematik, Lo- gik und Metaphysik, haben sie nennenswerte Fort- schrittegemacht. Esgibt für die Worte ‚Wissenschaft‘ und „Logik“ nicht einmal genaue Gegenwerte in der chinesischen Sprache. Die Chinesen haben, wie Kin- der, die ein Leben des Herzens leben, keinen Geschmack an den abstrakten Wissenschaften, weil in diesen Herz und Gefühle nicht gefesselt werden. Gegen sta- tistische Tabellen haben sie eine sich zum Widerwillen steigernde Abneigung, während ihnen naturwissen- schaftliche Studien, wie sie jetzt in Europa betrieben werden, die verlangen, den Körper eines lebenden Tieres aufzuschneiden und zu verstümmeln, um eine wissenschaftliche Anschauung zu beweisen, Abscheu und Entsetzen einflößen.

Das chinesische Volk, so alt es als Nation ist, ist heute noch eine Nation von Kindern, die ein Leben des Herzens lebt und in vieler Hinsicht noch primitiv ist, aber doch eine geistige Macht und Vernunft- vermögen besitzt, wie kein primitives Volk. Das hat sie befähigt, die verwickelten und schwierigen Fragen des sozialen Lebens, der Regierung und Zivilisation mit solchem Erfolge zu behandeln, wie ihn die alten und modernen Nationen Europas nicht erreichen konn- ten, so daß sie praktisch und tatsächlich einen größern

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Teil der Bevölkerung des asiatischen Festlandes unter einem großen Kaiserreich in Frieden und Ordnung halten konnte.

Die wundervolle Eigentümlichkeit des chinesischen Volkes besteht nicht darin, daß es ein Leben des Her- zens lebt. Das tun alle primitiven Völker; auch die christlichen Völker des mittelalterlichen Europa lebten ein Leben des Herzens. Matthew Arnold sagt: ‚Die Dichtkunst der mittelalterlichen Christenheit lebte durch das Herz und die Einbildungskraft.‘“ Die wun- dervolle Eigentümlichkeit des chinesischen Volkes ist vielmehr, daß es trotz seines Herzens-, seines Kinder- lebens eine Macht des Geistes und Vernunftvermö- gen besitzt, die kein christliches Volk des mittelalter- lichen Europa und kein anderes primitives Volk auf- zuweisen hat.

Anstatt also zu sagen, die Chinesen seien ein Volk mit gehemmter Entwicklung, sollte man lieber sagen, daß es niemals alt wird, daß es das Geheimnis immer- währender Jugend besitzt.

Unsere Frage: Was ist der wirkliche Chinese ? können wir jetzt beantworten. Wir haben gesehen, daß er ein Mensch mit dem Kopf eines Erwachsenen und dem Herzen eines Kindes ist. Deshalb ist der chinesische Geist der Geist immerwährender Jugend, nationaler Unsterblichkeit. Was ist nun das Ge- heimnis dieser nationalen Unsterblichkeit? Ich sagte zu Anfang dieser Besprechung, daß das, was dem

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wirklichen Chinesen seine unaussprechliche Freund- lichkeit verleiht, sein mitempfindendes oder wahres menschliches Verständnis ist. Dieses ist das Ergebnis zweier Dinge, der Sympathie und der Intelligenz, ein harmonisches Zusammenarbeiten von Herz und Kopf, kurz, eine glückliche Vereinigung von Seele und Ver- stand. Wenn nun der Geist des chinesischen Volkes ein Geist immerwährender Jugend, der Geist natio- naler Unsterblichkeit ist, so ist das Geheimnis dieser Unsterblichkeit die glückliche Verbindung von Seele und Verstand.

Woher erhielt nun das chinesische Volk dieses Ge- heimnis nationaler Unsterblichkeit? Von seiner Zivili- sation natürlich. Eine Vorlesung über chinesische Zi- vilisation wird man von mir in der mir zur Verfügung stehenden Zeit nicht erwarten. Doch will ich versuchen einiges darüber zu sagen, was auf den Gegenstand unsrer Besprechung Bezug hat.

Es besteht ein großer, grundlegender Unterschied zwischen der chinesischen Zivilisation und der des modernen Europa. Ein berühmter, lebender Kunst: kritiker, Herr Bernhard Berenson, sagt in einem Ver- gleich europäischer mit orientalischer Kunst: ‚Unsre europäische Kunst hat die verhängnisvolle Neigung, Wissenschaft zu werden, und wir besitzen kaum ein Meisterwerk, das nicht die Spuren davon trägt, ein Schlachtfeld geicilter Interessen gewesen zu sein.‘ Auch die europäische Zivilisation ist ein Schlacht-

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feld geteilter Interessen, eine fortgesetzte Krieg führung der geteilten Interessen von Wissenschaft und Kunst einerseits und Religion und Philosophie andrerseits, wobei Kopf und Herz, Seele und Ver- stand in beständigen Widerstreit kommen. In den letzten 2500 Jahren der chinesischen Zivilisation finden wir keinen solchen Widerstreit zwischen Kopf und Herz. Das ist der große, grundlegende Unterschied zwischen der chinesischen Zivilisation und der des mo- dernen Europa.

Die Völker des modernen Europa haben eine Reli- gion, die ihr Herz befriedigt, aber nicht ihren Kopf, und eine Philosophie, die ihren Kopf befriedigt, aber nicht ihr Herz. Wie steht es nun in China? Manche Leute behaupten, die Chinesen besäßen keine Religion. Es ist sicher, daß in China sich sogar die Masse des Volkes nicht ernstlich an die Religion hält, ich meine Religion im europäischen Sinne des Worts. Die Tempel, Bräuche und Formen des Taoismus und Bud- dhismus sind mehr Gegenstand der Erholung als der Erbauung, sie ergreifen sozusagen den ästhetischen Sinn mehr als den moralischen oder religiösen, sie wenden sich mehr an die Einbildungskraft als an das Herz oder die Seele. Aber anstatt zu sagen, daß die Chinesen keine Religion haben, wäre es richtiger zu sagen, daß sie keine Religion brauchen, kein Bedürfnis danach fühlen.

Wie läßt sich nun diese außerordentliche Tatsache

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erklären? Ein Engländer, Professor des Chinesischen an der Londoner Universität, Sir Robert K. Douglas, sagt in seiner Abhandlung über Konfuzianismus: „Vierzig Generationen lang waren die Chinesen der Lehre eines einzigen Mannes unbedingt unterworfen. Da er ein Chinese unter Chinesen war, waren die Lehren des Konfuzius der Natur derer, die er lehrte, besonders angepaßt. Da der Geist des Mongolen un- gemein Phlegmatisch und nicht spekulativ ist, lehnt er sich naturgemäß gegen den Gedanken auf, die Dinge jenseits seiner Erfahrungen zu erforschen. Mit dem noch ungeweckten Gedanken an ein zukünftiges Le-. ben, einem einfachen, den Tatsachen entsprechenden Moralsystem, so wie Konfuzius es erklärte, war allen Bedürfnissen Genüge getan.“

Dieser gelehrte englische Professor hat recht, wenn er sagt, daß der Chinese im Besitz der Lehren des Kon- fuzius kein Bedürfnis nach Religion fühlt, aber er hat ganz und gar unrecht mit der Behauptung, der Chinese fühle dieses Bedürfnis nicht, weil der mongolische Geist phlegmatisch und nicht spekulativ sei. Erstens ist Religion keine Sache der Spekulation, sondern des Gefühls, des Gemüts; sie ist etwas, was mit der mensch- lichen Seele zu tun hat. Sogar der wilde, barbarische Mensch in Afrika fühlt, sobald er aus einem bloß tieri- schen Leben heraustritt und das, was man die Seele nennt, in ihm erwacht ist, ein Bedürfnis nach Religion. Nun hat aber der mongolische Chinese, der ein höherer

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Menschentypus ist als der Wilde in Afrika, obgleich sein Geist phlegmatisch und nicht spekulativ sein mag, auch eine Seele und muß das Bedürfnis nach Religion fühlen, es sei denn, er hat etwas anderes, was bei ihm die Stelle der Religion einnehmen kann.

Die Wahrheit der Sache ist, daß das chinesische Volk im Konfuzianismus ein System der Philosophie und Ethik, eine Synthese der menschlichen Gesellschaft und Zivilisation besitzt, die die Stelle der Religion ein- nehmen kann. Manche sagen, der Konfuzianismus sei keine Religion, und er ist es auch nicht im europäischen Sinn des Wortes; aber darin, sage ich, liegt gerade seine Größe, daß er keine Religion ist und doch die Stelle der Religion einnehmen kann, daß er die Men- schen ohne Religion auszukommen lehrt.

Um zu verstehen, wie das möglich ist, müssen wir den Grund ausfindig zu machen versuchen, warum die Menschen das Bedürfnis nach Religion fühlen. Sie fühlen es aus demselben Grund, weshalb sie ein Be- dürfnis nach Wissenschaft, Kunst und Philosophie fühlen, nämlich, weil der Mensch ein Wesen mit einer Seele ist. Betrachten wir zuerst die Wissenschaft, die Naturwissenschaft. Die meisten Leute glauben, daß die Menschen sich mit dem Studium der Wissenschaft beschäftigen, weil sie Eisenbahnen und Luftschiffe haben möchten. Aber dieser Wunsch ist es nicht, der den wahren Menschen der Wissenschaft antreibt, sein Studium zu verfolgen. Der gegenwärtige fortschritt-

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liche Chinese, der nur aus diesem Grund die Wissen- schaft betreibt, wird niemals Wissenschaft gewinnen. Die wahren Menschen der Wissenschaft der Vergangen- heit in Europa, die für das Fortschreiten der Wissen- schaft gearbeitet und die Möglichkeit herbeigeschafft haben, Eisenbahnen und Luftschiffe zu bauen, haben daran in keiner Weise gedacht. Was ihnen in ihrer Arbeit für den wissenschaftlichen Fortschritt Erfolg brachte, war vielmehr, daß sie in ihren Seelen das Bedürfnis fühlten, die furchtbaren Geheimnisse dieses wundervollen Weltalls, in dem wir leben, zu verste- hen. Solche Menschen fühlen das Bedürfnis nach Re- ligion aus demselben Grund, aus dem sie das Bedürf- nis nach Wissenschaft, Kunst und Philosophie fühlen, nämlich weil sie eine Seele haben und weil die Seele in ihnen, die in die Vergangenheit und die Zukunft so gut sieht wie in die Gegenwart nicht wie Tiere, die nur in der Gegenwart leben das Bedürfnis fühlt, das Geheimnis dieses Weltalls, in dem wir leben, zu verstehen. Ehe die Menschen etwas von der Natur, den Gesetzen, Zwecken und Zielen der Dinge, die sie im Weltall sehen, verstehen, sind sie wie Kinder in einem dunkeln Zimmer, die die Gefahr, Unsicherheit und Ungewißheit aller Dinge fühlen. Es ist tatsäch- lich, wie ein englischer Dichter sagt, die Last des Welt- geheimnisses bedrückt sie. Deshalb bedarf die Mensch- heit der Wissenschaft, Kunst und Philosophie aus dem- selben Grund, aus dem sie der Religion bedarf, näm-

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lich um ihr ‚‚die Bürde des Geheimnisses zu erleichtern,

„die schwere und bedrückende Last

dieser ganzen, unverständlichen Welt.“ Kunst und Dichtung befähigen den Künstler und Dichter, Schönheit und Ordnung im Weltall zu sehen, und das erleichtert ihnen die Last des Geheimnisses. Deshalb fühlen Dichter wie Goethe, der sagt: ‚Wer Kunst hat, hat Religion,‘ nicht das Bedürfnis nach Religion. Die Philosophie befähigt auch die Philoso- phen, Planmäßigkeit und Ordnung im Weltall zu er- blicken, und das erleichtert ihnen die Last dieses Ge- heimnisses. Deshalb fühlen Philosophen wie Spinoza, für den, so ist gesagt worden, ‚‚die Krone des intellek- tuellen Lebens eine Begeisterung ist, wie für den Hei- ligen die Krone des religiösen Lebens eine Begeisterung ist,“ nicht das Bedürfnis nach Religion. Endlich Wis- senschaft befähigt die Männer der Wissenschaft auch, Gesetz und Ordnung im Weltall zu sehen, und das er- leichtert für sie die Last dieses Geheimnisses.

Was kann aber der großen Masse der Menschheit, die weder Dichter, Philosophen, Künstler noch Männer der Wissenschaft sind, deren Leben erfüllt ist mit Un- gemach und die jeden Augenblick dem Ansturm von - Unfällen durch drohende Naturkräfte und grausame, erbarmungslose Leidenschaften ihrer Mitmenschen ausgesetzt sind, ‚‚die Last der Geheimnisse dieser gan- zen unverständlichen Welt‘ erleichtern? Die Religion, und zwar dadurch, daß sie der großen Masse der

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Menschheit ein Gefühl der Sicherheit und der Fort- dauer gibt, eine Zuflucht, in der sie ein Gefühl der Sicherheit finden kann. Und diese Zuflucht ist der Glaube an ein oder mehrere übernatürliche Wesen, die unbedingte Macht und Aufsicht über jene Kräfte haben, die sie bedrohen. Ebenso gibt die Religion dem be- ständigen Wechsel, der Unbeständigkeit und Verände- rung der Dinge in ihrem eigenen Leben gegenüber Geburt, Kindheit, Jugend, Alter und Tod und dem Geheimnis und der Ungewißheit gegenüber, die diese einflößen, eine Zuflucht, bei der die Masse der Mensch- heit ein Gefühl der Fortdauer finden kann; diese Zuflucht ist der Glaube an ein zukünftiges Leben. Christus sagt: ‚Frieden gebe ich euch, den die Welt nicht geben kann, und den die Welt nicht von euch nehmen kann.“ Das meine ich, wenn ich sage, daß die Religion ein Gefühl der Sicherheit und Fortdauer gibt. Ehe daher die Masse der Menschheit etwas findet, was ihr denselben Frieden, dasselbe Gefühl von Sicherheit und Fortdauer gibt wie die Religion, wird sie ein Be- dürfnis nach Religion fühlen.

Im Konfuzianismus muß indessen etwas enthalten sein, was dieses Gefühl verleiht, sonst könnte er nicht die Stelle der Religion einnehmen. Wir wollen nun versuchen, ausfindig zu machen, worin dieses Etwas besteht.

Ich bin oft aufgefordert worden zu sagen, was Kon- fuzius für die chinesische Nation getan hat. Ich könnte

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Ihnen da von einer Menge Dingen erzählen, wozu ich heute keine Zeit habe. Deshalb will ich hier nur eine höchst wichtige und hauptsächliche Leistung des Kon- fuzius für die Chinesen erwähnen, wodurch, wie er selbst sagte, die Menschen der Nachwelt ihn kennen und wissen würden, was er für sie getan hat. Danach werden Sie verstehen, was dieses Etwas im Konfuzia- nismus ist, was dieses Gefühl der Sicherheit und Fort- dauer verleiht. Ich muß dazu ein wenig mehr auf Ein- zelheiten über Konfuzius und sein Volk eingehen. Konfuzius lebte in einer sogenannten Zeit der Aus- breitung in der Geschichte Chinas, als das Feudalalter zu Ende gekommen war und die feudale, die halb- patriarchale soziale Ordnung und Form der Regierung ausgedehnt und wiederaufgebaut werden mußte. Diese große Veränderung brachte nicht nur Verwir- rung in den Angelegenheiten der Welt, sondern auch im Geist der Menschen mit sich. Wie ich sagte, waltete in den letzten 2500 Jahren der chinesischen Zivilisation kein Widerstreit zwischen Kopf und Herz. Aber in der Zeit der Ausdehnung, in der Konfuzius lebte, herrschte in China, so wie jetzt in Europa, ein furchtbarer Wi- derstreit zwischen Kopf und Herz. Das chinesische . Volk fand sich damals umgeben von einem ungeheuren Aufbau von Einrichtungen, festgesetzten Tatsachen, beglaubigten Lehrsätzen, Gebräuchen, Gesetzen, kurz, einem ungeheuren System der Gesellschaft und Zivili- sation, das von den verehrten Vorfahren ererbt war.

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In diesem System mußten sie leben; indessen begannen die Chinesen zu fühlen, daß dieses nicht selbst geschaf- fene System den Bedürfnissen ihres gegenwärtigen Lebens in keiner Weise angepaßt war; daß es für sie ge- wohnheitsmäßig, nicht vernunftgemäß war. Das war beim chinesischen Volk das Erwachen dessen, was im heutigen Europa der moderne Geist genannt wird, der Geist des Liberalismus, der Forschergeist, der das War- um und Wozu der Dinge ergründen will. Als dann dieser moderne Geist in China das Bedürfnis einer Übereinstimmung der alten Gesellschaftsordnung und Zivilisation mit den Bedürfnissen des gegenwärtigen Lebens einsah, bemühte er sich nicht nur, eine neue Gesellschaftsordnung und Zivilisation wiederaufzu- bauen, sondern auch eine Grundlage dafür zu finden. Aber damals versagten alle Versuche. Einige befrie- digten zwar den Kopf, den Verstand, ohne das Herz zu befriedigen, andere befriedigten das Herz, aber nicht den Kopf. Dieser Widerstreit von Kopf und Herz machte das Volk unzufrieden mit jeder Zivilisation, und in der durch diese Unzufriedenheit erzeugten To- desangst und Verzweiflung wollte es alle Zivilisation niederreißen und zerstören. Männer wie Laotzu im damaligen China, die das Elend und die Leiden sahen, die von dem Widerstreit zwischen Kopf und Herz herrührten, dachten ähnlich Männern wie Tolstoi im heutigen Europa sie sähen etwas von Grund auf Schlechtes in der innersten Natur und Verfassung von

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Gesellschaft und Zivilisation, Laotzu und Chuang-tzu, der glänzendste von Laotzus Schülern, lehrten die Chi- nesen, alle Zivilisation von sich zu werfen. Laotzu sagte: „‚Verlaßt alles, was ihr habt, und folget mir; folgt mir in die Berge, in die Einsiedlerzelle auf den Bergen, um dort ein wahrhaftiges Leben zu leben, ein Leben des Herzens, ein Leben der Unsterblichkeit.“ Konfuzius aber, der auch die Leiden und das Elend des damaligen Zustandes von Gesellschaft und Zivili- sation sah, erkannte, daß das Übel nicht in Natur und Verfassung von Gesellschaft und Zivilisation lag, son dern in der falschen Bahn, die sie eingeschlagen hatten, in der falschen Grundlage, die die Menschen in der Gründung von Gesellschaft und Zivilisation genommen hatten. Er riet daher dem Volk nicht, seine Zivili- sation fortzuwerfen, sondern sagte ihm, daß die Men- schen in einer wahren Gesellschaft und in wahrer Zivili- sation, in einer Gesellschaft mit wahrer Grundlage auch ein wahres Leben, ein Leben des Herzens leben können. Konfuzius versuchte tatsächlich sein ganzes Leben hindurch ernstlich, Gesellschaft und Zivilisation auf den rechten Weg zu bringen, ihnen eine wahre Grundlage zu geben und so die Zerstörung der Zivilisa- tion zu verhüten. Als er aber in seinen letzten Lebens- tagen das Mißlingen seiner Bemühungen einsah, macht er es wie der Baumeister, der sein Haus im Feuer über seinem Kopf zusammenstürzen sieht, und merkt, daß er das Gebäude unmöglich retten kann. Wie der Bau-

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meister weiß, daß das einzige, was ihm zu tun übrig bleibt, ist, die Pläne und Zeichnungen zu retten, so daß er später das Gebäude wieder errichten kann, so rettete auch Konfuzius die Pläne und Zeichnungen der chinesischen Zivilisation, die jetzt in dem Alten Testa- ment der chinesischen Bibel aufbewahrt sind, in den fünf Kanonischen Büchern, bekannt unter dem Namen Wu-Ching, fünf Kanons. Dies war ein großer Dienst, den Konfuzius der chinesischen Nation erwiesen hat.

Das größte Werk des Konfuzius war aber, daß er eine neue Synthese, eine neue Auslegung der Pläne dieser Zivilisation schuf, und darin gab er dem chi- nesischen Volk den wahren Begriff eines Staatswesens eine wahre, vernünftige, dauernde, unbedingte Grundlage eines Staatswesens.

Plato und Aristoteles in der alten Zeit und Rousseau und Herbert Spencer in modernen Zeiten schufen aber auch eine Synthese der Zivilisation und versuchten, einen wahren Begriff vom Staat zu geben. Welcher Unterschied besteht nun zwischen der Philosophie der Synthese der Zivilisation der erwähnten großen Männer in Europa und dem Konfuzianismus? Die Philosophie Platos, Aristoteles’ und Herbert Spencers ist keine Religion oder der Religion Gleichwertiges ge- worden, der angenommene Glauben der Volksmassen einer Nation wie der Konfuzianismus. Ich meine Re- ligion nicht in dem engen, europäischen, sondern im weiten, universellen Sinn. Goethe sagt: ‚Nur sämt-

5 KuHung-Ming, Geist des chines, Volkes 65

liche Menschen erkennen die Natur, nur sämtliche Menschen leben das Menschliche.‘ Wenn wir von Reli- gion im weiten, universellen Sinn reden, meinen wir gewöhnlich ein System von Lehren mit Regeln über die Lebensführung, das, wie Goethe sagt, als wahr und bindend von der Masse der Menschheit ange- nommen wird oder wenigstens von der Masse der Be- völkerung einer Nation. In diesem umfassenden Sinn sind Christentum und Buddhismus Religionen, und ist es auch der Konfuzianismus geworden, da seine Lehren von der ganzen chinesischen Rasse und Nation als wahr und seine Regeln für die Lebensführung als bindend anerkannt worden sind, während die Philoso- phie Platos, Aristoteles’ und Herbert Spencers sogar in diesem umfassenden Sinn keine Religion geworden ist. Sie ist eine Philosophie für die Gelehrten geblieben, während der Konfuzianismus zum Unterschied eine Religion oder etwas Gleichwertiges für die Masse der Bevölkerung sowohl als auch für die Gelehrten in China geworden ist.

Er ist indessen keine Religion im europäischen Sinn des Wortes. Der Unterschied zwischen diesen beiden Religionsarten ist unstreitig der, daß die eine, nämlich . die europäische, einen übernatürlichen Ursprung und Grundstoff hat, während die andere das nicht hat. Aber es besteht noch ein Unterschied. Die Religion im europäischen Sinn lehrt den Menschen, ein guter Mensch zu sein, aber der Konfuzianismus tut mehr,

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er lehrt, ein guter Bürger zu sein. Der christliche Katechismus fragt: ‚‚Was ist der höchste Zweck des Menschen?“ aber der konfuzianische Katechismus fragt: „Was ist der höchste Zweck des Bürgers?“ des Menschen nicht in seinem Einzelleben, sondern in sei- ner Beziehung zu den Mitmenschen und zum Staat. Der Christ beantwortet diese Frage: ‚Der höchste Zweck des Menschen ist, Gott zu preisen.‘ Der Kon- fuzianist antwortet: ‚Der höchste Zweck des Men- schen ist, ein gehorsamer Sohn und guter Bürger zu sein.“ Tzü Yu, ein Schüler des Konfuzius, wird in dessen „Aussprüchen und Reden‘ angeführt, wo er sagt: Ein weiser Mann widmet seine Aufmerksamkeit der Grundlage des Lebens dem höchsten Ziel des Menschen. Wenn die Grundlage gelegt ist, werden Weisheit und Religion kommen. Als gehorsamer Sohn und guter Bürger zu leben, ist denn das nicht die Grundlage das höchste Ziel des Menschen als mo- ralisches Wesen? Kurz, eine Religion im europäischen Sinn des Wortes macht sich zur Aufgabe, den Menschen selbst in einen vollkommenen Idealmenschen zu ver- wandeln, in einen Heiligen, einen Buddha, einen Engel, während der Konfuzianismus sich darauf beschränkt, aus dem Menschen einen guten Bürger zu machen damit er als gehorsamer Sohn und guter Bürger lebt. Mit andern Worten, die Religion im europäischen Sinn sagt: ‚Wenn du Religion haben willst, mußt du ein Heiliger, ein Buddha, ein Engel sein‘; während der

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Konfuzianismus sagt: ‚Wenn du als gehorsamer Sohn und guter Bürger lebst, dann hast du Religion!“

In der Tat, der wahre Unterschied zwischen den bei- den Religionsarten ist, daß die eine eine persönliche, eine Kirchenreligion und die andere eine soziale, eine Staatsreligion ist. Konfuzius machte aus dem wahren Staatsbegriff, den er den Chinesen gab, eine Religion. In Europa ist Staatskunst eine Wissenschaft, in China ist sie seit Konfuzius Zeit eine Religion, und das größte Verdienst des Konfuzius ist, daß er den Chinesen diese soziale oder Staatsreligion gab, die er in einem Buch lehrte, das er in den allerletzten Tagen seines Lebens schrieb und dem er den Namen Chun Chin, Frühling und Herbst, gab. Dieser Namen kommt von dem Gegen- stand des Buches, der ist, die wirklichen moralischen Ursachen zu zeigen, die Aufblühen und Niedergang, Frühling und Herbst der Nationen regieren. Es könn- te auch ‚die Annalen des jüngsten Tages‘“ genannt werden, so wie die ‚‚Flugschriften des jüngsten Tages“ von Carlyle. In diesem Buch gab Konfuzius eine kurze Übersicht über die Geschichte eines verkehrten, ent- arteten Zustandes von Gesellschaft und Zivilisation, indem er alle Leiden und das Elend dieses Zustandes - . bis zu ihrer Wurzel verfolgte, zu der Tatsache nämlich, daß die Menschen keinen wahren Begriff vom Staat haben; keine richtige Vorstellung von der wahren Na- tur der Pflicht, die sie dem Staat schulden, seinem Oberhaupt, dem Regenten und Herrscher. In einer

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Art lehrte er das göttliche Recht der Könige. Ich weiß, daß die meisten Menschen jetzt nicht an das göttliche Recht der Könige glauben. Ich will diesen Punkt jetzt auch nicht erörtern, sondern nur einen Ausspruch Car- lyles anführen, der sagt: ‚‚das Recht eines Königs, uns zu regieren, ist entweder ein göttliches Recht oder ein teuflisches Unrecht.‘ Ich ersuche Sie nun, mit Ihrem Urteil über diesen Gegenstand zurückzuhalten, bis Sie gehört haben, was ich weiter zu sagen habe, und sich diesen Ausspruch Carlyles zu merken. In seinem Buch lehrt Konfuzius, daß in allen gewöhnlichen Be- ziehungen und Handlungen in der menschlichen Ge- sellschaft neben den niederen Beweggründen des Eigen- nutzes und der Furcht, ein höherer und edlerer Beweg- grund die Menschen in ihrer Führung beeinflußt, näm- lich: die Pflicht! So sollte sie auch in dieser wichti- | gen Beziehung aller in der menschlichen Gesellschaft, nämlich in der Beziehung des Volkes eines Staates zu dessen Oberhaupt, dieser höhere und edlere Beweg- grund der Pflicht in ihrer Lebensführung beeinflussen und anspornen. Was ist aber die vernünftige Grundlage dieser Pflicht? Nun, im Feudalalter, vor Konfuzius’ Zeit, mit seiner halbpatriarchalischen Gesellschafts- ordnung und Regierungsform, als der Staat noch mehr oder weniger eine Familie bildete, fühlte das Volk nicht so sehr das Bedürfnis nach einer klaren, festen Grund- lage für die seinem Oberhaupt geschuldete Pflicht, weil, da alle Glieder eines Stammes oder einer Familie waren,

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sie das Band der Verwandschaft oder doch natürlicher Zuneigung in irgendeiner Weise mit dem Staatsober- haupte verband, das zugleich das älteste Glied ihres Stammes oder ihrer Familie war. Aber zu Konfuzius’ Zeit war der Staat der Familie entwachsen, deshalb mußte eine neue, klare, vernunftgemäße und feste Grundlage für die Pflicht gefunden werden, cie das Volk seinem Herrscher schuldig war, und Konfuzius fand sie in dem Wort: Ehre.

Als ich im vorigen Jahr in Japan war, bat mich der Exminister für Erziehungswesen, Baron Kikuchi, vier chinesische Begriffe zu übersetzen, die dem Buch ent- nommen waren, in dem Konfuzius seine Staatsreli- gion lehrte. Diese vier Worte waren: Ming fen ta yı. Ich übersetzte sie: der erhabene Grundsatz von Ehre und Pflicht. Darum machen die Chinesen einen aus- drücklichen Unterschied zwischen Konfuzianismus und allen anderen Religionen, indem sie das konfu- zianische Lehrsystem nicht chiao nennen, der allge- meine Ausdruck für andere Religionen wie Buddhis- mus, Mohammedanismus und Christentum, sondern ming chiao, die Religion der Ehre. Ebenso bedeutet der Ausdruck chun tzu chih tao aus den Lehren des Konfuzius, den Dr. Legge mit ‚Weg des höhern Men- schen“ übersetzt, wofür der am nächsten kommende Ausdruck in den europäischen Sprachen das Sittenge- setz ist, buchstäblich: ‚‚das Gesetz für den Ehren- mann (gentleman).” In dieses Wort kann das ganze

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System von Philosophie und Moral des Konfuzius zu- sammengefaßt werden. Er machte eine Religion daraus eine Staatsreligion, deren erster Glaubensartikel lautet: Ming fen ta yi, der Grundsatz von Ehre und Pflicht, oder Ehrenkodex. In dieser Staatsreligion lehrte Konfuzius, daß die einzige, wahre, dauerhafte, vernunftgemäße und unbedingte Grundlage nicht nur des Staates, sondern auch aller Gesellschaft und Zivili- sation das Gesetz für den Ehrenmann, das Ehrgefühl im Menschen ist.

Alle, auch solche, die die Meinung haben, in der Poli- tik könne es keine Moral geben, werden die Wichtigkeit des Ehrgefühls im Menschen und der menschlichen Ge- sellschaft kennen und zugeben, aber ich bin nicht ganz sicher, daß alle auch von der unbedingten Notwendig- keit des Ehrgefühls im Menschen zur Fortführung jeglicher Form von menschlicher Gesellschaft über- zeugt sind. Aber, wie schon das Sprichwort sagt: ‚Ehre muß sein, selbst unter Dieben.‘‘ Ohne Ehrgefühl im Menschen würde jede Gesellschaft und Zivilisation im Augenblick zusammenbrechen und unmöglich werden. Ich möchte das durch eine so alltägliche Sache, wie das Spiel im sozialen Leben ist, beweisen. Nun, wenn die Menschen, die sich zum Spiel niedersetzen, das Ehr- gefühl nicht anerkennen und sich dadurch gebunden erachten zu zahlen, wenn eine gewisse Farbe in den Karten umgeschlagen wird oder ein bestimmter Würfel fällt, würde das Spiel unmöglich werden. Genau so ver-

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hält es sich mit den Kaufleuten. Wenn sie das Ehrge- fühl nicht anerkennen und sich dadurch gebunden füh- len, ihre Verträge zu erfüllen, würde der ganze Handel unmöglich werden. Allerdings kann der Kaufmann, der seine Verträge nicht einhält, vor das Gericht ge-

laden werden. Wenn es aber keine Gerichte gibt, was

dann? Übrigens kann das Gericht den wortbrüchigen Kaufmann nur durch Gewalt zwingen, seinen Vertrag zu erfüllen. In der Tat kann die Gesellschaft ohne Ehr- gefühl im Menschen nur mit Gewalt einige Zeit zusam- mengehalten werden, aber nicht dauernd. Der Schutz- mann, derden Kaufmann zur Pflicht zwingt, gebraucht Gewalt. Wie veranlaßt aber der Advokat, die Amts- person oder der Präsident einer Republik den Schutz- mann, seine Pflicht zu tun? Entweder durch das Ehr- gefühl im Schutzmann oder durch Betrug.

In modernen Zeiten veranlassen in der ganzen Welt leider jetzt auch in China Advokaten, Politiker, Amtspersonen und Präsidenten von Republiken den Schutzmann durch Betrug, seine Pflicht zu tun. Sie sagen ihm, er müsse sie für das Wohl der Gesellschaft und des Landes tun; und daß das Wohl der Gesellschaft

bedeutet, daß er, der Schutzmann, regelmäßig seine

Bezahlung bekommen kann, ohne die er und seine Fa- milie Hungers sterben würden. Damit bedienen sich diese Personen des Betruges, weil das Wohl des Landes, das für den Schutzmann fünfzehn Schillinge in der Woche bedeutet, die ihn und seine Familie knapp vor

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m nn

dem Hungertode bewahren, für sie selbst zehn- oder zwanzigtausend Pfund im Jahr mit einem schönen Haus, elektrischem Licht, Kraftwagen und allen Be- quemlichkeiten und Luxus heißt, was ihnen Blut und Schweiß von zehntausend Menschen verschaffen muß. Es ist darum Betrug, weil ohne die Anerkennung des Ehrgefühls das den Spieler veranlaßt, seinen letz- ten Pfennig in die Tasche des Partners zu zahlen, der von ihm gewinnt jede Übertragung von Eigentum und aller Besitz, der die Ungleichheit von reich und arm in der Gesellschaft ausmacht, so gut wie die Über- tragung von Geld am Spieltisch, keine Berechtigung und bindende Kraft hat. So sind Advokat, Staats- mann, Amtsperson und Präsident, obwohl sie vom Wohl der Gesellschaft und des Landes reden, in Wirklichkeit abhängig vom unbewußten Ehrgefühl des Schutz- manns, das ihn nicht nur veranlaßt, seine Pflicht zu tun, sondern ihn auch das Eigentumsrecht achten und mit fünfzehn Schillingen Wochenlohn zufrieden sein läßt, während die andern ein Einkommen von zwanzig- tausend Pfund im Jahr beziehen. Es ist Betrug, wenn die Leute, die auf diese Weise Ehrgefühl vom Schutz- mann verlangen, in der modernen Gesellschaft glauben, offen aussprechen und nach dem Grundsatz handeln, daß es keine Moral, kein Ehrgefühl in der Politik gibt.

Sie werden sich des angeführten Ausspruchs Carlyles erinnern, daß das Recht eines Königs zu regieren, entweder ein göttliches Recht oder ein teuflisches Un-

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recht ist. Nun, dieser Betrug ist, was Carlyle ein teuf- lisches Unrecht nennt. Dieser Jesuitismus der Amts- personen ist es, der, wie Carlyle sagt, ‚‚die weitverbrei- teten Leiden, Aufruhr, Wahnsinn, die hitzige Raserei sanskülottischer Aufstände, die kalte Wut wiederer- weckter Tyrannei, die unmenschliche Herabwürdigung von Millionen, die übersättigte Mutwilligkeit der Ober- schicht‘ entstehen läßt, die wir in der heutigen mo- dernen Gesellschaft sehen. Kurz, diese Verbindung von Betrug und Gewalt, von Jesuitismus und Militarismus, von Advokat und Schutzmann, hat Anarchisten und Anarchismus in der modernen Gesellschaft hervorge- bracht, diese Vereinigung von Gewalt und Betrug, die das Moralgefühl im Menschen beschimpft und Wahn- sinn zeugt, der den Anarchisten veranlaßt, Bomben und Dynamit gegen den Advokaten, den Staatsmann, die Amtsperson und den Präsidenten der Republik zu schleudern.

Tatsächlich kann eine Gesellschaft ohne Ehrgefühl im Menschen und ohne Moral in ihren Staatsgeschäften nicht dauernd zusammengehalten werden. Denn der Schutzmann, von demdie Amtspersonen zur Ausführung ihres Betruges abhängen, wird folgenden Schluß ziehen. Man hat ihm gesagt, daß er seine Pflicht tun muß zum Wohl der Gesellschaft. Er selbst ist aber auch ein Teil dieser Gesellschaft, für sich und seine Familie sogar das wichtigste Glied derselben. Wenn er nun auf irgend eine andere Weise wie als Schutzmann vielleicht als

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Anti-Schutzmann bessere Bezahlung erlangen kann,

um die Lebensbedingungen für sich und seine Familie

zu vervollkommnen, so bedeutet das auch das Wohl der Gesellschaft. Auf diese Weise muß der Schutzmann früher oder später zu dem Schluß kommen, daß, da es

so etwas wie Ehrgefühl und Moral in Staatsgeschäften nicht gibt, kein irdischer Grund vorliegt, warum er,

wenn er besser bezahlt werden kann, was auch das Wohl der Gesellschaft bedeutet, nicht Anarchist oder Revolutionär werden sollte. Und wenn in einer Gesell- chaft einmal der Schutzmann zu einem solchen Schluß

kommt, dann ist sie gerichtet. Mencius sagt: ‚Als Kon- fuzius seine Frühling- und Herbstannalen vollendete, bekamen die Jesuiten und Anarchisten seiner Zeit (lies Banditen) Angst.“

Eine Gesellschaft ohne Ehrgefühl kann nicht dauernd zusammengehalten werden, sagte ich. Denn da selbst in der Beziehung zwischen Menschen, die durch Dinge von geringer oder doch nicht Lebenswichtigkeit, wie Spiel und Handel, untereinander verbunden sind, die Anerkennung des Ehrgefühls so wichtig und notwendig ist, wieviel mehr muß es so sein in den Beziehungen, die die beiden wichtigsten Einrichtungen der Gesell- schaft begründen, nämlich die Familie und den Staat. Der Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft beginnt in der Geschichte aller Nationen mit der Einrichtung der Ehe. Die europäische Kirchenreligion macht aus der Ehe ein Sakrament, das heißt etwas Heiliges und

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Unverletzliches. Die Bestätigung des Ehesakramentes wird von der Kirche gegeben, und die Autorität dafür st Gott. Aber das ist nur eine äußerliche, förmliche, sozusagen gesetzliche Bindung. Die wahre, innere, wirklich bindende Weihe für die Unverletzlichkeit der Ehe ist, wie wir in Ländern sehen, wo es keine Kirchen- religion gibt, das Ehrgefühl, das Gesetz für den Ehren- mann im Mann und der Frau. Konfuzius sagt: ‚Die Anerkennung des Gesetzes für den Ehrenmann beginnt mit der Anerkennung der Beziehungen zwischen Ehe- gatten.‘“ Mit andern Worten, die Anerkennung des Ehrgefühls des Gesetzes für den Ehrenmann be- gründet in allen Ländern, wo es eine bürgerliche Ge- sellschaft gibt, die Einrichtung der Ehe. Die Ehe be- gründet die Familie.

Die Staatsreligion des Konfuzius ist ein Ehrenkodex, den er, wie ich bereits erzählte, aus dem Gesetz für den Ehrenmann machte. Aber es gab in China schon lange vor dieser Zeit ein unbestimmtes und ungeschriebenes Gesetzbuch für den Ehrenmann. Es war bekannt als li, das Gesetz des Anstands, des guten Geschmacks oder der guten Sitten. Etwas später in der vorkonfu- zianischen Geschichte stand ein großer Staatsmann auf in China, der als der große Gesetzgeber in China be- kannt ist und allgemein der Herzog von Chou genannt wird (II35). Er hat als erster das Gesetz für den Ehrenmann erklärt, festgelegt und niedergeschrieben. Es wurde bekannt unter dem Namen Chou-li, das

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Gesetz der guten Sitten vom Herzog von Chou. Man kann es als die vorkonfuzianische Religion in China be- trachten, oder auch nach dem mosaischen Gesetz der jüdischen Nation vor dem Christentum die Religion des alten Testaments des chinesischen Volkes benennen. Diese Religion gab dem Sakrament und der Unverletz- lichkeit der Ehe die erste Weihe. Deshalb sprechen die Chinesen bis auf den heutigen Tag vom Sakrament der Ehe als vom Chou Kung Chi Li— dem Gesetz der guten Sitten vom Herzog von Chou. So wurde durch die Einsetzung der Ehe die Familie begründet, deren Festigkeit und Dauer ein für allemal in China gesichert _ war. Diese Religion des Alten Testaments des Herzogs von Chou könnte auch eine Familienreligion genannt werden zum Unterschied von der Staatsreligion, die Konfuzius später lehrte.

Diese konfuzianische Staatsreligion bildet sozusagen das Neue Testament zu der schon vorher bestehenden Familienreligion. Konfuzius gab darin dem Gesetz für den Ehrenmann eine neue, weitere und umfassendere Anwendung und setzte ein neues Sakrament ein, das er ming fen ta yi nannte, was der erhabene Grundsatz von Ehre und Pflicht bedeutet, oder der Ehrenkodex. Da- mit gab er dem Volk eine Staatsreligion.

So wie unter dem Alten Testament der Familien- religion die Ehegatten durch das Sakrament der Ehe, genannt Chou Kung Chi Li, das Gesetz der guten Sitten des Herzogs von Chou, gebunden sind, ihren

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Ehevertrag unverletzlich zu halten und unbedingt da- bei zu bleiben, so lehrte Konfuzius in seiner Staats- religion das Volk und seinen Herrscher, daß sie durch das neue Sakrament ming fen ta yi, den Ehrenkodex, gebunden sind, den Vertrag des Gehorsams als etwas Heiliges und Unverletzliches zu halten und dabei zu beharren. Konfuzius machte also durch seine Staats- religion ein Sakrament aus dem Vertrag des Gehor- sams, so wie die Familienreligion einSakrament aus dem Ehevertrag gemacht hatte. So wie durch das Sakra- ment der Ehe das Weib gebunden ist, seinem Ehemann unbedingt treu zu sein, so ist durch das Sakrament oder die Religion der Treue das Volk gebunden, seinem Kaiser unbedingt treu zu sein. Ich sagte vorhin, daß Konfuzius in einer Art das göttliche Recht der Könige lehrte, aber ich hätte lieber sagen sollen, daß er die göttliche Pflicht der Treue lehrte. Sie erhält ihre Bestätigung nicht wie die Anschauung vom göttlichen Recht der Könige in Europa, die ihre Bestätigung von der Oberhoheit eines übernatürlichen Wesens, genannt Gott, oder irgend einer unverständlichen Phi- losophie herleitet, sondern vom Gesetz für den Ehren- mann, dem Ehrgefühl im Menschen. In der Tat, die unbedingte Pflicht der Treue des chinesischen Volkes gegen seinen Kaiser, die Konfuzius lehrte, leitet ihre Bestätigung von demselben Ehrgefühl ab, das den Kaufmann veranlaßt, sein Wort zu halten, und den Spieler, seine Schulden zu bezahlen.

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Wie durch die Einsetzung der Ehe in allen Ländern die Familie begründet wurde, so wurde durch die Ein- setzung des Vertrags des Gehorsams der Staat in China begründet. Wenn man bedenkt, was der Mann, der die Ehe einsetzte und ihre Unverletzlichkeit begründete, für die Menschheit und die Sache der Zivilisation ge- tan hat, wird man verstehen, was für ein großes Werk Konfuzius tat, als er das Sakrament vom Vertrag des Gehorsams einsetzte und seine Unverletzlichkeit be- gründete. Durch die Ehe wird die Festigkeit und Fort- dauer der Familie gesichert, ohne die die menschliche Rasse erlöschen würde. Das Sakrament vom Vertrag | des Gehorsams sichert die Festigkeit und Fortdauer des Staates, ohne den die menschliche Gesellschaft und die Zivilisation vernichtet würden und die Menschheit zum Zustand der Wilden oder Tiere zurückkehren wür- de. Deshalb war das größte Verdienst des Konfuzius, daß er eine wahre, vernunftgemäße, dauerhafte und unbedingte Grundlage vom Staat gab und eine Reli- gion, eine Staatsreligion daraus machte.

Von diesem Sakrament vom Vertrag des Gehorsams, das Konfuzius in seinem Buch ‚‚Frühling und Herbst‘ einsetzte, spricht man oft und allgemein als vom Chun Chiu ming fen ta yi oder einfach Chun Chiu ta yi, das heißt, ‚‚der erhabene Grundsatz von Ehre und Pflicht der Frühling- und Herbstannalen,‘ oder einfach „der erhabene Grundsatz,‘ oder ‚‚das Gesetzbuch der Frühling- und Herbstannalen.‘ Dieses Buch ist die chi-

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nesische Magna Charta. Es enthält die einzige und allei- nige wahre Verfassung nicht nur des Staates und der Regierung in China, sondern auch der chinesischen Zi- vilisation. Konfuzius sagte, daß die Nachwelt ihn durch dieses Buch kennen und wissen werde, was er für die Welt getan habe.

Jetzt sind wir auf einem langen Weg, auf welchem ich Ihre Geduld erschöpft zu haben fürchte, zu dem Punkt gelangt, von dem ich reden möchte. Ich sagte, daß die Religion der Masse der Menschheit eine Zu- flucht gibt, den Glauben an ein allmächtiges Wesen, ge- nannt Gott, in dem sie ein Gefühl der Fortdauer in ihrem Dasein finden kann, und daß der Konfuzianis- mus die Stelle der Religion einnehmen kann, daß er die Menschen lehrt, ohne Religion auszukommen. Des- halb sagte ich, muß er etwasenthalten, was der Mensch- heit dasselbe Gefühl der Sicherheit und Fortdauer geben kann wie die Religion. Dieses Etwas haben wir nun ge- funden, es ist die göttliche Pflicht der Treue zu dem Kaiser, die Konfuzius lehrte.

Diese unbedingte göttliche Pflicht der Treue zu dem Kaiser gibt diesem eine unbedingte, überschwängliche allmächtige Gewalt in den Seelen der chinesischen Be- völkerung; und der Glaube an diese Gewalt gibt der Masse der Bevölkerung dasselbe Gefühl der Sicherheit, das der religiöse Glaube an Gott der großen Masse der Menschheit in anderen Ländern verleiht. Er sichert auch in den Seelen der chinesischen Bevölkerung die

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unbedingte Fortdauer und Festigkeit des Staates. Die- se wieder sichert die unendliche Dauer und Beständig- keit der Gesellschaft, und diese endlich die Unsterblich- keit der Rasse. So ist es der Glaube an die Unsterblich- keit der Rasse, der aus dem Glauben an die allmächtige Gewalt des Kaisers entspringt, der dem chinesischen Volk dasselbe Gefühl der Fortdauer gibt, das der reli- giöse Glaube an ein zukünftiges Leben der großen Masse der Menschheit in andern Ländern verleiht.

So wie die unbedingte Pflicht der Treue die Unsterb- lichkeit der Rasse in der Nation sichert, so sichert wieder der von Konfuzius gelehrte Kultus der Ahnenvereh- rung die Unsterblichkeit in der Familie. Dieser Kultus ist in China nicht so sehr im Glauben an ein zuküntfti- ges Leben begründet, als im Glauben an die Unsterb- lichkeit der Rasse. Wenn ein Chinese stirbt, so ist er nicht getrost im Glauben, daß er nach diesem ein an- deres Leben leben wird, sondern im Glauben, daß seine Kinder, Enkel und Urenkel, alle die, die ihm am teuer- sten sind, seiner gedenken und ihn allzeit lieben wer- den, und in dieser Einbildung ist für ihn das Sterben wie das Antreten einer langen, langen Reise, mit der Hoffnung auf ein Wiedersehen. So gibt der Kultus der Ahnenverehrung dem Chinesen denselben Trost im Tod, den der Glaube an ein zukünftiges Leben der Menschheit in andern Ländern gibt. Darum ist auch dieser Kultus für sie genau so wichtig, wie der Grund- satz von der göttlichen Pflicht der Treue zu dem Kaiser.

6 KuHung-Ming, Geist des chines, Volkes

Mencius sagt: ‚‚Von den drei großen Sünden gegenkind- liche Liebe ist die größte, keine Nachkommenschaft zu haben!“ So besteht das Lehrsystem des Konfuzius wirklich nur aus zwei Dingen, nämlich Treue zu dem Kaiser und kindliche Liebe zu den Eltern, auf chine- sisch: Chung Hsiao. In der Tat, die drei Glaubensarti- kel, aufchinesisch san Rang, die drei Kardinalpflichten des Konfuzianismus, lauten in der Rangordnung ihrer Wichtigkeit: erstens, unbedingte Pflicht der Treue ge- gen den Kaiser; zweitens: kindliche Liebe und Ahnen- verehrung; drittens: Unverletzlichkeit der Ehe und un- bedingte Unterwerfung des Weibes unter den Ehe- mann. Die beiden letzten waren schon in der vorkon- fuzianischen Religion enthalten, während die erste zu- erst von Konfuzius gelehrt wurde. Sie ist gleichbedeu- tend mit dem ersten Glaubensartikel in allen Religi- onen, dem Glauben an Gott, und weil der Konfuzia- nismus dieses Gleichwertige für den Glauben an Gott der Religion hat, kann er die Religion ersetzen. Wie kann man aber ohne den Glauben an Gott die große Masse der Menschheit veranlassen, die von Kon- fuzius gelehrten Moralvorschriften zu befolgen, so wie man sie durch die Autorität Gottes veranlaßt, die von der Religion gelehrten Moralvorschriften zu beobach- ten? Ich muß da zuerst einen allgemein verbreiteten Irrtum hervorheben, der in dem Glauben besteht, daß die Menschen durch die Sanktion, die von der Autori- tät Gottes gegeben wird, veranlaßt werden, den Vor-

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schriften einer moralischen Lebensführung zu gehor- chen. Die wirkliche Autorität für diese Verpflichtung ist das Moralgefühl, das Gesetz für den Ehrenmann im Menschen, der Glaube an Gott ist nicht notwendig dazu.

Diese Tatsache ist es, die Zweifler, wie Voltaire und Tom Paine im vorigen Jahrhundert und Rationalisten wie Sir Hiram Maxim heute, sagen ließ, daß der Glaube an Gott ein Betrug oder eine Fälschung ist, die von den Religionsstiftern erfunden wurde und von den Prie- stern aufrechterhalten wird. Aber das ist eine grobe, abgeschmackte Verleumdung. Alle großen Männer, alle Menschen mit hervorragendem Verstand haben immer an Gott geglaubt. Auch Konfuzius glaubte an Gott, obwohl er selten davon sprach. Sogar Napoleon mit seinem großen, praktischen Verstand glaubte an Gott. Wie der Psalmist sagt: ‚Die Toren,‘ Menschen mit gemeinem, hohlem Verstand, ‚sagen in ihrem Her- zen: es ist kein Gott.‘‘ Aber der Gottesglauben der Männer von großem Verstand ist verschieden von dem der großen Masse. Er ist der Spinozas, nämlich ‚,‚ein Glaube an die göttliche Ordnung des Weltalls.‘“ Kon- fuzius sagt: „Mit fünfzig kannte ich die Verordnung Gottes,‘“ das heißt, die göttliche Ordnung des Welt- alls. Männer mit großem Verstand haben ihr verschie- dene Namen gegeben. Der Deutsche Fichte nennt sie die göttliche Idee des Weltalls. In China heißt sie in der philosophischen Sprache Tao, der Weg. Der Name ist verschieden, aber stets wird durch das Wissen um

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diese göttliche Weltordnung die unbedingte Notwen- digkeit einer moralischen Lebensführung erkannt.

Obgleich also der Glaube an Gott für eine morali- sche Lebensführung nicht notwendig ist, ist er es doch, um die unbedingte Notwendigkeit einer solchen zu erkennen. Konfuzius sagt: „Ein Mensch ohne Wis- sen um die Verordnungen Gottes, das heißt, die gött- liche Weltordnung, wird kein Ehrenmann (gentleman) oder moralischer Mensch sein können.‘*

Nun aber kann die große Masse der Menschheit, die keinen großen Verstand hat, den Vernunftschlüssen der großen Männer nicht folgen und kann daher die unbedingte Notwendigkeit eines moralischen Wandels nicht einsehen. Matthew Arnold sagt: Moralregeln, zuerst als Gedanken erfaßt und dann als Gesetze streng befolgt, sind nur für den Weisen und müssen nur für ihn sein. Die große Masse der Menschheit hat weder Verstandeskraft genug, sie als Gedanken zu erfassen, noch Charakterstärke genug, sie als Gesetze pünktlich zu befolgen.‘ Deshalb hat die von Plato, Aristoteles und Herbert Spencer gelehrte Philosophie und Moral nur Wert für Gelehrte.

Aber der Wert der Religion ist, daß sie die Menschen, sogar die große Masse, die weder Verstandeskraft noch Charakterstärke hat, zu moralischer Lebensführung be- fähigt und veranlaßt. Mit welchen Mitteln tut sie das? Die Leute glauben irrtümlich, dieses Mittel sei der

* Reden und Aussprüche, Kapitel XX, 3.

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Glaube an Gott. Aber die einzige, alleinige Autorität, die die Menschen wirklich zur Befolgung der Sittenge- setze veranlaßt, ist das Moralgefühl, das Gesetz für den Ehrenmann, in ihnen. Konfuzius sagt: ‚‚Ein Moralge- setz außerhalb des Menschen ist kein Moralgesetz.‘ Sogar Christus sagte, als er seine Religion lehrte: ‚‚Das Reich Gottes ist in Euch.‘ Deshalb sage ich, daß die Vorstellung, die Religion veranlasse die Menschen durch die Lehre vom Glauben an Gott, ein moralisches Leben zu führen, ein Irrtum ist. Martin Luther sagt bewun- dernswert in seinem Kommentar zum Buch Daniel: „Ein Gott ist einfach das, worauf das menschliche‘ Herz ruht mit Vertrauen, Glauben, Hoffnung und Liebe. Ist die Ruhe richtig, dann ist auch der Gott richtig, ist die Ruhe schlecht, dann ist auch der Gott eine Täuschung.‘ Dieser von der Religion gelehrte Glaube an.Gott ist also nur eine Ruhe, oder, wie ich ihn nannte, eine Zuflucht. Aber dann sagt Luther: „Die Ruhe, das heißt, der Glaube an Gott, muß wahr sein, sonstist die Ruhe, der Glaube, eine Täuschung.“ Mit andern Worten, der Glaube an Gott muß ein wah- res Wissen von Gott sein, ein wirkliches Wissen um die göttliche Weltordnung, welches nur Menschen mit gro- Bem Verstand erreichen können. Darum ist die An- nahme, er befähige die große Masse der Menschheit zu sittlicher Lebensführung, eine Täuschung. Dieser Glau- be an Gott, an die göttliche Weltordnung, wird richtig ein Glaube, ein Vertrauen genannt oder, wie ich sagte,

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eine Zuflucht. Dadurch, daß er der Menschheit ein Ge- fühl der Sicherheit und Fortdauer in ihrem Dasein ver- leiht, hilft er ihr, die Regeln moralischer Lebensfüh- rung zu befolgen. Goethe sagt: ‚Frömmigkeit, das heißt, der Glaube an Gott, den die Religion lehrt, ist an sich kein Ziel, sondern nur ein Mittel, mit dem, durch die vollständige und vollkommene Geistes- und Gemüts- ruhe, die es verleiht, der höchste Grad von Kultur oder menschlicher Vollkommenheit erreicht werden soll.“ Wovon hängt nun aber die Religion grundsätzlich ab, daß sie die Menschen zu sittlicher Lebensführung ver- anlaßt, wenn der von ihr gelehrte Glaube an Gott nur dazu verhilft? Von der Eingebung. Matthew Arnold sagt richtig: ‚Die edelsten Seelen jedes Glaubensbe- kenntnisses, der Heide Empedokles so gut wie der Christ Paulus, haben die Notwendigkeit der Eingebung behauptet, eine lebendige Gemütsbewegung, um mo- ralische Handlungen vollkommen zu machen.‘ Worin besteht nun diese Eingebung oder lebendige Gemüts- bewegung in der Religion, die deren oberste Tugend ist? Ich sagte schon, daß das ganze konfuzianische Lehr- system sich in das Gesetz für den Ehrenmann zusam- menfassen läßt, wofür der am nächsten kommende Aus- druck in den europäischen Sprachen das Moralgesetz ist. Konfuzius sagt: ‚‚Das Gesetz für den Ehrenmann wird überall gefunden und ist doch ein Geheimnis.“ Nichtsdestoweniger sagt er: „Selbst der einfache Ver- stand gewöhnlicher Männer und Frauen aus dem Volke

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kann etwas wissen von diesem Geheimnis. Die unedle Natur gewöhnlicher Männer und Frauen aus dem Volke kann auch dieses Gesetz für den Ehrenmann befolgen.“ Aus diesem Grund nannte es Goethe, der es auch kann- te, ein ‚‚offenes Geheimnis‘. Woher und wie entdeckte nun die Menschheit dieses Geheimnis? Die Anerken- nung des Gesetzes für den Ehrenmann begann, wie ich bereits sagte, mit der Anerkennung der wahren Be- ziehung zwischen Mann und Weib in der Ehe. So wurde das Geheimnis, das offene Geheimnis Goethes, zuerst entdeckt durch einen Mann und eine Frau. Wie aber kamen sie zu dieser Entdeckung?

Ich habe gesagt, daß in den europäischen Sprachen das Moralgesetz dem Gesetz für den Ehrenmann des Konfuzius in der Bedeutung am nächsten kommt. Welcher Unterschied besteht nun zwischen diesen bei- den ich meine das Moralgesetz des Philosophen und Moralisten im Unterschied von der Religion oder dem von den Religionslehrern gelehrten Moralgesetz —? Um den Unterschied zwischen dem Gesetz für den Ehren- mann und diesem Moralgesetz zu verstehen, möchte ich zuerst den Unterschied zwischen der Religion und diesem Moralgesetz feststellen. Konfuzius sagt: ‚Die Verordnung Gottes ist, was wir das Gesetz unsres Seins nennen; das Gesetz unsres Seins erfüllen, ist, was wir das Moralgesetz nennen. Wenn das Moralgesetz geläu- tert und in richtige Ordnung gebracht ist, so nennen wir das Religion.‘ So ist, Konfuzius zufolge, der Unter-

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schied zwischen Religion und dem Moralgesetz des Philosophen, daß Religion ein geläutertes und wohlge- ordnetes Moralgesetz ist, ein tieferer oder höherer Standpunkt des Moralgesetzes.

Das Moralgesetz des Philosophen sagt uns, daß wir dem Gesetz unsers Seins, genannt Vernunft, folgen müssen. Aber Vernunft, wie sie gewöhnlich verstanden wird, bedeutet unsre Überlegungskraft, diesen langsa- men Geistes- oder Verstandesprozeß, der uns befähigt, die bestimmten Eigentümlichkeiten und Eigenschaften der äußern Form der Dinge zu unterscheiden und zu erkennen. Unsre Vernunft befähigt uns daher, in den moralischen Beziehungen nur die bestimmbaren Eigen- tümlichkeiten, die mores, die Moralität, wie sie rich- tig benannt ist, die äußere Art und tote Form, den Kör- per sozusagen von Recht und Unrecht oder der Gerech- tigkeit zu sehen. Die Vernunft allein genügt nicht, um uns das unbestimmbare, lebendige, unbedingte Wesen von Recht und Unrecht oder der Gerechtigkeit, ihr Leben, ihre Seele sozusagen, erkennen zu lassen. Da-. rum sagt Laotzu: ‚Das Moralgesetz, das sich durch die Sprache ausdrücken läßt, ist nicht das unbedingte Moralgesetz. Die Moralidee, die mit Worten erklärt werden kann, ist nicht die unbedingte Moralidee.‘‘ Das Moralgesetz des Moralisten wiederum sagt uns, daß wir dem Gesetze unsres Seins, genannt Gewissen, das ist unserm Herzen, gehorchen müssen. Nun sind aber, wie der weise Mann in der Bibel sagt, ‚‚viele Anschläge

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im Herzen eines Menschen.‘ Darum sind wir, wenn wir das Gewissen, unser Herz, als das Gesetz für unser Sein ansehen und ihm gehorchen, versucht und ge- neigt, nicht der Stimme dessen, was ich die Seele der Gerechtigkeit genannt habe, zu folgen, sondern den vielen Anschlägen im Menschenherzen.

Mit andern Worten, die Religion lehrt uns, dem wah- ren Gesetz unsres Seins zu gehorchen, nicht dem tie- rischen oder fleischlichen, das St. Paulus das Gesetz der Fleischeslust nennt und das der berühmte Schüler des August Comte, Mr. Littre, sehr gut kennzeichnet als das Gesetz der Selbsterhaltung und Fortpflanzung; _ das wahre Gesetz unsres Seins nennt St. Paulus aber das Gesetz des Geistes, und Konfuzius bezeichnet es als das Gesetz für den Ehrenmann. Kurz, dieses wahre Gesetz unsres Seins ist das, was Christus das Reich Gottes in uns nennt. Wir sehen also, daß die Religion ein geläutertes, vergeistigtes, wohlgeordnetes Moral- gesetz ist. Darum sagt Christus: „Es sei denn, daß eure Gerechtigkeit (oder Moral) höher stehe, denn die der Schriftgelehrten und Pharisäer (das heißt der Phi- losophen und Moralisten), so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“

Nun ist aber das konfuzianische Gesetz für den Eh- renmann wie die Religion ein höherer Standpunkt des Moralgesetzes der Philosophen und Moralisten. Es lehrt uns auch, dem wahren Gesetz unsres Seins zu folgen, nicht dem eines Durchschnittsmenschen von der Straße

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oder einer gemeinen, unreinen Person, sondern dem Lebensgesetz derer, die Emerson ‚‚die einfachsten und reinsten Seelen der Welt‘ nennt. Um also zu wissen, was das Lebensgesetz für den Ehrenmann ist, müssen wir zuerst ein Ehrenmann sein und nach den Worten Emersons die einfache und reine Seele haben, die sich in ihm enthüllt. Darum sagt Konfuzius: ‚Der Mensch kann den Standpunkt des Moralgesetzes heben, nicht aber kann das Moralgesetz den Standpunkt des Menschen heben.“

Konfuzius sagt indessen, daß wir erfahren können, was das Gesetz für den Ehrenmann ist, wenn wir das feine Gefühl oder den guten Geschmack des Ehren- mannes studieren und zu erwerben trachten. Das chi- nesische Wort Li in den Lehren des Konfuzius ist ver- schieden übersetzt worden, mit Feierlichkeit, Anstand und guten Sitten, es bedeutet aber in Wirklichkeit guter Geschmack. Auf moralische Handlungen ange- wandt ist es das, was man in den europäischen Spra- chen Ehrgefühl nennt. Dieses Ehrgefühl, das Konfu- zius das Gesetz für den Ehrenmann nennt, ist nicht wie das Moralgesetz des Philosophen und Moralisten ein trockenes, totes Wissen von der Form oder der For- mel von Recht und Unrecht, sondern wie die Gerechtig- keit der Bibel im Christentum eine triebhafte, frische, lebendige Vorstellung vom unbestimmbaren, unbe- dingten Wesen von Recht und Unrecht, von dem Leben und der Seele der Gerechtigkeit, genannt Ehre.

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Jetzt können wir die Frage beantworten, wie der Mann und die Frau, die zuerst die Beziehungen der Eheleute erkannten, das Geheimnis Goethes, das Ge- setz für den Ehrenmann des Konfuzius, entdeckten. Sie entdecktenes, weil sie die Feinfühligkeit, den guten Geschmack des Ehrenmannes, das Ehrgefühl hatten. Dadurch sahen sie das Wesen von Recht und Unrecht, das Leben und die Seele der Gerechtigkeit, genannt Ehre. Was aber flößte ihnen das nötige Feingefühl ein ? Der wundervolle Ausspruch Jouberts wird es erklären. Joubert sagt: ‚Les hommes ne sont justes qu’envers ceux qu’ils aiment.‘‘ Die Menschen sind nur wahrhaft gerecht gegen die, welche sie lieben. Darum ist die Ein- gebung, welche den Mann und die Frau erkennen läßt, was Joubert wahre Gerechtigkeit nennt, und sie so das Gesetz für den Ehrenmann entdecken läßt Liebe die Liebe zwischen dem Mann und der Frau. Sie gibt sozusagen Veranlassung zu dem Gesetz für den Ehrenmann, diesem Geheimnis, das die Menschen nicht nur befähigt hat, die Gesellschaft und die Zivilisation aufzubauen, sondern auch die Religion einzuführen, Gott zu finden. Danach versteht man leicht Goethes Glaubensbekenntnis, das er Faust in den Mund legt und das beginnt mit den Worten:

„Wölbt sich der Himmel nicht da droben? Liegt die Erde nicht hier unten fest?‘

Wie ich bereits sagte, werden die Menschen nicht durch den Glauben an Gott zu moralischer Lebens-

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führung veranlaßt, sondern durch das Gesetz für den Ehrenmann, durch das Reich Gottes in uns. Deshalb ist dieses Gesetz wirklich das Leben der Religion, wäh- rend der Glaube an Gott zusammen mit den von der Religion gelehrten Moralregeln nur sozusagen der Kör- per der Religion ist. Wenn aber das Gesetz für den Ehrenmann das Leben der Religion ist, so ist ihre Seele, die Quelle der Eingebung in der Religion die Liebe. Sie umfaßt nicht nur die Liebe zwischen Mann und Weib, wodurch die Menschheit sie zuerst kennen lernte. Sie umschließt alle wahre menschliche Zuneigung, die Gefühle der Liebe zwischen Eltern und Kindern sowohl als auch die Empfindung von Liebe, Freundlichkeit, Mitleid, Erbarmen, Gnade allen Ge- schöpfen gegenüber, tatsächlich alle wahren mensch- lichen Empfindungen, die in dem chinesischen Wort Jen enthalten sind, wofür der in der Bedeutung am nächsten kommende Ausdruck in den europäischen Sprachen das Wort Gottseligkeit des alten christlichen Sprachgebrauchs ist, weil sie die göttlichste Eigenschaft im Menschen ist, und im modernen Sprachgebrauch Menschlichkeit, Menschenliebe, oder in einem Wort Liebe. Kurz, die Seele der Religion, die Ouelle der Ein- . gebung in der Religion ist das chinesische Wort Jen Liebe, oder welchen Namen man ihr geben mag, die zuerst in die Welt kam als Liebe zwischen Mann und Weib. Das also ist die Eingebung, die oberste Tugend, das, wovon die Religion hauptsächlich abhängt, um

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die Menschen, sogar die große Masse der Menschheit zu moralischer Lebensführung zu befähigen und zu veranlassen. Konfuzius sagt: ‚‚das Gesetz für den Ehren- mann beginnt mit der Anerkennung durch Mann und Weib; aber in seinen äußersten Bereichen beherrscht und regiert es hoch über Himmel und Erde das ganze Weltall.“

Diese Eingebung, die lebendige Empfindung, die wir in der Religion gefunden haben, ich meine die Kirchen- religion, ist jedem bekannt, der je eine Regung gespürt hat, die ihn dazu trieb, die Regeln moralischer Lebens- führung über alle Erwägungen des Eigennutzes und der Furcht hinaus zu befolgen. Man findet sie in jeder menschlichen Handlung, die nicht von den niedern Beweggründen des Eigennutzes oder der Furcht einge- geben ist, sondern von dem Gefühl für Pflicht und Ehre. Man findet diese Eingebung oder lebendige Gemüts- bewegung nicht nur in der Religion. Aber der Wert der Religion ist, daß der Wortlaut der Regeln moralischer Lebensführung, die die Stifter aller großen Religionen hinterlassen haben, etwas hat, was die Moralregeln der Philosophen nicht haben, nämlich diese Eingebung oder lebendige Gemütsbewetung, die, wie Matthew Arnold sagt, diese Regeln erleuchtet und es den Menschen leicht macht, sie zu befolgen. Auch alle Worte der wahr- haft großen Männer der Literatur, besonders der Dich- ter, enthalten diese Eingebung wie die Religion, zum Beispiel die vorhin angeführten Worte Goethes ent-

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halten sie. Unglücklicherweise können aber die Worte großer Männer der Literatur die große Masse der Menschheit nicht erreichen, weil diese großen Männer die Sprache der Gebildeten reden, die die große Masse nicht verstehen kann. Die Stifter aller großen Reli- gionen haben den Vorteil, daß sie meistens ungelehrte Männer waren und deren einfache Sprache redeten, so daß jeder sie verstehen kann. Der wirkliche Wert aller großen Religionen ist daher, daß sie die in ihnen enthal- tene Eingebung oder lebendige Gemütsbewegung selbst der großen Masse der Menschheit übermitteln können. Um nun zu verstehen, wie diese Eingebung in alle Reli- gionen kam, lassen Sie uns herausfinden, wie diese Reli- gionen in die Welt kamen.

Nun, die großen Religionsstifter waren alle Männer von ungewöhnlich stark erregbarer Natur. Diese ließ sie die Empfindung menschlicher Zuneigung in hohem Grad fühlen, die die Quelle der Eingebung, die Seele der Religionen ist. Dieses starke Liebesgefühl befähigte sie, das unbestimmbare, unbedingte Wesen von Recht und Unrecht, die Seele der Rechtlichkeit, die sie Ge- rechtigkeit nannten, zu sehen, und das befähigte sie, die Einheit der Gesetze von Recht und Unrecht, oder der Sittengesetze zu erkennen. Da sie Männer von außergewöhnlich stark erregbarer Natur waren, hatten sie eine mächtige Einbildungskraft, welche unbewußt diese Einheit der Sittengesetze als ein allmächtiges, übernatürliches Wesen personifizierte. Dieser personifi-

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zierten Einheit der Moralgesetze ihrer Einbildungskraft gaben sie den Namen Gott und glaubten, daß von ihm dieses hochgradige Liebesgefühl kommt. Auf diese Weise kam die Eingebung oder lebendige Gemütsbewe- gungindie Religion ;die Eingebung, die die Regeln mora- lischer Lebensführung der Religion erleuchtet und die Bewegung oder Triebkraft notwendigerweise ergänzt, um die große Masse der Menschheit auf den geraden schmalen Pfad moralischer Lebensführung zu leiten. Der Wert der Religion besteht aber nicht nur in dieser Eingebung, sondern auch in einer Einrichtung, die die- se Eingebung in den Menschen erweckt, erregt und ent-: zündet; diese Einrichtung in allen großen Religionen der Welt heißt: die Kirche.

Viele Leute glauben irrtümlich, der Zweck der Kir- che sei, die Menschen den Glauben an Gott zu lehren. Dieser große Irrtum der modernen christlichen Kirchen hat rechtschaffenen Männern, wie dem verstorbenen Mr. I. A. Froude vor den modernen Kirchen Abscheu eingeflößt. Mr. Froude sagt: ‚‚Viele hundert Predigten habe ich in England über die Geheimnisse des Glaubens, den göttlichen Beruf der Geistlichkeit, apostolische Nachfolge usw. gehört, aber nicht eine, deren ich mich erinnern kann, über allgemeine Rechtschaffenheit oder eines jener ursprünglichen Gebote: ‚‚Du sollst nicht lü- gen!“ und ‚‚du sollst nicht stehlen!‘ Aber nun denke ich mit aller Hochachtung vor Mr. Froude, daß er auch unrecht hat, wenn er sagt, daß die christliche Kirche

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Moral lehren sollte. Ihr Zweck ist zweifellos, die Men- schen moralisch zu machen, aber ihre Aufgabe ist, nicht Moral, sondern Religion zu lehren, die keine tote, ab- geschlossene Regel ist, wie: du sollst nicht lügen! und du sollst nicht stehlen! sondern eine Eingebung, um die Menschen zu veranlassen, jene Regeln zu befolgen. Die wahre Aufgabe der Kirche ist also nicht, Moral zu lehren, sondern Moral einzuflößen, den Menschen einzugeben, moralisch zu sein; den Menschen eine le- bendige Empfindung einzugeben und sie anzufeuern, was sie dann moralisch macht. Mit andern Worten, die Kirche ist in allen großen Religionen eine Einrichtung, um eine Eingebung in den Menschen zu erwecken und zu schüren, die notwendig ist, um sie die Regeln mora- lischer Lebensführung befolgen zu lassen. Wie erreicht das nun die Kirche?

Nun, alle großen Religionsstifter flößten ihren un- mittelbaren Schülern ein Gefühl unbegrenzter Bewun- derung, Liebe und Begeisterung für ihre Person und ihren Charakter ein. Um dieses Gefühl für ihren Lehrer zu erhalten, gründeten die Schüler nach dessen Tod eine Kirche. Das war der Ursprung der Kirche in allen großen Religionen der Welt. So erweckt und schürt die Kirche die Eingebung in den Menschen, indem sie das Gefühl der Liebe zu dem Religionsstifter erweckt und erhält, das dessen unmittelbare Schüler ursprünglich fühlten. Mit Recht nennt man nicht nur den Glauben an Gott, sondern auch den Glauben an die Religion

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einen Glauben, ein Vertrauen; aber Glauben an wen? An den ersten Lehrer und Stifter der Religion, der im Mohammedanismus der Prophet genannt wird und im Christentum der Mittler. Wenn man einen überzeugten Mohammedaner fragt, warum er an Gott glaubt und mo- ralischlebt, wirder richtig antworten, weileran Moham- med, den Propheten, glaubt. Stellt man einem überzeug- ten Christen dieselbe Frage, so wird er richtig antwor- ten, weil er Christus liebt. Daraus sieht man, daß der Glaube anMohammed, die Liebe zu Christus tatsächlich, wie ich sagte, das Gefühl grenzenloser Liebe und Be- wunderung für den ersten Lehrer und Stifter einer Re- | ligion, die Quelle der Eingebung, die wirkliche Macht aller großen Religionen ist, wodurch sie die Menschheit zu moralischer Lebensführung veranlassen.*

So wie sich die Religionen des Mittels der Kirche be- dienen, besitzt auch die chinesische Staatsreligion eine Einrichtung, die der Kirche der Kirchenreligionen an- derer Länder entspricht, nämlich die Schule. ImChinesi- schen bedeutet dasselbe Wort ‚‚chiao‘ Religion so- wohl als auch Erziehung. Da in China tatsächlich die Kirche die Schule ist, bedeutet für den Chinesen Reli- gion dasselbe wie Erziehung, Kultur. Der Zweck der

* Mencius sagt, indem er von den beiden reinsten, den Chri- sten ähnlichsten Charakteren der chinesischen Geschichte spricht: ‚‚Als die Menschen von dem Geist und der Gemütsart des Po-yi und des Shu-ch’i hörten, wurde der liederlichste Wüstling selbstlos und bekam der Feigling Mut.‘“ Mencius, Buch III Teil II, IX, II.

7 KuHung-Ming, Geist des chines. Volkes 07

chinesischen Schule ist nicht wie im modernen Europa und Amerika, die Menschen zu lehren, ihren Lebens- unterhalt zu erwerben, Geld zu verdienen, sondern wie der Zweck der Kirchenreligion, die Menschen das ver- stehen zu lehren, was Mr. Froude die ursprünglichen Gebote nennt, nämlich: ‚du sollst nicht lügen,“ und: „du sollst nicht stehlen‘; tatsächlich die Menschen zu lehren, gut zu sein. ‚Ob wir mehr auf Taten oder auf Reden gefaßt sind‘, sagt Dr. Johnson, ‚ob wir wün- schen, uns nützlich zu machen oder zu gefallen, das erste Erfordernis ist das religiöse und moralische Wis- sen von Recht und Unrecht; das nächste, die Kenntnis der Geschichte der Menschheit und solcher Beispiele, die angeführt werden können, um die Wahrheit zu ver- körpern und durch Ereignisse die Vernünftigkeit von Meinungen zu beweisen.‘ Es besteht aber ein Unter- schied zwischen der Schule der Kirche der Staats- religion des Konfuzius in China und der Kirche der Kirchenreligionen anderer Länder. Die Schule in China befähigt und veranlaßt zwar die Menschen genau wie die Kirche anderer Länder zu einem moralischen Le- benswandel, indem sie eine Eingebung oder lebendige Gemütsbewegung in ihnen erweckt und schürt, nur die Mittel sind verschieden. Die Schule in China bedient sich nicht des Mittels, den Schülern grenzenlose Be- wunderung, Liebe und Begeisterung für Konfuzius ein- zuflößen. Obwohl Konfuzius zu seinen Lebzeiten von seinen unmittelbaren Schülern geliebt und bewundert

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und nach seinem Tod von allen großen Männern, die ihn studiert und verstanden haben, begeistert ver- ehrt wurde, hat er nie der großen Masse der Mensch- heit dasselbe Gefühl von Bewunderung, Liebe und Be- geisterung erregt, das alle großen Religionsstifter er- weckt haben. Er wird nicht in der Weise verehrt, wie Mohammed oder Jesus Christus von ihren Anhängern geschätzt werden. Insofern gehört Konfuzius nicht zur Klasse der Religionsstifter. Um das im europäi- schen Sinn des Wortes zu sein, muß man ein Mensch von außergewöhnlich stark erregbarer Natur sein. Konfuzius stammt tatsächlich ab von einer Rasse von Königen, von dem Hause Shang, der Dynastie, die vor der Dynastie, unter der Konfuzius lebte, über China herrschte, einer Rasse, die die stark erregbare Natur des hebräischen Volkes hatte. Zu Konfuzius Zeit herrschte die Dynastie Chow, die die feine, intellek- tuelle Natur der Griechen hatte und von der der Her- zog von Chou, der Stifter der vorkonfuzianischen Re- ligion, ein wahrer Vertreter war. So war Konfuzius, um einen Vergleich zu gebrauchen, ein Hebräer von Geburt mit der stark erregbaren Natur der hebräi- schen Rasse, der in der besten, intellektuellen Kultur erzogen war und alles hatte, was die beste, intellek- tuelle Kultur der Griechen ihm geben konnte. Wie der große Goethe, den die Völker Europas eines Tages als den vollkommensten Menschheitstypus, als den echten Europäer anerkennen werden, den die euro-

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päische Zivilisation hervorgebracht hat, so wie die Chinesen Konfuzius als den vollkommensten Mensch- heitstypus, den echten Chinesen, anerkannt haben, den die chinesische Zivilisation hervorgebracht hat wie der große Goethe war Konfuzius zu gebildet und kulti- viert, um zu der Klasse der Religionsstifter gerechnet werden zu können. Er war tatsächlich zu seinen Leb- zeiten nur bei seinen vertrautesten, unmittelbaren Schülern bekannt als das, was er war.

Die Liebe und Bewunderung für Konfuzius ist also nicht das Mittel, was die Schule in China, die die Kir- che ersetzt, gebraucht, um die Eingebung in den Men- schen zu erregen und zu schüren, die notwendig ist, um sie zueinem moralischen Lebenswandel anzuhalten. Konfuzius sagt: ‚In der Erziehung wird das Gefühl erweckt durch das Studium der Dichtkunst,; das Ur- teil wird gebildet durch das Studium des guten Ge- schmacks und der guten Sitten; die Erziehung des Charakters wird vollendet durch das Studium der Mu- sik.““ Die Schule in China lehrt also die Menschen die Dichtkunst, in der Tat, die Werke aller großen Männer der Literatur, die auch die Eingebung oder lebendige Gemütsbewegung besitzen, die die religiöse Sittenlehre hat. Matthew Arnold sagt, als er von Homer und dem Adel seiner Dichtkunst spricht: ‚Der Adel in der Dichtkunst des Homer und einiger anderen großen Män- ner der Literatur kann den rohen Naturmenschen ver- edeln, ihn verwandeln.‘ In der Tat, was immer für

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Dinge wahr, gerecht, rein, schön sind, was immer für Dinge in gutem Ruf stehen, ob irgend eine Tugend oder ein Ruhm dabei sein möge, die Schule in China veranlaßt die Menschen, darüber nachzudenken und erweckt und schürt dadurch in ihnen die Erziehung oder lebendige Gemütsbewegung, deren sie bedürfen, um zu einem moralischen Lebenswandel fähig zu sein.

Nun sagte ich aber, daß die Werke der wirklich gro- Ben Männer der Literatur, solche wie die Dichtungen Homers, nicht zur großen Masse der Menschheit drin- gen können, weil die Dichter die Sprache der Gebilde- ten reden, die die breite Masse nicht verstehen kann. . Wenn das richtig ist, wie können dann die Lehren des Konfuzius eine Ausnahme machen? Ich sagte, die Ein- richtung in China, die der Kirche in andern Ländern entspricht, sei die Schule. Aber das ist nicht ganz rich- tig, in Wirklichkeit ist es die Familie. Die wirkliche und wahre Kirche der Staatsreligion des Konfuzius ist die Familie mit ihrer Tafel oder Kapelle für die Ahnen in jedem Haus und ihrer Halle oder ihrem Tempel für die Vorfahren in jedem Dorf und jeder Stadt. Die Quelle der Eingebung, die wirkliche Triebkraft, durch welche die Staatsreligion des Konfuzius die Menschen zu einem moralischen Lebenswandel zu ver- anlassen fähig ist, ist das Gebot: ‚Liebe Deinen Vater und Deine Mutter.“ Das Christentum sagt: ‚Liebe Chri- stus.‘“ Die Ahnentafel in jedem chinesischen Haus sagt: „Liebe deinen Vater und deine Mutter.‘ St. Pau-

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lus sagt: „Laßt jedermann, der den Namen Christus nennt, absagen der Missetat.‘‘ Aber der Verfasser des Buches über Kindesliebe, das unter der Dynastie Han geschrieben wurde, das chinesische Gegenstück zu der „Nachfolge Christi“ sagt: „Laßt jedermann, der Vater und Mutter liebt, absagen der Missetat.‘“ Kurz, wie das Wesen, die Triebkraft, die Quelle wirklicher Eingebung in der christlichen Religion die Liebe zu Christus ist, so bedeutet die ‚‚Liebe zu Vater und Mut- ter‘ mit ihrem Kultus der Ahnenverehrung im Kon- fuzianismus dasselbe. Konfuziussagt: ‚Ernten an dem- selben Platz, wo unsre Väter vor uns geerntet haben; dieselben Zeremonien verrichten, die sie vor uns aus- geübt haben, dieselbe Musik spielen, die sie vor uns ge- spielt haben, die achten, die sie geehrt haben, jene lie- ben, die ihnen teuer waren; in der Tat, ihnen nun, da sie tot sind, so dienen, als wenn sie noch lebten und nicht abgeschieden wären, als wenn sie noch bei uns wären, das ist die höchste Vollendung der Kindesliebe.“ Weiter sagt er: „Durch die Pflege der Achtung für die Toten und durch Zurücktragen des Andenkens in die ferne Vergangenheit wird sich das Gute im Volk vertiefen.‘ Cogitavi dies antiquos et annos eternos in mente habui. So wie die Gottesfurcht die höchste und wichtigste aller Regeln moralischer Lebensführung in allen großen Religionen der Welt ist, so ist die höchste und wichtigste Vorschrift des Konfuzianismus die un- bedingte Pflicht der Treue gegen den Kaiser. Die

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Kirchenreligion des Christentums sagt: ‚Fürchte Gott und gehorche ihm.‘ Aber die Staatsreligion des Kon- fuzius sagt: ‚Ehre den Kaiser und sei ihm treu.‘ Das Christentum sagt: ‚Wenn du Gott fürchten und ihm gehorchen willst, mußt du zuerst Christus lieben“. Der Konfuzianismus sagt: ‚Wenn du den Kaiser ehren und ihm treu sein willst, mußt du zuerst Vater und Mutter lieben.“

So viel habe ich für nötig gehalten, über Konfuzius und das, was er für das chinesische Volk getan hat, zu sagen, weil es einen sehr wichtigen Bezug auf den Ge- genstand unsrer gegenwärtigen Besprechung, den Geist des chinesischen Volkes, hat. Denn aus dem Gesagten ist leicht verständlich, daß ein gebildeter Chinese, der wissentlich den Ehrenkodex, den Ming fen ta yi der chinesischen Staatsreligion, vergißt, aufgibt oder weg- wirft, den Geist des chinesischen Volkes, den Geist sei- ner Nation’und Rasse verloren hat. Er ist Rein wirklicher Chinese mehr.

Zum Schluß noch eine kurze Zusammenfassung des Gesagten. Der wirkliche Chinese ist ein Mensch mit erwachsener Vernunft und dem einfachen Herzen eines Kindes, und der Geist des chinesischen Volkes ist eine glückliche Vereinigung von Seele und Verstand. Bei Prüfung der chinesischen Geisteserzeugnisse in ihren Hauptwerken der Kunst und Literatur wird man fin- den, daß es diese glückliche Vereinigung von Seeleund Verstand ist, die sie so befriedigend und entzückend

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macht. Was Matthew Arnold von der Homerischen Dichtkunst sagt, ist zutreffend für die ganze chine- sische klassische Literatur, daß sie nämlich nicht nur die Macht hat, jenes natürliche Herz der Menschheit tief zu bewegen, das nicht berühren zu können Vol- taires Schwäche ist, sondern sich auch mit der ganzen Voltaireschen bewundernswerten Einfachheit und Vernünftigkeit an das Verständnis wendet.

Matthew Arnold nennt die Dichtkunst der besten griechischen Dichter die Priesterin der erfinderischen Vernunft. Nun, der Geist des chinesischen Volkes, wie er sich in den besten Erzeugnissen seiner Kunst und Literatur offenbart, ist wirklich erfinderische Vernunft. Matthew Arnold sagt: ‚Die Dichtkunst des späteren Heidentums lebte von den Sinnen und dem Verständ- nis; die Dichtkunst des mittelalterlichen Christentums lebte von dem Herzen und der Einbildungskraft. Aber der Hauptbestandteil des modernen Geisteslebens, des modernen europäischen Geistes, sind weder die Sinne und der Verstand noch das Herz und die Einbildungs- kraft, es ist die erfinderische Vernunft.“

Nun, wenn es wahr ist, was Matthew Arnold sagt, daß das Element, wodurch der moderne Geist der Völ-

ker Europas von heute wenn sie richtig leben wür-

den, leben müßten die erfinderische Vernunft ist, dann kann man sehen, wie wertvoll für die Völker Europas der Geist des chinesischen Volkes ist. Wie wichtig es ist, ihn zu studieren, ihn zu verstehen ver-

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suchen und ihn zu lieben, anstatt ihn zu ignorieren, zu verachten und zu zerstören trachten! |

Schließlich möchte ich Sie noch darauf aufmerksam machen, daß Sie sich beim Studium des chinesischen Geistes, den ich zu erläutern und zu erklären versucht habe, vergegenwärtigen, daß er keine Wissenschaft, Philosophie, Theosophie oder irgend ein ‚‚ismus“ ist, wie die Theosophie der M"® Blavatsky oder der Mrs. Besant. Er ist nicht einmal das, was man eine besondere Geistigkeit (mentality) nennen könnte, eine aktive Ge- hirn- oder Geistestätigkeit. Er ist ein Zustand des Gei- stes, eine Seelenstimmung, die man nicht lernen kann, wie man Kurzschrift oder Esperanto lernt es ist viel- mehr eine Gemütsart, und zwar, mit den Worten des Dichters, eine heitere und gesegnete Gemütsart.

Zu allerletzt möchte ich noch einige Gedichtzeilen des chinesischsten unter den englischen Dichtern, Wordsworth, anführen, die besser als alles, was ich gesagt habe oder sagen kann, die heitere und gesegnete Gemütsart, die der Geist des chinesischen Volkes ist, beschreiben. Diese Zeilen des englischen Dichters stel- len in einer Weise, die ich nicht zu erreichen hoffen darf, diese glückliche Vereinigung von Seele und Verstand im chinesischen Menschheitstypus dar, jene heitere und gesegnete Gemütsart, die dem wirklichen Chinesen seine unaussprechliche Sanftmut verleiht. Wordsworth sagt in diesen Zeilen über die Tintern-Abtei: ‚Noch we- niger glaube ich, daß ich ihnen eine andere Gabe von

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erhabenerem Anblick verdanke; jene gesegnete Ge- mütsart, wodurch die Bürde des Geheimnisses, die schwere und niederdrückende Last dieser ganzen, un- verständlichen Welt erhellt wird; jene heitere und ge- segnete Gemütsart, worin die Neigungen uns sanft ge- leiten, bis der Atem dieser körperlichen Gestalt und selbst die Wallung unsers menschlichen Blutes beinahe stockt, unser Leib einschläft und wir eine lebendige Seele erhalten; während wir mit einem Auge, das be- ruhigt ist durch die Kraft der Harmonie und die tiefe Macht der Freude, dasLeben der Dinge durchschauen.“

Die heitere und gesegnete Gemütsart, die uns be- fähigt, das Leben der Dinge zu durchschauen, das ist erfinderische Vernunft, das ist der Geist des chine- sischen Volkes.

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DIE CHINESISCHE FRAU

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atthew Arnold sagte anläßlich eines der Bibel.ent-

11 were Beweisgrundes, der im Unterhause vor- gebracht worden war, um das Gesetz zu unterstützen, das einem Mann gestatten sollte, die Schwester seiner verstorbenen Frau zu heiraten: ‚‚Wer möchte bei rich- tiger Erwägung der Sache glauben, daß, wenn die weibliche Natur, das weibliche Ideal und unsre Be- ziehungen zu ihm in Frage gebracht werden, der zart- fühlende und schnellfassende Geist der indo-europäi- schen Rasse, der Rasse, die die Musen, die Ritterschaft und die Madonna erfand, ihr letztes Wort in dieser An- gelegenheit in der Einrichtung eines semitischen Vol-. kes finden müsse, dessen weisester König siebenhun- dert Frauen und dreihundert Beischläferinnen hatte?“ Die beiden Worte, weibliches Ideal, brauche ich für meinen Zweck von der obigen, langen Anführung. Was ist nun das Ideal der weiblichen Natur für das chine- sische Volk, und wie sind seine Beziehungen zu ihm? Mit aller Achtung vor Matthew Arnold und seiner indo-europäischen Rasse möchte ich aber, ehe ich fort- fahre, hier erwähnen, daß das semitische weibliche Ideal kein so abscheuliches ist, wie Matthew Arnold es aus der Tatsache folgern möchte, daß sein weisester König eine Menge Frauen und Beischläferinnen hatte. Denn das weibliche Ideal des alten, hebräischen Volkes finden wir in seiner Literatur folgendermaßen beschrie- ben: „Wem ein tugendsam Weib bescheret ist, die ist viel edler denn die köstlichsten Perlen. Ihres Mannes

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Herz darf sich auf sie verlassen, und Nahrung wird ihm nicht mangeln. Sie stehet vor Tags auf und gibt Speise ihrem Haus und Essen ihren Dirnen. Sie streckt ihre Hand nach dem Rocken, und ihre Finger fassen die Spindel. Sie fürchtet ihres Hauses nicht vor dem Schnee; denn ihr ganzes Haus hat zwiefache Kleider. Sie macht ihr selbst Decken, feine Leinwand und Purpur ist ihr Kleid. Sie tut ihren Mund auf mit Weisheit und auf ihrer Zunge ist holdselige Lehre. Sie schauet, wie es in ihrem Hause zugehet, und isset ihr Brot nicht mit Faulheit. Ihre Söhne stehen auf und preisen sie selig; ihr Mann lobet sie.“

Das ist, denke ich, schließlich kein so abscheuliches, schlechtes Ideal. Es ist natürlich nicht so ätherisch wie die Madonna und die Musen, die weiblichen Ideale der indo-europäischen Rasse. Diese sind allerdings nur da- zu geeignet, als Bilder in den Zimmern zu hängen, gibt man aber den Musen einen Besen in die Hand oder schickt die Madonna in die Küche, so kann man sicher sein, die Zimmer unaufgeräumt zu finden und wird wahrscheinlich des Morgens überhaupt kein Frühstück erhalten. Konfuzius sagt: ‚‚Das Ideal ist nicht entfernt von der Wirklichkeit des menschlichen Lebens. Wenn die Menschen etwas entfernt von der Wirklichkeit des menschlichen Lebens zum Ideal nehmen so ist das nicht das wahre Ideal.‘ Mit der Madonna und den Musen kann man das hebräische Weibesideal zwar nicht vergleichen, wohl aber mit dem modernen euro-

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päischen Weibesideal, mit dem der indo-europäischen Rasse des heutigen Europa und Amerika.

Ich will nicht von den englischen Suffragetten spre- chen. Aber vergleichen wir das alte hebräische Weibes- ideal mit dem, das man in modernen Romanen findet, zum Beispiel mit der Heldin von Dumas’ Kamelien- dame. Es ist vielleicht interessant, nebenbei zu er- fahren, das von allen Büchern der europäischen Lite- ratur, die ins Chinesische übersetzt worden sind, deı Roman von Dumas mit der Madonna aus dem Schlamm als höchstes Frauenideal den stärksten Verkauf und Erfolg im heutigen China erzielt hat. Dieser französi- - sche Roman, der auf chinesisch Cha-hua-nu heißt, ist sogar dramatisiert und an allen modernen chinesi- schen Theatern auf die Bühne gebracht worden. Wenn man nun das Ideal der semitischen Rasse, das. Weib, das ‚‚ihres Hauses nicht fürchtet vor dem Schnee, weil ihr ganzes Haus zwiefache Kleider hat“ vergleicht mit dem der modernen indo-europäischen Rasse, mit der Kameliendame, die keinen Haushalt hat und nur sich selbst in Purpur kleidet und sich mit einer Kamelien- blüte an der Brust photographieren läßt, dann erkennt man den Unterschied zwischen wahrer und falscher Zivilisation, Flitterzivilisation.

Nein, selbst wenn man das semitische Frauenideal, das Weib, ‚‚das seine Hand nach dem Rocken streckt und dessen Finger die Spindel fassen, das schauet, wie es in seinem Hause zugeht, und nicht ißt sein Brot mit

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Faulheit,‘ vergleicht mit der modernen chinesischen Frau, die ihre Hände streckt nach dem Klavier und deren Finger einen großen Blumenstrauß fassen, die, gekleidet in ein knapp sitzendes, gelbes Kleid, mit einem Flittergoldband um den Kopf sich zeigt und vor einer gemischten Menge in der konfuzianischen Vereinshalle singt, wird man erfahren, wie rasch und weit das mo- derne China von wahrer Zivilisation abtreibt. Denn die Weiblichkeit einer Nation ist der Gradmesser der Zi- vilisation dieser Nation.

Das chinesische Weibesideal ist im wesentlichen das- selbe wie das alte hebräische mit einem, später zu be- sprechenden, wichtigen Unterschied. Es ist kein Ideal, das nur als Wandschmuck dient, oder das zu ver- ehren und liebkosen ein Mann sein ganzes Leben zu- bringt. Es ist vielmehr ein Ideal mit dem Besen in der Hand, um die Zimmer auszukehren und zu säubern. Tatsächlich ist das chinesische Schriftzeichen für ein Weib aus zwei Wurzeln zusammengesetzt; die eine be- deutet eine Frau und die andere einen Besen. Im klas- sischen Chinesisch, in dem, was ich das amtliche, uni- formierte Chinesisch genannt habe, wird das Weib ‚‚die Hüterin der Vorratskammer“‘ genannt, eine Herrin der Küche. In der Tat ist das Frauenideal aller Völker mit einer wahren, keiner Flitterzivilisation, sowie dasaltehe- bräische, das alte griechische und das alte römische, we- sentlich dasselbe wie das chinesische, nämlich die Haus- frau, the house wife, la dame de menage oder chätelaine.

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Das uns aus früherer Zeit überlieferte chinesische Frauenideal wird zusammengefaßt in drei Stufen des Gehorsams und vier Tugenden. Diese vier Tugenden sind: erstens weiblicher Charakter, zweitens weibliche Unterhaltung, drittens weibliche Erscheinung und zu- letzt weibliche Arbeit. Weiblicher Charakter bedeutet nicht außergewöhnliche Begabungen oder Verstand, sondern Bescheidenheit, Frohsinn, Keuschheit, Be- ständigkeit, Ordnungssinn, tadelloses Betragen und vollkommenen Anstand. Weibliche Unterhaltung heißt nicht Beredsamkeit oder glänzendes Gespräch, son- dern verfeinerte Auswahl der Worte, niemals gemeine - oder heftige Reden führen, wissen, wann zu reden und wann zu schweigen. Weibliche Erscheinung bedeutet nicht Schönheit oder Nettigkeit des Gesichts, sondern persönliche Sauberkeit und Fehlerlosigkeit in Kleidung und Gewohnheiten. Schließlich heißt weibliche Arbeit nicht irgend eine besondere Fertigkeit oder Fähigkeit, sondern emsige Aufmerksamkeit für die Spinnstube, niemals Zeit vergeuden mit Lachen und Kichern, und Küchenarbeit, um reine und gesunde Nahrung zu be- reiten, besonders, wenn Gäste im Hause sind. Dies sind die vier Hauptsachen für die Lebensführung einer Frau, wie sie in den ‚„‚Lehren für Frauen“ niedergelegt sind, geschrieben von T’sao Ta Ku oder Lady T’sao, der Schwester des großen Geschichtsschreibers Pan Ku von der Han-Dynastie.

Die drei Gehorsamsstufen beim chinesischen weib-

8 KuHung-Ming, Ceist des chines, Volkes TEZ

lichen Ideal bedeuten in Wirklichkeit drei Selbstauf- opferungen oder ‚für andre leben‘. Das soll heißen, daß die unverheiratete Frau für den Vater und die verheiratete für den Gatten leben soll; und die Witwe muß für die Kinder leben. Der Hauptzweck der Frau in China ist tatsächlich nicht, für sich selbst oder die Gesellschaft zuleben, auchnicht Reformatorin. oder Vor- sitzende des Vereins für natürliche weibliche Füße zu sein, noch selbst als Heilige zu leben oder der Welt Gutes zu tun; sondern eine gute Tochter, gute Mutter oder gute Ehefrau zu sein.

Eine ausländische, befreundete Dame schrieb mir einst und fragte, ob es wahr sei, daß wir Chinesen wie die Mohammedaner glauben, daß eine Frau keine Seele habe. Ich antwortete ihr, daß wir das nicht annehmen, daß wir aber daran festhalten, daß eine wahre Chinesen- frau kein Selbst habe. Dieses Sprechen von dem ‚‚kein Selbst‘ der Chinesin führt mich nun dazu, einige Worte über einen Gegenstand zu sagen, der nicht nur sehr schwer, sondern, wie ich fürchte, für Leute mit moderner europäischer Erziehung beinahe unmöglich zu verste- hen ist, nämlich über das Konkubinat in China. Es ist nicht nur ein schwieriger, sondern sogar ein gefähr- licher Gegenstand zu öffentlicher Besprechung. Aber wie der englische Dichter sagt: ‚Darum stürzen sich Toren hin, wo sich Engel hinzutreten fürchten.“

Ich will mein Bestes tun, zu erklären, wieso das Kon- kubinat in China keine so unmoralische Sitte ist, wie

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die Leute gewöhnlich glauben. Die Selbstlosigkeit der chinesischen Frau macht es nicht nur möglich, sondern auch nicht unmoralisch. Das Konkubinat bedeutet nicht, viele Ehefrauen zu haben. Gesetzlich ist dem Mann in China nur erlaubt, eine Frau zu haben, aber er darf so viele Dienerinnen oder Beischläferinnen ha- ben, wie er will. Im Japanischen wird eine Dienerin oder Beischläferin Ze-Raki, wörtlich ‚‚ein Gestell für die Hand‘ oder me-kakt, wörtlich ‚‚ein Gestell für die Augen,‘ genannt, das heißt, ein Gestell, worauf die Augen oder Hände ruhen können, wenn man müde ist. Ich sagte, daß in China das Ideal für ein Weib ist, un- - bedingt und selbstlos für seinen Gatten zuleben. Wenn daher ein Kranker oder geistig und körperlich überar- beiteter Mann eine Dienerin, ein ‚‚Ruhekissen oder eine Augenweide‘“ braucht, die ihn befähigt, gesund zu wer- den, und ihn für seine Lebensarbeit tüchtig macht, so wird die Frau in China in ihrer Selbstlosigkeit sie ihm geben, wie eine gute Frau in Europa oder Amerika ihrem Mann einen Armstuhl oder Geisenmilch geben wird, wenn er krank ist und danach verlangt. So ist es tatsächlich die Selbstlosigkeit, das Pflichtgefühl, die Pflicht der Selbstaufopferung des Weibes in China, die dem Mann erlaubt, Dienerinnen oder Beischläferinnen zu haben.

Auf die Frage mancher Leute, warum Selbstlosigkeit und Opfermut nur von der Frau verlangt werden, ant- worte ich: Bringt der Ehemann nicht auch Opfer, der

8°. LER

sich quält und plagt, um seine Familie zu erhalten, und besonders, wenn er ein Ehrenmann ist, der seine Pflicht nicht nur gegen seine Familie, sondern auch gegen sei- nen König und sein Vaterland zu erfüllen hat, wobeier mitunter sogar sein Leben Ringeben muß? Der Kaiser Kanghsi sagte in einer aufseinem Totenbette ausgege- benen Abschiedsverordnung, ‚daß er bisher noch nicht gewußt habe, welch aufopferndes Leben ein Kaiser von China führen müsse.‘ Und doch haben die Herren ]. B. Bland und Blackhouse in ihrem letzten Buch den Kaiser Kanghsi beschrieben als einen ungeheuren, hilf- losen, abscheulichen Lüstling, der durch die Unmenge seiner Weiber und Kinder ins Grab gezogen worden sei. Aber für moderne Menschen wie die Herren J.B. Bland und Blackhouse ist natürlich das Konkubinat nur als etwas Abscheuliches, Nichtswürdiges und Schmutziges begreiflich, weil ihre krankhafte Einbil- dungskraft sonst nichts fassen kann. Aber betonen möchte ich noch, daß das Leben jedes wahren Mannes vom Kaiser herab bis zum Rickshakuli und jeder wahren Frau ein Leben der Aufopferung ist. Das Opfer der Frau ist, selbstlos für ihren Gatten zu leben, und das Opfer des Mannes ist, die Frauen, die er in sein Haus genommen hat, und auch die von ihnen gebo- renen Kinder zu versorgen und um jeden Preis zu schützen. Leuten, die von der Unmoral des chinesischen Konkubinats reden, möchte ich sagen, daß für mich der chinesische Mandarin, der Nebenfrauen hält, weniger

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selbstsüchtig, weniger unmoralisch ist, als der Euro- päer in seinem Kraftwagen, der eine hilflose Frau von der öffentlichen Straße aufliest und sie, nachdem er sich eine Nacht mit ihr vergnügt hat, wieder auf das Pflaster zurückwirft. Der Mandarin mag selbstsüchtig sein, aber er sorgt schließlich für ein Haus für seine Kebsweiber und hält sich sein Leben lang für verant- wortlich für ihren Unterhalt. Wenn der Mandarin selbstsüchtig ist, so ist der Europäer in seinem Kraft- wagen ein Feigling. Ruskin sagt: „Die Ehre eines wahren Soldaten ist gewiß nicht, daß er umzubringen fähig ist, sondern daß er jederzeit willens und bereit | ist, umgebracht zu werden.‘ Ebenso sage ich, daß die Ehre einer wahren Chinesenfrau nicht nur darin be- steht, ihren Gatten zu lieben und ihm treu zu sein, son- dern auch unbedingt selbstlos für ihn zu leben. Die Religion der Selbstlosigkeit ist tatsächlich die Religion der Frau, besonders der vornehmen Frau oder Dame in China, so wie die Religion der Treue die ich an- derswo zu erläutern versucht habe die Religion des Mannes, des Ehrenmannes (gentleman) in China ist. Ehe Ausländer diese beiden Religionen verstehen, können sie nie den wirklichen Chinesen und die wirk- liche Chinesin begreifen.

Man wird weiter fragen, wie es mit der Liebe steht, ob ein Mann, der seine Frau wahrhaft liebt, das Herz haben kann, andre Frauen neben ihr in seinem Hause zu haben? Ja, warum nicht? ist meine Antwort. Die

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wirkliche Liebesprobe für einen Mann ist doch nicht, daß er sein ganzes Leben seiner Frau zu Füßen liegt und sie liebkost. Der wahre Prüfstein seiner Liebe ist, ob er besorgt um sie ist und in allen Dingen vernünftig danach trachtet, sie nicht nur zu beschützen, sondern auch ihre Gefühle nicht zu verletzen. Ohne die Reli- gion der Selbstlosigkeit müßte es die Gefühle einer Ehe- frau verletzen, wenn der Mann eine fremde Frau ins Haus nimmt. Aber die Selbstlosigkeit der chinesischen Frau ermöglicht, erlaubt es dem Gatten, eine Neben- frau zu nehmen, ohne seine Gattin zu beleidigen. Hier möchte ich noch besonders darauf hinweisen, daß ein Ehrenmann, ein wirklicher Gentleman, niemals ohne die Einwilligung seiner Frau eine Beischläferin nehmen wird, so wenig wie eine vornehme Frau, eine wirkliche Dame, je ihre Erlaubnis dazu verweigert. Ich weiß meh- rere Fälle, wo der Mann, da keine Kinder da waren, nach dem mittleren Alter den Wunsch hatte, eine Ne- benfrau zu nehmen, aber davon abstand, weil die Frau die Einwilligung dazu verweigerte. Ich weiß sogar einen Fall,wo der Mann, weiler diesen Beweis der Aufopferung von seiner Frau, die kränklich war, nicht verlangen wollte, sich trotz des Drängens seiner Frau weigerte, eine Beischläferin zu nehmen. Aber seine Frau kaufte nicht nur ohne sein Wissen und seine Erlaubnis eine Konkubine, sondern zwang ihn tatsächlich, dieselbe ins Haus zu nehmen. Der Schutz der Ehefrau gegen das Konkubinat ist tatsächlich die Liebe ihres Gatten

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zu ihr. Weil also der Mann inChina seine Frau so wahr- haft liebt, hat er das Vorrecht und die Freiheit, Bei- schläferinnen zunehmen. Diese Freiheit, dieses Vorrecht werden mitunter und sogar wenn das Ehrgefühl der Männer wie jetzt im anarchistischen China gering ist oft mißbraucht. Trotzdem ist der Schutz der chinesi- schen Frau die Liebe ihres Gatten zu ihr und sein Takt, der vollkommene gute Geschmack des wirkli- chen chinesischen Ehrenmannes. Ich bezweifle, ob in Europa oder Amerika ein Mann unter tausend mehr als eine Frau in demselben Haus halten könnte, ohne dieses in einen Hahnenkampfplatz oder eine Hölle zu verwandeln. Kurz, der Takt, der vollkommene gute Geschmack des wirklichen chinesischen Ehrenmannes macht es möglich, daß er, ohne seine Frau zu verletzen, eine Dienerin, ein ‚Ruhekissen oder eine Augenweide“ ins Haus nehmen kann.

Ich könnte eine Fülle von Beweisen aus der chinesi- schen Geschichte und Literatur dafür beibringen, daß die Ehemänner in China ihre Frauen wahrhaft und innig lieben. Besonders gern möchte ich zu diesem Zweck eine Elegie hier anführen und übersetzen, die Yuan Chen über den Tod seiner Frau verfaßte, ein Dichter aus der T’ang-Dynastie. Unglücklicherweise ist aber das Gedicht zu lang, um in diesem Aufsatz an- geführt zu werden. Jene indessen, die Chinesisch ver- stehen und wissen möchten, wie innig die Zuneigung wahre Liebe, nicht geschlechtliche Leidenschaft, die in

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modernen Zeiten oft irrtümlich für Liebe genommen wird eines Ehemannes in China zu seiner Frau ist, sollten diese Elegie lesen, die in jeder gewöhnlichen Sammlung der T’ang-Dichter zu finden ist. Ihr Titel lautet: ‚Zeilen, um das schmerzende Herz zu erleich- tern.‘ Hier will ich statt dessen nur ein kurzes Gedicht von vier Zeilen wiedergeben von einem modernen Dich- ter, der einst Sekretär des verstorbenen Vizekönigs Chang Chih-tung war. Der Dichter ging zusammen mit seiner Frau im Gefolge des Vizekönigs nach Wuchang, und nach vieljährigem dortigem Aufenthalt starb seine Frau. Das Gedicht schrieb er bei seinem kurz darauf erfolgenden Abschied von Wuchang. Die Bedeutung des Gedichts ist ungefähr diese:

Dieser Kummer ist allen gemeinschaftlich;

Wie viele können hundert Jahre erreichen?

Äber es ist herzbrechend, o ihr Wasser des Yangise,

Wir kamen zusammen her, aber zusammen kehren wir nicht zurück.

Das Gefühl ist hier noch tiefer, der Worte sind we- niger und die Sprache ist einfacher noch als die von Tennyson:

Brich, Brich, Brich An deinen kalten, grauen Steinen, o See!

Ich klage über die Berührung einer entschwundenen Hand'

Und den Klang einer Stimme, die still ist. Ich glaube kaum, daß ein Zeugnis notwendig ist, um die Liebe einer chinesischen Frau zu ihrem Ehegatten zu beweisen. Es ist wahr, daß sich in der Regel ein chinesisches Brautpaar nicht sieht bis zu seinem Hoch-

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zeitstage, daß aber trotzdem Liebe zwischen ihnen besteht, kann aus diesen vier Gedichtzeilen aus der

T’ang-Dynastie ersehen werden.

In der Brautkammer standen vorige Nacht rote Kerzen,

Auf den Morgen wartend, um Vater und Mutter in der Halle zu begrüßen,

Die Toilette beendet fragt sie mit leiser Stimme ihren herzliebsten Gatten:

„sind auch die Schatten in meinen gemalten Augenbrauen ganz nach der Mode?“

Um das .Obige verständlich zu machen, muß ich hier einiges über die Heirat in China sagen. Bei jeder gesetzlichen Eheschließung gibt es in China sechs Förm- lichkeiten; erstens: das Fragen nach dem Namen, das ist der förmliche Antrag. Zweitens: das Empfangen der seidenen Geschenke, das ist das Verlöbnis. Drittens: das Festsetzen des Hochzeitstages. Viertens: das Ab- holen der Braut. Fünftens: die Ausgießung des Trank- opfers vor den wilden Gänsen, das ist das Schwören der Treue, so ‘genannt, weil man die wilden Gänse für die treuesten in der ehelichen Liebe hält; sechstens: die Vorstellung im Tempel. Von diesen sind die letzten bei- den die wichtigsten, weshalb ich sie in ihren Einzel- heiten beschreiben muß.

Die vierte Zeremonie, das Abholen der Braut, wird heutzutage ausgenommen in meiner Provinz Fu- kien, wo wir die alten Bräuche beibehalten gewöhn- lich erlassen, weil sie zu viel Mühe und Kosten für die Familie der Braut mit sich bringt. Jetzt wird die Braut in das Haus des Bräutigams gesandt, wo sie der

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Bräutigam am Tor empfängt, selbst die Tür der bräut- lichen Sänfte öffnet und die Braut in die Halle seines Hauses geleitet. Dort preisen sie Himmel und Erde, daß heißt, sie fallen auf die Knie nieder, die Gesichter der Tür der Halle zugekehrt, vor der ein Tisch zwei brennende rote Kerzen unter freiem Himmel trägt, und dann schüttet der Bräutigam das Trankopfer auf den Boden in Gegenwart des Paares wilder Gänse, welche die Braut mitgebracht hat. (Wenn wilde Gänse nicht zu haben sind, werden gewöhnliche Gänse genommen.) Dies ist die Tien yen genannte Zeremonie, die Ausgie- Bung des Trankopfers vor den wilden Gänsen. Der Treueschwur zwischen Mann und Frau geht so vor sich: er gelobt ihr treu zu sein, und sie gelobt ihm das- selbe, genau so ehrlich wie das Paar wilder Gänse vor ihnen. Von nun an sind sie sozusagen natürliche, nur durch Herzensliebe verbundene Eheleute, nur durch das Moralgesetz, das Gesetz für den Ehrenmann, das Ehren- wort, das sie einander gegeben haben, gebunden, aber noch nicht durch das Zivilgesetz. Diese Zeremonie kann daher die moralische oder religiöse Heirat genannt werden.

Danach kommt die gegenseitige Begrüßung. Die Braut, die auf der rechten Seite der Halle steht, begibt sich zuerst auf den Knien vor ihren Bräutigam, wäh- rend er sich ihr gleichzeitig auf den Knien nähert. Dann wechseln sie die Plätze. Der Bräutigam, der nun da steht, wo die Braut war, begibt sich auf den Knien

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zu ihr und sie erwidert den Gruß genau so, wie er es machte. Diese Feierlichkeit des chiao pat, der gegen- seitigen Begrüßung, beweist über jeden Zweifel, daß in China vollkommene Gleichheit zwischen Mann und Frau herrscht.

Die bürgerliche Heirat folgt erst drei Tage nach dem, was ich die moralische oder religiöse Eheschlie- Bung genannt habe. Durch diese werden Mann und Frau Eheleute vor dem Moralgesetz vor Gott. So weit besteht der Vertrag allein zwischen ihnen bei- den. Der Staat, oder da in China die Familie im ganzen sozialen und bürgerlichen Leben die Stelle des _ Staates einnimmt, der Staat handelt nur als Berufungs- gericht die Familie nimmt keine Kenntnis davon. Bis am dritten Tag der Ehe die bürgerliche Heirat stattfindet, wird die Braut nicht nur in die Familie des Bräutigams nicht eingeführt, es ist ihr auch verboten, die Glieder’dieser Familie zu sehen oder von ihnen ge- sehen zu werden.

So leben Braut und Bräutigam in China zwei Tage und zwei Nächte lang sozusagen nicht als gesetzliche Eheleute, sondern als Liebespaar. Am dritten Tag kommt dann die letzte Feierlichkeit bei der chinesi- schen Eheschließung, die miao-chien, die Vorstellung im Tempel oder die bürgerliche Heirat. Ich sage am dritten Tag, denn das ist dem Buch der Gebräuche zu- folge die genaue Regel. Um Mühe und Kosten zu sparen, wird sie aber jetzt meist auf den folgenden Tag

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verlegt. Die Vorstellung im Tempel findet natürlich, wenn der den Ahnen geweihte Tempel des Familien- stammes in der Nähe ist, dort statt. Ist dies wie in den Städten nicht der Fall, dann wird die Zeremonie vor dem Miniaturahnenaltar oder - schrein ausgeführt, der im Haus einer jeden anständigen chinesischen Fa- milie, selbst der ärmsten, vorhanden ist. Dieser Ahnen- tempel, Altar oder Schrein, mit einer Tafel oder einem Stück roten Papiers an der Mauer, ist, wie ich anders- wo gesagt habe, die Kirche der Staatsreligion des Konfuzius, die der Kirche in christlichen Ländern ent- spricht.

Diese Feierlichkeit die Tempelvorstellung be- ginnt, indem der Vater des Bräutigams oder in dessen Ermangelung das nächstälteste Glied der Familie sich auf den Knien vor die Ahnentafel begibt und so den Geistern der toten Vorfahren anzeigt, daß ein junges Familienglied ein Weib heimgebracht hat. Dann be- geben sich Bräutigam und Braut eines nach dem an- dern auf den Knien vor dieselbe Ahnentafel. Von nun an sind sie Eheleute, nicht nur vor dem Moralgesetz, vor Gott, sondern auch vor der Familie, dem Staat, dem bürgerlichen Gesetz. Deshalb nannte ich diese Ze. remonie die bürgerliche oder Zivilheirat. Vor derselben ist die Braut, die Frau dem Buch der Gebräuche zufolge keine gesetzliche Ehegattin. Stirbt sie vor der Tempelvorstellung, dann darf sie nicht auf dem Begräbnisplatz der Familie ihres Mannes begraben

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werden, und ihreGedenktafel wird nicht in dem Ahnen- tempel seines Familienstammes aufgehängt.

Der Ehevertrag besteht also, wie wir sehen, nicht zwischen dem Mann und der Frau, sondern zwischen der Frau und der Familie ihres Mannes. Sie ist nicht mit ihm verheiratet, sondern hat ın seine Familie ge- heiratet. Auf der Vermählungsanzeige einer chinesi- schen Dame steht zum Beispiel nicht: Mrs. Ku Hung- Ming, sondern wörtlich ‚Miß Feng, die in das Heim der von Tsin An stammenden Familie übergegangen ist, hat sich eingerichtet.‘ Der zwischen der Frau und der Familie ihres Mannes geschlossene Vertrag kann . ohne die Einwilligung dieser Familie nicht umge- stoßen werden. Das ist der grundlegende Unterschied zwischen einer chinesischen und einer europäischen oder amerikanischen Ehe. Letztere sind, was wir Chi- nesen Liebesheiraten nennen würden, Ehen zwischen dem individuellen Mann und der individue,len Frau nur durch die Liebe gebunden. In China aber nimmt die Frau durch die Heirat, die ein Vertrag zwischen ihr und der Famtlie ihres Mannes ist, Verpflichtungen nicht nur gegen ihn, sondern auch gegen seine Fa- milie auf sich und dadurch gegen die Gesellschaft, gegen die gesellschaftliche und bürgerliche Ordnung, in der Tat gegen den Staat. Diese bürgerliche Auf- fassung der Heirat verleiht der Familie, der gesell- schaftlichen und bürgerlichen Ordnung, dem Staat Dauerhaftigkeit und Festigkeit. Und ehe die Völker

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Europas und Amerikas verstehen, was wahres bürger- liches Leben bedeutet, ehe sie eine Vorstellung davon haben, was es heißt, wirklich ein Bürger zu sein, wo- bei nicht jeder für sich selber, sondern zuerst für die Familie und dadurch für die bürgerliche Ordnung oder den Staat lebt, kann dort nicht so etwas wie eine dauerhafte Gesellschaft, bürgerliche Ordnung oder ein Staat im wahren Sinn des Wortes bestehen. Ein Staat, wie wir ihn heute in Europa und Amerika sehen, wo die Männer und Frauen keine wahre Vorstellung vom bürgerlichen Leben haben, mag mit seinem ganzen Par- lament und seinem Regierungsapparat eine große Handelsgemeinschaft genannt werden oder, was er in Kriegszeiten wirklich ist, eine Horde von Räubern und Piraten aber kein Staat. Es mag mir erlaubt sein, es hier zu sagen, die falsche Vorstellung eines Staates als große Handelsgemeinschaft, die nur die selbstsüch- tigen materiellen Interessen derer zu wahren hat, die die größten Geldeinlagen bei dem Geschäft haben, ist im Grunde die Ursache des schrecklichen Krieges, der jetztin Europa tobt. Wie kann aber ohne einen wahren Staat die Zivilisation bestehen? Für uns Chinesen kann

ein Mann, der nicht heiratet, der keine Familie, kein.

Heim hat, das er verteidigen muß, kein Patriot sein, und wenn er sich selbst so nennt, so nennen wir ihn einen Räuberpatrioten.

Aber um von dieser Abschweifung zurückzukom- men, kann man sich nun ausmalen, wie die Geliebte

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und Gattin auf den Morgen wartet, um die Eltern ihres Mannes zu begrüßen und nach beendeter Toilette mit leiser Stimme ihrem Geliebten und Gatten zuflüstert und ihn fragt, ob ihre Augenbrauen ganz nach der Mode gemalt sind? Hier sieht man, sage ich, daß zwi- schen den Eheleuten in China, obwohl sie einander vor der Heirat nicht gesehen haben, selbst am dritten Tag der Ehe Liebe besteht. Noch innigere Liebe drückt sich in diesen beiden Gedichtzeilen einer Frau an ihren abwesenden Gatten aus:

„Am Tag, wenn du heimzukehren gedenkst,

Ach, dann wird mein Herz schon gebrochen sein.“ Rosalinde sagt in Shakespeares „Wie es euch ge- fällt‘‘ zu ihrer Muhme Celia: ‚Oh Mühmchen, Mühm- chen! mein artiges kleines Mühmchen! Wüßtest du, wieviel Klafter tief ich in Liebe versenkt bin! aber es kann nicht ergründet werden, meine Zuneigung ist grundlos wie-die Bucht von Portugal.‘‘ Nun, gerade so wie die Liebe Rosalindens ist die gegenseitige Liebe eines Ehepaars in China, sie ist grundlos wie die Bucht von Portugal.

Aber nun will ich von dem Unterschied reden, der zwischen dem chinesischen und dem alten hebräischen weiblichen Ideal besteht. Der hebräische Liebhaber besingt in den salomonischen Liedern die Dame seines Herzens folgendermaßen: ‚Du bist schön, meine Freundin, wie Thirza, lieblich wie Jerusalem, schreck- lich wie Heerscharen.‘‘ Leute, die schöne dunkeläugige

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Jüdinnen selbst heutzutage gesehen haben, werden die Wahrheit und genaue Schilderung dieses Bildes aner- kennen, das der althebräische Liebhaber hier vom Weibesideal seiner Rasse gibt. Im chinesischen Frauen- ideal ist aber, das möchte ich betonen, nichts Schreck- liches, weder im körperlichen noch im moralischen Sinn. Sogar die Helena der chinesischen Geschichte, die Schönheit, die mit einem Blick eine Stadt zum Un- tergang bringt und mit einem andern ein Königreich zerstört, ist nur im übertragenen Sinn schrecklich. In meinem Aufsatz über den ‚‚Geist des chinesischen Vol- kes‘ sagte ich, daß man den ganzen Eindruck, den der chinesische Menschentypus macht, zusammenfassen kann in das eine Wort ‚‚gentle‘“ (freundlich). Noch besser als auf den Chinesen paßt das auf die Chinesin. Diese ‚‚Gentleness‘“ (Freundlichkeit) des Chinesen wird bei der Chinesin zur süßen Sanftmut. Die Sanftmut, die Demut der chinesischen Frau gleicht der der Eva in Miltons Verlorenem Paradies, die zu ihrem Gatten sagt:

„Gott ist dein Gesetz, du das meine; nicht mehr zu wissen, Ist glücklichstes Wissen und Ruhm des Weibes.‘‘

Beim weiblichen Ideal keines andern Volkes, keiner andern Zivilisation, ob Hebräer, Griechen oder Römer, wird man diese Eigenschaft vollkommenster Demut wiederfinden. Nur in der christlichen Zivilisation in der Renaissancezeit zeigt sich auch diese göttliche Sanft- mut, die das chinesische Frauenideal auszeichnet. Aus der schönen Geschichte der Griselda in Boccaccios

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Decamerone und dem dort geschilderten wahren christ- lichen weiblichen Ideal kann man verstehen, was diese vollkommene Unterwürfigkeit, diese göttliche Demut bis zu einem Grad unbedingter Selbstlosigkeit bedeu- tet. Diese Eigenschaft teilt das wahre christliche Frauenideal mit dem chinesischen, es besteht nur ein Schatten von Unterschied. Bei sorgfältigem Vergleich des christlichen Madonnenbildess nicht mit dem Buddhisten Kuan Yin sondern mit den Bildern weiblicher Feen und Genien von berühmten chinesi- schen Künstlern gemalt, wird man diesen Unterschied erkennen. Beide sind demütig und ätherisch, aber das . chinesische ist mehr als das, es ist freuherzig (debo- nair). Um sich vorzustellen, welcher Reiz und welche Anmut in diesem Wort zum Ausdruck kommen, muß man zu den alten Griechen gehen: o ubi campi Spercheosque et virginibus bacchata Lacaenis Taygeta!

In der Tat, bis zu den thessalischen Feldern und den Strömen des Spercheios, zu den durch die Tänze laze- dämonischer Mädchen belebten Hügeln zu den Tay- getushügeln muß man gehen!

Seit der Periode der Sung-Dynastie (960), seitdem das, was man den konfuzianischen Puritanismus der Sung-Philosophen nennen könnte, den Geist des Kon- fuzianismus, den Geist der chinesischen Zivilisation einengte, verhärtete und vulgarisierte, hat auch in China

9 KuHung-Ming, Geist des chines. Volkes I29

die Weiblichkeit viel von ihrem Reiz und ihrer An- mut eingebüßt. Wenn man also diese Eigenschaften des wahren chinesischen weiblichen Ideals zu sehen wünscht, muß man nach Japan gehen, wo die Frauen bis ins kleinste die reine chinesische Zivilisation der T’ang-Dynastie bis zum heutigen Tag bewahrt haben. Anmut und Reiz, verbunden mit dieser göttlichen De- mut und Treuherzigkeit, geben der japanischen Frau, selbst der ärmsten, heute noch dieses distinguierte Aus- sehen.

Im Zusammenhang damit möchte ich einige Worte von Matthew Arnold anführen, mit welchen er das protestantische englische Frauenideal ‚aus Backstein und Mörtel‘ dem zartfühlenden katholischen französi- schen gegenüberstellt. Indem er Eugenie de Gu£rin, die geliebte Schwester des französischen Dichters Mo- ritz de Gu£rin, mit einer englischen, Gedichte verfas- senden Frau, Miß Emma Tatham, vergleicht sagt er: Die französische Frau ist eine Katholikin aus der Languedoc; die Engländerin ist eine Protestantin aus Morgate. Morgate stellt ‚‚die Ziegel- und Mörtelhaftig- keit‘ des englischen Protestantismus in seiner ganzen Prosa, Anmutslosigkeit und, lassen Sie mich hier zu- fügen, Gesundheit dar. Zwischen der äußern Form und Art dieser beiden Leben, den Weihnachtsbräuchen des katholischen Fräulein de Gu£rin in der Languedoc, ihrer Mooskapelle zur Österzeit, ihrem täglichen Lesen im Leben der Heiligen zwischen dem allen und den

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kahlen, blassen, engen englischen Satzungen von Miß Tathams Protestantismus, ihrer kirchlichen Vereini- gung mit den Frommen von ‚„Hawley Square, Mor-

gate,‘“ ihrem sanften, süßen Gesang folgender, erre-

gender Zeilen:

Meinen Jesus zu kennen und sein Blut fließen zu fühlen

Ist ewiges Leben, ist der Himmel hienieden! mit ihren jungen Lehrerinnen aus der Sonntagsschule und ihrem ‚Mr. Thomas Rowe, einem ehrwürdigen Klassenlehrer‘‘, was für ein Unterschied! Im Grund dieser beiden Leben eine Ähnlichkeit, in all ihren Um- ständen welche Verschiedenheit! Verschiedenheit im | Unwesentlichen, Gleichgültigen, wird man sagen. Un- wesentlich ja! gleichgültig nein! Der wichtige Mangel an Anmut und Reiz in den Satzungen des reli- giösen Lebens des englischen Protestantismus ist nichts Gleichgültiges; es ist eine wirkliche Schwäche. Das eine solltet Ihr getan und das andere nicht gelassen haben.

Zuletzt möchte ich noch die wichtigste aller Eigen- schaften des chinesischen Frauenideals hervorheben, die es von dem weiblichen Ideal aller andern Völker und Nationen unterscheidet, die zwar auch alle diese Eigenschaft besitzen, soweit die Nation irgend An- spruch auf Zivilisation macht, aber nicht in so voll- kommener Entwicklung, wie man sie beim chinesischen Frauenideal findet. Diese Eigenschaft heißt chinesisch yu hsien, wasichin den ‚Lehren für Frauen‘ der Lady

g* 131

T’sao mit Bescheidenheit und Frohsinn übersetzte. Yu bedeutet wörtlich: zurückgezogen, abgesondert, ver- borgen, und hsien heißt wörtlich: gemächlich oder mit Muße. Von dem Wort yu gibt das deutsche Be- scheidenheit, Schamhaftigkeit nur eine schwache Vor- stellung. ‚„Sittsamkeit‘‘ kommt der Bedeutung etwas näher. Aber vielleicht gibt es das französische Wort „pudeur‘ am besten wieder. Diese Sudeur, diese Scham- haftigkeit, die durch das chinesische Wort yu ausge- drückte Eigenschaft, ist der Inbegriff aller Weibes- eigenschaften. Je mehr diese Eigenschaft bei einer Frau entwickelt ist, desto mehr Weiblichkeit, Fraulichkeit hat sie, desto mehr ist sie eine vollkommene, vorbild- liche Frau. Verliert hingegen eine Frau diese Eigen- schaft, so büßt sie ihre Weiblichkeit, ihre Fraulichkeit ein und verliert damit ihren Duft, ihren Schmelz und wird ein bloßes Stück Menschenfleisch. Diese Pudeur, diese Schamhaftigkeit ist es, die jede wahre chinesische Frau triebhaft empfinden und wissen läßt, daß es ver- kehrt ist, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen; daß es der chinesischen Vorstellung entsprechend unanstän- dig ist, auf eine Bühne zu treten und vor einer Menge in der Halle, selbst in der der konfuzianischen Gesell- schaft, zu singen. Kurz, diese yu hsien, diese Liebe zur Abgeschlossenheit, diese Empfindlichkeit gegen das „glänzende Tagesauge,‘“ diese $udeur im chinesi- schen Frauenideal gibt der wahren Chinesin so wie keiner andern Frau der Welt einen Duft, süßer als der

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Duft der Veilchen, den unaussprechlichen Wohlgeruch der Orchideen.

Im ältesten Liebeslied, glaube ich, der Welt, das ich vor zwei Jahren für die Pekinger Daily News über- setzte, im ersten Gedicht des Shin Ching oder dem Gedichtbuch, wird das chinesische Frauenideal so ge- schildert:

Die Vögel locken in der Luft;

‚Ein Inselchen am Flußufer.

Das Mädchen ist sanft und treuherzig, Würdig, unsers Fürsten Braut zu sein.

Die Worte yao !'iao haben dieselbe Bedeutung wie . yu hsien und bedeuten buchstäblich yao = abge- schlossen, sanft, scheu und fiao = anziehend, treu- herzig, und die Worte shu nu bedeuten ein rei- nes, keusches Mädchen oder eine Frau. So haben wir hier im ältesten chinesischen Liebeslied die drei wesentlichsten Eigenschaften des chinesischen Frauen- ideals, nämlich: Liebe zur Zurückgezogenheit, Scham- haftigkeit oder Pudeur, wunaussprechliche Anmut und Reiz und zuletzt von allem Reinheit oder Keuschheit. Das also ist das chinesische Frauen- ideal.

Im konfuzianischen Katechismus, den ich als ‚‚Füh- rer durch das Leben‘ übersetzt habe, schließt der erste Teil, der die praktischen Lehren über Lebensführung enthält, mit folgender Schilderung eines glücklichen Heims:

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„Wenn Weib und Kinder in Eintracht wohnen,

Das ist wie wohltönendes Harfen- und Lautenspiel;

Wenn Brüder in Einigkeit und Frieden leben,

Wird die Harmonie niemals aufhören;

Macht so euer Heim stets froh und licht

Dann werden euer Weib und eure Lieben euer Entzücken sein.“

Dieses Heim in China ist der Himmel im kleinen, so wie der Staat mit seiner bürgerlichen Ordnung, das chinesische Reich, der wirkliche Himmel, das Reich Gottes auf Erden für das chinesische Volk ist. So wie der Ehrenmann (gentleman) in China mit seiner Re- ligion der Treue der Hüter des Staates, der bürger- lichen Ordnung ist, so ist die Frau, die vornehme Frau oder Dame mit ihrem treuherzigen, sanftmütigen Reiz, ihrer Anmut, ihrer Reinheit und dudeur, vor allem aber mit ihrer Religion der Selbstlosigkeit der Schutzengel des Himmels im kleinen, des chinesischen Heims.

EEE WG

EHE CEINFSISCHE SPRACHE:

lle Ausländer, die versucht haben, Chinesisch zu

lernen, sagen, daß es eine sehr schwere Sprache sei. Ehe wir entscheiden, ob Chinesisch wirklich eine schwie- rige Sprache ist, müssen wir uns darüber klar werden, daß es inChina zweiSprachen ich meine nicht Mund- arten gibt, nämlich die gesprochene und die ge- schriebene Sprache. Weiß nun jemand den Grund, war- um die Chinesen auf diesen beiden Sprachen bestehen ? Weil das Volk in China, so wie es seiner Zeit in Europa war, als Lateinisch die gelehrte oder Schriftsprache war, streng genommen in zwei ausgesprochene Klassen eingeteilt ist, die gebildete und die ungebildete. Die gesprochene oder Umgangssprache ist zum Gebrauch für die Ungebildeten und die Schriftsprache ist nur für die wirklich Gebildeten bestimmt. Auf diese Weise gibt es keine Halbgebildeten. Das ist der Grund, weshalb die Chinesen dabei beharren, zwei Sprachen zu haben. Die Folgen der Halbbildung sieht man deutlich im heu- tigen Europa und Amerika, wo, seit das Lateinische abgekommen ist, der scharfe Unterschied zwischen Um- gangs- und Schriftsprache verschwunden ist; seitdem ist eine Klasse Halbgebildeter erstanden, die das Recht hat, sich derselben Sprache wie die wirklich Gebildeten zu bedienen, die von Zivilisation, Freiheit, Neutralität, Militarismus und Panslawismus redet, ohne die wirk- liche Bedeutung dieser Worte im geringsten zu ver- stehen. Anstatt zu sagen, der preußische Militarismus sei eine Gefahr für die Zivilisation, wäre es meiner Mei-

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nung nach richtiger, die Halbgebildeten, die Rotte halbgebildeter Menschen in der heutigen Welt für die wirkliche Gefährdung der Zivilisation anzusehen.

Ist nun Chinesisch wirklich eine schwierige Sprache? Ja und nein. Um zuerst von der Umgangssprache zu reden, so ist diese nicht nur nicht schwer, sondern ver- glichen mit dem halben Dutzend mir bekannter Spra- chen die leichteste Sprache der Welt ausgenommen Malaiisch. Sie ist leicht, weil sie eine so einfache Spra- che ist ohne Kasus, ohne Tempus, ohne regelmäßige und unregelmäßige Zeitwörter; tatsächlich ohne Satz- lehre und ohne irgendwelche Regeln. Man hat mir aber schon eingewandt, gerade seine Einfachheit mache das Umgangschinesisch so schwer, aber das kann nicht wahr sein. Malaiisch ist eine ebenso einfache Sprache ohne Grammatik und Regeln, und trotzdem finden es Euro- päer nicht schwer zu lernen. An sich ist also die chinesi- sche Umgangssprache nicht schwer, sie ist nur für ge- bildete und besonders für halbgebildete Europäer, die nach China kommen, sehr schwer zu erlernen, weil sie dieSprache des Ungebildeten, des gänzlich ungebildeten Menschen ist, tatsächlich eine Kindersprache. Ein Be- weis dafür ist die bekannte Tatsache, daß europäische Kinder das Umgangschinesisch sehr leicht erlernen, während gelehrte Philologen und Sinologen auf der Ansicht bestehen, Chinesisch sei schwer. Das Umgangs- chinesisch ist eine Kindersprache, darum rate ich allen meinen ausländischen Freunden, die Chinesisch lernen

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möchten: ‚‚Werdet wie die Kindlein, dann werdet ihr nicht nur in das Himmelreich kommen, sondern auch fähig sein, Chinesisch zu lernen.“

Wir kommen nun zu der Schrift- oder Buchsprache, zum Schriftchinesisch. Auch da gibt es wieder verschie- dene Arten. Die Missionare ordnen sie in zwei Klassen und nennen sie leicht wen li und schwer wen li. Mei- ner Ansicht nach ist das aber keine befriedigende Ein- teilung. Sie sollte vielmehr so sein: geschriebenes Chi- nesisch in einfacher Kleidung, amtliches Chinesisch in Uniform und Chinesisch in voller Hoftracht. Oder la- teinisch: Zitera communis oder litera officinalis (ge- wöhnliches oder Geschäftschinesisch), litera classica minor (geringeres klassisches Chinesisch) und Litera classica major (höheres klassisches Chinesisch).

Viele Ausländer haben sich chinesische Gelehrte ge- nannt oder sind so genannt worden. Als ich vor einigen dreißig Jahren einen Aufsatz über ‚chinesische Gelehr- samkeit‘ für die N.C. Daily News schrieb ach ja, diese alten Tage von Shanghai, Tempora mutantur nos et multamur in iülis da sagte ich: „Unter Euro- päern in China berechtigt die Veröffentlichung einiger weniger Zwiegespräche in irgend einer provinzialen Mundart oder die Sammlung von hundert chinesischen Sprichwörtern auf einmal einen Menschen, sich einen chinesischen Gelehrten zu nennen.‘ „Ein Name,“ sagte ich, ‚kann natürlich keinen Schaden bringen und durch die Extraterritorialitätsbedingung im Vertrag

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kann sich ein Engländer in China straflos Konfuzius nennen, wenn es ihm Spaß macht.‘ Aber wieviele Aus- länder, die sich selbst chinesische Gelehrte nennen, ha- ben irgend eine Vorstellung davon, was für ein Ver- mächtnis von Zivilisation in diesem Teil der chinesi- schen Literatur aufgespeichert ist, den ich die classt- ca major, die Literatur in voller Hoftracht genannt habe? In ihr ist etwas, das, wie Matthew Arnold von den Dichtungen Homers sagt, ‚den rohen Naturmen- schen verfeinern, ihn verwandeln“ kann. Sie wird sogar eines Tages die rohen Naturmenschen, die jetzt als Patrioten in Europa kämpfen, aber mit den Kampf- instinkten wilder Tiere, umwandeln, sie in friedliche, sanfte Bürger verwandeln. Nun ist, wie Ruskin sagt, die Aufgabe der Zivilisation, aus der Menschheit bür- gerliche Personen zu machen, die sich von Roheit, Hef- tigkeit, Gewalttätigkeit und Kampflust lossagen. Aber kommen wir auf unsre Frage zurück, obSchrift- chinesisch wirklich eine schwere Sprache ist. Meine Antwort ist wieder, ja und nein. Ich sage, daß Schrift- chinesisch, selbst das, was ich das Chinesisch in voller Hoftracht genannt habe, nicht schwierig ist wegen sei- ner außerordentlichen Einfachheit. Ich möchte dasan einer zufällig herausgegriffenen Durchschnittsprobe be- weisen. Die Probe ist ein Vierzeiler aus den Gedichten der T’ang-Dynastie, der die Opfer beschreibt, die das chinesische Volk zu bringen hatte, um seine Zivilisa- tion gegen die wilden, halbzivilisierten, grimmigen

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Hunnen aus dem Norden zu schützen. Wort für Wort übersetzt lautet das Gedicht so:

„schwuren, Hunnen vertreiben, keine Selbstschonung, Fünftausend Mann, Stickerei, Zobel, liegen Staubwüste Ach Wutingufer, Gebeine Noch sind Frühlingszimmer, darin Menschen träumen.“ Eine freiere Übersetzung ergibt ungefähr folgenden Sinn: „Sie schwuren, die Heidenhorden von ihrem Heimatsboden zu vertreiben oder zu sterben. Fünftausend zobelbekleidete, betreßte Ritter liegen bereits tot in der Staubwüste. Ach, ihre weißen, kalten Gebeine bleichen schon weithin am Wutingstrom! Noch kommen und gehen sie heim wie lebende Menschen irgendwo in den Träumen der Geliebten.“

Beim Vergleich mit meiner ärmlichen, plumpen Über- tragung sieht man, wie klar in Worten und Stil, wie einfach im Gedankengang das chinesische Vorbild ist. Dabei #ef im Denken und Gefühl.

Um eine Vorstellung von dieser Art Literatur zu bekommen Gedanken- und Gefühlstiefe in außer- ordentlich einfacher Sprache muß man die hebräische Bibel lesen. Sie ist eines der tiefsinnigsten Bücher der ganzen Weltliteratur und doch wie klar und einfach in der Sprache. Zum Beispiel diese Stelle: ‚‚Wie gehet das zu, daß die fromme Stadt zur Hure geworden ist? Dei- ne Fürsten sind Abtrünnige und Diebesgesellen; sie nehmen alle gerne Geschenke und trachten nach Ga- ben; dem Waisen schaffen sie nicht Recht und der Wit- we Sache kommt nicht vor sie.‘ Oder diese andere

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Stelle aus dem Propheten Jesaias: ‚Und ich will ihnen Jünglinge zu Fürsten geben und Kindische sol- len über sie herrschen. Und das Volk wird Schinderei treiben, einer andemandern und ein jeglicher an seinem Nächsten; und der Jüngere wird stolz sein wider den Alten und der geringe Mann wider den geehrten!‘“ Was für ein Bild! Man sieht das Bild des schrecklichen Zu- standes eines Volkes vor sich. In der Tat, die Literatur des alten hebräischen Volkes, der alten Griechen und die chinesische Literatur kann die Menschheit verwan- deln, kann sie zivilisieren. Hebräisch und Griechisch sind allerdings jetzt tote Sprachen geworden, aber Chinesisch ist eine lebende Sprache, die Sprache eines heute lebenden Volkes von vierhundert Millionen Menschen.

Um noch einmal zusammenzufassen, was ich über die chinesische Schriftsprache gesagt habe, so istsie nicht darum schwer, weil sie, wie Lateinisch und Französisch, verwickelt ist und viele Regeln hat, sondern weil sie so tief ist, weil sie tiefe Gefühle in einfacher Sprache aus- drücken muß. Das ist das Geheimnis ihrer Schwierig- keit. Sie ist eine Sprache des Herzens, eine poetische Sprache, und darum liest sich auch ein einfacher, in klassischem Chinesisch geschriebener Brief wie ein Ge- dicht. Um Schriftchinesisch, besonders das in voller Hoftracht, zu verstehen, muß die volle Natur, Herz und Kopf, Seele und Verstand eines Menschen gleicher- maßen entwickelt sein.

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Für Leute mit moderner europäischer Erziehung ist Chinesisch besonders schwierig, weil diese Erziehung grundsätzlich nur einen Teil der Natur eines Menschen entwickelt seinen Verstand. Chinesisch ist eine tiefe Sprache, während die moderne europäische Erziehung, die es mehr auf Quantität als auf Qualität absieht, ge- eignet ist, einen Menschen oberflächlich zu machen. Für halbgebildete Leute ist schließlich sogar das Um- gangschinesisch schwierig, und von ihnen mag gesagt werden, was einst die Bibel von dem reichen Mann sagte, daß nämlich leichter ein Kamel durch ein Nadel- öhr kommen kann, als daß sie das hohe, klassische Chinesisch verstehen können, und zwar, weil diese Sprache nur für den Gebrauch der wirklich Gebil- deten bestimmt ist. Kurz, klassisches Schriftchinesisch ist schwer, weil wirkliche Bildung eine schwierige Sache ist, aber wie das griechische Sprichwort sagt: ‚alle schönen Dinge sind schwierig.“

Um zu zeigen, daß Einfachheit und Gefühlstiefe auch in der classica minor, in der im amtlichen, uni- formierten Chinesisch geschriebenen Literatur zu fin- den ist, möchte ich noch einen Vierzeiler eines modernen Dichters anführen. Das Gedicht ist am Neujahrsabend . geschrieben und lautet Wort für Wort übersetzt:

„sagt nicht Heim arm, zu bringen Jahr schwer, Nordwind hat manche Zeit kalt geweht.

Nächstes Jahr, Pfirsiche, Halle, Vorderseite, Bäume, Zurückzahlen dir Frühling, lichtvolle Augen sehn.“

Frei übersetzt lautet es:

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„An mein Weib. Gräme dich nicht, wenn wir jetzt auch das Jahr arm zu- bringen. Laß den Nordwind niemals so eisig und traurig blasen. Nächstes Jahr, wenn Pfirsich und Weide in Blüte stehen, Wirst du doch den Frühling und Sonnenschein in unserm Heim erblicken.

Hier ist noch eine längere, getragenere Probe von Tu Fu, dem Wordsworth von China aus der T’ang Dy- nastie. Ich werde hier eine Übertragung versuchen. Der Gegenstand ist:

„Zusammentreffen mit einem alten Freund.

Im Leben kommen Freunde selten einander nah;

Wie Sterne scheint jeder in seiner Sphäre;

Heute Nacht o welch glückliche Nacht!

Sitzen wir bei derselben Lampe Schein.

Unsre Jugend und Kraft dauert nur einen Tag.

Du und ich ach, unsre Haare sind grau.

Freunde! die Hälfte ist in einem besseren Land.

Mit Tränen greift einer nach des andern Hand.

Nach zwanzig Jahren, kurz sind sie trotz allem,

Bin ich wieder einmal in deiner Halle erschienen.

Als wir beisammen waren, hattest du keine Frau.

Nun hast du Kinder so ist das Leben.

Strahlend begrüßen sie den Jugendgenossen ihres Vaters. Sie fragen mich, woher ich gekommen sei.

Vor unsrer Aussprache haben wir einander gesagt,

Daß der Tisch schon gedeckt sei.

Frischer Salat aus dem nahen Garten,

Reis mit Hirse gemischt, ein einfaches Mahl.

Wann werden wir uns wiedersehen? Dasist schwer zu wissen. So laßt den Wein freigiebig strömen.

Dieser Wein, das weiß ich, wird keinen Nachteil bringen. Der Willkomm meines alten Freundes ist so warm. Morgen gehe ich wieder, um in der weiten, weiten Welt Herumgewirbelt zu werden.‘‘

Mit dieser Übersetzung wollte ich nur die Bedeutung

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des chinesischen Textes wiedergeben. Dieser selbst ist Dichtkunst, einfache Dichtkunst in den Grenzen der Umgangssprache und doch mit einem reizvollen, wür- digen Pathos, das in einer andern Sprache unmöglich wiedergegeben werden kann.

ı0 KuHung-Ming, Geist des chines, Volkes, I45

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JOHN SMITH IN CHINA

„Der Philister negiert nicht nur andere Zustände, als der seinige ist, er will auch, daß alle übrigen Menschen auf seine Weise existieren sollen‘‘

Goethe

ls Mr. W. Stead einst gefragt wurde: ‚Was ist das

Geheimnis derVolkstümlichkeit der Marie Corelli?‘“ antwortete er: ‚Wie der Verfasser, so der Leser; weil die John Smiths, die ihre Romane lesen, in Marie Co- rellis Welt leben, und sie für den bevollmächtigten Ex- ponenten des Weltalls halten, in dem sie leben, sich be- wegen und ihr Dasein fristen.‘“ Was Marie Corelli für die John Smiths in Großbritannien ist, das ist der Rev. Arthur Smith für die John Smiths in China.

Der Unterschied zwischen wirklich Gebildeten und Halbgebildetenistder,daßderwirklichgebildete Mensch Bücher zu lesen verlangt, die ihm die echte Wahrheit über einen Gegenstand sagen; während halbgebildete Leute vorziehen, solche Bücher zulesen, die ihnensagen, was sie selbst möchten, daß die Dinge wären, was ihre Eitelkeit ihnen einbläst zu wünschen, daß die Dinge sein sollten. John Smith in China möchte sehr gern ein dem Chinesen überlegener Mensch sein, und der Rev. Arthur Smith schreibt ein Buch, um folgerichtig zu beweisen, daßeresist. Deshalb ist der Rev. Arthur Smith eine dem John Smith sehr teure Persönlichkeit, und die ‚‚chine- sischen Charakteristiken‘‘ werden für ihn zur Bibel.

Aber Mr. W.Stead sagt: ‚John Smith und seine Ge- nossen regieren jetzt das Britenreich.‘“ Infolgedessen habe ich mir unlängst die Mühe gemacht, die Bücher zu lesen, die dem John Smith seine Vorstellungen von China und den Chinesen liefern.

Der ‚Selbstherrscher am Frühstückstisch“ teilt die

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Köpfe ein in solche mit arithmetischem und solche mit algebraischem Verstand. ‚Alle ökonomische und prak- tische Weisheit‘, bemerkt er, ‚ist eine Ausdehnung oder Veränderung der Rechenformel 2 2==4. Jeder philo- sophische Lehrsatz hat den mehr allgemeinen Charakter des Ausdrucks a4 b==c.“ Nun, die ganze Sippschaft des John Smith gehört entschieden zu der Klasse von Menschen mit arithmetischem Verstand. John Smiths Vater, John Smith der Ältere, alias John Bull, machte sein Glück mit der einfachen Formel 24-24. John Bull kam nach China, um seine Manchesterwaren zu verkaufen und sich ein Vermögen zu erwerben, und ver- trug sich sehr gut mit John Chinaman, weil sie beide einander verstanden und vollkommen einig waren über die Formel 2+2=-4. Aber John Smith der Jüngere, der jetzt das Britenreich regiert, kommt nach China herüber den Kopf voll mit a-- b==c, waser nicht ver- steht, und nicht zufrieden damit, seine Manchesterwaren zu verkaufen, möchte er den Chinesen zivilisieren oder, wieeresausdrückt, ‚angelsächsische Ideale‘ verbreiten. Der Erfolg ist, daß er mit John Chinaman sehr schlecht auskommt und, was noch schlimmer ist, daß dieser, unter dem Einfluß von John Smiths a--b==c angel- sächsischen Idealen, anstatt ein guter, ehrlicher, stän- diger Kunde von Manchesterwaren zu sein, sein Ge- schäft vernachlässigt, in den Chang Su-ho-Garten geht, um die Verfassung zu feiern, tatsächlich ein verrückter, irrsinniger Reformator wird.

ISo

Ich habe kürzlich mit Hilfe von Mr. Putnam Weales „Umgestaltung des fernen Ostens“ und anderer Bücher versucht, einen Katechismus angelsächsischer Ideale für den Gebrauch chinesischer Forscher zusammenzu- stellen. Der Ertrag ist bisher ungefähr folgendes:

I. Was ist das Hauptziel des Menschen ?

Das Britenreich zu verherrlichen.

2. Glaubst du an Gott?

Ja, wenn ich in die Kirche gehe.

3. An was glaubst du, wenn du nicht in der Kirche

bist? Ich glaube an Zinsen, an das, was sich bezahlt macht.

4. Was ist Rechtfertigung durch den Glauben?

Zu glauben: ‚Jeder ist sich selbst der Nächste.“

5. Was ist Rechtfertigung durch Werke?

Tue Geld in deinen Beutel.

6. Was ist der Himmel?

Himmel bedeutet, in der Lage zu sein am Bubb- ling Well* Weg zu wohnen und in Viktorias zu fahren. 7. Was ist die Hölle? Hölle bedeutet erfolglos sein.

8. Was ist ein Zustand menschlicher Vollkommen- heit? Sir Robert Hart’s Zolldienst in China.

9. Was ist Gotteslästerung ?

* Das vornehmste Viertel von Shanghai.

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Zu sagen, daß Sir Robert Hart kein großes Genie ist. 10. Was ist die abscheulichste Sünde? Den britischen Handel zu hindern. II. Zu welchem Zweck schuf Gott die vierhundert Millionen Chinesen ? Damit die Engländer mit ihnen Handel treiben können. 12. Wie lautet dein Gebet? Wir danken Dir, o Herr, daß wir nicht sind wie die gottlosen Russen und die gewalttätigen Deutschen, die die Teilung Chinas wünschen. 13. Wer ist der große Apostel angelsächsischer Ideale in China? Dr. Norman, der Berichterstatter der Times in Peking. Es mag eine Schmähung sein zu sagen, das Oben- stehende sei eine wahrhafte Übersicht über angelsäch- sische Ideale, niemand aber, der sich die Mühe macht, Mr. Putnam Weale’s Buch zu lesen, kann leugnen, daß es ein hübsches Bild der angelsächsischen Ideale Mr. Putman Weale’s und seines Lesers John Smith ist. Das Merkwürdigste an der Sache aber ist, daß der zivilisierende Einfluß der angelsächsischen Ideale des John Smith in China wirklich Erfolg hat. Unter diesem Einfluß möchte John Chinaman jetzt auch das chinesi- sche Reich verherrlichen. Der alte chinesische Literat mit seinen achtgliedrigen Essays war ein harmloser Un-

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fug. Aber Ausländer werden auf eigene Kosten finden, daß der neue chinesische Literat, der unter dem Ein- fluß der angelsächsischen Ideale des John Smith nach einer Verfassung schreit, wahrscheinlich ein unaussteh- licher und gefährlicher Schädling werden wird. Schließ- lich wird John Bull der Ältere, fürchte ich, nicht nur seinen Handel mit Manchesterwaren vernichtet finden, er wird sich sogar auch zu der Ausgabe genötigt sehen, einen General Gordon oder Lord Kitchener auszusen- den, um seinen armen alten Freund John Chinaman niederzuschießen, der unter dem zivilisierenden Ein- fluß der angelsächsischen Ideale des John Smith un- zurechnungsfähig geworden ist.

Mit klaren, nüchternen Worten möchte ich hier mein Erstaunen darüber aussprechen, daß der Engländer, der, den Kopf voll mit all dem heillosen Unsinn, der in Büchern über den Chinesen geschrieben steht, nach China herüberkommt, mit dem Chinesen, mit dem er zu handeln hat, überhaupt Erfolg haben kann. Fol- gende Probe ist aus einem dicken Band mit dem Titel „Der ferne Osten, seine Geschichte und seine Fragen“ von Alexis Krauße.

„Der Kernpunkt der ganzen Frage, die die Mächte der westlichen Nationen im fernen Osten berührt, liegt in der Wertschätzung des wahren Innenlebens des orientalischen Geistes. Der Orientale sieht die Dinge nicht nur von einem andern Standpunkt zu (!!) dem Okzidentalen, sein ganzer Gedankengang und seine

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Überlegungsart sind auch im Widerspruch zu ihm. Der dem Asiaten eingeprägte Sinn für die Wahrnehmung ist verschieden von dem, mitwelchemwir begabt sind!“

Wenn ein Engländer in China, nachdem er diesen letzten Satz gelesen hat, ein Stück weißes Papier braucht, müßte er, wenn er dem ungrammatikalischen Rat des Herrn Krauße folgen will, zu seinem Diener sagen: „Junge, bring mir ein Stück schwarzes Pa- pier.‘‘ Es hebt das Ansehen der praktischen Männer unter den Ausländern in China, denke ich, daß sie all diesen Unsinn über das wahre Innenleben des orien- talischen Geistes über den Haufen werfen können, wenn sie herüberkommen, um praktisch mit den Chi- nesen Handel zu treiben. Ich glaube tatsächlich, daß jene Ausländer am besten mit den Chinesen auskom- men und die erfolgreichsten sind, die an 2+2=4 fest- halten und sich von den a--b=c-Theorien von dem orientalischen Innenleben und den angelsächsischen Idealen des John Smith und des Herrn Krauße los- sagen. Wenn man sich erinnert, daß in jenen alten Ta- gen, ehe der Rev. Arthur Smith seine ‚chinesischen Charakteristiken‘ schrieb, die Beziehungen zwischen den Leitern oder Taipans der großen britischen Firmen so wie Jardine, Matheson und ihren chinesischen Com- pradores * stets die gegenseitiger Zuneigung waren, die

* Chinesen, die von ausländischen Firmen in China als Agen- ten zwischen sich und chinesischen Kaufleuten angestellt werden.

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von einer Generation auf die folgenden überging, ist man geneigt zu fragen, was der gelehrte John Smith mit seinen a4-b=c-Theorien von dem orientalischen Innenleben und den angelsächsischen Idealen sowohl für die Chinesen als auch für die Fremden eigentlich Gutes getan hat.

Hat es danach nicht seine Richtigkeit mit Kiplings berühmtem Ausspruch, daß Ost Ost und West West sei? Sicher ist es so. Wenn man Handel treibt mit 2-12=4, so ist da wenig Unterschied, nur wenn man zu Problemen kommt wie a+-b=c, ist ein großer Un- terschied zwischen Ost und West. Um aber fähig zu sein, die Gleichung a+b==c zwischen Ost und West zu lösen, muß man wirklich für höhere Mathematik be- gabt sein. Das Unglück der heutigen Welt ist, daß die Lösung dieser Gleichung in den Händen des John Smith liegt, der nicht nur das Britenreich beherrscht, sondern auch ein Bundesgenosse der japanischen Na- tion ist und nicht einmal die Anfangsgründe algebrai- scher Probleme versteht. Die Lösung der Gleichung a-+-b=c zwischen Ost und West ist eine sehr verwik- kelte und schwierige Aufgabe. Denn es gibt dabei viele unbekannte Größen, nicht nur solche, wie der Osten des Konfuzius und der Osten des Kang Yu-wei und des Vizekönigs Tuan-Fang, sondern auch der Westen Shakespeares und Goethes und der Westen des John Smith. Wenn man in der Tat die a4+-b=c-Gleichung richtig gelöst hat, wird man finden, daß nur ein gerin-

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ger Unterschied zwischen dem Osten des Konfuzius und dem Westen Shakespeares und Goethes besteht, man wird aber eine Menge Verschiedenheiten sogar zwischen dem Westen des Dr. Legge, des Gelehrten, und dem Westen des Rev. Arthur Smith finden. Ich möchte das etwas deutlicher veranschaulichen.

Der Rev. Arthur Smith sagt, indem er von chinesi- schen Geschichten redet:

„Chinesische Geschichten sind vorsintflutlich, nicht allein in ihren Versuchen, bis an die rauhe Kante des Nullpunkts in der Zeitrechnung als Ausgangspunkt zurückzugreifen, sondern auch in der unermeßlichen Länge des schwerfälligen und trüben Stromes, der an seinem Busen nicht nur die mächtige Flora vergange- ner Zeitalter führt, sondern auch Holz, Heu und Stop- peln über alles Maß. Nur eine verhältnismäßig zeitlose Rasse konnte solche Geschichten lesen oder verfassen; nur das chinesische Gedächtnis konnte sie in seinem geräumigen Bauch unterbringen.“

Nun wollen wir Dr. Legge über denselben Gegen- stand hören. Dr. Legge sagt in bezug auf die dreiund- zwanzig hauptsächlichsten Herrschergeschichten Chi- nas:

„Keine Nation besitzt eine so tiefdurchdachte Ge- schichte; und im Ganzen ist sie glaubwürdig.‘ Hin- sichtlich einer andern großen chinesischen literarischen Sammlung sagt er:

„Das Werk wurde nicht, wie ich früher vermutete,

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auf kaiserlichen Befehl veröffentlicht, sondern (mit Beihilfe anderer Offiziere) unter der Oberaufsicht und auf Kosten des Yuen Yun, des Generalgouverneurs von Kwangtung und Kwangse, im neunten Jahr der letzten Regierung des Kien-lung 1820. Die Veröffentlichung eines so umfangreichen Werkes zeigt einen Patrioti- schen Sınn und einen Literatureifer unter den hohen Beamten in China, welcher Ausländer davon ab- halten sollte, sie niedrig einzuschätzen.‘‘ Das meine ich, wenn ich sage, daß eine ganze Menge Verschieden- heiten nicht nur zwischen Ost und West besteht, son- dern auch zwischen dem Westen des Dr. Legge, des Gelehrten, der den Eifer für die Literatur schätzen und bewundern kann, und dem Westen des Rev. Arthur Smith, der bei John Smith in China so beliebt ist.

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ANHANG

DIE RELIGION DER PÖBELVEREHRUNG ODER DER AUSWEG AUS DEM KRIEG

Frankreichs traurig Geschick, die Großen mögen’s bedenken, Aber bedenken fürwahr sollen es Kleine noch mehr;

Große gingen zugrunde, doch wer beschülzte die Menge Gegen die Menge? Da war Menge der Menge Tyrann

Goethe

rofessor Lowes Dickinson von der Cambridger Uni- E sagt an einer beredten Stelle seines Auf- satzes über ‚‚den Krieg und seinen Ausweg‘: ‚„‚Die Zu- kunft (er meint die Zukunft der europäischen Zivilisa- tion) kann in keiner Weise zweckdienlich ausgebildet werden, ehe die einfachen Männer und Frauen Hand- arbeiter wie Gehirnarbeiter in England, Deutsch- land und allen Ländern sich zusammenschließen und zu den Leuten, die sie in diese Katastrophe geleitet haben und sie wieder und wieder insolche führen werden, sagen: Nicht weiter, nicht weiter! Und niemals wieder! Ihr Regierenden, Soldaten und Staatsmänner, die ihr die Geschicke der Menschheit durch den langen Todes- kampf der Geschichte geleitet und zur Hölle geführt habt, wir lehnen euch jetzt ab. Arbeit und Blut haben wir euch geopfert, das wollen wir nicht mehr. Ihr sollt nicht den Frieden machen, so wie ihr den Krieg ge- macht habt. Das aus diesem Krieg hervorgehende Eu- ropa soll unser sein. Und es soll so beschaffen sein, daß ein neuer europäischer Krieg unmöglich sein wird.“ Das ist der Sozialistentraum jetzt in Europa. Aber ich fürchte, daß er nie verwirklicht werden kann. Wenn die einfachen Männer und Frauen in Europa sich von den Regierenden, Soldaten und Staatsmännern be- freien und die Frage des Friedens und des Krieges mit einem andern Land in eigne Hand nehmen, bin ich voll- kommen sicher, daß es, ehe die eigentliche Frage ent- schieden ist, Streitigkeiten, zerschlagene Köpfe und

ır KuHung-Ming, Geist des chines, Volkes 161

Krieg zwischen ihnen selbst in allen Ländern geben wird. Wie ging es bei der irischen Frage in Großbri- tannien? Die einfachen Männer und Frauen Irlands flogen einander tatsächlich an die Kehlen, als sie ver- suchten, die Frage der Selbstregierung in eigene Hand zu nehmen, und wenn der größere Krieg nicht gekom- men wäre, würden sie jetzt dabei sein, einander die Kehlen zu durchschneiden.

Um nun einen Ausweg aus diesem Krieg zu finden, müssen wir zuerst seinen Ursprung, seine Ursache her- ausfinden, feststellen, wer in Wirklichkeit dafür ver- antwortlich war. Professor Dickinson möchte uns glau- ben machen, daß die Regierenden, Soldaten und Staats- männer das einfache Volk in diese Katastrophe, in die Hölle dieses Krieges geführt haben. Ich kann aber wohl beweisen, daß umgekehrt die armen, hilflosen Regie- renden, Soldaten und Staatsmänner von dem einfachen Volk in diesen Krieggetrieben undgestoßen worden sind.

Betrachten wir zuerst die Lage der jetzt Regieren- den der Kaiser, Könige und Präsidenten von Repu- bliken in Europa. Nun ist es eine unbestrittene Tat- sache, daß, mit Ausnahme vielleicht des deutschen Kaisers, die Regierenden der jetzt kriegführenden Län- der über das Entstehen dieses Krieges nicht das Ge- ringste zu sagen hatten, weil sie durch Konstitutionen und Magna Chartas der Freiheit an Händen und Fü- Ben gebunden sind und bei der Regierung ihrer Länder keine Stimme haben. Dem armen König Georg von

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England wurde, als er etwas zu sagen versuchte, um in der irischen Frage einen Bürgerkrieg zu verhüten, auf das Bestimmteste von seinem Volk bedeutet, den Mund zu halten, und er mußte sich beständig durch seinen ersten Minister vor dem Volk rechtfertigen, weil er als König seine Pflicht tun und einen Bürgerkrieg vermeiden wollte. Die Regierenden des heutigen Euro- pa sind tatsächlich zu bloßen kostspieligen Zierfiguren geworden, wie die Figuren auf einem Petschaft, mit dem amtliche Regierungsschriftstücke gesiegelt wer- den. Wie kann man sie da also für diesen Krieg ver- antwortlich machen?

Prüfen wir nun die Soldaten, die Professor Dickin- son und jedermann der Verantwortung für diesen Krieg beschuldigt. Ruskin sagt, indem er sich an die Wool- wicher Kadetten wendet: ‚‚Der verhängnisvolle Irrtum moderner Einrichtungen ist, daß man das beste Blut und die beste Kraft der Nation wegnimmt, ihre ganzen seelischen Bestandteile, alles was tapfer und unbe- kümmert um Belohnung ist, was die Mühe verachtet und treu im Glauben ist; und daß man das in Stahl umsetzt und nur ein Schwert daraus macht, indem man ihm Stimme und Willen nimmt; daß man aber den schlechtesten Teil der Nation behält, alles was feige, geizig, sinnlich und treulos ist, und diesem die Autorität, das hauptsächlichste Vorrecht gibt, dem Teil, der die geringste Denkfähigkeit besitzt.‘ „Die Erfüllung eur«s Gelübdes zur Verteidigung Englands,“

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fährt Ruskin fort, wobei er sich an die Soldaten Groß- britanniens wendet, ‚‚wird keinesfalls darin bestehen, ein solches System fortzuführen. Ihr seid keine wahren Soldaten, wenn ihr nichts anderes vorhabt, als an ei- ner Ladentür zu stehen und Ladenjungen zu beschützen, die drinnen betrügen.“

Nun sollten, meine ich, Engländer und auch wahre englische Soldaten, die den preußischen Militarismus anklagen, diese Worte Ruskins lesen und erwägen. Augenscheinlich geht aus ihnen hervor, daß die Solda- ten des heutigen Europa unbedingt nicht das Geringste bei der Regierung und der Führung der Geschäfte in ihrem Vaterland zu sagen haben. Was Tennyson von den britischen Soldaten in Balaclava sagt, trifft auf die armen Soldaten im jetzigen Krieg zu, ‚ihre Aufgabe war es nicht, über das Warum nachzudenken, ihre Auf- gabe war, zu gehorchen und zu sterben.‘ Wenn die Re- gierenden Europas jetzt zu bloßen kostspieligen Zier- figuren geworden sind, so sind die europäischen Sol- daten zu bloßen gefährlichen, mechanischen Automa- ten geworden, ohne Stimme oder eigenen Willen, soweit es die Regierung ihres Vaterlandes betrifft. Wie kann man da sagen, daß sie für diesen Krieg verantwortlich sind?

Prüfen wir zuletzt die Sache der Staatsmänner in Europa. Nun, den Theorien der Regierung, den Magna Chartas der Freiheit und den Verfassungen in Europa entsprechend, haben die Staatsmänner und Minister,

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die mit der Regierung und Führung der öffentlichen Angelegenheiten eines Landes betraut sind, bloß den Willen des Volkes auszuführen. Wir sehen daraus, daß sie auch Maschinen geworden sind, redende Maschinen, tatsächlich bloße Puppen wie in einem Marionetten- theater; aufgeblasene Puppen ohne den geringsten eige- nen Willen, die von dem einfachen Volk gehandhabt, herumgezogen und hin- und herbewegt werden. Wie kann man ihnen unter diesen Umständen die Verant- wortung für diesen Krieg aufbürden ?

Das merkwürdigste bei der heutigen Regierung aller europäischen Länder ist in der Tat, daß es keinem der an der Spitze stehenden Männer erlaubt ist, irgendwie eigenen Willen zu haben; daß keiner die geringste Macht hat zu tun, was er für die Sicherheit und das Wohl der Nation für am besten hält; daß aber jedem einfachen Mann und jeder Frau, John Smith, dem Herausgeber der ‚‚Patriotic Times, ‘‘ Bobus von Hounds- ditch, einst zu Carlyles Zeit Wurstmacher und Marme- ladenfabrikant, jetzt aber Besitzer einer großen Dread- noughtschiffsbauwerft, und Moses Lump, Geldverleiher volle Macht gegeben ist, seinen eigenen Willen zu haben und bei der Regierung des Landes mitzureden; tatsächlich die Macht, den Regierenden, Soldaten und Diplomaten zu sagen, was sie für die Sicherheit und das Wohl der Nation tun sollen. So wird man, wenn man tief genug in die Sache eindringt, finden, daß diese drei Personen, nämlich John Smith, Bobus von Hounds-

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ditch und MosesLump, für diesen Krieg verantwortlich sind. Denn diese drei Personen schufen diese ungeheure moderne Maschine, den modernen Militarismus in Eu- ropa, der den Krieg herbeigeführt hat.

Nun aber wird man fragen, warum die Regierenden, Soldaten und Staatsmänner Europas so feige zugunsten dieser drei Personen, John Smith, Bobus und Moses Lump, abgedankt haben? Ich antworte, weil die ein- fachen Männer und Frauen, selbst die guten, recht- schaffenen unter ihnen, wie Professor Dickinson, auf die Seite der John Smith, Bobus und Moses Lump gegen ihre eigenen Regierenden, Soldaten und Staatsmänner getreten sind. Die beiden Gründe dazu sind erstens, weil John Smith, Bobus und Moses Lump behaupten, daß sie zur Partei der einfachen Männer und Frauen gehören; und zweitens, weil diese in Europa von Kind heit an gelehrt worden sind, daß die Natur des Men- schen böse sei; daß jeder, der mit Macht ausgestat- tet ist, sie mißbraucht, und ferner, daß jeder Mensch, sobald er stark genug dazu geworden ist, ganz sicher das Verlangen haben wird, seinen Nachbarn zu töten und auszurauben. John Smith, Bobus und Moses Lump sind darum fähig gewesen, das einfache Volk dazu zu bringen, ihnen zu helfen, die Regierenden zu zwingen, diese ungeheure moderne Maschine zu erschaffen, die diesen Krieg über uns gebracht hat, weil die einfachen Männer und Frauen eines jeden Landes, wenn sie in der Menge sind, immer selbstsüchtig und feige sind.

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Wenn man also der Sache an die Wurzel geht, wird man finden, daß nicht die Regierenden, Soldaten und Staatsmänner, nicht einmal John Smith, Bobus und Moses Lump, sondern in Wirklichkeit die guten, recht- schaffenen einfachen Männer und Frauen, solche Män- ner wie Professor Dickinson selbst, für diesen Krieg ver- antwortlich sind. Aber Professor Dickinson wird das bestreiten und sagen: Wir einfachen Männer und Frauen haben diesen Krieg nicht verlangt. Aber wer sonst verlangte ihn? Ich antworte, niemand. Nun gut, was also führte den Krieg herbei? Ich antworte, Panik führte ihn herbei; die Panik des Pöbels, die Panik, die die Menge des Volkes in allen europäischen Län- dern erfaßte und von ihr Besitz ergriff, als sich im August I9I4 diese ungeheure moderne Maschine, die sie selbst zu erschaffen geholfen haben, in Rußland zu rühren begann. Kurz, es war die Panik des Pöbels, die sich den Regierenden, Soldaten und Staatsmännern der jetzt kriegführenden Länder mitteilte, ihr Gehirn ergriff und lähmte und sie hilflos machte, die diesen schrecklichen Krieg herbeigeführt hat. Wir sehen also, daß nicht, wie Professor Dickinson sagt, die Regieren- den, Sodaten und Staatsmänner das einfache Volk in diese Katastrophe geführt und geleitet haben, sondern daß die Selbstsucht, die Feigheit und im letzten Augen- blick die Angst, die Panik der einfachen Männer und Frauen die armen, hilflosen Regierenden, Soldaten und Staatsmänner Europas in diese Katastrophe, in die

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Hölle dieses Krieges getrieben und gestoßen hat. In der Tat, die tragische Hoffnungslosigkeit der jetzigen euro- päischen Lage besteht in der erbärmlichen, verächt- lichen und bedauernswerten Hilflosigkeit der Regie- renden, Soldaten und Staatsmänner der jetzt krieg- führenden Länder.

Nach dem Gesagten ist also augenscheinlich das erste, was zu geschehen hat, wenn es in Europa jetzt und in Zukunft zum Frieden kommt, nicht, wie Pro- fessor Dickinson meint, die einfachen Männer und Frauen herbeizubringen oder zu rufen, sondern sie im Gegenteil wegzuschaffen und fernzuhalten, weil sie als Masse zu selbstsüchtig und feige und der Panik so zugänglich sind, wenn immer die Frage von Krieg und Frieden auftaucht. Als Erstes müssen die Regierenden, Soldaten und Staatsmänner vor der Menge beschützt werden, vor dem Pöbel und seiner Panik, die sie so hilflos macht. Das erste Erfordernis ist, nicht von der Zukunft zu reden, wenn es die tatsächliche gegenwär- tige Lage Europas zu retten gilt, wozu, so scheint es mir, der einzige Weg ist, die Regierenden, Soldaten und Staatsmänner der jetzt kriegführenden Länder von ihrer augenblicklichen Hilflosigkeit zu befreien. Die tragische Hoffnungslosigkeit der jetzigen euro- päischen Lage besteht nämlich darin, daß jeder den Frieden wünscht, aber keiner den Mut und die Macht hat, Frieden zu machen. Deshalb ist die erste Aufgabe, irgend ein Mittel zu finden, um den Regierenden, Sol-

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daten und Staatsmännern Macht zu geben, die Macht, Frieden zu schließen. Das können die Völker der jetzt in Europa kriegführenden Länder nur dadurch errei- chen, daß sie ihre gegenwärtigen Verfassungen und Magna Chartas der Freiheit zerreißen und eine neue Magna Charta der Treue errichten, wie wir Chinesen sie in unsrer Religion des guten Bürgers haben.

Unter dieser Magna Charta der Treue müssen die Völker der jetzt kriegführenden Länder schwören: erstens, in keiner Weise die Politik des gegenwärtigen Krieges zu erörtern, sich hineinzumischen oder darüber zu streiten, zweitens, was immer für Friedensbedin- gungen ihre Regierenden untereinander ausmachen mögen, sie unbedingt anzunehmen, sich ihnen zu unter- werfen und sich daran zu halten. Diese neue Magna Charta der Treue wird den Regierenden der jetzt krieg- führenden Länder mit einem Male Macht geben und damit den Mut, Frieden zu schließen. Ich bin voll- kommen sicher, daß sie, sobald sie die Macht dazu ha- ben, auch Frieden verordnen und befehlen werden. Denn sie müssen einsehen wenn sie nicht unheilbar Irrsinnige oder Teufelsind, und man muß zugeben, daß sie das nicht sind, nicht einmal der jetzt am meisten verleumdete Mann in Europa, der deutsche Kaiser daß, fortzufahren täglich alle zusammen neun Millio- nen Pfund Sterling von dem mit Blut und Schweiß ver- dienten Geld ihrer Völker auszugeben, um die Leiber tausender unschuldiger Männer hinzuschlachten und

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die Heimstätten und das Glück tausender unschuldiger Frauen zu zerstören, wirklich nichts als höllischer Wahnsinn ist. Der Grund, warum sie das jetzt nicht einsehen können, ist, daß sie sich hilflos fühlen der Panik des Pöbels, der Menge gegenüber; tatsächlich weil, wie ich sagte, diese Panik ihr Gehirn ergriffen und gelähmt hat. Deshalb ist das erste, was geschehen muß, wenn die gegenwärtige, tatsächliche Lage in Europa gerettet werden soll, sie von der Panik des Pöbels zu befreien, indem man ihnen Macht verleiht.

Aber nicht nur darin besteht die tragische Hoffnungs- losigkeit der jetzigen europäischen Lage. Nicht nur Regierende, Soldaten und Staatsmänner, sondern je- dermann ist hilflos in den jetzt kriegführenden Län- dern und kann nicht einsehen, daß dieser Krieg, den niemand verlangt hat und den nur die Panik des Pö- bels herbeigeführt hat, ein höllischer Wahnsinn ist, weil die Panik des Pöbels alle Gehirne ergriffen und gelähmt hat. Man kann das schon bei Professor Dickin- son sehen, der schreibt, um über den Krieg zu schimp- fen, um die Regierenden, Soldaten und Staatsmänner anzuklagen, diesen Krieg verschuldet zu haben. Auch er hat, unbewußt, die Panik des Pöbels in seinem Hirn. . Er beginnt seinen Aufsatz mit der Feststellung, daß er nicht dafür ist, den Krieg abzubrechen. Dann fährt er fort: „Da wir einmal im Krieg stehen, denke ich wie jeder Engländer, daß wir den Kampf fortsetzen müssen, bis wir mit ungeschmälertem Länderbesitz daraus her-

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vorgehen können und mit der Gewißheit, daß der zu- künftige europäische Friede soweit gesichert ist, wie menschliche Weisheit ihn sichern kann.‘ Die Unver- sehrtheit und Sicherheit des britischen Reiches und den zukünftigen europäischen Frieden dadurch zu er- reichen suchen, daß man unbegrenzt fortfährt, täglich neun Millionen Pfund Sterling guten Geldes auszu- geben und tausende unschuldiger Männer hinzumorden! Die ungeheuerliche Abgeschmacktheit eines solchen Vorschlags kann nur von jemand festgestellt werden, der nicht die Panik des Pöbels in seinem Hirn hat. Der Friede Europas! Nun, ich glaube, wenn diese Opfer an Gut und Blut noch eine beliebig lange Zeit fortgesetzt werden, wird sicher Friede werden, aber kein Europa wird mehr auf der Landkarte zurückbleiben. Wenn es in der Tat etwas gibt, das zeigen kann, wie unbedingt und gänzlich ungeeignet einfache Männer und Frauen dazu sind, die Frage des Friedens und Krieges zu ent- scheiden, so zeigt es folgerecht die Geisteshaltung eines Mannes selbst wie Professor Dickinson. Besonders betonen möchte ich hier die Tatsache, daß jeder, selbst in den jetzt kriegführenden Ländern, den Frieden wünscht, niemand aber die Macht hat, Frie- den zu schließen, mit dem Krieg aufzuhören. Des- halb glaubt niemand an die Möglichkeit des Friedens, und diese Verzweiflung an einer Friedensmöglich- keit hindert die Leute einzusehen, daß dieser durch die Panik des Pöbels hervorgerufene Krieg nur ein

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höllischer Wahnsinn ist. Um nun jedermann zu dieser Einsicht zu bringen und allen die Friedensmöglichkeit zu zeigen, ist das allererste und einfachste, was ge- schehen muß, auf einmal mit dem Krieg aufzuhören; einige mit der vollen Macht auszustatten, den Krieg zu beenden; die Regierenden in den jetzt kriegführenden Ländern mit unbedingter Macht auszustatten, zu be- fehlen, daß der Krieg aufhören soll, indem man eine Magna Charta der Treue schafft. Sobald man sieht, daß der Krieg zum Aufhören gebracht werden hann, wird jeder in den jetzt kriegführenden Ländern mit Ausnahme vielleicht einiger weniger unbedingt un- heilbar Irrsinniger fähig sein einzusehen, daß dieser Krieg nichts ist als ein höllischer Wahsinn; daß er, wenn er fortgesetzt wird, sogar für die Länder, die siegreich daraus hervorgehen, verderblich ist. Dann wird es für einen Mann wie Präsident Wilson von den Vereinigten Staaten nicht nur möglich, sondern leicht sein, einen erfolgreichen Aufruf an die Regierenden der jetzt kriegführenden Länder zu richten so wie Ex- präsident Roosevelt es während des russisch-japani- schen Krieges machte damit sie verordnen und be-

fehlen, daß sofort mit dem Krieg aufgehört wird, und.

dann einen Weg zu einem dauernden Frieden finden. Es wird darum leicht sein für einen Mann wie Präsi- dent Wilson, einen erfolgreichen Friedensaufruf zu er- lassen, weil ich glaube, daß das einzig Wichtige, was die Regierenden der jetzt kriegführenden Länder dazu

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Ri -

tun müssen, ist, ein besonderes Irrenhaus zu bauen und darin die wenigen unheilbar Verrückten einzu- schließen und abzusperren Männer wie Professor Dickinson, die die Panik des Pöbels im Gehirn haben die Panik für die Unversehrtheit und die Sicherheit des britischen Reiches und den zukünftigen Frieden Europas.

Also ist der einzige und alleinige Ausweg aus diesem Krieg, daß die Völker der jetzt kriegführenden Länder ihre gegenwärtigen Magna Chartas der Freiheit und ihre Verfassungen zerreißen und eine neue Magna Charta, nicht der Freiheit, sondern der Treue machen, wie wir Chinesen sie in unserer Religion des guten Bür- gers haben.

Um die Wirksamkeit meines Vorschlages zu bewei- sen, möchte ich die Aufmerksamkeit der Völker Euro- pas und Amerikas auf die Tatsache lenken, daß nur die unbedingte Treue der Völker Japans und Ruß- lands zu ihren Regierenden es dem Expräsidenten Roosevelt möglich machte, einen erfolgreichen Auf- ruf an den verstorbenen Kaiser von Japan und den jetzigen Kaiser von Rußland zu richten, um den rus- sisch-japanischen Krieg zum Aufhören zu bringen und den Frieden von Portsmouth zu befehlen und anzu- ordnen. Diese unbedingte Treue des Volkes im Fall der Japaner ist gesichert durch die Magna Charta der Treue in unsrer chinesischen Religion des guten Bürgers, die die Japaner von uns gelernt haben. Aber in Rußland,

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wo es keine Religion des guten Bürgers mit ihrer Magna Charta der Treue gibt, muß die unbedingte Treue des Volkes durch die Macht der Knute gesichert werden.

Nun vergleichen wir, was in den beiden Ländern nach dem Vertrag von Portsmouth geschah. In Japan erhob das Volk in Tokio, dessen Religion des guten Bürgers durch die neuen europäischen Lehren verdor- ben war, ein Geschrei und versuchte eine Panik hervor- zurufen aber die Magna Charta der Treue in den Herzen der treuen, unverdorbenen Japaner unter- drückte in einem Tag das Geschrei und die Panik des Volkes mit Hilfe von ein paar Polizisten, und seitdem war nicht nur immer Frieden in Japan, sondern auch im ganzen fernen Osten.* Aber in Rußland erhob nach dem Vertrag von Portsmouth das Volk überallim Land ein Geschrei und versuchte, eine Panik hervorzurufen, und weil es dort keine Religion des guten Bürgers gibt, zerbrach die Knute, welche die unbedingte Treue des Volkes sicherte, und seitdem haben die einfachen Männer und Frauen dort immer volle Freiheit gehabt, Aufstände und Verfassungen zu machen, Geschrei zu erheben und Panik hervorzurufen für die Unversehrt- heit und Sicherheit des russischen Reiches und der

* Frieden im fernen Osten, sage ich, bis unlängst die pöbel- verehrenden Staatsmänner Großbritanniens ihre gelehrigen Schüler, die jetzt auch pöbelverehrenden Staatsmänner Japans, Männer wie Graf Okuma, der der größte Pöbelverehrer jetzt in Japan ist, dafür gewannen, gegen eine Handvoll deutscher An- gestellter in Tsing-tau Krieg zu führen!

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slawischen Rasse und für den zukünftigen Frieden Europas. Der Erfolg alles dessen war, daß, als eine un- bedeutende Meinungsverschiedenheit zwischen dem österreichischen Kaiser und dem Kaiser von Rußland entstand über den Grad der Bestrafung der für den Mord an dem österreichischen Erzherzog verantwort- lichen Leute, der Pöbel in Rußland fähig war, ein sol- ches Geschrei zu erheben und eine solche Panik für die Unversehrtheit und Sicherheit des russischen Reiches usw. hervorzurufen, daß der Kaiser von Rußland und seine unmittelbaren Ratgeber dazu getrieben wurden, das ganze russische Heer zu mobilisieren, mit andern. Worten, jene ungeheure moderne Maschine zu bewe- gen, die John Smith, Bobus und Moses Lump geschaf- fen haben. Als diese Maschine, der moderne Militaris- mus, sich in Rußland zu rühren begann, brach unmit- telbar eine Panik unter dem Pöbel in ganz Europa aus, und die ergriff und lähmte das Gehirn der Regierenden und Staatsmänner der jetzt kriegführenden Länder und machte sie hilflos, und das hat diesen schrecklichen Krieg hervorgebracht.

So war also, wenn man der Sache tief genug an die eigentliche Wurzel geht, der wirkliche Ursprung dieses Krieges der Vertrag von Portsmouth, und zwar deshalb, weil nach diesem Vertrag die Knute, die Macht der Knute in Rußland zerbrach und nichts mehr blieb, um den Kaiser vor dem Pöbel und seiner Panik zu beschützen, in der Tat vor der Panik des Pöbels für

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die Unversehrtheit und Sicherheit des russischen Rei- ches und der slawischen Rasse! Der deutsche Dichter Heine sagt in wunderbarer Einsicht, in Anbetracht, daß er der Liberalste aller Liberalen, tatsächlich der Vorkämpfer des Liberalismus seiner Zeit war: „Der Absolutismus in Rußland ist vielmehr eine Diktatur, um die liberalen Ideen unsrer neuesten Zeit ins Leben treten zu lassen.‘ Ich wiederhole, nach dem Vertrag von Portsmouth zerbrach die Diktatur, die Knute und ihre Macht in Rußland, und es gab nichts mehr, um die Regierenden, Soldaten und Staatsmänner vor dem Pöbel zu schützen. Das war der wirkliche Ursprung dieses Krieges, mit andern Worten, die Ursache dieses Krieges war die Furcht vor dem Pöbel in Rußland.

In der Vergangenheit waren in Europa die Regieren- den aller Länder fähig, die bürgerliche Ordnung in ihren eigenen Ländern aufrecht zu erhalten und den internationalen Frieden zu wahren, weil sie Gott fürch- teten und verehrten. Aber jetzt fürchten und verehren die Regierenden, Soldaten und Staatsmänner nicht mehr Gott, sondern den Pöbel fürchten und ver- ehren die Menge einfacher Männer und Frauen in ihren Ländern. Der russische Kaiser Alexander I., der die heilige Allianz in Europa nach den napoleonischen Kriegen ins Leben rief, war fähig, die bürgerlir!.e Ord- nung in seinem Land aufrechtzuerhalten und den internationalen Frieden in Europa zu wahren, weil er Gott fürchtete. Aber der jetzige Kaiser von Rußland

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ist unfähig zu diesen Dingen, weil er, anstatt Gott zu fürchten, den Pöbel fürchtet. In Großbritannien waren Regierende wie Cromwell zu allen Regierungsgeschäften tauglich, weil sie Gott verehrten. Aber die jetzt dort Regierenden, verantwortliche Staatsmänner wie Sir Edward Grey, dieHerren Asquith, Churchill und Lloyd George, sind untauglich dazu, weil sie, anstatt Gott zu verehren, den Pöbel verehren, und zwar nicht nur den Pöbel in ihrem eigenen Land, sondern auch in andern Ländern. Der verstorbene Premierminister von Groß- britannien, Mr. Campbell Bannerman, jubelte, als die russische Duma aufgelöst wurde, mit lauter Stimme: „Die Duma ist tot, es lebe die Duma!“

Aber die Furcht vor dem Pöbel in Rußland war nicht der wirkliche erste Ursprung und die Ursache dieses Krieges; der fons et oriıgo nicht nur dieses Krieges, sondern der ganzen Anarchie, all dieses Schreckens und Elends in der heutigen Welt, ist die Pöbelver- ehrung in allen Ländern Europas und Amerikas, be- sonders aber in Großbritannien. Die Pöbelverehrung in Großbritannien verursachte den russisch-japanischen Krieg.* Danach kam der Vertrag von Portsmouth, und der zerbrach mit Hilfe des Jubels des britischen Pre-

* Die Panik des Pöbels in Großbritannien, besonders die selbstsüchtige Panik des britischen Pöbels in Shanghai und in China, dessen Sprachrohr damals der ‚„große‘‘ Dr. Morrison, der Timesberichterstatter in Peking war, mit seinem Jubel über die „offene Tür‘ in der Mandschurei, alarmierte die Japaner und trieb sie in den russisch-japanıschen Krieg.

ı2 KuHung-Ming, Geist des chines. Volkes 177

mierministers die Knute, die Macht der Knute, das, was Heine die Diktatur nennt, und schuf die Furcht vor dem Pöbel in Rußland, welche, wie gesagt, diesen schrecklichen Krieg verursacht hat. Nebenbei möchte ich hier bemerken, daß diese von Großbritannien und Amerika her in China eingeführte Religion der Pöbel- verehrung die Revolution hervorgerufen hat und auch das gegenwärtige Gespenst einer Republik in China, wodurch das wertvollste Vermächtnis für die Zivili- sation der heutigen Welt, der wirkliche Chinese, mit Vernichtung bedroht ist. Deshalb sage ich, daß diese Religion der Pöbelverehrung in Großbritannien, ja, in ganz Europa und Amerika, wenn sie nicht sofort ab- geschafft wird, nicht nur die europäische, sondern alle Zivilisationen der Welt vernichten wird.

Das Einzige, sage ich, was diese so gefährliche Reli- gion der Pöbelverehrung überwinden kann, ist die Re- ligion der Treue, das Sakrament, die Magna Charta der Treue, wie wir Chinesen sie in unsrer Religion des guten Bürgers haben. Sie wird die verantwortlichen Regieren- den, Soldaten und Staatsmänner aller Länder vor dem Pöbel schützen und sie befähigen, nicht nur die bürger- liche Ordnung in ihren eigenen Ländern aufrecht zu erhalten, sondern auch den Weltfrieden zu wahren. Was noch mehr ist, sie wird, indem sie alle guten treuen Menschen befähigt, ihren gesetzlichen Regierenden zu helfen, den Pöbel niederzuhalten, den Regierenden die Macht geben, Frieden zu halten und die Ordnung in

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der Welt zu wahren ohne Knute, ohne Polizei, ohne Soldaten, mit einem Wort, ohne Militarismus.

Zum Schluß ein Wort über den Militarismus, den deutschen Militarismus. Wenn der erste Ursprung die- ses Krieges die Pöbelverehrung in Großbritannien war, so war sein direkter und unmittelbarer Anlaß die Machiverehrung in Deutschland. Es wird berichtet, daß der Kaiser von Rußland gesagt hat, ehe er den Be- fehl für die Mobilmachung des russischen Heeres unter- zeichnete: ‚Wir haben das sieben Jahre lang ertragen, nun muß es aufhören!‘ Diese leidenschaftlichen Worte des russischen Kaisers zeigen, wie sehr er und die rus- sische Nation unter der deutschen Machtverehrung ge- litten haben müssen. In der Tat, die Pöbelverehrung in Großbritannien zerbrach die Knute in den Hän- den des Zaren, was ihn hilflos machte gegen den Pöbel, der den Krieg verlangte, und die Machtverehrung der Deutschen ließ ihn seine Kaltblütigkeit verlieren, was ihn dazu trieb, mit dem Pöbel für den Krieg zu sein. So sehen wir als wirkliche Kriegsursachen die engli- sche Pöbelverehrung und die deutsche Machtverehrung. Die Bibel unsrer chinesischen Religion des guten Bür- gerssagt: ‚‚Widerstreitenicht dem, wasrechtist,umdasLob desVolkes zu erlangen. Tritt nicht die Wünsche des Volkes mit Füßen, um deinem eigenen Begehren zu folgen.*“ Nun, dem, was recht ist, widerstreiten, um das Lob des

* Shu-king oder Kanon der Geschichte in der Konfuziani- schen Bibel, Teil II, Kap. I, 6.

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Volkes zu erlangen, ist, was ich die Pöbelverehrung ge- nannt habe, und die Wünsche des Volkes mit Füßen treten, um dem eigenen Begehren zu folgen, ist, was ich die Machtverehrung genannt habe. Aber mit dieser Magna Charta der Treue werden sich die Minister und Staatsmänner verantwortlich fühlen nicht dem Pöbel, der Menge einfacher Männer und Frauen gegenüber, sondern ihrem König und ihrem Gewissen, und das wird sie vor der Versuchung schützen, dem zu wider- streiten, was recht ist, um das Lob des Volkes zu er- langen, sie tatsächlich vor der Pöbelverehrung schüt- zen. Ebenso werden die Regierenden eines Landes die furchtbare Verantwortung fühlen, die ihre ihnen durch die Magna Charta der Treue verliehene große Macht ihnen auferlegt, und das wird sie vor der Ver- suchung bewahren, die Wünsche des Volkes mit Füßen zu treten, um dem eigenen Begehren zu folgen, sie tat- sächlich vor der Machtverehrung schützen. So wird also diese Religion des guten Bürgers mit ihrer Magna Charta der Treue helfen, die Pöbelverehrung und die Machtverehrung zu besiegen, die, wie ich gezeigt habe, diesen Krieg verursacht haben.

Der Franzose Joubert, der in der französischen Revo- lutionszeit!lebte, sagte als’Antwort auf das moderne Freiheitsgeschrei: ‚‚Schreit lieber nach freien Seelen als nach freien Menschen. Moralische Freiheit ist die einzige, zum Leben nötige wichtige Freiheit, die ein- zige unerläßliche; andere Freiheit ist nur gut und heil-

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sam, soweit sie diese begünstigt. Unterordnung ist an sich besser als Unabhängigkeit. Die eine schließt Ord- nung und Übereinstimmung in sich, während die andere nur zur Selbstgenügsamkeit und Vereinzelung führt. Die eine bedeutet Harmonie, die andere einen einzigen Ton; die eine ist das Ganze, die andere nur ein Teil.“

Wenn also die Völker der jetzt in Europa kriegfüh- renden Länder ihre Zivilisation, die Zivilisation der Welt retten und aus diesem Krieg herauskommen wol- len, ist der einzige Weg, den sie dazu einschlagen kön- nen, ihre gegenwärtigen Magna Chartas der Freiheit und ihre Verfassungen zu zerreißen und eine neue Magna Charta, nicht der Freiheit, sondern der Treue zu er- richten, so wie wir Chinesen sie in unsrer Religion des guten Bürgers haben.

INHALT

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Die Religion der Pöbelverehrung oder der Ausweg

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GEDRUCKT BEI OSCAR BRANDSTETTER IN LEIPZIG

EUGEN DIEDERICHS VERLAG IN JENA

KU HUNG-MING, Chinas Verteidigung gegen euro- päische Ideen. Kritische Aufsätze. Mit Einleitung von Dr. Alfons Paquet. br. M 3.—, Lwd. geb. M 4.— INHALT: Kultur und Anarchie / Erweiterung des Gesichts- kreises / Die Geschichte einer chinesischen Oxfordbewegung / OffenerBriefandenHerausgeberder „North-China-Daily-News“

Der Ostasiatische Lloyd: Einem Teil der Ausländer ist Ku kein Unbekannter. Infolge seiner früheren Amtstätigkeit in Canton, Wuchang und Peking ist er mit zahlreichen West- ländern in Verkehr getreten, die gern seiner geistvollen und blendenden Rede lauschten, die wild von Thema zu Thema sprang und mit Zitaten europäischer Denker des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts durchsetzt war.

Asien: Dem chinesischen Autor schwebt eine Bewertung europäischer Vorgänge und Persönlichkeiten vor, die wirkaum teilen können. Aber was das Werkchen dennoch für jedenLeser wertvoll macht, das sind die überraschenden Schlaglichter, die bei der Erörterung nicht nur auf die chinesiche Politik und Reformbewegung, sondern vor allen Dingen auch auf unsere eigenen Einrichtungen und Gedankengänge fallen. Wohl zum ersten Male sehen wir hier von einem geistvollen und mit der ganzen Bildung Europas ausgestatteten Schriftsteller des Ostens geschildert, wie man in jenen uns immernochallzu unbekannten Ländern die Welt und das Verhältnis ihrer einzelnen Teile zuein- ander betrachtet. Die Lektüre des Buches ist aber auch schon deshalbgenußreich, weilsich hier zweifellos ein überlegener Geist offenbart, der uns manches Nachdenkliche auf den Weg gibt.

Kölnische Volkszeitung: Es ist kein ganz außergewöhn- liches Ereignis, chinesische Zustände von einem Chinesen in deutscher Sprache beleuchtet zu finden. Das wirkt als echte Unmittelbarkeit, als unverzerrte Natur. Der Wert des Buches steckt in einem quantitativen und qualitativen Gesichtspunkte: einmal darf man es als typisch nehmen für den größten Teil der ernststrebenden chinesischen Literatenwelt, dann aberzeigt es, wie der Blickpunkt des Chinesen fest in der Vergangenheit ruht und nur langsam sich an neue Gesichtsfelder gewöhnt.

Kreuz-Zeitung: Es ist bemerkenswert, daß die Grundan- schauung dieses Mannes soweit das bei Vertretern verschie- dener Menschenarten möglich ist merkwürdig mit der eines Plato zusammenfällt.

EUGEN DIEDERICHS VERLAG IN JENA

PERCIVAL LOWELL, DieSeele des fernen Ostens. Übersetzt von B. Franzos. br. M 3.—, geb. M4.— INHALT: Individualität / Die Familie / Die Adoption / Die Sprache / Natur und Kunst | Die Kunst / Die Religion / Die Einbildungskraft.

Lafcadio Hearn in einem Brief an Professor B. H. Cham- berlain: ‚Ich habe ein Buch für Sie ein wundervolles Buch. Aber Sie müssen mir versprechen, es Wort für Wort zu lesen. Jedes Wort ist dynamisch. Es ist das feinste Buch über den Osten, das je geschrieben wurde, und enthält, trotz seines geringen Umfangs, mehr über den Orient, als meine ganze Bibliothek orientalischer Werke. Es wird Sie überwältigen wie Schopenhauer dieselbe Tiefe und Klarheit...“ Und später: „Hätte ich Lowells Genie und Lowells Unabhängig- keit, wie glücklich wäre ich. Seine Intuition ist so unendlich feiner als meine... Natürlich kann kein Denker über Lowells Buch hinweg. Die Idee ist zu packend, zu wissenschaftlich, zu gut begründet, sie erfordert den tiefsten Respekt und das tiefste Studium.‘

KUNGFUTSE, Gespräche (Lun Yü). Heraus- gegeben von Dr. Richard Wilhelm -Tsingtau. 3. und 4. Tausend. br. M 5.—, Lwd. geb. M 6.20

Neuland des Wissens: Eine äußerst wertvolle Einleitung des Herausgebers, die eine gründliche Einführung in die chine- sische Kultur, Geschichte undLebensauffassung bedeutet, in der jedem geheimen Zusammenhange nachgespürt, jeder Unklar- heit auf denGrund gegangen wird, geht dem eigentlichen Texte voraus und eröffnet dem Leser eine noch recht unbekannte Welt. Die Gespräche selbst sind in zwei Fassungen gegeben: links in wortgetreuer Übersetzung, rechts in einer dem mo- dernen Verständnis entsprechenden Auslegung, durch reich- haltige erklärende Fußnoten ergänzt.

In der Sammlung „Die Religion und Philosophie Chinas, Hrsg.vonR.Wilhelm-Tsingtau“ erschienen bisher noch außerdem die Philosophen: Laotse | Mong Dsi (Menzius) | Liä Dsi | Dschuang Dsi.

Man verlange ein ausführliches Verzeichnis!

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